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Felix Guattari
Gilles Deleuze
Tausend Plateaus
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Felix Guattari
Gilles Deleuze
Tausend Plateaus
Dualismen Intermezzo Rhizom Orient Okzident Manniglattig~eiten .~eute Bande ~Orde Segmentaritat MIlieus Outsider Karte machen Epistrata Parastrata GefOge molar molekular abstrakte Maschinen junge Mädchen Pathos konstante Variablen kontinuierliche Variation Intensitäten Figur und Metamorphose Chromatik
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Karten zu Tausend Plateaus Mit Beiträgen von Gilles Deleuze, Arnauld Villani, Toni Negri, Brian Massumi, Glemens-Garl Härle und Alain Badiou Herausgegeben von Glemens-Garl Härle
Merve Verlag Berlin
Inhalt
Die Übersetzung der fremdsprachigen Texte wurde vom Herausgeber besorgt
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über das Ritornell und die Musik, die Kriegsmaschine, die Nomaden und das Tier-Werden geschrieben haben. Angefeuert von Felix, hatte ich das Gefühl, daß wir auf Territorien stießen, wo ganz eigentümliche Begriffe lebten. Tausend Plateaus ist ein Buch, das mich glücklich gemacht hat und in dem ich, wenigstens was mich anbelangt, immer wieder etwas Neues entdecke. Ich sage das ganz ohne Eitelkeit, denn ich spreche hier für mich und nicht für den Leser. Nachdem das Buch fertig war, war es dann notwendig, daß jeder wieder eine Zeitlang für sich zu arbeiten begann, um Atem zu schöpfen. Aber daß wir auch in Zukunft wieder zusammen arbeiten werden, steht für mich außer Frage. Ich hoffe, lieber Uno, wenigstens einen Teil Deiner Fragen beantwortet zu haben. Lieben Gruß, Gilles Deleuze
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Gilles Deleuze Bis zum Ende
Bis zum Ende war die Arbeit mit Felix für mich Anlaß der Freude und neuer Entdeckungen. Doch ich will nicht über die Bücher sprechen, die wir zusammen verfaßt haben, sondern über die, die er allein geschrieben hat. Mir scheint, daß sie von unerschöpflichem Reichtum sind. Drei Gebiete werden darin durchforstet und dem schöpferischen Eingriff neue Wege erschlossen. In der Psychiatrie hat Felix, ausgehend von der Institutionsanalyse, zwei wichtige Begriffe eingeführt: den Begriff des Gruppensubjekts und den einer transversalen, d.h. nicht-hierarchischen Beziehung. Man sieht, diese Begriffe sind zugleich psychiatrischer und politischer Natur. Denn das Delirium, die Realität der Psychose, ist eine Kraft, die' unmittelbar das gesellschaftliche und politische Feld heimsucht: es betrifft nicht nur die psychoanalytischen Instanzen von Vater und Mutter, sondern umspült Kontinente, Rassen und Stämme. Es ist ein pathologischer Prozeß, der als solcher der Heilung bedarf, und zugleich ein heilendes Potential, das politisch bestimmt werden muß. Vielleicht träumte Felix ganz allgemein, und das ist das zweite Terrain, von einer Art System, dessen Teile sich in die Wissenschaften, die Philosophie, die Kunst und die Erfahrung usw. verzweigen. Er nähert sich immer wieder einer eigentümlichen Ebene, die in sich die Möglichkeit von wissenschaftlichen Funktionen, philosophischen Begriffen, gelebten Erfahrungen und künstlerischen Schöpfungen aufweisen könnte. Diese Möglichkeit selbst ist gleichartig, während das jeweils Mögliche von einer Ungleichartigkeit bearbeitet wird. Das eindrucksvolle vierköpfige System, das in Cartographies entfaltet wird: "Territorien,Ströme, Maschinen und Universa", deutet dies an. Und wie könnte man drittens nicht betroffen sein von den Untersuchungen, die Felix zu Balthus oder Fromanger geschrieben hat oder auch über die Literatur, wie den grundlegenden 13
Text über das Ritornell bei Proust, das von den Ausrufen der Marktleute bis zu dem kleinenThema von Vinteuil reicht, oder den pathetischen zu Genet und dem Captif amoureux. Das Werk von Felix ist noch zu entdecken, und vielleicht ist das die schönste Weise, in der er mit uns fortlebt. Das Zerreissende an der Erinnerung eines toten Freundes sind die Blicke und Gesten, die uns erreichen und noch in uns eindringen, auch wenn er schon tot ist. Felix' Werk erteilt diesen Gesten und Blicken eine neue Substanz, einen neuen Gegenstand, so daß die Kraft, die in ihnen aUfgespeichert ist, uns auch weiterhin erreicht.
Arnaud Villani Physische Geographie der Tausend Plateaus
Von Tausend Plateaus sprechen, heißt auf ein Buch, das noch ganz jung und schon sehr alt ist, ein. Abecedarium nach Art '-,/1.... einer Fibel, einen Almanach voller Anspielungen, Kniffe, neuer Gedanken und Wendungen hinweisen. Tausend Plateaus lesen, . heißt sich in ein Labyrinth begeben und unbekannten Meridianen folgen. Ohne Zweifel hat dieses Buch und seine lange Entstehungszeit viele befremdet, trotz der zahlreichen Spuren, Kafka. Für eine kleine Literatur 1, Rhizom 2 und Dialoge 3, die auf seine Abfassung deuten. Aber dieses Befremden nimmt nicht Wunder, wenn man bedenkt, daß sich die intellektuelle Landschaft Frankreichs zu Beginn der aOer Jahre von Grund auf geändert hat und Tausend Plateaus gegen diese Wende gerichtet ist. Unter dem Deckmantel, träumerisch den . Diskurs des Wunsches und der Schizoanalyse fortzusetzen, wird eine gänzlich neue Synthese erarbeitet, eine konkrete Mechanologie, die direkt politische Probleme aufgreift und grundlegende Elemente einer neuen Philosophie erörtert, in erfrischender Freiheit des Geistes und der Sprache. Diese Geistesfreiheit, dieser Witz bilden den Ort des Buches: es vollzieht an sich selbst die Bewegung, die es beschreibt, und modelliert einen organlosen Körper, an dem es entlanggleitet. Auf den Leser übt dieser Tanz ohne Schleier eine unvergleich- r;.: Iiche Verführung aus. VersuenCe(-ihil nachzuahmen, so wird er in eine widerstreitende Bewegung hineingezogen - gleichviel, ob sie die Gestalt einer nach innen gewandten Reflexion oder einer Abkehr hat, ob sie eher Kierkegaard oder Hölderlin folgt. Er wird zum Adressaten einer "negativen Botschaft", einer Botschaft ohne "materieHeUbertragunQ'\ denn in Tausend PlaSelteaus wird' GelelirsaITlkelfnu':-aufgeböte"ri-:-um" ---,,--_.... ,JjQ~h~X~l'L
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wird so zu einer unmittelbareren Auseinandersetzung mit dem "Konkreten" geführt, aus der es verwandelt, obschon in wiedererkennbarer Gestalt, hervorgeht. Es erscheint uns darum statthaft, bei passender Gelegenheit deutlich zu machen, welche Begriffe eher dem einen oder dem andern verdankt sind. 9 Nehmen wir den Titel beim Wort: Tausend Plateaus. Auf den ersten Blick erklärt er nichts, schlimmer noch, er scheint eine bloße Metapher zu sein, und dies obgleich die Autoren immer wieder betonen, daß die Metaphern durch eine Metamorphose, . nogr.aeine veritable Verwandlung zu ersetzen sind. In der M~ phie wird auf den Ausspruch Kafkas verwiesen: "Die Me' ern " sind eines in dem vielen, was mich am Schreiben verzw 'feln läßt."10 Die Kohärenz des Texts verlangt also, daß "Plateau" nicht nur metaphorisch gemeint - es sei denn, man lege Nietzsches Begriff der Metapher zugrunde - oder als ein TrompeI'oeil verstanden wird. Das französische Wort plateau hat einen genauen geographischen, mechanischen und bühnentech- /. nisC?~~n_~ir:m:r:n§lD_:.sQr191iC~rÜ?@~~i(i1)1 ·Bl~~]~E"i~.C~Ine Co. ' -
6 Paris 1969, dt. München 1992 7 Paris 1969, dt Frankfurt/Main 1993 8 Vgl. die Bemerkung von M. Nadeau in La Quinzaine Litteraire, Nr. 265, Oktober 1977: "Mit Guattari: Aufgang einer neuen Sonne". Dieser Beitrag wurde wiederabgedruckt als Nachwort zur NeuaUflage von La revolution moleculaire, Paris 1980 9 Zur Klärung dieser Frage sind außer den Werken von Deleuze insbesondere Psychoanalyse et transversalite, Paris 1972dt, teilweise, Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Frankfurt/M. 1976 und La revolution moleculaire, Paris 1977, von F. Guattari heranzuziehe 10 F. Kafka, Tagebücher 1910-1923, hrsg. v. M. Brod, FrankfurtlMain 1973, S. 343
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Hochebene oder Tafel, die sich durch Erosion oq~LAblage!UIlg bildet, eine Scheibe, durch die eine KJH>1!!J.!!19....Q.Qf.lr G'iQgsQ!Jmtung verzahntvyi~~_L..-~!!!~.. _~r_b~!ts-, .. W~r~.:._()..9~1_J~r~_~_~9bl'l~.,. Ob als Träger einer Schichtung oder Raumausfüllung, als Welle eines Differentials oder Getriebes, oder als ebener Sockel, auf dem Versatzstücke verschoben werden: stets bezeichnet der Ausdruck einen Prospekt, eine Kombinatorik von Flächen oder ,:'" Ebenen. Ein Plateau stellt die Sonderform einer Fläche, Ebene "e od~.Qt:>e~rf!~cl!e dar,Jn Sinn-,wie-derAusdrUckiri- der"Logik des Sinns verwendef wircCWir ·haben-däher-zü.~!i~g!iri-=-Wle ausgehend von d~I}'Lg~9metrischen !!~9!.i!t_Q~~s~~Il~J!~!.J;Je~ g!!fi deLE!~l~~.!!~.R~Qliget ~lJI{l[Q· . '!Y"!~_J~t~_il]~U~t>~ne?--'n~de_L.B.~l:lel wird ~ine EQ.elle als Inter!?_~~ tion oder Schnitt zweier Geraden definiert. Aber was ist ein Schnitt von Geraden? -Seit~öiiierenz'iindWiädiiihöjiini{'kreE,t das Denken v2nJ?~..!..euze um diese Fra~ Den Anlaß dazu gab ein Artikel des Altphilologen E. Laroche, der zu zeigen versuchte, daß die indogermanische Wurzel wnem- zwei ungleiche, zeitlich aufeinanderfolgende Bedeutungen aufweist: eine frühere, die "sich auf einer Oberfläche verteilen" meint und zu ; fr(omade führt, und eine später~, die "gemäß einer Regel teileh-Oder verteilen" besagt und' Nomos ergibt 11 Deleuze hat unablässig über diese Doppelung nachgedacht und das Problem, das in ihr enthalten ist, als Verhältnis von Strömungen thematisiert: ein Strom kann der Richtung des größten Gefälles folgen und zufällig und frei die andern Ströme, auf die er stößt, anschneiden, oder er kann sich eine Bahn schaffen und immer wieder in sein Strombett zurückkehren, wenn andere Ströme ihn abzulenken suchen. 12 Im ersten Fall bleibt die Richtung der Strömung der Natur überlassen und steht die Bahnung, der Einschnitt erst noch bevor (wir werden auf die Fragen zurückkommen, die in dieser Vorstellung enthalten sind), im zweiten Fall bildet sich ein System von Kanälen und Verteilun-
dem'·
11 Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 60 12 J. Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Die Schrift und die Differenz (1967), dt Frankfurt/Main 1974, S.302 ff.
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gen heraus 13 ,vondenen man Karten anlegen kann. 14 Um zu verst'ehen: was eine Ebene ist, muß man also alle möglichen Verbindungen, Verästelungen und Überschneidungen von Linien in Erwägung ziehen, nicht um die Zahl der Beispiele unnötig zu vermehren, sondern um Begriffe oder Funktionen zu bilden. In Wahrheit gibt es keine jungfräuliche, unberührte Oberfläche, keine Ebene oder Fläche ohne Aufriß; solange keine Unie gezogen ist, ist das apeiron, die Vorstellung einer Unbestimmtheit ohne Bahnung oder Skansion, eines Meers oder Tartarus ohne peras, das Glatte in der Sprache von Tausend Plateaus (Kapitel 14), hochgradig überdeterminiert. Die Leinwand des Malers, schreibt Deleuze in Logique de la sensation 15, ist nicht die vielbeklagte leere, weiße Fläche, sondern enthält potentiell eine Polymorphie von Unien und Zügen, zu denen auch all die Stereotypien gehören, mit welchen die Mode und der Zeitgeist unser Sehen konditionieren. Schaffen heißt, diese parasitären Fusseln geistig ausschalten oder solange traktieren, bis die einzigartige, notwendige Linie hervortritt, die den künstlerischen Gedanken offenbart. Schaffen verlangt, daß das Jungfräuliche theoretisch in die Fülle des Zusammengebrachten umgewendet wird, daß man, nach der Art eines Gegen-Alexander, im Gewühle der Züge den Wert des Vereinfachenden entdeckt. 16 Schaffen heißt Knoten aufspüren und an die Fäden heranlangen, nicht den Knoten zer13 R. Ruyer untersucht recht eindrucksvoll die Bildung von solchen Kanälen im Zusammenhang seiner in La cybernetique et I'origine de /'information, Paris 1954, entwickelten Informationstheorie. 14 Obwohl von einem anderen Ansatz ausgehend, kommt M. Serres in der Untersuchung dieser ZWänge zu ähnlichen Ergebnissen. Er legt die Gleichverteilung eines Gases (Isotropie) zugrunde und zeigt, wie infolge von Anisotropie parallele Streifen oder Kerben entstehen. VgL M. Serres, La naissance de la physique dans le texte de Lucrece, Paris 1977, und Kapitel 14 von Tausend Plateaus. 15 Paris 1981 16 Wie Nietzsehe in der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung im Hinblick auf Wagner glänzend formuliert. VgL F. Nietzsehe, Unzeitgemäße Betrachtungen (1867), in: Werke, Band 1, hrsg. v. K. Schlechta, München 1969, S. 381
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hauen. Nur so wird verständlich, daß die zugleich glatte und gekerbte, nomadische und normale, sich polymorph öffnende (das +Xa- des offenen Mundes) und laminare Strömungen freigebende Oberfläche (das +Xe- des Regens der Atome, wie Michel Serres in La naissance de la physique dans le texte de Lucrece darlegt) in Wirklichkeit ein Ort von Einschreibungen ist. Sie ist eine Matrix, die unablässig den Übergang regelt von der "Differentiation" (schon in Differenz und Wiederholung wird von der Virtualität gesagt, sie sei "real ohne aktuell und ideal ohne abstrakt zu sein") zur "Differenzierung", dem Eintritt des Realen, wo die Filigrane des Möglichen fettgedruckt werden. 17 Heißt das, daß die Oberfläche als ein abstraktes Verhältnis zu verstehen ist, wie die Notation von Deleuze suggeriert? Im Gegenteil, in Wirklichkeit ist nichts konkreter als eine Oberfläche, man denke nur an das Beispiel des Eis. Vorgeblich einfach und homogen, weist seine Oberfläche Tausende von Gradienten eines "organisierenden Dynamismus"18 auf, Ebenen, Schnitte, Drehungen und unwahrscheinliche Wölbungen. Ohne sie könnte die Ontogenese nie mit solcher Leichtigkeit und Intensität vonstatten gehen. Im Körper des Eis ist das Rätsel der Konstitution beschlossen, er bezeichnet den status nascendi. Im allgemeinen aber sind wir durch die festgestellten Formen und den 17 Vgl. dazu das 5. Kapitel (Asymmetrische Synthese des Sinnlichen) von Differenz und Wiederholung" a.a.O., und zum Verhältnis von intensiver und differentieller Quantität insbesondere S. 264. "Differentiation" und .Differenzierung" werden von Deleuze als zwei aufeinander irreduzible Weisen der Differenz eingeführt, deren Verhältnis oder Interaktion den Gegenstand konstituiert. In Anlehung an die Notation der Phonologie schreibt Deleuze dieses Verhältnis von frz. differenitiation und frz. differenciation mitunter auch als c - . Vgl. Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 265 und 308 ff. [A.d.Ü.] t
18 Vgl. A. Dalcq, L'oeuf et son dynamisme organisateur, Paris 1941. Das Buch wird in Differenz und Wiederholung (S. 317) und abermals in Tausend Plateaus (S. 211) zitiert. Das Ei stellt eine Variation der Differenz in allen ihren Formen dar. 20
"schönen Schein" (deren Macht in den Anfängen der Philosophie nicht in solchem Maße befestigt war und mit Nietzsche und Heidegger abermals zu schwinden beginnt) so verblendet, daß wir den Primat der bildenden Kräfte, des Werdens und der Metamorphose des Eis, des "Quasisubjekts", der "Larve", die unbemerkt in uns fortlebt, gänzlich vergessen. Seit Anti-Ödipus macht dieses Thema eine Verwandlung durch - im Sinne eines Übergangs zu einem Über- oder lebendigen Begriff wie bei Nietzsche - und taucht unter dem Namen "organloser Körpers" (oK) auf. So wird das diesbezügliche Kapitel von Tausend Plateaus: "Wie scham man sich einen organlosen Körper?" (S. 205) bezeichnenderweise durch das Ei der Dogons illustriert. 19 "Man sagt: was ist der oK - aber man ist bereits auf ihm, man kriecht wie Ungeziefer, tastet wie ein Blinder oder rennt durch die Gegend wie ein Verrückter, wie ein Reisender in der Wüste oder ein Nomade in der Steppe." (S. 206) Man kann also vom konstituierten Körper, der festen Form des Körperbilds, aus den Organismus in einer Art epoche Zug um Zug "außer Kraft setzen" und sich einen organlosen Körper schaffen. Nicht von ungefähr sind die Vorbehalte und "Widerstände" gegen den Text - das Wort in der (schizo)analytischen Bedeutung verstanden - an keiner Stelle so mächtig wie hier, ein Zeichen dafür, daß er ins Schwarze trifft. Je mehr er sich seinem geheimen Zentrum nähert, desto mehr werden seine Begriffe vernebelt, banalisiert und mißverstanden. Aber die Klinik zeigt, daß im Körper des Paranoikers, Hypochonders, Schizophrenen oder Masochisten eine solche Tendenz zu einer idealen Verschweißung, zur "Rundung des Eis" besteht, wie sie H!Jmpty-Dumpty in der Logik des Sinns ankündigt. Auch die Literatur kennt diese Tendenz, man den19 Die Illustrationen, die den Kapiteln von Tausend Plateaus vorangestellt sind, verdienten eine eindringliche Analyse. Sie stellen ähnlich wie die Bildtafeln in Anti-Ödipus und vor allem die .Den-Briefzur-Post-bring-Maschine" (S. 4) eher Paradigmen als ikonographische Beispiele dar und transportieren ein Maximum an Sinn. Ähnliche BeZiehungen bestehen zwischen dem Text von R. Roussel und den nur scheinbar naiven, in Wirklichkeit höchst aufschlußreichen Illustrationen von Henri A. Zoo
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ke an den progressiven Verlust der Differenzierung und der Beweglichkeit des Körpers bei Beckett (die im Namenlosen eine äußerste Grenze erreicht) oder an die Bemerkung Artauds: "Es gibt nichts Nutzloseres als ein Organ."20 Umgekehrt kann man vom organlosen Körper aus verfolgen, wie sich die Glieder differenzieren und der Körper festgestellt wird. In beiden Fällen bedeutet die Annulierung der Norm, daß zu der sie begründenden Instanz: zum Nomaden zurückgegangen wird. Die familiale wird durch eine präparentale Urszene ersetzt, die ödipal nur unter der Bedingung genannt werden kann, daß das Wort im Sinne von Levi-Strauss verstanden wird, d.h. als die ungelöste Frage einer maternalen oder chtonischen Geburt, als Option für oder gegen Verwandschaftsverhältnisse. Die Urszene oder experientia princeps dieses neuen Ödipus, der zugleich ein Anti-Ödipus ist, dieses Menschenungeheuers, das zu allem fähig ist, zu Lenzens "Irrgang" durchs Gebirge ebenso wie zum "Umschlag" auf der und als Einschreibeoberfläche 21 , konstituiert ein Modell der Intelligibilität des Realen in statu nascendi und zugleich ein Modul der Maschinerie des Lebenden selbst. Abgang der Psychoanalyse, die die Phantasmen nur in klingende Münze umsetzt, statt sie zu destruieren, und nicht wirklich zu jenem Nullpunkt vorstößt, der einzig den Boden für eine Aekonstruktion abgeben kann. Offenbar wird hier vom Blickwinkel der Philosophie aus gedacht und geschrieben, was einerseits Sicherheit gewährt, andererseits aber auch Gefahren heraufbeschwört. Der Wunsch nach dem zerstückelten oder verschweißten Körper ist so mächtig, daß mitunter improvisiert und sozusagen mit fliegenden Händen geschrieben werden muß, damit der Text nicht entgleist und a.a.O., S. 206 (Artaud-Übersetzung geändert) 21 An dieser Stelle kreuzt sich die Problematik von Deleuze ohne Zweifel mit der physis Heideggers und der Vorsokratiker. Heidegger hat gr. bole - der Ausdruck benennt die eigentümliche Bewegtheit der physis - mit Umschlag übersetzt. Vgl. M. Heidegger, Vom Wesen und Begriff der physis (1939), in: Wegmarken, FrankfurtlMain 1967, S. 237 ff. Auf diese Affinität hin angesprochen, meinte Deleuze, daß physis in seinem Werk eine zwar nicht unwesentliche, aber - ähnlich wie andere Schlüsselbegriffe - eher implizite Rolle spiele. 20 Tausend Plateaus,
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der Umschlag nicht zum unfreiwilligen Abstieg ins Inferno der Drogenabhängigkeit gerät, zu einer "ungezügelten Entschichtung", einer Verblendung durch Thanatos, zum Sieg der sich selbst attackierenden Kriegsmaschine. Auch kann man in einem Jahrhundert, in dem der Kampf gegen alles der Metaphysik Verdächtige gleichsam zu einer Gewohnheit wurde, nicht gänzlich den Gedanken abweisen, daß in dem Verlangen nach einem organlosen Körper sich abermals die Suche nach einer transzendenten Einheit des eigenen Körpers verbergen könnte, eine Suche, die so unterschiedliche Erfahrungen wie die einer Mary Barnes oder eines Mezz Mezzrow miteinander verbindet. 22 Haben wir es, mit anderen Worten, nicht abermals mit dem phi-Iosophischen Wunsch zu tun,' zu einer Art Grund, einem uner-schütterlichen Boden oder einem "radikalen Anfang" (Husserl) zurückzukehren? Einem Wunsch, der umso diabolischer ist, als er, sozusagen "um das Konto auszugleichen", eine Annullie-rung vollzieht, die negativ ist, wenn man ihr vorhält, positiv zu sein, und positiv, wenn man sie des Gegenteils bezichtigt, und der sich, im Namen einer leeren Mitte, im voraus sowohl der Heidegger'schen Kritik des Satzes vom Grund als auch der Kritik des Freud'schen Todestriebs entzieht?23 Notwendigkeit und Strenge implizieren, daß Deleuze derartige Einwände vorweggenommen hat, nicht zuletzt darum, weil der Begriff einer Oberfläche, die die Ströme, die sie ihrerseits kon22 M. Barnes ,Meine Reise durch den Wahnsinn. Aufgezeichnet von Mary Barnes und kommentiert von ihrem Psychiater Joseph Berke,
FrankfurtIM. 1983 . M. Mezzrow, La ragre du vivre, Paris 1959. 23 Zum Begriff des meson bzw. der leeren Mitte vgl. die Untersuchungen von J.-P. Verant Mythe et pensee chez les Gracs, Paris 1990, 8.238 ff (.Espace et organisation politique en Grece ancienne") und M. Detienne, Les Maftres de verii8 dans la Grece archaique, Paris 1973 (.Le proces da laicisation"), Zum .Radikalismus des anfangenden Philosophen", den Husserl im .cartesianischen Umsturz" und in der .Zweckidee einer absoluten Begründung der Wissensct:Jaft" verwirklicht sieht, vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen (1929), Den Haag 1950, passim.
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stituieren, trägt, schon in den früheren Schriften erarbeitet worden ist. Gegeben sei also eine Ebene oder ein Plan, oder genauer - denn es gibt keine Ebene, die gänzlich unmarkiert ~äre, es sei denn, man berufe sich, entgegen der Warnung Bergsons, auf die Negation oder eine Art "indirekter Ausstreichung" -, eirl_E:n~emble von Kräften, Trieben, Wünschen oder Strömen, die Bahnungen brechen und, indem sie ihrer präferentiellen Richtung folgen, da, wo zunächst nur ein idealer, isotropischer Raum bestand, eine reale Oberfläche trassieren. Die Kräfte affizieren einander in ihrer aleatorischen Bewegung und produzieren in dieser Ko-Tangenz (Kontingenz) erste Konfigurationen oder archaische Komplexe. Es ist darum nicht überraschend, wenn man in Tausend Plateaus unablässig auf das Thema des Nomadismus stößt, auf eine "Abhandlung über Nomadologie" (die eine Parodie auf die Monadologie darstellt, ähnlich wie eine berühmte Genealogie durch eine Geologie der Moral ersetzt wird, in der neue, höchst ungewöhnliche Denkweisen erprobt werden und Humor und bitterer Ernst, wie bei Kafka, einander die Waage halten, Kapitel 12 und 3) oder auf eine Abhandlung über "Linien, Meridiane, geodätische Linien, Wendekreise, Zeitzonen" (S. 276), die uns durchqueren und sich zu Systemen zusammenschließen (Kapitel 8). In der Begegnung der Wunschströme werden Synthesen, oder wie Deleuze auch sagt, einfache Maschinen produziert. Zu beachten ist hierbei, daß es der Wunsch selbst ist, der maschinelle Gefüge produziert. Maschinell - die mechane der Griechen - hat nichts mit mechanisch zu tun, und Boutang irrt, wenn er da!) "sei es, daß ... sei es, daß" tritt ein "entweder... oder", das selektiv Begegnungen ausschließt und Versuche abtreibt, bestimmte Maschinentypen untersagt und Möglichkeiten opfert. (AntiÖdipus, S. 38) In der dritten, der konjunktiven oder konsumativen Synthese, wird aus dem Vorangegangenen Bilanz gezogen: GenUß, Mehrwert, "Einkunft", würde Lyotard sagen. In ihrem immanenten Gebrauch kommt die naive Freude angesichts einer unerwarteten, erfüllenden Begegnung zum Ausdruck, die Verwunderung wie in dem "das war es also" oder der Liebe zwischen Daphnis und Chloe. Der transzendente Gebrauch dagegen konfisziert den Genuß zugunsten des Sozialen, der großen Signifikanten und des Phantasmas der ödipalen
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Triangulation, wie in dem "Ich war es" des Ödipus oder dem Vorwurf "Du und dein schmutziges kleines Geheimnis". Die ganze Anstrengung des Anti-Ödipus ging darauf, die Schuldgefühle wegzuschaffen, die durch den transzendenten Gebrauch der dritten Synthese produziert werden. Im Anti-Ödipus wurden Kriegsmaschinen gegen die Psychoanalyse errichtet. In Tausend Plateaus werden aus diesem Krieg die Konsequenzen gezogen und eine neue Konstruktion gewagt - ähnlich wie die Überschrift des 7. Kapitels: "Das Jahr Null - Erschaffung des Gesichts" den Titel von Rossellinis Film: .Deutschland im Jahre Null" aufnimmt und weiterführt. Ein Plateau stein also eine immanente Synthese dar (in Proust und die Zeichen2 6 war von einem höchst empfindlichen .Spinnennetz": dem Netz des Schriftstellers die Rede). Als solche ist es zunächst Verkopplung zweier Ströme, energetische Stromentnahme, durch die die Potenz der beiden Kräfte gesteigert wird, (spinozistisches) Bewußtsein des Mehr-Seins im Genuß. Aber das wurde schon in Differenz und Wiederholung und in Anti-Ödipus gesagt. 27 In Tausend Plateaus jedoch wird es in einem veränderten, durchweg positiven und heiteren Ton dargetan und um eine Theorie der Linien und Zeichensysteme und eine Theorie der Plateaus ergänzt. Die Linientheorie wird im 8. Kapitel ("Drei Novellen oder 'Was ist passiert?"') vorgetragen. Im Begriff der Spaltungslinien und der Linien geschmeidiger Segmentarität werden die immanenten konnektiven und disjunktiven Synthesen wiederaufgenommen, während die Schnittlinien und Linien harter Segmentarität der transzendenten disjunktive Synthese entsprechen. Die Bruchlinien sind im Grunde nichts anderes als die schon aus dem AntiÖdipus bekannten "Fluchtlinien". Aber die Zäsuren sind so verschoben und umverteilt worden, daß alte Polemiken in den Hintergrund treten und nunmehr all das herausgearbeitet wird, 26 Paris 1964, dt. Berlin 1992 27 A nti-Odipus, a.a.O., S. 21, 47-53, 68, 93; Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 60, 102, 109, 131, 145, 151; Tausend Plateaus, a.a.O., S. 185, 703-706.
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was Beweglichkeit und Kreativität begünstigt. Aber wenn man so von der Hypothese ausgeht, daß der Gefüge und Maschinen produzierende Wunsch zwischen der Scylla der Stromunbestimmtheit - auf der sein schier unbegrenztes Verwandlungsvermögen und die Fruchtbarkeit seiner Konnexionen beruhen, die verhindern, daß Personen und Körper sich strukturell stabilisieren - und der Charybdis der rigiden Stromeinschreibung - die das ganze System in den Tod stürzen läßt - hin und her pendelt, stellt sich die Frage, welcher Spielraum dann noch für den polymetis bestehen bleibt, um im Rhythmus eines solchen sich ständig verschiebenden Fließgleichgewichts fortzutreiben. 28 Die Theorie der Plateaus, die ausdrücklich den Ertrag der Synthesen berücksichtigt, ist, so scheint uns, in der Lage, die Richtung einer Antwort auf diese Frage· anzuzeigen. Zunächst: Warum haben wir auf der Ebene des Plateaus eine Differentialität am~usetzen, die nicht mehr von makroskopischenEinheiten wie Körpern oder. Personen, sondern von p~unktuellen seriellen uEleme!ltt3fJ =a_bhäng(jergestafC aal3~ie BeZiehungen der Körper ihrerseits singuläre Begegnungen darstellen und. einer Mikrologie unterliegen? Abgesehen von Guatfiujs Projekt einer politischen Mikrologieenthält vor allem ein kurzer, 1973 erschienener Text von Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus? 29 wichtige Hinweise zum Verständnis des Durchbruchs, der mit dieser Verschiebung erzielt wurde. 30 Der linguistische und ethnologische Strukturalismus lehrte zum Beispiel, daß der Sinn eines Satzes sich aus der Überlagerung von paradigmatischer Achse (der Serie der Substantive: Hund, Katze und der Verben bel/en, kratzen usw.) und syntagmatischer Achse ergibt und das Syntagma 28
Majakowski und die Oktoberrevolution. Zum Rhythmus vgl. E. Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft (1966), dt. München 1974, S. 363ff und M. Heidegger, Das Wort (1958) in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 217 ff. 29 dt. in Geschichte der Philosophie, Band 8, hrsg. v. F. Chätelet, Hamburg 1975 ,S.2691. Als Einzelausgabe erschienen Berlin 1992. 30 Wir verweisen auf diesen Text, obwohl ihn Deleuze inzwischen für überholt hält.
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Hund bellt, Katze kratzt als Konnexion der Serie der Substantiva und der Serie der Verben verstanden werden kann. Ähnlich ergibt sich der Sinn des Mythos aus einer Überkreuzung von Serien: "Ödipus heiratet seine Mutter" und "Die Spartaner vernichten die Drachen", wobei der Akzent auf der Verbindung von Serien - wie im Fall der Metapher - oder auf den Verhältnissen, die innerhalb einer Serie walten, liegen kann - wie im Fall der Metonymie. Kann man diese Prinzipen der Serialität, der seriellen Differentialität und der inter- und infraseriellen Beziehungen, die die Konstitution von Elementen (Phonemen, Mythemen, Philosophemen usw.) regeln und dem Diskurs oder der Wissenschaft vom Diskurs zugrundeliegen, auch auf das Leben selbst anwenden? In der Tat, es genügt, daß man zwei Serien nimmt, die zwei Körper repräsentieren und ein Element wie Mund zugleich "essen" und "sprechen" bedeutet. Deleuze hat in Logik des Sinns anhand der Kofferwörter von Lewis Caroll und der Anspielungen von Artaud die Bildung solcher Serien vorgeführt. Ihre Elemente sind Singularitäten, Haecceitates, glänzende Punkte - Namen, die alles, was blinkt und den Wunsch entzündet, bezeichnen. Die Metonymie fungiert als Besetzungsübertragung von Sinn zu Sinn, von einem zum andern Organ innerhalb der Körperserie, während die Metapher Qie Begegnung zweier Körper repräsentiert. Folgt man B4ta,Hle, der sagte, man wisse nicht, was Schwimmen heißt, un~""Deleuze, der ganz analog den Ausspruch Spinozas "Man weiß nicht, was ein Körper vermag" zitiert, so ist die Begegnung zweier Körper in doppeltem Sinn ein Rätsel, nicht nur auf der metaphorischen - Ebene des Diskurses, sondern auch - infolge ihrer fortwährenden Metamorphose - auf der Ebene der Körper, ihrer oberflächlichen Tiefe und der Mannigfaltigkeit ihrer glänzenden Punkte. Das Spiel von Metapher und Metamorphose deutet an, daß man in die "Physik" und in das Leben selbst eintritt. Entzückung desjenigen, der wie Baudelaire unerwartet einer Vorübergehenden begegnet. Der organlose Körper ist eine solche Entgrenzung des Individuums in Ansehung seiner Sinne und Organe, deren Ort und Funktion lange Zeit für end-
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gültig erachtet wurde. Er bezeichnet den Versuch, "die feste Abgegrenztheit der menschlichen Körper" aufzulösen, an der Kafka irre ward. 31 Vielleicht wird so deutlicher, was mit Entgrenzung gemeint ist: denn nur dann, wenn man nicht weiß, was ein Körper vermag, wenn man nicht weiß, wo und wer der "eigene" Körper ist, wenn man Sinne und Organe ein wenig flottieren läßt, so daß sie wie Schlittschuhläufer ungeregelt übers gefrorene Eis gleiten (was alles andere als gefahrlos ist: ein Dichter konnte hierbei den Tod finden 32), können die Elemente des Körpers und des Denkens einander wirklich begegnen und sich verwandeln. Eine solche Verwandlung ist wie bei Kafka in doppeltem Sinne hündisch", sie ist zugleich "kynisch" und Hund-Werden eines Körperteils, Verwandlung der Stimme, sich schämen, mit dem Schwanz wedeln... 33 . Und wie an Kafkas existentiellem Schwebezustand deutlich wird, wird man niemals gänzlich und an allen Stellen des Körpers Ratte, Sängerin, Dachs, Käfer, sondern immer nur an einer oder mehreren Zonen. Sie treten mit den Zonen eines anderen, fremden Organismus in Kontakt und "schwirren" mit ihnen zusammen los. Das Rätsel des "Werdens" und der "Werdensblöcke" löst sich damit auf. Die merkwürdige Verwandlung Challengers im 3. Kapitel ("Geologie der Moral") und das lange Kapitel über das Frau-, Kind- und Molekular-Werden (Kapitel 10, "Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar-Werden") sind als ein Kommentar zu dem "physischen" Bindeglied zu lesen, das die gelehrten Karten des Strukturalismus abpaust und parodiert. Fassen wir zusammen. Während sich der Strukturalismus mit den kognitiven Elementen von parallelen Serien befaßt, geht es dem "Poststrukturalismus" (freilich müßte eine solche Namenszuschreibung präzisiert werden, denn "post" bezeichent 31 F. Kafka, Tagebücher 1910-1923, a.a.O., S. 342, und ähnlich in der Erzählung Beschreibung eines Kampfes in: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, Frankfurt! Main 1969, S. 33 32 Georg Heym kam bekanntlich ums Leben, als er seinen Freund, der beim Schlittschuh laufen einbrach, retten wollte. 33 Das eindrucksvollste Beispiel dafür findet sich in In der Strafkolonie.
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nicht nur ein "später" im zeitlichen Sinn, sondern auch und vor allem die Ergänzung, Umkehrung und Anwendung des oder der Begriffe, deren Posterität oder Erbschaft in Frage steht) um die singulären Punkte von aneinander gekoppelten Serien und um ihr wechselseitige~ Werden, ihren "Werdensblock". Dieser Block bildet die kleinste Einheit einer Verwandlung. Er besteht aus einer Ebene, die durch die miteinander verkoppelten Serien definiert ist, und wenigstens zwei Blinkelementen mit variabler Ladung, die - wie vom Peitschenhieb des Kutschers, der in die Sturmnacht hinausfährt, mitgerissen - zusammenschießen und verschmelzen. In dieser Fusion entstehen, ohne daß man wüßte woraus, die tausend Plateaus, die wir suchen. Das einfachste und bekannteste - und insofern überdeterminierte - Plateau, das Modell, welches ein Gutteil der Ablagerungen der abendländischen Ontotheologie getragen hat, ist der Aufriß des Gesichts, "schwarze Löcher auf weißem Grund" (Kapitel 7, "Das Jahr Null - Die Erschaffung des Gesichts"). Souveräne Intensität und Beweglichkeit des Auges, "Augenblick", da die Welt begegnet, Blinzeln und Glanz von Kinderaugen. Ein Abenteuer beginnt mit dem Auge, das Sehen bildet den Begriff der kartographischen Urszene. Es ist kein Zufall, wenn Deleuze eines der schönsten Kapitel von BewegungsBild. Kino 1 34 der Großaufnahme widmet. Aber auch hier lauert die Transzendenz: mit der Verwandlung des Antlitzes Christi wird, gleichsam als "Einkunft", jener höhere Signifikant installiert, dessen "Entzauberung" einen Picasso, man denke an die Verzerrung der Gesichter in Les Demoiselles d'A vignon, unendliche Mühe kosten wird. Verweilen wir einen Augenblick bei diesem "poststrukturalistischen" Übergang. Seit langem schon findet sich bei Deleuze der Gedanke, daß es im Grunde nur eine Linie gibt: das Zickzack des Blitzschlags, eine Linie, die untrennbar ist von einem "dUiik-efn -Vorstrom" oder "Vorboten" und in der das "Ungeheuerliche", das Unbestimmte und Unvorhersehbare, das Vielge-
staltige "andi~ Operfläche tritt".35 Ir!L Augenblick ges _Blitzschlags hat nichts mehr Sinn noch Stelle, verlieren die Formen ihre Begrenzung. Im Blitz geht es um die "absolute DeterritoriaIisierungsgeschwindigkeit", um eine Bewegung auf de-r Stelle, ~ine Reise außerhalb des Raums. Um das plötZliche Licht einer reinen Gewalt, die keinen Bildersturm anstiftet, sondern tiefer greift und, scheinbar unbewegt und unwahrnehmbar, unbekannte Erdstriche aufleuchten läßt. Nicht um das Licht des Wissens, sondern eher um den keraunos Heraklits -oder das Licht- Fichtes, um das Füllen des Tao, das wie ein Blitz über den Graben setzt, um den Strahl der griechischen Tragiker. Um einen shunt oder Kurzschluß, wie er bei Berührung von Polen mit entgegengesetzter Ladung entsteht: die beiden Enden entzünden sich und gehen ineinander über. (die Negation ist, wie Kant wohl wußte, nur ein umgekehrtes Vorzeichen). ~ Deleuze hat nie einen Hehl aus seiner Vorliebe für die "kleinen,i Autoren gemacht, die den großen Signifikanten den Rücken kehren und mit unerhörten Beschleunigungen experimentieren, wie Melville, Thoreau, Miller, Kerouac, D.H. Lawrence, Lenz, Schiller, Kleist, Artaud, Beckett, Gombrowicz. Sie alle erzählen von Verwandlungen und aberwitzigen Begegnungen. Die konnektive Stromverkopplung hat den Charakter einer "Zündung", "Leitung" oder "Übernahme". Aber Leitung (prise) ist fast nicht von verleiten (emprise) und Übernahme (captage) nur schwer von Vereinnahmung (capture) zu unterscheiden. Was ist eine Vereinnahmung, und wie haben wir Kapitel 12 ("Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine") und 13 (" Vereinnahmungsapparat") zu lesen? Vereinnahmung heißt, durch einen Köder ein Element, das dem Organismus äußerlich ist, so umfunktionieren, daß es als Organ des Organismus selbst fungiert. Es gibt zahlreiche solche miteinander interagierenden, räumlich verteilten "Organismen" wie Wespe und Orchidee, und je nachdem, welche Form und Farbe das von der Pflanze imitierte Organ hat, spricht man von FliegenWespen und Hummelorchideen. 36 Vereinnahmung impliZiert
34 Paris 1983, dt. Frankfurt/Main 1991 35 Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 157 f.
36 Deleuze kommt darauf im Zusammenhang des Maschinenbuchs
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von Samuel Butlers Erewhon
zu sprechen.
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einen solchen "natürlichen" Gebrauch von Teleorganen und führt zur Bildung von frei beweglichen, wandernden und doch zugleich relativ stabilen Ensembles. Erfaßt die Vereinnahmung auch den Menschen, spricht man von Gefügen, wie im Fall der Kombination Pferd-Mensch-Steigbügel oder Pferd-MenschBogen, wo ungleichartige Elemente ruckartig zu einem Block zusammentreten. Durch die Erfindung von Gefügen kann ein Volk einen Zeitvorsprung erringen, seine Herrschaft befestigen oder andere Völker erobern, wie der Einfall der Hyksos in Ägypten zeigt. Gefüge sind Maschinenbegriffe und bilden den Sockel der Hominisation, wie Aischylos am Beispiel des Prometheus gezeigt hat. Aber eine solche fulgurante Fügung hat den Nachteil, daß sie zu lange vorhält und nur schwer aufgebrochen werden kann. Bekannlich überdauern tote technische oder intellektive Maschinen oftmals ihre "Zeit". Nur ein sorgfältiges, geduldiges Verständnis dieser Maschinen bietet die Gewähr, daß durchgebrannte oder fossile "Kriegsmaschinen", die nur mehr den Tod verbreiten, entwaffnet werden können, und ermöglicht, die Thanatokratie wirksam zu denunzieren. Eine kurze Überlegung genügt, um sich zu vergewissern, daß der Begriff der Maschine - entgegen einem verbreiteten Vorurteil, das oftmals zu Fehlinterpretationen geführt hat - nichts mit der' Welt der Technologie, die vielmehr nur eine Art Ableger ist, zu tun hat. Hegel hatte das erkannt und die Maschine als das einfache Negative oder das Selbst bezeichnet. Ein Arm, mit einem Stein bewaffnet wie in den Anfängen der Menschheit, ein Bogenschütze, ein Ritter in Rüstung, ein Maurer auf einem Gerüst oder ein Esel am Schöpfrad sind nicht weniger Maschi. nen als Autos oder Computer im Augenblick ihres Gebrauchs. Der Begriff der Maschine verweist immer auf Energie, Motor, Bewegung, Vehikel, Sollwert, Abweichung vom Sollwert, Vergleich, Rückkoppelung des Informationseingangs mit der Energiezufuhr (durch den Schieber). Würde man diesen Gedanken nur ein wenig weiter vorantreiben, so würde deutlich, daß es der technologischen Welt, die im Grunde nichts anderes als eine riesige "Ma~chinenmaschin~~,J~t, vor allem an einer Vergleichsinstanz, an einer Reflexion auf den Zweck und einer
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philosophischen Rückkoppelung dieses Vergleichs mit dem technischen Fortschritt mangelt. Eine solche "philosophische Mechanologie" könnte eine wesentliche Denkrichh.mg-' des kommenden Jahrhunderts ausmachen. Eine Ahnung davon liefert das 5. Kapitel von Tausend Plateaus, das unter dem Titel "Über einige Zeichenregime" in den komplexen Bereich der geschmischten Gefüge einführt. In diesen Gefügen stellen Energie und Motor zugleich Sollwert und Vergleich dar. Es handelt sich, wie im Fall des prüfenden Blicks des Herrschers oder der Paranoia des Eifersüchtigen, um ein Ensemble selbstbezüglicher, spiral- oder schneckenförmiger Bewegungen, in dem sämtliche Indikatoren durcheinandergewirbelt werden und in dem der Sollwert die Implosion des Systems bedeutet. Das Zentrum wird durch die Peripherie fortWährend verdoppelt und schlägt zugleich das Auge immer mehr in seinen Bann. Die Gefüge greifen dabei unwillkürlich auf Interpretationen, Vorstellungen, Bilder und Diskurse zurück und parodieren die reale und notwendige Rückkoppelung. Baudrillard hat diese Mechanisrnen wiederholt beschrieben und zuletzt auf einen abstrakten Code, der den Wunsch reglementiert, zurückgeführt. Aber ein Zeichenregime ist immer doppelköpfig: nach einer Richtung hin wird Entropie produziert, nach der andern brechen "Fluchlinien" (der Sündenbock) auf, in denen die Vereinnahmung wieder in bewegliche Kraftzentren zurückverwandelt wird. In Anti-Odipus wurden diese Prozesse am Beispiel der realen Maschinen, die an unsere Pforte pochen und sich anschicken, das gesamte System zu "mobilisieren", dargestellt. Wir rühren hier an den Nervenpunkt des Systems von Tausend Plateaus. Deleuze hat immer wieder dargetan - und die analytische Praxis Guattaris hat diese Annahme bestätigt -, daß die kl~~!)ische Theorie des Wunsches als Mangel, ob nun in Ge~a!tdes i:ros _als Sohn der Penia, des Negativen -bei Hegel oder des Buchstabens a bei Lacan, unhaltbar ist. Ihr liegt die Vorstellung eines negativen Wunsches zugrunde, eines Wunsches, der sich gegen sich selbst kehrt und das Individuum von innen her zerstört, ohne daß dafür ein anderer Grund als
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das bloße Schicksal ("Entsetzen der Ananke") angegeben werden könnte. Im Geiste Nietzsches geht Tausend Plateaus davon aus, daß der Wunsch nur als ungeteilte,. bejahende Kraft verstanden werden kann, die an sich selbst nichts Negatives hat. Das System der Negativität hat lediglich den Charakter einer "Wirkung", eines "Oberflächeneffekts" und muß als Folge der Verkehrung der Fabrik in ein Theater, der Wunschmaschine in einen Spiegelungswunsch, als Effekt der "Mimesis" und des Primats der Repräsentation in den Gefügen begriffen werden. Schon in Proust und die Zeichen und Differenz und Wiederholung wurde das Bild eines Denkens, welches das Reale vereinnahmt und zu seinem äußeren Organ herabsetzt, verworfen. 37 Aber wie haben wir dann die "Disparität" zu verstehen, den Blitzschlag, der einer Diagonalen oder Transversalen entlang asymmetrische Elemente durchläuft, zersetzt und verschweißt?38 Die Auflösung, die mit dem zerstückelten Körper Orpheus' oder Dionysos' geschieht, den Schnitt des Zuges, der eine Landschaft durchfährt und unwiderruflich in Segmente teilt? Ist nicht gerade dieses "dispars" das Negative selbst? Man kann das gesamte theoretische Werk von Deleuze als Versuch betrachten, dieser Frage eine bündige Antwort zu erteilen. Auch die Entscheidung, "mit zwei Händen und mit zweifachem Gehör" (Derrida) zu schreiben, läßt sich so verstehen, zumal sich die Arbeiten Guattaris ihrerseits in Richtung einer solchen Transversalität bewegen. Diese Antwort, die implizit in den Schriften von Deleuze enthalten ist, konstituiert gewissermaßen eine "vierte Synthese". Man könnte sie disparative Synthese nennen, nicht weil sie eine Disparition, ein reines Verschwinden anzeigt, sondern ein Disparat- oder UngleichWerden, einen Übergang. Denn der Blitzschlag, der die beiden Elemente verschweißt, verschwindet nur, um auf ein anderes Plateau überzuspringen und dort abermals Partikel zu verschmelzen. Die Regel, nach dem ein Rhizom angelegt wird,
lautet also: eine Ebene trassieren, auf dieser zwei Punktreihen eintragen und zwischen einigen Punkten der Reihen asymmetrische Verbindungen herstellen. Anschließend die Linie, die die Punkte verbindet, verlängern, bis sie eine andere Ebene erreicht und wie eine Fluchtlinie an den Punkten der neuen Reihe entlang fortläuft. Ein Rhizom ist ein solches unbestimmtes Netzwerk oder Labyrinth im Sinne Nietzsches, Modell des positiven, sich immer wieder erneuernden Wunsches. Wir verstehen nun, was die Autoren meinen, wenn sie von Deterritorialisierung, Intermezzo oder Fluchtlinie sprechen: die Ausdrükke spielen darauf an, daß alles, was geschieht, nicht an einem Ort, sondern zwischen zwei oder mehreren Orten geschieht, in einem Zwischenraum, wo die Dinge eingefädelt und aufgefädelt werden. 39 Die Diagonale oder Transversale "vergiBt" die Plateaus, auf denen sie entlang gleitet und ist einzig bestrebt, Plateaus oder Kopplungen abermals zu verkoppeln (vielleicht könnte man sich auch die Abfolge der Akte eines Lebens als eine solche "rhythmische Sequenz" vorstellen - jedenfalls hat die Philosophie diese Frage bislang nie gestellt). Kraft dieser Indifferenz mißachtet die Diagonale die Zeit, ist sie Vergessen der historischen Zeit, "absoluter Überflug" der Zeit. In Anti-Ödipus war der Schizo mit dem Vermögen· begabt, die Geschichte augenblicklich zu überfliegen, um sich singulären Punkten anzuverwandeln: Bonaparte, Jeanne d'Arc, Ludwig XIV. Tausend Plateaus ist ein solcher Überflug, der den historischen Zeitgang dereguliert: von 1947 bis zum Jahre Null, von 1923 bis 587 v. Chr., von 1227 bis 7000 vor unserer Zeitrechnung. Die Plateaus bezeichnen die Schwungbahn eines aleatorischen Pendels, sie legen histologische Schnitte in das Gewebe der Geschichte. Der Zufall hat im Rhizom keine andere Bedeutung als die einer Instanz, welche die Erwartung wohlgeordneten Funktionierens, wie sie einer phantasmatischen, aus Erinnerungsbildern rekonstruierten Geschichte zugrundeliegt, enttäuscht.
37 Vgl. Proust und die Zeichen, a.a.O., S.78ff. und Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 169 ff. 38 Differenz und Wiederholung, a.a.O., S. 158
39 Man kann dieses Modell auch mathematisch ausdrücken, etwa in Gestalt einer Katastrophentheorie oder als geblätterte Riemannsche Fläche.
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Vor allem aber wird, sobald die Epochen in einer Achronie ohne Ursprung und Referenz zu flottieren beginnen, sichtbar, wie die Diagonalen funktionieren. Die Zurückweisung des Ursprungs kann vielerlei Formen annehmen: während sie bei Foucault eher den Charakter eines endlosen Schritts zurück hat und bei Derrida als differance oder Aufschub gedacht wird, als Leerraum zwischen Buchstaben, "arche" des Hymen und pharmakon, die die Erstmaligkeit verschieben und zu einer "zweitmaligen Erstmaligkeit" machen 40 , wird bei Deleuze der Ursprung darum unauffindbar, weil, wie Serres sagen würde, kein lineares, sondern ein tabulares Modell zugrunde gelegt wird. 41 Wie sollte man auch den Anfang eines Rhizoms ausfindig machen? Wenn die Geschichte rhizomatisch ist, wird sie autoreferentiell und genealogisch. Diesem "Perspektivismus" liegt die radikale Einsicht Nietzsches zugrunde. Man hüte sich also, jene Genealogie, die in Tausend Plateaus ("Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie", Kap.1, S.21) verurteilt wird: Aboreszenz und "Stammbaumlinearität", mit der nietzscheanischen Genealogie zu verwechseln, die Deleuze und Guattari geradezu aktiv praktizieren, wenn sie Maschinen, unterirdische Gänge und Spinnennetze anlegen und nicht dem Sinn, sondern Kraftlinien nachspüren. Rhizom ist die erste philosophische Untersuchung, die ausschließlich geographisch und kartographisch verfährt. Mag sein, daß diese Neuorientierung durch die Begegnung mit Kafka ausgelöst wurde. Kafkas Bemerkungen über Landkarten sind bekannt42 , desgleichen seine Vorliebe für Architektur und Kartographie, die zweifellos auf die allzu kurze
40 Wie Derrida in L 'arch{]ologie du frivole, Paris 1973 und 1990, treffend formuliert. 41 M. Serres, Hermes I, Kommunikation (1968), dt. Berlin 1991. Ähnlich das von G. Simondon in Du mode d'existence des objets techniques, Paris 1969, erstellte "Diagramm für Interaktionen in integrierten Umwelten". 42 "Mit dem Stundenplan hast Du mir Freude gemacht. Ich studiere ihn wie eine Landkarte. Wenigstens eine Sicherheit." (F. Kafka, Briefe an Milena , Frankfurt/M. 1966, S. 185)
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Freundschaft mit O. Pollack zurückgeht. Aber man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß die Geographie hier zu einer Physik wird, den Ausdruck im Sinn der (Meta)Physik Bergsons, oder besser: einer Geographie der physis verstanden. Bekanntlich hat Deleuze sich in seinem gesamten Werk um den Begriff des Lebens, um den Umschlag oder den elan des Lebens, um die Geburt bemüht. Die Geschichte wird in den Untergrund hineingetrieben und verschmilzt mit dem unmerklichen, grasüberwachsenen Sockel, mit der unbestimmten, wüstenartigen Erstreckung, in der sich das Wesentliche abspielt: Kopplungen und Konnexionen, welche die Vermögen der Körper und ihrer Gefüge steigern und zuletzt ihrerseits Wurzel und Ursprung werden. Naturgeschichte der Verwandlungen des Menschen. Der Mensch ist nicht in Grenzen eingeschlossen, er ist nicht ein für allemal festgestellt, er ist kein Wesen, das denkbar wäre ohne Rest. Er ist unendlich dem Möglichen geöffnet. "Nichts ungeheuerer, als der Mensch." (Chor der Antigonä, 325 ff.) Einesteils göttlich, andernteils animalisch, unbezähmbar, von Abgrund zu Abgrund schreitend, biegsam und unverderblich, leichtträumend, die Erfahrung des Meeres suchend und der Schiffahrt mächtig. Er bringt in sich die Synthese aller lebenden Organismen hervor, hebt sie über sie selbst hinaus und steigert die Potenz des Realen. Das ist mit Bewegung des Realen gemeint. Eine entgegengesetzte, phantasmatische und illusorische Bewegung jedoch blockiert alle diese Synthesen, unterwirft die Plateaus, begünstigt die Schwere der übercodierten Signifikanten (Wissen, Besitz, Gesicht, Name des Vaters, Gesetz, Gott). Die ..Metaphysik" von Tausend Plateaus möchte uns von diesem Phantasma befreien. Sie entwirft keine noumenale, unverifizierbare Totalität, sondern eine phänomenale Summe der bloßen Alltäglichkeit. Sie beschreibt die ..Physik" der tausend Ebenen, die Augenblick für Augenblick von den unter veränderlichen Sonnen blinkenden Facetten unserer Körper gebildet werden... AugenzvvinJ~Ul.'·.. ge§ ..B~alen. Es handelt sich weder um Anarchle-riochum Revolution,· auch nicht um die Glorifikation des gewaltsamen Wunsches der Kriegsmaschinen,
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die sich früher oder später gegen sich selbst wenden. J::s handelt sich nicht darum, die Schizophrenen, Drogenabhängigen oder Ausgeflippten zu rühmen, sondern vielmehr darum, .~; einen ungenierteren, freieren Blick auf die Lawine der Fakten zu werfen, auf Begegnungen und Einzelheiten, auf die Verschachtelungen des Realen, die uns, wie der Kosmos Gombro\A{iQz's, von allen Seiten her angehen und Tag für Tag modeln und umgestalten, wie hartlebig auch immer unser Glaube an die Identität unserer Person sein mag. Es handelt sich darum, dem Akt, der Gerechtigkeit des singulären Akts Platz zu machen, und auch hier weist Kafkas Beharren auf dem absoluten Primat des Akts, sein apodiktisches Prinzip einer schuldlosen Schuldhaftigkeit, den Weg. Es handelt sich darum, wie bei Parmenides und Spinoza zwischen dem Realen, das allseitig produziert und wirkt, und dem Phantasma zu unterscheiden, welches das Reale zwangshaft überwölbt und verkehrt, ohne freilich an dessen Prinzip, das Leben, heranzureichen. Wir selbst sind, flüstert das Buch uns zu, Geschwindigkeit und Metamorphose, trotz der Hartnäckigkeit, mit der unser Spiegelwesen fortbesteht. Aber einzig der äUßersten Redlichkeit des künstlers und Philosophen ist es gestattet, das zu sagen und zum Gegenstand der Darstellung zu machen. Aller Ehrgeiz geht darauf, nicht- mit Begriffen, die "groß wie Hohlzähne" sind, sondern wie ein Mikrologe zu arbeiten, um wie ein minute philosopher - so der Spottname Berkeleys - "Einzelheiten aufzustöbern", wie Proust sagte. nMikrophysikalische Revolution" der Philosophie heißt, Revolutionierung des philosophischen ",", Blicks, der nicht länger den groBeri~'Ähnlichkeiten, sondern ..I.y)den winzigen Differenzen folgt. Nur auf diese Weise d.h. in äußerster" Nüchternheit, können die neuen Gesetz~ dieses Textes freigelegt werden. Wenn man im Hinblick auf Tausend Plateaus von Strenge und Notwendigkeit sprechen kann, so eben aufgrund dieser Gesetze. 43
In der sophokleischen Tragödie muß Odipus zuerst, obwohl und weil er sieht, dem Phantasma, der Täuschung erliegen, bevor er, in Ödipus auf Kolonnos, zu dem, der er in Wahrheit ist, wird. In den beiden Bänden von Kapitalismus und Schizophrenie haben Deleuze und Guattari in gewisser Weise eine alternative Version der Tragödie geschrieben. Am Rande des Sch'auplatzes liegt ein Kadaver und erhebt sich. Es ist der nicht-analytische Odipus, der befreit ist von seiner Vaterfigur, von der Ahnenreihe der Mutter und des genos, der Ödipus eines andern Reichs, ein Gegen- oder Anti-Odipus. Abermals ein Held, doch nun mehr befreit von der Last des Ressentiments und des Schuldgefühls, ein Odipus, der in der Zerstreuung lebt, der Energien umwandelt und differenziert, der Zwischenspiel und immanent geworden ist. Obschon unter dem Banne der chtonischen und nicht-chtonischen, elterlichen Serien stehend, ist um den Hinkenden ein eigentümliches Leuchten: des Augenlichts verlustig und die Fäden seines Tuns entwirrend, zieht er eine Fluchtlinie nach Kolonnos aus. Dort übt er sich, um .die letzte und höchste Verwandlung zu bestehen,welgenossen wurden - und auf der anderen Seite theoretische Texte, die von den 68er Ereignissen inspiriert sind und offen ihr Abweichendes einbekennen, geschrieben. Dies behaupten nur jene, die nicht wirklich lesen. Die Abhandlungen zu Spinoza, Nietzsehe und Kant verraten eine originale philosophische Konzeption, und das Rhizom ist deren erweiterte Gestalt. Diese Konzeption wird auch bei wechselnder Thematik beibehalten, so daß etwa Differenz und Wiederholung und die beiden dem Film gewidmeten Schriften,Das Bewegungs-Bild(1983), dt. Frankfurt 1990, und Das Zeit-Bild(1985), dt. Frankfurt 1992, als zwar gänzlich verschiedene, aber streng homothetische Gegenstände betrachtet werden können. Man könnte unschwer zeigen, daß die Elemente dieser Konzeption in zusehends angemesseneren Formen und Begriffen dargestellt werden und sich gleichsam potentialisieren. Der Begriff der Oberfläche beispielsweise macht eine solche Verwandlung durch: er wird zu Plateau, Immanenzebene, Überraum
43 Tausend Plateaus muß grundsätzlich im Zusammenhang mit dem vorangehenden und nachfolgenden Werk von Deleuze gelesen werden. Deleuze hat nicht auf der einen Seite klare und anregende Bücher für den Gebrauch der Akademie - obschon auch sie ein Moment von Parodie der Orthodoxie enthalten und kundtun, daß verbotene Früchte
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che die von Schweigen erfüllte Wüste aufgespart hat: das Plateau, auf das wir nicht aufmerken, weil es uns trägt 44 .
Toni Negri Tausend Plateaus des neuen historischen Materialismus
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44 Die eigentümliche Wüste, die sich in Hölderlins Anmerkungen zum Oedipus und zur Antigonä auftut: die Wüste, in die Antigonä eintritt, in der sich das Schicksal der Danae und Niobe .kategorisch wender und durch die schon der Sophokleische des Landes vertriebene Ödipus irrt, weist eine Reihe von (näher auszuarbeitenden) Ähnlichkeiten mit Deleuze' Begriff des Plateaus auf, etwa in Ansehung der Vorstellung der Zeit als reiner Sukzession ohne Verinnerlichung in einem Gedächtnis.
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Mit großem Nachdruck wird in Sein und Zeit das Ende der Geisteswissenschaften* und ihrer spätaufklärerischen und hegelianischen Tradition verkündet, und zwar vor allem in dem Abschnitt, wo Heidegger den Briefwechsel zwischen Dilthey und dem Grafen Yorck kommentiert. Letzterem hält er zugute, "aus der Erkenntnis des Seinscharakters des menschlichen Daseins selbst... die klare Einsicht in den Grundcharakter der Geschichte als 'Virtualität'" gewonnen zu haben. "Das Interesse, Geschichtlichkeit zu verstehen, bringt sich", so Heidegger, "vor die AUfgabe einer Herausarbeitung der 'generischen Differenz' zwischen Ontischem und Historischem'''. An dieser Stelle jedoch gilt es, einen anderen Weg einzuschlagen: denn obwohl Yorck diesen Unterschied herausgearbeitet hat, kehrt er sich wieder von der Virtualität ab und wendet sich dem Mystischen zu. Vielmehr hat die Untersuchung, nachdem gezeigt wurde, daß die Frage nach der Geschichtlichkeit nicht die Sphäre des Ontischen betrim, sondern "eine ontologische Frage nach der Seinsverfassung des geschichtlich Seienden" ist, abermals auf Dilthey und seine wie immer auch verworrene Lebensphilosophie zurückzulenken. 1 Heidegger verfolgt mit dieser Bewegung zweierlei. Einerseits vertreibt er die Geisteswissenschaften* aus jenem zentralen metaphysischen Ort, der ihnen als Erbe der AUfklärung und Abkömmling des Hegelianismus zugefallen war. Andererseits vollendet er den kritischen Übergang, der sich in Diltheys Historizismus trotz der Beschränkungen, auf die Yorck hingewiesen hatte, zum ersten Mal abzeichnet will sagen den kritischen Übergang, der zur Erforschung des M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 1979, S. 403 ff.
* Im Original deutsch 41
Sinns von Geschichte führt, d.h. von der Theorie der Objektivität zu der des Ausdrucks und von der erkenntniskritischen Betrachtung der Historiographie zu ihrer Verankerung inmitten des transzendentalen Schematismus. Geschichtlichkeit offenbart sich hierbei als eine ontologische Dimension, so daß der Geschichtsschreibung nurmehr der Charakter eines ontischen Residuums zukommt. 2 Bemerkenswert ist, daß Heidegger in diesem Zusammenhang - wie übrigens an mehreren Stellen seines Werks - ,,zweideutig" mit seiner "geschichtlichen" Kritik, die die "Seinsverfallenheit" der Moderne betont, bricht und in der Moderne auf paradoxale Weise eine andere Linie entdeckt: jene Linie, die von Machiavelli zu Spinoza und Nietzsehe führt und in der Geschichtlichkeit als absolute Virtualität und das Sein als eine Macht oder Potenz des Daseins verstanden wird. Die virtus Machiavellis hat hier ihren Ort, desgleichen Spinoza, der in dem Theologischpolitischen Traktat den Sinn der Geschichte als Verwirklichung eines Vermögens, der Einbildungskran, begrein. In der Verwirrung der ersten Erkenntnisgattung entstanden, löst die Einbildungskran sich schöpferisch in der zweiten Erkenntnisgattung auf und leitet zu der absoluten Potentialität der ethischen Konstruktion des Seins über. Es ist diese Pulsation des Seins als Eröffnung der Geschichtlichkeit, diese schlechthin immanente Bestimmung des Sinns der Geschichte, die bei Heidegger eine ,,zweideutige" Aufnahme und Auslegung findet. "Unzweideutig" dagegen ist die Art, wie Nietzsehe diesen Springpunkt, von dem aus zugleich aller Historismus destruiert und die Eröffnung der Geschichtlichkeit ermöglicht wird, behandelt: er erblickt in ihm das Zentrum einer Theorie des unzeitgemäßen, virtuellen, schöpferischen Seins. 3 Die Selbstüberwindung der eigenen Zeit wird hier in actu vollzogen': sie besteht darin, zur Geschichte ein solches Verhältnis zu gewinnen, daß sie zum Ort der Erlösung wird - nicht in der Adulation der Vergangenheit, sondern 2 A. Negri, Saggi sullo storicismo tedesco, Band 1, Mailand 1959, Kap. 1-3 3 G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (1960), dt. München 1976
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in dem Bewußtsein, daß einzig die Spannung zwischen Gegenwart und Zukunn den Stoff der Möglichkeit, die ontologische Entscheidungspotenz freigibt. Man gedenke des Zarathustra: "Die Vergangnen zu erlösen und alles 'Es war' umzuschaffen in ein 'So wollte ich es!' - das hieße mir erst Erlösung! Wille so heißt der Befreier und Freudebringer: also lehrte ich euch, meine Freunde! Aber nun lernt dies hinzu: der Wille selber ist noch ein Gefangener. Wollen befreit: aber wie heißt das, was auch den Befreier noch in Ketten schlägt? 'Es war': also heißt des Willens Zähneknirschen und einsamste Trübsal... Ohnmächtig gegen das, was getan ist - ist er allem Vergangenen ein böser Zuschauer. Nicht zurück kann der Wille wollen; daß er die Zeit nicht brechen kann und der Zeit, Begierde - das ist des Willens einsamste Trübsal. Daß die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein Ingrimm; 'das, was war' - so heißt der Stein, den er nicht wälzen kann."4 Der Sinn der Geschichtlichkeit besteht in diesem Wälzen. Aber kehren wir zu Dilthey zurück. Mehr als anderswo verscham sich in seinem Werk die Spannung zwischen der Arbeit historischer Forschung und der Notwendigkeit einer Veränderung der Frage des Sinns von Geschichtlichkeit Ausdruck. Das Verstehen von Geschichte beginnt in seinem Werk, den Boden für eine Konstitution freizulegen, den er - gewiß ein wenig grobschlächtig - bald Geschichtsphilosophie, bald verstehende Psychologie oder ähnlich nennt. Besessen vom Problem der geschichtlichen Subjektivität, hat Dilthey im Verlauf seiner Forschung sozusagen alle die möglichen Formen inventarisiert, in denen die Geschichtswissenschaft sich der Geschichtlichkeit öffnen kann. Von der positivistischen, obschon dem "Eunuchenturn" der geschichtlichen Objektivität gegenüber höchst kritisch gesonnenen Antrittsvorlesung bis zu der in Erlebnis und Dichtung ausgesprochenen Einsicht, daß "die Geschichte...der höchsten wissenschanlichen Vollendung, welche sich imstande zeigt, aus den zusammenwirkenden Ursachen einen gewissen Umkreis von Phänomenen zu erklären, schlechter4 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883), in: Werke, Band 2, hrsg. v. K. Schlechta, München 1969, S. 394
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dings nicht fähig (ist), auch nicht unter der Voraussetzung der größten Steigerung ihres wissenschaftlichen Charakters"S; von der kantianischen Bemühung der Einleitung in die Geisteswissenschaften, in der die Spannung zwischen der Behauptung des Ichs ("Nun gilt es, der Wirklichkeit des inneren Lebens unbefangen gewahr zu werden und, von ihr ausgehend, festzustellen, was Natur und Geschichte dieses inneren Lebens sind"6) und einer segmentierten, fraktalen und dlffusiven AUffassung des Ichs ("Das einzelne Individuum ist ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen, welche sich im Verlauf der fortschreitenden Kultur immer feiner spezialisieren"7) unverhüllt zum Austrag kommt, bis zu der Konstruktion geschichtlicher Typologien als dem Versuch, Allgemeines und Einzelnes methodisch übergreifend zu erfassen; von der Rückkehr zur Psychologie in den Ideen, die in der Absicht unternommen wurde, dem Geschichtssubjekt eine dynamische und produktive Konsistenz zu verleihen und ihm die Potenz des Erlebnisses* - als ein Gesamt von Vitalität und Konnexion, Ausdruck und objektiver Bestimmung· zuzuerkennen. bis hin zu den vitalistischen Stellungnahmen der Spätzeit, wo der pyschologische Kern sich der Ausdrucksfunktion erschließt und in eine Präsenz übergeht, die eine ethische Öffnung freigibt: stets werden die Geisteswissenschaften*, in welcher Form auch immer. als Krisis begriffen, führen die vielfältigen kritischen Übergänge auf das Problem einer Geschichtlichkeit, die freilich nicht näher bestimmt wird. Diese Unentschiedenheit Diltheys, sein Schwanken zwischen Psychologismus und Lebensphilosophie, sind als ebensoviele Versuche zu verstehen, über vorübergehend eingenommene philosophische Positionen immer wieder hinauszugehen. Sie erhellen die Intensität des ontologischen Übergangs, den er vollfOhrt, und geleiten an die Schwelle der Entdeckung des neuen Sinnes von Geschichtlichkelt8. 5 W. Dilthey, Erlebnis und Dichtung (1905), Leipzig 1929, S. 271 6 W. Dilthey, Einleitung In die Geisteswissenschaften (1883), In: Gesammelte Schriften, Band 1, leipzig 1922, S. 408 7 W. Dilthey, a.8.0., 5. 51 8 R. Aron, La philosophie cr/tique da I'h/stoire, Paris 1950
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Warum ist diese Suche Diltheys so wichtig? Weil sie einerseits nahe an die Folgerungen Heideggers heranführt und andererseits eine Vielzahl anderer möglicher Wege sichtbar werden läßt. Heideggers ontologische Entscheidung, den Sinn von Geschichtlichkeit als Virtualität zu begreifen, wird nur dann verständlich. wenn sie als Extrakt und Verfeinerung dieser Übergänge betrachtet wird. "Man muß unseren Willen zur Wahrheit in Frage stellen; man muß dem Diskurs seinen Ereignischarakter zurückgeben; endlich muß man die Souveränität des Signifikanten aufheben."9 Auch das Programm Foucaults, wie etwa inOrdnung des Diskurses formuliert, verdankt sich einer solchen EngfOhrung und Kritik der Geschichtsschreibung und der GeisteSWissenschaften", der expressiven Spannung, die aufbricht, wenn, wie im Übergang von Dilthey zu Heidegger, Geschichte als Virtualität verstanden wird. Auch er hat, ähnlich wie Dilthey, in seiner wissenschaftlichen Erfahrung zahlreiche, mitunter zwiespältige Pfade beschritten. Von der frühen Untersuchung zu Binswanger bis zu den Arbeiten über Weizsäcker und die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Kants hat Foucault sämtliche Versuchungen einer abermaligen Behauptung des Ichs als einer moralischen, psychologischen oder biologischen Instanz gegenüber der historischen Objektivität erprobt - und zurückgewiesen 10 . Wenn er, insbesondere in den späten Arbeiten, endlich und endgültig das Thema der Geschichtlichkeit als "agencement" aufgreift, ist der Rahmen komplett: Geschichte ist Produktion von Subjektivität, ist Sorge um sich, ist unmittelbarer und direkter ontologischer Ausdruck. Ähnlich wie bei Dilthey, aber ungleich radikaler in der Durchführung, verdichten sich bei ihm die vorübergehenden psychologistischen, kulturalistischen und vitalistischen Versuche, das geschichtlich Reale zu begreifen, zu einem neuen Gesichtspunkt: zur Auffassung der Präsenz der Welt als Gewebe des Seins, das man durchlaufen muß und das in jedem Augenblick 9 M. Foucault, Die Ordnung des Dlskures (1971), dt. München 1974 5.35 10 A. Negrl, Macehina tempo, Mailand 1982, S. 70 ff.
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neu zu erschaffen ist. Auch Foucault vollführt den Übergang von der Geschichtstheorie zu einer fundamentalen Apperzeption der Geschichtlichkeit - freilich, nach Heidegger, d.h. nachdem das Niveau des historischen Bewußtseins im Rekurs auf Nietzsches neu definiert worden ist. Er hat auf diesem Weg, in einer Reihe von Schüben und Durchbrüchen, die analoge Probleme aufwerfen und analoge Diskurse provozieren, Dilthey gleichsam wiederaufgenommen und zuletzt an den Punkt geführt, wo Geschichtlichkeit zum Gegenstand einer Erfindung wird, an die Grenze, wo das geschichtliche Handeln zur einzigen Perspektive der Interpretation des Seins wird. Das Ende der Geisteswissenschaften" ist Erneuerung der Ontologie 11 Diesem "starken" Projekt war freilich im Feld des zeitgenössischen Denkens nicht gerade ein großer Erfolg beschieden. Etwas ganz anderes ist geschehen: gewiß, die Geisteswissenschaften" sind im Zuge der Bewegung, die von Nietzsehe zu Heidegger und von Dilthey zu Foucault geht, unwiderruflich destruiert worden, und ihr Kadaver ist unauffindbar. Aber zugleich wurden die kritische Erneuerung, die Erforschung der Geschichtlichkeit aus dem Blickwinkel der Konstitution und die Entdeckung der Potenz des Seins durch neue Disziplinen, neue Wissensverteilungen und Erfahrungsbegriffe neutralisiert und wieder zurückgenommen, im Umkreis eines philosophischen Klimas, das sich zusehends relativistischer und skeptischer gebärdet. Ein sanfter, eine Art Oberflächenvitalismus trat an die Stelle jenes anderen, mitunter strotzenden, stets aber dramatischen Vitalismus, der von der Historiographie zum Sein, das sich der Geschichtlichkeit öffnet, geführt hat. Nachdem Objektivismus und "Eunuchentum" der Historiographie gestürzt waren, nachdem man den Hegelianismus und mit ihm die Apologie der rohen Wirklichkeit und die Dialektik mit ihren Ausflüchten aufgegeben hatte, nachdem eine Perspektive "von unten" gewonnen wurde, die dem historischen 11 P. Macherey, Chroniques d'un dinosaure, in: Futur Anterieur, Nr. 9, 1992
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Subjekt ermöglicht, ontologische Gefüge anzulegen - nachdem all das geschehen war, wurde die Öffnung abermals auf die Dimensionen und Horizonte des Relativismus und Skeptizismus zurückgebogen. Die mannigfaltigen aufeinandef folgenden Schulen der Hermeneutik, die ausdrücklich die Erbschaft Diltheys und Foucault für sich in Anspruch nehmen, haben uns die Vergnügungen des "schwachen Denkens" beschert. Die Komplexität der Prozesse, die von den historischen Subjekten ausgehen, wird zum Vorwand genommen, das ontologische Gewicht ihrer Emergenz zu leugnen. Man entreißt die Bewegung der Konstitution der Totalität und gibt sie der Prekarität tmd Singularität anheim, die ihrerseits den Launen der Partikularität ausgeliefert ist. Man ging vom Ende des Historizismus aus, kam unmerklich, aber desto sicherer beim "Ende der Geschichte" an. Das "Eunuchenturn" der Objektivität, gegen das sich die Kritiker der Geisteswissenschaften" erhoben haben, feiert fröhliche Urständ: der Historizismus hat einmal mehr gewonnen, diesmal in Gestalt einer Enzyklopädie des Wissens fOr den Mediengebrauch. Das geschichtlich offene Sein wird Gespräch und gesprächig. Das Ende der Geisteswissenschaften" kulminiert im Triumph der Konversation. In der neuen Synthese von Erfahrung und Verstehen, als welche sich die "Postmoderne" darstellt, ist die Pervertierung der kritischen Lehren Diltheys und Heideggers durchaus sichtbar. Allein, für den großen Gadamer und für die kleinen Rortys und Vattimos öffnen sich Verstehen und Erfahrung nicht auf die Geschichtlichkeit, es sei denn, man verstehe darunter eine historische Bedingtheit, eine grundsätzliche Endlichkeit, die den subjektiven Gesichtspunkt der Konstitution nicht freigibt, sondern in der Zerstreuung der Ereignisse verebben läßt, in einem Sinnbedürfnis, das in sich selbst kreist, in einer pessimistischen und totalisierenden Auffassung des Seins, die sich religiös zu rechtfertigen sucht, aber ihren Grund nur in der Leere von Mystik oder Demokratie findet. An Dilthey feiert man die Zirkularität von Verstehen und Erfahrung, ohne zu bemerken, daß diese Zirkularität im Ausdruck aufbricht. Von Heidegger übernimmt man die Kritik der Empirie und des 47
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2 Schwerlich läßt sich zu diesem epochalem Abschluß ein tieferer Gegensatz denken als Tausend Plateaus. Die Geisteswissenschaften werden darin abermals umgeschrieben und der Standpunkt der GeschichtJichkeit als ontologische und konstitutive Dimension erneuert, wobei '~ei$t" von Deleuze und Guattari freilich, der Tradition folgend,;· in der sie stehen, mit Gehirn übersetzt wird. Die TP sind im voraus gegen die Postmoderne und die Theorien der schwachen Hermeneutik gerichtet: sie gehen von einer Theorie des Ausdrucks, einer ontologischen Perspektive aus und bearbeiten mit diesem Werkzeug die Postmoderne, oder besser: sie entgrenzen und destruieren deren Struktur. Es ist ein starkes Denken, auch dann noch, wenn es sich den Schwächen der-Alltäglichkeit 48
zuwendet. Der Plan ist, das Geschaffene aus dem Blickwinkel seiner Erschaffung zu begreifen. Ein solches Programm ist alles andere ais idealistisch: die schöpferische Kraft ist ein materielles Rhizom, Maschine und Geist zugleich, Natur und Individuum, Singularität und Mannigfaltigkeit. Der Schauplatz ist die Geschichte: von 10 000 v. ehr. bis zur Gegenwart. Moderne und Postmoderne werden wiedergekäut und verdaut: ausgeschieden und abgeführt, dienen sie als kraftvoller Dünger für eine Hermeneutik der Zukunft. Liest man das Buch zehn Jahre nach seinem Erscheinen ein weiteres Mal, so beeindruckt mehr als alles andere das unglaubliche Vermögen, mit dem darin spätere Entwicklungen vorweggenommen sind. Informatik und Automation, Mediengesellschaft und kommunikative Interaktion, Innovationen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und wissenschaftlichen Technologie, Elektronik, Biologie, ÖkoIgie usw. werden nicht nur antizipiert, sondern als epistemologischer Horizont angesetzt, mehr noch: als ein in rasanter Beschleunigung befindliches Gewebe von Phänomenen. Die Oberfläche des Bilds, auf dem sich die Dramaturgie der Zukunft abspielt, ist ontologischer Natur - eine harte, irreduzible Oberfläche, die ontologisch und nicht transzendental, konstitutiv und nicht systematiSCh, schöpferisch und nicht liberal ist. Wir können hier wenigstens vier grundlegende Themen· von TP aufgreifen und durchnehmen. Das erste betriffl die Theorie des Ausdrucks und der agencements, das zweite die reseaux, das dritte die Nomadologie. Das vierte behandelt die ontologische Theorie der Oberfläche. Vier Punkte, vier Dimensionen, die die Konstitutionsarbeit der neuen Geisteswissenschaften zusammenfassen und den Boden beschreiben, auf dem diese sich als Produkte einer Öffnung der Möglichkeit, oder besser: der Potenz des Seins entwickeln können. a) Die Theorie des Ausdrucks und der agencements stellt die prima philosophia von Deleuze und Guattari dar. Die Psychoanalysekritik des A nti-Odipus hat dieses Kraftfeld freigelegt. Die Kraft des Ausdrucks ist ontologisch, schöpferisch und strukturiert. Das heißt, die Theorie der Singularität ist unmittelbar mit einer Definition des sich expandierenden Raums,
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mit Bergsons Bild einer offenen und zugleich strukturierten Bewegung verbunden. Die individuelle oder kollektive Singularität, die Bestimmung des Verhältnisses Akteur-Ereignis wird in Bewegung versetzt. Die Haecceitas, von Deleuze schon früh als entscheidender Problembegriff der Philosophiegeschichte herausgearbeitet, ist ursprünglich aktiviert und dehnt sich entlang der Dimensionen der Bewegung als Bündel von Wünschen oder maschinellen Elementen aus. Die Initialkraft ist subjektiv und konstruktiv, ist agencement, Gefüge. Unter diesem Terminus ist zu verstehen: Ausdruck plus Organisation, organisierter Ausdruck, organisierte Kraft, Ausdehnung und Bewegung. Sein und Geschichte werden als Produktion und Produkt von subjektiven Gefügen bzw. Verkettungen betrachtet. Die Welt wird von unten konstruiert und rekonstruiert. Die Geschichtlichkeit ist als Präsenz gegeben. In diesem Knotenpunkt konvergieren die metaphysische Bestimmung der Bewegung bzw. eine gute bergsonianische Phänomenologie des Raums, die Befreiung des analytischen Wunsches als allseitige, offene und singuläre Potentialität und eine - im Sinne Spinozas - ethische Auffassung der Singularität, die Deleuze so sehr gefällt. Der Gesamtrahmen ist, wenigstens auf den ersten Blick, animistisch, hylozoistisch und präsokratisch. Aber mit derselben Bewegung, mit der dieser Vitalismus affirmiert wird, wird er auch wieder umgestülpt: er ist keine Hülle des Realen, auch keine Weltanschauung; er bezeichnet nicht die unterschiedslose Kraft der Produktion des als Natur oder Geschichte begriffenen ~ Realen, sondern wird in allen seinen Formen in den Dienst der Produktion von Singularität, der Emergenz von Singularität gestellt. Die widersprüchliche, obschon konvergente Verflechtung der Forschungen Diltheys, Nietzsches und Heideggers findet hier ihre Auflösung. Wenn das Sein Geschichtlichkeit ist, kann die Ontologie an den Punkt der Produktion und das Moment des ursprünglichen Ausdrucks geführt werden, von wo aus sich Produktion und Ausdruck auf die Materialität der Moderne öffnen. Das Verhältnis Mensch-Maschine, das die Moderne kennzeichnet, wird Inhalt und Form des subjektiven agencements. Die Ma-
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schinen, die vom Kapitalismus konstruierte Realität, sind keine Phantasmen der Moderne, hinter denen das Leben unverwandt seinen Gang geht. Sie sind vielmehr die konkreten Formen, in denen sich das Leben organisiert, die Welt sich verwandelt, die materialen Verknüpfungen, in denen die Subjektivität sich produziert. "Ordo et connexio rerum idem est ac ordo et connexio idearum." Gleichwohl ist der Verhältnis Mensch-Maschine stets ein singuläres Ereignis, d.h. ein Ereignis, das im Durchgang durch die Materialität Subjektivität produziert. Die Konstruktion des Seins als universale Aufgabe wird so von der Basis des Gesamtprozesses aus, d.h. als Prozeß von Ereignissen und Singularitäten ins Auge gefaßt. Ein Ereignis ist Produktion von Körpern, historische Produktion des Inbegriffs der Körper und ihrer Beziehungen. Die atomistische Kosmogonie Spinozas wird im Lichte des Vitalismus der Geschichtlichkeit, den uns die Großen der Moderne gelehrt haben, neu interpretiert und zur Diskussion gestellt. Die Produktion von Körpern ist Produktion von Geschichtlichkeit, und Geschichtlichkeit ist Produktion von Körpern. Auf einer wichtigen Seite von TP fragen die Autoren: "Ist schließlich Spinozas Ethik nicht das große Buch Ober den organlosen Körper (oK)?"12 Der organlose Körper erweist sich als das absolute Immanenzfeld des Wunsches, als die der Geschichtlichkeit eigene Konsistenzebene. Die Welt hat eine Nul/matritze, solange der Konstitutionsprozeß der Subjektivität nicht aufgewiesen ist und die Untersuchung nicht der unbestimmten Spannung der Konstitution folgt. 13 b) Dem Rhythmus der Konstitution folgend erschließt sich uns eine weitere Dimension, die Theorie der Netzwerke oder reseaux. Nachdem in der Kraft des Wunsches und der maschinellen Öffnung der Produktionspunkt ausgemacht ist, gehen Deleuze-Guattari zur Analyse des Ausgedehnten, der Ausdehnung in actu und ihrer Bewegung über. Dieser Raum wird durch das Rhizom definiert. Das Rhizom ist eine Kraft, ein Phylum, die sich entlang einer unbezähmbaren Linie baum12 G. Deleuze/F. Guattari, Tausend Plateaus (1980), dt. Berlin 1992, S. 211 13 a.a.O., Kapitel 6
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artiger Differenzierungen öffnet, in einem Prozeß, in dem sich die Singularität immer weiter singularisiert. In diesem Reichtum der Produktion von Singularität stellt sich der Lebenszusammenhang als ein Ensemble von Beziehungen dar: Einheit und Mannigfaltigkeit, Konnexion und Heterogeneität, Abbrüche und Horizonte treten in einer sich fortwährend erneuernden Kartographie zusammen und bilden unablässig expandierende, nicht zentrierte Systeme. 14 Hier, wo die rhizomatischen Spannungen und mechanischen Gefüge sich als subjektive Aussagengefüge darstellen, ist der Raum einer Neuorganisation der Geisteswissenschaften: die konstitutiven Dynamiken gehen von der Physik des Rhizoms zu der sprachlichen Ordnung über, die für die Wissenschaften kennzeichnend ist. Die Oberfläche der Welt wird in sprachlichen Ordnungen organisiert, ohne daß sie dabei ihrer maschinellen Konsistenz, die auf der Ebene der Aussage erneuert wird, verlustig gingen. Es gibt also ein reseau oder Netzwerk der Geisteswissenschaften: die Rhizomatik verweist auf die Schizoanalyse, diese wiederum auf die Stratoanalyse und zuletzt auf eine Pragmatik und Mikropolitik. Wir waren schon bei der Darstellung des Grundverhältnisses auf die Beziehungen zwischen SchizoanaIyse und Rhizomatik gestoßen und brauchen hier nur einige Folgerungen nachtragen. Stratoanalyse bedeutet, daß die Wissenschaft in dem Systemhorizont situiert ist, der durch die baumartige Differenzierung des Rhizoms gebildet wird, und dessen. Konfliktualität entdeckt. System und Konflikt sind voneinander untrennbar. Wenn das System selber wie ein Baum differenziert ist, wird der Konflikt sich an den Stellen, wo es sich verästelt, entzünden: als ein Konflikt, den das System nicht absorbieren, vereinfachen oder reduzieren kann, da er die Regel darstellt, nach der sich die realen Netzwerke konstituieren, und insofern sich fortwährend reproduziert. Der Gesichtspunkt der Geschichtlichkeit ist nicht nur konstitutiv, sondern auch konfliktuell: es ist - wie bei Spinoza - der Krieg, der das Leben erzeugt. Die Netzwerke sind zwiespältige Öffnun-
gen und Verkettungen: sie öffnen sich, schließen sich, öffnen sich abermals und provozieren Konflikte. Jeder Punkt des maschinellen oder Aussagegefüges verlängert sich auf diese Weise, aufwärts und abwärts einer Konfliktregel folgend, in andere Gefüge und Netzwerke hinein. Wir sind so restlos in ein Ensemble von zeichenproduzierenden Systemen eingeschachtelt, und die Geisteswissenschaften haben von diesen Systemen und der fortwährenden Verwandlung, der sie unterliegen, Rechenschaft abzulegen. Auch die epistemologische Dimension ist ein Kriegshorizont. Die Segmentierung von Aussage und Ausdruck erfolgt kontinuierlich. Das Werden des Realen wie der Wissenschaft ist Resultat dieser Prozesse. Das Werden ist das innovative Ergebnis des Magmas des Ausdrucks, ist in gewisser Weise die Lösung des Kriegs und eben darum Aufriß neuer Konfliktszenarien. Die Rhizomatik verweist auf eine hobesianische Welt, deren Protagonisten freilich nicht die appropriierenden Individuen, sondern - Spinoza folgend - die produktiven, wünschenden Singularitäten sind, seien sie nun individueller oder kollektiver Natur. Die Geisteswissenschaften sind mithin Konfliktwissenschaften und werden von den Akteuren getragen, die am Konflikt teilnehmen und sich im Konflikt bilden: sie akzeptieren rückhaltlos das Terrain, das die Frage Nietzsches freigelegt hat. 1 5
14 a.a.O., Kapitel 1 und 2
15 a.a.O., Kapitel 5, 9 und 10
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c) Pragmatik und Mikropolitik werden als Nomadologie konstituiert. Der Horizont des Kriegs wird mithin von pragmatischen Instanzen aus anvisiert. Die geschichtliche Welt, die in einer Geologie der Aktion konstituiert ist, wird von einer regelrechten, kontinuierlichen, unerschöpflichen Genealogie der Moral bearbeitet. Die Subjektivitäten sind nomadisch, d.h. frei und dynamisch und werden im Konfliktfeld der Bifurkationen produziert. Wie wir sahen, organisieren sich die Subjektivitäten in maschinellen Gefügen, d.h. als Kriegsmaschine. Die Kriegsmaschinen stellen das molekulare Gewebe des menschlichen Universums dar. Ethik, Politik und Geisteswissenschaft
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verschmelzen miteinander: die Kriegsmaschinen interpretieren das Projekt und konstituieren in der Unterscheidung von Wunsch und Gegenwunsch, Freiheit und Notwendigkeit die menschliche Welt. Abermals Rhizome. Bäume und Bifurkationen - aber nunmehr in einem Sinnhorizont. Es ist die Wahl im Krieg, die den Sinn der Geschichtlichkeit bestimmt. Aber was heißt hier Sinn, wenn der Horizont immanent und der Schauplatz ateleologisch ist? Er ist Ausdruck des Wunsches, Aussage und Organisation der Wunsches als Ereignis, als Ausschluß von Transzendenz, als Feindschaft gegen alle Blockierungen des Werdens. Politisch wird die Kriegsmaschine als Positivität bestimmt, da sie gegen den Staat gerichtet ist. Deleuze-Guattari erfinden eine neuartige Form der Geisteswissenschaften, indem sie alle Formen des Historizismus oder Hegelianismus, alle im Staat sublimierten Gestalten des objektiven Geistes angreifen. Die molekulare Ordnung, die vor dem Staat und insbesondere vor dem Staat des reifen Kapitalismus gesetzt ist, organisiert spontan ein molares Dispositiv und entwickelt notwendig eine Gegenmacht: eine Gesellschaft wider den Staat, oder anders und besser gesagt, das Ensemble der Subjektivitäten des Wunsches mit seinen unendlichen Differenzierungen, die sich im nomadischen Rhythmus ihrer Emergenz gegen alle festen, zentralisierenden und kastrierenden Maschinen wenden. In Wirklichkeit können Subjektivität und Sinn der Geschichte nur pragmatisch erlernt und bewertet werden. Die Nomadologie organsiert eine veritable .Philosophie der Praxis". Nomade in der Ordnung der produzierten und festen Geschichte sein heißt, frei sein in der Ordnung der Produktion von Geschichtlichkeit, heißt fortwährend Maschinen- und AussagengefOge produzieren, die neue rhizomatische Differenzen erschließen und auf diese Weise das Reale konstituieren. Politik wird so zum Entwurf von Mikroordnungen, zur Konstruktion von molekularen Netzen, die den Wunsch verlängern und ihn immer wieder von neuem zur Materie der Pragmatik machen. Die Pragmatik der Mikropolitik ist der einzige operative Gesichtspunkt der Geschichtlichkeit: Pragmatik als Praxis des Wunsches, Mikropolitik als Terrain der Sub-
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jektivität, das beständig durchlaufen werden kann und durchlaufen wird. Der Wechsel der Gesichtspunkte und die Konvergenz der konstruktiven Bestimmungen kommen nie zur Ruhe. Ziel der molaren Ordnung ist die Absorption der Kraft des Wunsches und die Umverteilung der Regeln dergestalt, daß der pragmatische Fluß des Molekularen blockiert wird: das Molare ist definitionsgemäß ontologische Behinderung des Molekularen. Der molekulare Strom dagegen ist unvereinnahmbar, er versucht fortwährend die Regeln der Blockierung zu revolutionieren, um der Geschlchtlichkeit freie Bahn zu schaffen. Aber was heißt hier Revolution? Nichts anderes als: Ausdruck der Unendlichkeit dieses Prozesses als Ereignis. Die Politik von TP besteht darin, die molekulare Ordnung des Wunsches zum Widerstand, zur Umgehung, zur Flucht vor der molaren Ordnung aufzurufen. Der Staat kann weder reformiert noch destruiert werden: die einzig mögliche Zerstörung des Staats ist die Flucht. Eine Fluchtlinie, die organisiert wird von der Kreativität des Wunsches, von der unendlichen molekularen Bewegung der Subjekte, von einer immer wieder neu zu erfindenden Pragmatik. Revolution ist das ontologische Ereignis der Weigerung und die aktuale Verwirklichung ihrer unendlichen PotentiaIität. 16 d) Ausgehend von diesen Bemerkungen, die den Gesichtspunkt der Konstitution in die Welt hineintragen, um ihn als Genealogie von Subjektivität und als Ereignis einzuschreiben, können wir nunmehr auf den allgemeinen ontologischen Rahmen von TP zurückblicken. Tausend Ebenen einer Oberfläche. Eine Oberfläche voller Poren, Bruchlinien, Konstruktionen und Rekonstruktionen, ein fortwährend sich faltendes und verschiebendes Territorium. Es bewegt sich in einer einzigen Richtung, gemäß einer einzigen Teleologie: die der wachsenden Abstraktion der Beziehungsmuster als Folge der Komplexifikation der Bifurkationen, der EntWicklung der Rhizome und Expansion der Konflikte - Abstraktion, die ihrerseits ein Territorium ist, 16a.a.0.,
Kapitel 12
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Territorium, das sich abermals faltet, immer wieder andere Schatten wirft und immer wieder neue Alternativen freigibt. Die Potenz des Wunsches hat sich in die Oberfläche eines Territoriums verwandelt, eine Verwandlung, die sich fortwährend wiederholt. Dieses neue Territorium ist immer produktiv, unendlich produktiv. Denn die Welt ist ein Territorium, das immer territorialisiert, besetzt, rekonstruiert und bewohnt werden muß. Eine Spannung, die durch eine mannigfaltige schöpferische Aktion befriedigt werden kann. Das Verhältnis zwischen Maschine und Aussage, Wissenschaft und Ontologie ist damit komplett. Die Wissenschaft ist konstitutiv, indem sie das Reale abbildet, mimetisch wiedergibt; sie folgt ihm, um es zu konstruieren, sie pojektiert es, indem sie es lebt. Die Wissenschaft konstruiert Referenzebenen, die zu ontologischen Konsistenzebenen werden, wenn das Ensemble der Aussagefunktionen Gegenstand einer Pragmatik wird oder sich im Ereignis, in einer Bestimmung realisiert. Auch die Subjektivität geschieht als Oberfläche, als Faltung der Oberfläche. Aber wir wissen, welcher Preis für diese Leichtigkeit des stärksten Ereignisses der Subjektivität entrichtet werden muß: maschinelle Verkettung, Durchquerung des Konflikts, Aussage des Projekts, Ausdruck des Wunsches, Verwirklichung des Unendlichen im Ereignis. 17
des Prozesses (die einzige Teleologie, die mit der absoluten Immanenz verträglich ist): der Sinn des Prozesses ist der Sinn der Abstraktion. Das Subjekt, das entlang des Gesamthorizonts seiner Projektionen die Welt produziert, produziert immer mehr auch sich selbst. Auf den ersten Blick erscheint der Welthorizont, den Deleuze-Guattari entwerfen, animistischer Natur: aber sofort wird deutlich, daß dieser Animismus sich der höchsten Abstraktion verdankt, einem unanhaltbaren Prozeß mechanischer Gefüge und Subjektivitäten in Richtung einer immer höheren Abstraktion. In dieser Welt von Poren, Faltungen, Bruchlinien und Rekonstruktionen ist das menschliche Gehirn in erster Linie damit beschäftigt, jenseits der Konflikthaftigkeit seine eigenen Verwandlungen, seine eigenen Verschiebungen zu verstehen, und dies im Reich der höchsten Abstraktion. Aber auch noch diese Abstraktion ist Wunsch.
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Eine neue Welt wird hier beschrieben. Wenn jede Philosophie eine ihr eigene Phänomenlogie entwirft und bestimmt, dann haben wir es hier mit einer höchst ungewöhnlichen neuen Phänomenologie zu tun. Eine Phänomenologie, die durch die Reduktion der Welt auf Produktion, der Produktion auf Subjektivität, der Subjektivität auf die Potenz des Wunsches, der Potenz des Wunsches auf das System der Aussagen und die Aussagen auf den Ausdruck - und umgekehrt - charakterisiert ist. Gerade in dieser Umkehrung, d.h. im Rückgang oder Übergang vom subjektiven Ausdruck zur Oberfläche der Welt, zur Geschichtlichkeit in actu offenbart sich der allgemeine Sinn
TP umschreibt das Terrain, auf dem der historische Materia- ' lismus des XXI. Jahrhunderts konstruiert wird. Der pädagogische Essay Qu'est-ee que Ja philosophie?, den Deleuze-Guat-; tari 1991 als An~amg zu TP veröffentlicht haben, verdeutlicht; diese Hypothese. f8 Die Verknüpfung der wissenschaftlichen, ästhetischen und philosophischen Untersuchungen, die in TP unermüdlich, und mit einer Überschwenglichkeit, die der behandelten ontologischen Materie würdig ist, durchgeführt werden, wird darin um eine volkstümlich~t ~ädagogik ergänzt. Sie illustriert die begrifflichen Operationen', die dem Darstellungsprozeß von TP zugrundeliegen, und legt mit großer Klarheit die methodischen, theoretischen und praktischen Funktionen dar. Wir glauben, daß TP, zusammen mit der pädagogischen Abhandlung gelesen, .grundlegende Elemente einer Erneu-
17 a.a.O., Kapitel 14 und 15
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G. DeleuzelF.Guattari, Qu'est-ce que la philosophie? Paris 1991
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erung des historischen Materialismus enthält, und zwar in eben der Gestalt, die der neuen Dimension der Entwicklung des Kapitalismus angemessen ist, d.h. der maximalen Abstraktion, der "realen Subsumtion" der Gesellschaft unter das Kapital, zu der die sozialen Kämpfe geführt und von der sie nunmehr auszugehen haben. Hierbei darf nicht vergessen werden, daß in der Philosophie der Geisteswissenschaften von DeleuzeGuattari derselbe ethisch-politische Impetus der Befreiung der menschlichen Wesenskräfte wie im historischen Materialismus zum Ausdruck kommt. Welcher Art ist also die produktive Umwelt, in der wir uns bewegen und von der aus der historische Materialismus als Grundlage der Geisteswissenschaften erneuert werden kann und muß? Deleuze-Guattari erteilen dieser Frage eine unmißverständliche Antwort. Sie beschreiben und erarbeiten in umfangreichen Untersuchungen einen Sachverhalt, der schon Marx in den Grundrissen in den Abschnitten über das System der Maschinerie als allgemeine gesellschaftliche Tendenz vor Augen stand und von ihm unter dem Titel General Intel/ect verzeichnet wurde. 19 Es handelt sich um die Beobachtung, daß die Interaktion zwischen Mensch und Maschine, Gesellschaft und Kapital, so eng geworden ist, daß die Ausbeutung der materiellen und zeitlich meßbaren Lohnarbeit nicht länger die allgemeine Form ist, unter der angesichts der Macht der neuen sozialen, intellektuellen und wissenschaftlichen Mittel die Verwertung des Kapitals, der elende Grund der Ausbeutung, vonstatten geht. TP geht davon aus, daß die von Marx beobachtete Tendenz sich inzwischen verwirklicht hat und entwickelt ausgehend von dieser neuen Gesellschaft den historischen Materialismus. Das Buch erprobt die Konstruktion eines neuen Subjekts, das sich in den Wesenskräften der gesellschaftlichen, intellektuellen und wissenschaftlichen Arbeit manifestiert. Es handelt sich um ein maschinelles Subjekt, das zugleich ethisch ist, ein 19 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Okonomie(Rohentwurf 1857/58), FrankfurUMain o.J., S. 582 ff. Vgl. T. Negri, Marx au-defa de Marx, Paris 1979
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intellektuelles Subjekt, das zugleich Körper ist, ein Wunschsubjekt, das zugleich Produktivkraft ist, ein vielfältiges und zerstreutes Subjekt, das gleichwohl im konstitutiven Trieb des neuen Seins seine Einheit findet. Und umgekehrt, in allen möglichen Bedeutungen. Entscheidend ist jedoch, daß sich die produktive Verwertung gänzlich von der Sphäre der direkten materiellen Ausbeutung in die politische Herrschaft verlagert. Diese Verlagerung wird durch die gesellschaftliche Interaktion zwischen der entwickelten kollektiven Subjektivität einerseits und den intellektuellen und wissenschaftlichen Potenzen der Produktion andererseits bewirkt. Im Zuge dieser Verschiebung wird auch die produktive gesellschaftliche Interaktivität dem molaren Widerspruch der Herrschaft unterworfen und ausgebeutet: der Antagonismus intensiviert sich und wirkt in einer paradoxalen Implikation durch das ausgebeutete Subjekt hindurch. Die Machtanalysen Foucaults weiterführend, betont Deleuze den Übergang von der "disziplinären Gesellschaft" zur "Kontrollgesellschaft" und erblickt darin das distinktive Kennzeichen der zeitgenössischen Staatsform. 20 Innerhalb dieses Rahmens, der in TP in allen seinen Varianten untersucht wird, verändern sich die Formen der Herrschaft. Ihr Fortbestand wird ebenso abstrakt wie parasitär, so daß sich der Antagonismus seiner äußersten Zuspitzung gleichsam entleert und das Kommando nutzlos und überflüssig wird. Die Kontrolle der produktiven Gesellschaft ist darum unmittelbar mystifizierend: sie kennt nicht einmal die Würde der Organisationsfunktion, die der Gestalt des Ausbeuters in der Gesellschaft der disziplinären Staatsform gleichsam naturwüchsig zukam. Trifft diese Beobachtung zu, dann ist die produktive Arbeit des neuen gesellschaftlichen Subjekts unmittelbar revolutionär und stets ein Werk der Befreiung und Innovation. Von dieser Grundlage aus wird der historische Materialismus implizit in der Phänomenologie von TP und explizit in der in Qu'est-ce que la philosophie? erarbeiteten Methodologie erneuert. Diese Erneuerung betrifft insbesondere den wissenschaftlichen 20 G. Deleuze,Unterhandlungen (1990), dt. Frankfurt/M.1993
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Status des historischen Materialismus. Die pädagogische Abhandlung lehrt, daß die wissenschaftliche Tätigkeit durch "partiale Beobachter" erfolgt, die auf "Referenzebenen" "Funktionen" verknüpfen. Was ist, vorm Hintergrund dieser Beobachtung, der historische Materialismus, wenn nicht die Einnahme des "Gesichtspunkts des Proletariats", von dem aus die Widersprüche der Referenzebene einer dynamischen Kritik unterzogen werden? Wenn nicht die Selbstbewegung eines partiellen Subjekts auf dem Boden einer Tendenz, die eine Hypothese für die Lektüre des Realen vorzeichnet? Des Realen der kapitalistischen Entwicklung, die als der globale Referent der Widersprüche, die von der Bewegung der abstrakten Arbeit veranlaßt werden, bestimmt werden muß? Referenzebene bezeichnet hierbei die Welt der realen Subsumtion, der vollständigen Unterwerfung der Gesellschaft unter das Kapital. Die Arbeit ist das Rhizom, welches das Reelle produziert und in dieser Produktion das Reale von der molekularen in die molare Ordnung überführt. Es durchquert in der beschriebenen unaufhaltsamen Tendenz den Krieg und definiert im Krieg die Befreiung. Die Referenzebene ist die Umwelt" der gesellschaflichen Arbeit und ihrer Widersprüche. Die Philosophie ist in diesem Feld als Pragmatik, Ethik und Politik situiert. Der "partielle Beobachter" der Wissenschaft verwandelt sich hierbei in eine "Begriffsperson"der Philosophie. Und was bedeutet Begriffsperson, personnage conceptuel , wenn nicht eine neue Gestalt des Proletariats, des General Intellect als subversive Potenz? Eine neue Gestalt des Proletariats, die, je mehr sie räumlich verteilt und insofern im strengen Sinn eine spinozistische nmultitudo" ist, desto mehr als gesellschaftliches und intellektuelles Produktionsvermögen vereinigt ist? Die Philosophie von Deleuze-Guattari nimmt diese neue Realität des modernen Proletariats vorweg und skizziert den Modus seiner notwendigen Subversion. Die Begriffsperson gibt so einerseits das Reale wider und offenbart es in seiner konfliktgeladenen Variation und in der Tendenz, die sich darin realisiert. Andererseits stellt sie sich als Wunsch, als unaufhaltsame utopische Produktion dar. In dieser Form 60
vollzieht die prpletarische Begriftsperson einen unversöhnlichen, kontinuierlichen Bruch mit allen materiellen Referenzen, denen sie unterworfen ist. Der "Immanenzplan", den die Philosophie konstruiert, ist eine ununterbrochene Insurrektion, die im absoluten Überflug des Realen, in der radikalen Nichtkoinzidenz von molekularer und molarer Ordnung, in der unzeitgemäßen Präsenz des Widerstands erfolgt. .. ~~ .. . DieKunst-LJndesgibt eine KiJnst des revolutionären Denkens - trägt wesentlich zu dieser Dynamik der Transformation und der Subversion des Begriffs bei. Sie artikuliert die Bereiche des Imaginären und entwirft sie in Richtung auf das Drängen der Praxis. Das didaktische Schema von Qu'est-ce que la philosophie? legt die Fäden bloß, die in dem phänomenologischen Gewebe von TP dionysisch ineinander verwoben sind. Aber mit welcher Akribie! Und selbst dann noch, wenn man sie aufeinander projiziert, bewahren beide Bücher ihre Selbständigkeit; das letztere stellt nicht einen bloßen Anhang des ersteren dar. Aber wir dürfen die Unterschiede zwischen den beiden Texten auch nicht verwischen, und hier fällt unser Urteil eindeutig zugunsten von TP aus. Trotz der extremen Reduktion, die unserer Darstellung auferlegt war, ist deutlich geworden, daß darin eine äußerst komplexe und differenzierte Phänomenologie der Begriffsperson General Intellekt entfaltet wird, der halb Maschine und halb Subjekt und zugleich ganz Maschine und ganz Subjekt ist. Darüberhinaus kommt in TP eine revolutuionäre Erfahrung zum Ausdruck. Die Jahre des Wunsches und der umwälzenden Erlebnisse*, die auf 68 folgten, sind in dem Buch in Gestalt einer fulminanten Kasuistik, wie nur große revolutionäre Augenblicke sie liefern, eingesammelt und aufbewahrt. Man hört zuweilen, es gäbe kein Buch, das 68 "auf den Begriff bringt". Aber diese Behauptung ist falsch, denn eben das geschieht in TP. Es stellt den historischen Materialismus unserer Epoche in actu dar und ist darin ein zeitgenössisches Äquivalent von Marxens Klassenkämpfe in Deutschland und Frankreich. Wenn der Text nie zu Ende kommt und sich nie mit schlüssigen Definitionen befriedigt, so 61
darum, weil er - wie ähnliche Schriften von Marx - ein neues Subjekt präsentiert, das noch ganz in seinem Bildungsprozeß befangen Ist und doch zugleich in der Vielzahl seiner Mikround Makroerfahrungen und in den Ethiken und Politiken, denen es Raum und Bedeutung gibt, äußerst konsistent ist. TP st das ,) Pulsieren eines kollektiven und tausend singulärer Körper. Oie politische Idee, die darin interpretiert und ausgedrückt wird, ist die der "multitudo" Spinozas, einer verwüstenden Beweglichkeit der Subjekte auf dem Schauplatz des eben sich konstituierenden Weltmarkts. Es geht um die radikalste Demokratie aller Subjekte, die Verrückten nicht ausgenommen, um eine Demokratie, die als Waffe gegen den Staat gekehrt wird, den Organisator der Ausbeutung des Arbeiters, der Disziplinierung der Wahnsinnigen, der Kontrolle des General Intellekt. Ausdrücklich wird in TP auf die gesellschaftlich zerstreuten und autonomen Kämpfe der Frauen, Kinder, Arbeiter, Homosexuellen, Ausgestoßenen, Einwanderer usw. verwiesen, einer Perspektive folgend, in der längst alle Mauern gefallen sind. Der Reichtum dieser Bewegungen konstituiert das Milieu, in dem der wissenschaftliche Gesichtspunkt und die absolute Konstruktion des Begriffs möglich werden. Begriff heißt Ereignis: das System der Begriffe bricht die Geologie der Aktion vermittels einer Geologie des Wunschereignisses auf. Damit sind die Bedingungen der Rekonstruktion der Geisteswissenschaften" durch eine Theorie des Ausdrucks und auf dem Boden einer Geschichtlichkeit, die zugleich Bewegung des Seins selbst und Geburtsstätte der Subjektivität ist, erfüllt. Es mag genOgen, die Behandlungsart der Philosophiegeschichte in TP und Qu'est-ce que la philosophie? und die darin erarbeiteten Hypothesen und Methoden als Beispiel anzuführen. Beide Male wird die Geschichte der Philosophie in Ihre historiographische Kontinuität und ontische Teleologie aufgelöst. Oie Geschichtlichkeit der Philosophie wird so als Geschichtlichkeit schlechthin begriffen, d.h. als singuläre Begegnung des Denkens und der aktuellen Probtematizität des Seins. Auch die Geschichte der Philosophie ist nur als Ereignis, als unzeitgemäße, einbrechende Präsenz verstehbar und rekon-
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struierbar. Oie Philosophie ist stets ein spinozistisches Scholium der Entwicklung des Realen. Das Schema der Geisteswissenschaften ist also immer horizontal, vom Ereignis getragen, interdisziplinär, blättrig wie die Beziehungen seiner mannigfachen Elemente. Aber wo bleibt in dieser Vision die Vergangenheit, deren Produkt wir sind? Faktisch ist dem Rhizom der Gegenwart und Kreativität ein mechanische Phylum entgegengesetzt, das zugleich Resultante und Residuum der Vergangenheit ist. Oie Geisteswissenschaften entstehen dort, wo dieses mechanische Phylum von der Bestimmtheit einer neuen Schöpfung, eines neuen Ereignisses aufgezehrt wird. Oie materiellen Bestimmungen und ihre Akkumulation, der undurchdringliche Untergrund der Vergangenheit bilden ein totes Ensemble, das nur durch lebendige Arbeit wiederbelebt wird, das von den neuen Maschinen der Subjektivität stets von neuem wieder erfunden werden muß. Geschieht das nicht, ist das Vergangene nicht nur tot, sondern wahrhaftig ein Gefängnis. TP entwirft so eine materialistische Theorie der gesellschaftlichen Arbeit und versteht diese als das schöpferische Ereignis der tausend Subjekte, das sich auf die Gegenwart öffnet. Diese Öffnung geschieht auf der Grundlage einer mechanischen Konditionierung, die von dieser Arbeit konstruiert worden war und einzig von ihr als lebendiger, gegenwärtiger Arbeit abermals verwertet und verwandelt werden kann.Theorie des Ausdrucks, absoluter Immantentismus und Vitalismus in der von uns dargestellten Gestalt bilden die Grundlage für die Rekonstruktion der Geisteswissenschaften. Aber wie kann verhindert werden, müssen wir fragen, daß dieser neu gewonnene Horizont nichtabermals in Skeptizismus oder einer andern Spielart von schwacher Lektüre des Wertes endet? Nichts liegt TP ferner als die Versuchung, ein inneres Element des .Prozesses zu verabsolutieren - und sei es das Sein selbst -, um auf diese Weise eine nachträgliche Relativierung zu provozieren. Es ist vielmehr gerade der Begriff der Oberfläche und die offene Ontologie der Geschichtlichkeit, wobei letztere im Sinne der Präsenz von Subjektivität verstanden wird, was die Wiedergeburt der Geisteswissenschaften ermöglicht. Blicken
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wir einen Augenblick zurück: obwohl Heidegger eine Umkehrung des Ontischen ins Ontologische vollführt und die Umwandlung von Geschichtsschreibung in Geschichtlichkeit als unvermeidlich begreift, erblickt er andererseits in dieser Umkehrung, in ihrem logischen Einschnitt und in der Verweigerung des Schicksals die einzig mögliche Bedeutung des Daseins. Diese heideggersche Operation blockiert das leben und bringt den metaphysischen Übergang in einem Endpunkt zum Stehen. Heidegger gleicht darin Hiob, der im Augenblick, da er Gott sieht, erblindet. In TP dagegen heißt Gott sehen: eine neue Apperzeption des Seins, des offenen Seins ,konstruieren und -spinozistisch die Methodologie aus der Sphäre des Ontischen in die des Ontologischen transponieren. Nicht um Gott ein weiteres Mal zu bejahen, sondern um ihn ein für allemal auszuschließen, nicht um ein Absolutes zu erreichen, sondern um die Konstruktion des Seins "omnino absoluta" zu vollziehen. Ausgehend von der Arbeit der Singularität, in der menschlichen Arbeit. Di~ Humanwissenschaften können also, insofern sie rhizomatisch und zuinnerst von Präsenz erfüllt sind, rekonstruiert werden., als Wissenschaft, d.h. als Referenzebene; und als Philosophie, d.h. als Konsistenzebene. Als Annäherung an das Ereignis, als ethischer Impuls, der ontologische Maschinen durchquert. In den Humanwissenschaften konvergieren diese Ansätze als ein Ensemble von immer abstrakter werdenden subjektiven Gefügen und Verkettungen. Man kann das Sein nicht anders in Betracht ziehen, als das man es ist und macht. Man kann, zehn Jahre nach ihrem Erscheinen, TP getrost als eine äußerst wirksame Phänomenologie der Gegenwart lesen. Aber noch wichtiger ist, daß man das Buch als die erste Philosophie der Postmoderne begreift. Als eine Philosophie, die in der alternativen, immanenten, materialistisctlen Linie der Moderne wurzelt und die Basis für eine Rekonstruktion der Geisteswissenschaften abgibt. Und weil Geist.. als Gehirn und Gehirn - gemäß der Voraussage von Marx und der Rhythmik der Krise der kapitalistischen, transzendalistisehen und idealistischen Moderne entsprechend - als General Intellekt buchstabiert werden muß, kündigen TP die Renais-
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sance eines historischen Materialismus, der auf der Höhe der Zeit ist, an. Er wartet nur, bewahrheitet, d.h. im Ereignis der Revolution vollbracht zu werden.
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Brian Massumi Everywhere you want to be* Einführung in die Angst Vorbemerkung: Es entspricht der Arbeit von Deleuze und Guattari mehr, nicht über sie, als von ihr aus zu denken und zu schreiben. Wir wollen darum im folgenden einen zentrifugalen Gebrauch von ihr machen. Statt Texte zu paraphrasieren oder zu interpretieren, brechen wir abermals auf. Wir verknüpfen das, was Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus über die kapitalistische Axiomatik und ihre Subjektivierungsformen gesagt haben, mit dem Begriff der Virtualität, den Deleuze vor allem in seinem Buch uber Bergson herausgearbeitet hat. Diese Verkettung schaffen wir dann nach Nordamerika hinüber und zeigen, wie die neueste Form der modernen Massenmediengesellschaft funktioniert. Nur gelegentlich werden wir Deleuze und Guattarl ausdrücklich zitieren; aber der Essay ist, so hoffen wir, vom Geist ihrer Arbeit getragen.
They Take 8 Licking, But They Keep on Ticking** (Aus einer Timex-Anzeige)
Lynn Hili, Weltmeisterin im Klettern, stürzte 75 Meter ab und landete auf dem Steißbein, da es ihr nicht gelang, rechtzeitig das Gurtwerk zu schnüren. Schon ein Sturz aus 20 Meter Höhe kann tödlich sein, aber Lynn kam mit Schürfungen und Prellungen davon. Lynn trägt eine Armbanduhr aus der Timex Women's Fashion Serie. Das Modell hat ein Sicherheitsarmband. Sein Preis: ungefähr 45 Dollar. Der Pilot Hank Dempsey fiel in über 2000 Meter Höhe aus einem Flugzeug, als er eine Türluke, die klapperte und plötzlich aufsprang, verriegeln wollte. Er klammerte sich unten ans Flugzeug und wurde, als sein Kopilot 20 Minuten später zur Notlandung ansetzte, hautnah über die * Werbeslogan für die Visa-Kreditkarte ** Trotz Schlag tickt sie weiter
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Startbahn geschleift. Auch Hank trug eine Fluguhr, eine Timex Zulu Time. Sie hat einen Zeitzonenanzeiger und koste~ 60 Dollar. Die 52-jährige Helen Thayer machte mit ihrem Hund eine Skitour an den magnetischen Nordpol. 27 Tage lang hat sie einen Schlitten über eine Strecke von 450 km gezogen, wurde sieben Mal von Eisbären angegriffen, überstand drei Schneestürme, war nahe am Verhungern und Tage lang blind. Helen trug ein vergleichsweise urbanes Modell aus der Timex Serie. Es ist für 40 Dollar zu haben. Den wirklichen Helden unserer Zeit begegnet man nicht im Fernsehen, in Fußballstadien oder im Kino. Sie fahren Taxi, arbeiten in Büros, gehen mit Maschinen um. Es sind gewöhnliche Menschen, Leute wie nwir", nur daß ihnen etwas Ungewöhnliches passiert ist - und daß sie überlebt haben. In gewissem Sinn sind wir freilich alle Überlebende. Auch wir sind einmal gestürzt, wenn nicht von einem Fels oder aus dem Flugzeug, so doch die Treppe hinab. Auch ein solcher Sturz kann tödlich sein. Unser Eisbär ist der Köter des Nachbarn, unser Nordpol der Kaufmarkt. RaubOberfälle auf Parkplätzen tun ein übriges, damit der Gang zum Auto nach Einbruch der Nacht für uns so tückisch wird wie für andere die Expedition an den Pol. Selbst das Büro wird zur Gefahrenzone, der Stress ist ein Killer, der Manschetten trägt. Liest man nicht, daß die Arbeitsunfälle wieder zugenommen haben? Früher oder später wird auch uns, die wir ein ganz gewöhnliches Leben führen, etwas Ungewöhnliches passieren. Auch uns lauern Gefahren auf. Werden wir sie alle überleben? BERLINER
DISKOTHEK
ACHILLE LAURO
MOGADISCHO
OLYMPIADE
MÜNCHEN
McDoNALDS
In the lang run, we are all dead. (John Maynard Keynes) Am 7. Dezember 1989 drang ein Schwerbewaffneter in den Fachbereich für Ingenieurswissenschaften der Universität MontfE~al ein. Er unterbrach die Vorlesung und befahl den Stu-
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denten, sich in die eine, und den Studentinnen, sich in die andere Ecke zu stellen. Dann fluchte er über Feminismus und schoß auf die Frauen ein. Vierzehn Studentinnen kamen bei dem Überfall und der anschließenden Schießerei ums Leben. Die Medien waren sofort zur Stelle. Wenige Minuten später schon wurden Passanten, "gewöhnliche Leute", um ihre Meinung gefragt. Fernsehjournalisten beeilten sich, ein Porträt des Killers zu entwerfen. Doch dann waren alle plötzlich verlegen. Denn aus den Erklärungen seiner Familie, seiner Freunde und Bekannten ging unzweideutig hervor, daß der "verrückte" Schütze ein ganz und gar gewöhnlicher Mensch war. Was ihn in den Augen der Journalisten noch viel ungewönlicher machte. "Das könnte auch mein Sohn sein," hieß es allenthalben. Wer weiß schon, was im Innern eines Menschen vorgeht. Die wenigen Feministinnen, denen man Gelegenheit zu einer Stellungnahme gab, griffen die Presse an, weil sie den Vorfall wie eine Schauergeschichte im Stil der 50er Jahre kolportiert hat: ein freundlicher junger Mann hat Schwierigkeiten mit seiner Freundin und verwandelt sich unbegreiflicherweise in ein Scheusal. In ihren Augen war an dem Fall nicht so interessant, daß hinter dem Gewöhnlichen das Ungewöhnliche auflauert, sondern daß das Ungewöhnliche zur Gewohnheit wird. In der Tat hatte die Zahl der Vergewaltigungen, Überfälle und Mordanschläge, die von männlichen Partnern verübt wurden, in den Monaten, die dem Überfall folgten, in MontreaI schlagartig zugenommen. Ein Jahr später wurde ernst und feierlich des Anschlags gedacht. Die Studentinnen des Polytechnikums befanden sich in ehrwürdiger Gesellschaft. Zwei Wochen vor dem Gedenktag hatte sich zum 17. Mal die Ermordung John F. Kennedys gejährt, einen guten Monat zuvor zum 12. Mal die Ermordung von Martin Luther King. Zehn Tage später beging man den 10. Jahrestag des Attentats auf John Lennon. Im Taumel der vorweihnachtlichen Einkaufszeit schoben sich die Bilder der blutbefleckten Sitzbänke zwischen die Klischees von dem durchschossenen Schädel des Präsidenten und die Photos von den pathetischen Szenen auf dem Balkon in Memphis. Das Mas-
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saker von Montreal ging in die Annalen der Mediengeschichte ein. Man fand es der Erinnerung, oder wenigstens der TV-Erinnerung wert, die es zu einem Element in einer Serie macht. Wie in anderen Fällen so blieb auch in diesem nichts zurück außer einem Nachgeschmack von Angst und die unbestimmte Ahnung, daß sich Ähnliches bald wiederholen wird. Denn Medien-Ereignisse sind generisch und austauschbar, sozusagen Ereignisse ohne Eigenschaften. LOCKERBY
KANARISCHE INSELN
KAL
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Wer fällt, der war. (Zugspringer, Rio de Janeiro) Träger einer Timex-Uhr wie Lynn Hili, Hank Dempsey und H~ len Thayer sind nicht darum ungewöhnliche Menschen, weil sie besondere Qualitäten aufweisen, durch die sie aus dem Alltäglichen herausragten, sondern darum, weil ihnen etwas, oder vielmehr: nichts passiert war. Sie waren in Gefahr und haben die Gefahr überlebt, um uns davon zu erzählen (und eine Uhr zu kaufen). Ihre Berühmtheit wurde nicht durch sie selbst sondern hat sich sozusagen an Ihnen produzlen. Worauf es an'kommt, ist das Ereignis, das ihnen widerfahren ist und durch das sie Berühmtheit erlangt haben. Ihr persönlicher Wert ist eine bloße Kontingenz, was sie auszeichnet, ist ein Unfall (oder, wie im Fall von Helen, der Umstand, daßsieeinem Unfall knapp entgangen sind). Die Identität dieser Musterkonsumenten wird durch ein äußerliches Ereignis bestimmt, durch den Unfall bzw. sein Ausbleiben. Um welche Art von Unfall es sich handelt, ja, selbst die Frage, ob er wirklich stattgefunden hat, ist nicht weiter wi.chtig. Es kommt nur auf seine Bedingung an, d.h. darauf, daß wir alle auf unsicherem Grund leben. Die "Erfahrung" einer Lynn oder eines Hank ist in solchem Maße überbestimmt, daß das bloße Fallen als ein exemplarisches Ereignis, das die Identität des Konsumenten ausmacht, betrachtet werden kann. Oder genauer, die generische Identität des Konsumenten: seine Zuge-
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hörigkeit zur Klasse der Menschen mit ungewöhnlicher Erfahrung, wird durch diese allgemeine Bedingung, daß es keinen wirklich sicheren Grund gibt, konstituiert. Seine spezifisChe Identität hingegen wird durch die Ware und ihr Preisschild konstituiert: Lynn ist durch ihre fancy watch ("das Kostüm der Frau") mit Sicherheitsschloß zum Preis 60 Dollar individuiert· der Großverdiener Hank, der von Berufs wegen zwischen Zeit~ zonen hin-und herfliegt, durch den Besitz einer 50-Dollar ZuluUhr, die seine Manneskraft unterstreicht. Das erste Axiom der Timex-Philosophie lautet also: Identität ist das Produkt eines Kautakts unter der Bedingung allgemeiner Grundlosigkeit.
BUDDY HOll Y
OTIS REDDING
JAMES OE AN
JANE MANSFIElD
LYNYRD SKYNYRD
Und - wer von uns ist nicht schon einmal gefallen? Oder wird einmal fallen, denn "in the end, we are all dead". Die wirklich ungewöhnlichen Menschen sind nicht auf dem Bildschirm zu sehen. Sie sind genauso gewöhnlich wie "wir". Wir alle sind Lynn oder Hank oder Helen. Wir alle sind Otis Redding und Jane Mansfield. Wir alle sind Untermengen der Klasse ungewöhnlicher Menschen. "Wir" sind Timex-Philosophen. Waren slatten uns mit identifizierbaren Qualitäten aus. Sie determinieren unseren sozialen Status, Charakterzüge und Geschlecht. Waren stehen für unser Dasein. Der Grund bzw. die Grundlosigkeit, die sie absorbieren, ist der Unfall, das Akzidenz, sagen wir: die Zufallsform, die als Sturz, als ein unqualifiziertes oder generisches Grundereignis erscheint. Unsere generische Identität, Subjektform oder Menschlichkeit, ist das generische Ereignis, die Zufallsform; unsere spezifische Identität, .Individualität" oder "Selbsf', ist die Gesamtsumme unser",r Kaufakte (Zweites Axiom). Anders gesagt, Kontingenz ist die Form der Identität, und Identität ist inhaltlich durch den Vollzug einer Serie grundloser Kaufakte bestimmt. Wir wissen, daß wir leben, oder uns wenigstens in einern am Faden der Kreditkarte hängenden, lebensähnlichen Zustand befinden - zumindest
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solange wir kauten. "Ich kaufe, also bin ich." (Drittes Axiom). Durch den Erwerb von Waren wird das Subjekt des Kaufs nicht nur spezifiziert, sondern auch aktualisiert. Im Kapitalismus existiert das Subjekt nur als Funktion im Warenverhältnis. In der Dezembernummer (1990) von Vogue, der wir die TimexAnnonce entnommen haben, findet man sage und schreibe fünfzehn Anzeigen fOr Uhren. Die meisten haben die Themen Unfall oder Tradition als "Aufhänger". Tag Heuer warnt Skifahrer, "unter Druck zusammenzubrechen". Noblia versucht uns zu überreden, eine Geschenkuhr für unsere Urgroßenkel zu erstehen. Unfall und Tradition sind komplementäre Dimensionen der Zeit und als solche nicht unvereinbar, suggeriert eine Fendi-Reklame. Sie zeigt einen Steinbock, der, mit einer Uhr bekränzt, auf einern unwegsamen Berggipfel eingepfercht ist und wie ein antikes Götterbild unter dem ätherischen Himmel erstrahlt. Wenn wir auf unserer Gipfeltour nicht abstürzen, werden wir Besitzer der Uhr und dürfen uns überdies an der Kultursonne bräunen (generische KUltur). Die Kontinuität der Zeit hilft uns, drohende Unfälle zu vermeiden, und trägt uns zum Gipfel empor. In Wirklichkeit ist die scheinbar glatte Zeitlinie des Traditionshorizonts jedoch diskontinuierlich: eine Gipfelerfahrung ist durch Abgründe von der andern getrennt; um andere Kulturhöhen zu erklimmen, bedarf es eines abermaligen Aufstiegs. Natürlich sind die Berge Preisschilder und die Gipfel Kaufakte. Die Diachronie ist die Aura, der special effect, der die Kaufakte umgibt, eine Art (vermiedener) Unfall. Ihre scheinbare Kontinuität entsteht durch die Überblendung der Nachbilder, die die Waren hinterlassen. Die Lücken zwischen den Kaufakten werden so mit der "Gebrauchszeit" gefOllt, d.h. der Zeit, die für den Konsum der Waren erforderlich ist. Wer kauft, läßt sich von der Woge des Kredits von einem zum andern Kaufakt treiben und "verzehrt" in der Zwischenzeit, was er zuvor erstanden hat. Der Konsum oder Gebrauch ist nicht Zweck, sondern Mittel. Die Grunderfahrung ist die Gipfelerfahrung. Die Gebrauchszeit ist leer und ein Anhängsel der Kaufzeit, die primär ist. In ihr glüht der Schein vergangener Besteigungen nach und produziert eine Art sekundäre persönliche Präsenz, 71
eine vermeintlich kontinuierliche Aura. Die Identität des Konsumenten ist das BOndei der Effekte, die die Kaufakte am Körper des Käufers hinterlassen, eine optische Spiegelung, die die Leere der Zufälle Oberblendet. GebrauchsgOter bilden das Scharnier zwischen zwei Zeitlichkeiten oder Zeitformen. Eine primäre, Unfall- oder Zufalls(vermeidungs)form konstituiert die generische Identität oder Menschlichkeit des Konsumenten, eine sekundäre, die persönlich-kulturelle Kauftradition, konstituiert seine spezifische Identität, sein Selbst. Die spezifische Identität besteht aus der Doppelung von Vollzug (Kaut) und Verzehr (Konsum) und verschmilzt die beiden Formen zu einer Sichselbstgleichheit. Die generische Identität oder kapitalistische Subjektform ist keine Synchronie, die diese Doppelung oder Diachronie erganzte. Sie ist auch keine Simultaneität oder Synthesis aufeinanderfolgender Momente. In ihr geschieht vielmehr die vollständige Durchdringung von sich wechselseitig ausschließenden Zeitformen: das grOndende-grundlose Ereignis ist zugleich ein Augenblick und eine Ewigkeit. Es ist immer schon geschehen ("die Weltmeisterin im Klettern war abgestOrzt") und besteht als Möglichkeit fort ("unter Druck nicht zusammenstOrzen"). Der Unfall ist Versprechen und Drohung: einerseits reine Vergangenheit einer plötzlichen, unkontrollierbaren Kontingenz, andererseits ungewisse Zukunft einer Wiederkehr. Waren sind Scharniere, die durch die Doppelung von Vollzug und Verzehr die LOcke zwischen Vergangenheit und Zukunft fOlien und so den Ort der Gegenwart besetzen ("Lynn trägt eine Modeuhr mit Sicherheitsarmband ... sie kostet ..."). Waren sind Zeitschnallen, und Zeitschnallen eine Art Sicherheitsgurt. Sie versichern uns, daß wir sind und, dank der Tradition im ROcken (oder an der Hand), sein werden. Mit ihnen halten wir uns an den grundlosen Gipfeln fest. Kaufen ist Vorsorge, eine Art Lebensversicherung. Wir wissen, daß unsere Tage gezählt sind, aber wenn wir dem kapitalistischen Imperativ folgen - Lassen Sie sich nicht einschOchtern, wählen Sie die richtige Uhr! -, brauchen wir nicht besorgt sein, daß es auch mit uns eines Tages zu Ende gehen wird. Auch wenn uns jemand einen Schlag 72
versetzt, das Konsumgut tickt weiter. Wir Oberleben in den Gadgets unserer Urgroßenkel. Die Präsenz des Kaufakts mag vergehen, nicht aber die Zukunft seiner Vergangenheit. Das Nachbild des Nachbilds unserer zerklOfteten Gegenwart wird nicht verglOhen, sondern zu einem objektivierten Gedächtnis werden. Du wirst gekauft haben: die Zukunft als Vergangenheit ist die fundamentale Zeitform des Konsumenten. Sie ist der unverhüllte Ausdruck des Imperativs des Kapitals und zugleich die Form des kapitalistischen Heils.
Was hält im Wirklichen den Platz für das Mögliche frei? "Was ist dann Terror, wenn das nicht Terror ist", sagte Begin zu Arafats Absage an den Terrorismus. (Montreal Gazette, 27. März 1989)
Die Ermordung Kennedys bezeichnet eine Zäsur in der amerikanischen Kultur. Sie bedeutet das Ende von Gamelot*. Von nun an konnte man sich nicht mehr in dem Glauben wiegen, die Gegenwart sei durch eine Art Nabelschnur mit dem Goldenen Zeitalter verbunden und dessen Fortbestand hiermit gesichert. Im Bildsucher der Waffe des Attentäters waren die Vergangenheit und die utopische Zukunft ihrer Wiederkehr jäh aufeinandergeprallt und zerschellt. Kennedys Tod bedeutet das Ende der mythischen Kulturzeit als Zeitschema der amerikanischen Gesellschaft. Nichts wird mehr so sein wie zuvor. Zwar schien es unmittelbar nach dem Mord fOr kurze Zeit möglich, an diesem Schema festzuhalten: viele glaubten, es habe sich um eine Verschwörung gehandelt, Oswald sei Agent des KGB, ein Krimineller, der durch die Ritzen in das System ein• Mythischer Ort der Artusrunde, während Kennedys Amtszeit als heroische 5elbstbeschreibung der amerikanischen Gesellschaft in Umlauf gebracht.
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gedrungen war. Im Zeitalter der brutalen "Unschuld" kam der Feind von außen, "aus der Kälte", von jenseits der nationalstaatlichen Grenze. Aber nun war das Gespenst der Subversion im Inneren aufgetaucht. Der Kalte Krieg war ein äußerer, ein Zweifrontenkrieg. Aber Vietnam hat offenbart, daß die Niederlage nicht anderswo, sondern zu Hause, im Innern stattgefunden hat. Es ist nicht eine Ideologie der andern erlegen, sondern die Ideologie als solche unterlag. Nicht der Todesschütze hat gewonnen, sondern, falls man überhaupt von Gewinner sprechen kann, die Kugel. Ihr sinnloser, augenblicklicher Einschlag, das "Es wird gewesen sein". Überall brachen Risse auf. Der Grund gab nach. Der Schuß hätte an jedem Ort, zu jeder Zeit abgefeuert werden können. Der unmittelbare Erbe Oswalds war nicht James Earl Ray, der Mörder von Martin Luther King, sondern jener "Scharfschütze", der im Texas Tower wild um sich auf Passanten schoß, ohne das geringste Motiv und für Durchschnittsamerikaner unverständlich. Die allgemeine Unsicherheit nahm zu. Wie kam es zu den Straßenschlachten von Watts? Zwischen den Rassen brach der Bürgerkrieg aus. Die "generation gap" drohte die kulturelle Tradition zu unterminieren, die auf der Weitergabe der elterlichen Werte an die Nachkommen begründet war. Der Feminismus verwandelte die Geschlechtszugehörigkeit in einen Kampfplatz. Zur gleichen Zeit fingen Flugzeuge an, vom Himmel zu fallen. Eine für unverbrüchlich erachtete Ubidoökonomie war gestört. Die Lust blieb aus oder trat anderswo auf, Körper unterwanderten das Selbst, die Jugendkultur frönte dem Genuß des Fleisches. Man versuchte, dem Niedergang, der überall fühlbar war, durch den Kauf von Kosmetikartikeln und Maschinen zur Körperertüchtigung Einhalt zu gebieten. Zuletzt geriet selbst die Industrie, der man den Fortschritt zu verdanken hat· te, in die Krise und beschwörte den Zusammenbruch des Ökosystems herauf. Der Kollaps begann, allgegenwärtig zu werden.
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THREE MILE ISLAND
T SCHER NOBYL
S EVESO
A LASKA
B HOPAI.
LOVE CANAL
"Wir" leben hier. Das ist unsere Kultur: der drohend bevorstehende Unfall, oder besser: die Immanenz des Unfalls. Verschwörungstheorien, die als Reaktion auf die Morde von Kennedy und Martin Luther King ins Kraut geschossen waren, beschuldigen nunmehr einen inneren Feind, die CIA. "We have met the enemy and he is us", heißt es in einem Comic. Der Feind ist nicht länger anderswo. Ja, er ist oft nicht einmal mehr als solcher identifizierbar. Allgegenwärtige Gefahren verschwimmen ineinander und werden zuletzt ununterscheidbar. Sie vergiften infolge ihrer Nähe zur Lust und Verflechtung mit den notwendigen Funktionen von Körper, Familie und Nationalökonomie die Lichtseite des Lebens. Der politisch codierte Kalte Krieg hat sich in einen Zustand generalisierter Abschreckung gegen einen Feind ohne Eigenschaften verwandelt. An allen Orten und in jedem Moment der sozialen Raumzeit droht ein gesichtsloser Gegner aufzutauchen. Vom Wohlfahrtsstaat zum Belagerungszustand: wir befinden uns in einer Art Notstand in Permanenz gegen einen unbestimmbaren inneren und äußeren Feind. SCHWARZE PEST
SVPHILL IS
TUBERKUL OSE
GRIPPE
KREBS
AIDS
Die gesellschaftliche Erwartungshaltung hat sich geändert. Man rechnet nicht mehr mit der Rückkehr ins gelobte Land, sondern mit einer Zerrüttung, die bereits Besitz von uns ergriffen hat und die Fiber unseres Alltagslebens angreift. Der Inhalt der drohenden Katastrophe spielt keine Rolle. Sie ist ohne Kontur, denn sie kann sich jederzeit und auf verschiedenste Weise bemerkbar machen. Einzig ihre Größe, ihr Ausmaß zählt. In welcher Gestalt der unbestimmte Feind auch immer auftreten mag, er ist unendlich groß und unendlich klein zugleich, viral und ambiental. An die Stelle des kommunistischen Feindbilds tritt die Bedrohung durch die Doppelgestalt von Aids und globaler Umweltkrise. Die ungesehenen und un-
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sichtbaren Gefahren wirken in unmenschlichen Maßstäben. Der, Feind ist nicht bloß unbestimmt, maskiert und versteckt. Weil die Drohung universal ist, ist er nicht dort, wo man ihn vermutet, und darum ungreifbar, Er existiert in einer anderen Aaumdimension, nicht in einem menschlichen "Hier", und in einer andern Zeitdimension, nicht in einem "Jetzt", weder im Fortschritt noch im kulturellen Erbe der Vergangenheit, aber auch nicht in der Utopie, in der wir die Vergangenheit wiederzufinden hoffen. Anderswo, in einem anderen Augenblick, jenseits von Kausalgesetzen und Klassifikationen. Daß das HIVVirus die direkte Ursache von Aids ist, wird zusehends bestritten; die Zahl der Kofaktoren nimmt zu, die Symptome werden unübersichtlicher. Aids ist ein Symptom, ähnlich wie die globalen Katastrophenmeldungen: ein Komplex von Wirkungen, die nicht auf einzelne, isolierbare Ursachen zurückführbar sind, keine lineare Entwicklung aufweisen und fortwährend ihr Erscheinungsbild ändern. Die Frage, die man stellen muß, lautet nicht: Wer? oder Wo? Wann? nicht einmal Was? Der Feind ist kein Etwas, sondern ein Nichtwas, eine multidimensionale, unspezifierbare Eventualität. In einem Wort, er ist virtuell. Discovery Countdown: so reibungslos, daß man Angst bekam. (Schlagzeile, Montraal Gazette)
Der Start der Challenger-Raumfähre war angsterregend. Aber war der take-off nicht geradezu perfekt verlaufen? Keine Unauffälligkeit, keine Störung, und dann plötzlich der Knall. Der Unfall und seine Vermeidung sind tendenziell vertauschbar geworden. Ob eine Rakete abhebt oder abstürzt, macht keinen allzu großen Unterscheid. Ob man die Bombe zündet oder nicht, der Palastinenser bleibt, wo er ist. Das Ereignis ist per definitionem angsterregend, ebenso wie der politische Gegner per definitionem ein Terrorist ist. "Angsterregend" drückt nicht die Qualität eines Gefühls aus, ebensowenig wie "Terrorist" eine
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politische Position oder ein Werturteil bezeichnet. Es geht nicht um Prädikate, die Eigenschaften eines Trägers, dem sie zugeordnet werden, bezeichnen, sondern um einen Modus der sich selbst gleich bleibt: um die Imminenz oder lmmanen~ des Unfalls. Dieser kennt nur das futurum exactum mit doppelter Klammer: "00' wird [(abgestürzt) sein]". Angst ist nicht nur ein Gefühl. Angst ist die Objektivität der Subjektivität im Spätkapitalismus. Sie ist die Existenzweise der Bilder und Güter und der grundlosen Wirkungen, die durch ihre unablässige Zirkulation veranlaßt wird. Angst ist die Übersetzung der doppelten Unendlichkeit des Möglichen in menschliche Verhältnisse und Maßstäbe. Sie stellt den ökonomischsten Ausdruck der Unfallform als Subjektform des Kapitals dar: Sein als Virtualität, Virtualität als Möglichkeit der in Warenform gebrachten Katastrophe, die Warenform als spektrales Kontinuum am Ort der Bedrohung. Wenn wir kaufen, kaufen wir uns von Angst und Absturz frei und stopfen Lücken mit Präsenzeffekten. Wenn wir konsumieren, konsumieren, d.h. verbrennen und vernichten wir unsere Möglichkeiten. Indem wir besitzen, werden wir von den Kräften des Markts besessen, die sich unserer Kontrolle entziehen. Komplize des Kapitals, wird der Körper sich selbst zum Feind. Killergeständnis: Mickey-Maus hat meinen Mann getötet. (Montraal Gazette, 24. Februar 1989) Angst ist die Direktwahrnehmung der heutigen Bedingung der Möglichkeit des Menschseins. Stellt das HIV-Virus die Anwesenheit der ungreifbaren, multikausalen Matrix eines Aids (der Name ist wenig mehr als ein label) genannten Syndroms auf der Ebene des Diskurses dar, so bedeutet Angst die Anwesenheit jenes anderen Syndroms: unserer spätkapitalistischen Daseinsform, deren Matrix nicht weniger ungreifbar ist, auf der Ebene der Körper der Menschen und in ihrem Affekt.
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Generalprobe für eine dunklere Zukunft War Discovery darum so angstvoll, weil Challenger der Vorbote (oder der Wunsch?) einer noch schlimmeren Katastrophe war, deren Möglichkeit dem nächsten Rakentenstart per definitionem eingeschrieben ist? Oder war es angstvoll, weil wir in Challenger unsere vergangene Zukunft wiedererkannten - die ewige Wiederkehr der Katastrophe? Oder war umgekehrt das Nichtereignis von Discovery die "dunklere Zukunft", für die der Absturz von Challenger nur eine Art Generalprobe war? Was macht mehr Angst: die vergangene Zukunft des Ereignisses oder die Gegenwart seines Stattfindens? Der Unfall oder seine Vermeidung? Jeder Mensch stirbt täglich um 24 Stunden ab. Marx, Das Kapital Das Schlagwort der achziger Jahre war power, "Macht". Mit dem power lunch wurde selbst das Essen zu einer produktiven Tätigkeit. Was früher in den Bereich der Reproduktion fiel, wird jetzt der Produktion integriert. Der Unterschied zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit wird hinfällig, die "Freizeit" verschwindet. Seit dem Aufkommen der Einschaltquotenmessung heißt den Fernseher einschalten, die Kontrollkarte einer Marketinggesellschaft stempeln. Freizeit ist "Selbstverwirklichung". In der Regel jedoch dient sie dazu, die Wettbewerbsfähigkeit des "Selbst" zu steigern, um den Arbeitsplatz zu halten oder einen zu finden, oder die Gesundheit zu schonen, um bis zur nächsten Lohnerhöhung zu überleben. Der ImageWert tritt an die Stelle des Gebrauchswerts, denn niemand hat mehr Zeit, um die "Früchte" der Arbeit zu genießen. Ein TVRecorder ist mehr ein Konsumversprechen als ein tatsächlicher Konsumvollzug. Hat man einen festen Arbeitsplatz, so arbeitet man immer mehr, um immer überflOssigere Gadgets, zu deren "Gebrauch" man immer weniger Zeit hat, zu kaufen. Was gekauft wird, sind Bilder und Dienstleistungen, die direkt wiederum 78
in die Produktion integriert sind, oder Dauergüter, die nichts weiter repräsentieren als eine immerfort aufgeschobene Wunscherfüllung. Waren sind Zeitformen, in denen die Zukunft aufbewahrt ist, sei es als gespeicherte Zeit, die ein andermal verwertet werden kann, oder als gesparte, nicht verausgabte Zeit, die die Optimierung zukOnftiger Outputs ermöglicht (Alliezl Feher 1987, 351). Diese beiden Modi der Zukunft sind wie eine Schleife ineinander geschlungen: man steigert die Produktivität, um Zeit zu sparen, spart Zeit, um mehr zu verdienen, verdient mehr, um mehr Waren zu kaufen, Waren, in denen man die Zeit speichern kann, die man dadurch gewonnen hat, daß man die Produktivität gesteigert hat, um so mehr kaufen zu können ... Imagepflege, Selbstverwirklichung: was wir kaufen, ist in letzter Instanz unser Selbst. Gesparte Zeit ist gespeicherte Zeit: indem wir uns selber kaufen, kaufen wir Zeit. Einmal mehr erscheint das Subjekt des Kapitals als Zeitform: eine Zukunft (Erfüllung), die fortwährend aufgeschoben wird, fungiert als Komplement einer Vergangenheit (Produktion), die immer schneller entschwindet. Das Schema wiederholt die TimexPhilosophie, die Aufhebung der Gegenwart in der vergangenen Zukunft, nur daß man jetzt von der "Arbeit" bzw. dem "Arbeitslohn" ausgeht, während es zuvor aus dem Konsum abgeleitet war. Aber wenn die Reproduktion ihrerseits Produktion wird, konvergieren Lohn-und Warenverhältnis, werden formell identisch und faktisch untrennbar. Wenn Waren ein Scharnier zwischen Vergangenheit und Zukunft bilden, so bildet die Subjektform, pie die leere Gegenwart überbrückt, das Scharnier zwischen den beiden Achsen des Kapitalverhältnisses. Das Subjekt des Kapitals wird am Kreuzungspunkt von Lohn- und Warenverhältnis produziert. Es ist dieser Kreuzungspunkt, an dem der gelebte Raum verzeitlicht und die Zeitlichkeit kapitalisiert wird. Kapitalisierung bedeutet potentieller Profit. Die Gesamtheit des Seienden ist unter das Kapitalverhältnis subsumiert. Sein ist zum Mehrwert geworden, dem kapitalistischen Ausdruck von Virtualität. Das Wachstum von Informations-, Bild- und Dienstleistungsmärkten zeigt die gegenwärtige Richtung der Kapitalexpansion 79
an. Es ist komplementär zur extensiven Expansion der indust~i ellen Produktion und Konsumtion in den Ländern der sog. Dntten Welt und betreibt die intensive Expansion des Kapitalverhältnisses im "Zentrum", wo es immer mehr mit dem Leben selbst zusammenfällt. Durch die Realsubsumtion der Gesellschaft gelingt es dem Kapital, die eigenen.. potentiell .katastrophischen Grenzen zu internalisieren (Negn 1.988). Die .exte~ sive Expansion verinnerlicht die Grenze .zwls~hen ~enphene und Zentrum; die intensive Expansion vennnerllcht die Grenze zwischen Produktion und Reproduktion, Zirkulation und Produktion, Konsumtion und Produktion, Freizeit und Arbeit, Leben und Tod. Gesundheit wird ihrerseits käuflich. Der Tod trampt durch die Bilder, die, unendlich reproduzierbar, das Unbewußte kolonisieren (Mickey-Mouse).
Zukunft und Vergangenheit in einer Timex-Uhr, ohne dialektische Synthesis. Auch der Begriff der gesellschaftlichen Revolution ist davon betroffen. Diese findet heute als beschleunigte Systemveränderung statt, in manchen Gesellschaften auch als Ausbruch aus überkommenen disziplinären, normativen Codierungen oder als Erfindung eines Selbst von einem Nullpunkt aus. Aber auch dieses Selbst wird noch durch die Ware und als Ware produziert. Die Revolution kommt zwar, aber ihr Eintritt ist vorkapitalisiert. Sie fällt gänzlich mit ihrer Aneigung zusammen, in der sie sich sozusagen überschlägt. Koexistenz von abrupten Veränderungen und extremen Formen des Konservativismus - das wäre eine mögliche Definition der Postmoderne. 1789
Die 52-jährige Roseann Greco aus West Islip hatte 1985 in einer Garteneinfahrt ihres Hauses ihren Ehemann Felix umgebracht und wurde dafür wegen Mordes angeklagt. Während des Prozesses erklärte sie im Augenblick der Tat sei ihr der Körper ihres Mannes wie ein Comic erschienen. Sie wurde trotzdem für verhandlungsfähig befunden. ROADRUNNER COYOTE
MICKEY MouSE
FLINTSTONES
SIMPSONS
MUTANT TEENAGE NINJA TURTLES
Aber der Begriff der Verinnerlichung ist unangemessen. Wenn das Kapitalverhältnis den gesamten geographischen und gesellschaftlichen Raum besetzt, gibt es kein Innen mehr, in das etwas eingeführt werden könnte. Vielmehr entsteht ein ungebundener Raum, wo Innen und Außen koextensiv sind, ein Immanenz- oder Äußerlichkeitsfeld. Verinnerlichung bedeutet nicht Integration, sondern eine Verschiebung und Intensivierung. Einander sich ausschließende Formen werden auf diese Weise zu einer prekären Koexistenz gezwungen. Peripherie und Zentrum treffen sich in der South Bronx, wie 80
1848
1871
1917 1929
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Die Krise der Produktion wird produktiv, wenn man neue Wege findet, um aus der Zirkulation des Kapitals Mehrwert zu "pressen". Keynes Maxime, "die Gegenwart vor der Zukunft der Katastrophe zu schützen", ist für die Ökonomie nicht länger verbindlich (Negri 1988, 25). Nunmehr geht es darum, "aus der Krise selber Geld zu schlagen". Das klassische Problem des kapitalistischen Akkumulationszyklus, die Unvermeidlichkeit periodischer Zusammenbrüche, wurde dadurch gelöst, daß man die Krise zu einer permanenten "Institution" erhob, so jedoch, daß die Profite darunter nicht leiden. Die vergangene Zukunft der Katastrophe ist zur betäubenden Allgegenwart der Krise geworden. Das Kapital befindet sich in einer Art von freiem Fall, und hängt nurmehr am dünnen Faden des Kredits. 1929 stürzten sich die Kapitalisten von den Fensterbänken ihrer Büros, 1987 bestand dazu nicht mehr die geringste Veranlassung: man hatte inzwischen die Vorstellung, Gleichgewichtszustände seien erreichbar oder auch nur wünschbar, über Bord geworfen. Die borderline abzuschreiten ist in Geldangelegenheit ebenso normal wie der Hinweis auf Bewußtseinsstörungen vor Gericht. 81
Die Polizei ist nicht dazu da, um Unordnung zu schaffen, sondern um Unordnung aufrechtzuerhalten. Richard J. Daley, ehemaliger Bürgermeister von Chicago Es besteht eine Ähnlichkeit zwischen dem mittellosen Zugspringer von Rio und den Börsenmaklern der Wall Street. Beide sind durch den Satz "Wer fällt, der war" definiert. Für beide folgt die Subjektform aus der Unfallform. Die schiere Identität besteht darin, daß das Kapitalverhältnis alle Koordinaten.. der gesellschaftlich-geographischen Raumzeit übergreift. Die Okumene der kapitalistischen Ökonomie subsumiert beide unterschiedslos, wie alles übrige auf der Erde und im Weltraum. Und doch besteht zwischen ihnen eine unleugbare Differenz. Kapitalisten setzen ihr Geld, der Zugspringer seinen Körper aufs Spiel. Der Stress mag am Körper des Kapitalisten nagen, aber Schlimmeres als Bankrott braucht er nicht zu befürchten. Obwohl also die Subjektivität von Kapitalist und Lumpenproletariat gleichermaßen durch die Kreuzung von Lohn- und Warenverhältnis . konstituiert wird, wird die allgemeine Bestimmung unterschiedlich aktualisiert: im Fall des Ersteren durch den Zugang zu, im Fall des Letzteren durch den Ausschluß aus der Sphäre von Geld und Ware. Die Ausgeschlossenen agitieren das Kapitalverhältnis direkt an ihrem Körper aus: sie fallen, und waren. Niemand erinnert sich ihrer. Ausgeschlossen vom Konsum als dem Medium von Präsenzeffekten, können sie die Lücke nicht schließen. Sie verkörpern an sich selbst die Ungreifbarkeit der Präsenz des Kapitals, die Katastrophe. . Das Kapitalverhältnis produziert eine subjektive Sichselbstgleichheit und führt zugleich Unterschiede in diese ein. Es vereinheitlicht nicht, ohne zu teilen. Dieses Dispositiv hat, ähnlich wie die zuvor erwähnten, nichts mit dialektischen Widersprüchen und ihrer Synthesis zu tun. Es enthält weder einen Paralogismus noch eine logische Paradoxie, sondern beschreibt eine reale Koinzidenz. Wir sagten, daß die Grenzen des Kapitals dem Kapital selbst immanent geworden sind. Das bedeutet nicht, daß sie einfach nur verschwunden oder sus-
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pendiert sind. Sie koinzidieren vielmehr real oder virtuell: die Grenze ist an jedem Raumzeitpunkt real, potentiell gegenwärtig, ohne daß sie darum notwendig an einem bestimmten Punkt lokalisiert wäre. Die Unfall- oder Subjektform ist eine Form der Virtualität, der reinen Möglichkeit. Im Prinzip hat sie keine Grenze, was nicht heißt, daß es in der Praxis keine Grenzen gibt. Denn in der Bewegung, die vom Prinzip zur Praxis fOhrt, in der Aktualisierung der Subjektform, werden in der Tat Grenzen gesetzt. Mit anderen Worten: die generische Identität des Subjekts des Kapitals stellt eine allgemeine Form unendlicher Möglichkeit dar, die nur jedoch dadurch in die Existenz übergeht, daß ihre Form in einen bestimmten Inhalt entläßt, "entfremdet", d.h. in spezifische Identitäten, deren Präsenzeffekte notwendig begrenzt und divergent sind. Eine spezifische Identität ist dadurch gekennzeichnet, daß sie einem gegebenen Körper der Zutritt zum Lohn- und Warenverhältnis ermöglicht oder versperrt, und durch die Art und Weise, wie dieser Zutritt bzw. Ausschluß erfolgt: Wie verzehrt sich das Selbst? Welche Präsenzeffekte produziert es (nicht)? Welche Gipfel ersteigt es (nicht)? Es gibt besondere Technologien, die mit den bestimmten Unterschieden der spezifischen Identitäten, ihren Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten, beschäftigt sind, als da sind: Alter, Geschlecht, Rasse, geographische Herkunft, kleine und große Unterschiede usw. Oie Disziplinen und die Biomacht Foucaults, ebenso wie die Testverfahren Baudrillards (Rückkoppelungsschleifen, die zwischen Produktion und Konsumtion, dem Produkt und den vermeintlichen Wünschen und Bedürfnissen, die es befriedigt, vermitteln und das Henne-Ei-Problem sozusagen auf der Ebene der sates promotion lösen), stellen solche Apparate der Aktualisierung der Subjektform des Kapitals dar. Zwischen den im einzelnen höchst unterschiedlichen Aktualisierungsapparaten besteht keinerlei Widerspruch. Sie existieren zusammen und bewirken eine Art nichtexklusive Verteilung der Körper. Aufgrund bestimmter sozialer Kennzeichen werden Körper ausgewählt und in die Kanäle, die den Zugang zur Lohn-und Konsumform regeln, eingeschleust. Der
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prioritäre Zugang zu einem Kanal schließt nicht automatisch den Zugang zu anderen ein oder aus. Aber oft wird ein und derselbe Körper mit einer gewissen Zwangsläufigkeit - zugleich oder sukzessiv - in andere, parallele Apparate eingeführt. Zuerst die Familie, dann die Schule, dann das Gefängnis. In allen diesen disziplinären Institutionen gibt es unterschiedliche Arten von Biomacht und Testverfahren. Der Körper einer Negerin wird zugleich medikalisiert und für disziplinäre Institutionen präpariert. Auf der Ebene der generischen Identität fallen Funktionen zusammen, die sich in der Praxis ausschließen können oder auch nicht (Kapitalist/Arbeiter, Produzent/ Konsument, Verbrecher/Bankier). Die spezifische Identität dagegen erfordert im Übergang zur Praxis die Trennung der Funktionen, sei es als Ausschluß, sei es .in der Form einer selektiven Kombination. Auf diese Weise kommt ein komplexes Gewebe von sich fortwährend verschiebenden gesellschaftlichen Trennungen und Distinktionen zustande. Die Grenzen sind durchlässig, sie errichten keine unüberwindlichen Schranken. Sie funktionieren nicht wie Mauern, sondern wie Filter. Ein Schwarzer aus der South Bronx kann zum Kapitalisten werden, auch wenn die Chancen dafür gering sind. Es ist nicht so sehr der Ausschluß als eine Art anonymer Wahrscheinlichkeitskalkül, was die Trennung und (Re)Kombination der Funktionen und Distinktionen regelt. Die Aktualisierungsapparate, die diese Prozesse steuern, sind Machtmechanismen. Macht ist keine Form, kein Abstraktum, sondern die Bewegung der Verinhaltlichung der Form, ohne welche diese funktionslos bliebe. Durch Macht geschieht der Übergang des Abstrakten zum Besonderen, die Übersetzung der generischen Identität in spezifische Identitäten, des Menschlichen in ein individuelles Selbst. Sie hat nicht den Charakter einer Form, sondern ist ein Bildungsprozeß; sie ist kein Sein, sondern ein Werden und mithin weder generisch noch spezifisch. Die Macht ist nicht weniger allgegenwärtig wie die Subjektform und ebenso variabel wie die individuellen Selbste. Sie ist weder das eine noch das andere, aber darum nicht unbestimmt. Sie weist charakteristische Modi auf, die in
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ihren Funktionen unterschieden sind und die Aktualisierung eines gegebenen Körpers bewirken, d.h. einem Leben einen gesellschaftlich erkennbaren Inhalt verleihen. Machtmechanismen können auch durch die Zeitgänge, die sie provozieren, bestimmt werden. Sie können an der Zukünftigkeit der vergangenen Zukunft ansetzen und insofern als Überwachungsstrategien, die sich auf die Vorwegnahme von Ereignissen beziehen, betrachtet werden. Oder sie setzen an der Vergangenheit an und haben dann eher statistischen oder p robabilistischen Charakter und analysieren und quantifizieren geschehene Ereignisse. In der Timex-Anzeige wurde die Vergangenheit numerisch festgehalten: es ging um einen Sturz aus 70 Meter und um ein Flugzeug in 2000 Meter Höhe, um wenige Zentimeter über der Startbahn, 27 Minuten vor der Landung, das Alter von 52 Jahren, einen 80 kg schweren Schlitten, 27 Tage und 450 km, drei Schneestürme usw. Überwachungsmechanismen und statistische Kalküle greifen ineinander und erlauben Vorhersagen. Das Macht-Wort der Vorhersage ist Abschreckung : sie ergibt sich aus einer Synthese von vergangener und zukünftiger Macht, in welche die leere Gegenwart wie eine Art spähendes, warnendes Auge eingerückt ist. Gegenwart ist der Versuch der Vermeidung künftiger Unfälle durch vergangene Erfahrungen. In ihr kehrt sich die Macht dem Ereignis zu, d~r Subjektform und der Virtualität. Macht im Spätkapitalismus hat zwei Seiten. Die eine ist der Subjektform zugekehrt und prodUZiert Abschreckung. In der Abschreckung geht es nicht um eine bestimmte Aktualität, sondern um eine unbestimmte Möglichkeit, die Möglichkeit der Zerstörung der Menschheit. Auf der andern Seite produZiert Macht Bestimmtheit. In den Disziplinen, in der Biomacht und durch Testverfahren erhält die Zerstörung ein Gesicht: die Eventualität der Zerstörung wird spezifiziert, indem in die Körper individualisierte Abschreckungsmechanismen eingeschrieben werden. Indem ein Selbst ausgewählt, produziert und konsumiert wird, erhält die Lebensform einen Inhalt. Das Intervall zwischen generischer und spezifischer Identität ei-
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nerseits und das Hin- und Her zwischen Abschreckung und Disziplin, Virtualität und Aktualität andererseits bilden das extensive und intensive Feld, in dem das Kapitalverhältnis agiert. Als gesellschaftliche Selektion und probabilistische Kontrolle fällt die Macht mit dem Kapital zusammen (Deleuze 1990). In der Macht erscheint die Kapitalisierung als Schicksal. In einer Welt, in der Gleichgewichtsvorstellungen ad acta gelegt sind und Abschreckung der Horizont und Unfälle die "Substanz" der Erfahrung sind, ist Unordnung ein Motor für Kontrolle. In letzter Instanz bedeutet Schicksal nichts anderes als die Notwendigkeit einer realen Möglichkeit: die Unvermeidlichkeit des Ereignisses, die Verflüchtigung konsumtiver Produktion, ausgezehrtes, verbranntes Leben, Tod. Der Kaufakt, durch den das kapitalistische Selbst konstituiert wird, erschien zunächst bloß als eine Funktion des Warenverhältnisses, als unbeschränkter Akt von Tausch und Konsum. Aber es genügt, ihn am Schnittpunkt von Lohn- und Warenverhältnis zu situieren, um zu erkennen, daß er durch eine allgemeinere Form bestimmt ist. Das Lohnverhältnis produziert Ausschlüsse und er.möglicht oder begleitet die Übersetzung bzw. Rückübersetzung von Bedürfnissen und Wünschen. Machtmechanismen spezifizieren diese Prozesse und verleihen der subjektiven Form einen gesellschaftlich wiedererkennbaren Inhalt. Was wir "Wahlfreiheit" nennen, ist ein Gefüge von variablen gesellschaftlichen Bestimmungen, das die notwendige Subjektform Überlagert und eine Art Zufallsform bildet, in deren Umkreis sich "Chancen" auskristallisieren. Das Syndrom des Selbst resultiert aus einer solchen funktionellen Überlagerung von freiem Spiel und freiem Fall, d.h. dem Fehlen fester Bestimmungen und der Überbestimmtheit des sich verflüchtigenden Inhalts. Dies erklärt seine Prekarität und Anfälligkeit. Diese funktionelle Koinzidenz von Freiheit und Bestimmtheit stellt eine ontologische Entfremdung dar. Die Subjektform existiert nur um den Preis ihrer Alienation in einen Inhalt. "Wir" können unsere Einheit nicht verwirklichen, ohne uns zu teilen. Die spätkapitalistische Form der Macht vollführt einen
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fortWährenden Krieg gegen einen ubiquitären Feind, der "wir" selbst sind. Unsere "Selbst"bestimmung ist eine Verleiblichung der Abschreckung, die Aktualisierung der Immanenz des unbestimmten kapitalistischen Aggressors in unseren Körpern und in unserem Selbst. Wenn es zutrifft, daß der Kapitalismus in letzter Instanz Kriegswirtschaft ist und 5ich nur durdl eine siCh fortwähren