Dieter Borrmann
Roman
Ein Dank an Traute, Britta, Manfred, Erich und Christel
und in besonderem Maße an Dan Datc...
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Dieter Borrmann
Roman
Ein Dank an Traute, Britta, Manfred, Erich und Christel
und in besonderem Maße an Dan Datchongvi
und Joan Besavaya.
K-gelesen von »kleinesrainer«
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Borrmann, Dieter:
Kachinas Zeichen: Roman / Dieter Borrmann. -
Kleve: B.o.s.s-Dr.-und-Medien, 2000
ISBN 3-933969-11-5
Copyright: DIBOR Entertainment GmbH, Kleve
Umschlaggestaltung: Dieter Borrmann
Druck: B.o.s.s Druck und Medien GmbH, Kleve
»Die unendlich scheinenden, unberührten Schneeflächen des kalten Alaskas, das phantastische, alljährlich wiederkehrende Farbenspiel der Natur in den Neuengland-Staaten, die beein druckenden, in Jahrmillionen geformten Felsformationen im Südwesten der USA - all diese Eindrücke stehen beispielhaft für die Schönheit unseres Planeten. Aber diese vielen ›Paradiese‹ allein schon in Amerika, täu schen nicht darüber hinweg, daß die Erde gar nicht so schön und heil ist, wie sie uns erscheint und daß in den letzten drei ßig Jahren durch Eingriffe der Menschen in die Natur über 330 Tier- und Pflanzenarten gänzlich von der Erdoberfläche verschwunden sind. Der Punkt, an dem die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen noch eine Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme zuließ, wurde schon in den 70er Jahren überschrit ten. Und daß mit einem jährlichen Ausstoß von 24 Milliarden Tonnen Kohlendioxid die Verträglichkeit der Biosphäre um das Doppelte überschritten wird, sollte uns endlich Handeln lassen. WORLD WIDE FUND und GREENPEACE können nur der Anfang sein für eine weltumschließende Vereinigung aller Freunde des Lebensraumes Planet Erde.« Dieter Borrmann »Einst war ein Büffel in den Westen gekommen, um sich dem vernichtenden Wasser des Ostens entgegenzustellen. Seit An beginn seines Kampfes gegen diese zerstörerischen Kräfte verlor er jedes Jahr ein Haar und in jedem Zeitalter ein Bein. Wenn er ohne Haare und Beine ist, so heißt es, wird das Wass er hereinströmen, und ein Weltzyklus wird zu Ende sein. Sie glauben, daß der Büffel bereits völlig kahl ist und nur noch auf einem Bein steht.« Mythos der Oglala Sioux / South Dakota
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Prolog
1002 n. Chr.
Der äußerste Nordosten der heutigen USA chon seit mehr als sechs Tagen peitschen die Vor boten der Winterstürme über den Nordosten dieses rauhen, unwirtlichen Landstrichs. Unaufhörlich türmen sich neue, dunkle Wolkenberge zu riesigen Schlachten formationen auf, durchrasen den Himmel und schleud ern ohne Unterlaß Schnee-, Eis- und Regenmassen auf die Erde. Pausenlos, unbarmherzig. Vorangetrieben vom mächtigen Gott der Nordmeere, als wolle er seine nunmehr beginnende, zerstörerische Macht für die bevorstehenden Monate demonstrieren. Eine unheilvolle Atmosphäre breitet sich aus, scheint alles Leben für Wochen und Monate hinaus in eine Art ängstlichen Trancezustand versetzen zu wollen. Auch vom herbstlichen Grün der umliegenden Vege tation ist seit wenigen Tagen nichts mehr zu sehen, der Schnee nimmt das Land mehr und mehr in Besitz, ob wohl die Winterzeit noch nicht einmal richtig begon nen hat. Ab und zu mischt sich der ängstliche Schrei eines vom Sturm getragenen Albatrosses in das Heulen und Pfeifen des Unwetters. Es scheint, als wollten selbst die ans harte Nordklima gewöhnten Tiere diesen Winter anderswo verbringen, als spürten sie ein noch unbarmherzigeres Klima voraus.
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Es sind noch keine vier Wochen her, da herrschte hier oben in der Küstenregion reges Treiben. An den vielen großen und kleinen Wassertümpeln, die sich in dieser felsigen Landschaft in unmittelbarer Nähe zum Meer immer wieder mit salzigem Wasser füllten, konn te man zahlreiche Mitglieder des Algonkin-Stammes beim Fischfang beobachten. Andere sammelten in den etwas weiter entfernten Wäldern Beeren, Wurzeln und Waldkräuter als Wintervorrat. Schon seit Urzeiten kommen sie im Herbst hierher, um noch für letzte Vorräte zu sorgen. Doch als die Sonne schließlich von Tag zu Tag we niger Wärme spendete, den ersten Herbststürmen Platz machen mußte, hörte das Umherstreifen auf, auch wenn die riesigen Ahorn- und Birkenwälder durch das Farbenspiel der Blätter noch so verlockend wirkten. Wußten die Indianer doch um die Gefährlichkeit der hier lebenden Raubtiere und der Unberechenbarkeit des Küstenwetters, gerade in diesem Jahresabschnitt. Aber es waren nicht die Bären, Wölfe und Luchse al lein, die sie fürchteten. Vor vielen Monden waren Eindringlinge mit roten Haaren und fremdem Aussehen in ihr Jagdgebiet ein gedrungen. Wer waren diese finsteren und bedrohlich dreinschauenden Krieger, deren Sprache, Kleider und Waffen so ganz anders waren als die ihren? Waren sie feindlich gesonnen oder kamen sie in friedlicher Absicht? Erste vorsichtige Annäherungsversuche gin gen über ein gegenseitiges Beobachten nicht hinaus. Unter den Algonkin wurden Überlieferungen alter 7
Mythen und Legenden neu erzählt. Sind es zur Erde zurückgekehrte Götter, oder verkörpern die Eindring linge gar jene Fremden, derentwegen vor über zwanzig Jahren ein alter weiser Mann um Aufnahme in den Stamm der Algonkin gebeten hatte, und der seit dem Auftauchen der Fremden von einer deutlichen Unruhe befallen war? Das Geheimnis seines Hierseins kennen bis zu diesem Tage nur zwei Männer des Ältestenra tes. Der weise Mann, der sich Aknavi nannte und sich als direkter Abkömmling vom Volke der Abanaki aus gegeben hatte, schien über ein ungeheures Wissen zu verfügen, das er, wie er behauptete, auf einer unendlich langen Reise gesammelt hatte. Von diesem Wissen hat ten die Algonkin in all den Jahren profitiert. Er hatte ihnen Dinge gelehrt, die ihre Lebensgewohnheiten, Fertigkeiten in vielen technischen Bereichen, aber auch in Glaubens- und Anschauungsfragen nachhaltig geändert hatten. Mit der Zeit wurden sie vielen ande ren Stämmen nicht nur in spiritueller Hinsicht über legen. Aknavi wurde ihr Seher, ihr Weiser. Selbst der Medizinmann des Stammes holte sich nicht selten Rat bei ihm. Aknavi wurde wie ein Auserwählter behan delt, genoß Respekt und Achtung. Dies verschaffte ihm den bevorzugten Schutz durch ausgewählte Krieger der Algonkin. Auch hatte er in den vielen langen Wintermonaten seit seinem Erscheinen, immer wieder von zukünftigen Ereignissen erzählt. Vor einigen Tagen hatte er nun den Ältestenrat des 8
Stammes versammelt, um ihnen mitzuteilen, daß die Zeit seines Aufbruchs unmittelbar bevorstehe. Nur eine Aufgabe habe er noch zu erfüllen, die auch ein Grund seines langen Besuchs bei ihnen sei. Dann hat te er aus einem ledernen Totembeutel einen silbernen Anhänger herausgeholt, der an einer Lederschnur mit Türkisen, Silberbesatz und Holzperlen befestigt war, hatte ihn ehrfurchtsvoll in die Höhe gehalten, um ihn sich schließlich um den Hals zu hängen. Er zeigte das indianische Symbol für die vier Viertel der Welt, für Donner, Wind, den Morgenstern, den Sommer und die ›vier Geister‹, die am Ende nur der eine Geist sind. Es waren zwei vollflächige Kreise, ver bunden durch einen Steg. Den kleineren Kreis umgab ein mit dem Steg verbundener Ring, von dem fast paral lel zum Steg vier kleine Bänder oder ›Biberschwänze‹ ausgingen, je zwei auf jeder Seite. Obwohl die alten Männer des Rates dieses Zeichen nicht kannten, kam es ihnen plötzlich seltsam nah vor; ein unerklärliches Gefühl kam in ihnen auf. Lager der Wikinger Viele Meilen von den Hütten der Algonkin entfernt, schleppen sich an diesem Abend drei in dicke Felle ge hüllte Gestalten tief gebeugt durch den hohen, nassen Schnee. Es sind Warga und seine beiden Kameraden auf dem Weg zurück ins Wikingerlager. Die tief über die Augen gezogenen Fellmützen und die Eisklumpen in den Bärten lassen ihre, von Anstrengungen gezeichneten 9
Gesichter nur erahnen. Der Sturm hatte in den letzten Stunden nachgelas sen, der Schneefall vorübergehend aufgehört. Sogar die Wolkendecke riß stellenweise auf, so daß verein zelte Sterne zu erkennen waren. Dies war die Chance für die drei Jäger, ihr Notquartier zu verlassen, in dem sie während des Sturms Unterschlupf gefunden hatten. Es war eine der vielen, schon im Frühherbst angeleg ten Notunterkünfte, die gleichzeitig als Strecken- und Richtungsorientierung bei Unwetter und Dunkelheit herhalten mußten. Wortlos stampfen die Männer vorwärts. Das gleich förmige Knirschen des gefrorenen Schnees unter ihren Füßen bildet einen Kontrast zum monotonen Klang des nur noch leise pfeifenden Windes. Schwer sind ihre Schritte, und sie waren müde. Während Warga voranging, in der Hand die letzte verbliebene Fackel, schleppen die zwei Kameraden einen Junghirschen, den sie an einen langen armdicken Birkenast gebunden hatten. Leider war der erbetene Jagdzauber ausgeblieben. Odin war ihnen nicht zugetan, und Thor schickte obendrein noch seine Stürme. Nur ein einziges Stück Wild hatten sie erlegt, zu wenig für vierzig Männer. »Schlecht, ganz schlecht«, murmelte Warga. Er denkt an die im Lager gebliebenen Männer, und wie er und seine Kameraden vor zwei Tagen voller Zuversicht aufgebrochen waren. Selbst jetzt auf dem Weg zurück spähen seine Augen nach Jagdbarem - aber nicht einmal ein Vogel will sich zeigen. 10
Hungrig und bis auf die Knochen durchnäßt werden sie ihren Gefährten im Lager nach vier langen Tagen gegenübertreten, mit nur wenig Beute, geht ihm durch den Kopf, und sie werden in die enttäuschten Gesichter der Kameraden blicken. »Verdammt«, zischt er, »wir Wikinger sind erfahrene Jäger. Aber in diesem Land ist es wie verflucht.« Dabei schüttelt er seinen Kopf, daß einige Eisstückchen aus dem Bart spritzen. Seine zwei Gefährten, in einigem Abstand hinter ihm, hören ihn nicht, denken nur noch ans wärmende Feuer, an Erholung, an Essen und Schlaf. Zudem lauern noch überall Gefahren, wußte Warga. So sind schon zwei aus ihrer Truppe bei früheren Jagdausflügen in schneeüberdeckte Felsspalten ge stürzt, gar drei sind riesigen, plötzlich auftauchenden Schwarzbären zum Opfer gefallen, die sich gerade vor Beginn ihres Winterschlafes äußerst angriffslustig zei gen. Und hört man erst die Wölfe heulen, glaubt, sie seien noch weit entfernt, so konnte man davon ausgehen, daß ein Rudel dieser grauen Jäger schon dabei war, einen selbst als vermeintlich leichte Beute zu umkreisen. Ohne Feuer, ausreichend Waffen und eine schutzbie tende Unterkunft war man in dieser Wildnis verloren. Noch mehr Furcht aber hatten die Neuankömmlinge aus dem Land jenseits des großen Wassers vor den Einheimischen. Draußen in der Wildnis sah und hörte man sie nicht, diese Ureinwohner, dennoch war auf den Jagdzügen 11
ständig ihre Anwesenheit zu spüren. Vor Unbekanntem hatten selbst die sonst so furchtlosen Wikinger Angst. Nur der Hunger konnte sie zu dieser Jahreszeit und selbst bei Thors schlimmsten Stürmen dazu bringen, den Schutz des Lagers zu verlassen, um auf Jagd zu gehen. Das Los hatte diesmal Warga und zwei weitere Kameraden getroffen. Niemand konnte und wollte sich dieser Auslosung entziehen. Mittlerweile ist die Sicht, dank des durch Wolken fetzen schimmernden Mondlichts, immer besser ge worden. Plötzlich durchdringt das unheimliche Geheul eines Wolfes die Nacht. Drei - vier weitere Wölfe antworten, nicht weit entfernt. »Oh, bei Odin«, schreit Warga, der ahnt, was das zu bedeuten hat, eilt einige Schritte zurück zu den eben falls erschrockenen Kameraden, »lauft, Männer, so schnell ihr könnt. Es ist nicht mehr weit, lauft.« Dabei wirft er seinen Umhang zur Seite. Seinen Jagdspeer, den er bislang auf dem Rücken trug, nimmt er fest in die rechte Hand, während er mit der anderen die Fackel umklammert. Ständig dreht er sich nach allen Seiten um. Die Begleiter folgen mit dem Wild so schnell sie können. Wieder dieses angsteinflößende Wolfsgeheul, dies mal noch näher. Schon können sie in der Ferne ihr Lager ausmachen. Unverwechselbar hebt sich die eigenwillige Silhouette des Lagers gegen das unruhige Glitzern des sich spie 12
gelnden Mondlichts auf den Wellen des Meeres ab. Sie hecheln mit rasendem Herzschlag vorwärts. Warga weicht seinen Freunden nicht mehr von der Seite, späht ständig in alle Richtungen. »Verdammt, da sind sie«, flucht er und zeigt mit dem Speer in das Waldstück, wo er für einen Augenblick den Umriß eines Wolfes wahrgenommen hatte, »Männer, weit ist es nicht mehr. Haltet durch.« Sicher will auch Warga wie alle seine Kameraden in die Walhalla einkehren, jenen Platz im Jenseits, wo nur die edelsten Wikinger Einlaß erhalten. Den Tod fürch tet er nicht, aber er will im Krieg, im Kampf sterben, ruhmreich, und nicht von Wölfen zerfleischt werden. »Oh, Tyr, tapferster aller Götter, wie besiegen wir die Wölfe? Bei deiner verlorenen Hand, sage mir, wie?« beschwört er den mächtigen Kriegsgott der Wikinger. Schon kommen die ersten Bestien auf die Männer zu, umkreisen sie im Abstand von hundert Metern. Schnaufend stampfen die zwei Träger vorwärts, der weil Warga laut schreiend die hell lodernde Fackel schwenkt, sich dabei immer nach allen Seiten umdreht und versucht, das Rudel auf Abstand zu halten. Er zählt mittlerweile acht knurrende, verschlagen dreinschau ende Angreifer, und es werden mehr, stellt er entsetzt fest. »Hey, hey, Männer kommt her. Helft uns«, schreit einer der Träger aus voller Kehle, in hoffnungsvoller Erwartung auf Hilfe aus dem Lager, als sie die ver traute Rauchsäule und die zum Himmel tanzenden Flammen der großen Feuerstelle sehen. Zuversicht er 13
füllt die Entkräfteten. Nur noch einige hundert Schritte trennen sie vom rettenden Lager. Aber wo bleiben nur die Männer, wo bleibt die Hilfe? Dann erfolgt der Angriff des ersten Wolfes. Geduckt schleicht er heran, springt dem hinteren der beiden Träger mit solcher Wucht in den Rücken, daß dieser die Balance verliert, den Ast los läßt und in den tiefen Schnee stürzt. Durch den Schwung verliert auch der Vordermann seinen Halt und stürzt ebenfalls. Behend springt Warga heran, stellt sich schützend vor beide und kann mit Hilfe der Fackel und des Speeres den Wolf erst einmal zurückdrängen. Doch jetzt kommen immer mehr Wölfe des Rudels, folgen ihrem Leittier und greifen von allen Seiten an. Die Kameraden rappeln sich auf, ziehen ihre Schwerter und Äxte und beginnen, sich der ungestü men Angriffe der Tiere zu erwehren. Gleichzeitig be wegen sie sich, Rücken an Rücken, vorwärts, immer weiter hin zum Lager. Während die ersten der hungrigen Wölfe über den Hirschen herfallen, greifen die übrigen noch wütender an. Warga weiß, daß es nur eine Chance gibt, die ser gefährlichen Situation zu entkommen: ist das Rudelverhalten der Wölfe hier genauso wie in der nordischen Heimat, müssen sie unbedingt das Leittier töten. Ohne Anführer würden die Bestien erst einmal von ihnen lassen - hofft er jedenfalls. Dann macht Warga den Leitwolf aus. Es ist ein großes, starkes Tier, das immer in vorderster Front 14
angreift. Der Wolf wirft plötzlich den Kopf herum, blickt herüber. Mit hochgezogenen Lefzen schleicht er schnurgera de auf Warga zu, hält inne, schaut mit verschlagenem Blick kurz hoch zu ihm und greift trotz der Fackel in Wargas Hand an. Vom Gewicht des Tieres stürzt der Wikinger zu Boden. Dann folgt ein schmerzerfülltes Aufheulen des Wol fes. Blitzschnell war es Warga gelungen, seinen Speer hochzureißen, und ihn dem Angreifer tief in die Seite zu stoßen. Schwer verletzt und blutend schleppt sich der An führer des Rudels davon. Warga richtet sich schnell wieder auf, schnappt sich die zu Boden gefallene Fackel, denn schon kommt ein weiterer Wolf auf ihn zu. Der Feuerknüppel saust nieder, trifft den Schädel des Tieres. Jaulend rennt es davon. Weitere Wölfe werden von den Kameraden schwer verletzt, zwei getötet. Die Angriffe des Rudels werden zögerlicher ange sichts des fehlenden Leitwolfs. Und plötzlich, wie auf Kommando, lassen die Tiere von ihren Opfern ab und ziehen sich zurück. Sie hetzen hin zu den Mitgliedern ihres Rudels, die sich schon über den gefrorenen Hirschen hergemacht haben. Augenblicklich setzen Streitereien um die besten Stücke ein. Zumindest die ses Wild haben sie erbeutet. Erleichtert, nur mit geringen Verletzungen davonge 15
kommen zu sein, lassen sich die drei Kameraden in den Schnee fallen, atmen tief und schwer. Sie spähen angst voll in die Dunkelheit, die außerhalb des Fackelscheins undurchdringlich wie eine Wand wirkt. Ob doch noch ein Angriff der Bestien erfolgt? Einige Minuten des Verschnaufens folgen. Sie sind noch einmal mit dem Leben davon gekommen, aber das Wild haben sie verloren, so kurz vor dem Ziel. »Verflucht sei der Winter, bei Odin«, schreit Warga in die kalte Nacht hinaus, und sein Atem bildet eine kleine Nebelwolke. In sicherer Höhe vor peitschenden Brandungswellen waren aus umgedrehten, mächtigen Schiffsrümpfen, mit Hilfe seitlich angebrachter Holzpfähle, reichlich Astwerk und Unmengen von Lehm, stattliche Hütten errichtet worden. In diesen sicheren, wenn auch ein fachen Behausungen konnte man auch einem noch so rauhen Winter trotzen, falls genug Vorräte vorhanden waren. Sechs der acht Langschiffe, mit denen man vor vielen Monaten von Grönland aufgebrochen war, um neues Land für den König zu erobern und zu besiedeln, waren auf diese Art dreieckförmig angeordnet worden. Es gab nur eine einzige schmale, aber stets bewachte Toröffnung zur offenen See hin. So konnte man auch die beiden weit draußen ankernden Drachenboote nahe der drei vierzig Meter hoch aus dem Meer ragenden Felsen im Auge behalten, falls die Sicht durch Nebel und Schneefälle nicht behindert wurde. 16
Durch Zusammenbau jeweils zweier Boote zu einer Unterkunft wurden so drei große Räume geschaffen, in denen vierzig Männer den kommenden Winter si cher überstehen konnten. Kleine Öffnungen an den Außenwänden dieser Hütten, zumeist mit Fellen ver hangen, sorgten für Frischluft und boten im Falle eines Angriffs von außerhalb den eigenen Bogenschützen gute Verteidigungsmöglichkeiten. Schlitze für den Rauchabzug, in den zu Dächern gewordenen Schiffs böden, ermöglichten die Errichtung kleiner Feuerstellen innerhalb der Behausungen. Da sämtliche Spalten und Ritzen in den Wänden völlig abgedichtet wurden, sor gen diese Feuerstellen für eine angenehme Wärme. Die Schlaflager der Bewohner wurden aus Fellen bereitet, jeweils sechszehn Plätze pro Hütte. Alle Quartiere ha ben für die Sicherheit des Lagers Wachen abzustellen. Fünfzig Schritte außerhalb dieser wehrhaften Sied lung wurde gleich nach der Landung ein großes offe nes Signalfeuer angelegt. Tag und Nacht hat dieses zu lodern, um nachkommenden Schiffen als Wegweiser zu dienen. Die ausgeklügelte Konstruktion dieser Feuerstelle und eine auf Waltran basierende brenn bare Mischung läßt auch bei heftigsten Stürmen die Flammen nie ausgehen. So hält man zudem Wölfe und Bären vom Lager fern. Vor drei Monaten war da mit begonnen worden, einen zusätzlichen Schutzwall ums gesamte Lager zu errichten, der bei Einsetzen des schlechten Wetters erst zu einem Drittel fertig gestellt war. Daß durch das große Feuer die Wilden ihren Lagerplatz entdecken könnten, beunruhigte die 17
Nordmänner nicht. Man war sich sicher, daß diese oh nehin schon längst von diesem Lager wußten. Trotz des Kampfgeheuls herrscht im Lager der Wikinger tiefste Ruhe. Dort haben die Wachen an scheinend gar nichts mitbekommen vom Angriff der Wölfe gegen die Heimkehrenden. Nun melden sie das Nahen der drei Jäger mit einem Hornsignal. Sofort füllt sich der Innenplatz vor dem Tor mit Nordmännern, die neugierig, mit Fackeln in den Händen, aus ihren Unterkünften geeilt kamen, um die Freunde zu begrü ßen. Aber schon aus der Entfernung hatten die Posten erkannt und den erwartungsvollen Männern zugerufen, daß Warga und seine Männer ohne Beute kämen, und daß Fisch wohl weiterhin ihrer aller Hauptnahrung bleiben würde. Als die Drei mit dem Lichtschein des großen Feuers im Rücken sich müde und geschunden durch das schmale Tor der Wehranlagen schleppen, erkennen die Männer im Lager sofort, daß sich Warga und seine Begleiter heftiger Angriffe haben erwehren müssen. Sie sehen die Biss- und Kratzwunden an ihren Händen und Gesichtern, sehen ihre zerrissenen Umhänge und das gefrorene Blut an den Waffen. Die drei Männer werden in die Mitte genommen und gestützt. Man klopft ihnen aufmunternd auf die Schultern, dankt Odin für ihre Rückkehr. Und viele wollen gleich erfahren, was vorgefallen war. »Wölfe«, stammelt Warga, »die Bestien haben uns unsere Beute abgejagt. Nur so konnten wir überle 18
ben!« In die Freude des Wiedersehens mischen sich aber auch Töne der Enttäuschung über das verlorene Wild. Müde und kraftlos begeben sich die glücklosen Jäger dann in ihre Unterkünfte, begleitet von einigen Freunden, die helfen wollen, deren Wunden zu versor gen. »Morgen, so Odin will, werden wir euch alles be richten«, murmelte Warga und blickt dabei traurig zu Boden. Doch noch bevor sie sich auf ihre Schlafstellen nie derlassen können, tritt ein großer, stämmiger Mann in den Lichtkegel des Hüttenfeuers: Leif Eriksson, der Anführer der Wikinger ist gekommen. »Warga, mein treuer Gefährte«, sagt er und kniet sich zu Warga nieder, »ich habe auf dich gewartet, denn ich muß wichtige Dinge mit dir besprechen. Dinge, die mich sehr beunruhigen.« Warga blickt langsam und mit müden Augen zu Leif hoch: »Morgen?« »Nein, es muß gleich sein. Du bist hoffentlich nicht schwer verletzt?« »Nein, aber müde und sehr hungrig.« »Ich verstehe, daß du hungrig sein mußt. Komm, wir gehen in meine Unterkunft. Da werden wir etwas essen, und ich werde dir berichten, was mich beunruhigt.« Hastig zieht Eriksson seinen Gefolgsmann hoch und flüstert: »Bist du vielleicht«, er zögert, schaut sich prüfend um, »bist du vielleicht einem dieser Wilden begegnet, einem Alten mit weißen Haaren? Sage es 19
mir. Und hast du irgendwo da draußen ein seltsames rötliches Leuchten bemerkt?« Warga blickt Eriksson fragend an, schweigt sekun denlang, schüttelt dann seinen schmerzenden Kopf, so daß die noch feuchten Haare fliegen. »Nun gut«, murmelt Leif, »dann komm.« Schweigend verlassen beide die Unterkunft. Draußen gurrt irgendwo in der Nähe eine SchneeEule. Das weit entfernte Aufheulen eines sterbenden Wolfes hört sich an wie eine Klage über die Unbarm herzigkeit des bevorstehenden, langen Winters. Lager der Algonkin-Indianer Im Lager der Algonkin werden in aller Eile Vorbe reitungen für ein Abschiedsritual getroffen. Niemand weiß, aber auch keiner fragt, weshalb Aknavi, von dem sie in all den Jahren so viel gelernt haben, jetzt so plötzlich den Stamm wieder verlassen will. Die Ältesten sitzen im Haupthaus stumm um ihren geheimnisvollen Freund und Lehrer. Nachdem sie ge speist haben, ergreift Aknavi das Wort: »Meine Brüder, wie euch habe ich auch andere Stämme und Völker dieser Erde besucht. Nun ist die Zeit gekommen, euch ebenfalls zu verlassen um weiterzuziehen, wie ich auch sie wieder habe verlassen müssen, als die Vorsehung es verlangte. Wer diese Völker und Stämme waren und sein werden, wurde vor Jahrhunderten festgelegt und wird nicht von mir bestimmt.« Eine lange Pause folgt. Mit ernsten Mienen blicken die betagten Stammesmitglieder den Redner an, der 20
ihnen jetzt seine erhobenen Handflächen entgegen hält. Im Schein des Feuers können sie deutlich in den Handflächen die Male zweier sechszackiger Sterne erkennen. »Schaut her, diese zwei mal sechs Strahlen beider Sterne stehen für den Bund der zwölf Welten, in dessen Auftrag ich bei euch war, um euer Lehrer zu sein.« Er schaut in die fragenden Augen der Umsitzenden, fährt dann fort: »Das Wohl der Algonkin, eures Volkes, wird nun davon abhängen, wie ihr und eure Nachkommen das Wissen, das ihr von mir bekommen habt, nutzen werdet.« Er nimmt die vom Häuptling angebotene Pfeife ent gegen, welche bei ganz wichtigen Anlässen traditions gemäß gereicht wurde. Er führt sie an seine Lippen und macht einen tiefen Zug. Dann gibt er sie als Zeichen der Verbundenheit weiter nach rechts. Das ist stets der Platz des Stammesführers. Ihn spricht er an: »Morgen werde ich einen großen Mann treffen, der weder von dieser Rasse noch aus diesem Land ist. Sorge dafür, daß wir nicht gestört werden.« Der Häuptling der Algonkin nickt, während er nun seinerseits einen Zug aus der Pfeife nimmt. »Und von diesem Treffen«, fügte Aknavi leise hin zu, »werde ich nicht zurückkehren. Sucht mich nicht, denn nach diesem Treffen werde ich für euch und alle Stämme dieser Zeit verschwunden sein. Und seid nicht besorgt über den seltsam rötlich gefärbten Himmel in der Frühe.«
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Lager der Wikinger »Warga Herlufsson, glaubst du, daß unsere Reise hierher im Sinne Odins war - sprich offen?« Eriksson nimmt einen kräftigen Schluck Wein aus seinem Becher, »oder hätten wir, wie mein Vater angeraten hat, in Grönland bleiben sollen, ich weiß es nicht. Wir Wikinger sind Eroberer, und das gefällt Odin, ganz si cher. Und wir brauchen neues Siedlungsland. Aber ob dieses ›Vinland‹ mit seinen grünen Wiesen, dem vielen Wein und den Lachsen, aber auch mit den Felsen, den vielen Gefahren und den Wilden wirklich gut für uns ist?« »Warum so nachdenklich, Leif?« Warga schaut den Sohn Erik des Roten von der Seite an. »Weil ich nicht weiß, ob diese Überfahrt eine Prüfung war, eine Versuchung«, antwortete Eriksson, »ob Odin meine Standhaftigkeit herausfordern wollte? Höre, seit einigen Wochen schon werde ich von seltsa men Träumen befallen, Träume, die immer und immer wieder das gleiche Geschehen zeigen. Niemandem habe ich bis heute davon erzählt, auch dir nicht, bis jetzt.« Warga schweigt. Eriksson betrachtet sein Trinkgefäß, fährt dann fort: »Aber letzte Nacht sah ich diesen Traum deutlicher. Dabei erschien alles irgendwie in ein intensives rotes Leuchten getaucht.« »Was meinst du mit: war in ein rotes Leuchten getaucht?« »Ein Eingeborener war da, ein alter Mann, und die Umgebung um ihn herum schimmerte rötlich, wie rötlicher Nebel. Oh, Odin, was 22
schickst du mir für Träume? Warum immer nur diesen Traum?« »Ist das ein Zeichen?« fragt Warga unsicher, »hat ten wir deshalb kein Jagdglück, machten keine Beute? Zürnt Odin uns, hat er sich von uns abgewendet?« »Nein, ich glaube, es bedeutet etwas anderes. Denn letzte Nacht begann die Erscheinung erstmals zu mir zu sprechen.« Leif steht von seinem Schemel auf und geht einige Schritte um den groben Tisch, verharrt dann wortlos, stützt sich mit beiden Händen auf die Platte und schaut seinem Weggefährten entschlossen in die Augen: »Ich werde mich mit ihm treffen. Er wollte es.« »Treffen? Mit wem? Wer wollte es?« »Der Alte im rötlichen Licht. Ich werde mich mit ihm treffen. Er forderte mich dazu auf, und nicht nur einmal. Letzte Nacht nannte er mich gar bei meinem Namen, und er nannte den Namen meines Vaters.« Warga nimmt seinen Becher, erhebt sich ebenfalls, geht auf Leif zu. Aufrecht stehen beide Wikinger vor dem fast niedergebrannten Feuer und starren in die glimmenden Reste. Mit lautem Knacken rutscht ein Scheit zur Seite, Funken springen in die Höhe, folgen der schmalen Rauchsäule zur kleinen Öffnung im Dach der Hütte. »Was wirst du jetzt machen?« fragt Warga in das Geflüster des knisternden Feuers. Seine Stimme klingt sehr beunruhigt. Er weiß nicht, was er von Leifs Träumen halten soll. Steckt vielleicht doch Odin da hinter? 23
»Was ich machen werde? Dieser Aufforderung fol gen, hingehen, mein Freund. Deshalb habe ich auf dich gewartet um erst mit dir zu reden. Das Treffen wird noch heute gegen Mitternacht stattfinden, erfuhr ich letzte Nacht.« »Heute noch«, fährt Warga erschrocken herum, »heute Nacht? Und sagte er auch wo?« »Nicht genau, mein Freund, aber der Alte im Traum meinte, ich solle landeinwärts gehen, dann dem roten Licht folgen, so würde ich den Treffpunkt finden«, Eriksson starrt in den ineinandergefallenen Haufen glühender Holzreste, »darum wollte ich wissen, ob du eine Form rötlichen Leuchtens wahrgenommen hast, als du da draußen warst.« Warga schüttelt leicht den Kopf. Eriksson richtet sich auf, hält einen Moment inne und beginnt, sich warme Kleidung überzustreifen und sein Schwert umzubinden. Warga schaut in Leifs Gesicht. Dessen Blick scheint plötzlich ganz weit weg zu sein. Der Wikingerführer zieht das Schwert aus der Scheide, faßt es unterhalb des Griffes an der Klinge und betrachtet den ovalen, viergeteilten Knauf des Griffendes. Es sieht aus, als prüfe er die kunstvolle Ornamentik. Dann hebt er lang sam den Kopf, geht einige Schritte auf Warga zu, steckt sein Schwert wieder weg, blickt seinen Freund an und umklammert dessen Schultern: »Ich weiß nun, wo das Treffen stattfindet, keine vier mal tausend Schritte von hier auf einer Anhöhe. Ich muß jetzt los.« »Soll ich nicht mitkommen? Du kannst doch nicht alleine in die Nacht hinausgehen. Erinnere dich, da 24
draußen lauern immer noch die verdammten Wölfe.« »Nein«, antwortet Erikssons, »da kann nur ich allei ne hingehen. Leg dich zur Ruhe, mein müder Freund, du hast dir dein Lager verdient. Außerdem fühl’ ich mich besser, wenn ich dich hier im Lager weiß.« Mit diesen Worten dreht er sich zum Ausgang um und entschwindet Wargas Blicken, eilt dann entschlos sen hinaus in die vom Mond erhellte Nacht.
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SPURENSUCHE
24. September ’98
Birmingham / England elch ein eigenartiges Empfinden sich doch einstellt, wenn man des nachts so ganz allein in einem rasenden Zug sitzend durch England fährt, dachte Ron und starrte immer wieder aus dem Fen ster. Dabei war draußen kaum etwas zu erkennen. Nur der Mond stand in voller Größe am Himmel, schien den Zug ein Stück des Weges begleiten zu wollen. Er leuchtete sehr hell diese Nacht und dennoch, außer vorbeihuschenden Umrissen kleiner Waldungen und diversen Häuserzeilen, keinerlei Abwechslung. Die eigentümliche Vibration der Räder, das Krächzen der Wagenkupplungen und das gelegentliche Pfeifen der Lok klang jetzt noch intensiver, da es im Inneren des Zuges selbst absolut ruhig war. Als er in London zugestiegen war, stand die Sonne schon recht tief am Himmel, doch nun, knapp eine Fahrstunde vor Birmingham war auch in diesem Zugabteil die Dunkelheit eingekehrt. Vor einer halben Stunde hatte der letzte Mitreisende Rons Abteil verlas sen. Nun war er alleine, so daß er seine Schuhe auszog, um die Beine auf den Platz gegenüber zu legen. Sein Blick durchstreifte den abgedunkelten Raum. Auch die Beleuchtung auf dem Gang spendete so spärli ches Licht, daß, trotz zurückgezogener Vorhänge, sein Abteil nicht heller wurde. Nur der Mond streifte einen
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Teil des Abteils mit seinem kühlen Licht. Ron beob achtete das leichte Pendeln des Gepäckanhängers an seiner großen Reisetasche im Gepäcknetz gegenüber. Eine wohlige Müdigkeit stieg in ihm hoch. Er genoß dieses ›Rattatum-rattatuim‹, das er durch den ganzen Körper spürte. Seine Gedanken kreisten noch kurz um seine Unter kunft in Birmingham. Hoffentlich war das Hotelzimmer nicht doppelt vergeben worden. Er hatte im Flugzeug so allerhand von den Gepflogenheiten englischer Hotels erfahren, besonders wenn Kongresse stattfanden. Naja, abwarten, beruhigte er sich selbst. Dann fielen seine Augen zu. Durch die Unruhe der fahrenden Wagen sah es aus, als tanzte das Mondlicht auf Rons Nasenspitze, bis ers te Wolken dem Mond das Spiel verdarben. Ron Millar reiste gerne alleine. Denn wenn er alleine unterwegs war, fühlte er sich frei, brauchte weder über Routen, Aufenthaltsdauer, Unterkünfte oder ähnliches Rücksprache zu halten. Aber besonders wichtig: er hatte für niemanden die Verantwortung zu tragen. Das würde noch früh genug auf ihn zukommen. Doch mit seinen 26 Jahren wollte er erst einmal die letzten zwei Semester seines Physikstudiums ohne Hast und Streß über die Bühne bringen, und nebenbei von der großen weiten Welt noch jede Menge sehen und kennenler nen. So hatte er sich vorgenommen, einen Teil seiner letzten Semesterferien wieder in Europa zu verbrin 27
gen. Also ließ er Camden, eine der schönsten Orte Neuenglands, wie seine Mutter zu sagen pflegte, hinter sich, besorgte sich Flugtickets, und schon ging es über den Atlantik. Sein Ziel hieß dieses Mal England, anschlie ßend noch eine Fahrt durch den Kanaltunnel nach Frankreich, mal sehen. In Deutschland war er schon gewesen, hatte für vierzehn Tage seinen Onkel im Westen der Bundesrepublik besucht, der dort bei der Air Force stationiert war. Daß er erst auf die Insel wollte, lag daran, daß genau in diesen Tagen das Internationale Umweltforum in Birmingham stattfinden sollte. Es war das Gegenstück zu der alle paar Jahre abgehaltenen Internationalen Konferenz für Umweltschutz. Hier sprachen Wissen schaftler, dort nur Politiker. Er hielt viel von Leuten, die nicht nur über Umweltschutz redeten, sondern auch danach handelten und lebten. - Außerdem war er, als angehender Physiker, gespannt, welche techni schen Neuheiten zur Verbesserung des Klimaschutzes vorgestellt würden. Leider hatte er nur für zwei Veranstaltungen Karten via Internet bekommen kön nen. Aber er hoffte, vor Ort noch die eine oder andere Karte ergattern zu können. Zumindest würde er beim Umweltforum interessante Menschen kennenlernen, vielleicht sogar Freundschaften schließen. Auf jeden Fall war die Reise nach Europa auch dazu angetan, um seine langjährige Freundin Marian zu vergessen. Sie hatte von heute auf morgen das schöne Boston verlassen, wo auch sie studiert hatte, um nach 28
Los Angeles zu ziehen. Ihrer Karriere als angehende Schauspielerin wegen, wie sie sagte. Lange genug hat te er unter ihrem Fortgehen gelitten. Sei’s drum - das Leben geht weiter, beschloß er und machte sich auf den Weg nach Europa. Ärgerlich fand er nur, daß es keinen Direktflug von Boston nach Birmingham gab. So landete er in London und stieg dann auf die Bahn um. Durch deren Studentenpreis-Angebote war es die günstigste Reisemöglichkeit für ihn. Ein plötzliches Rucken riß ihn aus seinem Schlum mer. Unsanft schlug er mit dem Kopf gegen die Außen wandverkleidung Er öffnete die Augen, blinzelte aus dem Fenster: der Mond war verschwunden. Der Zug hatte seine Fahrt verlangsamt und nach ei nigen Metern kam er mit einem kurzen, heftigen Ruck zum Stehen. Ron schaute auf die Uhr, versuchte die Zeit abzule sen. Waren sie schon in Birmingham? Ohne das matte Mondlicht war es einfach zu finster im Abteil. Draußen liefen zwei Schaffner in Fahrtrichtung längs des Schienenstranges und schwenkten ihre Taschen lampen. Stimmengewirr. Der Zug hielt tatsächlich auf offener Strecke. Nein, Birmingham war es noch nicht. Kein Haltesignal war auszumachen, keine Signalpfeife zu hören. Hatte man ihn nicht gewarnt vor der British Railroad. Seitdem diese nicht mehr vom Staat betrieben wurde, sondern von diversen Privatunternehmen, sollte es allerorten Chaos, Verzögerungen, Preis-Hick-Hack geben. Sollten sich die schwarzmalerischen Auskünfte 29
seines englischen Flugnachbarn doch bewahrheiten? »Ha, wahrscheinlich eine beschissene Nachtbaustel le«, raunte eine Stimme hinter ihm. Zutiefst erschrocken fuhr Ron herum. Jetzt erst bemerkte er, daß jemand in seinem Abteil saß, direkt neben der Schiebetür. Die nun zugezogenen, arg verschmutzten Gardinen der Schiebetür und das abgedunkelte Abteil ließen die Umrisse eines Mannes schwach erkennen. »Oh, Mann haben Sie mich erschreckt«, reagierte Ron verärgert. »Ja, wirklich?« tönte der Zugestiegene mit fistelnder Stimme, verschränkte dann seine Arme vor der Brust. Es wirkte geradezu provozierend. Ron drehte den Dimmer über seinem Platz höher. Nun konnte er den unfreundlichen Fahrgast besser erkennen. Er fixierte ihn. Oho, ein schwarzhaariger Zopfträger, dachte Ron. Der Mann schaute kurz herüber, grinste. Unter dem offenen Mantel trug er einen noblen Anzug. Ron konn te das beurteilen, trug sein Vater doch auch Anzüge dieser Qualität. Auch die Schuhe, das Hemd, einfach alles an dem Kerl war so, daß dieser Mann in die erste Klasse gehörte, aber nicht hier in diesen Wagen, in dem er jetzt gerade saß. Plötzlich hasteten Schritte an ihrem Abteil vorbei. Ron nahm die Füße vom Sitz, sprang hoch und schob die Tür mit Schwung zurück, wollte den Vorbei laufenden, wer immer es auch sein mochte, nach dem Grund des Haltens zu fragen. 30
Dabei wirbelte die Türgardine dem Fremden ins Gesicht. Verärgert wollte er nach Rons Arm greifen, zu spät - Ron war schon durch die Tür und befand sich auf dem Gang. »Was ist denn los, hey«, rief er dem vorbeieilenden Kellner hinterher. Doch dieser hörte ihn nicht, war schon durch die Pendeltür durch und bereits im nächsten Wagen, wo er sichtlich Mühe hatte, an den vielen auf dem schmalen Gang gestapelten Gepäckstücken vorbeizukommen. Der junge Physikstudent folgte dem Kellner durch die Pendeltür, doch jener war längst außer Sichtweite. Nun stand auch Ron vor dem Berg von Gepäckstük ken. Staunend betrachtete er den durcheinandergewür felten Haufen, bemerkte dann neben dem Gepäckwust eine junge Frau, die ihren Kopf weit aus dem geöff neten Fenster hinausgesteckt hatte und dabei abwech selnd von links nach rechts schaute. »Auf der anderen Seite des Zuges muß es sein, denn dort laufen die Schaffner nervös hin und her«, wollte Ron erklären. Die Frau stutzte, zog den Kopf schnell zurück, daß ihre blonden Haaren um ihr Gesicht wirbelten. Sie schaute den jungen Mann erstaunt an: »Wie bitte?« »Na, ich meine, auf der anderen Seite müssen Sie rausschauen. Dort kann man bestimmt mehr sehen.« »Danke.« Die Blondine lächelte, und während sie durch ihre Haare strich, betrachtete sie in aller Ruhe den vor ihr stehenden Ron, starrte dann auf seine Füße: 31
»Hat man Ihnen die Schuhe gestohlen? Hält der Zug deswegen?« »Wie?« Jetzt stutzte Ron und schaute ebenfalls auf seine Füße. »Ha, nein, nein, bestimmt nicht!« Er mußte lachen. Auch sie konnte sich ein kurzen Lachen nicht ver kneifen: »War auch nicht ernst gemeint. Nur - der Zug steht jetzt schon vier Minuten hier, und ich habe noch nicht herausbekommen, weswegen.« »Tut mir leid. Da bin ich genauso überfragt wie Sie. Vielleicht sind diese Nacht-Stops normal in England. Ich weiß es nicht - keine Ahnung.« Er stieg über einen der vielen Rucksäcke, »gehören die etwa alle Ihnen?« »Aber nein«, die Frau deutete mit einer Kopfbe wegung zu einem Abteil, »wir sind eine Reisegruppe. Jeder von uns muß eine Zeit hier draußen auf die Sachen aufpassen, man weiß ja nie.« »Und im Augenblick sind Sie an der Reihe, stimmt’s?« »Ja, ganz genau.« Ron kratzte sich am Kopf: »Eine Reisegruppe also. Dann lassen sie mich raten. Nach Ihrem Akzent zu ur teilen kommen Sie aus - Dänemark? - Norwegen?« »Schweden. Wir sind aus Schweden und wollen für ein paar Tage nach Birmingham«, lächelte sie, »oh, Entschuldigung, ich heiße übrigens Lisa - Lisa Borgdal. Und wie ist Ihr Name?« »Ron Millar - aus Boston, richtiger aus Maine.« »Ein Amerikaner. Wollen Sie auch nach Birmingham, Ron, oder fahren Sie noch weiter?« »Eigentlich beides. Zum Umweltforum und später 32
dann nach Frankreich. Drüben in den Staaten sind jetzt Semesterferien, und da war die Gelegenheit günstig, mal über den Teich hierher zu fliegen.« »So ein Zufall, wir sind nämlich auch wegen des Forums hier. Wir haben eine...« In diesem Augenblick zog die Lok mit solch kräfti gem Ruck wieder an, daß Lisa mit Schwung in Rons Arme fiel. Stände er nicht abgestützt an der Wand zu den Abteilen, beide wären unweigerlich hingefallen. »Hey, er fährt wieder«, bemerkte der sichtlich verle gene Ron, als er Lisa wieder losließ, »na dann sind wir ja, Gottseidank, bald da, ich...« »Lisa, wo bleibst du. Laß’ doch das Gepäck dort lie gen«, unterbrach ein Frauenstimme aus einem der na hegelegenen Abteile, »nimm noch eine Mütze Schlaf, damit du morgen fit bist. Britte wird jetzt ein wenig Wache halten.« Lisa schaute Ron an: »Dann werde ich mal. Vielleicht sieht man sich in Birmingham.« »Ja, vielleicht«, er kletterte wieder über die Taschen und Rucksäcke, drehte sich nochmals um, »würde mich auf jeden Fall freuen.« Dann verschwand er durch die Pendeltür. »Mich auch«, flüsterte die junge Schwedin und folg te dem Rat der Freundin. Als sie es sich zwischen den anderen der Gruppe gemütlich gemacht hatte, dachte sie über ihre neue Bekanntschaft nach und schlief nach wenigen Minuten lächelnd ein. Der Zug hatte langsam Fahrt aufgenommen. 33
Ron betrat sein Abteil und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß der unfreundliche Mitfahrer verschwunden war. Als er nochmals auf den Gang her ausschaute, um zu sehen, wo er geblieben war, kam der Kellner mit ernster Miene vorbei. »Hallo, Kellner, können Sie mir sagen, was los war, weshalb wir gehalten haben?« »Sicher, Sir. Es gab einen Todesfall im Zug.« »Einen Toten?« »Ja, Sir.« »Und wer? Darf man erfahren wer?« wollte Ron neugierig wissen. »Sicher, wie ich gehört habe, ein Professor aus Venezuela, vermutlich an Herzversagen gestorben. Jetzt muß ich seine Assistentin suchen, keine Ahnung, wo sie steckt.« »Oh, und wegen des Toten haben wir gehalten?« »Nein, nicht seinetwegen, ein Nacht-Bautrupp hat für die Verzögerung gesorgt. So etwas kommt öfters vor. Aber jetzt fahren wir wieder. Sir, Sie sollten viel leicht auch noch etwas schlafen. Sie werden rechtzeitig geweckt werden, wenn wir in Birmingham einlaufen.« Mit diesen Worten setzte er seinen Weg fort. Ron ließ sich wieder auf seinen Platz nieder. Die kleine Schwedin ist wirklich nett, dachte er, schaute dabei aus dem Fenster. Lisa, ein schöner Name. Spürte er etwa ein gewisses Interesse an ihr? »Noch ein wenig Schlaf kann nicht schaden«, wech selte Ron seine Gedanken. Er hatte es sich mittlerweile bequem gemacht, »hoffentlich hat mein Hotel auch 34
einen Nachtportier.« Sein Blick suchte den Mond, und, als wäre es abge sprochen, gaben die Wolkenfetzen ihn gerade in die sem Augenblick wieder frei. »Aufwachen, Sir. Wir erreichen in wenigen Minuten Birmingham.« Rons sah in das freundliche Gesicht des Schaffners und gähnte ein: »Danke.« »Keine Ursache, Sir. Vergessen Sie ihr Gepäck nicht. Und viel Erfolg in Birmingham.« Der Schaffner eilte zum nächsten Abteil. Als der Zug langsamer werdend durch die schlafen den Vororte der alten Industriestadt rollte, stand Ron schon zum Aussteigen bereit, seine große Tasche ge schultert, diesmal mit Schuhen an den Füßen. Ein letztes lautes Zischen, und der Zug stand. Die Schaffner öffneten die Türen, sprangen auf den Bahnsteig. Wie seit ewigen Zeiten schon erklangen die Hinweise der Zugbegleiter laut und unüberhörbar: »Birmingham - New Street Station... Birmingham New Street Station...« Überall entstiegen Personen dem eisernen Gefährt: Reisegruppen, Pendler von der Spätschicht, Geschäfts leute, Nachtschwärmer und mitten unter ihnen - Ron. Er atmete tief durch. Industriegerüche waren nicht zu riechen. Er war froh, den eigentümlichen und typi schen Eisenbahnwagen-Mief nicht länger ertragen zu müssen. Ob das kurze Schläfchen gut getan hatte, dar über war er sich selbst nicht im Klaren. Jedenfalls ging 35
er nun den Bahnsteig entlang zum Ausgang, einfach den Anderen nach. Zwei Türen weiter bemerkte er ungewöhnliche Hektik. Gepäckstück um Gepäckstück flog auf den Bahnsteig, direkt vor seine Füße. Moment mal, diese Taschen und Rucksäcke kann te er doch. Klar, sie gehörten zu der schwedischen Gruppe. Und Lisa? Würde er sie hier wiedersehen? Die junge blonde Frau mit dem netten Lachen? Er trat an die Wagentür, lugte hinein und - da stand sie. Oberhalb der Stufen. Sie diskutierte gerade aufge bracht mit einem Mann, dem es mit dem Ausladen des Gepäcks anscheinend nicht schnell genug ging. Ron zog die Stirn in Falten - hey, kannte er den nicht - war das nicht der Typ aus seinem Abteil? Noch ehe er Lisa etwas zurufen konnte, sprang der Mann über Rucksäcke und Taschen hinweg und lande te unsanft auf dem Bahnsteig. Ein heller metallischer Klang begleitete den Sturz. Dann rappelte er sich auf und eilte mit wild wehendem Haarzopf davon, ohne sich nochmals umzusehen. »Seltsam«, bemerkte Ron und schaute dem Mann hinterher, »der hat ja überhaupt kein einziges Gepäck stück bei sich.« Inmitten der Gruppe Gepäck verteilender Schweden stand Ron nun und wartete, bis Lisa den letzten Rucksack herausgeworfen hatte und dann ebenfalls ausstieg. »Hi, Lisa. Du hast dich ja ganz schön aufgeregt. Den Kerl habe ich übrigens auch kurz kennenlernen dürfen 36
- ein unangenehmer Zeitgenosse«, dabei zeigte er in die Richtung, wo jener in der Menschenmenge ver schwunden war. »Oh, hallo Ron, ja der Typ hatte scheinbar überhaupt keine Zeit«, erwiderte Lisa, »der wollte irgendwie nur weg.« Ron schüttelte nur den Kopf und half noch, das Gepäck zu verteilen und zuzuordnen. Dabei entdeckte er unter einer der Taschen ein metallenes Feuerzeug auf dem Boden. Hatte dies Feuerzeug den hellen Klang verursacht? Er bückte sich und hob es auf. Es war modern in der Form, aus Silber und führte eine Gravur. Mit dem eingearbeiteten Namen PAXTON konnte er nichts an fangen. Als Lisa versicherte, daß es auf keinen Fall von ei nem der Gruppe stammen konnte, steckte er es in die Tasche. Er verabschiedete sich von Lisa und ging, da ihre Gruppe scheinbar noch nicht abmarschbereit war, und er auch nicht aufdringlich erscheinen wollte, allei ne los zum Ausgang. Als er vor dem Bahnhof in ein Taxi stieg, blickte er nochmals kurz in den Himmel. Der Mond schien mit dem Zug nun auch nicht mehr weiterfahren zu wollen. Ruhig und gelassen stand er jetzt über dem nächtlichen Birmingham. »Verdammt hell leuchtet der da oben heute Nacht, murmelte Ron und zum Taxifahrer gewandt, »fahren Sie los. Ich sage Ihnen sofort, wohin.«
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Painted Desert / Arizona Tausende Meilen entfernt und zwanzig Grad heißer, im farbenreichen Painted Desert, wurde ein Puma aus seiner Ruhe hochgeschreckt. Wie immer um diese Zeit sorgte eine feine, aber wohltuende, vom Golf von Mexico herüberwehende Brise, für ein wenig Erträglichkeit. Die Katze warf mit einem Ruck ihren Kopf in den Nacken, wippte ihn, schnupperte, prüfte in südlicher Richtung. Der feine Wind trug Menschengeruch he ran. Sofort suchten ihre scharfen Augen aufmerksam den Horizont ab, doch außer dem Flimmern der er barmungslosen Nachmittagshitze war in der bizarren Weite der rötlichen Kalksteinformationen nichts zu entdecken. Doch schon wieder stieg der unverkennbare Beweis naher ›Zweibeiner‹ in des Pumas empfindliche Nase. Er kannte die Menschen, wußte um ihre Gefährlichkeit. Um sich nicht von ihnen überraschen zu lassen, be schloß er, seinen Ruheplatz, einen uralten versteinerten Baumstumpf, zu verlassen und sprang nach einigen Streck- und Dehnübungen leichtfüßig die nahegelege nen Felsbrocken hinauf. Den eigentümlichen Menschengeruch kannte der Puma. Es war nicht der Duft von Touristen, von Städtern, die hier vereinzelt und in Gruppen den High way 89 heraufkamen, um am Wochenende die Ur sprünglichkeit dieser geschichtsträchtigen Landschaft nachzuempfinden. Es war der Geruch der Ureinwohner dieses Landes, der von Indianern. Dieser Geruch mach 38
te ihn neugierig, er wollte ihm vorsichtig folgen. Die Indianer der umliegenden Reservationen waren für ihn genauso gefährlich wie die weißen Jäger, die ständig in dieses Gebiet kamen, um im Sinne der Sicherheit für die Besucher Jagd auf ihn und seine Art zu machen. Die Indianer jagten sie wegen ihrer Ziegen und Schafe. Vereinzelte kleine Tiere flitzen zwischen den Steinen hin und her, hier eine kleine Echse, dort ein nervöses Streifenhörnchen voller Furcht, vom Puma überrascht zu werden. Dabei hatte der König dieser zerklüfteten Bergwelt nur eines im Sinn: die Quelle seiner Witterung ausfindig zu machen. Seine empfindliche Nase führte ihn langsam aber zielstrebig zu den Wupatki Ruins, nördlich der Stadt Flagstaff, einst Siedlungszentrum prähistorischer Indianer. In diesem Gebiet hatte sich schon früh die Anasazi-Kultur entwickelt, weil urzeitliche Vulkan ausbrüche für fruchtbare Böden gesorgt hatten. Der Puma wechselte nun ins flache, offene Gelände, bewegte sich noch vorsichtiger. Der Geruch war immer noch da, die Spur demnach richtig. Auch bemerkte er einige Geier, wenn auch noch ungewöhnlich hoch am Himmel. Ob sie das gleiche Ziel hatten? Er hielt inne. Sein Instinkt sagte ihm, daß er sich nun nicht weiter anschleichen sollte. Flach am Boden geduckt, nur den Kopf gehoben, sah er sie. Sein Geruchssinn hatte ihn nicht getäuscht: es waren Menschen. Und weil die meisten von ihnen Schußwaffen besaßen, hieß es erst einmal beobachten und abwarten. 39
Nahe der historischen Mauerreste beugten sich zwei junge Männer in karierten Hemden und verwaschenen Jeans über einen am Boden liegenden Indianer. Der typisch indianisch gekleidete Mann lag regungslos in südwestlicher Ausrichtung. Er war tot. Einer der beiden Männer begann, eine Art Symbol auf die Stirn des Indianers zu malen. Dann richteten er und sein Begleiter sich auf, sahen sich nach allen Seiten um, erschraken, als sie in der Ferne die Staubwolke ei nes sich nähernden Wagens bemerkten. Der kräftigere von ihnen trat an den Toten heran, murmelte etwas wie ein Gebet, während der zweite eine halbvolle Flasche Whiskey aus dem alten Pickup holte, den restlichen Inhalt über Lippen, Gesicht und Halsbereich des Toten schüttete und sie schließlich dem Indianer in den Arm legte. »Los, mach’ jetzt«, raunte der Kräftigere, »wir müs sen weg. Da kommt jemand. Mach’ schon.« Mit lautem Motorgeheul rasten sie davon. Die erfrischende Brise von der entfernten Küste ließ nach, somit nahm die Hitze wieder zu. Das lange, pechschwarze Haar des Toten legte sich über das Symbol auf seiner Stirn. Die leere Flasche re flektierte das Sonnenlicht, gab den hoch in den Lüften kreisenden Geiern ein zusätzliches Zeichen. Die vorbei fahrenden Insassen des klimatisierten Fords bemerkten zwar die Geier am Himmel, den Toten sahen sie nicht. Ihr Ziel war das Walnut Canyon National Monument östlich von Flagstaff. Sie waren 40
gutgelaunt und lobten einander, wie intensiv sie sich doch mit der Kultur der Ureinwohner dieses Landes beschäftigten, zumindest an den Wochenenden. Eine leere Zigarettenschachtel flog aus einem Seitenfenster, wurde aufgesogen vom aufwirbelnden Staub der Straße. Mit etwas Aufmerksamkeit wäre ihnen sicherlich der Puma aufgefallen, der sich nicht weit von ihnen entfernt davonschlich - oder jener Pickup, dessen hintere Ladeklappe ein aus Metall gefertigtes Schild schmückte mit der Aufschrift: ROUTE 66.
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25. September ’98
Birmingham / England om Verkehrslärm unsanft aus dem Schlaf geris sen, blinzelte Ron auf seine Armbanduhr. »Verdammt«, zischte er schlaftrunken, »Zehn vor Neun. Es ist noch viel zu früh um aufzustehen.« In diesem Augenblick klopfte es an der Tür: »Sir, sind Sie schon wach? Können wir hereinkommen?« »Neiiin.« »Okay, Sir«, schallte eine weibliche Stimme aus dem Flur, »wenn Sie etwas lesen wollen, die Morgenzeitung liegt vor der Tür.« »Ja, vielen Dank«, Ron versuchte, freundlicher zu klingen, zog sich dann das Kissen über den Kopf. Dieser gräßliche Lärm da draußen. Oh Gott, was für ein Hotel, dachte er, lugte unter dem weißen Kissen hervor. Seine Augen wanderten durch den Raum bis sie schließlich auf dem einzigen Stuhl im Raum haften blieben. Auf diesem stand seine Tasche, und über diese wiederum hatte er seine Klamotten geworfen. Seine Schuhe standen unter dem Stuhl, jeweils bestückt mit einer hellen Socke. Beim Anblick der Schuhe fiel ihm Lisa Borgdal ein. Er mußte grinsen, wegen seiner »gestohlenen Schuhe hält doch kein Zug von London nach Birmingham an«, wäre aber cool. Die junge Schwedin aus dem Nachtzug war wirklich ulkig, aber nett. Das Kissen flog ans Fußende, Ron’s Laune hatte sich schlagartig gebessert. Er lächelte, dachte an die
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Bekanntschaft der letzten Nacht, sie beschäftigte ihn. Ist eigentlich ein sympathisches Mädchen. Er würde sie gerne wiedersehen. Plötzlich schlug er sich gegen die Stirn, daß es laut klatschte. Oh - ich Dummkopf, haderte er, ich hätte ja auch fragen können, in welchem Hotel der Stadt sie und ihre Gruppe absteigen wollten. Verflixt, aber ge schieht mir ganz recht. Er richtete sich auf, schwang die Beine über die Bettkante und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Vielleicht, so dachte er, werde ich sie mit etwas Glück auf einem der Umweltveranstaltungen wieder treffen. Nach einem kurzen Blick aus dem Fenster ging er ins Bad. »Ooh, was ’ne Bleibe«, murmelte er. Aber er war trotzdem froh, daß sein Zimmer zwischenzeitlich nicht noch an andere Messebesucher vermietet wor den war, er sich womöglich das Bett hätte mit einem Unbekannten teilen müssen. Fürchterlicher Gedanke. Nun saß er am Tisch im schlichten Speiseraum des Hotels. Die Zeitung, die er vor seinem Zimmer gefun den hatte, lag noch zusammengefaltet vor ihm auf dem Tisch. Ron nahm einen Schluck Kaffee - und erschrak. Zwei Tische hinter ihm fing ein Hund laut zu bellen an. Er hatte den Hund beim Betreten des Raumes gar nicht bemerkt, nur die dicke Dame an dem Tisch. Durch den Schreck schlabberte etwas Kaffee auf Tisch und Zeitung. Ron drehte sich um. Das Gebell woll 43
te nicht aufhören. Erst als die Dicke dem Hund ein Cremetörtchen reichte, verstummte es. Unmöglich, dachte Ron und wandte sich seiner feuchten Morgenzeitung zu. Dabei entdeckte er eine ›Letzte Meldung‹, die seine Aufmerksamkeit erregte: ›Hauptredner des Umweltforums, Prof. Bolvar, letzte Nacht ermordet‹. Ron stutzte, blätterte hastig weiter. Auf Seite fünf stand der ausführlichere Bericht zu dieser Meldung. Nachdem er ihn gelesen hatte, war ihm klar, daß es sich tatsächlich um den toten Südamerikaner handelte, der letzte Nacht im Zug anscheinend einem Herzinfarkt erlegen war. »Schwer getäuscht, von wegen Herzattacke, er mordet«, murmelte Ron, trank den Rest Kaffee, »der Professor war also auch auf dem Weg nach Birmingham. Dann war ja auch sein Mörder im Zug gewesen, und ich bin ihm womöglich begegnet. Ach was, bei den vielen Wagen.« Doch plötzlich fiel ihm der Mann ein, der es in Birmingham extrem eilig ge habt hatte, den Zug zu verlassen, und daß dieser sogar kurze Zeit mit bei ihm im Abteil gesessen hatte. Ron schluckte. Er durchblätterte nervös die Zeitung, doch stand nichts weiter über diesen Vorfall drin. Er woll te gerade das Blatt zusammenfalten, als eine andere Überschrift ihm ins Auge fiel. In fetten Buchstaben las er: PAXTON Inc. investiert in Südamerika, amerikani scher Multikonzern aus Dallas im Aufwind. Ron hatte diesen Namen vorher schon einmal gele sen, aber nicht in der Presse. 44
Er grübelte, aber es wollte ihm nicht einfallen, ver dammt. »War das Frühstück okay«, eine junge Bedienung holte Ron aus seinen Gedankengängen zurück. »Wie?« »Ob es geschmeckt hat, Sir?« »Ach so, ja, danke«, antwortete er, wischte sich mit der Serviette letzte Brötchenkrümel aus den Mundwinkeln, »es war wirklich okay.« Aber wieso fragt sie? Nur weil ich kein English Breakfast bestellt habe, oder warum? Die Bedienung begann den Tisch abzuräumen. Sie lächelte Ron an: »Sie dürfen hier auch rauchen, wenn Sie möchten, Sir.« Dabei holte sie einen klei nen Aschenbecher vom Nebentisch und legte ein Plastikfeuerzeug mit dem Namen des Hotels dazu. Rons zog seine Augenbrauen hoch. Er hatte sich auf einmal erinnert, wo er den Namen PAXTON gelesen hatte: letzte Nacht auf dem Bahnsteig war es. Vielmehr auf einem silbernen Feuerzeug. Er griff in seine Hosentasche und holte es heraus. Immer wieder ließ er eine Flamme entstehen, dachte dabei an den Mann mit dem Zopf. Aber besonders an Lisa. Als Ron seinen Zimmerschlüssel dem Portier übergab, erkundigte er sich nach den verschiedenen Orten, an denen inoffizielle Meetings zum Thema Umweltschutz stattfinden würden. Er erfuhr, daß er an zwölf Orten nach Lisa suchen mußte. Und diese Orte waren über ganz Birmingham verteilt. Dies bedeute 45
te Lauferei, denn Birmingham war groß. Was soll’s, dachte Ron und marschierte frohen Mutes los. Painted Desert / Arizona Die Vögel, die in großer Höhe langsam und gedul dig ihre Kreise zogen, waren sichtbarer Beweis für die Unbarmherzigkeit, mit der die Wüste ihre Opfer fordert. Der Coroner hatte sie am Himmel bemerkt, wußte, daß er richtig fuhr. »Der wird doch nicht in der alten Ruinenstätte liegen, verdammt«, maulte er, »dort wimmelt es um die Mittagszeit immer nur so von Touristen.« Gegen neun Uhr hatte man ihn angerufen und hierher bestellt. Wenn es einen Toten gab, dessen Todesursache Rätsel aufgab, mußte er herausfahren, und der hier gab Rätsel auf. Als der Coroner die Straße verlassen hatte, um die letzten paar hundert Meter durchs freie Gelände zu fah ren, sah er schon aus der Entfernung die drei Personen, die um einen regungslosen, auf dem Boden liegenden Körper standen. Er kannte einen von ihnen: es war der für diese Gegend zuständige Indianerpolizist Little G. Wing. Dieser hatte die Staubwolke von Sam Croketts Wagen gesehen und ging ihm einige Schritte entge gen. Er selbst war heute schon sehr früh unterwegs ge wesen. Im Visitor Center, wenige Meilen von hier, hatte ihn die Nachricht vom Fund eines Toten über das 46
Mobiltelefon erreicht. Die Tasse heißen Kaffee hatte er stehenlassen und war sofort losgefahren. Zwei Freizeitarchäologen hatten hier, abseits des Weges, seit den Morgenstunden im knochentrocke nen Erdboden nach alten indianischen Speer-, und Pfeilspitzen gesucht, als sie buchstäblich über den Toten stolperten. Das von ihnen benachrichtigte Büro des Sheriffs in Flagstaff hatte dann Little G. Wing in formiert. »Ein Hopi«, begrüßte der Polizist den Arzt, »Mann, Mann, ausgerechnet ein toter Hopi. Das gibt Streß und Ärger für uns. - Guten Tag Sam.« »Hallo, Little G. Wing. Wieso gibt’s Streß und Ärger? Etwa, weil der gefundene Tote ein Indianer ist? Ein Hopi, sagst du?« »Ja, zweifelsfrei«, antwortete der Indianerpolizist. Er hatte seinen Hut abgenommen und schlug ihn ei nige Male gegen seinen Oberschenkel. Staub wirbelte auf. In dieser trockenen Landschaft saß irgendwie alles schnell voller Sand und Staub, »ich kenne den Mann. Das ist Löhongva vom Spinnenclan aus Neu-Oraibi.« Der Arzt blickte ihn von der Seite an: »Aber das ist hier doch Navajo-Land, oder irre ich mich da?« »Genau, Sam, das meine ich damit: ein toter Hopi im Navajo-Land. Das ist eine schlimme Situation.« Sam Crokett und Little G. Wing gingen wortlos zu der kleinen Bodenvertiefung. Die Souvenirsammler, die den Hopi entdeckt hatten, standen abseits, rauchten ihre Zigaretten. Little G. Wing wollte dem Coroner bei seiner Arbeit nicht im Wege stehen und stellte sich zu 47
ihnen. Die Aussagen und Personalien der beiden hatte er bereits notiert. Obwohl er ihnen anbot, weiterzu fahren oder weiter nach ihren Speerspitzen zu suchen, wollten sie doch noch bleiben, die weitere Entwicklung abwarten. »Schau mal her«, rief Crokett in Richtung der Männer, »Little G. Wing, schau dir das mal an«, er deutete auf den Kopf des Toten, wartete bis G. Wing heran war, »hast du das Zeichen auf der Stirn des Hopi gesehen? Sieht ein bißchen aus wie zwei ineinanderlie gende Kreise.« Little G. Wing kniete sich zum Doc nieder und schaute sich das Symbol an: »Nein, also mir sagt diese Zeichnung nichts, es ist jedenfalls kein mir bekanntes Symbol der hiesigen Indianer.« Er schaute Sam an, zog die Schultern ein wenig hoch und erhob sich dann wieder. »Verdammter Mist, ausgerechnet ein Hopi«, murmelte er, »da werden doch die alten Zwistigkeiten beider Stämme wieder aufkeimen. Ich sehe sie schon, wie sie alle ankommen und sich gegenseitig beschuldi gen. Na, das kann was geben.« Derweil Little G. Wing noch rumfluchte, untersuch te Sam den Toten weiter. Vorbeikommende Fahrzeuge verlangsamten ihre Fahrt, einige hielten. Manche Insassen stiegen aus, ka men durch das unwegsame Gelände heran, befriedig ten ihre Neugierde durch lästige Fragerei. Schließlich standen ein Wagen der Navajo Tribal Police und ein Coronerdienstfahrzeug nicht jeden Tag zusammen in der Gegend. 48
Little G. Wing schickte sie alle zurück, beantwortete keine Fragen. Er wußte ja selbst kaum etwas zu diesem Zeitpunkt. Aber wahrscheinlich hatte sich der Fund des toten Hopi schon in alle Ecken des Reservats herumge sprochen. Er schaute in die Landschaft, für Augenblicke ge dankenabwesend, hoffte, die Felsen als Zeugen zu gewinnen, wünschte sich, Antworten zu bekommen. Aber alles schwieg. Dieser Tote war jetzt erst einmal sein Toter. Lange war er noch nicht Indianerpolizist, vielleicht lag seine aufkommende Nervosität darin begründet: »Sam, und? Kannst du schon was sagen? Woran ist der Mann gestorben?« Er nahm seinen Hut ab, um ihn Sekunden später wieder aufzusetzen, »der hat sich doch sicher nicht einfach hingelegt und auf sein Ableben gewartet?« »Ich glaube, du hast recht«, fiel ihm der Coroner ins Wort, »das sieht wirklich nach Ärger aus«, und mit einem Blick zum toten Hopi, »der hier ist nämlich er mordet worden.« »Ermordet? Bist du sicher?« Sam winkte Little G. Wing näher heran. Dann zeigte er auf zwei kleine kreisrunde Einstiche im Herzbereich, ca. sechs Zentimeter auseinander: »Klar bin ich sicher. Dieser Mann ist erstochen wor den - eindeutig. Wahrscheinlich gestern Nachmittag oder am frühen Abend. Auf jeden Fall ist er nicht an Alkoholvergiftung gestorben.« Sam nahm vorsichtig die leere Whiskeyflasche, die der Tote im Arm hielt 49
und reichte sie Little G. Wing, »du solltest die Flasche besser sicherstellen. Möglicherweise sind nicht nur die Fingerabdrücke des Toten darauf. Glaub’ mir, dieser Bursche ist bestimmt nicht am Whiskey gestorben. Mag sein, daß er etwas intus hatte, wie viel, wird die gerichtsmedizinische Untersuchung feststellen. Sei doch so gut und ruf einen Leichenwagen, damit wir den armen Kerl hier endlich aus der Sonne kriegen.« Während Crokett begann, Untersuchungen an den Händen des Toten vorzunehmen, die HobbyArchäologen sich verabschiedeten und zu ihrem Wagen gingen, forderte Little G. Wing den gewünsch ten Wagen aus Winslow an. Er wußte, wie schnell es jetzt hier draußen um die se Zeit heiß werden würde - und der Tote sollte nicht noch mehr Geier und sonstiges Getier anlocken, als ohnehin schon da war. Und er wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis Abgesandte des Spinnenclans hier wären, um den Toten zu holen, damit sie ihn nach Stammestradition beerdigen konnten. »Nanu, was ist denn das«, stutzte Sam, als er den Hopi zur Seite drehte und unter dessen Rücken eine in dianische Puppe zum Vorschein kam. Sie war aus Holz und rotem Stoff gefertigt. »Zeig’ einmal her, Sam. Na klar - das ist eine Kachina-Puppe«, sprudelte es aus Little G. Wing her aus, als der Gerichtsmediziner sie ihm entgegenhielt, »soviel ich weiß, verkörpern diese Puppen Geistwesen, und die Hopi bekommen sie zum Schutz schon im Kindesalter.« 50
»Und? - Hat das etwas zu bedeuten?« fragte Crokett, »ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Schließt es, weil die Puppe beim Toten liegt, einen Stammesmord aus, oder macht es die Hopi um so verdächtiger?« Little G. Wing schaute den Coroner an, zuckte mit den Schultern: »Kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß ich einer Menge Leute Fragen stellen werde. Navajos, Hopi, aber natürlich auch Weißen. Das aufzuklären wird nicht einfach werden. Erst einmal muß geklärt werden, was das Symbol auf der Stirn des Toten be deutet. Möglicherweise ist das schon der Schlüssel.« Als der Leichenwagen den Ermordeten abtranspor tiert hatte und auch Sam wieder fort war, stand Little G. Wing noch immer am Fundort, hielt die Kachina-Puppe in der Hand. Jetzt erst fiel ihm auf, daß beidseitig am Kopf der Puppe Bruchspuren waren. Er schaute sich nochmals in der Bodenvertiefung um, doch weitere Holzteile waren nicht zu entdecken. Dann suchte er die nähere Umgebung nach Hinweisen ab, ohne Erfolg. Der feine Wind hatte außer ihren eigenen Fuß- und Reifenspuren alle Hinweise auf mögliche andere Anwesenden verweht. Aber obwohl der Boden keine Schlüsse mehr über den Tathergang zuließ, war der 29-jährige Indianerpolizist davon überzeugt, daß der Fundort sicherlich nicht der Tatort war. Er spürte das einfach. Viel mehr Kopfzerbrechen machte ihm aber das Warum. Warum überhaupt war diese Tat geschehen?
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Birmingham / England Die späte Nachmittagssonne hüllte die ehrwürdige Messestadt in ein sanftes Licht. Es war jetzt angenehm warm, nicht mehr so heiß wie noch vor Stunden. Den ganzen Tag war Ron durch Birminghams Straßen gegangen, hatte sich von diversen Taxen zu den Plätzen der alternativen Umweltbewegung kut schieren lassen und auch viele der in Frage kommen den Studentenkneipen durchkämmt, doch nirgendwo war eines der schwedischen Gesichter aus dem Zug zu entdecken. Was soviel bedeutete wie - er hatte Lisa nicht gefunden. Jetzt befand er sich in der Steelhouse Lane, unweit seines Hotels. Ihm war sehr warm und seine Füße schmerzten, so daß das Straßencafé, vor dem er nun stand, ihm vorkam wie ein Geschenk des Himmels. Glücklicherweise wurde ein Tisch soeben frei. Ohne zu zögern setzte er sich an den Rundtisch mit vier RattanStühlen. »Wouw - das tut gut«, stöhnte er, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Und schon bot ein Kellner seine Dienste an. »Eine Coke, bitte.« »Kommt sofort, Sir«, kam militärisch knapp die Antwort, dann wischte der Kellner noch flugs über den Tisch, und schon war er enteilt. Ron mußte ein wenig gegen die Sonne blinzeln, die es zwischen zwei alten Giebeln ausgerechnet auf ihn abgesehen zu haben schien. Er schloß erneut die Augen, versuchte sich zu entspannen. Das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite 52
lag dagegen im Schatten, war deswegen aber nicht minder voll besetzt. Ein Gruppe junger Leute ver sprühte gute Laune. Sie flachsten, sangen und hatten unüberhörbar viel Spaß. Der Kellner brachte Rons Coke. Im heimischen Camden werden jetzt die Bäume der Wälder und Parks bunt, dachte Ron, Mutter steht wahrscheinlich im Garten, sieht nach den Blumen, mißt die Kürbisse, während Vater sicher wieder jede freie Minute nutzen wird, seine Angelausrüstung für die bevorstehende Saison vorzubereiten, Angeln - ha. Ob Mutter wußte, mit wem Vater da ständig ›angeln‹ fuhr oder wer sein ›geschäftlicher Reisebegleiter‹ seit Monaten war? Sie wurde schon seit Jahren nicht mehr mitgenommen auf solche Reisen. Früher, ja - da ging es gemeinsam nach Miami, nach Los Angeles oder sogar nach Hawaii. Kaum ein Monat, daß sie nicht unterwegs gewesen waren, obwohl er und seine Geschwister noch klein waren. Doch dann, vor Jahren, hatte es aufge hört. Er hatte es erst nicht bemerkt, zu sehr war er mit Studium, Sport und Mädchen beschäftigt gewesen. Ob Vater damals schon etwas mit anderen Frauen an gefangen hatte, er wußte es nicht. Aber er war einmal Zeuge geworden, als Mutter ihm nach einer mehrtä gigen angeblichen Geschäftsreise eine Szene gemacht hatte - und zu Recht, wie sich später herausstellte. Seit diesem Abend vor drei Jahren hatte sich alles verän dert. Und als ein halbes Jahr später die Großeltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, wurde erstmals von Scheidung gesprochen. Gottseidank nur 53
gesprochen. Auch Mutter hatte sich verändert, war wieder selbstbewußter geworden. Sie hatte, wie im amerikanischen Mittelstand Neuenglands durchaus üblich, studiert, dann einen Anwalt und Immobilienmakler geheiratet und für Haus und Kinder gesorgt und alles getan, was der Karriere des Ehegatten half, war zur Versorgerin der Familie reduziert, deren außerfamiliäre Wichtigkeit darin gip felte, Vorsitzende des Frauenausschusses für die Erhal tung des Kulturguts der Gemeinde zu sein. Aber als Grandma und Grandpa nicht mehr da wa ren, fehlten plötzlich die Haltepunkte, die Stützpfeiler, die diesen kleinsten Kosmos Familie Stärke und Kraft gaben. Kraft, auch schlimme und unangenehme Dinge durchzustehen. Oft waren die Großeltern der Hafen gewesen, wo man Schutz und neue Zuversicht gefun den hatte. Ihre Lebenserfahrung und Ruhe waren der Familie verloren gegangen, sie war auf dem besten Weg auseinanderzubrechen, wenn nicht alle daran arbeiteten, sie zu erhalten. Aber wer sollte an Stelle der Großeltern das schaffen? Mutters Eltern lebten in Kanada, ein Kontakt war nicht mehr vorhanden. Bob, sein älterer Bruder trieb sich wahrscheinlich in irgendeinem zweitklassigen Footballclub in Florida herum. Lebenszeichen von ihm gab es in der Regel nur zu Weihnachten. Als er nicht die Anwaltslaufbahn, wie von Vater gewünscht, einschlagen wollte, hatte es da heim nur noch Streit gegeben. Schließlich war er abge hauen. Unter einem Dach leben mit dem Alten, konnte und wollte er nicht mehr, wie er gesagt hatte. 54
Und was war mit dem Nesthäkchen Ginger? Sie war total abgedreht. Und schuld daran war Marian. Diese hatte seiner 17-jährigen Schwester den Floh ins Ohr gesetzt, Karriere zu machen, ein Star zu werden und als Model oder Filmstar groß herauszukommen. Besonders, nachdem Ginger vor drei Jahren auch noch für Außenaufnahmen zum Film ›Casper‹ in Camden von den Filmleuten als Statistin eingesetzt worden war, stand dieser Entschluß fest. So ein Schwachsinn. Aber für die Göre war die Familie sowieso nur noch Ballast, wie sie einmal gesagt hatte. Und wenn sie erst 18 wäre, verließe sie sowieso das miefig-spießige Haus. Das ste he fest. Einfach so. Vergessen die schönen Kindertage mit den liebevollen Eltern, den großzügigen und immer gut aufgelegten Großeltern, das Spielen mit Geschwistern und Freunden aus der Nachbarschaft. Vergessen! Mit den Eltern verstand sie sich einfach nicht mehr, sprach mit ihnen sowieso nur noch, wenn es unbedingt notwendig war. Und er, er selbst? War er nicht auch einfach abge hauen nach Europa? Was hatte er bisher beigetragen, um die Familie am Leben, sprich zusammen zu halten? Spürte er Selbstvorwürfe? Das schrille Gekreische einiger Mädchen von der anderen Straßenseite zerriß seine ernsten Gedanken, ließ ihn den Kopf heben und die Augen einen Spalt öffnen. Sind mächtig gut drauf da drüben, dachte er, aber in welcher Sprache, Herrgott nochmal, unterhalten die sich nur? Er versuchte zuzuordnen. Klang seltsam für 55
seine Ohren. Nein, schwedisch war es nicht, wenngleich die lebhaften Gruppenmitglieder dort allesamt irgendwie nordeuropäisch aussahen. Sie hatten sich einen Schirmständer vom verwaisten Nachbartisch geholt, ihn in ihre Mitte gestellt und dann eine Art Fahne oder Banner in die leerstehende Hülse des Schirmständers gesteckt. Schon die ganze Zeit waren sie in eine rege Diskussion vertieft, wenn auch die vielen Lachsalven die Ernsthaftigkeit dieser Unterhaltung äußerst fraglich erschienen ließen. Ein Griff zum Glas, und Ron ließ das rotbraune Getränk seine Kehle hinunter laufen. Das schmeckte. »Skol, Ron«, hörte er plötzlich eine Stimme in eini gen Metern hinter sich rufen. Überrascht, seinen Namen zu hören, drehte er sich um. Er traute seinen Augen nicht. Zwei gutgelaunte Mädchen näherten sich seinem Tisch. Eine von beiden war Lisa Borgdal. »Hallo«, freute sich Ron sichtlich verblüfft, »so etwas gibt’s doch nicht. Das nenne ich eine Überraschung.« »Was gibt’s nicht?« fragte Lisa lächelnd. Sie und ihre Begleiterin, die augenscheinlich keine Schwedin war, standen nun vor Ron, in Erwartung, zum Sitzen aufgefordert zu werden. »Da bin ich seit dem Morgen auf den Beinen, be suche einen Veranstaltungsort nach dem anderen und halte Ausschau nach einer Truppe phantastisch blonder Menschen mit einer Lisa. So, und wo treffe ich sie? - Hier.« Er lachte, rückte etwas mit seinem Stuhl zur 56
Seite: »Bitte, nehmt Platz. Darf ich etwas zu trinken bestellen, ihr müßt doch nicht sofort weiter - oder?« Die beiden Frauen schauten einander an, nahmen ihre Tragetaschen von den Schultern und setzten sich. »Danke, ja, - äh, oder nein, wir müssen nicht gleich weiter«, klang es im Duett. »Drei Kaffee«, bestellte Ron lautstark, und dann noch zur besten Tea-Time, very unbritish. Sein erster Eindruck von Lisas Begleiterin hatte ihn nicht getäuscht. Sie stellte sich als Bella Maria Cervantes aus Madrid vor. Dort wohnte sie und stu dierte Soziologie, wie sie erzählte, und daß sie nur hier sei, weil sie mit einem Professor John McHolis zusam mentreffen wollte, der heute Nachmittag ein Referat im Convention Centre abgehalten hatte. Dort hatte sie dann auch Lisa kennengelernt. »Dort war ich schon heute Vormittag«, sagte Ron und blätterte in seinem Infoheft zum Umweltforum, »aber McHolis ist doch ein Altertumsforscher, wie hier steht. Was hat der denn zur Umwelt zu referieren?« »Über das Verhältnis der Menschen im Altertum zu ihrer Umwelt berichtete er, und versuchte Parallelen aufzuzeigen zur Gegenwart«, kam Bellas Antwort wie aus der Pistole geschossen, »und außerdem...«, dabei blickte sie zu Lisa, die dann auch sogleich das Wort ergriff: »Und außerdem ist John McHolis Bellas Onkel.« »Dann bist du gar nicht wegen der Umwelt-Thematik hier, sondern wegen deines Onkels?« »Nein«, erwiderte Bella, »nur, mein Onkel wohnt 57
und arbeitet überwiegend in San Francisco. Und so konnte ich beides verbinden, meinen Besuch hier in Birmingham und ein Wiedersehen mit meinem Onkel.« Lisa unterbrach: »Und was hast du dir schon ange sehen, Ron?« Er kratzte sich verlegen am Kopf: »Wenn ich ehrlich bin, nicht viel«, er mußte etwas verlegen lachen, »ich habe mehr nach den Leuten geguckt...« »Nach Schwedinnen, oder?« lachte Bella. »Stimmt.« Ron nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Das gab ihm Zeit zum Überlegen. Jetzt hatte er Lisa am Tisch, wußte nicht, was er sagen sollte. Er haßte Bla-bla-Gerede, wollte aber nicht so tun, als in teressierten ihn die Umwelttage im Augenblick nicht: »Ich finde gut, daß so viele junge Leute aus der ganzen Welt hier zusammengekommen sind, um für ein akti ves Umweltverhalten zu demonstrieren«, sprudelte es aus ihm heraus, aber innerlich verdrehte er die Augen. Was für einen Quark rede ich da, schoß es ihm durch den Kopf, es klingt, als eröffnete ich ein internationales Sportfest. Wie blöd. »Da stimme ich voll und ganz zu«, ergänzte Lisa, »und wenn immer mehr mitmachen, können wir alle zusammen bestimmt auch etwas bewegen. Man stelle sich bloß vor, Millionen von Menschen auf der ganzen Welt würden sich zusammentun und den Politikern al ler Nationen bei ihren Entscheidungen auf die Finger schauen. Sie würden nicht mehr Projekte zulassen, die nur wenigen Reichen noch mehr Geld und Ansehen 58
bringen. Solche Projekte, die rücksichtslos die Natur und unsere Lufthülle zerstören wird. Denken wir doch nur an den Ozon-Killer FCKW, an das Abschlachten von Jungrobben oder das unsinnige Abholzen ganzer Waldstücke, z. B. in den Alpen, nur damit noch mehr Winterurlauber noch mehr Skipisten bekommen, und die Hotels und Gemeinden das Geld in der Kasse klin geln hören.« »Da bin ich aber skeptisch«, konterte Bella, »wir können gegen die Mächtigen aus Wirtschaft und Politik, die jedes beliebige Gutachten erkaufen können, je nachdem, wie sie es brauchen, doch eh nichts tun.« »Wieso, wenn die Bewegung größer und größer wird? Sieh doch Greenpeace: klein angefangen und mittlerweile hat diese Organisation weltweit Anhän ger, welche die teilweise sehr teuren Aktionen gegen Umweltsünder unterstützen.« Lisa war in ihrem Ele ment, vergaß sogar den Kaffee zu trinken. »Aber bei den Greenpeace-Aktionen hat es doch auch Verletzte und sogar Tote gegeben. Sogar der französische Geheimdienst soll schon seine Finger im Spiel gehabt haben. Denkt doch nur an die Rainbow Warrior. Wenn sich die Mächtigen in der Umsetzung ihrer Ziele gestört sehen, setzen sie doch alle Mittel ein, um Störenfriede zu beseitigen. Genau wie in Deutschland vor Jahren mit der Startbahn West bei Frankfurt. Damals war ich dort als Austauschschülerin in Mannheim und habe alles in den Medien mitbekom men, die Demonstrationen und so. Wessen Interessen wurden da wohl von der Polizei vertreten? Jedenfalls 59
nicht die Interessen der Natur. Nein, die der Leute, wel che mit einer zusätzlichen Start- und Landebahn noch mehr Geld verdienen wollten. Und in Drittländern und in Diktaturen ist es noch viele Male schlimmer. Dort, in den armen Ländern spielen umweltschonende Maßnahmen doch überhaupt keine Rolle mehr. Der je weilige Machthaber wird geschmiert oder am Gewinn beteiligt, und schon wird jeder gewünschte Raubbau legalisiert. Was passierte denn schon nach Seveso oder nach Tschernobyl? Nichts. - Was ist, wenn in ei nem Land Studenten auf die Straße gehen, um mehr Demokratie zu fordern: sie werden des Hochverrats angeklagt und zum Tode verurteilt. So sieht es doch aus. Die oben sind, wollen mit aller Macht oben blei ben. Die Reichen wollen mit aller Macht noch reicher werden. Und es ist denen egal, ob die Erde dabei drauf geht!« »Du hast ja recht, Bella«, entgegnete Lisa, »deswe gen ist es ja wichtig, daß immer mehr Menschen die Situation erkennen, sehen, daß es so nicht weitergehen kann und mitmachen bei dieser Bewegung. Wir alle müssen in den Köpfen der Menschen erreichen, daß dieser Planet auch für unsere Enkelkinder da ist. Daß die riesigen Wälder notwendig sind, um für uns den Sauerstoff zu produzieren, und daß die Meere der Welt nicht als Müllkippe, sondern als letztes große Reservoir für die Ernährung der Welt eines Tages herhalten muß. - Ron, was ist deine Meinung denn dazu?« »Was soll ich sagen? Ich meine, es stimmt schon, was Bella sagt. Wenn ich an eines der letzten Umwelt 60
gipfeltreffen denke, als hinsichtlich der bedrohlichen Veränderung der Ozonschicht beschlossen wurde, den Einsatz des FCKW sofort zu unterbinden, England dennoch die Dreistigkeit besaß, trotz der Dringlichkeit, sofort zu Handeln, für sich eine Ausstiegszeit von, ich glaube, vier Jahren rechtfertigen zu können. Ähnlich verhält es sich doch mit den Atomtests der Franzosen in der Südsee. Da sieht man schon recht deutlich, wes sen Interessen hinter solchen nationalen Ansprüchen stecken. Aber andersrum, wenn nicht jetzt ein globa les Umdenken einsetzt, sehe ich schwarz. Es müßten Millionen Menschen rund um den Globus aktiviert werden, die alle dasselbe Ziel haben: ein Leben MIT der Erde, Erhaltung der Umwelt, der Wälder, Seen, der Tierwelt, nicht Ausbeutung des Planeten. Dann können spätere Generationen auch noch hier leben, aber...«, er schaute Lisa, dann Bella an, »ich bin der Meinung, daß solch eine notwendige Bewegung ›Pro Erde‹ einen Führer braucht, eine Galionsfigur, eine Identifikationsperson, deren Aussage Gewicht hat, der man zuhört, wenn sie spricht.« »Wie Martin Luther King - oder Mutter Theresa?« warf Lisa ein. »Nein, ich meine, es müßte jemand sein, dessen Charisma einen ganz anderen Stellenwert hat. Dieser Mensch müßte unglaublich sein.« »Jesus. Du denkst an jemand wie Jesus?« fragte Bella vorsichtig, »oder wie Mohamed?« »Ja. Ja, vielleicht einer wie Jesus. Nur, daß dieser Führer diesmal nicht die Menschen retten müßte, son 61
dern die Erde vor den Menschen.« »So einer würde aber nicht lange unter uns weilen, befürchte ich«, konterte Bella. Lisa und Ron schauten sie fragend an. »Ich meine, wenn bestimmte Leute und Regierungen schon Angst vor den Greenpeace-Aktivisten haben und deshalb vor Mord nicht zurückschrecken, würden sie einen Gegner wie Jesus II entweder versuchen zu kau fen und für ihre Zwecke einzusetzen, oder sie ließen ihn kurzerhand umbringen. Ist doch logisch - könnte ich mir jedenfalls gut vorstellen.« Bella nahm einen Schluck Kaffee. Für einen Augenblick schwiegen alle drei, denn gegenüber auf der anderen Straßenseite wurde gerade lautstark ein Lied angestimmt. Einer der Norweger - zwischendurch hatte Lisa Ron über die Nationalität der gutgelaunten Truppe aufgeklärt - nahm das Banner aus dem Schirmständer und schwenkte es wie ein Fahnenschwenker hin und her. Den schwarzen Untergrund zierte ein silbriges Symbol. Es sah weder nach einer Zahl noch nach einem Schriftzeichen aus. »Das wäre ein Thema für dieses Forum«, bemerkte Lisa plötzlich und nahm ein Notizheftchen heraus, um einige Stichworte einzutragen. »Was wäre ein Thema?« wollte Bella wissen. »Na, ob eine weltweite Umweltbewegung allein durch ihre Zielsetzung genug Power hätte, um Gehör zu finden, oder ob man einen geistigen Führer brauch te. Ich finde diesen Gedanken äußerst interessant, dar über sollte man diskutieren.« 62
»Ron, da hast du aber ein Steinchen losgetreten«, bemerkte Bella lächelnd. »Was? - Sorry, ich habe gerade da drüben hinge hört«, deutete er auf die andere Straßenseite. »Ist schon okay«, Bella schaute auf die Uhr, »Ron, was mich interessieren würde, ist, wodurch bist du dazu gekommen, dich mit der Umwelt auseinander zu set zen? Ich meine, gab es da eine persönliche Erfahrung oder ist dein Interesse an Mutter Erde nur allgemeiner Natur?« Ron lehnte sich zurück, sah die gespannten Blicke seiner Tischnachbarinnen, überlegte: gab es überhaupt ein Schlüsselerlebnis? »Nein, also, direkte persönliche Erfahrungen gibt es da keine. Es waren in erster Linie die verheerenden Tankerunglücke der letzten Jahre, die mich für die Sache sensibilisiert haben. Schließlich wohne ich auch in ei ner Küstenstadt am Atlantik. 1976, als ich vier Jahre alt war, passierte so etwas an der Küste von Nantuckets, nahe Boston. Schon damals spürte man die Unruhe, die selbst unsere Kleinstadt befiel. Überall wurde dar über geredet. Es wäre eine Katastrophe für die vielen vom Fisch- und Hummerfang lebenden Familien der Region, wenn solch ein Ölteppich nochmals unseren Küstenbereich treffen würde. Wir alle dort konnten bei dem Unglück der Exon Valdez, das ja noch gar nicht so lange her ist, nachvollziehen, was den Menschen dort widerfuhr. Und so etwas geschieht, weil geld gierige Reedereien und deren Aktionäre nichts in die Sicherheit der Schiffe investieren wollen. Die Gesetze 63
jener Länder, unter deren Flagge diese Pötte laufen, werden doch gegen Schmiergelder passend gemacht. Geschieht ein Unglück - klar, mit Millionenbeträgen kauft man sich aus der Verantwortung, das nennt sich dann Schadensersatz. Aber diese Reedereien lassen weiterhin auf allen Weltmeeren ihre maroden Kähne Öl transportieren. Was schert sie, daß durch Ölkatastrophen die Ökologie ganzer Meeresabschnitte zerstört werden.« Ron kam in Fahrt: »Damals begann ich hellhöriger zu werden, registrierte ganz genau, wann und wo Einschnitte in natürliche Lebensräume geplant wurden und wie fadenscheinig die Politiker derlei Maßnahmen mit wieviel Gutachten auch im mer, zu rechtfertigen wußten. Ich glaube auch, daß mein alter Herr, wenn auch unfreiwillig, mithalf, mein Bewußtsein für die perfide Art der Rechtsauslegung zu schärfen und zu erkennen.« »Wieso dein Vater?« Lisa konnte den Satz gar nicht zu Ende formulieren, weil Ron direkt fortfuhr: »Mein Vater hat eine Anwaltskanzlei in Camden. Und hin und wieder vertritt er die Interessen dorti ger Immobilienfirmen, die ganz scharf darauf sind, idyllisch gelegene Grundstücke längs unserer Küste zwischen Rockport und Lincolnville zu erwerben, um sie dann mit enormen Gewinnen wieder abzustoßen. Natürlich lieben die New Yorker und Bostoner das Land um sich herum, räkeln sich in den geschichtsträchti gen Anekdoten des Unabhängigkeitskampfes ihrer Vorfahren gegen die Engländer. All das ist hier in New Hamshire, Connecticut, Maine und wie die ers 64
ten Bundesstaaten noch alle heißen, lebendig zu spü ren. Und die reichen Großstädter schmücken sich nur zu gerne mit ihren kaum vorhandenen historischen Wurzeln, wollen alle ein Stückchen Land besitzen, auf dem möglicherweise einst ein Paul Revere durchgerit ten sein könnte, um zum Befreiungskampf gegen die Rotröcke aufzurufen. Mein Vater hilft dann, diesen oder jenen Wunsch nach einem Fleckchen amerikanischer ›Heimat‹ durchzusetzen. Ist ein Objekt ausgespäht, gilt es, den Eigentümer zum Verkauf zu bewegen. Dann müssen nur noch die alten Gebäude abgerissen und ein phantastischmoderner Bungalow errichtet werden. Um alles herum natürlich Sicherheitszäune, Alarmmelder und privates Wachpersonal. Ganz einfach. Ähnliches habe ich noch vor zwei Monaten mitbekommen.« Bella schaute ihn an: »Erzähl’, was geschah vor zwei Monaten.« »Also, südlich von Camden gibt es einen schmalen, aber weit ins Hinterland reichenden Küstenbereich, der im Augenblick allgemein als Niemandsland bezeichnet wird, aber genau genommen einem alten Fischer aus Rockport gehörte, dessen Vorfahren noch Indianer waren. Dieser soll vor über 50 Jahren ganz plötzlich verschwunden sein. Manche meinten, die See hätte ihn geholt, andere dementieren das, da er schon seit Jahren nicht mehr aufs Meer rausgefahren sei. Wieder ande re wollten wissen, daß er seinem Sohn nach Europa folgte, der zu den Invasionstruppen in die Normandie kommandiert worden war, egal, jedenfalls bekam mein Vater den Auftrag, diesmal von Geschäftsleuten aus 65
Seattle, etwaige Verwandten, bzw. Erben ausfindig zu machen.« »Und, fand er welche?« wollte Lisa wissen. »Na klar. Dad fand ihn. Aber nicht hier im Nordosten, weit unten im Südwesten, in der Stadt Phoenix. Seitdem versucht er mit allen Mitteln, diesem das Grundstück abzuschwatzen, bislang ohne Glück. Denn eines Tages soll dessen Sohn das Grundstück bekommen, versi cherte der Besitzer, und dann müsse der Sohn über den Verkauf entscheiden. Den Sohn aber hat er noch nicht ausfindig machen können, da er sich ständig auf Reisen befindet.« Ron machte ein Pause, nickte dann anerkennend: »Und ihr könnt mir glauben, von der Anhöhe des be sagten Grundstückes hat man einen traumhaften Blick aufs offene Meer. Und auf die drei Felsen, die einige hundert Meter von der steinigen Küste entfernt aus dem Wasser ragen. Wenn in aller Frühe die Sonne hinter dem Meereshorizont aufsteigt, erscheinen ihre bizar ren Umrisse fast etwas bedrohlich oder mahnend - wie man will. Nach einer indianischen Legende sind es drei Führer, die von jenseits des Meeres kamen und beim Versuch das Land zu betreten, um Eingeborenmädchen zu rauben, von den Schamanen des dortigen Stammes verzaubert wurden. Sie verschmolzen mit ihren Schif fen samt Besatzungen zu riesigen Felsnadeln. Nie wie der sollen Fremde es seitdem gewagt haben, einen Fuß auf dieses Küstenland zu setzen.« »Und?« Lisa schien gefesselt, »gibt es einen ge schichtlichen Hintergrund für diese Überlieferung?« 66
»Nein, ich glaube nicht. Weiter heißt es zwar, daß es so um 1570 passiert sein soll, und die Seeleute aus Spanien übers Meer kamen. Naja, ihr wißt doch, von Generation zu Generation wird immer etwas dazuge dichtet. Leider schienen die schrecklichen Erfahrungen, welche die Spanier hier gemacht hatten, nicht bis England durchgedrungen zu sein. Oder weshalb sind die Puritaner nur knapp zwei Generationen später kei ne 300 Meilen südlich von dieser Stelle an Land ge gangen? Diese ersten Siedler waren streng gläubig und als sie so nach und nach von dieser Geschichte hörten, brachten sie natürlich den Teufel in Verbindung mit diesen so arg bedrohlich wirkenden Felsen. Ich neh me an, ihr kennt die Geschichte der Bürger von Salem und deren Hexenwahn im Jahre 1692. Nein? Okay, erzähle ich euch später mal. Jedenfalls, nur, weil die se Steine landwärts ausgerichtet stehen, als hätten die Kapitäne damals hier ans Ufer waten wollten, die der Beschreibung nach natürlich schlechte, böse Menschen gewesen sein mußten, die sich nicht die Schamanen, sondern der Leibhaftige geholt hätte, begannen die einfachen, hier siedelnden Leute natürlich auch, sich auf dem Land oberhalb allerhand Unheimliches ein zubilden. Und ihr mögt es kaum glauben, aber diese Einbildung und diese Furcht dauert bis in die heutigen Tage. In meinen Augen alles Quatsch.« »Wird da nicht von Erzählung zu Erzählung viel bei gedichtet?« kam Lisas Einwand. Ron hob jetzt seinen Finger in Lehrermanier und wurde ernster: »Mit Sicherheit, wenngleich, und das 67
ist schon eigenartig, sich rund eineinhalb Meilen landeinwärts eine alte verfallene Blockhütte in einem Wäldchen befindet, das ebenfalls zum Grundstück des verschwundenen Fischers gehört. Sie soll über 250 Jahre alt sein, und niemand weiß, wer sie gebaut hat. In alten Aufzeichnungen und Kriegskarten von 1758, die sich heute im Besitz des History Museum of Boston befinden, ist sie schon eingezeichnet gewesen. Damals, zur Zeit, als sich der Siebenjährige Krieg der Engländer gegen die Franzosen auch in der Neuen Welt fortsetzte, trauten sich nur wenige Trapper in dieses Gebiet um hier zu jagen und ihre Fallen aufzustellen. Vielleicht war sie einmal das Quartier eines dieser Waldläufer ge wesen. Vermerke darüber fehlen allerdings. Auch wur den in der Hütte selbst nie Hinweise auf seinen oder seine Besitzer entdeckt. Das, was mal drin gewesen sein muß, wie alte Fallen, Ausrüstungsgegenstände, Kochgeschirr, Waffen, was auch immer, ist dort na türlich im Laufe der Zeit von Indianern, anderen Trappern oder Andenkenjägern herausgeholt worden. Würde mich nicht wundern, wenn aus touristischen Gründen diese Hütte plötzlich von Daniel Boone, dem großen Waldläufer stammen soll, man ihn einfach von Kentucky nach Maine dichten. Und man kann so wie der viel Geld mit dieser neuen Attraktion verdienen. Aber dafür muß man erst dieses Land in seinen Besitz bekommen.« »Warst du denn auch schon dort?« fragte Lisa, nipp te dabei an ihrem Kaffee. »Du meinst, in der Hütte? Ja, früher, zweimal sogar. 68
Ich sage euch, es war richtig unheimlich. Gut, ich war erst 16 Jahre alt damals, aber trotzdem, irgend etwas war sehr seltsam mit diesem Ort. Das ganze Waldgebiet war ziemlich verwildert, ist es wahrscheinlich heute noch, und die Hütte ziemlich überwuchert. Obwohl sie auf einer Anhöhe steht, ist sie wegen ihrer grün lich-braunen Farbe und der starken Bemoosung kaum auszumachen. Aus einer der kleinen Öffnungen, früher wohl Fenster oder Schießscharte gewesen, kann man in östlicher Richtung über die Wipfel der tiefer stehen den Bäume hinweg das Meer und auch gerade noch die Spitzen der drei Felsnadeln ausmachen. - Solltet ihr einmal in die Staaten kommen, dann unbedingt nach Maine und nach Camden. Ich zeige euch dann diese verfallene Hütte. Sie ist wirklich recht merkwürdig.« »Wenn dein Vater das Grundstück bis dahin nicht verscherbelt hat«, stichelte Bella. »Ja genau«, nickte Ron, »das wäre jammerschade. Ich weiß nur, da muß es jetzt jemand mit mächtig viel Geld geben, in dessen Auftrag mein Alter versucht, eben an dieses Grundstück zu kommen, egal wie. Und darin, wie man so etwas anstellt, hat mein Vater schließlich reichlich Erfahrung.« Ron seufzte einmal kurz, »und darum bin ich auf der Seite der Armen und Ausgebeuteten, ha. - Und gehört die Erde da nicht auch irgendwo dazu, mit all ihren Pflanzen und Tieren und alten Blockhäusern?« Bei seinem ›ha‹ schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Tassen schepperten. Lisa ergriff das Wort, spielte dabei etwas verlegen 69
mit einer Strähne ihres Haares: »Bei uns in Schweden gibt es auch jede Menge Spukgeschichten, klar. Aber was vor Jahren da abging, war Horror: wir leben nörd lich von Östersund. Das liegt im Jämtland, so ziemlich in der Mitte von Schweden. Unser Hof ist schon seit Generationen im Besitz der Familie, und ich denke, daß ihn mein Bruder eines Tages übernehmen und wei terführen wird. Aber nur, wenn so eine lebenverach tende Schweinerei wie damals im April ’86 in Zukunft auszuschließen ist.« »Du sprichst von Tschernobyl?« »Genau, Ron. Denn als das passierte, war es fast der Ruin für den Hof. Ihr habt es bestimmt gelesen, wie die radioaktive Wolke auch über unser Land hinweg gezogen war. Wie viele andere mußten auch meine Eltern alle ihre Tiere töten und die Ernte vernichten lassen. Und die Sowjets? Die haben die Nachbarländer noch nicht einmal gewarnt, als der Reaktor explodierte. Alles totgeschwiegen und dementiert bis es nicht mehr zu verleugnen ging«, sie schüttelte den Kopf, starrte auf ihr Notizheft in der Hand, »seitdem versuche ich überall, wo ich kann, für den Umweltgedanken einzu stehen und werde dafür auch kämpfen, wenn es sein muß.« Lisa wirkte sehr verbittert, als sie den väterlichen Hof erwähnte, und man konnte ihre Entschlossenheit förmlich spüren. Der zunehmenden Verkehr auf der Straße zeugte vom einsetzenden Feierabendverkehr. Busse, Pkws, 70
Lastwagen auf den Rücktouren von den Baustellen, Sekretärinnen auf trendy Motorroller, sie alle wollten nach Hause. Der Lärmpegel stieg. Lisa bemerkte, daß Ron seit einigen Minuten sehr interessiert zwischen den vorbeifahrenden Autos zur Norwegertruppe hinüberschaute. »Hey, Ron, du schaust immer zur anderen Straßenseite hinüber, willst du, daß ich dich mit den Norwegern bekannt mache? Mein Norwegisch ist sehr gut.« »Oh nein - danke, Lisa. Es ist nur...«, er stockte, wartete zwei vorüberfahrende Busse ab, »... es ist ihr Banner.« »Ihr Banner? Was ist mit dem Banner?« Alle drei starrten auf die Gruppenflagge der Norweger. Diese stand wieder im Schirmständer, der schwarze Stoff hing schlaff herunter. Ron rieb sich das Kinn: »Es ist die Figur, die auf dem Banner sichtbar wurde, als einer der Männer es hin und her schwang.« »Und, was ist damit?« fragte Bella neugierig, »also mir ist kein Symbol aufgefallen, ich muß aber auch gestehen, daß ich nicht sonderlich darauf geachtet habe.« »Also, ich könnte schwören, diese Figur, dieses Zeichen, von irgendwoher zu kennen«, antwortete Ron und man sah ihm an, wie er grübelte, »ich habe es schon gesehen.« »Warst du vielleicht schon einmal in Norwegen? Hast du es möglicherweise dort gesehen«, wollte Lisa 71
Hilfestellung geben. »Nein, nein, dort war ich noch nicht, trotzdem bleibe ich dabei - ich kenne es.« »Okay, dann machen wir es ganz einfach«, sagte Lisa, »wartet, das bekomme ich ganz schnell heraus.« Und ohne ein weiteres Wort stand sie auf, erwischte eine Lücke zwischen den Fahrzeugen und war schon drüben bei der gutgelaunten Gruppe auf der anderen Seite der Straße. Das ging so flott, daß Bella und Ron sich verwun dert anschauten. Dann konnten sie verfolgen, wie Lisa eine junge Norwegerin ansprach, diese dann aufstand, das Banner spannte und mit ihr scheinbar über den Aufdruck redete. »Du hast recht«, Bellas Stimme klang etwas auf geregt, »das Zeichen auf dem Banner kommt jetzt auch mir bekannt vor. Ich meine sogar, der Eroberer Fernandes Cortez trägt so etwas Ähnliches auf einem berühmten Gemälde um den Hals. Wenn ich mich nicht täusche, befindet sich dieses Bild in Madrid. Aber nicht im Prado, sondern im Museo de America. So hundert prozentig sicher bin ich mir da nicht.« »Hör mal, auch in Spanien bin ich noch nicht gewe sen«, erwiderte Ron, »von dort kann ich es bestimmt nicht kennen.« In diesem Augenblick war Lisa wieder da, setzte sich, sprühte geradezu vor Ungeduld, den beiden etwas Neues zu berichten. »Sag’ es«, forderte Bella, noch bevor Lisa anfangen konnte loszulegen. 72
»Ja, paßt auf, das Symbol, dort auf dem Banner steht für ihre Umweltgruppe, ist sozusagen ihr Logo, sag te Silka, mit der ich gesprochen habe. Und sie haben es auf einem alten Runenstein entdeckt und von dort übernommen. Ihr wißt doch, was ein Runenstein ist?« Lisa schaute erst Ron, dann Bella an. Beide nickten. »Nur eines hat die norwegischen Umweltschützer ebenfalls irritiert: zwei Jahre, nachdem sie ihre Gruppe gegründet hatten, von Beginn an mit diesem Symbol, fanden sie in einem Buch über die mysteri ösen Kornkreise, die sich 1990 gerade in Südengland häuften, Aufnahmen einer Figur bei Cheesefood Head, die sie als ihr Symbol wiedererkannten. Einen Zusammenhang haben sie bis heute nicht herstellen können, haben aber auch diesbezüglich nicht intensiver nachgeforscht, wie sie zugaben.« »Vielleicht sind dir diese Fotos auch unter die Augen gekommen?« warf Bella ein. Ruckartig hob Ron den Kopf, machte große Augen: »Du hast recht, aber nicht in einem Buch über Korn kreiszeichnungen, sondern in einem anderen Buch war dieses Symbol abgebildet. Und ich glaube sogar in einem Buch, daß meinen Eltern gehört. Das bekomme ich raus.« Der Ober brachte zwei Ginger Ale und eine Coke für Ron, der jetzt auch die Rechnung verlangte und bezahl te. Lisa und Bella bedankten sich. Von ihnen bekam der Ober sogar noch ein Trinkgeld. »Wenn ich wieder in Spanien bin, werde ich ver 73
suchen herauszubekommen, ob es wirklich dieses Zeichen ist, das Cortez da auf dem Bild um den Hals hängen hat und wenn ja, müßte man doch darüber et was in Erfahrung bringen können.« »Gute Idee, Bella. Und ich kann mich in Schweden nach dem Symbol auf dem Runenstein erkundigen. Etwas Schriftliches über die Entstehung und Inhalte der Runensteine wird es doch geben«, ergänzte Lisa, »ich finde so etwas irgendwie richtig spannend. Mal sehen, ob wir eine Erklärung finden, weshalb dieses Symbol auch außerhalb Norwegens bekannt zu sein scheint.« Bella schaute auf die Uhr, stieß dann Lisa an, die aufblickte und mit kurzem Nicken aufstand: »Ja, okay, ich sehe es selbst, gleich achtzehn Uhr«, und zu Ron gewandt, »sorry, wir müssen jetzt aber weiter.« Auch Bella und Ron standen auf. »Treffen wir uns morgen irgendwo«, fragte er, »viel leicht bei einem der Vorträge? Was habt ihr denn am morgigen Tag so geplant?« Lisa überlegte kurz: »Weißt du, wohin du morgen mitgehst? - Zu den Norwegern.« »Zu denen da drüben?« er zeigte über die Straße, bemerkte dann aber verwundert, daß die fidele Truppe schon gegangen war, mitsamt ihrem Banner. »Natürlich. Als ich vorhin bei ihnen war, haben sie uns zu sich einladen wollen. Als ich aber sagte, wir würden gleich aufbrechen, bestanden sie darauf, daß wir dann wenigstens morgen zu ihrer Open Air Party in die Cambridge Street kommen sollten. Wie sagten sie, 74
ich solle auch meinen Freund mitbringen. Gut, nicht?« »Soso, dein Freund«, scherzte Bella. »Ja, und meine Freundin natürlich auch, meinten sie. Wir sollen pünktlich um neunzehn Uhr dort sein.« »Und was hast du geantwortet?« fragte Ron amü siert, »kommen wir: du, deine Freundin und vor allem dein Freund?« »Was glaubst du denn. So eine Party lassen wir uns doch nicht entgehen. Weißt du, wo die Cambridge Street ist?« Die letzte Frage kam, als die zwei Frauen schon einige Schritte fort waren und Lisa nochmals ei nen Blick zurückwarf, direkt in Ron’s Augen. Er nickte wortlos, blieb noch einen Augenblick ste hen, schaute ihnen hinterher. Schlank ist sie, dachte er, und einen aufregenden Gang hatte sie auch. Wenn ich sie morgen wiedersehe, werde ich mit ihr nicht nur über Umweltthemen reden. Aber was heißt hier: Wenn ich hingehe, na logisch gehe ich zu den Norwegern. Was sonst. Er ging die Steelhouse Lane herunter, war schon fast an seinem Hotel, als er kehrt machte um einen Buchladen zu finden, der noch geöffnet war. »Wollen doch mal sehen«, murmelte er, »ob ich hier nicht so ein Buch über diese verrückten Kornkreise finde.«
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26. September ’98
Cambridge Street / Birmingham / England u Lisa Überraschung waren weit mehr junge Leute auf die Grünflächen an der Cambridge Street ge kommen, als sie vermutet hatte. Die Norweger müssen scheinbar wirklich jeden eingeladen haben. Es war kurz nach neunzehn Uhr, und sie erwischte sich dabei, wie sie immer nervöser nach einem jungen Mann in verwaschenem Jeansanzug Ausschau hielt. Du spinnst doch, dachte sie, was ist nur los mit dir. Du kennst ihn doch kaum. Sicher, er lacht so schön, und erst seine Augen, diese blauen Augen. Ach was. Lisa reiß dich zusammen. Du bist hier wegen des Forums, willst Informationen sammeln, willst dich austauschen mit anderen Gleichgesinnten und dich nicht... verlie ben. Oh Gott. Was weißt du denn von ihm? Nichts. Okay, fast nichts. Sicher, er hat die richtige Einstellung zur Umwelt, das ist wichtig. Und er ist nett, richtig süß, wenn er verlegen ist. Lisa! Sei vorsichtig. Vielleicht wartet ja eine Freundin in den Staaten auf ihn, oder er mußte früh heiraten, hat am Ende gar schon Kinder. Oh nein. Hey, an was denke ich bloß. Außerdem ist es mit Lasse so richtig ja noch nicht aus. Oh herrje, da kommt Ron. Hey, hat sogar ein neues Hemd angezogen. Steht ihm. Jetzt nur nicht so tun, als hätte ich schon ungedul dig auf ihn gewartet. »Hallo«, schallte es schon aus einigen Metern Entfernung, Ron kam lachend heran, »hallo Lisa. Hast du auf mich gewartet? Wo ist Bella?«
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»Wie kommst du nur darauf, daß ich auf dich ge wartet habe?« lächelte sie neckisch zurück, »sah es wirklich so aus?« »Nein, sorry, natürlich nicht, war nur ein Scherz«, dabei drehte er sich um die eigene Achse, schaute sich die vielen Anwesenden an, »ich entdecke Bella nir gends, ist sie noch nicht hier?« Lisa schaute Ron an, betrachtete sein unrasiertes, mit blonden Stoppeln bedecktes Gesicht, hörte die Frage überhaupt nicht. »Lisa, was ist? Ich fragte, ob Bella schon hier ist?« Sie schüttelte den Kopf, schaute auf: »Was ist - was hast du gefragt?« »Du scheinst mit deinen Gedanken ja ganz woanders zu sein. Sicher wieder beim Thema Umwelt«, grinste Ron. Wenn du wüßtest, dachte sie: »Bella kommt etwas später, wollte mit ihrem Onkel noch ein Café besuchen. Ron, hast du eigentlich eine Freundin oder Verlobte?« Oh Mist, erschrak Lisa, was fragst du bloß? Was ist in dich gefahren? »Wie bitte?« »War nur so rausgerutscht«, fing sich Lisa, »ich meinte nur, warum deine Freundin nicht mitgekommen ist nach Europa?« »Da sind die Norweger, schau mal«, er deutete hin ter Lisa, wo er über die Köpfe der anderen hinweg das schon bekannte Banner entdeckte. Sie wandte sich um, sah es ebenfalls, lachte dann Ron an, dachte aber: Hey, warum antwortest du nicht, 77
jetzt weiß ich immer noch nichts von dir, Mann. Ron hatte ihre Frage allerdings sehr wohl verstan den. Weshalb in aller Welt wollte sie so etwas von ihm wissen? Sie standen jetzt Seite an Seite, als eine Frau auf sie zukam, die er als jene Norwegerin erkannte, mit der Lisa am gestrigen Tag über das Bannerzeichen gespro chen hatte. Lisa stellte sie einander vor. Glücklicherweise konn te Silka englisch sprechen, denn norwegisch war für Ron ein Buch mit sieben Siegeln. Während sie sich zu dritt unterhielten, begannen die Norweger, die sich um ihr Banner versammelt hatten, erste Lieder anzustimmen. Das war für Silka Anlaß, beide mitzunehmen zu ihrer Truppe. Es schien Lisa wie Ron absolut unver fänglich, als sie von den Vorsängern der Truppe auf gefordert wurden, sich einzuhaken und die Tanz-LaufSpiele mitzumachen. Und es war ein schönes Gefühl. Für beide. »Hallo, ihr Tänzer, da bin ich!« Ron und Lisa schauten auf, lachten herüber. Es war Bella, die glaubte, in Lisas Gesicht etwas Triumphierendes zu entdecken, hatte doch Lisa ihr gestern Abend schon ein wenig ihrer Gefühle bezüg lich des jungen Amerikaners preisgegeben. Und Bella war nicht alleine gekommen. An ihrer Seite hatte sie einen Herrn mittleren Alters, graue Schläfen, Schnurrbart, Sakko und Jeans. »Darf ich bekannt machen: mein Onkel, Professor 78
John McHolis. Onkel, das sind Silka aus Norwegen, Lisa Borgdal aus Schweden und Ron Millar aus Boston.« »Aus Camden in Maine, genau genommen. Aber ich studiere in Boston. Guten Tag, Herr Professor.« Ron schüttelte Professor McHolis die Hand. »So, Sie haben also diese tolle Idee, was die Strategie einer Machtaufwertung der Umweltbewegung weltweit angeht?« »Ich - wieso?« »Sie wollen doch einen außergewöhnlichen Menschen an die Spitze der globalen Bewegung stel len, erzählte mir jedenfalls Bella. Warum machen Sie es denn nicht selbst?« »Ach so, das meinen Sie. Gut, es war halt so ein Gedanke. Aber woher nimmt man einen solchen Führer. Der muß sicher noch geboren werden. Und ich? Nee, ich kann so etwas nicht.« »Aber vielleicht lebt er schon unter uns und ist nur noch nicht aktiviert worden, wer weiß. - Und das ist also Lisa«, damit drehte Professor McHolis sich hin zur blonden Schwedin, »auch über Sie haben wir noch vorhin gesprochen.« Lächelnd reichte Lisa Bellas Onkel die Hand: »Ich hoffe doch, nur Gutes!« Gemeinsam schlenderten sie durch den Park, hin zu den aufgestellten Bänken und Tischen und setzten sich nieder. Der Duft gegrillten Fleisches wehte herüber, Gitar renklänge aus der einen, nordisches Liedgut aus der 79
anderen Richtung. Dazwischen ein Erzählen, Lachen, Gemurmel in vielerlei Sprachen, aber hauptsächlich in Englisch. Einer aus Silkas Truppe stellte ein prall gefülltes Tablett mit diversen Getränken auf den Tisch, forderte sie auf, sich zu bedienen. Man tat’s und dank te. »Da ist es, Onkel John«, Bella zeigte auf das Banner, das gerade an ihnen vorbei getragen wurde, »dieses Zeichen dort auf dem schwarzen Tuch meinen wir.« Silka hörte, daß Bella und ihr Onkel über das Banner redeten und rief den Bannerträger zu sich zurück an den Tisch. Sie ergriff das Tuch und zog es auseinander. »Unser Symbol scheint sich ja allgemeiner Beliebtheit zu erfreuen«, flachste Silka, »ich meine, daß es wirk lich ein tolles Zeichen ist, sonst hätten wir es ja nicht zu unserem Logo gemacht. Oder - was meinen Sie, Herr Professor?« »Lassen Sie es mich anschauen, erst einmal richtig betrachten, bevor ich etwas sagen kann«, entgegnete McHolis. Davon also hat Bella den halben Nachmittag gesprochen, dachte er, folgte der eigenwilligen Linien führung des Symbols. Keiner der Tischgesellschaft sagte ein Wort, jeder starrte den Professor an, dann zum Banner, wieder zu McHolis. Während um sie herum eine ungeheure Klangvielfalt den Lärmpegel hochhielt, schien hier am Tisch eine eigenartige Spannung in der Luft zu liegen. »Also, Kinder«, begann Prof. McHolis und strich mit Daumen und Zeigefinger den Schnurrbart glatt, was er übrigens immer tat, wenn er etwas Wichtiges 80
mitzuteilen hatte, »wenn ich nicht wüßte, daß es, wie ihr behauptet, von einem Runenstein herstammte, würde ich meinen, dieses Zeichen sei indianischen Ursprungs. Eindeutig.« »Ein indianisches Zeichen?« wiederholte Bella und schaute ihren Onkel ungläubig an. Auch die anderen und besonders Silka waren sprachlos: »Das Zeichen haben wir wirklich von einem Stein in Norwegen ab genommen, das heißt natürlich abgezeichnet, und dann auf diese Fahne übertragen. Ich kann auch Fotos von dem Stein holen gehen...« »Das wird nicht nötig sein, ich glaube Ihnen schon...«, fiel ihr McHolis ins Wort, »denn viele Signets und Zeichen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und geschichtlichen Epochen verbindet eine geradezu un heimliche Ähnlichkeit, die aus der grundsätzlichen Klarheit vieler geometrischer Grundfiguren zu erklä ren ist. Das bedeutet, daß zwei völlig verschiedene Kulturen auf verschiedenen Erdteilen durchaus ein und dasselbe Symbol benutzen können. Nur, daß diese Zeichen dann völlig unterschiedliche Bedeutungen ha ben.« Ron ergriff das Wort: »Wenn solch ein Symbol also von zwei unabhängigen Kulturkreisen benutzt wird, ist es Zufall, richtig?« »Ja, in der Regel ja«, antwortete der Professor. »Ist es denn auch Zufall, wenn auch noch in einem dritten Land dieses Zeichen auftaucht. Ich meine, Sie sagen, es könnte indianisch sein, Silka erklärt uns, es kommt aus Norwegen von irgendwelchen Steinen, 81
die einige hundert Jahre alt sein sollen, und in diesem Buch wird beschrieben, daß dieses Zeichen vor einigen Jahren hier in Südengland in einem Kornfeld auftauch te. Das ist doch kein Zufall mehr, oder?« Ron holte ein kleines Taschenbuch aus seiner Gesäßtasche und zeigte es den anderen. »Und das Amulett, das Cortez auf einem Bild um den Hals trägt, Onkel«, warf Bella in die Runde ein, »ich habe dir doch davon erzählt. Wenn es das gleiche Zeichen ist, dann gab es das auch in Mexiko vor über vierhundert Jahren. Das wäre schon ein viertes Land. Wie kann so etwas sein?« Es wurde auf einmal hektisch am Tisch, alle redeten durcheinander, derweil sich der Mann mit dem Banner wieder verabschiedete und zu seinen Landsleuten ging. »Okay«, McHolis hob beschwörend die Hände, »okay, seid mal ruhig, bitte. Das Zeichen hat etwas an sich, was nicht alltäglich ist. Gut. Vielleicht ist alles Zufall, vielleicht auch nicht. Mein Gebiet ist nun mal nicht unbedingt die Symbolik. Aber wenn jemand mit Bestimmtheit sagen kann, ob dieses Zeichen aus der Mythologie der Indianer stammt, so wie ich glaube, dann ist es Professor Arnim Clausseé.« Er machte eine kurze Pause, weil Bella und Silka sich lautstark unterhielten, bis Lisa Bella anstieß. »Clausseé ist ebenfalls Anthropologe, war Studien kollege von mir«, fuhr McHolis fort, »und schon da mals begann er sich damit zu beschäftigen, was heute sein Spezialgebiet darstellt: ›die Besiedelung Ame 82
rikas‹. Wenn sich einer mit den Indianern Nord- und Südamerikas und ihren Religionen auskennt, ist er es.« Ron meldete sich zu Wort: »Dieser Professor ist doch nicht zufällig auch in Birmingham?« »Nein, oh Gott, nein«, lachte McHolis beinahe erheitert, »Clausseé ist in den Staaten. Der hat keine Zeit für Symposien, Seminare oder Kongresse. ›Alles nutzloses Gerede‹, sagt er immer, nein, der ist drüben und versucht, den Beweis anzutreten, daß ›Die große Schlange‹ in Adams Country in Ohio nicht das Werk prähistorischer Indianer ist, sondern, man höre und staune, daß sie von den Wikingern angelegt worden sei. Ich denke, ihr habt schon von dieser fast vierhun dert Meter langen Erdwallfigur gehört?« Ron schon, aber der Rest der Umstehenden schüttel te verlegen den Kopf. »Naja, ist auch nicht so wichtig«, wiegelte McHolis ab, »im Augenblick durchwühlt Clausseé wahrschein lich den Boden im Nordosten der USA, sucht nach Spuren und Artefakte der Wikinger. Lieber Ron, wenn Sie nicht aufpassen, unterwühlt er Ihr Haus, ohne daß Sie es merken. Zuletzt hörte ich, sei er in der Gegend Bostons angelangt, sucht dort nach Spuren der Nordmänner. Wenn Sie wieder in Neuengland sind, grüßen Sie ihn von mir, haha.« »Abgemacht«, lachte Ron, »und wie finde ich ihn?« »Fragen Sie in der Harvard Universität nach, oder ach ten Sie auf einen auffälligen grünbraun angepinselten Caravan. In diesem Gefährt wohnt Clausseé. Wie ich 83
schon andeutete, ist er ein wenig unkonventionell.« »Herr Professor, in allen Ehren, Symbol hin oder her, jetzt möchte ich aber noch etwas mit euch zusam men feiern«, Silka klang ungeduldig, »deshalb sind wir doch hier, oder?« »Genau meine Meinung«, stimmte Lisa ein, erhob ihre Coke, »Cheers, nicht auf das Zeichen, auf uns.« Dabei schaute sie alle an in der Runde, nur auf Ron blieb ihr Blick länger haften. Was bist du für einer? grübelte sie, ich werde das noch heraus bekommen, »Cheers Ron.« »Cheers, Lisa«, erschrak er fast ein wenig, hatte er doch gerade in seinem Taschenbuch geblättert, suchte die Abbildung der ›Ohio Erdschlange‹, die der Professor erwähnt hatte, schaute hoch, »ist was? Habe ich etwas nicht mitbekommen?« »Silka meinte nur, wir sollen auch noch Spaß haben auf dieser Party und nicht nur über Symbole reden. Und ich finde, sie hat recht.« Sie stand auf, um Ron zu einem Tänzchen zu be wegen, da sich in einigen Metern Entfernung einige Musikanten zu einer Gruppe formiert hatten und be gannen, nordische Volksweisen zum Tanz aufzuspie len. Erste Tanzwillige hüpften bereits sichtlich ver gnügt über den Rasen. Sie wollte auch tanzen, bevor die Birminghamer Polizei dem Vergnügen möglicher weise ein Ende bereiten könnte. Doch sie kam nicht dazu. Mit großem ›Hallo‹ tauchte ihre Reisegruppe am Tisch auf, und Ron sah sich plötzlich von lautstarker schwedischer Konversation eingenebelt. Sollte er hier bleiben oder Bella, Silka und dem Professor nacheilen, 84
die schon auf dem Weg zur Musikgruppe waren. Dort standen immerhin auch die Tische mit den Getränken. Ron steckte sein Büchlein wieder in die Hosentasche, stand vom Tisch auf und eilte Bella und ihrem Onkel nach. Obwohl Lisa sich jetzt ausgiebig mit ihren Freunden aus Schweden unterhielt, ließ sie Ron nicht aus den Augen, sah, wie er sich zum Getränketisch begab, sich zu Bella und ihrem Onkel stellte, Silka dagegen hatte sich wieder zu ihren Norwegern begeben. Schließlich war sie Mitveranstalterin, hatte auch Aufgaben zu übernehmen. Auf einmal wurde die Musik übertönt durch das lau te Sirenengeheul eines Krankenwagens, der unmittel bar an ihrer Straße vorbeiraste. Okay, eine Großstadt, da waren solche Sirenen und Einsatzwagen sicher nichts Seltenes, die Bewohner der Stadt lebten damit. Für einen, der in Boston studiert sicher auch kein unge wöhnliches Geräusch, doch für viele Nichtstädter hier klang es schon recht aufregend. Wenige Minuten später raste dasselbe Ambulanz fahrzeug erneut, diesmal in entgegengesetzter Rich tung an ihnen vorbei, war eindeutig auf dem Weg ins Hospital. Ein Streifenwagen folgte in schneller Fahrt und verschwand wie der Krankenwagen in eine der Seitenstraßen. Ein weiteres Polizeiauto stoppte. Ein Uniformierter und ein Beamter in Zivil stiegen aus und gingen geradeswegs zur Musiktruppe. Dort ließ der Zivilbeamte sich das Mikrophon geben. Aus einem kleinen Verstärker quäkte nun die Stimme des Mannes: 85
»Entschuldigen Sie bitte die kleine Unterbrechung, aber ich brauche Ihre Hilfe.« Er hielt inne, wartete bis sich die Anwesenden ru higer verhielten und einen Halbkreis um ihn gebildet hatten. »Danke. Ladies und Gentlemen, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Ich bin Inspector Railey von der Birminghamer Polizei. Sie alle haben sicher den Einsatzwagen des Krankenhauses gesehen oder aber zumindest gehört. Der Grund ist, nicht weit von hier, auf der Zufahrtsstraße zum International Convention Centre wurde ein Passant von einem Auto angefahren. Nach Augenzeugenberichten ist das Fahrzeug direkt und mit voller Absicht auf den Fußgänger zugefahren und anschließend mit hoher Geschwindigkeit davon gerast. Der Angefahrene wurde sehr schwer verletzt und ohne Bewußtsein in die Klinik gebracht. Deshalb suchen wir jetzt jemanden, der ihn identifizieren könn te, denn das einzige, was wir bei ihm fanden, war eine telegraphische Einladung zum Vortrag eines Referates auf dem ›Umweltforum‹ hier in dieser Stadt und ein Streichholzmäppchen, das sich in seiner Tasche befand. Dieses stammt aus einem Café in Caracas/Venezuela«, Railey deutete auf die Zuhörer, »Ihren Fahnen und Wimpeln nach zu urteilen, sind Sie auch wegen des internationalen Forums hier. Vielleicht kennt jemand von Ihnen den Mann. Er hat rote Haare und einen Leberfleck unter dem rechten Auge.« »Ich glaube, ich kannte den Mann«, meldete sich ein Mann zu Wort. 86
Es war McHolis, der winkend auf den Polizisten zu ging, »Sie sagten ›rote Haare‹ und ›aus Venezuela‹?« »Ja, aber leider sind das bislang unsere einzigen Anhaltspunkte, Sir«, antwortete Railey, gab das Mikrophon wieder an einen der Musiker zurück und zog McHolis zur Seite, »darf ich erfahren, wer Sie sind?« Bella und Ron eilten dem Professor nach und stell ten sich zu ihm und den beiden Beamten. McHolis ergriff das Wort: »Ich bin Professor McHolis und das hier sind meine Nichte Bella und ihr Bekannter Ron Millar. Und Sie haben ganz richtig vermutet, wir sind in der Tat wegen des Umweltforums hier. - Aber nun zu dem Mann mit dem Leberfleck unter dem Auge: das muß Dr. Limas, der Assistent von Professor Bolvar sein. Bolvar hat in Caracas ei nen Lehrstuhl an der dortigen Universität und befaßt sich mit der Klimaveränderung unseres Planeten. Ich habe ihn und seine Assistenten Dr. Paul Limas und Dr. Vera Johnson vor einem Jahr in New York bei einer Veranstaltung der Vereinten Nationen kennen gelernt. Übrigens wird Prof. Bolvar heute Abend ein Referat über die katastrophalen Auswirkungen der Massenrodungen im Dschungel Venezuelas halten. Ich werde ihn dort wiedersehen und...« »Aber Prof. McHolis, haben Sie denn noch nichts gehört?« fiel Ron ihm ins Wort. »Was gehört?« »Bolvar ist tot. Er soll vorgestern Nacht im Zug auf der Strecke von London hierher ermordet worden sein, 87
stand so jedenfalls in der Zeitung.« McHolis nahm die Hand vors Gesicht, war sichtlich bestürzt: »Vielleicht irrt sich das Blatt, und Bolvar ist einer Verwechslung zum Opfer gefallen.« »Aber ich war selbst im Zug, habe das sogar von einem Zugbediensteten erfahren. Aber von einem Dr. Paul Limas weiß ich nichts. Der Kellner sprach nur von einer Assistentin.« In diesem Augenblick näherte sich Raileys Kollege, der zwischenzeitlich telefoniert hatte, und flüsterte dem Inspector etwas zu. Inspector Railey schaute auf und machte ein be sorgtes Gesicht: »Ob dieser Unfall etwas mit dem Tod des Professors zu tun hat? Wir werden es untersu chen. Denn gerade erfahre ich, daß Dr. Limas seinen Verletzungen erlegen ist.« »Sie meinen, das war vielleicht gar kein Unfall, sondern Mord«, fragte Bella erschrocken, schaute von Railey zu ihrem Onkel, »jemand hat Dr. Limas umge bracht?« »Wahrscheinlich. Erst mal werde ich mir die Unter lagen des Toten aus dem Zug geben lassen. So, und ich brauche noch Ihre Namen und Adressen hier in Birmingham«, er zeigte dabei mit seinem Kugelschrei ber auf Ron und Bella. Danach bedankte er sich für die Auskünfte und ver ließ mit seinem Kollegen den Platz. »Silka, Silka«, rief McHolis halblaut an Ron vorbei, als er die Norwegerin zwischen den Leuten auftauchen sah, »Silka, haben sie hier auf Ihrer Party vielleicht 88
auch Gin, ja, ein kleiner Gin wäre jetzt richtig. Haben sie so etwas?« Sie kam näher, sah den Professor an, nickte, schaute dann zu Ron rüber: »Und du? Auch einen Gin?« »Danke, ich nicht«, antwortete er, suchte ganz un auffällig den Platz nach Lisa ab. Die Menschenmenge schien ihm noch größer geworden zu sein. Lisa wird doch nicht einfach gegangen sein, ohne etwas zu sagen, ohne sich für den nächsten Tag zu verabreden, dachte er, schaute zu Silka, die am Getränketisch ein Glas mit dem hochprozentigen Alkohol füllte. Aber was dachte er sich eigentlich, wie kam er dazu, anzunehmen, Lisa sei verpflichtet, sich bei ihm abzumelden. Er war doch nicht einer jener Männer wie sein Vater, die dauernd wissen wollten, was ihre Frauen taten, wohin sie gin gen, was sie einkauften usw., nein, so einer wollte er nicht sein und auch nicht werden. Aber anders herum, wenn man zu tolerant ist, wenn man nicht alles wissen will, wird es einem dann nicht als Gleichgültigkeit ausgelegt? Warum war Marian denn fortgegangen nach L.A.? War es wirklich nur der Karrieredrang, oder hatte er ihr das Gefühl gegeben, daß er sie nicht wirklich brauchte, hatte er ihr am Ende nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt? »Hier der Drink«, Silka reichte McHolis das Glas, sah die ernsten Gesichter, »schlechte Nachrichten er halten, von der Polizei?« »Ja, vielleicht.« Silka boxte Ron fast zärtlich gegen die Schulter: »Egal, jetzt wird aber wirklich noch etwas getanzt. 89
Richtig?« Er nickte: »Ja, okay, tanzen wir noch ein bißchen.« »Aber ohne mich. Ich muß los«, sagte McHolis, schaute auf seine Armbanduhr, »es ist gleich neun Uhr. Ich werde jetzt zum Convention Centre fahren, wollte dort einige Leute treffen. Tja, eigentlich auch Prof. Bolvar. Aber das wird wohl nichts.« Dann suchte und fand er seine Nichte, die sich einige Schritte entfernt hatte: »Bella, bleibst du noch?« Sie unterbrach ihr Gespräch mit einem norwegi schen Studenten, blickte ihn über die Schulter an: »Du willst fahren?« McHolis hob die Augenbrauen, warf einen bestäti genden Blick herüber. »Schade, aber ich bleibe noch. Ich rufe dich morgen im Hotel an. Deine Nummer vom Hotel habe ich ja. Komm gut zum Centre. Tschüs.« Ron stand für sich alleine und beobachtete das Treiben um sich herum. Die Musikanten hatten ihre Instrumente wieder eingepackt. Der Tanz war vorbei. So saßen nun die Gäste an den Tischen und redeten. Aber auch überall auf dem schon etwas feuchten Grasboden saßen vereinzelte Grüppchen und diskutier ten angeregt. Er ging langsam auf Bella zu, stellte sich zu ihr und ihrem Gesprächspartner, blickte dabei aber ständig suchend in die Runde. Bella bemerkte das: »Kann es sein, daß du Lisa suchst?« »Nein, nein - äh - eigentlich ja. Plötzlich war ihre Gruppe gekommen und jetzt sind alle irgendwie ver 90
schwunden, einfach weg. Hat sie dir gesagt, wo sie hinwollte?« »Keine Sorge, sie wird nachher wiederkommen«, antwortete Bella, »sie hatten schon gestern beschlos sen, heute einen kleinen Stadtbummel mit ihrer Schwedentruppe zu unternehmen, noch bevor wir die Einladung zu dieser Party erhielten. So haben sie sich halt hier zu ihrem Bummel getroffen. Also, ganz ruhig, Ron. Sie kommt wieder, ganz bestimmt. Und ich weiß auch warum, hihi.« Sie konnte sich ein kleines Kichern nicht verkneifen. »Na gut, dann warte ich«, kam es erleichtert, »dann hole ich mir jetzt einen Kaffee. Bella, du - äh - ihr auch einen Kaffee?« Während Bellas Gesprächspartner den Kopf schüt telte, demonstrierte sie mit erhobenen Daumen ihre Zustimmung: »Oh, gerne. Das wäre ganz lieb von dir.« »Okay, kein Problem«, lächelte Ron und schlenderte gemächlich zum Getränketisch. Langsam legte sich eine zarte Dämmerung über das Partygelände, nacheinander schalteten sich die Straßenbeleuchtungen ein. Dem blauen Sonnenhimmel des Tages folgte der mit kräftigem Abendrot durch färbte Nachthimmel. Für Hobby-Astronomen war es noch um einiges zu früh, und auch der Mond stand zu diesem Zeitpunkt noch zu tief, wurde von den mehr stöckigen Häusern ringsum verdeckt. Auf dem Platz wurden Gartenfackeln entzündet, die Halt im weichen Grasboden fanden. Traurig klingende Gitarrenmusik 91
bildete, zusammen mit dem Rotstich des Himmels und dem flackernden Fackellicht, einen eigentümlichen, ja fast feierlichen Kontrast zur Hektik des pulsierenden Straßenverkehrs mit all seinen hupenden Autos, den grellen Neonschildern, den Ampeln, den Polizeisirenen und den undefinierbaren tausend anderen Geräuschen. War diese Rastlosigkeit unserer, nach Erfolg gie renden Gesellschaft, nur der Vorbote eines sich ankün denden Kollaps der sogenannten Zivilisation? Stressen wir uns in den Untergang? Ron hatte Zeit für derlei Gedanken, da sein bestellter Kaffee noch nicht fertig war. Als er dann mit zwei heißen Kaffee zurückkam war er hocherfreut. Anstelle des jungen Mannes stand jetzt Lisa an Bellas Seite. Er bemerkte sofort, daß er zuwe nig Kaffee geholt hatte. »So, diese beiden sind für die Damen. Bitteschön«, und er reichte die Tassen Bella und Lisa. Dann mach te er ohne viele weitere Worte kehrt, um noch einen Kaffee zu ordern. Am Ausschank trat Silka zu ihm: »Sind deine Freundinnen auch noch hier?« Über ihrem Arm trug sie einige zusammengefaltete schwarze T-Shirts. »Klar«, erwiderte Ron, »komm mit.« Angekommen, reichte Silka den beiden Frauen und Ron je ein T-Shirt. Sie machte es richtig feierlich, mit Küßchen und so. »Super«, sprudelte es aus Lisa heraus, »ein T-Shirt, Klasse, und sogar euer Norweger-Zeichen ist draufge druckt, echt spitze. Danke, Silka.« 92
»Ist okay«, entgegnete die Norwegerin, »wir wol len, daß so viele wie möglich unsere T-Shirts tragen, ist doch schließlich eine prima Werbung für unsere Gruppe ›Freunde der Erde‹.« Daraufhin griff Bella in ihre Umhängetasche, holte einige Tickets heraus und wedelte damit in der Luft herum: »Ich habe auch etwas für euch, von meinem Onkel. Es sind Eintrittskarten für alle Veranstaltungen des Umweltforums, toller Zug von ihm, nicht?« Sie waren begeistert, überlegten, welchen der Vor träge sie zuerst besuchen sollten, in welchen Räumen wohl welche Vorführungen stattfänden. Jedenfalls ver abredete man sich schon für den morgigen Vormittag. Aus lauter Freude über die nun doch erhaltenen Karten lud Ron die drei jungen Frauen spontan in eine der zahl reichen Studentenkneipen der Stadt ein. Leider konnte Silka noch nicht mitgehen, wollte aber nachkommen. Nachdem Lisa einem aus ihrer Reisetruppe Bescheid gesagt hatte, machten Ron, Bella und Lisa sich zu Fuß auf den Weg Sie amüsierten sich in dem Pub richtig gut, denn an diesem Abend waren besonders viele ›Umweltmenschen‹ da. Man quatschte über alles mög liche, trank Ale, das typisch englische Bier oder etwas Alkoholfreies und scherzte mit- und übereinander. Studentenkneipe hin, Pub her, gegen elf Uhr war in den Gaststätten Schluß. Jedenfalls in Birmingham, bas ta. Und wohin nun? »Wouw, schau mal den Himmel, Ron, und erst den Mond, wie hell er leuchtet«, Lisa schien sichtlich beein druckt vom nächtlichen Firmament, so man zwischen 93
den erleuchteten Schaufenstern, der Leuchtwerbung und den Laternen überhaupt genügend Himmel sehen konnte. »Du hast recht«, entgegnete er, »aber vielleicht kommt uns das nur so vor nach anderthalb Stunden verqualmter Kneipenluft. Sehen konnte man da drin nen nun wirklich nichts. Nur wegen dieser verdamm ten Nikotinfreaks.« Er schlug sich den Kragen seiner Jeansjacke hoch, es war doch frisch geworden. »Da kommt ein Taxi, Lisa. Es ist noch frei. Damit fahren wir zu deinem Hotel.« »Wir?« »Klar. Meinst du, ich lasse dich alleine durchs nächt liche Birmingham ziehen. Kommt nicht in Frage. Ich werde mitfahren und dich zu deinem Hotel begleiten, aber nur, wenn du nichts dagegen hast?« Natürlich hatte sie nichts dagegen: »Okay, dann fährst du mit!« Nur gut, dachte sie, daß Bella in dem Pub zwei Spanierinnen kennengelernt und mit ihnen schon eine halbe Stunde zuvor den Pub verlassen hatte. Bella hätte sie jetzt bestimmt nicht gebrauchen kön nen. Auf Rons Zeichen hielt das eigenwillig anmutende Taxi, schwarz, kastenförmig, unbequem, aber immer noch besser als zu Fuß zu gehen. Nun saßen sie hinten im Fond. Beide wollten sich etwas sagen, wozu sie in der Kneipe einfach keine Gelegenheit gefunden hatten. Oder hatten sie sich nicht getraut? Immer, wenn ein Anfang gerade gemacht war, erschallte ein Hallo von 94
irgendeinem Tisch herüber, wollte man mit ihnen an stoßen. Einfach blöd gelaufen. Und nun hier, im Taxi? Ron überlegte, suchte nach den richtigen Worten, verdammt, wie beginnt man ein sehr persönliches Gespräch? Ja, über Wälder in Not quatschen, gut, das war einfach, aber seine Zuneigung mitteilen in solch einer Schüssel von Auto? Seine Augen hingen am Taxameter. Warum war er nur so unentschlossen? Was sollte er sagen, wie sollte er es sagen, daß er sie mochte? Und wenn sie so etwas am Ende gar nicht hö ren wollte, was dann? Mist, aber irgendwas mußte er sagen. Das Taxameter ratterte im Hundert-Yards-Takt. Wahnsinnig laut kam es ihm vor. In Lisas Gefühlswelt sah es nicht anders aus. Merkt Ron eigentlich nichts? Der muß doch spüren, was ich für ihn empfinde? Sag endlich was, Kerl. Gleich sind wir an meinem Hotel und dann, komm, sag schon was. Sie blickte aus dem Fenster, drehte ein wenig nervös die Scheibe einen Spalt herunter. Der frische kühle Fahrtwind tat gut. An einer Ampel stoppte das Taxi, das wie ein Auto aus einer anderen Zeit wirkte. Auf der Nebenspur kam ein dunkelblauer BMW quietschend zum Stehen. Der Mann am Steuer trom melte ungeduldig gegen das Lenkrad, schaute dabei langsam herüber, fixierte die Fahrgäste im Taxi. Sagenhaft schön der Mond, staunte Lisa und ver suchte aus der unebenen Seen- und Kraterlandschaft des Erdtrabanten ein Gesicht zu erkennen. Plötzlich erschrak sie, stieß Ron an: »Du, paß auf, guck mal 95
schnell zum Mond hoch. Da auf dem Mond blitzt es, schau doch mal.« Ron versuchte aus dem Fenster an seiner Seite den Mond auszumachen, vergebens. »Hier, auf dieser Seite kannst du den Mond sehen.« Bei diesen Worten fiel ihr ein, wie sie vorletzte Nacht auf der falschen Seite aus dem Zugfenster geschaut hatte, »Ron, von meinem Fenster aus kannst du besser schauen.« Doch Ron hatte auf seiner Seite sehr wohl etwas ent deckt. Als sein Blick kurz am dem BMW hängenblieb, bekam er einen ganz trockenen Hals: denn in dem Augenblick, als die Ampel wieder auf grün schaltete und das Taxi anfuhr, konnte er für einen Moment den Fahrer der deutschen Nobelkarosse erkennen, nicht ah nend, daß auch er schon längst wiedererkannt worden war. Er stieß Lisa an, schlug dann sanft auf ihren Unterarm, als sie nicht sofort reagierte, ihren Blick nicht vom Mond lösen wollte: »Lisa, Lisa, da im BMW, der Fahrer.« »Was ist mit dem?« fragte sie neugierig, »kennen wir ihn? Sag schon, wer war im Wagen?« »Der dreiste Zopf-Typ aus dem Zug. Du weißt schon, dem es beim Aussteigen nicht schnell genug ging mit all euren Taschen und Rucksäcken.« »Der? Was macht der denn hier?« »Keine Ahnung.« »Ron, glaubst du etwa, der ist auch wegen des Internationalen Umweltforums hier?« 96
Ron schnippte mit den Fingern: »Kann ich mir nicht vorstellen. Wie der aussieht, hat der zu Hause im Schrank sicher auch Herrenpelzmäntel. Wenn er da war, dann bestimmt nicht, um Neues vom Kampf der Walschützer oder über das Abschlachten von Robbenbabys zu hören. Dabei fällt mir auf, daß er in dem Zug war, in dem der Professor aus Venezuela er mordet wurde. Und was passierte heute Abend, na?« »Der Assistent des ermordeten Professors wurde überfahren«, antwortete Lisa. »Stimmt, und wer war wieder in der Nähe - der Mann aus dem Zug.« »Bestimmt reiner Zufall«, bremste Lisa Rons Phantasie, »so was soll es ja geben.« »Weiß ich auch, daß es Zufall sein kann, klar, aber dennoch finde ich das seltsam.« »Daß Dr. Limas absichtlich überfahren wurde, ist ja noch nicht bewiesen.« »Richtig, Lisa, aber Dr. Limas wollte das Referat des Professors vortragen. Und daß durch dieses Referat, dieses Gutachten von Professor Bolvar schwerwiegen de politische Entscheidungen im Sinne des Weltklimas getroffen worden wären, war, so wie McHolis an gedeutet hatte, nicht unbedingt im Interesse einiger Multikonzerne. Naja, dazu wird es nun nicht mehr kommen: kein Referat - keine Entscheidungen.« »Da, schon wieder ein Blitz«, unterbrach Lisa Rons laute Gedanken. Doch er hatte den Mann noch im Kopf: »Trotzdem, daß ich den Kerl in diesem Teil der Stadt sehe, macht 97
mich stutzig, dieser, dieser...«, Ron kramte in seiner Hosentasche, holte das Feuerzeug hervor, las kurz die Gravur, oh entschuldige, Lisa, du sprachst vorhin da von, daß es blitzt?« »Ja, es sah ganz so aus, als hätte es auf dem Mond geblitzt.« »Das waren bestimmt die Positionslichter eines der Flugzeuge vom hiesigen Airport beim Vorbeiflug vor dem Mond, oder es war eine Sternschnuppe.« »Aber, Ron, Sternschnuppen um diese Jahreszeit?« Das ruckartige Halten des anti-aerodynamischen Kastenwagens namens Taxi verhinderte, daß Ron et was sagen konnte. »Ihr Hotel, bitte sehr«, nuschelte der Chauffeur, kassierte von Ron das Fahrgeld, tippte kurz an seine Schirmmütze, »soll ich warten, Sir?« Ron war unschlüssig, würde er ja sagen, sähe es aus, er wolle nur kurz ›good night‹ sagen, und das war es für heute, sagte er aber nein, liefe er Gefahr, als auf dringlich zu gelten. Wahrscheinlich würde der Portier ihn gar nicht erst herein lassen, oder an der Hotelbar wartet die komplette Schwedencrew, um über ihn her zufallen. Was tun? »Hör mal Lisa«, er nahm seinen ganzen Mut zusam men, »eigentlich wollte ich dir heute einiges sagen. Du weißt, was man so auf dem Herzen hat«, oh, Mann, was rede ich nur, schoß es ihm durch den Kopf, suchte einen neuen Anfang, »also, Lisa, ich finde dich total nett, und ich würde mich riesig freuen, wenn wir den morgigen Tag zusammen verbringen würden. Was meinst du?« 98
Ron kam sich ziemlich belämmert vor. Verdammt, was ist los, konnte er mit einem Mädchen nicht mal normal reden, verzweifelte er. In der Dunkelheit des Hotelvorplatzes sah Ron nicht, daß sie wegen seines Gestottere schmunzeln mußte: »Ron, gerne.« »Was? Was gerne?« »Würde ich mit dir den Tag morgen verbringen. Hole mich bitte um zehn ab, ja? Nun geh’ schon. Das Taxameter läuft, und es ist schließlich dein Geld. Wir sehen uns dann morgen, lieber Ron«, säuselte Lisa ver gnügt, und mit einem kleinen Winken verschwand sie in dem Hotel. »Haben wir es jetzt, Sir?« »Oh ja, Mister. Wir können fahren. Wouw.« Erleichtert lehnte Ron sich zurück. Eine Spur von Überheblichkeit? Beileibe nein, bleib locker. Lisa ist eine Frau, um die du kämpfen mußt, kapiere das end lich. Als er kurze Zeit später in seinem Hotelzimmer am Fenster stand und über die Dächer und Straßen der alten Industriestadt blickte, mußte er an seine Eltern denken, die nach so vielen gemeinsamen Jahren nichts mehr zu verbinden schien. Enden alle Versprechen und Liebesschwüre in Gleichgültigkeit? Gut, daß er anders darüber dachte. Lisa würde ich gerne nach Maine ein laden. Im Herbst müßte sie kommen, wenn die Natur ihr buntes Kleid anzieht. Ja, der Herbst war immer wunderschön in seiner Heimat, so beeindruckend, daß 99
während dieser Zeit Hunderttausende von Touristen den Weg in die alten Neuenglandstaaten finden. Er betrachtete den Himmel, schwenkte seinen Blick und sah den Mond. Er mußte an Lisa denken, lächelte. ›Blitze auf dem Mond‹, wie schön. Nur Schade, daß sie mit ihrer Gruppe schon in zwei Tagen zurück nach Schweden flog, nur noch zwei Tage. Er wurde etwas traurig, ... zwei Tage. Verdammt, was sind zwei Tage! Als er auf der Bettkante saß, war sein Entschluß gefaßt: Ich hole sie nach Camden, so schnell wie mög lich. Doch erst mal werde ich die nächsten beiden Tage genießen. Und dann werden wir sehen. Er schlief schon fest und bemerkte nicht, daß der Mond auf seiner Bahn schon so weit gewandert war, daß er in das Hotelzimmer schauen konnte. Und wieder spielten seine hellen Strahlen mit der Nasenspitze des verliebten Ron.
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Bairds Mountains Observatorium / Alaska as alte Radio lief immer, nicht laut, aber Tag und Nacht. Niemand hörte mehr hin, aber auch keiner sah sich veranlaßt, das Ding auszumachen. Das Nach tprogramm des einzigen Senders, den man mit diesem alten Kasten bekam, bestand sowieso nur aus alten Songs: Dean Martin, Perry Como, Andy Williams usw. und dann wieder von vorne, eigentlich nichts, um wirk lich richtig wach zu bleiben. Sicher, mit ihrer Ausrüs tung, die hier vorhanden war, ließen sich technisch alle Sender der Welt einfangen, aber der Charme der guten alten Werkstatt-Atmosphäre wäre dahin. Dr. Curt Wesley, verantwortlicher Wissenschaftler die ser Station, mochte solch kleine Unvollkommenheiten. Zeigten sie doch, daß es nicht immer nur die Perfektion sein muß, die der Mensch ansonsten als so erstrebens wert empfindet. Ihm reichte die perfekte Welt, die er in seinem Aufgaben- und Arbeitsbereich vorfand. Und dieser Bereich war das Control Center des BMO, des Bairds Mountains Observatoriums, in dem er zusam men mit seiner Kollegin, Dr. Nicole Samisse, und dem Wetterforscher Pat Kramer Nachtbeobachtungen des Sternenhimmels durchführte. Das BMO war eine Schwesterstation des Carson Peak Observatoriums in Tucson/Arizona und unterstand wie jenes der NASA. Während er sich in den Bairds Mountains, im ho hen Norden Alaskas schon im vierten Jahr kalte Füße holte, waren seine Crew-Mitglieder mit ihren wenigen
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Monaten hier oben in der trostlosen weißen Langeweile der Vereinigten Staaten geradezu Neulinge. Nicole Samisse war, wie Curt Wesley, Doktor der Astrophysik. Pat Kramer dagegen Diplom-Meteorologe, und mit seinen 25 Jahren der jüngste in der sechsköpfigen Mannschaft der ›Sterngucker‹. Der Control Room, das Herzstück des Control Centers, war nicht sonderlich groß, konnten sich hier doch lediglich drei bis vier Leute gleichzeitig auf halten um zu arbeiten. Bis auf die routinemäßigen Abschaltzeiten, in denen das komplette System ge checkt wurde, herrschte hier auch ständige Dunkelheit. Seine futuristische Atmosphäre erhielt der fensterlose Raum durch das unterschiedlich gefärbte Licht, das partiell von den vielen hundert Kontrollknöpfchen und den eingeschalteten Monitoren ausging. Nur an den Konsolen und den kleinen Schreibtischen existierten winzige Leuchten, Punktstrahler, die ein Lesen und notwendige schriftliche Arbeiten ermöglichten. »Was meint ihr«, fragte Dr. Samisse ohne von ihrem Computerschachspiel aufzuschauen, »ob der Mond uns heute wieder überrascht?« »Wieso, was für Überraschungen meinst du?« »Pat, natürlich den Mondblitz von letzter Nacht ge gen ein Uhr, schon vergessen?« Sie schaute auf ihre Armbanduhr, »jetzt ist viertel vor eins, warten wir es ab. Ihr habt es gestern nicht gesehen, ich wohl, und ich sage euch, es sah aus, als käme das Licht direkt von der Rückseite des Mondes.« Dr. Wesley saß an seinem Schreibtisch und ver 103
trieb sich die Zeit mit einigen Fachaufsätzen über die Struktur von Schwarzen Löchern. Das Surren, Knacken und Piepsen der technischen Aufzeichnungsund Kontrollgeräte, mit denen dieser Raum völlig zu gestopft wirkte, nahm der erfahrene Wissenschaftler ohne große Beachtung hin. Ungewöhnliche Geräusche oder Bilder dagegen ließen ihn mit einem Schlag hell wach werden wie eine schlafende Katze, die eine Maus hört. Er legte das Fachblatt aus der Hand, lehnte sich in seinen wippenden Drehstuhl entspannt zurück, so daß sein Gesicht dem begrenzten Lichtkegel seiner Tischlampe entschwand, schaute zur Schachspielerin herüber und nach kurzem Augenblick: »Ja, ich weiß, Nicole, leider hast nur du das gesehen. Und ich kann mich nur wiederholen: so, wie du es beschrieben hast, habe ich spontan keine Erklärung für dieses Phänomen. Schade, daß es nicht auf Video aufgezeichnet wurde. Vielleicht ließe sich dann schnell eine ganz rationale Begründung finden.« »Ob’s eine wetterbedingte Ursache gewesen sein könnte«, fragte Pat, der gerade einige übermittelte Wetterdaten prüfte, sie mit eigenen Beobachtungen verglich. Dr. Samisse schüttelte den Kopf: »Glaub’ ich nicht.« Bei diesen Worten stoppte sie ihr Schachspiel, schalte te es aus und ging hinüber zur Steuerungs-Einheit für das große Teleskop. Sie schaltete den Monitor ein. Der Mond erschien genau in der Mitte des großen Displays. Das computergesteuerte Teleskop lief parallel mit der Bahn des Mondes, so daß es den Anschein hatte, als be 104
wege sich der Erdtrabant, zumindest auf dem Schirm, keinen Millimeter von der Stelle. »Gleich ist es ein Uhr, Leute. Entweder es passiert nichts, dann gebe ich einen Kaffee aus, oder, es passiert, dann wird es spannend. Denn wenn ein Licht- oder Wetterphänomen exakt zur gleichen Zeit erscheint, dann darf man davon ausgehen, daß es künstlichen Ursprungs ist.« Dr. Wesley und Pat Kramer waren aufgestanden und postierten sich hinter ihre Kollegin. Eine berufsbeding te Neugierde konnten sie nicht leugnen. Dr. Samisse tat aber auch verdammt geheimnisvoll. Die große, runde Wanduhr zeigte schon zwei Minuten nach eins an und - nichts geschah. Der Mond zeigte in seiner unendlichen Ruhe alle seine Märe, Krater und Ebenen der Vorderseite wie seit lausenden von Jahren schon. »Da, seht, da ist es. Und nochmal. Wouw, super«, jubelte Dr. Samisse. »Hey, was ein Blitz«, staunte Pat. Dr. Samisse trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf die Konsole: »Ja, da war es wieder, genau wie ges tern. Nur diesmal waren es zwei Blitze. Wartet einen Moment, ich hab’s diesmal auf Band. Ich lasse es kurz zurückspulen.« Sie war richtig aus dem Häuschen. Dr. Wesley dagegen schien ruhig, eher schon nach denklich geworden zu sein: »Sah wirklich so aus, als käme es von der erdabgewandten Seite des Mondes. Aber was hat es ausgelöst? Nicole, ich muß unbedingt das Band sehen.« 105
Pat, der schnell in die Miniküche verschwunden war, kam mit einem Tablett und drei Kaffeebecher zurück: »Den gebe ich jetzt aus.« »Ja, toll«, Dr. Samisse war immer noch euphorisch, hatte sie etwas NEUES entdeckt? »Nach den Helligkeitswerten zu urteilen«, kom mentierte Dr. Wesley, nachdem das Video zum vier ten oder fünften Mal abgespielt worden war, »muß der Ausgangspunkt irgendwo in der Nähe des Mare Moscoviense liegen. Was meint ihr?« er schaute sei ne Kollegen an und ergänzte, »und das liegt auf der Mondrückseite. Keine besonders guten Chancen, he rauszubekommen, was die Ursache des Lichts sein könnte. Und meines Wissens hat die NASA augen blicklich auch keine Astronauten im All.« »Stimmt. Aber was ist mit den Russen und der MIR?« wandte Pat ein. »Oje, die, die haben zur Zeit nur die RaumstationsCrew im All, und die Jungs kreisen in einer Umlaufbahn um die Erde. Die werden auch nicht mehr gesehen oder mitbekommen haben als wir hier, eher weniger«, erwiderte Dr. Wesley und mit einem selbstbewußten Unterton in der Stimme, »niemand kann den Mond besser beobachten als wir. Deshalb hat man uns auch diese Station in Alaska gebaut: arschkaltes Klima, aber die beste Möglichkeit den Mond zu beobachten.« Er drehte sich zu Dr. Samisse: »Nicole, weißt du, ob die Infrarot- und die Spektralaufnahmenauswertungen schon vorliegen?« »Noch nicht, Curt, aber laß den Hightech-Aspekt mal 106
kurz beiseite. Was glaubst du, was das für Lichtblitze waren, so zwei Tage hintereinander, zur fast genau der gleichen Nachtzeit?« »Keine Ahnung, wirklich, ich weiß es nicht, Nicole, aber zu deiner Beruhigung, solche Blitze auf dem Mond wurden eigentlich schon immer gesichtet in den letzten hundert Jahren, Kollegen in Japan und in Rußland ha ben sie auch schon gesichtet, zuletzt vor drei Wochen. Übrigens, unsere Beta-Crew muß diesen letzten Blitz auch gesehen haben. Habt ihr die Eintragungen denn nicht gelesen?« Dr. Samisse und Pat schauten sich an: klang da ein Vorwurf durch, ein Tadel? Dr. Wesley beruhigte: »Laßt mal, ich lese auch nicht immer alles, was die anderen Crews so ins Schichtbuch eintragen, jedenfalls nicht sofort.« Natürlich las er alle Notizen und Eintragungen, schließlich war er der Verantwortliche in dieser Station. Er ging einige Schritte auf und ab: »Mich jedenfalls macht nur nervös, daß sich innerhalb nur zweier Tage dieses Phänomen auf die Minute genau wiederholt hat. Ich sage, bevor wir Tucson davon berichten, warten wir noch die morgige Nacht ab, okay?« »Du meinst, wenn es kommende Nacht zur gleichen Zeit wieder blitzt, dann...« »Ja, Pat, dann ist wohl irgend jemand auf der Mondrückseite und knipst an einem Schalter herum. Und das gefällt mir ganz und gar nicht. Dann werden wir es melden, dann müssen wir es sogar melden!« Die drei schauten sich noch einige Male die Auf 107
zeichnungen der beiden Blitze an. Schließlich war die ser Erdbegleiter ja auch der Grund ihres Hierseins. Sie kannten ihren Mond in- und auswendig, kannten seine Entfernungen, seine Maße und seine Zusammensetzung, hatten selbst etwas des Mondgesteins unter dem Mi kroskop gehabt, und schon mit Leuten wie Aldrin, Armstrong und Young, allesamt Mondbesucher, ge sprochen. Doch die Rückseite des Mondes war und ist voller Geheimnisse, genauso geheimnisvoll wie die Wirkung, die der Mond auf die Erde, die Meere und vor allem auf die Menschen ausübt. »Warten wir bis morgen, was Leute«, beschloß Dr. Wesley, »denn ich denke, morgen wird der Mond auch noch da sein.«
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Bairds Mountains Observatorium / Alaska napp vierundzwanzig Stunden später war der Mond immer noch da. Dr. Wesley hatte recht be halten. Wie nicht anders zu erwarten, war die Stimmung so kurz vor Mitternacht angespannt. Sie mußten sich ein gestehen, daß sie seit vielen Wochen erstmals wieder richtig schön aufgeregt waren. Pat kam es vor wie ein Weihnachtstag aus seiner Kindheit. Eine Stunde vor der Bescherung, meinte er mit einem Seitenblick auf Dr. Samisse, die versuchte, ihre Anspannung mittels des Schachcomputers ruhig zu halten. Dr. Wesley hatte sich eine dicke Jacke übergezo gen und war nach draußen gegangen. Ob Dezember, Juli oder wie jetzt im Oktober, hier draußen im hohen Norden war es immer kalt, lag fast immer Schnee, zumindest hier auf den Bairds Mountains. Er stand bis zu den Knöcheln im Schnee und blickte in die klare Nacht, nur einige Schritte vom schneeumwehten Gebäudekomplex der NASA-Station entfernt, schaute dann herüber zum Mond und begann, mit dem Kopf zu nicken: »Wir werden ja sehen, Mister ›Mann im Mond‹«, rief er in die Nacht hinaus, »ob alles mit rech ten Dingen zugeht. Wir werden sehen.«
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Als die NASA ihn vor vier Jahren zum Leiter des LUNA-Projekts ernannt und nach Alaska geschickt hatte, hatte er einige seltsame Papiere unterschreiben 109
müssen. Als ausgesprochener Gegner der weitverbrei teten UFO-Theorien, staunte er nicht schlecht, ein Blatt unterschreiben zu müssen, in dem es ihm untersagt wurde, über unerklärliche Phänomene, ob Sichtungen, Begegnungen oder akustische Signale, die er während seiner Arbeit wahrnehmen könnte, zu sprechen. Okay, hatte er gedacht, was soll’s. Der Job war gut, die Bezahlung auch, also unterschreibe. Mit dem Erhalt seiner Geheimhaltungsstufe hatte er dann Einblick in viele Aufzeichnungen und Berichte über Mondbeobachtungen, die von Amateurastronomen rund um den Globus bei der NASA eingegangen waren. Aber er hatte auch von den Begegnungen und Erfahrungen vieler Astronauten während ihrer Mondflüge gelesen. Den 1968 von der NASA her ausgebrachten Chronologischen Katalog berichteter Mondereignisse der letzten Jahrhunderte, in dem weit über 500 Fälle wie Lichtblitze, ›silbrige Ströme‹, Verdunkelungen der Mondlandschaften oder von mys teriösen Objekten, die über der Mondoberfläche ma növrierten, geschrieben wurde, hatte er studiert. War er bislang skeptisch gewesen bezüglich vieler dieser Berichte, hatte er nun selbst zwei jener beschriebenen Lichtblitze gesehen. Und sie waren heller gewesen, als in dem Katalog beschrieben. Außerdem kamen sie diesmal von der Mondrückseite. Er erinnerte sich auch an die Aussagen eines Vertrauten des APOLLOAstronauten Neil Armstrong, der berichtete, dieser habe während seiner Mond-Missionen stets Sichtkontakt mit fremden Raumschiffen im Orbit und auf dem Mond ge 110
habt. Und was war mit der Aussage von James Lovell von APOLLO 8, als sie Weihnachten ’68 erstmals den Mond umrundeten und er flaxte, er habe Santa Claus gesehen? Eingeweihte wußten, daß es Walter Schirra von der MERCURY 8 war, der als Erster beobachtete fliegende Untertassen mit diesem Codenamen betitelte. Damals, Weihnachten ’68, hörten alle Lovells ›Santa Claus‹-Ausruf, aber nur wenige wußten um die tatsäch liche Bedeutung dieser Worte. War da wirklich etwas gewesen? Gab und gibt es da auf der uns stets abgewandten Seite des Mondes tatsächlich etwas, was uns Sorge bereiten sollte? Wurde tatsächlich, wie viele Fachleute mutmaßen, das APOLLO-Programm nicht abgebrochen, weil die Astronauten zu wenig auf dem Mond entdeckt hatten, sondern weil sie dort zuviel vorfanden? Der Schrei einer Schnee-Eule schreckte Dr. Wesley aus seinen Gedanken. Er seufzte kurz, spürte plötzlich die Kälte in seinem Gesicht. Dann machte er kehrt, und mit einem kurzen Blick zur Uhr stiefelte er zurück zum Stationsgebäude. Die in der Nähe angepflockten Schlittenhunde eines einheimischen Besuchers, der einmal in der Woche frischen Fisch brachte und dann die Nacht in den Unterkünften verbrachte, rührten sich kurz, bellten her über und schliefen dann im Schnee zusammengerollt wieder weiter. Mit dem Mond hatten sie diese Nacht wahrlich nichts im Sinn.
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»Wie spät ist es?« fragte Dr. Wesley, als er das Control Center betrat, »schon etwas passiert?« Er war sich überhaupt nicht bewußt, welch grimmi ge Kälte er mit hereingebracht hatte, konnte die Gesten seiner beiden Partner nicht auf Anhieb deuten, als sie sich demonstrativ die Arme rieben und die Füße anei nander klopften. »Bis jetzt alles ruhig. Alle Systeme laufen. Wenn irgendwas geschieht, wir bekommen es mit«, Pats Stimme klang einerseits sehr erwartungsvoll, anderer seits nach Routine, »nur saukalt ist es jetzt hier.« »Stell dich nicht so an«, Dr. Wesley klopfte ihm, während er sich zu seinem Stuhl begab, kurz auf die Schulter, »und sage mir lieber, ob die Uhr an der Wand stimmt, ist es jetzt ein Uhr, oder nicht?« »Die stimmt. Es ist ein Uhr.« »Na, dann wollen wir mal verstärkt den Mond im Auge behalten, Leute. Läuft das Video mit?« »Video läuft mit«, bestätigte Dr. Samisse. »Okay, Mond, zeig uns, was du zu bieten hast«, Dr. Wesley hatte sich vor dem Monitor plaziert, der in aller Schärfe den Mond zeigte, den er vor wenigen Minuten noch mit eigenen Augen am Himmel betrachtet hatte. Dr. Samisse und Pat Kramer standen seitlich und ge meinsam starrten sie auf den Monitor. Die Uhr zeigte genau eine Minute nach eins, als der Mond ihnen das bot, worauf sie gewartet hatten. Kurz, aber noch heller als am Vortag, zuckte ein Blitz am obe ren rechten Mondrand auf. Dann war es wieder dunkel dort. Eine zweite oder gar dritte Lichterscheinung er 112
folgte nicht. Nach zehn Minuten unterbrach Pat Kramer auf Dr. Wesleys Anordnung die Bandaufzeichnung der Mondaktivitäten, damit sie sich diesen einen Blitz nochmals ausführlich ansehen konnten. »Genau die gleiche Stelle. Der Blitz tauchte exakt an dem Punkt auf wie gestern«, resümierte Dr. Wesley. »Und um die gleiche Uhrzeit, jedenfalls fast«, er gänzte Dr. Samisse, »ich glaube nicht, daß es ein natür liches Phänomen ist. Aber fragt mich bitte nicht, was es sein könnte.« Dr. Wesley stand von der Konsole auf, ging abermals sehr bedächtig einige Schritte hin und her und rieb sich das Kinn. Pat und Dr. Samisse folgten seinen Bewegungen, waren auf seine Meinung gespannt, wußten, daß er jetzt grübelte. »Ich werde es nach Tucson melden«, sagte er end lich, »sollen die dort doch die Lichterscheinungen analysieren und erklären. Wir sollen hier in Alaska schließlich nur beobachten und Auffälligkeiten mel den. Das machen wir jetzt auch. Aber sicher haben sie ebenfalls diese Blitze der letzten Tage dort im Süden schon registriert.« »Soll ich die Verbindung nach Texas herstellen, Curt?« fragte Dr. Samisse, »ich meine, es ist nach Mitternacht.« »Bei denen noch nicht ganz. Versuchen sie Professor Brauner an die Leitung zu bekommen.« »Okay.« Pat Kramer schaute zu den beiden Kollegen herüber. 113
Er hatte nur eine niedrige Geheimhaltungsstufe, ahn te somit nicht, was Dr. Wesley an Hintergrundwissen über ihr gemeinsames Forschungsobjekt bereits alles wußte. Johore Bharu / Malaysia Ungeduldig rutschten die drei amerikanischen Geschäftsleute auf den Sesseln der Hotelhalle herum. Dem vom Kellner servierten Tee schenkten sie kein Interesse. Sie unterhielten sich, blickten dabei ständig vorbei an den ausladenden Pflanzen hin zur großen Eingangstür. Eine in Bambusrohr eingefaßte Uhr prangte über dem Empfang und ergänzte perfekt das ganz in in donesischem Stil gestaltete Hotel. Nur vereinzel te europäische Möbel zeugten noch vom früheren Einfluß der britischen Kolonialzeit. Als dieses Hotel vor zehn Jahren gebaut worden war, war das Land gerade etwas mehr als dreißig Jahre unabhängig. Nachdem der Wandel vom Entwicklungsland zum Industriestaat vollzogen war und man seit ’96 damit begonnen hatte, Großprojekte zur Verbesserung der Infrastruktur in Angriff zu nehmen, waren ausländi sche Großinvestoren gern gesehene Gäste im Land. Nicht nur das Vorzeigeprojekt Petronas Tower, das mit 452 m höchste Gebäude der Welt, zeugte von die sem Aufschwung, auch die Ansiedlung internationaler Computerfirmen und der Bau eines Großflughafens demonstrierten die Zukunftsideen des aufstrebenden Volkes. Aber seit einer ›Finanzkrise‹ in Asien, die 114
auch in Malaysia zu wirtschaftlichen Rückschlägen und einem rigorosen Sparkurs geführt hatte, wurde nach inoffiziellen Geldquellen gesucht. Auch die drei Herren aus Dallas waren durchaus daran interessiert, Investitionen größeren Umfangs in diesem Land am Südchinesischen Meer zu tätigen. Immer wieder ging ihr Blick nach draußen. Ihr malaysischer Partner ließ scheinbar auf sich warten. »Diese verfluchten Asiaten, wann lernen die endlich pünktlich zu sein, verdammt«, zischte der Kleinste der drei Wartenden. Es war kein geringerer als der Präsident der PAXTON Inc., Sir Rymond Lee. Diesen Deal wollte er persönlich unter Dach und Fach bringen. Schließlich ging es hier um Vereinbarungen, die nicht unbedingt konform liefen mit den Vorstellungen des Regierungschefs oder gar des Königs. Gerade deshalb hatte man sich entschieden, sich nicht in der Hauptstadt Kuala Lumpur, sondern in dem Provinzstädtchen Johore Bharu zu treffen. Außerdem lag der Flughafen von Singapur nicht weit. Sir Rymond Lee schickte einen seiner Begleiter zum Empfang mit der Order, sich nach dem Verbleib seines Verhandlungspartners zu erkundigen. Natürlich wußte der PAXTON-Boss, daß dieser Partner hier und heute nicht in seiner Eigenschaft als malaysischer Wirtschaftsminister erscheinen konnte, für diese in ternationale Vereinbarung hätte er nie die parlamen tarische Zustimmung erhalten. Zum Vorteil beider Seiten hatten sie aber schon bei den Vorverhandlungen im texanischen Dallas für dieses Megageschäft ein 115
Deckmäntelchen konstruiert. Eines der größten Hindernisse wäre der geplante Auftritt eines renommierten Umwelt-Professors in England gewesen, dessen dortige Ausführungen si cherlich ihr geplantes Vorhaben hätte zunichte machen können. Der Tod dieses Professors vor drei Wochen hatte das Hindernis aus dem Wege geräumt. Nun war Sir Rymond Lee hier, wollte mit seinem malaysi schen Partner nur noch die Unterschriften unter einen Vertrag setzen, der nicht nur dem Land Devisen und PAXTON Inc. Riesengewinne, sondern auch beiden Unterzeichnern letztendlich einen nicht unerheblichen Betrag auf ihre Privatkonten bringen würde. »Der Minister ist auf dem Weg, Mister Lee. Er hat sich soeben beim Hotel gemeldet. Eine Panne auf dem Weg hierher sei Schuld an der Verzögerung. In weni gen Minuten wird er aber hier sein.« Der Mitarbeiter setzte sich wieder mit an den niedrigen Tisch, auf dem drei Tassen mit kalt gewordenem Tee aufs Abräumen warteten. »Das ist gut. Wenn erst unterschrieben ist, wer den wir noch diesen Monat mit dem Abholzen des Regenwaldes beginnen«, lächelte Sir Rymond Lee, und seine harten Gesichtszüge verzerrten sich zu einer unsympathischen Grimasse, »und glaubt mir, wir wer den richtig viel Geld machen, das steht fest.« Navajo-Reservat / Arizona Während Little G. Wing lustlos sein Steak auf dem Teller von links nach rechts schob, mußte er an seinen 116
Vater White Bear denken. Tags zuvor hatte er ihn mit Verdacht auf Gehirnerschütterung ins Krankenhaus nach Tuba City bringen müssen. »Bei den Göttern, hört ›Custers letzter Kampf‹ denn nie auf?« murmelte er vor sich hin. Niemand konnte ihn hören. Zu laut ratterten die al tersschwachen Deckenventilatoren. Und eine Jukebox, irgendwo in der Ecke, schien dieses monotone Dauergeräusch mit traditioneller Country Music noch untermalen zu wollen. Das dritte Mal in zwei Jahren, langsam reicht’s, dachte er, während er mit der Gabel mehrfach auf sein Steak einstach, einige wollen wohl nie dazu lernen. Little G. Wing meinte die drei übermütigen Truckfahrer, die gestern in einem Store an dem Highway 160, nahe des Städtchens Tonalea ihren Spaß mit einem Indianer hatten haben wollten. Dieser Indianer war zufälligerweise White Bear, der im Gerangel ausgerutscht und beim Sturz mit dem Kopf gegen eine Tischkante geschlagen war, so daß er re gungslos auf dem Boden liegenblieb und der Arzt ge rufen werden mußte. Als der Sheriff eingetroffen war, hatten sich die Trucker längst aus dem Staub gemacht. Der Sheriff hatte mit den Gästen und dem Besitzer gesprochen: niemand kannte die drei weißen Trucker. Da man in diesem Laden nicht nur Alltagsdinge und Souvenirs kaufen, sondern hier auch ordentlich essen konnte, war er eine gern angesteuerte Adresse für die Cowboys der Straße. Der Ladeninhaber kannte nicht nur den verletzten 117
White Bear, der hier öfters seinen selbstgefertigten Schmuck aus Silber und aus türkisfarbenen Perlen zum Verkauf an die Touristen vorbeibrachte, er wußte auch, daß dessen Sohn einer der Indianerpolizisten der Reservation war. So konnte der Sheriff Little G. Wing schnell ausfindig machen und informieren. Schlechtgelaunt warf Little G. Wing sein Besteck auf den Teller, das von dem mittlerweile kalten Steak abgefedert wurde und dann auf der Tischplatte lande te. Niemanden störte das. Das Lokal im Visitor Center, in dem er regelmä ßig zu Mittag aß, war zu dieser Zeit nur mäßig be sucht. Vielleicht lag es daran, daß es bereits zwei Uhr war: die Vormittagsbusse waren schon fort und die Nachmittagsbesucher noch nicht eingetroffen. Mary, eine der beiden Serviererinnen, stellte ein Glas Cola auf den Tresen: »Hier deine Coke, Little G. Wing.« »Thanks, Mary.« »Das Steak war wohl nicht nach deinem Geschmack heute, oder?« Sie deutete auf die verstreut liegenden Messer und Gabel sowie auf das unberührte Stück Fleisch. »Oh, nein. Das Steak ist in Ordnung. Ich, ich habe heute keinen rechten Appetit«, versuchte er sich zu entschuldigen. »Seit dem Vorfall gestern mit meinem Vater, drüben in Tonalea, bin ich etwas durcheinander, nein, eigentlich mehr gereizt.« »Okay, Little G. Wing, hab’s schon gehört. Tut mir 118
echt leid mit deinem Vater.« Mary nahm Teller und Besteck und brachte es in die Küche. In diesem Moment öffnete sich die schwere, von oben bis unten mit indianischen Ornamenten verzierte Eingangstür. Sam Crokett trat ein, sah Little G. Wing am Tresen sitzen und kam auf ihn zu: »Hey, Freund, na, wie geht’s? - Komm, Kopf hoch, du weißt selbst, wie zäh dein Alter ist, der kommt schneller wieder auf die Beine, als du glaubst.« »Hi, Sam, hast es also auch schon gehört?« »Na klar, ich brauche dir doch wohl nicht zu erzäh len, wie schnell sich Dinge herumsprechen, die hier in der Gegend passieren, oder?« Little G. Wing nickte: »Ich weiß. Komm, Sam, setz’ dich doch.« Sam Crokett winkte Mary heran, bestellte sich ei nen Kaffee. Dann legte er Little G. Wings Hut einen Hocker weiter und nahm Platz. Nun saßen die beiden Männer, die sich schon seit vielen Jahren kannten, schweigend nebeneinander, sa hen Mary bei der Arbeit zu. Als sie draußen vor dem Lokal plötzlich quietschende Reifen hörten, flogen ihre Köpfe fast gleichzeitig zum großen Fenster. Es war einer der typisch hellen Wagen des County Sheriffs, der so rasant vor dem Lokal ne ben einem Auto mit der Türaufschrift ›Coroner‹, zum Stehen kam, eingehüllt in eine riesige Staubwolke. Wieder öffnete sich die Lokaltür. Der junge Deputy kam einige Schritte herein, fixier 119
te die wenigen Gäste, ging dann schnurstracks auf Sam und Little G. Wing zu. Sie kannten den jungen Mann in Uniform. Little G. Wing, stellte das Glas kurz ab, begrüßte ihn: »Hallo, Joe, du mußt ja hinter einem ganz gefährlichen Burschen her sein, hm, oder warum rast du so?« »Deinetwegen, dich habe ich gesucht«, antwortete Joe, der trotz seiner einsfünfundsiebzig mit dem ei gentümlichen Sheriffhut auf dem Kopf nun wesentlich größer wirkte. »Mich? Warum mich? Es ist doch nichts mit meinem Vater passiert?« »Mit deinem Vater? Wieso? Ach ja, - nein, nein. Wir haben in Winslow einen Typen festgenommen, der mit einem geklauten Wagen unterwegs war. Und in dem Wagen fanden wir dann allerhand Indianerkunst handwerk. Aber nicht das Zeug, das die Stammesange hörigen den Touristen hier verkaufen. Es waren nach Aussage eines zufällig anwesenden Hopi-Indianers Kultgegenstände, die von der dritten Mesa stammen könnten. Wahrscheinlich aus Tukunavi nahe Alt-Oraibi, dem spirituellen Zentrum der Hopi, wie er meinte.« »Von den Hopi der dritten Mesa? Unmöglich«, ent gegnete Little G. Wing, »dort von den Traditionellen würde meines Wissens kein Fremder auch nur das kleinste Artefakt bekommen - Touristenschmuck viel leicht, aber religiöse Dinge - nie.« Joe nickte: »Ja, ich weiß, der Hopi-Indianer meinte das auch, aber zum einen hatte der Autodieb genaue Lagekarten des Zentrums bei sich, und zum anderen 120
behauptete er, daß er die Sachen von einem Indianer in Berney’s House bekommen hätte.« »Berney’s House?« fuhr Sam dazwischen, »dieser Ganoven-Treffpunkt in Sunrise?« »Richtig. Nach den Aussagen des Festgenommenen habe der Indianer damit geprahlt, ein großes Geheimnis zu kennen. Und wer richtig Geld ausspucken würde, dem würde er dieses Geheimnis verraten. Nebenbei verblüffte er die Anwesenden durch Zauberkunststücke mit einer Kachina-Puppe und hatte außerdem einen tie rischen Drang, sich vollaufen zu lassen.« Joe beugte sich etwas zu Little G. Wing vor, »und das Interessanteste ist: der Beschreibung nach, die du überall hast verteilen lassen, könnte der Indianer aus Berney’s House Löhongva gewesen sein, den du später tot bei den Wutpatki Ruins gefunden hast.« »Erzählte der Mann auch von steinernen Tafeln, oder daß der Indianer vom Spinnenclan gewesen sei?« »Nein, davon sprach er nicht. Aber fahr’ doch hin und befrage ihn selber.« »Allright, das tue ich auch, vielleicht ist es eine Spur«, bei den letzten Worten sprang Little G. Wing auf und reichte Mary einen Fünf-Dollar-Schein rüber, »stimmt so.« »Aber Little G. Wing, du hast ja gar nichts geges sen.« »Ich weiß, aber es ist schon okay.« Er drehte sich zu Sam Crokett um: »Sam, ich fahre jetzt zum Sheriff nach Winslow, um mir den Festgenommenen anzuse hen. Willst du mitfahren?« 121
Sam schüttelte den Kopf, erklärte, daß er erst eine Kleinigkeit essen wolle und dann zu einem Termin nach Flagstaff müsse. Man verabschiedete sich. Der Deputy eilte nach draußen. Sein fürs Indianerland zuständiger Kollege schnappte seinen Hut und folgte ihm. Beide stiegen in ihre Wagen und fuhren los. Little G. Wing befuhr den Indian Highway 70, Richtung Winona, wollte dort auf die Interstate 40. Von da wäre es nur noch eine halbe Stunde Fahrt bis Winslow. Dagegen war Joe schon wenige Minuten nach dem Start über Funk zu einem neuen Einsatzort geschickt worden und war nach Westen abgebogen. So gegen die Sonne fahrend, rollten nochmals die Bilder der letzten Wochen bruchstückartig an Little G. Wings geistigem Auge vorbei: da suchte er seit drei Wochen nach einem konkreten Hinweis, der zur Aufklärung des Indianermordes an Löhongva führen könnte, und ausgerechnet ein Autodieb sollte ihn auf die Spur bringen? Wie hatte er sich bei den Stammesbrüdern des Toten abgeplagt. Er war in die Hopi-Dörfer der Mesas ge fahren, hatte im Verwaltungsgebäude in Neu-Oraibi Erkundigungen eingezogen, hatte die Traditionellen, aber besonders die Assimilierten nach dem Umgang des Ermordeten befragt. Schließlich gehörte der Spinnenclan auch zu dem Teil der Hopi, die sich dem Leben des weißen Mannes geöffnet hatten. Aber es war nichts zu erfahren. Nach Meinung einiger Navajos, soll 122
te sich der ermordete Löhongva in den letzten Wochen zusammen mit einem traditionellen Hopi immer öfters in Kneipen und Trucker-Restaurants herumgetrieben haben. An den Festgenommenen würde er viele Fragen haben, verdammt viele. Als ihm ein Lieferwagen mit Werbeaufschrift ›Tonalea Beer‹ entgegenkam, mußte er unwillkürlich an seinen Vater denken, spürte eine ohnmächtige Wut in sich hochsteigen, versuchte sie aber sofort wie der zu verdrängen. Wut ist kein guter Partner bei der Aufklärung von Überfällen und Straftaten, wußte er, lenkte seine Gedanken erneut auf den toten Hopi, erin nerte sich an die Untersuchung vor drei Wochen. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß es tatsächlich Mord war, wie es Sam Crokett schon am Fundort be hauptet hatte, tauchten keine vierundzwanzig Stunden später zwei FBI-Leute aus Phoenix im Reservat auf. In arroganter Manier hatten sie sämtliche Befugnisse diesen Fall betreffend an sich gerissen, hatten geglaubt, in drei Tagen den Fall lösen zu können. Auf seine, aber auch auf die Hilfe des örtlichen Sheriffbüros, hatten sie großzügig verzichtet. Er hatte seine Protokolle vor zulegen und fertig. Little G. Wing grinste ein wenig, erinnerte sich weiter daran, daß die FBI-Agenten mit all ihren Möglichkeiten und Befugnissen nicht das ge ringste herausbekommen hatten. Überall waren sie auf schweigende Ablehnung gestoßen, diese Herren in ih ren dunklen Anzügen und Sonnenbrillen. Zwei Wochen später waren sie wieder verschwunden, wollten den Fall von Phoenix aus weiterbearbeiten, wie sie gesagt 123
hatten. Außerdem gäbe es, so ihre Worte, Wichtigeres, als den Tod eines saufenden Indianers aufzuklären. Er schnippte mit den Fingern: aber er, er würde den Fall aufklären, denn er hatte jetzt vielleicht eine neue Spur. In wenigen Minuten würde er Winona erreichen. Abseits der Straße sah er Angehörige seines Volkes, die ihre Schafe in kleinen Herden auf kärglichem Boden nach Nahrung suchen ließen. Einige Navajos erkann ten ihn, winkten, riefen ihm in der Stammessprache Genesungswünsche für White Bear zu. Little G. Wing winkte zurück, freute sich, daß nach der Phase der Skepsis, die ihm entgegengeschlagen war, als er sich zum Indianerpolizisten hatte ernennen lassen, das Vertrauen in ihn und seine Arbeit zurückgekehrt war. Der Verkehr auf der 40 war nicht sonderlich stark. Er ließ rechts die Abfahrt zum berühmten ArizonaKrater hinter sich, entdeckte Augenblicke später das Ausfahrtsschild nach Sunrise. Bei Berney’s House würde er anschließend auch noch vorbeifahren, ent schied Little G. Wing spontan. Als er sich schließlich dem Städtchen Winslow nä herte, sah er zwei kleinmotorige Flugzeuge, die gerade vom nahegelegenen Flugplatz aufstiegen. Schon als kleiner Junge war er oft mit seinem Vater zum Flugplatz gekommen, hatte staunend den Flugmaschinen zugeschaut. Als er 18 Jahre alt wur de, hatte White Bear ihm einen Rundflug geschenkt. Es war phantastisch gewesen, und seit dieser Zeit war das Fliegen ein ständiger Traum von Little G. Wing, eigentlich kein Wunder, bei seinem Namen. 124
Wenn in drei Wochen die alljährliche WinslowFlugshow stattfindet, würde er wieder fliegen - das war sicher, und vielleicht könnte er seine heimliche Liebe J.B. überreden, mit dort hinzugehen. Er hoffte es.
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HALLOWEEN
16. Oktober ’98
Camden / Maine s ist jedes Jahr aufs neue ein atemberaubender An blick, wenn man ab Mitte Oktober mit dem Wagen von New York aus über Boston die Interstate 95 nach Norden nimmt oder aber den US Highway 1 hina uffährt, der längs der Küste ebenfalls über Boston, Port land bis hin nach Camden führt. Es ist ein Farbenspiel für die Sinne, wie es schöner nicht gemalt sein könnte. Man ist geneigt zu glauben, daß der Schöpfer selbst, als er für Mutter Natur die passenden Farben ausprobi erte, hier im Nordosten der USA mit den Farben gelb, braun und rot begann, und erst später und in vielen anderen Ländern der Erde zu den überwiegend grünen Farbtönen gewechselt sein mußte. Tatsache ist und bleibt: wer der herbstlichen Jahreszeit bislang nichts Positives abgewinnen konnte, ja sogar sein eigenes Stimmungstief diesen Monaten der kürzer werdenden Tage zuschrieb, ist noch nie in seinem Leben in Neu england gewesen, und zum Indian Summer schon gar nicht. Der hat nie gespürt, wie einem das Herz aufgeht beim Anblick dieses Teppichs aus den leuchtend roten Blättern des Ahornbaumes und dem Gelb der Eiche und Esche, der sanft die Hügel und Täler dieses so geschich tsträchtigen Landes bedeckt. Seit vielen Jahrzehnten schon kommen jedes Jahr viele tausend Touristen aus den ganzen USA, leaf peepers, Blattgucker genannt, in
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die kleinen Gründerstaaten zwischen der schroffen At lantikküste und den waldreichen Green Mountains im Westen. Alle kommen mit dem Ziel, sich zu erfreuen an dem indianischen Sommer, wie die Europäer diese Herbstfärbung der Blätter bezeichnen. Der Amerikaner nennt dieses Naturschauspiel schlicht ›fall foliage‹ und die Indianer erklären die herbstliche Laub Verfärbung mit dem herabtropfenden Blut und Fett des ›gejagten‹, in dieser Zeit am abendlichen Himmel besonders tief stehenden, ›Großen Bären‹. Gegen sechzehn Uhr war an diesem Freitag auf der Interstate 95 der Teufel los. Eine nicht enden wollende Autoschlange wälzte sich zäh Richtung Norden. Es waren die Wochenendurlauber, die in Scharen zu den unzähligen Herbstveranstaltungen fuhren, die in vielen Städten der Region stattfanden. Dazu kamen um diese Uhrzeit auch noch die Pendler auf dem Heimweg von der Arbeit. Inmitten der Blechlawine, die sich langsam nord wärts quälte, befand sich auch Ron in seinem alten grauen VW Käfer. Seit zehn Tagen war er zurück aus Europa, war wieder in Boston und nutzte dieses be vorstehende Wochenende, das laut Wetterdienst phan tastisch werden sollte, um nach Hause zu fahren, um wieder einmal seine Eltern zu besuchen. Ron stellte das Radio leiser. Wenn der überdrehte Musikmoderator des Lokalsenders zwischen seinem belanglosen Geplapper nicht so gute Songs spielen würde, er hätte den Kasten längst ausgemacht. Leise war es durchaus zu ertragen. Ron lehnte sich zurück, 127
fand Zeit etwas nachzudenken. Seine Gedanken kreisten um den Brief, den er vor vier Tagen von seiner Mutter bekommen hatte. Allein der Umstand, daß sie nicht wie sonst anrief, sondern einen Brief schickte, war schon ungewöhnlich. Und der Inhalt hatte sein ungutes Gefühl bestätigt: sie teilte ihm mit, daß sie in ein paar Tagen eine Wohnung im rund vierzig Meilen entfernten Augusta beziehen wür de, da sie dort von einer Freundin gleichzeitig auch eine Arbeitsstelle vermittelt bekommen hatte. Weiter schrieb sie, wie sehr sie sich freuen würde, käme er sie dort besuchen. Was für eine Frage, natürlich wür de er sie besuchen, war doch klar. Auch, so teilte sie ihm mit, hätte Bob ebenfalls von ihr Post gekriegt. Mit Ginger hatte sie noch nicht reden können, da sie seit ei ner Woche mit Freunden in Boston weile, um sich mit Schauspielagenten zu treffen. Mit Verwunderung las er dann, daß Ginger Mutter versprach, sich bei ihm mel den zu wollen. Allerdings, von seiner Schwester hat er weder was gehört noch gesehen. »Lassen sie sich tatsächlich scheiden?« grübelte Ron halblaut vor sich hin, »ich mag es nicht glauben - nein, ich will es nicht glauben.« Er schlug dabei mit beiden Händen auf das Lenkrad, wollte sich ablenken, schaute suchend nach links und rechts, besah sich die so prächtig eingefärbte Landschaft. Inmitten dieses Meeres aus rot-gelb-braunen Wäl dern tauchten immer neue Ortschaften auf mit ihren sauberen Anlagen und den aus Holz gezimmerten und weiß gestrichenen Kirchen. Alles wirkte so verträumt, 128
so unendlich friedlich. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Aber war sie es wirklich? »Ich werde mit Mutter reden. Wer weiß, was in meiner Abwesenheit wieder vorgefallen ist. Dad wird doch nicht so unverfroren gewesen sein und eine sei ner Freundinnen mit nach Hause gebracht haben, als Mutter gerade da war?« Ron seufzte, schüttelte den Kopf. Der Verkehr wurde flüssiger, je weiter er die Grenze zu New Hamshire hinter sich ließ. In Barth wechselte er auf den Highway l. Lange brauchte er nicht mehr bis nach Hause. Mist, dachte er plötzlich, da der Brief vier Tage alt ist, wird Mutter schon jetzt in Augusta sein. Sie wird dann Lisa nicht kennenlernen können, wenn diese für einige Tage über den großen Teich nach Camden kommt. Er lächelte. Er hatte wirklich nicht gedacht, daß es so schnell klappen würde mit Lisas Besuch. Meile um Meile näherte er sich dem Städtchen, wo er aufgewachsen war. Camden war eine typische Kleinstadt Neuenglands mit rund fünftausend Ein wohnern, aber genügend Historie, um Stolz zeigen zu können. Hier war er geboren worden, hier hatte er sämtliche Schulen inklusive Highschool durchlaufen, hatte von klein auf sein geliebtes Baseball gespielt, in der Schulmannschaft genauso wie im örtlichen Verein. Das Kino, das Bistro, die Eisdiele, oft waren sie Treffpunkt mit Kumpels und den Girls. Gab’s die se Treffs noch? Seit er in Boston lebte und studierte, war er in der Tat nicht mehr oft in Camden gewesen, 129
plötzlich wurde ihm das bewußt. Konnte das auch ein Grund dafür gewesen sein, daß die Eltern sich mögli cherweise trennten, daß es daran lag, daß er und sein Bruder aus dem Haus gegangen waren, Ginger so gut wie? Wurde es für die Eltern, wenn ein Haus so leer, so ohne Leben erscheint, gar langweilig? Vielleicht sollte man alle Familienmitglieder zu einem gemein samen Gespräch zusammenführen, über Dinge reden, die jedem Einzelnen auf der Seele lagen? Noch wußte er nicht, wie er es anstellen sollte, alle an einen Tisch zu bekommen, aber ihm war klar, es mußte möglichst bald passieren. Als er endlich die Elmstreet entlang fuhr, konn te er in einiger Entfernung nun schon den kleinen Camdener Jachthafen zwischen all dem roten und gelben Laub der Bäume ausmachen. Minuten später steuerte er seinen VW gemächlich vorbei an der klei nen weißen Baptistenkirche der Gemeinde, bog ein in die Mainstreet und passierte den Jachthafen, sah all die historischen Häuser mit ihren kleinen Geschäften und Restaurants. Dann bog er links ein in die Mountain Street, um von dort aus über die Washington Street in den höher gelegenen Teil des Ortes zu gelangen, dort hin, wo seine Familie seit Generationen wohnte. Überall im Ort sah man spazierende Menschen, fast zu viele Menschen für dieses kleine Küstenstädtchen. Aber schließlich betrieb Camden zusammen mit den Nachbarorten Rockport und Lincolnville auch einen heftigen Werbeaufwand, um möglichst viele Besucher zum ›Fall Foliage Festival‹ herzulocken. Immerhin 130
veranstalteten fast alle Städte und Gemeinden in Neuengland zu dieser Zeit ihre Feste. Und bekanntlich können die Gäste aus New York oder aus Philadelphia nur einmal ihr Geld ausgeben, und warum dann nicht in Camden. Nach wenigen hundert Metern war er am Ziel, an einer leichten Steigung gelegen stand sein Elternhaus. Aber auch das Bild dieser Straße wurde geprägt von unzähligen Wanderern und Radfahrern: alte und junge, dünne und dicke, alleine oder in Gruppen, es wimmelte geradezu von ihnen. Endlich erlaubte eine Lücke zwischen zwei Fahrradgruppen die Einfahrt auf das Grundstück. Die Auffahrt von der Straße zum Haus betrug gut fünfzig Meter. Vor dem Haus mit den zwei Säulen rechts und links des Eingangs zierte ein gepfleg ter Rasen den Besitz, zwei dicke Ahornbäume sorgten jeden Herbst für den ganz privaten Indian Summer der Millars. Die Auffahrt war aus großen grau- und blau gefärbten Pflastersteinen angelegt. Sie lagen nicht nur auf dem breiten Weg zur Doppelgarage, sondern bil deten einen Weg rings um das Haus. Die Farbnuancen paßten ausnehmend gut zum weißen, doch ziemlich großen Haus. Aber eigentlich waren in dieser Straße alle Häuser irgendwie groß, und alle hatte sie Rasen vor dem Haus, hatten eine lange Auffahrt und Bäume zur Straße hin, nicht alle Ahorn, auch Esche und Eiche waren durchaus standesgemäß. Die Fahrzeit war diesmal echt gut, dachte Ron, als er ausstieg, dabei kurz auf seine Armbanduhr schaute, von Boston und bei dem Verkehr, doch, absolut gut 131
für den alten VW-Käfer. Er holte vom Rücksitz seine Tasche und ging zum Haus, stand dann vor der Tür. Ob ihn jemand erwartete? Mutter war ja in Augusta, aber Vater müßte schon aus dem Büro zurück sein, jetzt gegen fünf Uhr. Der Wagen stand sicher schon in der Garage. Er bediente die Türglocke. Die Wiedersehensfreude war auf die Art einfach schöner, allemal schöner, als würde er, obwohl er den Schlüssel ja bei sich hatte, einfach aufschließen, reingehen und dann sagen: ›Tag, da bin ich. Was gibt’s zu essen?‹ Doch es öffnete niemand. Auch nicht, als er wieder holt läutete. Also holte Ron den Schlüssel für die Haustür doch heraus, eine kurze Drehung im Schloß, und schon konnte er eintreten. Mom und Dad hatten darauf be standen, daß alle Kinder, als sie aus dem Hause und aus Camden fortgingen, einen Hausschlüssel behalten sollten. Quasi zur Erinnerung daran, daß sie jederzeit zuhause willkommen seien. Doch heute begrüßte ihn niemand. Im Flur stellte er die Tasche ab, seine Jacke flog auf einen Haken der Garderobe. Er schnupperte. Jedes Haus hat seinen ureigenen Duft. Dieser eigentümliche Duft begleitet ein Gebäude über Generationen hinweg. Man kann es neu streichen und umgestalten, man mag es einrichten wie man möchte, die Unverwechselbarkeit eines Hauses, wird durch die Nase bestätigt. Auch Ron stiegen mit dem aromatischen Flair kurze Erinnerungsmomente aus seiner Kindheit 132
hoch. Hier in diesem Flur wurde er von Mutter allmor gendlich zur Schule verabschiedet, hörte er ihre mah nenden wie ihre Glück wünschenden Worte, vernahm das freudige Bellen des Bobtails, das ihm entgegen schlug, wenn er aus der Schule kam. Er sah die breite, nach oben führende Treppe, erinnerte sich, daß er stets die Schulbücher auf die zweite Stufe abgelegt hatte, die, solange er denken konnte, knarrte, wenn man sie betrat, wobei sogleich jedesmal Mutters Aufforderung aus der Küche rüberschallte: »Schulsachen direkt aufs Zimmer bringen.« Nein, es hatte sich nichts geändert hier im Flur. Sicher, neue Tapeten zierten alle paar Jahre die Wände, aber die Atmosphäre, der Charakter war geblieben. Das Hupen eines vorbeifahrenden Autos ließ die Erinnerung an Mutters morgendliche Wünsche, das Bellen und die Schulbücher vor Rons Augen langsam wieder verschwinden. Wie viele Wochen war er jetzt nicht mehr hier ge wesen: sechs oder sieben? Zehn kämen besser hin, entschied er sich. Obwohl ein leichtes Magenknurren unmißverständliche Forderungen stellte, wollte er erst noch einen kurzen Blick in den Garten werfen. Daher eilte er noch nicht gleich in die Küche, son dern begab sich ins Wohnzimmer. Durch die großen Terrassenfenster hatte man einen herrlichen Ausblick in den weitläufigen, naturgefärbten Garten. Er stand vor der verriegelten Terrassentür, spähte hinaus, nur kurz, drehte dann ab und ließ sich zufrieden in einen der Sessel fallen. Er atmete tief durch, während sein 133
Blick den sichtlich vernachlässigten Garten abtastete. Na klar, begriff Ron, Mutter war nicht mehr da. Und ihre Blumen? Er sah die Rosenstöcke, Hortensien, Astern und die vielen anderen Herbstblumen, und er sah auch das kleine Kürbisbeet, das Mutter so liebte. Fünf dick herangereifte Kürbisse zählte er. Wie groß mochten die sein? Er versuchte, das Gewicht abzu schätzen, gab es jedoch gleich wieder auf. Im alten Kirschbaum, weit hinten im Garten, nahm er zwischen den gelblichbraunen Blättern die Umrisse des alten Baumhauses wahr, in dem Bob und er so herrlich ge spielt hatten. Vater hätte es schon längst abgebrochen, schon vor Jahren, aber Mutter hatte darauf bestanden, alles so zu belassen, der Erinnerung wegen. Dad war’s dann auch egal gewesen. Ob er noch einen Klienten hatte? Oder mit einer Freundin aus war? Er soll sie bloß nicht anschlep pen, jetzt, wo er zu Hause war. Er schlug bei die sem Gedanken mit leichter Verärgerung auf die Sessellehnen. Verdammt, Mutters herzliche Art ver mißte er auf einmal, die Herzlichkeit, mit der sie ihn immer in die Arme genommen hatte, wenn er nach Hause gekommen war. Die Strahlen der über die westlichen Hänge des Mount Battie schauende Herbstsonne ließen Bäume und Sträucher, Töpfe und den Steingarten jetzt in tensiver leuchten, steigerten noch ihre Farbenpracht. Sie fanden ihren Weg über die Terrasse bis ins Innere des Hauses. Ein angenehmes Licht durchströmte den Wohnbereich. Eine Fliege, die von den Strahlen sicht 134
bar gemacht wurde, erweckte Rons Aufmerksamkeit, ließ ihn ihre Flugkünste beobachten. Dann blieb sein Blick am Kamin hängen, der in der gegenüberlie genden Wand eingearbeitet worden war. Schrecklich bürgerlich, das ganze Zimmer, dachte er plötzlich, sah sich bewußt das überdimensionierte Blumenmuster der Couchgarnitur an. Welch ein Dessin, schmunzelte er, genau so schlimm wie der in englischem Stil ge haltene Kamin. Nun ja, aber stammte das schmucke alte Haus nicht aus jener Zeit, als die amerikanische Unabhängigkeit gerade mal 50 Jahre alt war? Auch die vielen gerahmten Fotos, die sich in allen Größen dicht an dicht auf dem Kaminsims dräng ten, hatte er früher nie so wahrgenommen. Er staun te geradezu, wie viele dieser Bilder Mutter hier im Zimmer aufbewahrte. An der Wand darüber prangte ein Gemälde, das besonders ›edel‹ wirkte. Darauf abgebildet war ein Walfängerboot als Spielball der to senden Wellen, ständig auf und ab tanzend. Darin ste hende, harpunenwerfende, und zu allem entschlossene Männer, die gleich von der riesigen Schwanzflosse eines Wals zermalmt zu werden drohten. Einfach herrlich dramatisch. Wahrscheinlich hatte Vater das Bild irgendwann einmal aus dem südlicher gelegenen New Bedfort mitgebracht, dem vielleicht berühmtesten Walfängerort Amerikas. Er wußte es aber nicht genau. Mittlerweile verspürte er doch einen Hunger, stand auf, entschlossen, sich in der Küche etwas Eßbares zu bereiten. Einen Augenblick lang erwog er, seinen Vater im Büro anzurufen, ihm mitzuteilen, daß er schon da 135
sei. Ach was. Dad wußte, daß er heute um diese Zeit kommen würde. Wenn er Wichtigeres zu tun hatte bitte sehr. Selbst hier kurz anzurufen hielt er scheinbar für unnötig. Okay, dann jetzt ab in die Küche. Ron ging an den vielen gerahmten Fotos vorbei, be trachtete einige von ihnen. Natürlich war auch er unter den ›Gerahmten‹, und nicht nur einmal. Ginger, Bob, Mutter, Dad - auch sie sah er sich auf den Bildern an - und dann entdeckte er das Foto seiner Großeltern, nahm es in die Hand. Mein Gott, waren das wunderbare Menschen gewesen. Er spürte unwillkür lich eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen, erinnerte sich zurück, hatte plötzlich einen Kloß im Hals, wie damals, als die Nachricht von ihrem Unfall gekommen war, später die Beerdigung und wie er und alle ande ren lernen mußten, ohne die geliebten Grandma und Grandpa auszukommen. Es kam ihm vor, als hielte er das Bild minutenlang in der Hand, schaute immer wieder auf den lächelnden Großvater. Wie er ihn so betrachtete, länger und länger, dabei ihm in die Augen sah, mußte er plötzlich daran denken, wie er als Kind von ihm viele Geschichten vorgelesen bekommen hatte. Oh ja, Grandpa konnte herrlich Geschichten erzählen, und spannend wie kein zweiter auch solche vorlesen. Ron stutzte. Hatte sein Grandpa denn nicht häufig auch von seinem Großvater erzählt und vorgelesen? Ja, genau, dämmerte es Ron, da gab es doch ein Tagebuch, so ein rotbrau nes oder braunes, aus dem er vorgelesen bekam. Es 136
waren immer Geschichten aus dem Wilden Westen. Genaugenommen waren es Aufzeichnungen aus der Zeit, als Grandpas Großvater im südwestlichen Teil der USA stationiert gewesen war, als Soldat bei der 6th Cavalry unter Colonel Crack gedient hatte. Er und seine Kameraden hatten dort ständig auf der Hut sein müssen vor angreifenden Indianern, die damals immer wieder aus ihren Reservationen ausgebrochen waren, um grausame Raubzüge in Arizona und Texas durch zuführen. Oh, ja, es waren stets sehr spannende Geschichten, erinnerte sich Ron. Plötzlich hielt er inne, griff sich an den Kopf. Wie er so über seinen Großvater und seinen Ururgroßvater nachsann, war ihm das Zeichen eingefallen, das er im fernen Birmingham auf der Norwegerfahne entdeckt hatte. Er erinnerte sich, das Zeichen als Kind schon mal gesehen zu haben. Gegenüber Lisa und Bella hatte er noch in England gemutmaßt, es aus einem Buch sei ner Eltern zu kennen, weit gefehlt: Grandpa hatte ihm dieses Zeichen einmal gezeigt. Genau, so war’s. Ron’s Gehirnzellen arbeiteten plötzlich auf Hoch touren. Das Hungergefühl wurde einfach ignoriert. Was ihn jetzt beschäftigte war, das Buch oder das Tagebuch zu finden. Aber wo sollte er suchen, wo konnte er be ginnen? Schon stand er vor dem kleinen Bücherschrank im Wohnzimmer. Voller Erwartung überflog er die Titel der dort aufbewahrten Bücher, aber Fehlanzeige: nicht einer der vielen Romane oder der Sachbücher konnte 137
ihn spontan an die großväterliche Vorlesestunden sei ner Kindheit erinnern. Und in Dad’s Arbeitszimmer? Hunderte Bücher standen und lagen dort in den Regalen. Doch so gründlich er auch jedes einzelne Buch in Augenschein nahm, viele sogar durchblätterte, die Lektüre, aus der er und sein Bruder oft vorgelesen bekommen hatten, war nicht darunter. Ron ging in die Küche, keinesfalls entmutigt, eher ratlos. Sei es drum, jetzt mußte er sowieso erst mal etwas essen, sonst fiele er noch vor Hunger um. Neu gierig durchstöberte er sämtliche Küchenschränke und den Vorratsraum. Okay, Eier, Schinken, Brot, das mußte reichen. Auf der Arbeitsfläche vor dem Fenster begann er, die Brotscheiben mit Butter zu bestreichen. In der Pfanne brutzelten derweil schon vier Eier. Während er so sein Essen bereitete, schaute er aus dem Küchenfenster. Ihm war dieser Ausblick vertraut: Bäume, Sträucher, Nachbarhäuser. Eine vorbeifliegen de Krähe erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah, wie sie sich auf dem First des Nebenhauses niederließ und sich dann mit einigen Hüpfern vorwärts bewegte, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Sie mußte irgendwie durch ein wahrscheinlich geöffnetes Giebelfenster auf den Dachboden der alten Mrs. Benson gelangt sein. »Ha, da wird sie sich was Hübsches, Glitzerndes stibitzen. Bei all dem Rummel, den die Leute auf ihren Dachböden aufbewahren, würde sie doch auf jedem Dachboden der Stadt etwas finden«, lachte er auf. Er schaute nach der Pfanne, achtete darauf, daß die 138
Eier schön gleichmäßig von beiden Seiten angebraten wurden. »Auf dem Dachboden!!!« Ron schrie förmlich diese drei Worte. »Auf dem Dachboden, da kann das Buch nur sein. Verdammt, nochmal, ja.« Mitten im Broteschmieren ließ er das Messer fallen, sprintete die Stufen hoch zur ersten Etage und noch eine weiter, bis er vor der grob gezimmerten Tür zum ›allgemeinen unvermeidlichen Abstellraum der ameri kanischen Mittelschichtler‹ stand, dem Dachboden. Die Treppen war er noch hochgerannt, aber jetzt setzte er ganz vorsichtig, beinahe ehrfurchtsvoll, seinen Fuß durch die Tür, die sich laut knarrend öffnen ließ. Langsam, als würde er unbekanntes Terrain erkunden, betrat er den großen Raum unter dem Dach. Er hatte sich auf einen düsteren Raum vorbereitet und war überrascht, wie die sehr tief stehende Abendsonne durch das runde Giebelfenster den Raum durchflutete. Eine seltsame Atmosphäre warmer Lichttöne bot sich seinen Augen. Kein noch so kleines Spinnennetz blieb unsichtbar. Von Rons Bewegungen verursacht, tanzten Millionen aufgewirbelter Staubkörnchen einen chaotischen Tanz durch den Raum, schienen sich alle ins schmale Band des Lichts drängen zu wollen. Kein Bühnenbildner hätte eine zauberhaftere Stimmung schaffen können. Ron war gefangen von diesem Eindruck. Mein Gott, was hier alles aufbewahrt wurde, dach te Ron, das müssen Hunderte große und kleine Dinge sein. Dinge, die sich in dieser Unmenge nur über vie 139
le Generationen ansammeln lassen. Aber war es ein Wunder? Das Haus stammte schließlich aus der Zeit der ersten Ansiedlung, war eines der ersten Häuser in Camden. Er erkannte Teile seiner Eisenbahn ge nauso wie den von seinem Grandpa so geliebten Schaukelstuhl. Unter den Dachsparren baumelte, an Seilen befestigt, Bobs altes Surfbrett - jede Menge teils verhüllter Möbel, viele, die er gar nicht kannte, alte vorsintflutliche Weihnachtsdekorationen - und - und - und. Es gab so viel zu entdecken, man könnte hier stundenlang herumstöbern. Aber er suchte ja etwas ganz Bestimmtes. Nicht, daß er genau sagen konnte, was, aber auf jeden Fall würde es etwas sehr Altes sein müssen und einen Hinweis geben können auf Bücher, Briefe oder sonstwie Geschriebenes. Von links nach rechts schauend und alle Ecken und Winkel absuchend, bewegte er sich über den Dachboden. Er mußte sich ständig bücken, um nicht unangenehme Spinnweben ins Gesicht zu bekommen. Auch die seitlich einfallende Abendsonne durchwan derte, wenn auch sehr langsam, den Raum, brachte ihre Helligkeit in alle noch so dunklen Nischen. Hier auf Entdeckungstour zu gehen machte einfach Spaß und war gleichzeitig spannend. Plötzlich entdeckte er etwas, das sein Interesse weckte. Unter einem Stapel alter Wall-Street-Journale, lugte der seitliche Teil einer alten, mit Metallnieten beschla genen Kiste hervor. Nur noch mühsam ließen sich auf der Schmalseite der Kiste die Worte ›US Army‹ lesen. 140
Ron spürte, wie sein Herz schneller schlug. War er auf Ururgroßvaters Army-Kiste gestoßen? Mit einem kräftigen Stoß schubste er die Zeitschriften von ihrer Unterlage und zog die Kiste etwas mehr in die Mitte des Raumes. Jetzt stand sie voll im staub durchwirkten Sonnenlicht. ›6th Cavalry, 1880‹ stand verschnörkelt, aber gut lesbar auf dem Deckel. »Das ist es, das kann es nur sein, wonach ich suche, bestimmt. Mann, da wird doch der Hase in der Pfanne verrückt, ich hab’s gefunden... oh Miiist«, schrie Ron auf einmal erschrocken auf, »oh Miiist, meine Eier!« Zwei Minuten später war er wieder oben, stand auf geregt vor der alten Soldatenkiste. Der Herd war ausge schaltet, das Fenster aufgemacht und das, was einmal gebratene Eier hatten werden sollen, im Mülleimer. Etwas essen - jetzt? Quatsch, dafür war in diesem Augenblick wirklich keine Zeit. Er kniete sich vor der alten, koffergroßen ArmyKiste nieder, betrachtete sie von allen Seiten. Es war anscheinend eine jener Standardkisten für private Dinge des Soldaten, wie sie zur Ausrüstung eines jeden Kavalleristen im Westen der damaligen Zeit ge hörte. Schäbig sah sie aus, viele Kratz-, Schnitt-, und Trittspuren waren zu sehen, die Eisenbeschläge zeigten Rost, und die zwei Schlösser mußten wohl defekt sein. Warum sonst waren zwei kräftige Ledergürtel um die Kiste geschnürt. »Wird sicher niemand etwas dagegen haben, wenn ich sie öffne«, murmelte er, löste die Gurte und klappte 141
den Deckel der Kiste so weit nach hinten, bis dieser offen stehenblieb. Zum Vorschein kam erst einmal ein grobleiniger Wäschesack, der die ganze Kiste ausfüllte und mit Schnüren wie ein Turnbeutel zusammengezogen war. Ron zog die Öffnung weit auseinander und blickte vor sichtig hinein. »Wouw«, zischte es aus Rons Mund, »ist ja irre.« Dann holte er einen Colt heraus: ›New Model Army / 1858‹ las er in eingravierten Buchstaben auf dem Lauf. Mann, ein echter Remington, staunte er, wenn Vater sich dessen bewußt wäre, was manche Sammler für solch ein Teil hinblättern würden, den Colt hätte er bestimmt schon zu Geld gemacht. Hey, sah der gepflegt aus. Großvater mußte ihn bis zu seinem Unfall regelmäßig gereinigt und geölt haben. Dann kam ein Army-Hemd zum Vorschein, danach eine Art Notkochgeschirr, ein Messer und vier kleine gerahmte Bilder. Oh, staunte Ron, sogar eine Schachtel Patronen. Wahrscheinlich könnte man mit dem Remington im Garten jetzt eine kleine Schießübung veranstalten. Nachdem er die Patronenschachtel zum Colt gelegt hatte, schaute er wieder in den Stoffbeutel, und schließlich sah er es: ein in rotbraunes Leder eingebundenes, zwei Zentimeter dickes Tagebuch kam zum Vorschein. Er war sich sicher: ja, das war es. Daraus hatte Grandpa vorgelesen. Zufrieden klappte er die entleerte Kiste zu und setzte sich darauf. Ganz vorsichtig öffnete er das Buch. Auf der dritten Seite las er in großen Buchstaben: 142
DIARY / 1881. Etwas tiefer stand dann sehr ordentlich in blauer Tinte geschrieben: ›Soldier Ore Peterson, 6th U.S. Cavalry‹. Stimmt, genau das war der Name, das war sein Ururgroßvater, der alte Schwede. Hey, Schwede? lächelte Ron, Lisa ist auch aus Schweden, toll. Er betrachtete das Tagebuch voller Respekt von allen Seiten. Dabei wurde es ihm immer vertrauter, in genau diesem Buch hatte er vor vielen Jahren das eigenwilli ge Zeichen gesehen. Das war ihm jetzt klar geworden, nur - auf welcher Seite? Er drehte sich etwas seitlich, hielt das Tagebuch so, daß das Licht der Sonne auf die Seiten fiel. Vorsichtig begann er zu blättern. »Mann, ich hatte recht - da ist es - unser Zeichen!« Wie gefangen starrte er auf die Skizze, die von hand schriftlichen Texten umgeben, deutlich das Symbol zeigte, als wäre es exakt dem norwegischen Banner entnommen. »Das gibt es nicht«, kratzte er sich hin term Ohr, »das ist wirklich exakt dasselbe Zeichen wie das der Norweger oder wie das aus dem ›Buch über die rätselhaften Kornkreise in Südengland‹. Darunter las er die Worte ›Niman‹ und ›Niemand‹ - und dahinter standen drei Fragezeichen.« Ihm fielen Lisa, Bella, Prof. McHolis und auch Silka, die freundliche Norwegerin, ein, und wie sie ge meinsam in Birmingham über dieses Zeichen diskutiert hatten. Jetzt will ich aber wissen, wie dieses Symbol in Petersons Tagebuch gekommen ist, überlegte er und blätterte zurück, bis er den Anfang der Eintragung ge 143
funden hatte, zu der diese Zeichnung gemacht worden war. Ron holte tief Luft, dann begann er zu lesen: 4. Nov. 1881. Fort Thomas, Bundesterritorium Arizona. Sechs Tage schon verfolgen wir nun die Spur der Chiricahua-Apachen, die für die Überfälle auf ver schiedene Siedlungen verantwortlich waren. Ihre Stärke wird auf über hundert Mann geschätzt, alle bis an die Zähne bewaffnet, erzählt man in den Unterkünften des Fort Thomas. Gottseidank wird in diesen Erzählungen immer maßlos übertrieben. Seit die Chiricahuas vor zwei Monaten mit ihrem Führern Gerinomo und Naiche, einem Sohn des großen Cochise, aus der San Carlos-Reservation ausgebrochen sind, führen sie ei nen grausamen Krieg gegen die Kavallerie der U.S. Army wie auch gegen alle Siedler und Rancher in Arizona, New Mexico und Texas. Die Indianer, die wir jetzt verfolgen, sollen zu einer abgesplitterten Gruppe dieser Aufständischen gehören, angeführt von Naiche. Schon seit dem frühen Morgen sitzen wir im Sattel. Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel, und die nächste Rast ist erst am Fuße der Stephen-Butte-Berge vorgesehen. Einen Mann haben wir verloren, als sein Pferd vor einer Klapperschlange scheute und er so unglücklich auf einen Stein stürzte, daß er sich dabei das Genick brach. Der arme Teufel war sofort tot. Wir haben ihn an Ort und Stelle begraben. Von Fort Thomas aus sind wir vor Tagen aufgebro chen, campieren seit jener Zeit unter freiem Himmel und bewegen uns von Tag zu Tag immer weiter in nörd 144
licher Richtung. Obwohl die Apachen normalerweise nicht in das Gebiet der Navajos und der Hopi eindrin gen, gibt es Berichte über Zusammenstöße zwischen Navajos und Apachen in diesem Gebiet. Also wurden wir hierher in Marsch gesetzt. Wir werden im Bereich der Mesas, den steil auf ragenden Tafelbergen, im Nordosten Arizonas nach Spuren der Apachen suchen. Mit den hier leben den Navajos und Hopi-Indianern haben wir kaum Probleme. Dafür mit den Apachen um so mehr. Ob unter Cochise, Geronimo oder wie jetzt unter Naiche, alle ließen sie sich aufwiegeln von diesen streitbaren Führern, machten Ärger. Gegen späten Nachmittag erreichen wir Oraibi, eine der alten Siedlungen der Hopi-Indianer. Auf Befehl unseres kommandierenden Offiziers lagern wir einige hundert Meter von ihren Pueblos entfernt. Diese Art Häuser habe ich vormals noch nie gesehen. Ich kannte die Tipis der Prärieindianer, die sechseckigen Hogans der Navajos, aber diese interessanten, mehrstöckig an gelegten Häuser, hoch auf den Mesas gelegen, sind doch sehr ungewöhnlich. Unterscheiden sich die Hopi denn auch in anderen Dingen von den übrigen Indianern, die ich kenne? Auf jeden Fall sind sie sehr freundlich. Sie bringen uns aus Mais gefertigte Lebensmittel und gedörrtes Fleisch, was als Reiseproviant sehr willkom men ist. Ansonsten jedoch habe ich das Gefühl, daß sie sehr darauf achten, daß wir ja nicht zu nahe an ihre Pueblos herankommen oder aber den Bereich ihres heiligen 145
Zentrums betreten, der unweit Oraibi liegt. Unser Lieutenant hat während des Morgenappells sogar noch mals besonders darauf hingewiesen, daß laut Befehl des neuen Kommandeurs des Departments, General Crooks, jegliche Zudringlichkeit und Aggression ge genüber den Hopi-Indianern strikt zu unterbleiben habe. Derlei Übergriffe, wie sie sonst von Soldaten der Army gegen andere Stämme vorkommen, würde in die sem Fall rigoros und sehr hart bestraft werden. Am frühen Abend kommen Kameraden von einer Erkundungspatrouille zurück. Sie berichten, daß ein halbes Dutzend aufgebrachter Indianer auf sie zuge kommen und eine bedrohliche Haltung eingenommen hätten, als sie sich Tukunavi, dem heiligen Ort der Hopi genähert hatten. Nach den Erzählungen der Soldaten scheint es so, als dürfe absolut kein Fremder dieses Tukunavi betreten. Es war kurz nach Einbruch der Dunkelheit, als ich von zwei Kameraden überredet wurde, mit ihnen zu diesem bewachten Ort bei Oraibi zu schleichen. Warum tun die Hopi so geheimnisvoll, fragen wir uns, hielten sie dort am Ende gar die gesuchten Apachen versteckt? Was wissen wir einfache Soldaten denn vom Hass oder der Freundschaft unter den Stämmen? Immerhin gehö ren auch zwei Apache-Scouts zu unserem Trupp. Ohne ihre Hilfe würden wir die Chiricahuas sicherlich nie finden. Oder vielleicht gerade deswegen nicht? Wir malen uns aus, wie wir gefeiert, ja vielleicht sogar befördert würden, sollten wir gerade hier die verfolgten Rothäute aufstöbern. 146
Außer den Wachen hat der Rest der Soldaten am Abend frei bekommen, soll sich aber nicht vom Lager entfernen. Während sie und die Scouts sich am Lagerfeuer von den Strapazen des heißen und staubi gen Tages erholen, Briefe schreiben oder die eine oder andere Flasche Whiskey kreisen lassen, versuchen wir drei uns so unauffällig wie möglich aus dem Lager zu schleichen. Nach wenigen Metern sind wir an den Wachen vor bei, und machen uns, im Schütze der Dämmerung, auf den Weg zu den Hopi-Behausungen. Noch aus der Ferne hören wir die Gespräche und das Lachen der Kameraden, untermalt vom Prasseln der Feuerstellen. Als wir uns einige Minuten später den Pueblos nä hern, bemerken wir, daß trotz der einbrechenden Dun kelheit nicht ein einziges Licht im gesamten Pueblo flackert. Geduckt laufen wir, immer auf Deckung ach tend, auf die Nordseite des großen, aus Adobe-Ziegeln gefertigten Bauwerks. Hier sehen wir Leitern, welche versetzt zu den einzel nen übereinander gebauten Lehmhäusern stehen und so erst ein Hinaufklettern möglich machen. Seltsam ist nur: an den Leitern stehen je links und rechts kräftige junge Hopi-Männer, bewaffnet mit Gewehren. Es wundert uns, da man doch allgemein weiß, daß dieser Stamm als äußerst friedfertig gilt. Jedenfalls entscheiden wir uns erst mal dafür in unserem Versteck zu bleiben und herauszufinden, was deren Vorsichts maßnahmen wohl zu bedeuten haben. Sind dort oben 147
vielleicht die Apachen versteckt? Plötzlich erscheint ein sehr alter Indianer an der untersten Leiter, begleitet von einem Fackelträger. Beide klettern die Leitern hoch. Als sie beim obersten Gebäude angekommen sind, werden sofort die unteren Leitern hoch gezogen, die Wachen aber verlassen ihren Platz dennoch nicht. Wir warten ab und beobachten, was weiter ge schieht. Dann öffnet sich eine Tür und zwei weitere Indianer erscheinen. Wir können hören, was sie reden, aber nur die Worte ›Niemand‹ oder ›Niman‹ verstehen. Sie sprechen ziemlich laut, vielleicht ist einer von ihnen schwerhörig. Als sie im Haus verschwinden, bleibt der Fackelträger draußen und steckt die Fackel in eine da für vorgesehene Halterung an der Wand, gleich neben dem Eingang. Durch das Licht sehen wir eine seltsame Wandzeich nung, Kreise und Ringe, die miteinander verbunden sind. Ich nehme mein Notizbuch heraus, um mir die Wand zeichnung abzumalen. Solch ein Zeichen habe ich während meiner ganzen zweijährigen Zugehörigkeit zur Army noch nie gesehen, weder bei den Indianern im Osten noch bei den Stämmen des Westens der Ver einigten Staaten. In dem Augenblick, da ich mein Notizheft wegstecke, durchtrennt ein lautes Trompetensignal die abendliche Stille. Uns bleibt keine Wahl, wir müssen sofort zurück, denn das Signal bedeutet: sofortiger Aufbruch. 148
Stunden später, wieder im Sattel und längst herunter von der Mesa, erfahren wir, daß ein Kurier ins Lager gekommen war mit der Nachricht, weiter südlich sei in den Mittagsstunden eine Ranch von Apachen über fallen worden, und der Beschreibung nach mußten es Naiches Leute gewesen sein. Wir reiten die ganze Nacht, begleitet nur vom Mond, der so viel sieht und doch nichts verrät. Auf Apachen sind wir aber nicht mehr gestoßen. Seit ich das Zeichen an der Pueblo-Wand gesehen habe, zerbreche ich mir den Kopf, was die Hopi da wohl so streng bewachten? Und was bedeutet ›Niman‹? Irgendwann, da bin ich mir sicher, werde ich es her auszubekommen. Daß es Apachen waren, die sich dort versteckt hielten, daran glaube ich nun wirklich nicht mehr...
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Nachdenklich klappte Ron das Tagebuch zu, zu mal an dieser Stelle auch der Bericht bezüglich des Zeichens beendet zu sein schien. Jetzt erst bemerkte er, wie schummrig es mittlerweile auf den Dachboden geworden war. »Das Buch behalt’ ich erst mal«, flüsterte er, noch ganz unter dem Eindruck des Erlebnisberichtes seines Ururgroßvaters, »so geheimnisvoll und doch so leben dig erzählt. Dabei ist das alles schon fast 120 Jahre her, oh Mann. Und die Zeit damals war sicher alles andere als Honigschlecken.« Nacheinander verstaute er die übrigen Dinge wieder im Beutel der Kiste, obwohl er den Colt sicher gerne an sich genommen hätte, weil... »Ron, bist du da oben«, erschallte eine freundliche Männerstimme aus der unteren Etage die Treppe hoch, »sag, bist du oben?« »Hey, Dad, warte, ich komme, Moment noch.« Die Kiste wurde wieder an ihren Platz geschoben, die Tür zum Dachboden geschlossen und runter die Treppe. Unten angekommen, fielen sich Vater und Sohn in die Arme, klopften sich freundschaftlich auf die Schul tern, freuten sich über das Wiedersehen. »Wie lange wartest du denn schon, Junge? Warum hast du mich denn nicht im Büro angerufen, dann wäre ich doch schon früher gekommen, na, egal«, Ben Millar schaute sich den Sohn lange an, ehrliche Wiedersehensfreude war in seinen Augen zu sehen, und ohne, daß Ron etwas sagen konnte, »sag’ Junge, 150
hast du schon gegessen? Nein? Okay, dann mache ich einen Vorschlag: wir gehen essen.« Essen, genau das war das Stichwort, und der Vorschlag kam wie gerufen. »Prima, Dad, tolle Idee - und wann?« »Na, von mir aus sofort. Ich habe nämlich auch noch nichts gegessen«, er sah das Buch unter Rons Arm, »hast du gerade gelesen?« Ron stotterte ein wenig: »Gelesen? Nein, ja, das heißt, eigentlich nur ein wenig drin rumgeblättert.« »Ist auch egal, komm wir fahren. Am Hafen gibt es ein neues, ganz tolles Lokal. Das werden wir jetzt aus probieren. Einverstanden?« Sein Sohn nickte, wußte im Augenblick nicht so richtig wohin mit dem Buch - natürlich: in den Käfer. Sie verließen das Haus, und bevor er in den Mercedes seines Vaters stieg, landete das Tagebuch auf dem Beifahrersitz seines Autos. Wie es der Zufall wollte, schlug sich durch den Schwung des Aufpralls, das Buch des Kavalleristen Ore Peterson genau so auf, daß die Seite mit dem ›Symbol‹ nach oben zeigte. Ron sah es, machte ein erstauntes Gesicht, welch’ lustiger Zufall, dachte er, oder war es kein Zufall? »Oh, bitte nicht«, raunte Ben, als er seine Nachbarin die Auffahrt heraufkommen sah, »die hat mir gerade noch gefehlt.« Schon fast im Wagen, hielt Ron inne, schaute zur Straße herunter. Es war die alte Benson. Sie wohnte schon im Haus nebenan, als er noch gar nicht geboren war. Sie war eine etwas schrullige, aber liebenswerte 151
Dame, die, ohne es vielleicht zu wissen, eine Krähe auf ihrem Dachboden beherbergte. »Ronny-Boy, warte mal«, zitterte eine Stimme an sein Ohr. Mann, wie haßte er diesen Namen, aber glücklicherweise nannte ihn nur die alte Benson so. »Ja, hallo, Mrs. Benson, wie geht es Ihnen?« »Gut mein Junge, gut.« Sie war bis an den Wagen gekommen, stand jetzt vor Ron, »Hör’ mal, Ronny«, lächelte sie ihn an. Aber eigentlich lächelte sie immer. Jedenfalls, so sagten einmal seine Eltern, zumindest, seitdem ihr Mann gestorben war. »Hör’ mal«, wieder holte sie, ließ sich nicht von Bens drängendem Klopfen aufs Wagendach beeindrucken, »hat dich der Mann schon erreicht?« »Mann? Was für ein Mann, Mrs. Benson«, fragte Ron neugierig. Die Alte blinzelte zu Ron hoch: »Nun, was soll ich sagen, es war ein sehr gut gekleideter Mann. Nicht jung, aber auch nicht alt.« Es klickte nicht bei Millar Junior. Ehemalige Mit schüler? Lehrer? Freunde? Jemand vom Sport? Keine Idee, wer es gewesen sein könnte. »Und was wollte er?« »Das hat er mir nicht sagen wollen, Ronny-Boy, ob wohl ich ihn sehr darum gebeten habe. Nein, er wollte nur wissen, ob du da in dem Haus wohnst, und wann du wieder da wärst.« »Und was haben Sie geantwortet?« »Nichts. Ich wußte doch nicht, wann du wieder kommst.« Mrs. Benson schaute drein, als wolle sie sich 152
für ihre Unwissenheit im nächsten Moment entschuldi gen, »ich wußte es doch nicht. Der Mann war sehr nett. Aber er war nicht aus Camden, oder von der Ostküste. Das konnte ich an seiner Stimme hören.« »Ja, sehr lieb, daß Sie uns das erzählt haben, liebe Mrs. Benson, aber, wir müssen jetzt wirklich los. Sie se hen doch...«, drängte sich Rons Vater in das Gespräch, »wir haben noch einen wichtigen Termin. Wenn sie uns jetzt entschuldigen. Danke. Ach, übrigens: meine Frau sagte, Sie hätten noch einen Kellerschlüssel zu unserem Haus, für Notfälle. Den hätte ich gelegentlich gerne zurück, okay?« Dann stieg er ins Auto, ohne sich weiter um die alte Dame zu kümmern. »Wollte er noch einmal wiederkommen, Mrs. Ben son?« fragte Ron. Aber die Nachbarin war schon einige Schritte gegan gen, schüttelte den Kopf, drehte sich dann nochmals um: »Ein gut gekleideter Mann mit einem lustigen Haarzopf. Übrigens wollte er wissen, ob du noch im mer deinen alten Renault fährst? Ich sagte, du würdest nur VW-Käfer fahren, und du würdest niemand anderen mit deinem Wagen fahren lassen. Stimmt doch, oder?« Als sie etwas später auf dem Parkplatz vor dem Camden Harbour Inn hielten, grübelte Ron immer noch über den Fremden nach, der Mrs. Benson ange sprochen hatte. Und wieso Renault? Ich habe nie einen Renault gefahren. Seltsam - der Mann. Mittlerweile war die Sonne hinter den Bergen ver schwunden, und schnell setzte die Dämmerung ein. 153
Aber die Temperatur war immer noch sehr hoch, so daß in Camden auch an diesem frühen Abend noch mächtig viel Volk auf den Beinen war. »Was glaubst du, Junge, was das für ein Angelwo chenende gibt. Das Wetter soll ja so prächtig bleiben. Was ist? Hättest du Lust mal mit rauszufahren?« Ron überlegte. Wollte er nicht sowieso mit Vater über die Familie reden. Vielleicht wäre ein gemeinsa mer Angelausflug keine schlechte Idee. »Gerne. Aber du weißt, daß ich vom Fischen keine Ahnung habe. Du weißt, auf was du dich da einläßt«, versuchte er lachend seinen alten Herrn zu warnen. Der schaute schmunzelnd seinen Sohn an, wurde dann aber ernster: »Weißt du, laß es mich so sagen: ich würde liebend gerne einmal mit jemanden aus der Familie ein Wochenende verbringen. Zum Fischen ge hen oder vielleicht auch nur Ausflüge in die Natur ma chen. Ist doch egal, ob ihr etwas vom Fischen versteht oder nicht.« Beide standen sie sich gegenüber, jeder an einer Seite des Wagens. Sie stützten sich auf dem Dach ab, schauten einander an, schwiegen. »Wenn das so ist, dann geh’n wir halt fischen«, be endete Ron die wortlosen Sekunden. »Genau, mein Junge. Und jetzt lassen wir es uns schmecken. Ich lade dich ein, und du erzählst mir, was du so in Europa gemacht hast.« Das Restaurant hatte wirklich einiges zu bieten. Nur gut, daß Vater von unterwegs einen Tisch bestellt hatte, war Ron froh, aber was ihn viel mehr beschäf 154
tigte, war, wer sich nach ihm erkundigt hatte. Bei der Beschreibung ›gutgekleidet‹ und ›Haarzopf‹ fiel ihm spontan nur eine Person ein, aber die hier, das war un möglich. »Dad, hör’ mal, in ein paar Tagen bekomme ich Besuch aus Schweden.« »Aus Schweden? Ein Freund?« »Ja, - eine junge Frau, Lisa Borgdal. Ich habe sie in Birmingham kennengelernt und eingeladen, bei uns den ›Indian Summer‹ und das ›Halloween‹ kennenzu lernen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn sie in Gingers Zimmer wohnt, solange sie hier ist.« »Wie sollte ich, natürlich kann sie bei uns wohnen«, reagierte Ben sichtlich erfreut. Bei uns? - sagte Dad ›bei uns‹? Ron stutzte ›uns‹ bedeutet doch ›mehrere‹, war eine Familie, waren Eltern und Geschwister, wie auch immer. Aber in der momentanen Situation gab es kein ›uns‹ im Haus. Genau deswegen wollte er mit Angeln fahren. Es muß, ganz gleich wie, wieder ein neues UNS und ein WIR im schönen, alten Haus mit dem ganz privaten Indian Summer geben.
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22. Oktober ’98
Bairds Mountains Observatorium / Alaska it einstündiger Verspätung landete die Transport maschine in Kotzebue, dem Städtchen am Rande der Beringstraße. Schuld daran war ein Unwetter über dem Golf von Alaska. In der nur mäßig mit Menschen gefüllten Wartehalle des kleinen Flughafens wartete Dr. Nicole Samisse auf die Ankunft ihres Chefs. Vor vier Tagen war er aus Tucson telefonisch auf gefordert worden, mit der nächsten Maschine zum Carson Peak Observatorium nach Arizona zu kommen, um sich mit Prof. Brauner und anderen Mond- und Weltraumexperten zu treffen. Die Einladung erfolgte keine zwei Stunden, nachdem sie ihr Beobachtungs material über die Mondblitze via Datentransfer nach Tucson geschickt hatten. Prof. Brauner und seine Mitarbeiter dort schienen doch sehr beunruhigt über diese Aufzeichnungen zu sein. An seiner Jacke mit der Fellbesatzkapuze erkann te sie Dr. Wesley schon von weitem zwischen den wenigen anderen Passagieren, die ebenfalls mit der Maschine gekommen waren. Transportflugzeuge waren in dieser rauhen Wildnis oft die einzige Ver kehrsverbindung zwischen den weitverstreuten Sied lungen und Beobachtungsstationen. Da es am BMO selbst für Hubschrauber schwierig war, zu landen, wurden Personen, Geräte oder auch Proviant mit Hundeschlitten, Kettenfahrzeugen oder mit Samisses kräftigem Rover von Kotzebue bis hoch ins Gebirge
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transportiert, vorausgesetzt, die Schneehöhe erlaubte es. Auch Wesley hatte sie sofort entdeckt. Er kam flotten Schrittes auf sie zu, in der einen Hand sein leichtes Handgepäck, in der anderen Hand ein in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen. »Das ist für meine fähigste Mitarbeiterin«, lächelte er und reichte das Eingepackte an Samisse. »Für mich?« »Aber ja, du sagtest doch, wenn ich im warmen Arizona bin, soll ich von dort irgendeine Kleinigkeit mitbringen, die uns ständig an den warmen Süden erin nern soll, wenn es bei uns am Observatorium wieder so richtig klirrt vor Kälte, stimmt’s?« »Stimmt«, erwiderte sie, nahm das Geschenk in die Hand und versuchte, an Hand des Gewichts den Inhalt zu erraten. »Oh, wie leicht es ist«, staunte sie. Sie gingen zum Rover, der draußen, unweit des Terminals geparkt war. Er war schon von einer fei nen Schneeschicht bedeckt. Ein kleiner Schauer hatte sich wohl vom Sturm über dem Golf hierher verirrt. Die hundertvierzig Meilen Rückfahrt vom Flugplatz zum Observatorium traute sich Samisse mit dem vierradangetriebenen Rover allemal zu, obwohl die Wettervorhersage Schneefälle für die höheren Lagen vorausgesagt hatte. Hauptsache, sie kamen noch vor Einbruch der Dunkelheit dort oben an. Für die Herfahrt hatte sie drei Stunden benötigt, etwas länger würde es nun sicher dauern, da waren sie sich einig. »Wie war es in Tucson?« wollte sie schon nach 157
wenigen Minuten Fahrt wissen. Die Neugierde war einfach zu groß. »Nicole, du hast ja noch nicht mal das Geschenk ausgepackt. Willst du gar nicht wissen, was drin ist?« »Schon, Curt, aber jetzt beim Fahren geht es wohl schlecht. Ich packe es nachher im Center aus, nicht böse sein. Herzlichen Dank trotzdem. Aber sag’ schon, warum haben die dich nach Arizona geholt? Ich meine, schließlich ist es ja ’ne ordentliche Entfernung. Und in vierzehn Tagen habt ihr dort doch sowieso eure routi nemäßige Besprechung der NASA.« »Ja, aber dies war eine Zusammenkunft aus beson derem Anlaß«, erklärte Wesley, »sogar ein Berater des Präsidenten war anwesend.« »Des Präsidenten der Vereinigten Staaten?« »Genau. Aber eigentlich dürfte ich dir davon gar nicht erzählen, verstehst du?« Samisse schaute ihn an, zog die Augenbrauen zusam men: »Typisch für die Wichtigtuer aus Washington«, grollte sie, »es geht um unsere Beobachtungen der Blitze von der Mondrückseite, richtig? Komm sag’ schon.« Dabei stieß sie ihren Beifahrer mit dem Ellenbogen sanft in die Seite, »Nun, was ist?« Wesley nickte kurz, holte tief Luft: »Okay, ja, du vermutest richtig. Genau deswegen war ich da.« Die zwei Wissenschaftler schauten einander an. War das ein Triumphgefühl, was beide den Augen des ande ren abzulesen glaubten? Die Fahrt verlief ruhig und ohne Hindernisse. Die festgefahrene Schneedecke machte dem Rover keine 158
Probleme. Wesley spürte, wie seine Mitarbeiterin zu ihm herüberschaute. Ihre Augen schienen Fragen stel len zu wollen. Er war unsicher. Wieviel durfte er seiner Mitarbeiterin über den Inhalt des Treffens mitteilen? Letztendlich aber, um die lange Autofahrt abzukürzen, und weil Samisse doch nicht locker lassen würde, be gann er zu erzählen: »Nun gut, Nicole, ich bitte dich aber, diese Informa tionen für dich zu behalten. Auch Pat gegenüber, okay? So, also ich wurde dort schon am Flughafen von Prof. Brauner empfangen, erst ins Hotel begleitet, dann, eine Stunde später, von dort abgeholt. Und zusammen mit ihm ging es direkt zum Carson Peak Observatorium. In einem kleinen Raum fand die Besprechung statt. Außer Prof. Brauner kannte ich keinen von den üb rigen sechs anwesenden Herren. Prof. Brauner hieß uns willkommen und stellte jeden einzelnen von uns vor. Da waren Mel Harris, der Sicherheitsberater des Präsidenten, ein General namens Phil Mantana von der Wright-Patterson Airbase aus Dayton/Ohio, William Cohen vom SETI Projekt, ein weiterer NASAMitarbeiter und schließlich zwei weitere Herren, deren Anwesenheit mich doch sehr stutzig machte. Der eine war Colonel Pat Grant von der NSA, dem supergehei men Sicherheitsdienst der USA und der andere, Peter Hines, war Mitarbeiter einer ›UFO-Arbeitsgruppe‹ in nerhalb des Nachrichtendienstes der Landesverteidi gung, kurz CIA genannt.« »Höre ich richtig, UFO-Arbeitsgruppe«, fiel Samisse ihm ins Wort, »was machten UFO-Heinis denn da mit 159
am Tisch?« Langsam drehte Wesley seinen Kopf wieder nach vorne, starrte auf die autoleere Straße, schien einen Augenblick lang den Himmel zu beobachten, um dann wieder Samisse anzuschauen: »Sagen dir die Begriffe ›BLUE BOOK, MAJESTIC 12 oder AREA 51, bzw. DREAMLAND‹ etwas? Gehört hast du sicher schon davon, geglaubt an all das Erzählte wohl weniger, genau wie ich. Bei all dem geht es um Kontakte mit Außerirdischen, um Sichtungen, Abstürze von deren Fluggeräten und gar um die Existenz solcher Aliens auf der Erde.« »UFOs?« wiederholte sie, »du willst mir weißma chen, unsere Lichtblitze hätten etwas mit UFOs zu tun?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Sicher, immer wieder hörte oder las man von Beobachtungen derlei Himmelserscheinungen, aber letztlich klärte sich doch alles irgendwie als ›irdisch‹ auf, »ich meine, sicher habe ich auch diesen Quatsch unterschreiben müssen, als ich mich hier zum BMO habe versetzen lassen, die sen UFO- und Phänomenenpassus.« »Ich weiß«, antwortete Wesley, lächelte seine leicht erregte Fahrerin an, »ich weiß, und trotzdem scheint es so zu sein.« Samisse mußte scharf bremsen, weil in einer Kurve ein dicker Baumast einen Teil der Fahrbahn versperrte. Nachdem sie wieder hochgeschaltet hatte, und das alte Fahrtempo erreichte, blickte sie ihren Vorgesetzten an: »Und, weiter? Was geschah weiter?« »Nachdem Prof. Brauner uns den Grund unseres 160
Treffens erklärt hatte, sprach der Berater des Präsi denten einige Worte, ließ anschließend unsere, aber auch die Aufzeichnungen anderer Observatorien, nochmals vorführen und bat dann General Montana um eine Stellungnahme. Montana, so erfuhr ich, hat auch Zugang zur wohl abgeschirmtesten Airbase des Landes, der Area 51, auch Dreamland genannt. Auf diesem, rund neunzig Meilen nordwestlich von Las Vegas gelegenen Luftwaffen- und Atomtestgelände mit dem streng gesperrten Luftraum darüber werden Testflüge neuentwickelter Flugzeuge, wie dem StealthBomber durchgeführt. Nach Zeugenaussagen sollen zu neugierige Piloten mit ihren Maschinen dort schon abgeschossen worden sein. Aber, wie man ja allge mein vermutet, sollen hier auch die Beweise für den ROSWELL-Absturz vom Juli ’47 liegen.« »Munkelt man«, ergänzte Samisse. »Ja, munkelt man. Richtig, Nicole. Aber leider, so habe ich dort erfahren, ist dort mehr dran, als nur Gemunkel. Es scheint, als habe die Regierung dort tatsächlich schon mit Außerirdischen Kontakt gehabt. Jedenfalls berichtete Montana, als sie damals in den 50er Jahren diese Begegnungen hatten, gingen diesen auch einige Mondblitze voraus. Er befürchtet nun, daß, wer auch immer wieder die Erde besuchen will, man sich für das aggressive Vorgehen der Militärs von da mals auf der Wright Patterson Airbase rächen könnte und man doch unbedingt darauf vorbereitet sein soll te.« Sie schaute ungläubig herüber: »Was, der sprach von 161
einem Angriff aus dem All, ja ist der denn noch normal? Ein Krieg mit E.T.s, ich glaube es nicht.« Sie stieg auf die Bremse, steuerte den Rover an den Straßenrand und hielt. Dann schaute sie den überraschten Wesley an: »Sag jetzt nicht, eine Invasion von grünen Männchen steht bevor?« Er hob die Hände, wollte beschwichtigen, wiegelte ab: »Nein, nein, natürlich nicht. Zumindest glauben wir anderen nicht daran. Auf alle Fälle wollen wir das Phänomen im Auge behalten, auch hinsichtlich der Äußerungen von William Cohen. Du weißt, der SETIMitarbeiter.« »Welche Äußerungen, Curt? Hat der sich auch zu den Mondblitzen geäußert?« »Nun, Cohen ist nicht nur einer, der in die Tiefe des Alls horcht, um Signale anderer Intelligenzen aufzu spüren. Er befaßt sich auch mit Aufzeichnungen längst untergegangener Kulturen und deren Mythenbildung in Bezug auf Himmelserscheinungen. Und er hat, so seltsam es klingen mag, Parallelen zum Untergang ei nes Volkes vor knapp 10.000 Jahren zusammengestellt, der auch durch zunehmende Lichtblitze auf dem Mond angekündigt zu sein schien.« »Du sprichst doch nicht etwa von Atlantis? Also wirk lich, gab es denn auch rationale Erklärungsversuche für die Blitze?« »Na klar. Von den NASA-Leuten, Brauner und sei nem Mitarbeiter. Übrigens«, dabei deutete er auf die Straße, »sollten wir weiterfahren, bevor wir noch in die Dunkelheit geraten. So, jedenfalls, kurz gesagt: wir alle 162
werden das Mondblitzen im Auge behalten. Und die beiden Militärs General Montana und Colonel Grant er wogen, wie könnte es anders sein, militärische Schritte zu ergreifen, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Für uns bedeutet es, den Mond rund um die Uhr zu beobachten sowie stündlichen Info-Austausch mit Tucson zu halten. Bei schlechtem Wetter übernehmen andere Observatorien, die zugeschaltet werden, unse re Aufgaben. Notwendigerweise steht uns sogar das Hubble-Teleskop im All zur Verfügung.« »Das Hubble? Das ist enorm. Die NASAVerantwortlichen scheinen unsere Beobachtungen ja tatsächlich ernst zu nehmen.« Samisse war wieder angefahren. Zum Glück war die Strecke auch hier in den höheren Lagen noch ohne Neuschnee, obwohl der Wetterbericht etwas anderes vorhergesagt hatte. So hoffte sie, in einer guten Stunde das BMO zu erreichen. Während Wesley sich mit einem zufriedenen Lächeln zu einem kleinen Nickerchen zurücklehnte, grübelte sie über seine Worte nach. Eigentlich fand sie ihren Chef ganz okay, ja eigentlich ausgesprochen nett. Und daß er keine feste Bindung hatte, störte sie ganz und gar nicht, im Gegenteil, hatte sie ja schließlich auch nicht. Bin mal gespannt, was er in das Geschenkpapier eingewickelt hat. Sie schmunzelte. Vor sich sah sie schon die Anhöhe, auf der sich ihre Station befand. Der Rest des Weges sollte auch ohne Zwischenfälle zu bewältigen sein. Ein Blick herüber zum eingeschlummerten Wesley: ob er das alles glaub 163
te, was sie ihm da in Tucson aufgetischt hatten? UFOs auf dem Mond, bevorstehende Besuche aus dem All, na wer weiß. Jedenfalls würde sie daran nicht glauben, und schon gar nicht mit Pat darüber reden. Sie würde hier oben ihre Arbeit machen und hoffentlich Wesley dazu überreden können, mit ihr am 31. Oktober zur fünfundsechzig Meilen entfernten Wetterstation des Meteorologischen Instituts von Boston zu fahren. Die dort verstanden nämlich ordentlich Halloween zu fei ern, und darauf hätte sie große Lust.
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23. Oktober ’98
Navajo Reservat / Arizona eder Stammgast im White Horse kannte die un möglichen Angebereien, die Paul Danyacya von sich gab. Auch am heutigen frühen Abend war er wieder groß in Form. Er hatte schon ein halbes Dut zend Drinks geschnorrt, und immer noch versuchte er den Anwesenden im Saloon seine ›unbezahlbare Story‹ aufzuschwatzen. Als er vom Wirt zum wiederholten Male aufgefordert wurde, die Gäste nicht zu belästi gen, traten zwei Männer zu ihnen. Sie hatten schon seit einiger Zeit dem Treiben des Indianers zugesehen und wußten, daß sie den Richtigen gefunden hatten. Sie beschwichtigten den Wirt, bestellten drei Whiskey und luden den überraschten Paul Danyacya zu sich an den Tisch. »Sind sie Hopi oder Navajo, Paul?« fragte der grö ßere, der beiden Fremden. »Navajo? Pah, seh’ ich aus wie ein Schaftreiber?« Der Indianer schaute seine Spendierer an, »ich bin ein Hopi, ein, hicks, ein echter Krieger vom Stamme der Hopi.« »So, ein Krieger also«, erwiderte der zweite Gast, schob dabei dem schon sichtlich angeschlagenen Hopi einen der soeben gebrachten Drinks herüber, »dann Cheers, großer Häuptling.« »Jawohl, ein Krieger, vom Krähenclan. Und wer, verflucht nochmal, seid ihr?« Der größere stellte sich als Biff Johnson und seinen
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Partner als Clint Canton vor. »Biff, Clint, danke für den Drink, Cheers. Aber ihr wollt doch bestimmt von mir etwas hören. Ein großes Geheimnis vielleicht, hey?«, Paul beugte sich vor, kniff ein Auge zusammen, »das kostet aber eine Kleinigkeit.« Clint schaute kurz zu seinem Partner, dann wieder Paul an: »Wenn es sich lohnt, bezahlen wir gut, sehr gut sogar, ganz sicher.« »Freunde, es ist aber nicht so etwas, was die an deren Indianer, besonders diese Navajos, so überall den Touristen aufschwatzen wie Fundstätten alter Goldminen oder ›echte‹ Pfeilspitzen von Geronimo oder solch ein Kram.« »Ist uns schon klar, alter Krieger, ist schon klar. Wir hörten dein seltsames Gerede über die Mesas, über Tukunavi, Oraibi und über das große Geheimnis, das dort angeblich existiert. Ich nehme an, das ist es, was so viel Geld kosten soll?« Paul Danyacya schaute sich um, vergewisserte sich, daß niemand zuhörte und flüsterte dann mit schwer gewordener Zunge: »Psst, nicht so laut. Ein guter Freund, dem ich dieses Geheimnis anvertraute, ist vor ungefähr vier Wochen plötzlich und unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen, ermordet, sagt man. Da muß man schon ein wenig vorsichtig sein, versteht ihr?« Wieder drehte er sich nach allen Seiten um. »Aber du bietest das Geheimnis doch lautstark an. Wir haben es selbst gehört. Sei ehrlich, du wolltest nur den Preis hochschrauben, alter Krieger?« Biff grinste 166
Paul an, »aber wir zahlen nur, wenn es vorab einen Beweis für die Existenz deines großen Geheimnisses gibt.« Der Indianer kratzte sich verlegen am Kopf, über legte, betrachtete dabei sein geleertes Glas. Clint verstand: »Herr Wirt, bitte noch einen Whiskey für unseren Freund hier.« »Und woher weiß ich, daß ihr mich nicht übers Ohr hauen wollt, wenn ihr erst hinter das Geheimnis ge kommen seid? Ich gebe euch einen Tip, dann kommt ihr möglicherweise selbst dahinter und dann sehe ich meine tausend Dollar nachher gar nicht!« Paul hatte die Augen zu dünnen Schlitzen zusammengekniffen, woll te aussehen wie einer, mit dem in Geldangelegenheiten nicht zu spaßen ist. »Tausend Dollar?« »Richtig gehört, lieber Biff«, zischte Paul durch die Zähne, »aber eigentlich ist das, was ihr erfahren könnt, viel mehr wert. Oh ja, ich denke an den Verkauf von Fernsehrechten, daran, welche Honorare die Zeitungen für die Veröffentlichungen zahlen werden. Wahnsinn.« »Aber tausend Dollar, mein lieber roter Bruder, das ist eine Menge Geld. Dafür wollen wir natürlich einen Beweis für deine Behauptungen, das ist doch wohl zu verstehen. Oder aber, es gibt keinen Deal, und keinen einzigen Dollar.« »Hm, okay, aber hundert Dollar schon jetzt«, forder te Paul, »ich gehe schließlich ein hohes Risiko ein. Ich denke da an meinen toten Freund, klar?« Biff nickte, holte wortlos seine Brieftasche aus der 167
Jacke und legte eine Hundert-Dollar-Note auf den Tisch. »Da, bitte. Und jetzt wollen wir einen Beweis«, raunte er und ließ mit schnellem Griff die Brieftasche wieder verschwinden. Der Indianer starrte auf den Schein. Der Wirt brachte in diesem Augenblick den geor derten Whiskey für Paul und sah den Hundert-DollarSchein: »Meine Herren, sie werden dem Kerl doch nicht seine Geschichte abgekauft haben und dafür noch hundert Mäuse bezahlen? Paul ist hier als großer Aufschneider und Lügner bekannt, der Ihnen für einen Drink alles auftischen wird, glauben Sie mir.« »Halt doch den Mund«, schimpfte Paul zum Wirt, »und küm mere dich um deinen Dreck. Die Gentlemen hier wis sen eine gewinnbringende Sache durchaus zu schätzen. Und wenn sie erst den Beweis haben und alles publik machen, ja dann wird dein Laden hier von Besuchern aus allen Nähten platzen.« Ruckzuck war das Geld in Pauls Hemdtasche verschwunden. Der Wirt schaute die beiden Männer an: »Aus den Nähten platzen, ha, daß ich nicht lache. Werfen Sie mir aber später nicht vor, ich hätte Sie nicht gewarnt.« Bei den letzten Worten drehte er sich um und ging zurück zu seinem Tresen. »Okay, Männer, wenn ihr einen Wagen dabei habt, können wir fahren.« Paul Danyacya war längst aufge standen, klatschte unruhig in die Hände. »Und dein Wagen«, fragte Clint, »bist du nicht mit dem Auto hier?« 168
»Nein. Ein Auto besitze ich nicht, noch nicht.« »Kein Problem. Setz’ dich auf die Rückbank«, nick te Clint, »So können wir uns, wenn es nachher dunkel wird, nicht verlieren. Nicht wahr, großer Indianer vom Rabenclan?« »Krähenclan!« »Auch egal, Hauptsache, wir bekommen was für unser Geld.« Ihr werdet euch wundern, dachte Paul, und vielleicht sogar fürchten, für euer Geld. Biff hatte auf den Wirt gewartet, der erst sein schein bar wichtiges Telefonat beenden mußte, bezahlte die Getränke und folgte den beiden anderen nach draußen. Die Sonne war schon hinter der westlichen Gebirgs kette des Horizonts verschwunden und ein kräftiges Abendrot ließ die ohnehin rötlichen Steinformationen noch intensiver leuchten. Die Wagentüren des schwarzen Mustangs flogen zu, der Motor wurde gestartet. Augenblicke später verließ das Auto mit den drei ›Abenteurern‹ den Parkplatz des White Horse. Schnell, eine riesige Staubwolke hinter sich herziehend, fuhren sie die Straße entlang in Richtung der Mesas, jener Tafelberge, wo sich seit Jahrhunderten die Heimat Paul Danyacyas Vorfahren befand. Sie bemerkten nicht, wie sich eine halbe Minute später vom selben Parkplatz ein alter Ford-Pickup ebenfalls zu den Mesas aufmachte. Auf der hinteren Ladeklappe spiegelte sich das Abendlicht in einem hochpolierten Schild mit dem Hinweis auf die gute alte ROUTE 66. 169
28. Oktober ’98
Boston / Massachusetts on hatte eine seltsame Unruhe schon den ganzen Tag in sich gespürt. Während der Vorlesung am Vormittag, wie auch bei den Laborstunden nach dem Mittagessen, konnte er sich nicht so recht konzentri eren. So war er froh, als gegen fünfzehn Uhr die Ver suchsreihe abgeschlossen wurde und er Schulschluß hatte. Der Grund seiner heutigen Unkonzentriertheit war ihm natürlich bewußt, denn um achtzehn Uhr mußte er am Logan International Airport sein, zur Ankunft einer Maschine aus Stockholm. Diese hatte einen besonde ren Fluggast an Bord. Er nahm sich fest vor, rechtzeitig loszufahren, denn es war ihm klar: um zum Flughafen zu gelangen, mußte er einen der beiden Tunnel benut zen, und zwischen sechszehn und achtzehn Uhr, zur ›Rushhour‹, waren die Tunnel immer hoffnungslos ver stopft. Also lieber zwei Stunden im Airport Restaurant herumhängen, als am Ende gar zu spät kommen, wenn Lisa in die große Empfangshalle tritt - und niemand da ist, um sie zu begrüßen. Nein, kommt gar nicht in Frage, dachte er, kontrol lierte im kleinen Rückspiegel des Käfers sein aktuelles Outfit - ja, war okay. Und ab ging es in die Bostoner Innenstadt, Richtung Hafen. Das Wetter war wie für den Empfang bestellt: blauer Himmel, angenehme 20° C, Bäume links und rechts in ihren schönsten Herbstkleidern.
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Und schon war es passiert. Kaum, daß er einige hundert Meter im Callahan Tunnel drin war, ging es auch schon nicht mehr weiter. Einige Fahrer ließen ein Hupkonzert erklingen, meist die, welche erstmalig in diesem täglichen Stau standen. Nach wenigen Minuten erlahmte das verärgerte Hupen, die Zwecklosigkeit solchen Tuns wurde ihnen bewußt. Dafür stiegen jetzt vereinzelte Autofahrer aus ihren Fahrzeugen, schauten, diskutierten, glaubten Lösungen für das Problem zu wissen und sich lautstark mitteilen zu müssen. Ganz schön leichtsinnig, im Tunnel auszusteigen, dachte Ron, schaute zur Uhr. Es war noch genügend Zeit. Ruhig bleiben. Der Airport war bei normaler Geschwindigkeit nur noch einige Minuten entfernt. Er lehnte sich zurück und im dämmrigen Licht der Tunnelbeleuchtung, das sich auf eigenwillige Art mit den Lichtkegeln der eingeschalteten Scheinwerfer vermischte, begann Ron, sich einige Bilder der ver gangenen Tage durch den Kopf gehen zu lassen. Auch dachte er an die Unternehmungen, die er mit Lisa vor hatte. Fünf- oder sechsmal hatten sie seit den Tagen in Birmingham telefoniert, zuletzt noch gestern. Lisa hat te ihr Kommen bestätigt. Gott sei Dank. Sie würde sich unheimlich auf ein Wiedersehen freuen, hatte sie min destens dreimal nicht nur gesagt, sondern sogar betont. Er freute sich bei diesem Gedanken, denn Gleiches hat te auch er ihr in den Hörer geflüstert. Er mußte sich ein gestehen, daß er Sehnsucht in sich spürte. Und er konn te so gar nichts dagegen tun. Auch merkte er, daß durch das Kennenlernen der jungen hübschen Schwedin sein 171
Schmerz über den Weggang seiner Ex-Freundin wie weggeblasen war. Er mußte immer häufiger an Lisa denken und an die gemeinsamen Tage in der mittel englischen Stadt mit all den Studentenkneipen und den Parks. Leider waren zumeist die Schweden aus Lisas Gruppe oder Bella bei ihnen gewesen. Trotzdem hatte er die Zeit mit Lisa genossen. Und jetzt würde sie ihn besuchen, für ein paar Tage in seinem Elternhaus in Camden wohnen. Dann mitmachen beim Halloween in seiner kleinen beschaulichen Heimatstadt. Das müßte ihr gefallen, klar. Und er würde ihr die unheimliche Hütte des Fischers aus Rockport zeigen, vielleicht ei nen gemeinsamen Sonnenaufgang an der Atlantikküste erleben, und wenn, dann genau dort, wo die zu Felsen verwandelten ›Drei Spanischen Kapitäne‹ im Wasser stehen. Ja, daß wäre toll, und dann könnten sie mögli cherweise noch seine Mutter in Augusta besuchen. In diesem Augenblick erschrak er durch das auf dringliche Hupen seines Hintermannes. Er schaute hoch, nach vorne. Aha, es schien weiter zu gehen, deu tete er den größer gewordenen Abstand seines Wagens zum Vordermann. Nicht schnell, aber immerhin, es ging vorwärts. Es kann nun nicht mehr lange dauern, freute er sich. Hoffentlich hat die Maschine keine Verspätung. Schon sah er, längst aus dem Tunnel wieder heraus, den Airport vor sich. Jetzt muß ein Parkplatz her, aber schnell. Lisa, gleich bin ich da! Pünktlich traf die Maschine aus Europa ein. 172
Der ungeduldige Ron saß in der Empfangshalle, stand auf, lief hin und her, prüfte den Sitz seiner Hose, seiner Jacke, seiner Haare. Bis sein schwedischer Gast den amerikanischen Zoll passiert hatte, konnte noch einiges an Minuten vergehen. Er hatte Zeit, noch war kein Fluggast aus der ›Europa-Maschine‹ in die Halle gekommen. Jedenfalls versuchte er, ganz cool zu blei ben, merkte aber selbst, daß ihm das aber nicht sonder lich gelingen wollte. Plötzlich wurde ihm heiß. Er spürte sein Herz bis zum Hals schlagen: er hatte vergessen, einige Begrüßungs blumen zu besorgen. »Oh, herrje, wo kriege ich jetzt Blumen her«, mur melte er in leichter Panik, schaute sich dabei hektisch in der riesigen Halle um. »Lisa kommt, und keine Blumen. Das darf nicht sein.« Zum Glück gab es hier aber, wie in jedem Flughafen gebäude der Welt, einen Blumenladen. Die freundliche Verkäuferin half bei der Wahl des Straußes, nicht zu mickrig, aber auch nicht zu protzig. Leider hatte er keine Ahnung, welches Lisas Lieblingsblumen waren. Egal, der schöne bunte Herbststrauß würde ihr einfach gefallen müssen, war er überzeugt. Dann, endlich, sah er sie. Ein Lächeln überzog sein Gesicht. Und wieder spürte er seinen Herzschlag, wenn er auch dieses Mal seltsam anders war. Ist sie nicht schön, dachte er, so anmutig, so selbstbe wußt, zart und doch innerlich so stark. Sie trug zu ihrer hellblauen, verwaschenen Jeans eine Wildlederjacke mit groben Nähten und Fransenbesatz, eine richtige 173
Westernjacke also. Auf dem Kopf trug sie eine Kappe mit Norwegermuster. Ein kurzes blaugraues Top unter der geöffneten Jacke ließ ihren Bauch sichtbar werden, und zwei breite Tragegurte deuteten auf einen großen Rucksack auf ihrem Rücken hin. Es schien, als wäre er für eine große Expedition gepackt, so prall war er. Außer diesem Rucksack konnte er kein weiteres Gepäckstück ausmachen. Langsam, die Blumen hinter dem Rücken, schlen derte Ron ihr entgegen. Fieberhaft suchte er nach den richtigen Begrüßungsworten, wie sollte er sie willkom men heißen. Doch dazu kam er gar nicht. »Hallo, Ron, hi«, rief Lisa schon von weitem und fiel ihm dann um den Hals, schaute ihn lächelnd an. »Ich... äh, hallo Lisa, oh äh, Moment«, dabei holte er den Blumenstrauß hinter seinem Rücken hervor, riß das Papier ab und reichte ihn mit einem »Herzlich Willkommen in Amerika«, seinem Gast. Mit strahlen den Augen betrachtete Lisa die bunte Blütenpracht, schüttelte erst vor lauter Freude den Kopf, so daß die blonden Haare nur so nach hinten über die Schulter flogen, und dann gab sie Ron einen ganz spontanen Begrüßungskuß. Er war völlig überrascht. Den leichten Duft ihres Parfüms konnte er wahrnehmen. Ihm fielen sofort die Tage in Birmingham ein. Dann umfaßte er ihre Taille und zog sie an sich heran: »Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich darüber freue, daß du es tatsächlich wahr gemacht hast und gekommen bist.« »Ich hatte es versprochen.« 174
Beide begaben sich langsam zum Ausgang. Ron hat te Lisa den schweren Rucksack abgenommen, trug ihn jetzt halb geschultert. Als sie den Parkplatz erreichten, fragte er, ob sie vielleicht Hunger habe, etwas essen oder trinken möchte. »Gegessen habe ich schon im Flieger, aber eine Tasse Kaffee wäre toll. Hey, sag mal, ist das deiner? Du fährst einen alten deutschen Käfer?« sprudelte es erstaunt aus Lisa heraus, als er sich an der Tür eines grauen Volkswagens zu schaffen machte. »Klar. Ist ein super Auto, mein ganzer Stolz.« »Kann ich verstehen. Diese alten Autos haben alle noch ihren eigenen, unverwechselbaren Charme. Ich zum Beispiel fahre eine ›Ente‹. Du weißt, was eine ›Ente‹ ist? »Ente? Soll das ein Auto sein?« fragte Ron ver dutzt. »Ja, ein Citroen, ein französisches Auto, ein schnu ckeliges, absolut kleines und sparsames Auto. Ron nickte: »Oh, ja - natürlich, 2CV6, das Gefährt kenne ich. Zwei Studenten aus meiner Gruppe fahren dieses Auto, das mindestens genauso bewundert wird, wie all die kleinen modernen Sportflitzer, mit denen viele der anderen zur Schule kommen. Ja, wirklich ein phantastisches Auto. - So die Tür ist los. Bitte einzu steigen, gleich beginnt die Fahrt.« Dreißig Minuten später hatten sie einen schönen kleinen Tisch in einem Gartencafé mitten in der Stadt ergattert und sich zwei Kännchen Kaffee kommen las sen. 175
Lisa wirkte müde, aber zufrieden. Sie erzählte von Schweden und der elterlichen Farm, über den Flug und auch darüber, daß sie sich darauf freute, seine Eltern kennen zu lernen. »Meine Eltern? Nun, das ist nicht so einfach, denn seit wenigen Wochen leben sie getrennt, machen im Augenblick eine Krise durch«, erwiderte Ron, griff dabei an sein Kinn, »aber ich denke, das wird sich wieder einrenken, mit den beiden. Wird aber sicher schwierig.« »Sorry, tut mir leid.« »Ach, ist schon gut. Es braucht halt seine Zeit. Aber jetzt muß ich dir mal sagen, was ich mir so an Ausflügen für die nächsten Tage vorgestellt habe, es sei denn, du hast selbst bestimmte Wünsche oder Dinge, die du sehen willst. Das weiß ich ja nicht.« »Wünsche? Ach eigentlich keine. Sag’ du, was man hier unbedingt gesehen haben sollte. Vom Indian Summer schwärmt man ja auch drüben in Europa. Hier in Boston, so mitten in der Stadt, wird man, so glaube ich, soviel nicht davon sehen können, oder?« »Weiß Gott, da hast du recht, Lisa«, lachte Ron, »aber auch, wenn wir nachher nach Norden fahren, werden wir wegen der einsetzenden Dunkelheit leider auch nicht mehr viel davon sehen. Morgen früh aber wirst du staunen, das verspreche ich dir.« Er füllte aus dem Kännchen etwas Kaffee nach, schaute danach auf die Uhr. »Ist es schon spät? Was meinst du, wie lange werden wir denn unterwegs sein bis Camden?« 176
»Oh, es ist schon noch ein gutes Stück bis dorthin. Darum sollten wir auch gleich aufbrechen, wenn es dir recht ist. Übrigens: wie hast du es eigentlich angestellt, von der Uni frei zu bekommen? Ich denke, bei euch hat das neue Semester auch erst gerade angefangen, oder nicht?« »Doch, doch, aber als ich erzählte, daß ich hier in den USA die Möglichkeit habe, zusammen mit Geschichtsprofessoren nach den Spuren der ersten Wikinger auf diesem Kontinent zu forschen, hat man es sogar begrüßt und mir obendrein noch viel Glück gewünscht.« »Und wenn sie es dir nicht erlaubt hätten?« »Wäre ich trotzdem geflogen, ha. Und du? Kannst du so einfach blau machen? Oder bei den Vorlesungen fehlen, wie es dir paßt?« »Kann ich so einfach auch nicht, aber mache ich ein fach«, er vollführte dabei eine lässige Armbewegung, als wollte er alle Verpflichtungen einfach wegwischen, »was denkst du? Sollen wir jetzt fahren?« Lisa nickte, nahm einen letzten Schluck und, nach dem Ron gezahlt hatte, machten sie sich auf, den in einer Seitenstraße abgestellten Wagen aufzusuchen. Geschickt lenkte er den Käfer auf dem schnellsten Weg heraus aus Boston mit dem Ziel Camden. »Weißt du, was ich vor ein paar Tagen entdeckt habe? Bei meinen Eltern auf dem Dachboden?« schnitt Ron das Thema an, das er sich eigentlich für den nächs ten Tag hatte aufbewahren wollen. »Nein, keine Ahnung.« Lisa wußte nicht, worauf er 177
hinaus wollte. »Dann bitte schau einmal unter das Kissen auf dem Rücksitz. Nur keine Scheu, mach schon.« Sie nahm das Kissen hoch und sah ein rotbraunes Tagebuch. Neugierig griff sie danach, betrachtete es von allen Seiten und schaute dann mit fragenden Augen zu Ron. Er blickte zurück, grinste kurz, aber verschmitzt: »Seite 92, bitte. Schlag mal Seite 92 auf.« Hastig blätterte Lisa in dem Buch. Sie ahnte noch nicht, was er entdeckt hatte. Dann hatte sie die ent sprechende Seite aufgeschlagen, erkannte sofort die Zeichnung und bekam große Augen. Sie starrte auf das Symbol, wurde für einen Moment ganz ruhig, als hielte sie für Minuten die Luft an. »Das ist doch nicht mög lich?« flüsterte sie, »unser Zeichen.« »Klasse, nicht? Hatte ich nicht gesagt, daß ich das Symbol der Norweger kenne. Ist schon irre.« »Woher hast du das Buch«, wollte Lisa wissen, »das ist ja schon richtig alt. Guck mal, 1881 steht hier.« »Ich weiß, antwortete Ron, ohne seinen Blick von der Straße zu nehmen, »dieses Tagebuch schrieb mein Ururgroßvater, übrigens ein Schwede, wie du. Wenn du willst, kannste du es ja lesen. Besonders interessant ist die Stelle, wo er mit den Hopi-Indianern zusammen trifft.« »Hopi-Indianer? Von denen habe ich aber gehört. Ich glaube, Delegationen von ihnen ziehen durch die Welt, auch durch Europa, um auf die Zunahme von Umweltschäden hinzuweisen. Und diese Hopi besitzen 178
auch das Zeichen? Seltsam, findest du nicht?« »Wieso seltsam, kann doch sein«, entgegnete Ron, »vielleicht ist es bei ihnen so eine Art Stammeszei chen.« »Ron, aber das Zeichen ist doch eindeutig ein Symbol der Wikinger. Da habe ich mich gründlich schlau gemacht. In meinem Rucksack sind Unterlagen, die das beweisen.« Sie schlug sich heftig und ent schlossen auf die Knie. Der erzeugte Klaps ließ Ron herüberschauen. Er sah seine Begleiterin an, dann deren nackten Bauch: »Wenn dir kalt wird, mach ich die Heizung an.« »Kalt? Wieso?« Er deutete mit einem Blick und einer dazugehören den Kopfbewegung auf ihren Bauch. »Ach so«, lachte sie, »nee, mir ist absolut nicht kalt, eher heiß, wenn ich an das Zeichen denke.« »Mann, Lisa, das blöde Zeichen. Laß uns morgen darüber reden, in aller Ruhe. Moment, da fällt mir ein: hat sich Bella denn schon bei dir gemeldet? Sie wollte doch auch Nachforschungen anstellen über einen ge wissen Cortez, meine ich. Wenn nicht, rufen wir sie morgen früh in Madrid an, okay?« »Dann haben die in Spanien aber schon späten Nachmittag«, ergänzte Lisa, die in diesem Augenblick ein herzhaftes Gähnen nicht mehr zurückhalten konnte. Ihr Tag war lang gewesen und jetzt wurde sie müde. Schließlich nickte sie mit einem glücklichen Gesichtsausdruck ein. Auch die Geräuschkulisse eines VW-Käfers konnte dies jetzt nicht mehr verhindern. 179
Ron blickte immer wieder rüber zur Eingeschlum merten. Auch er war glücklich. Er freute sich auf die bevorstehenden Tage mit seiner Lisa, ganz gleich, was sie über das Zeichen noch alles erfahren sollten.
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29. Oktober ’98
Rockport / Maine lles schien irgendwie schmuddelig. Im ganzen Wohnmobil herrschte die totale Unordnung. Wie konnte man nur in solch einem Chaos leben, hatte ihn McHolis einmal gefragt. Prof. Arnim Clausseé konnte es. Der 48-jährige Anthropologe, Ethnologe und Indianerkenner lebte seit der Trennung von seiner Frau in diesem Wohnmobil, zusammen mit seinem Schäferhund Texas. Dabei war dies schon sein zweites Gefährt. Die erste fahrbare Behausung war eines Nachts in Flammen aufgegan gen. Vermutlich hatte er nach einer durchzechten Lagerfeuernacht nicht richtig aufgepaßt und puff - schon war alles verkokelt. Ziemlich schmerzhafte Verbrennungen hatte er davongetragen, von denen noch Narben an Armen und Beinen zeugten. Die Ärzte hatten gemeint, er hätte unwahrscheinliches Glück ge habt. Ja, er war halt noch nicht ›dran mit dem Sterben‹. Glücklicherweise hatte er seinen Lagerplatz damals an einem See aufgeschlagen, weit weg von den Bäumen des angrenzenden Waldes, so daß der sonst so gefähr liche Funkenflug in diesem Falle keinen Schaden an richten konnte. Das jetzige, grünbraune Wohnmobil sah schon von außen nicht nach einem Schmuckstück aus. »Diesen Wagen klaut niemand«, antwortete er immer dann, wenn er auf die extreme Optik seines Gefährts angesprochen wurde.
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Nach langer Zeit hatte er sich am heutigen späten Vormittag wieder einmal aufgerafft, seine Behausung in einen halbwegs bewohnbaren Zustand zu bringen. Der Grund dafür war sein alter Studienkollege McHolis, der gestern Abend per Telefon ganz überraschend sein Kommen für heute angekündigt hatte. Dieser hatte Clausseés momentanen Aufenthaltsort mitsamt Telefonnummer über das Sekretariat der Harvard-Universität erfahren. Berufliche Gründe hatten McHolis nach Boston geführt, und so wollte er die Gelegenheit nutzen, den Old German, zu be suchen. Er nannte Clausseé so, weil dieser vor vielen Jahren aus Heidelberg in die Staaten gekommen war, um hier zu studieren. Dabei war Clausseé eigentlich gar kein waschechter Deutscher. Sein Vater war USAmerikaner. Er und Großvater, in dessen Adern noch Reste von Indianerblut flossen, waren durch den Krieg nach Europa gekommen und nach Kriegsende in Deutschland geblieben. Hier hatte sein Vater später seine Mutter geheiratet - eine Deutsche. Als sie 1972 starb, kehrte er in die USA zurück, und nahm einen Job in Phoenix an, den die Army ihm auf einer alten Airbase angeboten hatte. Jahre Später wechselte er dann selbst auch herüber in die Staaten. Er studierte, heiratete, und wohnte mit seiner Frau in Flagstaff, einer kleinen Stadt in Arizona, bis sie ihn verließ. Hier hatte er nach dem Studium auch eine be fristete Anstellung als Gastdozent an der Universität bekommen. Mit der Zeit war er zu einem Kenner der 183
nordamerikanischen Indianer geworden. Die kultur gesellschaftlichen Entwicklungen, speziell die der Navajos und deren Nachbarn, der Hopi, studierte er lange Zeit. Man sagte, daß er im Laufe der Jahre selbst ein halber Hopi geworden sei. Doch er wußte es besser. Obwohl er oft wochenlang bei ihnen auf den Mesas ge lebt und gearbeitet hatte und sogar mit vielen von ihnen eine echte Freundschaft verband, wußte er, daß er nie ein traditioneller Hopi werden könnte, und daß sie ihn nie in die letzten Geheimnisse ihres Stammes einwei hen würden. Er hatte damit keine Probleme, akzeptier te dies, ohne daß die Freundschaften darunter litten. Nicht nur einmal war er Seite an Seite mit ihnen zu den verschiedensten politischen Würdenträgern gefahren, hatte bei einer solchen Tour sogar den da maligen Präsidenten der USA kennengelernt. Hier in den Neuenglandstaaten war er als junger Mann dabei gewesen, als der Dalai Lama 1981 an der Bostoner Havard-Universität mit Thomas Banyacya Sr., einem der Sprecher der traditionellen Hopi, zusammentraf. Auch nach Europa begleitete er eine Hopi-Delegation. Seine guten Deutschkenntnisse kamen ihm dabei zugu te. Er erinnerte sich nur zu gerne und stets mit einem Schmunzeln daran, wie die Indianer im winterlichen Österreich fürchterlich gefroren hatten. Doch leider waren diese Goodwill-Touren der Hopi kaum von Erfolg gekrönt. Sie wurden dennoch nicht müde, stän dig zu mahnen, daß der vom Menschen eingeschlagene Weg nicht gut sei, daß sie allein mit ihrem Verhalten für einen eventuellen Untergang der Menschheit ver 184
antwortlich sein könnten. Niemand war interessiert, keiner wollte die Prophe zeiungen der Hopi-Abgesandten hören. Mit Sorge verfolgte er ihr verzweifeltes Mühen, die Menschheit aufzurütteln. Aber auch ihre eigene Entwicklung machte ihm Kummer. Seit ihrer Spaltung vor fast neunzig Jahren war es für die heute noch knapp zehntausend Stammesmitglieder nicht leichter geworden. Die assi milierten Hopi hatten seinerzeit beschlossen, sich der Welt des weißen Mannes nicht länger zu verschließen. Sie waren in die umliegenden Städte gezogen, und hatten mehr und mehr die Gewohnheiten der Weißen angenommen. Die Traditionellen dagegen waren bis heute in ihren alten Wohngebieten auf den Tafelbergen geblieben. Später widmete er sich mehr und mehr der Frage, in wieweit Einflüsse der frühen Wikinger, die diesen Kontinent besucht hatten, in den Alltags- und Lebens gewohnheiten der nordamerikanischen Ureinwohner nachzuweisen waren. Unter anderem vertrat er hartnäckig die These, daß die rätselhafte Erdwall-Schlange von Adams Country in Ohio durch Wikinger selbst oder nach deren Vorgaben angelegt worden sei. Nach seiner Überlegung konnte dieses Abbild einer Riesenschlange nur Jormungand darstellen, jene weltumschließende Meeresschlange, die dem Glauben der Wikinger nach eines Tages aus dem Meer steigen wird, um Thor, den Donnergott, zu besiegen und das Ende der Welt einzuleiten. 185
Die Fachwelt schüttelte darüber allerdings den Kopf. Was sollte es, schließlich waren anfangs, wie bei vielen Thesen, die sich später als richtig herausstellten, soge nannte Fachleute völlig anderer Meinung gewesen. Der exzentrische Professor scherte sich ohnehin nicht um die Meinungen anderer Kollegen. »Oho, wer kommt denn da«, feixte er plötzlich, als er aus dem Seitenfenster schaute, weil Texas anfing zu bellen, »John McHolis.« Er erkannte den Wagen seines Freundes. Hastig befreite er die verschlissene Sitzgruppe von Büchern, Zeitschriften, Notizblättern und vielem mehr. »Ach, was soll’s, es ist gut so«, er hatte die Nase voll vom Putzen und wischte sich den Mund mit dem Tuch ab, das früher sicher einmal ein passables Küchenhandtuch abgegeben hatte. Eine Filtertüte wurde in die dafür vorgesehene Halterung der Kaffeemaschine befördert, gemahlener Kaffee hi nein und die üblichen notwendigen Handgriffe folgten. Eine zweite Tasse spürte er auf, sie war sogar sauber. Er setzte seine Baseballkappe auf und verließ seine fahrbare Behausung. Seine zu einem Pferdeschwanz zusammen gebundenen, ergrauten Haare lugten unter der Kappe hervor. Wie immer, wenn die beiden Männer sich trafen, fielen sie sich in die Arme. Texas sprang freudig bellend um die zwei herum. So verschieden sie auch in ihren Zielen und Ansprüchen waren, sie mochten sich wirklich, schon seit ihrer Studienzeit - eine wahre Männerfreundschaft. »Aber hey«, lachte Clausseé, »wie gut du wieder 186
riechst.« »Bloody German«, erwiderte McHolis trocken, konnte sich dann aber ein schallendes Lachen nicht verkneifen. »Ist ja gut, lieber John. Laß’ dich anschauen, ja, hm - ja, ich glaube wirklich, du bist dicker gewor den. Stimmt’s? Das kommt vom vielen Stehen in den Hörsälen, glaube mir. Du solltest wieder unter die Naturvölker gehen, forschen, haarsträubende Abenteuer in Wüsten und Eisregionen erleben, oder zusammen mit den Masai in Afrika Fruchtbarkeitstänze zelebrieren. Das wäre was Feines. Aber wenn jemand seine Zeit lieber in den Universitäten vertrödeln will, gut, was stört’s mich. Sei mir jedenfalls herzlich Willkommen in - na, wie heißt das Städtchen hier noch - ach, ja richtig: in Rockport.« Gutgelaunt begaben sie sich ins Wohnmobil, wo fünf Leute bequem Platz gehabt hätten, wenn es nur ein wenig aufgeräumter gewesen wäre. McHolis wun derte sich schon lange nicht mehr über dieses große Durcheinander hier drinnen. Er kannte es. Der Hund wollte nicht mit hereinkommen, legte sich draußen vor dem Wagen auf seine Decke. Während Clausseé sich um den Kaffee kümmerte, setzte McHolis sich auf das ungewohnt freigeräumte Sofa und schaute sich interessiert um. Neben den vie len Fachpublikationen, Büchern und Fachaufsätzen, die haufenweise in den Ecken lagen, dominierte mit tlerweile die Technik in diesem Gefährt. Rechner, Monitore, Printer, Fernseher, CD-Player und mindes 187
tens zwei Mobiltelefone konnte McHolis ausmachen. »Mann, Arnim, erzeugt die Mühle überhaupt genü gend Strom für diese vielen Geräte? Dein Auto sieht mir doch sehr altersschwach aus«, staunte McHolis. »Nein, nein, du hast recht, der Wagen alleine schafft das nicht. Darum habe ich ein kleines Zusatzaggregat eingebaut, eigene Erfindung. Damit bin ich immer mit genügend Strom versorgt, und das Besondere daran ist, daß es sich von selbst immer wieder auflädt. Komm, hier, dein Kaffee ist fertig.« Clausseé reichte eine Tasse herüber, deutete zugleich auf die kleine Dose mit Süßstoff auf dem Tablett. McHolis schüttelte den Kopf, so bekam er seine Tasse ›schwarz‹. Sie erzählten sich die Neuigkeiten, tauschten kurz Personalien-Infos aus und staunten über Karrieren von, nach ihrer Meinung, völlig untalentierten Kollegen. Als der Kaffee genossen war, holte Clausseé seine Spezialität hervor: Arizona-Tequila, eine Mixtur der schärferen Sorte. Natürlich wollte auch McHolis einen, vielleicht auch zwei davon. Die ›Zutaten‹ dieser Spezialabfüllung hat te Clausseé ihm bislang nicht verraten. »Hör mal, Arnim«, begann McHolis nach dem zwei ten Arizona-Tequila plötzlich ernst zu werden. »Ja, mein Freund, was ist?« »Du bist doch auf der Suche nach Beweisen für die Anwesenheit der Wikinger auf diesem Kontinent?« »Du, daß die Wikinger hier waren, braucht nicht nachgewiesen zu werden, das ist bereits durch Fakten 188
belegt. Genügend Überlieferungen zeugen davon. Was ich will, sind Artefakte, Beweise, daß Wikingerwissen und deren Bräuche von den Indianern des nördlichen Amerikas übernommen wurden. Vieles spricht dafür, doch noch fehlen eindeutige Beweise. Die Schlange von Ohio ist in meinen Augen ganz klar ein solcher Beweis. Nur die Idioten der Fakultäten glauben, das Schlangenabbild habe eine andere Bedeutung. Blödsinn«, der Indianerkenner kippte einen weiteren Arizona-Schnaps hinunter und legte sich wieder ins Zeug, »die studierten Sesselhocker sollten selbst mal rausgehen in die Natur und die Augen aufhalten. Zum einen gibt es nämlich keine andere logische Erklärung für die Erdwall-Formation, wie sie entstand und von wem, zum anderen wissen wir genau, daß es in diesen Breiten nie Riesenschlangen solchen Ausmaßes gege ben hat. In Südamerika, ja okay, aber hier im Norden: Fehlanzeige.« McHolis bemerkte, daß sein Kumpel wieder in Fahrt geriet, da wollte er doch auch etwas beisteuern. »Sag’, du hattest mir doch von dieser RunensteinBotschaft erzählt, nach der du ›drei Fingern‹ folgen solltest, um einen Beweis für die Richtigkeit deiner These zu erhalten. Richtig?« »Ja, ja, genau«, antwortete Clausseé, »darum habe ich in den letzten Monaten ja auch in Utah, in New Mexico wie auch in Arizona und Colorado alle be kannten Nadelfelsen-Formationen aufgesucht, auf die die Beschreibung der ›Drei Finger‹ passen könn te, bislang aber ohne Erfolg. Daß gleich drei solcher 189
schlanker Felsennadeln eng zusammenstehen, als ge hörten sie zusammen, ist äußerst selten. Der Gedanke, daß vielleicht die drei Mesas, also die drei Tafelberge im nordöstlichen Arizona damit gemeint sein könnten, habe ich auch schon verworfen. Wieso fragst du? Hast du da was für mich?« »Möglicherweise. Und genau deswegen habe ich dich auch aufgesucht«, er rieb sich über den Schnurrbart, »hör’ zu: vor einigen Wochen bin ich drü ben im englischen Birmingham einem jungen Mann begegnet, der ganz interessante Dinge von einem Küstenabschnitt berichtete, wo er aufgewachsen ist. Übrigens befinden wir uns von der besagten Stelle gar nicht so weit entfernt.« Clausseé wurde neugierig, setzte sich zu seinem Freund auf das verschlissene Sofa und war ganz Ohr. Mit Freude registrierte McHolis das Interesse seines Freundes: »Also, als du mir vor kurzem erneut von die sen ›drei Fingern‹ und der Runensteindeutung erzähl test, fiel mir ein, daß dieser junge Mann aus dem Staate Maine davon erzählte, daß er einen Küstenstreifen kennen würde, wo vorgelagert drei Felsen aus dem Wasser vierzig Meter hoch aufragen wie drei Finger. Im Volksmund die ›Drei Spanischen Kapitäne‹ ge nannt. Bei Sonnenaufgang soll an wenigen Tagen im Herbst nur an diesem Küstenstreifen ein seltenes Naturphänomen zu sehen sein: für wenige Minuten wird alles hier in ein rötliches Licht getaucht. Muß wohl mit der Lichtbrechung und dem Breitengrad zu sammenhängen, denke ich mir. Im übrigen sollen auch 190
die ersten Wikinger an dieser Stelle von Maine an Land gegangen sein.« Er schaute Clausseé an: »Was glaubst du, könnten die drei Kapitäne die ›drei Finger‹ sein, nach denen du schon so lange suchst?« Clausseé schaute auf den Boden, schüttelte den Kopf. Dann schlug er sich mit der Hand gegen die Stirn: »Weißt du eigentlich, was das bedeutet? - Ich habe seit Jahren an der falschen Stelle gesucht, oh Gott. Hör’ zu: der Entschlüsselung und Deutung nordischer Aufzeichnungen nach, soll der Ort, an dem Leif Eriksson eine seltsame Begegnung mit einem Einheimischen ge habt haben soll, stundenlang in ein merkwürdiges rotes Licht eingetaucht worden sein. Oh, das ist wirklich eine sensationelle neue Spur. Danke, mein lieber McHolis.« Er schaute erregt den schmunzelnden Professor neben sich an. »Bislang interpretierte ich das rötliche Licht mit den Lichtspiegelungen der roten Felsenlandschaft im Gebiet des Four Corner Landes, eben auch weil jede Menge Felsennadeln dort stehen. Verflucht, bin ich all die Jahre einer falschen Spur gefolgt?« Er deutete dabei auf die Tequila-Flasche. McHolis wollte aber keinen Drink mehr. Wer wußte, in welcher Schwarzbrennerei Arizonas oder New Mexicos Clausseé diese Rezeptur aufgestöbert, und dann mit hierher gebracht hatte. Camden / Maine Im Nachbarort Camden saß zur gleichen Zeit ein junges Paar an einem herbstlich dekorierten Tisch des Atlantica und genoß den herrlichen Nachmittag. Im Lokal waren kaum noch freie Plätze vorhanden, 191
kein Wunder, denn auch heute wimmelte es in der Stadt nur so von Touristen. Viele unter ihnen waren schon wegen des bevorstehenden Halloween-Festes ange reist. Noch drei Tage, dann würde die ganze Stadt auf den Beinen sein. Ron und Lisa störten sich nicht an der hektischen Betriebsamkeit, die unübersehbar das ganze Restaurant ergriffen hatte. Ihr Tisch war etwas abseits in einer Nische gelegen, und den hatten sie auch nur bekom men, weil er auf den Namen Ron Millar für sechzehn Uhr vorbestellt worden war. Und er war bekannt hier. Bevor das neue Lokal aufgemacht hatte, war dies das Stammlokal seines Vaters gewesen, und oft genug hatte er ihn hierher begleitet. Ihren Kuchen, natürlich ein traditioneller Apple Pie, hatten sie längst gegessen, und saßen jetzt bei einer Tasse Kaffee. Sie machten Pläne. Rons Vater hatten sie, zu Lisas Leidwesen, weder gestern noch heute angetroffen. Er sei sehr früh aus dem Haus gegangen, um nach Boston zu fahren wegen einer wichtigen ImmobilienAngelegenheit, hatte auf einem kleinen Notizzettel gestanden, den sie auf dem Küchentisch gefunden hatten. Rons Mutter wollten sie ohnehin erst nach dem Halloween-Fest in Augusta besuchen. Gestern Abend war sie telefonisch in ihrer neuen Wohnung nicht zu erreichen gewesen. Und er wußte leider auch nicht, wo sie tagsüber arbeitete oder wie die Nummer ihres neuen Telefons lautete. Schade, dachte Lisa. Sie hätte zu 192
gern mitbekommen, wie er sie seiner Mutter vorstellen würde. »Morgen, in aller Früh fahren wir zu den ›Drei Spanischen Kapitänen‹«, schlug Ron vor, »ich muß dir unbedingt zeigen, wie der Sonnenaufgang die ganze Gegend in ein beinahe unheimliches rötliches Licht taucht. Schließlich geschieht dies nur an den drei bis vier letzten Tagen im Oktober.« »Du meinst dort, wo auch die verfallene Hütte steht?« fragte sie neugierig, spielte dabei mit einer Strähne ihres glatten, schulterlangen Haares. »Hütte ist vielleicht ein bißchen übertrieben. Sie ist ja schon ziemlich verfallen. Aber nach dem Strandspa ziergang können wir ja dann einmal zu ihr hinaufwan dern. Ich bin gespannt, ob du sie so unheimlich findest wie ich. Hoffentlich ist das Gelände mittlerweile nicht abgesperrt worden.« »Ja, glaubst du denn, dein Vater hat das Grundstück in der Zwischenzeit vermitteln können?« fragte sie mit einem besorgten Unterton. Sie ließ ihre Haare los, »das wäre aber jammerschade.« Ron zuckte mit den Schultern: »Mir gegenüber hat er diesbezüglich nichts verlauten lassen, seit ich wieder hier bin. Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Wie werden es morgen sehen.« Für einen Moment war es sehr ruhig an ihrem Tisch, beide schauten durchs große Fenster hinaus auf die Boote am Steg und beobachteten ihren leichten Tanz auf den Wellen. Weißt du, Ron«, durchbrach Lisa die kurze Besinn 193
lichkeit, »heute morgen, während du unter der Dusche warst, habe ich mit Bella telefoniert.« »Ein Gespräch nach Madrid? Und, Erfolg gehabt?« »Und ob«, triumphierte Lisa, »Ich hatte Glück. Bella war von der Universität zurück und hatte gerade ihre Wohnung betreten, als ich sie anrief. Aber nun das Interessanteste: auch Bella war erfolgreich.« Er zog ein verdutztes Gesicht. »Auch Bella war erfolgreich? Was meinst du damit? Etwa die ZeichenGeschichte?« »Richtig. Bella hatte sich, wie sie mir am Telefon erzählte, nach ihrer Rückkehr aus England bei der erst besten Gelegenheit zum Museo De America in Madrid begeben und sich dort intensiv in der Cortez-Abteilung umgesehen. Tja, Ron, und es war, wie sie vermutete: auf einem Gemälde, das die Eroberung der Aztekenstadt Tenochtitlán 1521 durch eben diesen Cortez zeigt, trägt er eine Art Amulett oder Stadthalterkette aus Silber um den Hals. Und die Form des Anhängers ist absolut identisch mit dem Zeichen auf dem NorwegerBanner. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel, wie Bella extra betonte. Ja, und dann bekam sie noch etwas Bemerkenswertes heraus: ein Historiker will aus den Aufzeichnungen eines Weggefährten des Cortez erfah ren haben, daß die Einnahme der Azteken-Stadt nur gelang, weil in den Morgenstunden vor dem Angriff ein merkwürdiges Licht die ganze Stadt umhüllte und unter den Indios eine Panik verursachte. Weil es röt lich wie Blut geschimmert hatte, glaubte der damalige Aztekenherrscher Moctezuma, seine Götter hätten sich 194
mit dem Feind verbündet. So hatte Cortez leichtes Spiel. Den Soldaten und auch den Offizieren wurde verboten, von diesem Licht zu berichten, um nicht den glanzvollen Sieg ihres Führers zu schmälern.« Lisa schaute ihn an: »Klingt doch irgendwie seltsam, findest du nicht?« Ron lehnte sich zurück, starrte einen Augenblick auf seine leere Tasse: »Ich werde noch verrückt. Dieses Symbol fasziniert mich immer mehr. Gestern kommst du mit deinen Aufzeichnungen über Anzahl und Standorte großer und kleiner Runensteine, ver streut über ganz Skandinavien, auf denen entweder dieses Zeichen eingemeißelt, oder aber in Form einer Botschaft enthalten war. Und alle diese Steine waren mindestens achthundert Jahre alt. Also ist das Zeichen europäischen Ursprungs. Dann taucht es dreihundert Jahre später in Mexiko auf. Demnach ist es ein spa nisches Symbol, oder falls Cortez es bei den Azteken geklaut hatte, mexikanischer Herkunft. Nochmals dreihundert Jahre später entdeckt mein Ururgroßvater es in den USA, an der Wand eines Pueblos der HopiIndianer. Das darf doch nicht war sein.« »Vergiß nicht die Kornfelder in Südengland.« »Ja, genau, und 1990 taucht dann dieses ominö se Zeichen dort in einem Kornfeld auf, gut hundert Jahre nach dem Eintrag in dem Tagebuch meines Ururgroßvaters.« Er schüttelte den Kopf: »Nein, ich kann mir keinen Reim darauf machen - du?« Dabei schaute er Lisa an. Sie schwieg, lächelte nur verlegen. 195
Plötzlich hob sie den Kopf und schnippte mit den Fingern: »Ja, wieso fragen wir denn nicht die HopiIndianer selbst? Bei denen hat dein Ururgroßvater schließlich das Ding mit eigenen Augen gesehen. Ich denke, daß da ganz sicher Überlieferungen existieren, die Auskunft darüber geben können, wie ihr Stamm an dieses Symbol gekommen ist, und was es nun tatsäch lich bedeutet.« »Genau, wirklich keine schlechte Idee.« Rons Ge sichtsausdruck hellte sich auf, »doch, das ist sogar ’ne sehr gute Idee.« Er konnte sich, je länger er darüber nachdachte, mehr und mehr an den Gedanken gewöh nen, das Rätsel um dieses geheimnisvolle Zeichen zu lüften. »Aber Arizona ist weit und dort ist es heiß, selbst zu dieser herbstlichen Jahreszeit. Und apropos Zeit? Hättest du denn überhaupt die Möglichkeit, einen solchen, sicherlich mehrtägigen Trip ins Four Corner Land zu unternehmen?« Lisas hellblaue Augen zeigten plötzlich Feuer: »Was glaubst du denn? Und ob. Das wäre doch ein richtiges Forschungs- oder zumindest Studienprojekt. Darum würden mich alle Kommilitonen in ganz Schweden beneiden, und wie. Wann fahren wir denn?« »Langsam, langsam, erst geht’s morgen zu den Felsen und der Hütte, dann haben wir noch zwei Treffen, mit meiner Mutter und meinem Vater und nicht vergessen: das große Halloween-Fest am 31. Oktober. Wenn wir fahren sollten, liebe Lisa, dann frühestens danach. Tut mir leid. Du mußt deinen Forscherdrang noch etwas zügeln.« 196
»Ach, das ist doch total in Ordnung. Du weißt, ich bin doch deinetwegen in die Staaten gekommen, und nicht wegen des Zeichens«, säuselte sie verschmitzt, »also dann erst zur Küste mit den Felsen. Auf den mor gigen Sonnenaufgang bin ich wirklich gespannt.« Dallas / Texas Die Empfangssekretärin stellte das lang erwartete Gespräch gleich zu Sir Rymond Lee durch: »Sir, der Anruf, auf den Sie gewartet haben.« »Danke, Peggy. Äh, übrigens, sind die Südamerikaner schon im Haus?« »Ja, Sir.« »Gut. Sie sollen sich noch etwas gedulden. Stellen Sie jetzt bitte durch und gehen Sie aus der Leitung.« »Selbstverständlich, Sir, sofort, Sir.« Peggy Morales legte auf. Der allmächtige Boss der PAXTON Inc. stand am großen Fenster und schaute hinunter auf das pulsierende Dallas. Man hatte schon einen imposanten Blick bis weit über die Stadtgrenzen hinaus, hier aus diesen Büros im oberen Viertel des PAXTON-Hochhauses, einem mo dernen Quader von glatter, schnörkelloser Architektur aus Beton, Stahl und Glas. Aber übertroffen wurde die Aussicht noch vom Rundblick der Dachterrasse seines Penthauses ganz oben. Ausgestattet mit Pool, Garten und eigenem Hubschrauberlandeplatz, durften hier, außer seinen Leibwächtern, nur absolut auserwählte Gäste dieses Refugium der Macht betreten. Er ließ sich Zeit, schlenderte über den marmorge 197
fliesten Boden. Dann holte er tief Luft, tat dabei sehr gelangweilt: »Ja, bitte, Rymond Lee am Apparat.« »Guten Tag, Sir«, meldete sich eine fistelnde Stimme am anderen Ende der Leitung, »hier ist...« »Keine Namen«, unterbrach Sir Rymond Lee den Anrufer mit barschem Ton, »was soll das? Ich kenne Ihre Stimme, das reicht.« »Natürlich, Sir.« »Also, weshalb rufen Sie mich an? Haben Sie die Sache mit Birmingham bereinigt?« Die helle Stimme am Telefon zögerte. »Was ist, haben Sie den Zeugen etwa noch nicht gefunden?« »Doch, Sir. Ich kenne seinen Wohnort. Habe ihn nur noch nicht angetroffen.« »Ist das ein Problem für Sie?« »Nein, Sir.« »Dann erledigen Sie die Sache. Aber schnell. Die Angelegenheit mit meinem Partner in Malaysia ist zu wichtig, als daß wir uns Unsicherheitsfaktoren leisten könnten. Also los, machen Sie voran.« Damit beendete Sir Rymond Lee das Gespräch und legte auf. Er war angespannt, beugte sich vor und drückte die Sprechanlage: »Peggy?« »Sir«, tönte es ihm entgegen. »Peggy, sind die Venezuelaner schon sehr ungehal ten? Ich hoffe doch nicht?« »Kann ich nicht sagen, Sir. Ich glaube aber nicht. Soll ich sie jetzt reinschicken?« Sir Rymond Lee räusperte sich: »Ja, bitten Sie sie 198
herein, und Peggy, schicken Sie auch Jo Burt und Tex Reinhard in mein Büro. Danke.« Burt und Reinhard waren seine Anwälte und einge weiht in die geplanten Unternehmungen in Malaysia und Venezuela. Auf den wichtigen Geschäftsreisen wa ren sie neben den beiden Leibwächtern seine ständigen Begleiter. Peggy informierte sie in ihren Büros. Sir Rymond Lee öffnete die breite Tür seines Büros und kam mit gespielter Freundlichkeit auf die kleine, vierköpfige Delegation zu. Mit weit ausgestreck ten Armen begrüßte er die Gruppe, schüttelte jedem Einzelnen die Hand und komplimentierte sie dann in seinen großzügigen Büroraum. In der Tür drehte er sich um: »Peggy?« »Ja, Sir?« »Bitte jetzt keine Störungen mehr. Und Kaffee wäre jetzt gut. Vielleicht einen aus Venezuela, ha?« Er muß te über seinen kleinen Scherz lachen, wurde aber gleich wieder ernst: »Wo bleiben Burt und Reinhard denn, verdammt? Die sollen sich mal beeilen«, dann fuhr er leiser fort, lächelte dabei Peggy an, »denn es geht um viel Geld - um sehr viel Geld. Ach ja, - und versuchen Sie Dr. Vera Johnson an der Universität von Caracas zu erreichen.«
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30. Oktober ’98
Camden / Maine angsam rollte der Wagen an den rechten Seiten streifen der Küstenstraße und kam zum Stehen. »Genau hier«, sagte Ron und stellte den Motor ab. »Hier ist es?« »Richtig. Siehst du den Trampelpfad da vorne? Dem müssen wir folgen. Dann kommen wir direkt zur felsi gen Küste.« Lisa gähnte herzhaft, reckte sich, so gut es im VW ging, war immer noch ein wenig müde. »Hoffentlich ist es nicht so weit«, kam es mehr als undeutlich über ihre Lippen, als sie ausstieg. Ron war schon am Kofferraum des Wagens, wollte seinen Rucksack herausholen. Die Haube schnellte hoch, so schnell, daß Lisa einen kleinen Schrecken bekam. Ron sah es und mußte lachen: »Komm, du Morgenmuffel, wir müssen uns beeilen. Es ist zwar nicht weit, aber trotzdem sollten wir nicht trödeln.« Dabei achtete er nicht auf das Fahrzeug, das ihnen schon seit geraumer Zeit gefolgt war und nun ganz plötzlich beschleunigte. Den Rucksack mit dem Proviant geschultert, wollte Ron gerade wieder auf die Straße treten, um sein Auto abzuschließen, als er Lisa schreien hörte: »Pass’ auf!« Und schon raste der Mercedes um Haaresbreite an ihm vorbei, so daß er sich nur mit einem schnellen Sprung zur Seite in Sicherheit bringen konnte. »Blödmann«, fluchte Ron dem sich schnell entfer
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nenden Wagen hinterher, »Idiot. Wohl verrückt ge worden? Mistkerl.« »Was war das denn?« fragte Lisa erschrocken, »das ist doch nicht zu glauben. Gibt es davon mehrere hier?« »Ich hoffe nicht«, Ron schlug sich den Staub aus der Jeans, »puh, das war knapp, glaube ich.« Er wandte sich zu Lisa, konnte wieder lächeln: »Kopf hoch, nichts passiert, ist schon vorbei. Komm laß’ uns gehen.« Er spürte immer noch, wie sein Herz klopfte. Die Jacken wurden übergezogen, das Auto abge schlossen und dann machten sie sich auf den Weg. Noch zweimal drehte Ron sich um, aber der Raser blieb verschwunden. Zehn Minuten brauchten sie, bis sie am Wasser wa ren. Dort, am steinigen Strand angekommen, lief Lisa einige Schritte voraus, stellte sich auf einen kleinen Felsen und schaute aufs offene Meer. Genau vor ihr, nur einige hundert Meter entfernt, standen die imposanten Felsennadeln. Sie waren so, wie Ron sie beschrieben hatte: drei an der Zahl, hoch, bedrohlich ausschauend und leicht nach vorne gebeugt. »Die ›Drei Spanischen Kapitäne‹!« flüsterte sie ge radezu fasziniert. Ron beobachtete für einen Moment den Horizont, setzte sich dann auf einen etwas höher gelegenen Felsen, den die Atlantikwellen in zehntausenden von Jahren völlig glatt geschliffen hatten. Eine Verfärbung längs der Steinblöcke links und rechts von ihm zeigte deutlich, wie weit das Wasser bei Flut hinaufbrandete. 201
Demnach war jetzt Ebbe. »Lisa, setz’ dich zu mir. Gleich werden die ersten Strahlen der Sonne zwischen den Felsen hindurchblin zeln. Und dann wird’s passieren.« »Du meinst, das rötliche Licht?« fragte sie, als sie neben ihm Platz nahm. Er deutete mit dem Finger zur aufgehenden Sonne: »Warte es ab.« Sie war ganz gespannt, setzte sich und starrte wie er zum Meer. Dann änderte sich das Licht. Er beobachtete Lisa, sah, wie ihre Augen größer wurden und sie mit offenem Mund da saß, nur noch staunte. »Sei ehrlich, ein Morgenrot dieser Güte hast du noch nie gesehen, oder?« fragte er, wirkte gar ein bißchen stolz. Sie blickte sich um, von links nach rechts, nach vor ne und nach oben: »Das ist ja Wahnsinn, alles rot um uns, die Bäume, die Felsen, das Meer, selbst wir sehen fast rot aus. Wie ist so etwas möglich?« stammelte die sichtlich beeindruckte Lisa, »noch nie habe ich solch einen Sonnenaufgang erlebt. Wahnsinn, einfach gigan tisch!« »Ist leider gleich vorbei. So eindrucksvoll sieht man es übrigens nur hier vom Strand aus. Weiter oben, von der entfernteren Küstenstraße ist die Rotwirkung nur halb so intensiv. - Siehst du, da, es läßt schon nach. Meistens dauert es nur Minuten, bis die Sonne kom plett aus dem Meer aufgetaucht ist. Anschließend wird 202
wieder normales Morgenlicht an Stelle der Verfärbung treten. Ich glaube, das hängt mit der Lichtbrechung und mit unserer Lage hier auf der nördlichen Erdhalbkugel zusammen, oder mit all den rotgefärbten Wäldern hier um diese Jahreszeit, ich weiß es nicht. Zu anderen Jahreszeiten ist das Phänomen jedenfalls nicht zu be obachten.« Sie lehnte kurz ihren Kopf an seine Schulter, ver suchte, sich den phantastischen Eindruck einzuprägen. Den ›wilden‹ Autofahrer dagegen hatte sie schon wie der vergessen. »Weißt du, ich bin dir sehr dankbar dafür, daß du mich hierhergebracht hast«, seufzte sie voller Zufriedenheit, »ich habe wirklich noch nicht viele Naturschauspiele gesehen oder miterlebt, aber gerade, vor wenigen Minuten, wurde mir wieder bewußt, wie schön unsere Erde und die Natur mit ihren Geheimnissen ist. Und darum lohnt es sich, für sie einzustehen und für die Schönheiten dieser Erde zu kämpfen.« Beide schwiegen, genossen den Moment. Plötzlich drehte Lisa den Kopf, schaute die flach ansteigende Küste mit ihrer üppigen Vegetation hinauf, die einige Höhenmeter weiter in einen Wald überging: »Dort oben ist die Hütte?« Ron nickte: »Ganz richtig. Die verfallene Hütte des alten Fischers. Nebenbei: das, wo wir im Augenblick sitzen, gehört auch schon zum Besitz. Aber ich sehe hier unten am Strand noch keine Zäune. Dann ist das Grundstück sicherlich noch nicht verkauft. Das ist gut, sehr gut.« 203
»Gibt es denn weiter oben Zäune?« »Oh, ja, zur Straße hin, damit das Wild nicht auf die Fahrbahn springen kann.« Dann schaute er sie an: »Und? Hast du Lust und Mut auf die alte Hütte? Willst du sie sehen?« »Na klar«, sprudelte es aus ihr heraus. Sie stand auf, reckte sich abermals, als wäre sie erst jetzt aus dem Bett gekrochen und baute sich dann vor Ron auf, »okay, auf zur Hütte.« Ron erzählte, daß sich die früheren Besitzer dieses Küstenstreifens damals strikt geweigert hatten, den Bau einer Straße durch das Grundstück zuzulassen. So führte die Küstenstraße an der Stelle, wo sie beide den VW abgestellt hatten, rechtwinkelig von der Küste weg und verlief für einige Meilen in weitem Abstand an dem Privatgrundstück vorbei. Während der Zugang vom Strand zum Wald immer frei gewesen war, wurde schon vor über siebzig Jahren zwischen Grundstück und Straße ein großer Zaun gezogen. So existierte auch nur ein Weg zur verfallenen Hütte, und zwar vom Strand aus. Er führte schräg hinauf auf die bewaldete Anhöhe, vorbei an Wildsträuchern und Kiefernbeständen, hin ein in den Hochwald. Als Ron und Lisa schnaufend oben ankamen, dreh ten sie sich zum Meer um. Von hier oben war der Blick noch einmal so beeindruckend. Lisa war begeistert. Obwohl sie aus ihrer Heimat jede Menge schöner Fjord-Landschaften kannte, er schien ihr diese Küstenregion von einer ganz anderen Schönheit zu sein. 204
»Auf geht’s«, forderte Ron seine Freundin auf, »nun wird es wieder etwas dunkler.« Und in der Tat, als sie dem schmalen Pfad tiefer in den Wald folgten, wurde es nicht nur schummeriger, sondern auch kühler. Obwohl Ron lange nicht mehr hier gewesen war, konnte er sich an den Weg zur verfalle nen Hütte noch gut erinnern. Viele der Ahorn-, Birkenund Buchenbäume, welche die Kiefern in Küstennähe ablösten, gaben durch ihre Position und ihren Wuchs dankbare Hilfestellungen und nach einer halben Stunde blieb er stehen und stieß Lisa an: »Da, schau’, da ist sie - die Hütte.« Er zeigte in einen Birkenhain, etwa hun dertfünfzig Meter vor ihnen. »Wo? - Ich sehe keine.« »Na dort«, wiederholte er und deutete abermals mit der Hand in die Richtung, ergänzte dann, »du darfst auch keine intakte, schöne weiße Unterkunft mit einem Dach erwarten, sondern nur Reste dreier Wände. Da vorne, der grünliche Haufen. Das ist sie.« Jetzt sah auch sie etwas, was man mit viel Phantasie für eine Hütte halten könnte. Sie hatte sich die Hütte irgendwie anders vorgestellt. Nach wenigen Minuten war die verfallene, ehemali ge Trapperbehausung erreicht. Lisa trat mit dem Fuß gegen eines der abgebroche nen Wandhölzer: »Sag’, und diese Hütte soll so alt sein und keiner weiß, wer sie erbaut hat?« »So ist es«, antwortete Ron, »ist schon eigenartig, nicht?« Dann deutete er nach Osten. Lisa schaute in die Richtung: »Hey, genau wie du sagtest, die Spitzen der 205
›Drei Spanischen Kapitäne‹ kann man sogar von hier oben aus sehen«, sie stutzte, »aber wenn von hier aus keine hohen Bäume die Sicht aufs Meer versperren, sind wir dann nicht in einem Bogen hier hoch gestie gen?« »Scharf erkannt«, bestätigte Ron, »aber das mußten wir auch. Denn dort, wo anscheinend die Bäume feh len, geht es steil bergab, befindet sich eine Felswand. Da hätten wir auch gar nicht hoch gekonnt. Das ganze Felsmassiv dort ist vor vielen tausend Jahren einmal abgebrochen. Komm, laß’ uns die Hütte erkunden und eine kleine Stärkung zu uns nehmen. Tun wir so, als stände das Blockhaus noch komplett, was meinst du?« Mit einem gelachten ›Ja‹ folgte sie ihm über kreuz und quer liegende, bemooste Holzteile, deren Bearbeitung von Menschenhand noch gut zu erkennen war, weshalb sie demnach einstmals zum Baumaterial dieser Hütte gehört haben mußten. Die Größe der ehemaligen Unterkunft von ungefähr sieben mal zehn Metern ließ sich unschwer erahnen. Sie mußte ursprünglich nur aus einem einzigen Raum bestanden haben, denn Ansätze von Innenwänden waren nicht auszumachen. An der dem Meer abge wandten Seite war einstmals eine große Feuerstelle gewesen, nur hier lagen gebrannte Tonziegel verstreut auf dem Boden, die auf einen Kamin hindeuteten. Wie Holzreste seitlich an den unteren Innenwänden zeig ten, hatte es früher auch einen Fußboden gegeben. Jetzt hatte allerdings der Wald sein Recht zurückgeholt und trieb wieder Pflanzen aus dem Boden, ausgenommen 206
an einer fast kreisrunden Stelle mitten in der Hütte. Den Rucksack schon von den Schultern genommen, setzte Ron sich in die einzige stabil wirkende Ecke der Ruine, holte eine Thermoskanne mit heißem Kaffee heraus und einige belegte Brote. Es schmeckte beiden hervorragend so früh am Morgen. Jetzt reichten auch die Strahlen der aufsteigenden Sonne bis in die Ruine und spiegelten sich in den po lierten Trinkbechern aus Metall. Das Sonnenlicht be gann den Birkenwald zu durchfluten und nahm etwas von der Unheimlichkeit des Ortes. Lisa ließ sich gerade ein zweites Butterbrot schme cken, als sie plötzlich aufhörte zu kauen und die Ohren spitzte. Da wieder: knackende Äste, noch weit weg, aber ganz deutlich. Sie packte Rons Arm: »Hör mal, da ist jemand, da draußen im Wald ist jemand.« Auch Ron verhielt sich ganz still, lauschte. Wieder in der Ferne das Knacken zertretener, trocke ner Äste. Dann Ruhe, und wieder Schritte. »Wer kann das sein«, flüsterte Lisa, schaute Ron ängstlich in die Augen, »kommen hier öfters Waldwan derer vorbei, Ron?« »Nein, normalerweise nie. Denn kaum jemand weiß von der Hütte, und auch den Pfad hierhin kennen wirk lich nur die wenigsten.« Schon wieder vernahmen sie die Geräusche im Unterholz. »Da kommt jemand aus westlicher Richtung, ist aber bestimmt noch zwei-, dreihundert Meter entfernt«, 207
analysierte er, »es ist nur seltsam, nach Westen hin ist das ganze Grundstück doch eingezäunt. Wie kann man von dort kommen? Und warum treibt sich jemand so früh im Wald herum? Vielleicht Jäger?« »Jäger, hier?« Shit, dachte Ron, denn er merkte, daß er Lisa unge wollt Angst gemacht hatte. »Und wenn es der Verrückte von vorhin ist«, mut maßte sie, zusammengekauert in der Ecke sitzend. Sie vergaß sogar ihr Brot weiter zu essen. »Ganz ruhig. Mach’ dich bloß nicht verrückt. Viel leicht ist es nur ein harmloser Spaziergänger. Und womöglich geht er im dichten Unterholz sowieso an dieser Hütte vorbei. Jedenfalls hört es sich nur nach einer Person an. Seien wir einfach still und locken ihn nicht noch her.« Er legte seinen Arm um ihre Schulter, zog sie zu sich. Angst? Nein, er hatte keine, nicht um sich. Um Lisa? Vielleicht. Man wußte nie genau, wie sich eine mögliche Begegnung im Wald am frühen Morgen ent wickeln konnte. Man mußte ja nicht unbedingt ein Zu sammentreffen herausfordern. Also still verhalten. Schon wieder ein knackendes Geräusch, nur jetzt viel lauter. Keine Frage, jener, der da durch den Wald schlich, kam geradewegs auf sie zu. Jetzt konnten sie schon einzelne Schritte ausmachen. Ganz vorsichtig bewegte Ron sich seitlich, wollte einen Blick über die hölzerne Deckung wagen, vor sichtig erspähen, wer da auf sie zukam. Dabei stieß er versehentlich gegen seinen Trinkbecher, der mit einem 208
hellen ›ping‹ auf einen der verwitterten Kaminziegel fiel. Der Kaffee floß über den Stein, sickerte schnell in den Boden. Sie hielten instinktiv die Luft an, lauschten. Abrupt waren in diesem Augenblick auch die Schritt geräusche verstummt. Dafür vernahmen sie jetzt ein helles, metallisches Klicken, dann nochmal. Ron zuckte zusammen. Er kannte dieses Geräusch: es war das Durchladen eines Gewehres. Wer auch immer da aus dem Unterholz des Waldes auf sie zukam, war bewaffnet und wußte jetzt, daß sie hier waren. Die Nerven waren zum Äußersten gespannt. War das vielleicht doch keine so gute Idee, heute Morgen hier herauszufahren, dachte Ron und mach te sich in diesem Augenblick doch Sorgen um Lisa. Konnte er sie beschützen, vor wem oder vor was auch immer? Er hatte keine Waffe bei sich, suchte verzweifelt nach einem Stück Holz, etwas, das stabil und schwer genug aussah, einem eventuellen Angriff zu trotzen. Da, der war genau richtig, entschied er, und blitzschnell zog er einen Ast zu sich heran. Dieses er zeugte wieder Geräusche. Ihnen war, als wären diese laut genug, um Rons lang schlafenden Kommilitonen in Boston aufzuwecken. Immer noch hielt Lisa das Butterbrot in der Hand, biß sich auf die Unterlippe, was hatte Ron noch vor kurzem gefragt: »Hast du Mut genug?« Und nun? Wo war ihr Mut? Damit, daß jemand hier im Wald um die Hütte schlich, ja damit hatte sie natürlich nicht gerech 209
net. Aber Ron war da. Er schien keine Angst zu haben. Wie kam es aber, dachte sie weiter, daß sie Furcht spürte, aber sich trotzdem in seiner Nähe irgendwie geborgen fühlte? Sie lauschten, ganz ruhig war es, keine Schritte, kei ne zerbrechende Äste. Wollte der Fremde auch nicht entdeckt werden? Ron erhob sich ganz langsam. Den Knüppel fest umklammert, wollte er es jetzt wissen, beugte sich vor, gedachte an der morschen Wand vorbeizuschauen. In diesem Augenblick krachte ein Schuß. Eine Kugel pfiff dicht an seinem Kopf vorbei und zerfetzte den oberen Teil des Astes in seiner Hand. Die Wucht riß ihm förmlich den Knüppel weg. Zu Tode erschrocken duckte er sich blitzschnell, griff nach seiner schmerzenden Hand: »Da schießt jemand auf uns. Bleib’ in Deckung, Lisa, um Gottes willen, bleib’ unten.« Erregt starrte er vor sich auf den Boden, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, blickte dann zu Lisa hinüber. In ihren Augen konnte er Panik erkennen, schwang sich zu ihr hin und umfaßte ihre Hand: »Komm«, flüsterte er hektisch, »komm Lisa, ganz ruhig. Wir müssen hier weg, schnell, okay? Da vorne können wir durch. Keine Angst, wir schaffen es.« Ungeachtet seiner Schmerzen packte er ihre Hand noch fester und zog sie mit sich. Nacheinander kletterten sie gebückt durch die Öffnung, die einmal ein Fenster gewesen war und liefen, so schnell sie konnten, in Richtung auf 210
das Meer zu. Rucksack, Butterbrote, Thermoskanne, alles blieb zurück, unwichtig, nur weg hier, waren ihre Gedanken. Und wieder schlug ein Schuß unmittelbar neben Ron ein, diesmal in den Stamm einer jungen Birke. Die Rindenteile splitterten nur so auseinander. Da schießt einer mit einem großkalibrigen Gewehr, durchzuckte es Ron, und verdammt, wahrscheinlich auch noch mit Zielfernrohr. Was hat der vor? Wir sind doch keine tollwütigen Füchse. Beide hetzten vorwärts so schnell sie konnten. Hinter einem umgestürzten Baumstamm verharrten sie einen Augenblick, atmeten tief durch, schauten sich voller Anspannung an. Wurden sie noch verfolgt? Es war so verdächtig ruhig. Dann durchpeitschte erneut ein ohrenbetäubender Knall die Luft, sie hörten das Pfeifen der Kugel über ihren Köpfen. Instinktiv duckten sie sich noch tiefer. Doch was war das? Vernahmen sie jetzt auch noch Hundegebell? »Nicht auch noch Hunde, verdammt«, fluchte Ron außer Atem, »los weiter, bevor die uns aufspüren.« Sie rannten weiter. Ein ums andere Mal blieb Lisa mit ihren langen Haaren an den Ästen der Sträucher und Bäume hängen, jedesmal hörte Ron ein kurzes ›Aah‹ oder ›Autsch‹, aber sie lief mit. Jetzt überholte sie sogar Ron, war vor ihm, scherte halblinks aus, fand hier eine bessere Route durchs Unterholz und hastete weiter. Selten reichte die Sicht mehr als zehn Meter. 211
»Halt, Lisa, stop, paß auf, da vorne geht’s abwärts. Die Felswand. - Paß auf, niiicht!« Doch seine Warnung kam zu spät. Er sah, wie sie die Balance verlor, taumelte und nach unten stürzte. »Liiisa«, schrie Ron, »oh Gott, Lisa«, und schon hastete er an die Felskante, wo er sie hatte verschwin den sehen. Jegliche Gefahr außer acht lassend beugte er sich vornüber. Dann sah er sie. Sie lag ungefähr vier Meter tiefer auf einem Vorsprung und winkte ihm mit heftigen Armbewegungen zu: »Mir ist nichts passiert. Komm, spring’ runter, schnell, hier ist eine Nische in der Felswand, in der man sich verstecken kann, mach schon, spring’ endlich, hör doch, das Hundegebell.« Ron zögerte nicht, setzte zum Sprung an und landete genau neben ihr. Der Felsvorsprung war nur an dieser Stelle drei Meter breit, ansonsten wäre ein Sturz in die Tiefe un vermeidlich gewesen. Doch weiter darüber nachzuden ken war jetzt müßig. Da war jemand hinter ihnen her, wollte sie anscheinend töten. Beide krochen flink in die Felsennische, so daß sie von oben nicht mehr gesehen werden konnten. Sie ver suchten so lautlos zu atmen, wie es ging. Nur ihr Puls hämmerte unbeirrt weiter. Schüsse fielen nicht mehr. Sie warteten, lauschten. Plötzlich war das Bellen des Hundes wieder da, lau ter und näher. Jetzt hatten sie das Gefühl, daß der Hund direkt über ihnen sein mußte. Sie hörten das Schnuppern, Hecheln, 212
das triumphierende Gebell, das ein Erfolgserlebnis mitteilen wollte. Schritte kamen rasch näher. Jemand kniete sich am Klippenrand nieder und schaute in die Tiefe. Ron und Lisa hielten den Atem an, er drückte sie fest an sich. »Hallo, ist da unten jemand?« rief eine Stimme mit fröhlichem Unterton, »hey, ihr da unten könnt ruhig rauskommen. Ich habe den Rucksack gefunden, die Thermoskanne und die beiden Becher. Kommt raus, ich verrate auch niemandem, daß ihr hier Schießübungen veranstaltet habt. Na los, ich habe nur ein paar Fragen. Ich bin auch nicht vom Sheriffbüro oder ein Ranger, Parkaufseher oder etwas ähnliches. Los, zeigt euch doch endlich.« Ron schaute Lisa an, legte seinen Zeigefinger auf seinen Mund, wartete, bis er sicher war, daß Lisa ihn verstanden hatte, nahm dann sein Herz in beide Hände, kroch langsam aus ihrem Versteck hervor und schaute nach oben. »Hallo, junger Mann, keine Angst, ich verrate euch nicht«, schallte es ihm entgegen. Ron erspähte einen älteren, kauzig wirkenden Mann in einem Batikhemd. Seine grauen Haare trug er unter einer Baseballkappe hinten zu einem Zopf zusammen gebunden. An seiner Seite blinzelte ein Schäferhund mit nach vorn gerichteten Ohren zu ihm herunter. Der Mann zwinkerte ihm zu: »Bißchen ballern in der Früh macht schon Laune, nicht?« Doch bevor Ron antworten konnte, sprudelte der 213
Fremde weiter: »Hey, habe ich euch erschreckt, oder mein Hund? Oh, das tut mir leid. Darf ich mich vor stellen: Arnim Clausseé aus Boston, eigentlich aber aus Arizona. Bin hier nur auf der Durchreise, zu Forschungszwecken. Und...« »Sie haben nicht auf uns, äh, auf mich geschossen, Sir?« fragte Ron etwas irritiert. »Wer? Ich? Gott bewahre«, antwortete Clausseé, dabei erblickte er jetzt auch die verängstigte Lisa, die ebenfalls aus der Nische hervorgekrochen kam, »ich dachte, ihr habt Schießübungen abgehalten.« »Nein, haben wir nicht. Auf uns ist geschossen wor den«, erwiderte Lisa, die immer noch sehr argwöhnisch nach oben schielte. »Aber nicht von mir. Bestimmt nicht. Ich bin nur mit meinem Hund Texas hier, und ich wollte eigentlich zur Küste.« »Quer durch den Wald?« fragte Ron mißtrauisch, »da gibt es aber andere Wege.« »Glaube ich gerne, aber ich bin nicht von hier und kenne mich nicht so gut aus in dieser Gegend. - Was ist? Wollt ihr eigentlich den ganzen Tag da unten ver bringen, oder soll ich euch hoch helfen?« »Ja, okay, aber wie?« »Moment junger Mann, ich schaue mich mal um.« Wenige Minuten später war Clausseé fündig gewor den, und ließ einen laternenpfahldicken Baumstamm hinunter, an dessen abgebrochenen Aststümpfen man wie auf einer Leiter nach oben klettern konnte. »Tut der Hund auch nichts?« fragte Lisa, als sie 214
hinter Ron, oben angekommen, unvermittelt dem Schäferhund in die Augen sah. »Texas ist eine Seele von einem Hund. Glaubt mir. Vielleicht hat er sogar den geheimnisvollen Schützen vertrieben, wenn ihr beide es nicht gewesen seid, die hier rumgeballert haben.« »Ich hab’s schon gesagt, nicht wir haben geschossen, sondern auf uns ist geschossen worden«, erregte sich Ron, ergriff gleichzeitig Lisas Hand und wandte sich zu ihr, »sorry Lisa, so habe ich mir den Ausgang des rötlichen Sonnenaufgangs bestimmt nicht vorgestellt.« Lisa schaute Ron an. Er sah mitgenommen aus, und trotzdem, er war, sie wußte nicht, wie sie ihre augen blicklichen Gefühle beschreiben sollte, sie wußte nur, daß sie noch mehr für ihn empfand. Aber was fühlte er, war seine Zuneigung ihr gegenüber ebenso stark? Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zur ›Hütte‹. Alles war, wie sie es fluchtartig verlassen hat ten. Die Thermoskanne war noch dicht verschlossen. Das bedeutete, daß es noch heißen Kaffee gab. Plötzlich schaute Ron auf: »Sagten Sie nicht, Ihr Name sei Clausseé?« »Ja, richtig.« »Arnim Clausseé, der, verzeih’n Sie mir, verschro bene Professor mit der ›Erdwall-Schlange aus Adams Country‹?« Ron blinzelte den Fremden prüfend an. Dieser zeigte sich überrascht: »Ja, wenn ihr es so wollt, ja. Aber kennen wir uns?« »Oh, nein, nicht direkt, nur vom Hörensagen, aber auch nur, wenn Sie zufällig einen gewissen Professor 215
McHolis aus San Francisco kennen.« »McHolis? Wouw! Texas, hörst du, sie meinen John!« Der Fremde mit dem Hippie-Hemd hüpfte über einen querliegenden Stamm, schaute erst zu Ron, dann zu Lisa, beugte sich zu ihr herunter: »Junge Frau, also, McHolis ist nicht nur ein guter Bekannter von mir, er ist sogar mein Freund. Dieser Hörsaalwissenschaftler ist tatsächlich mein bester Freund, stimmt’s Texas?« Der Hund regte sich nicht, lag jetzt nur gelangweilt zu Füßen des Professors. Ron lächelte: »Mann, dann sind Sie es wirklich, Clausseé. - Lisa, erinnere dich an Birmingham. Da trafen wir doch Bellas Onkel, Prof. McHolis, und der hatte uns bezüglich des Zeichens doch gesagt, nur ein Mann namens Clausseé könnte uns wirklich weiterhel fen. Und jetzt ist er hier, ohne, daß wir ihn extra auf suchen mußten. Ist doch irre. - Oh, Entschuldigung«, damit wandte er sich zu Clausseé, »meine Begleiterin, die immer noch ein wenig erschrocken dreinschaut, ist Lisa Borgdal und ich bin Ron Millar, freut mich, Sie kennenzulernen, Sir.« »Ganz meinerseits. - Äh, aber wie war das? Sagte McHolis ›weiterhelfen‹. Wobei weiterhelfen?« Claus seé war irritiert und neugierig zugleich, schob die Kappe zur Seite und kratzte sich am Kopf, »er meinte wirklich, ich könnte euch weiterhelfen? Ja, in welcher Angelegenheit denn, bitteschön?« Lisa, die damit beschäftigt war, ihre auf der Flucht erlittenen Kratzer und Abschürfungen an Armen und Beinen zu betrachten, blickte herüber und antwortete, 216
noch bevor Ron den Mund aufmachen konnte: »Bei der Suche nach einer Erklärung.« »Einer Erklärung? Was für einer Erklärung?« »Es geht um ein altes Symbol, das Freunde aus Skandinavien als Vereinslogo nutzen. McHolis mein te, es sei indianischen Ursprungs, obwohl es, wie wir nachgeprüft haben, aus dem Norden Europas stamm te.« »Oder aus Mexiko«, ergänzte Ron. Clausseé warf plötzlich den Kopf in den Nacken, tippte ihn sanft an die Schulter und begann zu lachen: »Millar, ja genau, dann bist du der junge Mann, der McHolis die Sache von den drei Felsen im Meer er zählt hat? Oh, mein Gott, deiner Story wegen bin ich von Boston zu diesem Küstenabschnitt hergefahren. Ist doch nicht zu glauben, hey.« Auch Ron lachte, und ebenso ließ sich Lisa anste cken. »Sind Sie denn schon unten am Wasser gewe sen?« wollte sie wissen. »Nein, eben nicht. Ich dachte, es führe eine Straße dahin. Aber nichts davon. Als ich dann merkte, daß ich mich immer weiter von der Küste entferne, habe ich am Wegesrand gehalten, bin ausgestiegen, über den alters schwachen Zaun geklettert und dann immer Richtung Küste gegangen, dem Sonnenaufgang entgegen. Da fällt mir ein, als ich gerade den Zaun überstieg, war da noch ein anderes Auto am Straßenrand abgestellt: ein Mercedes. Ich kenne diese Autos, habe schließlich lange in Deutschland gelebt. Euer Auto ist das nicht zufällig?« 217
Ron und Lisa schüttelten den Kopf, schauten dann einander an. Beide wußten, an was der andere gerade dachte. »Mein Orientierungssinn war eigentlich schon immer ziemlich gut«, sagte Clausseé, »ja, und als ich dann die Knallerei hörte, bin ich dorthin, habe dann zwischen den Resten einer ehemaligen Hütte Rucksack und Thermoskanne entdeckt, und bin an der Klippe schließlich auf euch gestoßen. Daß hier im Wald aber eine verfallene Blockhütte existiert, davon sagte McHolis nichts.« Er schüttelte vergnügt seinen Kopf, daß der graue Zopf von links nach rechts pendel te. Dann nahm er dankend den Becher mit Kaffee, den Lisa ihm reichte. Auch Ron bat noch um einen Becher des heißen Getränks. War er doch sichtlich erleichtert darüber, daß alles so glimpflich abgelaufen war. Mein Gott, dachte er, was hätte er tun sollen, wenn seiner Lisa aus Schweden hier etwas zugestoßen wäre? Er verdrängte diesen Gedanken und wandte sich Clausseé zu: »Sagen Sie, Professor, was suchen Sie eigentlich hier in die ser Gegend? McHolis meinte, Ihr Forschungsgebiet sei Boston oder die Bostoner Umgebung? Stimmt das denn nicht?« »Also gut, Ron. Weshalb ich hier bin, willst du wis sen? Du meinst, hier im Wald?« »Nein«, entgegnete Ron, »ich meine, speziell hier auf diesem privaten Grundbesitz?« »Ach, ist das hier Privatgrundstück? Deshalb der Zaun, ich verstehe. Nun, Ron, um deine Frage zu beant 218
worten. Ich bin in dieser Gegend wegen der Wikinger, die irgendwo hier an diesem Abschnitt der Küste vor ungefähr tausend Jahren an Land gegangen sind. Und ich suche jetzt die dazugehörenden Beweise in Form von Fundstücken, oder einige an Indianer überlieferte Verhaltensmuster. Daß ich hier auf Privatgrund bin, ist eher zufällig.« Die ganze Zeit hatte Lisa zugehört, ließ Clausseé ausreden: »Aber eigentlich kommen Sie doch aus dem Südwesten der USA, nicht wahr, aus Flagstaff, glaube ich?« »Richtig, Mädchen, du bist aber gut informiert. Dort habe ich gelebt und mich für die Sitten und Gebräuche der Indianer interessiert. Auch habe ich dort an der Hochschule unterrichtet. Naja, bis meine Frau sich auf und davon machte.« »Wie, auf und davon?« stutzte Ron, »Sie waren ver heiratet?« »Na ja, was man so verheiratet nennt«, er machte eine Pause, suchte in den Wipfeln der Bäume nach dem Vogel, der mit seinem plötzlichen Gezwitscher die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken wußte, konnte ihn aber nicht entdecken, so daß er fortfuhr, »wir haben uns nach kurzer Zeit nicht mehr viel zu sagen gehabt. Außerdem war ich durch meine Arbeit immer öfters und für immer längere Zeit fort von zu Hause. So etwas geht auf Dauer nicht gut. Nun, Kinder hatten wir auch keine und so fand ein richtiges Eheleben, geschweige denn Familienleben, eigentlich nicht statt.« Er hielt er neut inne, nippte an seinem Becher, »und so habe ich 219
mir gedacht, was willst du denn mit einer Wohnung, zu der du von deinen Reisen immer wieder zurückkehren mußt, nimm deine Behausung doch einfach mit. Tja, und so gab ich meine Bleibe auf und kaufte mir einen Wohnwagen, richtiger ein Wohnmobil. Und ich schaff te mir Texas an, meinen neuen Gefährten.« »Ich weiß«, sagte Lisa, »ein grünbraun bemaltes Wohnmobil, nicht? Weiß ich von McHolis.« »Na klar. Von McHolis. Im Moment habe ich tat sächlich ein grünbraunes Mobil, richtig. Aber das ist schon mein zweites Fahrzeug dieser Art. Es steht übri gens hinterm Zaun, da weit hinten an der Straße. Aber du erwähnst gerade McHolis. Der war gestern noch bei mir, drüben in Rockport. »Prof. McHolis ist hier?« »Nicht mehr, Ron«, entgegnete Clausseé, »jetzt ist er schon wieder in Boston. Aber er hat von euch beiden gesprochen, besonders von dir, Ron.« Er lächelte beim letzten Satz beinahe entschuldigend zur Lisa herüber. Sie erwiderte das Lächeln: »Ist schon okay. Aber ich würde trotzdem gerne wissen, weshalb Sie nun wirk lich hier zur Hütte gekommen sind? Glauben Sie, die ser zerfallene Rest einer Behausung stammte von den Nordmännern?« »Oh nein, Lisa, nein«, wehrte der Gefragte energisch ab, »ich wollte gar nicht zur Hütte, wußte überhaupt nicht, daß es sie gibt. Nein, ich wollte zur Küste, mir die drei Nadelfelsen im Meer anschauen. Hätte ich nicht die Schüsse gehört und hätte Texas nicht so ener gisch angeschlagen, ich wäre hier einfach dran vorbei 220
gelaufen.« Ron spürte die seitlichen Blicke Lisas, wußte, daß sie an seine Ungeschicklichkeit dachte, die den ›Jäger‹ erst auf sie aufmerksam gemacht hatte, sah ihr ›strafendes‹ Gesicht, dann aber ihr Schmunzeln, als er einen Kußmund machte und ihr diesen zuwarf. Der Professor, der mit dem Mienenspiel der beiden jungen Leute nichts anfangen konnte, ergriff das Wort: »Lisa, was du sicher meinst, bzw. wissen willst, ist doch: wieso ein Indianerkenner, so die Worte unseres gemeinsamen Bekannten McHolis, auf einmal nach Spuren der Wikinger sucht, und dann auch noch hier, richtig?« »Ja, das meinte ich, so ungefähr jedenfalls.« »Na schön, wenn ich noch einen schönen heißen Kaffee bekomme, erzähle ich den Grund meines Hierseins.« Dabei streichelte er den zu seinen Füßen liegenden Texas. Es war die letzte Becherfüllung, mehr Kaffee war nicht mehr da. Der Professor stand auf, ging mit dem Becher in der Hand einige Schritte aus der Ruine her aus und lehnte sich dann an einen Birkenstamm. Er nahm einen Schluck und blickte zu den beiden herü ber: »Es war folgendermaßen: als ich beim Studium alter indianischer Aufzeichnungen, und dabei mei ne ich sehr alte Aufzeichnungen, zum Teil von den Anazasis, feststellte, daß in diesen immer wieder von seltsamen Treffen zwischen Abgesandten ihres Volkes und von Fremden mit heller Haut und roten bzw. blon den Haaren die Rede war, deutete ich diese fremden 221
Abgesandten als Besucher aus der sogenannten Alten Welt, also aus Europa. Ich hatte immer geglaubt, die ersten dieser Begegnungen hätte im heutigen Arizona stattgefunden, aber dann war ich mir nicht mehr so sicher. Denn es wurde dort auch von Wölfen und Bären berichtet. Ich bekam schließlich heraus, daß Teile der Überlieferungen vom Stamm der Algonkin stammten, die eine enge Verbindung zu den Anazasis vorweisen konnten. Diese Algonkin lebten aber nicht im Südwesten, dort, wo heute die Überlieferungen aufbewahrt und verehrt werden, sondern zur Zeit des ersten Zusammentreffens hoch oben im Norden des amerikanischen Kontinents. Ihr Lebensraum erstreckte sich über das ganze Gebiet des späteren Neuenglands. Darum glaube ich jetzt ganz fest, daß hier ein Kontakt zwischen beiden Welten stattgefunden haben muß.« Gespannt folgten Ron und Lisa den Ausführungen Clausseés. »Und wonach suchen Sie jetzt konkret? Nach Felsenbildern oder Wracks von Wikingerschiffen oder so etwas?« wollte Ron wissen. »Die Erforschung der indianischen Überlieferungen war natürlich nur ein Teil meiner Recherche. Es galt auch, die alten Runen der Nordmänner auf eventuelle Begegnungen mit andersgearteten Völkern zu über prüfen. Leider sind die frühen Taten und Erlebnisse der Wikinger jener Zeit fast nur in den uralten nordi schen Aufzeichnungen der ›Groenlendinga saga‹ und der ›Eiriks saga rauda‹ nachzulesen - oder auf den Runensteinen.« 222
»Ich habe mich auch mit den Runensteinen befaßt«, unterbrach ihn Lisa, »auf mehr als fünfzehn Steinen habe ich ›unser Zeichen‹ eingemeißelt gefunden.« »Wirklich?« staunte Clausseé über so viel Forscher drang, »und hast du auch die Botschaften entziffern können?« Sie schüttelte den Kopf: »Nein. Aber ich wollte ja lediglich herausbekommen, ob das Zeichen nur auf einem oder auf mehreren Steinen zu finden war. Die Runenschrift kann ich ja ohnehin nicht entziffern.« »So schwer ist das Runen-ABC aber gar nicht. Es würde dir bestimmt Spaß machen, es zu lernen.« »Können Sie diese gemeißelten Schriftzeichen denn lesen? Stand vielleicht etwas über unser Zeichen nie dergeschrieben, äh, eingemeißelt?« fragte Ron jetzt seinerseits. Der Professor kam einige Schritte näher, setzte sich dann auf einen Baumstumpf und schaute Ron an: »Ob es etwas mit eurem Zeichen zu tun hat, vermag ich nicht zu sagen. Ein Teil der Botschaft auf den Steinen kehrt immer wieder, und zwar auf jenen Steinen, die im Zeitraum vor dem 13. Jahrhundert bearbeitet und aufgestellt wurden. In der Mitteilung ging es um den berühmten Leif Eriksson, der, wie wir mittlerweile alle wissen, um ca. 1000 nach Christi an der Küste Neufundlands landete, dann aber auch Ausflüge herun ter bis zum heutigen Maine durchführte. Eine einzelne norwegische Silbermünze aus jener Zeit, ist bis heute das einzige Indiz für ihre Anwesenheit. Nur wenige Monate später, nach einem extrem strengen Winter, 223
verließen er und seine Mannen das ungastliche Land wieder.« »Soweit kennen wir es aber auch aus dem Geschichts unterricht«, bemerkte Lisa, stand auf und ging einige Schritte auf und ab. »Richtig, Lisa. Das wissen wir alle. Aber die Steine erzählen noch mehr. Nach der Deutung der Runenbot schaft erfolgte der Aufbruch der Wikinger um Leif Eriksson gleich, nachdem im Frühjahr das Meer eis frei wurde und eine Rückkehr nach Island möglich war. Der Grund des Aufbruchs war letztlich nicht die unerbittliche Natur hier mit all ihren Gefahren, die Wikinger waren ein zähes naturverbundenes Volk, das nicht als ängstlich galt, bestimmt nicht. Aber dennoch gab es da etwas, das zum schnellstmöglichen Aufbruch drängte.« »Was war denn der Grund ihres Aufbruchs? Erzählen Sie schon«, forderte Ron. Clausseé hatte die Gabe, wichtige Dinge mit ei ner wohldosierten Spannung zu berichten: »Tja, der Grund war, so habe ich die Überlieferungen über die Exkursion des Leif Eriksson in die Neue Welt gedeutet, eine tief sitzende Furcht.« »Furcht?« »Ja, man muß wissen, daß diese wilden Nordmänner eine große Schar Götter verehrten. Und ihre größ te Sorge war, daß diese sich von ihnen abwenden könnten oder sich untereinander bekriegen und töten würden mit der Folge, daß dann, nach ihrem Glauben der Himmel einstürzen würde. Diese Sprüche, lie 224
ber Ron, kennst du sicher auch. Nun berichteten die Steine aber davon, daß der Führer der Wikinger eines Nachts eine folgenschwere Begegnung mit einem Abgesandten einer fremden Welt hatte. Während die ser Zusammenkunft waren beide umgeben von einem rötlichen Licht. Dieser Abgesandte schien menschli cher Natur zu sein, und doch verfügte er über göttli che Kräfte. Er soll Leif Eriksson eine Botschaft des Friedens mitgeteilt haben, ihm ein silbernes Symbol überreicht und zur Besiegelung des Paktes seinen Speer mit großer Kraft in den gefrorenen Boden ge stoßen haben, daß der Stiel kurz über der Speerspitze abbrach. Auch Eriksson mußte sein Schwert zum Speer in den Boden rammen. Im gleichen Moment soll der Boden aufgetaut und Erdreich, Pflanzen und drunter liegender Fels zu einem riesigen, kristallinen Klumpen verschmolzen sein, der die Waffen fest umschloß. Leif Eriksson soll nach dieser Nacht wie verändert gewesen sein: er sprach nicht mehr von Eroberungen und hatte nur noch das Ziel, dieses Land so schnell wie möglich zu verlassen. Zurückgekehrt in seine Heimat berichtete er von dem erhaltenen ›Auftrag‹, Frieden zu bewahren, Unterdrückungen und Eroberungen zu unterlassen und er zeigte allen das vom Fremden überreichte Symbol des Friedens. Doch die Botschaft, die Leif Eriksson verkündete, wurde nicht erhört, das Zeichen, daß er bekommen hatte, wurde vergessen. Das Symbol aus Silber ver schwand mit seinem Tod.« Clausseé schwieg. Ebenso Ron und Lisa. 225
Sie saßen bzw. standen wortlos in der verfallenen Hütte. Die Sekunden dieser Ruhe kamen ihnen unend lich lang vor. »Aber ob das Zeichen, das Eriksson bekam, mögli cherweise unser Zeichen ist, wissen Sie nicht?« been dete Ron die Schweigsamkeit. Er und Lisa hatten bei Clausseés Erzählung immer dann ein ganz komisches Gefühl gespürt, wenn er von einem Zeichen oder ei nem Symbol sprach. »Hm - nein. In der Botschaft der Runensteine ist das Friedens-Zeichen des Fremden nicht beschrieben, also: Form, Größe, Material und so weiter. Aber Leute, was mich daran interessiert, ist doch die Tatsache, daß nach aller Wahrscheinlichkeit in dieser Gegend eine erste spirituelle Kontaktaufnahme zwischen einem Wikinger und einem Algonkin-Indianer stattgefunden hat. Auch wenn Leif enttäuscht über die schwierigen Lebensbedingungen vor Ort bald wieder abgereist ist, es ist belegt, daß nur kurze Zeit später der nächste Trupp Nordmänner herkam, um hier zu siedeln und mit den Ureinwohnern des Landes Handel zu treiben.« »Wenn, wie Sie sagen, schon wenige Jahre später erneut Wikinger hier landeten, um Land zu bebauen, dann haben diese doch die Warnung, oder was auch immer Leif ihnen erzählte hatte, einfach in den Wind geschlagen?« »So sieht’s wohl aus, Lisa«, antworte Clausseé und in seiner Stimme schwang etwas Tröstendes mit, »aber wenn ich die Wikinger- und Algonkinüberlieferungen zusammenführe, dann muß das Treffen irgendwo hier 226
stattgefunden haben.« Ron stutzte: »Wieso hier?« »Der Professor strich sich mit der Hand durchs Gesicht: »Um genau das zu beweisen, bin ich heute hergekommen. Auf den Steinen stand nämlich auch, daß dieses Treffen unweit dreier Felsennadeln statt fand. Dummerweise habe ich die Felsennadeln immer im Südwesten der USA gesucht und das rötliche Licht aus den Überlieferungen mit dem aufwirbelnden Staub der rotfelsigen Landschaft Arizonas in Verbindung ge bracht. Doch ich glaube, die Felsen sind hier zu suchen und das Licht ebenso.« »Aber bis jetzt hat meines Wissens noch niemand konkrete Beweise für die Landung der Wikinger an Hand von gefundenen Gegenständen, Waffen usw. er bracht.« »Stimmt, Ron. Außer dieser einen alten Silbermünze. Aber deswegen bin ich hier. Denn ich glaube, daß es noch mehr solcher Beweise gibt.« »Übrigens, Professor«, mischte sich Lisa in das Gespräch ein, während sie die Thermoskanne, die Becher und die Butterbrotdose wieder in Rons Rucksack verstaute, »werden Ron und ich eine Stippvisite nach Arizona machen, um die Hopi-Indianer zu besuchen.« »Die Hopi«, wurde Clausseé auf einmal ganz hell hörig, »wieso die Hopi?« »Es geht um das besagte geheimnisvolle Zeichen das von den Runensteinen«, erklärte Ron. »Das Zeichen, dessen Herkunft euch so sehr inter essiert?« 227
»Ja, Professor, und genau dieses Zeichen hat mein Ururgroßvater an einem Pueblo der Hopi-Indianer ent deckt. Er beschrieb es in seinem Tagebuch. Das war vor fast 120 Jahren.« Ron und Lisa bemerkten, wie ihr neuer Bekannter seltsam unruhig mit den Augen flackerte und schließ lich fragte: »So, Hopi, sagt ihr? Dauernd haben wir über euer Zeichen geredet. Bitte zeigt es mir. Ich muß jetzt dies anscheinend so interessante Symbol sehen. Ron, kannst du es in den Waldboden zeichnen?« Ron nickte, suchte sich einen dünnen, passenden Ast und skizzierte das ›Norwegersymbol‹ in den zuvor glattgestrichenen Boden. Clausseés Augen verengten sich erst, dann wurden sie immer größer. »Und, kennen Sie es«, fragte Ron, als er fertig war, »kommt Ihnen das Symbol bekannt vor?« »Oh Gott, ja.« »Oh ja? Was heißt oh ja?« drängte Lisa, welche die versteinerte Miene des Professors bemerkte. Clausseé wirkte verstört, fast erschrocken. »Es ist das Zeichen der Kachinas, das heißt, eines bestimmten Kachina«, stammelte er, und während er es aussprach, verwischte er mit dem Fuß das in den Boden geritzte Zeichen bis zur Unkenntlichkeit. »Und was bedeutet das?« »Ron, dieses Zeichen ist gleich einer Botschaft. Ich vergaß zu sagen, daß ich viele Jahre bei und mit den Hopi gelebt habe, und daß ich dort als Weißer nur teil weise Einsicht in ihre Überlieferungen erhielt. Eines 228
aber wurde mir klar: und zwar, daß ich, obwohl ich fast wie einer ihrer Stammesbrüder war, nie das gro ße Geheimnis der Kachinas erfahren und verstehen würde. Euer Zeichen habe ich einige Male in ihren Überlieferungen entdeckt, aber, als ich sie darauf an sprach, wurde ich immer auf später vertröstet.« Ron stutzte: »Was meinten sie mit ›später‹?« »Genau weiß ich es auch nicht«, antwortete Clausseé, »vielleicht das, daß man es mir später erklären würde, ich weiß es nicht. Jedenfalls glaube ich, daß ihr euch die Reise zu den Hopi-Indianern ersparen könnt. Die werden euch, gerade was dieses Zeichen betrifft, mit Sicherheit nichts sagen.« »Ja, aber«, entgegnete Ron, »was ist, wenn vielleicht sogar das Symbol, daß Sie im Zusammenhang mit dem Treffen des Algonkin und dem Wikinger erwähnten, gerade dieses Zeichen wäre? Vergessen Sie nicht: auf vielen Runensteinen aus der Blüte der Wikingerzeit ist dieses ›Hopi‹-Zeichen verewigt. Vielleicht ist unser Zeichen und Ihre Suche nach Beweisen einer spiritu ellen Vereinigung zwischen zwei Kulturwelten enger verbunden, als wir glauben.« Clausseé war wirklich sehr nervös geworden, ant wortete nicht, überlegte. Auch Texas merkte, daß sein Herrchen unruhig war und lief nun ständig um ihn he rum. Ron und Lisa begriffen, daß sie dieses Thema heute und hier nicht zu Ende bringen würden. War auch okay. Erlebt hatten sie an diesem Morgen schließlich schon genug. 229
Mittlerweile stand die Sonne schon hoch am Himmel, und so beschloß man, zurück nach Camden zu fahren. Ron hatte Clausseé vorgeschlagen, er solle sie zu ihrem Wagen begleiten, allein wegen des besseren und bequemeren Weges. Und sie würden ihn dann an sei nem Wohnmobil absetzen. Er war einverstanden. Als sie das Wohnmobil erreichten, ergriff Clausseé nochmals das Wort, wurde dabei sehr förmlich: »Ich habe mich sehr gefreut, euch beide kennengelernt zu haben, und ich kann nur sagen, daß ich an eu rer Stelle sehr, sehr vorsichtig sein würde bei euren Nachforschungen bezüglich des Zeichens. Ihr müßt wissen, daß McHolis absolut recht gehabt hatte. Es ist ein indianisches Symbol, aber leider nicht irgendeines, sondern ein Symbol, daß für einen Kachina steht. Und die Kachinas waren Götter, die vor vielen Jahrhunderten zu auserwählten Völkern unter den Indianern kamen, um diese einzuweihen in die Geheimnisse, wie mit dem Planeten Erde sinnvoll im Sinne des planetari schen Zwölferbundes, umgegangen werden sollte. Mich macht nur stutzig, daß dieses Zeichen, so wie ihr behauptet, an verschiedenen Orten und zu verschie denen Epochen auftauchte. Das könnte bedeuten, daß man mit den Menschen, nicht nur in Amerika, irgend etwas vor hat. Aber was, das kann ich auch nicht sagen. Noch nicht.« Lisa und Ron wußten Clausseés Warnungen nicht richtig einzuschätzen. Was soll’s. Bange machen galt 230
nicht. »Ist er nun ein Wahnsinniger oder ein Genie, der Clausseé? Jedenfalls irgendwie symphatisch«, mur melte Ron, als sie auf dem Heimweg waren. Lisa saß neben ihm, hatte den frühen, sehr ereignisreichen Tag eigentlich doch gut verkraftet, wie sie selbst empfand. »Hör mal, Lisa, daß auf uns geschossen wurde, soll ten wir dem Sheriff melden, was meinst du?« »Unbedingt. Wäre ja noch schöner, wenn jeder schießwütige Idiot einfach um sich ballern könnte. So etwas gäbe es bei uns in Schweden nicht.« Um achtzehn Uhr war Rons Vater immer noch nicht zurück aus Boston. Lisa hatte es sich auf dem blumengemusterten Sofa bequem gemacht und wartete auf die Rückkehr von Ron, der zum Busbahnhof gefahren war, um seinen Bruder abzuholen. Ziemlich überraschend hatte Robert aus Boston angerufen und mitgeteilt, wann er mit dem Bus in Camden eintreffen würde. Hätte Rons Vater ihn nicht aus Boston mitbringen können, dachte Lisa, ach was ging sie das an. In ein paar Minuten sei er mit Robert zurück, hatte Ron versichert. Mitfahren wollte sie nicht, lieber sich auf das Sofa kuscheln und etwas schmökern. Sie hatte sich, bevor Ron startete, das alte Tagebuch aus dem VW geholt und mit ins Haus ge nommen. Dies war jetzt genau die richtige Lektüre, war sie sich sicher. Mann, war der Officer ein Idiot, dachte sie plötzlich 231
und mußte an ihren Besuch im Sheriffbüro kurz nach der Mittagszeit denken. Der diensthabende Beamte hatte sich die Story von der Verfolgung im Wald ange hört. Daß auf sie geschossen worden war, ließ ihn völ lig unbeeindruckt. Da hatte wohl einer das HalloweenFest vorverlegt, wollte Leuten einen speziellen Horror bereiten, meinte er. Ron konnte es nicht glauben, wur de wild: die Kugeln seien nicht in die Luft abgegeben worden, sie seien nur so um seinen Kopf geschwirrt, schrie er den Policeofficer an. Schließlich hatte sich dieser dann doch an eine Schreibmaschine gesetzt und die Anzeige aufgenommen. Noch als sie das Büro des Sheriffs verließen, hatte Ron sich nicht beruhigen wollen. Sie hatte ihn be schwichtigen wollen, doch er hatte nur abgewinkt: »Tja, Lisa, das ist Neuenglands Halloween, überall Monster und Zombies. Da sind der Sheriff und seine Deputys keine Ausnahme. Hey, der kann ja auch richtig ›hochgehen‹, lachte sie vor sich hin, und rückte sich eines der Sofakissen zurecht. Ein Blick zur Uhr. Wo blieben nur die beiden? Sie nahm Ore Petersons Aufzeichnungen zur Hand und begann, langsam darin zu blättern. Wegen der Stille im Haus konnte sie dann hören, wie ein Wagen langsam die Auffahrt herauffuhr. Es war der unverwechselbare Klang von Rons Käfer. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, die Haustür wurde aufgestoßen und zwei Männerstimmen, gutge launt, scherzend, füllten den Vorraum. 232
Lisa legte das Tagebuch wieder zur Seite und stand auf. »Darf ich vorstellen«, lachte Ron, als Lisa in den Flur trat, »mein Bruder Robert, von vielen auch Bob genannt - Lisa Borgdal, aus dem Land des Wasa-Brotes und der tollen Tennisspieler.« Lisa war erstaunt, als sie Rons Bruder die Hand gab. Er war zwar etwas größer, aber sonst Ron wie aus dem Gesicht geschnitten. »Wouw, wißt ihr, daß ihr für Zwillinge durchgehen könntet?« sagte sie geradezu be geistert, »diese Ähnlichkeit ist schon enorm.« »Das hören wir öfters«, erwiderte Bob, »nur muß mein kleiner Bruder etwas Besonderes haben, ich jedenfalls lerne nie solch hübsche Mädchen kennen. Ehrlich.« »Höre auf zu schmeicheln«, lachte Ron, »trink lieber ein Budweiser mit mir. Magst du noch immer Budweiser?« »Klar, ›Zwillingsbruder‹.« »Lisa, und du?« Sie schüttelte den Kopf: »Nein danke, aber eine Coke hätte ich gerne, falls du eine im Haus hast?« »Aber ja doch.« »Und ich gehe schnell meine Sachen aus dem Auto holen«, sagte Bob und schon war er nach draußen ge eilt, rief aber zum Haus zurück: »Ron, du mußt mal neue Glühbirnen in die Außenlampen drehen, ohne Licht kann man kaum etwas sehen.« »Okay, hast recht. Ich hätte welche mitbringen kön nen aus der Stadt, hab’s halt vergessen«, murmelte der 233
vom Kühlschrank zurückgekehrte Ron, stellte zwei Dosen Bud und eine Flasche Coke schnell auf den Tisch und eilte zur Haustür, »kommst du klar, Bob? Muß ich die Taschenlampe holen?« »Nein laß’, es geht schon.« Wenig später saßen die Brüder beieinander, tranken ihr Bier und erzählten sich die Neuigkeiten. Dann wur de Bob ernster. »Warum ist Vater eigentlich noch nicht da?« frag te er, packte dabei ein Sofakissen, als wäre es ein Football. Ron haute ihm mit der flachen Hand aufs Knie, daß es nur so knallte: »Weil er nicht weiß, daß du hier bist. Oder hast du ihm von deinem Kommen erzählt?« Der ältere Millar-Sohn schüttelte den Kopf, warf das Kissen mit Wucht in die Sofaecke, nahm einen kräftigen Schluck aus der Dose. Dann nestelte er an der Brusttasche seiner Jacke herum und holte einen zerknitterten Briefumschlag heraus. Es war der Brief ihrer Mutter, einer, wie auch Ron ihn bekommen hatte. Das Gespräch wird ernster, dachte Lisa, wie verhältst du dich? Sie wußte vom Brief, den Ron bekommen hat te. Deswegen, aber nicht nur deswegen, wollten sie am kommenden Tag nach Augusta fahren, zu seiner Mom. Sie spürte, daß die Jungens jetzt ins familiäre Thema wechselten. Auch der Name der Schwester Ginger fiel immer öfter. »Ihr Lieben, seid mir nicht böse, aber ich glaube, ihr habt jetzt Dinge zu bereden, dafür braucht ihr mich 234
nicht. Außerdem will ich unbedingt das Tagebuch eu res Ururgroßvaters lesen. Darum gehe ich nach oben. Tschüs.« Ron hielt die an ihm vorbeigehende Lisa am Handgelenk fest, zog sie ein wenig zu sich herunter und gab ihr einen hastigen Kuß. »Ist okay, Lisa. Versteh’ ich.« Sie lächelte ihn an, sagte nichts. Mit leisen Schritten ging sie nach oben. Bob schaute Ron an, machte ein beeindrucktes, aber auch zustimmendes Gesicht. »Bitte keinen Bemerkung jetzt, lieber Bruder, okay?« »Okay«, stammelte ein völlig unschuldig erschei nender Bob, »aber was ist mit deiner Ex-Liebe?« Fragend sah Ron seinen Bruder an: »Hast du das denn gar nicht mitbekommen?« »Wie? Was mitbekommen?« »Bob! Marian hat mich doch sitzen lassen, weil sie Kariere machen wollte in Los Angeles. Und nicht nur das: sie hat auch noch unserer Schwester diesen Filmfloh ins Ohr gesetzt. Und jetzt spinnt Ginger auch von Ruhm und viel Geld.« Der Bruder wollte erneut einen Schluck nehmen, merkte dann zu seinem Erstaunen, daß die Dose schon leer war. Er erhob sich und ging voller Tatendrang in die Küche. Zurück kam er mit dem Rest des SixPacks. Noch bevor er sich setzte, fragte er: »Hör’ mal, deine Lisa, die ich übrigens ausgesprochen nett finde, sagte was von Ururgroßvaters Tagebuch? Was für ein 235
Tagebuch meinte sie denn?« »Das, aus dem Grandpa uns immer vorgelesen hat, als wir noch klein waren. Du weißt, diese Indianer geschichten. Ich habe es vor ein paar Tagen auf dem Dachboden entdeckt, als ich alleine im Haus war und dann die Idee hatte, dort oben einfach mal etwas her umzustöbern.« »Apropos ›alleine‹, was ist denn nun mit unse ren Eltern? Weißt du, was da genau los ist? Mutter schrieb, daß sie jetzt in Augusta wohnt, ausgerechnet in Augusta, und dort auch arbeitet.« »Ja, hast du denn nicht bemerkt, was zu Hause alles schief lief?« »Schief lief? Was denn?« »Nun hör’ mal, du lebst wirklich hinterm Mond. Warst du denn so mit dir und deinem Football beschäf tigt, daß du nicht gemerkt hast, wie sich unsere Eltern immer mehr voneinander entfernten? Wie nach dem Tod von Grandma und Grandpa langsam alles anders wurde? Jeder von uns dachte nur an sich. Du, Ginger und ich natürlich auch. Wir haben nur an uns gedacht, aber nicht an unsere Eltern. Daran, daß wir eine Familie sind.« »Gut, mag schon sein. Aber du weißt doch selbst, wie schwierig es mit unserem Alten war. Ich und Anwalt? Warum, verdammt nochmal, hat er darauf be standen, daß ich in diesen beknackten Beruf gehe, Jura studiere und all den Mist.« Bob zeigte Verärgerung, »und außerdem, deswegen mußte Mutter nun wirklich nicht ausziehen.« 236
»Ach Bob«, entgegnete Ron, der seinen Bruder ir gendwo auch verstehen konnte, »daß Mutter jetzt nicht mehr in diesem Haus ist, liegt natürlich in erster Linie an Vater, aber auch an uns Kindern.« »An uns? Wieso denn an uns?« Ron spielte mit der Bierdose, die er in der Hand hielt: »Wieso? Überleg’ doch mal. Wir aus dem Haus, jedes Kind tut so, als brauchte es das Elternhaus nicht mehr. - Dann Dad, der glaubte, sich noch etwas bewei sen zu müssen, beruflich wie auch als Mann. Wenn du weißt, was ich meine. Daß Mom sich dann völlig allein und überflüssig vorkommt, ist doch klar.« Bob wurde still, begann nachzudenken. »Aber«, fuhr Ron in seiner Analyse fort, »Vater kommt mit der Situation auch nicht zurecht. Er vermißt uns.« »Vermißt uns?« staunte Bob, machte dabei ein zwei felndes Gesicht. »Doch, Bob, ich war vor einigen Tagen mit ihm es sen. Und da hat er sich glattweg ein wenig geoutet. Er würde, wie er beteuerte, alles geben, um mit uns wie der zusammen das eine oder andere zu unternehmen. Er vermißt uns sehr, wirklich. Und auch Mom.« »Das hat er gesagt?« Ron schaute seinen älteren Bruder lange an, nickte dann: »Ja, das waren seine Worte.« In diesem Augenblick wurde die Haustür geöffnet. Ben Millar trat ein, erkannte im Flur die Sporttasche seines ältesten Sohnes, spürte Freude in sich aufstei gen, sollte Bob etwa gekommen sein? »Hey, wo ist der 237
Footballstar? Zeige dich, laß dich umarmen«, rief er und warf seinen Mantel auf den Garderobenhaken. Ron und Bob waren schon beim ersten Schlüssel rasseln an der Haustür aufgestanden, wußten, das konnte nur der alte Herr sein, wollten ihn begrüßen. Ein großes Hallo setzte dann ein. Während Dad und Bob sich lange anschauten, sich über dieses unerwartete Treffen freuten, meinte Ben in Richtung Ron: »Ich glaube, die Außenleuchten sind defekt.« »Ja, ja, ich weiß«, antwortete Ron, »ich werde gleich morgen neue Glühbirnen besorgen, okay?« Dabei spitzte er die Ohren. Rief Lisa nach ihm? Tatsächlich, es war ihre Stimme. Er entschuldigte sich kurz bei Vater und Bruder und sprintete die Stufen hoch, klopfte an Gingers Zimmertür und trat auch schon ein. »Hast du nach mir gerufen, Lisa?« Lisa saß in Gingers Lieblingssessel, das Tagebuch auf dem Schoß, in der Hand eine Flasche mit einem winzigen Rest Cola: »Ja, Ron, mindestens dreimal schon. Aber ihr seid ja so laut gewesen, daß ihr mich wohl nicht gehört habt.« »Aber wo brennt’s denn? Ist dir etwas aufgefal len?« »Nicht aufgefallen«, erwiderte die junge Frau und deutete auf das Tagebuch, »gelesen habe ich etwas, das kommt mir unheimlich vor.« Ron sah Lisas ernstes Gesicht: »Was meinst du mit unheimlich? Hast du in Ururgroßvaters Tagebuch et 238
was entdeckt?« Anstatt zu antworten, warf Lisa den Kopf in den Nacken, nahm den letzten Schluck Cola und setzte die Flasche auf einen kleinen Tisch. Dann reichte sie ihm das Buch: »Ich nehme an, du hast außer der Passage über den Besuch in Oraibi noch nicht weitergelesen, oder?« »Nein, habe ich nicht. Aber ich hatte es auf jeden Fall vor, irgendwann. Wieso?« fragte Ron, von Lisas Verhalten neugierig geworden. »Dann lies das hier einmal«, dabei zeigte sie auf einen Abschnitt, viele Seiten weiter als der niederge schriebene Bericht über den Besuch auf den Mesas. Er überlegte, Bob und Vater waren da, mußte er nicht runter? Ach was, laß die beiden dort unten mal für ein paar Minuten unter sich sein. Er schaute Lisa an. Sie sagte nichts, tippte mit dem Zeigefinger nur auf das Buch und versuchte, mit einem energischen kurzen Nicken ihn aufzufordern, endlich zu lesen. Er ließ sich auf das Bett nieder und begann dann den Bericht zu lesen, der Lisa ein Kribbeln unter der Haut erzeugt hatte. Mit jedem Absatz wurde Ron stiller, hielt zwi schendurch kurz inne, schaute zur Lisa hinüber, und als er durch war, pustete er einmal ganz heftig durch: »Mein Gott, die Hütte steht auf einem Grabhügel, ei nem Kultplatz. Wo ist das Telefon? Ich werde sofort Clausseé anrufen. Herrgott nochmal, wir müssen mor gen früh nochmals zur Hütte fahren, unbedingt. Und 239
dann werden wir auch einen Spaten und eine Schaufel mitnehmen. Wenn das stimmt, was der alte Ore Peterson hier notiert hat, wird Clausseé aus dem Häuschen sein. Gut, daß er uns seine Nummer gegeben hat.« »Wir wollen morgen sehr früh eine Tour an die Küste machen«, teilte Ron den beiden anderen Millars mit, als er und Lisa eine halbe Stunde später wieder die Treppe herunterkamen, um sich noch kurz zu Rons Bruder und Vater zu gesellen, »deshalb wollen wir heu te auch früher in unsere Betten.« »Okay«, entgegnete Ben Millar spontan, »aber ein paar Minuten können wir doch noch zusammen sitzen, nicht wahr? Und natürlich sind auch Gäste des Hauses herzlich dazu eingeladen.«
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31. Oktober ’98
Camden / Maine ls Clausseé gegen sieben Uhr vor dem Haus der Millars mit einem Hupkonzert seine Anwesenheit kundtat, hatten Ron und Lisa bereits gefrühstückt und waren zur Abfahrt bereit. Der Einfachheit halber entschied man sich, gemein sam mit Rons VW zu fahren. Das ungemein ›attrakti ve‹ Wohnmobil blieb vor dem Haus unter den großen Ahornbäumen des Vorgartens stehen. Texas durfte natürlich auch mitfahren. Sie waren kaum einige hundert Meter gefahren, als Clausseé der vor ihm auf dem Beifahrerplatz sitzenden Lisa auf die Schulter klopfte: »Habt ihr das Tagebuch dabei, in dem die Notizen über die Hütte stehen? Ron hat mich mehr als neugierig gemacht. Die ganze Nacht konnte ich kaum ein Auge schließen. Ständig mußte ich daran denken, daß wir möglicherweise vor einer sensationellen Entdeckung stehen.« Er griff nach dem braunen Büchlein, als Lisa es ihm nach hinten reich te, blätterte hastig zu der Stelle, an der ein Stückchen Zeitungspapier etwas zu markieren schien. Texas schlief schnarchend auf dem Rücksitz, wäh rend sein Herrchen neben ihm im Tagebuch eine Seite nach der anderen verschlang, dabei immer wieder kaum hörbar durch die Zähne pfiff. Der Professor sprach während der ganzen Fahrt kein Wort, ein zweites und ein drittes Mal las er das Kapitel, welches schon Lisa und dann Ron ein seltsames Gefühl
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vermittelt hatte. Wieder hielten sie an derselben Stelle der Küstenstraße. Als sie die kurzstieligen Gartengeräte aus dem Kofferraum des Wagens geholt hatten, blick te Ron die Straße längs, ob sich ein Mercedes näherte - doch Fehlanzeige. Das Tagebuch verschwand im Handschuhfach, der Wagen wurde verriegelt und schon ging es Richtung Strand, um von dort aus hinauf zur verfallenen Hütte zu gelangen. In allen Dreien machte sich eine gewisse Anspannung breit. Nur Texas trotte te gelangweilt neben Clausseé her, sprang mal einige Meter vor, dann preschte er ins seitliche Unterholz, kam aber auf Rufen des Professors immer wieder so fort zurück. Als sie den Ort erreichten, an dem gestern die ers ten Schüsse gefallen waren, machten sie erst Mal eine Pause. Clausseé hatte doch ein scharfes Tempo vorgelegt. Lisa brachte aus ihrer Tasche die bewährte Thermoskanne zum Vorschein, wieder aufgefüllt mit frischem Kaffee. »So«, sagte Ron, der Schaufel und Spaten gegen einen der Baumstämme gestellt hatte, »wir haben alle die Notizen über eine historische Hütte in Maine gele sen, wie sie von meinem Ururgroßvater in seinem alten Cavalry-Tagebuch beschrieben wurde. Und ich glaube, wenn er schon damals ›historisch‹ schrieb, daß er ei gentlich nur diese Hütte gemeint haben konnte, oder?« Lisa und Clausseé nickten fast synchron, genos sen den heißen Kaffee an diesem doch recht frischen Oktobermorgen. 242
Auch Ron nahm einen kräftigen Schluck, stellte dann den Becher auf einen Baumstumpf, rieb sich die Arme und schaute in Richtung der ›Drei Spanischen Kapitäne‹, die jeden Augenblick die Strahlen der auf steigenden Sonne freigeben würden. »Warten wir’s ab. Mal sehen, ob die Sonnenstrahlen uns einen Tip geben«, sagte er und seine Stimme klang neugierig. Wieder war dieses rötliche Leuchten wahrzunehmen. Dann kam die Sonne. Sie stieg höher, und ihr Licht bahnte sich einen Weg durchs farbige Blätterdickicht bis hin zu ihnen, bis an die Stelle, wo einstmals eine stattliche Holzhütte gestanden hatte. Je mehr Strahlen zu ihnen drangen, desto aufgereg ter wurden sie. »Und wenn es tatsächlich stimmt?« fragte Lisa plötz lich, »vielleicht ist dieser Ort ein gefährlicher Ort?« »Noch wissen wir nicht, ob dies tatsächlich der Platz ist, wo die Begegnung stattgefunden haben soll«, entgegnete Ron, »dafür müssen wir graben, das weißt du.« Lisa kaute verlegen am Daumennagel: »Ich meine die Stelle im Buch, wo Ore Peterson von den Wächtern dieser Stätte geschrieben hatte. Vielleicht ist dies ja der Ort, wo einst der Fremde und der Wikinger ihr Bündnis besiegelten. Ron, überlege doch mal: die Schüsse gestern. Und wenn uns jemand nur von diesem Platz vertreiben wollte? Ore hatte doch aufgezeichnet, daß die Hütte und der Platz, auf dem sie steht, ständig von Kriegern bewacht, und daß sie alle bekämpfen und 243
fortjagen würden, die diesen heiligen Boden zu ent weihen versuchen.« Ron ging zur sichtlich nervös gewordenen Lisa, nahm sie in den Arm: »Wieso entweihen wir diesen Platz? Wir haben ja noch nicht einmal angefangen zu graben. Und außerdem kam es mir vor, als wür den die alten Aufpasser hier mit verdammt modernen Geschossen hantieren. Also, ich will wissen, ob hier ir gend etwas zu finden ist, und Sie, Professor Clausseé? Sie wollen doch auch Klarheit? Und überlegen Sie mal, vielleicht liegt hier das von Ihnen so lange gesuchte Bindeglied, das Ihre These vom spirituellen Kontakt zwischen Europa und Amerika belegen könnte. Wäre doch toll, oder?« Lisas Einwand hatte Wirkung gezeigt, denn von Clausseés anfänglicher Begeisterung war nicht mehr viel übrig. Er schaute Ron an: »Ron, wenn ich eines weiß, dann, daß man Warnungen von Indianern, wenn es um ihre Kultstätten geht, nicht so einfach ignorieren sollte. Zudem gehöre ich zu den Wissenschaftlern, wel che die Gefühle und Traditionen der Ureinwohner die ses Landes ernst und wichtig nehmen und respektieren. In den Zeilen des Tagebuches stand, daß nur ›Erwählte‹ diesen besagten Ort betreten dürften und alle anderen erbarmungslos vertrieben würden von diesem Platz. Ist vielleicht einer von uns ein Erwählter? Nein, und ist bis jetzt jemand aufgetaucht, um uns zu verjagen? Auch nicht. Was soll’s, ich will auf jeden Fall geklärt haben, ob dies einer der sagenhaften Treffpunkte ist oder nicht. Los, fangen wir an, gleich hier.« Mit diesen 244
Worten griff Clausseé sich den Spaten und stieß ihn in den Boden, genau in der ›Hüttenmitte‹, dort, wo ihnen schon am Vortag eine pflanzenlose Stelle aufgefallen war. Ron schnappte sich die Schaufel und gesellte sich zu dem Professor. Sie kamen gut voran. Der Boden war durch die Morgenfeuchtigkeit relativ locker, lockerer jedenfalls, als sie vermutet hatten. Lisa stand abseits, beäugte skeptisch das Treiben der beiden Männer. Der Hund hatte sich in einigem Abstand eine dicke Blätterschicht als Ruhelager auserkoren, döste jetzt vor sich hin. »Ich glaube, da ist was«, stöhnte Ron nach gerau mer Zeit, denn die körperliche Anstrengung war doch enorm. »Mir ist, als sei ich auf ein Stück Metall gesto ßen.« Clausseé, der ebenfalls wie ein Besessener grub, verharrte in der Bewegung: »Was? Wo?« »Na, hier«, deutete Ron und zeigte vor sich auf den Boden. Lisa kam neugierig näher. Texas, wachgeworden, sprang auch heran, mußte sei ne schnuppernde Nase in den frischen Boden stecken. Über einen halben Meter Erde hatten sie schon ab getragen. »Paßt auf, Leute«, Ron stieß die Schaufel in den Boden der flachen Grube - und tatsächlich, man hörte einen hellen Ton, wie Eisen auf Eisen. Voller Erwar tung buddelten beide jetzt genau an dieser Stelle wei ter. Minuten später wurde ein erdverschmutzter, knau 245
fähnlicher Gegenstand sichtbar. Clausseé holte sein Taschentuch aus der Jackentasche und begann, das ovale Etwas zu säubern. Sie starrten erwartungsvoll auf den Fund. »Zieh’es vorsichtig heraus, Ron«, forderte Lisa, »zieh’ das Ding doch raus, dann sehen wir, was es ist.« Der Professor fühlte sich von Lisa animiert, umfaßte den Knauf noch vor Ron und versuchte, ihn hin und her zu bewegen, glaubte, das Objekt so schneller aus dem Boden lösen zu können, allein, es bewegte sich keinen Millimeter. Sie trugen noch einmal zehn Zentimeter Erde ab. Nachdem Clausseé vorsichtig mit der Hand das Stück Metall freigelegt hatte, an dessen oberem Ende sich der Knauf befand, erkannte er in dem Metallteil den Griff eines Schwertes. Als er die Ornamentik, die den vierteiligen Knauf umlief, genauer betrachtete, wich er erschrocken zurück, starrte Lisa und Ron über die Schulter an: »Wißt ihr, was das ist?« Er lehnte sich zurück und gab somit die Sicht auf das Objekt frei. Nun konnten auch Ron und Lisa das freigelegte Teil betrachten. »Ein Messer?« fragte sie. »Ein Schwert, meine Liebe, ein Schwert«, verbes serte Clausseé, »und wenn ich mich nicht täusche, ein Wikingerschwert, ein echtes Wikingerschwert - da wette ich drum. Und das kann nur bedeuten, daß genau hier, wo jetzt die verfallene Hütte steht, viele hundert Jahre früher ein Wikingergrab angelegt worden sein könnte. Vermutlich für einen von jenen Wikingern, 246
die Jahrzehnte nach Leif Eriksson, in die Neue Welt kamen.« »Könnte es auch eine indianische Grabstätte sein?« fragte Lisa. »Und das Schwert? Indianer besaßen doch nicht solche Schwerter, denke ich«, erwiderte Ron, »oder, Professor?« Nickende Zustimmung: »Im allgemeinen nicht. Es sei denn, sie wurden als erlesene Tauschobjekte ge handelt. Für die indianischen Besitzer stellten diese langen Messer einen so großen Wert dar, daß einige der Indianer schon zu Lebzeiten dafür gesorgt haben, daß man ihnen die Waffen der Fremdlinge mit ins Grab legen sollte.« Lisa räusperte sich und deutete mit einer kurzen Armbewegung in die Senke: »Bedeutet das, daß ihr gleich noch einen Toten ausgrabt?« Sie drehte sich etwas unwirsch zu Ron: »Das fände ich aber nicht gut. Tote soll man in ihren Gräbern ruhen lassen.« Ron schaute den Professor an. Dieser stützte sich auf den Spaten, versuchte Lisa zu beruhigen: »Natürlich soll man die Grab- und Kultstätten der Toten respek tieren, und ich verspreche, sollten wir auf das erste Knöchelchen stoßen, werden wir sofort wieder alles zuschaufeln. Versprochen! Okay?« Als Lisa sich einverstanden zeigte, dies durch ein kleines Lächeln bestätigte, stach Clausseé den Spaten wieder, jetzt aber ganz vorsichtig, in den Boden. Während er die Erde rund um die verrostete Schneide des Schwertes entfernte, schob Ron den Boden in ei 247
nem halben Meter Abstand vom Fundstück zur Seite, um ihn dann aus der flachen Grube zu schaufeln. Texas gesellte sich derweil zu Lisa, die sich wieder auf einen Baumstamm gesetzt hatte. Er ließ sich die Ohren kraulen, und das schien ihm sehr zu gefallen. Das schräg im Boden steckende Schwert war schon gut sechzig Zentimeter freigelegt, ohne das ein Knochen oder ein anderes, als Grabbeigabe zu erken nendes Objekt freigelegt worden war, als Ron plötzlich zu schaufeln aufhörte: »Verdammt, hier steckt noch etwas im Boden.« Clausseé warf den Kopf herum: »Was?« »Na, wie ich’s sage. Da steckt noch etwas im Boden. Ich bin zweimal drauf gestoßen.« Der Professor kam herüber, bückte sich, begann mit den Händen das Erdreich an dieser Stelle beiseite zu kratzen: »Wir hätten noch kleine Gartenschaufeln mit nehmen sollen. Wären wir doch mit dem Wohnmobil gefahren. Die richtigen Kleingeräte für das vorsichtige Freilegen solcher Fundstücke habe ich dort reichlich in einem Kasten liegen.« Es wurde spannend. Auch Lisa ließ sich anstecken, kam erneut heran und kniete sich am Rand der Grube nieder. »Und? Noch ein Schwert?« »Nein«, kam Clausseés zögerliche Antwort, »nein, kein Schwert, aber auch etwas aus Metall. Moment mal: es sieht aus wie der Schaft einer Lanze oder eines Speeres?« Er hatte gut fünfzehn Zentimeter des zwei ten Objektes freigelegt, prüfte, wie fest es im Boden saß. Unverrückbar, wie das erste. Sehr sonderbar. 248
Dann versuchte Ron, es zu bewegen, erst den Schaft und dann das Schwert. Aber auch ihm gelang es nicht. »Sind die Dinger etwa in Zement gegossen? Die können doch unmöglich so fest im Erdreich sitzen. Das will ich jetzt aber wissen.« »Ich auch, Ron«, stimmte der Professor zu. Und da sie nun nicht mehr an die Grabstellen-Theorie glaubten, begannen beide mit aller Kraft zu schaufeln, versuch ten dahinter zu kommen, wodurch das Schwert und die Speerspitze ihren Halt bekamen. Leider hatten sie die Grube, die jetzt schon über ei nen Meter tief reichte, nicht breit genug angelegt, so daß das Arbeiten zu zweit nun eher hinderlich war. Auf Clausseés Bitten kletterte Ron aus der Vertiefung und setzte sich zu Lisa. Beide verfolgten gespannt das wil de Graben des Professors. Plötzlich konnte er nicht mehr tiefer graben, drehte sich schulterzuckend zu ihnen um. Ron beugte sich etwas vor, spähte in die Grube: »Sind Sie schon auf Felsen?« »Nein, kein Felsen«, stotterte Clausseé außer Atem, »kein Felsen, aber seht doch...« Lisa und Ron verstanden nicht. Was hatte er ent deckt? Sie sprangen auf, kamen dichter an die Grube und sahen, was Clausseé meinte: unten auf dem Boden schimmerte eine nur unzureichend von Erdresten be freite kristalline Fläche, ähnlich der klaren Eisdecke eines zugefrorenen Teiches. Und in diesem ›Kristall‹ steckten jeweils die Spitzen von Schwert und Speer wie eingegossen. 249
»Deshalb waren sie nicht zu bewegen«, murmelte Clausseé. Sie schauten einander irritiert an. Dann begann Clausseé zu ›zucken‹. Er lief plötzlich hektisch auf und ab, schnippte mit Daumen und Finger, grübelte. Plötzlich blieb er stehen: »Ja ja, ich habe es, ich habe es gefunden. Genau, juchhuu!« Ron schaute Lisa an, sie verstanden kein Wort: »Bitte, was haben sie gefunden?« fragte Ron, »wir wollen auch mitjubeln.« »Erinnert euch, ich erzählte doch von den Über lieferungen, die auf den Runensteinen von Erikssons Begegnung mit dem Fremden eingemeißelt waren, und daß beide zur Besiegelung ihres Paktes ihre Waffen in den Boden gerammt hätten...« »Richtig«, steuerte Ron bei, »und dann wurde aus dem gefrorenen Boden ein Kristall, der die Beweise ihres Paktes symbolhaft in der Erde festhielt, wouw!« Wieder lief Clausseé aufgeregt um die Grube herum, blieb dann stehen, schaute auf die freigelegten alter tümlichen Waffen. »Sieht so aus, als hätten Sie Ihren langgesuchten Beweis gefunden, Professor«, stellte Lisa lachend fest, »ich gratuliere!« »Wie? Ach ja. Stimmt. Oh, danke, danke schön.« »Und was machen wir jetzt?« Clausseé kratzte sich am Kopf. Er wurde immer noch nicht ruhiger, ganz im Gegenteil. Sogar Texas lief unruhig umher. »Ob wir es herausholen können?« fragte Ron, »ich 250
meine natürlich nicht, wir und mit bloßen Händen. Mit einem Kran, dachte ich.« Der Professor blieb stehen: »Ich weiß nicht, hm, ich weiß nicht. Ich muß überlegen, wem ich zuerst davon berichten muß...« »Professor«, unterbrach Ron, »wir sollten versu chen, klaren Kopf zu behalten. Wir haben hier etwas entdeckt. Etwas sehr Altes und vielleicht geschichtlich eines der wichtigsten Funde überhaupt. Ich weiß es nicht. Aber bevor wir die Welt rebellisch machen, laßt uns das Ding da im Boden doch erst mal genauer anse hen. Meinen Sie nicht auch?« »Okay, okay. Du hast recht. Schauen wir uns das alles nochmal in Ruhe an.« Ganz vorsichtig wischte Clausseé die dünne Erdschicht ringsum weg bis an die Seiten der Grube. Ein seltsamer, geradezu bizarrer Anblick bot sich ih nen. Eine Speerspitze und ein Schwert, beide verrostet, steckten zueinander geneigt in dem Riesenkristall, von dem man nicht einmal wußte, wie groß er wirklich war. »Ich versuche, beide Teile gleichzeitig herauszuzie hen. Vielleicht funktioniert das nur so?« »Professor, wozu soll das gut sein. Laßt uns lieber überlegen, wie wir dieses Geheimnis vor den Blicken anderer schützen können«, erwiderte Ron. Er sah, wie der Professor mit der einen Hand das Schwert, und mit der anderen den Schaft des Speeres fest um klammerte. Dann holte Clausseé tief Luft und zog aus Leibeskräften. 251
Plötzlich schrie er auf. Lisa und Ron erschraken zutiefst, der Hund begann zu kläffen. Noch bevor die Beiden recht begriffen, was mit dem Professor geschehen war, sahen sie, wie er, ohne seinen Griff zu lösen, sich aufbäumte und dann, mit einem zweiten Schrei, ohnmächtig nach hinten auf den Haufen ausgeworfener Erde kippte. Seine Hände hatten sich von den Eisenteilen gelöst, und er rutschte langsam in die Grube hinein. Clausseé war in eine tiefe Besinnungslosigkeit ge fallen. »Komm’ schnell, Lisa, hilf mir«, rief Ron, war schon beim Professor, zog ihn aus der Grube heraus und legte ihn flach auf den blätterbedeckten Boden hinter den Erdhaufen. Auch Texas kam heran. Leise winselnd lief er zu sei nem Herrchen, beschnupperte ihn und beleckte dessen Gesicht. »Gottseidank, er atmet«, stellte Ron fest, und be gann, Clausseé zu schütteln, »Professor, Professor, was ist mit Ihnen? Sagen Sie doch was!« »Ron!« flüsterte Lisa. Ron drehte sich zu Lisa; »Ja, was gibt’s?« »Seine Hände, Ron, sieh’ seine Hände!« Jetzt bemerkte auch er, daß Clausseés Hände zitter ten, wie die eines an Parkinson erkrankten Menschen, und daß ein wenig Rauch aus ihnen entwich. Vorsicht zog er die rechte Hand zu sich und öffnete sie. Wie heiß sie war, staunte Ron, und dann starrte er fas sungslos auf die Innenfläche. Starke Verbrennungen 252
oder Verätzungen hatten sie ziemlich zerstört. Schnell ergriff er die andere Hand, auch hier die gleichen ›Brandspuren‹. Lisa hatte alles mit angesehen, hielt entsetzt die Hand vor ihren Mund, schüttelte fassungslos den Kopf. Texas’ Gejaule wurde lauter, je länger der Professor regungslos auf dem Waldboden lag. Von den verletzten Händen wanderte Rons Blick zu den zwei im Kristallklumpen steckenden Waffen. Was hatte diese Verletzungen verursacht? Waren chemische Reaktionen des Metalls mit der Luft nach tausend Jahren Bodeneinschluß der Grund für die Verätzungen oder heizte der Kristall das Metall mit unbekannten Energien auf? Ganz langsam streckte er seine Hand nach dem Schwert aus. »Nicht«, schrie Lisa, »fass’ es nicht an. Willst du dich auch verbrennen?« Doch schon berührte Rons Hand das alte Schwert des Wikingers. Er hielt den Atem an, schloß die Augen, wartete auf eine Reaktion, doch nichts geschah. Er wechselte vom Schwert zum Speer, auch nichts. Lisa beobachtete voller Besorgnis Rons Treiben. »Da ist gar nichts«, hörte sie ihn herüberrufen und sah, wie er dann mit beiden Händen gleichzeitig Speer und Schwert umfaßte und daran zog, genau wie Clausseé, aber es passierte nichts. Ron schüttel te den Kopf, sah Lisa fragend an: »Verstehst du das? Die Eisen sind völlig kalt. Du kannst sie anfassen und nichts geschieht. Da schau«, dabei umklammerte er die Klinge der Waffe und führte seine Hand auf und 253
abwärts, »keine Hitze, keine Verbrennungen. Was aber, zum Teufel, ist mit dem Professor geschehen?« Lisa konnte sich ebenfalls keinen Reim darauf ma chen. Sie hatte, während Ron seine Versuche veranstal tete, ständig den Verletzten im Auge behalten und war erleichtert, als dieser anfing, sich zu bewegen. »Er kommt zu sich, Ron.« Der Hund bellte, sprang vor Freude auf. Ron kniete sich zum Professor herunter. Dieser öff nete langsam die Augen, machte einen sehr geschwäch ten Eindruck. »Hey, Sie machen ja Geschichten«, versuchte Ron ihn aufzuheitern, »aber wer macht schon so eine Jahr hundertentdeckung, nicht wahr?« »Aaah«, stöhnte der Professor laut heraus, als er sich aufzurichten versuchte und sich dabei mit den Händen aufstützte, »was ist mit meinen Händen?« »Das wüßten wir auch gerne«, entgegnete Lisa, »die sehen fürchterlich aus.« Clausseé betrachtete die Innenflächen seiner Hände: »Oh, oh Mann. Was ist denn mit denen geschehen? Verdammt nochmal. Wie ist denn das passiert? Und wieso habe ich eigentlich die Besinnung verloren?« »Sie haben die metallischen Teile dort unten in der Grube angefaßt und mit einem Schlag sind Sie ohn mächtig geworden«, erklärte Ron, »nur seltsam war, als ich anschließend die freigelegten Teile berührte, passierte nichts. Wieso kippen Sie aus den Latschen, verbrennen sich Ihre Hände, und mir geschieht nicht das Geringste? Ist doch nicht normal!« 254
»Wir sollten ihn schleunigst in ein Krankenhaus brin gen. Die Hände müssen unbedingt behandelt werden«, bemerkte Lisa besorgt, sah den Schmutz an ihnen, die offenen Wunden und daß sie immer noch zitterten. »Wird das Beste sein«, murmelte Clausseé, der jetzt wieder auf den Beinen stand, zwar noch wackelig, aber es ging. »Moment«, kam der Einwand von Ron, »sicher muß der Professor medizinisch versorgt werden, aber was ist mit der Entdeckung hier? Schließlich ist das Clausseés Fund, und den können wir nicht so offen jedem daher gelaufenen Wanderer überlassen. Erst müssen wir das alles hier wieder zuschaufeln. Auch wenn es noch so anstrengend ist.« Clausseé nickte und stammelte: »Ja, das muß alles wieder zugemacht werden. Unbedingt. Das ist doch unser sensationeller Fund, Leute, den können wir doch nicht anderen überlassen.« Ron wußte, daß er diesen Job alleine machen muß te, war auch okay. Und so schaufelte er so schnell er konnte. Bald hatte er das Loch wieder randvoll mit Erde zu geschüttet, dann alles festgetreten und schließlich die Stelle mit Unmengen von Laub und Astwerk perfekt getarnt. Niemand konnte mehr erkennen, daß hier vor kurzem noch gegraben worden war. Clausseés Hände hatten begonnen, aus den Wunden, die in beiden Innenflächen seltsamerweise das glei che Verletzungsmuster aufwiesen, zu bluten. Eile war geboten. Auch klagte der Verletzte über eine gewisse 255
Taubheit in beiden Gliedmaßen. Der Weg zum Wagen war diesmal beschwerlicher, kein Wunder, aber schließlich erreichten sie den VWKäfer. Lisa half dem Verletzten ins Auto, derweil Ron die zur Hütte mitgenommenen Utensilien, inklusive Spaten und Schaufel wieder im Kofferraum verschwin den ließ. Natürlich führte ihr erster Weg ins Krankenhaus nach Rockport, ins Penobscot Bay Medical Center. Dort herrschte großes Erstaunen. Solche Verletzun gen hatten auch die Ambulanzmediziner noch nie ge sehen. Aber nicht die Art der Verbrennung ließ sie stut zen, vielmehr die Tatsache, daß an beiden Innenflächen exakt dasselbe Muster der Verletzung zu erkennen war. Es sah aus, als hätte Clausseé in beiden Händen ›glü hende, sechstrahlige Sterne‹, wie einer der Ärzte den jungen Leuten gegenüber bemerkt hatte. Die Untersuchung ergab, daß der Professor erst ein mal stationär untergebracht werden sollte, für zwei bis drei Tage. Lisa versprach, sich um Texas zu kümmern. Und auch auf das Wohnmobil würde sie selbstverständlich achten. Es war später Vormittag geworden, als beide schließ lich mit dem zutraulichen Schäferhund in die Auffahrt Rons Elternhauses einbogen. An der Tür wurden sie schon von Bob begrüßt, der sich spontan mit dem Hund des Professors verstand. 256
Gut, dachte Ron, die Unterbringung des Hundes hat sich damit wohl geklärt. Damit war auch die Tour nach Augusta nicht gefährdet. Ron wußte, daß seine Mutter seit dem Tod des letzten Bobtails, er verstarb kurz nach dem Tod der Großeltern, kein Interesse mehr an Hunden hatte und auch keinen mehr im Haus haben wollte. Aber hatte Bob nicht davon gesprochen, auch mit zufahren, wenn sie Mutter besuchen würden, überlegte Ron, was wäre dann mit Texas? Ob Vater sich um ihn kümmern könnte für diese Zeit? Bairds Mountains Observatorium / Alaska »Ob er mich erkennen wird?« murmelte Nicole Samisse, während sie unentwegt an ihrer roten Teufels perücke zupfte. Die kleinen Hörnchen lugten aus dem Wuschelhaar hervor, das Gesicht war über und über rot geschminkt, dazu trug sie einen dunkelroten, einteili gen Anzug. Das Kostüm sitzt ja verdammt eng, dachte sie, ach was, wenn Curt Wesley nicht auf diesen Anzug reagiert, dann ist eh alle Müh’ umsonst. Dann soll er sich doch zu seinem geliebten Mond schießen lassen.« Noch ein letztes Mal in den Spiegel geschaut, sich zufrieden zunickend verließ sie das Bad. Gegen neunzehn Uhr wollte Dr. Wesley sie abholen, um mit ihr zur großen Halloween-Fete der ›Wetterfrö sche‹ aus Boston zu fahren. Etwas über zwei Stunden Fahrt lag vor ihnen. Wenn der Himmel doch nur so klar wie heute Vormittag bliebe, dachte sie, angesichts der sich zu 257
ziehenden Wolkendecke. Schon das dritte Mal war sie vor die Tür ihrer Unterkunft gegangen, hatte je desmal besorgt nach oben geschaut, doch bis jetzt zeigte sich nicht das kleinste Schneeflöckchen. Nein, es durfte einfach nicht schneien. Schließlich wollte sie unbedingt zur Halloween-Party, mit Curt. Aber die Wetterstation des Meteorologischen Instituts lag knapp hundertdreißig Meilen entfernt, und die Gefahr, wenn auch nicht hier, so vielleicht aber unterwegs, von ei nem Schneegestöber überrascht zu werden, war groß. Zudem war es schon dunkel. Wesley, der in einem anderen Teil der Containerunter künfte seine Privaträume hatte, kam hupend vorgefah ren. Die Tür der Unterkunft flog auf und eingehüllt in eine dicke, gefütterte Winterjacke erschien Samisse. Sie öffnete die Beifahrertür von Wesleys Jeep - und mußte laut lachen. Am Lenkrad saß ihr schmunzelnder Chef, dilletantisch als Zombie verkleidet: ein zerrisse nes und rotbeschmiertes Oberhemd und ein graubemal tes Gesicht. Um die Augen waren schwarze Schatten gemalt und die Lippen wirkten durch ihre blaue Farbe kalt. »Hallo Teufelchen«, begrüßte Wesley seine Kollegin mit gespielter monotoner Stimme, »mich brauchst du nicht mehr zu holen, ich bin schon tot. Aber wir kön nen uns ja ein wenig amüsieren. Was hältst du davon, Gehörnte?« »Viel, uuuaah, du untoter Toter, fahre los!« 258
Beide mußten erneut lachen, als sie einstieg. Während Wesley seine dicke Jacke auf dem Rücksitz liegen hatte, da er lieber im Hemd fuhr, behielt Samisse ihre Jacke an - noch. Er soll sich auf die Straße konzen trieren und auf sonst nichts, dachte sie, angesichts ihres engen, figurbetonenden Anzugs. Außerdem wollte sie ja nicht gleich ihre ganzen Trümpfe ausspielen. Der Abend fing schließlich erst an. Die Straße war vom Schnee der letzten Nacht nur unzureichend geräumt worden. Es galt, wachsam zu sein und aufzupassen. An sich gab es für den kräftigen Allrader kein Problem, solange nicht Tiere plötzlich auf der Fahrbahn auftauchten. Dann allerdings könnte es gefährlich werden. Nach zwanzig Minuten Fahrt registrierten sie die ersten Schneeflocken. »Oh, bitte«, flüsterte Samisse, »jetzt keinen Schnee.« »Hoffentlich wird der Schneefall nicht noch dich ter«, ergänzte Wesley, auf die Vorboten eines mögli chen Schneeschauers deutend und setzte den Scheiben wischer in Gang. »Dabei meinte Pat, daß erst für morgen Nachmittag ein kräftiger Schneefall zu erwarten sei. Drücken wir die Daumen, daß er recht behält und es gleich wieder aufhört.« »Ja, drücken wir die Daumen, liebe ›Teufels-Nicole‹, drücken wir die Daumen«, beschwor Wesley die Situation. »Warum ist unser Wetterexperte eigentlich nicht mitgefahren?« fragte er nach einer Weile, »dort hätte er doch richtig fachsimpeln können?« 259
Samisse schaute besorgt auf die Flocken: »Fach simpeln würde er vielleicht schon gerne«, meinte sie, »aber der Halloween-Quatsch, wie er ihn bezeichnet, ist nicht seine Sache. Na, so hütet er halt das BMO. Soll uns recht sein.« Der Schnee kam heftiger, schlug in immer dickeren Flocken gegen die Windschutzscheibe. Wesley schalte te den Wischer eine Stufe schneller. Wesleys Miene verfinsterte sich zunehmend je stär ker es schneite. Seine Zombie-Bemalung an ihm wirkte jetzt noch extremer. Gerade etwas mehr als die Hälfte der Wegstrecke hinter sich, wußten sie nicht, ob der Schneeschauer noch länger anhalten, ja möglicherweise an Dichte noch zunehmen würde, oder vielleicht in wenigen Minuten gar aufhörte. Der Erfahrung nach müßte ers teres zutreffen, wußte Wesley. »Übrigens, das Geschenk, das du mir aus Tucson mitgebracht hast, ist ganz schon ›hinterhältig‹ von dir. Etwas gewagt, aber ansonsten - naja!« »Freut mich, Nicole, ich hoffe, es mal in Aktion zu sehen!« »Alles eine Frage der Zeit«, lachte sie und schaute Wesley an, »warte es ab.« »Verdammt, ich kann kaum noch die Fahrbahn erkennen, siehst du noch was? Also, es hat keinen Zweck, ich halte an.« Wesley steuerte vorsichtig seinen Jeep an den Fahrbahnrand, jedenfalls glaubte er, daß dort wo er hielt, der Seitenstreifen sei. Sie starrten die Straße entlang - Winter pur. Vor ihnen, wie auch hinter 260
ihnen, weit und breit waren keine Scheinwerfer ande rer Fahrzeuge zu entdecken. Waren andere klüger als sie gewesen, hatten erst gar nicht versucht, an diesem Abend unterwegs zu sein? Samisse zog den Jackenkragen enger zusammen, mehr aus Beunruhigung als wegen der Kälte. Im Wa geninnern war es angenehm warm: »Und, wie geht’s jetzt weiter?« Wesley schaute in das besorgte, rotbemalte Gesicht seiner Begleiterin, während er am Autoradio hantierte, hektisch nach einem verständlichen Sender suchte. »Curt, sollen wir umkehren, oder warten, ob es sich aufklart? Sag’ was!« »Mist, die Sender sind alle gestört. Ich bekomme nichts Vernünftiges rein. Was sagtest du?« »Ob wir nicht besser zurückfahren sollten? Ich mei ne, wenn das Schneegestöber nun nicht aufhört, kann es für uns durchaus brenzlich werden, aber das weißt du doch selber.« »Keine Sorge, der Motor ist noch an, der Tank fast voll und hier drinnen stimmt die Temperatur auch«, beruhigte Wesley, »und ich versuche mal über Funk, mit unserer Station Verbindung aufzunehmen, denn ich glaube nicht, daß ich bei dem Wetter mit dem Mobiltelefon durchkomme.« Er wählte die entsprechende Frequenz und nach eini gen Rufmeldungen hörten sie Pats Stimme am anderen Ende der Leitung. Wesley wußte, daß das Funkgerät in einem Nebenraum untergebracht war und er Pat Zeit lassen mußte, dort hin zu kommen. 261
»Pat, bist du es? Stop - kommen.« »Ja, aber ich verstehe dich sehr schlecht. Seid ihr noch nicht auf dem Fest? Hier bei uns herrscht absolu tes Wetterchaos, Schneefall ohne Ende. Weshalb funkst du mich an? Stop - kommen.« »Nicole und ich sitzen hier auf halbem Wege fest. Was sagen die Meßgeräte? Wird der Schneefall noch diesen Abend nachlassen, oder ist es ratsamer zurück zukehren? Stop - kommen.« Pat klang besorgt: »Dieser Wetterumschwung war zu früh gekommen. Zurück schafft ihr es nicht mehr. Versucht das Grizzly-House an der Abzweigung nach Kotzebue zu erreichen. Es ist eine Blockhütte, ein Rastplatz, eine Unterkunft für derlei Fälle. Ich bin im Sommer einmal dort gewesen. Seid ihr an der Abzweigung schon vorbei? Stop - kommen.« »Nein. Ich denke, wir sind ungefähr noch zwei Meilen davon entfernt. Genau weiß ich das aber nicht. Jedenfalls sind wir noch nicht daran vorbei. Stop kommen.« Inzwischen hatte Pat die Straßenkarte vor sich aus gebreitet und suchte den wahrscheinlichen Standort der beiden: »Curt, wenn ihr weiterfahrt, taucht ein Hinweisschild ›Zum Grizzly-House‹, etwa vierhun dert Meter vor der besagten Abfahrt auf der linken Straßenseite auf. Dort müßt ihr rein. Die Hütte liegt eine halbe Meile entfernt. Achtet auf hohe Stangen, an deren Enden sich rote Wimpel befinden. Diese Stangen verlaufen längs der Straße und führen euch direkt zur Hütte. Die ist eure einzige Chance, denn das Wetter 262
wird sich wahrscheinlich noch verschlechtern. Seid aber um Gotteswillen vorsichtig, hört ihr und laßt auf alle Fälle das Funkgerät eingeschaltet. Alles Gute. Stop - und Ende.« Völlig aufgeregt lief Pat Kramer im Zimmer auf und ab, überlegte, was er tun könne, schnippte dann mit den Fingern: »Genau«, kam es aus seinem Mund. Er lief zum stationären Telefonapparat und wählte die zuvor herausgesuchte Nummer des Grizzly-Houses. Ihm fiel ein, daß er dort im Sommer ein Wandmünztelefon ge sehen hatte. Er wählte, doch die Leitung war tot. Hoffentlich nimmt Curt sein Funkgerät mit in die Hütte, dachte Pat, und hoffentlich kommen sie überhaupt heil dahin. Ganz langsam waren die beiden Kostümierten hin ter dem Schild nach links abgebogen, rollten jetzt in Schrittgeschwindigkeit. Trotz der besagten Stangen kamen sie nur mühsam den so markierten Weg ent lang. Zum anfänglichen heftigen Schneefall kam jetzt noch der Sturm. Unablässig wirbelten die Flocken im Lichtkegel der Scheinwerfer herum. »Drück die Daumen, daß jemand im Grizzly-House ist, um uns reinzulassen«, sagte Wesley mit versteiner tem Gesicht. Man sah ihm die Anstrengung des mit äußerster Konzentration durchgeführten Fahrens an. »Oder daß sie zumindest nicht verschlossen ist«, er gänzte Samisse, die schon längst ihre Perücke mit den kleinen Teufelshörnern abgenommen hatte. Dann standen sie endlich vor der eingeschneiten 263
Blockhütte, die ein bizarres Bild im Scheinwerferlicht abgab. Der Wagen rollte ein Stück weiter, dichter her an bis an die durch hohe Schneewehen fast verdeckten Aufgangsstufen zur Tür. Wesley schaltete die Autolampen aus. »Habe ich befürchtet«, murmelte er und deutete auf die Fenster beidseitig der Tür. Durch die Ritzen der verschlossenen Fensterläden schimmerte nicht der kleinste Lichtstrahl: »Niemand da. Warte hier, Nicole, ich schaue nach, ob wir da irgendwie reinkommen.« »Okay, aber zieh’ die dicke Jacke über. Es ist be stimmt noch kälter geworden.« Sie hatte schon auf den Rücksitz gegriffen und das wärmende Kleidungsstück nach vorne gezogen. Dick vermummt, mit über den Kopf gezoge ner Kapuze stapfte er im wieder eingeschalteten Scheinwerferlicht, die weißen Stufen hoch. Er schob den schweren Riegel zurück und zerrte an der Tür. Nur schwer ließ sie sich öffnen. Wenig später saßen beide vor dem Kamin, dessen noch zögerliche Flammen erste Wärmeschwaden durch den Raum schickten. Noch hatten sie ihre warmen Jacken an, aber es sollte nicht lange dauern, bis das trockene Holz dem Feuer genug Nahrung geben wür de, um eine wohlige Atmosphäre zu schaffen. Draußen stürmte es immer heftiger. Sie hörten den Sturm ums Grizzly-House pfeifen. Die richtige Halloween-Stimmung, dachte Samisse, als sie sich die rustikale Hütte ansah, zusammen 264
mit einem ›Zombie‹, der dabei war, die wenigen Schränke der Hütte zu durchsuchen. Eine schwache Deckenlampe spendete nur spärliches Licht. Haupt sache, es gab Strom. Auf dem Tisch hatten sie ihre paar Habseligkeiten aus dem Auto gelegt: Papiere, Taschenlampen, Decken und das Funkgerät. Sollten sie möglicherweise die Nacht hier verbrin gen, schoß es ihr durch den Kopf, als sie in der hinteren Ecke zwei schlichte Etagenbetten entdeckte. Nur einfa che Matratzen waren da, aber immer noch ausreichend, um müden Wanderern ein Nickerchen zu ermöglichen. Die Situation schien ihr auf einmal gar nicht so unan genehm. Sie schnappte sich die Decken und warf sie auf die unteren der vier Betten. Dann entdeckte sie das Telefon an der Wand, ging drauf zu und nahm den Hörer ab: Die Leitung war unterbrochen, kein Ton war zu hören. Auch nicht schlecht, dachte sie, schmunzelte dabei. »Schau’ mal, was ich gefunden habe«, triumphierte Wesley plötzlich und hielt eine ungeöffnete Flasche Brandy in die Höhe, »hat sicher ein zufriedener Gast zurückgelassen. Und zwei noch versiegelte Tüten Zwieback sind auch hier. Also, was soll uns jetzt noch schrecken?« »Vielleicht die Halloween-Nacht«, lachte eine sichtlich aufgetaute Samisse, »sollten wir auf unsere Rettung nicht jetzt schon einen kleinen Brandy zu uns nehmen, was meinst du?« Wesley drehte sich um, sah die in eine dicke Jacke gehüllte Frau an, die sich einen der Stühle zum Kamin 265
gezogen hatte und ihn verwegen anlächelte. »Na, was ist«, wiederholte sie ihre Forderung. »Ja, klar. Warum nicht.« »Oder glaubst du, daß du heute abend noch fahren wirst, lieber Curt?« »Äh, ich weiß nicht«, stammelte er verlegen und zuckte mit den Schultern. Während sie ihre Hände gegen das prasselnde Feuer richtete und die Wärme spürte, waren ihre Gedanken mit dem bevorstehenden Kaminabend beschäftigt: »Dann schaue doch mal, ob du nicht auch noch Gläser findest.« Mit zwei Colagläsern, den einzigen, die er fin den konnte, ging er zu der sparsam ausgestatteten Kochnische, spülte sie und murmelte etwas wie: »Erstaunlich, keine eingefrorenen Wasserleitungen. Das gefällt mir hier immer besser.« Dann füllte er den Brandy in die Gläser. Als er sich umdrehte und gerade zum Kamin gehen wollte, blieb er erstaunt stehen. Im spärlichen Licht der Lampe sah er auf dem Boden Samisses Jacke liegen, und sie selbst stand zwei Schritte dahinter in ihrem knappen, einteiligen roten Teufelsanzug. Ihre sehr weiblichen Formen wurden mit dem Feuerschein im Rücken silhouettenhaft noch verstärkt. Wesley stand, mit seinem grauen Gesicht, seinem weißen, ›blutverschmierten‹ Hemd, zwei Gläser in den Händen haltend, da wie angewurzelt: »Hey, hey, hey...« »Was, nur hey?« entgegnete sie lachend, »sollten wir 266
nicht jetzt auf unsere wundersame Rettung anstoßen?« Er war etwas verwirrt. Was für eine Figur, dachte er, während er langsam auf sie zuging und über ihre Jacke stieg. Hätte das jemand unter den weiten Hemden und den Jeans, die sie sonst zu tragen pflegte, vermutet? Er mochte sie sehr, ja hegte insgeheim mehr als Sympathie für sie. Liebe? Da war er sich nicht sicher, schon mög lich. Er schaute in ihr lächelndes Gesicht. »Ob ich irgendwann mein Glas bekomme, was denkst du?« »Oh, äh, ja sicher, entschuldige«, stammelte Wesley und reichte ihr einen der Brandys. Schweigend standen sie sich gegenüber. Nur ihre aneinander gestoßenen Gläser schickten einen Klang durch den Raum, der sich abhob vom Prasseln des Feuers. Sie schauten sich in die Augen, während er seine Hand langsam um ihre Taille legte. »Warte, ich will mir diese blöde rote Farbe aus dem Gesicht waschen, und du mit deiner Zombie Maske?« Draußen schien sich der Sturm zu legen. Doch das Halloween-Fest, bei den Freunden der Wetterstation, war für beide plötzlich gänzlich unwichtig geworden. Daß sie in einem unbeobachteten Augenblick das Funkgerät abgeschaltet hatte, hatte er nicht bemerkt. Camden / Maine Zufrieden ging Mrs. Benson ihre Auffahrt hinauf, im Arm die leeren Körbe und Taschen, die bis vor zwei Stunden noch prall gefüllt gewesen waren mit allerlei 267
Leckereien für die Kinder der Gemeinde. Sie blieb stehen, schaute sich im Vorgarten um und seufzte. Ich werde doch noch einige Lampen und Kunststoff kürbisse nach draußen bringen, dachte sie, stellte dann mit einem kurzen Blick fest, daß ihre Nachbarn, die Millars, dieses Jahr auch auf jeglichen HalloweenSchmuck verzichtet hatten. Na und? Im Keller waren schnell einige Lampen, KürbisAttrappen und Masken von Walt-Disney-Figuren in einen Karton gepackt. Diesen schleppte sie jetzt unter großen Anstrengungen die Treppe hinauf. Als sie im Flur ihre schwere Last absetzte und die Haustür öffne te, erschrak sie zutiefst. Vor der Tür stand ein Fremder, der sich mit einer Hand am seitlichen Rahmen abstützte, das Gesicht ge senkt hielt: »Hallo, da bin ich nochmal, Mrs. Benson. Ich glaube, Sie werden mir jetzt helfen müssen!« »Aber wer sind Sie denn... ach, SIE«, stotterte die Alte, faßte sich mit der Hand an den Halsansatz, schien ein wenig erleichtert vom Schreck, »haben Sie Ronald denn schon gefunden? In der Stadt ist er, Sie müssen in die Stadt gehen. Ich habe ihn dort getroffen.« »Nein, ich werde nicht in die Stadt gehen, ich werde hier auf ihn warten.« »Aber das geht doch nicht. Ich meine, ich kann Sie doch nicht einfach ins Haus lassen.« »Ach nein?« zischte der Fremde mit Fistelstimme, drehte sich kurz um, schien jemanden in einem Auto auf der Straße ein Zeichen zu geben. Dann schob er 268
die verdutzte Mrs. Benson einfach zur Seite, trat in den Flur und knallte die Tür hinter sich zu. Die verängstigte Frau tippelte zurück ins Wohnzimmer, hörte aber noch, wie draußen ein Wagen mit viel Gas davonraste. Der Fremde beugte sich herunter zum Karton und ergriff eine der Masken: »Mrs. Benson, ich glaube, das wird noch ein lustiger Abend. Aber jetzt erzählen Sie mir erst etwas über das Nachbarhaus, nicht wahr? Sie wollen doch nicht, daß ich grob werde!« Böllerschüsse kündigten den Beginn der nun einset zenden Geisterstunden an. Auch durch ganz Camden dröhnten jetzt die lauten und weniger lauten Kracher. Ab einundzwanzig Uhr wurde es von Stunde zu Stunde heftiger. Jetzt war es genau zwei Stunden später. Verkleidet als Bonny & Clyde, ganz im Stil der 40er Jahre, schlenderten Ron und Lisa Hand in Hand langsam die Washington Street hinauf. Eine Stunde vor Mitternacht hatten sie genug vom wilden Treiben in der Stadt. Es war auch empfindlich kühl geworden, und erstmals seit einigen Tagen war der Himmel be wölkt und verhielt sich so, als wolle er nur noch die Geisterstunde abwarten, um dann seine Regenwolken zu öffnen. Auch der Wind war merklich aufgefrischt. Die Blätter in den Bäumen begannen zu rauschen und die in der Ferne zuckenden Blitze zeigten, daß ein Unwetter im Anmarsch war. Kurz vor einundzwanzig Uhr hatten sie die alte Mrs. Benson in der Stadt getroffen, die allerlei übriggeblie 269
benes Obst und Gebäck ins Gemeindehaus hatte brin gen wollen. Natürlich war ihr Vorrat für die ›bettelnden‹ Kinder wieder einmal zu groß ausgefallen. Von ihr hatten sie erfahren, daß der Fremde mit dem Zopf wie der nach Ron gefragt hatte. »Clausseé«, sagten beide fast gleichzeitig, lachten. Hatte der Wikingerforscher es aber nicht lange ausgehalten in der Klinik. Da er, seinen Aussagen nach, seinen Zweitschlüssel vom Wohnmobil immer bei sich trug, hatte er sicher den Wagen und Texas holen wollen. Nur war der Hund aber mit Bob unterwegs. »Pech. Muß er halt noch einmal wiederkommen, der alte Graukopf«, hatte Ron seiner Nachbarin den Zusammenhang erklärt. Die beiden jungen Leute hatten bei dem Trubel auf der Straße nicht verstanden, wie Mrs. Benson beim Fortgehen scheinbar mit sich selbst gesprochen hatte: »Von wegen ›Graukopf‹, der hatte nicht ein einziges graues Haar, lieber Ronny-Boy.« »Hey, Bonnie, machen wir, daß wir nach Hause kommen, nehmen da noch einen Schlummertrunk und beschließen ganz romantisch und besinnlich das Halloween, okay?« Ron schaute Lisa von der Seite an. Er war verliebt in sie. Das wurde ihm in den letzten Tagen und Stunden immer klarer. Er spürte ihre schma le Hand in seiner, drückte sie zärtlich, so daß auch Lisa ihn ansah. Wortlos verstand sie seine schüchterne Liebeserklärung. In der Ferne erklang ein eigentümliches Sirenen 270
geheul. Ron kannte es, schmunzelte, murmelte nur: »Bruno is back!« Bevor Lisa fragen konnte, wer denn dieser Bruno sei, löste er plötzlich seine Hand, lief mit wenigen Schritten auf eine auf der Straße liegende Coladose zu und benutzte sie als Fußball. Lisa sah zu, wie er im fahlen Licht der Straßenlaternen den Blechbehälter ei nige Meter wegtrat, um dann hinterherzusprinten, um erneut seine Fußballkünste zu demonstrieren. Ein gro ßer ›kleiner‹ Junge, lächelte Lisa, aber genau den mag und will ich. Auch seine Mutter ist unglaublich nett. Wie herzlich war sie am Nachmittag von ihr begrüßt worden. Also wirklich, sie hatte sich sofort mit ihr ver standen. »Lisa, paß’ auf, rief Ron und schon kam die Dose auf Lisa zugeflogen und landete unmittelbar vor ihren Füßen. Sie kickte sie in Richtung Ron, der seinerseits gab der Dose wiederum ein Tritt die Straße hinauf. Sie nahm ihren Gedankenfaden wieder auf und bedauerte, daß Rons Mutter nicht mehr in Camden wohnen wollte oder konnte. Denn auch Ben fand sie eigentlich ganz sympathisch und Bob sowieso, natür lich nicht so nett wie Ron, aber es war doch auf den ersten Blick eine Familie, die eigentlich zusammenge hörte. Ginger würde sie auch noch gerne kennenlernen wollen, solange sie hier bei Ron in Maine war. Klang da Abreise durch? Nein, daran wollte sie jetzt wirklich nicht denken, nicht heute Nacht. In den Straßen hier weiter oberhalb Camdens kamen ihnen nur noch vereinzelt Vermummte entgegen, meist 271
welche, die jetzt zu den vielerorts stattfindenden Partys gingen. Die Kinder gingen nicht mehr von Tür-zu-Tür, es war schon lange Zeit für sie gewesen, daheim zu sein. »Leider haben die kleinen, nach Süßigkeiten bettelnden ›Gespenster‹ an unserer Tür heute abend vergebens geklopft«, bemerkte Ron mit einem traurigen Unterton. Er deutete auf die vielen ausgehöhlten und beleuchte ten Kürbisse vor all den Häusern links und rechts der Straße. Nur ihr Haus war diesmal ungeschmückt ge blieben, keine Kürbisse, keine Masken, keine bunten Lampen. »Eigentlich schade. All die Jahre früher war es anders. Es war Mutters größte Freude, den kleinen und größeren Kindern die mitgefühlten Taschen und Beutel mit allerlei Backwerk, Kleinspielzeug und auch mit Münzen zu füllen. Doch dieses Jahr war sie nicht hier.« Er wurde ernster: »Aber, eigentlich hätte das kein Grund sein dürfen, das Haus dieses Jahr nicht zu schmücken? Nein, besonders nicht, weil ich dich doch gerade zum Halloween-Fest hierher eingeladen habe. Bob, Vater oder auch ich, wir hätten doch nur unsere Hintern heben müssen. Schließlich wußten wir auch, wo Mutter die Dekorationen aufzubewahren pflegt. Vielleicht hätte einer von uns zumindest bis elf Uhr ja auch daheim bleiben können für die anklopfenden Kinderlein«, er lachte verlegen, »wir sind schon eine egoistische Männerbande, wir Millars, kein Wunder, daß Mutter abgehauen ist.« Lisa nickte, wußte, was Ron meinte. Denn nicht nur sie beide, auch sein Vater war nicht zu Hause geblie 272
ben. Er wollte den Abend in Boston verbringen. Bob und Texas waren schon am frühen Abend zu Fuß los gezogen, um einige alte Freunde in der Stadt zu besu chen. Ron fand Bobs Notiz auf der Treppe, als sie aus Augusta zurückgekehrt waren. »Da sind wir«, wechselte Ron das Thema und legte ein freundlicheres Gesicht auf, »und nun denken wir nur noch an schöne Dinge!« »Schöne Dinge?« fragte Lisa, »was sind schö ne Dinge?« Dabei stupste sie ihn an, doch die Antwort blieb aus. Dafür lief Ron einige Schritte die Straße weiter, äugte an seinem Eiterhaus vorbei, um das Haus der alten Mrs. Benson zu begucken. Sie hatte all die Jahrzehnte immer einen kleinen Nachbarschaftswettbewerb daraus gemacht, wer in der Straße wohl den geschmücktesten und beleuchtesten Vorgarten an diesem Tag vorweisen konnte. Nicht, daß es einen Preis gegeben hätte, nein, es war einfach der Ehrgeiz. Und am intensivsten stritten Mrs. Benson und seine Mutter um die Nummer eins. Na, dieses Jahr würde die Alte ja konkurrenzlos gewinnen, wo Mom nicht hier war und sich sonst niemand seiner Familie für die Ausschmückung des Vorgartens verantwortlich gefühlt hatte. Aber was war das? Auch bei Mrs. Benson war, wie vor seinem Haus, alles dunkel. War sie denn noch nicht zurück aus dem Ort? Doch, in der zwei ten Etage brannte Licht. Oder war ihr, ohne Mutters Konkurrenzkampf, die Lust am Schmücken vergan gen? Ach, was soll’s, vielleicht hatte sie angesichts der fortgeschrittenen Zeit die ganze Beleuchtungsorgie 273
auch nur ausgeschaltet. Obwohl sie normalerweise die Lichter in dieser Nacht immer bis zum Hellwerden des anderen Tages hatte brennen lassen. Lisa stand schon in der Einfahrt, wartete, bis Ron wieder bei ihr war. Plötzlich erfaßte eine heftige Windboe die mäch tigen Kronen der großen Ahornbäume, die sofort stärker rauschten. Schon fielen die ersten kleinen Regentropfen. »Schnell hier herunter, Lisa«, er zerrte sie unter das kleine Vordach, das auf den beiden Säulen ruhte. Sie standen vor der Tür, sahen und hörten, wie mit einem grollenden Donner der Regen immer heftiger niederprasselte. Ein gigantisch heller Blitz und ein nur Sekunden später folgender Knall kündigten das über die Stadt ziehende Gewitter an. Im Dunkeln nestelte er am Schloß herum. »Habt ihr denn kein Licht hier draußen?« fragte Lisa. »Eigentlich doch«, zischte Ron etwas genervt we gen der defekten Außenbeleuchtung, »nur halt heute nicht.« Jetzt goß es wie aus Eimern, und die Bäume krümm ten sich unter der Kraft des Sturmes, kleinere Äste bra chen ab und wirbelten durch die Luft. »Das ist eines unserer plötzlich auftauchenden Gewitter, die aber genauso schnell vorbeiziehen. Du brauchst keine Angst zu haben«, wollte Ron sie beruhi gen und schaltete das Licht zur oberen Etage ein, »sol len wir nach oben gehen oder ins Wohnzimmer? Ich 274
schlage vor nach oben, ja? - Gut, ich hole noch etwas zu trinken.« Lisa hatte keine Angst vor Gewitter. Da war sie aus Schweden schon andere Unwetter gewöhnt. »Gewitter machen mir nichts aus«, klang es an sein Ohr, als er schon die ersten Stufen zum Keller betreten hatte. Unten angekommen, hörte er, wie der Sturm gegen die Kellertür rappelte. Er machte Licht, ging hin, ver sicherte sich, daß sie fest verschlossen war. Dann griff er sich schnell zwei Saftflaschen, um eiligst wieder hoch zu Lisa zu kommen, zu der Frau, die ihm die Schmetterlinge in den Bauch trieb. Zwar hörten er und Lisa den gigantischen Knall ei nes nahen Blitzeinschlags, aber was sie nicht bemerk ten, war, daß der vom Blitz getroffene Baum umge stürzt war und damit die Stromversorgung wie auch die Telefonverbindung auf ihrer Straßenseite unterbrochen hatte. In Gingers Zimmer hatte Lisa inzwischen mehr als zwanzig Kerzen entzündet und sie überall im Raum verstreut aufgestellt. Gefunden hatte sie diese in einem dickbauchigen Glas in einer Ecke des Zimmers. Auch zwei saubere Gläser standen schon bereit. Dann war sie anschließend kurz ins Bad gehuscht, hatte sich der Bonnie-Kostümierung entledigt und wartete nur mit einem überlangen T-Shirt bekleidet auf ihren geliebten ›Clyde‹.
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01. November ’98
Grizzly-House / Alaska as Feuer war bis auf einen Rest heruntergebrannt. Nur eine schmale Rauchsäule schlängelte sich zur Kaminöffnung hinauf. Wohlige Wärme hatte es bis in den hintersten Winkel der Hütte gebracht. Curt Wesley stand, nur mit der Hose bekleidet, schon einige Minuten vor der wärmestrahlenden Glut, hielt Nicoles rote Perücke in der Hand, betrachtete sie, schnupperte daran, nahm den Duft in sich auf. Hinter ihm lag, von zwei Decken umhüllt, die ihn beobachtende, glückliche Nicole. Zwei Matratzen aus den Etagenbetten vor dem Kamin bildeten ihr weiches und romantisches Lager. »Wie spät haben wir, Darling?« Langsam drehte er sich um, schaute sie an, als hätte er ihre Frage nicht verstanden. Wie schön und verfüh rerisch sie war, dachte er. »Wie? Oh, Moment«, er schaute auf die Uhr, »ein Uhr ist es.« Dann blickte er ihr in die Augen, versuchte eine Antwort zu entdecken auf das, was hier geschehen war. Er bereute nichts, ja, er spürte, wie sehr er sich zu dieser Frau hingezogen fühlte, spürte, wie er sie begehrte. Wie sollte er sie fragen? Waren ihre Gefühle so stark wie die seinen? Er kniete sich zu ihr hinunter, nahm ihre Hand und flüsterte sehr unsicher: »Ich weiß nicht, wieso so etwas geschieht, aber daß es geschehen ist, macht mich sehr glücklich. Ich muß gestehen, daß ich mich in dich verliebt habe, vielleicht schon bei un
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serer ersten Begegnung. Nur habe ich mir vor lauter Arbeit und Mondbeobachterei nie die Zeit genommen, über meine Gefühle nachzudenken. Ich glaube, der Schneesturm kam gerade rechtzeitig.« Nicole lächelte, legte ihren Arm um seinen Hals und zog ihn zu sich herunter. Dann küßte sie ihn leiden schaftlich. Aber plötzlich hielt sie inne: vernahm sie nicht das Geräusch nahender Autos? Curt hörte es auch, sprang auf, eilte zur Tür, die er vor Stunden eigenhändig verriegelt hatte, und öffnete sie einen Spalt. Klare, kalte Luft schlug ihm entgegen. Sturm und Schneefall hatten überraschenderweise aufgehört und ein sternenübersäter Nachthimmel spannte sich über die Blockhütte. Durch die über und über weiße Landschaft schoben sich ein Polizeiwagen und ein Geländewagen heran. Sie waren kaum hundert Meter entfernt. In aller Eile kleideten sich die Liebenden an, räumten die Hütte auf. Dabei stellte Curt fest, daß das Funkgerät abgeschaltet worden war. Ein kurzer Blick zu Nicole. Die zog schmunzelnd den Mundwinkel etwas hoch, und er hatte begriffen. Die Brandyflasche wanderte zurück in den Wandschrank, genau wie die gespülten Gläser. Dann schlüpften sie schnell in ihre Kostüme, zogen die dicken Jacken darüber, und alles war ›okay‹. Im knirschenden Schnee kamen die Wagen zum Stehen. Wagentüren klappten. Noch bevor die Hüttentür geöffnet wurde, gab Nicole Curt einen schnellen Kuß, daß er fast erschrak. Die Tür ging auf und Pat Kramer trat ein. In seiner 277
Begleitung war ein Policeofficer und ein ihnen unbe kannter Mann, der nicht nur sehr amtlich aussah, son dern auch sehr wichtig dreinschaute. »Hey, Gott sei Dank«, sprudelte es aus Pat, »ihr wißt gar nicht, wieviel Sorgen ich mir um euch gemacht habe. Ich wußte, oder besser, ich nahm an, daß ihr hier in dieser Hütte sein würdet. Aber als ich merkte, daß das Telefon hier defekt war und dann plötzlich auch euer Funkgerät nichts mehr von sich gab, wußte ich, daß ich etwas unternehmen mußte. Über Funk habe ich dann diesen freundlichen Officer erreicht. Er hat sich sofort bereit erklärt, bei der Suche nach euch behilflich zu sein.« Beim Wort ›Funkgerät‹ blickte Curt zu Nicole, muß te etwas grinsen: »An, super, Pat, das war genau rich tig. Wir sind froh, daß wir nochmal mit dem Schrecken davon gekommen sind. Und wir danken auch dem Officer für seine Mühe. Nicht wahr, Nicole?« »Oh ja«, antwortete eine bis zum Hals zugeknöpfte Wissenschaftlerin, »ich dachte schon, wir würden im Schnee sterben müssen, und ich dabei auch noch in ei nem Teufelskostüm. Wie schrecklich.« Sie zeigte zum Tisch, auf dem die rote Perücke lag. In diesem Augenblick drängte sich der dritte Mann nach vorne: »Dr. Wesley?« »Ja, ganz richtig. Und mit wem habe ich das Ver gnügen?« »Curt, das ist Ross Camel von der NASA. Er ist ex tra aus Houston in Texas hergeflogen, weil er mit dir äußerst wichtige Dinge zu bereden hat«, schob sich Pat 278
vor, »was ganz Wichtiges, nehme ich an.« »Danke, ist gut«, drängte ihn der NASA-Beauftragte zur Seite, »Dr. Wesley, wir erwarten Sie umgehend in unserem neueingerichteten Operationshauptquartier in Tucson. Ich soll Sie abholen und heil dort hinbringen. Sind Sie reisefertig?« »Reisefertig? Sie spinnen wohl«, entgegnete Wesley, »nach meinem Wissen findet das nächste Treffen dort erst in vierzehn Tagen statt. Außerdem haben wir wohl kaum die richtige Reisekleidung bei uns, Mr. Camel. Um was geht’s denn eigentlich? Was ist denn so wich tig, daß Sie mich hier mitten in der Nacht aufstöbern? Ist es der Mond? - Klar, es kann nur der Mond sein.« Der NASA-Mann blickte sich um, wandte sich dann zu Wesley: »Sie wissen, daß Sie nicht über die Mondbeobachtungen reden dürfen. Also, halten Sie sich zurück, wenn Unbefugte zuhören können.« »Blödsinn, Mann. Das hier sind meine engsten Mitarbeiter, die ohnehin die ganze Mondangelegenheit rein beruflich schon mitverfolgen. Und der Officer da, na, den interessiert doch wirklich alles andere mehr, als unsere Mondgeschichten, stimmt’s Officer?« Erschrocken durch die Ansprache, schaute der Polizist herüber: »Was ist? Äh, werde ich eigentlich noch gebraucht hier? Ich müßte nämlich weiter, wenn hier alles soweit okay ist?« »Klar, danke, Officer«, sagte Pat, ging auf den Uni formierten zu, und begleitete ihn aus der Hütte hinaus. Wenige Augenblicke später hörte man das Knirschen 279
des Schnees und der Reifen des davonfahrenden Polizeiautos. »So«, begann Wesley, »Mr. Ross Camel, wenn Sie erwarten, daß ich quasi aus dem Stand mit Ihnen ins wunderschöne, warme Arizona reisen soll, dann er zählen Sie mir hier und jetzt, warum? Warum jetzt und nicht in vierzehn Tagen?« »Dr. Wesley, sie kennen doch die Bestimmungen. Alles unterliegt der absoluten Geheimhaltung. Ich darf hier vor den anderen gar nicht darüber reden.« Auf einmal war es mucksmäuschenstill im Raum. Nur das leise Knistern der Glut im Kamin war zu vernehmen, dann das Surren des Reißverschlusses an Wesleys Jacke. Dieser zog sie in aller Ruhe aus, legte sie über eine der Stuhllehnen und setzte sich dann in seinem Zombie-Hemd auf den Stuhl: »Mr. Kramer«, wandte er sich zu Pat, wurde übertrieben förmlich, »ich sehe, Sie haben eine Thermoskanne dabei. Das ist prima. Könnte es sein, daß Sie für uns auch noch einen Becher Kaffee hätten?« Ross Camel wurde unsicher, ungeduldig und verär gert. Doch was sollte er tun: »Gut. Einige Details wer de ich Ihnen mitteilen. Aber nur Ihnen.« »Falsch. Hier im Raum sind nur noch NASAAngestellte, richtig? Und wenn Sie etwas zu erzählen haben, dann bitte mir und meinen beiden Mitarbeitern hier. Übrigens, bevor ich es vergesse: wenn ich mit komme, dann nur mit meiner Assistentin, Dr. Samisse. Schließlich hat sie bei uns als erste die Mondblitze entdeckt.« 280
Der NASA-Mensch wurde ungehalten: »Nein, auf keinen Fall dürfen Sie jemanden mitbringen.« »Ich brauche sie aber unbedingt bei mir«, wurde Wesley giftiger und blickte mit einem versteckten Schmunzeln zu Nicole rüber. Diese biß sich verlegen auf die Unterlippe. Er liebte sie, wußte sie jetzt genau. Würde er sonst darauf bestehen, sie mitzunehmen? »Was ist, Mr. Camel, sollen wir noch die ganze Nacht hier gemeinsam verbringen, oder fangen Sie jetzt an zu erzählen?« »Okay, okay, aber in Kurzform.« Camel öffnete seine Jacke, setzte sich auch an den Tisch, Pat nahm abseits auf dem unteren Etagenbett Platz. Dr. Samisse stand abgewandt vor dem Kamin, mußte sich cool ge ben, dabei war sie so glücklich, hätte ihr Herzglück am liebsten laut herausgeschrien. »Ich wiederhole es nochmal für alle Anwesenden. Das was ich Ihnen jetzt in gekürzter Form mitteile, unterliegt absoluter Geheimhaltung. Sie und andere Astrophysiker haben uns ihre Aufnahmen von den Mondblitzen übermittelt. Nun haben wir herausgefun den, daß diese scheinbar so unregelmäßig und beliebig erfolgten Blitze auf der Mondrückseite keineswegs un regelmäßig und beliebig waren. Einige Mathematiker im Stab stellten zeitrelevante Gleichmäßigkeiten, algebraischer Art fest, das heißt, die Blitze erfolgten nach einer ganz genauen zeitlichen Formel, sowohl, was die Einer-, Zweier- und Dreier-Blitzfolgen angeht, wie auch die Intensivität einzelner Blitze. Na ja, was soll ich sagen, den Erkenntnissen nach können die 281
Blitzerscheinungen nur künstlicher Herkunft sein.« »Sie meinen, von intelligenten Wesen gesteuert?« fragte Wesley skeptisch, »von einer interstellaren Macht künstlich erzeugt?« Ross Camel lockerte den Knoten seiner Krawatte: »So sieht es wohl aus. Aber das ist leider noch nicht alles.« »Nicht alles?« »Nein, Dr. Wesley. Das, was uns Sorge macht, ist die Tatsache, daß nach dem mathematischen Schlüssel die Blitze in immer kürzeren Zeitabständen erfolgten, und daß man, wenn man so will, errechnen kann, wann vielleicht der große Knall kommt, der Mond explodiert oder die Erde untergeht, irgend etwas jedenfalls, ich weiß auch nicht was. Und genau darum sollen ja alle Experten, und Sie gehören dazu, nach Arizona kom men.« Pat war aufgestanden und langsam an den Tisch ge kommen. Nicole hatte wortlos einen Becher Kaffee vor Wesley gestellt, hatte sie richtig gehört: Aliens auf dem Mond? Camel wußte, was sein Gegenüber jetzt fragen wür de. »Wann rechnen sie mit dem großen Knall?« wollte Wesley, wie von Camel richtig vermutet, wissen. »Schon bald.« »Verdammt, Camel, was heißt schon bald?« »Bei der Intensivität rechnen die Entdecker der Formel mit vier, sechs, vielleicht acht Wochen.« 282
»Acht Wochen, mein Gott«, rief Pat und lief hek tisch um den Tisch. »Vielleicht auch nur sechs, oder gar vier. Wir haben den Schlüssel noch nicht gefunden«, erklärte Camel, »den Auslöser oder den Grund dieses Countdowns. Darum müssen wir alle Kräfte zusammenziehen, da mit wir herausbekommen, um was es da geht. Bis jetzt tappen wir noch völlig im Dunkeln. Selbst die Militärs sind in Alarmbereitschaft, wissen aber nicht gegen wen oder was das Land verteidigt werden muß!« »Moment«, meldete sich Samisse zu Wort, »wol len Sie damit sagen, daß wir, ohne zu wissen um was es geht, gleich schon wieder Bomben und Kanonen scharfmachen. Das ist ja wirklich typisch.« Wesley stand auf: »Los, raus mit der Sprache, was haben die Generäle wirklich vor?« »Okay, da man nicht weiß, was in vier bis acht Wochen passiert, ist eine Expedition zum Mond vorge sehen. Man will mit diesem Flug den Grund der Blitze feststellen. Richtet sich dieser Countdown gegen die Erde, gesteuert von fremden Intelligenzen, oder ist er für die Erde völlig harmlos? Ich weiß es auch nicht.« »Aliens auf dem Mond? Was sind das denn für of fizielle Bekenntnisse?« fragte Pat, »ich denke, Aliens gehören ins Reich der Phantasie?« »Egal, wie Sie denken. So, Dr. Wesley, das sind grob die Gründe, weshalb wir Sie in Tucson brauchen. Sind Sie denn jetzt bereit mitzukommen?« Wesley stand auf, überlegte dann kurz: »Allright. Aber nur zusammen mit Dr. Samisse.« 283
Ross Camel war nicht erfreut: »In Gottes Namen, nehmen Sie sie mit. Können wir denn jetzt endlich fahren?« Pat schaute zur Uhr: »Hey, schon gleich halb drei. Dann sollten wir wirklich langsam ins Bett gehen, beziehungsweise fahren. Schließlich sind es noch gut siebzig Meilen, die vor uns liegen, und der hohe Schnee macht die Fahrerei auch nicht unbedingt leichter.« »Also gut«, entgegnete Wesley, »Pat, du nimmst Mr. Camel mit zurück und Nicole fährt mit mir, okay?« Keine Einwände. Nachdem die Glut im Kamin erstickt worden war und das Grizzly-House aufgeräumt verlassen wurde, starteten die Fahrzeuge zur Rücktour. Nicole bestand darauf, den Jeep zu fahren. Sie hatte kaum etwas ge trunken und dachte bei der verschneiten Straße an ihr zukünftiges Glück. Und daß Curt so darauf bestanden hatte, sie in den Südwesten der USA mitzunehmen, machte sie mehr als zufrieden. Camden / Maine Von den vielen Kerzen brannten nur noch zwei. Noch immer trommelte der Regen gegen das Fenster des Mädchenzimmers. Lisa lag lächelnd in Rons Armen, und lausch te dem Regen und dem unablässigen Flüstern der Baumkronen, deren Schatten durch das Fenster an die gegenüberliegende Wand geworfen wurden und dort einen wilden Tanz aufzuführen schienen. Einschlafen konnte sie nicht, zu viele Dinge schwirrten durch ihren 284
Kopf. Dann schaute sie zu Ron herüber. »Ron«, flüsterte sie zärtlich und gab ihm einen sanf ten Wangenkuß, »Ron - schläfst du?« »Nein, Schatz. Ich döse nur ein wenig. Aber ich habe jetzt etwas Hunger bekommen. Ich werde ein paar Kekse holen, möchtest du auch welche?« Sie nickte. Ron sprang auf, zog seine Jeans über, schlüpfte barfuß in die Turnschuhe und bewegte sich durch den dämmrigen Raum, am Fenster vorbei, schaute hinaus, blieb stehen. »Du, Lisa, der Wagen von Clausseé steht ja immer noch vor dem Haus. Als wir kamen, habe ich überhaupt nicht auf ihn geachtet.« »Ich auch nicht. Und? Hat jemand den Wagen ange fahren, ist was mit ihm?« »Nein, das nicht. Mich wundert nur, daß der Pro fessor den Wagen noch nicht geholt hat. Mrs. Benson hat Clausseé doch gesehen. Und wenn er ohne Texas nicht fahren wollte, wieso hat er dann nicht im Wagen auf uns gewartet und uns angesprochen, als wir nach Hause kamen?« »Vielleicht war er ja in seinem Wagen und hat auf uns gewartet und auf seinen Hund«, erwiderte Lisa, »und ist darüber eingeschlafen.« In diesem Augenblick hob am nächtlichen, wolken verhangenen Himmel eine große Knallerei an. Aus allen Richtungen stiegen Raketen in die Lüfte: große, kleine, weiße, rote, grüne, zischende und knallende, alle Spielarten, die die Pyro-Industrie ersonnen hatte. 285
Heute Nacht schienen sie alle über Camden sich ein Stelldichein geben zu wollen. »Lisa, schnell, schau doch. Es ist Mitternacht und das Halloween-Feuerwerk hat begonnen.« Mit einem Sprung kam Lisa hoch, zog sich Norweger-T-Shirt und Hose über und kam zum Fenster. Gemeinsam bestaunten sie den Kampf der Raketen ge gen den Regen. Plötzlich hörte Ron ein Geräusch, hielt die Luft an, lauschte. Ein Geräusch im Haus? Nicht so, als ob je mand, Vater oder Bob, durch die Haustür hereinkäme. Nein, es klang, als käme es aus dem Keller. Da - wieder. Die Dielen der Kellertreppe gaben selt same knarrende Geräusche von sich. Lisa hörte es jetzt auch. »Ist es Bob?« fragte sie flüsternd. Ron signalisierte ihr, ganz leise zu sein, ging auf Zehenspitzen an die Zimmertür, öffnete sie, trat auf den Flur. Jetzt hörte er, wie die Klinke der Kellertür langsam nach unten gedrückt wurde. Das ist nie und nimmer Vater oder der Bruder, kom binierte er - etwa Einbrecher? Zurück im Raum, die Tür geschlossen, wollte er Licht machen, aber es ging nicht. Er versuchte die Tischleuchte auf Gingers Schreibtisch einzuschalten, auch sie wollte kein Licht spenden. »Auch das noch: wir haben anscheinend keinen Strom. Der Blitzschlag vorhin muß die Stromzufuhr für diese Seite der Straße lahmgelegt haben. Wo ist mein 286
Telefon? Ich rufe die Polizei.« Er griff sich instinktiv an die Hosentasche: »Oh nein, mein Mobiltelefon habe ich unten in der Küche liegenlassen, fällt mir ein.« »Und das Telefon auf dem Schreibtisch«, bemerk te Lisa und zeigte mit zittrigen Fingern auf Gingers Schreibtisch in der Ecke. Schon hatte Ron den Hörer am Ohr, begann zu wäh len, stoppte, schaute sie entgeistert an: »Auch weg, genau wie der Strom. Wir können niemanden zu Hilfe rufen.« »Und nun?« »Keine Ahnung. Wo bleiben nur Vater oder Bob mit Texas? Ein Hund wäre jetzt nicht schlecht.« Lisa setzte sich hoch auf die Bettkante, knibbelte an den Fingern: »Wir können uns auch nicht einschließen, der Schlüssel fehlt. Hast du ’ne Idee?« »Du bleibst erstmal hier oben, Lisa, ich geh’ vor sichtig die Treppe runter«, flüsterte er in ihre Richtung. Er schlich erneut auf den Flur, beugte sich etwas vor, um besser sehen zu können. Die untere Etage, Flur und Wohnzimmer, wurden schwach durch die Straßenlaternen der gegenüberliegenden Straßenseite erhellt. Dann sah er für Bruchteile von Sekunden, wie ein Schatten durch den Flur huschte. Ron lauschte. Suchte der Eindringling denn nichts? Er hörte weder das Herausziehen von Schubladen, noch das Verstauen von metallisch klingenden Gegen ständen. Was er aber plötzlich als Schattenspiel an der Wand sah, ließ ihn zusammenzucken. Es waren die 287
Umrisse eines Armes, einer Hand und einer Pistole, einer verflucht großen Pistole. Dann erschien ein Oberkörper, eine spitze Nase, große Micky-MouseOhren. Ein maskierter Einbrecher mit einer Magnum, was sollte das denn? So ein Mist. Leise stieg er zwei Stufen wieder hoch und lief zu rück ins Zimmer, in dem Lisa schon auf ihn wartete: »Ist er weg?« fragte sie. »Nein, im Gegenteil«, flüsterte er. Lisa schaute ihn fragend an: »Was heißt das, im Gegenteil?« »Der Einbrecher trägt ’ne Waffe, ganz offen, als wäre er entschlossen.« »Entschlossen? - Wozu?« »Ja, weiß ich nicht, Schatz. Aber Einbrecher tragen normalerweise Brecheisen und keine Knarren vor sich her, und eine Riesenkanone schon gar nicht.« »Wie - Riesenkanone?« Ron wurde immer nervöser: »Na, ein bißchen von Waffen kenn’ ich, und müßte mich verdammt nochmal täuschen, wenn der Kerl nicht eine Magnum hat?« Dabei ging er auf Lisa zu, packte sie am Arm: »Ich weiß nicht, was der Typ vorhat. Wir werden jetzt noch eine Etage höher, auf den Dachboden gehen und uns dort verstecken. Soll der Typ von mir aus stehlen, was er will. Soll uns aber gefälligst in Ruhe lassen. Bist du soweit?« Sie nickte. Er öffnete leise die Zimmertür, und als er nichts hörte, schob er Lisa hinaus und dirigierte sie rechts herum zu den paar Stufen, die nach oben zum 288
Dachboden führten. Sie ging voran, er hinterher mit einem schnell gegriffenen Hemd in der Hand. Dann folgte ein knarrendes Geräusch im Flur. Ron kannte dieses Geräusch. Es war die zweite Stufe der Treppe nach oben. Mann, jetzt kam der Kerl auch noch hoch. »Lisa, beeil dich«, rief er ihr flüsternd zu, obwohl sie unmittelbar vor ihm war, »wir müssen schnell auf den Dachboden, schnell, schnell.« Während er die Stufen hinauf eilte, zog er sich das Hemd über. Beim Gedanken an den Dachboden fiel ihm spontan der Remington Colt aus der Army-Kiste ein und die Schachtel mit den Patronen. Es war die einzige Waffe, an die er jetzt herankommen konnte. Oben angekommen, eilten sie schleunigst durch die Tür zum Dachboden und verriegelten sie von innen. Ihr knarrendes Geräusch mußte im ganzen Haus zu hören sein, hatte sie sicher verraten. Oder hatten die Kracher draußen sie übertönt? Sie standen im Dunkeln, lauschten auf Schritte. Ron griff nach dem Lichtschalter, haute den Kipp schalter hoch und runter. Stimmt ja, Stromausfall, fiel ihm ein. Gerade heute, ausgerechnet. Aus dem runden Giebelfenster drang etwas ›hellere‹ Dunkelheit und auch die Lichtblitze der Böller herein. Es war jeden falls genug Licht, um den Weg durch Spinnenweben und Antiquariat hindurch zum Fester zu erkennen. Wie anders es hier oben vor Tagen ausgesehen hat te, als er das Tagebuch suchte, dachte Ron. So, jetzt aber, wo steckt die Army-Kiste, verdammt wo nur? Er 289
spähte in alle Ecken, in diesem Fastdunkel sah man wirklich nichts. Lisa war am Fenster, klappte es zur Seite auf, so daß jetzt der noch immer anhaltende Regen hereinschlug. Dann, ein energisches Rappeln an der Tür zum Dachboden. Ron erschrak. Was, in aller Welt wollte ein Einbre cher hier oben? Er hetzte förmlich von Nische zu Nische, und dann hatte er sie entdeckt: die Army-Kiste. Das aggressive Rütteln an der Tür nahm zu. Ron öffnete die Kiste so schnell er konnte, holte den Beutel heraus und grabbelte in ihm herum, bis er Colt und Patronenschachtel zum Vorschein brachte. In diesem Augenblick hörte er einen Schuß, dann krachte noch ein zweiter. Draußen tobte das Feuerwerk weiter, knallten die Raketen. »Ich glaub’s nicht, der schießt die Tür auf. Nur weg hier«, zischte Ron und steckte den Remington in den Gürtel. Die losen Patronen verschwanden in die Hosentasche. »Hau ab, Lisa, raus aus dem Fenster. Du kannst springen. Gleich unter dem Fenster ist ein Vordach und rechts findest du ein Rankgitter bis nach unten. Dann renne so schnell du kannst quer durch den Garten und verstecke dich im Baumhaus des alten Kirschbaumes. Du kennst es, rechts hinter der Garage. Mach’ schnell, der Kerl kommt durch die Tür, der schießt.« Wieder krachte ein Schuß. Die Splitter des Rahmens 290
stoben auseinander, die Tür sprang geräuschvoll auf. Ron war schon am Fenster, ging in die Hocke, schau te zur Tür. In diesem Augenblick erhellte ein Blitz für Sekundenbruchteile den Dachboden. Er sah an der Tür eine dunkel gekleidete Gestalt stehen. Sie trug eine Micky-Mouse-Maske vor dem Gesicht, sah zu ihm rüber und hielt eine Waffe auf ihn gerichtet. Mit einem gewagten Sprung hechtete er durchs Fenster. Schon schlug eine Kugel ins Holz des Rundfensters ein, ließ Späne aufwirbeln. Mit Schreck in den Gliedern rollte Ron sich auf dem kleinen Dach hinüber zum Rankgitter, begann so schnell er konnte hinab zu klettern. Ein letzter Blick hoch zum Dachboden, da erschien die Maske am run den Fenster. Die Pistole wurde hochgerissen, und zwei weitere Schüsse pfiffen über seinen Kopf hinweg. Ron sprang die letzten Meter, rollte sich ab. Er war nicht verletzt. Schnell stand er auf und schon fiel ihm die völlig durchnäßte Lisa um den Hals. »Nicht jetzt, Lisa, wir müssen weg hier!« stammelte er außer Atem, packte ihre Hand und zog sie hinter sich her. »Ich hatte solche Angst um dich, als ich die Schüsse hörte. Ich mußte einfach warten.« Ron suchte erste Deckung hinter einem Holzstapel seitlich der Garage, schob Lisa hinter sich. Dann blick te er hoch Richtung Pflanzgitter - nichts zu sehen. »Schnell, verstecken wir uns im Baumhaus und zie hen die Strickleiter ein.« Ein kurzer Sprint, und sie waren am Baum. Ron 291
packte energisch beide Seile der Strickleiter, wollte die Haltbarkeit testen. Schließlich war er schon Jahre nicht mehr oben gewesen. Der Test verlief negativ, da ihm die Leiter schon beim Einstieg in die erste Sprosse mit einem Surren entgegenkam und zu Boden fiel. Beide oberen Enden der Leiter waren durchgefault. »Auch das noch, und jetzt?« schimpfte er. Schon splitterte, von einer Kugel getroffen, ein Stück aus der Rinde des Baumes. Ron und Lisa ließen sich instinktiv in die Hocke fallen, als es über ihren Köpfen erneut einschlug. Wo sollten sie jetzt hin, Ron sah sich um, dachte fieberhaft nach. In diesem Augenblick drang Hupen, lautes Klopfen und eine vertraute Stimme durch das Prasseln des Regens zu ihnen herüber: »Ron, Lisa, schnell hierher. Schnell!« Ihre Köpfe flogen herum, schauten zwischen Haus und Garage hindurch, vorbei am Käfer, zur Straße, von wo der Zuruf herüberschallte. Und sie staunten nicht schlecht. Es war Clausseé, der in seinem Wohnmobil sitzend, die Seitenscheibe heruntergedreht, mit einer dick ver bundenen Hand von außen gegen die Wagentür schlug: »Kommt her, beeilt euch und steigt ein, schnell, macht schon!« Sie rannten am Haus entlang, die Auffahrt hinunter, herum ums Wohnmobil, sprangen hinein. Schon woll te Clausseé losbrausen, gab Gas, daß sich die Räder durchdrehten. Dann haute er mit aller Kraft auf die Bremse. 292
Ron und Lisa wären um Haaresbreite mit ihren Köpfen gegen die Windschutzscheibe geknallt. Mit aufgerissenen Augen erkannten sie den Grund des harten Bremsmanövers: wenige Meter vor ihnen stand plötzlich, wie aus dem Nichts aufgetaucht, ein schwarzgekleideter Mann mit verschränkten Armen vor der Brust. Er trug eine weißschwarze MickyMouse-Maske, die sie anlachte. Ein riesiger Schreck fuhr ihnen in die Glieder, als sie den Typ auf den Wagen zukommen sahen. »Ach du großer Mist, das ist der Einbrecher aus dem Haus, der mit der Knarre. Wir müssen schnell hier weg«, Ron umfaßte instinktiv Lisa, drückte ihren Oberkörper schützend vornüber auf ihre Knie, starrte dabei, wie auch Clausseé, auf den Mann. Langsam öffnete dieser seine Arme und dann sahen sie, wie der Mann einen Revolver auf sie richtete, dabei Schritt für Schritt immer dichter an den Wagen herankam. Wie eine Fügung des Himmels tauchten in diesem Moment beiderseits des Wohnmobils johlendes Volk auf. Leute klopften gegen die Scheiben des Wagens, prosteten ihnen mit ihren Bierdosen zu und forderten sie auf, auszusteigen und mitzugehen. Als die acht ver kleideten und sichtlich angetrunkenen Grusel-Freunde den Mann vor dem Wagen entdeckten, sprangen sie lachend auf den Micky-Mouse-Mann zu. Sie nahmen ihn wie einen alten Bekannten in ihre Mitte und zogen ihn, unter Absingen alter Halloween-Lieder, mit die Straße hinunter. Dabei ließen sie sich weder von der zaghaften Widerwilligkeit ihres neuen Begleiters noch 293
vom Regen stören. »Die Micky-Mouse-Maske kenn’ ich«, zischte Ron kaum hörbar, »wo habe ich sie schon mal gesehen.« »Was war das denn für ein Witzbold«, scherzte Clausseé verlegen, »nicht, daß es am Ende davon noch mehr gibt. Los, erst mal weg hier!« Er trat aufs Gaspedal, steuerte den Wagen mit überhöhter Geschwindigkeit die Straße hinunter, an der gut gelaunten Truppe vorbei, bis er nach einer leichten Kurve mit quietschenden Rädern in die Tannery Lane einbog. Nach wenigen hundert Metern bremste er ab und brachte das Fahrzeug in der Atlantic Avenue zum Stehen. Dort stellte er den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Der Regen prasselte weiter hernieder, wollte wohl nachholen, was er in vielen Tagen vorher versäumt hat te, während das Gewitter unterdessen schon weiterge zogen war. Nur vereinzelt war in der Ferne noch leises Grollen zu vernehmen. Clausseé saß leicht über das Lenkrad gebeugt. Er war unrasiert, der lange Zopf hing nach vorne herunter. Seine, bis an die Unterarme verbundenen Hände lagen auf dem Lenker. Nur die Daumen schauten heraus, ermöglichten so einen Rest von Beweglichkeit. Dann seufzte er kurz und drehte seinen grauen Kopf zu den Beifahrern: »Was war denn bei euch los? War jemand hinter euch her? Kamen die Schüsse etwa aus eurem Haus?« »Und ob jemand hinter uns her war?« Ron mußte Atem holen, »den Typ haben Sie doch gerade gesehen, 294
den mit der Maske. Der muß irgendwie durchgeknallt sein. Einbrechen reicht wohl nicht mehr, auch noch mit einer Knarre hinter den Leuten herballern.« »Der war das im Haus?« fragte Lisa, »aber wieso klaut er nicht, sondern verfolgt uns?« »Weil hier scheinbar alle zu Halloween ihren Kick brauchen, darum. Mann, erst im Wald und jetzt auch schon hier. Laufen denn in diesen Tagen nur Bescheuerte herum? Nicht zu glauben.« Dann wandte er sich zu Clausseé: »Aber was ist mit Ihnen? Wieso hat man Sie denn schon wieder entlassen? Oder sind Sie einfach abgehauen?« Der Professor grinste: »Natürlich getürmt. Nachdem meine Hände ordentlich versorgt worden waren und kurze Zeit später auch nicht mehr schmerzten, gab es doch keinen Grund, länger dort zu bleiben, oder? Außerdem, wenn die was von mir wollen, meine Soz ialversicherungsnummer haben sie ja. Dann hatte ich Glück und kriegte auch eine Mitfahrgelegenheit hier her. Aber kein Taxi - nein, mit so einem Verrückten in einem Leichenwagen. Es war eine irre Tour.« »Schon klar, das war Bruno«, antwortete der durch näßte Ron voller Hektik. »Bruno? Ron, wer ist denn dieser Bruno?« »Lisa, ich zeige ihn dir mal. Denn den mußt du ge sehen haben. Bruno ist einfach Klasse. Professor, Sie haben doch sicher ein Telefon? Schnell, ich brauch’s. Sorry Lisa, aber ich muß jetzt erst den Sheriff rufen.« Ein Griff ins Handschuhfach, kurzes Suchen, und schon reichte Clausseé ihm ein Telefon älterer Bauart. 295
Der Beamte am anderen Ende der Leitung hörte sich Rons Geschichte an und schickte, noch während sie sprachen, einen Einsatzwagen zur angegebenen Adresse. »Die sollen sich aber beeilen«, forderte Lisa, »nicht, daß vielleicht noch ein Komplize von ›Micky-Mouse‹ im Haus ist, und dein Dad, oder Bob und Texas kom men nach Hause.« Clausseé blickte Lisa fragend an: »Mit wem ist mein Hund unterwegs?« »Mit Bob, meinem Bruder. Keine Sorge«, beruhigte ihn Ron. Dabei streckte er sich nach vorne, wollte das Telefon wieder ins Handschuhfach legen. Dabei fiel der Remington Colt aus seinem Gürtel und polterte auf den Wagenboden. Der Professor schaute herüber, sah die Waffe: »Sag’ nicht, der Colt ist echt?« Ron hob die alte Waffe auf, hielt sie ihm entgegen: »Ich würde sagen, die ist so echt, echter geht’s nicht mehr.« Lisa erschrak. Sie hatte den Revolver überhaupt nicht gesehen, als er in Rons Gürtel steckte: »Du hast eine Waffe?« »Jawohl, Lisa, einen echten, alten Cavalry-Colt, her gestellt im Jahre 1858. Er war in Ururgroßvaters ArmyKiste, wo sich auch das Tagebuch befand.« Der Professor nahm das Schießeisen in seine ver bundene Hand und bestaunte die Gravur auf dem Lauf. Dann riß er die Waffe spontan nach unten, denn in die sem Augenblick rauschte ein Polizeiwagen mit Sirene 296
und Blaulicht an ihnen vorbei. »Die sind zu uns unterwegs. Komm, wir müssen zurück«, forderte Ron, nahm dem Professor den Colt wieder aus der Hand und wollte sich das gute Stück gerade wieder in den Gürtel stecken. »Verstecke sie lieber unter dem Sitz. Ich glaube, das sähe nicht gut aus, wenn du da mit einer Waffe auftauchen würdest. Man würde sie dir mit Sicherheit abnehmen und dann sähest du sie garantiert nie wieder. Ich hörte, Polizeichefs seien ganz scharf darauf, solche Originale ihren privaten Waffensammlungen zuzufüh ren.« Mit zustimmendem »okay«, ließ Ron Waffe und Patronen unter dem Beifahrersitz verschwinden. »Mein Gott«, zischte Clausseé: »Patronen dazu hat der Kerl auch noch, »nicht zu glauben.« Minuten später waren sie wieder vor dem Haus. Noch immer regnete es. Der Polizeisirenen war jetzt stumm, nur das bläuli che Licht huschte im Sekundentakt an der Hausfassade vorbei. Zwei Beamte standen mit ihren Taschenlampen vor der Haustür, leuchteten dann in die angrenzenden Fenster des Erdgeschosses. Besonders entschlossen sahen sie nicht aus. Ron und Lisa waren ausgestiegen und vorbei an dem Dienstwagen die Einfahrt hoch gelaufen. »Hallo, Officer«, rief Ron, »wir hatten angerufen. Seien Sie vorsichtig, vielleicht ist da noch jemand drin und bewaffnet.« Erschrocken drehten sich die Beamten um und sahen 297
die zwei jungen Leute auf sich zukommen. In diesem Augenblick sprang das Licht in einigen Räumen wieder an. »Oh, Strom ist wieder da, das wurde auch Zeit«, murmelte einer der Polizisten. Lisa erkannte ihn. Es war derjenige, der so überaus gelangweilt ihre Anzeige gegen den mysteriösen Waldschützen aufgenommen hatte. »Ach, schau mal an«, sagte dieser, stieß seinen Kollegen an, als er Ron und Lisa sah, »Sie beide kenn’ ich doch. Na, ist wieder jemand hinter Ihnen her?« Er leuchtete frontal in Rons Gesicht: »Haben Sie uns alar miert?« »Selbstverständlich«, antwortete Ron und versuchte durch Drehen des Kopfes der Blendung zu entgehen, »da ist jemand eingebrochen. Und der war auf einmal hinter uns her und schoß auf uns mit einer Magnum. Und er trug eine Micky-Mouse-Maske.« »So, einen Walt-Disney-Freund haben wir hier und einen Waffenexperten. Also eine Magnum, wie?« »Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher.« Wieder krachte eine Raketensalve in den regne rischen Himmel, um farbige Bilder in die Nacht zu malen. »Na, bei der Raketenballerei brauchen wir in der Nachbarschaft wohl nicht nachzufragen, ob jemand Schüsse gehört hat«, resümierte der Polizist mit arro gantem Spaß. Lisa mischte sich ein: »Da ist aber jemand eingebro chen, ich habe es doch auch gehört.« 298
»Eingebrochen? Ja wie denn? Wir sind schon ums Haus herum gegangen und haben nicht eine zerbroche ne Scheibe entdeckt oder Einbruchsspuren an Fenstern oder Türen. Nur die Kellertüre war unverschlossen. Freunde, schön leichtsinnig.« »Das kann nicht sein. Ich habe sie, nachdem wir heimgekommen waren, überprüft, und sie war ver schlossen, ganz sicher«, wiedersprach Ron, stemmte dabei seine Fäuste in die Hüften; »wenn Sie mir nicht glauben, kommen Sie mit auf den Dachboden. Dort zeige ich Ihnen, wo die Kugeln ins Holz eingedrungen sind.« Die zwei Beamten in ihren langen Regenmänteln und den Cellophanschutzhäubchen über ihren Polizeimützen schauten einander an, nickten kurz und folgten dann dem jungen Mann ins Haus. »Mr. Millar, Sie sollten an solch einem Abend aber besser die Außenbeleuchtung eingeschaltet haben, wis sen Sie?« »Ja, ist klar, die Glühbirnen sind nur hin«, murmelte Ron, dachte aber: blöde Idioten, sollen sich lieber um den Einbruch kümmern. Langsam gingen ihm nämlich diese ständigen Hinweise auf die defekte Lampe gehö rig auf den Keks. Lisa wollte gerade hinterhergehen, als sie in einiger Entfernung die vertraute Stimme von Bob hörte, dazu das freudige Gebell eines Hundes. Texas hatte das Wohnmobil erkannt und ebenso den Mann, der hinter dem Steuer saß. Als Clausseé aus dem Wagen kletterte, war der Hund nicht mehr zu halten und Bob ließ ihn 299
laufen. »Clausseé, von dem ihr erzählt habt?« fragte Bob. Lisa nickte und beobachtete zusammen mit Bob, wie der nasse Hund von dem Mann mit verbundenen Händen umarmt und gedrückt wurde. Clausseé blickte herüber. Diese Ähnlichkeit, das kann nur Rons Bruder sein, dachte er, und musterte den Mann, der mit seinem Hund unterwegs gewesen war. Bob, der sich angeregt mit Lisa unterhielt, zeigte kurz auf das Streifenfahrzeug: »Ist etwa Polizei im Haus?« »Ja, stell’ dir vor, auf Ron und auf mich ist geschos sen worden, von einem Einbrecher.« »Wie bitte, Einbrecher?« »Ja, Bob, du hast richtig gehört. Wir waren oben und dann tauchte der Kerl auf, folgte uns bis zum Dachboden und schoß auf uns. Wir sind natürlich ge flüchtet.« »Aber hattet ihr nicht erzählt, daß auch schon vor zwei Tagen einer auf euch geschossen hat?« »Ja, stimmt. Nur glauben wir, daß das ein Spinner war, der dort auf Leute anlegt, um ihnen Angst zu ma chen. Vielleicht seine Art, Halloween zu feiern.« »Wie ich sehe, ist Vater auch noch nicht zu Hause. Oder steht sein Wagen in der Garage?« »Lisa schüttelte den Kopf: »Nein, aber ich hoffe, daß er schon unterwegs ist. Ron dagegen glaubt, er wird diese Nacht überhaupt nicht mehr kommen. Schließlich haben wir schon gleich halb eins.« »Er kommt nicht? Das ist Pech für mich«, murmelte Bob, eilte an Lisa vorbei ins Haus. Lisa hinterher. 300
Clausseé hatte Texas mit in sein Wohnmobil ge nommen und war nun damit beschäftigt ihn mit alten Handtüchern trocken zu reiben, so gut es seine Verletzungen zuließen. Im Haus kamen Ron und die zwei Polizisten gerade vom Dachboden herunter. Die beiden Ordnungshüter schienen, trotz der begutachteten Schußspuren, Rons Aussagen nicht recht Glauben schenken zu wollen. Es wäre schließlich nicht das erste Mal gewesen, daß jun ge Leute die Männer vom Sheriffbüro am HalloweenAbend so richtig foppen wollten und dafür einen solchen Überfall geradezu einstudieren. Die Beamten wußten auch, wie solche Einschußlöcher ohne große Mühe zu bewerkstelligen waren. »Hören Sie«, erklärte einer der Männer auf dem Weg zur Tür, »an einem Tag, bzw. einer Nacht wie der heutigen, werden wir über die Zentrale ständig von ei nem Einbruch zum nächsten geschickt, von Rockport bis Lincolnville. Bei der großen Verkleidungs-Orgie können Ganoven in allen möglichen Kostümen durch Straßen laufen, aus Häusern und Fenstern steigen, und niemand nimmt Notiz von ihnen oder schöpft Verdacht. Also, machen Sie’s gut, wir müssen weiter - und den ken Sie an neue Glühbirnen!« Du kannst mich ’mal, Blödmann, dachte Ron: »Ja, Okay, Sir, ich denk’ dran.« Wenige Atemzüge später raste der Einsatzwagen weiter, kaum, daß die Beamten fünf Sätze in ihre Notiz hefte geschrieben hatten. Noch ein kurzes Aufleuchten der Bremsleuchten ihres Wagens und sie waren im 301
dichten Regen verschwunden. Ron hatte einen Kaffee gekocht und kam mit rand vollen Tassen ins Zimmer zu Bob und Lisa. Zuvor hatte er sich trockene Sachen angezogen, und auch Lisa saß in Gingers Bademantel auf dem Sofa und trocknete sich mit einem Handtuch die Haare. Bob, der ebenfalls kurz in sein Zimmer verschwunden war, erschien nun komplett umgezogen, als hätte er noch etwas vor. »Wolltest du noch weggehen?« fragte Ron, während er die Tassen auf den Couchtisch stellte. »Eigentlich hatte ich vorgehabt, nur den Hund zu rückzubringen und dann noch einmal in die Stadt zu gehen. Aber wenn ihr wollt, daß ich bleiben soll, kein Problem«, antwortete Bob, nahm sich eine der Tassen. Vaters Auto ist ja ohnehin nicht da.« »Bei dem Unwetter willst du noch einmal los«, Lisa schaute ihn erstaunt an, »da wirst du doch total naß?« »Ich weiß. Aber, wie soll ich sagen, ich habe da eine verdammt nette Frau kennengelernt, keine aus Camden, versteht ihr, sie ist aus Boston. Und ich habe versprochen, nochmal zurückzukommen. Sie wollte im Atlantica auf mich warten.« Mit beiden Händen hielt Ron seine Tasse umklam mert, dachte nach. Er wollte, daß die Familie wieder einander näherkommt. Und dazu mußte jeder seinen Teil beitragen, er natürlich auch. War jetzt nicht die Gelegenheit, damit zu beginnen? »Wenn du willst, kannst du meinen Käfer haben«, entgegnete Ron mit entschlossener Stimme. 302
Bob und Lisa schauten ihn ungläubig an. Hatten sie gerade richtig gehört? »Deinen Käfer willst du mir überlassen, habe ich das richtig verstanden«, wiederholte Bob, »dein heiliges Auto?« »Ich kann ja schlecht zulassen, daß mein Bruder möglicherweise die Frau seines Lebens nicht bekommt, weil er erst zu spät und dann noch total durchnäßt zur Verabredung kommt«, Ron hatte ein richtig gutes Gefühl, »und da Vater mit seinem Wagen in Boston ist, und ich kaum glaube, daß du in dieser Nacht noch ein Taxi bekommst, kann ich meinen Bruder doch nicht in Stich lassen.« »Ron, ich danke dir, du bist meine Rettung. Aber nochmals, wenn ihr meint, angesichts des Vorfalls von vorhin solle ich besser hierbleiben - bleibe ich.« »Quatsch, uns geht es wieder gut. Wir sind okay, nicht, Lisa?« »Aber ja, Bob, fahr ruhig, und viel Glück.« Die beiden Brüder gingen zum Flur, Bob zog sich eine Jacke über und war sich der Bedeutung des Augenblicks bewußt, als Ron ihm die Autoschlüssel des Käfers überreichte. Mit schnellen Schritten war er aus der Tür, beim Wagen, wollte die Autotür aufschließen, als er sich zu Ron umdrehte und ihm seinen Daumen in Anerken nungsgeste entgegenstreckte: »Nochmals danke, Ron, aber nächstes Mal solltest du deinen Wagen abschlie ßen, wenn du weggehst. Du hast die Bullen gehört, von wegen der umherziehenden Ganoven.« Dann drehte er 303
den Schlüssel im Schloß um, startete den VW und fuhr davon. Mit etwas gemischten Gefühlen sah Ron, wie sein ›Herbie‹, wie man die VW-Käfer auch liebevoll nennt, sich seinen Blicken entzog. Natürlich hatte er den Wagen abgeschlossen. Er schloß ihn immer ab. Ron grübelte über Bobs Worte. War der Wagen wirklich offen gewesen? Mittlerweile war es ein Uhr geworden. Später lag Ron neben der schlafenden Lisa und spür te, wie auch er müde wurde. Ein letztes Mal mußte er an seinen Wagen denken, an sein spontanes Verhalten. Er staunte über sich, bereute sein Tun aber nicht. Er mochte kaum anderthalb Stunden geschlafen ha ben, als ihn das energische Läuten der Haustürglocke hochrüttelte. Vater? Bob? Schlüssel verloren? Ron sor tierte seine Gedanken, stieg aus dem Bett und trat ans Fenster. Der Regen hatte aufgehört, der Sturm war einem leichten Wind gewichen. Die Sicht war gut, und so er kannte er einen dunklen Ford hinter Clausseés Wagen. Wer stört denn jetzt? Er versuchte im Dämmerlicht die Uhrzeit zu erkennen: »nun ist aber gut, gleich halb drei!« Er ging nach unten und öffnete die Tür einen Spalt. In der Dunkelheit nahm er im Licht der gegenüber liegenden Straßenlaternen die Umrisse zweier Männer wahr. Der Strahl einer Taschenlampe traf ihn, blende te. »Inspector James Lasino vom District Police Depart 304
ment Augusta«, stellte der eine Mann sich vor, wedelte mit seinem Dienstausweis vor Rons Nase umher, »und das ist mein Kollege Sergeant Wes Turley. Sir, wohnt hier ein Robert Millar? - Sie haben es aber verdammt dunkel hier, könnten Sie mal Licht machen?« Das reichte. Genervt und müde obendrein nahm Ron die Hand schützend vor die Augen, versuchte mit einem schnellen seitlichen Schritt ins Freie dem Lichtkegel auszuweichen, vergeblich: »Nein, und ja. Nein, Licht gibt’s nicht. Und ja, der wohnt hier, Robert ist mein Bruder. Warum fragen Sie?« »Und er fährt einen deutschen VW Käfer?« »Nein. Ich fahre einen Käfer. Was ist denn los? Und so nehmen Sie doch die verdammte Taschenlampe her unter!« Der Inspector schaute kurz zu seinem Kollegen hinüber, dann rieb er sich die Nase: »Fuhr er Ihren Wagen?« »Ja, klar, ich habe ihm meinen Wagen geliehen. Ist das etwas Besonderes?« Nun, Mr. Millar, mit dem Wagen ist etwas passiert. Äh, es gab da eine Explosion...« »Eine was?« schrie Ron, unterbrach den Beamten, »Sie meinen, mein Auto ist explodiert, mein Käfer? Das glaube ich nicht.« Ron wurde unruhig. »Den Knall müßten Sie bis hier gehört haben. Und nach der Detonation stand der Wagen sofort in Flammen, ist total ausgebrannt«, Lasino schaute auf den Boden, zögerte, »aber das ist noch nicht alles. Der Mann, Ihr Bruder, der mit Ihrem Wagen losfahren 305
wollte...« »Nun reden Sie schon, was ist mit ihm?« »Er wurde, so glaube ich, schwerverletzt und ohne Besinnung ins Krankenhaus gebracht. Tut mir leid.« Orientierungslos wankte Ron nach links und nach rechts. Er spürte die Kälte nicht. Endlich stand er still vor dem Inspector, schaute ihm in die Augen: »Was genau ist geschehen?« Bevor dieser antworten konnte, drehte Ron sich um. Das Knarren der zweiten Stufe verriet ihm, daß Lisa heruntergekommen war. Sie trat, bekleidet mit einem großen Pullover, den sie aus Rons Zimmer geholt hatte, durch die Tür, stellte sich zu ihnen. Sie wirkte völlig verschlafen. Plötzlich drang Hundegebell von der Straße zu ihnen herüber, das Geräusch einer sich öffnenden Autoschiebetür, ein Mann kam langsam die Auffahrt herauf, auf sie zu. Es war Clausseé, an seiner Seite Texas. Clausseé sah, daß Ron außer sich war: »Was ist denn hier los?« fragte er schon von weitem. »Bob liegt im Krankenhaus«, schrie Ron mit zitternder Stimme, »oh Gott, ich muß unbedingt zu ihm.« »Wer sind Sie denn«, wollte der Inspector wissen und fixierte Clausseé von oben bis unten. »Ein Freund des Hauses«, antwortete der Professor und wandte sich dann an Ron, »soll ich dich hinfah ren?« »Ich fahre Sie hin, Mr. Millar«, entschied der In spector, hatte sich wieder Ron zugewandt, »ich erzähle Ihnen unterwegs, wie es sich möglicherweise abge 306
spielt haben könnte. Es gab nämlich Augenzeugen. Kommen Sie!« Ron lief ins Haus, versuchte vergeblich seinen Vater über Telefon zu erreichen, schrieb dann eine Notiz und legte den Zettel auf den Küchentisch, sollte er doch noch heimkommen. Mutters Telefon war nicht einge schaltet, ebenso wenig die Mailbox. Er wußte, daß sie mit neuen Freunden aus war, um zu feiern. Er ergriff seine Jacke, wollte soeben die Haustür schließen, als er Lisa hörte:»Warte auf mich, ich will auch mit.« »Fahr’ du mit mir«, rief der Professor, »wir folgen ihnen mit dem Wohnmobil. Okay?« Lisa holte ihre Jacke, das Haus wurde abgeschlos sen und dann rasten sie in Richtung Krankenhaus. Vorne der Polizeiwagen, dahinter der Caravan des Wissenschaftlers. Die Verletzungen der Hände schie nen ihn nicht im geringsten zu behindern. Während der Fahrt unterrichtete Lasino Ron über den Stand der Ermittlungen: den Zeugenaussagen nach hatte sein Bruder mit einer jungen Frau das Atlantica, ein Restaurant am Hafen, gegen halb zwei verlassen. Vor dem Lokal hatte er sich von der Frau verabschie det, die dann einen Wagen bestieg und davongefahren war. »Ihr Bruder wollte wohl ebenfalls fahren, öffnete die Wagentür des VW, drehte den Zündschlüssel, zog ihn dann aber nochmal ab und stieg hastig aus, als gelte es, etwas im Restaurant Vergessenes zu holen. In dem Augenblick geschah es dann. Zu seinem Glück stand 307
die Wagentür noch offen, so daß er vom Druck der Detonation zwar weit weggeschleudert und verletzt, aber nicht getötet worden war. Der Wagen brannte völlig aus. Nur gut, daß Ihr Bruder seine Papiere bei sich trug. So konnten wir an Hand der Personalien und der medizinischen Daten schnell reagieren, und ihn ins Medical Center nach Rockport bringen.« »Aber ich verstehe nicht«, entgegnete Ron, »wes halb muß ein Inspector aus Augusta sich nachts um halb drei um dieses Unglück kümmern und nicht das hiesige Sheriffbüro? Und wie konnten Sie überhaupt so schnell hier sein, mitten in der Nacht, Augusta liegt eine knappe Autostunde entfernt?« »Das werde ich Ihnen sagen: Wir konnten so schnell am Tatort sein, weil wir uns wegen eines Fehlalarms in Rockport auf dem Rückweg nach Augusta befan den, als uns die Nachricht erreichte. Die Explosion in Rockport wurde allerdings von Feuerwerkskörpern ausgelöst. Nicht aber diese hier. Das Auto war, das hat unser Experte, den wir glücklicherweise in unserer Gesellschaft hatten, schnell ermittelt. Es war so mit Sprengstoff präpariert worden, daß die Bombe erst beim zweiten Betätigen des Anlassers hochgehen soll te, das heißt, erst als der Wagen vor dem Restaurant zur Weiterfahrt erneut gestartet wurde. Dann sollte es krachen. Das ist natürlich nur eine erste Feststellung. »Moment«, erwiderte Ron, schüttelte irritiert den Kopf, »aber Bob hat den Wagen demnach doch noch gar nicht zum zweiten Mal gestartet?« »Oh doch. Sehen Sie, die Täter haben die Ladung 308
natürlich nicht auf dem Parkplatz vor dem Restaurant angebracht - die vielen Leute, die hellen Laternen, verstehen Sie, das war unmöglich. Die montierten und verbanden den Auslösemechanismus mit der Zündung, bevor Ihr Bruder mit dem Wagen hierher kam. Vielleicht sogar vor Ihrem Haus, Mr. Millar. Auf jeden Fall können die Täter sich bei der Explosion schon viele Meilen entfernt vom Tatort befunden ha ben, sich sogar für die Zeit ein Alibi beschafft haben. - Aber nun zu Ihrem Bruder. Vielleicht können Sie uns da weiterhelfen.« »Helfen, ich?« »Sicher. Überlegen Sie, hat sich Ihr Bruder irgendwo oder irgendwie Feinde gemacht, gibt es jemanden, der ihn so haßte, daß er ihn umbringen würde?« »Ron blickte den Inspector an: »Umbringen? Ja, warum sollte jemand meinen Bruder umbringen wol len?« Sergeant Turley, der bislang wortkarg neben dem fah renden Inspektor saß, blickte nach hinten in den Fond: »Weil es kein Sprengsatz war, den man verwendet, wenn man jemandem nur einen Denkzettel verpassen wollte. Nein, nein, diese Explosion sollte den Fahrer des Wagens töten. Und die ersten Spurensicherungen ergaben, daß die Manipulation am Zündschloß keine Arbeit von Amateuren war.« »Also, was ist?« fragte Lasino, fiel seinem Kollegen ins Wort, »hatte Ihr Bruder Schwierigkeiten, war Ihnen an seinem Verhalten etwas aufgefallen, denken Sie nach, Mr. Millar.« 309
Mittlerweile hatten sie das Krankenhaus erreicht, und wenige Minuten später standen Ron und die bei den Polizisten in einem der Räume der Notaufnahme. Ron spürte, wie sich sein Hals zuschnürte, konnte nicht begreifen, daß es sein Bruder war, der dort lag. Warum Bob? Wieso sein Auto? Bob war von oben bis unten verbunden. Einzig Bobs geschlossene Augen waren zwischen den Verbänden zu sehen, zeigten, daß er ohne Bewußtsein war. Die Tür sprang auf und Lisa trat in den Raum, ge folgt von Clausseé. »Wie schrecklich«, flüsterte sie beim Anblick des Verletzten, kämpfte mit den Tränen, »und wir haben ihn noch ermuntert zu fahren. Ja, sogar Rons Auto durfte er haben, was sonst niemand außer Ron fahren durfte. Ausgerechnet heute, armer Bob.« »Wie war das«, fragte Lasino, kam ums Bett her um, starrte die junge Frau an, »sagen Sie das nochmal. Niemand außer Mr. Ron Millar fuhr ansonsten diesen Wagen?« Lisa nickte. Der Inspector schaute Ron fragend an. Dieser zuckte mit den Schultern, nickte auch und meinte schüchtern: »Es ist halt so. Mein Käfer war mein ein und alles«, schaute zu Lisa rüber, lächelte, »bis jetzt jedenfalls. Ich habe ihn entdeckt, dann repa riert, lackiert und ständig gepflegt. So etwas verleiht man doch nicht, oder?« »Aber heute haben Sie ihn verliehen?« »Ja, Inspector, heute ja. Aber das hängt mit einer an 310
deren Geschichte zusammen, etwas Familiärem.« Der Sergeant kam heran: »Sagen Sie mal, sehen Sie und Ihr Bruder sich eigentlich ähnlich, ich meine, ha ben Sie die gleiche Statur, Haarfarbe oder so?« Lisa hatte zugehört, ihre Augen funkelten: »Ähnlich, ha, die beiden Brüder hätten als Zwillinge durchgehen können. Bob ist zwar etwas größer, aber sonst sind sie zum Verwechseln ähnlich.« Sie stoppte mitten im Satz, ihr Gesicht wurde blaß. Sie blickte Ron an, dann Clausseé, dann wieder Ron. Ron begriff sofort, was ihr durch den Kopf ging, schaute zum Inspector: »Das könnte ja bedeuten...« »Genau«, nickte Lasino, »das könnte bedeuten, daß der Anschlag nicht Ihrem Bruder, sondern Ihnen galt!« Plötzlich herrschte eine seltsame Stille im Raum. Nur die leisen Geräusche der Apparate waren zu ver nehmen. Lasino ergriff Rons Arm: »Kommen Sie mit heraus, Sie alle. Wir sollten uns draußen einmal eingehend un terhalten, glaube ich.« Es herrschte immer noch Betriebsamkeit in der Aufnahme. Wie immer an Halloween wurden viele Leute eingeliefert, die in Raufereien geraten waren oder als Opfer des Alkohols, darunter leider von Jahr zu Jahr immer mehr Jugendliche. Der Arzt vom Dienst gestattete ihnen die Benutzung des ÄrzteBesprechungsraumes. Müde, bekümmert, erregt, verärgert und erschro cken, so konnte man die Gemütsverfassungen der 311
fünf Anwesenden beschreiben. Die beiden Beamten standen, während Ron, Lisa und Clausseé sich gesetzt hatten. »Nun«, begann der Inspector die Unterredung, »laßt uns die Situation mal durchleuchten, ganz ruhig, ganz sachlich. Das Auto wurde von einem Profi manipuliert, soviel ist klar. Da er davon ausging, daß nur Sie allein, Mr. Millar, den Käfer fahren, kam für ihn also auch nur einer als Ziel des Anschlags in Frage: Sie. Dazu noch die Ähnlichkeit mit Ihrem Bruder.« »Darum war der Wagen unverschlossen.« »Wie bitte, Mr. Millar, »was meinen Sie?« »Als Bob in den VW-Käfer stieg, hier direkt vor der Tür, im Regen, wunderte er sich, daß ich das Auto nicht abgeschlossen hätte - gerade heute Nacht. Dabei hatte ich abgeschlossen, ganz sicher. Oh, Gott, meinen Sie, die Bombe hing da schon unterm Wagen?« »Ist anzunehmen, Ron, ich darf Sie doch Ron nen nen, oder?« »Ja, natürlich.« »Also, Ron, jetzt muß ich Sie selbst nach möglichen Feinden fragen, nach Zeitgenossen, die Sie verärgert oder denen Sie geschadet haben, und zwar so sehr, daß man sich an Ihnen rächen will. Also, klingelt da was?« »Keine Idee, Inspector. Es gibt keinen Grund. Feinde habe ich auch keine, jedenfalls nicht, daß ich wüßte«, antwortete Ron, »es ist wirklich kaum zu glauben, erst wird auf mich geschossen und nun will mich auch noch jemand mit meinem Auto in die Luft jagen.« Lasino ging auf Ron zu: »Geschossen? Wieso ge 312
schossen?« Dann erzählte Ron Lasino und Turley die Geschichte über die Verfolgung im Wald und im Haus. Der Inspektor rieb sich die Augen. Er war müde, und er war irritiert. In seinem Zuständigkeitsbereich ein Sprengstoffanschlag? Und es war diesmal kein überdimensionierter Halloween-Kracher leichtsinniger Jugendlicher, hier ging es um versuchten Mord. Aber warum? Und überhaupt, waren Sprengstoffanschläge nicht eine Angelegenheit des FBI? Erschrocken schauten alle auf Clausseé, der plötz lich mit der flachen Hand auf den Besprechungstisch geschlagen hatte. Trotz des dicken Verbandes hatte es einen lauten Knall gegeben. »Oh nein«, rief er plötz lich erregt, »das Tagebuch lag im Handschuhfach des Käfers. Das darf doch nicht wahr sein!« »Wie? Was für ein Tagebuch lag im Handschuhfach?« wollte Sergeant Turley wissen, »wenn da Bücher im Handschuhfach gelegen haben, sind sie mit verbrannt, davon können Sie ausgehen. Wäre es denn wichtig ge wesen für diese Untersuchung?« »Wichtig? Wichtig?« ereiferte sich der Professor, »wertvolles Antiquariat war das, nicht zu ersetzende Aufzeichnungen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sie haben ja keine Ahnung...!« Auch Ron und Lisa war es heiß geworden, als der Professor das Tagebuch erwähnte. Ihr einziger authen tischer Beweis für die Begegnung der Wikinger mit den Indianern, verbrannt. Warum nur hatten sie das wertvolle Stück im Wagen gelassen? 313
»Ich meine, die verbrannten Aufzeichnungen dürften Ihre geringsten Sorgen sein, Ron«, wurde Lasino ernst, »Ihr Bruder liegt verletzt im Hospital und anscheinend trachtet Ihnen jemand nach dem Leben, da sollten wir jetzt klaren Kopf behalten und genauestens überlegen, was zu tun ist. Denn eines ist doch sicher, wenn der oder die Täter erfahren, daß Sie nicht im Wagen waren, werden Sie es wieder versuchen. Überlegen Sie mal, die waren schon auf Ihrem Grundstück.« Dabei wandte er sich zu seinem Kollegen: »Wes, ruf eine Streife zum Krankenhaus. Wir müssen hier einen Posten vor die Tür des Opfers stellen. Wer weiß, ob der oder die Täter sich nicht davon überzeugen wollen, ob ihr Ron Millar möglicherweise den Anschlag überlebt haben könnte.« Mit einem »Okay« verließ der Sergeant den Raum, wollte sich darum kümmern. »Sie meinen, der Täter schleicht hier im Krankenhaus herum?« fragte Lisa. »Nein, sicher nicht«, antwortete Lasino, »eher sitzt er in seinem Hotelzimmer irgendwo in Camden oder Umgebung und wartet erst die morgen erscheinenden Nachrichten ab. Darum sollten wir uns ganz schnell mit dem verantwortlichen Arzt zusammensetzen und uns diesbezüglich etwas einfallen lassen.« »Was einfallen? Sie glauben, mein Bruder ist immer noch in Gefahr?« »Wenn es Profis waren, und davon gehe ich aus, wer den sie sich vom Erfolg ihres Anschlags überzeugen wollen. Darum gibt es nur eines, damit wir die Brüder 314
fassen können und gleichzeitig Zeit gewinnen: offiziell verbreiten wir die Nachricht, daß Ihr Bruder, bzw. Sie, in ein Koma gefallen sind, und wahrscheinlich durch die schweren Gehirnverletzungen, bedingt durch den schweren Sturz, auch nicht mehr daraus erwachen werden. Wir müssen sehen, daß der Doc mitspielt. Und dann dies auch gleich den Nachrichtensendern zukom men lassen, die ja ohnehin von der Explosion berichten und sich nach dem Befinden des Fahrers erkundigen werden. Also jetzt schnellstens den Arzt finden, bevor er was ›Falsches‹ erzählt. Kommen Sie.« Als sie in den Flur traten, sahen sie, wie Sergeant Turley mit zwei Streifenbeamten sprach, die vor der Tür des Aufnahme-Raumes standen, in dem Bob lag. Ausgerechnet die beiden, die den Einbruch hatten auf nehmen sollten. Turley kam ihnen entgegen, erzählte Lasino in kurzen Worten, daß die Streifenbeamten den Einbruch bestätigten und auch die Anzeige gegen den Waldschützen. »Es klingt tatsächlich so, als seien die Vorfälle kein Zufall gewesen. Überlegen Sie, Ron, wer könnte hinter Ihnen her sein? Ist ihnen irgend jemand auffällig vor gekommen, hat sich jemand nach Ihnen erkundigt?« »Keine Ahnung, Herr Inspector, wirklich nicht. Erkundigt? Ja, okay, bei meiner Nachbarin, der alten Mrs. Benson, hat jemand nach mir gefragt. Einer mit ’nem Zopf. Aber ich denke, das war hier unser Professor.« »Wer, ich?« mischte sich Clausseé ein. »Ja, letzten Abend noch. Mrs. Benson erzählte es 315
uns. Lisa und ich hatten angenommen, Sie seien aus dem Krankenhaus abgehauen und hätten sich nach uns und Texas erkundigt.« »Nein, nein, Ron, das war ich nicht. Ich kenne eure Nachbarin nicht mal.« »Aber die Beschreibung, der Zopf?« Ron überlegte, dann dämmerte ihm die Aussage Mrs. Benson, als er mit Vater zum neuen Restaurant hatte fahren wollen, »warten Sie, da fällt mir etwas ein.« »Und was«, drängte Lasino, »wissen Sie, wer hinter Ihnen her ist?« »Vielleicht. Also ich habe da einen Verdacht«, zö gerte Ron. Doch dann erzählte er, wie sich ein Mann bei Mrs. Benson ausgiebig nach ihm erkundigt hatte. Es war ein Schwarzhaariger mit einem Zopf, der nach Mrs. Bensons Aussage nicht aus dieser Gegend käme. Lisa war erschrocken, drückte sich an Ron. »Das ist ja schon etwas«, antwortete Lasino, machte Notizen in seinem Heftchen, forderte Turley dann auf, einen Streifenwagen zu Millars Nachbarhaus zu schi cken und die alte Dame aus dem Bett zu läuten. Dann schaute er Ron an: »Und, eine Idee, wer der Mann sein könnte?« Ron zögerte: »Ich sagte ja schon, es klingt zu blöd, aber der einzige Typ, der mir zu dieser Beschreibung einfällt, ist eine zufällige Reisebekanntschaft aus England. Miss Borgdal hier weiß, wen ich meine.« Dabei deutete er auf Lisa. »Ja, der Kerl aus dem Zug nach Birmingham, bestä 316
tigte sie, der hatte einen langen Zopf. Den haben wir zweimal gesehen: im Zug und später in Birmingham, kurze Zeit nach dem Unfall, weiß du noch?« »Oh ja, nur sah es in beiden Fällen dort auf den ers ten Blick wie natürliche Todesursachen aus und später stellte sich heraus, daß beide Männer, die dort zu Tode kamen, ermordet worden waren. Und wir wunderten uns schon, daß wir an beiden Orten wie zufällig diesen Typ trafen.« Lasino hatte aufgehört mitzuschreiben, hörte ge spannt zu. Auch Clausseé war ganz Ohr. »Und hat der Unbekannte Sie beide auch gesehen?« »Natürlich, Inspector«, nickte Ron, »beide Male waren wir kaum zwei Meter auseinander gesessen. Ein aalglatter, unfreundlicher Typ, vermutlich ein PAXTON-Mitarbeiter. »Moment, PAXTON? Sie meinen PAXTON Inc. aus Dallas, das Multi-Unternehmen. Und er war ein Mitarbeiter dieses Unternehmens?« »Das weiß ich nicht, ich fand nur ein Feuerzeug mit einer PAXTON-Gravur, das er auf dem Bahnhof in Birmingham verloren hatte.« Da Lasino noch mehr wissen wollte, erzählten Ron und Lisa, wie sie zum internationalen Umweltforum in England gewesen waren und sich dort kennengelernt hatten, von dem ermordeten Professor Bolvar und sei nem ebenfalls getöteten Assistenten und daß sie diesen unbekannten Fiesling mit dem Zopf dort gesehen hat ten. Plötzlich wurde es hektisch auf dem Flur. 317
Sie standen auf und schauten auf den Gang. Da sah Ron seinen Vater und seine Mutter, wie sie beide mit dem Beamten stritten, der Bobs Zimmer zu bewachen hatte. Es wurde lauter, weil er sie einfach nicht hineinlassen wollte. Schon war Ron bei ihnen: »Mom, Dad, gut, daß ihr da seid.« Sie fielen sich um den Hals. Seine Mutter weinte, schluchzte immerzu: »Mein Bobby, mein Bobby.« Vater erzählte mit wenigen Worten, wie er die Notiz gefunden - und dann Ruth telefonisch über den Unfall informiert hatte. Glücklicherweise hatte sie ihr Mobiltelefon Minuten vorher wieder eingeschaltet. Den Abend hatte sie bei Freunden in Lincolnville ver bracht. Hier erreichte sie Bens Anruf. In der Halle des Hospitals waren sie dann fast gleichzeitig eingetrof fen. Auf ein Zeichen Lasinos ließ der Beamte die Eltern passieren. Auch er selbst und Ron gingen mit in Kran kenraum. Clausseé und Lisa zogen es vor, draußen auf dem Flur zu bleiben. Sie hatten sich etwas seitlich an ein Fenster gestellt, um vorbeihuschendes Personal nicht zu behindern. Clausseé hatte sich umgedreht, blick te aus dem Fenster, die Nachtschwester, die seine Hände verbunden hatte, lief an der Gruppe vorbei, begleitete einen jungen Mann mit Schnittverletzungen im Gesicht. Sie bemerkte ihn nicht. Wieder kreisten Clausseés Gedanken um das verbrannte Tagebuch. Seine Handflächen begannen jetzt zu jucken, wie es 318
von den behandelnden Ärzten aber auch vorhergesagt worden war. Plötzlich kam Sergeant Turley aufgeregt den Gang entlang, verschwand ebenfalls im bewachten Raum, um sogleich mit Lasino wieder herauszukommen: »Die Nachrichtenjungs sind da«, rief dieser Ron zu, »wir müssen schnell den Arzt suchen, bevor der ein Statement abgibt, das wir nicht wollen. Bleiben Sie hier. Die Fernseh- und Presseleute brauchen Sie nicht zu sehen, sonst funktioniert unser Plan nicht.« Und schon war er zum Ausgang geeilt, Turley an seiner Seite. »Wißt ihr, wie ich das sehe«, tat Clausseé auf einmal ganz wichtig und in seinem sonst eher lustigen Gesicht zogen Sorgenfalten auf, »wir sollten uns schnell aus dem Staub machen, verstecken, besonders du, Ron, solltest untertauchen, bis die Bullen etwas mehr über den oder die Täter herausbekommen haben. Glaub’ mir.« »Verstecken? Abhauen? Aber wohin denn?« fragte Ron, drehte sich immer mehr zur Wand, wollte nicht erkannt werden. Schließlich kam er aus Camden und genug Leute, die hier arbeiteten, kannten ihn. »Ja, wie stellen Sie sich das vor?« kam Lisas Einwand, »Wir sollen alles stehen und liegen lassen und stiften gehen, ich würde auch gerne wissen, wo hin?« Clausseé schaute kurz über eine Schulter, vergewis serte sich, daß niemand zuhören konnte, und flüsterte: »Ganz einfach, dahin, wo ihr sowieso hin wolltet, nach 319
Arizona.« »Aber da kenne ich mich überhaupt nicht aus.« »Ich mich dafür um so besser, Ron«, beruhigte Clausseé, »wir fahren mit meinem Wohnmobil. Es ist gleichzeitig euer Versteck für die ersten Tage, und in Winslow habe ich Freunde, die uns weiterhelfen werden. Dort eine Bleibe zu bekommen, dürfte kein Problem sein. Außerdem können wir im Reservat gleich das Geheimnis eures Zeichens von den HopiIndianern lüften lassen. Das ist doch genau das, was ihr wolltet. Was denkt ihr, ist doch eine passable Idee, oder?« »Auf alle Fälle wäre es ein gigantisches Abenteuer«, bestätigte Ron, »aber kann ich meinen Bruder und mei ne Familie jetzt im Stich lassen?« »Wieso im Stich lassen, Ron? Der Inspector hat doch selbst gesagt, wir sollten den oder die Täter im Glauben bestärken, Ron Millar sei für den Rest seines Lebens ohne Bewußtsein. Also worauf warten wir? Hier in Camden kannst du jedenfalls nicht frei herumlaufen, soviel steht fest. Man würde dich sofort erkennen, die Presse würde den Irrtum aufklären, und ruckzuck hät test du die Gangster wieder im Nacken.« »Ron, der Professor hat Recht, laß’ die Polizei erst mal ihre Arbeit tun, die kennen sich damit aus. Außerdem fände ich es total irre, nach Arizona zu rei sen. Das sollten wir tun.« »Und dein Studium? Mußt du denn nicht irgendwann wieder nach Schweden, zu deiner Uni?« »Irgendwann sicher. Aber jetzt bin ich hier in den 320
Staaten und bei dir. Komm, laß’ uns verschwinden!« Ron löste sich aus der Gruppe: »Aber eben muß ich noch zu meinen Eltern, bin gleich wieder da.« »Beeil dich.« »Ist klar«, antwortete Ron und verschwand ins Krankenzimmer. Er traute seinen Augen nicht. Am Bett standen sei ne Eltern, hielten sich an der Hand fest. Ruth hielt ein Taschentuch in der anderen Hand und schluchzte im mer noch. Vater Ben stand mit versteinerter Miene da und schaute auf den regungslosen Bob. Die medizini schen Apparate arbeiteten ihr Pensum herunter, diverse piepsende und schnarrende Geräusche, begleitet vom Blinken unzähliger Lämpchen, zeugten von den tech nischen Errungenschaften der Krankenhausmedizin. »Mom, Dad, ich weiß, eigentlich müßte ich dort liegen, nicht Bob. Warum aber weiß ich genausowenig wie die Beamten. Sie sagen, ich solle mich versteckt halten, bis sie weitere Erkenntnisse haben über die Hintergründe des Anschlags. Ihr müßt jetzt mitspielen. Um den oder die Täter irre zu führen, erzählt Inspector Lasino den Presseleuten gerade, daß ich dort liege und wahrscheinlich nicht durchkommen werde. Also, wenn ihr gefragt werdet: ich bin das Opfer des Anschlags, okay? Das ist wichtig. Ich fahre diese Nacht mit mei nen Freunden noch ab und werde mich versteckt hal ten, bis die Täter ermittelt sind. Ich sage nicht, wohin wir fahren, aber ich werde euch regelmäßig anrufen.« »Oh, Junge«, weinte Ruth, »muß das sein? Jetzt gehst du auch fort.« 321
»Ich komme doch wieder. Aber bleibt ihr hier, küm mert euch um Bob. Ruft Ginger an. Sie soll zurück kommen. Macht ihr das?« »Wir machen das«, antwortete Ben, »paß’ auf dich auf und bitte melde dich.« Ron gab seinen Eltern noch einen Kuß, beugte sich dann ganz vorsichtig zu seinem schwerverletzten Bruder runter, flüsterte: »Halt durch, Bruder, werde wieder gesund«, und verließ dann den Raum. Vor der Tür warteten Lisa und Clausseé schon voller Ungeduld. »Wie kommen wir hier unauffällig aus dem Gebäude«, fragte Lisa, schaute links und rechts den Flur lang, »es wimmelt doch nur so von Leuten.« »Mitkommen«, zischte Clausseé, »ich bin schon ein mal auf Schleichwegen aus diesem Haus gekommen.« Clausseé voran, Ron und Lisa hinterher, so gelang ten sie durch einen Raum des Hauspersonals in das Treppenhaus, von da in die Tiefgarage. Ohne große Probleme eilten sie durch den Garagenausgang und waren wenige Minuten später am Wohnmobil des Professors. Ein freudig bellender Schäferhund saß auf dem Fahrersitz und begrüßte die drei. Während Clausseé den Wagen startete, sahen sie durchs Seitenfenster, wie vereinzelte Reporter aus dem Hauptausgang stürmten, um schnellstens in ihre Redaktionen zu kommen. »Wohin jetzt«, fragte Lisa. »Was für eine Frage - natürlich nach Arizona«, er widerte ein unternehmungsbereiter Clausseé, »nach Arizona, und das wird eine lange Reise, macht euch 322
auf etwas gefaßt.« »Aber erst noch auf einen Sprung nach Hause.« »Genau, Ron«, stimmte Lisa zu, »nur eben meine Klamotten zusammenraffen. Ich will sie mitnehmen.« »Kein Problem, fahren wir nochmal hin, Kinder.« Als sie wenig später in die Washington Street ein bogen, kam ihnen ein Leichenwagen entgegen. Am Steuer, in wallende schwarze Kleidern gehüllt, ein Mann mit einer Totenkopfmaske vor dem Gesicht. Auf dem Beifahrersitz konnte man für einen Augenblick die glänzende Spitze einer Sense erkennen. »Hey, das da, Lisa, das ist Bruno Hall, der alte Horrorfreak. Der fährt jede Halloween-Nacht mit ei nem Leichenwagen durch die Gegend und sitzt als Tod verkleidet am Steuer«, erklärte Ron, »das macht der schon seit mehr als zehn Jahren, ist schon fast Kult in dieser Nacht.« In den Straßen der gesamten Stadt war es jetzt ruhig geworden. Halloween war vorbei. Nur noch vereinzel te Nachtschwärmer waren unterwegs, hofften noch hier oder da etwas Spaß zu finden. Hier und da brauste ein Taxi vorüber. Im Vorgarten der Millars rauschten die großen Ahornbäume. Der Regen war vorbei, der Himmel zeigte sich wieder mit unzähligen Sternen. Auch war der Mond wieder zu sehen, groß und hell. Clausseé verlangsamte plötzlich die Fahrt, stoppte. »Was ist los, warum halten Sie?« »Ron, sieh doch, da vorne, vor dem Nachbarhaus.« Jetzt sahen auch Ron und Lisa den Polizeiwagen, der 323
sich vor der Einfahrt des Hauses befand. »Stimmt, die wollten die alte Benson ja verhören. Sollen wir sie auch noch aufsuchen?« »Bloß nicht, Ron, niemand sollte uns jetzt in Camden mehr sehen. Los, springt ins Haus und holt das Nötigste, was ihr mitzunehmen gedenkt. Wir müs sen sehen, daß wir wegkommen, sonst hat uns am Ende Inspector Lasino noch am Wickel.« Die beiden spurteten so unauffällig sie konnten zum Haus, das in völliges Dunkel getaucht war. Nur die gegenüberliegenden Straßenlaternen schickten ein mä ßiges Licht herüber. Ron schien sich erstmals über die defekte Außenbeleuchtung zu freuen. So konnten beide ungesehen ins Haus gelangen, waren wenige Minuten später mit hastig gepackten Reisetaschen wieder am Wagen. Während Clausseé den Wagen wieder in Gang setzte, kletterten Ron und Lisa an Texas vorbei in den hinteren Bereich von Clausseés rollender Behausung. Eine klei ne Lampe ließ sie erkennen, wo sie ihre Sachen ver stauen konnten. Lisa setzte sich mit einem erleichterten Seufzen auf die Couch, Ron ging nach vorne und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. »Hoo, hoo«, rief der Professor, anscheinend gar nicht müde, »es geht Richtung Süden, meine Freunde. Jetzt wird für eine ganze Menge Stunden dieses Traummobil euer Zuhause sein. Macht es euch gemüt lich, Herrschaften, schlaft, sammelt Kräfte, denn eines werdet ihr die nächsten Tage brauchen: Kraft und gute Nerven, denn ihr fahrt mit mir, hoo.« 324
Sie waren kaum eine Minute gefahren, da kam ihnen der Leichenwagen wieder entgegen. Ohne Sirene, dachte Ron, Bruno - das ist neu. Zurückgelehnt schaute er in die sternenklare Nacht, mußte daran denken, wie er vor Tagen diesen Weg hochgekommen war von Boston. Mit Lisa hatte er den Indian Summer erleben wollen, gehofft, daß sie sich näher kommen würden. Okay, sie waren sich ihrer Liebe gewiß geworden, aber mußte dem jetzt solch ein Abenteuer folgen mit Mordversuch, Polizei und Flucht in den Süden der Staaten? Sicher, sie mußten erst ein mal außer Reichweite kommen. Aber lieber wäre er an der Seite seines Bruders geblieben. Anrufen, ja, anrufen würde er gegen Mittag. Dann wären sie schon ein ganzes Stück fort aus Camden. Er mußte wissen, wie es Bob ging und seinen Eltern. Was der Inspector unternommen hatte und wie die Irreführung der Presse geklappt hatte? Er würde anrufen. Auf jeden Fall. Im Fond war Lisa eingenickt. Ron sah es, stand auf und deckte sie mit einer Wolldecke des Professors zu. Für Augenblicke schaute er sie an. Kann ich sie da überhaupt mit hineinziehen, überlegte er. Aber es war zu spät, sie war mitten drin in diesem Schlamassel, ja, hatte sie nicht sogar gesagt, daß ihr das Spaß machte? Auf dem Boden lag Texas zusammengerollt. Auch er schlief mit leisem Schnarchen. Ron setzte sich wieder nach vorne. Aus dem Autoradio wimmerte derselbe Lokalsender mit demselben nervigen Moderator, den Ron von seinen vielen Fahrten zwischen Boston und 325
Camden her kannte. »Mist, daß das Tagebuch verbrannt ist«, übertönte Clausseé plötzlich das Radio, »mit Hilfe der Aufzeich nungen hätten wir sicher noch mehr herausbekommen, aber was soll’s. Ich werde meine Hopi-Freunde fragen, ob sie uns helfen.« »Sie sind wirklich befreundet mit den Hopi?« »Ich habe sogar eine Zeitlang bei ihnen gelebt. Von ihnen kann man eine Menge über unsere Erde lernen. Nur sollte man mit den Traditionellen zusammenarbei ten. Sie sind im Besitz vieler Geheimnisse. Ganz sicher wissen sie auch etwas über das seltsame Zeichen auf den alten Runensteinen.« »Man sagt, die Hopi wären unter den nordamerika nischen Indianerstämmen etwas ganz Besonderes?« »Und ob, Ron. Sie haben den Überlieferungen zu folge vor vielen hundert Jahren Kontakt mit fremden Göttern gehabt und behüten das spirituelle Erbe dieser Fremden und deren Lehren. Leider werden ihre stän digen Mahnungen zur Einstellung von Raubbau an der Erde, der vielen Kriege und des atomaren Wettrüstens von den Politikern der Welt nicht ernstgenommen. Ihr könnt euch selbst ein Bild von den Fähigkeiten und Weisheiten dieses kleinen Volkes machen, nur Geduld.« Mit monotonem Vibrieren ging es über die Interstate 95, und jetzt, gegen fünf Uhr morgens, schlief auch Ron. Zusammengesunken hing er in den Sicherheitsgurten, und wurde auch durch die riskantesten Fahrmanöver 326
des Professors nicht wach. Die Interstate füllte sich an diesem frühen Sonntagmorgen des 1. Novembers nur langsam mit Autos. Clausseé war es recht, kamen sie um so schnel ler voran. Irgendwie gingen ihm schon seit Stunden seltsame Ahnungen durch den Kopf. Ahnungen, daß sie alle drei in ein lebensgefährliches Abenteuer gera ten würden.
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HOPI-LAND
02. November ’98
Dallas / Texas ie Tür zu Sir Rymond Lees Büro wurde auf gestoßen und Peggy kam mit einem Tablett Cham pagnergläser herein. Die vier Besucher standen um den abseits stehenden Besprechungstisch und beobachteten Peggy, wie sie die Gläser auf den Tisch stellte und sich dann mit einem Lächeln aus dem Zimmer entfernte. »So, meine Dame, meine Herren, bevor wir uns nachher zu Tisch begeben, sollten wir auf den Beginn unseres Engagements in Malaysia anstoßen. Dort ist es jetzt genau Null Uhr Mitternacht, Dienstag, 03. November. In diesem Augenblick werden die ersten Urwaldriesen fallen, und das bedeutet, der Start unse res Unternehmens in ein neues Jahrtausend hat bereits begonnen.« Mit diesen Worten kam Sir Rymond Lee, ausgerüstet mit einer Flasche Champagner in der Hand zum Tisch, ließ mit lautem Knall den Korken aus der Flasche springen und füllte die Gläser mit dem pri ckelnden Naß. Dann setzte er die Flasche ab, nahm sein Glas und forderte die Anwesenden auf, Gleiches zu tun. Neben den Anwälten Jo Burt und Tex Reinhard erhoben nun auch der Vertraute des malaysischen Wirtschaftsministers und Dr. Vera Johnson ihre Gläser. Johnson war eine schwarzhaarige, hochgewachsene und sehr attraktive Frau, noch keine dreißig und hatte
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schon einen Doktortitel der Archäologie. Seit einiger Zeit arbeitete sie für die PAXTON Inc. und finanzierte so ihr zweites Studium, das der Anthropologie. So apart sie auch war, so gerissen verhielt sie sich, wenn es um ihren Vorteil ging. Sie hatte ihre Doktorandenstelle an der Universität von Caracas verlassen und war nach Dallas gekommen, nachdem sie Sir Rymond Lee in Venezuela kennengelernt, und von ihm ein sehr groß zügiges Angebot erhalten hatte. Chorgleich ertönte ein ›Cheers‹. Der PAXTON-Boss schritt voller Stolz zum gro ßen Fenster, blickte hinaus: »Ja, das wird ein weiterer Schritt sein, auf dem Weg nach ganz oben«, er drehte sich langsam um, »und in drei Tagen beginnen dann die Arbeiten in Venezuela. Es wird ein gigantischer Erfolg werden, glauben Sie mir, für uns alle. Selbst unser Mann in Washington wird davon profitieren.« Zustimmendes Nicken. Ein ›oh ja, Sir‹ und ›aber sicher, Sir‹ war zu vernehmen, nur Vera Johnsen reih te sich nicht ein in dieses überschwengliche HurraGeschrei. Ihr war es gleichgültig, wie viele Dollar ihr Chef machen würde, sie interessierte nur das, was für sie selbst dabei heraussprang. Als sie in Südamerika noch für Professor Bolvar gearbeitet hatte, begann sie, sich für Archäologie in Zusammenhang mit religiösen Mysterien, mit Reliquien und Legenden zu begeistern. Ja, sie wurde mit der Zeit regelrecht besessen von diesem Thema. Und da dies bei der Entstehung vieler Völker und im Zusammenhang mit Heilsbringern oft eine große Rolle spielte, wurde 329
die Anthropologie ihr bevorzugter Studiengang. Später wollte sie mit Hilfe ihrer Titel möglichst viele jener geheimnisumwitterter Dinge aufstöbern und dann in ihren Besitz bringen, die in den Köpfen der Menschen von jeher eine mystische Rolle gespielt hatte: den Heiligen Gral, das Schwert Excalibur, das Zepter von Ramses II und so weiter. Und Sir Rymond Lee war imstande, ihr bei diesem Vorhaben behilflich zu sein. Warum sollte sie, bis es soweit war, nicht auch ihm zu Diensten sein. »Dr. Johnson, so schweigsam«, fragte Sir Rymond Lee, als er bemerkte, wie sie in Gedanken versunken abseits stand, »freut Sie unser Erfolg denn gar nicht? Schauen Sie, meine Herren, so eine Schönheit, und nur ernste Gedanken im Kopf.« Er wandte sich zu den an deren Herren, schaute Vera dann prüfend an. »Ja, Sir, Sie haben absolut recht. Sie ist wirklich außergewöhnlich schön«, schmeichelte Jo Burt, der glatzköpfige Anwalt, und prostete Dr. Johnson augen zwinkernd zu. Blöder, schleimiger Hund, dachte sie, zog genüßlich an einer Zigarillo und mühte sich, ein Lächeln zu zei gen, dich Langweiler würde ich direkt nach Malaysia schicken und dort vergraben lassen! Während Jo Burt auf Fingerzeig seines Chefs nachfüllte, trat dieser einen Schritt näher an die jun ge Frau heran: »Dr. Johnson, sagen Sie, die Sache in Neuengland, äh, ich meine der junge Mann, der uns da gefährlich werden könnte, ist der...?« »Erledigt, Sir«, antwortete Dr. Johnson, »es gab 330
dort einen kleinen Unfall. Bedauerlicherweise ist der Wagen der besagten Person explodiert. Hat jemand das Halloween-Fest wohl zu ernst genommen und einen zu großen Kracher in den Tank gesteckt.« »Sehr gut, und...?« »Gestern Abend auf dem Weg zum Bostoner Airport hörte ich dann in den Nachrichten, daß die Ärzte fest davon ausgehen, daß der Fahrer dieses Unglück wohl nicht überleben wird, und falls, dann bliebe er in einem andauernden Koma-Zustand.« »Na ja, so soll es auch reichen. Niemand kann jetzt mehr eine Verbindung zwischen PAXTON Inc. und Prof. Bolvar herstellen. Weitere Zeugen gibt’s doch hoffentlich nicht?« »Ich glaube nicht.« »Was heißt, ich glaube nicht, Dr. Johnson, gibt es da etwa noch jemanden?« »Nein, unbedeutend. Bevor der Bursche in die Luft flog, hätte Hawk ihn beinahe schon zu Hause erwisch. Aber er konnte mit Hilfe eines Freundes entwischen. Gemeinsam haben sie sich dann aus dem Staub ge macht. Aber zur Verabredung ins Hafenrestaurant war er dann doch aufgetaucht. Sein Pech.« »Dann ist ja alles okay. Lassen sie uns jetzt ins Restaurant fahren. Irgendwie habe ich richtig Appetit bekommen.« Vera Johnson lächelte, ließ feinen Zigarillorauch aufsteigen. Peggy bestellte den Chaffeur, und fünf Minuten später fuhren Sir Rymond Lee, seine Anwälte und der 331
fernöstlicher Gast den Fahrstuhl hinunter bis in die Tiefgarage. Dr. Johnson entschuldigte sich, versprach aber in einer halben Stunde ins Restaurant nachzukom men. Die ehrgeizige Mitarbeiterin wollte noch unbedingt einen alten Freund ihres früheren Arbeitgebers anru fen, um etwas über eine alte, Algonkin-Kultstätte in den Küstenhügeln des südlichen Maine zu erfahren. Der junge Mann aus Camden, der ›leider‹ so tragisch verunglückt war, hatte doch von einem seltsamen Fund nahe seines Heimatortes erzählt, und daß es sich dabei wahrscheinlich um ein uraltes Wikingerschwert und eine fast tausend Jahre alte Indianerspeerspitze handeln sollte. Ein Geschichtsprofessor oder Altertumsforscher soll den Fund dort gemacht haben. Und das wären ge nau die Fundstücke, mit denen sich ihre Sammlung von Kultgegenständen hervorragend starten ließe, wußte sie sofort. Hastig blätterte sie in ihrem Telefonbüchlein und fand nach kurzem Suchen den Namen und die Nummer, die sie haben wollte: es war die von John McHolis. Adams County / Ohio Wieder einmal pendelte die Benzinanzeige gegen null. Knapp 650 Meilen und sechs Bundesgrenzen von Camden entfernt waren sie gegen acht Uhr mor gens aufgebrochen, um einen Abstecher nach Adams County zu machen. Clausseé hatte vor, seinen jungen Begleitern die große ›Erdwall-Schlange‹ zu zeigen, über die schon so viel geschrieben worden war. Und 332
er hatte ihnen erzählt, wie er ständig bemüht war, alle bisherigen Theorien anderer Wissenschaftler anzufech ten. Lisa hatte sich neben Clausseé gesetzt. Ron lag hinten auf der Couch und schmökerte in einer Zeitschrift. Gelangweilt beobachtete Texas Ron beim Lesen. Als er merkte, daß sein Herrchen von dem Highway herun ter und zu einer Tankstelle fuhr, wurde er munter. Auch Ron legte die Zeitschrift zur Seite und freute sich, kurz die Beine vertreten zu können. Der Wagen stoppte, der Motor wurde abgestellt. Zwei Stunden waren sie gefahren und hatten die Hälfte des Weges zur ›Erdwall-Schlange‹ bereits hinter sich gebracht. »Wer zur Toilette muß, raustreten«, scherzte Clausseé und imitierte den Ton eines Army-Ausbilders, lachte dann, »ich muß jetzt erst einmal den Hund ins Gelände führen. Wer paßt so lange auf den Wagen auf?« »Ich bleibe beim Wagen«, antwortete Ron. »Und ich muß unbedingt zum Klo«, entgegnete Lisa und schon war sie zur Tür mit der Aufschrift ›Ladies‹ geeilt. Es war ein frischer Herbsttag und nach wenigen Minuten hatte Ron, der ebenfalls ausgestiegen war, ge nug vom Beinevertreten und zog das warme Innere des Wohnmobils wieder vor. Er sollte vielleicht mal zu Hause anrufen, kam es Ron plötzlich in den Sinn. Wollte er nicht sowieso heute anrufen? Gestern, nein, gestern wäre zu früh gewesen, 333
aber jetzt, jetzt war die Zeit gut. Er griff nach Clausseés altem Mobiltelefon. Warum nur hatte er seines daheim liegenlassen. Er hätte sich ohrfeigen können. Texas hatte sichtlichen Spaß an diesem kleinen Spaziergang in die ursprüngliche Natur Ohios, die selbst hier, gleich hinter der Tankstelle ihre ganze Üppigkeit zeigte. Als sie sich auf dem Rückweg befan den, kam ihnen Ron ganz aufgeregt entgegen: »Die alte Benson ist tot, oh mein Gott, die alte Benson ist tot.« »Die Nachbarin?« »Ja, die alte, schrullige, liebe Mrs. Benson. Warum hat man die arme Frau nur ermordet? Die hat doch nie mandem etwas getan. Ich versteh’ die Welt nicht mehr, ausgerechnet sie. Können die Menschen sich denn wirklich nur noch die Köpfe einschlagen?« »Ermordet?« fragte Clausseé völlig überrascht, »wie kommst du auf ermordet?« Er stieg in den Wagen, Texas folgte und der niedergeschlagene Ron ebenfalls. Er ließ sich auf die Couch im Fond niederfallen, Ron setzte sich wie in Zeitlupe, starrte vor sich hin, als sähe er auf eine Reihe faszinierender Bilder. »Sag’ schon, woher weißt du, daß sie ermordet wur de?« wiederholte er seine Frage, schaute dabei Ron von der Seite an. »Ich habe zu Hause angerufen. Vater hat’s erzählt.« »Und wann?« »Sie wurde gestern Vormittag gefunden. Aber die Polizei meinte, sie wäre schon seit der HalloweenNacht tot. Erstochen, mit einem spitzen Gegenstand. 334
Die arme Frau.« Clausseé hob den Kopf: »Dann war sie vielleicht schon tot, als wir in jener Nacht in die Washington Street eingebogen sind und dort den Polizeiwagen von dem Haus der alten Mrs. Benson sahen. Das kann doch sein, oder?« »Und es war nicht Bruno Hall, der alte HorrorJunkie, der zurück durch die Washington Street ohne Sirenengeheul fuhr, das war ein echter Leichenwagen gewesen. Übrigens hatten die Beamten bei der alten Mrs. Benson zuerst einen Herzanfall vermutet, weil sie die Einstiche nicht bemerkt hatten«, Ron stutzte, »auch beim Professor im Zug nach Birmingham glaubten alle erst an eine Herzgeschichte, und auch dort gab es kaum sichtbare Einstichlöcher.« Trotz der gedrückten Stimmung, flaxte Clausseé: »Ist aber auch ’ne verdammt gefährliche Gegend, euer Neuengland. Ich muß schon sagen. Nur gut, daß wir auf dem Weg in den Wilden Westen sind. Und, was macht dein Bruder?« »Na ja, ihm geht’s etwas besser. Die Ärzte sind je denfalls zufrieden. Sie halten ihn immer noch ganz ab geschirmt gegenüber Besuchern, so wie der Inspektor das wollte. Nur meine Eltern dürfen zu ihm, und einge weihtes Pflegepersonal natürlich.« In diesem Moment ging die Tür auf, und Lisa klet terte in den Wagen, sah die beiden Männer so ernst Seite an Seite auf der Couch sitzen. »Ist was«, fragte sie, wechselte den Blick von einem zum anderen, »gibt’s Neuigkeiten aus Camden?« 335
»Ja, erraten. Ron hat dort angerufen, ist alles in Ordnung dort, bestimmt.« »Ist das wahr, Ron? Geht es Bob wirklich wieder besser?« »Ja, es ist wahr, Bob muß aber noch Verstecken spie len, ansonsten sind die Ärzte zufrieden mit ihm.« Ron stand auf und ging zur Seite, damit Lisa sich auf die Couch setzen konnte. »Mutter war auch da. Ben mein te, sie würde diese Woche Urlaub nehmen, um nach Bob sehen zu können. Und so lange wollte sie wieder in Camden wohnen.« »Und Ginger, haben sie Ginger schon erreicht?« »Nein, bis jetzt noch nicht.« »Wer ist Ginger?« wollte Clausseé wissen. Derweil Ron es sich auf den Beifahrersitz bequem machte, klärte Lisa den Professor mit wenigen Worten über Ginger und die Familienprobleme der Millars auf. »So etwas kommt überall vor. Bei der Hälfte der Krache renkt es sich früher oder später wieder ein. So, dann wollen wir mal wieder«, mit diesen Worten stand Clausseé auf und begab sich abermals zur Tür, »gleich können wir wieder weiterfahren, aber erst muß ich noch tanken, hätte ich ja beinahe vergessen.« Die Sache mit der alten Benson lag Ron doch ziem lich im Magen. Lisa wollte er erst später davon erzäh len, entschied er. Als sie die Grenze nach Adams County passierten, war es nur noch eine knappe Autostunde Fahrt bis 336
zu ihrem Ziel: die Aussichtsplattform zur berühmten Erdwall-Schlange. »Seht, wie sie sich windet und versucht, das Ei zu ver schlucken, sieht sie nicht toll aus?« versuchte Clausseé seine jungen Freunde für diese kunstvoll angelegte Hügelform zu begeistern, »komplett ist diese Figur mehr als 360 m lang, und schon viele Archäologen haben sich an ihrer Herkunft und Bedeutung die Zähne ausgebissen. Sie wird ›Great Serpent Mound‹ genannt, und gehört zu einer ganzen Reihe anderer Effigy Mounds, sogenannter Bildnishügel, die schon weit vor Kolumbus auf diesem Kontinent existierten. Auch der große F.W. Putnam, einer der Väter der amerikanischen Archäologie, versuchte schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts das Geheimnis der Schlange zu enträtseln, doch es ist ihm nicht gelungen. Obwohl eigentlich niemand den eingeborenen Indianervölkern jener Zeit solche Werke zutraute, blieben sie für viele die einzigen, die in Frage kamen. Und dann hat ein ge wisser T.M. Cowan von der Kansas University im Jahre 1975 die These aufgestellt, daß die Körperschleifen und der Schwanz Sterne darstellen. Überhaupt seien diese Hügelbilder und besonders dieses hier ein as tronomisches Symbol. Ha, solch ein Blödsinn.« Der Professor mußte lachen, lehnte sich gegen die Brüstung der Aussichtsplattform. »Sie haben eine andere Idee zu der Schlange?« »Aber klar doch, Ron.« Lisa mischte sich ein: »Und welche? Vor Kolumbus, 337
das können doch nur die Indianer gebaut haben, oder wer sonst?« »Die Wikinger waren es.« »Die Wikinger? So weit im Landesinneren?« stutzte Ron und schien überrascht, »haben sie denn konkrete Anhaltspunkte dafür?« Mittlerweile standen immer mehr andere Schaulu stige auf der Plattform. Kaum jemand interessierte sich für die drei aus Neuengland. Clausseé fixierte die Leute und wandte sich dann, jetzt leiser redend, an Ron und Lisa: »Manche dach ten sogar, Flüchtlinge aus dem versunkenen Atlantis hätten hier ihre Spuren hinterlassen. Ich aber sage: es waren die Wikinger. Solche Riesenschlangen gab es hier im Nordosten des nordamerikanischen Kontinents nicht, in Mittel- oder Südamerika vielleicht. Aber in der Mythologie der Nordmänner gab es eine riesige Schlange, die Gottheit ›Jormungand‹, die einst aus dem Meer kommen wird, um gegen Thor zu kämpfen. Thor wird symbolisch hier als das Ei dargestellt, oder ist es vielleicht kein Ei, sondern vielmehr ein Schutzwall, der das Volk der Wikinger gegen die zerstörerische Macht des Bösen beschützt?« Lisa blickte kurz zu Ron hoch, sah wie gespannt er lauschte. Doch Clausseé war in Fahrt, ließ sich nicht unterbrechen: »Und, Lisa, du kommst doch aus Skandinavien, du kennst doch sicher eines der häu figsten Ornamente der Wikinger, oft auf Broschen, Haarschmuck oder als Gürtelschnalle zu sehen.« Lisa machte ein nachdenkliches Gesicht: »Spontan 338
fällt mir die Spiralform ein. Die sieht man häufig auf alten Abbildungen. Dieses Ornament ist auch heute im Volkstum noch weit verbreitet.« »Genau«, frohlockte der Professor, »dann schaut euch doch mal das Schwanzende an.« »Eine Spirale.« Ron und Lisa hatten fast gleichzeitig gesprochen, schauten sich an, lachten. »Genau, eine Spirale. Dazu hat die Zahl Sieben eine große Bedeutung in der Wikingermythologie. Und ihr werdet unschwer erkennen, daß die Schlange sieben Windungen aufweist. Zählt nach!« Ron nickte erstaunt den Kopf: »Verdammt ja. Gibt es sonst noch Hinweise? Ich finde das total spannend.« »Möglich«, antwortete Clausseé, »ich sagte schon, daß die Jormungand aus dem Meer kam, also was sym bolisiert das Meer besser, als ein vorbei verlaufender Fluß, und? Da ist der Fluß. Und sieht es von hier oben nicht gerade so aus, als wäre die Schlange aus dem Wasser gekommen? Und dazu kommt meine Theorie vom Kontakt der Wikinger mit den Vorfahren der heutigen Hopi. Auch bei de nen kann man überall das Spiral-Muster entdecken. Übrigens, die Hopi-Indianer selbst glauben, diese Schlange sei von ihren frühen Vorfahren erbaut wor den. Von Mitgliedern des Schlangenclans, die von ih rem großen Gott Sótuknang zu jener Zeit aufgefordert worden waren, vom Stammland im heutigen Arizona eine Wanderung nach Osten zu unternehmen. Aber ich weiß nicht! Daß da aber auf alle Fälle eine Verbindung besteht, ist doch wohl offensichtlich, oder?« 339
»Könnte man meinen«, bestätigte Lisa, »ich muß schon sagen, die Wikingertheorie klingt gar nicht so abwegig.« »Sag’ das mal meinen Herren Kollegen in ihren vermufften Universitäten. Die sind da so etwas von vernagelt. Außerdem wollen sie alte Kulturstätten lieber von ›Einheimischen‹ errichtet wissen, als von Europäern, ist doch klar. Eher wird da ein prähisto rischer Indianerstamm erdacht - aber lassen wir das. Ich wollte euch nur mal dieses Naturbild zeigen und womit ich mich so beschäftige. Zudem, ein Indiz für möglicherweise fremde Erbauer schrieb der große F.W. Putnam noch selbst. Als er die Schlange erst mals erklettert hatte, befiel ihn, wie er behauptete, ein höchst eigentümliches Gefühl der Ehrfurcht und Bewunderung. Er spürte, daß dies das geheimnisvolle Werk eines unbekannten Volkes war. Nun, also keine Indianer. Komm, wir gehen wieder runter. Texas muß auch noch einmal kurz aus dem Auto.« Als sie zum Wagen kamen, wurden sie vom Schäfer hund schon freudig erwartet. Er bekam jetzt noch sei nen Auslauf an der Leine des Professors. Ron und Lisa bestiegen das Auto, hatten in den letzten Minuten eine Menge erfahren und wußten, dieser Mann war genau der unorthodoxe Querdenker, den sie bei der Lösung nach der Herkunft ihres Zeichen brauchen würden. Und sie waren gespannt auf Clausseés Rückkehr vom GassiGehen. Denn dann wollte er endlich die unansehnlich gewordenen Verbände von den Händen nehmen. 340
Tucson / Arizona Während im Osten der USA die Temperaturen wie in Europa Spätherbstniveau erreichten und der Indian Summer mit schnellen Schritten von den ersten Ausläufern der aufkommenden Atlantikstürme aus dem Kalender gedrängt wurde, nahmen im Südwesten die Touristenströme erst richtig zu. Die Quecksilbersäulen im Four Corners Land erreichten nun nicht mehr die Spitzenwerte des Sommers, so daß den örtlichen Pferde-Freizeit-Camps mit ihren Ausflugs-Angeboten gute Geschäfte bevorstanden. Dr. Wesley und Dr. Samisse kam es nach der kalten Einöde Alaskas dennoch vor, als sei hier gerade Hoch sommer. Vergessen waren die dicken Thermoanzüge, die Wollsocken und die Creme gegen Kälte, hier war Sonnenöl gefragt. Am Morgen nach ihrem Abenteuer im GrizzlyHouse hatte gegen neun Uhr ein Hubschrauber auf sie gewartet, den Ross Camel noch in der Nacht zum BMO beordert hatte, um sie zu einem Militärstützpunkt in der Nähe von Anchorage zu bringen. Dort waren sie in ein Flugzeug der NASA umgestiegen und nonstop zur Davis-Monthan-Airbase in Tucson geflogen worden. Nach der Ankunft dort hatte ihnen der Rest des Tages zur freien Verfügung gestanden. Sie hatten die Zeit damit verbracht, sich in ihren Hotelzimmern einzurich ten, sich in der Stadt passende Kleider zu kaufen und den Abend gemeinsam in der Hotelbar zu verbringen. Zudem hatten sie sich an die Zeitverschiebung gewöh nen müssen, schließlich war es hier zwei Stunden frü 341
her als in Alaska. Zu allem Ärger hatte während ihrer gesamten Zeit hier bei der NASA ein abgestellter FBIAgent in ihrer Nähe zu sein, um auf sie aufzupassen. Nur zu ihrer Sicherheit, hatte Ross verlauten lassen. Ihnen hatte es überhaupt nicht gepaßt, aber sie hatten gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Schließlich wa ren sie dann auf die Zimmer gegangen, auf getrennte Zimmer. Der Beamte, der den Auftrag hatte, selbst in der Nacht auf ihrem Flur Wache zu halten, hätte ohne hin keine Romantik aufkommen lassen. Seit dem Mittagessen des folgenden Tages warteten sie nun schon auf Ross Camel, der sie für ein Meeting ins Carson Peak Observatorium abholen wollte. Sie hatten sich vor dem Hotel an einen der Tische gesetzt. Ein anderer FBI-Agent machte nun den Aufpasser und hatte sich abseits einen Platz genommen. »Nicole«, begann Curt, nahm seine Sonnenbrille ab, spielte mit ihr, »ich habe nachgedacht...« »Nachgedacht?« wiederholte Nicole. »Ja, über mich, dich, unsere Arbeit und über das Gehabe der NASA-Leute, ihre Geheimnistuerei in den letzten Tagen.« Er legte seine Brille auf den Tisch und schlürfte dann kurz von seinem Ice-Tea: »Ja, darüber habe ich nachgedacht.« Nicole sah hoch. Sie strich sich ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht, dann schaute sie ihn verwun dert an: »Über uns also, soso.« »Ja, und über unsere Arbeit«, ergänzte Curt, »Darling, diese Mondsache zum Beispiel. Warum ma chen die aus allem immer gleich eine streng geheime 342
Sache. Und dann muß immer gleich das Militär seine Nase mit reinstecken. Das paßt mir nicht, ganz und gar nicht.« »Warten wir doch erst einmal ab bis nachher, mal sehen, was wir zu hören bekommen«, erwiderte sie. »Egal, was die da für Erklärungen haben, ich wer de nach diesem Projekt versuchen, eine neue Aufgabe zu bekommen, weg von Alaska, von der Kälte und Einsamkeit, wo man Gefahr läuft, langsam sonderlich zu werden. Weißt du, es kann passieren, daß du dich zu sehr in deine Arbeit verkriechst und nicht einmal merkst, wie das Leben an dir vorbei rauscht. Du hast keine Zeit eine Familie zu gründen, keine Kinder, du hast keine Zeit für Hobbys, nichts. Nur dein Job ist da: der Mond ist plötzlich dein Leben, und nur der Mond. Na, ich weiß nicht.« Er starrte die Straße hinunter, ver folgte das Näherkommen einer schwarzen Limousine, schwieg. Die Frau an seiner Seite war überrascht. Kannte sie ihn so wenig? War das der Curt Wesley, den sie sonst als Mond-Besessenen kannte? Nie hatte er so gesprochen. Sie, Pat und die anderen des BMO waren überzeugt, Wesley lebte nur für seine Arbeit. Das Thema Heirat, Frau, Familie - nichts für ihren Boss, hatten bislang alle gedacht, auch sie. In der Grizzly-Hütte, droben in Alaska, ja, da hatte sie schon gespürt, daß hinter seiner Schale durchaus ein anderer Kern verborgen war, als sie bisher vermutet hatte. Aber gleich den Job an den Nagel hängen? Doch nun sah auch sie sich mit neuen Werten konfrontiert. Ihr lag etwas an Curt Wesley. Was 343
sollte sie machen, wie sich verhalten? Bliebe sie im BMO, falls Curt sich versetzen ließe, möglicherweise an eine neue Stelle weit weg vom BMO, oder würde sie mitgehen? Sie war froh, daß in diesem Augenblick das Hupen der schwarzen Limousine ihre Entscheidung aufschob, sie Zeit gewinnen ließ für eine Antwort. Sie erkannte Ross Camel, der aus dem Wagen stieg und winkend auf sie zukam. Sie bezahlten, und wenige Minuten später verließen sie Tucson in südwestlicher Richtung, ein zweites Auto folgte. Es war der Mann vom FBI. Das Wetter war herrlich. Der blaue Himmel schien auf die rötlichbraunen Bergketten am Horizont zu sto ßen. Spärliche Vegetation begleitete sie beiderseits der Staatsstraße 86 bis zum knapp 2100m hohen Carson Peak Observatorium. Noch weit vor der eigentlichen Einrichtung der NASA waren erste Militärposten auf gestellt, Camels spezieller Ausweis machte ihnen den Weg frei. Wesley staunte und grübelte, als am unmit telbaren Eingang Doppelposten stationiert waren. Ein drei Meter hoher neuer Zaun umschloß die komplette Anlage. Bei seinem letzten Besuch hatte es hier weder Zäune noch Soldaten gegeben. »Diese lästigen Medien-Hyänen glauben immer, wenn irgendwo Militär und Zäune auftauchen, einer Story auf der Spur sein zu können. Dabei haben wir ihnen die Anwesenheit der Soldaten als militärische Sicherheitsübung für Objektschutzmaßnahmen ›ver kauft‹«, schimpfte Camel und steuerte den Wagen durch die kleine Schar Reporter bis an den Kontrollpunkt, 344
wies sich auch hier aus und fuhr ins Innere der Anlage. Wesley wunderte sich immer mehr: während es noch bis vor kurzem ausschließlich Wissenschaftler gewesen waren, die hier das Bild bestimmten, zusammen mit den unzähligen Besuchergruppen, die diese Einrichtung re gelmäßig zu Studienzwecken genutzt hatten, waren nun an ihre Stelle die vielen Uniformierten getreten. Und noch beim letzten Besuch hatte sein NASA-Ausweis mit dem Geheimhaltungsvermerk gereicht, um in den Operational Sector zu kommen. Nun bekamen er und Nicole speziell vorbereitete Ausweise, die sie sichtbar um den Hals zu tragen hatten. Ihr FBI-Bewacher der letzten Stunden durfte nicht mit in diesen Sector gehen. Er blieb draußen in seinem Wagen. Auch Samisse kam es unheimlich vor. Die vielen Soldaten, Sonderausweise, Heimlichtuerei, Mann, dachte sie, wie im Film ›Independence Day‹, man glaubt’s einfach nicht. »Dr. Wesley, Dr. Samisse, bitte hier lang«, forderte Camel sie auf, ihm zu folgen, als sie stehengeblieben waren, um sich auf der überdimensionierten VideoLeinwand an der Kopfseite des Operational Sector den Mond in voller Größe anzusehen, »kommen Sie bitte weiter, in den Besprechungsraum.« »Okay, okay«, räusperte Wesley sich bedrängt, stieß Nicole an, und beide folgten ihm in den angesproche nen Raum. Wesley kannte den Raum. Hier hatten sie immer ihre Meetings abgehalten. Nur waren jetzt außer ihnen drei niemand anwesend. Der große Tisch in der Mitte, die 345
Stühle drumherum, alles wie immer. Eines aber hatte sich geändert: die alten Sternenkarten, Milchstraßenund Spiralnebelabbildungen und die ›heiligen‹, ersten Originalfotos von der Mondoberfläche waren verhan gen worden von anderen Karten und Fotos. Samisse und Wesley erkannten sofort, daß Karten und Fotos nur ein Thema behandelten: die Rückseite des Mondes, detailliert und in extrem kleinem Maßstab. Das besondere Interesse galt allem Anschein nach dem Gebiet um das Märe Moscoviense. Das Gebiet der Blitze, schoß es Samisse durch den Kopf, meiner Lichtblitze. Verdammt, was geht da vor? Und was hat das Militär mit dem Mond im Sinn? In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und vier Männer, die Wesley von seinem letzten Gespräch kannte, traten zusammen mit einer weiteren, ihm unbekannten Person ein. Auch dieses Mal waren der Präsidentenberater Mel Harris, General Phil Montana, Wiliam Cohen vom SETI-Projekt und Colonel Pat Grant dabei. Harris ergriff das Wort, begrüßte Camel, Dr. Wesley und Dr. Samisse und stellte einander vor. Der Mann, den Wesley bisher nicht gekannt hatte, war der Astronaut Major Chris Borman, ShuttleCommander im Dienste der Vereinigten Staaten. Noch sehr jung, dachte Wesley, verdammt jung, um ein Shuttle zu fliegen, oder kam ihm das nur so vor? Nach dem Begrüßungsritual kam Harris direkt zur Sache: »Meine Dame, meine Herren, ich sage es gleich vorweg: da draußen auf dem Mond geht etwas vor sich, und wir wollen wissen was. Deshalb sind wir hier.« 346
»Und das Militär, weshalb sind die denn so zahlreich hier, wenn man nichts Genaues weiß, Sir?« fiel Wesley dem Präsidentenberater direkt ins Wort, »also, ich habe bislang immer feststellen müssen, daß, wenn die Army mitmischt, sehr wohl Infos vorliegen, auch wenn man es uns anderen stets nur portionsweise mitzuteilen bereit ist, und ich denke, hier wird es genauso sein. Wenn Sie uns hierher eingeladen haben und auf unsere Mitarbeit hoffen, dann kommen Sie gefälligst nicht mit ›wir wissen nichts Genaues‹.« Großes Gemurmel im Raum, zustimmendes Kopf nicken. Nur die Militärs im Raum blieben ruhig. Sehr gut, dachte Samisse, alle Achtung. Der Berater und General Montana wechselten kurz einen Blick, dann erhob sich Montana: »Mr. Harris, Sie gestatten?« Der Angesprochene erteilte dem General mit einer Handbewegung das Wort und setzte sich. »Ich werde es Ihnen erklären«, begann Montana, »in der Tat mag die Präsenz der Army auf den ersten Blick etwas übertrieben erscheinen, aber seien Sie versichert, wenn Sie diesen Raum wieder verlassen, werden Sie verstehen, weshalb schon in diesem frühen Stadium eine absolute Geheimhaltung von Nöten ist, und daß dieser Observatoriumsbereich, der das Herzstück der Operation darstellen wird, zusätzlich gesichert sein sollte.« Wesley schaute den General an: »Moment, reden wir heute schon über eine ›Operation‹? Das bedeutet im Militärjargon doch soviel wie ›Aktion‹? Reden wir 347
hier über den Mond, oder was? Was für eine Operation ist denn da in der Vorbereitung, daß selbst die Medien schon Wind davon bekommen haben? Ich glaube nicht, daß die Reporter da draußen sind, um schöne Uniformen zu fotografieren. Los, raus mit der Sprache - bitte, Sir!« Wieder setzte allgemeine Unruhe ein. Harris stand auf, schaute Wesley ernst an, ergriff wieder das Wort: »Sie sollen es erfahren. Sie alle sollen selbst beurteilen, was wir hier in feiner Puzzlearbeit aus all den uns zugetragenen Informationen zusammenge bastelt haben. Aber, glauben Sie mir, wir haben nur Vermutungen, die wir mit Ihnen diskutieren wollen. Fakten oder verbindliche Schlußfolgerungen haben wir tatsächlich noch nicht. Vielleicht gelingt uns hier und heute ja eine vernünftige Erklärung für die Phänomene zu erarbeiten. Ich bitte Prof. Cohen von SETI über den Erkenntnisstand zu berichten. Bitte Professor!« Professor Cohen war ein schmächtiger, etwa 60 jähriger Mann mit Halbglatze und einer randlosen Brille auf der Nase. Er trug einen grauen Flanellanzug, sein weißes Hemd zierte am Kragen eine dunkelro te Fliege. Er sortierte hektisch einige Blätter, stand auf und ging drei Schritte zu einem vergrößerten Kartenausschnitt der Mondrückseite. Mit einem aus ziehbaren Zeigestock, den er aus seiner Jackentasche genestelt hatte, tippte er gegen die Karte: »Gestatten, Prof. Cohen, für die, die mich noch nicht kennen. Mein eigentlicher Arbeitsplatz befindet sich in New Mexico. Dort habe ich vor Tagen den Auftrag bekommen, meine 348
Ohren vorübergehend von den Radiosignalen, die aus der Tiefe des Alls zu uns hereinkommen, zu nehmen und mich mit den Berichten und Überspielungen ak tueller Monderscheinungen vertraut zu machen. Dazu kamen noch die gesammelten Anomalien des Mondes der letzten fünfhundert Jahre. Die Daten haben wir durch den Computer gejagt, dann die Erscheinungen mit jahreszeitlichen Gegebenheiten, Mondzyklen usw. in Verbindung gebracht. Die führten aber zu keinerlei Auffälligkeit. Auch Sternenkonstellationen, Kometenerscheinungen, Sonnen- und Mondfinsternisse wiesen keine Verbindung zu den Monderscheinungen auf. Erst als ein junger Kollege bei uns im National Radioastronomie Observatorium bei der Überprüfung des Datums eines der beobachteten Mondblitze aus dem Jahre 1945 scherzhaft bemerkte, daß der Mann im Mond zeitgleich eine Bombe auf der Mondrückseite hochgehen ließ, als in Hiroshima die Atombombe gezündet wurde, suchten wir in einer bestimmten Richtung weiter, und wurden erschreckend fündig. Wir gaben von all den Monderscheinungen nur die Zeitdaten der Lichtblitze ein und zwar nur ab besagtem 6. August 1945 bis heute. Dann sollte der Computer diese Daten mit wichtigen Geschehnissen und Katastrophen auf der Erde vergleichen. Meine Dame, meine Herren, wir haben eine Parallele feststellen können, besser, der Rechner hat etwas ausgespuckt, was genauso erschre ckend wie rätselhaft erscheint.« Er nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas vor sich. Ihm schien es sichtlich unwohl in seiner Haut zu 349
sein. »Was hat der Computer denn nun ausgespuckt über die Mondblitze«, wollte Wesley voller Ungeduld wis sen, »wir in Alaska haben schließlich auch einige von ihnen gesehen.« »Das ist richtig«, bestätigte Cohen, »ich kenne Ihre Überspielungen. Übrigens sehr gute Arbeit. Ich woll te, ich bekäme immer so gutes Material von meinen Teleskopen. Aber zu den Blitzen aus jüngerer Zeit kommen wir noch. Nun, wir haben Parallelen ent deckt und uns scheinen sie nicht als zufällig, wenn wir sie auch nicht erklären können. Von den unzäh ligen Erddaten, die wir eingegeben haben, wurden, was Zeitgenauigkeit anging, nur Ereignisse aus dem Bereich Fauna, Flora, Umwelt ausgeworfen. Das heißt: immer wenn eine, ich betone, menschen gemachte Naturkatastrophe wie Öltankerunglücke, Atombombenversuche, Waldrodungen, aber auch Beginn von Kriegen überall auf der Welt, von Walund Robbenmassenabschlachtungen, oder das durch Menschen verursachte Aussterben ganzer Tierarten vollzogen war, blitzte es. Es machte den Eindruck, als würde jemand auf dem Mond eine riesige Kerze für das sündhafte Verhalten der Menschen entzünden oder als würde jemand all unsere Sünden an Mutter Natur live fotografieren und dokumentieren. Glauben Sie mir, wir haben es nachgeprüft, und nicht nur einmal: Seveso, Tschernobyl, der Überfall der Iraker auf Kuwait, der Falkland-Krieg, am gleichen Tag wurde irgendwo auf der Welt einer dieser Blitze registriert.« 350
»Und andere herausragende Ereignisse passen nicht ins Schema, wie die erste Mondlandung, Fall der Berliner Mauer oder dergleichen?« wollte Samisse wissen. »Nein, diese Daten von positiven Errungenschaften der Menschheit, von Erfolgen in der Medizin zum Beispiel, haben wir natürlich auch eingegeben, aber nichts, keine Übereinstimmung. Also habe ich recht mit meiner Schlußfolgerung. Nicht wahr, Mr. Harris?« »Sieht so aus, Prof. Cohen, »sieht ganz so aus.« Wesley meldete sich wieder zu Wort: »Dürfen wir anderen im Raum vielleicht auch erfahren, wie die Schlußfolgerung von Prof. Cohen aussieht? Schließlich sollen wir hier doch irgendeine Entscheidung treffen, denke ich.« »Richtig, Dr. Wesley, dafür haben wir Sie aus allen Teilen unseres Landes eingeflogen«, beruhigte ihn Harris, wandte sich dann wieder an Prof. Cohen, »be richten Sie nur.« »Die Lichtblitze auf dem Mond, besser auf der Mondrückseite, fallen zeitlich immer mit negativen, vom Menschen verursachten Katastrophen zusam men.« Ross Camel versuchte die Situation mit einem Scherz aufzulockern: »Bei der riesigen Anzahl von Mondblitzen der letzten fünfhundert Jahre haben wir demnach anscheinend nur Mist gebaut auf der Erde, wir Amerikaner natürlich nur die letzten zweihundert Jahre, ha.« »Mr. Camel, ich glaube, Sie wissen nicht, über was 351
Sie da scherzen«, schimpfte der Professor plötzlich, »anscheinend haben Sie meinen kompletten Bericht noch nicht fertig gelesen.« Camels Lachen wich einem verlegenen Grinsen: »Okay, klären Sie uns auf, Mr. Cohen. Was gibt’s noch Wichtiges?« Prof. Cohen nahm wieder seine Notizen in die Hand und begann: »Nun, die erste Erkenntnis unse rer Auswertung war, daß nur erdschädigende, vom Menschen verursachte Ereignisse von Blitzen auf dem Mond ›bestätigt‹ wurden. Die zweite, und Besorgnis einflößendere Erkenntnis aber ist die, daß die Blitze in den letzten fünfzehn Jahren an Häufigkeit zugenom men haben, bei kürzer werdenden Abständen. Wir ha ben dies sogar grafisch darstellen können, schauen Sie hier. Aber seit wenigen Wochen erscheinen die Blitze in einem anderen Schlüssel.« »Und was bedeutet das, Professor?« wollte Wesley wissen. Prof. Cohen schaute über den Tisch, blickte Wesley an: »Die Blitze erscheinen nicht mehr unregelmäßig, je nachdem, wo gerade auf der Erde etwas Schlimmes pas siert, sondern sie kommen in regelmäßigen Abständen, in immer kürzeren Abständen. Fast so, als laufe da ein Countdown ab.« »Und was bedeutet das?« »Lieber Dr. Wesley, können Sie sich das nicht den ken? Wo bleibt Ihre Phantasie? Haben Sie sich noch nie mit der Mythologie alter Kulturen befaßt? Kulturen, die schon längst untergegangen sind? Von deren Orakeln 352
und Untergangsszenarien? Was glauben Sie, passiert, wenn wir, die Krönung der Schöpfung, die Erde soweit geschunden haben, die Blitzabstände immer kürzer werden, bis auf dem Mond ein regelrechtes Dauerfeuer einsetzt? War es das dann, Schluß, Feierabend, Ende der Fahnenstange, Jüngstes Gericht, Apokalypse, was auch immer? Klartext: würde das vielleicht das Ende der Welt bedeuten?« »Aber genau wissen wir es nicht?« fragte Harris. »Richtig«, erwiderte Cohen, »genau wissen wir es natürlich nicht.« »Ja, und deshalb müssen wir etwas unternehmen«, ergriff Harris erneut das Wort, »egal, ob der Computer das große Ende ausdruckt, es den großen Knall gibt oder die Lichterscheinungen dort oben am Ende völ lig harmlos sind. Wir haben die verdammte Pflicht, etwas zu unternehmen und nicht zu warten, bis uns jemand das Licht auf der Erde ausknipst. Und genau darum haben wir auch Major Borman heute hier am Tisch. Er ist Shuttlepilot, einer, der im Weltraum zu Hause ist. Als NASA-Mitarbeiter hat er schon di verse Teile zur MIR transportiert und den einen oder anderen Satelliten im All ausgesetzt. Daß Sie soviel Fernsehprogramme empfangen können, liegt zum Teil auch an Major Borman. Der Name wird Ihnen sicher bekannt vorkommen. Chris Borman ist ein Neffe des APOLLO 8 Commanders Frank Borman, der 1968 mit Lovell und Anders als erster den Mond umkreiste. Es ist mehr als eine Schicksalsfügung, daß auch bei die sem Mondprojekt ein Borman dabei ist.« 353
General Montana stand auf. Er wußte, jetzt war er dran: »Meine Herren, wir werden das zu Ende füh ren, was das APOLLO-Programm nicht geschafft hat. Wir werden die Rückseite des Mondes erkunden, und diesmal ganz genau. Und wir werden dem Ursprung der Lichtblitze auf den Grund gehen. Glauben Sie mir, sollten wir dort oben etwas finden, was uns nicht ge heuer erscheint, dann werden wir es vernichten.« »Sie wollen doch nicht etwa Soldaten zum Mond bringen? Sagen Sie, daß das nicht wahr ist, Harris!« Wesley war wieder einmal kämpferisch aufgelegt, wollte klare Antworten. »Nein, keine Soldaten«, antwortete Harris, »wir schi cken mit Bormans Hilfe eine Sonde in die Umlaufbahn des Mondes. Diese soll dann den Erdtrabanten umrun den und die komplette Nordhälfte der Mondrückseite fotografisch abtasten, besonders die Gebiete, von dem die überwiegende Zahl der Blitze herstammen dürfte.« »Und wann soll der Start der Shuttle erfolgen? Und was sagen Sie der Öffentlichkeit?« fragte Cohen, »ich meine, die Medien werden genau wissen wollen, wes halb so lange nach dem letzten APOLLO-Flug wieder jemand dorthin fliegt?« »Das kann ich Ihnen sagen. Also, die Startvorberei tungen laufen schon seit Tagen, wahrscheinlich haben einige Reporter Wind von den Vorbereitungen bekom men und lungern deshalb draußen vor der Anlage her um. Und wir planen den Start in den nächsten zwei bis drei Wochen, wenn alles gut geht.« »Oder die Abstände der Blitze sich nicht ungewöhn 354
lich schnell verringern.« ergänzte Cohen. »Genau. Und was den Grund des Shuttlestarts an geht, so werden wir überhaupt nicht erzählen, daß der Flug zum Mond geht. Übrigens wird der Shuttle EARTHHOPE heißen. Der Öffentlichkeit werden wir von einem Versorgungsflug zur MIR berichten, daß an zwei Satelliten dringende Reparaturen ausgeführt wer den müssen, usw. Unsere NASA-Sprecher sind darin wahre Könner. Spätestens vierundzwanzig Stunden nach dem Start geht das Interesse für den Routineflug ohnehin zurück. Wir kennen das ja.« Dr. Samisse meldete sich zu Wort: »Meine Herren, das alles hier am Tisch klingt nicht nur sehr interessant und spannend, faszinierend und angsteinflößend glei chermaßen, sondern auch sehr gefährlich. Ich meine, was immer da oben ist, kann friedlich oder aber aggres siv sein. Was ist, wenn übereifrige Endzeitfanatiker in den Blitzen tatsächlich das Ende der Welt sehen und das auch überall verkünden? Und die Regierung schickt einen Mann zur NASA und gleich dazu noch die geballte Militärpräsenz? Muß da nicht zwangs läufig eine Unruhe unter der Bevölkerung entstehen? Ich will noch nicht mal von Panik reden. Aber ich bin der Meinung, wir sollten alles tun, um nach außen hin Normalität zu demonstrieren. Wir wissen nicht, was uns auf dem Mond erwartet, vielleicht ja gar nichts. Mein Vorschlag: solange wir nicht absolut sicher sind, daß der Erde Gefahr droht, weg mit den Soldaten, weg mit dem Zaun und der Geheimniskrämerei, ver halten wir uns völlig normal. Lassen Sie dieses Obser 355
vatorium und die, ich glaube, sieben oder acht zur NASA gehörenden ähnlichen Einrichtungen an einem vorgetäuschten, gemeinsamen Versuchs-Projekt mit wirken, so daß die öffentlichen Besuchszeiten auf ein Minimum heruntergesetzt werden müssen. Studenten, Amateurastronomen und Schulklassen können leider für die nächsten vier Wochen keine Besuchserlaubnis erhalten. Nur keine Soldaten. Dann wittern alle so gleich eine große Sache. Und auch sollten unsere ›Begleiter‹ vom FBI abgezogen werden. So, das wär’s. Ich danke Ihnen.« Nicole staunte über sich selbst. Hatte sie gerade den wichtigen Leuten hier am Tisch Ratschläge erteilt? »Danke, Dr. Samisse«, Harris schaute nachdenk lich über den Tisch, blickte der Astrophysikerin in die Augen, »ich muß sagen, sehr beeindruckend. Und wenn ich es überlege, haben Sie gar nicht so unrecht. General, was meinen Sie, es geht um Ihre Soldaten?« »Zunächst möchte ich mich entschuldigen, daß ich vorhin in Gedanken nur ›meine Herren‹ gesagt habe, selbstverständlich weiß ich Ihre Anwesenheit hier an diesem Tisch zu schätzen, Dr. Samisse. Sie alle werden verstehen, daß ich den Gedanken, solch eine Unternehmung durchzuführen, ohne die erfor derliche Sicherstellung der Geheimhaltungsstufen und der hierfür vorgesehenen Einrichtungen für sehr riskant halte. Aber angesichts der durchaus plausiblen Begründung unserer werten Kollegin halte ich die Idee, Normalität zu demonstrieren, für ausgesprochen raffi niert. Ich denke, das kann man getrost unter weiblicher 356
Raffinesse vermerken. Ich jedenfalls wäre einverstan den. Natürlich müßten, wie auch in die Diskussion geworfen, die betroffenen Observatorien unter einem Vorwand für die Allgemeinheit vorübergehend nicht zugänglich gemacht werden.« Man war auf einen gemeinsamen Nenner gekom men. Wissenschaftler, Militärs und der Berater des Präsidenten, sie alle hatten jetzt genaue Konzepte zu entwickeln, Strategien, wie man ohne lästige Störungen seitens der Presse und des allmächtigen amerikanischen Fernsehens unbehelligt arbeiten konnte. Die einzelnen Aufgaben wurden konkretisiert und einem Zeitplan unterworfen. Dr. Wesley und Dr. Samisse würden die nächsten Wochen wohl in Arizona bleiben müssen, so viel war ihnen klar. Wer aber würde solange die Arbeit im BMO leiten? Als dann die Erörterung langsam zu Ende ging, alle Einzelheiten minutiös festgelegt waren, fragte Ross Camel, welcher der ganzen Besprechung nur als Zuhörer beigewohnt hatte: »Was ist aber, wenn sich herausstellt, daß sich auf dem Mond etwas zusam menbraut, sich dort eine Alien-Invasion formiert? Sie kennen doch wie ich viele der Top-Secret-Fotos und Aussagen verschiedener MERCURY- und APOLLOBesatzungen über Beobachtungen auf dem Mond und besonders auf der Rückseite des Mondes. Was ist, wenn sie uns angreifen?« »Dann werden wir uns zu wehren wissen«, antworte te General Montana, »auch für diesen Fall werden wir einen Plan ausarbeiten, da können Sie sicher sein.« 357
Samisse horchte auf: »Und wenn ein eventueller Besuch aber nicht aggressiver Natur ist? Möglicher weise ist ihr Countdown der Beginn einer Begegnung unterschiedlicher Spezies, der Anfang einer neuen Welt.« Plötzlich war es ganz ruhig im Raum. Alle starrten Dr. Samisse an. Hatte sie das etwa ernst gemeint?
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03. November ’98
Miami / Oklahoma in Geräusch ließ Ron von seinem provisorischen Lager im hinteren Ende des Wohnmobils hoch schrecken. Die beleuchteten Ziffern seiner Uhr zeigten sechs Uhr fünfzehn an. Viel zu früh, um aufzustehen, dachte er. Die gestrige Fahrt hatte ihn irgendwie ge schlaucht. Er hob seinen Kopf, sah, daß Lisa noch fest schlief. Dagegen war der heruntergeklappte Fahrersitz leer, auf dem Clausseé während ihrer Flucht immer zu schlafen Pflegte. Auch Texas, ansonsten auf dem Boden vor dem Sitz zu finden, war nicht mehr da. Da ist es wieder, dachte Ron, das Klappern, als hantierte jemand mit Blechgeschirr. Ron zog sich zum Fenster hoch, schaute durch die schmutzige Gardine in den dämmrigen Morgen und sah den Professor draußen auf einem umgestülpten Eimer sitzen, in der Hand einen seiner blechernen Trinkbecher, in der an deren die Kanne mit dampfendem Kaffee. Eine dicke Jacke schützte ihn vor der Morgenkühle, die in diesem Teil der USA genauso extrem sein konnte wie die Mittagstemperaturen in der Sonne. Zwei Meter abseits lag sein Hund, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt. Ron schlüpfte in die Jeans, ein Pullover war schnell über den Kopf gezogen. Dann, leise und vorsichtig, um Lisa nicht zu wecken, schlich er zur Tür, um nach draußen zu gelangen. Brrr, erschrak Ron, ganz schön kühl, und schlender te zu seinem neuen Freund und Begleiter.
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Zwei Drittel der Wegstrecke hatten sie jetzt hinter sich und bereits eine Zeitgrenze überschritten. Wie der Professor meinte, würden sie erst am morgigen Tag gegen späten Nachmittag in Winslow ankommen, noch zwei Tage Fahrt. Sicher, sie hatten viel gesehen, un freiwillig hatte er seiner großen Liebe die USA zeigen können mit all ihren landschaftlichen Unterschieden. Ein Hotelzimmer oder ein Motel wie an der Grenze zu Illinois, das wäre nicht schlecht gewesen. Aber gestern Abend war es so spät geworden mit der Fahrerei, daß nur noch das Wohnmobil als Nachtquartier in Frage kam. So waren sie hier an einem Waldrand gelandet, unweit des Städtchens Miami in Oklahoma. Clausseé hatte auf der Abendfahrt bestanden, weil die Straße dann so einladend frei sei und man richtig viele Meilen schaffen konnte. »Hi«, begrüßte Clausseé seinen jungen Freund, »kannst du auch nicht schlafen?« »Ich bin von einem Geräusch geweckt worden.« »Ja, sorry, ich war’s wohl mit meinem Geschirr. Aber leg’ dich doch wieder hin, es ist noch so ver dammt früh.« Ron setzte sich zu dem Professor auf dem Boden: »Ist schon okay. Ich bin wach, hab’ sowieso nicht so gut geschlafen.« Der Professor kramte in seinem Geschirrkoffer he rum, holte einen zweiten Becher hervor, füllte ihn mit Kaffee und reichte ihn herüber. »Was machen Ihre Hände? Tun die Narben weh?« »Das ist es, was mir Sorge macht, Ron. Was zum 360
Teufel hat diese Verbrennungen verursacht? Und schau dir die Narben doch einmal richtig an, da.« Mit diesen Worten setzte er seinen Becher ab und hielt Ron seine Handflächen entgegen, »hast du schon einmal solche Narben gesehen? Bestimmt nicht. Das sind ja die reins ten Sterne. In jeder Innenfläche ein sechszackiger, und beide sind völlig identisch, verrückt, nicht?« »Wir müssen das Schwert und die Speerspitze aus dem Boden holen und das Geheimnis der Hütte lösen«, entgegnete Ron, »dann, so glaube ich, wissen wir auch, weshalb Sie ohnmächtig geworden sind und diese Narben bekommen haben.« Clausseé nahm wieder seinen Becher in die Hand, starrte wortlos zum heller werdenden Horizont. Ihn bedrückt etwas, ahnte Ron, vielleicht die Tat sache, daß er möglicherweise den Fund seines Lebens gemacht hat. Und daß er diesen jetzt oben an der Küste hat zurücklassen müssen, um ihn und Lisa in Sicherheit zu bringen vor einem schießwütigen Irren? »Professor, Sie sollten sich keine Gedanken machen über den Fund. Niemand außer uns dreien weiß davon, außer Bob. Dem habe ich angedeutet, was wir gefun den haben, und was wir dahinter vermuten. Aber so etwas interessiert ihn ohnehin nicht, und wem sollte er schon davon berichten?« Langsam drehte der Professor den Kopf zu Ron, murmelte noch etwas, stand auf und ging einige Schritte nach vorne. Texas hob den Kopf, spitzte die Ohren. »Was sagten Sie? Ich habe Sie nicht verstehen kön nen, Professor.« 361
»Ron, seit ich in der Hütte ohnmächtig geworden bin, schlafe ich nicht nur schlechter als früher, ich träume auch allerhand merkwürdiges Zeug. In dieser Nacht war es besonders schlimm.« Er drehte sich um und setzte sich wieder, nahm einen Schluck aus dem Becher. »Merkwürdiges Zeug, was für merkwürdiges Zeug?« Der Professor suchte nach dem richtigen Anfang: »Also erstmals hatte ich diese Träume, Visionen, Erscheinungen, wie immer man das auch nennen mag, oben bei der Hütte. Es war nur sehr kurz zwar, aber alles war irgendwie eigenartig, ehrlich. Da war ein rötliches Licht, nein, eigentlich war es eine Wolke oder ein Nebel. Jedenfalls sah ich mich plötzlich ein getaucht in dieses Rot, und dann schossen Bilder oder besser Objekte an mir vorbei, auch Personen. Und es waren meist Leute in historischen Gewändern oder Uniformen. Auch einer in Ritterrüstung war unter ih nen.« »Sagten die etwas oder taten sie was?« »Nein, Ron, in den ersten Träumen jedenfalls noch nicht. Aber letzte Nacht hatte ich wieder diese rötliche Vision. Doch diesmal wurde nicht ich eingehüllt, son dern der Mond. Der Mond war auf einmal blutrot. Und die Heerführer, Könige oder wer auch immer sie wa ren, sahen mich an, sprachen zu mir. Doch ich verstand sie nicht, kannte nicht mal ihre Sprachen. Ich wollte wissen, was sie von mir wollten, aber vergebens. Da bin ich aufgewacht. Ich war schweißgebadet. Ich zog mir etwas über und ging nach draußen, wollte hier 362
nachdenken und einen wärmenden Kaffee trinken.« Ron hatte aufmerksam zugehört. Clausseé war ein exzentrischer Mann, sicher, dachte er, und er war im mer dem Mysteriösen und Rätselhaften gegenüber of fen. Doch diese Träume schienen ihn zu beunruhigen, genau wie seine rätselhaften, sternenförmigen Narben. In den Baumkronen des Waldes hinter ihnen began nen die Singvögel den Tag zu begrüßen, und auf der vorbeiführenden Straße machten sich erste Pendler bemerkbar, rauschten mit ihren Autos vorbei. Ron wollte mehr wissen: »Professor, haben Sie denn früher schon ähnliche Träume gehabt, vielleicht in Ihrer Kindheit?« Dieser winkte ab: »Kindheit? Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in Deutschland. Und dort lief alles in normalen Bahnen.« »Dann sind Sie kein echter ›German‹?« »Ach, woher denn. Nein, ich bin zwar dort geboren, weil Vater als Soldat nach Europa geschickt wurde, um bei der Invasion in der Normandie mitzuhelfen, Deutschland von der Nazi-Herrschaft zu befreien. Nach Kriegsende ist er dort geblieben und hat dort geheiratet. Auch mein Großvater, der stammte übri gens aus Maine, war mit meinem Vater nach England gekommen, wollte ihn angeblich nicht alleine lassen. Außerdem, so erzählte mir Vater, hätte Opas Fisch- und Hummerfang eh nicht mehr viel eingebracht. Dann, als Großvater und Mutter starben, sind Dad und ich wieder zurück in die Staaten gegangen, nach Arizona.« »Wieso nicht zurück nach Maine?« 363
»Ach ja - eines hatte ich vergessen zu erwähnen, durch Großvaters Adern floß noch indianisches Blut, nicht mehr ganz rein, aber immerhin genug, daß die Leute dort oben an der Küste ihn das spüren ließen. Nein, Vater wollte nicht mehr dorthin. Er sagte, das, was sein Vater dort besaß, sei sowieso nur wertloses Felsenland, und er glaubte, mittlerweile müsse es sowieso dem Staat Maine gehören, da er solange in Europa gelebt und in den Staaten keine Steuern mehr bezahlt hatte.« »Nun, das ist doch herauszubekommen. Wissen Sie denn, von welchem Volk Ihr Großvater abstammte?« fragte Ron. »Das ist ja das lustige, von den Wampanoag, einem Stamm, der zur Sprachfamilie der Algonkin gehörte. Immer wenn ich mehr über Großvater erfahren wollte, lehnte es mein Dad rigoros ab. Ich solle warten, bis die Zeit reif wäre, dann würde ich es auch verstehen können. Vor einem Jahr fragte ich ihn das letzte Mal danach. Aber er meinte, es wäre noch nicht soweit. Blödsinn war das, hatte ich doch zu dem Zeitpunkt schon längst meine indianischen Erfahrungen durch das Leben bei den Hopi-Indianern erworben. Also, was sollte das. Daraufhin brach der Kontakt zu meinem alten Herrn komplett ab. Eigentlich schade, denn ich liebe ihn. Zuletzt war seine Adresse in Phoenix. Aber ob er dort noch wohnt, kann ich nicht mit Gewißheit sagen.« »Das ist aber nicht gut, Professor, Sie sollten sich mit ihrem Vater wieder aussöhnen. Glauben Sie mir, 364
das ist so wichtig. Ich selbst mache mir im Augenblick auch Sorgen um meine Familie.« »Ich habe so etwas in der Art vermutet. Viel Glück dabei. - Und Lisa? Liebst du sie? Du weißt, daß du vor einer großen Bewährungsprobe stehst. Ich meine, dei ne Familie, dein Bruder, jemand, der hinter dir her ist. Du setzt Lisa auch dieser Gefahr aus, das ist dir doch klar?« »Sicher«, rutschte Ron nervös auf den Boden her um, »und ob ich das weiß. Aber was soll ich tun? Sie einfach in den nächsten Flieger setzen und dann mög licherweise nie mehr sehen? Nein, nein, nur wenn sie selber es will. Ich möchte sie hier bei mir haben, ich liebe sie zu sehr. Und außerdem brennt sie darauf, ge nauso wie ich, hinter das Geheimnis unseres Zeichens zu kommen, das können sie mir glauben.« »Und ihre Eltern in Schweden, glaubst du denn, die machen sich keine Sorgen um sie?« »Schon möglich. Aber Lisa ist 24 Jahre alt und ich denke, erwachsen genug, um eigenverantwortlich zu reisen und zu entscheiden, ob sie hier bleiben will oder doch lieber zurück. Meinen Sie nicht auch?« »Sie ist ein tolles Mädchen, Ron. Ich hoffe, ihr bleibt zusammen.« Navajo-Reservat / Arizona Die Kühle des Morgens war gewichen. Langsam erwachte das Treiben auf den Straßen. Karawanen von Bussen aller Größen gaben sich ein Stelldichein vor den Visitors Centers des Indianerlandes. Und wie an 365
Schnüren aufgereiht schlängelten sich Reitergruppen durch die ursprüngliche Natur, vorbei an Millionen Jahre alten Felsformationen und riesigen SaguarosKakteen. Selbst in der Luft befanden sich in diesem Monat mehr Sportflugzeuge als sonst im Jahr. Dort, wo viele Touristen auf Einheimische treffen, sind Reibereien vorprogrammiert, wußte Little G. Wing, besonders jene Art von Gruppen, die ständig un gefragt in die Dörfer der Indianer eindringen und deren Ruhe stören, geben Anlaß zum Ärger. Auch heute wür de viel Arbeit auf ihn zukommen, war er sich sicher. Doch er gönnte sich noch einige Minuten, blieb in der kleinen Küche seines bescheidenen Hauses am Fenster stehen und sah auf den alten Indianer, der ihm abgewandt an einen Stützpfosten gelehnt stand und in die Ferne schaute. Vor zwei Jahren hatte Little G. Wing angefangen, dieses Haus zu bauen. Das Material hatte er von den Stammesbrüdern bekommen, und die paar Möbel hatte er sich aus Winslow besorgt. Der neue weiße Anstrich ließ das kleine eingeschossige Haus fast fertig erscheinen. In der Küche spielte ein Radio. Ein Tisch und zwei Stühle teilten sich den Platz mit ei nem Herd, einer Spüle und einem großen Kühlschrank. Diesen hatte er sich als erstes gekauft, nachdem sein Haus ans Stromnetz angeschlossen war. Wasser gab es aus einer tiefen Brunnenanlage. Ein schmaler Schrank beherbergte einige wenige Porzellanteller, Schüsseln und Tassen. Aber Porzellan war nicht so nach sei nem Geschmack, schneller und einfacher ging es mit den guten alten Blechtassen. Bilder aus einer Rodeo 366
Zeitung prangten seitlich an einem selbstgefertigten Wandbrett für Notizzettel. An der gegenüberliegenden Wand informierte ein farbiges Plakat, auf dem eine weiße, einmotorige Sportmaschine im Tiefflug den Arizona-Krater überflog, über eine bevorstehende Veranstaltung. Ein fetter Aufdruck: 5. Nov. ’98 stand am oberen Rand, quasi in den Himmel geschrieben. Solch eine Maschine wie die abgebildete war schon lange der Traum von Little G. Wing. Das Plakat bot zudem für den übermorgigen Abend einige Sonderrundflüge über den Krater an. Diese Gelegenheit würde er sich nicht entgehen lassen, das war klar. Träumend starrte er auf das kleine, weiße Flugzeug. Durch die offene Tür trat in diesem Moment der alte Navajo herein, hielt dann inne: »Träumst du wieder? Wo bleibt der versprochene Kaffee?« Es war White Bear, Litte G. Wings Vater. Vor zwei Tagen war er aus dem Krankenhaus Tuba City’s gekommen und mit zu seinem Sohn gefahren, wollte aber in wenigen Tagen wieder in sein Dorf zu rück. White Bear trat an den Tisch und griff nach einer der beiden Blechtassen. »Bitte, Vater, bediene dich«, forderte Little G. Wing den Alten auf, während er sich umdrehte, »der Kaffee ist aber noch sehr heiß, sei vorsichtig!« Er trug seine braune Uniformjacke, dazu eine Jeans anstelle der Uniformhose. Aufnäher an den Ärmeln und der Colt an seiner Hüfte wiesen ihn als Ordnungshüter aus. »Sohn, du weißt, daß viele deiner Stammesbrüder es 367
bis heute nicht verstehen, daß du einen Job der Weißen angenommen hast, deine Brüder ins Gefängnis wirfst, und uns mit allerlei Vorschriften kommst.« »Das sind Vorschriften für euch und für den weißen Mann. Und wenn ich betrunkene Navajos wiederholt aufgreife, landen sie im Gefängnis, genau wie alle an deren auch.« »Aber die weißen Trucker aus Tonalea sind nicht im Gefängnis. Sie zur Rechenschaft zu ziehen, wird wohl nicht gelingen. Niemand zieht aus, verfolgt sie, sperrt sie ein. Selbst die Krankenhauskosten mußte mein Sohn bezahlen, ist das Gerechtigkeit? Wenn schlimme Dinge dem roten Mann zustoßen, interessiert es die Weißen? Nein. Auch die Mörder der beiden Hopi-Indianer lau fen noch frei herum. Wo sind die Polizisten vom FBI geblieben? Ein toter Indianer mehr oder weniger, küm mert es jemand?« Little G. Wing nahm seinen Vater bei den Schultern, führte ihn zu einem Stuhl und bat ihn, sich zu setzen. White Bear folgte, nahm mürrisch seine Tasse und führte sie zum Mund. Sein Sohn lächelte: »Doch, Vater, mich interessiert das. Ich will wissen, wer die Hopi umgebracht hat und warum. Und wenn ich die Befugnis hätte, würde ich den ganzen Tag am Highway 160 Wache halten, bis mir deine Peiniger ins Netz gehen. Doch leider endet mei ne Zuständigkeit außerhalb des Reservats, das weißt du genau.« Der Alte winkte nur griesgrämig ab. Er hatte schon zu oft mit seinem Sohn über das ärmliche Leben der 368
Indianer gesprochen, über die Rassisten und über die Vertreter ihres Stammes, die angeblich auch in seinem Namen der Regierung der USA immer mehr Zugeständnisse machten, wenn es galt, Bodenschätze auf ihrem Land abzubauen. Sie verloren immer größe re Teile ihres Gebietes und erkrankten immer häufiger an den Folgen des ungehemmten Abbaus von Kohle. Wie konnte ihr Stammesrat 1950 nur die Abbaulizenz für Kohle an mehr als zehn Firmen abgeben. Seitdem hatten sie sich immer mehr ausgeweitet zum größten Kohletagebau der USA. Daran konnte sein Sohn auch nichts ändern, damals war er noch nicht einmal gebo ren. Aber er war auch kein richtiger Indianer mehr. Andere Kinder hatten er und seine leider zu früh ver storbene Frau aber nicht bekommen, so war Little G. Wing sein einziger Nachkomme. Und er war ein guter Junge, wußte White Bear, mußte ein wenig schmun zeln, wenn er auch eine heimliche Leidenschaft hatte: die Fliegerei. »Wann willst du eine Familie gründen, Sohn?« White Bear schaute ihn aufmerksam an, »willst du, daß unsere Linie ausstirbt? Ist es wahr, was man hört, daß es da eine junge Navajo-Squaw gibt, die das Herz mei nes Sohnes schneller schlagen läßt?« »Das ist richtig Vater«, antwortete Little G. Wing, »Jimesava heißt sie, und sie lebt drüben bei Winslow. Sie lebt zusammen mit ihrer jüngeren Schwester und ihrem Vater.« »Dann nimm sie zur Frau!« »So einfach ist das nicht«, erwiderte Little G. Wing 369
zögerlich, »sie weiß nicht, daß ich sie mag.« »Dann frag’ sie, ob sie dich auch mag. Geh’ zu ihrem Vater. Handel die Bedingungen für die Heirat aus.« »So geht das heute nicht mehr, Vater. Jimesava ist eine moderne Frau, und sie arbeitet für das Gesetz, ge nau wie ich. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt heiraten will.« White Bear schüttelte den Kopf und ging wieder ins Freie. Was für eine Welt. Die Squaws arbeiten für die Weißen, und wissen nicht einmal, ob sie heiraten wol len.
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KACHINA
04. November ’98
Winslow / Arizona on und Lisa konnten es fast nicht glauben, als sie endlich gegen siebzehn Uhr, Arizona Zeit, das große Hinweisschild ›Winslow‹ an der Interstate 40 entdeckten. Nur noch wenige Meilen und sie würden es geschafft haben, Gottseidank. In den letzten Stunden hatte Lisa mit Clausseés aus drücklicher Zustimmung angefangen, im Wohnmobil etwas aufzuräumen. Seit sie die Grenze zu New Mexico passiert hatten, dabei staunend die Veränderung der Landschaft bewunderten, wurde ihre Stimmung immer besser. Jetzt konnten sie natürlich die Zeit nicht mehr abwarten, bis der alte Freund von Clausseé sie vor seinem Motel begrüßen würde. Schon gestern abend hatte der Professor seinen Bekannten in Winslow an gerufen und ihr Kommen angekündigt. Trucker George war hocherfreut, dem alten ›Knochensammler‹, wie er Clausseé gelegentlich nannte, wieder einmal auf die Schulter klopfen zu können. Als Clausseé endlich verkündete, daß man in zwanzig Minuten wohl dort sein würde, falls keine Polizeisperren sie aufhalten würden, begann Lisa so fort damit, sich im hinteren Teil des Wagens frisch zu machen. Ron hatte derweil nur Augen für die ein drucksvolle Gegend. Selbst Texas saß nun kerzenge rade mit gespitzten Ohren im Mittelgang, wußte wohl,
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daß er gleich Bekannte wiedersehen würde. Als sie Holbrook hinter sich gelassen und die Abfahrt von der Interstate genommen hatten, begann Clausseé, eine Melodie zu summen. Irgendwie schien auch er sich auf ein Wiedersehen mit Trucker George zu freuen oder auf ein erneutes Zusammentreffen mit seinen alten Hopi-Freunden. »Da steht der alte Gauner«, lachte er vergnügt, wink te dem rundlichen Mann an der Einfahrt zu, als er das Wohnmobil ganz gemächlich auf den Parkplatz des George-Motels steuerte. Sie waren angekommen. Über zweieinhalbtausend Meilen Wegstrecke hatten sie hinter sich gebracht und waren durch nicht weniger als elf Bundesstaaten gefahren, staunte Lisa, Mann, wie groß sind doch diese USA. Nacheinander stiegen sie aus. Texas als erster, sprintete gleich los, war außer sich vor Freude, kannte er Trucker George doch als großzügigen Geber von Hundekuchen und sonstigen Leckereien, sprang ihn kurz an und verschwand dann hinter der nächsten Hausecke. »Das sind also Ron und Lisa«, begrüßte George die zwei jungen Leute, »Freunde des Professors sind auch meine Freunde, okay?« Beide nickten, waren angetan von der Herzlichkeit des Trucker George, den sie so um die fünfzig Jahre alt schätzten. Dann fielen er und Clausseé sich um den Hals, begrüßten sich überschwenglich, klopften einander auf die Schultern, 373
boxten und ließen alberne Sprüche los. Trucker George drehte sich zu dem jungen Paar: »Kommen Sie mit, wir gehen jetzt ins Haus, und dort trinken wir zur Begrüßung eine von mir kreierte Spezialität: den Arizona-Tequila, oh yeah.« In dem Lehmziegelhaus, das ein wenig an die Pueblos der hier lebenden Indianer erinnerte, war es angenehm kühl. Die Einrichtung zeigte deutlich den mexika nischen Einfluß im Design der Möbel. Wandfarben, Bilder und Pflanzen waren stilvoll aufeinander ab gestimmt und machten einen durchaus einladenden Eindruck. Sie befanden sich im Gastraum, in dem gegessen, getrunken und Billard gespielt wurde. Songs aus der unvermeidlichen Musicbox erklangen aus einer hinteren Ecke. Draußen waren am Hauptgebäude links sieben kleine separate Apartments angebaut, alle eben falls im Pueblostil. Vor ihnen gab es große Parkplätze für komplette Trucks. Im Augenblick standen außer ihnen keine Fahrzeuge auf dem Gelände. Aber schließ lich war es noch früh, und solange es geht, wollen die Cowboys der Landstraße ›on the road‹ sein. Eine freundliche Mexikanerin führte Ron und Lisa auf ihr Zimmer, während Clausseé und TG, wie Trucker George von allen kurz gerufen wurde, laut grö lend in die Küche verschwanden. Als die Angestellte gegangen war, nahm Ron Lisa in den Arm: »Denken die, daß wir verheiratet sind? Oder warum haben sie nur ein Zimmer für uns vorbereitet?« Lisa lächelte ihn an: »Tja, ich denke, du hast das arrangiert, gib’s zu.« 374
Ron sagte nichts, grinste ein wenig. Clausseé, dachte er, was hast du am Telefon dem Trucker George bloß alles erzählt?
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05. November ’98
Venezuela ndlich war die Verbindung nach Dallas zustandege kommen, und dennoch konnte Jo Burt kaum sein eigenes Wort verstehen. Außerhalb des Containerbüros hatte ein Höllenlärm eingesetzt: Raupenfahrzeuge, Kettensägen und ein Gekreische und Geschrei von tausend Urwaldtieren gleichzeitig. Pünktlich um null Uhr Ortszeit hatten dreißig Arbeiter mit dem Projekt VENPAX begonnen. Jo Burt war vom PAXTON-Boss herübergeschickt worden, um persönlich dem beizu wohnen. Und er sollte den Beginn über Satellitentele fon melden. Doch der Lärm war zu groß. Er wußte noch nicht einmal, ob er überhaupt richtig durchgekommen war. Resigniert legte er wieder auf. Das Sicherheitssignal, das fallenden Bäumen voraus ertönen mußte, war kaum verklungen, da krachte schon der erste Urwaldriese zu Boden. Burt schnappte sich die Taschenlampe und verließ das kleine Büro. Draußen war Hektik pur. Er packte den erstbesten Arbeiter, der vorbeikam, am Ärmel und zog ihn zu sich heran. »Wo sein Vorarbeiter? Sollen sofort kommen. Du verste hen?« versuchte er sich verständlich zu machen. Der Indio nickte und verschwand aus dem Lichtkegel von Burts Taschenlampe. Nur zwei Minuten später stand der Vorarbeiter des Trupps vor ihm, und Burt forderte ihn auf, in genau zehn Minuten für absolute Ruhe draußen zu sorgen, für lediglich fünf Minuten. Dann könnten die Männer sich wieder ins Zeug legen.
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Uhrenvergleich, Bestätigung vom Vorarbeiter. Burt eilte wieder in die provisorische Unterkunft, in der er auch noch bis zum Morgen ausharren mußte. Erst dann würde der PAXTON-Hubschrauber wieder da sein, um ihn abzuholen. Er schaute auf die Uhr, noch drei Minuten... Unterdessen wartete Sir Rymond Lee voller Ungeduld auf den verabredeten Anruf. Er war alleine in seinem Büro. Die elegante Wanduhr zeigte gerade einige Minuten nach zehn. Er stand vor dem großen Fenster und schaute auf das nächtliche Dallas mit seinen lausenden Lichtern, den sichtbaren Beweisen erfolgreicher und aufstrebender Unternehmen, so wie das seine. Die mit Autos gefüllten Straßen spiegelten den Puls der Stadt wieder, die schon lange mehr als nur eine Metropole der Öl-Imperien war. Er selbst besaß eines dieser Unternehmen. Aber er wollte die Nummer eins werden. Und dafür, verdammt nochmal, mußte jetzt langsam der Anruf kommen. Da klingelte das Telefon. Sir Rymond Lee drehte sich um und ergriff den Hörer: »Ja bitte?« »Hallo, Sir, hier ist Jo Burt. Ich sollte Sie doch anru fen, wenn alles angelaufen ist.« »Richtig, mein Lieber. Aber der Anruf hätte schon vor Minuten kommen sollen, wenn ich auf die Uhr sehe.« »Sie haben recht, Sir, ich habe es auch versucht. Aber die Männer haben sich so in die Arbeit geworfen, 377
daß man hier sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte, geschweige denn telefonieren.« Sir Rymond Lee unterbrach: »Von Maschinen höre ich aber nichts, höchstens Vogel- oder Affengekreische. Warum wird da nicht gearbeitet, was ist da los?« »Sir, damit ich Ihnen den Vollzug melden konnte, haben die Männer für fünf Minuten die Maschinen ab stellen müssen. Gleich heulen sie wieder auf. Hier läuft alles nach Plan.« Zufrieden legte Sir Rymond Lee den Hörer wieder auf, blieb für einige Sekunden regungslos stehen. Dann ging er zu seinem Schrank, holte einen Whiskey nebst Glas heraus und schenkte sich ein. Doch bevor er den rauchigen Tropfen genoß, griff er in die Innentasche seiner Jacke und zog eine überlange Havanna heraus. Sie war für diesen Augenblick reserviert und einge steckt worden. Er zündete sie an, nahm genießerisch einen Zug, griff dann sein Glas Whiskey und ging wie der ans Fenster. Warte nur, Dallas, warte nur, schmunzelte er, nicht mehr lange, und ich bin die Nummer Eins in ganz Amerika. Hopi-Reservat / Arizona Nadelwälder, Steppe und bizarre Felsformationen wechselten einander ab. Weidende Ziegen, Schafe, Pferde und Kühe lockerten die überwältigende Weite der menschenleeren Landschaft auf. In dieser Gegend waren Touristenbusse nur selten unterwegs. Mit ge mischten Gefühlen hatten Ron und Lisa sich am 378
Morgen auf den Weg zu den Hopi-Indianern gemacht. Aber zu wem dort sollten sie gehen? Wer war in der Lage, ihnen zu helfen oder überhaupt befugt dazu? Welchen Ort oder welches Haus mußten sie aufsuchen? Zum Glück war Clausseé nach seinem Tequila-Abend mit Trucker George fit genug gewesen, sie zu beglei ten. TG hatte ihnen seinen Pickup überlassen. Am Horizont tauchte endlich ihr Ziel auf: die Mesas. Clausseé erklärte, daß es deren drei gibt, und daß diese Tafelberge schon seit ewiger Zeit die Heimat der Hopi bildeten. Während die alten Siedlungen noch oben auf den Anhöhen angelegt worden waren, baute man später am Fuße der Berge. Sie hielten vor einem großen Hinweisschild, das einige Meter abseits des Straßenrandes in den Boden gerammt stand. Dieses wies darauf hin, daß ab hier das Hopi-Land begann, und daß man sich somit der Verwaltung und Gerichtsbarkeit des hiesigen Stammesrates unterstellte. Ein weiterer Hinweis mach te deutlich, weshalb hier, im Gegensatz zum NavajoGebiet, kaum Touristenfahrzeuge anzutreffen waren: im gesamten Hopi-Reservat herrschte Fotografierverbot. »Was wißt ihr eigentlich über die Hopi-Indianer?« fragte Clausseé, der zwischen Lisa und dem steuernden Ron saß. Beide sahen einander an, zogen die Schultern hoch, dann meinte Ron: »Ehrlich gesagt, eigentlich nicht viel, nur, daß sie Ackerbau betreiben, und in Pueblos leben.« »Und daß man ihnen spirituelle Kraft zuschreibt«, 379
ergänzte Lisa. Clausseé blickte erst Lisa, danach Ron an: »Okay, stell’ den Motor mal ab. Bevor wir weiterfahren, werde ich euch einen Crashkurs in Hopi-Kunde geben. Denn wenn wir nachher auf Stammesangehörige treffen, soll ten wir uns schon korrekt verhalten, vor allem, da wir etwas von ihnen wollen. Das leuchtet doch ein, oder?« Ron fuhr an den staubigen Straßenrand und stellte den Motor ab: »Also, wir sind ganz Ohr.« »Dann aufgepaßt, der Stamm der Hopi gehört mit seinen knapp zehntausend Menschen zu den klei nen Indianervölkern im Südwesten der USA. Dazu kommen noch zweieinhalbtausend die außerhalb der Reservation leben...« »Die Assimilierten?« »Gut, Ron, genau. Es sind jene, die mit der alten Tradition des Stammes gebrochen haben und lieber nach den Regeln des weißen Mannes leben wollen. Die traditionellen Wohngebiete des Stammes, das sind zwölf Dörfer, sind konzentriert auf drei Tafelberge. Schaut mal aus dem Wagen. Da vorne liegen sie, wie drei steinerne Finger einer Hand, die nach Süden zei gen. Übrigens habe ich eine Zeitlang diese Mesas für den beschriebenen Ort der Zusammenkunft gehalten, na, wegen der drei Finger, ihr wißt schon.« Er faltete eine Ortskarte, die er bei ihrer Abfahrt im Handschuhfach gefunden hatte, auseinander und for derte beide auf, sich die eingezeichnete Lage der HopiReservation anzusehen. »Das Hopi-Land liegt ja inmitten der Navajo-Reser 380
vation, ist völlig umschlossen«, bemerkte Lisa erstaunt, »geht das denn gut?« »So leidlich. Die Hopi fühlen sich sicher beengt, umgeben von ungefähr zweihunderttausend Navajos, die dazu nicht wie sie Ackerbauern sind, sondern Viehzüchter, welche vornehmlich mit Schafzucht und Wollprodukten ihr karges Dasein verdienen. Auf der anderen Seite aber wirkt diese ›Umzingelung‹ wie ein Schutz gegen die Außenwelt. Nichts wollen die Traditionellen mehr, als sich den, in ihren Augen verwerflichen, gesellschaftlichen Entwicklungen der Weißen zu entziehen. Ursprünglich war das ganze Navajo-Gebiet auch für die Hopi bestimmt. Aber als es Probleme gab, wurde 1936 ein Drittel des Gebietes, der ›District No. 6‹ ausschließlich zum Hopi-Land erklärt, wo sie in Ruhe ihre lebensnotwendigen Maisfelder anlegen konnten, ohne daß Navajo-Vieh diese vernich teten.« »Dann gehören die kleinen Schafherden, die wir auf dem Weg hierher sahen, den Navajos?« »Ganz genau, Lisa, aber auch die Pferdeherden, an denen wir vorbeikamen. Alles gehört den Navajos. Nun kann man sich natürlich fragen, warum in aller Welt erwählen Menschen sich solch ein trockenes und beinahe fruchtloses Land zu ihrer Heimat? Das liegt in der mythischen Überzeugung der Hopi. Demnach hatte der Große Geist ihnen zu Beginn dieser Welt, nach lan gen Wanderungen, diese Steinwüste als Siedlungsraum zugewiesen, damit sie in Demut und Bescheidenheit leben und arbeiten konnten. Für die Hopi ist dieses 381
Gebiet der drei Mesas der Mittelpunkt der Welt und ein besonders spirituelles Kraftzentrum, mit dem es nach ihrer Auffassung höchstens Tibet als weiteres irdisches Zentrum spiritueller Kräfte aufnehmen kann. Manche ihrer Dörfer auf den Berggipfeln ähneln tatsächlich tibetischen Klöstern, auf halbem Wege zwischen Erde und Himmel. Traditionelle Hopi verstehen sich auch heute noch als Hüter des Landes. Und da ihrem Land eine so zentrale Stelle auf der ganzen Erde zukommt, auch als HÜTER DER ERDE.« Clausseé machte eine Pause, erwartete Fragen, aber nichts dergleichen kam. Ron und Lisa hörten einfach nur zu. Ein Toyota-Rover mit zwei Insassen näherte sich ihnen, blieb dann vor dem Pickup stehen. Ein älterer, sichtlich besorgter, aber freundlicher Indianerpolizist kam zu Rons heruntergekurbelter Seitenscheibe und ersuchte ihn sehr höflich, nicht auf der Straße zu pau sieren. Gleichzeitig fixierte er die blonde Frau und den Mann in der Mitte. Dann begann er zu lachen: »Mister Arnim Clausseé, ich glaub’ es nicht.« Clausseé schaute genauer, dann huschte auch ihm ein Lächeln übers Gesicht: »Adam Fox, hey, wie geht es dir? Was macht deine Tochter? Ist sie immer noch so hübsch? Ist sie das im Wagen?« Er beugte sich zum Fenster und winkte zum Toyota hinüber. Der Polizist nahm seine Sonnenbrille ab und steckte sie in die Hemdtasche: »Ja, sie ist noch hübscher gewor den. Fast zu hübsch für den Job als Indianerpolizistin. Was machst du hier mit den beiden? Wollt ihr die 382
Hopi besuchen? Dann müßt ihr nach Hotevilla. Die Dorfältesten wollten sich heute dort treffen.« »Alle Kikmongwis in Hotevilla? Ist etwas pas siert?« »Glaubst du, einem Navajo werden sie das auf die Nase binden? Ich nehme an, es hat wieder mit dem Kohleabbau zu tun. Es sind in letzter Zeit wieder einige ihrer Stammesmitglieder erkrankt, hörte ich. Vielleicht geht es auch nur um das Wúwuchim, ihre erste große Winterzeremonie, die sie traditionsgemäß im November abzuhalten pflegen. Nun sage schon, bist du auch wegen dieser Zeremonie hier oder willst du je manden besuchen? Ich tippe auf Dan Datchongvi vom Bärenclan, stimmts?« Clausseé schmunzelte: »Genau erkannt, Adam Fox, zu meinem alten Freund und Bruder wollen wir. Der lebt doch noch in Oraibi?« »Wo sonst, lieber Clausseé, wo sonst. Gute Fahrt, und nicht fotografieren. Bis bald.« »Alles Gute und grüß’ Jimesava von mir.« Adam Fox setzte sich wieder in seinen Wagen und mit einer großen Staubwolke verschwanden er und sei ne Tochter so plötzlich, wie sie gekommen waren. »Professor, meint er dasselbe Oraibi, von dem Rons Ururgroßvater in seinem Tagebuch geschrieben hat, dort, wo er das Zeichen an der Wand eines der Pueblos entdeckte?« »Davon gehe ich aus. Neu-Oraibi ist schließlich um einiges später erbaut worden. Aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei den ›Hütern der Erde‹. Viele 383
ihrer religiösen Zeremonien finden auf den zentra len Plätzen der Dörfer statt, einige allerdings in den Kivas, den unterirdischen Zeremonialräumen. Nur die auf den Marktplätzen stattfindenden Zeremonien und Tänze sind auch für weiße Besucher offen, doch ist jede Form von Aufnahme oder Aufzeichnung seit 1910 strengstens verboten. Ihr könnt mir glauben, es ist schon ein eindrucksvolles Erlebnis, hoch auf einer Mesa zu stehen, den Blick über das endlos weite Land streifen zu lassen und sich dann einem hochreligiösen Zeremoniell maskierter Tänzer zuzuwenden, die einen ganzen Tag lang unentwegt ihre Gebete dramatisch darstellen und dabei mit ihren dumpfen Stimmen, ih ren Rasseln und Trommeln die Geräusche der erflehten Naturerscheinungen wie Regen, Wind und Donner nachahmen. Die Tänzer stellen die Geistwesen der Hopi, die Kachinas, dar. Das sind jene Wesen, die der Überlieferung nach vor vielen hundert Jahren zu ihnen gekommen sind, um sie zu ihrem Volk zu er wählen, und die ihnen die Aufgabe übertrugen, über die Erde zu wachen. Sie lehrten ihnen die friedfer tige Lebensweise, den Ackerbau und manche hand werkliche Kunst. Der Name ›Hopi‹ bedeutet in ihrer Sprache etwa ›die Friedfertigen‹, bezeichnet also ur sprünglich und bis heute eine ethische Qualität und wird von den Menschen dieses Volkes durchaus als Lebensinhalt empfunden. Sie teilen sich in Clans auf, von denen die wichtigsten der Bären-, der Papageien-, der Dachs-, und der Adlerclan sind. Aber es gibt noch viele weitere Clans. Und viele dieser Clans haben 384
ganz spezielle Aufgaben von ihren Göttern erhalten. Es ist jedenfalls nicht verwunderlich, daß die Hopi wahrscheinlich das am meisten von Völkerkundlern studierte und untersuchte indianische Volk sind. Auch ich habe schließlich eine ganze Zeit bei ihnen gelebt. Was uns Anthropologen und Ethnologen am meisten fasziniert, sind ihre, von den Kachinas mitgeteilten, Prophezeiungen über die Zukunft der Welt an die Menschheit. Bis jetzt hört leider niemand ernsthaft hin von den großen Regierenden der Erde.« Der Professor schlug sich auf die Schenkel, atmete einmal tief durch: »So, ich meine, das reicht. Für’s erste wißt ihr genug von den Leuten, die wir besuchen wollen. Los, Ron, fahr’ weiter. Bis Oraibi ist es noch ein ganzes Stück.« Dan Datchongvis Flachbau fanden sie auf Anhieb. Unterwegs hatte Clausseé noch das eine oder andere Wissenswerte zur Lebensweise der Hopi erzählt, von den Wanderungen der Clans und wie die Traditionellen mit ihren jungen Stammesmitgliedern umgehen, wenn diese den Wunsch hegen, einmal die Welt da draußen kennen zu lernen. Als sie ausstiegen, lag eine seltsame Ruhe in der Luft, eine Spannung, die auch von der Freundlichkeit des sonnigen Tages nicht verdeckt werden konnte. Clausseé schaute sich um. Wo waren die Kinder, die sonst hier überall anzutreffen waren? Wo waren die Frauen, die gewöhnlicherweise ihr Tagwerks vor ihren Behausungen erledigen? Er ging nochmal zum Wagen, 385
holte seine Tasche, die er mit auf diese Fahrt genom men hatte, heraus und signalisierte den anderen, ihm ins Haus zu folgen. Nachdem auf sein Klopfen nicht reagiert wurde, betraten sie das ebenerdige, schlicht gebaute Haus, das aus mehreren Teilen bestand: der eindeutig ältere Teil war aus Sandstein erstellt, zwei neuere Zubauten aus verputztem Mauerwerk und billigen Holzpreßplatten. Trat man ein, stand man so fort in der Küche. Propangasherd, Kühlschrank und Spüle mit kaltem und warmem Fließwasser, wie die zwei Zuleitungen vermuten ließen, zeigten einen ge wissen Komfort. An dem großen Holztisch, standen zwei Bänke, seitlich an der Wand ein grob geschrei nerter Schrank. Niemand schien im Haus zu sein, denn auf Clausseés wiederholtes Rufen gab es keine Reaktion. Mit einem ›Moment mal‹ ging Clausseé den schlauchartigen Verbindungsgang entlang, der zu drei Schlafräumen und zu Bad und WC führte, doch es war klar, sein alter Freund Dan Datchongvi war nicht zu Hause. Hatte er als Dorfältester auch zu dieser Versammlung gemußt, von der Adam Fox er zählte? Aber zumindest wären doch sein Sohn oder seine Schwiegertochter mit den Kindern da, wie so oft, wenn er weg mußte, wieso war heute alles verwaist? Clausseé kam zurück in die Küche, in der Ron und Lisa gewartet hatten. Der Küchenraum selbst war Teil eines größeren Raumes, in dem rechts eine alte Bettbank und links eine Kommode mit Schreibmaschine, Kassettenrecorder und einem grünen Telefon stand. Ein schäbiger, postkartengroßer Bilderrahmen stand 386
neben dem Telefon. Er zeigte ein älteres Foto, auf dem Dan, sein Sohn Tom und eine weitere Person abgebildet war. Das Gesicht dieses Mannes war nicht zu sehen, da genau hier eine Ecke von dem Foto abge rissen worden waren. Neben dem Rahmen fanden sich noch viel bedrucktes Papier, einige Briefe und Bücher. Über der Kommode schmückte eine Kürbisrassel und ein geflochtener Korbteller die Wand, ebenso zwei Plakate von farbenprächtigen Indianertreffen und ein kunstvoll gefertigter Wandteppich. Am Boden lag über dem Linoleum ein alter, abgetretener Teppich. Alles wirkte sehr einfach, bescheiden, aber gepflegt. Durch die offene Tür eines Nebenraumes sahen sie ein uraltes Schwarzweißfernsehgerät, ein Bett und eine kleine Anrichte. Es war das Gästezimmer, in dem auch Clausseé schon viele Male gewohnt hatte. Er betrat es, ging zu einem der beiden Schiebefenster und schau te hinaus auf den Ballspielplatz des Kindergartens. Merkwürdig: auch dort spielte nicht ein Kind, nicht eine Menschenseele war zu sehen. »Ich glaube, wir sind heute zu einem ziemlich ungünstigen Zeitpunkt gekommen, Freunde«, sagte Clausseé, als er sich am Kopf kratzend daran machte, seine drei Dosen Kaffee aus der mitgeführten Tasche zu holen und sie auf den Küchentisch zu plazieren. Er sah die verdutzten Gesichter der beiden jungen Leute: »Das ist Dans Lieblingskaffee, müßt ihr wissen. TG hat ihn mir heute morgen für Dan mitgegeben. Wenn mein Hopi-Freund diesen Kaffee entdeckt, weiß er gleich, wer hier war, ganz sicher.« 387
»Ja, sollen wir denn nicht warten?« fragte Ron etwas enttäuscht, »immerhin war das eine lange Tour hierher und vielleicht kommt er gleich ja noch?« Clausseé stellte sich in den Türrahmen, schaute nach draußen: »Glaub’ ich nicht. Seht ihr irgendei ne Person, einen Erwachsenen oder ein Kind hier im Umkreis von fünfhundert Metern? Nein? Dann findet eine außergewöhnliche Versammlung oder eine der Herbstzeremonien in einem der anderen Dörfer statt. Oder das Fest ist von solch großer Bedeutung für die Hopi, daß sie alle zu einem ihrer heiligen Ritual- und Tanzplätze gezogen sind. Dan kommt vorerst nicht. Aber dafür kriegen wir anderen Besuch, seht dort!« Er deutete den Weg hinunter, den auch sie gekom men waren. An der Lichtanlage auf dem Dach des Fahrzeugs wußten sie, daß sie gleich erneut mit ei nem Indianerpolizisten zusammentreffen würden. Hinter dem Wagen kam ein zweites Fahrzeug aus der Staubwolke zum Vorschein. Es war ein alter Ford mit offener Ladefläche. Clausseé schlug vor, schnell das Haus zu verlassen und bei ihrem Wagen auf den Indianerpolizisten zu warten. Millionen rötliche Staubpartikelchen wirbelten auf, als die heranbrausenden Wagen mit scharfer Bremsung vor ihrem Fahrzeug zum Stehen kamen. Es war wieder Adam Fox, jetzt ohne seine Tochter. Clausseé wußte, daß Adam, ein Navajo, sich nur selten und dann mit triftigem Grund in die Dörfer der Hopi verirrte, und dann hatte es zumeist einen dienstlichen Grund. Aber jetzt kam er nicht allein. Zwei Indianer in karierten 388
Hemden, die den Ford steuerten, waren bei ihm. Den einen erkannte Clausseé als Tom, Dans Sohn, den an deren Indianer hatte er noch nie gesehen. Als sie näher kamen, verhießen ihre finsteren Mienen nichts Gutes. »Hey, Tom, grüß’ dich«, ging der Professor mit weit ausgestreckten Armen so freundlich er konnte, auf den jungen Hopi zu, »Mann, freue ich mich, dich zu sehen. Hey, Adam Fox, du hier oben, im Hopi-Reservat?« »Ihr müßt hier verschwinden. Sofort«, forderte Tom Datchongvi sie auf, »ihr seid hier heute nicht willkom men.« Clausseé machte ein erstauntes Gesicht, lächelte da bei: »Tom, Adam, Leute - ich bin’s, euer Freund.« »Ganz gleich, wer du bist«, erwiderte Tom Datchong vi, »heute darf niemand hier oben auf der Mesa sein. Habt ihr unterwegs vielleicht Hopi-Stammesmitglieder gesehen, Männer, Frauen oder Kinder? Natürlich nicht. Sie sind heute alle weg von diesem Tafelberg, weil sich die Ältesten am heiligen Ort Tukunavi aufhalten. Letzte Nacht ist das Zeichen für die Erfüllung der gro ßen Prophezeiung erkannt worden. Einen ganzen Tag lang darf nun niemand außer einem des Ältestenrates hier herkommen. Also verschwindet.« »Die große Prophezeiung?« wurde Clausseé hellhö rig, »Meint ihr, die des Kosmischen Rates? Ich denke, das ist nur eine alte Legende?« Tom schaute ihn an, schüttelte kaum sichtbar mit dem Kopf. Der Professor sah aber die Kopfbewegung, zischte nur: »Na, dann Mahlzeit, wenn es stimmt.« 389
Lisa hatte den letzten Wortwechsel nicht genau mit bekommen, egal. Sie ging einige Schritte auf Tom zu und begrüßte ihn: »Hallo, ich bin Lisa und das ist Ron. Es ist eigentlich unsere Schuld, daß der Professor und wir hier oben sind. Wir möchten nichts weiter, als ei nem alten Stammesmitglied eures Volkes ein Zeichen vorlegen, das wir in Europa entdeckt haben. Da es ein indianisches Zeichen sein soll, hatten wir gehofft, hier ein Hinweis über die Bedeutung dieses Zeichens zu erfahren.« »Heute nicht, vielleicht ein anderes Mal. Fahren Sie bitte! Kommen Sie morgen wieder, dann können wir reden und die Stammesältesten werden dann auch da sein.« »Leute, fahrt jetzt bitte«, drängte sich nun Adam Fox nach vorne, »ihr hört doch, ihr sollt ein anderes Mal wiederkommen.« Jetzt erst bemerkte Ron, daß der Begleiter von Tom ein abgesägtes Gewehr am langen Arm hinter seinem rechten Bein versteckt hielt. Die meinen es ernst, schoß es ihm durch den Kopf: »Okay, Lisa, lassen wir das«, raunte Ron, und er zerrte sie ein Stück zurück, »los wir fahren wieder. Wenn wir unerwünscht sind und heute doch nichts über das Zeichen in Erfahrung bringen, probieren wir es ein anderes Mal, okay?« Lisa und auch Clausseé wußten, daß Ron recht hatte und so stiegen sie unverrichteter Dinge wieder in ihr Fahrzeug, wendeten und fuhren unter den Augen der drei Männer aus dem Dorf. Im Rückspiegel sahen sie, wie auch der Indianerpolizist und die zwei Hopi ihre 390
Wagen bestiegen und ihnen in einigem Abstand folg ten. Clausseé schaute immer wieder nach hinten, spähte durch das kleine Rückfenster des Pickups. Dann dreh te er sich wieder nach vorne und murmelte: »Nicht zu glauben, ein Navajo und zwei Hopi verbrüdern sich gegen uns Weiße«, und nach einer Weile fügte er hinzu, »ich würde gerne wissen, was da letzte Nacht vorgefallen ist, daß der komplette Hopi-Stamm sich so nervös verhält. Das hat ganz sicher nichts mit dem Wúwuchim-Fest zu tun!« Die Sonne des frühen Nachmittags ließ die rotbraune Felsenlandschaft um diese Zeit förmlich aufleuchten, so daß Ron, als er wieder das Ortsschild von Winslow ausmachen konnte, sich spontan entschied, mit Lisa ei nen Abstecher zum berühmten Arizona-Krater zu ma chen, vorausgesetzt, TG würde ihnen den Pickup auch für den Rest des Tages überlassen. Das Wohnmobil brauchte Clausseé selber. Er wollte heute noch nach Flagstaff zum Historischen Museum fahren, um dort einen alten Kumpel zu besuchen. Zunächst wollte er aber wissen, ob sich Trucker George und Texas wäh rend ihrer Abwesenheit gut vertragen hatten. Aber da war er sich fast sicher. Der Arizona-Krater bot ein eindrucksvolles Bild, nicht nur für den, der zum erstenmal in dieses riesige Loch hinabblickt. Mit seinen über tausendzweihundert Metern Durchmesser wird den Betrachtern bewußt, mit welcher ungeheuren Kraft schon ein Meteor von nur relativ geringer Größe auf die Erde schlägt. Da 391
die Fläche kilometerweit um den Krater sehr eben ist, wirkt dieser Beweis für die Verwundbarkeit des Planeten besonders deutlich. Weil sich nun aber der Krater aus der Luft außerordentlich intensiv erleben läßt und sich viele Touristen mit Sportflugzeugen über dieses Naturschauspiel fliegen lassen wollen, hatte der Aeroclub von Winslow vor zehn Jahren zum ersten Mal einen speziellen Flugtag ins Leben gerufen. Den ganzen Tag lang werden Flugshows, Kunstflugeinlagen und Fallschirmsprünge auf der Ebene unweit des Krater randes vorgeführt. Gerne werden diese Darbietungen in alten, historischen Flugzeugen demonstriert. Ab dem frühen Abend können die Besucher dann zu er mäßigten Preisen Rundflüge über Winslow und den Krater buchen. Wenn nämlich die tiefstehende Sonne die Hälfte des großen Einschlags in Schatten taucht, ist das Licht besonders schön. Zu diesem Flugtag sind jedes Jahr viele tausend Besucher anwesend, und man erwägt ernsthaft, demnächst dieses Spektakel vom bis herigen Donnerstag auf ein Wochenende zu legen und dann zwei Tage dauern zu lassen. Die Erlaubnis des Bundesstaates Arizona fehlt allerdings noch. Das Veto für derlei Anträge kommt in der Regel von den Militärs, die in diesem und angrenzenden Bundesstaaten eine ganze Reihe von militärischen Einrichtungen unter halten und große Gebiete als Testgelände nutzen. Neugierigen Fotoreportern soll nicht unbedingt die Gelegenheit geboten werden, solche Tage für irgend welche Dummheiten zu nutzen. Und schon wieder startete ein Junkers, Baujahr 392
1952, mit zwölf Fluggästen an Bord. Unter ihnen war auch Little G. Wing. Er trug Zivil. Seine Kollegen von der Navajo Tribal Police kannten Little G. Wings Begeisterung für die Fliegerei und hat ten zugestimmt, ihm heute Abend freizugeben, auch wenn im Hopi Reservat irgend etwas Beunruhigendes vorging. Nein, wenn Flugtag in Winslow war, durfte man dem Indianer aus Sunrise nicht mit Polizeipflichten kommen, oh nein. Etwas traurig war er dennoch: J.B., seine Kollegin, die er so gerne zur Flugshow mitge nommen hätte, bekam, eben wegen der Hopi, kein frei. Dabei wollte er ihr etwas Wichtiges sagen. Schade. Die Ju 52 drehte mit ihren alten Dieselmotoren eine erste Runde über den Platz und schwenkte dann ab, Richtung Meteoriten-Einschlag, gefolgt von den Blicken unzähliger Besucher. Der Zahl der noch wartenden Mitflieger nach, wür den die Rundflüge noch weit bis in die Dämmerung dauern. Das meinte auch Trucker George, der sich letztlich doch hatte überreden lassen, mit zur Flugshow zu kommen. Er deutete auf die vielen Menschen am Kassenhäuschen, die alle noch ein Flugticket erwerben wollten. Vor Minuten waren er, Ron und Lisa einge troffen, und nun schlenderten sie zwischen den alten Flugzeugen aus dem ersten und zweiten Weltkrieg hin und her. »Wo liegt eigentlich der Krater, von hier aus ge sehen?« fragte Lisa und drehte sich einmal um ihre Achse, »ich kann ihn nirgends entdecken.« »Das ist richtig. Man kann ihn von hier aus wirk 393
lich nicht sehen, weil wir uns auf völlig flachem Wüstenterrain befinden. Aber nur einige hundert Meter in die Richtung dort, wo Sie am Himmel das kleine Flugzeug erkennen, befindet sich der Krater.« TG war oft genug mit dem Wagen bis unmittelbar an den Rand herangefahren, er kannte sich aus. »Trucker George, ist es auch möglich, zu Fuß bis zum Rand des Kraters zu gelangen? Oder ist dort alles eingezäunt?« »Nein, keine Zäune, Lisa. Nur geradeaus laufen, dann fallen Sie direkt hinein, ha. Aber passen Sie auf die Klapperschlangen und Skorpione auf, wenn Sie tatsächlich zu Fuß dorthin gehen wollen. Die sind ver flucht gefährlich.« Dann stupste sie Ron an: »Du willst doch nicht etwa auch mitfliegen?« »Wäre nicht schlecht. Aber, äh, nein.« »Dann gehst du aber mit mir zum Rand des Kraters. Los, ein kleiner Spaziergang täte auch dir gut.« Ron ließ sich ohne große Diskussion überreden. Sie sagten TG Bescheid und marschierten los. Dieser hatte schon längst einige Bekannte in der Menge der Leute entdeckt, die auf die nächsten Starts warteten. Nach einer halben Stunde standen sie am Rand des Kraters und bekamen den Mund nicht mehr zu. »Mann, was für ein Einschlag, schau nur, Lisa«, Ron war überwältigt, »mindestens hundert Fotos aus allen Höhen und Blickwinkeln habe ich schon gesehen. Und ich wußte, daß er riesig sei. Aber so, live, direkt davor, ist der Krater ja noch viel imposanter.« 394
Sie stiegen die ersten paar Meter hinein, nur so, um drin gewesen zu sein, und setzten sich dann auf einen großen, groben Stein, der sich als Sitzbank geradezu anbot. Sie mußten etwas blinzeln, denn die tiefstehende Sonne erhellte genau den östlichen Innenbereich des Kraters. Der größte Teil lag bereits im Schatten. »Ich habe gelesen, daß dieses Loch durch den Einschlag eines nur dreißig Meter dicken Meteors ent standen sein soll. Das ist schon gewaltig.« Sie lehnte sich zurück und beobachtete die alte Ju, die ihre letzte Runde gedreht hatte und sich jetzt auf den Rückflug zum Festplatz begab. Ron versuchte unterdessen, die Entfernung zum Kraterboden abzuschätzen. Keine Chance. Gingen dort unten Menschen oder Pferde herum, oder stünde da ein Jeep, ein Haus oder ähnliches, ja dann hätte 395
man Anhaltspunkte, aber nur Gesteinsbrocken waren zu wenig. Dann schaute er Lisa an, wie sie da saß, das rechte Bein angewinkelt auf den Sitzstein gestellt, von beiden Händen in Kniehöhe umschlossen. Den Kopf hatte sie jetzt in den Nacken geworfen, die Augen ge schlossen. Sie genoß die letzten warmen Strahlen der späten Sonne. Ron tat’s ihr nach. Auch er lehnte sich nach hin ten, stützte sich mit den Unterarmen auf dem Stein ab. Seine Augen waren ebenfalls geschlossen. Dann spürte er einen leichten Druck gegen seine rechte Schulter. Er wußte, daß es Lisa war, die sich zärtlich an ihn schmiegte. Er sagte nichts, wußte, daß sie die se neuen Eindrücke genoß, sich nicht stören ließ vom Motorengeheul der historischen Maschinen und vom Lärm der Flugshowbesucher. »Ron?« »Ja, Lisa.« »Was wird, wenn das alles vorbei ist?« Er zögerte, überlegte, wie er antworten sollte. Er wollte nichts Unbedachtes sagen. »Ron, was ist, wenn wir zurück nach Camden kön nen? Weißt du, wie es dann weitergeht?« Lisa behielt bei ihren Fragen weiterhin die Augen ge schlossen. Noch immer lehnte sie an Ron. Auch er saß immer noch bewegungslos auf seine Arme gestützt. »Was meinst du, soll ich in den Staaten bleiben?« Jetzt drehte er den Kopf zur Seite, blinzelte. »Du meinst für immer?« »Warum nicht?« 396
»Und deine Eltern, dein Studium und das alles?« Nun blinzelte auch sie ihn an, legte ihren Kopf auf seinen Oberarm und flüsterte: »Ich liebe dich.« Da dröhnte eine Spitfire mit ohrenbetäubendem Getöse im Tiefflug in den Krater, wurde dann steil nach oben gezogen und verschwand mit einem gekonnten Looping in westliche Richtung. Der Pilot hätte sich wirklich keinen unpassenderen Augenblick für seine Flugdemonstration wählen können. Ron hätte doch froh sein können über diese Flugnummer, hätte Zeit für eine überlegte Antwort gehabt. Aber er war nicht froh, brauchte keine Antworten zu konstruieren. Er drehte seinen Kopf zu ihr, streichelte ihr Gesicht: »Lisa, ich wünsche mir nichts mehr, als daß du hier bei mir bliebest, für immer. Aber ich habe ein wenig Angst um dich, um uns. Was ist, wenn Inspektor Lasino nichts herausbekommt? Sollte der Täter irgendwie erfahren, daß er meinen Bruder anstatt mich getroffen hat, wird er es dann nicht nochmal versuchen?« Er legte den Arm um ihre Schulter, küßte zärtlich ihre Schläfe. Sie schaute ihm lange und tief in die Augen. Dann seufzte sie: »Ich weiß, du hast da eine Menge Probleme: Der unbekannte Verfolger, dein verletzter Bruder, dei ne Familie. Und jetzt komme ich auch noch und will bei dir bleiben, als wenn das andere nicht schon genug wäre. Vielleicht hast du recht, und ich sollte bei der nächstbesten Gelegenheit wieder...« »Sprich nicht weiter, bitte!« Ron legte seinen Finger auf ihre Lippen, »du sollst das nicht sagen. Ich will ja gar nicht, daß du gehst. Im Gegenteil. Ich glaube, 397
was meine Familie angeht, werde ich es nur mit dei ner Hilfe schaffen, die Millar-Dickköpfe zusammen zu bringen. Es ist nur...«, er zögerte, »ich könnte es nicht verkraften, wenn du durch mich ebenfalls in die Schußlinie des Schießwütigen gerätst, und dir dann et was Schlimmes passierte.« Lisa zog keck an seiner Nase: »Kindskopf, mir ge schieht schon nichts. Aber ich sage dir etwas: erst brin gen wir hier die ›Zeichen-Angelegenheit‹ bei den Hopi ganz schnell in Ordnung. Dann kümmern wir uns um deine Familie. Clausseé verhelfen wir nebenbei zu sei nem sensationellen Wikingerbeweis mit dazugehöriger Reputation. Dann helfen wir der Polizei, den Täter zu fassen - und dann nehmen wir uns zusammen eine Wohnung, ist das okay?« Beide mußten schmunzeln. »So, wir sollten wieder gehen. Schau, wir sitzen mittlerweile selbst schon im Schatten. Die Sonne geht jetzt aber ziemlich schnell unter, finde ich, und Trucker George wird sicher schon auf uns warten.« Sie nickte zustimmend, stand auf, und dann kletter ten sie wieder zum Kraterrand hoch. Auf dem Rückmarsch nahm er sie an die Hand. Diese Hand würde er nie mehr loslassen wollen. Der Besuch der Eltern bei Bob im Krankenhaus fiel ihm ein, und daß beide sich an den Händen gehalten hatten. Die Ju hatte erneut zwölf Passagiere an Bord genom men und war wieder zum Krater unterwegs, wie schon zwölf Mal an diesem Tage. Es war der letzte Rundflug. Die Sonne war bereits weg, und es wurde allmählich 398
dunkel. Von weitem konnten sie schon sehen, daß sich der Platz inzwischen sehr geleert hatte. Die Flugeinlagen waren beendet worden. Auch die wilde Spitfire stand wieder neben den anderen Veteranen der Lüfte. Dann sahen sie Trucker George. Er stützte sich auf die Theke eines der zahlreichen Bierstände und unterhielt sich mit einem Indianer in Jeans und hellem Oberhemd, der einige Prospekte in der Hand hielt. Als auch TG die beiden näher kommen sah, kam er einige Schritte auf sie zu: »Key Ron, Lisa, darf ich Ihnen jemanden vorstellen, dessen Vorfahren einst die Besitzer des ganzen Gebietes hier waren?« Er führte sie mit zum Ausschankwagen: »Das ist Little G. Wing. Er ist von der Navajo Tribal Police, die für das gesamte Reserva tionsgebiet zuständig ist. Little G. Wing, das sind Ron und Lisa. Lisa kommt aus Europa.« »Hi, freut mich«, Lisa reichte dem Mann mit den schulterlangen, schwarzen Haaren die Hand, lächelte ihn an. »Hallo, willkommen in Arizona«, entgegnete Little G. Wing höflich. Auch Ron begrüßte TGs Bekannten. Obwohl er Amerikaner war, hatte er noch keinem echten Indianer die Hand geben können: »Dann sind Sie sicher ein Navajo!« »Absolut richtig, mein Vater, White Bear, war noch Häuptling, oder besser, Stammesältester, bis vor we nigen Jahren. Ich bin jetzt auch so eine Art Häuptling. Ich muß meine Stammesbrüder in Zaum halten, damit 399
sie nicht über die Stränge schlagen, oder sie vor zuviel touristischer Neugierde schützen, wie man will. Beides passiert leider viel zu häufig.« TG hatte noch zwei Biere bestellt und reichte sie Ron und Lisa, murmelte so etwas wie: »Auf den schö nen Abend, Skol.« »Skol«, erwiderte Lisa überrascht über soviel Sprachkenntnis und prostete auch Ron und Little G. Wing zu. »Wie meinen Sie das: vor zuviel touristischer Neugierde schützen? Leben die Indianer denn nicht von den Touristen und verkaufen sie nicht ihren selbst gefertigten Schmuck an diese?« Der Indianerpolizist nahm einen Schluck aus dem Glas, schaute dann Ron an: »Ach wissen Sie, bei mei nen Stammesbrüdern mag das ja richtig sein. Aber wir haben hier auch noch den District Nr. 6. Und da ist seit dem Tod zweier Stammesmitglieder ganz schön Unruhe.« »District Nr. 6, das spezielle Gebiet der Hopi, das inmitten der Navajo-Reservation liegt?« »Sie sind ja gut informiert, Ron, ja, dort leben jetzt nur noch die traditionellen Hopi, und die halten vom Touristenrummel nun mal nichts. Vorher teilten sich die Navajos und die Hopi das Land. Aber das gab Probleme, weil die Hopi Maisbauern und die Navajos Viehzüchter sind. Man kann sich vorstellen, daß die Felder der Hopi nicht nur einmal vom Vieh des viel größeren Nachbarstammes zerstört worden sind.« Ron nickte: »Wir hörten davon. Hat der Tod der 400
Männer denn etwas mit dem Stammeszwist zu tun, ich meine mit dem Vieh und den Feldern?« Trucker George mischte sich ein: »Die Toten wa ren Hopi-Indianer«, tat er ganz geheimnisvoll, »und auch noch zwei Weiße hat man gefunden, in der Nähe von Tukunavi und einen der beiden Indianer bei den Wupatki Ruins.« »Wo?« »Wupatki Ruins, das sind die Reste einer prähisto rischen Indianersiedlung, von den Anazasi, soviel ich weiß. Und die Morde sind noch nicht aufgeklärt, oder doch schon, Little G. Wing?« Der Indianerpolizist reagierte gelassen: »Nein, noch nicht. Aber die seltsame Unruhe und die abweisende Haltung der Hopi liegt meiner Meinung nach nicht nur daran. Da muß noch etwas anderes im Spiel sein. Ich werde es auch noch heraus bekommen.« Lisa schaute den Indianer an: »Diese Gereiztheit und Anspannung haben wir gespürt, und daß man auf den Mesas im Moment wohl nicht sehr willkommen ist«, sie drehte ihren Kopf zu Ron, »dabei wollten wir doch nur eine Auskunft, stimmt’s, Ron?« »Genau«, bestätigte er, »und, obwohl wir einen Hopi-Freund bei uns hatten, wurden wir vertrieben. Außerdem war Oraibi menschenleer, als wir gegen Mittag dort waren.« Little G. Wing stutzte, bekam große Augen: »Sagen Sie nicht, Prof. Clausseé ist wieder im Lande?« Er wunderte sich, daß TG ihm davon noch nichts erzählt hatte. »Aber sicher. Und er war es, der uns begleitet hatte. 401
Dann kam einer Ihrer Kollegen, zusammen mit zwei Hopi. Ich nehme mal an, daß es Hopi waren. Jedenfalls haben sie uns dann unmißverständlich fortgeschickt.« »Ha, der Kollege war bestimmt Adam Fox.« »Ja, richtig, so hieß er«, bestätigte Lisa, »aber woher kennen Sie Prof. Clausseé?« Little G. Wing stellte sein Glas auf die Theke, ließ seinen Blick über den Platz gleiten, der jetzt immer leerer wurde, schaute dann TG an, bis beide lachen mußten: »Hey, Miss, den kennt hier doch wohl wirk lich jeder, nicht wahr, Trucker George?« Der Gefragte nickte nur und lachte weiter. Ron und Lisa verstanden nicht, weshalb der Name ihres Freundes so viel Erheiterung auslöste. »Entschuldigung«, sagte Little G. Wing, »aber euer Freund, der übrigens auch unser Freund ist, versucht doch tatsächlich zu beweisen, daß ein Teil des Wissens meiner ›wilden Vorfahren‹ von den Wikingern aus Europa stammt, unglaublich, nicht? Aber sonst ist er ein feiner Mann, bestimmt!« »Und ob«, lachte TG, »und der erste, der meinen speziellen Arizona-Tequila richtig zu würdigen wußte. Und er nimmt die Indianer ernst. Oh, ja, er war im mer schon interessiert an Riten und Gebräuchen der Navajos und der Hopi-Indianer.« »Kein Wunder«, antwortete Lisa, welche die Erheiterung über Clausseé nicht verstehen konnte, »in seinen Adern fließt schließlich doch auch indianisches Blut.« »Was sagen Sie da?« Little G. Wings Lachen wich 402
einem Lächeln, »Clausseé, ein Indianer?« Auch TG schaute verdutzt. »Ja, wußten Sie das denn nicht? Sein Urgroßvater stammte direkt von den Wampanoag ab, einem Stamm, der zur Algonkin-Sprachfamilie gehörte«, ergänzte Lisa, die überrascht war, daß dieser Tatbestand neu für TG und Little G. Wing sein sollte, »hatte er Ihnen nie davon erzählt?« »Nein, mir nicht, dir, Little G. Wing?« »Kein Wort. Der Clausseé ein Indianer, oder besser, Halbindianer? Nicht möglich, danach sieht er aber nun wirklich nicht aus. Aber wenn das so ist, erklärt das auch sein Interesse an den Ureinwohnern dieses Landes. Aber ich kann es immer noch nicht glauben.« »Er wird schon seine Gründe haben, nichts davon zu erzählen«, meinte TG, »übrigens, ich wollte jetzt zurück zum Motel, kommt ihr mit?« »Logisch«, antwortete Ron, »wie sollen wir sonst hier wegkommen. Außerdem wollten wir mit Prof. Clausseé noch unseren zweiten Versuch, mit den Hopi in Kontakt zu treten, besprechen.« »Sie wollen morgen wirklich noch einmal auf die Mesa?« fragte Little G. Wing, »dann begleite ich Sie. Möglicherweise erhöht es Ihre Chancen, von den Hopi angehört zu werden. Was für eine Auskunft brauchen Sie denn?« Lisa winkte ab: »Ach, es ist nur ein Symbol, das wir von ihnen gedeutet haben wollen, mehr nicht.« »Okay, wie spät soll ich Sie abholen? Morgen be ginnt mein Dienst gegen acht Uhr in der Frühe. Soll ich 403
um neun da sein, ist das okay?« Ron schaute erst Lisa an, dann Little G. Wing: »Gut, ja, gegen neun am George Motel.« Trucker George nickte zustimmend: »Okay, dann ist das geklärt. Jetzt laßt uns fahren. Es wird langsam Zeit. Der ›Indianer‹ Clausseé ist bestimmt schon längst zurück und wartet auf uns.« Die Sonne hatte sich schon hinter der Bergkette am westlichen Horizont verabschiedet, schickte noch einen letzten rötlichen Gruß über die Bergzinnen. Der Pickup des Motelbesitzers schnurrte zurück nach Winslow. Gutgelaunt summte TG einen Countrysong, während zwei Verliebte aneinandergelehnt ihren Gedanken nachhingen: würden sie morgen die Bedeutung ihres Zeichens erfahren? Würden sie beide zusammen blei ben, wenn dieses Abenteuer vorbei sein würde? Daß beide an das Gleiche dachten, ahnten sie nicht. Gegen einundzwanzig Uhr war auch der Professor wieder aus Flagstaff zurück. Aber nicht nur dem Historischen Museum hatte sein Besuch gegolten. Der alte Freund, den er wiedersehen wollte, war niemand anderes als sein Vater. Von dessen Umzug von Phoenix nach Flagstaff, hatte er von McHolis erfahren. Er woll te Ron und Lisa wirklich nicht beunruhigen, aber er spürte, daß etwas mit ihm vorging, er sich zu verändern schien. Die Antworten, die ihm sein Großvater immer verweigert hatte, wollte er jetzt vom Vater hören. Wieso waren seine Narben, die er beim Brand des ers 404
ten Wohnmobils erlitten hatte, so ganz anders als jene, die er sich in der verfallenen Trapperhütte zugezogen hatte? Und wieso hatte er diese seltsamen, wie Sterne geformten Narben überhaupt? Dann waren da seine Träume, die er nicht deuten konnte, und die immer häufiger und intensiver auftraten. Der Vater hatte sich vom Besuch seines Sohnes nicht einmal überrascht gezeigt, ja, Clausseé hatte gar das Gefühl, als wäre er von ihm erwartet worden. Als Clausseé nun abends wieder auf Ron, Lisa und die anderen traf, war er verändert, zwar freundlich, aber doch ernst und ungewöhnlich wortkarg. »Ist etwas mit Ihnen«, fragte Ron, »haben Sie nicht herausbekommen, was Sie wissen wollten?« »Nicht alles«, flüsterte Clausseé, »aber was ich er fuhr, hat mir ganz und gar nicht gefallen.«
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06. November ’98
Camden / Maine egen und Sturm konnten den jungen Scouts von Camp2 nichts anhaben. Logisch. Seit zwei Tagen lebten sie nun schon in ihrem Zeltlager am Strandab schnitt der ›Drei Spanischen Kapitäne‹. Am gesamten Strand von Rockport bis Lincolnville Beach gab es solche Camps, sieben an der Zahl. Und in ihnen zu leben gehörte zur alljährlichen Herbstübung der jungen Scouts. Heute morgen bestand die Aufgabe des acht Mann starken Trupps von Camp2 darin, ihren zugewi esenen Abschnitt der Küste von jeglichem Unrat, den das Meer im Laufe der letzten Wochen angespült hatte, zu säubern. Wecken war um halb sieben, Essen fassen um sieben, und ab acht Uhr hieß es: raus an den Strand und sammeln. Egal, ob’s regnete oder nicht. Gegen neun Uhr hörten sie dann den großen Knall. Er kam direkt aus dem Wald oberhalb ihres Abschnitts, und es klang wie eine Sprengung. Aber eine Sprengung hier im Wald? Trotz des stürmischen Wetters und des Meeresrauschens war der Knall jedenfalls deutlich wahrzunehmen gewesen. Sofort rief Bill, der Scoutführer, seine Jungs zusam men, um zu beraten, was sie tun könnten. Denn das war kein Jäger gewesen, und auch kein Gewehrschuß, da war er sich sicher. Sie beschlossen, der Sache auf den Grund gehen. Nur mit einem Sprechfunkgerät ausgestattet, mar schierten sie in zwei-Meter-Abständen los hoch in den
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Wald, wo sie die Explosion vermuteten. Die Benutzung von Mobiltelefonen war während der Scoutausbildung und den dazu gehörenden Aktionen nicht erlaubt. Sie hatten wirklich schlechtes Wetter. Die vielen Birken und Ahornbäume boten um diese Jahreszeit kaum noch Schutz gegen den Dauerregen, und das blattlose Geäst hoch über ihren Köpfen ächzte unter dem Druck des vom Atlantik landeinwärts ziehenden Windes. Niemand sagte ein Wort. Sie mochten vielleicht zwanzig Minuten unterwegs gewesen sein, als plötzlich zwei Schüsse die Luft zer rissen. Erschrocken rief Bill abermals seine jungen Scouts zu sich, ließ sie erneut einen Halbkreis bilden. Durch seine Waffenkenntnis war ihm sofort klar, daß es sich nicht um Gewehrschüsse handelte, sondern daß hier aus einer großkalibrigen Pistole gefeuert wurde. Vielleicht Wilddiebe? Er trug die Verantwortung für die 14 bis 16-jährigen Jungs seines Trupps, war besorgt um ihre Sicherheit. Aber es gehörte auch zu den Aufgaben ei nes Scouts, derlei Dinge zu unterbinden, gegebenen falls nach verletzten Tieren zu suchen und, wenn ein Vergehen vorlag, die Polizei zu informieren. Bill wußte aus Erfahrung, daß es immer wieder passierte, daß gelangweilte Zeitgenossen Spaß daran fanden, in den Wäldern auf Kleintiere Jagd zu machen. Heute an Waffen zu kommen, ob illegal erworben oder ›ausgeliehen‹ aus Vaters Schrank, so etwas stellte doch für niemanden mehr ein Problem da. Was sind das nur für Typen, dachte er. 407
Noch vorsichtiger als zuvor marschierten sie weiter. Dann konnten sie in einigen hundert Metern Entfernung kleine Flammen zwischen den Stämmen ausmachen, die gen Himmel züngelten. Dicker, weißer Qualm ver nebelte das Unterholz. Zum Glück ließ der anhaltende Regen das Feuer nicht größer werden. Im Laufschritt ging es zum Brandherd, Bill vorne weg, die Jungs hin terher. Das Feuer löschen war jetzt oberstes Gebot. Doch dann machten sie eine grausige Entdeckung. Nur wenige Meter vor den Feuerstelle entfernt, lag ein Mann auf dem Boden, über den sie in ihrer Hast fast gestolpert wären. Er lag auf dem Bauch, sein Gesicht war zur Seite gedreht, die Augen starr geöffnet. Seine Hände waren schmutzig, als hätte er mit ihnen im Waldboden gegraben. Trotz des völlig durchnäßten Mantels deuteten zwei große Blutflecken unterhalb der linken Schulter auf Einschüsse hin. Das sah nach einem gewaltsamen Tod aus. Das waren die beiden Schüsse vor wenigen Minuten, durchzuckte es den Scoutführer, und er blickte sich besorgt um. Das Rauschen der Baumkronen und das Prasseln des Regens war alles, was zu hören war. Schnell orderte er die Jungs einige Meter zurück. Dann ging er allein zu dem Toten, kniete sich nie der und betrachtete ihn. Diesen Mann mit den grauen Schläfen und dem Schnurrbart hatte er noch nie gese hen. Er tastete die Halsschlagader ab. Der Mann war noch warm, aber wie vermutet war da kein Puls mehr. Per Funk forderte er über die Scoutbasis die Polizei und einen Leichenwagen an. Feueralarm zu geben hielt er 408
wegen des vom Regen fast gelöschten Brandes für nicht mehr notwendig. Während er mit dem Scoutnachwuchs einen Bogen um den Ermordeten machte, um zum ver meintlichen Explosionspunkt zu gelangen, versuchte er, dem Kollegen am anderen Ende der Leitung seinen genauen Standort mitzuteilen. An der Stelle angekommen, von der man, zumindest bei schönem Wetter, einen guten Blick auf die drei Nadelfelsen im Meer hatte, bemerkten sie sofort den Krater im Boden mit fast drei Metern Durchmesser. Überall lag die herausgeschleuderte Erde, sowie lange und kurze abgesplitterte Holzstücke ringsum auf den welken Blättern der Bäume. Aus dem schmutzigen, rundlichen Felsbrocken, den der Krater hatte sichtbar werden lassen, hatte die Wucht der Explosion wohl zwei größere Teile herausgelöst. Die Bruchstellen waren glatt, hatten eine kristallähnliche Struktur und schimmerten ein wenig im trüben Tageslicht. Auf den ersten Blick waren sie aber im Umkreis des Kraters nicht zu entdecken. Mühelos hatte der Regen auch die letzten kleinen auflodernden Flammen gelöscht. Überall stiegen nur noch winzige, weiße Rauchfahnen zischend in die Höhe. Auf Bills Anweisung machten sich die Scouts bis auf zwei von ihnen, auf den Weg zurück zum Strand. Sie sollten in ihre Zelte gehen und dort auf die Polizei warten, um ihnen dann den Weg in den Wald zu dem Toten zu zeigen. Um für die Spurensicherung wenigstens noch et 409
was übrig zu lassen, entfernten sich die drei vor Ort Gebliebenen rund zwanzig Meter vom Tatort, um sich zwischen einigen jungen Birken einen provisorischen Unterstand zu bauen. So etwas hatten sie in ihrer Scoutausbildung schließlich gelernt. Etwas später, als sie ermattet unter ihrem Schutzdach saßen und kauernd auf die Polizei warteten, stieß Bill seine beiden jungen Kameraden an: »Seht mal, dort, wo es geknallt hat, die Anordnung einiger Stämme im Boden, man könnte meinen, daß dort vor langer Zeit einmal eine Hütte gestanden hat.« Hopi-Reservat / Arizona Lisa schnellte hoch, saß aufrecht im Bett, lauschte, rüttelte dann Ron, der an ihrer Seite fest schlief. Wieder rüttelte sie ihn: »Wach’ auf, hey Ron, wach’ doch auf, flüsterte sie. »Was ist Darling?« murmelte er schlaftrunken und drehte sich zu ihr um. »Hör’ mal, nebenan, mit Clausseé ist was, hör’ doch!« Ron setzte sich auf, horchte gespannt. Gespenstisch leuchtete der Mond durch die dün nen Vorhänge und verbreitete einen zarten Rest von Helligkeit. Draußen am Rande der Wüstenlandschaft drang ein weit entferntes Kojotengeheul herüber. Doch lauter war das Gewimmer und Gestöhne aus der Nebenunterkunft, die Prof. Clausseé bezogen hatte. Ron und Lisa verhielten sich ganz ruhig. »Der träumt wieder«, kombinierte Ron, »er sprach 410
davon, daß er in letzter Zeit öfters skurrile Träume hat te. Vielleicht, weil Vollmond ist?« Lisa gab sich damit nicht zufrieden. Sie schaute zur Uhr: »Ron, es ist vier Uhr morgens, geh’ doch bitte mal nachsehen. Hör’ doch, wie er stöhnt. Der hat doch et was. Komm, Ron, schau nach, ich gehe auch mit.« Ebenso selten wie der Professor seinen Wohnwagen abschloß, wenn er darin übernachtete, jedenfalls seit sein erster Wagen in Flammen aufgegangen, und er dabei schwer verletzt worden war, genauso wenig dachte er daran, sein Motelzimmer zu verriegeln. Zwei Minuten später standen Ron und Lisa am Bett des Freundes und sahen einen schweißgebadeten Mann, der sich im Bett herumwälzte. Dabei wechsel ten Stöhnen und Satzfetzen, einer ihnen unbekannten Sprache, einander ab. »Das ist indianisch, der spricht indianisch, Lisa, be stimmt.« »Bist du sicher?« Ron nickte: »Klar, nach irgendeiner europäischen Sprache klingt es jedenfalls nicht. Aber frage mich nicht, welche Stammessprache das sein könnte, keine Ahnung. Mein Gott, er redet indianisch im Schlaf. Was meinst du, soll ich ihn wecken?« »Ja, ich weiß nicht...« Mit einem plötzlichen Ruck schnellte Clausseé hoch, ohne daß ihn jemand berührt hatte und saß mit aufgerichtetem Oberkörper im Bett, atmete kurz und heftig, schien völlig erschöpft. Er erschrak nicht ein mal, als er im Halbdunkel des Raumes Ron und Lisa 411
so unerwartet neben seinem Bett stehen sah. Mit dem Ärmel seines Hemdes, das dunkel von Schweißflecken war, wischte er sich über die Stirn. Dann ließ er sich zurückfallen auf das Kissen. Sein Atem wurde ruhiger. Er starrte zur Decke, an dem ein Deckenventilator leise surrend versuchte, Kühlung zu erzeugen. »Professor, geht es Ihnen gut?« fragte Lisa schüch tern, »Sie waren gestern Abend schon so komisch?« »Was ist mit Ihnen?« fragte auch Ron, »sind das wieder die Träume?« Clausseé schien sich etwas beruhigt zu haben, atme te langsamer, tastete nach dem Schalter seiner Nacht tischlampe und versetzte den Raum in ein bescheide nes Licht: »Ist schon gut, Kinder, ich bin wieder okay. Wie spät ist es?« »Vier Uhr morgens«, antwortete Ron und fragte dann erneut, »waren es wieder diese merkwürdigen Träume, Professor?« Kopfschüttelnd setzte sich der Professor auf die Bettkante. Sein nasses Hemd klebte an seinem Körper und sein langes, jetzt offenes, graues Haar fiel ihm fet tig-strähnig ins Gesicht. Er seufzte tief und hob dann den Finger, als würde ein Chorleiter zur Ruhe ermah nen. Ron und Lisa verstummten augenblicklich und warteten auf eine Erklärung. »Meine Träume, lieber Ron, ja, meine Träume. - Seit gestern weiß ich, daß es keine Träume sind. Es sind Wahrheiten, Realitäten, es ist Geschichte, Zukunft, nenne es, wie du willst. Ich habe jedesmal große Angst davor zu ›träumen‹. Und ihr solltet auch Angst haben, 412
alle Menschen sollten Angst haben, werden Angst ha ben, viel Angst. Das ist sicher, unausweichlich.« »Was meint er«, fragte Lisa flüsternd, blickte er schrocken zu Ron rüber, »er macht mir ja wirklich Angst.« Unwillkürlich ging sie zu Ron, drückte sich fest an ihn. »Das ist unheimlich. Was ist nur los mit dem Professor?« Ron war es auch nicht ganz geheuer, als er Clausseé so sitzen sah, als hätte er sich in sein Schicksal ergeben, wie er immer wieder in seine Handflächen schaute und den Kopf schüttelte: »Ich doch nicht, ich doch nicht.« »Was meinen Sie mit ›Ich doch nicht‹, Professor?« »Ron, Lisa«, Clausseé saß da wie ein Häufchen Elend und erschien doch auf einmal entschlossen, »Ron, Lisa, wenn der Tag anbricht, müssen wir nochmals auf die dritte Mesa fahren. Dort werden wir erfahren, wer wir sind, und wohin wir gehen.« Lisa stutzte: »Wer wir sind? Wir wollen doch nur wissen, was es mit dem Zeichen auf sich hat, mehr doch nicht.« »Es geht um mehr, liebe Lisa - glaub’ mir - um viel mehr. Geht jetzt wieder ins Bett, schlaft noch ein we nig. Morgen müssen wir zeitig los.« »Professor, wissen Sie, wer uns begleiten wird ins Hopi-Reservat? Little G. Wing. Ich hörte, Sie kennen ihn gut.« »Das kann nur gut sein. Little G. Wing ist ein guter, ein aufrechter Mann. Er soll mitgehen und auch erken nen.« »Erkennen? Was soll er auch erkennen? Professor, 413
Sie machen den vor uns liegenden Tag zu etwas ganz Besonderem, habe ich das Gefühl.« »Es wird ein besonderer Tag werden, für alle. Jetzt legt euch schon schlafen. Gute Nacht.« Er löschte das Licht, legte sich dann ohne jedes weitere Wort auf die Seite und deutete somit an, daß er alleine bleiben wollte. Als Ron und Lisa wieder im Bett lagen, waren sie beunruhigter als vor ihrem Gang zum alpträumen den Clausseé, lagen wach, rückten enger zusammen. Keiner sprach es aus, aber beide hatten ein seltsames, beunruhigtes Gefühl, was die Reise zu den HopiIndianern anging. Während Lisa schon bald wieder schlief, grübelte Ron noch über den Professor nach. Und dabei fiel ihm auf, daß Texas erstmalig nicht im gleichen Raum schlief wie sein Herrchen. Hatte Clausseé nicht be hauptet, nie würde er ohne seinen treuen Texas ein schlafen können? Gestern noch hatte der Hund im Zimmer des Professors geschlafen, es war deutlich zu hören. Aber seitdem Clausseé aus Flagstaff zurück war, verhielt er sich äußerst seltsam, man konnte fast Angst bekommen. Etwas später fand auch Ron wieder in den Schlaf. Acht Uhr dreißig. Wieder wurde der Wecker zum Feind, auch heute. Aber eine Dusche half in den Tag. Als Ron den kleinen Speiseraum des Motels betrat, saß Lisa schon am Tisch. Er schaute sich um. Fünf Kerle, wahrscheinlich alles 414
Trucker, saßen an weiteren Tischen und stärkten sich für ihre Weiterfahrt. Wie in vielen Lokalen dieser Gegend, hatte sich auch bei TG eine ganze Menge Indianerkram ange sammelt: Waffen, Schmuck, selbstgefertigte Decken und Kleinkram für den Hausgebrauch. An den Wänden hingen eingerahmt alte Zeitungsausschnitte und Bilder berühmter Leute dieser Gegend. Sie sieht toll aus, dachte Ron, als er wieder auf Lisa schaute, wie kann das nur sein, sie hat doch auch nicht durchschlafen können? »Guten Morgen, Darling«, begrüßte er seine Liebe, gab ihr einen Kuß und setzte sich. »Guck’ mal, was ich übergezogen habe«, lachte die junge Schwedin voller Energie, zog ihre Wildleder fransenjacke auseinander und gab somit den Blick frei auf ihr schwarzes T-Shirt. Ron lächelte, sie hatte ihr Norweger-T-Shirt mit ›ihrem‹ Zeichen angezogen. Oh, Mann, dachte er, das trug sie auch an ihrem letzten gemeinsamen Tag in Birmingham. Und was ist alles seitdem passiert. Viel, aber vor allem wußte er mehr denn je, daß Lisa die Frau war, die er wirklich wollte, ja, brauchte. »Super«, ent gegnete er, »das T-Shirt heute anzuziehen ist vielleicht kein schlechter Schachzug. Ich habe meines in Camden auch eingesteckt, warum weiß ich nicht mal, nur so. Aber ich glaube, ich werde es Clausseé schenken. Wo bleibt er nur?« »Hier bin ich, in ganzer Größe. Guten Morgen, ihr Lieben«, klang eine Stimme von der Küche herüber. 415
Es war Clausseé, gutgelaunt und in Begleitung sei nes Hundes, »ich sehe, ihr habt auch noch nicht mit dem Frühstück angefangen. Gut, denn ich habe einen Mordshunger.« Ron blickte Lisa an, dann den Professor: »Guten Morgen, Professor, ist alles okay, ich meine, geht es Ihnen wieder besser?« Heftiges Nicken: »Klar, heute schon. Gestern, ich weiß nicht, gestern war ich irgendwie nicht richtig auf dem Damm, glaube ich. Aber jetzt geht’s wieder.« Er schaute hoch, als die Kellnerin dreimal Eier mit Speck und eine große Kanne mit heißem Kaffee auf den Tisch stellte. »Geht aufs Haus«, schallte es vom Tresen. Es war Trucker George, der zu ihnen herüberwinkte. Texas sprang auf und lief schwanzwedelnd auf TG zu. »Texas, komm her«, forderte Clausseé seinen Hund auf, »du sollst doch nicht betteln. Sei ein braver Hund und lege dich hierher.« Dabei deutete er auf den Boden neben seinem Stuhl. Der Hund drehte sich nur kurz um, folgte aber nicht der Aufforderung, sondern trottete hinter TG in die Küche. So hatte er noch nie reagiert. Bislang hatte der Professor nur zu schnalzen gebraucht, schon war Texas angelaufen gekommen. Wieder blinzelte Ron zu seiner Freundin hinüber. Spürte der Hund etwa auch, daß sein Herrchen sich verändert hatte? Lisa erwiderte den Blick, stocherte dabei in ihrem Eier-mit-Speck-Frühstück herum. 416
»Schauen Sie, Professor, das T-Shirt, das Lisa trägt, ich habe das gleiche und ich möchte es Ihnen schen ken.« Es wirkte ein wenig, als wolle Ron vom Hund ablenken. »Das finde ich toll«, freute sich Clausseé fast über schwenglich, »wann kann ich es haben? Vielleicht schon gleich? Ich möchte es auch tragen, wenn wir zum Reservat fahren. Ron, ist das möglich?« »Aber ja. Soll ich es holen?« Der Professor hielt Ron am Arm fest: »Nein, nicht jetzt. Das hat doch Zeit, bis zum Aufbruch.« Lisa setzte die Gabel kurz vor dem Mund wieder ab: »So viel Zeit nun auch wieder nicht. Little G. Wing wollte um neun Uhr hier sein. Also beeilen wir uns.« Dann begann sie mit ihrem Frühstück. »Professor, erinnern Sie sich an vier Uhr heute mor gen?« Ron fragte fast zögerlich, »Sie hatten anschei nend schlecht geträumt und später, als wir bei Ihnen waren, sagten Sie etwas von einem besonderen Tag, der heute sei, und daß der Besuch bei den Hopi uns helfen würde, zu erkennen. Aber was erkennen? Was meinten Sie damit?« »Erkennen? Sagte ich das? Gut, hört zu, ich will offen sein. Gestern war ich nach dem Besuch des Historischen Museums nicht einen Freund aufsuchen, ich war bei meinem Vater. Ich hatte während unserer Mammuttour hier in den Westen von McHolis erfah ren, daß er vor einigen Monaten von Phoenix fort sei und sich in Flagstaff niedergelassen habe.« Er machte eine kurze Pause, um einen Schluck Kaffee zu nehmen: 417
»Er eröffnete mir einige geheimnisvolle Dinge, meinte dann aber auch, daß die entscheidenden Informationen, auch meine momentane Situation betreffend, vom Ältestenrat der Hopi kommen würden, was immer auch das sei. Dann fragte er nach meinen Händen. Als er die Narben sah nickte er, und schwieg. Mehr war nicht.« Ron und Lisa schauten einander an. Sie wußten jetzt immer noch nicht, was mit ihm los war. Nachdem Clausseé fertig gefrühstückt hatte, eilte er in sein Zimmer. Ron hinterher, wollte ihm das T-Shirt mit dem Zeichen bringen. Nun saß Lisa alleine am Tisch. Trucker George kam heran, begann das Geschirr abzuräumen: »Lisa, hast du die Narben in Clausseés Händen gesehen?« »Ja.« »Und? Findest du die nicht ungewöhnlich?« Lisa beugte sich etwas zu TG vor: »Und ob. Sie kön nen mich für eine Spinnerin halten, aber ich glaube, Clausseés Veränderung hängt mit diesen Verbrennun gen zusammen.« »Dann ist dir auch aufgefallen, daß er immer merk würdiger wird?« »Oh ja, George, sogar uns ist es aufgefallen, und dabei kennen wir den Professor nicht einmal so lange wie Sie.« Der Motelbesitzer nickte, sah sich bestätigt, wischte mit einem Handtuch kurz über den Tisch und raunte dann, mehr in sich hinein als zur Lisa: »Lassen wir uns mal überraschen.« 418
Pünktlich zur verabredeten Zeit rollte ein heller Toyota auf den Vorplatz. Little G. Wing war eingetrof fen. Er war kaum eine Minute im Gastraum, als sich eine andere Tür öffnete und Clausseé eintrat. Er trug ein T-Shirt mit dem aufgedruckten Wikinger-Symbol. Er erkannte auch von hinten sofort den vor ihm stehenden Indianerpolizisten: »Hey, alter Flügel«, lachte er und haute Little G. Wing kräftig auf die Schulter, so daß dieser sich erschrocken umdrehte, dann aber anfing zu lachen: »Oho, Mr. German-Indianerbruder-Clausseé ist wieder da. Da freut man sich ja total.« Man umarmte sich, witzelte, bedauerte aber auch, lange nichts voneinander gehört zu haben. Und doch ahnte ein jeder irgendwie, daß dieses Zusammentreffen kein Zufall sein konnte. Plötzlich starrte Little G. Wing an seinem alten Kumpel vorbei, und sein Blick blieb an der Wand hinter der kleinen Theke haften. Er ließ Clausseé los und mit wenigen hastigen Schritten war er hinter dem Tresen, nahm dort eine der indianischen Perlstickereien von der Wand, betrachtete sie ausgiebig von allen Seiten und war sich sofort sicher. Er wandte sich zu Trucker George: »TG, woher hast du dieses Amulett?« Der Angesprochene kam heran, nahm es selbst nochmal in die Hand, schaute flüchtig drauf: »Hm, dieses Stück? Ja warte, genau. Das war eine seltsame Erwerbung.« »Was war seltsam daran, sag’ es«, wurde Little G. Wing energischer, »dieses Amulett gehört nämlich mei 419
nem Vater, White Bear. Seit dem Tag seines Unfalls in Tonalea vermißt er es. Dort fingen drei Trucker mit ihm Streit an, und er zog dabei den kürzeren.« »Das ist ja eben das Seltsame, wollte ich doch ge rade erzählen«, entgegnete TG, »denn diese schöne Indianerarbeit hat mir ein Trucker für nur ein Bier an geboten. Entweder der hatte keine Ahnung, was so et was wert ist, oder er wollte es einfach loswerden, aber nicht ohne etwas dafür herauszuschlagen, und wenn es nur ein Bier war. Hier, Little G. Wing, nimm es, gib es deinem Vater zurück, und grüß’ ihn von mir.« »Danke, TG. White Bear wird sich freuen. Aber eine Frage, würdest du den Trucker wiedererkennen, der dir das angeboten hat?« »Na klar. Der ist regelmäßig hier. Warte mal, richtig, ich glaube, er wird Mitte bis Ende des Monats hier wie der nächtigen. Seine Tour führt ihn dann hier vorbei. Dann kannst du ihn dir mal ansehen.« »Das werde ich, glaub’ mir, das werde ich.« »Können wir jetzt fahren?« rief Lisa vom Eingang herüber, »wir sind soweit.« Ron, Clausseé und Lisa standen mit ihren Taschen an der Tür und warteten auf Little G. Wing. Dieser kam mit dem Amulett in der Hand zu den Wartenden und begrüßte sie. Dann blieb er vor Lisa stehen. »Nimm’ du es, es soll dir Glück bringen. White Bear wird sicher damit einverstanden sein.« Er reichte ihr den indianischen Halsschmuck und bat dann alle, ihm zu seinem Wagen zu folgen. Nun sollte es losge hen. 420
Ein zweiter Versuch, Kontakt mit den Hopi aufzu nehmen, konnte gestartet werden. »Kommt nicht zu spät zurück«, rief ihnen TG nach, »für heute Abend habe ich ein Barbecue geplant. Und da rechne ich mit euch.« »Ist klar«, nickte Clausseé, »kannst du auch, wir sind rechtzeitig zurück.« Langsam rollte der Wagen mit den vier Personen vom Platz. In der Tür stand Trucker George und schau te ihnen nach, an seiner Seite Texas, der ebenfalls dem aufgewirbelten Staub des Wagens nachblickte. Aber traurig schien der Hund nicht zu sein, darüber, daß man ihn nicht hatte mitnehmen wollen. Die Reisegruppe war guter Dinge. Im Fond des Toyota saßen Ron und Lisa, die sich das Amulett um ihren Hals gelegt hatte, und sich riesig darüber freute. Little G. Wing steuerte den Wagen und neben ihm hat te Clausseé Platz genommen. Er war richtig stolz über sein neues T-Shirt. Der Navajo kannte die Straßen und Wege im Reservat der Navajos und der Hopi mit all ihren Tücken und Unberechenbarkeiten. Deswegen donnerte er auch, da wo er konnte, mit Tempo die staubigen Wege entlang, und es waren beileibe nicht immer die offiziellen. So wunderte es auch niemanden, daß sie dieses Mal deut lich schneller in Oraibi eintrafen. Clausseé sorgte für Kurzweil, die Stimmung war locker und Ron und Lisa lauschten den vielen Anekdoten, die Little G. Wing und der Professor aus frühen gemeinsamen Erlebnissen 421
austauschten. Auf dem letzten Stück des Weges bis zum Haus von Dan Datchongvi kam im Wagen auf einmal eine recht beklemmende Atmosphäre auf, als hätten sie ein unsichtbares Tor durchfahren. Gegenüber gestern fielen ihnen die zahlreichen Indianerfrauen auf, die ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Kinder spielten am Straßenrand, und alle schauten sie neugierig auf den Polizeiwagen mit seinem vertrauten Fahrer. Nur hatte dieser diesesmal noch drei weiße Erwachsene mit im Auto. In der Tür des Hauses stand Dan Datchongvi, schien sie zu erwarteten. Dan war ein großer, kräftiger Mann. Seine langen, ergrauten Haare fielen offen über seine Schultern. Das braungebrannte, mit tiefen Furchen durchzogene Gesicht hellte sich auf, als er seinen alten Freund Clausseé neben dem Fahrer des Wagens sitzen sah. Natürlich hatte er schon gehört, daß gestern Fremde hier gewesen waren, und daß sie heute erneut kommen wollten. Der Wagen stoppte und eine im Wind tänzelnde Staubwolke zog seitlich über diesen Teil des Tafel berges hinweg. Dan ging gemächlichen Schrittes dem Wagen entgegen, wollte sie begrüßen. Als Clausseé ausstieg und ihn mit einem: »Hey, hey, wie geht es meinem alten Freund?« begrüßte, zeigte sich der Hopi sichtlich irritiert. Er sah das T-Shirt, das der Professor trug, starrte auf das Symbol. Schnell ver suchte er, sein Erstaunen zu überspielen, nickte: »Auch ich grüße dich, Clausseé. Komm mit in mein Haus und bringe auch deine Freunde mit. Dabei winkte er den 422
dreien im Wagen auffordernd zu. Mit dem Professor an seiner Seite schritt er zum Haus, ohne sich weiter um die anderen zu kümmern. Nun verließen auch Little G. Wing, Lisa und Ron den Wagen und folgten ihnen zu Dans Unterkunft. Als der Hopi sich noch einmal kurz umdrehte, um zu sehen, wo die anderen blieben, hielt er erneut inne, denn auch unter Lisas offener Lederjacke entdeckte er das Symbol auf ihrem T-Shirt. Von Lisa schaute er wie der auf Clausseés T-Shirt, verglich beide. Er sah, daß sie identisch waren. »Ron, hast du bemerkt, wie erschrocken sich der Alte beim Anblick unserer T-Shirts benahm. Er wollte sich zwar nichts anmerken lassen, aber ich hab’s genau gesehen«, flüsterte Lisa. »Ich auch, ich habe es auch gesehen«, antwortete Ron, »er reagierte wie jemand, der etwas gesehen hat, womit er nicht rechnete. Und, schau’ dich mal um, die anderen Indianer reagieren überhaupt nicht auf die TShirts, seltsam, nicht?« Auch Lisa bemerkte, daß die Frauen und Kinder, die aus einiger Entfernung herüberäugten, ihre Anwesen heit teilnahmslos zur Kenntnis nahmen. Nachdem sich alle in der Küche befanden, sprach Dan dem Brauch zufolge einige kurze Begrüßungsworte, reichte erst Ron und Little G. Wing die Hand, dann Lisa, der er lange in ihre blauen Augen schaute, denn eine blonde Frau hatte er noch nicht in seinem Haus begrüßen können, und eine aus Schweden schon gar nicht. Daß sie aus Nordeuropa kam, hatte ihm Clausseé 423
mitgeteilt. Dann bot Dan allen einen Platz am großen Küchentisch an. »Wo steht der Kaffee?« fragte Clausseé, »ich koche uns einen, ist doch recht, oder?« »Von dir war also der Kaffee. Man hat mir zwar nicht gesagt, daß du etwas mitgebracht hattest, aber ich dachte mir das schon fast«, schielte Dan herüber, »diese Sorte Kaffee kam immer nur von dir. Klar darfst du ihn jetzt auch aufsetzen. Wo alles steht, solltest du doch noch wissen.« Ron und Lisa hatten sich auf der Holzbank niederge lassen, während sich Little G. Wing an die Kommode lehnte, dabei am Zierband seines Hutes herumspielte. Er entdeckte das kleine gerahmte Foto mit der abge rissenen Ecke, betrachtete es flüchtig. Fünf Becher wurden auf den Tisch gestellt. Dan zauberte einen etwas trocken aussehenden Maiskuchen aus seinem Kühlschrank hervor und plazierte ihn in die Mitte des Tisches. »Was machen deine beiden, äh, ich meine, was macht dein Sohn Tom? Ich habe ihn gestern hier an getroffen«, fragte Clausseé, derweil er mit dem heißen Wasser hantierte. Dan, der jetzt auch am Tisch saß, drehte sich zu Clausseé: »Das kann gut sein. Tom ist ein guter Mann, ein Mann mit Traditionsbewußtsein, dem die Sitten und Gebräuche der Hopi heilig sind. Er wird später mal ein würdiger Führer des Bärenclans und ein guter Priester des Stammes werden. Ich bin stolz auf ihn.« Dann wandte er sich an Ron: »Hast du auch schon ei 424
nen kleinen Sohn? Du scheinst mir nicht viel älter als mein Sohn Tom zu sein?« Ein verlegener Ron schielte kurz zu Lisa rüber, schaute dann dem Hopi in die Augen: »Ich bin nicht verheiratet.« »Und sie?« Der Hopi deutete auf Lisa an Rons Seite, »ist sie nicht deine Frau?« »Nein«, warf Lisa lächelnd ein und witzelte, »nein, ich bin nicht seine Frau, aber was nicht ist, kann ja noch werden.« Der Professor kam mit einer alten Kaffeekanne an den Tisch und schenkte die Becher voll. Anschließend stellte er die Kanne auf den Tisch und nahm sich ein Stück des angeschnittenen Maiskuchens. Irgendwie hatte er die eigenwillige Küche der Hopi vermißt. Die anderen bedienten sich jetzt auch vom Kuchen. Dan war zufrieden. Auf die T-Shirts, die er jetzt quasi direkt vor seiner Nase hatte, reagierte er nicht mehr. Auf et was anderes aber um so mehr. Denn als Clausseé aus Freude und Dankbarkeit sei nem Gastgeber jetzt noch einmal die Hand drückte, fuhr dieser wie elektrisiert von seinem Stuhl hoch und sprang einen Meter zurück, sein Gesicht wurde blaß. »Zeig deine Hände«, forderte er Clausseé auf. Erschrocken schlich er in weitem Abstand um ihn her um. Die anderen schauten sich diese Szene an, wußten nicht, was da vor sich ging. »Ich weiß, die Narben fühlen sich befremdend an, wenn man sie unvermutet in der eigenen Handfläche spürt, aber sie sind harmlos, nicht ansteckend oder so 425
was«, wollte der Professor Dan Datchongvi beruhi gen. »Clausseé, zeig’ mir deine Hände. Ich muß sie se hen, sofort.« Der Hopi verhielt sich plötzlich recht eigenartig. »Warum?« »Verdammt, zeig mir deine Hände!« »Bitteschön«, murmelte Clausseé und streckte dem Indianer seine Handflächen entgegen, »da sind mei ne Hände, und die Narben behindern mich in keiner Weise, zufrieden?« »Die Sterne, du trägst die Sterne in beiden Händen«, flüsterte Dan beinahe ängstlich und wiederholte sich, »beim Kachina, du trägst sie, weißt du, was du da in den Händen hast? Die zusammen zwölfstrahligen Sterne des Kosmischen Rates. Es passiert, es pas siert, ja genau. Und dann noch eure Hemden mit dem Symbol...« »Das sind T-Shirts, Dan«, verbesserte Lisa, »deswe gen sind wir hier.« »Oh nein, deswegen seid ihr heute bestimmt nicht hier. Ich muß anrufen, schnell anrufen.« »Na klar sind wir nur deswegen hier«, bestätigte Ron Lisas Erklärung.« Dan stützte sich auf den Tisch, war erregt und schien sich aber gleichzeitig vor etwas zu fürchten. Er schaute jeden einzelnen im Raum an. Die Sekunden vergingen. Dann nahm er das Telefon zur Hand und telefonierte voller Hektik in indianischer Sprache, aber in einer Art, die selbst Little G. Wing noch nie gehört hatte. 426
Dan unterbrach sein Gespräch und schaute den Navajo an. Dieser zuckte nur mit den Schultern, hob die Hände abwiegelnd in die Höhe: »Ich habe sie her gebracht, lediglich begleitet. Und außerdem weißt du, daß ich an euch nur interessiert bin im Zusammenhang der Ermordung zweier eurer Stammesmitglieder.« »Es waren assimilierte Hopi, sie lebten ein anderes Leben. Das weißt du, Little G. Wing«, unterbrach Dan kurz seinen Anruf, zeigte mit dem Finger schwenkend auf ihn, wandte sich dann wieder dem Telefon zu. Ron versuchte cool zu bleiben, trank seinen Kaffee übertrieben lässig und beobachtete die Entwicklung. Auch Lisa schien von der Situation verwirrt. Was war eigentlich los? Alles nur wegen Clausseés Narben? »Ihr bleibt bitte noch hier«, Dan hatte aufgelegt, war wieder bei ihnen, »ihr müßt noch hierbleiben. Die Ältesten der anderen Clans kommen herüber. Sie wol len mit euch reden.« Der Professor saß da, überlegte. Er kannte Dan schon einige Jahre und schätzte ihn als ruhigen und besonne nen Mann. So aufgeregt hatte er ihn noch nie erlebt. Er selbst fühlte sich seltsam gelassen. Was sollte der gan ze Aufstand mit seinen Händen? Warum wollten die Ältesten der anderen Clans herüberkommen? Er be trachtete die Narben, schaute dann den nervösen Hopi an: »Dan, ganz ruhig. Wir bleiben ja. Alle, nicht wahr, Little G. Wing?« Der Navajo nickte, schaute seitlich aus dem Fenster. In der Ferne sah er zwei Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit herankommen. »Was ist denn nur los mit dir?« wollte Clausseé 427
wissen, starrte dabei Dan an, der sich an den Tisch gesetzt hatte, seinen Kaffeebecher in die Hand nahm und auf den Tisch blickte. »Du machst hier solch einen Aufwand für ein paar unerhebliche Verletzungen. Hier, schau’, die Brandwunden vom abgefackelten ersten Wohnmobil, die waren schlimmer. Diese zwei ›Sterne‹ sind doch aber kaum der Rede wert.« Dabei deutete er auf die alten Brandnarben an seinen Armen. »Du weißt gar nichts über diese ›Sternenmale‹, stimmt’s? Nicht, was sie bedeuten, noch was sie bewir ken?« Clausseé kratzte sich verlegen am Kopf, schüttel te den Kopf: »Ich weiß zwar eine ganze Menge über euch, aber diese Male? Nein, keine Ahnung, was sie bedeuten, und wenn ich dich so sehe und reden höre, bekomme ich ein ziemlich mulmiges Gefühl. Denn, wenn ich eines von euch gelernt habe, dann das, daß ihr die Meister der Selbstbeherrschung seid und es schon eines verflixt guten Grundes bedarf, euch in Nervosität zu versetzen. Und dann hat es meistens etwas mit eu rem Stamm zu tun.« Dan Datchongvi saß da, hörte zu, aber antwortete nicht. Er hatte sich wieder unter Kontrolle, schaute zur Tür, wo er in der Ferne die Geräusche der herannahen den Autos vernahm. »Wir bekommen Besuch«, bemerkte Little G. Wing und deutete mit einer Handbewegung nach draußen. »Warum hast du so eigenartig auf unsere T-Shirts re agiert?« fragte Clausseé, »wir haben es genau bemerkt. Es sind die aufgedruckten Symbole, nicht? Ihretwegen 428
sind wir hier, über sie wollen wir von euch etwas erfah ren. Wegen dieses Zeichens ist diese Frau sogar hierher in die USA gereist. Entdeckt haben es die beiden jun gen Leute in England, in Schweden und in Spanien. Aber es ist doch eindeutig indianisch. Ich meine sogar, ausgesprochen Hopi-indianisch.« »Schon möglich«, antwortete Dan, »doch das klären wir später. Einige Mitglieder vom Ältestenrat wollen euch sehen und mit euch reden. Sie werden sicherlich gleich hier sein.« Little G. Wing, der einen guten Ausblick nach drau ßen hatte, sah, daß sich jetzt noch ein dritter Wagen dem Haus näherte. Es schien sich um einen Pickup zu handeln. Ron sprang auf, schaute auch aus dem Fenster. Im Küchenraum war es auf einmal sehr still. Man schwieg. Alle warteten auf das Eintreffen der von Dan benachrichtigten anderen Ältesten. Nur die Motoren geräusche der Wagen durchdrangen die Ruhe. Jeder hielt seinen Kaffeebecher in der Hand, grübel te, fragte sich, was die Hopi-Ältesten denn mit ihrem geballten Auftreten hier bezwecken wollten? Alles we gen des Zeichens, nein, das konnte doch nicht sein? »Wartet hier, bitte«, forderte Dan seinen Besuch auf und ging einige Schritte vor die Tür, um die Ankommenden zu begrüßen. Dort begann er sofort mit ihnen zu tuscheln. Es waren aus beiden Wagen zusam men fünf Indianer, die zumindest dem Alter nach zu Recht ihren Platz im Rat der Weisen hatten, empfand Ron, hielt Ausschau nach dem Pickup. Aber er war 429
noch eine gute halbe Meile entfernt. Die Ältesten traten in die Küche, allen voran Dan Datchongvi. Er stellte die fünf Hopi als Kikmongwis, als Führer ihres jeweiliges Dorfes vor, und daß sie zusammen mit Dan auch den religiösen Rat ihres Volkes bilde ten. Einen aus ihrer Mitte stellte er besonders in den Vordergrund. Es war Joan Besavaya vom Feuerclan, ihr auf Lebenszeit ernannter oberster religiöser Führer. Ron, Lisa, Clausseé und auch Little G. Wing waren beeindruckt von diesem Aufmarsch oberster HopiFührer. Unwillkürlich waren auch Lisa und Clausseé aufgestanden und hatten sich eher unbeabsichtigt mit Ron und Little G. Wing in eine Reihe gestellt. Langsam schritten Joan Besavaya und seine Begleiter an ihnen vorbei, blieben bei jedem Einzelnen stehen, betrach teten sie genau von oben bis unten und lauschten, was Dan zu jedem von ihnen zu sagen wußte. Lisa war es recht unheimlich. Sie griff nach Rons Hand und war froh, als sie seinen aufmunternden Druck spürte. Die Atmosphäre war seltsam. Es war wie eine Mischung aus einer Messe und einer folklo ristischen Veranstaltung. Nur hier war dem Anschein nach alles ernst. Plötzlich wurde es eng im Raum. Zwei große kräf tige Männer waren eingetreten, ebenfalls Hopi. Beide hatten Gewehre in der Hand. Einer baute sich direkt vor der Tür auf, der andere stellte sich zu Dan. Es war Tom, Dans Sohn. Als Little G. Wing instinktiv zu seinem Colt greifen wollte, hörte er von der Tür das durchladende Klicken eines Gewehres. 430
Die Situation nahm jetzt doch eine fast bedrohliche Form an. Ron blickte Lisa beruhigend an. Immer noch re deten die alten Männer in ihrer Sprache auf Dan ein, gestikulierten wild und betrachteten immer wieder die Symbole auf den T-Shirts des Professors und seiner Begleiterin. Weder er noch Little G. Wing verstan den, was sie sprachen. Es mußte eine der ganz alten Sprachen sein, die zum Teil nur noch von den Ältesten des Stammes gesprochen werden konnte. Auf jeden Fall wußten sie, daß die lautstarke Unterhaltung wohl um Clausseé ging. Ein ums andere Mal wollten sie sei ne Hände sehen und diskutierten über das eigenwillige Muster seiner Narben. Unterdessen hatte sich draußen vor dem Haus eine große Schar Männer, Frauen und Kinder versammelt. Sie schienen besorgt, denn schon gestern hatten sich alle Kikmongwis getroffen und waren dann voller Hektik nach Tukunavi, ihrem spirituellen Zentrum gegangen. Dort waren sie dann stundenlang in der heiligen, streng bewachten und für jeden normalen Hopi verbotenen Kiva verschwunden, dem fensterlosen Raum innerhalb der Pueblos. Und heute, was war heute los? Der Indianer an der Tür sah die ungehaltene Menge, rief Tom Datchongvi zu sich. Beide traten vor die Tür und gaben den Umstehenden lautstark zu verstehen, sie sollten sich keine Sorgen machen und ihrer Arbeit nachgehen. Mürrisch trotteten die Leute davon. Sie wußten, daß sie immer erst viel später erfahren wür den, was der Ältestenrat beschlossen hatte. 431
»Ihr müßt mitkommen«, sprach Dan, wieder in der Sprache, die auch Lisa und Ron verstanden. »Wohin sollen wir mitkommen, was soll die ganze Geheimnistuerei?« wollte Clausseé wissen, schaute seinem alten Freund in die Augen, »was ist, verdammt nochmal, denn hier los?« Plötzlich sprach auch Joan Besavaya so, daß alle ihn verstanden: »Wir müssen ganz sicher gehen. Darum bitten wir euch, uns zu begleiten.« Ron spielte den Stutzigen: »Bitten?« »Ja, wir dürfen euch nicht zwingen, ihr müßt frei willig mit nach Tukunavi kommen. So will es das Gesetz.« Little G. Wing wußte, daß die alten Hopi sich ganz geschickt verhielten. Einen Konflikt mit den Gesetzen des weißen Mannes würden sie nicht riskieren wollen und sich mit einem Indianerpolizisten anlegen, der obendrein noch ein Navajo war, schon überhaupt nicht. »Warum fahren wir nicht gemeinsam nach Hotevilla oder nach Shungopavi, das sind doch eure heutigen Zentren, oder in euer Verwaltungsgebäude nach NeuOraibi?« fragte er. Joan Besavaya blickte ihn an, faßte ihn auf die Schulter: »Ich kenne deinen Vater White Bear. Nicht immer waren er und ich einer Meinung. Aber er ist ein aufrechter Mann, der für die Tradition unseres gemein samen Volkes eintritt. Auch du trägst den Namen deines Volkes mit Stolz. Nur das zählt. Komme mit und lerne zu begreifen. Doch wenn du nicht willst, gehe deinen Weg. Den Professor und das junge Paar werden wir 432
mitnehmen. Und daran wirst du uns nicht hindern kön nen. Sei aber versichert, daß ihnen nichts geschehen wird.« Dann gab er das Zeichen zum Aufbruch, und sie verließen das Haus, ebenso die beiden bewaffneten Männer des Hopi-Stammes. Wenige Minuten später sah Little G. Wing, der nicht zu den anderen in die Wagen gestiegen war, wie die drei Fahrzeuge, eingehüllt in eine Staubwolke, den Weg nach Tukunavi einschlugen. Was sollte er tun? Meldung machen? Aber was soll te er melden? Nein, er wollte die seltene Gelegenheit wahrnehmen, den Hopi-Ältesten einmal über die Schulter schauen zu können. Wann würde er wieder solch eine Einladung erhalten? Und vielleicht würde er sogar die eine oder andere Idee für die Aufklärung seiner Mordfälle bekommen. Die spielenden Kinder schauten kaum auf, als ein vierter Wagen an ihnen vorbei die Straße hinunter be schleunigte, auch wenn es ein Wagen der Navajo Tribal Police war. Ron, Lisa und Clausseé mußten sich im Fond des großen Pickups zu den beiden Bewaffneten setzen. Die Fahrt ging holprig voran, und nach einer halben Stunde Fahrt bog der Wagen nach rechts ab und fuhr eine flache Anhöhe hinauf. Die beiden anderen Wagen und das Polizeiauto folgten. Von weitem schon wur den die Umrisse eines großen Pueblos sichtbar. Es war ein schon leicht verfallenes Bauwerk, aber die Anlage drumherum machte einen durchaus gepflegten 433
Eindruck. Ron kannte Pueblos bislang nur von Bildern und glaubte, sich hier in einer Hollywood-Kulisse zu befinden. Aber dieses Gebiet war das ›Heilige Land‹ der Hopi. Hierher durften nur die Mitglieder des religi ösen Rates und einige auserwählte Krieger kommen. Die Fahrzeuge hielten und die Ältesten stiegen aus. Im gesamten Gebiet waren weit und breit keine ande ren Indianer zu sehen. Lisa spürte ein leichtes Unbehagen, war aber auch voller neugieriger Anspannung. Was sie hier und jetzt erlebte, würde sie in Schweden erzählen können. Aber wollte sie nicht vorerst hierbleiben bei Ron, erschrak sie über sich selbst. Ron betrachtete das einst aus Adobe-Ziegel errichte te Bauwerk. Seltsam, dachte er, so alt und schon etwas verfallen, aber von Stockwerk zu Stockwerk standen die obligatorischen Leitern, recht neue Leitern, wie er fand, ohne die man nicht auf die jeweils höhere Etage gelangen konnte. Oder wurden sie erwartet? Hatte Dan Datchongvi von seinem Haus ihr Kommen angekün digt? An den Leitern auf einer jeden Etage stand ein bewaffneter Indianer. Ron blickte an dem Pueblo hoch, Aufbau für Aufbau, und dann spürte er, wie sein Herz zu klopfen begann. Er stieß Lisa an. »Was ist, Ron?« »Lisa, sieh’ mal zum obersten Stockwerk hoch.« Sie schaute hoch: »Was meinst du, den Indianer dort?« »Nein, nein, schau, genau neben den Eingang, kannst du es erkennen?« 434
»Wouw, Ron«, flüsterte Lisa, »Ron, das ist das Zeichen, unser Zeichen.« »Richtig, genau hier muß mein Ururgroßvater auch gestanden haben. Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, wir sind hier einer ganz seltsamen Sache auf der Spur.« Lisas Augen starrten auf dem Symbol. Die Sonne hatte die Farben im Laufe der vielen Jahrzehnte zwar stark gebleicht, dennoch war es in seinen Konturen deutlich zu erkennen. Sie suchte erneut Rons Hand, und während sie von Dan aufgefordert wurden, mitzu kommen, flüsterte sie: »Ich glaube, wir erfahren über unser Zeichen mehr, als uns lieb ist.« »Keine Angst«, entgegnete Ron und gab ihr einen schnellen Kuß auf die Wange, »wir sind zusammen, und das ist das wichtigste.« Nacheinander stiegen erst die fünf Männer des Rates, dann Little G. Wing, Clausseé, Lisa und zuletzt Ron die Leitern hoch. Tom Datchongvi und sein ebenfalls bewaffneter Begleiter blieben unten. Lisa sah, als sie sich nach unten umdrehte, wie beide mit dem Pickup die Anlage wieder verließen. Jedesmal, wenn sie eine höhere Ebene erreichten, wurde die jeweils nach unten führende Leiter hochge zogen. Schließlich standen sie ganz oben und standen vor dem Eingang des würfelähnlichen Gebäudeteils, an dessen Seite sich das verblaßte Zeichen befand. Joan Besavaya klopfte gegen die Tür, und sofort konn te man das Zurückschieben eines schweren Riegels vernehmen. Mit einem Knarren öffnete sich die alte 435
Holztür einen Spalt breit, und das prüfend dreinschau ende Gesicht eines Mannes lugte hindurch. Als dieser den Führer des Rates erkannte, öffnete er und ließ die Gruppe ein. Joan Besavaya sprach einige Worte zu dem Mann. Dann griff dieser seitlich auf eine Ablage und reichte vier schwarze Tücher herüber. Mit die sen Tüchern in der Hand wandte sich Besavaya den Besuchern zu: »Dies hier ist der wahre Ort, wo die Hopi zu Hause sind. Wir nennen ihn Tukunavi. Es ist eines der spirituellen Zentren der Erde. Und Oraibi, seit über tausend Jahren bewohnt, gilt als der älteste stän dig bewohnte Ort Nordamerikas. In dieses Zentrum hat noch nie ein Weißer seinen Fuß gesetzt und Indianer anderer Stämme ebenso wenig. Dan Datchongvi vom Bärenclan wird euch jetzt die Augen verbinden, dann steigen wir in die große Kiva hinab. Ob wir euch aber in unser allmächtiges Geheimnis einweihen werden, entscheidet die Prüfung, die ihr zuerst über euch erge hen lassen müßt!« »Wenn wir aber nicht geprüft werden wollen«, fragte Ron, als Dan ihm als erster das Tuch umlegen wollte. »Wir müssen euch prüfen, ob ihr bereit seit, die Wahrheit zu erfahren«, antwortete Benavaya. »Die Wahrheit über das Zeichen?« »Ja, über das Zeichen und über das Ende.« »Welches Ende, hey, was meinen Sie mit ›über das Ende‹?« »Ron, ihr erfahrt es, wenn ihr geprüft wurdet. Nun laß’ dir die Augen verbinden. Denn so steht es ge schrieben.« 436
Ein letzter Blick zu Lisa, dann wurde es finster vor Rons Augen. Er lauschte auf die Geräusche um sich. Als nächster wurden Lisa die Augen verbunden, dann Little G. Wing, wie Ron an der Aufforderung, die Waffe abzulegen, hören konnte. Mit Clausseé wechsel te Dan allerdings mehr Worte. Viel verstand er nicht, nur so was wie: ›... daß du wieder da bist, macht mir Hoffnung...‹ oder so ähnlich. Dann fühlte er sich an den Arm genommen und in den Raum geführt. Nach weni gen Metern mußten sie eine Leiter hinunter klettern, dann wieder ca. zwanzig Schritte gehen, bis abermals eine Leiter nach unter kam. Dann wieder: Schritte, Leiter, einige Meter gehen, Leiter. Ron stutzte: Vier Leitern sind wir hinab gestiegen, aber waren es nicht nur drei, die wir hochkletterten? Sollten wir uns etwa jetzt unter dem Pueblo befinden? Und was ist das, noch eine Leiter hinab? Mein Gott, wo führen sie uns hin, und wie riecht das denn hier? Sind das Kräuter? Das müssen verdammt starke Kräuter sein. Unten angekommen wurde er wieder am Arm ge faßt, und sie gingen mehr als dreißig Meter geradeaus. Dann bogen sie rechts ab, bis nach weiteren vielen Schritten eine Tür geöffnet und sie hinein geführt wur den. Hier wies man sie an, die Tücher von den Augen zu nehmen. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an den mäßig durch Fackeln erhellten Raum. »Wir kommen gleich wieder«, sagte Besavaya. Dann verließen die fünf Ratsmitglieder den Raum. Die 437
Tür fiel ins Schloß, ein Riegel quietschte, sie waren eingeschlossen. Das war ihnen jetzt klar. »Hey, was ist los? Ihr könnt uns doch hier nicht einsperren«, rief Ron durch die grob gezimmerte Tür, haute mit der flachen Hand dagegen, »was ist mit der Prüfung, hey?« »Sie kommen wieder, darauf kannst du dich verlas sen«, beruhigte ihn Little G. Wing, »aber wir sollten uns damit abfinden, einige Stunden hierbleiben zu müssen. Denn meiner Vermutung nach waren die fünf Alten allesamt Mitglieder des ›Powamu-Bundes‹.« »Was für ein Bund?« argwöhnte Ron. »Der Powamu-Bund. Übersetzt würde man sie viel leicht als Reinigungspriester bezeichnen. Nur Mitglie der dieses Bundes werden in der Lage sein, einen neuen Kachina, sprich einen Erlöser, zu erkennen. Also, wenn sie hier auftauchen, und zwar komplett, dann haben sie irgendeine Ahnung. Und wenn sie erst beginnen, in alten Überlieferungen zu lesen, fangen sie auch an zu prüfen. Und das kann einige Stunden dauern.« Lisa fuhr herum: »Einige Stunden?« »Klar«, lachte Clausseé, »die Hopi kennen keine Hast.« »Können wir denn nicht jemanden anrufen, der uns hier rausholt. Hat denn niemand ein Mobiltelefon da bei, denn ich weiß nicht, ob ich so lange hierbleiben will«, bemerkte Lisa. Allgemeines Kopfschütteln. »So tief im Fels wird uns auch ein Mobiltelefon nicht helfen können, Lisa«, entgegnete Clausseé, »wir 438
würden keine Verbindung kriegen.« »Das ist ja ein schöner Mist, keine Möglichkeit, je manden über unsere Lage zu informieren«, murmelte Ron, »da müssen wir jetzt wohl durch.« »Dann können wir das Barbecue-Fest ja wohl ver gessen«, bemerkte Lisa und ging einige Schritte durch den spartanisch eingerichteten Raum. Im Schein der Fackeln wirkte alles sehr gespens tisch. Es gab keine Fenster, was die Vermutung ver stärkte, daß man sich tatsächlich tief unter der Erde befand. Die Wände, ockerfarben, hatten ihren letzten Anstrich wahrscheinlich vor mehr als zwanzig Jahren erhalten. Überall blätterte schon die Farbe ab. Bilder gab es auch keine an der Wand, auch nicht die sonst so beliebten Handarbeiten. Ein sehr langer aber schmaler Holztisch stand mitten im Raum, zwei Stühle auf der einen Längsseite, acht auf der gegenüberliegenden. Eine Schale mit glimmenden Kräutern schmückte den Tisch, verbreitete ein eigenartiges, nicht einmal unan genehmes Aroma. Schon weiter oben hatten sie diesen Geruch erschnuppert. Auf dem Tisch lag zudem noch eine hölzerne, mit roten Textilien bekleidete Puppe, ca. vierzig Zentimeter groß. Der Fußboden war komplett aus eben gearbeitetem Felsboden. Die ganze Fläche schien peinlich sauber gefegt worden zu sein. Clausseé setzte sich auf einen Stuhl der ›Achterreihe‹. Little G. Wing schleuderte seinen Hut auf den Tisch, daß dieser auf der Holzpuppe landete und durch den Windzug die kleine Rauchsäule der Schale in hektische Bewegung versetzte. 439
»Mist«, knurrte Little G. Wing, nahm seinen Hut schnell von der Puppe herunter, begann sie anzustar ren. »Wißt ihr«, erzählte er, »ich habe doch von den Ermittlungen in den Mordsachen an den zwei HopiIndianern berichtet. Bei einem dieser Toten fand ich genau solch eine Puppe.« Ihm war jetzt auch klar ge worden, was bei der Puppe des Getöteten abgebrochen war: zwei als Flügel geschnitzte Holzteile. »Das sind Kachina-Puppen«, erklärte Clausseé. »Was für Puppen?« fragte Lisa interessiert und be tastete die Holzfigur auf dem Tisch. »Kachina-Puppen. Einfach ausgedrückt, symbolisie ren sie die Geister, welche die Hopi vor vielen hundert Jahren aus einer anderen Welt besuchten und von denen sie zum auserwählten Volk unter den Indianerstämmen gemacht wurden. Von ihnen bekamen sie aber auch den Auftrag in Demut mit der Natur zu leben und auf die Erde acht zu geben, und überall dort, wo der Natur Schaden zugefügt wird, dies anzuprangern. Und sie sollten auch die Welt davor warnen, daß, wenn die Menschen nicht aufhörten, die Erde zu zerstören, die Kachinas eines Tagen wiederkommen würden, um im Auftrag des Kosmischen Rates die Menschheit vom geschundenen Planeten zu tilgen. Damit sich die Indianer des Hopi-Stammes von Kindesbeinen an dieser Aufgabe des Beobachtens und Warnens bewußt werden, schenkt man ihnen diese Puppen schon im Kindesalter.« »Und die sogenannten Assimilierten haben auf die ses Demutsleben und was dazu gehört keine Lust?« 440
fragte Ron, der sich wie Lisa, ebenfalls gesetzt hatte. »Na ja, ganz so einfach ist das nicht«, antwortete der Professor, »als der Stamm sich vor über neunzig Jahren aufspaltete, haben verschiedene Gründe eine Rolle gespielt. Aber darauf einzugehen, bzw. das, was ich darüber weiß zu erzählen, habe ich jetzt wirklich keinen Nerv. Nur soviel: Tom Datchongvi, der Sohn von Dan, der uns mit der Flinte hierhergebracht hat, ist ein ›Heimkehrer‹. Er, obwohl kein Assimilierter, war für Jahre fort von hier, studierte in Flagstaff und Phoenix Medizin. Aber er brach das Studium ab und fand dann vor einem Jahr zurück zu seinen Wurzeln. So etwas gibt es also auch. - Little G. Wing«, wandte er sich dann an den Navajo, »sag’ doch einmal, wie sind die Hopi, deren Tod du untersuchst, eigentlich umge kommen?« Der Indianerpolizist schaute den Professor lange an: »Genau das ist der Punkt, an dem ich nicht weiter komme. Der Erste ist nicht erschossen oder erschlagen worden, nein, er wurde erstochen. Zwei feine Einstiche wurden in seiner Brust entdeckt. Nach Aussage des zuständigen Coroners wurde er getötet durch eine dünne, lange Nadel oder so etwas. Er meinte, der oder die Täter hätten genau gewußt wo und wie sie ihn direkt und schnell töten konnten. Schon seltsam, nicht? Das Motiv gibt aber auch Rätsel auf: angeblich hatte der Getötete in den Rasthäusern der Hauptstraßen damit geprahlt, sensationelle Dinge zu wissen. Mit kleinen Zaubertricks hatte er versucht, seine Glaubwürdigkeit zu untermauern. Auch prahlte 441
er damit, eine geheimnisvolle Hopi-Steintafel besor gen zu können, für viel Geld natürlich. Einige Gäste konnten sich sogar an sein Angebot bezüglich der Tafel erinnern.« »Welchem Clan gehörte der Tote an? Doch nicht etwa dem Spinnenclan?«, wollte Clausseé wissen. »Stimmt. Er war vom Spinnenclan.« »Au weia«, stöhnte Clausseé, »das was ich über den Spinnenclan weiß, ist folgendes: der Legende nach war in der Schöpfungszeit der Spinnenclan ungehorsam gegen Sótuknang, den Neffen des Schöpfers, gewesen. Und dieser hatte dann bestimmt, daß der Spinnenclan künftig Schlechtigkeit und Boshaftigkeit hervorbrin gen würde. Beunruhigenderweise war es eine Frau vom Spinnenclan, die vor vielen Jahren durch eine List in den Bärenclan eingeheiratet hatte, den Clan, der im Besitz dreier der heiligen Tafeln war. Die vierte Tafel hat der Feuerclan in Obhut. Ihr müßt wissen, für die Hopi sind ihre vier Steintafeln das, was für die Christen die Gesetzestafeln Moses darstellen: Reliquien von un vergleichlichem Wert. Als die Frau dann eines Tages verschwand, fehlte plötzlich auch eine der Tafeln. Könnte zwischen der Diebin und dem Getöteten eine Verbindung bestehen?« Little G. Wing schossen jede Menge Gedanken durch den Kopf, als er das hörte, Ermittlungsaussagen, Verhöre, Gespräche fielen ihm ein. »Und was war mit dem anderen Hopi?« fragte Ron. »Nach meinen Nachforschungen prahlte auch der zweite Hopi überall mit seinem Wissen über mystische 442
Dinge, wollte religiöse Kultgegenstände zu Sonder preisen verkaufen, soll schließlich Hopi-Puppen, die mit seltsamen Energien ausgestattete sind, angeboten haben, gegen harte Dollars, versteht sich. Das wurde ihm wohl zum Verhängnis.« »Wurde er auch erstochen?« »Nein. Er wurde erschossen, wie die zwei Weißen, die man ganz in seiner Nähe entdeckte. Auch bei ihm haben wir eine Kachina-Puppe entdeckt. Sie glich der vom zuvor Getöteten auf erschreckende Weise, nur die Flügel waren noch dran. Ich nehme an, sie sah so aus, wie diese hier auf dem Tisch. Während der Erstochene aber weit weg von hier bei den Ruinen einer prähis torischen Indianersiedlung gefunden wurde, lagen die anderen Ermordeten ungefähr eine Meile von hier. Ob sie auf dem Weg zu diesem Pueblo waren, wissen wir nicht, konnten uns auch die Besucher des Restaurants nicht sagen, wo der Hopi die beiden Weißen kennen gelernt hatte. Drüben in Cameron war es, im ›White Horse‹, einem Restaurant mit Barbetrieb.« »Und du hast keinen Verdacht, wer oder warum je mand die Männer getötet haben könnte?« »Professor, selbst das FBI, das mir und der örtli chen Polizei den Fall entrissen hat, kam keinen Schritt vorwärts, so daß sie schließlich unverrichteter Dinge abzogen und den Fall erst mal auf Eis legten. Aber um deine Frage zu beantworten, ich habe schon einen Verdacht, oh ja, bislang fehlt mir nur das Motiv. Also, ich glaube, der oder die Täter sind in diesem Fall nicht bei den Weißen oder bei den Navajo zu suchen, obwohl 443
die Hopi immer schon ein gespanntes bis aggressives Verhältnis zu den Navajo hatten. Ich bin überzeugt, daß der Schlüssel zur Aufklärung bei den Hopi selbst zu suchen ist, und nach deiner Spinnenclan-Ausführung mehr denn je. Nur, sie sagen nichts, und schon gar nicht einem Polizisten, der obendrein noch vom Stamme der Navajo ist.« Plötzlich waren da Schritte vor der Tür, und augen blicklich wurde sie geöffnet. Die fünf alten Männer des Powamu-Bundes traten ein. Dieses Mal in seltsamen Verkleidungen. Sie stellten sich in einer Reihe neben einander auf. Dan Datchongvi hielt einen sechs Fuß langen Stab in den Händen, der über und über mit vielen Linien ver sehen war. Ein anderer Ältester aus der Gruppe begann plötzlich mittels mitgebrachtem Maismehl, auf den Boden eigentümliche Linien zwischen ihnen und den übrigen im Raum zu ziehen. Die Vier erschraken, sprangen auf. Was hatte das zu bedeuten? Waren sie plötzlich Mittelpunkt einer rituel len Zeremonie geworden? Auf den Köpfen trugen die Ratsmänner seltsame Kopfbedeckungen, die an Hörner von Böcken erinner ten. Joan, ihr Führer, trat nun vor, blieb aber jenseits der gestreuten Linien stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Er schloß die Augen und begann, einige unverständliche Sätze zu murmeln. Dann setzten die anderen ins Gemurmel ein. Jetzt streckte Joan seinen rechten Arm nach vorne, so daß die Innenfläche seiner Hand nach oben zeigte. Er verharrte in dieser Haltung, 444
als würde er auf eine Reaktion warten. Ron, Lisa und Little G. Wing schauten einander an, wußten mit dem Verhalten des Alten nichts anzufangen. Ganz anders Clausseé. Er hatte lange genug bei den Hopi und dann auch noch beim Führer des Bärenclans gelebt, um zu wissen, was hier vor sich ging: die Bedeutung des Maismehls, welches gekreuzt auf den Boden gestreut wurde, und des langen Stabes mit den eingeritzten Linien, der schon seit Jahrhunderten in der Obhut des Bärenclans war. Und er kannte die Prophezeiungen der Hopi nur zu gut, daß ihm auch die Geste des religiösen Führers vertraut war. Aber sie befanden sich doch nicht am östlichen Mesa-Abhang, der hinauf nach Oraibi führte. Und wieso streckte nicht der Führer des Bärenclans seine Hand aus, wie es der Überlieferung nach zu geschehen hatte? »Hey, Leute, Dan, hört ihr, ihr seid im Irrtum«, ver suchte der Professor die unheimliche Zeremonie zu un terbrechen, »ich weiß, was das bedeutet, was sich hier abspielt. Ihr wißt, ich achte eure Sitten und Rituale, und ich glaube auch an eure Prophezeiungen, aber was ihr hier vermutet, kann nicht sein.« »Was kann nicht sein, Professor, was versuchen sie, um was geht es?« fragte Ron aufgeregt. Er war sehr be eindruckt von dem Aufmarsch der Ältesten und deren Gemurmel. Clausseé schaute herüber zu Ron und Lisa, schüttel te lächelnd den Kopf: »Sie glauben, wir sind jene, auf die sie seit vielen Jahrzehnten gewartet haben.« »Wer, wir?« fragte Lisa mit leiser Stimme, »wieso 445
wir?« Dan, der das Gespräch völlig gelassen verfolgt hat te, tippte mit dem Stab gegen die Brust von Clausseé, zeigte dann auf Lisas T-Shirt: »Deshalb, wegen dieses Kachina-Zeichens.« Ron stutzte, was hatte das Symbol der Wikinger mit all dem hier zu tun: »Was ist? Machen sie das Ritual etwa wegen unseres Zeichens, hey, Professor, wegen unseres Norweger-Zeichens?« Bevor Clausseé antworten konnte, ergriff Joan Besavaya das Wort: »Das Zeichen eures Hemdes ist das Niman-Kachina-Zeichen, das heilige Zeichen der Warnung und der Erkenntnis, des Verstandes und der Einigkeit, und das der Elemente.« Dann blinzelte er Clausseé an und wies ihm seine immer noch ausge streckte Hand, »das Ritual muß erfüllt werden, ich warte!« »Worauf wartet er«, fragte Ron, »welches Ritual meint er?« Clausseé schien nervös: »Sie glauben, ich wäre so eine Art neuer Heilsbringer, weiß der Henker warum, aber dann hätte es am Fuße der Mesa geschehen müs sen, noch vor Oraibi, so sagt es die Vorsehung.« »Was geschehen, verdammt nochmal?« »Na, diese seltsame Handberührungszeremonie.« »Aber Sie haben Dan vor Oraibi doch auch die Hand gegeben und dieser war ganz erschrocken, erinnern Sie sich nicht mehr? Das hat das ganze hier doch erst ausgelöst«, erwiderte Lisa, »nun geben Sie Besavaya schon die Hand. Dann sind sie beruhigt, und wir kom men vielleicht schneller wieder fort. Mir wird es hier 446
langsam ein bißchen zu unheimlich.« »Okay, Joan, dann mach ich’s halt. Aber die fehlen de Ecke eurer heiligen Tafel habe ich genauso wenig wie seinerzeit der Abgesandte Coronados, den ihr auch für den Erlöser hieltet, und der eigentlich nur kam, weil er bei euch Gold vermutete.« Er stellte sich vor Besavaya und legte seine Hand auf die seines Gegenübers. Jetzt stimmten die fünf Hopi einen monotonen Gesang an, während Joan Besavaya dauernd mit dem Kopf nickte und ständig die Worte, Pahana, Pahana, wiederholte. »Das reicht«, meinte plötzlich Clausseé, »es muß gut sein. Männer, sorry, aber bei der Berührung habe ich weder etwas gespürt noch irgendeine Vision ge habt, nichts, tut mir leid. Ich glaube, ich bin nicht der, auf den ihr gewartet habt.« Er ging einige Schritte zurück, drehte den Alten den Rücken zu, stützte sich auf den Tisch und flüsterte, daß nur der unmittelbar neben ihm stehende Ron ihn hören konnte: »Verdammt, ich habe etwas gespürt, und es war gigantisch. Aber ich will es nicht gespürt haben, ich will es nicht!« Mit aufgerissenen Augen starrte Ron den gebeugten Professor von der Seite an, beugte sich zu ihm runter: »Was wollen Sie nicht gespürt haben, Professor, was geschieht hier eigentlich? Hier geht doch etwas nicht mit rechten Dingen zu.« Clausseé schaute ihn an. Sein Gesicht war jetzt ge zeichnet von Angst und Anstrengung: »Ron, da passiert etwas mit mir, was ich nicht erklären kann. Mein Vater 447
und mein Großvater deuteten immer nur etwas an, sag ten nie genau, was meine Bestimmung sei, bis gestern in Flagstaff. Da deutete Vater einiges an. Aber ich kann es nicht. Verfluchte Vorsehung, ich kann es nicht!« Die letzten Worte schrie Clausseé förmlich heraus. Er setzte sich, hatte plötzlich Tränen in den Augen, schüttelte nur den Kopf, wußte jetzt genau, welches unabwendbare Schicksal ihn getroffen hatte, so gänz lich unvorbereitet. Lisa begriff nicht, war sich hier im Halbdunkel mit all den seltsamen Gerüchen und den Gesängen der Indianer abspielte und warum. Dort die ruhig stehen den Indianer in ihren religiösen Trachten, hier am Tisch ein Häufchen Elend von Mensch. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter, versuchte, selbst durcheinander, ihn zu trösten. Little G. Wing stand immer noch abseits. Alles was er bislang von seinem Nachbarstamm zu wissen glaubte, war nichts, stellte er betroffen fest. Auch er setzte sich. Gedanken schwirrten durch seinen Kopf: Welchen Grund hatte diese Zeremonie? Warum wa ren die Hopi so versessen darauf, ihren ›Pahana‹ zu finden. Jahrzehntelang waren sie diesbezüglich nie in Erscheinung getreten. Er spürte, da steckte mehr da hinter. Und wenn er es wüßte, würden sich die Morde dann leichter aufklären lassen? Er kannte Rituale der Navajo, aber dieses hier beeindruckte ihn sehr. Ron stand neben Lisa, die immer noch versuchte, den Professor zu beruhigen. Er spürte, daß von den Hopi keine Gefahr ausging, man würde ihnen nichts 448
tun, im Gegenteil, man würde sie noch tiefer eintau chen lassen in die Mystik ihrer Kultur, würde ihnen den Grund mitteilen, weshalb sie hier in die Kiva ›ver schleppt‹ worden waren. Plötzlich sprang die Tür auf, zwei junge Indianer, ebenfalls in traditionellen Gewändern, kamen herein und brachte Körbe mit Maisbrot, Früchten und eine Kanne Wasser. Sie stellten alles auf den Tisch und ver schwanden dann so schnell wie sie gekommen waren. Beim Anblick des gedeckten Tisches fiel Ron ein, daß sie seit Stunden, seit dem Frühstück bei Trucker George, nichts mehr gegessen hatten. Die Ältesten hatten längst aufgehört zu singen und begaben sich zur Tür. Besavaya forderte Clausseé und seine Begleiter auf, zu essen und zu trinken und ver sprach, daß man sie in Kürze holen werde. Dann ver schwanden die Weisen des Hopi-Stammes, und die vier Freunde waren alleine im Raum. Wieder wurde die Tür unüberhörbar von außen ver riegelt. Clausseé aber aß und trank nichts. Zwar hatte Lisa ihn etwas beruhigen können, aber mit seinen Gedanken war er nicht bei ihnen. »Wer war oder ist ›Pahana‹«, wollte Ron wissen, stieß ihn an, »Professor, wer soll das sein?« Langsam kehrte Clausseé in die Gegenwart zurück. Er seufzte tief, wischte sich durchs Gesicht, und ein kleines Lächeln war auf seinem Gesicht zu entde cken: »Pahana? Einem Mythos der Hopi-Indianer zufolge wurde ihnen von ihrem obersten Schutzgeist 449
Massau’u vorhergesagt, daß ihr Volk einst von einem anderen Volk unterjocht werden würde. Damit waren die Weißen gemeint, und sie sollten sich nicht wehren, denn eines Tages würde eben dieser Pahana kommen, sie von den Unterdrückern erlösen und eine neue und umfassende Brüderlichkeit der Menschen begründen. Interessanterweise wird dieser Pahana als ihr weißer Bruder bezeichnet. Außerdem besitzt er die fehlende Ecke der einen heiligen Tafel.« »Die Stein-Tafeln, von denen sie schon in Bezug auf den Spinnenclan sprachen?« Bevor der Professor auf Lisas Frage antwortete, nahm er einen großen Schluck klaren Wassers. »Richtig. Wie ich schon sagte, es gibt vier Steintafeln. Der Aufenthaltsort zweier von ihnen ist unbekannt. Sie sollen von Massau’u stammen. Er gab sie den Hopi, kurz bevor er unsichtbar wurde. Die Zeichnungen auf ihnen sollen von Massau’u selbst, dem Schutzgeist des Feuerclans oder von der Gottheit des Bärenclans, Söqönhonaw, stammen. Man vermutet, daß sie in den Dörfern Hotevilla und Oraibi aufbewahrt werden für die Zeit der Wiedererkennung. Vielleicht sogar auch die Gestohlene. Bei einer Tafel fehlt eine Ecke. Die soll jener Pahana haben. Das heißt, wenn der richtige Pahana auftaucht, hat er die fehlende Ecke bei. Ich habe keine solche Ecke, also bin ich nicht der Pahana.« Lisa nickte zustimmend: »Da haben Sie recht. Und was steht auf den Tafeln?« »Was darauf geschrieben steht, ist eigentlich schon eingetroffen in den letzten paar hundert Jahren. Aber 450
die Überlieferung sagt, daß zu gegebener Zeit die Tafeln aufbrechen werden und das Innere Informationen darüber enthält, wer die Hopi wirklich sind und was mit der Erde geschehen wird. Meines Wissens haben Weiße nur eine dieser vier Tafeln jemals zu Gesicht bekommen. Glücklicherweise werden sie auch nicht in der Lage sein können, sie zu entschlüsseln. Denn mit Sicherheit stehen auf den vier Tafeln Informationen, die der Menschheit nicht unbedingt mitgeteilt werden sollten.« Little G. Wing hatte aufmerksam zugehört. Von den Tafeln hatte er bisher nur ganz wenig gehört. Auch sein Volk besaß Mythen und Überlieferungen, aber nie wurden dem Navajo-Volk in dem Maße spirituelle Eigenschaften zugesprochen, wie ihren Nachbarn im District Nr. 6. »Clausseé«, fing Little G. Wing an und man spürte, wie er die richtige Formulierung suchte, »du sagst, du kannst auf keinen Fall dieser Pahana sein. Gut. Aber für irgend jemand müssen die alten Hopi, die hier waren, dich doch halten, und zwar für jemanden, der überaus wichtig ist. Ich kenne einige Rituale unseres Volkes, und bei uns ist das Traditionelle bei weitem nicht so verwurzelt wie bei den Hopi. Und da wir Indianer allgemein unsere Bräuche und Zeremonien sehr ernst nehmen, bin ich mir sicher, daß die weisen Männer der Hopi ganz sicher wußten, was sie taten und wen sie vor sich hatten.« Er schob sich ein Stück Maiskuchen in den Mund: »Und ihr könnt euch sicher sein, da kommt noch mehr, die Sache ist noch nicht vorbei. Ich sage 451
euch, seit zwei Tagen ist hier im Reservat eine Unruhe zu spüren. Dauernd hängen die Clan-Ältesten zusam men und beraten. Ihr habt gestern doch selbst erlebt, wie nervös die Männer reagiert haben, als ihr einfach auf die dritte Mesa gefahren kamt. Hier ist irgend et was im Busch, aber ich habe keine Idee, was die Hopi so nervös macht. Aber ich bin mir fast sicher, daß die ermordeten Hopi irgendwie damit zu tun haben.« »Wie spät ist es eigentlich«, unterbrach Lisa, »meine Uhr ist stehengeblieben, glaub’ ich.« »Das ist ja seltsam«, erwiderte Ron, »meine auch.« »Meine geht auch nicht mehr«, stimmte Little G. Wing ein, »das liegt an diesem Ort, glaubt mir. Dies hier ist nämlich das mystische Zentrum der Hopi, und somit nach ihrer Aussage, auch das Zentrum der Welt. Wir alle wissen gar nicht, welch unwahrscheinliche Ehre uns zuteil geworden ist, daß wir hier sein dürfen. Aber ich würde doch gerne wissen, wie spät es ist, und was man mit uns vor hat.« Die vier Schicksalsgefährten aßen, tranken und wa ren voller Hoffnung, doch bald wieder Tageslicht se hen zu können. Nach längerer Ruhe tat sich etwas an der Tür. Herein traten nur noch zwei der fünf alten Hopi. Es waren Dan Datchongvi und Joan Besavaya, die Ältesten des Bären- und des Feuerclans. Sie hatten die ZeremonialKleidung des vorangegangenen Rituals abgelegt und standen in ihrer Alltagskleidung vor ihnen. Auch hatte Dan seinen Stab nicht mehr dabei. Als er die fragen 452
den Blicke der Leute sah, sprach er: »Wir haben uns beraten und sind zu dem Schluß gekommen, daß ihr die seid, die vom großen Geist geschickt wurdet, um den Menschen die schreckliche Konsequenz ihres un einsichtigen Handelns mitzuteilen.« Mit diesen Worten setzte er sich auf einen Stuhl, ebenso Besavaya. »Hey, Dan«, Clausseé wirkte sichtlich erholt, »sag’ was meinst du mit ›schrecklicher Konsequenz‹? Ein Erdbeben, eine Seuche, oder was?« »Das wird ER euch sagen«, antwortete Besavaya, »er will dich kennenlernen, Clausseé. Zu niemandem außer uns vom Powamu-Bund hat er in den letzten Jahren gesprochen, aber dich erwartet er. Ihr alle dürft zu ihm, weil ihr das Niman-Kachina-Zeichen tragt.« Man schaute einander an. Wer war mit ER gemeint? War Besavaya nicht das gewählte Oberhaupt ihres Volkes? Es wurde immer unheimlicher. »Von wem sprecht ihr?« wollte Little G. Wing wis sen, »Hat ›ER‹ auch einen Namen?« »›ER‹ ist sehr krank«, entgegnete Dan, »darum nicht hektisch sein mit ihm. Und natürlich hat er einen Namen: AKNAVI, AKNAVI NIMAN.« »Also ein Indianer«, bemerkte Ron. »Nein, kein Indianer.« »Der Name klingt aber indianisch. Dann ist ›ER‹ ein Weißer?« »Nein, AKNAVI ist kein Mensch wie du und ich.« »Und wieso ist er so krank?« »Ron«, antwortete Dan völlig gelassen, »wenn du erfährst, wieso Aknavi krank ist, wirst du mehr als 453
Trauer in dir spüren.« Ron war irritiert. Lisa auch. Das klang geheimnis voll und beängstigend zugleich. »Laßt uns gehen«, forderte Besavaya sie auf, »seid stark, denn auf euch wird vieles ankommen. Seid leise, seid rücksichtsvoll, seid offen und lernbegierig. Wenn ihr gleich in den allergeheimsten Raum der Welt tretet, habt keine Furcht, denn ihr seid dazu bestimmt, hier und jetzt die Wahrheit zu erfahren. Gehen wir hin.« Lisa wußte nicht, was sie denken sollte, griff in stinktiv nach Rons Arm, wollte, daß ihr Freund jetzt nicht mehr von ihrer Seite wich. Hinter ihnen gingen Little G. Wing und der Professor. Auch ihnen war die Anspannung anzumerken. Als sich die Tür hinter ih nen schloß, wußten alle, daß sie sich auf ein großes Abenteuer einließen. Aber hatten sie eine Wahl? Jetzt sahen sie, daß der Gang von wenigen Wandfackeln nur mäßig erhellt wurde. Nach gut hun dert Schritten standen alle vor einer alten, mit Eisen beschlagenen Tür. Diese wurde von einem bewaffneten Indianer bewacht. Die Ornamentik und die Bearbeitung der Tür waren eindeutig spanischen Stils. Hier, so weit unter dem Pueblo noch Bewaffnete, dachte Ron, da muß jemand aber mehr als wichtig sein, mindestens so wichtig, wie der Präsident der Vereinigten Staaten. Langsam öffnete sich die schwere Tür, schwenk te nach innen. Ihre Blicke fielen in einen riesigen Raum, dessen Licht anscheinend aber nicht von den vielen Kerzen und Fackeln an den Wänden herrührte. 454
Dieses Licht war eher rötlich. Mindestens zwanzig mal zwanzig Meter groß war der Raum, in dessen Mitte ein einfaches, aus Pinienholz gezimmertes Bett stand. Unzählige Felle und gewebte Decken lagen über das Bett verteilt. An den Wänden waren alte Felszeichnungen, und eine ganze Reihe KachinaPuppen, wie jene, die im Nebenzimmer auf dem Tisch lag, standen auf dem Boden ringsum an den Wänden, als hätten sie für einen besonderen Anlaß Aufstellung genommen. Sie standen in abwechselnd rot und ocker gefärbten, quadratischen Feldern, jedes ca. einen hal ben Quadratmeter groß. Zwölf Felder waren es, aber nur auf neun Feldern standen Puppen. Alle schienen sie völlig identisch zu sein, gefertigt aus Holz, geschmückt mit Federn und roten Stoffen. Beidseitig des Kopfes ragten abstrakt geschnitzte Flügel hervor. Wieder ging Little G. Wing beim Anblick dieser Figuren der Tote von den Wupatki Ruins durch den Kopf. Sie traten langsam näher. Das rötliche Licht erinnerte Ron unwillkürlich an die Camdener Sonnenaufgänge. Der aromatisch Geruch war in diesem Raum unweit stärker als im übrigen Bereich der unterirdischen Anlage. »Kommt näher«, flüsterte der Hopi-Führer, »›ER‹ will euch sehen und mit euch reden - jetzt!« Tucson / Arizona »Ist die Landschaft nicht traumhaft? Und das Wetter erst. Und so was im November, unglaublich, so völlig 455
anders als das kalte Alaska«, schwärmte Curt Wesley, während er mit dem Wagen, der ihm von der NASA bereitgestellt worden war, auf der State 77 langsam an den Tafelbergen vorbeifuhr. Nicole nickte: »Es ist einfach beeindruckend, was die Natur in diesem Teil der USA geschaffen hat.« Sie stieß ihn an: »Aber laß uns doch eine kleine Pause ma chen, uns hetzt doch niemand nach Tuba City.« Sie waren vor fast fünf Stunden aufgebrochen, um an diesem Tag den Norden Arizonas zu erkunden. Und ganz ohne FBI-Begleitung. In Tucson waren sie auf diese Straße gefahren und dann über Globe, Show Low und Holbrook bis hierher gekommen. Durch das Apachenland waren sie gefahren und auch das große Navajo-Reservat hatten sie kennengelernt. Vor einigen Meilen hatte ihnen dann ein Schild unübersehbar mit geteilt, daß sie sich jetzt wohl auf Hopi-Gebiet befan den. Rechts von ihnen erhoben sich die Mesas. »Sieh mal, da oben, Curt«, deutete sie auf einige halbverfallene Bauten, »sind das die alten Indianer siedlungen?« »Schau doch in dem Reiseführer nach. Was steht denn da?« Nicole blätterte in dem bunten Heft, das sie sich in Tucson gekauft hatte. »Ja, richtig, hier steht’s: auf den Mesas leben die Hopi-Indianer, aber auch in Siedlungen am Fuße der Berge, und daß sie eine besondere Stellung unter den Indianerstämmen einnehmen.« »Ob man hier halten darf?« »Warum denn nicht? Komm, machen wir eine kurze 456
Rast und vertreten uns die Füße.« Er steuerte an den Straßenrand. Schon sprang Nicole aus dem Wagen und lief eini ge Schritte weg von der Straße in die unübersichtliche Strauchwüste, die hier im Norden die stacheligen Wälder der riesigen Saguaro-Kakteen um Tucson ab gelöst hatten. Curt stieg ebenfalls aus, griff in die gro ße Türinnentasche und holte einen Feldstecher heraus, den er sich um den Hals hängte. Er ging um den Wagen herum und sah, wie Nicole gut vierzig Meter weit ins Gelände gelaufen war. »Nicole, lauf nicht dort herum. Es gibt in dieser Gegend jede Menge Klapperschlangen, Skorpione und ähnliches gefährliche Getier.« Doch Nicole stand inmitten der Wildnis, den Reiseführer in der Hand und deutete zu dem nördlichs ten der drei Höhenzüge: »Curt, hier im Guide steht, daß auf der dritten Mesa das Geschick und die Zukunft der Hopi entschieden wird. Schon seit Jahrhunderten, und daß Weiße dort überhaupt nicht hin dürfen. Das hat der Staat Arizona im Sinne der Hopi vor Jahren so ent schieden, außer, die Indianer selbst laden dorthin ein.« »Ja, schon möglich. Komm’ trotzdem zurück auf die Straße, ich bitte dich.« »Okay, wenn es dich beruhigt.« »Ja, das tut es. Außerdem kann man von hier aus genauso gut sehen.« Nicole stand wenige Sekunden später an seiner Seite, lehnte sich ebenfalls an den Wagen und suchte die Landschaft nach Besonderheiten ab. »Was meinst du, wie lange wird unser Aufenthalt in 457
Arizona dauern, beruflich, meine ich? Werden wir auch nach der Klärung der seltsamen Monderscheinungen hier bleiben, vielleicht hier arbeiten?« Curt nahm das Fernglas von den Augen und schaute rüber: »Möglich. Ich bin mir nicht sicher. Aber vorstel len könnte ich mir das, ja, sogar gut vorstellen. Und du? Würdest du hier bleiben wollen?« »Du meinst: mit dir zusammen hier bleiben?« »Ja, na klar, warum denn nicht.« Sie beugte sich zu ihm rüber und küßte ihn auf die Wange: »Warum nicht. Nach der gemeinsamen ›Eiszeit‹ im Norden haben wir uns eine richtig schöne Hitzeperiode doch verdient. Doch, so für zwei, drei Jahre würde ich es hier schon aushallen.« »Länger nicht?« Sie wußte nicht genau, wie er die Frage meinte, sah ihn mit einem leisen Lächeln an: »Natürlich, äh, wenn du hier seßhaft werden willst, eine Familie gründen oder so, plant man natürlich in anderen Zeitdimensionen. Aber, klar, vielleicht läßt sich hier auch länger als zwei oder drei Jahre leben. - Curt, ich habe das doch nur so gesagt.« »Ach ja?« Er hatte sichtlich Freude an ihren Erklä rungsversuchen über das Längerbleiben oder nicht. Ein entgegenkommender Wagen lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Straße. »Sieh’ mal da, ein Wagen der Indianerpolizei, nehme ich an«, murmelte Curt, »ich denke aber nicht, daß die was von uns wollen.« Nicole sah auch die typisch helle Lackierung des 458
Wagens mit der weißrotblauen Lichtanlage auf dem Dach. Als das Dienstfahrzeug heran war, stoppte es wider Erwarten doch. Heraus stieg eine freundlich lächelnde Indianerin in einer braunen Jacke und einem Stern an der Brust. Ihre langen pechschwarzen Haare warf sie mit einer Kopfbewegung nach hinten. »Hi, Madame, Sir, kann ich Ihnen helfen? Haben sie sich vielleicht verfahren? Sorry, mein Name ist Jimmi Bird. Und wer sind Sie, bitte?« Wesley tippte zur Begrüßung kurz mit den Fingern an die Stirn und schlug dann mit einer ausholenden Handbewegung einen Halbkreis: »Wirklich beeindru ckendes Land hier, Officer. Nein, wir haben uns nicht verfahren.« Die zierliche Indianerpolizistin erwiderte den Gruß an die Stirn: »Hm, es ist in der Tat ein einmaliges Land. Wollen Sie mir nicht Ihre Namen verraten?« »Oh, doch, natürlich. Ich bin Curt Wesley und meine Begleiterin heißt Nicole Samisse, Dr. Nicole Samisse, genaugenommen. Wir kommen aus Tucson.« »Aus Tucson? Arbeiten Sie dort oder machen Sie dort Urlaub? Eigentlich klingen Sie nicht wie jemand, der aus Tucson stammt, Sir.« »Wir arbeiten am Carson Peak Observatorium«, antwortete Samisse, »Curt, hm, ich wollte sagen, Dr. Wesley und ich sind Angestellte der NASA. Wollen Sie unsere Dienstausweise sehen?« »Nein, nein, schon gut. Aber hier gab es vor weni gen Wochen sehr viel Aufregung wegen einiger Morde, 459
und deshalb schauen wir uns Fremde etwas genauer an, wenn Sie verstehen, was ich meine. Außerdem befin den Sie sich auf Hopi-Gebiet und mit denen ist seit wenigen Tagen nicht gut auskommen. Sie sollten sich nicht zu lange auf ihrem Gelände aufhalten.« Samisse zeigte zur dritten Mesa hoch: »Dort oben wohnen die Hopi?« »Ja, dort auch, aber auf der dritten Mesa eigentlich nur noch in Oraibi. Fahren Sie dort bloß nicht hoch.« »Weil dort ihr religiöses Zentrum liegt?« »Ja, in einiger Entfernung von Oraibi. Dort dürfen selbst von den Hopi noch lange nicht alle hin. Und Weiße begeben sich sogar in Lebensgefahr, wenn sie dieses heilige Gebiet betreten. Es ist zwar verboten, aber sie würden, um es zu schützen, dafür töten.« Wesley ging zu der Fahrerseite, öffnete die Tür. Dann drehte er sich zu der jungen Polizistin: »Kann ich mir fast nicht vorstellen. Das da oben sieht doch so menschenleer, so friedlich aus?« »So sieht es aus, aber befolgen Sie meinen Rat: fahren Sie auf keinen Fall dort hoch. So, ich muß jetzt weiter. Ich wünsche noch gute Fahrt. Wo soll’s denn eigentlich hingehen?« »Nach Tuba City.« »Schönes Städtchen. Guten Tag.« Dann setzte sich die Indianerpolizistin vom Stamme der Navajo wieder ans Steuer und fuhr davon. Zurück blieben ein beein druckter Astrophysiker und seine hübsche Begleiterin, immer noch den Reiseführer in der Hand.
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Hopi-Reservat / Arizona »Kommt näher, damit ich euch sehen kann«, wisper te eine Stimme durch den Raum. Sie kam vom Lager mit den vielen Decken, »ich habe viele, ja unzählige, Monde auf euch gewartet. Und jetzt berichteten mir meine Brüder, daß ihr gekommen seid. Tretet doch näher.« Ron nahm Lisa fest bei der Hand, spürte die Wärme, die durch seine und ihre Hand strömte. Schritt für Schritt traten sie weiter in den Raum hinein, suchten die Person, die zu ihnen gesprochen hatte. Clausseé und Little G. Wing waren direkt hinter ihnen. Erst sahen sie nur die kräftigen, jungen Indianer, die links und rechts des Bettes standen, dann entdeckten sie ihn. Eigentlich sahen sie nur einen Kopf, ein im rötlich schummrigen Licht kaum wahrzunehmendes uraltes, mit unzähligen tiefen Furchen und Falten überzogenes Gesicht. Kleine braune Augen, tief in den Augenhöhlen liegend, funkelten die Vierergruppe an, wanderten von einem zum anderen, hin und wieder her, blieben letzt lich aber immer auf Clausseé haften. Das dünne Haar war weiß und es lag seitlich neben seinem Kopf. Seine Atmung war unregelmäßig und keuchend. Joan Besavaya stellte sich an die Seite des Bettes, tupfte mit einem Tuch dem unverkennbar schwerkran ken Mann die Stirn. Ron wunderte sich, daß hier im Raum keinerlei medizinisches Gerät vorhanden war. Der Alte gehört doch in eine Klinik, dachte er, bemerk te dann aber etwas Sonderbares. Auch die anderen schienen es wahrzunehmen: das rötliche Schimmern 461
im Raum stammte nicht von einer Lichtquelle, wie sie erst vermutet hatten. Nein, das schwache rötliche Leuchten schien einzig und allein von diesem Kranken auszugehen. Der Alte winkte kaum merkbar mit den Fingern, sah aus seinen jetzt müde wirkenden Augen zu Besavaya. Der verstand. Er beugte sich über ihn und horchte. Dann richtete er sich wieder auf und drehte sich der Gruppe zu: »Aknavi Niman wünscht, daß ich euch in das Geheimnis der Hopi einführe. Er ist jetzt aber zu schwach, möchte seine Kraft für den morgigen Tag aufbewahren, wenn er zu euch sprechen wird.« »Morgen, wieso morgen?« erschrak Lisa und schau te die anderen fragend an.« »Ihr werdet drei Tage hierbleiben. So verlangt es das Gesetz. Nach dem ersten Tag des Eintreffens, der Prüfung und der Einführung, folgt der Tag der Erkenntnis. Das wird hart und hohe Anforderungen an den Glauben und an den Verstand stellen. Am letzten und dritten Tag wird über die Konsequenzen und die auferlegten Aufgaben gesprochen. Ihr werdet in ge trennten Räumen die Nächte verbringen und mit euren Gedanken alleine sein. Versucht dennoch zu schlafen, um gestärkt den folgenden Tagen zu begegnen. In den Räumen wird Nahrung und Trank in ausreichender Menge vorhanden sein. Übermäßiges Waschen erlaubt die Zeremonie nicht. Der Überlieferung nach würde damit die mit jedem Tag mehr gewonnene Weisheit abfließen.« Little G. Wing wurde unruhig: »Wenn ich mich 462
nicht zum Dienst melde, wird man nach mir suchen, bestimmt.« »Tom, mein Sohn, wird dein Fehlen zu erklären wis sen«, antwortete Dan Datchongvi, »niemand wird nach dir suchen. Auch White Bear wird informiert werden.« »Ich mag morgens aber nicht aufstehen, ohne zu mindest geduscht zu haben«, maulte Lisa, »und das drei Tage, nein, ohne mich. Ich will wieder fahren!« Besavaya sah, daß Lisa über diese Situation nach dachte. Dann begann er ein wenig zu lächeln: »Liebe Lisa, ihr kommt hier jetzt nicht mehr fort, ehe die drei Tage vergangen sind. Und glaubt mir, diese ›Unannehmlichkeiten‹ werden überhaupt nicht mehr wichtig erscheinen, so ihr erst die Botschaft des Kachinas erfahren habt.« Er streichelte mit seiner Hand fast beschützend über ihre blonden Haare, die im rötlichen Schein des Raumes nun überhaupt nicht mehr blond wirkten. »Und wann dürfen wir wieder fort«, fragte Ron, schaute abwechselnd Dan und Joan an, »ich denke, Sie wollen uns nicht ewig hier behalten?« »Nein, im Gegenteil. Habt ihr die kosmische Wahr heit erst in euch verinnerlicht, wird eure Aufgabe darin bestehen, die Mächtigen der Welt auf das bevorstehen de Ereignis hinzuweisen.« Aknavi räusperte sich, richtete sich etwas auf. Einer der beiden am Bett postierten Indianer schob ein di ckes Kissen in den Rücken des hageren Mannes: »Joan Besavaya«, röchelte er, »was sagen die Leute? Sie wis sen doch, weshalb sie hier sind, oder etwa nicht?« 463
Lisa und die anderen konnten kaum etwas hören, so zerbrechlich und dünn wurde die Frage gestellt. Besavayas Gehör hatte sich längst auf diese zarte Stimme eingestellt: »Sie sagten, sie wären wegen eines Zeichens hierher gekommen, das sie im fernen Europa entdeckt haben. Es ist das Zeichen, das sie auf ihren Hemden tragen. Und es ist euer Zeichen, Aknavi, euer Kachina-Zeichen.« »Mein Zeichen?« »Ohne Zweifel, euer Zeichen«, wiederholte Besava ya. »Auf ihren Hemden?« Der Kranke richtete sich noch steiler auf und blinzelte in den Raum, sah zu Lisa herü ber, die daraufhin ihre Jacke zurückschlug, das Amulett anhob und den Blick auf das Symbol der ›Norweger‹ freigab. »Es ist tatsächlich wahr«, stammelte der Alte, und man bemerkte, wie es in seinem Kopf arbeitete. Dann erhellte sich sein Gesicht: »Europa heißt der ferne Kontinent, stimmt. Oh ja, Besavaya, ihr erzähltet mir von der Wiederentdeckung meines Zeichens in Europa. Soso, diese jungen Leute waren das. Hm, sollte der rothaarige Eroberer tatsächlich die Botschaft wei tergegeben haben, wie ich es ihm auftrug? Ja, es ist mein Zeichen. Ich gab es einem Wikinger, so nannte man sein Volk, als Mahnung, die Menschen und Mutter Erde stets zu achten und Frieden zu halten.« Er machte eine Pause, rang nach Luft, »ihr Lieben, morgen reden wir mehr darüber, jetzt bin ich zu schwach. Besavaya, bitte!« 464
Joan half dem Alten sich wieder hinzulegen. Dann wandte er sich an die Besucher: »Aknavi braucht jetzt Ruhe. Laßt uns wieder in den anderen Raum gehen.« »Woran ist er denn erkrankt...?« wollte Little G. Wing wissen, unterbrach aber sogleich seine Frage, als Clausseé ihn am Ärmel zupfte und mit ernstem Blick murmelte: »An uns, an uns Menschen.« »Wie?« Lisa drehte sich zu den zwei hinter ihr ge henden Männern um, »wieso an uns?« »Ja, wieso an uns?« wiederholte Little G. Wing die Frage. »Was, was meint ihr?« »Clausseé, du sagtest gerade, der Alte wäre an uns erkrankt.« »Das habe ich gesagt? Ich erinnere mich überhaupt nicht, so etwas gesagt zu haben.« Wortlos blickten sich Little G. Wing und Lisa an. Wenig später befanden sie sich wieder im Vorraum mit dem großen Tisch in der Mitte. Neues Brot, noch mehr Obst und eine große Schale Beeren standen nun auf dem Tisch. Dafür war die hölzerne Puppe aus dem Zimmer verschwunden. Woher haben die bloß die Beeren, staunte Ron und griff ohne zu zögern in die Schale. »Hat jemand vielleicht eine Vermutung, wie spät wir wohl haben könnten? Ich für meinen Teil habe jegliches Zeitgefühl verloren«, fragte Lisa und pochte wiederholt gegen ihre Armbanduhr. Doch diese zeigte immer nur vierzehn Uhr und anscheinend traute sich nicht einmal der Sekundenzeiger auch nur den kleins 465
ten Hüpfer nach vorne zu machen. »Ich spüre die Zeit nicht einmal mehr«, stimmte Ron mit einem Mund voller Beeren ein, »ehrlich, ich habe keine Ahnung, welche Stunde gerade ist. Haben wir erst achtzehn Uhr oder schon einundzwanzig Uhr, ich weiß es nicht.« »Ich glaube, das liegt an der Situation und an diesen unterirdischen Räumen. Wir sind hier bestimmt viele Meter unter dem Pueblo.« Ron nickte Little G. Wing zu: »Mit Sicherheit. Wir sind tief im Boden, bis auf den nackten Fels. Aber ich schätze, daß wir uns nicht einmal mehr unter dem Pueblo befinden, sondern irgendwo seitlich davon. Denkt doch an den langen Marsch, den wir nach dem letzten Abstieg machen mußten.« Er ging an eine der Wände und schlug mit der Faust dagegen, »ich habe es mir gedacht: Fels, keine gemauerte Wand. All die se Räume sind tief in den Berg geschlagen worden. Wahrscheinlich schon vor Jahrhunderten. Sicher zum Schutz und als Versteck für die Hopi vor Feinden. Nur...«; er drehte sich nach allen Seiten um, schau te auch die grobflächige Decke ab, »nur irgendwo muß doch ein Lüftungsschacht existieren. Schließlich brauchen all die Kerzen und Fackeln doch Sauerstoff. Und die Indianer, die hier unten leben, ebenso. Aber ich kann keine Öffnung entdecken.« In ihm war der Physiker geweckt worden. Dan Datchongvi und Joan Besavaya hatten abseits gestanden und die Unterhaltung interessiert verfolgt. »Setzt euch«, kam dann Besavayas Aufforderung, 466
»setzt euch und hört mir zu.« Er setzte sich als erster, Dan folgte und auch Ron, Lisa und Clausseé setzten sich, Little G. Wing zog es vor zu stehen. »Little G. Wing, setz’ dich auch zu uns. Ich möchte euch allen etwas über unser Volk erzählen. Und da dich doch die Morde an unseren Stammesbrüdern interes sieren, solltest du besonders gut zuhören.« Wie? Was meinte Besavaya, stutzte der Navajo, will er mir etwa Hinweise über die Verbrechen im Reservat geben? Schnell setzte er sich neben Clausseé, stützte sich erwartungsvoll mit den Ellenbogen auf den Tisch. »Es ist richtig«, begann Besavaya, »unser Volk ist klein gemessen an der Zahl unserer Stammesmitglieder. Und als sich 1906 ein Teil von der Tradition und der Pflicht, die uns auferlegt worden war, lossagte, um sich dem Lebensstil des weißen Mannes zu öffnen, wurde es für den verbleibenden Teil noch wichtiger, zusammen zu halten. Seit vielen hundert Jahren ist es die Aufgabe unseres Volkes, auf die Erde zu achten. Diese göttliche Pflicht bekamen wir durch Abgesandte des Kosmischen Rates der Zwölf Planeten auferlegt. Diese Abgesandten, die sich Kachinas nannten, besuchten schon seit der Zeit der Atlantis-Vernichtung die Erde. Ihre Aufgabe war es, neuerliche Verfehlungen der Menschen gegen Mutter Erde im Keim zu ersticken. Als sie zu uns ka men, brachten sie uns die Kunst des Ackerbaues bei und gaben uns viele nützliche Tips und Verfahren im Umgang mit den Dingen des alltäglichen Lebens. Aber besonders gewährten sie uns Einblick in ihre unsäg liche Güte, die erlaubte, daß die Menschen hier auf 467
diesem Planeten leben durften. Schon dreimal vor un serer Geschichte, zuletzt vor rund zehntausend Jahren, waren andere Völker hier angesiedelt worden. Sie alle verstanden nicht, das Geschenk Erde zu achten und zu respektieren, wurden überheblich und machtsüchtig. Dreimal hatte der Rat der Zwölf entschieden, diesen Zivilisationen die Erde wieder zu entreißen. Das letzte Volk, das sich der Erde als nicht würdig erwies, heißt in der westlichen Welt ›Atlantis‹. Sicherlich ist auch euch die Erzählung über den Mythos vom Untergang der Atlanter durch eine verheerende Flutkatastrophe bekannt. Aber was ein griechischer Philosoph namens Platon 350 v. Chr. niederschrieb, war bittere Wahrheit. Auch damals erfolgte die vom Zwölferrat beschlossene Bestrafung der ›Ungehorsamen‹ auf der Erde aus dem Kosmos. Eine gigantische Flutwelle wurde auslöst. Leider wurde viel unschuldiges Leben auf der Erde mit ausgelöscht. Damit bei einer neuerlichen Bestrafung nicht die Pflanzen- und Tierwelt vernichtet würde, soll te das Ende einer Menschenrasse diesmal nicht durch Meteore oder Asteroiden erfolgen. Aber ob es tatsäch lich bis zum Allerletzten kommen wird, liegt in der Hand von uns Menschen. Gehen wir respektvoll und maßvoll mit der Ausbeutung von Bodenschätzen auf der Erde um, achten wir Flora und Fauna und vor allem, schaffen wir es, in friedfertiger Koexistenz miteinander zu leben, ungeachtet der Religion oder Hautfarbe, ohne Neid und Habgier, die Menschheit könnte bis in alle Ewigkeit diesen Planeten ihr Eigen nennen. Die Hopi erhielten den Auftrag von den Abgesandten der Götter, 468
in die Welt hinauszuziehen und die Menschen bei an haltendem Fehlverhalten auf unvermeidliche katastro phale Konsequenzen hinzuweisen, und gleichzeitig zur Besserung zu mahnen. So ziehen wir bis heute durch die ganze Welt, um diese wichtige Aufgabe zu erfül len.« »Stimmt«, unterbrach Clausseé und tippte mit der Fingerspitze energisch auf die Tischplatte, »ich war selbst bei einer solchen Tour dabei. Aber nie hat je mand wirklich zugehört.« »Ja, leider, so ist es«, bestätigte Besavaya, »ich selbst habe viele dieser Reisen mit auserwählten Stammes angehörigen unternommen. Man wollte unsere mah nenden Worte einfach nicht hören. Doch eines Tages werden die Kachinas sehen, daß das Maß der Ignoranz voll ist und dem Kosmischen Rat Meldung machen.« Besavaya machte eine Pause, griff einen der Becher auf dem Tisch und schenkte sich aus einer bereitstehen den Kanne ein. Genüßlich trank er den Becher leer. Ron, der die ganze Zeit ergriffen gelauscht hatte, räusperte sich: »Und die Puppen symbolisieren diese Abgesandten?« »So ist es. Schon die Hopi-Kinder sollen darauf vor bereitet sein, wenn es soweit ist, die Zeit der letzten Konsequenz naht. Und sie ist nicht mehr fern. Längst hat der große Rat seine Entscheidung gefällt und die Konsequenz verkörpert Aknavi, der Alte nebenan. Doch jetzt seid ihr gekommen, um im Sinne des Rates eine allerletzte Möglichkeit zu nutzen.« »Was ist es, für was sind wir vorgesehen? Und nur, 469
weil wir zufällig solch ein altes Symbol auf der Brust tragen, sollen wir Auserwählte sein? Das kann nicht sein, das glaube ich nicht. Ich bin ja noch nicht mal Amerikanerin«, entgegnete Lisa verlegen; »wenn ich den Ron nicht in England kennengelernt hätte, wäre ich nämlich überhaupt nicht hier.« Besavaya lächelte verständnisvoll: »Liebe Lisa, was für dich wie eine Aneinanderreihung von Zufällen aus sieht, ist längst geplant gewesen. Nichts was du, oder überhaupt wir alle machen, ist Zufall. Alles ist vorbe stimmt. Daß ihr alle morgen die Offenbarung erfahren werdet, ist schon vor tausend und mehr Jahren so fest gelegt worden. Und was heißt schon ›Amerikanerin‹ sein oder nicht. Gab es, als die Kachinas über die Kontinente zogen, schon all die unterschiedlichen Völkergruppen, ihre heute gängigen Namen? Nein, es gab die Menschheit, mit ihren positiven Eigenschaften wie Überlebenswillen, Gemeinschaftssinn, Gläubigkeit usw., aber auch mit negativen Veranlagungen wie Neid, Eifersucht, Arroganz, Machthunger und vieles mehr. Welche Seite würde überwiegen? Alles wiederholt sich. Woran drei Besiedelungsversuche auf der Erde weit vor unserer Zeit letztlich scheiterten, daran wer den auch wir zugrunde gehen. Seht euch doch um: dau ernd toben irgendwo irgendwelche Kriege auf der Welt, zunehmende Kinderfeindlichkeit, Neid, Ehebruch, Ausrottung ganzer Tierarten, dekadente Lebensweisen trotz Hunger auf der Welt - und was tun wir? Wir zucken mit den Schultern und drehen uns weg. Aber die Hopi drehen sich nicht weg und glauben an eine 470
Besinnung der Menschen. Und die Zeichen der letzten Wochen waren unverkennbar. Nach der Prophezeiung ist der letzte Akt eingeläutet. Atlantis wird sich wie derholen. Aber auf eine andere, noch grausamere Art. Ihr habt sicher schon vom Ende der Welt gehört, wenn auch aus anderen Quellen.« Dabei griff er in seine Gesäßtasche und holte ein in Leder gebundenes, abge wetztes Büchlein hervor und legte es auf den Tisch. Es sah aus wie ein Gebetbuch der Christen. »Es ist eine Zusammenfassung von Auszügen des Neuen Testaments. Ich überlasse euch das Büchlein. Besonders sollte euch die Offenbarungsgeschichte des Johannes faszinieren. Ihr werdet bei der Beschreibung der einzelnen Zeichen, die euer Gott senden wird, wenn sich das Ende der Welt ankündigt, einige Dinge wiedererkennen. Lest es.« Dan Datchongvi stand vom Tisch auf. Er wußte, daß Besavaya mit diesem Schlußwort seinen Vortrag been det hatte. Die jungen Leute, der Navajo und Clausseé hatten für heute in der Tat genug erfahren, um für den morgigen Tag seelisch gewappnet zu sein. Auch Besavaya erhob sich und schaute jedem Einzelnen noch einmal tief in die Augen. Dann überzog ein gü tiges Lächeln sein Gesicht: »So, kommt mit, ich zeige euch eure Räume für die Nacht. Bitte, folgt mir!« Er griff nach einer der Wandfackeln, und sie verlie ßen den großen Raum. An der rechten Wand des langen Ganges, durch den sie auch gekommen waren, befan den sich Türen, sechs an der Zahl. Drei davon standen offen. Man verabschiedete sich, und nacheinander be 471
traten sie ihre zugewiesenen Unterkünfte. Mit lautem Krachen flogen die schweren Türen hinter ihnen ins Schloß. Nach wenigen Sekunden waren die sich ent fernenden Schritte der beiden alten Hopi nicht mehr zu hören. Ron und Lisa standen ratlos in ihrem schwach er hellten Raum. Nur eine flackernde Fackel an der Wand warf die Schatten der beiden in gespenstischer Form an Decke und Wände. Ron hastete zurück, wollte vorsichtig die Tür öffnen, nichts zu machen, sie war von außen verriegelt. Enttäuscht ging er zum großen Schlaflager und ließ sich darauf fallen. Weiche Felle bildeten Unterlage und Zudecke. Ron lag auf dem Rücken und starrte in die Höhe, mußte plötzlich kurz auflachen: »Weißt du, Lisa, wir waren so fasziniert da von, hier bei den Hopi-Indianern eine Erklärung für die Verbreitung unseres Zeichens zu erhalten. Statt dessen sind wir zum Mittelpunkt ihres Rituals geworden.« Er fand es spannend und beängstigend, total aufregend, und gleichzeitig konnte er eine gewisse Sorge um Lisa nicht verhehlen. Lisa hatte sich zu dem kleinen Tisch und den zwei Hockern, die in einer Ecke des Raumes standen, bege ben. Auch hier befand sich eine hölzerne Schale mit Obst und eine Kanne mit Wasser. Außerdem hatte man ihnen eine Kerze auf einem Holzteller hereingestellt. Sie setzte sich, nahm einen Apfel und schaute sich im Raum um. Er war sehr bescheiden eingerichtet. Neben dem Bett, dem Tisch und den zwei Hockern, befand sich hier nur noch eine Kommode. Eine große Schüssel 472
und eine zweite, größere Kanne standen dort. Sicherlich die Waschmöglichkeit, dachte sie. Apfelessend ging sie auf den noch immer lächelnden Ron zu, setzte sich seitlich auf die Bettkante und ließ sich zurückfallen. »Uff, hörte man ihn stöhnen, als Lisas Kopf auf seine Magengegend plumpste, »Mann, hast du einen schweren Kopf.« »Tja, mein Lieber, da stecken ja auch die ganzen Neuigkeiten der letzten Stunden drin.« Sie biß erneut herzhaft in den Apfel und ließ nur noch einen winzigen Rest übrig. »Hier muß doch irgendwo eine Lüftung nach drau ßen führen«, murmelte Ron plötzlich vor sich hin, rich tete sich wieder auf, nahm dabei Lisas Kopf behutsam in seine Hände, gab ihr schnell einen Kuß auf die Stirn und schob sie zur Seite, um aufstehen zu können. Dann untersuchte er den Raum nach möglichen Öffnungen. Aber er konnte nicht die kleinsten Luftschächte ent decken. Lisa fand das breite Lager mit den Fellen romantisch. Auch fiel ihr jetzt auf, daß es überhaupt nicht kalt war im Raum, wie man es sonst von Höhlenbauten gehört hatte. »Darling, komm, wir sollten ein wenig schlafen. Hör’ doch auf, nach einem Schlupfloch zu suchen, es ist keines da. Leg’ dich her. Morgen soll der Aknavi uns ruhig erzählen, was er will. Aber diese Nacht gehört noch uns allein.« Ron hatte sich seitlich zu ihr auf das Lager gelegt, legte seinen Arm über sie, griff ihren Hinterkopf und 473
zog sie zu sich heran. »Recht hast du, genießen wir dieses Abenteuer.« Dann küßte er sie voller Leidenschaft. Clausseés Raum war ähnlich ausgestattet wie die Unterkunft von Ron und Lisa. Er hatte keinen Appetit, wollte nichts mehr essen von dem, was ins Zimmer gestellt worden war. Er hatte sich aufs Lager gewor fen, gleich nachdem er seinen Schlafraum betreten hatte. Doch schlafen konnte er nicht. Oder wollte er nicht? Hatte er Angst vor Alpträumen? Besonders, da der alte Aknavi ihn immer und immer wieder so ein dringlich, ja fast prüfend, angeschaut hatte. Was wollte er von ihm? Von wegen, er wäre jener welcher, doch nicht er. Er kratzte sich dabei unbewußt die Narben in seinen Handflächen. Warum sie wohl juckten, gar ein wenig schmerzten? Hatte sicher nichts zu sagen. Aus Gewohnheit blickte er auf seine Armbanduhr. Oh, stimmt ja, dachte er, die geht nicht hier unten. Warum eigentlich nicht? Und warum hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Er wußte nicht einmal genau, wie lange er schon hier war. Einen Tag doch mindestens, höchstens eineinhalb - oder weniger, oder schon län ger? Ach, was sollte es. Morgen würde der alte, kran ke Mann mit ihnen sprechen, und dann ließe man sie hoffentlich auch schon bald wieder gehen. Aber eine Unruhe war da dennoch. Wieso wußte Dad, daß er jetzt hier sein würde, um die Dinge zu erfahren, die Großvater und er schon wußten oder zumindest erahn ten? Hätte er ihn sonst auf diese Begegnung vorberei 474
tet? Dad, verdammt, was geht hier vor? Clausseé lag auf dem Lager, mit offenen Augen, und er hatte Angst vor neuen, schlimmen Träumen. Zwei Türen weiter grübelte Little G. Wing über die Aussagen Besavayas nach. Er lag völlig bekleidet auf dem Bett, starrte vor sich hin und versuchte, die Situationen, als er die toten Hopi vorfand, zu rekonst ruieren. Hatte er damals wirklich nichts übersehen. War bei den Wupatki Ruins und am Fundort des zweiten Ermordeten wirklich nichts weiter gefunden worden? Er hatte solch ein ungutes Gefühl. War er dem Täter hier in Tukunavi vielleicht näher als er glaubte? Was wäre, wenn er an Hand der Motive erkennen müßte, daß die Tötung der beiden Hopi am Ende gar kein Mord im Sinne der Definition war, sondern andere Ursachen dafür verantwortlich waren? Aber die beiden Weißen? Deren Tötung konnte nur durch niedere Beweggründe erfolgt sein. Er würde es herausbekommen, er, und nicht die arroganten FBI-Kerle. Dabei schaute er dem unruhigen Flackern der Fackel zu. Dann fielen seine Gedanken auf das junge Paar, das er so großzügig zu begleiten bereit gewesen war. Nett, sehr nett, dachte er. Und die passen auch zusammen, obwohl, Ron scheint noch etwas anderes zu bedrücken, etwas Familiäres, wie er selbst angedeutet hatte. Aber er war okay. Und die blonde Lisa aus Europa, ein tolles Mädchen. Plötzlich fiel ihm Jimesava ›Jimmi‹ Bird ein, seine heimliche Liebe. Seit einem Jahr, seit ihrem Eintritt in die Navajo Tribal Police, kannte er sie. Und er mochte sie vom ersten Augenblick an. Bei nächster sich bieten 475
den Gelegenheit mußte er ihr seine Zuneigung geste hen, unbedingt. Nur wie, und bei welcher Gelegenheit? Die Flugshow in Winslow wäre dafür perfekt gewesen. Er würde sich etwas einfallen lassen. Oder mußte er erst mit ihrem Vater, dem alten Adam Fox, reden? Ach, es wird sich zeigen, und klappen, bestimmt. Little G. Wing gähnte, spürte seine Müdigkeit. Er wollte den Raum abdunkeln, sah zur Wand und murrte: »Was ist mit der verdammten Fackel, die kann ich doch nicht einfach löschen?« Camden / Maine An der Ostküste hatte seit der Halloween-Nacht das Wetter sein anderes Gesicht aufgezogen. Verschwunden war das farbenprächtige Bild der Natur. Das Rot der Landschaft und das Blau des Herbsthimmels mußten sich jetzt dem Grau einer Schlechtwetterperiode beu gen. Von Tag zu Tag sanken die Temperaturen und es wurde stürmischer. Und damit verschwanden auch die unzähligen Gäste aus dieser Region. Viele der pit toresken Küstenorte bereiteten sich nun auf ihre Art ›Winterschlaf‹ vor. Auch in Camden machte sich diese alljährlich wie derkehrende Ruhe breit. Nur hin und wieder bildete der Tod von Mrs. Benson Thema eines Gesprächs, oder die Explosion des Autos von Ron Millar, einem weiteren Mitglied der Gemeinde. Neue Erkenntnisse gab es oh nehin nicht. Vor dem Millar-Haus bedeckten unzählige mattge wordene Ahornblätter den Boden der Straße und des 476
Vorgartens. Nur die Auffahrt und der Eingang des Hauses war durch Ben von den Blättern befreit wor den. »Ron ist von einem Ausflug zum Indianer-Reservat noch nicht zurückgekehrt«, berichtete Ruth ihrem Mann, als sie wieder in Wohnzimmer kam und sich auf das Sofa mit dem Blumenmuster setzte. »Und seine Freundin, und der Professor? Waren die beiden auch nicht zu erreichen?« »Nein, sie sind mit Ron unterwegs. Ich habe mit einem gewissen Trucker George gesprochen. Du er innerst dich, von dem ist die Telefonnummer, die uns Ron bei seinem letzten Anruf gegeben hat.« »Ja, sicher erinnere ich mich«, antwortete Ben Millar, »und dieser Motelbesitzer wußte nicht, wo die drei genau sind, oder wo man sie erreichen könnte?« »Nur soviel, daß sie eine Stippvisite zum Reservat der Hopi vorhatten, und von dort sind sie bis jetzt noch nicht zurückgekehrt. Aber er war sich sicher, daß sie zum abendlichen Barbeque wieder da seien werden. Wir sollten uns keine Sorgen machen. Außerdem hat ein Indianerpolizist sie ins Reservat begleitet.« In diesem Augenblick betrat eine junge Frau das Wohnzimmer. Es war Ginger. Sie lächelte: »Bob schläft jetzt. Ich glaube, bald ist er wieder obenauf.« Sie stellte sich an das große Fenster und schaute in den von Lampen erhellten Garten. Alle staunten sie über den frühen Wintereinbruch. Schon seit den frühen Abendstunden tänzelten zar 477
te, weiße Flocken draußen vom Himmel nieder. Wie weißer Puder hatte sich feiner Schnee über Rasen und Beete, Kürbisse und über die alten Äste den Kirschbaumes gelegt. Die Millars liebten es, bei knis terndem Kaminfeuer dem Schneefall zuzuschauen. »Ron konnten wir nicht erreichen, Kind. Ich glaube, er hätte sich sehr gefreut, mit dir zu sprechen.« »Mom, ich hätte auch gern mit ihm gesprochen, glaub mir.« Ben stand auf: »Ich schaue mal nach Robert.« Seine Frau hielt ihm am Arm zurück: »Ben, laß gut sein. Ginger sagte doch, daß er schläft. Bleib’ hier.« Er zögerte, drehte sich dann wieder um, trat an den Kamin und ergriff einen der vielen silbernen Rahmen mit Fotos der Familie. Es war ein Bild, das Bob und Ron auf dem örtlichen Footballfeld zeigte, wie sie sich nach einem gewonnenen Heimspiel gutgelaunt foto grafieren ließen. »Hier sehen die Jungs wirklich wie Zwillinge aus, Ruth, was meinst du?« Er ging zu seiner Frau und zeigte es ihr. Sie nahm es in die Hand, während sie dabei Ben anschaute, sei ne Art Traurigkeit beobachtete. Er war verändert seit Bobs Unfall, verletzlicher geworden. Er brauchte seine Jungs, alle beide. Und sie? Brauchten sie ihn auch? Sie hoffte es ein wenig. »Das stimmt. Auf dieser Aufnahme sehen sich die beiden wirklich sehr ähnlich.« Ginger löste sich vom großen Fenster, ging zu ihrer Mutter und setzte sich neben sie. Ruth spürte, daß auch ihre Tochter sich gewandelt hatte. Reifer, vernünftiger schien sie geworden. Sie hatte es gleich bemerkt, als 478
ihre Tochter am Vorabend plötzlich in der Tür stand. Vorbei und Schluß mit der Filmkarriere, hatte sie ge sagt, und daß alle Typen sowieso Idioten wären und sie jetzt über ihre Ziele neu nachdenken wolle. Als sie in Boston erfahren hatte, daß Bob schwerverletzt im Krankenhaus lag und der andere Bruder vor Leuten, die ihn anscheinend töten wollen, in den Südwesten der USA geflüchtet war, mußte sie einfach nach Hause kommen. Sie hatte sich ihres egoistischen Denkens ge schämt, als sie hier vor ihren Eltern auftauchte. Doch Ruth und Ben waren überglücklich, daß ihre Kleine wieder den Weg nach Hause gefunden hatte, und be sonders, daß sie jetzt den Schauspielerei-Tick erst ein mal hinter sich gelassen hatte. »Zeig’ mal her«, schon hatte Ginger ihrer Mutter das Bild aus der Hand genommen, »meine Brüder, meine großen Brüder.« »Bobs Beine werden auch wieder gesund«, meinte Ruth, »bestimmt. Jetzt, wo wir ihn seit heute Morgen im Haus haben, wird er sicher bald wieder obenauf sein. Aber du weißt, Ginger, niemand darf wissen, daß Bob schon wieder zu Hause ist. Offiziell ist er noch im mer im Krankenhaus und liegt dort in tiefem Koma.« »Jaja, ich weiß. Das hast du mir heute Morgen schon eingetrichtert. Ich sage schon nichts.« »Hoffentlich ist Ron und Lisa nichts zugestoßen in Arizona. Ich glaube nämlich, da herrschen auch heute noch Wild-West-Manieren.« »Mom!« konterte Ginger, »Ron ist doch einer, der sich zu wehren weiß, oder etwa nicht?« 479
»Schon«, bestätigte Ben, »aber er hat Lisa dabei. Und für sie trägt er schließlich die Verantwortung.« »So’n Quatsch. Wenn Lisa mit ihm geht, dann ist sie für sich selbst verantwortlich. Junge Frauen sind da heute anders. Ich würde liebend gerne diese Lisa einmal kennenlernen. Sie muß schon etwas Besonderes sein, wenn mein beziehungsgeschädigter Bruder sich erneut an ein weibliches Wesen heranmacht, ich meine natürlich in Bezug auf feste Bindung.« »Sie ist etwas Besonderes«, antwortete Ben, »und sie paßt zu Ron. Aber sie kommt aus Schweden. Da müssen wir halt abwarten, ob etwas daraus wird.« Im Kamin knisterten die Holzscheite. Draußen wurde die Schneedecke mittlerweile immer dicker. In Kürze würde Ben wohl hinausmüssen, um die Auffahrt freizufegen. Alle schwiegen, lauschten nach dem Telefon. Ob wohl es niemand aussprach: man fieberte einem Rück ruf aus Arizona entgegen. In einer Ecke des großen Wohnraumes lief schon den ganzen Abend der Fernseher, auch wenn niemand rich tig hinsah. Im Lokalsender zeigten sie zum wiederhol ten Mal einen Bericht über den ungeklärten Todesfall der alten Mrs. Benson. Und sie gaben zum wiederholten Mal ihre Vermutung bekannt, daß der oder die Täter wohl in das Hause ein gebrochen und dann möglicherweise von der Besitzerin überrascht worden waren. »Die arme Frau. Gibt es eigentlich Angehörige«, wollte Ginger wissen, die jetzt den Nachrichten ge 480
lauscht hatte, »das Haus wird doch sicher verkauft werden, oder? Vater, du als mäkelnder Anwalt müßtest doch wissen, ob das Haus zum Verkauf steht. So ein schönes, altes Haus findet doch bestimmt schnell neue Besitzer.« »Hm, eigentlich wollte ich hier zu Hause nicht mehr über Geschäfte reden. Besonders jetzt, wo Bob krank ist und wir endlich wieder mal alle beisammen sind. Aber ich bin tatsächlich von dem Bruder der alten Mrs. Benson gebeten worden, quasi als Nachbar, das Haus zu verkaufen.« Ruth schaute ihren Mann an: »Und? Ich hoffe, du denkst in diesem Fall weniger an die Provision und achtest mehr auf die Leute, die wir möglicherweise als neue Nachbarn bekommen werden?« »Ja, sicher Ruth, glaubst du denn, ich will irgend welche versnobten New Yorker hier haben?« Er hatte Ruths Worte mit stiller Freude aufgenommen. Sie sieht das hier also immer noch als ihr zu Hause an, trotz der Wohnung in Augusta. Sollte Bobs Unglück am Ende die Familie wieder vereinen? Es läutete plötzlich an der Tür. »Wer kann das sein?« fragte Ruth überrascht. Ben zuckte mit den Schultern: »Keine Ahnung, ich erwarte niemanden.« »Ich gehe schon«, Ginger sprang auf und eilte zur Tür, um sie zu öffnen. Draußen standen zwei Männer, in der Auffahrt ein Ford. Die Lampe über der Tür war immer noch nicht in Ordnung gebracht worden und so trat Ginger zur Seite, damit das Flurlicht auf die abend 481
lichen Besucher fallen konnte. Mit Schnee auf Haaren und Schultern traten die beiden vor und wiesen sich als Inspector Lasino und Sergeant Turley aus. Sie verlang ten Ben Millar zu sprechen. Dieser war bereits in den Flur gekommen und als er die beiden Beamten erkannte, bat er sie herein: »Sie bringen ja ein tolles Wetter mit, Inspector.« »Ich weiß«, lachte Lasino und schlug sich auf die Arme, daß der Schnee vom Mantel hochpulverte, »bei dem Schneetreiben wären wir auch lieber daheim als unterwegs, glauben Sie mir.« Sie gingen ins Wohnzimmer. Ruth begrüßte die beiden Beamten, fragte, ob sie etwas anbieten dürfe. »Danke, nicht nötig«, antwortete Lasino, »wir wol len uns auch kurz fassen. Heute Vormittag meldete ein Trupp Pfadfinder eine Explosion und den Fund eines Toten in einem Waldgebiet bei Rockport, oberhalb der Küste bei den ›Drei Spanischen Kapitänen‹. Der Tote, besser der Ermordete, denn er wurde von hinten erschossen, war ein bekannter Professor. So weit, so schlimm. Was uns Sorgen macht ist, daß sich in der Brieftasche des Ermordeten ein Zettel befand mit der Notiz, daß Ihr Sohn Ron zusammen mit einem gewis sen Clausseé in Winslow/Arizona bei einem gewissen Trucker George zu erreichen wäre. Und nun befürch ten wir, daß der Aufenthaltsort der drei nun auch denen bekannt sein dürfte, die, vielleicht über den Professor, an Ihren Sohn herankommen wollten, und jetzt auch können. Sie sollten ihn anrufen und ihn über diese neue 482
Situation unterrichten und daß er die Augen aufhalten und auf der Hut sein soll.« Ruth schlug erschrocken die Hand vor den Mund. »Wer ist denn der Ermordete, der im Wald gefunden wurde?« fragte Ben. »Nach unseren Erkenntnissen handelt es sich um einen Wissenschaftler mit Wohnsitz in San Francisco, der aber regelmäßig in Boston anzutreffen war, wenn er in der Harvard Universität Vorlesungen hielt. Sein Fachgebiet war die Anthropologie und sein Name war McHolis. Kannten sie den Mann vielleicht?« »Nein«, antwortete Ben und auch die beiden Frauen schüttelten ihre Köpfe, »und der hatte die Anschrift un seres Sohnes in Arizona?« »Und die Telefonnummer, tut mir leid. Warnen Sie ihn besser. Übrigens, Herr Millar, das Grundstück, auf dem das Verbrechen stattgefunden hat, war jenes, das Sie seit geraumer Zeit dem Besitzer abkaufen wollen, haben wir herausgefunden. Wir müssen jetzt aber wei ter. Vielleicht haben die Ermordung des Professors und der Anschlag auf Ihren Sohn gar nichts miteinander zu tun, das wäre mir natürlich sehr lieb. Aber ich dachte, wir sollten Sie besser über diese Sachlage informie ren. Okay, das war’s. Wir finden die Tür schon, auf Wiedersehen.« Als die Beamten fort waren und Ben zurück ins Zimmer kam, machte er ein nachdenkliches Gesicht: »Merkwürdig, die von Lasino erwähnten Interessenten für das Benson-Haus, sind aus derselben Stadt, wie die, die das ›Rockport-Grundstück‹ haben wollen: 483
aus Seattle. Ich habe sie einmal persönlich getroffen, seltsame Typen, sag’ ich euch, sprachen mit Akzent und trugen ständig dunkle Brillen. Wahrscheinlich Immigranten oder Mitglieder einer Sekte, oder beides.« »Das ist mir im Augenblick ziemlich egal«, erwi derte Ruth, »ich hoffe nur, daß Ron noch anruft, jetzt mehr denn je. Sonst rufe ich in einer Stunde nochmals Trucker George an. Ich muß die Kinder doch war nen.« Hopi-Reservat / Arizona Die Decke des Raumes reflektierte das unruhige Flackern der Wandfackel. Vor wenigen Minuten war Lisa erwacht und beobachtete nun das sich ständig verändernde Lichtspiel über sich. Sie drehte den Kopf zur Seite, schaute nach Ron. Der schlief noch tief und fest. Wenn ich nur wüßte, wie spät es ist, grübelte sie, vor der Nachtruhe konnte sie die Zeit nicht einordnen, und jetzt, nachdem sie geschlafen hatte, war jegliches Zeitgefühl absolut weg. Wie lange hatte sie geschla fen? War es früher Morgen? War es schon Mittag? Dadurch, daß nicht das kleinste bißchen Tageslicht in diese unterirdischen Höhlen drang, konnte sie sich nicht einmal am Sonnenstand orientieren. Aber ganz sicher war heute der 7. November, ganz bestimmt. Es mußte der 7. sein. Sie richtete sich auf, ergriff dann auf dem Boden neben dem Bett ihr T-Shirt und zog es sich über. Als sie aufstand, sah sie, daß rund um ihr Schlaflager ihre und Rons Kleider verteilt lagen. 484
Ein erinnerndes Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. Sie verspürte leichten Hunger und wollte sich gerade einen Apfel vom Tisch nehmen, als ihr Blick auf die kleine lodernde Kerze fiel, die schon am Vortag dort für spärliches Licht gesorgt hatte. Sie zog ihre Brauen zusammen, war irritiert: seit Stunden brannte die Kerze nun schon, war aber kaum heruntergebrannt, höchstens drei bis vier Millimeter. Wie war so etwas möglich? Lisa schüttelte den Kopf, biß dann herzhaft und ebenso laut in den Apfel, daß Ron den Kopf hob und herüber blinzelte. Für Momente schien er durcheinander, dann wußte er wieder, wo er war. Er sah Lisa am Tisch sit zen: »Hi, schon munter?« »Hm«, nickte sie mit dem Kopf, konnte wegen des vollen Mundes gerade nicht reden. Ron reckte sich, bekam beim Anblick der essenden Freundin ebenfalls Appetit auf Obst. Er stand auf und tapste barfuß, nur mit der Unterhose bekleidet, zu Lisa. Im Nu hatte auch er einen Apfel in der Hand und biß genüßlich hinein. »Und, wie geht’s dir?« flüsterte sie ihm von der Seite ins Ohr, »hast du gut geschlafen?« Der kauende Ron lächelte sie an: »Oh, ja, Und da bist du ja nicht ganz unschuldig dran, nicht wahr?« Dabei streichelte er über ihren schmalen Rücken. Es kitzelte Lisa, und sie wollte gerade ebenfalls lä chelnd antworten, als sie jäh stoppte. Von außen wurde die Tür entriegelt. Schnell sprangen beide wieder ins Bett und zogen sich das weiche Fell bis zum Hals hoch. 485
Die Tür wurde aufgestoßen und Joan Besavaya trat ein, begleitet von Tom Datchongvi. Wieder trug dieser eine Waffe. Sie kamen bis ans Bett. »Steht auf, reinigt euch und zieht euch an. Ihr wer det im großen Raum gemeinsam ein Essen einnehmen, bevor wir Aknavi die Ehre erweisen. Beeilt euch. Wir kommen gleich wieder, euch zu holen.« »Das fängt ja gut an«, murmelte Ron und sprang aus dem Bett und ruckzuck in seine Jeans. Nach dem Hemd mußte er erst suchen, ha, unter einem der Felle lag es versteckt. Erstaunlich schnell hatte er sich ge waschen, und mit ein paar schnellen Handbewegungen durch’s Haar war das Kämmen erledigt. Lisa dagegen nahm sich mehr Zeit für die Morgentoilette, wusch sich ausgiebig, ganz entgegen den Ritual-Regeln. Noch schnell etwas Aufräumen, die Felldecken gerade gezo gen und schon signalisierte sie, daß sie jetzt wohl zum Frühstücken könnten, oder war vielleicht gar schon Mittag? Im großen Raum trafen sie Little G. Wing, der sie lä chelnd begrüßte, und auch den Professor. Beide saßen bereits am langen Tisch. Aber schon beim Eintreten fiel ihnen auf, daß Clausseé ziemlich in sich gesackt auf seinem Stuhl saß. Nur ganz langsam drehte er den Kopf, als er Ron und Lisa mit den beiden Indianern he reinkommen hörte. Seine Hände waren mit provisori schen Wickeln verbunden, und er hielt sie vor sich auf dem Tisch. Er grüßte nicht, sagte kein Wort. »Hey, Professor, was ist los mit Ihnen«, versuchte Lisa ihn aufzumuntern, »heute erfahren wir wichtige 486
Dinge, haben Sie das vergessen?« Clausseé reagierte nicht. »Er muß schreckliche Träume gehabt haben«, ver suchte Little G. Wing zu erklären, »ich habe ihn einmal laut schreien hören.« »Wie furchtbar«, Lisa versuchte Clausseé zu drü cken. Er blieb ohne Reaktion. Seine Augen wirkten eingefallen, sein grauer Zopf hing fettig und ungebürs tet über die linke Schulter. »Wer weiß, was er letzte Nacht wieder für Erschei nungen und Visionen gehabt hat?« flüsterte Ron ihr zu. »Er hat mir von seinen Träumen erzählt, als wir von Camden hierher unterwegs waren.« Nachdem auch Ron und Lisa Platz genommen hat ten, stellte sich Joan Besavaya hinter den Professor, faßte ihn energisch an den Schultern und sprach: »Dieser Mann ist nicht schwach, auch wenn es jetzt so aussieht. Dieser Mann ist nicht so lustig, wie er immer tat. Er ist stark und muß die Stärke jetzt für sich reali sieren. Seine Träume sind keine Träume, sondern be wußtwerdende vergangene Geschehnisse. Er wird sie in einiger Zeit begreifen und verstehen. Eßt jetzt und trinkt. Danach wird Aknavi euch empfangen.« Sogar Kaffee gab es diesesmal, Maisbrot und natür lich Obst. Ron staunte. Während Besavaya und Tom Datchongvi etwas abseits standen, stärkten sich die drei ausgiebig. Clausseé rührte nur ein kleines Stück Brot an, und er beteiligte sich nicht an der aufkommen den Unterhaltung seiner Begleiter. Gesättigt aber dennoch mit flauem Gefühl im Magen, 487
gingen sie dann zum alten Aknavi. Als sie eintraten, empfing sie wieder das rötliche Licht. Sie bemerkten, daß der Kranke jetzt aufgerichtet auf seinem Lager saß. Wieder waren die beiden Indianer an seiner Seite. Auch waren Dan Datchongvi und die anderen Ältesten vom Vortag anwesend. Zwei von ih nen trugen wieder diese Zweihornkopfbedeckungen. Alle trugen sie Páhos, Gebetsfedern, in ihren Händen. Wie in einem geöffneten Halbkreis saßen zwei von ih nen links und Dan rechts auf dem Boden vor Aknavis Lager. Joan setzte sich zu Dan, während Tom an der Tür blieb, immer noch das Gewehr am langen Arm. Zwischen den vier Ältesten stand auf dem Boden eine flache steinerne Schale, auf der ein offenes Feuer loderte, in das die weisen Männer in regelmäßigen Abständen allerlei Kräuter und sonstige getrocknete Pflanzenteile warfen. Jedesmal stoben viele hundert Funken in die Höhe, und mit der Zeit erfüllte ein selt sames Aroma den Raum. Direkt vor Aknavi waren Kissen auf den Boden gereiht, unschwer zu erraten, für wen sie waren. Joan Besavaya forderte Ron und seine Begleiter auf, sich zu setzen. Als alle saßen, stimmen die Indianer einen Gesang an. Die beiden jungen Wächter an Aknavis Seite hielten plötzlich flache Trommeln in der Hand und begleiteten den Gesang mit monotonem Schlag. Dazu schlug Dan ein Feder-Holz-Instrument, an dem kleine Glöckchen befestigt waren. Ein weiterer Ältester schwenkte eine Rassel. Clausseé schaute hoch, schien aus seiner Trance zu 488
erwachen. Little G. Wing bemerkte es und stieß ihn an: »In was für einer Sprache singen die da eigentlich?« Der Professor zog die Schultern hoch: »Ich habe wirklich schon einige Gesänge der Hopi gehört, aber dieses Lied, und überhaupt diese Sprache ist mir völlig fremd.« Auf ein plötzliches Zeichen von Aknavi verstummte der Gesang und die Instrumente hörten auf. Ron beugte sich zu Lisa rüber, flüsterte: »Paß’ auf, jetzt geht’s los.« Zum Erstaunen aller sprach Aknavi jetzt mit klarer und lauter Stimme in ihrer Sprache: »Die Prophezeiung erfüllt sich. Die Zeichen sind un übersehbar. Der Kosmische Rat der zwölf Planeten wird sich die Erde zurücknehmen, die von der Menschheit der vierten Form so respektlos und zerstörerisch be handelt worden ist. Meine Kraft ist aufgebraucht in all den Jahrhunderten menschlichen Fehlverhaltens. Die Zeichen, die ich ihnen in all den Epochen als mahnendes Symbol überließ, wurden vergessen. Mein Zeichen, das NIMAN-KACHINA-ZEICHEN wurde einfach weg geworfen und mit Füßen getreten. Bis ihr kamt mit mei nem heiligen Zeichen auf euren Gewändern, und durch dieses Zeichen zurückfandet in das Land der Väter und der Kachinas. Ihr werdet dieses Volk hinüberführen in die neue, andere Dimension. Denn einer von euch muß Pahana sein, einer von euch ist auserwählt, das Volk der Hopi vor der schrecklichen Katastrophe zu retten...« »Hey, Moment mal«, unterbrach Ron, wedelte hef 489
tig mit den Armen, »ist ja gut, aber was soll das? Was geht hier eigentlich ab? Also, ich höre dauernd was von Untergang, Menschenvernichtung und so. Kann hier jemand vielleicht mal Klartext reden?« Er schaute zu seiner rechten Seite, wo Joan Besavaya saß, ließ durch sein Mienenspiel erkennen, daß er eine Antwort wollte, ganz gleich von wem. Besavaya schaute zu Aknavi rüber, der durch das Spiel seiner Augen zu verstehen gab, daß er jetzt fort fahren solle, in der Sprache, die der junge, aufbrausen de Mann auch verstehen würde. »Was ist nun«, drängte Ron. »Laß gut sein, mein Freund, man wird es dir erklä ren«, mischte sich ganz überraschend Clausseé ein, »aber ich hoffe, du kannst eine Portion Wahrheit ver tragen.« Ron tat locker: »Wir werden ja sehen.« »Nun gut«, begann der Führer des Ältestenrates, »gerne werde ich der Aufforderung unseres heiligen Mannes folgen und unseren Pahana aufklären.« »Moment, das mit dem Pahana vergessen Sie aber ganz schnell wieder«, plusterte sich Ron erneut auf, so daß Lisa ihm in den Arm zwickte und ihn zur Zurückhaltung aufforderte. Schließlich war das hier keine Kneipe oder Disco, sondern so etwas wie ein Gotteshaus, glaubte sie. Es half. Ron beruhigte sich, versprach, sich die Ausführungen Besavayas anzuhö ren, Pahana hin oder her. »Aknavi«, begann der Führer, »ist ein sehr kran ker Mann. Diese Reden strengen ihn sehr an. Bis vor 490
sechzig Jahren suchte er die unterschiedlichsten Plätze der Erde auf, um wichtige oder mächtige Personen zu treffen. Bei einer dieser ›Reisen‹ wurde sogar auf ihn geschossen. Was ihr nicht wissen könnt, ist, daß dieser alte Mann«, und dabei zeigte er auf Aknavi, der sich gerade wieder nach hinten auf sein Lager niedergelegt hatte, »vor genau vierundzwanzig Stunden, also am 5. November gegen zehn Uhr, seine letzte Herzattacke bekam, und daß wir dachten, er würde sterben.« »War deswegen diese Unruhe in den Hopi-Dörfern?« wollte Little G. Wing wissen. »Sehr richtig. Aber wir konnten ihn am Leben hal ten. Noch so gerade. Denn für die Menschheit darf eines nicht passieren - daß Aknavi stirbt! Aber sie wird es nicht verhindern können, im Gegenteil, die Menschen werden ihn töten, indirekt, wie sie ihn seit Jahrhunderten langsam haben sterben lassen.« Lisa verstand es nicht: »Aber, wie meinen Sie das: wir lassen ihn sterben, seit Jahrhunderten?« »Könnt ihr die Wahrheit vertragen? Ihr werdet sie vertragen müssen - denn nur ihr und eure Begleiter könnt der Menschheit noch helfen, deren Vernichtung nicht verhindern, so zumindest doch hinauszögern.« Fragend schaute sie rüber zu Ron, zu Clausseé und auch zu Little G. Wing. Sie wußte nicht, worauf Besavaya hinauswollte, »können Sie nicht deutlicher werden? Steht uns eine Katastrophe bevor, oder wie muß ich das verstehen?« »Junge Frau, das Ende der Menschheit ist be schlossene Sache. Tut mir leid, oder vielleicht auch 491
nicht«, Besavaya schaute mitleidig auf die irritierte Lisa, »seit mehr als dreißig Jahren ziehen Angehörige meines Stammes schon durch die Welt, besuchten die Regierenden der großen, aber auch der kleineren Länder. Überall warnten sie vor der Ausbeutung der Erde. Doch niemand hörte zu, und wenn jemand zuge hört hatte, tat er dennoch nichts. Selbst die Hinweise auf eine Prophezeiung und deren unabwendbarer Erfüllung, machte keinen Eindruck auf die von der Konsumsucht gesteuerten Erdenbewohner. Und in den letzten tausend Jahren wurde es immer schlimmer. Doch nun ist die Zeit gekommen, diejenigen, die die Erde unaufhörlich geschunden haben, auszumerzen: Die Spezies Mensch, die einfach nicht verstehen will, daß die Erde nicht ihr gehört, sondern man ihr die Erde nur geliehen hat. Doch sie denken gar nicht daran, das Geliehene zu hegen und zu pflegen, nein, von Beginn dieser vierten Menschenform an war ihre Losung nur: mach’ dir die Erde Untertan. Nun kennt der gütige Rat der Zwölf die Schwächen der Menschen und gab ihnen eine letzte Chance vor ungefähr zehntausend Jahren. Nachdem die dritte Form, die Atlanter, ihre Chance nicht nutzen konnten, wurde im Zweistromland ein neuer, letzter Versuch gestartet. Und da die Atlanter ihren Heimatplaneten Erde beinahe selbst zerstört und für viele Millionen Jahre unbewohnbar ge macht hätten, stellte man den neuen Bewohnern des Planeten Wächter zur Seite. Es waren Abgesandte des Kosmischen Rates. Sie sollten, ohne selbst die Geschicke der neuen Menschen beeinflussen zu dür 492
fen, sie beobachten und bei Verfehlungen Meldung an den Rat machen. Natürlich dauerte es nicht lange, bis die neuen Bewohner des Planeten begannen, ei gene Regeln und Gesetze zu schaffen, welche dafür sorgten, daß es Privilegierte gab und zwangsläufig dann auch Unterdrückte. Es wäre nur eine Frage we niger Jahrhunderte gewesen und abermals hätte der Bannstrahl des Zwölferrates die Menschheit vernichtet. Nun gab es unter den Wächtern eine Gruppe, die vom Volke der Niman stammten, und auf einem Planeten der Plejaden beheimatet waren. Da auch das Volk der vierten Form, unsere Vorfahren also, ebenfalls aus den Plejaden-Sternenhaufen stammte, wollten diese Niman-Kachinas dafür sorgen, daß die neuen Erdlinge sich strikt an die Gesetze ihrer Väter und Vorväter hal ten. Als der Rat der Zwölf dahinterkam, verbannte er die ungehorsamen Kachinas zu einem Leben unter den Erdenmenschen. Jeder sollte zwölf mal hundert Jahre auf der Erde verweilen. So wie einer von ihnen seinen Vorgänger ablöste, wurde er selbst ebenfalls nach 1200 Jahren von einem Jüngeren abgelöst. Doch um sie für ihr unerlaubtes Wohlwollen den Menschen gegenüber zu strafen, sollten sie jeden Frevel der Menschen an der Natur persönlich spüren. Die Folge wäre: je mehr der Mensch der Natur und der Erde schadet, desto kranker würde der Kachina. Und schafft er es nicht zu überleben, bevor die Ablösung erscheint, ist es um die Menschheit geschehen. Und keiner darf sich vor zeitig ablösen lassen. Es sei denn, ein Nachfolger will ablösen, freiwillig. Was aber nur möglich ist, wenn 493
der Vorgänger mindestens 1100 Jahre Wächter war. So steht es geschrieben in den Überlieferungen der Kachinas. Aber beim gegenwärtigen Zustand der Erde ist damit wohl nicht zu rechnen.« Ron, Lisa, Little G. Wing und der Professor waren ganz ruhig geworden, hatten andächtig den Erzählungen Besavayas gelauscht. Ron meldete sich als erster in der Erzählpause: »Sie wollen uns doch wohl nicht weismachen, daß Aknavi...« »Genau«, antwortete Joan Besavaya, »Aknavi ist einer von ihnen. Másaw hieß der erste Wächter. Er war schon Verwalter der Dritten Welt. Aknavi nun ist der vorletzte der Kachinas, die vor vielen tausend Jahren zum Leben und Krankwerden auf diese Erde verdammt wurde. Und nur, weil sie unseren Vorfahren helfen wollten.« »Und das Alter? Sagten sie nicht, daß dieser Mann dort so...« »Doch«, wurde Besavaya flüsternd, »der alte Mann, der vorhin zu euch sprach, ist genau 1196 Jahre alt und wartet sehnsüchtig auf seine Ablösung.« »Wie, wie alt?« stotterte Lisa, »das glaub’ ich ein fach nicht.« Sie drehte sich zu Ron, sah, wie er mitlei dig lächelte. Aber kein Einwand kam, er schüttelte nur seinen Kopf. Besavaya warf einige Gewürzkörner ins kleine Feuer vor ihnen, was sofort ein knisterndes Auflodern der Flammen zur Folge hatte. Dann sprach er weiter: »Und doch ist es so. Er war schon in diesen Räumen, 494
als mein Vater mich als Siebenjährigen einmal mit zum Pueblo nahm. Zwar durfte ich nicht mit hinein, aber ich konnte zwei alte Krieger, die damals die Leitern zu bewachen hatten, von einem alten, kranken Mann im Inneren des Pueblo erzählen hören und daß dieser schon seit Menschengedenken hier unten lebte. Als ich später in den Rat der Weisen berufen wurde, ich war damals noch recht jung, wurde ich in das Geheimnis um Aknavi eingeweiht. Jahr um Jahr erfuhr ich mehr von der grausamen Strafe, die er und seine Freunde zu ertragen hatten: leiden durch die Schuld derer, denen sie helfen wollten. Von ihm erfuhren meine Vorfahren von den untergegangenen Kulturen auf der Erde, von Völkern, die von weit her auf diesen lebenswerten und fruchtbaren Planeten gekommen waren und viele Jahrhunderte um dieses zugedachte Geschenk wußten. Sie kannten die Fähigkeiten der Wissenschaftler ihrer Heimatplaneten, wußten, daß ihre damalige Technologie das Überbrücken von gi gantischen Entfernungen im All mittels kosmischer Tore oder Fenster möglich machte. Immer wieder, so erzählte Aknavi, haben die direkten Nachkommen der wenigen Überlebenden von Atlantis versucht, diese Tore mit Hilfe der Reste ihres astronomischen Wissens zu bauen. Doch nie haben sie funktioniert. Überall auf der Welt finden sich die Ruinen dieser ringförmigen Baukonstruktionen: Das, was wir aus der Geschichte als Orakeltempel in der Antike kennen, aus behauenen Steinen rund angeordnet, gehört in einigen Fällen ge nauso zu diesen vergeblichen Versuchen von der Erde 495
weg zu kommen, wie die Steinkreisanlage im engli schen Stonehenge. Nur daß sie irgend etwas mit den Sternen zu tun haben und daß man ihnen seit jeher eine mystische Bedeutung beimißt, konnten Forscher der Gegenwart herausbekommen.« Er schaute zum Kachina, der wie schlafend da lag, aber seine offenen Augen und das schwache Winken mit dem Arm zeigte, daß er nicht schlief, sondern inte ressiert lauschte. »Dann ist er der, nach dem die Kachina-Puppen be nannt sind?« fragte Ron, flüsterte die Frage fast, deute te mit der rechten Hand zum Aknavi. »Nein, nicht nur nach ihm. Die Lehre, die den Vorfahren der Hopi zuteil wurde, handelte von ver schiedenen Kachina-Geistwesen, allesamt Abgesandte der großen Götter. Es gibt heute Puppen, die den Kachina für die Früchte des Bodens, für Mais und so weiter, symbolisieren. Andere Puppen stellen den Kachina des Waldes dar. Für jeden Kachina steht ein Symbol, ein Zeichen, das nur von eben diesem einen geführt werden darf. Überall dort, wo auf der Erde ein Niman-Kachina wirkte, also nicht nur bei den Indianern Nordamerikas, hinterließ er sein Zeichen.« »Dann ist unser ›Wikingerzeichen‹ also in Wahrheit Aknavis Zeichen?« Besavaya nickte: »Richtig, Lisa. Und es steht ge schrieben, daß kurz vor der Ablösung der Kachinas jemand erscheinen wird, der als Beweis seiner Auserwähltheit das Symbol des Vorgängers mitbrin gen muß. Euer Auftauchen mit dem Symbol auf der 496
Brust kann kein Zufall sein. Die Vorsehung hat euch hergebracht. Und das ist gut so. Aknavi wird zusehens schwächer und das Jahr 2002, das Jahr seiner Ablösung, wird er wohl nicht mehr erleben.« »Aber wir sind nicht die Ablösung für den Aknavi, wir bestimmt nicht. Außerdem, das mit den 1196 Jahren glaube ich sowieso nicht«, entgegnete Ron, zwar im mer noch im Flüsterton, aber mit einem ungezogenen Unterton in der Stimme, »hören Sie, Professor, Sie glauben das doch auch nicht, oder?« Clausseé saß da. Mit seinen verbundenen Händen im Schoß starrte er überwiegend in das kleine Feuer. Dann hob er den Kopf, drehte ihn hin und her, schaute Ron dann fest in die Augen: »Glaube es. Der Alte ist so be tagt, wie wir es niemals sein werden. Wenn sie sagen, er ist 1196 Jahre alt, dann ist er das. Und wenn sie mei nen, er erlebt seine Ablösung nicht mehr, dann Gnade uns Gott, dann wird die Menschheit vom Planeten Erde vertilgt werden, so, wie es in der Prophezeiung geschrieben steht.« Ron sagte nichts. Auch Lisa schaute den Professor an - ebenfalls wortlos. In diesem Moment richtete sich Aknavi wieder auf, schien für den Augenblick wieder da zu sein. Einer der jungen Hopi half ihm hoch, schlug das große Fell, das zu oberst lag, zurück. »Ich bin bestraft worden, weil ich den Menschen vor vielen hundert Jahren geholfen habe«, begann Aknavi, »doch erst seit den letzten vierhundert Jahren begann ich mich drüber zu ärgern. Ja, zu Beginn mei 497
ner Unsterblichkeit war ich voll des Mutes, daß man, wenn man den Menschen nur regelmäßig etwas hilft auf ihrem Weg, mit der vierten Besiedelung dieses blauen Planeten mehr Glück haben könnte als zuvor. Doch ich habe mich getäuscht. Immer wieder habe ich sie gemahnt, nicht von den Gesetzen des Kosmischen Rates abzuweichen. Doch sie haben nicht gehört. Die Gewinnsucht und Eitelkeit dieser Spezies ist scheinbar darauf ausge richtet, so zu sein: Kriege zu führen, zu erobern und zu töten. Wir gaben ihnen einen Gott, Gebote, Heilige, an die sie glauben konnten und die ihnen Kraft geben sollten. Gaben ihnen den Wunsch, in Gruppen zu leben, eine Familie zu gründen und füreinander da zu sein. Doch was ist aus diesem kleinsten Kosmos notwen diger Harmonie geworden? Selbst da, wo familiäre Bande nicht mehr die Menschen zusammenhält, jeder nur noch nach seinen eigenen Bedürfnissen entschei det und handelt, fehlt die Einsicht, daß jeder einzelne seinen Beitrag leisten muß, um gemeinsam eine lebenswerte Situation zu schaffen. Aber wie soll eine Welt gerettet werden, wo es darauf ankommt, daß jeder Erdteil, jeder Staat, jedes Volk, Region, Gemeinde und selbst jeder Bürger seinen Beitrag dazu zu leisten hat, wenn nicht einmal die kleinste Zelle Familie mehr in der Lage ist zu überleben. Nicht ein Bienenvolk gäbe es mehr auf der Erdoberfläche, wüßte nicht jedes Mitglied des Bienenvolkes, daß es auch seine Aufgabe, seine Pflicht ist, dafür zu sorgen, daß ihre Art erhalten bleibt. Der Mensch interessiert sich scheinbar nicht für 498
Menschen. Sie vernichten einander und heucheln den noch Gläubigkeit, indem sie für ihr Tun auch noch den Segen ihres gemeinsamen Schöpfers erbitten. Dabei ist der einzige Gott, dem sie huldigen, der Gott des Egoismus. Ja, der Egoismus zerstörte die Welt, weil ihm niemand Einhalt gebot.« Aknavi machte eine kurze Pause, atmete flach. Ron war berührt. Hatte der Alte gerade seine Familiensituation beschrieben? Nein, heute nennt man es nicht Egoismus, reflektierte er, nein, nein, Egoismus ist kein schönes Wort. Da sagt man lieber ›Selbstverwirklichung‹ oder ›Flexibilität‹, auch wird gerne die Vokabel ›Kariere‹ benutzt. Aber es ist in jedem Fall purer Egoismus. Er war tief bewegt von Aknavis Worten. Dieser hatte kurz tief Luft geholt und schickte sich an, fortzufahren. »Oh, wie habe ich ihnen zugeredet: ob im kal ten Norden dieses Landes dem Führer der Wikinger oder dem spanischen Eroberer, und der dennoch das Aztekenvolk vernichtete.« Aknavi senkte die Augen, verstummte kurz. »An vielen Orten war ich, zu vielen Zeitepochen. Vor fast 60 Jahren versuchte ich es zum letzten Mal. Es war in Europa, in einer kleinen französischen Stadt. Ein fürchterlicher Krieg unter den Völkern war seit Jahren im Gange, und ich war so machtlos. Besonders er schreckend war, daß die so selbstgefällig gewordenen Menschen erstmals versuchten, mich zu töten. Es ge lang ihnen nicht, konnte nicht gelingen. Der Fluch, der 499
auf mir lastet, besagt, daß ich sterben würde, wenn der Schaden, welcher der Erde zugefügt wird, ein bestimm tes Maß übersteigt oder wenn man mich aus gewinn süchtigen Gründen tötet. Der junge SS-Offizier schoß aus Angst vor einer Sache, die er sich nicht erklären konnte oder um seinen Führer zu schützen. Hier hinter ließ ich zum letztem Mal mein Symbol des kosmischen Friedens. Es ist das Zeichen, das euch hergebracht hat. Elf mal habe ich es zur Mahnung übergeben, stets begleitet von einem Bündnissymbol in Form des ge meinsamen Niederlegens unser beider Waffen. Oft ge nug folgten die von mir aufgesuchten Herrscher oder Eroberer meinem Beispiel und steckten ihr Schwert oder ihren Speer zu meiner Waffe in den Boden. Und damit sie diese nach meinem Verschwinden nicht wieder herausziehen und benutzen konnten, ließ ich die Erde, den Stein oder den Holzboden zu einem mächtigen Kristall verschmelzen, der die Waffen fest in sich hielt. An elf Stellen auf der Welt habe ich solche kristallene Kugeln hinterlassen. Überall dort, wo Ungerechtigkeit an der Menschheit drohte. Viele von ihnen wurden schon entdeckt, ein Teil davon mutwillig zerstört. Aus dem Bruchstück eines dieser Kristallblöcke, dieser ent stand während meines Abkommens mit einem gewissen Cortez, haben aztekische Künstler vor wenigen hundert Jahren einen Schädel modelliert. Es bereitet mir etwas Freude zu sehen, wie die heutigen Wissenschaftler ver zweifelt versuchen, dem Rätsel der Kristallschädels auf die Spur zu kommen.« Ein schwaches Lachen folgte. Einer der beiden Hopi 500
reichte Aknavi einen Becher Wasser. Langsam trank der Alte es aus, ließ dabei seine kleinen, müde wirken den Augen von einem Zuhörer zum anderen gleiten. Wieder schoß ein Funkenschwarm in die Höhe, Besavaya hatte erneut Nahrung ins Feuer gegeben. »Meine Bemühungen um die Menschen waren vergebens«, fuhr Aknavi fort, »dabei war ich so vol ler Hoffnung. Doch nun scheint es zu spät zu sein. Meine Brüder vom Stamme der Hopi berichteten vor Tagen, daß eines der Zeichen, welches das Ende der Menschheit ankündigt, bereits zu sehen sei. Ihr habt es sicher auch bemerkt und euch gewundert, um was es sich handelt. Warum blitzt der Mond? Na, sicher schon beobachtet, oder davon gehört, oder nicht?« Seine Augen funkelten, als er die Anwesenden ni cken sah: »Ich sage euch, was das bedeutet. Als ich vor mehr als tausend Jahren auf die Erde kam, existierte noch aus der Zeit der dritten Besiedelung eine Basis des Rates auf dem Mond. Von dort aus wurde die ver nichtende Flutwelle ausgelöst, die Atlantis zerstörte. Damals beschloß man, diese Basis auf der Rückseite des Erdtrabanten weiterhin zu Beobachtungszwecken zu nutzen. Darüber hinaus installierte man dort Vernichtungswaffen. Waffen, die in der Lage sind gasförmige Gebilde, welche für den menschlichen Organismus todbringende Substanzen enthalten, zur Erde zu schicken. Die Zerstörung der Dritten Welt hat te zuviel unschuldiges Tier- und Pflanzenleben gekos tet. Deshalb hat man etwas Neues, Effektiveres erdacht. Und angekündigt wird dieser Angriff auf das mensch 501
liche Leben durch eine genaue Abfolge von Blitzen. Je häufiger und intensiver sie werden, desto näher ist das Ende. Also, macht euch bereit.« »Und wir können nichts dagegen tun?« fragte Ron, nervös geworden vom dem, was er gerade gehörte hat te, »ich meine, es muß da doch eine Möglichkeit ge ben, das alles abzuwenden, es wieder gut zu machen, ins Lot zu bringen, oder nicht?« »Es gibt eine Chance, dem zu entkommen.« »Welche? Sagen Sie uns, welche?« »Ihr müßt dafür kämpfen - und es wird nicht einfach werden. In vier Jahren würde ich abgelöst werden von einem neuen, jüngeren ›Wächter der Erde‹. Wenn ich es schaffe, bis dahin zu überleben. Aber die Zerstörung der Erde geht so rasch voran, zu rasch. Die Zahl der Kriege weltweit nimmt zu. Nein, nein, meine Ablösung werde ich nicht mehr erleben. Schuld daran sind die Menschen, und darum werden sie dann mit mir ster ben, alle.« »Nein«, schrie Lisa, »nein, ich will noch nicht ster ben. Nicht für die, die unsere Erde zerstören.« »Dann kämpfe!« »Das will ich, das will ich. Sagen Sie mir, was ich tun kann?« »Kämpfen, junge Frau, kämpfen.« Lisa war aufgesprungen und zum Lager des alten und kranken Aknavi geeilt. Sie kletterte förmlich auf das Fußende des Lagers, Angst in den Augen. Unter den Ältesten setzte ein Raunen ein. Die zwei Hopi zu beiden Seiten des Alten wollten Lisa schon 502
zurückdrängen, doch Aknavi hielt sie zurück: »Kleine Frau, ich spüre, daß du ein guter Mensch bist. Es gibt viele gute Menschen. Aber leider ist ihre Zahl zu gering, um den Schaden auszugleichen, den die Mächtigen dem Planeten Erde antun. Davon bin ich sehr krank geworden, sterbenskrank. Und ich werde nicht mehr gesund. Versucht die Menschen aufzurüt teln, erzählt ihnen von mir, von der Prophezeiung und dem Ende der Welt. Wenn jeder Frevel an der Natur augenblicklich gestoppt würde, könnte ich vielleicht meine Ablösung noch erleben. Das wäre gut für euch. Mein Nachfolger, jünger und kräftiger, könnte für die Hinauszögerung der Vernichtung sorgen. Geht hinaus zu den Staatenführern der Welt, erzählt ihnen, was ihr von mir erfahren habt, fordert sie auf zu handeln. Am morgigen Tag sollt ihr euch daran machen, die se Geschichte der Erde, seine Besiedelung und seine Tilgung der Menschen aufschreiben. Und ihr werdet das hier in Tukunavi tun.« Zwei vom Ältestenrat führten Lisa zurück auf ihren Platz. Aknavi wartete ab, bis sich alle wieder gesetzt hatten, dann hob er seine Hände in die Höhe, streckte sie den auf dem Boden Sitzenden entgegen: »Gehet hin, verkündet, was geschehen wird und seid dankbar, daß ihr auf diesem wundervollen Planeten leben durftet. Haltet den Menschen einen Spiegel vor, auf daß sie sich erkennen in ihrer Unersättlichkeit, ihrem Neid und ihrer Lebenslüge. Sagt ihnen, daß die Zeit der Abrechnung gekommen sei und daß sie mit leeren Händen dastehen werden, wenn sie vom Rat der 503
Zwölf nach ihrem nützlichen Tun gefragt werden. Die aber, die stets eins sein wollten mit der Natur, die ihre Mitmenschen liebten, Kinder als größtes Glück emp fanden und nach den Geboten lebten, die der Große Rat in Gestalt eures Gottes, dem israelitischen Volke gegeben hatte, die werden den Übergang schaffen in eine bessere Welt, eine Welt, die in einer anderen Dimension existiert. Macht euch an die Arbeit, schreibt und berichtet, viel Zeit bleibt nicht mehr.« Plötzlich spürte Lisa, wie Ron sie anstieß. Sie schau te ihn an. Ron schaute sie an, deutete dann auf seine Handfläche, in die er mit dem Zeigefinger der anderen Hand einen Stern malte, dann sogleich auf Aknavi zeigte, der immer noch seine Hände in die Höhe ge streckt hielt. Als Lisa Aknavis Hände sah, erschrak sie, starrte mit aufgerissenen Augen erst auf Ron, dann auf Clausseé. Dieser saß immer noch zusammengesackt da, schien in Gedanken versunken: »Ron, Ron«, flüs terte sie, »seine Narben, siehst du seine Narben in den Händen?« Ron nickte: »Diese sternenförmigen Narben kennen wir, nicht?« »Ja, Clausseé hat genau die gleichen. Das ist ja un heimlich. Ob das etwas zu bedeuten hat, Ron?« »Aber sicher. Nach dem, was ich hier alles gesehen und gehört habe, hat das ganz bestimmt etwas zu be deuten. Nur, weiß Clausseé das auch?« Als der Professor wieder einmal hoch schaute, hatte Aknavi seine Hände bereits wieder herunter genommen und lehnte sich zurück. Seine Augen funkelten, trotz 504
seiner körperlichen Schwäche, klar wie Glasperlen. Er richtete seinen Kopf noch einmal hoch: »Ron, Lisa, kommt einmal näher.« Die beiden folgten seiner Aufforderung und standen jetzt ehrfurchtsvoll vor ihm: »In dieser Welt werden wir uns wahrscheinlich nicht mehr sehen. Nehmt die Weisheit in eure Herzen auf, die ich als Freund der Menschen in über 1196 Jahren auf der Erde angesam melt habe Unsere Götter werden bei euch sein.« Er reichte ihnen gleichzeitig seine Hände und bei den war es, als ströme eine seltsame Energie durch sie hindurch, just in dem Augenblick, als er seine Narben fest in ihre Handflächen drückte. Für einen Moment glaubte Ron, Lisas Gedanken lesen zu können. Lisa ihrerseits spürte das schlagende Herz ihres Freundes. Aknavi löste seine Hände aus den ihren. Eine große Zufriedenheit erfüllte die jungen Leute, als sie sehr be eindruckt langsam vom Lager Aknavis zurücktraten. Die um das kleine Feuer sitzenden Indianer begannen wieder, ihre mitgeführten Trommeln zu schlagen, dazu mischte sich das monotone Geräusch von Rasseln. Und wieder sprangen Funken aus dem Feuer in die Höhe. Auf ein Zeichen Besavayas wurden Ron und Lisa aus dem Raum geführt, Little G. Wing und der Professor blieben sitzen. Beide würden noch gebraucht, erklär te einer der Begleiter. Ron und Lisa wurden zu ihrem Schlafraum geführt. Als sie eintraten, fiel ihnen sofort auf, daß auf den kleinen Tisch Papier und Stifte gelegt worden waren. Wieder schloß sich die Tür hinter ihnen. Mit wenigen Schritten war Ron am Bett, ließ sich dar 505
auf fallen. »Hast du das auch gespürt?« »Was meinst du, Lisa?« »Na, als der Kachina uns die Hand gereicht hatte. Also, mir war so komisch, ich hatte das Gefühl, daß ich plötzlich zwei Herzen in meiner Brust spürte. Zweierlei Herzschläge, kannst du das verstehen? Und als ich ihn ansah, sagte er mir mit seinen Gedanken, daß es dein Herz sei, was ich spürte. Richtig unheimlich.« Sie setz te sich auch auf das Bett, schaute mit unsicherem Blick auf ihn herunter. Ron sah sie an, zog sie zu sich heran und nahm sie ganz fest in den Arm. Er küßte sie, flüsterte dann: »Ich konnte sehen, welch’ angstvolle Gedanken durch deinen Kopf gingen, die Sorge, deine Familie in Schweden möglicherweise nicht mehr wiedersehen zu können. Ich bin mir sicher, Aknavi verfügt über magische Kräfte. Stell’ dir vor, ich spürte deine Angst in meinem Herzen, unglaublich.« Lisa überschüttete Rons Gesicht mit vielen kleinen, innigen Küssen, drängte ihren Körper ganz dicht an ihn heran: »Ich will hier weg, ganz schnell, Ron, nur weg hier.« Er streichelte ihr Haar. Seine Hand glitt ganz behut sam über ihr Gesicht: »Morgen fahren wir, bestimmt. Wir sollen nur noch diese phantastische Geschichte aufschreiben, und dann lassen sie uns sicher gehen.« Lisa antwortete nicht. Sie wollte sich nur noch wohl fühlen in seinen Armen. Sie spürte eine angenehme Müdigkeit. Kurze Zeit später lag sie eingeschlummert 506
in Rons Armen. Wie lange waren sie eigentlich seit dem letzten Aufstehen auf den Beinen? Überlegte er, konnte es denn schon wieder Abend sein? Als Dan Datchongvi sie weckte, lagen sie noch so zusammengekuschelt, wie sie eingeschlafen waren. Er wollte sie zum letzten gemeinsamen Frühstück hier auf Tukunavi abholen. Sie begleiteten ihn in den Raum mit dem großen Tisch. Zu diesem Morgenmahl erschie nen weder Joan Besavaya, Little G. Wing noch Prof. Clausseé. Dan beruhigte das junge Paar auf Fragen nach ihren Begleitern. Genaueres konnte er ihnen aber auch nicht sagen - oder er wollte es nicht. Nach dem Essen hatten sie nun ganze drei Stunden Zeit, alles Wesentliche aufzuschreiben, dann würden sie zurückgebracht werden in ihre Welt. Okay, dachte Lisa, aber was wird aus Clausseé und Little G. Wing? Werden sie auch wirklich ›freigelassen‹? Dan zu fra gen wäre eh aussichtslos, der würde doch nicht darauf antworten. Ach, ganz sicher kommen sie auch bald frei, machte sie sich Mut. Unverzüglich begannen sie und Ron unzählige Blätter Papier zu beschreiben. Das Aufzeichnen schien wie von selbst zu gehen. Sie schrieben und schrieben, als hätte sich die Botschaft des alten Aknavi Wort für Wort in ihre Köpfe gebrannt. Als sie aber zu der Stelle kamen, wo sie über den Mond berichteten, spürte Ron, genau wie Lisa eine seltsame Traurigkeit in sich. War es der Gedanke, daß der alte Kachina der Menschen we gen sterben mußte, wie einst Jesus von Nazareth? Doch 507
während Christus bewußt die Sünden der Menschen auf sich nahm, war Aknavi dazu verdammt worden. Und nur, weil er den neuen Erdenbewohnern einst ge holfen hatte. Oder kam diese Betrübnis, weil das Ende bevorstand? Das Ende aller Menschen auf Erden, der guten wie der bösen, der alten wie auch der jungen unschuldigen Kinder? Ungewollt rollten einige Tränen über Lisas Wangen, tropften auf das Papier. Ron war es ebenfalls schwer ums Herz. Er mußte schlucken, dachte er doch an die erträumte Zukunft mit Lisa. Er hörte auf zu schreiben, stützte sich mit den Ellenbogen auf und vergrub dann sein Gesicht in den Händen. Lisa mochte auch nicht mehr weiterschreiben. Sie lehnte sich wort los zurück, biß sich bekümmert auf die Unterlippe. Es herrschte völlige Stille im Raum, daß sogar das schwa che Knistern der Fackeln zu vernehmen war. »Halt mich fest«, forderte sie plötzlich Ron auf, »halt mich fest, damit ich nicht noch verrückt werde. Das ist doch alles ein Traum? Das muß ein Traum sein, es kann gar nicht anders.« Er rutschte mit seinem Stuhl zu ihr herüber, zog sie an sich heran und legte seine Arme ganz fest um ihren Körper. »Leider kein Traum, flüsterte er ihr ins Ohr, ver suchte ihr Kraft zu geben, »aber wir beide kommen da schon durch.« Sie blieben minutenlang sitzen, sprachen nicht; ver harrten in Bewegungslosigkeit. Was sie in diesem Au genblick der Hoffnungslosigkeit an Nähe verspürten, schmiedete ihre Herzen noch stärker zusammen. 508
Dabei hatten sie nicht bemerkt, daß Tom Datchongvi in den Raum gekommen war. Er kam mit der Spur ei nes Lächelns auf sie zu: »Ron, kannst du einen Pickup fahren?« Dabei hielt er ihm einen Wagenschlüssel ent gegen, der im Licht der Tischkerze blinkte. »Einen Pickup?« fragte Ron zögernd, »ja, na klar, kein Problem.« Tom gab ihm den Schlüssel: »Ihr könnt gehen. Die Zeit ist abgelaufen. Ihr seid bereit, die letzte Chance für die Menschen jetzt zu ergreifen. Nehmt eure Aufzeichnungen und gebt sie den Menschen, damit sie zu verstehen lernen. Den Aufenthaltsort des Kachinas dürft ihr aber auf keinen Fall preisgeben. Weder Aknavi noch wir Hopi sind, nach dem alten Gesetz bei Todesstrafe, befugt, über das große Geheimnis in Tukunavi zu berichten. Auch dürfen wir die Menschen nicht warnen vor der Erfüllung der Prophezeiung oder der Apokalypse, wie es die Bibel der Christen nennt. Aber ihr seid gekommen, um uns und auch euch zu ret ten. Fahrt los. Beeilt euch, denkt an den sterbenskran ken Aknavi, denkt an die Zukunft, an eure Zukunft!« Tom brachte sie zurück zu ihrer Unterkunft: »In fünf Minuten komme ich euch holen, packt eure Sachen und dann wartet hier auf mich.« »Aber was ist mit Little G. Wing und dem Professor? Gehen sie denn nicht mit?« »Sie kommen nach, Lisa, du kannst dich darauf ver lassen.« Dann ließ Tom die Tür ins Schloß fallen. In Windeseile waren die Sachen zusammengerafft, schnell noch einen Apfel in die Jackentasche gesteckt, 509
und dann warteten sie auf Tom Datchongvi. Die Sorge um ihre Weggefährten war einem Anflug von Freude über das eigene ›Herauskommen‹ gewi chen. Nein, einen vierten Tag würden sie absolut nicht mehr in diesen fensterlosen, höhlenähnlichen Räumen verbringen wollen. Tom kam zurück. Er war alleine. »Ohne Augenbinde?« fragte Ron, als sie in den Gang einbogen, dessen enorme Länge Ron schon bei ihrer Ankunft aufgefallen war. »Ihr braucht keine Augenbinden mehr. Ihr habt mehr gesehen und erfahren, als die meisten Menschen der Erde jemals begreifen können.« Sie stiegen die erste Leiter hinauf, dann die zweite, die dritte und weiter, bis sie den obersten Raum des Pueblos erreichten. Tom schob den schweren Riegel zurück und wollte soeben die alte Tür öffnen, als er mahnend den Finger hob: »Schützt eure Augen, die Sonne kann äußerst schmerzhaft sein.« Ron und Lisa befolgten den Rat und wenige Momente später waren sie durch die Tür, atmeten gierig die fri sche Luft, die Hände immer noch vor den Augen. »Herrlich - Luft«, freute sich Ron, »endlich Luft.« Vorsichtig versuchte er zwischen seinen Fingern hin durch zu blinzeln, hui, es war doch heller, als er ge glaubt hatte. Nach einer Minute hatten sich ihre Augen an das grelle Tageslicht gewöhnt. Sie blickten sich um. Ja, sie standen wieder auf der obersten Plattform des geheim nisvollen Pueblos. An der Wand neben der Tür war das 510
Zeichen, dessen Herkunft ja nun in eindrucksvoller Weise geklärt worden war. Lisa strich mit ihrer Hand über die rauhe Wand, zeichnete mit der Fingerspitze die Konturen des verblaßten Symbols nach. Der Indianer, der ihnen vor drei Tagen die Tür geöff net hatte, stand jetzt auch wieder hier, schaute sie mit ernster Miene an. Die Tür wurde hinter ihnen geschlossen, laut der schwere Riegel bewegt. Ron schaute über den Rand des Pueblos. Unten, etwa fünfzig Meter vom Gebäude entfernt, stand ein Pickup, wahrscheinlich der, von dem er den Schlüssel hatte. Langsam stiegen sie die Leitern hinunter, bis sie wieder festen, staubigen Boden unter den Füßen hatten. »Den Schlüssel habt ihr«, Tom schaute Ron an, »kennt ihr auch den Weg aus dem Reservat? Nein? Okay, dann wird mein Freund hier vorausfahren und euch bis an den Rand der Mesa begleiten.« Auf Toms Zeichen lief sein Stammesbruder los, verschwand um die Ecke des Pueblos und kam dann mit einem zwei ten Pickup zurück. Ron und Lisa warfen ihre wenigen Habseligkeiten auf die Ladefläche und bestiegen den für sie bestimmten Wagen. »Und wie kommt der Wagen zurück?« wollte Ron wissen. »Den holen wir uns schon wieder, beim ›GeorgeMotel‹, wenn ich richtig informiert bin.« »Ja, da wohnen wir. Dann fahren wir jetzt.« »Viel Glück«, rief Tom Datchongvi ihnen noch zu, aber durch das aufheulende Dröhnen zweier Pickup 511
Motoren war dies nicht mehr zu hören. Langsam setz ten sich die Fahrzeuge in Bewegung. Wieder sahen sie die Frauen und die Kinder, die sie auf der Herfahrt schon bemerkt hatten. Wieder stan den sie abseits und nur gelegentlich schaute eines der Kinder hoch. »Ist schon komisch, hier draußen sieht es aus, als hätte sich kaum etwas verändert. Alles liegt so fried lich da, so verdammt ahnungslos«, bemerkte Ron und versuchte durch den aufwirbelnden Staub seines Vordermannes so gut es ging, die Straße zu erkennen, »komm schon, du indianischer ROUTE 66-Fan, mach’ nicht solchen Staub.« Lisa hatte sich die ganze Zeit grübelnd zurückge lehnt. Ihre Augen waren geschlossen. Sie war froh, wieder draußen zu sein. In Gedanken weilte sie jetzt bei ihrer Familie in Schweden, sah sich unter ihnen, nahm den Geruch des Stalles und den Duft des frischen Heus nach der Ernte wahr, hörte die Katzen und die Hühner, die Landmaschinen, wenn sie in den frühen Morgenstunden aufs Feld hinausfuhren. Und sie spür te die Last und die schwere Arbeit, die der Hof ihren Eltern und dem Bruder abverlangten. Sie waren ein fache, ehrliche Leute dort. Kannten nichts von HopiIndianern, ihren Prophezeiungen, vom Kosmischen Zwölferrat. Und diese braven Leute sollten büßen. Büßen für die Taten raffgieriger Menschen? Nein - und nochmals nein. »Was hast du gesagt«, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch, »Was ist mit ROUTE 66?« 512
»Na, der vor uns. Schau, an der Rückseite seiner Ladefläche. Hast du schon mal ein solch tolles ›ROUTE 66-Schild‹ gesehen?« Immer wenn der vorausfahrende Kleinlieferwagen durch eines der unzähligen Schlaglöcher fuhr, glänzte für einen kurzen Augenblick das ovale Schild in der späten Mittagssonne, blendete fast. »Hat die ROUTE 66 nicht Kultstatus?« »Ganz genau, Lisa. Sieh’ mal, der Indianer vor uns hält jetzt. Dann geht es ab hier die Mesa hinun ter. Ja genau, dort auf dem Schild wird der Weg zur Reservatsgrenze und nach Winslow angegeben.« Sie hielten. Der Indianer war ausgestiegen und kam an ihren Wagen: »Laßt den Schlüssel einfach stecken, wenn ihr beim Motel angekommen seid. Jemand von uns wird das Auto dann holen.« Dann drehte er sich um, bestieg wieder seinen Pickup, wendete und war bald hinter ei ner Staubwolke verschwunden. »Darf ich auch mal fahren?« stieß Lisa ihren Freund an, der gerade den Wagen starten wollte: »Okay, kein Problem. Wenn du dir das zutraust, bitte!« Die Landschaft flog an ihnen vorbei. Ehe sie es sich versahen, waren sie schon wieder eine ganze Weile unterwegs. »Hey, meine Uhr geht wieder«, bemerkte Lisa plötz lich. Instinktiv schaute Ron auch auf seine Uhr. »Ja, meine läuft auch wieder, komisch.« Sie schaute Rons Gesicht an: »Ich finde, da gibt es 513
noch etwas, was komisch ist.« »Ja? Was denn?« »Fühl doch mal dein Kinn. Fällt dir auf, daß du in den drei Tagen bei den Hopi keine Bartstoppeln be kommen hast? Oder hast du dich während der drei Tage dort rasiert?« »Nein«, antwortete Ron überrascht, tastete abermals sein Kinn ab, »wie hätte ich mich denn da rasieren sol len. Aber du hast recht. Das ist komisch.« »Läuft unter dem Pueblo beim Kachina die Zeit möglicherweise anders? Oder bleibt sie gar stehen?« »Wer weiß das schon«, entgegnete er, »aber drei Tage dort, puh, das reicht mir. Ich habe sowieso mehr gehört, als ich wollte und jetzt noch die schier aussichtslose Aufgabe, die Menschen zu retten. Ausgerechnet wir, Mann, was denken die sich denn? Als wenn jemand auf uns hören würde.« Ihm fielen die Worte des Kachina ein, über den Zerfall der Familien. Auch dort beginnt das Ende der familiären Gemeinschaft damit, daß nie mand mehr dem anderen zuhören will. Aber unsere Familie werde ich wieder zusammenbringen, falls es uns gelingt, der Vernichtungsorgie des Kosmischen Rates zu entgehen. Unterdessen war Lisa immer stiller geworden. Und sie fuhr immer schneller, ohne es zu merken. In Gedanken war sie wieder bei der Prophezeiung, die nach Aknavis Worten jetzt scheinbar unaufhaltsam ih rer Erfüllung zusteuerte. Ein Gefühl der Resignation, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit stieg in ihr hoch. Könnten sie es überhaupt schaffen, das Ende hin 514
auszuzögern, vielleicht es sogar ganz verhindern? Lächerliche Utopie, malte sie sich aus. Wer draußen in der Welt würde ihnen zuhören, wenn selbst den Hopi in all den letzten dreißig Jahren kein Gehör geschenkt worden war? Ihre Zweifel wurden von Minute zu Minute über mächtiger bei dem Gedanken, die Eltern nie mehr wie derzusehen. Wie gern würde sie Mutter und Vater noch einmal in die Arme nehmen. Und mit Ron wollte sie ihr Leben verbringen, nichts von dem sollte ihr noch vergönnt sein... »Hey, Lisa, du fährst zu schnell.« Ron reagierte er schrocken, als Lisa mit versteinerter Miene und Tränen in den Augen die Straße hinunterraste. »Lisa, in Gottes Namen, fahr nicht so schnell, paß’ auf - die Kurven! Langsam, nachher passiert noch etwas.« »Es ist doch alles egal«, weinte sie und klammerte sich noch energischer ans Lenkrad, als wollte sie es nie mehr loslassen, »ob ein paar Tage früher oder später. Wir sterben doch sowieso alle.« »Du irrst dich, Liebes. Alles hat einen Sinn. Ich lie be dich, das hat Sinn. Ich will nicht sterben und werde darum kämpfen zu leben, wie es Aknavi gefordert hat, das hat Sinn. Und du kämpfst, um deine Familie in Schweden wiederzusehen, auch das hat Sinn. Nur, bremse ab. Bitte fahr’ langsamer!« Er sah den steilen Abgrund an seiner Straßenseite. Wieder schoß das Fahrzeug nur knapp an dem unbefes tigten Straßenrand entlang. In der nächsten Linkskurve passierte es dann. 515
Der Pickup brach hinten aus und schleuderte um Haaresbreite an einem Abhang vorbei. Lisa trat mit voller Kraft auf die Bremse. Quietschend rutschte der Wagen, drehte sich um hundertachtzig Grad und blieb dann unmittelbar vor dem Abhang stehen. Sie fiel mit dem Oberkörper aufs Steuer, begann laut hals zu schluchzen. Der ganze Seelenschmerz, die Anspannung, alles das kam jetzt heraus. Sie stieß die Tür auf, sprang aus dem Wagen und lief die Straße runter. Ron bekam plötzlich Angst um sie, sprang aus dem Auto, und eilte ihr mit langen Sätzen nach. Nur Sekunden später hatte er sie am Arm, zog sie an sich und hielt sie fest umklammert. Er wußte, was sie gera de durchlebte. Sie standen da, mitten auf der staubigen Straße, nur einige Meter vom rotfelsigen Abgrund ent fernt. Hinter ihnen keuchte der alte Motor des Pickups, der mit den offenen Wagentüren aussah, als hätte er über große Ohren und wolle sie belauschen. Ron starrte in die Höhe. Er dachte an nichts, beob achtete am tiefblauen Himmels zwei Geier, die gedul dig ihre Kreise zogen. Erst der entfernte Schrei eines Koyoten klang wie eine Aufforderung, ließ Ron und Lisa wieder ›aufwachen‹, die Köpfe anheben. Langsam gingen sie Hand in Hand zurück zum Wagen. An der of fenen Beifahrertür nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände und schaute sie an: »Jetzt fahren wir zu Trucker George. Der wird sich bestimmt schon Sorgen um uns machen. Ich werde wieder fahren. Bist du okay?« Lisa nickte und wischte sich mit einer Handfläche 516
die Tränen von den Wangen. Als sie Winslow erreichten, schlief Lisa. Das Ganze überstieg jetzt doch ihre Kräfte. Am Stadtrand bemerkte Ron eine große Uhr, die unterhalb eines Werbeturmes weithin sichtbar die Zeit mitteilte. »Oh, achtzehn Uhr«, murmelte er, »hätte es mir bei dem Sonnenstand auch fast gedacht.« Er blickte zur Armbanduhr, seltsam, auch sie zeigte die gleiche Zeit an wie die große: auch achtzehn Uhr! Obwohl sie doch drei Tage lang stehengeblieben war, genau die gleiche Zeit, das nenne ich Zufall, dachte er und bog in die Zufahrtsstraße ein, die zum George-Motel führte. Aus einiger Entfernung konnte er eine Rauchsäule sehen, die in dieser Form nur von einem großen Grill stammen konnte, einem BarbecueGrill zum Beispiel. Grillte George heute denn schon wieder? Gekonnt bugsierte er den Pickup durch die Trucks und parkte direkt neben dem alten Wohnmobil von Prof. Clausseé. Als Texas sie sah, kam er bellend angelaufen, war völlig aus dem Häuschen. »Hey, Schatz, Lisa, wach auf, hey, aufwachen, wir sind da.« Ron mußte ein wenig an der jungen Frau rütteln, so fest hatte sie geschlafen, »komm schon, wir sind zurück, bei Trucker George.« Langsam kam Leben in die junge Frau. Sie blinzelte und mußte sich zuerst orientieren. Doch als sie das ver traute Bellen des Schäferhundes hörte, glitt ein Lächeln 517
über ihr Gesicht: »Gottseidank, endlich wieder bei TG. Gottseidank zurück vom unheimlichsten Mystik-Trip aller Zeiten.« Es folgte ein langes Gähnen. Ihre Augen brannten vom Weinen, und vom Aufprall auf das Lenkrad schmerzten ihre Rippen. »Ron, ich muß erst ein heißes Bad nehmen - unbedingt. Dann geht es mir vielleicht wieder besser.« »Sonst ist aber wieder alles in Ordnung?« »Ja, sicher. Mach’ dir keine Gedanken, Darling.« Jetzt erschien auch TG. In der einen Hand hielt er ein Teil des Grillbestecks, in der anderen Hand einen Stapel Servietten: »Super, Freunde, keine Minute zu früh. Der Grill hat bereits eine prima Hitze. Wo sind Clausseé und der Indianerpolizist? Sind sie in der Stadt ausgestiegen?« »Daß wir zu deinem Barbecue vor drei Tagen nicht kommen konnten, tut uns leid. Aber wenn du erst er fährst, was uns in den letzten 48 Stunden zugestoßen ist, wirst du dich nur noch wundern.« TG stutzte: »Was ist? Wieso Barbecue vor drei Tagen? Blödsinn. Heute, heute wollten wir doch gril len. Das habe ich euch heute Morgen doch gesagt, und daß ihr pünktlich zurück sein solltet: Das habt ihr ja auch geschafft. Also, wo liegt das Problem?« Ron und Lisa schauten einander an, blickten wieder auf ihre Uhren. Ron schaute ganz genau. Dann sah er etwas Seltsames und fragte TG: »Was für ein Datum haben wir heute?« »Na, den 6. November, wieso fragst du?« »Weil wir doch am 6. November zu unserem Besuch 518
ins Hopi-Reservat aufgebrochen waren. Wir sind aber ganze drei Tage dort gewesen. Demnach müßten wir jetzt den 9. November haben. Auf meiner Uhr zeigt die Datumsanzeige aber auch den 6. November an.« »Bei mir auch«, ergänzte Lisa, die ebenfalls einen Blick auf ihre Datumsanzeige geworfen hatte, »und wir haben heute immer noch den 6. November? Das würde doch bedeuten, daß...« Ron fiel ihr ins Wort: ... daß wir überhaupt nicht drei Tage weg waren?« »Nein, wieso auch«, fuchtelte TG mit dem Grillgerät herum, »heute Morgen seid ihr aufgebrochen und jetzt, exakt, wie ich darum gebeten hatte, wieder da. Ist doch alles in Ordnung.« »Nein, überhaupt nichts ist in Ordnung. Wir waren bei den Hopi, und wir haben dort Dinge gesehen und gehört, die uns Angst machen. Es war so etwas wie die Offenbarung über den ›Jüngsten Tag‹.« »Über den ›Jüngsten Tag‹? Ron, nun bitte ich euch aber«, lachte TG. »da haben euch die Rothäute bei ei ner Friedenspfeife und bei monotonem Getrommel ihre legendenhaften Geschichten aufgetischt, nehme ich an.« Dann ging er einige Schritte voraus und deutete mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen. »Ich brauch’ erst einmal ein Bad. Entschuldigung.« Lisa versuchte ein höfliches Lächeln, »ich war drei, äh, ’ne ganze Weile weg. Ich brauche ein Bad und frische Kleidung.« »Warte, ich auch«, reagierte Ron. »Okay, ich verstehe. Dann sehen wir uns eben nach 519
her. Aber ihr müßt kommen, versprochen?« »Versprochen.« Trucker George entfernte sich zum Grillplatz. Texas folgte. Ron war Lisa in die gemeinsame Unterkunft ge folgt. Als er merkte, daß sie wieder gefaßter wirkte, wurde auch er ruhiger. Er legte sich aufs große, wei che Bett, starrte hoch zum Ventilator, der für etwas Luftbewegung sorgte. Dann genoß er das Plätschern von einfließendem Badewasser, freute sich darauf, gleich noch selbst in der Wanne zu liegen. Die Hopi, Clausseé mit seinen Narben, und natürlich auch die Prophezeiung wurden gleich wieder Inhalt seiner Gedanken, ohne daß er etwas dafür konnte. Daß er darüber immer müder wurde, konnte er nicht verhin dern. Er glitt ab in einen tiefen Schlaf. Er erwachte erst wieder durch das unaufhörliche Gebell eines Hundes. Das ist doch Texas, stellte er schlaftrunken fest, was ist denn los mit dem? Ron schnellte hoch, schaute durchs Zimmer: »Lisa? Lisa, bist du noch im Bad?« Keine Antwort. Als er aufstand, schaute er auf die Uhr. Was, schon zweiundzwanzig Uhr? Hatte er bis jetzt geschlafen? Und wo war Lisa, sie wird doch nicht alleine zum Barbecue gegangen sein? Ein Blick ins Badezimmer, nein hier war sie auch nicht. Nur das schwarze T-Shirt lag auf dem Wannen rand. 520
»Verdammtes Gebell. Wann gibt der Hund denn endlich Ruhe?« Er ging zur Tür seines Motelzimmers, öffnete sie - und fuhr erschrocken zurück. Vor der Tür stand Prof. Clausseé. Er sah ziemlich mitgenommen und kraftlos aus. Um ihn herum sprang Texas, kläffte aufgeregt und machte alles andere als einen freundlichen Eindruck. »Professor, Ihre Haare?« stammelte Ron. »Ja, und? Was ist mit ihnen?« fragte dieser müde. Sie, sie - sie sind weiß. Als wir uns zuletzt sahen, waren sie noch grau und jetzt, Mann, jetzt sind sie weiß, ganz weiß. Was ist passiert?« Wortlos hastete Clausseé an Ron vorbei ins Zimmer und setzte sich mit allen Anzeichen völliger körperli cher Erschöpfung aufs Bett. Ron trat hinaus ins Freie, schaute links, schaute rechts, doch Little G. Wing war nicht zu sehen. Dafür sprang der Hund völlig aufgedreht umher. Ron sprach ihn an, wollte ihn auch hereinlocken, zu seinem Herrchen, doch Texas lief nach wie vor von der einen Seite zur anderen, kam aber nicht näher. Warum reagierte der Hund so, lag es an der Veränderung, die der Professor in den letzten Stunden durchmachte? Ron hatte keine Erklärung für das Verhalten des Hundes. »Für das Tier bin ich jetzt jemand, der ihm fremd - und doch nicht fremd ist«, ertönte Clausseés Stimme aus dem Haus, »möglicherweise irritiert ihn meine neue Haarfarbe. Nicht zu glauben, die muß ich doch tatsächlich bei den Hopi bekommen haben, hm.« »Wo ist Little G. Wing, Professor?« fragte Ron, den 521
der Hund überhaupt nicht interessierte, »ich sehe ihn nirgends.« »Keine Ahnung, ich weiß es nicht.« »Wie, ich weiß es nicht? Aber sind Sie denn nicht zusammen von Tukunavi zurückgebracht worden?« Clausseé antwortete, ohne Ron anzuschauen: »Mich haben zwei Hopi-Indianer zurückgebracht. Und einer hat dann den Pickup, der hier vor der Tür stand, wieder mitgenommen. Little G. Wing ist nicht mit uns gefah ren. Er hatte doch selbst seinen Polizeiwagen dabei. Ich nehme an, er fuhr direkt nach Hause.« Während der ganzen Zeit hatte Clausseé vor sich auf den Boden gestarrt. Jetzt drehte er den Kopf lang sam zu Ron. Dieser stand am Fenster der Unterkunft und schaute hinaus, Richtung Barbecue-Platz: »Ron, hast du gewußt, daß wir gar nicht so lange bei den Hopi waren, wie wir vor Ort subjektiv vermuteten?« Clausseé suchte das Zimmer ab: »Wo ist Lisa - ist sie nicht hier?« »Nein, daß heißt, eigentlich doch, nur im Augenblick ist sie nicht hier im Motelzimmer. Ich nehme an, sie ist schon rübergegangen zum Grillfest, während ich noch schlief.« »Grillfest?« »Schon vergessen, TG hatte uns doch schon vor un serer Abreise zum Hopi-Reservat eingeladen.« »Ja, stimmt, ich erinnere mich. Na, vielleicht ist es auch gut, daß sie nicht hier ist. Ron, hör’ zu, wir müssen reden über das, was der Kachina gesagt hat.« Er stand auf, ging zum Tisch und stützte sich vornübergebeugt 522
auf seine Hände. »Und wir müssen planen, wie wir die Botschaft des Kachina weitertragen wollen, und das so schnell wie möglich. Verstehst du!« Ron wunderte sich. Waren die Wunden in seinen Handflächen schon verheilt, daß sie sogar sein Gewicht aushielten? »Professor, Ihre Hände, passen Sie auf Ihre Verlet zungen auf.« Wieder blickte Clausseé herüber, stellte sich jetzt aufrechter hin. Dann schaute er in seine Hände und hielt sie Ron entgegen: »Oh, mein Junge, wenn du wüßtest, was diese Narben bedeuten!« »Der alte Kachina hatte die gleichen Male, nicht wahr? Lisa und ich haben sie gesehen. Wir glauben nicht, daß es Zufall ist, daß seine den Ihren so äh neln.« Clausseé gab ein gequältes Lächeln von sich: »Was ist schon Zufall? Daß wir uns trafen im Wald von Rockport? Daß ich mir die Verletzungen in der alten Hütte holte und nicht du? Daß in beiden Händen die gleichen Vernarbungen, in Form sechszackiger Sterne, entstanden? Und daß zu guter Letzt der vielleicht ein zige ›Außerirdische‹, der auf der Erde unter uns weilt, genau dieselben Handmale vorzuweisen hat? Nein, nein, Zufall ist das nicht. Ron, du warst schon fort mit Lisa, da wurde ich nochmals zum Aknavi geführt, al leine. Alle hatten den Raum zu verlassen, selbst Joan Besavaya und die Hopi-Krieger, die sonst nicht von seiner Seite weichen durften. Und was er mir dann ver suchte plausibel zu machen, klang so grotesk, so un 523
möglich, einfach unglaublich. Dir und Lisa werde ich es erzählen, aber erst dann, wenn ich selbst Antworten gefunden habe. Morgen werde ich als erstes nach San Francisco zu McHolis fliegen, um mich mit ihm zu be raten. Nur soviel sei vorab gesagt: die sechs vernarbten Sternenzacken in jeder meiner Hände, wie auch die vom Aknavi, symbolisieren das Zeichen der zwölf ver bündeten Planeten des kosmischen Rates, dessen aus erwähltes Volk der Hopi-Stamm ist.« Er ging nah an Ron heran, schaute ihn lange und fast beschwörend an: »Darum, unternimm etwas. Der Kachina hat es doch ausdrücklich von euch gefordert, also los!« »Ja, ich verspreche es«, beruhigte Ron den Professor, »und Sie? Wollen Sie noch mitgehen zum Barbecue?« Clausseé richtete sich vom Tisch auf, ging lang sam zur Tür: »Nein, ich will morgen ganz früh zum Flugplatz. Eine der Luftschaumaschinen wird bestimmt nach Frisco fliegen. Ich hoffe, man hat noch Platz für mich. Jetzt werde ich mich aber in mein Zimmer be geben und mich aufs Ohr legen.« Dann legte er Ron freundschaftlich seine Hand auf die Schulter: »Grüß mir Lisa - bis morgen Abend also.« Ron war wieder alleine. Draußen setzte das Bellen des Hundes ein. Wenige Minuten später machte auch Ron sich auf den Weg zum Grillplatz, von dem schon lautes Gelächter und Countrymusik herüberschallte. Plötzlich kamen Lisa und Trucker George aufgeregt auf ihn zu gelaufen. »Ron, Ron«, rief sie ihm entgegen, »McHolis ist tot. 524
Wir haben es gerade in den Nachrichten gehört. Er ist erschossen worden, der Arme. Es ist so schrecklich.« »McHolis ist tot? Das ist ja furchtbar«, er nahm Lisa in den Arm, drückte sie, »aber wie und warum? Wo wurde er getötet - in San Francisco?« Trucker George meldete sich: »Nein, in Maine. Pfadfinder haben ihn in Küstennähe gefunden, genauer gesagt bei Rockport. Das ist doch die Gegend, wo du herkommst.« Und Lisa ergänzte aufgeregt: »Er muß in der Wald hütte gewesen sein. Du weißt, die bei den ›Drei Spani schen Kapitänen‹. Die Hütte muß übrigens, nach Aus sage der Scouts, kurz vorher in die Luft geflogen sein. Ein großes Loch befindet sich jetzt dort.« Und unser Fund?« »Von einem Speer oder einem Schwert weiß nie mand etwas. Jedenfalls haben die Sender nichts über einen Fund von dergleichen Sachen berichtet.« »Hat sich McHolis die Artefakte vielleicht selbst aneignen wollen? Aber du sagtest, er sei erschossen worden?« »Ja, in den Rücken, berichteten die Sender.« »Dann war er nicht alleine dort. Und man geriet, worüber auch immer, in Streit und McHolis zog den Kürzeren.« »Ron, und wenn er vielleicht doch alleine war, mit Dynamit den Kultplatz entweihte und daraufhin von einem Indianer-Wächter getötet wurde?« »Na, ich weiß nicht.« »Aber auf uns wurde doch auch geschossen, als wir 525
dort an der Hütte waren. Du weißt doch - als Clausseé auftauchte.« Ron sah man seine Besorgnis an: »Prof. Clausseé! Wir müssen es Professor Clausseé sagen, jetzt gleich. Denn er hat vor, morgen ganz früh nach San Francisco zu fliegen, um eben diesen McHolis zu besuchen. Den Flug kann er sich jetzt sparen. Kommt mit.« Zwei Minuten später standen sie vor der Moteltür des Professors. Davor lag Texas, hob ganz kurz den Kopf. Das Wedeln mit dem Schwanz zeigte, daß er mit ihnen einverstanden war. Trucker George klopfte gegen die Tür, blickte dabei Ron an: »Wollte er sich hinlegen? Ich selbst habe gar nicht mitbekommen, daß er zurückgekommen ist.« »Er ist auch direkt zu mir gekommen, wollte reden. Erschreckt euch nicht. Er hat jetzt völlig weiße Haare bekommen, richtig schneeweiß, sage ich euch.« Auch auf das zweite Klopfen öffnete niemand. »Moment, ich habe meinen Universal-Schlüssel bei. Laßt mich mal machen. Ich denke, daß dies hier ein Notfall ist.« Die Tür sprang auf. Texas erhob sich, begann leise zu knurren. TG suchte den Lichtschalter. Als sie den erhellten Raum betraten, staunten sie, denn im Raum war niemand. »Er ist ja überhaupt nicht da«, staunte Ron, »mir sagte er, er würde sich sofort schlafen legen. Dabei ist sein Bett nicht einmal benutzt worden.« »Wollte er noch weg?« »Nein, nein, TG, er wollte nur noch ins Bett. Ich 526
verstehe das nicht. Schreiben wir ihm eine Nachricht, damit er nicht umsonst nach Frisco fliegt, falls keiner von uns ihn vorher nochmal sieht.« Er schnappte sich ein Blatt des Wandkalenders und einen Schreiber vom Tisch. Lisa schaute Ron irritiert an. »Ich weiß, Lisa, es ist blöd, die Nachricht vom Tod des Freundes auf diese Weise zu bekommen, aber soll ich ihn denn einfach so fliegen lassen?« Lisa schüttelte den Kopf: »Natürlich nicht, Ron, ist schon okay so.« Trucker George räusperte sich: »Ich weiß, daß diese Nachricht aus Maine nicht gerade eine gute Nachricht ist, aber dennoch möchte ich mit euch an stoßen. Anstoßen mit einem speziellen Drink auf John McHolis. Das könnt ihr mir nicht ausschlagen. Ron, du warst doch sowieso auf dem Weg zum Grillplatz. Und etwas vom Grill werden wir für dich auch noch haben. Wir haben unseren Teil schon weg, nicht wahr, Lisa?« »Das klingt toll«, erwiderte Ron, »den Drink nehme ich, allein McHolis zu Ehren. Aber essen, nein essen kann ich jetzt nicht.« Im Schein des Lagerfeuers, nur wenige Meter vom großen Schwenkgrill entfernt, wurden kurze Zeit spä ter drei schlanke Gläser gegeneinander gestoßen. Lisa und Ron tranken ihren ersten Arizona-Tequila, made bei Trucker George. Diese Mixtur hatte es in sich. Lisa mußte kräftig husten und auch Ron spürte die Heftigkeit des Drinks: »Auf McHolis!« »Auf McHolis!« schallte es zurück. 527
Sie hatten Platz auf Strohballen genommen, die in einem Halbkreis ums Lagerfeuer aufgestellt worden waren. John Denvers ›Country Road‹ erklang vom CD-Player und verschiedene Pärchen unter den Gästen rückten enger zusammen, lauschten dem Lied. Auch Lisa, die so viel Gefühlsschwankungen in den letzten Stunden hatte durchmachen müssen, empfand diesen Song als wohltuend und kuschelte sich ganz eng an Ron. Beide schauten sie nun Seite an Seite empor zum Himmel. Über den südlichen Bergkämmen hatte sich der Mond als stiller Gast in Position gebracht. Bau bloß keinen Mist, alter, geheimnisvoller, wun derschöner Mond, dachte Ron. Lisa sah den Mond nicht. Sie hatte die Augen ge schlossen, genoß dieses wundersame Gefühl von Geborgenheit und der Gewißheit, geliebt zu werden. Sie wußte, daß in wenigen Wochen schlimme Dinge auf sie zukommen würden. Aber jetzt und hier woll te sie dieses Gefühl genießen, aufnehmen mit allen Fasern ihres Körpers. Und wenn Ron auch so fühlte wie sie, würde auch er die restliche Nacht gemeinsam mit ihr in ihrem Zimmer genießen wollen. Der Mond durfte dabei sein oder auch nicht, es war ihr egal. Sie schmiegte sich noch fester an Ron, lauschte der Musik, dem Prasseln des Feuers und der vertrauten Stimme ih res Liebsten, wie er mit Trucker George über das Leben im heißen Arizona philosophierte.
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07. November ’98
Tucson / Arizona n dieser Nacht gab es noch jemanden, der ebenfalls träumend an der Seite des Geliebten saß: Nicole Samisse. Sie war sehr glücklich. Beide hatten auf dem Balkon ihres kleinen Hotelzimmers gesessen, Pläne geschmiedet und dabei, wie könnte es anders sein, den Himmel beobachtet. Natürlich hatten sie auch den tiefstehenden Mond auf seiner Bahn verfolgt, bis er es schließlich vorzog, sich hinter einer hohen Gebirg skette zu verstecken. Sie blickte zu Curt rüber. Er lächelte sie von der Seite an, war glücklich, wie sie. »Morgen treffen wir Präsidentenberater Mel Harris erneut«, sagte er. »Ich weiß«, erwiderte Nicole, »aber du erwähnst das so, gibt es denn Neuigkeiten? Hat der Präsidentenberater denn etwas, womit er uns beeindrucken kann?« Curt spitzte den Mund, rollte mit den Augen: »Wenn der Besuch des Präsidenten der USA im Carson Peak Observatorium für dich nicht beeindruckend ist, dann hat Harris nichts.« »Was?« lachte sie ungläubig, »der Präsident kommt her? Seit wann weißt du es? Und mir nichts davon sa gen, du Schuft.« Ein selbstzufriedenes Lächeln überzog Curts Gesicht. Er hatte Spaß daran, wie Nicole bei dem Gedanken, möglicherweise dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gegenüberzustehen, immer nervö
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ser wurde: »Seit heute Mittag, ich weiß es seit heute vierzehn Uhr. Prof. Brauner hat mich angerufen und es mir erzählt. Man würde uns beide dort auch gerne sehen, wenn der Regierungschef nach Tucson kommt. Also, mach’ dich mental schon einmal bereit zu diesem großartigen Ereignis.« Nicole löste sich aus der Umarmung, setzte sich ge rade auf ihren Stuhl, umfaßte ihre angezogenen Beine: »das kann ich nicht glauben. Das macht mich richtig kribbelig«, lachte sie. »Der Besuch ist aber erst für Sonntag, den 8. November geplant. Der Samstag gehört also noch uns.« Dabei legte er seinen Arm über ihre Schulter, zog sie mit einem sanften Ruck zu sich herüber und küßte sie. Sie unterbrach die Zärtlichkeiten, ging ins Zimmer und telefonierte mit dem Portier. Wenige Minuten später wurde eine Flasche Champagner aufs Zimmer gebracht. Nicole verspürte plötzlich irre Lust darauf. Was soll’s, dachte Curt, als er Nicole mit zwei Gläsern auf den Balkon kommen sah. Morgen, das heißt, eigentlich heute ist Samstag, da kann man doch durchaus etwas länger im Bett bleiben: »Na, dann Prost, Dr. Samisse.« »Prost, Dr. Wesley«, flötete Nicole zurück, »ich freue mich auf unsere Begegnung mit dem mächtigsten Mann der Welt.« Ob er wirklich der mächtigste Mann der Welt ist, wird sich bald zeigen, dachte Wesley, und nippte an seinem Glas. Wird er wirklich das Rätsel um die 531
Mondblitze mit der ganzen ihm zur Verfügung stehen den neuesten Technologie lösen können? Skepsis war angebracht, angesichts der Vermutung, daß die Blitze auf der Mondrückseite tatsächlich von einer anderen Intelligenz erzeugt würden. Winslow / Arizona Trucker George’s berühmt-berüchtigter ArizonaTequila hatte ihnen nicht geschadet, ihre Köpfe waren klar. Nach Lisa war Ron ins Bad gegangen. Eine richtig kalte Dusche reichte aus, um die nötigen Lebensgeister wieder zu beleben. Der ›Drei-Tage-Spuk‹ im Kiva von Tukunavi war schon weit entfernt, das Geheimnis ihres Zeichens war gelöst, und einem neuen Tag hier im Norden Arizonas stand nichts mehr im Wege. Auch Lisa fühlte sich gestärkt an diesem Morgen, und das schon in der Früh. Überhaupt: seit Aknavi sie und Ron an den Händen gehalten hatte, spürte sie, wenn auch nicht mehr so intensiv, noch immer die eigenar tige Kraft, die dabei durch ihren Körper geströmt war. Dieses Gefühl gab ihr Stärke. Obwohl sie gestern noch völlig deprimiert gewesen war angesichts der nach Aussage des Kachina unausweichlichen Katastrophe, fühlte sie jetzt Kampfeswille in sich. Was soll’s, dachte sie, der Alte hat die Menschheit wohl doch noch nicht ganz abgeschrieben, hätte er beiden sonst die Chance gegeben, einen letzten Rettungsversuch zu starten? Gegen neun Uhr saßen sie im kleinen Speiseraum 532
des Motels, schauten in die Phoenix Post. Samstags war diese Zeitung immer dicker als an den anderen Wochentagen. Dann stand mehr aus den anderen Bundesstaaten darin als sonst. Ron blätterte hasti ger. Dann, tatsächlich, auf der Doppelseite für den Nordosten fand er einen kurzen Bericht von der Ermordung des in Fachkreisen hoch geschätzten Prof. John McHolis. Der Notiz zufolge tappte die Polizei im Dunkeln, und auch von der Explosion im Wald stand nichts geschrieben. Dafür fiel sein Blick zwei Seiten weiter unter ›Texas‹ auf die große Stellenanzeige der Firma PAXTON Inc., die intensiv nach Fachkräften aus dem Bereich Waldarbeit/Holzfällerei suchte. Sofort dachte er an Birmingham, an die Begegnung im Zug und an den Mann, der sein Feuerzeug auf dem Bahnsteig der Station verloren hatte. »Das mußt du mal lesen, Lisa, hier, was da in der Stellenanzeige von PAXTON steht.« »Was wird drinstehen, daß Leute gesucht werden, Arbeitskräfte, was sonst?« »Ja, schon, aber ich meine den Text zur Einleitung oben drüber, dort, wo die Unternehmen sich selbst be schreiben«, ereiferte sich Ron, »lies doch mal hier!« Dabei tippte er auf die Anzeige. »Komm, lies vor«, forderte sie ihn auf, »du hast die Zeitung schließlich in der Hand.« Ron schaute Lisa an, lächelte kurz: »Okay, also hier steht: ... begann in der Nacht vom 5. auf den 6. November 1998 für unseren Multi-Konzern eine neue Epoche unternehmerischer Expansion. Mit dem 533
Schlagen des ersten Urwaldriesen im Dschungel Venezuelas wurde die Rodung eingeleitet, die uns an die Weltspitze führen wird. Seien Sie dabei, wenn PAXTON... usw. Fällt dir etwas auf?« »Nein, spontan nichts. Was soll mir denn auffal len?« »Na, das Datum. In dieser Nacht vom 5. zum 6. November hat Aknavi doch eine so schwere Herzattacke erlitten, daß die Hopi im gesamten Reservat verrückt gespielt haben. Erinnerst du dich? Das war, als wir zum ersten Mal auf der Mesa waren.« Lisas Stirn zog sich in Falten, sie überlegte: »Sagten die Ältesten nicht, daß der Niman-Kachina abends ge gen zehn Uhr die Attacke bekam?« »Das stimmt, aber wenn du die Zeitverschiebung berücksichtigst, ist null Uhr Venezuela exakt zwei undzwanzig Uhr Arizona-Zeit. Das paßt alles, was sie uns dort in Tukunavi erzählt haben. Ich gehe jedenfalls davon aus. Und wenn PAXTON und all die anderen Paxtons dieser Welt mit ihren Ausbeutungen in dem Tempo weitermachen, hat der alte Kachina wirklich keine Chance zu überleben.« »Verdammt, Ron, wir, wir haben dann keine Chance zu überleben. Du vergißt, daß sein Ende unser Untergang sein wird.« »Nein, nein«, schüttelte Ron den Kopf, faltete sorg fältig die Zeitung zusammen und legte sie auf einen leeren Nebentisch, »Schatz, ich habe das bestimmt nicht vergessen. Aber wenn wir etwas tun sollen, wo fangen wir bloß an?« 534
»Beim Präsidenten der Vereinigten Staaten von Ame rika, natürlich, wo sonst«, drang eine laute Stimme zu ihnen vom Eingang des Speiseraumes herüber. Sie drehten sich überrascht um und sahen Dan Datchongvi in Begleitung von Little G. Wing auf sich zukommen. Ron sprang auf, lief auf Little G. Wing zu und umarmte ihn: »Wie geht’s dir? Wir haben uns schon Sorgen gemacht, kommt, setzt euch zu uns.« Dabei ergriff er zwei Stühle vom Nachbartisch und stellte sie mit an ihren Tisch: »willst du auch einen Kaffee? Und Sie, Dan?« »Danke, ja«, antwortete der Hopi, »es freut mich, daß es euch gut geht, denn ihr werdet viel Kraft brau chen für das, was vor euch liegt, das wißt ihr ja.« Lisa begrüßte ebenfalls die Angekommenen. Sie hatte Dans Einwurf aufmerksam registriert und wieder holte die Antwort, die er an ihrer statt gegeben hatte: »So, wir gehen einfach zum Präsidenten und sagen was Sache ist, und der hört uns auch zu?« »Little G. Wing und ich werden euch begleiten. Und glaubt mir: er wird zuhören, ganz bestimmt«, versicherte Datchongvi in ruhigem Ton, so, als hätte er schon den Termin beim Präsidenten in der Tasche. Little G. Wing schien da mehr zu wissen, denn er lächelte Lisa kopfnickend zu. Ron schob sein Frühstück von sich, hatte genug ge gessen und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. Dann stützte er sich auf seine Oberschenkel und schau te die beiden Indianer an: »Also packen wir jetzt unsere Sachen und reisen nach Washington D.C., oder was?« 535
»Nein, das brauchen wir nicht«, antwortete Da tchongvi, »der Präsident wird Sonntag herkommen.« »Der Präsident der USA kommt zu uns nach Winslow, ha, da muß ich aber lachen«, Ron schien belustigt, stieß Lisa an, »toll, Lisa, überleg mal: du kommst aus Schweden in die Staaten, bekommst das größte Geheimnis der Menschheit mitgeteilt und dann, bevor wir alle ins Gras beißen, kommt uns der mäch tigste Mann der Welt besuchen. Geh’ schnell, räum’ unser Zimmer auf, was soll die First Lady sonst den ken?« Lisa mußte lachen. Ron auch, ebenso Little G. Wing. Selbst Datchongvi schmunzelte: »Ihr habt euren Humor nicht verloren, das ist gut. Aber zur Erklärung: der Präsident wird nicht nach Winslow kommen, sondern er wird nach Tucson reisen, um dem dortigen Carson Peak Observatorium der NASA einen Besuch abzustat ten. Man ist in Washington - und besonders im Pentagon - äußerst beunruhigt über seltsame Mondblitze, die von der Oberfläche der Mondrückseite aufgezeichnet werden. Der Präsident will sich hier vor Ort über den derzeitigen Stand der Untersuchung informieren. Doch heute Nachmittag werden wir in Dallas erst Mel Harris, den Berater des Präsidenten, treffen. Ich habe vor zwei Stunden mit ihm telefoniert. Von ihm weiß ich, daß der Präsident morgen nach Tucson kommen wird. Und da in den Medien nichts über diese Reise des Präsidenten berichtet wurde, zeigt doch, daß man es als geheimes Treffen eingestuft wissen will. Doch bevor wir an den Präsidenten heran gelassen werden, will Harris mit uns 536
sprechen. Er erwartet uns.« »Einfach so«, fragte Lisa, »Sie haben ganz einfach die Nummer des Präsidentenberaters gewählt, hallo gesagt, und schon hatte jener Zeit in seinem sicherlich knappen Terminkalender?« Datchongvi blieb gelassen: »Wir kennen uns. Als Hopi-Abgesandter habe ich ihn zweimal treffen kön nen, einmal in New York und einmal in Washington D.C.. Übrigens war euer Freund Clausseé auch in New York dabei. Wo ist er eigentlich? Schläft er noch?« Lisa nahm hastig einen kleinen Schluck Kaffee, entgegnete: »Der Professor wollte heute Morgen recht früh zum Flugplatz, um mit einer der Maschinen nach San Francisco zu kommen. Dort wollte er einen Freund aufsuchen, von dessen Ermordung wir gestern Abend erfahren haben. Wir wollten es ihm sofort mitteilen, aber der Professor war weder in seinem Zimmer, noch auf dem Motel-Gelände anzutreffen. Dabei war er eigentlich müde und wollte schlafen gehen. Dann be merkten wir aber, daß auch sein Wohnmobil fort war.« »Genau«, ergänzte Ron, »zudem verhielt er sich sehr sonderbar. Seine Haare hätten Sie sehen sollen, völlig weiß sind sie geworden. Und auch sein Hund hielt merkwürdigerweise Abstand zu ihm, war absolut verwirrt und kläffte nur herum.« »Laßt ihn ein paar Tage in Ruhe«, erklärte Datchong vi, »er muß mit seiner neuen Bestimmung erst einmal fertig werden. Wichtig ist, daß ihr gleich reisebereit seid, damit wir fliegen können.« »Nach Dallas?« 537
»Nach Dallas, richtig, junge Frau. Ich sagte doch, wir haben einen Termin beim Präsidentenberater. Können wir, sagen wir mal, in einer halben Stunde aufbrechen?« Lisa blickte rüber zu Ron, er nickte, lächelte zurück. Geht das Abenteuer jetzt etwa weiter? Was kann noch schlimmeres passieren, als das, was die Prophezeiung ihnen angekündigt hatte. »Okay, Lisa, von mir aus.« »Von mir aus auch. Sollen wir unsere Aufzeichnungen von Tukunavi mitnehmen?« »Unbedingt«, ermutigte Datchongvi, »darum geht es doch, nur darum.« »Hoffentlich hat TG einen Kopierer, denn ich wer de nicht unsere Originalniederschriften mitnehmen. Ruckzuck wird man die uns abnehmen, und wir haben dann nichts mehr in Händen. Das ist mir zu riskant«, sagte Ron und stand vom Tisch auf. »Gute Idee«, murmelte Little G. Wing, »aber beeil dich, ich rede mit Trucker George, damit er weiß, wo wir hinfahren. Gegen Abend werden wir sicher wie der zurück sein, spätestens morgen Abend. Er soll die Zimmer reserviert lassen.« »Wann soll das Treffen mit dem Präsidenten denn stattfinden?« fragte Lisa, »zu lange dürfen wir mit der ›Letzten Warnung‹ an die Menschheit nicht warten.« »Morgen«, kam Datchongvis schnelle Antwort, »am morgigen Sonntag werden wir ihm gegenübersit zen. Trucker George habt ihr von der Begegnung mit Aknavi und von der Hopi-Prophezeiung hoffentlich noch nichts erzählt?« 538
»Wir nicht«, kam es fast gleichzeitig von Beiden. Während Lisa schon auf dem Weg zu ihrer Unterkunft war, um noch Kleinigkeiten zum Mitnehmen einzu packen, machte Ron sich auf die Suche nach einem Kopierer. Die vier Reiselustigen waren gerade eine knappe Stunde aus Winslow fort, als ein neuer Gast ins Motel kam und nach einem Zimmer fragte. Trucker George traute seinen Ohren nicht, als sich die junge Frau als eine Freundin von Arnim Clausseé vorstellte. Mit dem Flugzeug sei sie von Boston bis Phoenix, und von dort mit dem Wagen hergekommen, um ihn zu überra schen. TG wunderte sich: war Clausseés Aufenthalt hier nicht geheim? Na ja, man wird sehen, dachte er und gab ihr das freigewordene Zimmer neben dem des Professors. »Prof. Clausseé ist aber nach San Francisco unterwegs und voraussichtlich erst morgen wieder da. Seine beiden jungen Begleiter sind leider auch nicht da.« »Der Professor ist in Begleitung?« »Ja. Zwei junge Leute, auch aus Boston, glaub’ ich.« »Na gut, kein Problem«, antwortete die dunkelhaa rige Frau und steckte sich einen Zigarillo an, »dann warte ich eben. Kann man hier auch einen Kaffee be kommen?« »Aber selbstverständlich.« »Dann hätte ich gerne einen, und darf ich Sie auch zu einem Kaffee einladen?« 539
Trucker George war sichtlich überrascht. Einige Minuten später saßen sie an einem Tisch am Fenster. Sie erzählte von Boston, von der rauhen Küste dort, von ihrem Job an der Universität. Dann versuchte sie TG auszufragen, wollte wissen, was der Professor so den ganzen Tag treibe und wen er hier träfe, erfuhr nebenbei, daß die jungen Leuten das andere Zimmer neben ihm bewohnten. Schließlich wollte sie noch wis sen, ob er schon weiter wäre, bei der Suche nach dem ›mysteriösen Zeichen‹?« »Zeichen?« »Ja, ein gemeinsamer Kollege erzählte mir von dem Zeichen. Deswegen ist Clausseé doch hier, oder?« »Sie wollen aber eine Menge wissen. Arbeiten Sie denn mit ihm zusammen in Boston? Sind Sie auch Indianerforscherin?« »Nein«, lachte die Frau, »Entschuldigung, ich bin Dr. Doris Smith. Ich bin ebenfalls Anthropologin, aber mehr allgemein.« »Bei Ihrem Aussehen hätte ich aber eher auf etwas anderes getippt: Schauspielerin, Fotomodell oder so etwas.« »Danke. Aber das wäre sicher nicht der richtige Job für mich«, erwiderte sie lächelnd und spielte dabei an dem Zigarillo. »Tja, Clausseé, Clausseé, wer hätte das gedacht«, murmelte Trucker George sichtlich vergnügt, stand auf, bedankte sich für den Kaffee und ging zum Empfang, »ich hol’ schnell Ihre Zimmerschlüssel. Wenn Sie sich 540
noch gleich eintragen wollen, Dr. Smith.« »Aber sicher. Kann ich mich auch hier am Tisch eintragen?« Schon hatte TG das Buch geholt und reichte es ihr: »Kein Problem. Oh, Sie haben keinen Kaffee mehr. Moment.« Dr. Smith nutzte TGs Abwesenheit, um im Buch ei nige Seiten zurückzublättern. Dort fand sie Clausseés Eintragung. Aber von zwei Begleitern stand hier nichts: »Verdammt«, zischte sie, trug sich ein und klappte dann das Buch schnell zu, als Trucker George mit der Kanne wieder an den Tisch trat. »Okay, Dr. Smith, hier ist frischer Kaffee. Eingetra gen haben Sie sich? Prima. Ich wünsche Ihnen dann noch ein paar schöne Tage in Winslow. Für Wissen schaftler wie Sie, gibt es hier jede Menge zu sehen. Speziell die präindianischen Ruinenstätten und die vie len Indianermuseen halten viele Infos für interessierte Besucher bereit.« »Ja, wirklich?« »Aber ja.« »Dann danke ich für den Hinweis. Bis später. Ach, entschuldigung, was sagten Sie, wie die beiden, die mit dem Professor gekommen waren, noch hießen?« »Ah, sorry. Die Namen der beiden habe ich jetzt nicht im Kopf. Ist es denn wichtig für Sie, soll ich sie raussuchen?« »Nein, natürlich nicht. Danke, Trucker George.« Als sie zu ihrem Auto ging, um ihr Gepäck zu holen, wunderte Trucker George sich über das Nummernschild 541
an ihrem Wagen: wenn sie von Boston bis Phoenix ge flogen war und sich dort einen Mietwagen genommen hatte, wie sie behauptete, wieso hatte dann dieser dunk le Rover mit den getönten Scheiben eine texanische Nummer? Und wieso stieg solch eine Lady in einem Trucker Motel ab, und nicht in einem Hotel der Stadt? Noch mehr hätte er sich aber gewundert, wenn er ge sehen hätte, wie die junge Frau später in ihrem Zimmer die Reisetasche öffnete und neben Wäsche, den übli chen Reiseutensilien und einem alten Army-Tagebuch auch noch eine 44er Magnum herausholte, aufs Bett warf und dabei zufrieden lächelte. Dallas / Texas Mit Mel Harris und einem zweiten, ebenso gut geklei deten Mann, betraten sie den kleinen Konferenzraum des Hotels. Hier, so erklärte Harris, könnten sie sich besser unterhalten als in ihrer texanischen Zentrale in Dallas. Hier wollte er sich in Ruhe anhören, was Dan Datchongvi ihm telefonisch so beschwörend angekün digt hatte, und weswegen er die jungen Leute mit dem Präsidenten zusammenbringen sollte. Als der Hopi die Mondblitze erwähnt hatte, willigte er sofort ein, wollte das Treffen aber unbedingt geheim halten und schlug dieses kleine Hotel außerhalb der Stadt vor. Der einzi ge Miteingeweihte war Peter Hines, CIA-Mitarbeiter und Kontaktmann zwischen dem Weißen Haus und dem Nachrichtendienst der Landesverteidigung im Pentagon. Beide hatten die kleine Gruppe aus Winslow vor dem Hotel begrüßt und dann nach kurzer gegen 542
seitiger Vorstellung, zu diesem angemieteten Raum geführt. »Nun, Datchongvi, Sie haben es am Telefon ja sehr spannend gemacht. Ich hoffe, ich bin nicht umsonst hier herausgekommen. Wie ich schon sagte, morgen haben wir hohen Besuch in Tucson. Da gibt es noch viel vor zubereiten. Aber bitte, setzen Sie sich doch.« Er selbst blieb stehen, stützte sich auf den Tisch und schaute jeden einzelnen genau an, hielt bei Little G. Wing inne, betrachtete ihn eine ganze Weile. Der Navajo, der heute keine Uniform trug, sondern ganz leger mit Hemd und Jeans bekleidet war, dazu ein rotes, in sich gedrehtes Tuch um die Stirn, schaute zurück. »Sie sind doch kein Hopi?« fragte Harris. »Stimmt«, antwortete dieser, »aber das spielt über haupt keine Rolle.« Dabei legte er ein in indianische Tücher gewickeltes Etwas auf den Tisch, schlug diese auseinander und brachte eine etwa vierzig Zentimeter große Kachina-Puppe zum Vorschein. »Es geht nur noch um dieses hier, Sir.« »Eine selbstgebastelte Puppe?« staunte Hines und blickte zu Harris hoch, »wir sind wegen einer Holz puppe hier?« Ron sprang auf: »Sie haben ja überhaupt keine Ahnung, was im Augenblick abgeht«, er mochte diese glatten Beamtentypen nicht, die sich immer für was besseres hielten und glaubten, daß sie sich unter dem Deckmäntelchen der Landessicherheit alles erlauben konnten, »diese blöde, simpel zusammengekleisterte Puppe kann uns helfen, am Leben zu bleiben, was Sie 543
und der Präsident uns nicht garantieren können.« Datchongvi legte seine Hand auf Rons Arm: »Ganz ruhig, Ron, sie werden uns zuhören und dann werden sie auch das Richtige in die Wege leiten. Verlaß’ dich darauf.« Ron schnaufte, verdrehte kurz die Augen und ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen. Auch Harris setzte sich nun, überrascht vom emotio nalen Ausbruch des jungen Mannes, wandte sich dann an den Hopi: »Okay, ich höre. Was hat es nun mit dieser Puppe auf sich und was hat sie mit den Mondaktivitäten zu tun, von denen sie am Telefon sprachen?« Datchongvi stand auf, machte ein sehr ernstes Gesicht. »Sir, bevor meine jungen Freunde hier ihre Botschaft an den Präsidenten richten können, zu des sen Zusammenkunft wir ihre Hilfe brauchen, darf ich, als Powamu-Mitglied unseres Stammes, eine Demonstration vorführen. Sie dient zur Untermauerung unserer ultimativ letzten Forderung an die wichtigen Entscheidungsträger unter den Menschen. Sie werden uns mit dem Präsidenten zusammenbringen müssen, wenn Ihnen an Ihrem Land, an dem amerikanischen Volk und an den Menschen der Erde etwas liegt. Passen Sie gut auf!« Auf ein Zeichen stand Little G. Wing auf, ging zu den Fenstern und zog die Vorhänge zu, dann verschloß er die Tür. Harris und Hines schauten sich verwundert an. Der Raum war nun in schummriges Restlicht ge hüllt. 544
Datchongvi holte ein Stück Kreide aus der Hemd tasche und begann unter dem Gemurmel altindiani scher Gebete einen Kreis, dann einen zweiten, inneren Kreis, mit etwas Abstand noch einen dritten Kreis auf den Tisch zu zeichnen. Den inneren Kreis verband er durch eine Gerade mit dem äußeren Ring und setzte dann vier kurze Striche an den großen Kreis. Ron und Lisa erkannten natürlich sofort ihr ›Wikinger-Zeichen‹, waren gespannt, was Datchongvi vorhatte. Dieser stell te die Kachina-Puppe in die Mitte der Zeichnung, und während er weiterhin unaufhörlich murmelte, jetzt un termalt vom Klang einer Rassel, begann ein zartes röt liches Schimmern von der Figur auszuströmen. Dieses Leuchten wurde stärker und stärker und plötzlich setzte ein Vibrieren der Puppe ein. Die um den Tisch sitzen den bewegten sich kaum, starrten nur auf die Figur. Der Gesang des Hopi wurde heftiger. Der Kopf der Puppe begann sich zu bewegen und dann, mit einem heftigen Geflatter, lösten sich die hölzernen Flügel vom Kopf der Figur und stiegen als Tauben verwandelt in die Höhe. Nun war der ganze Raum in knallrotes Licht gehüllt, der monotone Gesang Datchongvis, das Geflatter der Vögel, die Rassel, alles schien unwirklich und unheimlich. Plötzlich verstummte der Indianer. Das Rasseln hörte auf und mit einem Zischen stürz ten die beiden Tauben auf die Puppe, erzeugten einen grellen Funkenball, die Puppe fiel um, das rote Licht verschwand. Erschöpft sackte Datchongvi auf seinen Stuhl zurück. Keiner sagte ein Wort. Alle starrten auf die umgefal 545
lene Kachina-Puppe, die jetzt ohne Kopfflügel reglos liegen blieb. Die Kreidezeichnung war verschwunden. Nach einigen Augenblicken absoluter Ruhe regte sich Harris: »Puh, okay, das war eindrucksvoll. Können wir die Vorhänge vielleicht wieder zurückziehen? Und kann mir vielleicht jemand erklären, was hier gerade abgelaufen ist?« Little G. Wing ließ wieder Tageslicht in den Raum. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. War das möglicherweise einer der Zaubertricks, die dem Indianer bei den Wupatki Ruins vor Wochen zum tödlichen Verhängnis wurde, hatte er da etwas preis geben wollen, was er nicht preisgeben durfte? Aber wie kam jener an die Puppe? Woher kannte er die Formeln? »Was war das, in Gottes Namen«, fragte Harris, der sichtlich verunsichert schien, »habe ich richtig gese hen, das waren doch lebende Vögel, oder?« »Nein, Sir, das waren zwei unserer Geister, die als Tauben erschienen sind. Sie wollen uns helfen, Vorurteile abzubauen. Was ist nun mit morgen? Wird der Präsident uns empfangen?« Dabei wickelte er die Puppe wieder in die Tücher. Harris stand auf, war noch immer beeindruckt von der Vorführung: »Sicher, ganz sicher sogar. Ich werde es arrangieren. Kann ich Sie unter der Nummer, die Sie mir gestern gegeben haben, erreichen?« »Das können Sie, Sir. Wollen Sie vielleicht noch mehr sehen und hören darüber, weshalb wir hier sind?« 546
»Morgen«, winkte Harris ab, »morgen. Wir werden uns morgen sehen, teilen sie uns Ihre Botschaft dann mit. Für heute reicht es mir. Sie haben uns überzeugt. Was meinen Sie, Mr. Hines?« Auch Peter Hines war blaß geworden, ein harter CIA-Mitarbeiter, der schon viele brenzliche Situationen gemeistert hatte, mußte sich zusammenreißen. Dieser ›Trick‹ mit den Vögeln hatte auch ihn ganz schön be eindruckt. Lisa ging auf Harris und Hines zu: »Wollen Sie nicht wissen, was uns allen bevorsteht, warum wir den Präsidenten unbedingt sprechen müssen?« Harris nahm seine Tasche vom Tisch: »Ich bin sicher, es ist von größter Wichtigkeit, und ich bin mir auch si cher, daß ich es erst morgen erfahren will. Lassen wir es für heute dabei. Ich rufe Dan Datchongvi an. Wir tref fen uns dann morgen im Carson Peak Observatorium bei Tucson, okay?« Allgemeines Nicken. Es folgte eine höfliche, aber schnelle Verabschiedung. Nicht länger als eine halbe Stunde hatte diese Kontaktaufnahme gedauert. Der erste Schritt war ge tan, dachte Lisa zufrieden. »Ich kenne ein tolles indianisches Restaurant, ganz hier in der Nähe, ich lade euch ein«, lächelte Datchong vi, als sie den Parkplatz des kleinen Hotels verließen, »morgen, meine jungen Freunde seid ihr an der Reihe. Dann müßt ihr euren großen weißen Bruder überzeu gen, daß die Menschheit nicht mehr zu retten ist, daß 547
die große Prophezeiung, die sie all die Jahre nicht hö ren wollte, sich jetzt erfüllt.« »Aber ich denke, wir können die Menschheit noch retten?« fragte Lisa erstaunt, schaute, eine Antwort er wartend, den Hopi-Führer an. Doch Dan Datchongvi schwieg. Im Dallas Headquarter angekommen, eilten sowohl Harris als auch Hines in ihre provisorisch eingerichteten Büros und begannen hektisch zu telefonieren. Während Harris den Präsidenten aus einer Abendgesellschaft holte und ihn über die Änderung des morgigen Tagesablaufs unterrichtete, ließ Hines sich mit einem Mobilanschluß in Winslow verbinden. Er war sichtlich erleichtert, als sich endlich eine Frauenstimme am an deren Ende der Leitung meldete. »Hier spricht Hines«, flüsterte er, »Hören Sie, Sie sind doch interessiert an mystisch-kultischen Gegenständen, richtig? Dann hätte ich da etwas für Sie!« »Ich rufe euch morgen an, sobald ich weiß, wann der Präsident im Observatorium ankommen wird.« Datchongvi hatte Ron und Lisa bis an die Tür ih res Motelzimmers gebracht und reichte ihnen zum Abschied die Hand. »Morgen werden wir sehen, wie der Präsident auf eure Geschichte reagieren wird. Er muß etwas tun, vor allem muß er glauben. Schlaft bei de gut diese Nacht.« Er ging zurück zum Wagen, in dem Little G. Wing 548
wartete. Nach wenigen Augenblicken waren die Rückscheinwerfer des Autos in der dunklen Nacht ver schwunden. Rons kurzer Blick zum unbeleuchteten Fenster von Clausseés Unterkunft sagte ihm, daß dieser wohl noch nicht wieder zurück sei. »Sollen wir noch kurz zu TG rüber?« »Nein, heute nicht, Ron. Laß’ uns reingehen. Ich bin irgendwie müde, und ich möchte vor dem Schlafengehen noch ein Bad nehmen.« Ron wollte gerade aufschließen, als er Lisa an den Arm faßte und gleichzeitig auf die Tür deutete, die durch seinen leichten Gegendruck langsam nach innen schwang. Mit einem heftigen Schlag stieß er die Tür auf, sprang hinein und schaltete das Licht ein. Oh Gott, wie sah es denn hier aus! »Ron, sieh’ nur«, stammelte Lisa, ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Das Zimmer war vollkommen durchwühlt worden, alles umgeworfen, die Schubladen des Sideboards auf dem Boden ausgeleert. Überall lagen Kleidung und Gegenstände der beiden verstreut. Ron griff zum Telefon und informierte TG. Der war außer sich: »Was«, brüllte er durch den Hörer, »eingebrochen, bei mir, so ein verdammter Mist. Wartet, ich komme sofort.« »Ich glaub’s nicht, ich glaub’s nicht«, fluchte er, als er eine halbe Minute später mitten im Raum stand und sich die Bescherung ansah. »Sollen wir nicht den Sheriff rufen?« fragte Lisa. 549
»Sachte, sachte«, beruhigte Ron, »Sheriffs fragen und untersuchen, und möglicherweise verhindern sie unsere Tour morgen nach Tucson. Laßt uns erst nach sehen, ob etwas fehlt, okay?« TG stellte die Möbel wieder auf, schaute nach den Fenstern, ob sie zerbrochen waren. Fehlanzeige. An der Tür entdeckte er dann Kratzspuren. »Ich werd’ ver rückt, die haben die Tür mit einem Krummeisen aufge hebelt. Hoffentlich ist das Schloß noch zu gebrauchen. Mist«, fluchte er erneut. »Wenn nicht, dann müssen überall neue Schlösser her, das wird teuer.« Als alles wieder eingeräumt, aufgestellt und gesäu bert war, setzten sie sich erschöpft aufs Bett. »Nein, es fehlt nichts«, resümierte Lisa, jedenfalls ist mir nichts aufgefallen. Euch vielleicht?« »Nein«, entgegnete TG, »und richtig kaputt gemacht worden ist wohl auch nichts, die Fenster sind okay. Und eine aufgebrochene Tür zu reparieren ist allemal besser, als eine Menge neuer Schlösser anschaffen zu müssen.« »Aber ich vermisse etwas.« Ron sprang vom Bett auf, ging zum Sideboard, schaute nochmals wild um sich, »unsere Aufzeichnungen sind weg.« »Aber die hatten wir doch bei uns.« »Ich meine die Originale, nicht die Kopien, die wir mit nach Dallas genommen haben.« Lisa stand nun auch auf: »Liegen die Originale viel leicht noch beim Kopierer? Soll ich mal nachsehen?« »Nein. Ich hatte sie unter das Bettkissen gelegt. Wir mußten ja so schnell aufbrechen. Und jetzt sind sie 550
weg. Zum Glück wollten die beiden Regierungsheinis die Unterlagen noch nicht einmal sehen. Ich werde morgen, bevor es nach Tucson geht, von den Kopien erst einmal noch weitere Ablichtungen machen. Man kann nie wissen.« Sie schüttelte den Kopf: »Wer kann denn von un seren Aufzeichnungen wissen. Und wer will etwas damit?« »Ich weiß nicht, Lisa, uns kennt doch keiner hier.« »Moment«, sprang Trucker George auf, der bislang noch auf dem Bett gesessen hatte, »ich weiß aber von jemandem, der Clausseé sehr gut kennt. Das hätte ich bei dem Schreck ja fast vergessen zu erzählen. Sie hat das andere Zimmer neben Clausseé, und sie wollte un bedingt auf seine Rückkehr warten. Sie sagte, sie wäre eine Freundin und Mitarbeiterin von ihm.« »Eine Freundin?« Ron schaute TG ungläubig an, »von einer Freundin hat er nie erzählt.« Er lief aus dem Zimmer, eilte zur Nebenunterkunft und wollte gerade gegen Clausseés Tür klopfen, als er sah, daß auch diese Tür aufgebrochen war. »Was ist los«, fragte TG. »Die Tür ist auch aufgebrochen worden.« »Aufgebrochen? Die nicht auch noch!« schon war TG durch die Tür und machte Licht. Auch hier herrsch te Chaos, war alles durchwühlt. Sie liefen noch eine Tür weiter, zur Tür von Dr. Smith. Auch diese stand offen, schien aber nicht gewaltsam geöffnet worden zu sein. 551
»Hallo, Dr. Smith«, rief TG in den Raum, drückte die Tür weiter auf, »sind sie da?« Keine Antwort. Schon war er durch die Tür und machte Licht. Hier war nichts durchwühlt worden oder umgeschmissen. Aber es gab auch keine Spur von einem Gast. Keine Reisetasche, das Bett unberührt, die Schubladen des Wäscheschranks leer. »Das verstehe ich nicht. Sie hat doch dieses Zimmer bekommen. Ja seht doch hier, der Schlüssel steckt von innen. Aber wo ist sie hin?« »Und sie hat sich als Freundin von Clausseé ausge geben?« »Sie hat sich als Dr. Smith eingetragen, Ron, wir können rübergehen und das im Buch nachschlagen.« Ron kratzte sich am Kopf, stütze seine Hände dann in die Hüften: »Und von wo kam sie her?« »Von Boston? Und sie sagte, sie sei auch Anthropologin. Halt, da fällt mir etwas ein. Sie raucht Zigarillos, und auf ihrem Streichholzmäppchen las ich Atlantica, Camden. Kommst du nicht auch aus Camden, Ron?« »Allerdings. Habt ihr etwa auch über Camden ge sprochen? Hast du Lisa und mich erwähnt?« »Nein, nicht direkt. Nur, daß Clausseé in Begleitung zweier junger Leute hier sei, das war alles«, antwortete TG, »aber etwas anderes war mir aufgefallen: nämlich, daß sie mit einem Wagen fuhr, der eine texanische Nummer hatte und keine aus Arizona, was doch eher anzunehmen wäre, wenn man bis Phoenix fliegt und 552
sich dort einen Leihwagen mietet.« Lisa sah Rons Besorgnis. Wie er, war auch sie froh darüber, daß sie beide sich nicht ins Empfangsbuch eingetragen hatten. Ron grübelte. Hatte diese Frau etwas mit den Ereignissen in Camden zu tun? Sollte sie am Ende gar diejenige gewesen sein, die beide Zimmer durchwühl te hatte und dann die Aufzeichnungen mitgehen ließ? Aber wozu, was hatte eine fremde Frau für ein Interesse an alten Prophezeiungen der Hopi? Überhaupt, wo her sollte sie von ihrem Besuch in Tukunavi wissen? »Lisa, zeig’ doch einmal die Kopien von unseren Aufzeichnungen.« »Dann müssen wir wieder in unser Zimmer herüber gehen. Dort sind sie in meiner Tasche.« Nachdem TG die Tür verschlossen hatte, begaben sie sich wieder in Ron und Lisas Unterkunft. »Hier sind sie.« Lisa reichte die Blätter rüber. Ron überflog die Blätter voller Hast, schien etwas zu suchen. Plötzlich hielt er inne: »Nein, ich habe es befürchtet, so’n Mist!« »Was ist denn Ron, warum guckst du denn so ent setzt?« Ron hielt die Blätter in die Luft: »Weil ich Mist ge baut habe, deswegen.« »Ja, was ist denn?« Lisa versuchte selbst zu lesen, als er ihr eines der Blätter hinhielt. »Auf einem Blatt habe ich die Räumlichkeiten, also das Versteck des Kachina und das Pueblo selbst er wähnt, zwar nur beiläufig, aber immerhin.« 553
»Welcher Kachina«, wollte Trucker George wissen, der überhaupt nichts verstand, abwechselnd Lisa und Ron anschaute, »was für Aufzeichnungen denn, gibt es da etwas, was ich wissen sollte?« »Ich weiß nicht«, war Ron eher in Gedanken als bei TGs Frage, »kann das gefährlich sein, wenn Außenstehende von Tukunavi wissen?« Er überflog ein zweites Mal die Kopien, atmete etwas auf, »zum Glück haben wir nicht die Mesas genannt oder wie man zum Pueblo gelangt. Trotzdem habe ich da ein ungutes Gefühl.«
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08. November ’98
Carson Peak Observatorium / Arizona icole Samisse war sehr gespannt auf den Präsi denten der USA. War er wirklich so charmant, so unwiderstehlich, wie die Medien ihn oft beschrieben? Noch war er nicht da. Sie und Dr. Wesley hatten schon vor einer Stunde das große Tor passiert. Erfreulicher weise hatten Harris und Colonel Grant tatsächlich von jeglicher militärischen Präsenz hier am Observatorium Abstand genommen. Ein ganz normaler Sicherheit sposten wachte am Tor und überprüfte die Ausweise der Einfahrenden auf ihre Befugniseinstufung. Daß in den Wachuniformen Elitesoldaten des Colonels steck ten, konnten sie nicht ahnen. Für diesen besonderen Tag hatte die NASA-Führung zudem darauf bestanden, daß die Mitarbeiter weiße Kittel trugen, um sich vom Personentroß um den Präsidenten zu unterscheiden. Auch Dr. Samisse und Dr. Wesley saßen nun in ihren weißen Kitteln mit den ›NASA‹-Schriftzügen auf der Brusttasche am Tisch des Besprechungsraumes und warteten. Eigentlich hätte der hohe Besuch schon hier sein sollen. Ist sicher wieder etwas dazwischen gekommen, dachte Dr. Samisse. Sie überflog die ihr zur Verfügung gestellten Aufzeichnungen der Mondaktivitäten der letzten zwei Tage. Plötzlich öffnete sich die Tür und Mel Harris trat ein, forderte die Anwesenden auf, ihm in den großen Konferenzraum zu folgen. Dr. Wesley, Dr. Samisse und
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die anderen Wissenschaftler standen auf und begleite ten Harris. Sie staunten nicht schlecht, als sie in den großen Raum eintraten und dort schon eine Menge Leute versammelt sahen. Dr. Wesley schaute sich um, stellte fest, daß er die wenigsten der Anwesenden kannte. »Wo ist der Präsident?« fragte Dr. Samisse flüs ternd. »Der kommt sicher noch. Sieh doch, es sind immer noch sieben Stühle frei.« Dann öffnete sich eine Seitentür. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika betrat den Raum, flankiert von General Phil Montana und Sia Wong, der PR-Managerin des ›Weißen Hauses‹. Hinter ihnen folgten, zu allgemeinem Erstaunen, zwei Indianer, eine junge blonde Frau und ein ebenso junger Mann in kariertem Baumwollhemd und verwaschenen Jeans. Alle erhoben sich. Der junge Mann erregte bei einer der bereits Anwe senden besonderes Interesse. Es war die Frau neben Peter Hines. Sie verfolgte mit weitgeöffneten Augen, wie er die letzten Schritte zu seinem Platz zurücklegte, und sich an den ihm zugewiesenen Platz stellte. Diesen Mann kannte sie, oder gab es da einen Doppelgänger? Der Präsident hatte die Anwesenden begrüßt, und bat sie, sich zu setzen. Dr. Samisse war aufgeregt. Wann würde sie dem wichtigsten Mann des Landes je wieder so dicht gegen übersitzen. Daß er hier sein würde, wußte sie ja, aber 556
darauf, daß nur zwei Plätze weiter zwei junge Leute und zwei Indianer hier mit am Tisch saßen, konnte sie sich keinen Reim machen. Und was war es, was sie da, in Textilien eingewickelt, vor sich auf den Tisch gelegt hatten? Nachdem Harris sich persönlich davon überzeugte, daß zwei Männer des Colonels vor der Tür Position bezogen hatten, verschloß er die Doppeltür und be gab sich zum freien Platz neben General Montana. Er blieb stehen und begann sichtlich nervös in die Runde zu schauen. Das allgemeines Gemurmel wurde leiser, angesichts seines leichten Klopfens gegen eine der be reitstehenden Wasserflaschen. Als es völlig ruhig war, stellte er die Flasche wieder ab und schaute den hohen Besuch an: »Mr. Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, dies ist heute ein inoffizielles Meeting, zu dem wir auf Grund besorgniserregender Beobachtungen durch unsere Wissenschaftler eingeladen haben. Der Präsident unseres Landes möchte sich persönlich ein Bild vom bisherigen Erkenntnisstand der NASA machen und später mit Ihnen zusammen konkrete Lösungsvorschläge erörtern. Ich möchte betonen, daß diese Besprechung als absolut geheim einzustufen ist. Was das bedeutet, brauche ich hier, so denke ich, nicht näher zu erläutern. Aber, meine Damen und Herren, seit gestern hat sich ein neuer, ich möchte sagen, kriti scher, wenn nicht sogar bedrohlicher Aspekt ergeben.« Harris machte eine kurze Pause, blickte erneut zum Präsidenten: »Mit Ihrer Zustimmung, Mr. Präsident, haben wir Gäste zu uns geladen, die möglicherwei 557
se eine Erklärung für die rätselhaften Lichtblitze auf der Mondrückseite anbieten können. Ich darf Ihnen Dan Datchongvi vorstellen, ein Stammesmitglied und Ältester aus dem Rat der traditionellen Hopi. An sei ner Seite den Indianerpolizisten Little G. Wing, ein Navajo, der unter anderem für die Ruhe und Sicherheit in den Reservationsgebieten der Navajo und Hopi zu sorgen hat. Außerdem möchte ich Miss Lisa Borgdal aus Schweden begrüßen, die sich gerade auf einer Studienreise durch die USA befindet, und zuletzt Ron Millar, den jungen Mann an ihrer Seite. Durch diese zwei jungen Leute werden Sie, so glaube ich, von einem Geheimnis erfahren, das unsere Vorstellungskraft aufs äußerste fordern wird. Bevor wir über Sinn und Unsinn indianischer Geheimniskrämerei und Schamanentum diskutieren, bitte ich Sie, Mr. Präsident, meine Damen und Herren, Ihre Aufmerksamkeit erst deren Botschaft und mitgeführten Zeichen zu widmen. Ich danke Ihnen.« Harris setzte sich, und forderte die ihm gegen übersitzende Gruppe auf, zu beginnen. Noch bevor Ron sich erheben und etwas sagen konnte, meldete sich der Präsident zu Wort: »Danke, Mel, meine Damen und Herren. Zwar habe ich die meisten hier im Raum schon begrüßt, dennoch möchte ich nochmals mein großes Interesse an der hier ge leisteten Arbeit zum Ausdruck bringen. Besonders, da im Moment scheinbar eine nicht zu unterschätzende Absonderlichkeit auf unserem geliebten Erdtrabanten vor sich geht. Nun hat mir mein Berater gestern Abend von einer beeindruckenden Demonstration unserer 558
Freunde hier erzählt, die, wie er mir versicherte, kein Zauberkunststück á la Copperfield war. Auch Mr. Hines war bei dem Ereignis zugegen gewesen«, dabei deutete er auf den CIA-Mann, der seinen Platz gegenüber hat te, »das stimmt doch, Mr. Hines?« Peter Hines, so direkt von seinem obersten Boss an gesprochen, stand auf. Etwas nervös nickte er heftig: »Oh, ja, Mr. Präsident, Sir, Sie hätten das sehen sollen, Sir, es war schon ziemlich verrückt, wenn ich das so sagen darf, eine richtige unheimliche Show.« Er war zu diesem Meeting heute nicht alleine er schienen. Dr. Vera Johnson, eine attraktive Frau, die er als CIA-Beraterin für anthropologische Fragen bekannt gemacht hatte, saß neben ihm. Als Mel Harris vor eini gen Minuten die Gruppe um Datchongvi vorstellte, und der Name Ron Millar fiel, schaute die Frau erschrocken hoch. Sie starrte auf den jungen Mann. Sollte sie sich doch nicht getäuscht haben? Der Name konnte Zufall sein, sicher. Sie überlegte, Robert, Ron - Ron, Robert. Aber was war mit der Ähnlichkeit, oder bildete sie sich die jetzt nur ein? »Vielleicht können wir alle das einmal sehen«, wandte sich der Präsident an Datchongvi, »ich glaube, dann wird man Ihnen anschließend um so aufmerksa mer zuhören.« »Der Kachina-Zauber ist keine Show«, Datchongvi kannte die Art, wie oberflächlich und herablassend die Weißen seit ihrer Landnahme vor Jahrhunderten immer schon die Rituale der Indianer behandelt hatten, »damit Sie meinen jungen Freunden zuhören, verstehen und 559
danach richtig handeln, werde ich Ihnen mehr geben als eine ›Show‹.« Er stand auf, genau wie am Vortag, malte das Zeichen auf den Tisch und stellte eine neue, unbeschä digte Kachina-Puppe in die Mitte des Zeichens. Nun begann er, wie auch tags zuvor, mit Gesängen und dem Ton einer kleinen Rassel, die Puppe zu beschwören. Harris, der wußte, was gleich passieren würde, stand auf und da dieser Raum fensterlos war, dimmte er das Deckenlicht herunter, bis man den alten Hopi und die hölzerne Puppe nur noch schemenhaft erkennen konn te. Ron und Lisa warteten auf die Vibration, das rötliche Licht, die Tauben, aber nichts dergleichen geschah. Sie schauten sich an, blickten dann zu Little G. Wing hinü ber. Der saß da, kerzengerade und begann mit der Nase zu schnuppern. Tatsächlich, dachte Lisa, stieß Ron an: »Riech’ mal, wie in den Räumen unter dem Pueblo duf tet es hier auf einmal.« Dann setzte das rötliche Leuchten ein. Es ging ein deutig von der Puppe aus und strahlte auseinandergefä chert breit in die Höhe bis an die Decke. Datchongvis monotoner Gesang wurde lauter. Aber da mischten sich noch andere Geräusche ein, es klang wie ein Trommeln oder das Getrampel von Tieren. Plötzlich fuhr al len Anwesenden rund um den Tisch ein gehöriger Schreck in die Glieder. Quer durch den Raum, durch das rote Licht hindurch und nur einen Meter über dem Tisch, galoppierte eine riesige Büffelherde hinweg. Ein ohrenbetäubender Lärm, durchsetzt mit unzähli 560
gen Schießsalven aus hunderten von Gewehrläufen. Todesgebrüll sterbender Bisons zerriß die Luft, das Donnern niederstürzender Büffelleiber auf festgetram peltem Prärieland war zu vernehmen und immer mehr Schüsse fielen. Das rote Leuchten wurde dunkelrot vom Blut der getöteten Tiere. Plötzlich hob Datchongvi die Arme, und wie er sie auseinanderwarf, verschwand das Bild mit einem lauten Zischen und das rote Licht verfärbte sich ins orange. Die Umhersitzenden be wegten sich nicht, und wieder erschraken sie, dieses Mal, als die Puppe ohne äußere Berührung umfiel und sich aus den seitlichen flügelähnlichen Kopfansätzen zwei Vögel lösten und wild flatternd aufstiegen. Diese schossen ziellos durch den Raum, so daß alle die Köpfe einzogen. Nur waren es keine Tauben wie am Vortag, erkannte Ron, es waren aggressive Krähen, die sich laut krächzend wie in Panik verhielten. Um sie herum tauchten weiße Möwen auf, es kamen mehr und mehr, fünfzig, hundert, oder mehr. Es wimmelte nur so unter der Decke des Raumes. Das Licht änderte sich erneut. Aus dem orange wurde ein schmutziges orange, dann wurde es schwarz. Das fast unerträgli che Gekreische wurde heiser, aus den weißen Möwen wurden schwarze Möwen. Ihre Anzahl wurde kleiner, das Geschrei erstickter, bis wieder nur die zwei Krähen übrig waren, die sich nun links und rechts je auf eine der Wandleuchten niederließen. Auch sie konnten kaum noch fliegen. Immer noch stand der Indianer mit auseinandergestreckten Armen vor dem Tisch, immer noch gab er brummende Gesänge von sich. Nur die 561
Rassel in seiner Hand schwieg. Dann warf er die Arme nach vorne, so daß seine Hände auf die umgestürzte Kachina-Puppe zeigten. In diesem Augenblick stürzten sich beide Krähen mit lautem Geschrei auf die hölzer ne Figur wie zu einem Angriff und mit einer rotgasigen Verpuffung war plötzlich totale Ruhe im Raum. Die Krähen, die Kachina-Puppe, der Geruch wie auch das schwärzlich-orange Licht, alles war verschwunden. Selbst von der Kreidezeichnung auf dem Tisch war nichts mehr zu sehen. Das Licht der Decken- und Wandbeleuchtung wurde hochgedreht. Betroffenes Schweigen. Datchongvi war ermattet in seinen Sessel zurückgefallen. Der Kopf war vornüber gebeugt und er atmete schwer. Deutlich war der Schreck einigen der Anwesenden anzusehen. Dr. Johnson wollte sich einen Zigarillo anzünden, wurde aber von Hines darauf hingewiesen, daß das Rauchen in diesem Raum untersagt sei. Als ihr dann das Feuerzeug aus der Hand fiel und einen metal lischen Klang auf dem Tisch erzeugte, schauten einige Leute herüber, auch Ron. Als er zu seinem Erstaunen das Wort PAXTON auf dem Anzünder erkennen konn te, war er irritiert, schaute auf die Frau, die blitzschnell das Feuerzeug in ihrer Jackentasche verschwinden ließ. Sie war ihm unbekannt. Gemurmel füllte langsam den Konferenzraum. Was hatten sie alle gerade miterlebt, eine Sinnestäuschung? »Mr. Präsident, schauen Sie da, da auf dem Tisch!« Sia Wong stotterte vor Aufregung. »Was ist das«, fragte der Präsident, »ist das Blut?« 562
General Montana tupfte seinen Zeigefinger in einen der drei unterschiedlich großen Tropfen, roch dann daran: »Sir, ich glaube ja, das ist Blut. Ich werde es analysieren lassen.« »Es ist Büffelblut«, brummte Datchongvi, »Sie wer den es feststellen.« Wieder blickten alle auf die Blutstropfen. In die sem Moment segelten zwei kleine, schwarzglänzende Federn auf den Tisch hernieder und landeten unweit der Tropfen. Sie wirkten feucht, klebrig. Harris griff nach einer der Federn, roch daran: »Öl, Sir«, dabei schaute er erschrocken zum Präsidenten. »Und das sind Möwenfedern, ölverschmierte Möwenfedern. Lassen Sie auch die Federn ruhig un tersuchen!« Der Hopi hatte sich wieder erholt: »Und nun hören Sie zu, was diese jungen Leute Ihnen mit zuteilen haben. Hören Sie gut zu, denn es geht um unser Überleben, um das Überleben der Menschheit schlechthin.« Der Präsident war aufgestanden, schien sehr ernst, schaute auf die Feder in Harris Hand, dann auf Ron, der sich mit seinen Blättern in der Hand bereits er hoben hatte, und sagte laut und fast befehlend in den Raum hinein: »Wir werden zuhören, junger Mann, ver lassen Sie sich darauf. Fangen Sie bitte an.« Nach zwei Stunden flogen die Türen dermaßen heftig auf, daß die davor postierten Wachmänner beinahe um gestoßen wurden. Wie aufgescheuchte Hühner stoben einige der Besprechungsteilnehmer auseinander. Dr. 563
Samisse kam ganz langsam heraus, hatte schon beim Aufstehen vom Tisch wortlos die Hand ihres Liebsten gesucht, drückte sie, stand jetzt, tief ergriffen, an seiner Seite: »Nun weißt du, was die Mondblitze zu bedeuten haben«, flüsterte sie, »darüber brauchen wir uns nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Bald brauchen wir uns über gar nichts mehr den Kopfzerbrechen.« »Komm schon, Nicole«, versuchte Wesley sie zu beruhigen, »es gibt doch noch Hoffnung. Hast du doch selbst gehört. Der Präsident, glaub’ mir, der wird alles versuchen, was in seiner Macht steht.« »Aber welche Macht hat er denn?« Nicole Samisse fühlte sich, als verliere sie den Boden unter den Füßen. Dr. Wesley zog sie zur Seite, da in diesem Augen blick der Präsident, Harris, der General und die vier Überbringer der Schreckensvision aus dem Konfe renzraum geleitet wurden. »Und Sie wollen uns nicht sagen, wo sich dieser uralte Kachina aufhält?« fragte General Montana, »es geht jetzt um die nationale Sicherheit, da sollten Sie als Amerikaner schon kooperieren.« Lisa stemmte ihre Fäuste in die Hüften, stellte sich vor Montana: »Quatsch, nationale Sicherheit. Hier geht es nicht um Amerika, sondern um die gesamte Menschheit. Sehen Sie lieber zu, daß so schnell wie möglich die Kriege überall auf der Welt beendet wer den, aber schnellstens.« Der Präsident, beeindruckt vom resoluten Auftritt der kleinen Schwedin, blickte den General schulter 564
zuckend an: »Sie haben es gehört, Phil, lassen Sie uns damit beginnen, die Kriege zu beenden.« Plötzlich kam ein Mann in weißem Kittel den Flur entlang gelaufen: »Kommen Sie, Dr. Wesley, Dr. Samisse, der Mond spielt verrückt, schauen Sie sich das an. Wir müssen unbedingt etwas unternehmen.« Es war Professor Brauner, der alte Bekannte von Wesley, der bei der Sitzung vorhin nicht zugegen gewesen war. »Was sagen Sie«, fragte Datchongvi, »der Mond blitzt? Den kann man um diese Tageszeit doch gar nicht sehen.« »Hier nicht«, antwortete Wesley, als er und Dr. Samisse an ihm vorbei liefen, »aber oben in Alaska und auch von Beobachtungsstellen auf der anderen Erdhalbkugel, die mit uns verbunden sind, kann er jetzt betrachtet werden.« »Wo können wir uns das ansehen?« rief der Präsi dent, »hey, wo?« »Hier lang, Mr. Präsident, diesen Flur entlang«, winkte Wesley. Auch Ron, Lisa und die beiden Indianer folgten. Sie waren neugierig geworden. Auf einem riesigen Monitor im Kontrollraum strahl te der Mond am nachtblauen Himmel. »Es hat vor paar Minuten mit der Blitzerei angefan gen«, erklärte Prof. Brauner, »und es folgte eine nie dagewesene Serie kurzer Blitze.« Der alte Datchongvi drängte sich zwischen den vie len Mitarbeitern weiter nach vorne durch und stellte sich neben den Präsidenten der USA. »Es geht dem Kachina wieder schlechter«, murmelte 565
er, »irgendwo auf der Welt hat es eine von Menschen gemachte Umweltkatastrophe gegeben. Wir können nur hoffen, daß meine Stammesbrüder vom PowamuBund sein Herz wieder zum Schlagen bringen, sonst war unsere heutige Zusammenkunft zu spät.« Der Präsident wandte sich zu seiner PR-Mitarbeiterin Sia Wong und forderte sie auf, über Satellit die Nachrichtenagenturen der Welt abzufragen, welche Katastrophen, in den letzten sechzig Minuten gemeldet worden waren, und sie sollte sich beeilen. Das pulsierende Blitzen hörte auf. Ruhig stand der Mond inmitten des großen Bildes, als gehe ihn die Sache nichts an. Datchongvi schaute auf den Großmonitor: »Aknavi lebt. Er lebt noch, oder wieder.« »Ich habe die Meldung, Mr. Präsident«, triumphier te Miss Wong, winkte mit einem Zettel, »hören sie, in Osteuropa wurde das komplette Ökosystem eines Flusses zerstört, nachdem hochgiftige Chemikalien einer in Flußnähe gelegenen Fabrik in den Fluß ge leitet worden waren. Sämtliche flußabwärts liegenden Fischgründe sind vernichtet. Überall sollen tote Fische auf der Wasseroberfläche treiben.« »Das reicht«, fluchte der Präsident, »Mel, Phil, be rufen sie eine Krisensitzung ein für morgen früh in Washington D.C. und bitte, ich möchte dort nur die für diese Sache wichtigsten Leute am Tisch sehen. Übrigens: keine Presse, absolute Geheimhaltung ist hiermit befohlen. Ich selbst werde jetzt unmittel bar nach Washington zurückfliegen. Ihre bisherigen 566
Auswertungen, die wir noch zu besprechen haben, können Sie mir im Flugzeug mitteilen.« »Okay, Sir«, antwortete Mel Harris, »ich kümmere mich darum«, dann schaute er sich um, suchte Peter Hines. Aber der schien nicht hier im Kontrollraum zu sein. General Montana machte sich auch davon, einige Telefonate zu führen, einige Arrangements für den morgigen Tag zu treffen. Der Präsident schaute auf den Mond, drehte seinen Kopf dann langsam zu Datchongvi: »Da haben wir in den letzten paar hundert Jahren scheinbar doch eine Menge großer Dummheiten gemacht.« Der Indianer blickte ihm ernst in die Augen und schwieg. Harris erhielt die Anweisung, sich um ein unauffäl liges Verlassen der Gäste aus dem Observatorium zu kümmern, falls draußen doch einige Reporter herum lungern sollten. Wesley hatte Nicole wieder in den Arm genommen, beide schauten Harris und dem ungleichen Quartett hinterher: »So wie die jungen Leute ihre Begegnung mit dem uralten Kachina beschrieben haben, beneide ich sie nicht um ihr Wissen über die Zukunft«, flüsterte er. »Ich auch nicht. Und dabei sind sie noch so jung.« Plötzlich wurden sie von hinten angesprochen: »Kommen Sie beide bitte mit in den kleinen Bespre chungsraum«, es war Prof. Brauner, »die Sachlage hat sich, wie Sie ja mitbekommen haben, dramatisch ge 567
ändert. Wir müssen umgehend die zu veranlassenden Maßnahmen erörtern.« Gemeinsam eilten sie los. »Hören Sie Professor«, sagte Dr. Samisse ein wenig aus der Puste, »ich sah, wie der junge Mann vorhin sei ne Aufzeichnungen dem Präsidenten zuschob. Der gab sie weiter an einen gewissen Hines. Bekommen wir davon auch Abschriften? Ich meine, wir sind hier doch jetzt irgendwie alle Geheimnisträger, oder?« »Kann ich versuchen«, antwortete Brauner, »das heißt, wenn Hines, der Mann vom Nachrichtendienst sie nochmal herausrückt.« Sie nahmen am Tisch des Besprechungszimmers Platz, zusammen mit weiteren Wissenschaftlern, und natürlich war auch Colonel Pat Grant von der NSA mit von der Partie. Nach einer Stunde hatten sie nicht nur den Raum voll gequalmt und zwei Aschenbecher mit Zigarettenkippen gefüllt, sondern einen Maßnahmenkatalog für die nächsten Wochen verabschiedet, an dessen oberster Stelle die sofortige Entsendung der Shuttle zum Mond stand. Astronaut Borman sollte in wenigen Tagen mit einem Foto-Satelliten Richtung Mond starten und die sen in eine Mondumlaufbahn bringen. Die hochauflö sende Fototechnik, welche dieser kleine Satellit beher bergen würde, sollte endlich Gewißheit schaffen über das, was auf der Rückseite des Mondes im Gange war. Nach den phantastischen Beschreibungen des jungen Mannes und der jungen Schwedin schien dem Team diese Aufklärung wichtiger zu sein als alles andere. 568
Major Borman sollte umgehend informiert werden, genauso sein Co-Pilot Major Walker. An diesem Tage ließen sich Hines und seine Begleiterin nicht mehr im Observatorium sehen, so daß Dr. Wesley und Dr. Samisse das Carson Peak Observatorium verlassen mußten, ohne nochmals einen Blick auf die erschreckenden Aufzeichnungen über den alten Kachina werfen zu können. Als Little G. Wing mit den anderen am frühen Sonntagabend wieder das Navajo-Gebiet erreichten, wurde Dan Datchongvi plötzlich von einer unerklär lichen Unruhe erfaßt und bestand darauf, daß Ron und Lisa nicht mehr ins Motel zurückkehrten, sondern mit ins Hopi-Reservat kämen. Er fühlte, daß sie jetzt in großer Gefahr waren. Zu viele böse Gedanken hatte er bei der Besprechung im Observatorium gespürt. Viele würden das Geheimnis des Kachina in ihren Besitz bringen wollen. Und man würde versuchen, über Ron und Lisa an das Versteck zu kommen. Auch Little G. Wing redete auf die beiden ein. Letztlich hatten sie sich überzeugen lassen, zunächst einmal mit auf die Mesa zu kommen. Auch sollten sie Trucker George nicht ihren neuen Aufenthaltsort nen nen. Nachdem sich Little G. Wing verabschiedet hatte, waren die drei noch bis tief in der Nacht in der Küche am alten Tisch beisammen und unterhielten sich. Datchongvi erfuhr von Rons Familienproblemen, von ihren Abenteuern in Camden und vom Wunsch, Rons 569
Bruder möge schnell wieder gesund werden. Nachdem erst Lisa und danach auch Ron sich in einem der Nebenräume schlafen gelegt hatten, begann der alte Hopi mit den Vorbereitungen für ein Beschwörungsritual. Zu den Utensilien dieser Beschwörung gehörten unter anderem auch zwei Zettel, auf denen in Buchstaben jeweils die Namen Millar und Robert geschrieben standen. Eine halbe Stunde später war das Zeremoniell been det, und auch Datchongvi legte sich zufrieden schla fen.
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10. November ’98
Camden / Maine inger kam an diesem Morgen aufgeregt in die Küche gelaufen: »Mom, Bob - Bob ist wach und will was Kräftiges zum Frühstück.« »Was sagst du da?« fragte Ruth ungläubig, »Robert ist wach, will frühstücken?« »Ja, ja, komm’ schnell mit. Und er hat sogar gelacht und geflachst, seine verdammten Kopfschmerzen seien weg. Und auch seine Beine schmerzen kaum noch!« Sofort setzte Ruth die Kanne Kaffee ab und folgte der Tochter nach oben in Roberts Zimmer. Dort lag ihr Ältester, immer noch mit Verbänden an Armen und Beinen. Auch trug er noch einen einfachen Kopfverband. Die Prellungen und Schwellungen im Gesicht und am Körper waren weitestgehend abge klungen, nur die bläulich-rötlichen Verfärbungen ließen noch erahnen, mit welcher Wucht er von der Explosion zu Boden geschleudert worden war. Bob lag mit offenen Augen da, und als er die zwei Frauen im Zimmer stehen sah, richtete er sich etwas auf, hob seinen verbundenen Arm und lachte sie an: »Hi, wie geht’s?« Ruth Millar schlug vor Freude beide Hände vor ih ren Mund: »Robert, mein Junge, dich wieder lachen zu sehen, ich bin so glücklich, daß es dir wieder besser geht.« Sie nahm seine Hand und drückte sie gegen ihre Wange. Ginger stand einige Meter entfernt, kam jetzt auch ans Bett, schob das fahrbare Gestänge mit
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den Infusionsflaschen zur Seite und streichelte ihrem Bruder das Gesicht: »Na, du großer Sportler, hast jetzt wohl genug von dieser flüssigen Ernährung, willst wie der was Richtiges essen, nicht wahr?« Auch sie war überglücklich, bekam kein weiteres Wort heraus, stand nur da und starrte Bob an. »Was ist denn, bekomme ich denn nun Speck mit Ei und Schinken?« »Und ob, mein Junge«, lächelte Ruth, »kommt so fort.« Und schon hastete sie die Stufen hinunter und lief in die Küche. »Ginger, ich muß dir etwas sagen, was Ron betrifft«, begann Bob leise, nachdem er erst gehorcht und sich vergewissert hatte, daß Mutter in der Küche war und daran ging, sein Frühstück zu bereiten. »Was Ron betrifft?« wiederholte Ginger, »was ist mit ihm?« Bob ließ seinen Kopf nach hinten aufs Kissen fallen und starrte geradeaus, »ich denke, die Frau, die ich in der Halloween-Nacht kennengelernt habe, steckt hinter dem Anschlag und der Explosion. Ich erinnere mich immer genauer an die letzten Minuten, bevor es pas sierte.« »Ja, und? Was war in den letzten Minuten vor dem Unfall?« fragte die Schwester. »Ich glaube nicht, daß es ein Unfall war, Ginger. Und genausowenig denke ich, daß dieser Anschlag mir gegolten hat. Hör’ zu, ich erinnere mich genau: als ich sie Stunden zuvor in dem Lokal kennenlernte, wollte sie schon kurze Zeit später alles Mögliche von 572
mir wissen, zum Beispiel, ob ich schon mal in England gewesen sei und in Birmingham? Klar, sagte ich. So wollte ich mich ein wenig interessanter machen, tun, als hätte ich schon die Welt gesehen. Jedenfalls schien ihr diese Antwort zu gefallen. Dann sprach sie noch davon, daß sie sich für alte indianische Geschichte und die Besiedelung Amerikas interessierte. Ich prahlte dann damit, daß mein Bruder, zusammen mit einem Wissenschaftler ganz in der Nähe eine alte indiani sche Kultstätte entdeckt hätte. Du weißt, bei Rockport, oberhalb der ›Drei Spanischen Kapitäne‹, und auch das schien sie zu beeindrucken. Und abends dann, als wir uns nochmals trafen, wollte sie plötzlich, daß wir zu ihrem Hotel fahren sollten, um noch einen ›HalloweenSchluck‹ zu uns zu nehmen. Na, du weißt schon, was ich meine.« »Ja und weiter?« »Dann verließ sie plötzlich das Lokal. Als ich be zahlt hatte und nachkam, sah ich nur noch, wie sie wegfuhr. Ich lief schnell zu meinem Käfer, äh, ich mei ne, zu Rons Käfer, hatte schon gestartet, als ich merkte, daß ich mein Geldbörse im Lokal hatte liegen lassen. Motor nochmal ausgeschaltet, ausgestiegen, und dann bumm - der Rest war Dunkelheit.« »Und wieso kommst du darauf, daß Ron gemeint war?« »Überleg’ doch, erstens war nicht ich in England und auch nicht in Birmingham, sondern er, und auch war es sein Wagen. Zudem sehen wir einander so ähn lich. Und eigentlich, wenn ich so richtig bedenke, hatte 573
sie mich in dem Lokal angesprochen und nicht ich sie. Und dann kommt noch dazu, daß keine zwei Stunden vorher jemand auf unseren Bruder geschossen hatte.« »Oh mein Gott, du hast recht. Das stimmt«, Ginger war richtig betroffen, »ob der oder die Gangster uns die Koma-Geschichte abgekauft haben?« »Koma-Geschichte?« »Ja, du weißt doch, um Ron zu schützen.« »Ach ja. Nein, keine Ahnung. Der Polizei konnte ich bislang von der schwarzhaarigen Schönheit ja noch nichts erzählen.« »Das solltest du aber, Bob. Stell’ dir vor, die Frau kommt dahinter, daß Ron nicht in dem Auto umgekom men ist und noch lebt. Vielleicht ist sie schon auf dem Weg in den Südwesten?« »Psst, Mutter kommt«, flüsterte Bob und blickte zum Fenster. Das Knarren der zweiten Stufe war nicht zu überhö ren. Ein Tablett in Händen, ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht, so kam Ruth herein und stellte das duf tende, gewünschte Frühstück auf dem Rolltisch neben dem Bett ab. »Ich habe dir Kaffee mitgebracht und Orangensaft. Greif nur gut zu, mein Junge. Ich werde jetzt unseren Arzt im Krankenhaus anrufen und ihm sagen, wie gut es dir heute geht und daß er dich mal ansehen soll, okay?« Bob, der das Glas Orangensaft am Mund hatte, nick te nur kurz. 574
Ginger schaute ihre zufrieden dreinschauende Mutter an: »Wo ist Dad eigentlich heute Morgen?« wollte sie wissen. »Oh, Dad ist schon früh nach Augusta gefahren und will heute mit dem Besitzer meiner Wohnung über eine Vertragsauflösung reden.« »Heißt das, du ziehst hier wieder ein?« »Ja, das heißt, ich werde wieder hier wohnen.« Ginger fiel ihrer Mutter um den Hals: »Toll. Mom, darüber bin ich sehr froh.« »Ich auch«, nuschelte Bob mit vollem Mund, »Mom, es ist wie ein Wunder, daß es mir plötzlich so viel bes ser geht.« Hopi-Reservat / Arizona Erste Sonnenstrahlen blinzelten durch die Fenster des schlichten Hauses. Hier vor Oraibi hatte Dan Datchongvi eine grandiose Aussicht über das Land seiner Großväter. Er saß schon früh draußen auf seiner alten Decke und führte seine Gebete zu den Geistern durch, ungeachtet der Morgenkühle. »Guten Morgen, Dan«, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Er drehte sich um und sah in das müde Gesicht von Lisa. »Ah, die junge Frau hat ausgeschlafen«, erwiderte er ihren Gruß, »Kaffee ist schon bereit. Ich komme gleich auch ins Haus.« »Ja, gut. Den Kaffee habe ich schon gerochen. Bis gleich.« Dann war Lisa wieder im Haus verschwun 575
den. Zu dem Gemurmel des Alten gesellte sich jetzt der Gesang einiger Vögel. »Es wird ein guter Tag«, meinte Dachongvi, als er mit zusammengerollter Decke ebenfalls ins Haus kam, »ein Tag, Gutes zu tun an diesem Dienstag.« Lisa schaute auf, sie hatte sich in diesen zwei Tagen an die Art gewöhnt, wie Datchongvi sprach: »Ja, man sollte nur noch Gutes tun. Aber manchmal kann man daran verzweifeln.« Der alte Indianer und Lisa saßen am Tisch. Während sie auf die Tischplatte mit den vielen Kratzern schaute, blickte er sie an, merkte, daß sie irgendwas beschäftig te. Nach Sekunden der Stille räusperte sich der Hopi: »Es geht um dein Zuhause und um das, was auf uns zukommt, uns zu bestrafen. Ist es so, mein Kind?« Lisa preßte die Lippen zusammen und umklammerte den Becher heißen Kaffees, sie mußte schlucken, spür te einen Kloß im Hals. »Ja, so ist es, Dan. Ich verstehe das nicht. - Wieso? - Wieso werden nicht nur die bestraft, welche die Erde ruinieren, warum wir alle? Ich meine zum Beispiel meine Eltern mit ihrer Viehfarm in Schweden. Sie sind gläubig, naturverbunden, benutzen keine Chemie, hal ten ihre Tiere artgerecht, beuten nicht die Natur aus. Und ich bin auch so erzogen worden. Einander helfen und miteinander leben und lernen, auch von der Natur. Aber warum müssen wir sterben, was haben wir falsch gemacht? Warum diese kollektive Bestrafung? Gibt es denn wirklich mehr schlechte als gute Menschen 576
auf der Erde? Nein, das glaube ich nicht. Warum gibt man den Neugeborenen keine Chance, die Welt zu begreifen und aus den Fehlern der Elterngenerationen zu lernen. Und was ist zum Beispiel mit den unschul digen Eingeborenen in den Wäldern des Amazonas? Diese tragen keine Schuld an den Verfehlungen der Industriestaaten und deren Gier nach Macht, Größe und Besitz. Diese Erfüllung der Prophezeiung ist nicht ge recht. Der Gott, der einst seinen Sohn für die Menschen opferte, soll jetzt von ihnen nichts mehr wissen wollen, kann er wirklich so unbarmherzig und grausam sein?« Datchongvi sah, wie traurig sie war. Er nahm ihre schmale, zarte Hand in seine wettergegerbte große und streichelte sie. »Du möchtest deine Familie wiedersehen und du möchtest bei Ron bleiben, mit beiden das Leben leben. Aber es liegt nun an den Menschen, den Strohhalm zu ergreifen, ein sofortiges Umdenken in die Tat umzusetzen, das Töten und das Ausbeuten der Erde einzustellen. Kleine Frau, wir haben seit Jahrzehnten die Verantwortlichen der Welt vor dieser Konsequenz gewarnt. Nie wurde auf uns gehört. Nie wurde auch nur der Versuch unternommen, unsere Empfehlungen in die Tat umzusetzen. Ich sage nur: sie kannten die Prophezeiung, doch sie haben nichts unternommen. Soll ich jetzt Mitleid mit dieser arroganten Spezies Mensch haben? Ich kann auch nichts mehr tun.« »Aber die Hopi werden doch mit untergehen?« Er löste seine Hand von der ihren, lehnte sich auf sei nem Stuhl zurück: »Wir wissen, daß wir mit dem Tod 577
des Niman-Kachinas auch gehen werden. Wir werden in einer besseren Welt weiterleben. Aknavi, unser Vater, Lehrmeister und Freund will nicht, daß wir sterben, daß alle Menschen sterben sollen für eine kleine Gruppe schlechter Menschen. Darum kämpft er auch so gegen sein Sterben. Aber die täglichen Abscheulichkeiten, die in der Welt durch Menschenhand geschehen, wer den seinen Widerstand immer weiter schwächen. Die Menschen werden ihn töten, nicht sein Alter. Du aber bleibe bei Ron. Zusammen helft ihr durch euren ver einigten positiven Geist einiges an schlechter Energie von Aknavi fernzuhalten. Versucht alles, damit der alte Mann seinem Nachfolger die Hand reichen kann, damit sich die Zwölf Sternenpunkte des Kosmischen Rates berühren, daß so die Verantwortung und der Schmerz weitergegeben werden kann. Nur so habt ihr wieder Hoffnung, und nur dann.« Lisa rieb sich mit den Handflächen die Augen, als sie Ron aus dem Nebenzimmer laut gähnen hörte. Datchongvi schenkte noch etwas Kaffee nach: »Das ist guter Kaffee von unserem Freund Clausseé, schon vergessen. Den sollten wir geniessen.« »Ich möchte auch etwas geniessen. Was habt ihr denn da?« fragte Ron, der verschlafen und mit einem erneuten Gähnen in die Küche kam. Er stellte sich hin ter Lisa und gab ihr einen Kuß auf die Wange: »Hey, hast du geweint?« »Nein, Darling, das sind nur Kaffeespritzer. Das ist übrigens der Kaffee, den der Professor bei unserem ersten Besuch hiergelassen hatte, schmeckt gut. Nimm 578
dir eine Tasse, etwas ist noch in der Kanne.« »Und was gibt es zu essen? Laßt mich raten, etwas Gebackenes aus Maismehl, stimmt’s?« Ron war auf Socken in die Küche gekommen, hatte nur die Jeans übergestreift und ein kariertes Baumwollhemd, das er in einer der Schubladen gefunden hatte. Lisa be merkte die leise Gangart, schaute an Ron herunter und mußte lächeln. Sie mußte an ihre erste gemeinsame Begegnung im Zug denken. »Dan, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich mir dieses Hemd übergezogen habe. Meine Hemden muß ich unbedingt bei nächster Gelegenheit wa schen.« »Ist schon okay«, antwortete Dan, »Tom hat es vor Wochen hier gegen eines von meinen Hemden ausgetauscht. Er meinte, es wäre Blut daran von dem Schlachten eines Kaninchens, halb so wild. Die Frauen der Nachbarschaft haben es gewaschen, auch das Blut heraus bekommen und es dann wohl in den Wäscheschrank gelegt. Ron, es gehört dir.« »Danke, Dan, ich finde das Hemd toll. Da freue ich mich.« »Und ich habe mit Freude festgestellt, daß ihr beide in euren Ausführungen gestern und in den schriftlichen Aufzeichnungen, die den Regierungsleuten überlassen wurden, Professor Clausseé nicht erwähnt habt. Sicher könnt ihr euch schon denken, daß auf Clausseé, einen Freund unseres Stammes, noch wichtige Aufgaben warten.« Ron zuckte mit den Schultern, fuchtelte dann Da 579
tchongvi mit dem Zeigefinger vor der Nase herum: »Wußten Sie, daß Clausseé indianische Vorfahren hat?« »Ja, Ron, das weiß ich. Ich weiß auch, daß sein gan zer bisheriger Lebensweg dazu bestimmt war, ihn auf eine einzige Aufgabe vorzubereiten. Daß er eine ganze Zeit bei uns auf der dritten Mesa gelebt hat, ist euch sicher bekannt. All das, wie auch die Trennung von sei ner Frau, sein Interesse an den frühen Seefahrern aus dem Norden Europas...« »Sie meinen die Wikinger, nicht wahr?« »Richtig, die Wikinger, all dies gehörte zu seiner Vorbereitung.« »Auch die seltsamen Träume, von denen er erzählte und die erst seit wenigen Tagen auftreten?« »Die Träume bringen ihm das Wissen der Vergangenheit. Er wird es brauchen.« Lisa machte sich bemerkbar: »Aber wo ist er? Seit drei Tagen ist er wie vom Erdboden verschluckt.« Datchongvi blickte die junge Frau an, lächelte ver ständnisvoll: »Laßt ihn. Er kommt zurück. Ihr werdet ihn wiedersehen, ganz bestimmt.« Tucson / Arizona Seit der eindrucksvollen Demonstration am Vortag im Carson Peak Observatorium durch den HopiIndianer war der CIA-Mitarbeiter Peter Hines nervlich ziemlich angekratzt. Nachdem er die schriftlichen Ausfertigungen der jungen Leute vom Präsidenten an vertraut bekommen hatte, machte er sich, zusammen 580
mit Dr. Vera Johnson, sofort auf den Weg zurück nach Tucson. Schon am Frühstückstisch ihres kleinen Hotels be merkte Dr. Johnson den bedauernswerten und unge pflegten Zustand von Hines. Auch andere Gäste schau ten schon herüber. »Verdammt, was ist los mit Ihnen«, zischte sie halb laut, »ich denke, Sie waren schon bei den gefährlichs ten Einsätzen dabei, waren knallhart, erzählten Sie im mer. Und jetzt machen Sie schlapp wegen solch einer Prophezeiung von Wilden?« »Kapieren Sie nicht? Es geht um das absolute Ende der menschlichen Existenz«, konterte Hines. Mit zit ternder Hand hob er seine Kaffeetasse an und führte sie zum Mund. »Quatsch. Seien Sie kein Jammerlappen und helfen Sie mir, den Indianern ihre Holzpuppen abzujagen.« »Was wollen Sie«, Hines hatte sich fast verschluckt, »an die Kachina-Puppen der Hopi? Sie meinen die Echten? Vergessen Sie’s.« »Blödsinn«, erwiderte sie, »Sie haben mich doch angerufen und mich auf diese Puppen erst aufmerksam gemacht. Also, was soll das Gezeter. Ich will mindes tens zwei dieser magischen Figuren, natürlich nur ori ginale Stücke, solche wie die, welche der Alte gestern bei der Demonstration benutzt hat. Das sind genau die richtigen. Und ich werde sie kriegen.« Dr. Johnson wußte genau, was sie wollte. »Solche alten Kachina-Puppen findet man ganz sicher nur noch in den religiösen Geheimstätten der 581
Hopi. Und Sie glauben doch nicht, daß die dort einen Weißen auch nur auf hundert Schritte ranlassen. Eher hat man eine Kugel im Kopf. Da kennen die Indianer keinen Spaß. Miss Johnson, Sie sollten sich mit den Puppen begnügen, welche die Indianer für ihre Kinder anfertigen.« Dr. Johnson nahm ein Glas Orangensaft in die Hand, betrachtete es und schaute dann zu Hines: »Die will ich nicht. Gut, dann halten wir uns an die beiden jungen Leute, die scheinbar bestens mit den Indianern des HopiStammes auskommen. Die werden uns helfen, an die Puppen zu kommen.« Hines blickte erstaunt: »Und wie gedenken Sie das anzustellen? Was wollen Sie tun, damit die beiden für Sie eine der wertvollen Kachina-Puppen aus dem Reservat schmuggeln?« »Ganz einfach«, lächelte sie eiskalt, »indem ich mir die kleine Blonde ausborgen werde, sozusagen als Tauschobjekt. Puppe gegen Puppe, so einfach. Und Sie, Hines, werden mir doch bei diesem Plan helfen, oder?« Der CIA-Mann glaubte nicht, was er hörte. Kid napping? Die spinnt doch: »Hören Sie, bei der Aktion können Sie mich aber vergessen. Da mache ich nicht mit.« »Ich denke doch«, zischte Vera Johnson, immer noch kalt lächelnd, »waren Sie nicht mal so ein ganz schieß wütiger Draufgänger bei der CIA? So einer für die ›unangenehmen Aufräumarbeiten‹, die beim Pentagon 582
ja reichlich anfallen sollen, wie man hört? Sie wären der richtige Mann für solch eine kleine Tausch-Aktion. Andererseits, so denke ich, wäre es doch überaus un angenehm, wenn Ihre Vorgesetzten Wind davon bekä men, daß einer ihrer Mitarbeiter wenig Skrupel besitzt, wirtschaftspolitische Entscheidungen für reichlich Dollars auszuplaudern.« »Wollen Sie mich erpressen?« wurde Hines auf ein mal laut. »Ach, wo denken Sie hin«, Dr. Johnson zog eine Unschuldsmiene, »ich möchte Sie lediglich für unse re Notwendigkeit begeistern. Oder Sie besorgen mir den richtigen Mann dafür. Denken Sie darüber nach. Ich muß jetzt erstmal nach draußen, denn in diesem Mistlokal ist Rauchen ja verboten.« Sie stand auf und wandte sich zur Tür. Mit einem Blick zurück und ei nem: »Danke für die Einladung!« war sie draußen. Hines saß alleine am Tisch und dachte nach. Die erste ›Show‹ Datchongvis am Samstag hatte ihn schon beeindruckt. Doch die am Sonntag, das spreng te alles. Als dann noch die beiden jungen Leute ihre Weltuntergangsbotschaft verkündet hatten, war er erst einmal bedient. Später, als er die Manuskripte genauer gelesen hatte, war ihm plötzlich klar geworden, daß das Ende der Welt bereits eingeläutet war. Hines hatte kaum etwas gegessen. Er saß am Tisch und überlegte immer noch, während er mit seiner Kaffeetasse spielte. Wie konnte er dem Mann, der ihn für seine Informationen aus dem Weißen Haus und dem Pentagon so großzügig bezahlte, das Ende der 583
Welt erklären? Er führte die Tasse an den Mund und kippte den Inhalt hinunter. Dann stand er auf und ging in den Vorraum, wo er einen Münzfernsprecher erspäht hatte. Er wählte eine Geheimnummer in Dallas. »Hier ist die PAXTON Inc.. Guten Tag. Was wün schen Sie bitte?« »Hallo, Miss Peggy«, begrüßte er die Vorzimmerdame und spürte, wie nervös er war. »Peggy, ist der große Boss da? Wenn ja, sagen Sie ihm, ich komme morgen vorbei, denn das Ende der Welt ist nah, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Haben Sie das behalten, ja?« »Sir, wer sind Sie eigentlich? Was reden Sie da für wirres Zeug?« Hines wechselte den Hörer in die andere Hand: »Hören Sie, Miss Peggy, wenn Sie noch Wichtiges zu erledigen haben, tun Sie es schnell, denn bald geht die Welt unter. Aber vorher sagen Sie ihrem Chef, Peter Hines hätte angerufen, und er käme morgen vorbei, um mitzuteilen, wie man die Welt und vielleicht auch seine Millionen retten könnte. Okay, bye, bye.« Hines legte auf und setzte sich wieder an den Tisch. Er war kein bißchen ruhiger geworden durch den Anruf, im Gegenteil. Mist, dachte er, blickte durchs Fenster, spähte nach Vera Johnson. Und jetzt setzte die Frau ihn auch noch unter Druck. Woher nahm dieses verfluchte Weib bloß ihre Kaltschnäuzigkeit? Auf dem Parkplatz stand Dr. Johnson, angelehnt an einen Wagen, einen Zigarillo in der Hand. Wieder zog ein triumphierendes Lächeln über ihr Gesicht.
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Weißes Haus / Washington D. C. Präsidentenberater Harris wußte nicht, was er tun sollte. Gleich würde er im Weißen Haus die wichtigs ten Vertrauten aus Politik und Militär beim Präsidenten begrüßen und er würde ihnen mit leeren Händen ge genübertreten müssen. Überall hatte er nach Peter Hines gesucht, den einzigen Mann, der im Besitz der gefährlichen Auf zeichnungen war. Doch er schien wie vom Erdboden verschluckt. Auch in Hines Abteilung im Pentagon wußte niemand, wo er sich gerade aufhielt. Es war zum Verzweifeln. Wie sollte er den Leuten des Präsidenten konkrete Fakten vorlegen, wenn die Papiere, auf denen alles niedergeschrieben war, nicht zur Verfügung stan den? Er ging den Flur zum Arbeitszimmer des Präsidenten entlang. Wichtige anstehende Entscheidungen pflegte der Präsident stets im Arbeitszimmer zu besprechen. Davor warteten schon sechs Herren, davon drei Militärs. Einer von ihnen war General Montana. Die drei anderen Männer waren der Verteidigungsminister, der Stabschef und der Innenminister. Schweigend begrüßte man einander durch Kopfnik ken. Sie warteten darauf, ins Arbeitszimmer gerufen zu werden. Niemand außer General Montana und Harris kannten den genauen Grund des Zusammentreffens. Dann öffnete sich die Tür und mit einem charmanten Lächeln bat Miss Wong sie, einzutreten und am langen Couchtisch Platz zu nehmen. Der Präsident kam durch eine Seitentür herein, begrüßte alle Anwesenden mit 585
Handschlag. Harris wollte es hinter sich bringen und bezüglich der verschwundenen Aufzeichnungen gerade eine Erklärung abgeben, als ihn der Präsident durch kur zes Kopfschütteln zum Schweigen aufforderte. Dieser stellte sich vor seine wichtigsten Vertrauten und erklär te: »Meine Herren, ich danke Ihnen, daß Sie heute so kurzfristig gekommen sind. Ich habe Sie hergebeten, weil eine Situation eingetreten ist, bei der es nicht mehr darum geht zu agieren oder reagieren, sondern wo es darum geht, etwas zu akzeptieren oder hinzunehmen. Kurz und knapp: die Menschheit steht vor ihrer ultima tiven Vernichtung.« Ein lautes und ratloses Gemurmel setzte ein. »Meine Herren, einfacher als Ihnen Berichte in die Hand zu drücken oder Sie Ihnen gar vorzulesen, ist der Mitschnitt einer Anhörung. Miss Wong, meine überaus charmante, wie auch intelligente Mitarbeiterin, hat Sonntag das einzigartige Dokument einer ›Endzeit‹ Ankündigung auf Band aufgenommen. Sogar die äu ßerst mysteriöse Demonstration eines Indianers aus dem Four Corner Land ist darauf festgehalten. Nun, Sie hätten sie sehen sollen, geradezu angsteinflößend, nicht wahr, Mr. Harris?« »Ja, gewiß, Sir. Sehr beeindruckend sogar«, erwi derte Harris in untergebener Freundlichkeit, und er war froh, daß die Blätter, die Hines eingesteckt hatte, anscheinend gar nicht benötigt wurden. Aber so oder so, er wußte, gleich würde eine wilde Diskussion losbrechen. Besonders die Militärs würden wieder 586
eindringlich auf den Einsatz von Vernichtungswaffen drängen, während die Politiker abwägend diplomati sche Lösungen der Waffengewalt vorziehen würden. Er hatte derlei Diskussionen schon sehr oft mitge macht. Aber vielleicht war diese Gesprächsrunde heute die letzte dieser Art überhaupt.
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15. November ’98
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Houston / Texas er Countdown der ›Operation Nightlight‹ hatte in der Nacht zum 15. November um Null Uhr begon
nen. Mel Harris hatte die Verantwortung für diese Aktion, in Absprache mit dem Präsidenten, Colonel Pat Grant übertragen. Professor Brauner hatte die wissenschaft liche Leitung. Die Einsatzzentrale der ›Operation Nightlight‹ wurde in aller Eile von Tucson nach Houston ins Control Center der NASA verlegt. Die letzten Monddaten, die ausgewertet worden waren, ließen die Verantwortlichen, ob aus Neugierde oder aus Angst, zu der Entscheidung kommen, den geplanten Erkundungsflug zum Mond sofort durchzu führen. Sollte man den apokalyptischen Voraussagen, die man im Carson Peak Observatorium auf den Tisch bekommen hatte, Glauben schenken, läge die alleini ge Gefahr für die menschliche Vernichtung auf dem Erdtrabanten, bereit, das angeblich Unausweichliche jederzeit auszuführen. Der Shuttle, der in den nächsten Wochen der MIR elektronisches Gerät hätte bringen sollen, wurde für diese Aufgabe vorbereitet und um gerüstet. Die Russen wurden vorerst mit der Ausrede abgespeist, es seien weitere Verbesserungsarbeiten am Antriebssystem der Shuttle nötig. Auch die Raumfahrtstation im deutschen Oberpfaffenhofen wurde dieses Mal nicht hinzugezogen. Die wahren Hintergründe sollte der Präsident am Dienstag den 588
Regierungschefs der großen Industrienationen in ei nem vertraulichen Gespräch darlegen. Seit Mitternacht fühlte Prof. Brauner sich um dreißig Jahre zurückversetzt, als die Erkundung des Mondes die größte Herausforderung der damaligen Raumfahrt bedeutet hatte und man zugleich im Wettkampf um die Eroberung des Himmels mit der Sowjetunion lag. Doch dieses Mal ging es nicht ums Prestige, jetzt ging es um die Existenz aller Menschen auf der Erde. Wie so oft, wenn er zu Weltraumunternehmungen hinzugezogen worden war, quartierte er sich für den Zeitraum der gesamten Operation im Wohntrakt des Space Centers ein. Auch diesmal wollte er, während der Mond-Mission, immer sofort vor Ort sein können, soll ten Probleme auftauchen. Im halbdunklen großen Raum stand er auf der hinteren, obersten Konsolen-Ebene und sah sich das geschäftige Treiben der Ingenieure, Meteorologen, Astromediziner, Astrophysiker und Kommunikationstechniker an. Die Frühschicht bereitete fieberhaft den schnellst möglichen Start der Shuttle vor. Vor sich auf der riesigen Anzeigenwand mit den überdimensionalen Monitoren und Leinwänden war alles, was den Mond anbetraf, ins Bild gebracht. In der Mitte prangte wie immer die flache Weltkugel mit den markierten Zeitzonen, sowie Start- und Landekorridoren. Es war in der Tat ein Gefühl wie bei der ersten Landung auf dem Mond. Nur hatten die Jungs damals nicht das heu tige Computerequipment. Er mußte darüber schmun zeln: wie das damals geschafft wurde im Juli ’69. Er 589
ging zwei Stufen nach unten, wo er Colonel Grant sah, den Mond beobachtend. »Hallo, Colonel«, begrüßte er ihn an diesem noch recht frühen Morgen, »schade, daß er uns nicht seine Rückseite zeigt?« »Ja, schade, Professor.« »Na, Colonel, und, was glauben Sie, werden wir dort sehen? Etwas, das die Prophezeiung angeblich schon vor hergesagt hat - eine Mega-Primär-Vernichtungswaffe vielleicht?« Colonel Grant, ein hochgewachsener, kantig wirkender Mann, mit braungebranntem Gesicht und kurzge schorenen Haaren, schaute ernst: »Diese, wie auch im mer geartete Waffe beunruhigt mich nicht so sehr, wie das Verschwinden des CIA-Mitarbeiters mit all den schriftlichen Beweisen dafür, daß da möglicherweise etwas Schreckliches auf die Erde zukommen könnte. Stellen Sie sich vor, die Presse bekäme Wind davon, oder Hines spielt die Papiere gar den Fernsehsendern zu, nicht auszudenken.« »Wenn er so etwas vorgehabt hätte, wären die Medien schon Sturm gelaufen, und die Telefonleitungen zum Weißen Haus wären schon längst zusammengebro chen.« »Möglich. Dennoch sollte Harris diesen Mann schnellstens wieder einfangen. Um die Bedrohung auf dem Mond kümmern wir uns schon.« Brauner stutzte: »Kümmern? Wie meinen Sie das? Wir schicken kommende Nacht dort einen der gu 590
ten alten Landsats hoch. Dieser Fotosatellit soll die Rückseite, und besonders das Gebiet des Mare Mos coviense, fotografisch abtasten, damit wir genaue Erkenntnisse bekommen, was dort los ist. Haben Sie etwa noch andere Pläne?« »Keine Pläne, getroffene Entscheidungen! Da ich der Meinung bin, daß während des Hinfluges, der oh nehin schon zweieinhalb Tage dauert, soviel passieren kann, daß uns, wenn wir erst die Auswertung der zur Erde gefunkten Bilder abwarten müssen, eine effektive Abwehrmöglichkeit nicht mehr bleibt.« Der Professor war erstaunt, sollte er bei wichtigen Entscheidungen nicht mit hinzugezogen worden sein? »Und was heißt das im einzelnen?« fragte er mit ag gressivem Unterton in der Stimme. Colonel Grant verschränkte die Arme vor der Brust, schaute grinsend zur großen Multi-Anzeigenwand: »Das heißt, daß nicht nur ein Fotosatellit mit im Laderaum sein wird, wenn der Shuttle zur ›Operation Nightlight‹ in zwei Tagen startet. Wenn auf dem Mond etwas ist, was lebensbedrohlich für die Erde erscheint, werden wir bereit sein.« »Sie wollen doch wohl nicht atomare Waffen mit zu dieser Mission nehmen? Was sagt denn der ShuttleCommander zu dieser Fracht?« »Der Commander soll nur den Shuttle fliegen und sei nen Satelliten in eine Mondumlaufbahn bringen. Das ist seine Aufgabe. Mehr braucht er nicht zu wissen«, zisch te Grant zurück, »und Sie werden ihm auch nicht mehr erzählen. Das ist eine direkte Anweisung, klar!« 591
Cape Canaveral / Florida Schon seit Tagen befand sich Major Borman wie der im sonnenverwöhnten Florida unweit von Cape Canaveral. So wie er von seiner Mond-Mission Kenntnis bekommen hatte, war das Trainingsprogramm umge stellt worden. Diese Aufgabe reizte ihn. Zur MIR war er schon zweimal geflogen, aber ein Flug zum Mond, das war es, wovon er immer geträumt hatte, schon als er noch ein kleiner Junge war. Wie sein Onkel Frank, der mit der APOLLO 8 den Mond umkreist hatte, woll te er immer sein: ein Astronaut in einer Rakete. Jetzt, kurz vor Mittag, befand er sich auf dem Weg zu seiner Unterkunft, die sich ebenfalls auf dem Schulungs- und Trainingsgeländes der NASA befand. Während verheiratete Kollegen zumeist außerhalb bei ihren Familien wohnten, war für ihn als Single das Wohnen hier auf dem Gelände okay. Sollte er später eine Freundin haben, so eine, mit der man richtige Pläne schmieden konnte, ja dann, dann wäre er auch schnell in einer Stadtwohnung. Er schaute auf die Uhr: bis drei Uhr hatte er frei. Dann würde er mit seinem Co-Piloten Major Walker in die Start-Vorphase kommen, dann begannen die Checks für den Start. Zeit genug, um sich noch ein we nig aufs Ohr zu legen. Am Gebäude angekommen, lief ihm ein junger Air Force Soldat fast in die Arme: »Major Borman«, hechelte dieser, »Sie haben Besuch bekommen. Ein Verwandter glaube ich, sagte er jedenfalls, Sir. Ich habe ihn in den Fernsehraum geführt. War gerade auf dem 592
Weg, Sie zu informieren, Sir.« »Danke«, antwortete Chris und eilte ins Haus. Ein Besuch, für mich, dachte er, ein Verwandter? Er rätsel te, ging also nicht zu seiner Unterkunft, sondern blieb Parterre, suchte den Fernsehraum auf. Als er die ange lehnte Tür aufstieß, war sein Erstaunen ebenso groß wie seine Freude. Vor ihm stand der gute alte Onkel Eric, den er mehr als zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte. Onkel Eric, ja, so hatte er ihn immer genannt, obwohl er gar kein richtiger Onkel war. Er, Dad und Frank wa ren früher immer zusammen gewesen, auf dem College wie auch in den sechziger Jahren, als sie gemeinsam bei der NASA angefangen hatten. Eric Walsh und Dad hat ten dort die Raketen gebaut, die Onkel Frank dann flog. Als Dad vor einigen Jahren gestorben war, hatte Onkel Eric die NASA verlassen und eine neue Tätigkeit im Pentagon gefunden. Was er dort genau tat, wußte Chris nicht. Aber er bildete so eine Art Verbindungsmann oder Koordinator zwischen der Raumfahrtbehörde und dem Nachrichtendienst, Bereich Landesverteidigung, jedenfalls so etwas Ähnliches. »Onkel Eric, welche Freude, dich zu sehen, laß’ dich drücken«, und schon hatte Chris sich den älteren Mann gepackt und ihn umarmt. Der blinzelte ihn nur freund lich an. »Was gibt es Gutes«, sprudelte es aus Chris heraus, »sag’ schon, lebst du immer noch in diesem kleinen Nest nahe Houston?« Walsh schlug dem jungen Mann, der für ihn immer wie ein Sohn gewesen war, auf die Schultern, betrach 593
tete ihn von oben bis unten: »Hey, du siehst blendend aus. Das macht sicher die gute Luft von Florida, nicht?« Sie lachten, gingen zu einem kleinen Ecktisch und setzten sich. Außer ihnen war zu dieser Zeit niemand im Fernsehraum. Walsh fuhr fort: »Nein, als ich in Washington anfangen konnte, bin ich aus Willis wegge zogen. Irgendwie hat mir die Arbeit in Pasadena keinen rechten Spaß mehr gemacht, nachdem Frank dort nicht mehr war und später dann dein Dad starb. Aber mal zu dir. Ich hoffe, du hast schon viel von Florida gesehen? Schon bei den Keys gewesen? Und in Orlando? Es soll dort ja eine ganze Reihe hübscher Frauen geben, oder irre ich mich da?« Die letzten Fragen wirkten etwas gekünstelt. Chris merkte das. »Onkel Eric, deswegen bist du doch nicht hier, um mich nach meinen Heiratsaussichten in Orlando zu be fragen?« Der Mann mit den hellgrauen Haaren rutschte un ruhig auf seinem Stuhl umher, seiner ernsten Miene folgte wieder Freundlichkeit: »Sag, Chris, kann man hier auch einen kleinen Drink bekommen. Ich meine, nur einen kleinen«, dazu deutete er mit Zeigefinger und Daumen eine ›Whiskeyhöhe‹ an. »Nein, hier nicht. Da müßten wir schon rüber ins Kasino gehen. Aber ich darf sowieso nichts trinken. Zum Essen, ja zum Essen kann ich dich einladen, wenn du magst? Komm laß uns rüber gehen.« »Warte, mein Junge, erst möchte ich noch etwas mit dir bereden. Und dafür wird es im Kasino mit 594
Sicherheit zu voll und unruhig sein.« »Ist es was Ernstes?« Chris schaute sein Gegenüber mit zusammengezogenen Augenbrauen an, »hast du Probleme?« »Du hast recht, ich bin nicht ohne Sorge hierher ins warme Florida gefahren, und ich habe gehofft, dich hier anzutreffen. Wo ich dich finden würde, ist bei meinen Beziehungen und Verbindungen kein Problem gewesen. Nur wußte ich nicht, ob ich dich so kurz vor dem Start noch hätte sprechen können. Aber jetzt bin ich froh, daß es doch noch klappt, bevor deine Sondermission beginnt.« »Du weißt von der Mission ›Operation Night light‹?« Walsh nickte: »Oh ja, davon weiß ich. Und deswe gen bin ich hier, um mit dir zu reden.« Chris lehnte sich zurück, verschränkte die Arme. Wieso kam Onkel Eric extra aus Washington angereist, wollte mit ihm über den Flug zum Mond reden, wun derte er sich. Er hatte dabei ein komisches Gefühl im Magen. Das lag aber nicht daran, daß er in Kürze eine Reise durchs All antreten würde. »Okay, ich höre«, sagte Chris erwartungsvoll, war neugierig wie ein Kind, »reden wir über meinen Flug zum Mond, bitte.« Der väterliche Freund rieb sich mit der Hand über den Mund, suchte nach dem richtigen Anfang: »Chris, du weißt, daß mich mit deinem Vater und Onkel Frank seit vielen Jahren eine tiefe Freundschaft verbindet. Und daß wir früher weiß Gott so manche Tour durch die alten Kneipen von Pasadena gemacht haben. Auch 595
als Frank damals erfuhr, daß er mit der APOLLO 8 als erster Mensch den Mond umrunden sollte, haben wir ei nen draufgemacht. James Lovell war übrigens auch mit von der Partie. Oh, was haben wir gesoffen, die Songs von den Stones und den Beach Boys in den Musicboxes dauernd gedrückt, und dazu auch noch Buddy Holly. Als er dann Weihnachten ’68 zu seinem Mondflug auf brach, du warst gerade zwei Monate alt, saßen wir alle gespannt im Kontrollraum, wie die ganze Nation vor den Radios und Fernsehern und verfolgten diese SuperLeistung. Wouw, war das spannend, besonders für uns NASA-Leute. Doch als die Crew zurückkam, war irgend etwas mit ihnen geschehen. Nach außen wur den Borman, Lovell und Anders als strahlende Helden der amerikanischen Raumfahrt präsentiert, nach ihren zwei Erd- und zehn Mondumrundungen. Aber dein Vater und ich merkten, daß da etwas vorgefallen sein mußte. Du weißt, alle Astronauten werden gegenüber der Öffentlichkeit zur Verschwiegenheit verpflichtet, was Inhalt der Missionen, Gefahrensituationen, außer gewöhnlichen Erlebnissen oder Sichtungen auf ihren Flügen angehen, welcher Art sie auch immer gewesen sein mögen. Alle Astronauten mußten diesen ›StillSchweige-Passus‹ unterschreiben und wußten, daß bei Zuwiderhandlungen, nicht nur der Ausschluß aus der Air Force, sondern sogar Gefängnis drohte, wegen der nationalen Sicherheit.« »Ja, ich weiß«, bestätigte Chris, »das ist heute nicht anders als vor dreißig Jahren.« Eric schaute seinen ›Neffen‹ einen Moment schwei 596
gend und besorgt an. »Frank hat vor wenigen Jahren aufgehört, sich an die ses Stillschweigen zu halten, wußtest du das?« fuhr er fort, »und er hat mir erzählt, was sie tatsächlich auf der Mondrückseite entdeckt hatten. Das war jedenfalls nicht das, was der Öffentlichkeit an Hand von ausgesuchtem Filmmaterial vorgelegt worden war. Die Wahrheit hät te damals wahrscheinlich eine Katastrophe auslösen können, gerade in der Zeit des ›Kalten Krieges‹. Er erzählte mir in allen Einzelheiten, mit welcher Furcht sie nach den ersten zwei Umrundungen jeden weiteren Flug über die erdabgewandte Mondrückseite ange gangen waren. Es muß die Hölle gewesen sein für die Besatzung der APOLLO 8, du mußt doch davon gehört haben, Junge?« Chris stützte sich auf den Tisch, legte sein Kinn auf die gefalteten Hände: »Gehört hat man sicher schon das eine oder andere von den APOLLO- und GEMINIFlügen, aber offiziell ließ man uns auch in dem Bewußtsein, auf der Mondrückseite biete sich ein ge nauso ödes Bild wie auf der uns zugewandten Seite.« »Dem ist aber nicht so«, unterbrach Walsh, »dem ist absolut nicht so. Deswegen und auf Grund eini ger Gerüchte, die in unserer Abteilung bezüglich der Mondrückseite aufgekommen waren, mußte ich her kommen, weil gerade du es sein sollst, der mit der Shuttle dort hin fliegt.« Chris lächelte verlegen: »Sag, du machst es richtig spannend. Willst du etwa nicht, daß ich fliege? Du weißt, daß es immer mein Traum war.« 597
»Ich weiß es«, erwiderte der alte Freund, »du sollst auch fliegen, aber ich möchte, daß du vorbereitet bist, wenn du in die Nähe des Mondes kommst, und beson ders, wenn du in den Bereich der Rückseite eintauchst. Wenn der Funkkontakt für einige Minuten zur Erde abgebrochen sein wird, bist du mit deinem Co-Piloten auf dich alleine gestellt. Frank war damals nicht vorbe reitet, und was er erlebte, hätte für ihn und sein Team auch verhängnisvoll enden können. Das soll diesmal nicht passieren.« »Weißt du etwa mehr als ich, was diese Mission angeht, Onkel? Das klingt alles so geheimnisvoll, so warnend. Ich denke, ich fliege da hoch, setze einen Fotosatelliten aus und ab zurück zur Erde. Jedenfalls ist nicht geplant, daß der Shuttle selbst zur Mondrückseite fliegt.« Walsh antwortete nicht, schaute Chris nur ernst an. »Was ist, warum sagst du nichts? Willst du mir nicht sagen, was Onkel Frank auf dem Mond gesehen hat. Ist das so schlimm?« »Chris, ich werde dir gleich in allen Einzelheiten erzählen, was er mir von seiner Weihnachtsmission ’68 anvertraut hat. Aber zunächst muß du mir eines versprechen. Wenn du merkst, da oben geht etwas vor, wenn du das Gefühl hast, mit deiner Shuttle stimmt was nicht, hau ab. Spiel’ nicht den Helden, wie in den amerikanischen Weltraumfilmen. Versuch’ nicht, al lein die Welt retten zu wollen oder dergleichen. Hau einfach ab, egal, was die aus dem Kontrollzentrum dir erzählen. Versprichst du mir das?« 598
Chris war irritiert, drehte den Kopf hin und her, biß sich unschlüssig auf die Unterlippe. »Was ist? Versprichst du mir das, komm Junge, mir und Frank und deinem toten Vater?« »Okay, ich verspreche es«, stotterte Chris heraus, »ich verspreche es, Onkel Eric.« »Auch, wenn die Spezialeinheit an Bord etwas ande res von dir fordert?« »Moment«, stutzte Chris, »Spezialeinheit? Welche Spezialeinheit denn?« Walsh schaute seinem Gegenüber erstaunt an: »Du als Commander weißt nicht, daß du Elite-Soldaten und Atomwaffen mit ins All nehmen wirst? Dann solltest du dich aber mal schnell auf den neuesten Stand eu rer ›Operation Nightlight‹ bringen lassen, mein lieber Junge.« Tucson / Arizona Durch gezielte Informationen hatte Sia Wong mit Harris Hilfe die komplette örtliche Presse wie auch die TV-Reporter schon am frühen Morgen des 9. November zu einem Explosionsunglück in einer still gelegten Goldgräbermine gelockt, vierzig Meilen ent fernt. Harris hatte zudem das Gerücht verbreitet, daß Abenteurer bei dem Versuch, eine gefundene Goldader freizusprengen, ums Leben gekommen seien. Bei die ser inszenierten Explosion war natürlich niemand zu Schaden gekommen, Pech für die Medien. Aber so hatte niemand etwas von dem heimlichen Präsidentenbesuch im Carson Peak Observatorium mitbekommen. 599
Dr. Samisse las die vielen empörten Artikel der Lokalblätter über diesen vermeintlichen Studentenulk in der heutigen Sonntagsausgabe. Natürlich war ihr, wie auch Dr. Wesley, der Grund dieser Ablenkung mitgeteilt worden, als sie vor einer Woche das Observatorium verlassen hatten. Man hatte sie vorgewarnt, daß wo möglich neugierige Reporter an Mitarbeiter der NASA, die nicht zum Stammpersonal des Observatoriums ge hörten, herantreten würden. So wollte man erfahren, ob diese Explosion vielleicht eine Ablenkung darge stellt hatte, um nicht zum Carson Peak zu kommen. Natürlich hatten die Medienleute noch am selben Tage von einem geheimen Treffen vieler Wissenschaftler im Observatorium erfahren, obwohl diese Einrichtung angeblich doch von Freitag bis Sonntag geschlossen gewesen sein sollte. Zweimal wurden Dr. Samisse und Dr. Wesley angesprochen, aber was konnten sie schon von der Goldgräbermine in Arizona wissen. »Darling«, flüsterte Nicole, als sie Wesley von hinten umfaßte, während er auf dem Balkon ihrer Unterkunft stand und sich das Treiben auf der Straße ansah, »glaubst du, daß die Prophezeiung wahr ist? Ich meine, ist die Menschheit wirklich in Gefahr?« Wesley drehte sich langsam um, streichelte ihr über den Kopf, stupste ihre Nase mit seiner, und dann drück te er sie an sich, als wolle er sie beruhigen. Er wußte, er konnte ihr nicht die Antwort geben, die sie sich ersehn te. Er löste seine Umarmung wieder, und sie standen nebeneinander, schauten fast gleichzeitig zum blauen Himmel hoch, versuchten den Mond zu entdecken. Es 600
geschah fast automatisch. »Also sind wir in Gefahr«, beantwortete sie sich die Frage selbst, »nur - wieviel Zeit bleibt uns noch? Sollten wir nicht Pat Kramer warnen?« »Wesley schaute rüber: »Warnen? Was willst du Pat denn sagen, oder den anderen da oben in Alaska? Wir seien hier bei den Indianern, und die haben gehört, jetzt ist ›Schluß mit lustig‹, und der Planet wird ab sofort, oder vielleicht in Kürze, oder irgendwann von der Spezies Mensch befreit werden? Ich weiß nicht, Nicole, ich würde so etwas auch nicht glauben, hätte ich das im Konferenzsaal nicht mit eigenen Augen gesehen und gehört. Und dann ihre Kenntnisse über die Mondblitze, sagenhaft. Vielleicht haben die Hopi ja recht, wenn sie behaupten, wir hätten die Erde nicht verdient. Ich weiß nicht, ich weiß nicht?« Er wandte sich um und schlenderte zurück ins Zimmer, nahm sich eine Flasche Wasser aus dem kleinen Zimmerkühlschrank und setz te sich auf das Bett. Der Fernseher in der Ecke des Raumes lief schon den ganzen Vormittag, brachte Lokales, Talkshows, Werbung und gelegentlich Nachrichten aus aller Welt, zumeist war der Ton abgedreht. Die Minenexplosion war schon längst kein Thema mehr, nicht einmal im lokalen Bereich. Nur beiläufig schaute er auf den Fernseher, während er die Flasche an den Mund setzte. Plötzlich wurde sein Interesse geweckt. Ein Bericht aus Washington wurde durch Einblendung des ›Weißen-Haus-Logos‹ ange kündigt. Ein Tastendruck auf die Fernbedienung, und 601
auch der Ton war wieder da. »Nicole, komm’ schnell her. Der Präsident ist im Fernsehen, komm’ schnell!« Sie setzte sich neben Wesley. Gebannt starrten sie auf den Fernseher und lauschten dem Berichterstatter: »... hat der Präsident der Vereinigten Staaten die Regierungschefs der befreundeten Industriestaaten zu einem außerordentlichen Treffen ins Weiße Haus einge laden. Nicht einer der Staatsmänner hat sich entschul digen lassen, trotz des bevorstehenden Wochenendes. Alle sind sie gekommen, nur in Begleitung ihrer Innenund Wirtschaftsminister. Nach drei Stunden hasteten sie wieder zu den wartenden Helicoptern, die sie zu ihren Maschinen auf dem Washington Airport brachten. Eine Stunde später gab der Sprecher des Weißen Hauses für die wartenden Journalisten ein Statement. Hier ein Auszug aus dem Statement: ... ›wurden, alarmiert durch die besorgniserregenden Untersuchungsergebnisse einer internationalen Wissenschaftlergruppe hin sichtlich der Erderwärmung und der zunehmenden Naturkatastrophen weltweit einige umweltbetreffende Einschränkungen mit sofortiger Wirkung beschlossen. Die größten und wichtigsten Nationen, allen voran die Vereinigten Staaten, werden ab sofort jegliche Eingriffe in die Natur untersagen. In dieser Stunde wer den die großen Staaten der Erde ihre wirtschaftlichen Partnerländer auf dem gesamten Globus über diese dringliche Maßnahme informieren und ab Mitternacht soll die Einhaltung dieses Beschlusses, notfalls mit Militärgewalt, durchgesetzt werden. Unter anderem 602
muß sofort jegliches naturschädigende Abholzen der Regenwälder eingestellt werden. Außerdem sind ab sofort sämtliche Kriegshandlungen rund um den Globus zu beenden und unter UNO-Mandat zu stel len. Die Staatsmänner waren sich, wie verlautete, in allen Punkten einig‹... Meine Damen und Herren«, so der Fernsehkommentator, »dies war wahrhaft ein historisches Treffen. Dennoch, so fragen wir uns: gibt es für diese Einigkeit und Übereinstimmung noch an dere Gründe? Sind gravierende Informationen oder weltbedrohende Erkenntnisse verantwortlich für diese seltsame Einträchtigkeit unter den Regierungschefs der Welt? Fragen, die wir hoffentlich bald beantworten werden. Ihr Jim Dalamor, von CNN.« »Wouw«, hauchte Nicole, »Curt, jetzt wissen wir’s genau. Das Ende naht!« Wesley war wortlos aufgestanden, um den Fernseher abzuschalten. Jetzt stand er da, die Wasserflasche in der Hand. Er drehte sich um, blickte Nicole an: »Und? Nun glaubt auch der Präsident an die Prophezeiung.« »Ich hoffe trotzdem, daß alles gutgehen wird. Es muß einfach gut werden.« Nicole wußte, daß es wahrschein lich Wunschdenken war, was ihr als Wissenschaftlerin eigentlich fremd war, da sie an Fakten, Tests und Versuche glaubte. Dies hier hatte aber eine andere Dimension. Es war spirituell und unbegreiflich. Wie sollte sie damit klarkommen? Hoffnung? - Gott kam ihr plötzlich in den Sinn. Seit ihrer Kindheit fehlte ihr der wirklich tiefe Bezug zum Glauben. Dafür schien ihr die Physik und Chemie einfach zu real. Nicht glauben, 603
sondern erklären und beweisen, hatte bis jetzt ihr Leben geprägt. Und nun? Doch wieder glauben? Könnte der LIEBE GOTT hier helfen? Wollte er das überhaupt noch einmal? Trotz Jesus hatten die Menschen sich nicht gebessert, mußte sie sich eingestehen, warum also sollte Gott noch einmal gnädig sein? »Darling, weißt du, was wir machen«, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus. »Wie, was machen?« »Wir fahren zu den Hopi. Frag’ mich nicht, wie ich darauf komme. Aber ich würde mich sicherer fühlen, wenn wir jetzt bei den Indianern wären.« »Was redest du da«, schimpfte Curt, wollte ihr diese Untergangsstimmung ausreden, »Nicole, noch leben wir, noch dreht sich die Welt weiter. Der Präsident hat das Wichtigste eingeleitet: er versucht, den alten Kachina, oder wie immer der Uralt-Indianer heißt, am Leben zu halten. Und solange er noch atmet, geht die Welt nicht unter, klar?« »Curt, die Welt, ich meine die Erde, sie geht auch nicht unter. Hast du die Botschaft denn nicht verstan den? Die Erde wird sich weiter drehen, die Tiere wer den weiter den Planeten bevölkern, genauso wie die Pflanzen. Nur wir Menschen werden verschwinden. Nach kurzem und zerstörerischem Aufenthalt von fast zehntausend Jahren wird die Erde wieder durchatmen können. Vielleicht kommt nach uns ja ein neuer, besse rer Typ Mensch, der vernünftiger ist als wir es waren, der nicht nur erobern, besitzen und töten will. Nein, Curt, die Erde wird nicht zerstört, die Erde ist gut. Wer 604
nicht darauf gehört, ist der Mensch von heute, sind wir.« Curt war erstaunt. Nicole brauchte er nicht zu be ruhigen, das wußte er jetzt. Sie war sich der Situation voll bewußt. Das Beste daraus zu machen, das schien ihr Anliegen zu sein. Aber er liebte sie. Wenn sie zu den Hopi-Indianern wollte, bitteschön, von ihm aus: »Okay, fahren wir zu den Indianern«, bemerkte er Nuancen freundlicher, »die Strecke dorthin kennen wir ja. Hoffentlich nehmen sie uns auch auf, uns Weiße?« »Das werden sie, bestimmt«, antwortete Nicole, »laß’ uns packen.« »Jetzt, sofort?« »Ja, jetzt sofort. Worauf willst du warten?« »Morgen habe ich aber Dienst im Observatorium. Ich könnte vielleicht ab Dienstag...« Nicole baute sich vor ihm auf, tippte mit dem Zeigefinger energisch gegen seine Brust: »Wenn du meinst, du müßtest noch den Angriff vom Mond auf dem Monitor miterleben, womöglich noch den Videorecorder einschalten, okay, dann fahre ich allei ne. Du kannst ja nachkommen, wenn es dir dann noch in den Dienstplan paßt. Ich jedenfalls packe jetzt. Und wenn du mich liebst, packst du auch.«
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16. November ’98
Dallas / Texas n diesem Morgen war Sir Rymond Lee früher als sonst ins Büro gekommen. Und er war außer sich. Noch am Sonntag hatte er seine Anwälte Jo Burt und Tex Reinhard angerufen, sie für heute Morgen hierher zitiert. Die Nachricht vom Beschluß der Staatenkonferenz in Washington hatte an der Börse wie eine Bombe ein geschlagen. Die Aktienkurse vieler Konzerne waren im Sturzflug in den Keller gegangen, so auch die von PAX TON Inc.. Anrufe nach Malaysia und nach Venezuela waren ernüchternd verlaufen. Regierungsseits waren in beiden Ländern die Rodungsarbeiten eingestellt worden. In Malaysia war sogar der Wirtschaftsminister verhaftet worden, als herauskam, daß er die jüngsten Rodungsmaßnahmen zu verantworten hatte. Nun stand Sir Rymond Lee am großen Fenster und schaute wie so oft hinaus. Waren seine Träume in Gefahr? Hatte er es nur mit Unfähigen zu tun? Er ging zur Sprechanlage: »Miss Peggy, sind meine Anwälte schon im Haus? Wenn ja, dann umgehend zu mir. Und wenn ein Mr. Peter Hines auftaucht, soll er ebenfalls sofort in mein Büro kommen, verstanden?« »Ja, Sir«, stotterte Peggy Morales, die merkte, wenn mit dem Boss nicht gut Kirschen essen war. Warum war sie eigentlich noch hier bei PAXTON? So oft schon hatte sie gehen wollen, aber, naja, die Bezahlung war gut, und meistens war der Boss auch erträglich, jeden
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falls nicht schlimmer als andere. Zudem war er einer, der nur an seinen Profit dachte und nicht, wie er seine Sekretärin zu seiner Geliebten machen könnte. Damit hätte er bei ihr auch auf Granit gebissen, garantiert. Nacheinander erschienen die Anwälte, grüßten sie und verschwanden dann im Büro des Chefs. Dann tauchte ein Mann auf, der ziemlich durcheinander zu sein schien. Als sie endlich herausbekam, daß es sich um den erwarteten Peter Hines handelte, schickte sie ihn ebenfalls ins Zimmer ihres Bosses. »Mr. Peter Hines«, begrüßte Sir Rymond Lee ihn mit einem unüberhörbar feindlichen Ton, »ich dachte, wir seien Partner? Und Partner helfen einander. Schauen Sie, dort, meine Anwälte: Mr. Reinhard, verheiratet, hat Familie. Aber dennoch kommt er, wenn ich ihn rufe, sofort her über. Er läßt seine Familie an einem Sonntag alleine, weil ich ihn brauche. Oder Mr. Burt: ich weiß, daß er ein fanatischer Anhänger der Dallas Cowboys ist. Und trotzdem läßt er das Spiel der Cowboys sausen, wenn ich ihn brauche. Ist das Loyalität? Ja, ich sage, ja. Das ist Loyalität, Partnerschaft, fast Freundschaft. Nein, Mr. Hines, Freundschaft erwarte ich nicht von Ihnen. Freundschaft von einem Regierungsbeamten kann man nicht erwarten. Aber Partnerschaft, verdammt nochmal, Partnerschaft wohl, besonders wenn die Partnerschaft so teuer bezahlt wird wie von mir. Meinen Sie nicht, Mr. Hines?« »Ich - an - ich habe...« »Stottern Sie nicht so rum«, wurde der Ton des 607
PAXTON-Bosses schärfer, »ich bezahle Sie dafür, daß ich darüber informiert werde, was diese judenfreundli che Regierung im Schilde führt und beschließen will. Und meines Wissens weiß das Pentagon und der CIA immer schon im voraus, was der Präsident vorhat. Wieso, Mr. Hines, habe ich nichts von Ihnen gehört, als das verdammte Treffen der Regierungsbosse in Washington stattfand? Hey, sollten Sie mich vergessen haben? Na, ich warte auf eine Antwort, Mr. Hines.« Peter Hines stand da, schaute den Chef von PAXTON Inc. an und begann plötzlich zu lächeln. »Was, verflucht nochmal ist so lustig daran, daß meine Aktien an der Börse durch die Schuld eines von mir gut bezahlten Pentagon-Informanten in den Keller gerutscht sind, ha?« »Im Grunde spielt es keine Rolle mehr, ob Ihre Aktien im Himmel sind oder platzen wie eine Seifenblase. Wenn nichts außergewöhnliches passiert, sind wir alle in wenigen Tage ein Staubkorn im Weltraum, Sir.« Sir Rymond Lee stand kurz davor, handgreiflich zu werden. Hines fuhr lächelnd fort: »Sir, Ihre und meine Tage sind gezählt und die Ihrer schleimigen Anwälte ebenfalls. Es sei denn, jemand weiß die Patentlösung für’s Überleben.« »Was reden Sie für unsinniges Zeug, Hines. Sie wol len doch nur Ihren Kopf aus der Schlinge ziehen.« »Nein, es ist Tatsache: die Erde geht unter. Warum, glauben Sie, purzeln denn die Börsenwerte? Was der Präsident weiß, aber der Öffentlichkeit nicht mitzutei len gedenkt, das weiß ich auch.« 608
Sir Rymond Lee packte Hines an dessen Krawatte, zog ihn zu sich heran: »Ich will jetzt wissen, was da los ist. Hines, reden Sie!« Der CIA-Mann, der seit ›Carson Peak‹ seelisch an geknackst war, ging um Sir Rymond Lees Schreibtisch herum, stellte sich vor das große Fenster und schaute hinaus, fing an zu lachen: »Es ist schon schwer vorstell bar, daß in wenigen Tagen da unten alles mausetot sein soll. Nur weil nach einer alten Indianer-Prophezeiung die Zeit reif sei, Schluß zu machen, haha, die Menschen von der Erdoberfläche zu fegen, alle Menschen, auch Sie, Sir, haha. Vom Mond kommen die Menschenkiller und werden, so habe ich es selbst gehört, von einem alten, klapprigen und schon sehr kranken Indianer auf die Erde gelotst, haha.« »Wie, gelotst?« wollte Sir Rymond Lee wissen, »wo sitzt diese elende Rothaut? Und hören Sie auf, so al bern zu lachen!« »In Arizona, Sir, der Stamm dieses Indianers lebt in Arizona und irgend jemand wartet darauf, daß der Alte das Zeichen zum Losschlagen gibt. Und wenn er soweit ist - peng - kommen die kleinen Männchen aus dem All, um uns alle nieder zu machen.« »Sie spinnen doch«, lachte der PAXTON-Boss ver ächtlich, »Sie haben zuviel Filme geguckt, Angriff aus dem All, pah!« »Ich sagte doch schon, daß ich es selbst gehört habe. Ich habe es gehört und der Präsident und auch viele Wissenschaftler. Warum hat der Präsident wohl die Staatsmänner der anderen großen Regierungen 609
kommen lassen? Warum werden die Maßnahmen wie Einstellungen von Rodungsarbeiten denn durchge führt? - Weil auch die Politiker an diese Prophezeiung glauben und versuchen, die Erde auf diese Art noch zu retten, darum.« »Und das hilft?« »Glaub’ ich nicht«, stammelte Hines, »ich würde den Kontaktmann der Angreifer hier auf der Erde schnellstens ausschalten. Dann kann auch kein Angriff erfolgen. Vielleicht normalisiert sich mit der Zeit dann alles wieder.« »Sie schlagen also vor, den alten Indianer zu elimi nieren? Und wie kommt man an den heran?« »Woher soll ich das wissen?« antwortete Hines, »ich denke aber, man kann über die zwei jungen Leute, die die Botschaft der Indianer vortrugen, an ihn herankom men. Wenn ich mich recht entsinne, war der, der den ir ren Spuk veranstaltete, ein Hopi-Indianer. Aber er war auf keinen Fall der Alte, um den es geht. Irgendwo im Hopi-Reservat wird dieser wohl versteckt gehalten.« Sir Rymond Lee war zu seinem Schreibtisch geeilt, betätigte die Sprechanlage: »Miss Peggy, bitte die Nummer von Dr. Vera Johnson und von Hawk.« »Sir, ich kenne keinen Hawk. Diesen Namen habe ich nicht in meiner Telefonliste.« »Ja, stimmt«, zischte er, »die Nummer habe ich hier, danke Peggy.« Peggy Morales war froh, daß der Boss ihre Nervo sität nicht bemerkt hatte. Denn sie war erregt, erregt und erschrocken über das, was sie durch den Türspalt 610
zum Chefbüro gehört hatte. Als Hines vor Minuten ins Büro gegangen war, hatte er die Tür wohl nicht richtig hinter sich geschlossen. So hatte sie Hines Ausführungen über eine bevorstehende Katastrophe gehört, und daß ihr Boss den angeblich dafür verant wortlichen Indianer beseitigen lassen wollte. Dumm war sie nicht, verstand sehr wohl, daß dort im Büro ein Mord geplant wurde, und daß sie schneller zur Komplizin werden könnte, als unlieb war. Was sollte sie tun? Wer würde ihr glauben? Außerdem befand sich dort drinnen ein Regierungsbeamter. Auf keinen Fall wollte sie da hineingezogen werden. Vielleicht könnte man den Indianer warnen, oder die jungen Leute, von denen Hines gesprochen hatte. Vorsichtig schlich sie zur Tür, um besser hören zu können. Vielleicht fielen noch Namen, oder Orte würden erwähnt, ja, dann wür de sie erst die Betroffenen warnen und dann die Polizei informieren. Ja, genau so wollte sie es machen. Sie lauschte - und hatte Glück. »Ich weiß, wo die Hopi-Truppe zu finden ist«, hörte sie den aufgeregten Hines, »drüben in Nord-Arizona. Dort liegt ihr Reservat. Von dort stammt der Indianer, der die Zauberformeln sprach. Der andere Indianer ist von der Navajo Tribal Police. Die beiden jungen Leute, die blonde Ausländerin und ihr Typ, bewohnen ein Zimmer in einem Motel in der Nähe von Winslow. Georges Motel heißt es und ist ein Trucker-Motel.« Peggy hörte Schritte und huschte in Windeseile zurück zu ihrem Stuhl. Sie hatte einen Hinweis. Jetzt mußte sie nur noch die Nummer von dem Polizeibüro 611
der Indianer ausfindig machen und die des Motels. Das sollte keine schwierige Sache sein, schließlich mußte sie für ihren Chef oftmals die abenteuerlichsten Verbindungen herstellen.
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DIE PROPHEZEIUNG
17. November ’98
Hopi-Reservat / Arizona s war Mittag. Die Luft über den Mesas war angene hm, nicht zu heiß wie noch vor wenigen Wochen. Wenn man bedenkt, daß jetzt in Maine schon ers te Schneestürme vom Meer landeinwärts peitschen, dachte Ron, der es sich auf einem alten Autositz vor dem Haus seines Gastgebers bequem gemacht hatte. Er und Lisa gewöhnten sich langsam an das Leben auf der Mesa, ja sie fanden es sogar nervenberu higend. Besonders Lisa hatte ihre Unbefangenheit wieder zurückgewonnen. Die vielen Gespräche mit Datchongvi, aber auch mit anderen Dorfbewohnern, die sie besuchen kamen, wirkten so ehrlich, zufrieden, lebensbejahend, zeugten aber auch von tiefer religiöser Hochachtung vor den Gesetzen des Kosmos und der Erde. Sie verstand von Mal zu Mal mehr, worum es den Indianern, den selbsternannten Wächtern der Erde, ging. Sie begann das Unausweichliche zu akzeptieren. Glücklich machte es sie aber dennoch nicht. Ron schaute auf. In einiger Entfernung kündete eine Staubwolke vom Nahen eines Autos. »Es ist Little G. Wing«, meinte Datchogvi, der Rons fragende Blicke in Richtung Auto erraten zu haben schien, »er wird eine Botschaft mitbringen, nein, ich glaube eher, eine Warnung.« Ron schaute wieder auf die rasch näherkommende
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Staubwolke. Jetzt konnte auch er den weißen Toyota der Navajo Tribal Police erkennen, der mit hoher Geschwindigkeit unterwegs war. Aber ob da eine Botschaft oder eine Warnung oder nur ein gewöhnli ches ›Hallo‹ herangebracht wurde konnte er nicht er kennen, er war nun auch kein Indianer, und schon gar nicht einer vom Powamu-Bund. Er stand auf und ging zu seinem Gastgeber. Er und Datchongvi, der mit ihm und Lisa in den letzten Tage eine tiefe Freundschaft geschlossen hatte, standen nun nebeneinander, wortlos, ruhig, in Erwar tung des bevorstehenden Besuchs. Lisa war schon in der Frühe mit Dans Sohn und zwei Hopi-Frauen nach Winslow gefahren. Sie wollten für die Herstellung von Rasseln und kleinen Trommeln Materialeinkäufe tätigen. Die Frauen aus Dans Nach barschaft hatten sie eingeladen, diese Kunst zu erler nen. Lisa war begeistert, hatte sich für die Fahrt in die Stadt, um nicht sofort aufzufallen, wie eine junge Indianerin gekleidet: Über ihrem Wikinger-T-Shirt trug sie eine indianische Bluse, darüber noch eine braune Wildlederjacke. Ihre Jeans hatte sie für heute gegen einen langen, dunkelroten Rock getauscht. Allein ihr Haar verriet, daß sie ganz sicher nicht vom Stamm der Hopi war. Gegen Mittag wollten sie zurück in Oraibi sein, wo die Fertigung am Nachmittag traditionsgemäß stattfand. Ron spürte immer, wenn sie weg war, wie sehr er sie eigentlich vermißte. Er war nicht eifersüchtig - um Gotteswillen, nein - vielleicht spürte er in seinem Herz 614
auch, daß ein langes gemeinsames Glück nicht mehr möglich sein würde. Datchongvi hatte richtig vermutet, es war Little G. Wing. Seine braune Uniformjacke deutete daraufhin, daß er im Dienst war. Mit ernstem Gesicht kam er auf die beiden zu: »Hallo Dan, hallo Ron«, begrüßte er sie. Mit einem ›Hallo‹ grüßten beide zurück. Datchongvi zog die Brauen zusammen: »Du bringst keine guten Nachrichten?« »Tja, ich weiß nicht. Die Station hat da so einen merkwürdigen Anruf aus Dallas bekommen. Und der betrifft euch, bzw. uns. Aber sagt mal, wollt ihr mir denn keinen Kaffee anbieten, hey? Bei einer Tasse Kaffee erzähle ich euch dann von dem Anruf. Das wäre doch ein Angebot, oder?« Schon trabte Ron los: »Okay, ich mache uns einen schönen, schwarzen Kaffee. In ein paar Minuten könnt ihr nachkommen.« Dann verschwand er im Haus des Hopi. Als sie wenig später am Tisch saßen und ihre Becher mit Rons Spezialkaffee in der Hand hiel ten, begann Little G. Wing zu berichten: »Also, der Anruf aus Dallas war anonym. Eigentlich ignorie ren die Leute auf der Tribal Police Station anonyme Anrufe. Aber als die Anruferin sich auf das Treffen von Reservatsangehörigen mit dem Präsidenten berief, horchte man doch auf. Schließlich wußte Jimmi Bird, ein Kollegin von mir, daß ich mit in Tucson war an je nem Tag, den die Anruferin erwähnte.« 615
»Und was wollte die Anruferin?« »Uns warnen, Ron, uns warnen.« Ron blickte Little G. Wing ungläubig an: »Warnen? Doch nicht etwas vor dem Ende der Welt?« »Oh nein«, blieb der Navajo ganz ruhig, »sie wollte uns davor warnen, daß Leute beauftragt worden seien, den alten Kachina zu töten. Und wahrscheinlich ist ein Killerkommando schon unterwegs auf der Suche nach dem Versteck ihres ›Auftrags‹, während wir hier reden.« »Aber das macht doch keinen Sinn. Der Kachina darf doch nicht getötet werden, sondern, im Gegenteil, der muß mit allen Mitteln am Leben bleiben. Was soll der Schwachsinn?« Little G. Wing hob beschwichtigend die Hand: »Da hat irgend jemand etwas völlig falsch verstanden. Okay. Das heißt für uns, wir müssen Aknavi beschützen, ihn in Sicherheit bringen, retten, was auch immer nötig ist. Aber, das war noch nicht alles. Man scheint auch hinter uns her zu sein, da wir das Ganze ins Rollen gebracht haben. Die anonyme Anruferin meinte nämlich beiläu fig, daß ihr Chef die Killer auch auf uns angesetzt hätte, weil durch unsere Story die Börsenkurse weltweit in den Keller gerutscht sind, und daß er, der PAXTONBoss, sich das nicht gefallen lassen wolle.« Ron, der gerade einen Schluck Kaffee genommen hatte, verschluckte sich so sehr, daß Datchongvi mit kräftigen Schlägen auf dem Rücken einschreiten muß te. »PAXTON«, röchelte Ron, »das darf nicht wahr sein. 616
Das ist ja schlimmer als ein Fluch. Dieses verdammte Unternehmen verfolgt mich, seit ich vor Wochen in England war. Dabei habe ich mit denen überhaupt nichts zu schaffen.« »Aber die scheinen es ernst zu meinen, Ron«, ent gegnete Little G. Wing, »wir sollten uns etwas einfal len lassen. Aus irgendwelchen Gründen glauben die, alles würde besser laufen, wenn Aknavi ausgeschaltet wäre. Da kommt viel Arbeit auf uns zu, Freunde.« »Da kommt noch etwas anderes auf uns zu«, bemerk te plötzlich Dachongvi, als er aus dem Fenster deutete, »wir bekommen noch mehr Besuch. Ich glaube, es ist der Mann, der das Trucker Motel betreibt.« »Trucker George?« wiederholte Ron, »der war doch noch nie hier oben, hat er jedenfalls immer behauptet. Na, dann werde ich nochmal ’ne Kanne Kaffee aufset zen.« Mit einer Vollbremsung, Unmengen Staub aufwir belnd, stoppte TG seinen Wagen, sprang heraus und lief zu Dans Haus, Texas an seiner Seite. Er hatte Little G. Wings Dienstwagen hier stehen sehen und wußte, daß er zu diesem Haus mußte. Völlig außer Atem stand er in der offenen Tür, hielt sich keuchend am Rahmen fest: »Lisa - Lisa ist entführt worden, in der Stadt«, er bekam kaum Luft, »vor dem Laden haben sie ihr aufgelauert, mit Waffen in der Hand, diese verfluchten Schweine.« Ron sprang vom Tisch auf, kam auf TG zu, packte ihn am Kragen: »Was sagt du da, Lisa entführt? Wieso? 617
Wieso hat das niemand verhindert?« Texas begann zu knurren. »Ganz ruhig, Ron«, beschwichtigte Little G. Wing den Wildgewordenen, wandte sich dann an TG, »komm, setz dich, erzähle uns der Reihe nach, was passiert ist!« Trucker George setzte sich auf Rons Platz, da dieser jetzt wie aufgescheucht durch Dans Küche tigerte. TG überlegte, womit er anfangen sollte: »Ich weiß nicht, ob es etwas damit zu tun hat. Jedenfalls waren heute morgen zwei Männer bei mir im Motel, eigentlich drei, einer blieb im Wagen sitzen, egal. Jedenfalls wollte der Boss der drei, ein Typ mit einem Zopf, wissen, ob bei uns ein junges Pärchen vorbeigekommen sei. Als wir das verneinten, erkundigten sie sich nach dem schnellsten Weg zu den Hopi-Dörfern. Ich habe sie erst mal nach Window Rock geschickt. Ich erzählte ihnen, dort gäbe es die besten Führer für eine Tour zu den Mesas.« Little G. Wing schüttelte verunsichert den Kopf: »Aber es gibt doch überhaupt keine Führungen zu den Stätten der Hopi-Indianer.« »Genau«, entgegnete TG, »aber das sollen die Typen doch erst mal selbst rausbekommen. Jedenfalls habe ich mir Zeit verschafft, denn irgendwie gefielen mir die drei nicht. Gerade wollte ich zu euch hierher losfahren, als Tom Datchongvi und die beiden Hopi-Frauen auf geregt in mein Motel gestürmt kamen und mir von dem Kidnapping berichteten. Demnach hatte Tom die drei Frauen bei ihrer Suche nach den benötigten Materialen 618
nur ganz kurz alleine gelassen und wollte in der nahe gelegenen Autowerkstatt etwas besorgen. Ich denke, Lisa wurde als Nicht-Indianerin erkannt, und man hat einen günstigen Augenblick abgewartet und dann zu gegriffen, gerade, als die Frauen den Laden verließen. Nach Aussage der Hopi-Frauen stand der Wagen schon vor der Tür, als sie herauskamen. Dann soll alles blitz schnell gegangen sein. Eine Frau und ein Mann hielten Lisa eine Pistole unter die Nase und drängten sie in ei nen dunkelgrünen Geländewagen. Dann rauschten sie davon und waren schon verschwunden, noch ehe Tom aus der Werkstatt zurück war.« Ron schaute TG fragend an: »Und - und dann?« TG nahm den von Dan herübergereichten Becher Kaffee in die Hand und trank einen kräftigen Schluck, stellte ihn dann auf den Tisch: »Wir überlegten noch, ob wir den Sheriff rufen sollten, aber noch bevor wir uns einigen konnten, überbrachte der Mann, der nach Aussagen der Indianerinnen bei dem Überfall dabei gewesen war, eine Nachricht.« TG griff in seine Hemdtasche und holte einen zu sammengefallenen Zettel hervor: »Hier, dies hat der Kerl mitgebracht.« Er reichte Ron das Stück Papier. »Und dann sagte er, wenn wir die junge Frau wieder sehen wollten, brauchten wir nur das geheimste und al lerheiligste Versteck der Hopi preisgeben. Sie erwarten eine Antwort heute Nachmittag an einer bestimmten Stelle des östlichen Randes vom Arizona-Krater, und natürlich keine Sheriffs.« Fast gleichzeitig schauten Little G. Wing und Ron 619
auf ihre Uhren, als hätte jemand ›Zeitvergleich‹ geru fen, überprüften die Zeit, die bleiben würde, um zum vorgegebenen Zeitpunkt am Krater zu sein. TG sah es, meinte nur: »Hey, Freunde, ich wäre schon früher hier gewesen, aber als ich gerade wie der starten wollte, versperrte ein schwarzes Auto aus Phoenix die Weiterfahrt. Es waren zwei FBI Agenten, solche mit dunklen Sonnenbrillen. Na, ihr wißt schon. Sie haben sich dann bei mir Zutritt zu eurer Unterkunft verschafft. Als sie dort anscheinend nicht gefunden haben, was sie suchten, wollten sie von den HopiFrauen wissen, wo ein gewisser Datchongvi zu finden sei. Zum Glück gelang es Tom, die Beamten auf eine falsche Fährte zu setzen, so daß ich mit der Botschaft der Entführer herkommen konnte. Tom wird so schnell wie möglich mit den Frauen nachkommen. Also, wenn ihr mich fragt, waren das nie und nimmer echte FBILeute. Einer hatte sogar einen russischen Akzent.« Little G. Wing hatte unterdessen den Zettel ausein andergefaltet und diesen mit Inhalt in die Mitte des Tisches gelegt. Ron erkannte sofort, was da auf dem Zettel lag: es war eine blonde Haarsträhne, eine Strähne von Lisa. Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie. Dann er griff er den Zettel. Rons Augen wurden plötzlich groß: Mann, was er da in Händen hielt, war eine Fotokopie seiner Aufzeichnungen aus Tukunavi. Und ausgerech net die Seite mit der Skizze einer Kachina-Puppe. Was hatte das zu bedeuten?
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Ron ließ sich wie gefordert, von Tom an die verabre dete Stelle des Kraterrandes bringen. Er hatte darauf bestanden, selbst und alleine zu ge hen. Schließlich wollten die Entführer etwas, womit er zu tun hatte. Tom, der in der Zwischenzeit zum Haus seines Vaters gekommen war, hatte TGs Geschichte bestätigt. Nachdem er Ron abgesetzt hatte, fuhr er auf dessen eindringlichen Wunsch gleich wieder zurück. Eine halbe Stunde wartete Ron in dieser Einöde. Es tat sich nichts. Er schaute nach links und rechts. Niemand war zu sehen, er war tatsächlich völlig allein in dieser staubigen, kargen Gegend. Selbst die sonst so zahlreichen Touristen konnte er nirgends entdecken. Wo waren sie? Oder war es gut, daß sie jetzt nicht hier störten? Dann näherte sich ein Wagen. Er war bislang nur an der Staubfahne zu erkennen, die er hinter sich herzog. Kurze Zeit später entstieg eine dunkelhaarige Frau dem Rover. Der Typ am Lenkrad konnte nach TGs Beschreibung jener sein, der die Nachricht ins Motel gebracht hatte. War Lisa im Wagen? Die Scheiben das Wagens wa ren zu sehr getönt, als daß er etwas erkennen konnte. Eine dunkelhaarige Frau stieg aus und schritt mit erns ter Miene durch den trockenen Sandboden auf ihn zu. Ron konnte spüren, wie entschlossen sie war. Seitdem er den Wagen herankommen sah, saß er auf einem Felsblock, groß wie eine Hundehütte, und schaute der energischen Lady entgegen. Sie trug ein 621
enggeschnittenes, dunkelblaues Kostüm über einer weißen Bluse. Der Rock war aufreizend kurz, und die Schuhe mit den hohen Absätzen waren alles andere als passend für diese Gegend. Er erkannte die Frau. Sie war es, die in Tucson mit am Tisch gesessen hatte, als er und die anderen die Botschaft vom Ende der Menschheit verkünde ten. Ihr war dieses Feuerzeug von PAXTON aus der Hand gefallen. Was hatte diese Frau, die man als Wissenschaftlerin vorgestellt hatte, mit Lisa zu tun? »Sie haben meine Botschaft erhalten?« fragte die Frau prüfend, »sind Sie vielleicht hier, um ein Pfand auszulösen, hey, junger Mann?« Sie lief jetzt von links nach rechts, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ron versuchte es auf die coole Tour: »Ich weiß nicht genau, welches Pfand Sie meinen, und welche Botschaft. Miss?« Plötzlich blieb sie stehen, griff in die Seitentasche ihrer Jacke und warf Ron eine indianische Halskette aus Türkissteinen mit Silberbesatz vor die Füße. Mit einem Blick erkannte er die Kette, die Lisa von Little G. Wing geschenkt bekommen hatte. Er sprang von seinem Felsblock auf, ging mit dem Zeigefinger drohend auf die Lady zu, wollte gerade los fluchen, als er in den glänzenden Lauf einer Magnum schaute. Sie schien ein Holster zu tragen, dachte er, jedenfalls hatte sie plötzlich diese großkalibrige Pistole unter ih rer kurzen Jacke hervorgezaubert und hielt ihn so auf Abstand. Auch ihr Begleiter stieg angesichts Rons 622
Drohgebärde aus dem Wagen, nahm eine aggressive Haltung ein, griff unter seinen linken Arm, als würde er jeden Augenblick eine Waffe ziehen. Ron schaute sich den Mann genau an. Er war un tersetzt, schien aber sehr durchtrainiert zu sein. Aber der war nicht bei der Besprechung dabei gewesen, ihn hatte er dort nicht gesehen. »Sie bekommen ihre kleine Freundin doch wieder, wieso so aufgeregt, vermissen Sie sie denn so sehr?« tönte es zynisch aus ihrem Mund, »besorgen Sie mir das, was ich will, und ihr Mädchen ist gleich wieder bei ihnen.« »Wenn sie von mir das Versteck des Aknavi wollen, muß ich Sie enttäuschen. Ich kenne es selbst nicht, würde es wahrscheinlich gar nicht finden«, log Ron. »Aknavi? Für den interessiert sich vielleicht PAXTON. Ach, sollen die doch selber sehen, wie sie den alten Zausel in die Finger bekommen. Nein, junger Mann, mich interessieren die Kachina-Puppen des alten Indianers, von dem Sie so rührend erzählt haben.« »Kachina-Puppen?« wiederholte Ron verwundert, »Sie wollen Kachina-Puppen? Deshalb das Blatt mit der Zeichnung einer solchen Puppe. Ja, aber die be kommen Sie doch schon fast überall im gesamten Hopi-Reservat. Warum holen Sie sich denn dort keine, das sind auch Original-Puppen.« Sie fuchtelte mit der Pistole herum, lachte verärgert: »Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Ich will die Kachina-Puppen wie die, die euer alter Indianerfreund dem Präsidenten gezeigt hat. Diese Puppen von dem 623
Alten will ich, und Sie wollen das Schwedengirl zu rück, richtig?« »Wenn Sie Lisa Borgdal freilassen«, begann Ron zu verhandeln, »besorge ich Ihnen eine dieser magischen Puppen, eine Original-Puppe vom alten Kachina, mein Wort.« Plötzlicher Motorenlärm ließ alle drei gen Osten blicken. Ein seltsames, grünbraun angepinseltes Wohnmobil suchte sich den Weg querfeldein, direkt auf sie zu. »Sie besorgen uns erst die Puppe, klar!« drohte sie und hastete zum Wagen. Ihr Begleiter hatte sich bereits an das Steuer gesetzt und den Motor gestartet, wendete schon den Wagen in Fahrtrichtung. »Erst Lisa!« forderte Ron. »Kommt nicht in Frage. Ich muß doch sicher sein, daß Sie ihr Wort halten, erst die Puppen. Sie hören von uns.« »Wann?« wollte Ron wissen, nahm dabei Lisas Kette vom Boden auf, »wann höre ich von Ihnen?« »Bald, junger Mann. Übrigens, Mr. Millar, das war doch Ihr Name, oder? Haben sie vielleicht Verwandte in Maine?« »In Maine, wieso? Äh, nein. Nicht, daß ich wüßte.« Doch die Antwort hatte sie erst gar nicht mehr abge wartet, war in den dunklen Rover gestiegen und hatte sich schnellstens davongemacht. Der da so ungestüm durchs Gelände preschte und auf den Arizona-Krater zugesteuert kam, war niemand anderes als Prof. Clausseé. 624
Minuten später stieg Ron zu ihm ins Wohnmobil. »Woher wußten Sie, daß ich hier bin?« wollte Ron wissen. Er freute sich, den Professor zu sehen. Gut sah er aus, irgendwie relaxter, dachte er. Dann hing er sich Lisas Kette, die er immer noch in der Hand hielt, um den Hals. »Ich wußte es einfach«, war die lapidare Antwort. Hinterfragen hätte keinen Sinn, wußte Ron, erzählte dann auf dem Weg nach Oraribi von Lisas Entführung und daß bei ihnen im Motel eingebrochen worden war. Clausseé schien dies alles nicht sonderlich aufzuregen. Ihn amüsierte sogar, daß er eine junge, dunkelhaarige Freundin haben sollte. Nur wo er die ganze Zeit gewe sen war, darüber sagte er nichts. In Dans Haus eingetroffen, trafen sie Tom, Little G. Wing und TG, die auf Rons Rückkehr gewartet hatten. Dan und Besavaya waren bereits wieder fort. Die Nachricht, daß Leute von PAXTON auf Aknavi an gesetzt worden waren, hatte sie sehr besorgt gemacht. Sie hatten beschlossen, Proviant einzupacken und dann sofort nach Tukunavi aufzubrechen, um den alten und weisen Lehrer der Hopi vor Wissenschaftler, Regierungsbeamten oder vor Killerkommandos zu verstecken. Texas freute sich, sein altes Herrchen wiederzuse hen. Immer und immer sprang er ihn an. Clausseé freu te sich ebenfalls, dennoch sahen die Männer in seinen Augen Traurigkeit. »Gleich können wir reden, Männer«, sagte der Professor, kraulte dabei Texas über den Rücken, »aber 625
zuerst werde ich mit Texas einen kleinen Spaziergang machen. Wir haben einiges zu besprechen, okay?« »Klar«, antwortete Ron stellvertretend für die ande ren. »Dann bis gleich. Komm Texas!« Während Ron den anderen von seiner Begegnung mit den Kidnappern erzählte, schielte er immer wieder aus dem Fenster. Dort sah er in einiger Entfernung den Professor, wie er auf einem umgestürzten Baumstamm sitzend auf den Hund einredete. Texas saß völlig ruhig vor ihm, die Ohren gespitzt. Seltsames Zwiegespräch, dachte er. Fünfzehn Minuten später waren beide wieder im Haus. Clausseé ging geradewegs auf TG zu, blickte ihn lächelnd an: »Mein Freund TG, ich habe mich lange mit Texas unterhalten. Wir haben uns voneinander ver abschiedet, denn ich möchte, daß du ihn nimmst und für ihn sorgst, egal was passieren wird. Wirst du das für mich tun?« Texas saß daneben und schaute abwechseln die beiden Freunde an. »Du kannst dich darauf verlassen, daß es Texas bei mir gut haben wird. Natürlich nehme ich ihn. Ich hoffe, auch der Hund will das?« »Ich habe mit ihm gesprochen. Er will, glaub’ mir.« TG beugte sich zu Texas runter und kraulte ihn hin ter den Ohren: »Na dann komm’, mein Alter. Ich muß jetzt nämlich zurück nach Winslow, und demnach mußt du jetzt ja wohl mit.« Beide verließen Dans Haus. Beim Wagen drehten sie sich noch einmal um. Ron 626
glaubte ein kurzes Jaulen gehört zu haben, doch schon übertönte das Motorengeräusch die friedliche Stille, die über Oraibi lag. Nur wenig später machten sich auch Clausseé, Tom Datchongvi und Ron mit dem Wohnmobil, sowie Little G. Wing in seinem weißen Toyota auf den Weg nach Tukunavi. Window Rock / Arizona In einem der vielen Touristen-Restaurants hatte Hawk mit seinen beiden Begleitern gegessen. Er hatte sich extra dieses stark besuchte Haus am Stadtrand von Window Rock ausgesucht. In einem Lokal, in dem sich fast zu viele Gäste drängeln, haben Angestellte kaum Zeit, sich Gesichter zu merken, wußte Hawk, Weiße, Rote, Farbige, junge und alte, Einzelne und Gruppen, und fast ausschließlich Fremde, wer merkt sich da schon, wer hereinkommt oder hinausgeht. Als er den Kellner an seinen Tisch zitiert hatte, um zu bezahlen, fragte er diesen, wo man in der Stadt einen indianischen Führer mieten könnte, der bereit wäre, ihn und seine Freunde auf die Mesas zu führen. Der Kellner verwies ihn an die Touristeninformation neben dem Sheriffbüro. »Okay, Männer, geh’n wir«, forderte er seine Beglei ter auf. In der Information meinte man, er solle nach White Cone am Rande des Reservats fahren und dort nach assimilierten Hopi fragen. Einige von ihnen würden sich gerne ein paar Dollars dazuverdienen, indem sie Weiße 627
in die Nähe der alten Stammesdörfer führten. »Genau so einen brauchen wir«, murmelte Hawk zu seinen Männern, »jetzt besorgen wir erstmal eine Flasche ›Feuerwasser‹, und dann einen dieser Rothäute, der uns zum heiligen Ort der Hopi führt.« Hopi-Reservat / Arizona Das alte Wohnmobil schaukelte mit seiner Besatzung über die unebenen Straßen, Richtung Heiliger Ort. Clausseé saß am Steuer und summte ein indianisches Lied. Neben ihm saß Tom, der unentwegt mit dem Glücksbringer spielte, den er an einer Silberkette um seinen Hals trug. Es war ein Geschenk seines Vaters. Ron hatte hinten auf dem Sofa Platz genommen. Er mußte dauernd an Lisa denken und an die schwarzhaa rige Hexe, die sie in irgendeinem Versteck gefangen hielt und daran, wie er sein Mädchen befreien könnte. Aber eine gescheite Lösung fiel ihm nicht ein. Little G. Wing folgte Clausseé in seinem Dienstfahr zeug. Ich werde Jimmi Bird anrufen, schoß es ihm durch den Kopf. Ich muß sie einweihen in diese Prophe zeiungs-Geschichte. Wenn es erst brenzlig wird, wäre eh keine Zeit mehr für lange Erklärungen. Er griff nach dem Funkgerät, holte tief Luft und rief die Navajo Tribal Policestation. Lieber würde er Jimesave ›Jimi‹ Bird etwas ganz anderes sagen, ganz sicher sogar. Jimmi Bird war selbst am Apparat. Sie hatte an die sem späten Nachmittag Innendienst. In kurzen Sätzen erzählte Little G. Wing seiner Kollegin von dem Kachina, von Clausseé und von dem 628
gemeinsamen Begegnungsritual in dem Felsenversteck unter dem Pueblo, ihrem Treffen mit dem Präsidenten und daß man jetzt wohl hinter ihnen her sei. Das FBI suchte Ron und Lisa. Aber vor allem hätten sich Gangster an ihre Fersen geheftet, die Aknavi erledigen wollten. Und diese Leute seien möglicherweise hier im Auftrag des Multi-Unternehmens PAXTON Inc.. Sie hatte sich alles angehört. Es klang so unwahr scheinlich, aber sie kannte Little G. Wing nur zu gut, um zu wissen, daß dieser kein Spinner war. »Was soll ich tun«, fragte sie besorgt, »wo bist du gerade?« »Wir sind auf dem Weg nach Tukunavi, werden den Kachina von dort wegbringen, wohin, wird er uns noch sagen. Wenn ich es weiß, ruf ich dich an. Du könntest dich einmal in Window Rock umsehen. Ich denke, wenn diese Typen, von denen ich dir erzählt habe, ins Reservat wollen, werden sie sich einen einheimischen Führer suchen. Und die findet man schließlich nur dort.« »Okay, Little G. Wing«, antwortete Jimmi Bird, »in einer halben Stunde werde ich hier abgelöst, dann ma che ich mich auf den Weg. Bis bald.« Im Wohnmobil war es ruhig. Clausseé summte nicht mehr. Tom spielte auch nicht mehr an seiner Kette. Eine seltsame Anspannung war zu spüren. Ron griff plötzlich in seine Hosentasche und zog die Karte heraus, die ihm Harris nach ihrem Treffen mit dem Präsidenten gege ben hatte. Was hatte er noch gesagt: wenn es Probleme 629
gibt - jederzeit anrufen. Oh, ja, und ob es welche gab. Lisa entführt, FBI hinter ihnen her, und auch Gangster machten Jagd auf sie. Er beschloß, sofort Harris an zurufen. Dieser konnte sich PAXTON Inc. vornehmen und auch das FBI zurückpfeifen. Gedacht, getan. Und schon war Ron vorne bei Clausseé und ließ sich das Mobiltelefon reichen. Houston / Texas Trotz der kurzen Vorbereitungszeit für die ›Operation Nightlight‹ war es ein Bilderbuchstart gewesen. Nachdem Houston die Kontrolle der Shuttle vom Mission Control Center in Florida übernommen hatte, versuchte Commander Borman von den Verant-wort lichen im dortigen Controlraum zu erfahren, welche Aufgaben die vier an Bord befindlichen Elitesoldaten hatten. Er wurde arrogant abgespeist mit der Antwort, darüber solle er sich keine Gedanken machen. Zu gege bener Zeit werde er schon noch informiert werden. Nach über sechzigstündigem Flug brachte sich die Raumfähre, die den Namen EARTHHOPE bekommen hatte, in eine Position zwischen Erde und Mond, rund zweihundert Meilen von der Oberfläche des Trabanten entfernt. Sie wurde so in Position gebracht, daß die Männer zu beiden Seiten durch die Fenster sowohl den direkt vor ihnen liegenden Mond wie auch die weit ent fernte Erde sehen konnten. Wie friedlich der Mond ausschaut, dachte Borman. Und dann blickte er durchs andere Fenster auf seinen blauen Heimatplaneten. Welch ein Anblick, schwärmte 630
er. Schon oft hatte er während seiner Flüge zur MIR die Schönheit dieses Planeten bewundert, aber aus einer Entfernung von fast 230.000 Meilen sah er so zart, so ungeschützt und zerbrechlich aus, dabei leuchtend, umgeben vom tiefen Schwarz des Alls. So schön, so anlockend hell. Es wäre wirklich kein Wunder, sollten andere Intelligenzen Interesse an diesem einladenden Planeten haben. Major Ryan Walker hatte bereits begonnen, wie tau sendmal trainiert, die Vorbereitungen zum Aussetzen des Fotosatelliten einzuleiten. Wenn alles planmäßig funktionierte, würde er sich in einer Stunde auf den Weg machen, den Mond zu umrunden. Und bis jetzt funktionierte alles planmäßig. 631
Dallas / Texas Es wurde ungewöhnlich laut im Vorzimmer. Sir Rymond Lee wunderte sich darüber, genauso wie über das schrille Läuten des Urgent-Line-Phone auf dem großen Schreibtisch aus Granit. Gerade wollte er den Anruf aus seiner Rechtsabteilung annehmen, als mit Schwung die Tür aufflog und zwei schwerbewaffnete Polizisten in schußsicheren Westen sein Büro stürmten. Sie sprangen direkt auf ihn zu und rissen ihm den Hörer aus der Hand. Der PAXTON-Boss war fassungslos vor Schreck und vor Entrüstung. Ein dritter Uniformierter folgte und prüfte blitzschnell, ob sich noch weitere Personen im Raum befanden. Dann traten zwei Herren in Zivil ein und bauten sich vor Sir Rymond Lee auf. Hinter ihnen tippelte eine verängstigte Peggy Morales ins Büro: »Sir, ich durfte die Herren nicht anmelden. Ich konnte nichts...« »Ist schon gut, Peggy, ist schon gut«, antwortete Sir Rymond Lee mit aggressiven Ton, »die Herren werden ihr gewaltsames Eindringen sicherlich gleich erklären. Rufen Sie doch Burt und Reinhard zu mir hoch. Ich möchte, daß sie jetzt hier oben dabei sind.« Einer der Beamten wies sich als FBI-Agent aus und stellte seinen Begleiter als Mr. Harris vor. Zu Miss Morales gewandt, die sich wieder in ihr Vorzimmer begab, meinte er nur: »Sparen Sie sich die Mühe des Anrufs, Mitarbeiter unserer Dienststelle verhaften in diesem Augenblick die beiden Herren und werden sie gleich hochbringen. Jeden Augenblick müssen sie hier sein.« 632
Harris hatte nicht gezögert, als Ron ihn anrief und von den Verfolgern erzählte. Über seine Kontakte zum Wirtschaftsministerium hatte er schnellstens genug Informationen über PAXTON Inc. bekommen und konnte deren illegale Geschäfte mit Ländern der Dritten Welt aufdecken. Auch fanden sie über ihre Computer heraus, daß dieses Unternehmen durch ag gressive Geschäftspraktiken in den letzten Jahren enor me Gewinne eingefahren hatte. Ihre Methoden wurden dabei von Mal zu Mal skrupelloser, wenn es galt, gesteckte Unternehmensziele zu erreichen. Warum sollte ein Sir Rymond Lee denn nicht hinter dem alten Indianer her sein, durch dessen geheimes Wissen ihm noch mehr Macht zuteil werden könnte? Oder sahen sich die PAXTON-Leute etwa bedroht von dem Kachina? Seit Rons Anruf waren gerade eben fünfund vierzig Minuten vergangen, und schon war er mit den FBI-Leuten hier. Gute Zeit, dachte er, verdammt gute Zeit. Wieder war Unruhe im Vorzimmer. Jetzt führten weitere Einsatzbeamte drei schimp fende Männer ins Büro. Es waren die Anwälte Burt, Reinhard und, zum Erstaunen von Harris, Peter Hines. »Welch eine Überraschung«, bemerkte Harris zy nisch grinsend, »den so hartnäckig gesuchten Mr. Hines finden wir hier bei PAXTON. Das ist ja interessant.« »Was wollen Sie eigentlich von uns?« fragte Sir Rymond Lee frech, »wir sind seriöse Geschäftsleute. Ich denke, Sie haben die Falschen aufgesucht.« 633
»Ach wirklich?« konterte Harris, »dann erklären Sie mir einmal, was Sie mit einem Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Landesverteidigung zu tun haben oder mit zwielichtigen Gestalten, die sich in Ihrem Auftrag im Reservatsgebiet der Navajos herum treiben?« »Im Navajo-Gebiet? Mitarbeiter von PAXTON? Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.« Der PAXTONBoss ging gemächlich zum Schreibtisch, holte aus ei nem hölzernen Kästchen eine Zwanzig-Dollar-Zigarre heraus, betrachtete sie ausgiebig. Dann deutete er mit der Zigarre ganz gelassen auf den CIA-Mann, »und Mr. Hines hier, ja der wollte mir doch tatsächlich geheimes Material der Regierung gegen Bezahlung anbieten. Dafür sollte ich ihm dann eine monatliche, sagen wir mal, Erkenntlichkeits-Pauschale zukommen lassen...« »Du Schwein«, schrie Hines, »du hast mich ange sprochen, du hast mich geködert mit deinem Geld, da mit ich dir Informationen besorge, und...« »Sir, hören Sie nicht auf ihn. Er will doch nur seine jämmerliche Haut retten.« »Haut retten? Nur durch mich hat er so viele Millionen verdient, und nur durch mich weiß der Scheißkerl von dem Ende der Welt, wenn der alte Indianer nicht vorher stirbt. Ich habe ihm von der Prophezeiung erzählt und daß das Ende für uns alle bevorsteht. Deshalb hat er doch den Typen mit seinen Helfern nach Arizona ge schickt. Die sollen dort das Problem auf ihre Art ›aus der Welt‹ schaffen.« »Ach Unsinn«, lachte Sir Rymond Lee, »wer glaubt 634
denn solch einen Schwachsinn: Untergang der Mensch heit? Der Mann spinnt doch total.« »Nein, Mr. Rymond Lee, der Mann spinnt nicht«, entgegnete Harris, trat ganz dicht an Lee heran und schaute ihm direkt in die Augen, »der Mann hat hun dertprozentig recht, was die Prophezeiung angeht. Aber eine Sache ist dabei nicht korrekt: um die Vernichtung der Menschheit zu verhindern, muß der besagte alte Indianer nicht getötet werden, sondern er muß unter al len Umständen am Leben bleiben. Erst wenn er stirbt, ist es aus mit uns. Nun raus mit der Sprache, haben Sie jemanden auf den Indianer angesetzt oder nicht?« »Das hat er, das hat er«, mischte sich Reinhard auf geregt ein, »ich merkte, daß Sir Rymond Lee Hines nicht unbedingt glaubte. Aber er wollte auch kein Risiko eingehen und heuerte deshalb seinen Mann für Problembeseitigungen an. In England hat der ja gute Arbeit geleistet, und jetzt sollte er mit Komplizen den lästigen Indianer aus dem Weg räumen. Hines hat uns ja von dem Reservat erzählt, wo er versteckt gehalten wird.« Harris wurde nervös: »Lee, haben Sie befohlen, den Indianer zu töten? Wenn ihren Leuten das gelingt, be deutet es das Ende. Begreifen Sie das?« Sir Rymond Lee lächelte versteinert: »Mr. Hawk, mein Mitarbeiter für Störfälle, sollte sich der Sache annehmen, ja daß ist richtig. Von töten habe ich nie gesprochen.« »Dann pfeifen Sie ihn sofort zurück, bevor es zu spät ist.« 635
»Das kann ich nicht.« »Wieso können Sie das nicht? Da steht das Telefon. Rufen Sie ihn an, stoppen Sie ihn!« Der PAXTON-Boss schüttelte den Kopf: »Wenn Hawk einen Auftrag annimmt, ist während dieser Phase der Operation völlige Kontaktunterlassung ver einbart. Er meldet sich nicht, und auch ich erreiche ihn nicht. Erst wenn alles durchgeführt ist, meldet sich Mr. Hawk wieder. So haben wir es immer gehalten. Ich bin jedenfalls nicht in der Lage, ihn zurückzupfeifen, auch wenn ich es wollte.« »Ich weiß, welches Ziel Hawk hat«, meldete sich Reinhard wieder zu Wort, »ich hörte, wie er einen Bekannten anrief, und den bestellte er nach Winslow in Arizona. Und er sollte noch den Doc mitbringen keine Ahnung, wer der Doc ist. Aber dort müssen Sie ihn suchen. Und bitte finden Sie ihn. Ich habe Frau und Kinder. Ihnen darf nichts passieren. Was immer die Prophezeiung bringen mag, finden Sie Hawk!« »Das werden wir, bestimmt«, zischte Harris, dann stieß er einen der FBI-Beamten an, »los, alle verhaften und mitnehmen!« »Alle?« »Alle, außer Miss Morales natürlich.« Hopi-Reservat / Arizona Es ging jetzt doch langsamer vorwärts als erhofft, und sie waren froh, als endlich das Felsenmassiv er reicht war, auf dem sich der heilige Ort der Hopi be fand. Die Silhouette des Pueblos war deutlich oben auf 636
dem Berg zu erkennen. Zum Erstaunen seiner Mitfahrer verlangsamte Clausseé auf einmal die Fahrt, bog dann vom Weg ab und stellte ohne Erklärung sein Fahrzeug hinter einem Felsvorsprung ab. Little G. Wing, der ihnen in seinem Wagen gefolgt war, wußte nicht, was Clausseé vorhatte, brachte sein Fahrzeug erst einmal neben dem Wohnmobil zum Stehen. »Den Rest des Weges gehen wir zu Fuß«, erklärte Clausseé und marschierte los. »Key, warum fahren wir denn nicht bis ganz nach oben? Letztes Mal sind wir doch auch bis dicht an das Pu eblo gefahren?« wollte Ron wissen, doch der Professor antwortete nicht, schüttelte den Kopf, ging weiter und forderte mit einer Armbewegung auf, ihm zu folgen. Den anderen blieb nichts weiter übrig, als ebenfalls die letzten paar hundert Meter bis zum Pueblo zu ge hen. Die Sonne begann sich langsam dem Horizont zu nähern, als sie endlich die Leitern zu den einzelnen Etagen des Pueblos bestiegen. Oben wurden sie von Joan Besavaya erwartet. Er hatte nach dem ›Offenbarungstreffen‹ im Carson Peak Observatorium damit gerechnet, daß sich Aknavi früher oder später dem Zugriff der Behörden nur durch Flucht würde entziehen können. Nur, daß es so schnell erforderlich sein würde, hatte er nicht geahnt. Unten im Versteck saß der alte Niman-Kachina schon abreisebereit auf seinem Lager. Besavaya hatte 637
alle Vorbereitungen für einen schnellen Aufbruch ge troffen. Aknavi zeigte sich erfreut, Ron und Little G. Wing wiederzusehen, begann mit ihnen zu sprechen. Aber diese Sprache konnten die beiden beim besten Willen nicht verstehen. Ihre Gedanken waren außer dem mehr damit beschäftigt, wie man den schwerkran ken Aknavi aus diesem Kiva herausbekommen sollte. Alleine würde er die Leitern nicht mehr hinaufsteigen können. Das war klar. Plötzlich wurden sie aufgeschreckt. Waren das Schüsse da draußen, die zwar schwach, aber dennoch unverkennbar bis hier nach unten schallten? Waren ihre Verfolger ihnen etwa schon so dicht auf den Fersen? Wer bei der Schießerei die Oberhand behalten hatte, war von hier unten jedenfalls nicht auszumachen. Jetzt die Leitern hochsteigen könnte riskant sein. Was soll ten sie tun? Da räusperte sich Aknavi, winkte Besavaya zu sich heran, flüsterte mit ihm. Besavaya, der ihn schon oft genug gehört hatte, verstand die unbekannte Sprache. Dabei deutete der Alte auf die Puppen, die an der Wand standen. Sie sahen das erstaunte Gesicht Besavayas, wie er langsam auf die Puppen zuging. Er blieb vor dem dritten Feld stehen, nahm die dazugehörige Puppe auf und stellte sich dann selbst auf die Mitte des Feldes. Mit einem leisen Knarren schob sich hinter dem Lager des alten Kachina ein mannshohes und ein Meter breites Felsstück zur Seite und gab den Blick in einen dunklen Gang frei. Der Führer des Ältestenrates war ebenso überrascht 638
wie die anderen, versicherte, von diesem Geheimgang nichts gewußt zu haben. Aber das war in diesem Augenblick auch nicht wichtig. Eine Fluchtmöglichkeit tat sich hier auf, und die galt es zu nutzen. Besavaya stellte die Puppe wieder an ihren Platz und begab sich als erster in den Gang. Die beiden Beschützer, Männer vom Zweihornclan, die auf die Namen Crow und Jojo hörten, halfen Aknavi auf die Beine und verschwan den mit ihm ebenfalls im Dunkel des Felseneinstiegs, gefolgt von Ron und Clausseé, der sich in letzter Sekunde noch zwei der Kachina-Puppen gegriffen und unter seine Arme geklemmt hatte. Tom versperrte so gut er konnte die mit spanischen Ornamenten verzierte Eingangstür zum Flur. Dann nahm er sich, wie auch Little G. Wing vor ihm, eine der Wandfackeln, und zu sammen eilten beide in den Geheimgang, wo Besavaya schon auf Tom wartete. Tom sollte mit der Fackel die Spitze der Gruppe übernehmen. Während der Trupp sich langsam tiefer in den Berg hinein begab, betrachtete Ron im unruhigen Licht der Fackeln die Seiten des Ganges. An den grob behauenen Felswänden zeugten einfache Zeichnungen von den Spuren früherer Kulturen. Dieser Gang, abwärts ver laufend, muß schon vor vielen hundert Jahren angelegt worden sein, vermutete Ron. Den Zeichnungen nach aus der Zeit, als die Spanier hier in dieses Gebiet einge drungen waren, um nach den sieben goldenen Städten zu suchen. Besavaya hatte ihnen vor Tagen auf der Fahrt nach Tucson von der Geschichte mit den Spaniern unter Coronado erzählt. Und in keiner Überlieferung 639
hatte etwas von diesem Tunnel gestanden. War er zum Schütze des Kachina angelegt worden? Noch hatte er keine Ahnung, wo dieser endete. Wegen des schwächlichen Aknavi ging es nur sehr langsam vorwärts. Dann zeigte Tom auf seine Fackel. Das Flackern bedeutete Luftzug. Dieser wiederum wies auf einen Ausgang ins Freie hin. Da erinnerte sich Ron, wie er gerätselt hatte, woher wohl die frische Luft in den Berg gekommen war, als sie eine kurze Zeit hier unter dem Pueblo verbracht hatten. Wahrscheinlich existierte neben diesem begehbaren Gang noch ein verzweigtes Netz von Luftschächten, das mit den einzelnen Räumen verbunden war. Aber nicht das Lüftungssystem war es, was im Moment sei ne Aufmerksamkeit beanspruchte. »Little G. Wing, komm mit deiner Fackel mal hier her zu dieser Felswand.« Er hatte angehalten und starr te auf die Zeichnungen, die nur vage im Feuerschein zu erkennen waren: eine von ihnen hatte er ohne Mühe wiedererkannt, direkt am Anfang der Felsmalerei war IHR Zeichen aufgetragen. »Was gibt es?« fragte Little G. Wing, »wir haben wenig Zeit, wir müssen sehen, daß wir hier heraus kommen.« »Ja, schon. Trotzdem, schau doch hier, das Zeichen des Kachina, und dann folgen kleine Bildchen«, er zählte sie, »elf Bildchen sind’s, und beim letzten ist ein Hakenkreuz mit eingezeichnet, eines wie es die Nazis im Hitler-Deutschland benutzten.« »Richtig. Aber du mußt wissen, daß das Hakenkreuz 640
eine tiefe Symbolik beinhaltet und von vielen Stämmen dieses Kontinents schon seit Jahrhunderten verwendet wird, sicher auch von den Hopi«, entgegnete Little G. Wing. »Ja, und schau’ hier«, Ron zeigte auf das vierte Bild, »das sind doch die drei Felsen, die oben an der Ostküste aus dem Meer ragen. Dort, wo ich wohne und wo wir das Wikingerschwert und die Speerspitze im Boden entdeckt haben. Wir erzählten dir doch davon.« »Du meinst«, fragte Little G. Wing, »diese Zeichnungen hat Aknavi im Laufe der Jahrhunderte selbst angefertigt?« Ron nickte heftig, wollte Clausseé, der schon ei nige Meter weiter war, zurückrufen, um ihm diese Entdeckung zu zeigen, als Stimmen aus Aknavis Raum herüberschallten. »Los Männer, beeilt euch, wir sind gleich draußen«, schrie Tom. Und schon blitzte helles Licht in den unte ren Teil des Ganges. Der Ausgang war erreicht. Sie staunten nicht schlecht, hatte Clausseé vielleicht doch von diesem Gang gewußt? Oder war es Zufall, daß sie gerade dort den Felsen verließen, wo er zuvor sein Wohnmobil abgestellt hatte? Jedenfalls war es gut so. Und es war auch gut, daß es bereits dämmrig wurde. So gewöhnten sich ihre Augen schneller an die Resthelligkeit. Dem Kachina hatten Crow und Jojo vorsichtshalber ein Tuch übers Haupt gezogen, als sie ihn ins Wohnmobil trugen und auf das Sofa legten. Während Tom zu Clausseé ins Wohnmobil stieg, 641
gesellte sich Ron zu Little G. Wing in den Toyota. Besavaya wollte nicht mitfahren, sagte, daß seine Aufgabe jetzt darin bestünde, die Stammesältesten zusammenzurufen, um dann zusammen mit ihnen ihr Volk auf das Unausweichliche vorzubereiten. Dann war er zwischen Strauchwerk und Felsen verschwun den. Die beiden Fahrzeuge setzten sich unverzüglich in Bewegung, Clausseé vorneweg, der Toyota hinter her. Ihr Ziel war in diesem Augenblick noch unklar, Hauptsache, erst einmal weg von den Verfolgern. Unterwegs würden sie schon noch erfahren, wohin der alte Kachina gebracht werden wollte. Tukunavi / Hopi-Reservat Gleich nach ihrem Anruf in der FBI-Zentrale in Phoenix hatte Jimmi Bird den einzigen verfügbaren Hubschrauber der Navajo Tribal Police angefordert. Und sofort nach ihrer Ablösung waren sie und Matt, ihr Pilot, aufgestiegen. Ihr erstes Ziel war das Gebiet um Tukunavi. Nach nur kurzer Flugdauer sahen sie das Pueblo vor sich, das geheimnisumwitterte ›Heilige TukunaviPueblo‹. Unter sich entdeckten sie die Scheinwerfer zweier, ihnen entgegenkommender Autos, die sich auf der holperigen Straße den Weg bergab suchten. Um noch mehr erkennen zu können, schalteten sie jetzt den Suchscheinwerfer ein, denn die Dämmerung war einfach schon zu weit fortgeschritten. Jetzt befan den sie sich direkt über dem Pueblo. 642
Jimmi Bird starrte nach unten, stutzte. Waren das nicht Indianer dort auf den verschiedenen Ebenen des Pueblos? Als sie Matt aufforderte, tiefer zu gehen, dauerte es nur einen Augenblick und sie wußte, daß es leblose Körper waren, die sie schon aus der Höhe neben der Leitern entdeckt hatte. Sie ergriff das Sprechfunkgerät und forderte sogleich über die Tribal Station den Coroner an, er möge hier nach Tukunavi herauskom men, so schnell wie möglich. Das dieser Ort tabu war, besonders für alle Weißen, wußte auch Jimi Bird. Aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Die Hopi sollten froh sein, wenn sich die Tribal Police um derlei Angelegenheit kümmerte, obwohl es nicht in ihrem Verantwortlichk eitsbereich lag. Denn auch die Indianer wußten, daß ein Gewaltverbrechen im Reservat Angelegenheit der Bundespolizei war, also des FBI. Und das FBI wollte nun wirklich niemand schon wieder hier haben. Wegen des unebenen Geländes versuchten sie, wei ter unterhalb des Berges einen geeigneten Landeplatz zu finden. Dort, wo die Straße breit genug war, müßte es klappen. Jimmi Bird wollte sich die Toten am Pueblo auf jeden Fall ansehen. Sie ahnte, daß deren Tod etwas mit Little G. Wings Hilferuf zu tun haben konnte. Und vielleicht ließen sich ja noch brauchbare Spuren finden, obwohl es schon dunkel wurde. Mittlerweile waren Hawk und seine Männer Pit Zenga und Telly Doc Mayar mit Hilfe des Navajo in die 643
unterirdischen Räume vorgedrungen und hatten pro blemlos die verbarrikadierte Tür zu Aknavis Unterkunft aufgebrochen. Fluchend stellte Hawk fest, daß sie zwar das Versteck des gesuchten alten Indianers entdeckt hatten, aber ihm die Flucht noch rechtzeitig gelungen sein mußte. Sie erkannten sofort, daß vor kurzem noch Leute in diesem Raum gewesen sein mußten. Vieles deutete auf einen überstürzten Aufbruch hin. Doch wo waren sie? Die Leitern konnten sie nicht benutzt haben, sonst wären sie ihnen ja direkt in die Arme gelaufen. »Los - die anderen Räume durchsuchen. Sie können nicht weit sein. Vielleicht halten sie sich in einer der anderen Unterkünfte auf, beeilt euch!« schrie er sei ne beiden Begleiter an, die mit ihren automatischen Schnellfeuergewehren losstürmten. Nur der Navajo, den sie in White Cone für die Führung hier herauf an geheuert hatten, blieb bei Hawk im Raum. Er starrte auf die Holzpuppen, die in ihren, auf den Boden ge malten und numerierten Feldern standen Er wußte um die magische Bedeutung solcher Kachina-Puppen und welchen Wert sie bei weißen Sammlern und bei Museen hatten. Er überlegte, griff dann nach der Puppe, die ihm am nächsten stand. In dem Augenblick, da er sie hochnahm, begannen die Flammen der restlichen Wandfackeln plötzlich hef tig an zu flackern. Hawk drehte sich zum Navajo um und sah, wie dieser mit schmerzverzerrtem Gesicht zu zittern be gann. Grelle Blitze schossen aus dem flügelähnli chen Kopfschmuck der Puppe und umzüngelten den 644
Indianer. Mit einem dumpfen Stöhnen sackte er zu sammen und blieb tot auf dem Boden liegen. Erschrocken hatte Hawk die Szene beobachtet und schaute nieder auf den Getöteten. Der hielt die Kachina-Puppe noch immer mit seinen Händen um klammert. Was war da passiert, verdammt? Ein knar rendes Geräusch von der verlassenen Lagerstätte ließ seinen Blick hinüberschnellen. Die zuvor geschlossene Geheimtür hatte sich von selbst einen Spalt geöffnet. »Männer, hierher, sofort. Ich weiß, wie sie raus sind. Beeilt euch, kommt her. Tempo!« schrie er, daß es nur so schallte. Die Tür flog auf und die Komplizen stürmten herein. Hawk stand triumphierend am Eingang des Ge heimgangs und deutete in den dunklen Schlauch: »Da sind sie längst gelaufen, Männer, die sind durch diesen Tunnel abgehauen.« Die beiden Schwerbewaffneten blickten überrascht und entsetzt zugleich auf den am Boden liegenden Navajo, wollten Fragen stellen, aber Hawk winkte ab: »Laßt ihn, ist sowieso zu spät. Das hat er von seiner Neugierde. Brauchen wir ihn auch nicht zu bezahlen. Hey, schaut mich nicht so an, nicht ich, die Figur hat ihn getötet. Ich denke, die Rothäute haben die Holzfiguren mit Draht verbunden und dann unter Strom gesetzt. Damit es wie Zauberwerk aussieht, wenn jemand beim Versuch, eine zu stehlen, getötet wird. Also bleibt da von, schnappt euch ’ne Fackel und nichts wie hinterher durch den Geheimgang. Ich weiß, wir sind auf der rich tigen Spur.« 645
Hopi-Reservat / Arizona Die Flüchtenden hatten ihre Fahrzeuge in ein Feld riesiger Saguaro-Kakteen gesteuert. Das gewünschte Ziel des Kachina, die San Francisco Mountains, wür den sie heute in der Dunkelheit doch nicht mehr errei chen. Außerdem brauchte der alte Kachina jetzt einige Stunden Ruhe. Und das Schaukeln über Stock und Stein war da bestimmt nicht gut. Clausseé ergriff eine Decke, verließ sein Fahrzeug und ging einige Schritte hinaus in die Wildnis. Er setzte sich auf einen großen Stein nieder und schaute nachdenklich zu den Sternen hoch. Ron sah ihn, stieg ebenfalls aus und schlenderte zu ihm herüber. Dann setzte er sich neben dem Professor auf den Stein. »Hi«, grüßte er Clausseé, der sich die mitgebrachte Decke über die Schulter gelegt hatte. »Hi«, antwortete dieser, ohne seinen Blick vom Himmel zu nehmen, »die Fahrt hier herunter nach Arizona hat uns nun wirklich mehr Klarheit über das Zeichen verschafft, als wir uns es je erträumt hatten, nicht wahr, Ron?« Ron nickte ernst: »Tja, das kann man wohl sagen. Aber an das Zeichen denke ich im Augenblick am we nigsten.« »Lisa?« »Hm, mir geht sie einfach nicht aus dem Kopf. Ich weiß nicht mal, wie es ihr geht und wie ich ihr helfen kann. Aber ich bin machtlos, kann ihr nicht helfen. Ich könnte losheulen. Dabei sind wir es doch selbst, die 646
dringend Hilfe brauchten. In was sind wir da nur hin eingeraten?« Clausseé nahm seinen Blick von den Sternen, blickte Ron von der Seite an: »Es mußte so kommen. Glaube mir, daß du, Lisa, ich und all die anderen hier sind, ist Schicksal, nenne es Vorsehung, vielleicht Zufall. Es ändert nichts.« »Professor«, Ron zögerte kurz angesichts eines ent fernten Coyotengeheuls, »im Geheimgang waren doch Zeichnungen an die Felswand gemalt.« »Ja, ich habe sie auch gesehen - und?« »Ich glaube, die Bilder stammen von Aknavi selbst, und es waren elf Motive, die ich gezählt habe. Wenn ich sie richtig deute, stellen sie seine Begegnungen mit den Menschen dar, denen er die Botschaft mitgeteilt hatte, so wie er es uns berichtete. Seine vierte Begegnung muß demnach die an der Atlantikküste mit dem Wikingerführer gewesen sein. Die drei Nadelfelsen als Teil der Zeichnung beweisen das eindeutig.« Der Professor zog die Decke etwas fester zusam men, lächelte, aber es war kein Lächeln der Freude, eher ein trauriges: »Du hast es genau erkannt. All die anderen, denen Aknavi über die Jahrhunderte hinweg ins Gewissen geredet hat, hätten auch besser erkennen sollen, was hinter den Mahnungen für Konsequenzen steckten. Ich sagte doch, ich würde noch von meinen Gesprächen mit dem Kachina berichten. Aber das wird nicht mehr nötig sein. Zum einen weißt du bereits alles Wesentliche und«, er seufzte, »zweitens ist es doch egal. Die Vorbestimmung wird sich erfüllen. Nie 647
schafft es der Kachina, das Jahr, den Monat, und den Tag seiner Ablösung zu erleben. Was nützt es, wenn der Nachfolger schon da ist: 2002 ist das Ablösungsjahr. Ihr habt mit dem Präsidenten gesprochen, habt al les versucht. Auch die Regierungen versuchen jetzt umzusetzen, was noch machbar ist, aber glaube mir, Aknavi ist so geschwächt, daß er nicht mehr viele ›Menschensünden‹ ertragen kann. Sogar die Kugel ei ner Pistole könnte ihn jetzt umbringen.« »Ich denke, Kugeln können ihn nicht töten?« »Richtig, Ron«, antwortete Clausseé, »vor fünfzig Jahren vielleicht, da war Aknavi noch kräftig, damals waren Kugeln wirkungslos gegen ihn. Aber heute ist es anders. Wir fliehen mit dem Alten nicht nur vor den Labors der Regierung, die darauf brennen, seine Organe und besonders seine Zellen zu untersuchen, um hinter das Geheimnis seiner Langlebigkeit zu kommen, sondern auch, weil es da Leute gibt, die Aknavi töten wollen. Viele Menschen sind eben nicht gut, tolerant, sozial, nein, sie sind böse und verdorben. Darum glau be ich auch nicht, daß der Kachina seinen Nachfolger jemals in die Aufgaben der Niman-Kachinas wird ein führen können.« »Wären Sie der Nachfolger?« Ron schaute Clausseé gespannt an. Dieser schaute auf den Boden, sein weißer Zopf fiel ihm über die Schulter nach vorne. Er hatte die Frage erwartet: »Ron, ich weiß es nicht. Mein Verstand sagt ›nein‹, aber mein Herz sagt ›ja‹. Ich denke, wenn die Zeit kommen wird, werde ich es wissen.« Er hob den 648
Kopf, denn unweit entfernt drang das unverwechsel bare Rasseln einer angriffslustigen Klapperschlange zu ihnen herüber. »Hörst du die Klapperschlange? Sie warnt ihre Fein de, bevor sie angreift. Die Warnungen des Kachina wurden immer in den Wind geschlagen. Nun kommt der Angriff der Erde, dessen Hüter für fast 1200 Jahre Aknavi war. Und dieser Angriff wird gnadenlos sein. Wie die Schlange will auch die Erde überleben!« Ron horchte, aber das Rasseln hatte aufgehört. Er starrte in die Dunkelheit, sah die Umrisse der unzäh ligen hohen Saguaros die sich gespenstisch gegen das matte Mondlicht abhoben. Die Sterne am Himmel wurden deutlicher. Die Luft war jetzt klar und auch sehr kalt. Aber die Kälte störte sie nicht. »Sie erzählten mir, als wir in Oklahoma Rast mach ten, von Träumen, über Begegnungen mit Menschen an derer Epochen. Waren es vielleicht Aknavis Begegnun gen mit den Eroberern und Schlachtenführern der Erde?« Rons Blick wanderte von den Kakteen zu dem Weißhaarigen, der neben ihm saß. »Ja, ich denke, ich sah diese Begegnungen, die Aknavi in seinen vielen hundert Jahren gehabt hatte«, hauchte Clausseé. »Und ich hörte Schlachtenlärm und Kriegsgeschrei. Viele unbekannte Sprachen drangen an mein Ohr und ich sah Menschen unterschiedlichen Aussehens. - Eine Zusammenkunft aber«, er machte eine Pause und seufzte, »eine Zusammenkunft aber war seltsamer als alle anderen.« 649
»Seltsamer als die anderen Treffen? Wieso seltsa mer?« »Weil bei dieser Begegnung die Männer keine his torischen Gewänder trugen und mit keinerlei Waffen ausgerüstet waren. Ihre Kleidung sah moderner aus, und sie trugen allesamt dunkle Brillen. Außerdem bedrängte in den Träumen nicht ich sie, sondern die Fremden redeten unaufhörlich auf mich ein. Obwohl ich ihre Sprache nicht verstand, war mir, als klang sie rumänisch oder russisch. Ich sah riesige Städte inmitten heißer Trockengebiete dahinsiechen, und dann wieder unendliche Hügel, übersät mit unzähligen umgeknick ten Bäumen.« »War es in Europa?« wollte Ron wissen. Clausseé blickte Ron an und nickte zögerlich: »Ich glaube ja. Es war mir, als wollten die Leute in meinen Träumen mich vor etwas warnen. Immer wieder fiel dabei das Wort ›Tunska‹ oder ›Guska‹. Einer von hielt mir wiederholt, und so, als dürften die anderen das nicht mitbekommen, eine Zahl entgegen, die in seiner Handfläche geschrieben stand.« »Was für eine Zahl? Eine Jahreszahl?« »Schon möglich. Ich entzifferte die Zahl als 8061.« »8061 - und, sagen Ihnen diese Ziffern etwas, Pro fessor?« »Nein, nichts. Aber diese Zahl kommt mir immer wieder in den Sinn, als hätte sie eine ganz bestimmte Bedeutung. Vielleicht ist es eine Jahreszahl, oder es sind Koordinaten, möglicherweise hat die Zahl etwas mit den Kachinas zu tun.« 650
»Haben Sie Aknavi denn nicht darauf angespro chen?« »Klar doch«, ereiferte sich Clausseé, »Ich bin doch länger im Pueblo geblieben als ihr. Da habe ich mit ihm darüber gesprochen. Er wußte von diesen Leuten, meinte aber, daß es mich beträfe, und ich Geduld haben müsse bei der Beantwortung dieses Traumes. Und ich sollte auf der Hut sein! Tja, so ist es.« Ron überlegte. Nein im Fluchttunnel stand diese Zahl 8061 nicht bei den Wandzeichnungen. Da war er sich sicher. Das entfernte Aufheulen eines Coyoten holte die beiden Männer aus ihrem Gespräch. Clausseé schaute zu Ron, klatschte sich dann auf die Knie, »und was machen wir Jetzt? Sollen wir in die Wagen zurückkehren? Die Luft wird doch ziemlich kalt, und krank dürfen wir jetzt nicht werden. Ich muß auch noch meinen Spezial-Selbstbau-Akku anwerfen, allein schon um das Wohlergehen des Kachina sicher zustellen. Und ich werde für die Nacht, so lange wir uns hier versteckt halten und ein leicht zu ortendes Objekt darstellen, meine Computer, Telefone und sons tige Kommunikationssysteme ausschalten. So sind wir für jede FBI-Überwachungs-Einheit schwer zu entde cken. Schlaf gut, Ron, der Tag morgen wird hart wer den, glaub’ mir.« Ohne Rons Erwiderung abzuwarten sprang er vom Stein hoch und ging müden Schrittes zu seinem Wohnmobil, die Decke immer noch über die Schulter gezogen. 651
18. November ’98
Winslow / Arizona ur spärlich drang das Licht durch die zugezogenen Vorhänge, erhellte den Raum gerade so, daß man die schlafende Person auf dem Bett erkennen konnte. Sie war bekleidet mit einem langen roten Rock und einer Wildlederjacke. Die Tür wurde aufgestoßen und Vera Johnson trat ein. Sie wirkte überhaupt nicht mehr ruhig, seit sie den warnenden Anruf von Hines Anwalt erhalten hatte. Dieser hatte berichtet, daß Hines in Dallas von FBIBeamten verhaftet worden war, genauso wie Sir Rymond Lee und weitere enge Mitarbeiter des PAXTONBosses. Sie wußte jetzt, daß man wahrscheinlich auch schon hinter ihr her war. Beunruhigender für sie war aber die Tatsache, daß Sir Rymond Lee, noch bevor er verhaftet worden war, Hawk beauftragt haben sollte, die jungen Leute und den alten Kachina im Reservat aufzustöbern und zu töten. Sie mußte handeln, wollte sie Hawk zuvorkommen und die Kachina-Puppen in ihren Besitz bringen. Daß sie die blonde Frau in ihre Gewalt gebracht hatte, konnte Hawk nicht wissen. Wenn aber der junge Mann getötet würde, konnte sie ihr ›Tauschgeschäft‹ vergessen. Lisa lag regungslos auf dem Bett des kleinen Hotelzimmers. Starke Schlafmittel hielten sie seit Stunden in einem Dauerschlaf. Von diesem unfreiwilligen Hotelgast hat
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te niemand im Haus etwas mitbekommen. Wieder wurde die Tür geöffnet. Ein kräftiger, untersetzter Mann kam in den Raum. Es war Ken Brocker, ein ehemaliger Söldner, der von Hines für diesen Job angeheuert worden war. Brocker und Hines kannten sich aus früheren gemeinsamen Einsätzen der CIA, bevor Hines zum CIA wechselte, und seine Tarnkombination gegen Anzug und Krawatte getauscht hatte. »Was machen wir mit ihr?« fragte Brocker, ging zum Fenster und blinzelte durch den Gardinenspalt, »ich denke, sie wird in den nächsten Stunden aufwa chen. Geben wir ihr noch eine Spritze?« »Nein«, antwortete Johnson, »wir müssen sie wach bekommen und dann sofort zum Indianerreservat auf brechen. Ich hoffe nur, Hawk hat das Versteck des Alten noch nicht gefunden. Unser Vorteil ist, daß ich weiß, wo sich der Ort befindet, an dem sich der Überlieferung nach ein sterbender Kachina für seine Reise ins Jenseits hinbegeben muß. Der junge Mann hat es bei seiner Botschaft an den Präsidenten erwähnt.« Sie blickte auf Lisa, die sich mit einem seufzenden Laut umdrehte, aber nicht wach wurde. »Dann kennt Hines den Ort doch sicher auch, oder?« fragte Brocker. »Ich denke schon«, antwortete Johnson, fuhr dann erschrocken herum, »dann könnte Hawk den Ort auch bereits kennen. Mist. Los, Brocker, wir müssen sie we cken und dann sofort losfahren. Beeilen wir uns!«
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Shuttle EARTHHOPE Shuttle-Commander Borman mußte ständig an Walshs mahnende Worte denken und an die Dinge, die Onkel Frank dort auf der Mondrückseite angeblich gesehen haben wollte. Okay, dessen Flugkameraden hatten es auch gesehen, aber warum wurde so etwas seitens der NASA den jungen Piloten gegenüber ver schwiegen? Daß die Öffentlichkeit nicht unbedingt alles wissen mußte, leuchtete vielleicht noch ein. Aber wir NASA-Piloten gehören doch zum selben Haufen, dachte er, oder glauben die, wir sind zu blöd für derlei Informationen. Und würden dann nicht mehr ins All fliegen wollen? Schwachsinn! Er blickte zu seinem Co-Piloten hinüber, beobach tete ihn. Irgend etwas ist mit Major Walker, spürte er. Seitdem er vor Tagen, während ihres Trainings in Florida, von Colonel Grant zu einem Treffen abgeholt worden war, schien er verändert. Aber schon vorher hatte er den Eindruck, als paßten er und Walker nicht recht zusammen, als seien sie zu verschieden. War Walker vielleicht neidisch, daß man nicht ihn zum Shuttle-Commander gemacht hatte? Fragen nach dem Grund seines Treffens mit Grant war er immer ausge wichen. Außerdem war er für seinen Geschmack auf dieser Mission zu häufig mit Captain Brue, dem Führer der Elite-Truppe, zusammen. Wachsamkeit wäre hier sicher ein guter Ratgeber. Walker stand nun an der Instrumentenwand, in der auch zwei kleine Fenster eingebaut waren. Diese er möglichten einen guten Überblick über den gesamten 654
Frachtraum. Der Spezialarm war nach dem Aussetzen des Fotosatelliten wieder in seinen Ruhezustand ge bracht, und die Klappen des Frachtraumes danach geschlossen worden. Eine Etage tiefer, direkt unter dem Cockpit befand sich der Ruheraum, in der die Küche und die Toilettennische untergebracht wa ren. Außerdem war dieser Bereich gleichzeitig ihr Fitneßraum und auch Schlafstätte. Von dort her schallten die Machosprüche der Sol daten nach oben. Diese hatten die lange Flugzeit über raschend gut hinter sich gebracht und waren bei bester Laune. Auch schien die Schwerelosigkeit ihnen nichts auszumachen, staunte Borman. »Die ersten Bilder dürften schon auf dem Weg zur Erde sein«, bemerkte Walker und beugte sich dem mondzugewandten Fenster zu, »und dann müßte der Satellit zum dritten Mal aus dem Mondschatten her austreten.« »Richtig«, bestätigte Borman, »nach meiner Uhr noch exakt zwei Minuten, dann sollten wir ihn wie der sehen. Bin gespannt, ob da schon brauchbare Aufnahmen dabei waren.« Er kannte die ungeheu re Qualität dieser Kameras und des eingesetzten Filmmaterials. Normalerweise halfen die Fotos die ser Apparate bei der Anfertigung von Karten der Erdoberfläche, zeigten Dürregebiete und Waldbrände an, gaben Hinweise auf Luftverschmutzungen und konnten sogar beim Auffinden unterirdischer Ölvor kommen helfen. Aber auch als ›Himmelsspione‹ bei der Lokalisierung von militärischen Einrichtungen oder 655
Raketenabschußbasen wurden derlei Geräte eingesetzt. Sie waren so leistungsfähig, daß selbst ein Mensch aus einer Höhe von fünfunddreißig Meilen noch deutlich zu erkennen war. »Wo bleibt er nur«, murmelte Borman ungedul dig. Walker antwortete nicht, suchte selbst durch das Fenster den Mondhorizont ab. »Ich sehe ihn nicht, verdammt, wo bleibt der Satellit? Jetzt ist er schon vierzig Sekunden über die Zeit.« »Ganz ruhig. Vielleicht mußte er mal austreten«, scherzte Walker, wollte seinen Commander beruhi gen. Doch Borman wurde noch nervöser. Er kannte die präzisen Berechnungen der Bodencrew. Und die verrechneten sich nicht so ohne weiteres um fünfzig Sekunden. Doch der Fotosatellit wollte einfach nicht erscheinen. Borman konnte nichts dafür, aber wieder mußte er an die Worte von Eric Walsh denken. »Hoffentlich taucht das Miststück jetzt bald auf, Mann«, schimpfte er und schlug mit einer Spur Angst gegen die dicke Scheibe des Fensters. San Francisco Mountains Schon früh am Morgen hatten sich die sieben Männer wieder auf den Weg gemacht. Es galt, keine Zeit zu verlieren, schließlich waren Regierungshäscher und andere unliebsame, ja gefährliche Zeitgenossen, hin ter ihnen her. Genau genommen, hinter dem Kachina. Dieser hatte, zur Erleichterung aller, die Nacht im warmen Wohnmobil gut überstanden, machte einen 656
stabilen Eindruck. Nach kurzer Stärkung, die Clausseé aus dem Vorratsschrank seines Wohnmobils hervorge zaubert hatte, befand man sich jetzt auf dem direkten, wenn auch holperigen Weg zum Fuße des östlichen Teils der San Francisco Mountains. Allmählich verschwand der Reif der frühen Stunden. Der Weg wurde steiler und noch unebener. Für den Toyota des Indianerpolizisten kein Problem, aber der alte Wagen des Professors hatte schon mächtig zu tun. Endlich erreichten sie die letzte rastplatzähnliche Anhöhe, von der aus auch Vierradfahrzeuge nicht mehr problemlos weiterfahren konnten. Crow und Jojo, die beiden Aknavi-Beschützer stie gen aus. Sie gingen einige Schritte nach links, nach rechts, schauten sich um nach dem Weg, den sie ge kommen waren und prüften auch das letzte Teilstück hinauf, das es noch zu überwinden galt. Maultiere wären jetzt nicht schlecht, dachte Crow, der beunru higt registrierte, daß da ein Wagen zwei Meilen hinter ihnen anscheinend das gleiche Ziel hatte. Waren es die Verfolger oder nur harmlose Touristen? Er wußte, daß ihnen noch ein langwieriger und mit dem kranken Aknavi auch zeitraubender Aufstieg bevorstand. Man sollte sich beeilen, mahnte Crow und zeigte den ande ren das in der Ferne herannahende Auto. Er drängte auf sofortigen Aufbruch. Hektisch holten sie eine Rettungstrage aus dem Toyota, die bei Unfällen im Gelände schon oft wert volle Hilfe geleistet hatte. Dann legten sie den dick eingemummten Aknavi darauf und schnallten ihn mit 657
Gurten an dem Aluminium-Gestänge fest. Die Autos wurden verschlossen und der Aufstieg zum Ritualplatz konnte beginnen. Behutsam, ständig auf den geröllübersähten Trampel pfad achtend, schob sich die Truppe den Berg hinauf, höher und höher, aber es ging nur sehr langsam voran. Vereinzelt flatterten Vögel neugierig über sie hinweg, aufgeschreckte Hörnchen suchten aufgeregt das Weite. Nur das Wetter war, abgesehen von der noch sehr nied rigen Temperatur, der Gruppe wohlgesonnen. Auf halber Strecke blieb Clausseé, der mit Tom zu sammen die Spitze bildete, plötzlich stehen und stopp te somit die ›Bergtour‹. »Ich muß zurück zum Wagen«, stammelte er nervös, als hätte er einen Geist gesehen, drehte sich auch schon auf dem Absatz um und machte sich an den anderen vorbei, wieder an den Abstieg. »Was ist los?« rief Ron ihm hinterher. Doch ohne sich umzudrehen antwortete dieser in fast melodiösem Ton: »Ich muß nochmal zum Auto, die beiden KachinaPuppen holen. Das ist wichtig. Ich komme schnellstens zurück.« Ron hielt inne, überlegte, drehte sich dann um und folgte dem Professor. »Key, wo geht’s hin?« rief Little G. Wing, »macht ihr euch jetzt alle aus dem Staub?« »Natürlich nicht«, rief Ron zurück, »ich bin sofort wieder da, ich hol’ nur etwas aus dem Wohnmobil, be vor es nachher zu spät dafür ist.« Ihm war eingefallen, daß unter dem Beifahrersitz immer noch der Remington 658
Colt liegen mußte, mitsamt den Patronen, und das, seit dem sie in Camden gestartet waren. Diesen Colt wollte er an sich nehmen, denn ihm war plötzlich bewußt geworden, daß er hier draußen völlig unbewaffnet da stand. Sicher, es war nur ein alter Army-Colt, der viel leicht auch gar nicht mehr richtig schoß, aber immer noch besser, als gar nichts, dachte er. Inzwischen hatten die beiden Beschützer mit dem Kachina fast die Hälfte des Weges zur Felsen-Platt form geschafft. Auf dieser werden ihren Göttern, den Kachinas, schon seit Jahrhunderten für eine gute Ernte Opfergaben dargeboten und Gebete und Tänze abge halten. Crow und Jojo hatten sich nicht geirrt: sie wurden in der Tat verfolgt. Angetrieben von Hawk stöhnten und schnauften seine beiden Begleiter Pit Zenga und Telly Doc Mayar den Berg hinauf. Schließlich waren sie nicht so durch trainiert wie ihr Boss. Noch am Vorabend hatte dieser unter einem Vorwand einem alten Hopi in Neu-Oraibi entlocken können, wo sie ihrem Brauch nach einen hochrangigen, kran ken Indianer hinbringen würden. So waren seit der Morgendämmerung auch er und seine Komplizen un terwegs zu den San Francisco Mountains. Hawk wußte, daß sie beim Aufstieg schneller sein würden, als die Männer mit dem alten Mann. Am Berg würden er und seine Gefährten sie stellen können. Es dauerte nicht lange, und sie konnten die Flüchten 659
den, kaum 250 Meter höher am Berg, schon ausmachen. Ihr Adrenalinspiegel stieg. Alle drei wurden ange spannter, hektischer. Die Vorfreude auf eine in Aussicht gestellte Kopf-Prämie ließ Zenga mit einem triumphie renden Lachen plötzlich sein Schnellfeuergewehr in Richtung der vor ihnen Kletternden anlegen. Hawk sah es, sprang heran und schlug ihm wütend das Gewehr zur Seite. Er wollte so das Abfeuern der Kugeln verhindern, aber es war zu spät. Ein Feuerstoß ratterte gegen die höhergelegenen Felswände, ließ den Hall der Schüsse bis weit ins Land schwingen. »Blöder Hund«, schrie Hawk, »jetzt wissen sie, daß wir hinter ihnen her sind, und sie werden vorbereitet sein und sich zu wehren wissen, verlaß’ dich drauf.« Kleinlaut, aber immer noch zappelig, gestand Pit Zenga seine Dummheit ein, versprach, sich ab jetzt zurückzuhalten. Die blinde Ballerei aber hatte ihr Ziel nicht verfehlt. Ein Querschläger von einem der Felsen hatte Aknavi am Hals getroffen. Die anderen bemerkten zunächst nicht, daß der Kachina schwer verletzt war, wollten nur schnellstens zur Plattform gelangen, wo sie glaubten, sich und ihn besser verteidigen zu können. Es galt, nur noch wenige Höhenmeter zu überwin den. Der vierzig Meter lange und zwanzig Meter breite Ritualplatz erstreckte sich wie eine tiefe Einkerbung in den roten Felsen. Der Rand wurde auf natürliche Weise durch hohe Felsen zum Abhang hin begrenzt. Nur an drei Seiten führten schmale Wege hinauf. 660
Der traditionelle Weg zur Zeremonie war der mittle re von den drei Wegen. Die seitlichen Pfade wurden in der Regel von den Mitgliedern des Ältestenrates und den Medizinmännern benutzt. Über zwei Drittel des Platzes spannte sich eine bis zu zwei Meter dicke Felsentafel wie ein Baldachin über den Platz. Etwas außerhalb der Mitte befand sich ein ovales Loch in diesem Dach. Erosionsbedingte Veränderungen des rotbraunen Felsens ließen nicht erkennen, ob diese Öffnung einst von den Vorfahren der Hopi in den Fels gehauen worden war oder die Natur hierfür verant wortlich zeichnete. Unter dieser Öffnung, die den Blick zum Himmel freigab, stand auf der Plattform eine Art länglicher Altartisch, auch aus Felsgestein gearbeitet. Die Oberseite der Platte war ungewöhnlich glänzend, künstlich glatt geschliffen. Man konnte sich gut vor stellen, wie die hoch über dem Platz stehende Sonne ihr gleißendes Licht durch die Öffnung hindurch auf den polierten Altar schicken würde und den Ritualen einen mystischen Anstrich verleihen konnte. Einer der seitlichen Aufgänge führte an der Kultstätte vorbei, schlängelte sich noch weiter nach oben. Es bestand die Möglichkeit, über ihn aufs Felsendach zu gelangen. Die Beschützer hatten den in Decken gehüllte Ak navi von der Trage hochgehoben und ihn behutsam auf den steinernen Altartisch gelegt. Die Trage wurde mit einem Fußtritt zur Seite gestoßen. »Oh nein, Aknavi blutet«, schrie Tom Datchongvi auf einmal auf, »er muß verletzt sein.« Er hatte beim Wegschubsen der Trage eine Blutspur auf dem Boden 661
entdeckt, die der rutschende Aluminiumrahmen hinter sich zog. Schon waren Crow und Jojo überAknavi. Dieser war bereits ohnmächtig geworden, aber er atmete. Während die beiden Indianer sich um die Wunde am Hals kümmerten, überprüften Tom Datchongvi und Little G. Wing den Platz auf seine Verteidigungs fähigkeit. Konnten sie den Kachina hier erfolgreich beschützen? Ron war inzwischen zurückgekehrt, stand keuchend auf dem Platz und wollte wissen, was passiert war. Als die Schüsse fielen, hatte er gerade seinen Wiederaufstieg begonnen. Er war erschrocken, denn die Salve wurde keine hundert Meter rechts von ihm abgefeuert. So schnell er konnte, immer in Deckung bleibend, kletterte er nach oben. Clausseé, der ebenfalls die Schüsse vernommen hatte, entschied sich, angesichts der Nähe zu den Verfolgern, erst einmal ruhig zu verhalten und dann später, bei günstiger Gelegenheit, zum Ritualplatz zu rück zu schleichen. Glücklicherweise sah Tom Datchongvi den zu rückkehrenden Ron früh genug, um ihn, weg von der Schußlinie der Gangster, zu sich nach oben zu lotsen. Zum Glück hatten die Verfolger Ron nicht bemerkt. »Verfluchter Mist, was machen wir jetzt?« brummte er, umklammerte mit der einen Hand Lisas indianische Kette, die er immer noch um den Hals trug, mit der an deren Hand den Remington Colt. Die Patronen für den Colt hatte er natürlich auch dabei. Sie klimperten wie Kleingeld leise in den Taschen seiner Jeansjacke. 662
Houston / Texas Es herrschte gedämpfte Stimmung im NASA-Control Center in Houston. Ratlosigkeit machte sich breit. Prof. Brauner lief unruhig zwischen den Radarkonsolen hin und her, während Colonel Grant scheinbar gelassen abseits stand und das Geschehen analysierte. Grant überlegte, war sein Eingreifen schon gefordert? Plötzlich herrschte Aufregung an einem der Pulte. »Professor, schauen Sie sich das an, der Mond fängt an zu spinnen«, rief einer der Operator. »Auf die Videowand, schnell«, forderte Brauner, »bringen Sie das Bild nach vorne, machen Sie schon!« Das Standbild mit den Daten der Shuttle ver schwand, dafür erschien das runde, vertraute Bild des Mondes. Ein Raunen durchzog den Raum. Einige der Techniker standen auf. Alle starrten gebannt auf die große Leinwand. Sie sahen pulsierende Lichter, riesige und immens helle Blitze. Aber sie waren nicht weiß lich-gelb, wie in all den Wochen zuvor, sondern weiß lich-rosa. Und sie pulsierten nicht mehr wie noch vor Tagen, als dies regelmäßig und nach einem bestimmten Muster ablief. Jetzt flackerten sie völlig unkoordiniert, ja fast chaotisch, durcheinander. »Verdammt, was geht da vor«, schrie Brauner, »und was ist mit den Fotos, warum erhalten wir keine Auf nahmen vom Mond?« Bevor ihm einer seiner Mitarbeiter antworten konnte, meldete sich Colonel Grant, der sich langsam Brauner genähert hatte: »Vielleicht gibt es keine Fotos, ist der Satellit überhaupt nicht dazu gekommen, Aufnahmen 663
zu machen. Möglicherweise hat man den Satelliten be reits erwartet und sich dessen bemächtigt.« »Ach, Sie spinnen doch«, murrte Brauner ungehal ten, »wer soll sich denn den Satelliten geschnappt ha ben, etwa die Russen?« »Nein, nicht die Russen. Denken Sie an die Ge schichte der Prophezeiung. Ob ich glaube, daß auf dem Mond irgendwelche Männchen sitzen oder nicht, ist absolut unwichtig. Tatsache ist nur, daß nach Aussagen der Hopi, das Schicksal der Menschheit vom Mond aus besiegelt wird. Auch scheint unser Fotosatellit nicht mehr aus dem Mondschatten herauszutreten. Unbehagen macht mir außerdem, daß sich die Farbe der Blitze verändert. Da oben geht irgend etwas vor, das mir überhaupt nicht gefällt!« San Francisco Mountains Die Männer wußten nicht so recht, wie sie dem ohnmächtigen Kachina helfen konnten. Immer noch blutete er. Der offene Riß am Hals mußte geschlossen werden, denn der provisorische Verband aus Teilen ihrer Hemden war nur eine unzureichende Lösung. Gleichzeitig sah die Situation recht eigenartig aus: der alte, schwerverletzte Indianer lag so auf dem Steintisch, daß sich sein Körper im Schatten der Felsdaches befand und nur der Kopf, der Hals und der Brustbereich durch die Öffnung im Dach in helleres Licht getaucht waren. Plötzlich schauten sie alle nach oben, bemerk ten, daß sich der ganze Himmel schnell zu verdun keln begann, ähnlich einer sich anbahnenden totalen 664
Sonnenfinsternis. Rasselklänge ließen ihre Köpfe zum Altartisch her umschnellen. Sie sahen Jojo seitlich des Kachina ste hen und leise Gebete murmeln, dabei unablässig eine Rassel schwenkend. Crow begann, sich schwarze Streifen durchs Gesicht zu ziehen. Dann löste er sein rotes Stirntuch, so daß seine schwarzen Haare frei sein Gesicht umspielten. Entschlossen griff er nach seinem Gewehr und stell te sich in einigen Metern Abstand vor den Kachina, Gesicht Richtung Berghang, bereit, niemanden an Aknavi zu lassen, ihn mit seinem Leben zu schützen. So war seine Bestimmung. »Wouw«, flüsterte Ron zu Little G. Wing, »kann es sein, daß die beiden jetzt mit dem Ende des Alten rech nen?« Little G. Wing machte große Augen, zog die Mund winkel nach unten: »Ich hoffe doch sehr, daß Crow und Jojo sich irren.« Navajo-Reservat In der kleinen Navajo-Siedlung, keine zwei Kilo meter vom trennenden Zaun zum Hopi-Reservat ent fernt, begann eine seltsame Wanderung der Einwohner zum Dorfplatz. Frauen und Männer, Kinder und Greise kamen aus ihren Hogans, den sechseckigen Häusern, ins Freie. Einige sangen, viele schlugen Trommeln oder ließen ihre Rasseln im monotonen Rhythmus ihres Ganges erklingen. Es war eine gespenstische Zeremonie, dazu 665
die unerklärliche Dämmerung mitten am Tag. Wesley und Samisse standen am Eingang zur Siedlung, hatten den Motor ihres Wagens abgestellt und schauten sich die seltsame Prozession an. »Was mag das bedeuten?« fragte Nicole schüchtern und hielt sich besorgt die Hand vor den Mund, »genau wie in den anderen Dörfern, durch die wir kamen. Das ist ja geradezu unheimlich.«
Wesley sah, wie sich die Indianer auf dem freien Platz, der die Dorfmitte bildete, kreisförmig zusam mensetzten, dabei noch inbrünstiger sangen und auch heftiger trommelten: »Könnte der heutige Tag vielleicht ein Navajo-Feiertag oder so etwas Ähnliches sein, und deshalb alle den gleichen Zauber veranstalten?« »Ich glaube etwas ganz anderes, Curt«, flüsterte sie, während sie sich zu ihm rüberbeugte, »ich glaube, 666
der alte Kachina stirbt und all die Indianer spüren das. Das hier ist so eine Art Trauerfeier. Und, hast du den Himmel gesehen? Das ist doch alles sehr gespenstisch, findest du nicht?« »Aber das sind doch Navajo-Indianer. Wieso sollten die um einen Hopi trauern?« »Ich bin davon überzeugt, daß der Kachina kein Hopi ist, vielleicht nicht einmal Indianer. Nach dem, was man uns da erzählt hat, soll er ja überhaupt von einem anderen Planeten stammen. Ich habe da so ein ungutes Gefühl. Laß uns schnell weiterfahren, um endlich die Tafelberge zu erreichen, bevor das Wetter völlig durchdreht und es stockfinster ist.« Sie verließen das Navajo-Dorf wieder. In der Tat hatte Wesley mittlerweile die Scheinwerfer seines Wagens einschalten müssen. Auf einer Anhöhe zu den Mesas stoppte er das Fahrzeug, stellte den Motor ab und lauschte durchs offene Seitenfenster. Wie das dumpfe Getrampel einer riesigen Bisonherde überzog ein nimmermüdes Trommeln die Weiten der Landschaft, wurde durch das Echo zwischen den Bergen noch intensiver. Als sie ihren Weg fortsetzten, lehnte sich Nicole an ihren Geliebten. Etwas Musik würde jetzt viel leicht nicht schaden, dachte sie und drehte am Knopf des Autoradios. Doch überall liefen Reportagen und Interviews über das seltsame Verhalten der Indianerstämme im gesamten Südwesten der Staaten. Überall in den Reservationen sollte ein Trommeln eingesetzt haben, so wie der ganze nordamerikanische 667
Himmel von einer dunklen Schicht überzogen wurde und die Sonne nur noch spärlich hindurchscheinen konnte. Den Meteorologen zufolge, so das Radio, wa ren sowohl die wolkenlosen als auch die wolkenver hangenen Gebiete selbst im entfernten Osten der USA betroffen. Den Radioreportern nach herrschte große Ratlosigkeit, Panikstimmung begann sich an vielen Orten des Landes auszubreiten. »Es wissen eben nur die wenigsten von der Erfüllung der Hopi-Prophezeiung«, lachte Nicole zynisch und rückte noch dichter an Wesley heran, der weiterhin voller Sorge dem Autoradio lauschte, »wer weiß, was uns im ersten Hopi-Dorf erwartet, das wir erreichen werden.« San Francisco Mountains Sie mußten sehr wachsam sein, das wußten die Männer. Und ihnen war klar, daß die Verfolger immer näher kamen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie angreifen würden. Also hieß es aufpassen, besonders jetzt bei diesen Lichtverhältnissen. Während Ron sich zu Jojo gesellte, um beim Kachina zu bleiben, verschanzten sich Tom, Little G. Wing und Crow mit ihren Gewehren halbkreisförmig einige Meter unterhalb des Kultplatzes hinter den Felsen. Es war wegen des ungewöhnlichen Dämmerlichts sehr schwer, die Angreifer im unübersichtlichen Gelände auszumachen. Außer dem unaufhörlichen Trommeln, das von den weiten Ebenen zu ihnen her aufhallte, war es verdächtig still am Berg. 668
Beim erneuten Versuch, über die Notrufnummer der Navajo Tribal Police Station Hilfe anzufordern, bemerkte Little G. Wing, daß sein Funkgerät nicht mehr funktionierte. Es hatte eine große Delle in der Blechummantelung, mußte durch einen Querschläger bei der Schießerei ebenfalls etwas abgekriegt haben. Hilfe konnten sie so also nicht anfordern. Sie waren auf sich allein gestellt. Plötzlich durchriß ein markerschütternder Schrei die Luft. Er kam von Crow, der die Westseite absicherte. Zenga, einer der Gangster, hatte sich unbemerkt von hinten an Crow heranschleichen können und ihm mit einem mächtigen Schlag seines Gewehrkolbens das Knie gebrochen. Crow stürzte zu Boden, wollte noch einen Schuß auf seinen Angreifer abfeuern, aber schon hatte Zenga ihm mit einem weiteren mörderischen Schlag den Schädel zertrümmert. Crow war sofort tot. Tom hörte Crows Todesschrei in einer Entfernung von zwanzig Metern. Er schaute hinüber, doch es war zu spät. Dennoch zögerte er keinen Augenblick, sprin tete heran, und während er auf Zenga zusprang, zog er eine zwanzig Zentimeter lange Stahlnadel aus dem Rückenteil seines Gürtels und stach sie dem Gangster mitten ins Herz, noch bevor dieser sein Gewehr hoch reißen konnte. Zenga spukte Blut, röchelte noch einige unverständ liche Worte und nach einigen Zuckungen blieb er leb los liegen. Little G. Wing hatte trotz des rasanten Ablaufs und des miesen Lichts alles genau verfolgen können, war 669
erschrocken und sprachlos über die Schnelligkeit, mit der Tom seinen Angriff ausgeführt hatte. Und dann fiel ihm der tote Hopi von den Wupatki-Ruins ein: Ist jener nicht auch durch feine Einstiche in der Herzgegend getötet worden? Durch das Trommeln, Rasseln und dem lauten Gesang von Jojo bekam Ron von dem Kampf nichts mit. Außerdem war er zu sehr mit Aknavi beschäftigt, dem es von Minute zu Minute schlechter zu gehen schien. Er verlor immer noch Blut, und es gelang ihnen nicht, die Blutung zu stoppen. Verzweifelt rief er nach Tom. Dieser hörte das Rufen und kam eilig zu ihnen an den Altartisch. Ron wußte durch Little G. Wing, daß Tom einige Semester Medizin studiert hatte: »Sieht schlimm aus, nicht?« Tom nickte und untersuchte die blutdurchtränkten Notverbände. »Tom, ich hörte, daß Kachinas durch Schußverlet zungen eigentlich nicht getötet werden können, doch jetzt scheint es wohl anders zu sein, nicht wahr?« »Leider ja«, entgegnete Tom seufzend, »er kann, wenn die Waffe gegen ihn persönlich gerichtet ist, jetzt sehr wohl sterben, besonders, da er schon so ge schwächt ist.« »Und was war mit dem Mordversuch in Frank reich?« Tom schaute Ron an, als wolle er ihm mit seinen Augen zu verstehen geben, daß dies im Augenblick doch nun völlig unwichtig sei. Aber dann entschloß 670
er sich, mit wenigen Worten die Begebenheit in Frankreich zu schildern, jedenfalls so, wie er sie von seinem Vater erzählt bekommen hatte: »Es muß am späten Vormittag des 24. Mai 1940 im französischen Charleville gewesen sein. Die deutschen Truppen hatten von drei Seiten die alliierten Verbände im französich-belgischen Grenzbereich bis zur Kanalküste bei Ostende zurückgedrängt und hielten dort rund 400.000 Soldaten umklammert. Der befehls habende Panzergeneral hätte mit Hilfe der Luftwaffe und den östlich und nördlich gelegenen Panzertruppen die eingekesselten Soldaten vernichtend schlagen und einen entscheidenden Sieg davontragen können. Doch es kam anders. Im Hauptquartier in Charleville machten sich ein gewisser Generaloberst Runstedt und Adolf Hitler hinter verschlossenen Türen daran, die erfolgversprechenste Strategie für einen schnellen Sieg festzulegen. Als Runstedt für kurze Zeit den Raum verlassen hatte, sah sich Hitler, plötzlich von rötlichem Licht umgeben und einem seltsamen Fremden gegenü ber, der wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien. Es war Aknavi, der Hitler zur Besinnung bringen woll te. Dieser, vom Mystischen ohnehin begeistert, glaubte an einen Götterboten, der, auf seiner Seite stehend, ihm zum glorreichen Sieg verhelfen wollte. Dessen Aufforderung, die Eingeschlossenen zu verschonen, würde einem höheren Ziel dienen. Hitler gehorchte. Plötzlich trat ein junger SS-Offizier in den Raum mit einer dringenden Depesche von einem der Generäle. Dieser sah, wie Aknavi gerade die Hand nach seinem 671
Führer ausstrecken wollte, ahnte Gefahr und zog seine Waffe. Aknavi wurde getroffen und verschwand vor den Augen der beiden Nazi-Deutschen. Als von Runstedt wieder den Raum betrat, war der junge SS-Mann auf Weisung seines Führers durch einen Nebenausgang verschwunden. - Die Geschichte hat dann gezeigt, daß Hitler dann tatsächlich den Angriff vor Dünkirchen stoppen ließ und die eingeschlossenen Soldaten von England aus mit Hunderten von Schiffen und Booten evakuiert und somit gerettet werden konnten. Bis heute rätseln Militärs und Politiker immer noch um den wah ren Grund seiner damaligen Entscheidung. Von dem SS-Offizier hat man nie mehr etwas gehört. Aknavi konnte zu jener Zeit nicht getötet werden, da der junge verblendete Mann nichts anderes wollte, als seinen ge liebten Führer zu beschützen.« »Deshalb das Hakenkreuz im Fluchttunnel unter dem Pueblo. Dann war bei Hitler Kachinas letztes mahnendes Erscheinen?« fragte Ron und deutete mit dem Zeigefinger zum Altartisch. »Ja, so ist es. Als fünf Jahre später die Amerikaner die Atombomben auf Japan warfen, wurde er zum ers tenmal so schwer krank, daß er nicht mehr richtig auf die Beine kam. Seit damals, seit seiner bettlägerigkeit, haben die Hopi-Delegationen die Aufgabe übernom men, die Politiker in aller Welt auf die Zerstörung der Erde, der Tiere und der Menschen hinzuweisen. Mit welchem Erfolg, sehen wir jetzt. Nichts hat sich geändert, und darum werden wir alle wohl sterben müssen.« 672
Shuttle EARTHHOPE Seit Minuten sprach niemand mehr. Im Shuttle herrschte eine nicht zu überbietende Spannung. Der Satellit war nach zwei Umrundungen nicht mehr aus dem Mondschatten herausgetreten. Und nicht ein Bild hatte er zur Erde gefunkt, wie aus Houston verlau tete. War diese Mission schon gescheitert, noch ehe sie richtig begonnen hatte? Commander Borman ging davon aus, daß der Satellit abgestürzt sein mußte, oder gar mutwillig zerstört wor den war. Wollte jemand das Übersenden von sensationellen Informationen verhindern? Egal, ›Operation Night light‹ mußte nun als gescheitert angesehen und der Rückflug zur Erde einleitet werden. Schon wollte sich Borman den Rückflugbefehl von Houston bestätigen lassen, da spürte er plötzlich den kalten Lauf einer Pistole an seiner Schläfe. Ryan Walker stand hinter ihm: »Commander, das wollen wir mal sein lassen.« Dann griff er zu den Schaltknöpfen und unterbrach den Funkkontakt: »Und gut zuhören: wir werden nicht zurückfliegen und darauf warten, daß uns irgendwelche schleimigen Aliens vom Mond aus vernichten, kapiert?« Um seiner Aufforderung mehr Nachdruck zu verleihen, drückte er die Pistole noch härter gegen Bormans Kopf. »Walker, was, um Gottes Willen, ist in Sie gefah ren, hören Sie auf mit dem Blödsinn. Nehmen Sie die Pistole herunter, verdammt nochmal, wenn sich ein Schuß durch die Außenwand des Shuttle bohrt, sind 673
wir alle hin.« Walker lächelte: »Das spielt keine Rolle mehr, Major, wenn wir nicht handeln und den Typen auf dem Mond richtig den Arsch versohlen.« Dabei rief er laut stark nach Captain Brue. Brue kam die Leiter hochgehangelt, die den Aufent haltsraum mit der Steuerzentrale verband. Mit wenigen Worten klärte Walker ihn über Bormans Rückflugab sichten auf. Captain Brue baute sich, so gut es die Schwerelosig keit zuließ, vor Borman auf und erklärte, daß, falls die Foto-Mission als gescheitert zu betrachten sei, er die Befehlsgewalt über den Shuttle zu übernehmen hätte, und daß sie auf Befehl Colonel Grants sofort zur Rückseite des Mondes starten müßten, um die Zerstörung möglicher invasorischer Einheiten und de rer Waffensysteme durchzuführen. Borman hörte sich die Selbsternennung in aller Ruhe an, griff zum Sprechfunk und meinte: »Das möchte ich von Colonel Grant persönlich hören.« Da krachte die Pistole des Co-Piloten mit voller Kraft auf Bormans Kopf nieder, so daß dieser das Be wußtsein verlor. Major Walker begann auf Zeichen Captain Brues mit den Vorbereitungen zum Start für den Flug zur Mondrückseite. In dem Augenblick, als er die Antriebsraketen zün den wollte, ertönte eine Fehlermeldung im Steuerungs system in Form eines unüberhörbaren Signaltons. »Oh, Mann, ein System ist ausgefallen«, registrierte 674
Walker, sichtlich nervös geworden. »Welches System?« wollte Brue wissen, »hoffent lich keines, das unsere Mission gefährdet?« »Nicht gefährdet, vielleicht etwas hinausgezögert.« Walker hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da ertönten die nächsten Alarmmeldungen. Diese Töne kannte er nur zu gut, wußte, was sie bedeuteten: wei tere Systeme hatten ihren Geist aufgegeben. Er check te die Anzeigen durch und bekam einen gehörigen Schrecken: »Oh Mist!« rief er nur, »oh verdammter Mist, das hätte nicht passieren dürfen.« »Was hätte nicht passieren dürfen? Reden Sie schon.« Walker deutete auf eine besonders hell blinkende Leuchte: »Jetzt haben sich auch Teile des Versorgungs systems verabschiedet. Das ist besonders böse.« »Was zum Teufel geht hier vor?« röchelte der zu sich kommende Borman, der die hektischen Gesichter über sich sah und auch die Alarmsirenen hörte. Die Notbeleuchtung konnte den Raum nur spärlich erhellen. Er schielte herüber zum Instrumentenboard und er kannte blitzschnell, daß sie auf einen Totalausfall aller Systeme hinsteuerten. Auf dem Schaltboard blinkten fast alle Knöpfe. Die APOLLO 13 Mission von 1970 fiel ihm dazu ein, die damals nur ganz knapp einer Katastrophe entgangen war. Oft hatten Onkel Frank und sein Vater darüber gesprochen. Sie hatten alle Informationen aus erster Hand. Schließlich war einer der APOLLO 13-Astronauten Lovell gewesen, der 675
schon mit Onkel Frank zusammen im All gewesen war. Es mußte gehandelt werden, wußte Borman, wollte erneut Kontakt mit Houston aufnehmen. Dabei schaute er zu Walker hinüber, der seine Pistole wieder einge steckt hatte und sich bemühte, einen Status zu erstel len. Zur Erde funken war nicht mehr möglich, da das Kommunikationssystem ebenfalls nicht mehr ging. Aber in diesem Fall war es mutwillig zerstört worden, von Captain Brue. »Da sitzen wir aber schön in der Scheiße«, fluchte Borman, »und nun?« Brue drehte sich ab, Walker zuckte wortlos mit den Schultern, wandte sich den verrückt spielenden Armaturen zu. Borman dachte nach. Dann erinnerte er sich, daß Onkel Frank einmal von einem ähnlichen Funkfehler auf einer seiner Missionen berichtete, und wie er die sen mit einem Trick hatte beheben können. Es ging da um eine spezielle Notschaltung, die sich vom Cockpit aufbauen ließ. Es gab allerdings eine Einschränkung: Houston konnte zwar hören, was in der Shuttle gespro chen wurde, selbst aber nicht senden. Die Astronauten wußten nicht einmal genau, ob sie tatsächlich empfan gen wurden. Es war aber eine Chance, zumindest sich mitzuteilen. Über Bormans Schläfe lief Blut, das von der Platz wunde des Niederschlags herrührte. Dessen ungeach tet mühte er sich, Onkel Franks Schaltung aus dem 676
Gedächtnis zusammenzubauen und auszutesten. Plötzlich meldete sich Walker, der beiläufig durch das Fenster in den jetzt ebenfalls dunklen Frachtraum geschaut hatte: »Welcher Idiot hat eigentlich die Bomben scharf gemacht?« Er wußte von Grant, daß diese ›Geschenke‹ für den Mond nicht mit Aufschlagzünder versehen worden wa ren, sondern mit einem ferngesteuerten Zeitzünder. Gleichermaßen erschrocken wie entsetzt kamen alle ans kleine Fenster. »Unmöglich«, schrie Brue, »ohne mein Zutun können diese Bomben gar nicht aktiviert werden.« »Vielleicht irren Sie sich«, meinte Borman, »denn irgend jemand hat den Zeitmechanismus der A-Waffen in Gang gesetzt, mit ihrem Zutun oder ohne. Vielleicht sind Sie doch nicht so wichtig für die Mission, wie Sie glauben?« Walker starrte wieder und wieder in den dunklen Frachtraum. Deutlich ablesbar leuchteten die roten digitalen Zahlen, unaufhörlich rückwärts zählend: »Leute, das bedeutet, daß wir jetzt noch mehr in der Scheiße stecken: Systeme hin, Bomben scharf und kei ne Hilfe von der Erde, na dann - Gute Nacht!« Major Borman begann, Houston zu rufen, ohne zu wissen, ob man ihn hören konnte. Egal, er fing an, zu berichten, was hier im Shuttle alles daneben lief, jetzt und hier knapp sechzig Meilen von der Mondoberfläche entfernt. Immer wieder rief er Houston, wischte sich dabei mit seinem Ärmel das Blut vom Gesicht. 677
Tukunavi Seit sie die Toten am Pueblo gesehen hatte, wußte Jimmi Bird, daß Little G. Wing nicht übertrieben hatte, als er um Hilfe rief. Nachdem sowohl der Coroner und das FBI eine Wegbeschreibung zum Tatort erhalten hatten, stiegen Jimmi Bird und Matt wieder auf. Von Little G. Wings Hilferuf hatte sie nichts gesagt. Auf die angeforderten Beamten wollte und konnte sie nicht warten angesichts der Gefahr, in der sich ihr Kollege und seine Freunde befanden. Sie wollte ihnen helfen, nur wo sollte sie suchen? Als sie sich einige Minuten später wieder hoch über der Mesa befanden, wies Matt darauf hin, daß das offizielle Überfliegen dieses ›Heiligen Kultortes‹ aus Rücksicht gegenüber der indianischen Religion vom Governeur schon vor Jahren verboten worden sei, und er sich eigentlich daran halten müßte. »Das ist doch jetzt einerlei«, schrie Jimmi Bird we gen der lauten Rotoren ihren Piloten an. »Ich meinte ja nur«, entschuldigte sich Matt, »ein mal hat man mich schon am Arsch gehabt: als ich damals über den Kachina-Rock in den San Francisco Mountains geflogen bin. Mann, gab das Ärger.« »Kachina-Rock? Sagtest du Kachina-Rock? Mann, das ist es!« Jimmis Gesicht hellte sich auf, »danke, Matt. Little G. Wing erzählte, daß sie einen alten Mann in Sicherheit bringen müßten. Und den nannte er bei läufig Kachina. Die werden dort hingegangen sein. Ganz sicher. Er kennt sicher auch dieses ÜberflugVerbot und wird gerade deshalb zum Kachina-Rock 678
hin unterwegs sein, hoffend, daß das FBI dort keine Hubschrauber einsetzen wird. Aber wir fliegen dahin. Also los und Augen auf.« Daß nicht Little G. Wing, sondern Aknavi, ihr Schützling, den Kachina-Rock als Ziel erwählt hatte, konnte Jimmi Bird natürlich nicht wissen. Obwohl es sie verraten könnte, waren sie gezwun gen, den Suchscheinwerfer einzuschalten, wollten sie die Chance wahren, vor den Gangstern die Flüchtenden zu entdecken. Dann sahen sie etwas Seltsames in eini gen Meilen Entfernung vor sich: ein Lichtstrahl durch brach dort den dunklen Schleier am Himmel, der sich über das ganze Land gelegt hatte, und stieß senkrecht auf eine Art Felsendach hernieder. »Das ist der Platz, ganz sicher, da werden sie hin wollen, wenn sie nicht schon dort sind. Schnell, fliegen wir mal drüberweg und sehen uns das an«, forderte sie Matt auf, »wenn hier irgendwo die jahrhundertealte Ritualstätte der Anazasi und deren Nachfahren, der Hopi, sein soll, dann muß es die Stelle da unten sein.« »Und das Überflugverbot?« fragte Matt. »Egal. Interessiert uns jetzt nicht«, antwortete Jimmi Bird lautstark, »ein Indianer, und guter Kumpel ist in Gefahr und nur das zählt.« Sie verlangsamten ihren Flug und hielten Ausschau nach einem geeigneten Landeplatz. Das erwies sich aber als äußerst schwierig, überall nur Hänge. Und die Plattform der Kultstätte selbst, die unter dem ›Dach‹ hervorschaute, war zu klein. Außerdem entdeckten sie plötzlich Gestalten dort auf dem felsigen Terrain. 679
Einige schlichen gebeugt hin und her, zwei weitere lagen regungslos an der einen Seite unterhalb des Plateaus. Jimmi Bird stutzte: »Verflucht nochmal, die werden doch nicht auch tot sein? Wir müssen irgendwie runter und landen.« Camden / Maine Im entfernten Küstenstädtchen saßen die Millars besorgt vor ihrem Fernsehgerät und verfolgten ge bannt die Dauerberichterstattung über das seltsame Phänomen, das scheinbar alle Indianerstämme des amerikanischen Südwestens befallen hatte. Was aber hatte diese umfassende Trommelhysterie ausgelöst? War es eine neue Geistertanzbewegung, wie jene vor mehr als hundert Jahren, die erst bei Wounded Knee in Süd Dakota ihr tödliches und unrühmliches Ende fand? Oder hatte das Ganze mit dieser meteorologi schen Anomalität zu tun, dem nebligen Schleier, der sich schon vor Stunden wie ein graues Tuch über den gesamten Himmel der Neuenglandstaaten und darüber hinaus gelegt hatte? Ben saß neben Ruth. Er hatte die Hand um ihre Schulter gelegt, denn er wollte seine Frau, der die Berichte der Fernsehreporter Angst machten, beruhi gen. Dabei aber weilte sie in Gedanken woanders, war weit weg bei ihrem zweiten Sohn Ron. Zur Zeit schien er sich genau dort aufzuhalten, wo sich den Fernsehberichten zufolge, der Ausgangspunkt dieser Massentrommelei befand: in Arizona. Die Angst, Ron 680
mitten in diesem Brennpunkt zu wissen, ließ sie nicht los. Ginger hatte für sich und Ruth einen Tee bereitet. Bob saß ebenfalls bei ihnen im Wohnzimmer, zwischen seinen Knien standen seine Krücken, die ihm helfen sollten, wieder das Gehen zu trainieren. Obwohl Anfragen, so die Reporter, aus den ganzen USA an das Weiße Haus gerichtet wurden, ob viel leicht ein Vulkanausbruch für die Verdunkelung des Himmels verantwortlich oder ob irgendwo ein Meteor auf die Erde eingeschlagen sei, die Statements seitens der Regierung waren stets beschwichtigender Art: »Nur eine Laune der Natur«, hieß es. Und das jetzt schon seit Stunden. Ruth wünschte, Ron wäre jetzt auch bei der Familie. Sie hatte die letzten Tage genutzt, gemeinsam mit Ben so einiges ins Reine zu bringen, und auch Ginger fühlte sich durch die leidvollen Umstände mit Bobs Verletzung der Familie wieder näher verbunden. Sie war einfach erwachsener geworden. Der Oberschulabschluß könn te wieder ein Thema für sie sein. Und auch Bob hatte die Zeit genutzt, nachzudenken. Er war gar nicht mehr so abgeneigt, ein Jurastudium zumindest zu versuchen. Aber dafür mußte er erst wieder richtig auf die Beine kommen. Könnte Ron nur hier sein, wünschte sich auch Ben. Wer weiß, was das da draußen am Himmel zu bedeu ten hatte. Die Regierung sagte doch sowieso nicht, was wirklich läuft. Ich hoffe nur, daß Ron und Lisa mit all dem nichts zu tun haben und sich da hinten aus allem 681
raushalten werden, dachte er. Plötzlich läutete das Telefon. »Das ist Ron!« riefen Ruth und Ginger fast gleich zeitig. Das Mädchen sprang auf, rannte zum Telefon und nahm den Hörer in die Hand: »Hey, Ron, bist du das?« Die anderen Familienmitglieder schauten erwar tungsvoll herüber. Ruth war aufgestanden und kam langsam zum Telefon. Dann sahen sie, wie Ginger die Stirn kraus zog, den Hörer vom Ohr nahm, he rüberstarrte und dann ihren Vater anschaute: »Dad, kommst du bitte einmal. Da ist ein Ferngespräch - aus Schweden!« Kachina-Rock In einigen Metern Abstand vom Altartisch hatte sich Ron auf den Boden gesetzt. Tom hatte wieder seinen Posten bezogen und beobachtete die Aufgänge. Die Geschichte von Aknavis letztem Versuch ging Ron nicht aus dem Kopf. Selbst die Erscheinung eines ›Geistes‹ hatte einen Machtbesessen wie Hitler nicht von seinem Tun abhalten können. Der Mensch glaubt nur noch an seine eigene Unfehlbarkeit, und dieser ir rige Glaube wird es auch sein, der die Endlichkeit der menschlichen Rasse auf Erden besiegelt, zu Recht. Plötzlich gab es eine Detonation. Ein greller Blitz folgte und die ganze Szenerie wurde in gleißendes Licht getaucht. Geblendet schlugen Ron und Tom die Hände vor ihre Augen, duckten sich. Kugeln schwirr 682
ten ihnen um die Ohren. Jojo, der bei Aknavi stand, torkelte mit einem Aufschrei einen Schritt nach hinten, dann mit dem einen Gedanken, den Kachina schützen zu müssen, wieder nach vorne, um schließlich schwer verletzt auf den besinnungslosen Kachina zu fallen. Ron warf sich lang auf den Boden, tastete nach dem Revolver in seinem Gürtel. »Verdammt«, fluchte er leise mit schmerzenden Augen, versuchte sich zu ori entieren. Von wo kamen die Kugeln? Noch konnte er nichts erkennen, obwohl die Wirkung der Blendgranate vorbei und wieder der Dämmerung gewichen war. Er hörte, wie zwei weitere Kugeln mit trockenem ›Plopp‹ in Jojos Körper einschlugen. Die zweite Kugel war tödlich. Hätte er nicht auf Aknavi gelegen, so wäre die ser jetzt an seiner Stelle tödlich getroffen. Tom robbte weiter nach vorne, hastete dann seitlich hinter einen der mannshohen Felsen. Dabei verstän digte er sich per Zeichensprache mit Little G. Wing, deutete an, was er vorhatte. Er sprang zu einem tiefer gelegenen Felsbrocken und eilte weiter, vorbei an der Stelle, wo der erstochene Angreifer lag. Er wußte, daß sie es jetzt nur noch mit zwei Gegnern zu tun hatten. Und den, welchen er weiter seitlich vermutete, wollte er sich jetzt greifen. Die Pause zwischen den Schüssen wurde gefüllt vom Klang der tausend Trommeln, geschlagen von ebenso vielen Indianern. Es war wie die Untermalung eines spannenden Kampfes in einem Indianerfilm. Aber sie waren hier nicht in einem Film, es war Wirklichkeit, es war die rituelle Abschiedsbegleitung für einen großen 683
Freund ihrer Rasse. Dann fielen erneut Schüsse, gefolgt vom Pfeifen ei nes Querschlägers. Sie kamen aus dem Abschnitt, wo Tom sich hinbegeben hatte. Little G. Wing lauschte, aber außer den fernen Rythmen der Trommeln und das Rotorengeräusch eines irgendwo hoch über ihnen kreisenden Hubschraubers, war nichts Verdächtiges zu hören. Waren die Verfolger weg? Nach fünf Minuten kehrte Tom zurück, winkte: »Little G. Wing, ich bin es. Ich bin okay. Der Kerl ist erledigt«, rief er von weitem. »Von dir erstochen?« »Nein. Eine seiner Kugeln mußte vom Felsen ab geprallt sein und ihm am Bein dermaßen schwer ver letzt haben, daß er stürzte und einige Meter den Hang hinabstürzte. Der Dreckskerl knallte dann mit dem Nacken gegen eine Steinkante und blieb anschließend regungslos liegen. Sein Genick war wohl gebrochen, da war nichts mehr zu machen. Hier, diese Scheckkarte hatte er bei sich. Doc Mayar steht darauf.« Er reichte sie Little G. Wing, der sie sich besah, mit den Schultern zuckte und sie dann einsteckte. »Und? Wie geht es Aknavi?« wollte Tom wissen. Little G. Wing, der während Toms Abwesenheit wie ein Luchs das Terrain gesichert hatte, deutete beunru higt auf den Kachina: »Nicht so gut, glaub’ ich, komm, sehen wir nach ihm.« Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd, überwanden sie die zwei Höhenmeter, eilten an den steinernen Tisch, 684
auf dem nun ein junger Hopi tot über einem, um viele hundert Jahre älteren Mann lag. Fassungslos stand Ron vor dem Altartisch, sah auf den regungslosen Jojo. Einige Schritte entfernt stieß Little G. Wing Tom an: »Du hast den Hopi getötet, der bei den Wupatki Ruins gefunden wurde, stimmt’s?« Tom reagierte nicht, obwohl er die Frage gehört hat te. »Es paßt alles zusammen«, fuhr Little G. Wing fort, »die nadelgroßen Einstiche, so gekonnt plaziert, wie es nur einer mit genügend medizinischen Kenntnissen durchführen könnte. Und du hast Medizin studiert. Das Motiv wurde mir in den letzten Tagen mehr als klar. Es ging um den Diebstahl der alten Kachina-Puppen, ein Frevel, nicht wahr, Tom?« »Nein, es ging nicht um die Puppen, obwohl sie da für auch hätten bestraft werden müssen«, antwortete Tom voller Ruhe, »aber er wollte eine unserer heiligen Steintafeln verkaufen, und er wollte das Geheimnis um Aknavi und damit auch sein Versteck preisgeben, für harte Dollars. Eine wahre Touristenflut hätte das heraufbeschworen. Dann wären TV-Teams angerückt, schließlich Wissenschaftler, die hätten überprüfen wol len, was dran war am uralten Kachina-Mann, Man hätte ihn mitgenommen, ausgemessen, gewogen, untersucht, hätte mit allen Mitteln versucht, zu erfahren, wie man so alt werden konnte. Das wäre mit absoluter Sicherheit der vorzeitige Tod von Aknavi gewesen. Und das durf te der Powamu-Bund, unser religiöser Rat, nicht zulas sen. Wir mußten den Kachina beschützen.« 685
»Und darum mußte der andere Hopi auch sterben?« Tom schaute ihn an, lächelte bitter und sagte ange sichts der Endzeitstimmung nicht ohne Stolz: »Es sind in den Jahrhunderten viele getötet worden, sehr viele, die nicht begreifen wollten, daß es ›Heilige Stätten‹ gibt, daß Dinge und Personen existieren, die unange tastet bleiben müssen. Wir Hopi, die Wächter der Erde, haben dafür gesorgt, daß der Fluch, der auf den NimanKachinas lastete, nicht zum Fluch für die Menschheit wurde, bis jetzt jedenfalls.« Dann deutete er auf Aknavi: »Im Augenblick sieht es aber so aus, und alle Anzeichen sprechen dafür, daß er seine Ablösung nicht mehr erleben wird. Wenn sich der Mond erst rot färbt, ist es zu spät, dann ist die Prophezeiung fast abge schlossen. Na gut, dann muß es eben so sein. Verhafte mich doch, wenn du willst?« »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, seufzte Little G. Wing, stand dann auf und ging wortlos zu Ron, der da mit beschäftigt war, den tödlich getroffenen Jojo ganz vorsichtig von Aknavi herunterzuheben. Der Kachina war voll Blut, seinem und dem seines Getreuen. Sein Puls wurde immer schwächer, und kaum noch war sein Atem zu vernehmen. »Immer nur diese unaufhörliche Trommelei«, brummte Tom fasziniert wie auch verärgert. Er wußte, daß ein gefährlicher Gegner immer noch im Dunkeln auf seine Chance lauerte. »Dieses ununterbrochene ›Bumbum‹ irritiert mich total. Dazu noch dieser ›un sichtbare‹ Hubschrauber. Ich hoffe, der gehört nicht auch noch zu den Verfolgern.« Tom war kurz zu Ron 686
und Little G. Wing geeilt. »Aber was willst du denn hier?« fragte der Navajo, »jemand muß doch den Hang im Auge behalten?« »Ich werde hochsteigen aufs Dach. Von dort aus kann ich den Hang vielleicht besser übersehen und euch rechtzeitig warnen«, antwortete Tom, und schon war er im dämmrigen Licht verschwunden. Rutschendes Geröll bezeugte seinen Aufstieg. Plötzlich horchte Ron auf, war wie elektrisiert. Er traute seinen Ohren nicht: ganz deutlich hörte er seinen Namen rufen. Es war Lisas Stimme. »Lisa«, rief er erschrocken, »Lisa, wo bist du?« Keine Antwort. »Sie, sie kann nicht weit sein«, stotterte er völlig aufgeregt zu Little G. Wing, »ich muß sie suchen, un bedingt suchen.« »Warte, hey Ron, warte, ich gehe«, widersprach Little G. Wing, »hör’ zu, ich kenne mich in solchem Gelände besser aus. Bleib’ du beim Kachina. Paß’ auf ihn und auf dich auf. Hast du eine Waffe?« »Sicher, hier meinen Remington Colt, voll gela den.« »Okay, ich schau, wo Lisa steckt, und dann bring’ ich sie dir. Versprochen.« Erneut überflogen J. B. und Matt den Kultplatz. Das kurz aufleuchtende Licht der Blendgranate hatte sie hergelockt. Sie flogen jetzt in extrem niedriger Höhe, um besser sehen zu können. Aber es war wegen der Felsvorsprünge auch gefährlich. 687
»Es ist wie verhext, nirgends hier können wir run ter!« Jimmi Bird wäre am liebsten abgesprungen, denn einen von denen da unten hatte sie dennoch sofort erkannt: Little G. Wing, ihren Kollegen. Sie sah, wie er gerade dabei war, vorsichtig bergabwärts zu schlei chen. »Vielleicht können wir weiter oberhalb des Natur daches eine Landemöglichkeit entdecken«, meinte Matt. Hoffnung hatte er aber genauso wenig wie die Indianerpolizistin an seiner Seite. Ihre Suchscheinwerfer tasteten das Gelände ab. Da erfaßte der Lichtkegel das steinerne Dach mit der run den Öffnung. Jimmi Bird stieß den Piloten an, deutete nach unten: »Da, ein Mann auf dem Felsendach, sieh doch, am Rand der dachähnlichen Plattform. Er scheint nach unten zu schauen. Moment, da ist ja noch jemand auf dem Dach. Hey, schau’, der geht auf den anderen los.« Entsetzt mußten sie zusehen, wie der Angegriffene unter den Hieben eines Gewehrkolbens zusammen brach und besinnungslos liegenblieb. Bird schaltete sofort den Lautsprecher ein: »Ach tung, hier spricht die Navajo Tribal Police. Der alte und kranke Mann, der sich in der Gruppe befindet, darf auf keinen Fall getötet werden, ich wiederhole, auf keinen Fall getötet werden. Es gibt für alle Beteiligten nichts Wichtigeres, als daß der Alte am Leben bleibt. Hören Sie da unten, auch Sie auf dem Dach, der alte Mann muß unter allen Umständen am Leben bleiben. Haben Sie verstanden?« 688
Mit einem lauten Knall zerbarst in diesem Augenblick der Scheinwerfer unter einsetzendem Gewehrfeuer. Matt reagierte instinktiv, zog den Helicopter nach oben und drehte ab. Auch Jimmi saß der Schreck in den Gliedern. Außer Reichweite der Gewehrkugeln stellten sie nach einem ersten Check fest, daß die Maschine noch zweimal getroffen worden war. Aber zum Glück gab es keine ernsten Beschädigungen. Bei Gott, die da oben könnten wir gut gebrauchen, dachte Ron, als er Jimmi Birds Stimme durch den Lautsprecher hörte. Die Schüsse jedoch konnte er wegen des Rotoren geräuschs nicht als solche erkennen, und unter dem Felsendach stehend bekam er auch das Verlöschen der Scheinwerfer nicht mit. Daß ein Mann dort oben auf dem Dach von dem Piloten angesprochen wurde, be unruhigte ihn nicht weiter. Er wußte ja, daß Tom dort hinauf wollte. Während er Aknavi auf dem steinernen Tisch betrachtete, die blutverschmierte Kette mit ›ihrem Zeichen‹ um seinen Hals sah, mußte er an Lisa denken. Hoffentlich findet Little G. Wing sein Mädchen. Nur, wie hatte Lisa überhaupt hierhergefunden? Wer hatte sie befreit aus den Händen der Entführer? Dreihundert Meter weiter unten am rechten Teil des Felsens, dort wo normalerweise keine Fahrzeuge mehr fahren konnten, entdeckte Little G. Wing hinter einer riesigen Saguaro die Umrisse eines dunklen Rovers. Vorsichtig schlich er näher. 689
Er war sich sicher, daß man ihn nicht hören würde beim Geräuschpegel der dröhnenden Trommeln. Als er geduckt heranschlich entdeckte er die Silhouette einer Frau. War sie eine Indianerin? Die fransenbesetzte Jacke und der lange Rock ließen die Vermutung zu. Sie schien nicht freiwillig hier zu stehen, denn ständig schaute sie nervös um sich. Little G. Wing wurde arg wöhnisch. Etwas stimmte hier nicht. Warum ging die Frau keinen Schritt vom Fahrzeug weg, und warum hielt sie ihre Hände so seltsam in die Höhe? »Damned«, raunte er leise, »ist sie an die Wagentür gefesselt?« Er hatte plötzlich eine Ahnung und - sie wurde be stätigt. Das war Lisa, und sie schien hier alleine zu rückgelassen worden zu sein, zurückgelassen von ihren Entführern? Konnte das sein? Er kam aus seiner Deckung, lief mit gezogenem Revolver direkt auf sie zu. In diesem Augenblick sah auch Lisa den Navajo, schrie ihn an, er solle aufpassen, es könnte eine Falle sein. Er war aber schon bei ihr, zerrte an den Handschellen: »Lisa, bist du okay?« »Ich glaube, einer der beiden Kidnapper ist noch in der Nähe«, wollte sie ihn warnen, »paß’ auf, sonst ha ben sie dich gleich auch noch? Vielleicht rechnen sie ja damit, daß jemand herkommt?« »Genau«, zischte plötzlich eine Stimme unmittelbar hinter ihnen, »du hättest besser die Gegend durchkäm men sollen, Rothaut - Waffe weg und Hände hoch!« Oh nein, schoß es Little G. Wing durch den Kopf, wieso habe ich den denn nicht bemerkt? Er drehte sich 690
langsam mit angehobenen Händen herum und sah di rekt in den Lauf eines Gewehres. Dann ließ er seine Waffe zu Boden fallen. Ken Brocker grinste zufrieden. Sein guter Anzug hatte durch Staub und Strauchwerk schon arg gelit ten. Er stand nun direkt vor Little G. Wing und grinste immer noch: »Und jetzt keine Dummheiten machen, Geronimo«, drohte er, griff in seine Jackentasche, holte einen kleinen Schlüssel heraus und warf ihn Little G. Wing vor die Füße: »Aufheben und aufschließen, los«, befahl er und deutete mit dem Lauf seines automati schen Gewehres auf Lisas Handschellen. »Ich bin ein Navajo, Geronimo war ein Apache, du Weißhaut«, schickte Little G. Wing verächtlich zu rück. »Ist mir auch recht. Jedenfalls gehen wir jetzt ge meinsam den Berg hinauf, und keine Faxen, NavajoBulle, wenn ich bitten darf.« Little G. Wing befreite Lisa von den Handschellen und dann setzten sie sich in Bewegung. So angestrengt Ron auch lauschte, Lisas Rufen war verstummt. Verflixt, dachte er, ist das jetzt ein gutes Zeichen oder nicht? Er ging mit dem alten Colt seines Ururgroßvaters, den er seit der Blendgranaten-Attacke in der Hand hielt, zurück zum Kachina, der auf dem Altartisch lag, als schliefe er. Unter dem Dachgewölbe war es noch um einiges dunkler als außerhalb. Nur ein schwaches durch die Öffnung hereinfallendes Licht legte sich 691
über Gesicht und Oberkörper des Kachina, wurde auf einmal intensiver, als hätte jemand einen Spot auf den alten Mann gerichtet. Ron schaute instinktiv nach oben, wollte die Lichtquelle ausmachen und sah zu seinem Entsetzen, wie der Lauf eines Gewehres direkt auf Aknavis Kopf gerichtet war. Noch bevor er seinen Remington hochreißen und feuern konnte, krachte der Schuß. Mit dumpfem Laut drang das Metall in die Brust des alten Mannes ein und traf das Herz, das in diesem Moment, nach über 1196 Jahren, aufhörte zu schlagen. Im gleichen Augenblick durchzuckte ein gigantischer Blitz den gesamten Himmel, erhellte für Bruchteile von Sekunden das ganze Areal. Ein Beben begann und er schütterte den Kachina-Rock. Dann veränderte sich das Beben, ging über in eine Art Vibration. Ron konnte sich schon beim ersten Erdruck nicht mehr auf den Beinen halten, stürzte und schlug mit dem Kopf hart auf den Boden. Sein Colt flog im hohen Bogen davon, landete irgendwo zwischen dem Gestänge der Trage aus dem Polizeiwagen. Auch der Todesschütze über ihm verlor die Balance. Beim Versuch, sich zu halten, glitt ihm das Gewehr aus den Händen und schlug aufs Dach auf, während er selbst kopfüber durch die Öffnung in die Tiefe fiel, direkt auf sein Opfer. Und von dort, mit dem Kopf voran, auf den felsigen Boden. Beide Männer lagen nun keine acht Meter auseinan der, waren durch den Sturz besinnungslos geworden. Zwischen den beiden rutschte die metallische Trage durch die ständigen Vibrationen hin und her. Kleinere 692
Felssteine bröckelten aus dem Dach, fielen herunter und rollten über den Boden. Die Arme, die man Aknavi gekreuzt auf die Brust gelegt hatte, fielen zur Seite. Der helle Strahl, der durch die Felsendach-Öffnung den Kachina anstrahlte, schimmerte jetzt intensiver, begann Farbe anzunehmen und tauchte die ganze Szenerie in eine eigenartige Atmosphäre. Als der Schuß fiel, der grelle Blitz den Himmel durchschnitt und der Berg den ersten Ruck machte, re agierte Little G. Wing sofort, sprang geistesgegenwär tig auf Brocker zu, gerade als dieser die Balance verlor und strauchelte. Mit einem gezielten Faustschlag ans Kinn streckte er ihn nieder. Brocker rappelte sich wie der hoch, wollte das Gewehr anlegen, doch schon trat ihm der Navajo mit einem gekonnten Kick die Waffe aus den Händen. Das Gewehr schlug auf den Boden und polterte einige Meter den Hang hinunter. Nun entbrannte ein erbitterter Kampf zweier ungleicher Gegner auf dem wankenden Boden. Brocker war klei ner als Little G. Wing und wirkte kräftiger, aber der Indianerpolizist war flinker und wußte seine erlernten Kampfsporttechniken perfekt einzusetzen. Als er mit einem schnellen Tritt den Gangster erneut zu Boden geschickt hatte, zog dieser plötzlich eine unter dem Hosenbein versteckt getragene Pistole hervor, und wollte zum tödlichen Schuß auf Little G. Wing anset zen. Reaktionsschnell riß Little G. Wing seinen Fuß hoch und kickte den Arm seines Widersachers mitsamt 693
der Pistole zur Seite. Ein Schuß krachte ohrenbetäu bend an seinem Kopf vorbei. Ein zweiter, fürchterli cher Tritt in den Bauch, und Brocker sackte stöhnend zusammen, krümmte sich vor Schmerzen. »Der hat genug, Lisa«, keuchte Little G. Wing, und während er sich den Staub aus der Kleidung klopfte und sich nach ihr umsah, fand er sie auf dem Boden liegend. Sie bewegte sich nicht. Er sprang hinzu, beugte sich zu ihr nieder: »Oh, nein«, fluchte er laut heraus, »nur das nicht!« Die Kugel des Gangsters, die Little G. Wing verfehlt hatte, war in ihre rechte Schulterpartie eingedrungen. Ohnmächtig lag sie vor ihm. Die Wildlederjacke zeigte deutlich das Einschußloch und Blut quoll daraus her vor. Vorsichtig öffnete er ihre Jacke, dann die indiani sche Bluse. Das Wikinger-T-Shirt kam zum Vorschein, war wie die Bluse ebenfalls schon voller Blut. Er rede te auf sie ein, sprach mit ihr, schüttelte vorsichtig ihren Kopf, aber sie reagierte nicht. Immer nasser wurde das T-Shirt an der rechten Brustseite. Little G. Wing sprang auf, lief zum stöhnenden Gangster, drehte ihn auf den Bauch, bog seine Arme auf den Rücken und fesselte ihn mit den Handschellen, die er Lisa hatte abnehmen müssen. Anschließend zog er Brocker auf die Beine, schleppte ihn die zwanzig Meter zurück zum Rover und setzte ihn hinein. Mit einem gekonnten Kinnhaken schickte Little G. Wing ihn erstmal ins Land der Träume. Wenn er wieder zu sich käme, überlegte Little G. Wing, fände er sich ans Lenkrad gefesselt, würde 694
die Wagenschlüssel vermissen und dann einsehen müs sen, daß abhauen einfach nicht möglich war. Wieder eilte Little G. Wing zu Lisa, schaute nach ih rer Wunde. Er riß ein Stück aus seinem Hemd und stopf te es unter das T-Shirt, genau auf die Schußverletzung, preßte dann seine Hand auf den sich schnell mit Blut durchtränkenden Stoffetzen. Sie blutete so stark, was sollte er tun? Lisa mit dem Rover in die Klinik fahren oder sie nach oben bringen, zu Ron? Er entschied sich für Ron. Sollte heute tatsächlich hier für alle das letzte Stündlein geschlagen haben, sollten die beiden wenigs tens zusammen sein. Er warf den Autoschlüssel weg, nahm dann Lisa auf den Arm und stieg langsam die Anhöhe zum Kultplatz hinauf. Um den Gangster würde er sich später küm mern, wenn er noch dazu käme. Lisa nach oben zu schaffen, war jetzt das Wichtigste. Als er sich dem Platz bis auf hundert Meter genä hert hatte, mußte er kurz verschnaufen, setzte sich mit Lisa im Arm auf einen Felsen. Er drückte die junge Frau ganz fest an sich, redete immer wieder auf sie ein: »Halte durch, Lisa, bitte, halte durch.« Er schaute hoch, prüfte den Weg, den er noch zu bewältigen hatte. Und erst jetzt fiel ihm auf, daß der ganze Kachina-Rock sich mehr und mehr in ein rötliches Licht einzuhüllen begann. Und immer noch war ein leichtes Vibrieren im Boden zu spüren, und die Trommeln schienen von Minute zu Minute lauter zu werden.
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Houston / Texas ›Operation Nightlight‹ war endgültig gescheitert. Prof. Brauner wußte es. Und auch Walshs Gesicht verriet Hoffnungslosigkeit. Dennoch versuchten die Techniker und Ingenieure weiterhin verzweifelt, eine Verbindung zur Shuttle herzustellen, um auch ihrerseits den Jungs da oben Anweisungen geben zu können. Eine Videoübertragung aus dem Shuttle war nicht mehr möglich, allein die schwache Stimme von Commander Borman konnten sie über die große Lautsprecheranlage hören. Harris, Colonel Grant und Walsh, der auf Bormans Wunsch, ins Control Center gelassen worden war, stan den wie erstarrt nebeneinander und lauschten mit ver steinerten Mienen den emotionsgeladenen Berichten des jungen Shuttle-Piloten, immer wieder gestört von sekundenlangen Funkausfällen. Die Übermittlungen wurden von Mal zu Mal undeutlicher: »Houston, hier EARTHHOPE, Commander Borman. Können sie mich hören - Houston, hier spricht der Commander. Alle unsere Computersysteme schal ten sich aus unerfindlichen Gründen nacheinander ab. Es sieht fast so aus, als würden sie von außerhalb heruntergefahren. Vor zwei Minuten hat es auch die Lebenserhaltungssysteme erwischt, sieht verdammt schlecht aus hier oben. Und langsam spielen auch die Männer verrückt. Hey, Colonel Grant, wenn sie von da unten aus Zugriff auf die verdammten Atomwaffen ha ben, dann stoppen sie den Countdown-Zeitmechanismus endlich, denn immer noch zählt er zurück. Ihr Captain 696
Brue hier an Bord sagt, daß die Militärs vom Boden aus die Sprengkontrolle hätten, also los, setzen sie den Mechanismus aus, denn an den Mond kommen wir nicht mehr heran und zur Rückseite schon gar nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich die Männer überhaupt wieder zur Erde bringen kann, aber ich werde alles ver suchen. Die Bomben mit Hilfe unseres Krans aus dem Frachtraum in den Orbit wegzuschleudern ist fehlge schlagen, denn plötzlich blockierte die Steuerung des Krans und auch das Öffnen des Frachtraumes klappte nur zur Hälfte... Kurze Funkstörung... Ja toll. In diesem Moment versagt die Stabilisierungs-Steuerung. Das Schiff fängt langsam an zu trudeln. Neben mir befin det sich Captain Brue. Er wird bestätigen, daß wir hier festhängen und im Augenblick nicht in der Lage sind, irgend etwas zu unternehmen.« Harris drehte sich empört zu Grant, schrie ihn an: »Los, stellen sie den Zündmechanismus ab. Wollen sie die Jungs etwa opfern? Das sind feine junge Amerikaner, Patrioten, die sich für diese Mission ge meldet haben, um Ihnen und mir den Arsch zu retten. Und jetzt lassen Sie sich etwas einfallen. Holen Sie die Männer da raus, Mann!« Colonel Grant verzog keine Miene, grübelte nach Lösungen, fand aber keine. Er wußte, daß eine zweite Shuttle nicht zur Verfügung stand. Walsh war fassungslos, starrte auf die Lautsprecher, hörte die Stimme von Chris, dachte daran, wieso er ihn nicht zurückgehalten hatte von dieser Mission. Er blickte auf Grant und Harris, wie auch die ganze übrige 697
Crew im Kontrollraum. »Oh, mein Gott, der Shuttle wird in Millionen Stücke zerrissen, schalten Sie ab, Sie verfluchter Mistkerl«, Harris packte den Colonel am Kragen, schüttelte ihn, »schalten Sie ab!« »Ich kann ihn nicht abschalten«, schrie dieser in sei ner Bedrängnis, »Mann, ich kann den Zeitmechanismus nicht abschalten, weil ich ihn nicht eingeschaltet habe.« »Was reden Sie da? Wieso läuft die Zeit dann ab?« »Ich weiß es nicht«, Grant riß sich von Harris los, dann zeigte er den roten Schlüssel, den er an einer Kette um den Hals trug. »Hier, sehen Sie, das hier ist mein Schlüssel, mit dem ich die Explosion auslösen kann, aber nur, wenn ich diesen in die rote Schalteinrichtung dort drüben auf der ›Command-Console‹ stecke und gleichzeitig Captain Brue seinen Gegenschlüssel in die entspre chende Vorrichtung an den Waffen an Bord der Shuttle einführt. Ein Schlüssel allein richtet überhaupt nichts aus. Und wie Sie gehört haben, hat der Captain die Waffen dort oben nicht mal berühren können.« Mit aufgerissenen Augen blickte Harris von dem roten Schlüssel hinüber zur dunklen Videowand, ließ Grant mit seinem Schlüssel stehen: »Dann sind die Jungs verloren. Das bedeutet, SIE haben mit unserem Angriff gerechnet und die Mission lahmgelegt. Nein, schlimmer, sie haben unsere Vernichtungswaffen ge gen unsere eigenen Leute eingesetzt, wie furchtbar.« Wieder klangen Wortfetzen von Commander Bor 698
man aus dem Lautsprecher: »Houston, Houston sehen Sie das? Sehen Sie dort den Mond. Oh, mein Gott, da löst sich eine Wolke aus dem Dunkel der Mondrückseite, verläßt jetzt den Umlaufbereich des Mondes. Ich glaube fast, die Wolke steuert, ja, ich sagte, sie steuert mit zunehmender Geschwindigkeit auf die Erde zu. Sie ist so gigantisch groß und phantastisch rot. Ihr müßtet sie doch sehen? Und schaltet endlich die Bombe aus, es ist eh zu spät, sie jetzt noch einzusetzen. Los, verdammt, sie zeigt nur noch drei Minuten an.« Auf Harris’ Fingerzeig holte der zuständige Operator die Teleskoperfassung des Mondes auf die bis dahin schwarze Videowand. Ein Raunen ging durch den Kontrollraum. Was sie dort vor sich sahen, war ein Mond in leuchtendem Rot. Die von Borman erwähnte Wolke befand sich demnach zwischen Mond und Erde, war tatsächlich auf den Weg hierher. »Was ist das?« fragte Harris, »Professor Brauner, verflucht, was hat das zu bedeuten?« Prof. Brauner trat zu den drei Männern. Er hatte die ganze Zeit in einer Ecke gestanden, war in sich gekehrt, wußte gleich, daß sie hier unten nichts mehr tun konn ten: »Ich denke, so eine Art Solarer Flair, eine elektro magnetische gasförmige Wolke. Sie wissen schon, so etwas Ähnliches, was auch die Sonne von sich schleu dert, diese hier kommt nur halt vom Mond.« »Und das ist normal?« Brauner lachte: »Normal, Mr. Harris, ist das ganz be stimmt nicht. Und schon gar nicht, daß so eine Wolke 699
gesteuert zu werden scheint.« »Der Mond verfärbt sich rot, wenn das Ende ge kommen ist, so steht es schon in der Offenbarung des Johannes«, flüsterte Walsh voller Ironie, »wir haben es also tatsächlich geschafft, uns selbst zu vernichten. Was für Idioten wir doch sind!« Dann meldete einer der Controller, daß die Verbindung zur Shuttle endgültig abgebrochen sei. Carson Peak Observatorium / Arizona Die Mitarbeiter des Observatoriums waren nach draußen geeilt. Völlig fassungslos standen sie vor der großen Kugel, die ihr Teleskop beherbergte und starr ten in nördliche Richtung gen Himmel. Ein rötlicher Mond war jetzt wieder deutlicher durch den scheinbar sich auflösenden Grauschleier zu erkennen. Auch sie vernahmen die unheimlichen Trommeln, die aus allen Tälern des Landes zu einem gemeinsamen Todeslied aufzuspielen schienen. Beim Anblick des blutroten Mondes fielen einige der Umstehenden auf die Knie, begannen zu beten. Andere rannten zu ihren Autos, wollten zu ihren Familien, glaubten, es durch das wahr scheinliche Chaos auf den Straßen zu schaffen. Aus mitgeführten Radios hörte man von Flugzeugabstürzen überall im Lande. Und immer noch hüllten sich die of fiziellen Stellen in Schweigen. In einigen Staaten mo bilisierten die Gouverneure die Nationalgarde. Erste Ausschreitungen, Massenhysterie, Plünderungen und Panikverhalten wegen der unbekannten Bedrohung wurden aus vielen Teilen der USA aber auch aus 700
Europa und Fernost gemeldet. Die wildesten Gerüchte und Theorien machten die Runde. Oraibi / Hopi-Reservat Auf dem Dorfplatz von Oraibi drängten sich die Menschen. Alle Bewohner waren hierher gekommen, auch die Kleinsten, die Alten und Gebrechlichen. In mehreren Kreisen saßen die Hopi auf dem Boden, sangen zum rhythmischen Klang ihrer Instrumente. Unter den Leuten, die einen der Kreise bildeten, befan den sich auch Curt Wesley und Nicole Samisse. Joan Besavaya und Dan Datchongvi, der sie vom Treffen mit dem Präsidenten wiedererkannt hatte, waren auf sie zugekommen, als sie irritiert am Dorfrand standen und nicht wußten, ob sie willkommen waren. Die bei den aus dem Ältestenrat nahmen sie mit zum Platz des großen Endrituals. Alle Versammelten hielten sich an den Händen. Nicole spürte die Kraft der Verbundenheit durch sich hindurchströmen. Angst hatte sie keine mehr. Eine akzeptierende Gelassenheit und Traurigkeit nahm dagegen Besitz von ihr und auch von Curt. Mehr als zwanzig solcher Kreise in unterschiedli chen Größen waren allein in diesem Dorf eng beieinan der gebildet worden. Viele assimilierte Stammesbrüder und Stammesschwestern hatten sich in den letzten Stunden wieder ihrer Wurzeln erinnert, waren mit ih ren Familien hier heraufgekommen ins Herzland des Hopi-Stammes. Während die Indianer im Kreis alte Gesänge anstimmten, saßen im Zentrum die Trommler und Rasselschläger, sorgten für eine endzeitliche, mys 701
tische Stimmung. Über ihren Köpfen begann sich das Firmament langsam rötlich zu färben. Immer wieder schauten sie in Richtung der San Francisco Mountains, sahen den leuchtenden, orangefarbenen Strahl, der aus der unend lichen Höhe des Himmels senkrecht auf den KachinaRock traf, scheinbar genau dort, wo sich der Kultplatz ihrer alten Vorfahren, der Anazasi, befand. Dan Danchongvi, der wie Besavaya seine traditio nellen Kleider als Mitglied des Powamu-Bundes an gelegt hatte, beugte sich zu Curt und Nicole herüber: »Unser Lehrer und Wächter der Erde hat es nicht mehr geschafft. Die Menschen haben es nicht geschafft. Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Nicole drückte sich fest an Curt, und sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Camden / Maine In Camden füllten die Leute ebenfalls überall Straßen und Plätze. Eltern trugen ihre kleinen Kinder auf den Armen. Junge und alte Paare standen eng um schlungen. Daß es kalt war und hoher Schnee lag, inte ressierte niemanden mehr. Furcht hatten sie, Furcht vor dem Unbekannten und Furcht vor dem Phänomen des rötlichen Scheins am Himmel. Die Reflektion durch den Schnee verstärkte die Farbe, hüllte sie alle ein. Warum sagt uns niemand, was hier auf der Erde vor geht. Was steht uns bevor, war die Frage der Fragen. Bis zuletzt hatten sich Präsident, Regierung und die meteorologischen Institute in Schweigen gehüllt. 702
Auch die Millars waren nach draußen gegangen, stan den im Vorgarten unter ihren mächtigen Ahornbäumen und schauten die Straße hinunter. Der Schneefall hatte aufgehört, und es war seltsam windstill. Ben hielt Ruth im Arm. Ginger war mit Bob einige Schritte nach vorne gegangen. Plötzlich hatte Bob die Krücken achtlos zur Seite geworfen und sich auf seine jüngere Schwester gestützt. Sie blickte ihn an, lächelte kurz und nickte dann zustimmend. Erste aufkommende Windböen ließen den Schnee pulverig von den Ästen der großen Bäume herabrie seln. Ein ganz feines, hohes Pfeifen war zu vernehmen. Es schien irgendwie von überall herzukommen. Ben und Ruth gingen die wenigen Meter nach vorne zu ih ren Kindern, nahmen sie an die Hand, als wollten sie sie beschützen. Und sie alle hatten große Furcht. Washington D. C. Im Weißen Haus stand der Präsident am Fenster sei nes Arbeitszimmers und blickte voller innerer Unruhe hinaus. Während draußen auf der Straße der Mob tobte, umgab ihn hier in seinem Amtssitz eine beinahe un heimliche Stille. Alle Mitarbeiter waren nach Hause geschickt wor den. Er seufzte tief, dachte er doch an seine Familie, die er nicht mehr erreichen konnte. Denn sie weilte auf Hawaii wie jedes Jahr um diese Jahreszeit. Und die Air Force One würde angesichts der weltweit zum Absturz 703
verurteilten Maschinen auch nicht mehr in die Luft ge hen können. Wahrscheinlich waren auch keine Piloten mehr zu erreichen. Im Gegensatz zu seinem Volk wußte er sehr wohl, was dieses rötliche Licht zu bedeuten hatte. Aber was hätte er den Menschen denn sagen sollen? Die Wahrheit? Und was hätte es genutzt? Gar nichts. Er mußte erkennen, wie überheblich und arrogant viele seiner Vorgänger, wie auch die Regierungen vieler anderer Länder, aber vielleicht auch er selbst, den Warnungen der Hopi-Delegationen entgegengetreten waren. Sie wollten deren Prophezeiungen einfach nicht ernst nehmen. Die Indianer wußten immer, daß der LETZTE TAG kommen würde, sie hatten es oft genug gesagt, aber niemand hatte ihnen zuhören wollen. Die Menschen waren immer nur sich selbst wichtig gewe sen. Die Quittung dafür wurde jetzt präsentiert! Er setzte sich an seinen Schreibtisch, schaute kurz auf, sah die verwaisten Kameras, die vor ihm aufge baut worden waren, und die heute doch nicht mehr zum Einsatz kommen würden. Dann faltete er die Hände und begann zu beten. Winslow / Arizona Trucker George saß an einem Ecktisch im Speiseraum seines Motels und spielte mit dem leeren Glas in sei ner Hand. Er hatte in den letzten Tagen genug mitbe kommen von dieser ganzen Hopi-Unruhe und dem Ärger im Navajo-Reservat. Und scheinbar war nun etwas fürchterlich aus den Fugen geraten. Er füllte 704
sein Glas und setzte seinen vierten Arizona-Tequila an die Lippen. Nach einem kräftigen Schluck hielt er dann das Glas in die Höhe: »Ron, Lisa, Clausseé, al ter ›Knochensammler‹, wo ihr auch steckt, haltet die Ohren steif, ich trinke auf euch, Cheers.« Schon nach dem zweiten Glas hatten ihn die nötigen Zutaten und Rituale, die zu einem Original ArizonaTequila gehörten, nicht mehr interessiert. Ab da kippte er die Spezialität pur hinunter. Er streichelte Texas, sei nen neuen Gefährten, derweil er durchs große Fenster nach Nordwesten schaute und die seltsame orangefar bene Lichtsäule beobachtete. Er ergriff sein Glas und dann schlenderte er, schon etwas weich in den Knien, nach draußen, tauchte ein in das allgegenwärtige rote Licht. Kein Truck stand mehr auf dem Platz vor dem Motel. Sein gesamtes Personal war fort. »Verfluchte Trommler«, lallte er, »ihr nervt wirk lich.« Als sein Blick von der Lichtsäule zum Mond hinüberschwenkte, zuckte er zusammen. »Wouw, was war das denn?« brummelte er. Vor dem Mond hatte eine gigantische Explosion den roten, sei dig scheinenden Vorhang aufgerissen. »Wouw«, mur melte TG abermals, »hast du das gesehen, Texas? Da ist irgend etwas fürchterlich in die Luft geflogen. Was meinst du, vielleicht ein Satellit, oder was?« Kachina-Rock Langsam erwachte Ron aus seiner Besinnungslosig keit. Sein Schädel brummte, und er spürte einen hefti 705
gen Druck auf der Brust. Als er die Augen öffnete war ihm, als würde der Druck noch zunehmen. Er lag auf dem Rücken, spürte den felsigen Boden unter sich. Er hatte das Gefühl, als könne er sich nicht rühren. Irgend etwas hielt ihn unten. Als sein Blick klarer wurde, sah er den Grund, weshalb er sich nicht aufrichten konnte: ein großer Mann stand über ihm und hatte einen Fuß auf seine Brust gesetzt. Der Absatz des Stiefels bohr te sich förmlich in die Rippen und erzeugte heftige Schmerzen. War es schon geschehen? zuckte es Ron durch den Kopf, waren alle, auch er, schon tot? War er schon auf der anderen Seite? Alles war so orange. Hatte nicht die Erde gebebt? Oh, dieses grelle Orange, was für eine surreale Atmosphäre. »Ich glaub’, ich seh’ nicht recht. Hey, ich kann’s nicht fassen«, fistelte eine Stimme von oben herab, »lebt der Kerl denn immer noch? Und ich dachte, ich hätte ihn mir bereits in Camden vom Hals geschafft.« Das ist doch der Zopf-Typ, begriff Ron mit einem Mal, oh Gott, der Kerl aus dem Zug. Ihm wurde blitz schnell klar, daß er noch nicht im Jenseits war, sondern sich immer noch auf dem Ritualplatz der Hopi befand. Aber wo waren die anderen geblieben: Little G. Wing und Tom? »Hey, du hast doch wirklich Pech, findest du nicht? Dauernd läufst du mir über den Weg. Das finde ich richtig tragisch, für dich!« grinste der Gangster, »denn was im Wald und vor dem Restaurant wohl nicht richtig gelingen wollte, werde ich jetzt hier zu Ende bringen. 706
Es tut auch kaum weh. Na, komm schon, halte still!« »Wir sind jetzt alle dran, auch du, du Mistkerl«, stöhnte Ron unter dem Druck des Stiefels. »Das werden wir ja sehen«, lachte Hawk und woll te gerade mit einem schnellen, gezielten Tritt den Kehlkopf seines Widersachers zerquetschen, als ein Stück Felsgestein aus dem ›Dach‹ direkt neben ihm zu Boden krachte. Hawk erschrak, strauchelte nach hin ten. Ron nutzte die Gelegenheit, um sich blitzschnell seitlich zur Trage hin wegzurollen. Dabei sah er den Colt zwischen dem Gestänge liegen, griff ihn, richtete sich behende auf und hielt Hawk die geladene Waffe mit beiden Händen entgegen. Er stand kaum sechs Meter von ihm entfernt und spürte, wie seine Hände vor Aufregung zitterten. Hawk war die Ruhe selbst. Er schien nicht einmal beeindruckt von dem alten Westerncolt, der auf ihn ge richtet war, griff in aller Ruhe in seine Innentasche und holte ein Stilett mit extrem schmaler Klinge hervor. »Ich glaube nicht, daß du mich mit dem alten Schießeisen, selbst auf diese kurze Entfernung, treffen kannst, Junge.« Er schaute sich um, suchte nach sei nem automatischen Gewehr, entdeckte es dann oben am Rand der Felsenöffnung. Ron war verunsichert, von wegen, er würde nicht schießen. Ganz sicher, aber, ob er ihn erschießen könn te oder von dem Gangster getötet würde, was sollte es, sie würden jetzt doch sowieso alle sterben. Warum nur hat der Kerl sich beim Sturz vom Dach nicht das Genick gebrochen, dachte er. »Du Idiot«, schrie er ihn 707
an und deutete auf den Altartisch, »du hast mit dem Tod dieses alten Mannes uns alle und auch dich selbst getötet, du Narr, nur weißt du es noch nicht.« »Dummes Gerede, Ende der Welt«, zischte Hawk angriffslustig zurück, »Junge, wenn man seine Ziele erreichen will muß man schon mal ein paar Opfer brin gen, oder?« »Wie den alten Professor aus Venezuela oder den armen McHolis in Rockport umbringen, wie?« »Nein, nein, Junge, für McHolis Tod war die rei zende Miss Johnson verantwortlich und auch für Prof. Bolvar im Zug. Ich habe dort nur assistiert. Bolvars Mitarbeiter, Dr. Limas, ja, der geht auf mein Konto, genauso wie die nervige alte Mrs. Benson. Mein Gott, hat die ein Theater gemacht, als sie den Schlüssel zu eurem Haus herausrücken sollte.« »Du Teufel«, schrie Ron, sprang zwei Schritte auf Hawk zu und versuchte abzudrücken, vergebens, es löste sich kein Schuß aus der Trommel. Hawk wich geschickt einige Schritte zurück. Ron, vom eigenen Schwung vorangetrieben, blieb mit einem Fuß an der Trage hängen und stürzte hin. Die Pistole glitt ihm jetzt zum zweiten Mal aus der Hand. Einen heftigen Schmerz spürte er im Bein. Nein, gebrochen war wohl nichts. »Du hättest den Hahn erst spannen müssen, bevor du abdrückst, stupid boy«, kicherte Hawk überlegen, fuchtelte dabei mit dem Messer in der Luft hin und her, bewegte sich langsam auf Ron zu. Dieser hinkte einige Schritte zurück. Das rechte Bein schmerzte. 708
Okay, sterben werden wir sowieso alle, aber ich bestimmt nicht durch diesen Scheißkerl, fühlte Ron eine Entschlossenheit in sich, bückte sich flink nach der Trage, nahm sie hoch und schleuderte sie mit aller Kraft auf seinen Gegner. Dieser wollte ausweichen, tat einen Schritt nach rechts, und stolperte dabei über den herabgestürzten Felsbrocken. Ron biß die Zähne zusammen, sprang hinter dem Stürzenden her und ver paßte ihm einen Kinnhaken. Hawk flog rückwärts auf den Boden. Als Ron an ihm vorbeihastete, um seinen Colt auf zuheben, griff dieser nach seinen Beinen und wollte ihn mit dem Messer angreifen. Im letzten Moment konnte Ron ausweichen und mit einem heftigen Tritt gegen Hawks Unterarm ihm das Messer aus der Hand schlagen. Ein Aufschrei des Schmerzes. Das Stilett rutsch te über den Boden. Ron sah, wie sich durch Hawks Jackenärmel die veränderte Armform abzeichnete: bei de Knochen des rechten Unterarms waren gebrochen. Der Gangster hatte sich auf den Rücken gedreht, wälz te sich vor Schmerz, stöhnte laut. Ron sprang heran, setzte sich schnell auf Hawk, entdeckte dann neben sich den Remington Colt. Glück muß man haben, dachte er, packte die alte Army-Waffe, spannte dieses Mal den Hahn, und hielt sie Hawk an die Kehle: »Du verdammtes Schwein, niemand hat dir etwas getan, niemand, schon gar nicht der alte, weise Kachina. Kannst du mir vielleicht sagen, was um alles in der Welt er dir getan hat?« 709
»Nichts«, lachte Hawk hämisch mit seiner schmerz verzerrten Fistelstimme, »was regst du dich auf, das war doch bloß ein Indianer!« Wütend schlug Ron zu, daß sofort Blut aus Hawks Nase lief: »Deinetwegen krepieren wir jetzt alle.« »Oh nein, alle nicht, lieber Mr. Millar, alle nicht. Hände hoch, aber schön langsam, und weg mit der Spielzeug-Pistole«, hörte Ron plötzlich eine weibliche Stimme direkt hinter sich. »Vera«, stöhnte Hawk laut, als er an Ron vorbei blin zelnd die Frau erkannte, »Vera Johnson, gut daß Sie kommen. Los, machen Sie den Bastard fertig.« Rons Kopf flog herum, und er erkannte in der schwarzhaarigen Frau Lisas Entführerin, Dr. Vera Johnson. Mit einer 44er Magnum in der Hand zielte sie direkt auf ihn. Sie würde aus der kurzen Entfernung niemals da neben schießen, schoß es Ron durch den Kopf. Er ließ den Remington fallen und hob die Arme langsam in die Höhe: »Vera Johnson? Sie sind die ehemalige Assistentin von Prof. Bolvar, nicht wahr, und auch CIA-Mitarbeiterin im Pentagon, und Kidnapperin und jetzt auch noch Komplizin von diesem Mistkerl. Habe ich etwas vergessen? Ach ja, Mörderin auch noch!« »Oho«, lachte sie erstaunt: »Wissenschaftlerin hast du vergessen, mein Hübscher, und Besucherin des Städtchens Camden. Dann bin ich auch noch Anthropologin und Sammlerin seltener Artefakte wie Speerspitzen, Wikingerschwerter und alter, wertvoller Tagebücher«, dabei holte sie die Hand, die sie bis jetzt 710
hinter ihrem Rücken gehalten hatte, hervor und hielt ihm das Tagebuch seines Ururgroßvaters grinsend ent gegen. Sie war sich mittlerweile sicher, daß er jener war, den sie und Hawk an der Ostküste hatten ausschal ten sollen: »Du mußt einen Doppelgänger haben - oder einen Bruder.« Sie war es, durchfuhr es Ron, sie war Bobs Bekannt schaft in der Halloween-Nacht gewesen. Sie mußte das Tagebuch irgendwie aus dem Handschuhfach des Käfers an sich genommen haben, bevor er explodierte. »Na, du überlegst sicher, wie du das hochinteres sante Tagebuch und vor allem deine kleine Freundin zurückbekommen kannst, ist es nicht so? Aber das ist doch ganz einfach: Gib mir die Figuren. Du weißt schon, welche ich meine. Am Arizona-Krater sprachen wir über sie. Glaube mir, ich weiß ganz genau, welche Magie in ihnen steckt. Und darum will ich sie. Komm, du hast sie doch sicher mit hergebracht, allein schon, um deine Freundin zu retten, stimmt’s?« Ron saß immer noch mit erhobenen Händen auf Hawk, den Rücken zu ihr gewandt. Obwohl Ron nicht besonders schwer war, traute Hawk sich kaum zu be wegen, den jede Bewegung Rons machte ihm höllische Schmerzen. Ron schüttelte den Kopf: »Was meinen Sie, was soll ich mitgebracht haben?« In diesem Augenblick trat ein Mann von der gegen überliegenden Seite ins Licht. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit einem aufgedruckten, silbrigen Zeichen: »Diese will sie haben, nur deswegen ist sie hier.« »Clausseé«, stammelte Ron. 711
Dieser hielt in jeder Hand eine von Aknavis KachinaPuppen in die Höhe. »Ja, genau, die sind es«, Johnsons Augen leuchte ten. Sie schaute auf die begehrten Puppen und dann auf Ron. Dann wurde ihr triumphierendes Lachen zur bösen Grimasse: »Wenn mir erst die Kachina-Puppen gehören, brauche ich niemanden mehr. Los, Alter, mit den Puppen herkommen, hierher, stell dich zu dem jungen Mann.« Mit der Magnum winkte sie Clausseé heran. »Die geheimnisvolle Macht bleibt nur dann in den Puppen, wenn ein Eingeweihter des Geheimnisses sie persönlich überreicht«, erwiderte Clausseé ganz gelas sen, »und ich bin so ein Eingeweihter, und ich dürfte sie überreichen. Aber dafür sollten sie erst Lisa wieder freilassen.« Er wirkte völlig ruhig. Stimmte sie diesem Handel zu? »Weiter unten am Berg werdet ihr sie finden, an ei nen grünen Rover gefesselt«, keifte Johnson ungehal ten, »los, gib’ mir die Kachina-Puppen!« »Solange Lisa nicht hier ist, lebend, versteht sich, darf ich nur eine der Puppen übergeben. So steht es in den Überlieferungen.« Er stellte eine der beiden Puppen auf den Altartisch zu Füßen des Kachina. Dann ging er bedächtigen Schrittes auf die Frau zu und hielt ihr die hölzerne, mit roten Textilflicken geschmückte Figur entgegen. Vera Johnson geriet in Verzückung, so kurz davor, die erste der magischen Kachina-Puppen erstmals im Arm zu halten. Sie lachte, wurde dann ernst, riß die 712
Figur förmlich an sich, lachte dann wieder und drückte sie mit ihrem Unterarm fest an ihre Brust, in der Hand auch noch immer das Tagebuch. In der anderen hielt sie die 44er erst auf Clausseé gerichtet, dann auf Ron: »Runter von Hawk, los. Tut mir leid, mein Kleiner, aber dich und deinen weißhaarigen Freund brauche ich jetzt nicht mehr.« Ron dachte fieberhaft nach: runter von Hawk, be deutete erschossen werden, drauf bleiben wahrschein lich auch, ist also egal. Und dies war doch sowieso die letzte Nacht. Ron fing an zu lachen. »Hören Sie auf zu lachen!« zischte ihn Vera an, »okay, dann erschieße ich eben zuerst den Weißkopf. Sie zielte wieder auf Clausseé, der einige Schritte zu rückwich. Ohne jegliche Regung drückte sie ab, eiskalt. Der Schuß verfehlte sein Ziel, ließ ein Stück Fels staub aus der Wand hinter Clausseé spritzen. Vera Johnson wurde giftig, unberechenbar, legte erneut auf Clausseé an - als sich ihr Gesicht plötzlich zu einer schmerzvollen Grimasse verzog. Sie hielt den Atem an, rang nach Luft und löste ihren Griff von der Kachina-Puppe, schaute entsetzt auf diese herab. Doch die hölzerne Figur blieb an Johnsons Brust haften. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Puppe, spürte eine Kälte in ihrer Brust. Das Tagebuch war längst aus ihrer Hand gefallen. Mit staksigen Schritten schlepp te sie sich auf Ron zu, zielte mit der Magnum erneut auf seinen Kopf, fest entschlossen, wenn schon nicht Clausseé, dann wenigstens ihn zu töten. 713
Geistesgegenwärtig ließ sich Ron im Augenblick des Abfeuerns zur Seite fallen, und das tödliche Geschoß traf Hawk mitten ins Herz. Augenblicklich krachte ein zweiter, wesentlich lau terer Schuß über den Ritualplatz, noch bevor Johnson erneut auf Ron anlegen konnte. Und dieser riß die Frau mit aller Wucht von den Beinen, so daß sie hintenüber auf den harten Felsboden stürzte, dabei mit dem Kopf gegen den Fuß des Altars schlug, auf dem noch die zweite, von ihr so begehrte Puppe stand. Tödlich getroffen lag sie jetzt auf dem Rücken. Auf ihrer Brust die Figur, die selbst während des Sturzes an ihr haften blieb. Der Schuß hatte ihren Hals gestreift und dabei die Halsschlagader zerfetzt. Das Blut trat aus, ließ eine Lache schnell größer werden. Ihre rechte Hand umklammerte noch immer die schwere Pistole. »Ich denke, daß sie tot ist«, hörte Ron die schwer atmende, aber vertraute Stimme von Tom Dachongvi über sich. Dieser hielt das automatische Sturmgewehr noch in der Hand, das er oben auf dem Felsendach gefunden hatte. Er warf die Waffe nach unten und hangelte sich dann selbst durch die Öffnung herunter, landete mit ei nem gekonnten Sprung neben dem Altar auf den Füßen. Sein Kopf wies eine klaffende Wunde auf, war blutver schmiert wie auch die Hände und seine Kleidung. Gemeinsam traten Ron und Tom nun an die getötete Frau heran. Tom zog mit einem Ruck die KachinaPuppe von ihr herunter und reichte sie Ron. Jetzt verstand er, was plötzlich mit der Johnson passiert 714
war. Als er die Puppe umdrehte, sah er, daß aus den Augen der Puppe zwei neun Zentimeter lange, spitze Stahlstifte herausragten, von denen jetzt Johnsons Blut herabtropfte. Ein nicht erkennbarer Mechanismus hatte sie in die Herzgegend der besessenen Sammlerin getrieben. Es war wohl eine Selbstschutzmaßnahme gegen Diebe, vermutete er. Beide Männer zogen die Tote einige Meter fort von dem Altar. Mit ihrem Fuß schleifte sie das Tagebuch mit. Ron nahm das verschmutzte Buch hoch. Es hatte sich durch den Aufprall aufgeklappt, zeigte ironischerweise die Seite mit Kachinas Zeichen. Er lächelte verlegen, dieses Zeichen, ja das war wirklich etwas Besonderes. Er wollte es Tom zeigen, doch dieser hatte erneut die Kachina-Puppe mit den todbringenden Stahlstiften in Händen, betrachtete sie interessiert. Dann registrierte er wie auch Ron mit Erstaunen, wie sich die tödlichen Stifte plötzlich wie von Geisterhand in die Puppe zu rückzogen, bis sie komplett verschwunden waren. Seine aufkommende Neugierde an der KachinaPuppe wurde jäh zur Nebensache, als auf einmal Little G. Wings Stimme erklang: »Helft mir, schnell, helft mir, Lisa ist schwer verletzt!« Er trat völlig erschöpft, mit der ohnmächtigen Lisa auf den Armen aus dem ro ten Nebel ins Orange des Platzes. Keuchend sank er in die Knie und legte Lisa vor sichtig zu Boden. Er stöhnte und schnaufte und war naßgeschwitzt. Seine langen schwarzen Haare hingen strähnig herab. 715
Ron kam herangelaufen, vergaß die Schmerzen in seinem Bein. Er nahm Lisa ungeachtet des vielen Blutes vorsichtig in seine Arme, war verzweifelt: »Lisa, Lisa, nicht sterben, oh, bitte jetzt nicht sterben. Was soll ich tun, sag mir, was?« Er preßte sein Ohr auf ihre Brust. Das Herz köpfte noch, sehr leise, sehr schwach, aber es klopfte. »Sie friert, Leute, verdammt, sie friert. Und wir müssen sie auf die Trage legen, schnell, Tom, hilf mir, hole die Trage!« Noch bevor die Trage da war, riß Ron sich die Jacke herunter, und als sie die Schwerverletzte vorsichtig darauflegten, deckte er sie mit der Jacke zu. Auch Tom zog seine Jacke und sein blutverschmiertes Hemd aus und bedeckte Lisas geschwächten Körper. »Du hast doch Medizin studiert, Tom«, meinte Little G. Wing, der sich langsam wieder erholte, »kannst du ihr denn nicht irgendwie helfen?« »Hey, Mann, was glaubst du denn, was ich hier machen kann. Sie hat einfach zuviel Blut verloren. Außerdem sitzt die Kugel möglicherweise zu nah an der Hauptschlagader. Sie muß unverzüglich ins Krankenhaus gebracht werden, sonst stirbt sie. Tut mir leid, ich kann hier nichts machen, wirklich nicht.« Ron kniete an der Trage, hatte ihren Kopf in seine Hände genommen. Er küßte ihre Stirn, ihre Wangen, ihren Mund, ihm kamen die Tränen. Sollte er etwa von der Erde gehen, ohne daß sie noch einmal aus ihrer Ohnmacht erwacht? Bitte nicht! Plötzlich wurde er von Little G. Wing angestoßen. Als er nicht sogleich reagierte, nochmal, jetzt heftiger. 716
Er schaute auf, wischte sich die Augen und blickte in die Richtung, in die Little G. Wing zeigte. Dann sah er es auch. An der Schmalseite des Altartisches, vor Aknavis Kopf, stand Clausseé, auf den sie, während Little G. Wing mit Lisa auftauchte, nicht mehr geach tet hatten. Er hielt seine Arme himmelwärts gestreckt, murmelte dabei alte indianische Gebete. Gespannt starrten die drei Männer zum Altartisch, wo sich Seltsames vor ihren Augen abzuspielen be gann. Das alles umhüllende Licht wechselte nun lang sam von orange ins gelbliche. Als erste kurze Blitze den Himmel durchzuckten, begann Clausseé seine Arme nach vorne abzusenken. Jetzt hoben sich auch Aknavis Hände langsam in die Höhe. Seltsam rot leuchteten die sternenförmigen Narben in den Händen beider. Immer näher kamen sich die Handflächen. Die Blitze wurden heftiger. Die drei konnten deutlich erkennen, wie von den Narben des Kachina ein Lichtstrahl zu Clausseés Handflächen zuckte. Wieder begann der Berg zu vi brieren. Aus dem gelblichen wurde wieder rötliches Licht. »Schau doch, schau, Lisa«, weinte Ron ergriffen, »ein Licht wie bei uns an der Küste. Du weißt doch, bei den ›Drei Spanischen Kapitänen‹, schau doch nur!« Dabei wußte er, daß Lisa nicht schauen konnte. »Wouw, da geschieht gleich etwas, haltet euch gut fest«, beschwor Little G. Wing die Situation, als sich die Hände von Aknavi und Clausseé schon fast berühr 717
ten. Ein seltsames Summen zum monotonen Klang der immerwährenden Trommeln setzte ein. Das Licht wurde intensiver. Clausseés Körper begann zu zittern. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich auf den Beinen zu halten. Und dann verschmolzen die Sternennarben beider Auserwählter in einem gleißenden Licht. Es war ein unglaublich helles, pulsierendes Licht, das jetzt langsam zum Kachina hinab strömte und be gann, den Körper des alten Aknavi zu umschließen. Sekundenlang befand sich Aknavi in diesem energie geladenen Leuchten. Dann begann es sich auszudehnen. Die Lichtenergie strömte jetzt Aknavis Arme hoch, griff über auf die Arme Clausseés, und nahm dann Besitz vom ganzen Körper Clausseés. Beide Männer waren nun umhüllt von dem gleißenden Licht. Ron preßte Lisa ganz fest an sich, schloß die Augen, begann zu beten, wußte, das Ende müsse jetzt unmittel bar bevorstehen. Das Pulsieren ließ nach. Langsam verschwand das helle Licht. Die Vibrationen hörten auf. Ron öffnete die Augen, sah Tom, dann Little G. Wing, wie sie mit offenem Mund zum Ort des Geschehens starrten. Dann sah auch Ron, wie sich die Hände der bei den Auserwählten voneinander lösten. Und während Clausseé aufrecht und entrückt dastand, fielen Aknavis Arme seitlich an seinen Körper zurück. Zum Erstaunen der Beobachter wurde der Körper des Toten nun immer durchsichtiger. Clausseé, wie aus einer Trance zurückgekehrt, stütz 718
te sich auf dem Tisch ab und schaute zu ihnen herüber: »Bringt sie her, bringt Lisa hierher, schnell«, hauchte er mit bebender Stimme. Tom reagierte als erster: »Los beeilen wir uns, habt ihr nicht gehört, wir sollen Lisa zum Altar bringen.« Nur Sekunden später stand die Trage mit der blaß gewordenen, jungen Frau vor dem Altartisch auf dem Boden. Dann traten die drei Männer einige Schritte zurück. Clausseé beugte sich über seinen Vorgänger als Wächter der Erde und nahm dessen Kette mit dem be deutungsvollen Symbol aus Silber an sich. Dann war der Kachina gänzlich verschwunden. Sekunden des Schweigens folgten. Auf ein Zeichen Clausseés, legte Ron sodann Lisa unendlich sanft auf den nackten Stein des Altartisches. Clausseé beugte sich über die mit Jacken und Hemden bedeckte Lisa, hob ihren Kopf an und legte Aknavis magische Kette um ihren Hals und zwar so, daß das Kachina-Zeichen auf ihrem Herzen zu ruhen kam. »Ihr seid Zeuge gewesen, wie der Menschheit eine allerletzte Chance eingeräumt wurde. Lisa wird nicht sterben. Kachinas Zeichen wird ihr die Lebensenergie geben, die sie braucht, um den Weg zur Genesung zu schaffen.« Dann schaute er Ron in die Augen, ergriff dessen Schultern: »Mein Freund, ich habe diesen Auftrag nicht gewollt. Aber wer entscheidet schon darüber, was er machen wird oder machen muß. Ich habe meine Bestimmung erfahren. Du bleibst bei Lisa, versprich 719
mir das. Ihr geht hinaus in die Welt, und erzählt allen, wie dicht sie am Abgrund gestanden haben. Außerdem, mein Freund: ich werde jetzt natürlich auch ein paar Jahrhunderte leben, also denk an mich bei eurer Mission.« »Werden wir uns denn nicht wiedersehen?« Clausseé schüttelte den Kopf: »Nein, ich werde neue Aufgaben bekommen. Die Hopi werden wissen, wo ich zu finden sein werde, wenn du mich wirklich brauchst. Übrigens: von meinem Vater erfuhr ich auch, daß das Grundstück mit der alten Hütte bei den drei Felsen nach seinem Tod in meinen Besitz übergehen wird. Aber ich habe schon veranlaßt, daß das Grundstück dir und Lisa übertragen wird. Sorge dafür, daß dieses Stückchen Natur mit dem Ort von Aknavis vierter Begegnung nicht von Spekulanten entweiht wird.« Dann entfernte er sich einige Schritte, »jetzt aber muß ich fort, ich denke an euch.« Dann wandte er sich um und verschwand. Ron war zutiefst gerührt. Sein Freund, den er erst so kurz gekannt hatte, war so etwas wie fast unsterblich geworden. Sein Leben bei den Hopi, die Trennung von seiner Frau, seine Alpträume, seine Narben, alles Teil eines großen, vorbestimmten Plans. Und er und Lisa hatten ihn als Freund bezeichnen dürfen, waren Teil des Planes gewesen. Er würde ihn nie vergessen. Er, Tom und Little G. Wing bemerkten zu ihrem Erstaunen, daß es auf einmal wieder heller geworden war, und daß der Himmel wieder den, für diese Uhrzeit typischen dunkelblauen Zustand aufwies. Kein oran 720
ge oder rot mehr. Der Mond strahlte über die fernen Gebirgszüge herüber, wieder in seiner altbekannten Farbe. Und es wurde merklich kälter. Obwohl nicht ein Wölkchen am Himmel zu sehen war, setzte plötzlich ein leichter Schneefall ein. Der Kultplatz sah jetzt im hellen Licht schlimm aus. Wie sollten sie die Toten der Polizei erklären. Würden diese ihrem Kollegen Little G. Wing glauben? Fünf Tote, zwei Indianer und drei Weiße, darunter eine Frau. Egal, dachte Ron, atmete die frische Abendluft ein, jetzt zählt nur noch Lisa, deren Blutung endlich aufge hört hatte. Sie lag immer noch auf dem Altartisch. Vorsichtig öffnete Tom Lisas blutverschmierte Kleidung, wollte sich die Schußwunde noch einmal ansehen. Er staun te. »Was ist, Tom«, fragte Ron, »sag’, warum schaust du so entsetzt?« »Sie ist nicht mehr da, die Wunde, das Einschußloch, ich hab’s geahnt!« Er war dem Glauben seines Volkes tief genug verbunden, um zu wissen, daß dieses das Werk des Kachina war, »sie braucht nicht operiert zu werden, Freunde. Aber sie hat viel Blut verlo ren. Deshalb muß sie dennoch schnellstens in ein Krankenhaus.« Ron begriff nicht, was da vor sich gegangen war, aber er spürte Glück in sich, unendliche Ruhe und ein Kribbeln in seiner Hand. Wie unter dem Pueblo, als er Kachinas Hand in der seinen gespürt hatte. Und 721
plötzlich war auch der Schmerz aus seinem Bein ver schwunden. Tom und Little G. Wing drängten, hier schnellstens zu verschwinden, bevor tatsächlich die Polizei, oder noch schlimmer, das FBI hier oben auftauchen würde. Der Abstieg mit Lisa auf der Trage würde auf den schneebedeckten Geröllwegen beschwerlich genug werden. Doch zuvor wollte Ron noch einmal den Kultplatz abgehen. Merkwürdig, dachte er, beide Kachina-Puppen waren verschwunden. Hatte Clausseé sie mitgenommen? Aber das Tagebuch war noch da. Ron nahm es an sich und ging dann hinüber zu Hawk. Neben dessen Körper blinkte der extraschmale, spit ze Dolch. Ron nahm ihn an sich und auch seinen Remington Colt, den er beim Auftauchen von Johnson hatte fallen lassen müssen. Beides steckte er in seinen Gürtel, darauf achtend, daß er sich nicht verletzen konn te. Aus seiner Hosentasche holte er das Feuerzeug, das er auf dem Bahnsteig in Birmingham gefunden hatte, legte es jetzt dem Toten auf die Brust. PAXTON leuch tete es im frühen, schrägeinfallenden Mondlicht. Das automatische Gewehr, das ihn vor Johnsons tödlicher Kugel gerettet hatte, legte er zurück in den Arm seines Besitzers. Nicht schlecht, dachte Ron, so sieht es aus, als hätten die beiden Toten, Johnson und Hawk, hier oben erst die Aknaviwächter Crow und Jojo und dann im Streit sich gegenseitig getötet. Ja, okay, und der zweite Gangster, der Lisa angeschossen hatte, lebt zwar noch, aber was sollte der schon erklären können? Ja, so konnte man es 722
lassen. Jetzt nur schnell weg von hier. Eilig ging er zu den beiden, die mit Lisa schon den Abstieg begonnen hatten. Es war mittlerweile schon früher Abend, und langsam setzte die natürliche Dunkelheit ein. Als sie zum grünen Rover kamen, fanden sie dort einen frierenden, fluchenden und an das Lenkrad des Wagens gefesselten Ken Brocker vor. Sie untersuch ten den Wagen und nahmen eine Sporttasche mit interessantem Inhalt an sich: unter anderem war da eine verrostete Speerspitze und ein ebenso verroste tes Schwert. Ron erkannte sofort die beiden Stücke. Da ihr Wagen noch ein ganzes Stück weiter entfernt stand, wollten sie den Rover nehmen. Aber leider hatte Little G. Wing den Schlüssel weggeworfen, nachdem er Brocker ans Lenkrad gefesselt hatte. Zumindest ge lang es ihm über Autotelefon Jimmi Bird im Helikopter zu erreichen. Sie sollte direkt dorthin kommen, wo sie seinen Tribal Toyota stehen sehen würde. Dort würden sie auch landen können. Und sie sollten sich beeilen, sie hätten eine Schwerverletzte dabei. Außerdem solle sie die Polizisten, die möglicherweise schon hierher unterwegs waren, auf einen grünen Rover aufmerk sam machen. Dort, dreihundert Meter unterhalb des Kultplatzes der Hopi würden sie einen angeketteten Gangster in diesem Wagen vorfinden. Der Mann wäre mitverantwortlich für die Schießerei oben auf dem Kultplatz, und daß dieser Mann seinen Mordauftrag von einer gewissen Firma PAXTON Inc. aus Dallas erhalten hatte. Interessant wäre auch, die Taschen des 723
Mannes zu durchsuchen, falls es Rätsel gäbe über die Einstiche bei der toten Frau. Ron nickte Little G. Wing zufrieden zu, wußte, was dieser meinte, aber nicht aussprach, und steckte dann dem Angeketteten Hawks Stilett in die Innentasche der Jacke, dazu die Scheckkarte von Mayar, die Little G. Wing aus seiner Tasche beisteuerte. Während Brocker wie ein Rohrspatz fluchte, setzten die Männer mit Lisa den Weg fort. Zwanzig Minuten später erreichten sie die Stelle, wo sie ihre Autos abgestellt hatten. Aber nur noch der Wagen der Navajo Tribal Police stand dort. Clausseés Wohnmobil war verschwunden, genau wie er selber und die Kachina-Puppen. Dann hörten sie auch schon den Hubschrauber mit Jimmi Bird herannahen. »Wir bringen sie ins Hospital nach Winslow. Kommt nach, so schnell ihr könnt. Wir reden dann später über diesen ganzen Zauber, bye«, meinte Jimmi Bird, und schon war sie wieder in der Luft. Da im Helikopter sowieso nur noch Platz für Lisa gewesen war, erüb rigte sich die Diskussion des Mitfliegens von alleine. Dröhnend entschwand das Fluggerät in die Dunkelheit, entzog sich ihren Blicken. Tom, Little G. Wing und Ron saßen im Toyota. Sie hatten sich Decken über die Schultern gelegt, die sie im Fahrzeug gefunden hatten. »Es wird alles wieder gut«, flüsterte Ron vor sich hin. Tom legte seinen Arm über Rons Schulter: »Glaube 724
mir, die Magie, die vom Amulett des Aknavi ausgeht, ist groß. Wenn der neue Wächter der Erde das sagt, stimmt es. Aber man muß damit umgehen können!« Little G. Wing, der am Steuer Platz genommen hat te, fuhr mit abgeblendeten Scheinwerfern langsam den Weg hinunter, den sie vor nicht allzu langer Zeit her aufgekommen waren. »Tom«, begann er, »Ron hat mir von der KachinaPuppe erzählt, welche die Frau durch Stiche ins Herz getötet hatte noch bevor deine Gewehrkugel ihr den Rest gab. Es sollen zwei nebeneinander liegende stählerne Nadeln gewesen sein, die seltsamerweise anschließend im Körper der Puppe wieder verschwun den sind. Ich denke, du wußtest, daß der Hopi bei den Wupatki Ruins auf dieselbe Art getötet wurde. Warum hast du das nicht gesagt, als ich dich der Morde bezich tigt habe?« »Weil ich den zweiten Indianer und die beiden weißen Männer getötet habe, deshalb. Löhongva, der erste der aufgefundenen Indianer hatte nicht nur die Puppe gestohlen, sondern war auch im Besitz der vier ten heiligen Tafel. Er war vom Spinnenclan wie seine Urgroßmutter, die man zeitlebens verdächtigt hatte, diese Steintafel damals dem Bärenclan gestohlen zu haben. Früher einmal war Löhongva selbst Beschützer des Aknavi gewesen und wußte um die magische Kraft dieser Puppen. Als er sich von uns Traditionellen lossagte, fühlte er sich auch nicht mehr den alten Schwüren verpflichtet, wollte sein Wissen um den Kachina zu Geld machen. So hatte sich der Kachina 725
auf seine Weise gerächt. Der andere Indianer hatte keine Kachina-Puppe gestohlen. Er wollte die beiden Weißen direkt zum Pueblo führen, unserem heiligen Ort der Götter. Und er verriet das Geheimnis um den uralten Weisen. Das mußte ich verhindern. Es war mei ne Aufgabe.« »Wieso war es deine Aufgabe?« wollte Little G. Wing wissen, und auch Ron war neugierig auf die Antwort. »Weil ich ihm vor einigen Jahren von diesem Geheimnis selbst erzählt hatte. Und diesen Fehler muß te ich wieder gutmachen.« Little G. Wing überlegte: »Wir haben herausbekom men, daß der tote Indianer vom Pueblo ein assimilierter Hopi war mit Namen Paul Danyacya, vom Krähenclan. Wieso hast du einem Assimilierten denn überhaupt da von erzählt?« »Ja«, begann Tom und atmete einmal tief durch, »Paul Danyacya nannte er sich erst später, und das mit dem Krähenclan ist ebenfalls nicht wahr. Als er noch zu den Traditionellen gehörte hieß er Paul Datchongvi und gehörte zum Bärenclan. Paul Danyacya, den ich töten mußte, war mein Bruder!« Little G. Wing erinnerte sich spontan an die Fotografie mit der abgerissenen Ecke in Datchongvis Haus. Es wurde auf dem Weg nach Winslow nicht mehr gesprochen. Tom wollte einige Kilometer vor Oraibi abgesetzt werden. Er brauchte Zeit, um nachdenken über das, was er in den letzten Stunden alles erlebt und 726
gelernt hatte. Die Decke, die er über seinem Oberkörper trug, würde ihm reichen, meinte er, nachdem Ron ihn auf den Schnee und die Kälte hingewiesen hatte. Auf ihrem weiteren Weg nach Süden sahen Ron und Little G. Wing überall freundlich winkende Indianer an den Straßen stehen. Es herrschte eine friedliche Stille hier draußen im Indianerland, nicht eine einzige Trommel war weit und breit mehr zu hören.
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19. November ’98
Hopi-Reservat / Arizona er Morgen strahlte hell und freundlich. Sonne und Landschaft versuchten sich zum Gelingen eines neuen Tages zu verbünden. Die Vögel sangen und ein leichter Wind strich von der Golfküste Mexikos herüber. Curt Wesley und Nicole Samisse waren von Dan Datchongvi eingeladen worden, die Nacht nach der wundersamen Rettung in seinem Haus zu verbrin gen. Lange Gespräche mit Dan und Joan Besavaya vergrößerten ihr Wissen über die Hopi, ja sogar ihr Verständnis für die Kultur der amerikanischen Ureinwohner. Zusammen hatten sie getrunken und gegessen, waren richtiggehend euphorisch über das Glück, den Sonnenaufgang neu erleben zu dürfen. Spät in der Nacht waren erst Curt, dann Nicole eingeschla fen, mit der Gewißheit um das Geschenk einer gemein samen Zukunft. Es war elf Uhr, als Curt aus dem Haus trat. Dan Datchongvi saß wie jeden Morgen vor seinem Haus und redete mit der Natur und deren Geister, als wäre nichts geschehen. Curt trat zu ihm, wünschte einen guten Morgen und bedankte sich für das vorbereitete Frühstück und den Kaffee. Dann, beim Blick über die Mesas, mußte er staunen, denn der Schnee von gestern nacht war gänz lich verschwunden, ja - es war sogar richtig warm an diesem Morgen, jedenfalls empfand er es so.
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»Hallo - ihr zwei«, hörten sie plötzlich eine weibli che Stimme hinter sich. Beide drehten sich um. Es war Nicole, die ebenfalls nach draußen gekom men war. Sie sah glücklich und zufrieden aus. So richtig begreifen konnte sie das alles noch nicht. Es war nur wenige Stunden her, da hatte sie nicht mehr geglaubt, jemals die Sonne wiederzusehen. Und nun, nun wurde sie durch das offene Fenster von ihr ge weckt. Verrückt, aber unsagbar schön. Nicole trug einen Rock, wie ihn die Hopi-Frauen hier im Reservat zu tragen pflegten, die unverheira teten Hopi-Frauen natürlich, und dazu einen dünnen Pullover. Dan lächelte, als er sie in dem roten Rock sah, nickte zustimmend. Curt ging auf sie zu, nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuß. Auch er war glücklich. Sie entschlossen sich zu einem kurzen Spaziergang durch das Dorf. Überall sahen sie die Hopi, die letzte Nacht noch mit ihnen die vielen Menschenkreise ge bildet hatten, bei ihrer alltäglichen Beschäftigung, als hätte es das Gestern nie gegeben. Für Curt aber stand fest, er würde nicht mehr nach Alaska zurückkehren. Und das hatte er Nicole beim Frühstück auch gesagt. »Hast du gehört, was die Nachrichtensender für einen Blödsinn erzählen, Nicole, es ist nicht zu glau ben.« Als sie frühstückten, hatten sie das kleine Radio in der Küche angestellt, um Nachrichten zu hören, be 729
sonders, was über letzte Nacht berichtet wurde. Von meteorologischen Anomalien war die Rede, von be sonders heftigen Nordlichtern in der Atmosphäre. Es war einfach lächerlich mit anzuhören, welch haarsträu bende Geschichten die offiziellen Regierungsstellen verbreiten ließen, um das Volk zu beruhigen. Sie hörten nichts über die Hopi und deren Prophezeiung, über das Trommeln in der Nacht, und schon gar nichts darüber, daß man sich am Rande des Weltuntergangs befunden hatte, und daß die Gefahr für die Menschheit noch lange nicht vorbei war, die endgültige Vernichtung nur aufgeschoben, nicht aufgehoben worden war. Die beiden wußten es besser, hatten für sich selbst längst die Konsequenzen gezogen. »Richtig warm, heute«, stellte er fest, wollte das Thema Weltuntergang nicht mehr anschneiden und schob sich die Jackenärmel ein wenig höher, »aber ir gendwie besser, als das ewig kalte Alaska.« Alaska war ihr Stichwort: »Erinnerst du dich an das Geschenk, das du mir vor Wochen aus Tucson mitge bracht hattest, du wolltest es doch immer an mir sehen, oder?« Wesley lächelte: »Ja, schon, aber...« »Kein aber«, lachte sie übermütig und zog spontan den Pullover aus, »bitteschön so sieht es aus.« Er blieb stehen und betrachtete schmunzelnd das knappe Top, das ihre wohlgeformten Brüste wie eine zweite Haut umgab. Auf einer ihrer ›Wölbungen‹ war die Mondvorderseite aufgedruckt und daneben war zu lesen: Der Mond - so nah - und doch so unerreichbar! 730
»Ich glaube«, lachte sie, »ich glaube, da haben wir in der letzten Nacht einen kleinen Schritt für die Menschheit, aber einen großen Schritt für uns beide gemacht.« Sie mußten herzhaft lachen. Dann streifte sie sich den Pullover wieder über. Er nahm sie in den Arm, und sie schlenderten wei ter, erkundeten das kleine Dorf, das so wichtig für sie geworden war. Winslow Hospital / Arizona Als Ron von der Krankenschwester in das Kranken zimmer gerufen wurde, hatte er bereits Stunden im Flur und im Warteraum gesessen. Auch Little G. Wing hatte ausgeharrt, bis er vor einer Stunde von Jimmi Bird die Nachricht erhalten hatte, daß man drüben in Tunalea drei Weiße festgenommen hatte, die sich einen Spaß mit einem Indianer erlaubt hatten. Angeblich waren es Trucker. Natürlich hatte Ron Verständnis für Little G. Wings schnellen Aufbruch, nachdem er von ihm erfahren hat te, was mit White Bear, seinem Vater, in dem selben Ort geschehen war. Ein prima Kumpel, dachte Ron. Und er wird Tom wegen der Tötung des eigenen Bruders nicht festneh men, unter diesen Umständen bestimmt nicht. Da war er sich ganz sicher. Er eilte wegen der ständig besetzten Fahrstühle die Stufen zur Station hinauf. Von den Schwestern hatte er ein neues T-Shirt bekommen und seine Jacke trug er 731
lässig über die Schulter gehängt. Als sie am späten Abend auf den überfüllten Stra ßen durch Winslow gekommen waren, schien hier der Ausnahmezustand ausgerufen worden zu sein. Teile der Nationalgarde patrouillierten durch die Stadt. Zerschlagene Schaufenster, geplünderte Geschäfte und viele Verletzte waren die Folge der seltsamen Himmels erscheinungen und des Trommeln der Indianer. Es hat te eine Massenflucht in der letzten Nacht mit Toten und Verletzten gegeben. Familien hatten sich im Getümmel verloren. Die Polizei war hilflos gewesen, und alle Krankenhäuser der Region hoffnungslos überfüllt. Ganz leise, fast schüchtern trat Ron ins Zimmer. Als die Schwester die mobile Trennwand in dem mit sechs Personen belegten Zimmer zur Seite schob, sah er sie - seine Lisa. Auch sie sah ihn und lächelte, als er so schmutzig, unrasiert und unausgeschlafen an der Tür stand. Er schaute sie voller Liebe an. Ihre blonden Haare um rahmten ihr Gesicht und zarte Farbe war wieder auf ihre Wangen gekehrt. Verlegen kam er näher. Die Jacke ließ er auf das Fußende des Bettes fallen, sah dann auf seine leeren Hände: wieder hatte er keine Blumen dabei, genau wie damals auf dem Bostoner Flughafen, er schämte sich fast. Lisa wußte genau, woran er gerade dachte, lächelte. Dann huschte auch ihm ein erstes Lächeln um den 732
Mund. Er sah sie nur an, setzte sich trotz seiner schmutzi gen Jeans auf ihre Bettkante und streichelte ihr Gesicht: »Mein Liebes, ich kann dir gar nicht sagen, welche Angst ich um dich hatte, Angst, dich zu verlieren«, schluckte Ron, »als ich dich gestern Nacht auf Little G. Wings Armen sah, blutend und so schwer verletzt«, er stockte abermals. »Ist ja alles gutgegangen, Ron«, flüsterte sie, »zum Sterben war es wohl noch zu früh.« Sie mußte lachen, streckte ihre linke Hand nach ihm aus, wollte gedrückt werden. Vorsichtig nahm er sie in den Arm. Mann, das fühlte sich gut an. Er genoß es und nahm ihren Duft in sich auf. Professor Clausseé werde ich es nie vergessen, daß er sie mit Aknavis Kette gerettet hat, dachte Ron, aber - wo war die Kette? Lisa trug sie nicht um den Hals. Sie sah seinen fragenden und suchenden Blick, spür te, was er wollte, zog dann die Schublade der Konsole heraus: »Ron, suchst du etwa das hier?« Ron löste die Umarmung, blickte zur Konsole, beug te sich vor, holte den indianischen Schmuck heraus und betrachtete ihn ehrfurchtsvoll. Tatsächlich hing als gro ßer silberner Anhänger ihr ›Wikinger‹-Zeichen daran, eingerahmt mit Silberteilen, Holzperlen und Türkisen. Er legte ihn vorsichtig, genauso wie Clausseé letzte Nacht, auf ihren Körper. Das silberne Zeichen, das alles für sie so verändert hatte, glänzte im Licht der einfallenden Sonne. Er 733
nahm Lisas Hand und legte sie mit seiner zusammen auf das Kachina-Zeichen. Als er sie zärtlich küßte, bemerkte er nicht, wie das silberne Symbol unter ihrer beider Hände plötzlich an fing, ein schwaches, rötliches Licht auszustrahlen. Plötzlich empfing er seltsame Schwingungen und ohne daß er es sich erklären konnte, sah er in seinen Gedanken jene Männer mit den dunklen Brillen auf sich zukommen, von denen Clausseé so beunruhigt aus seinen Träumen berichtet hatte. Und er fühlte, daß von ihnen eine Bedrohung ausging. Hoffentlich spürt Lisa seine Gedanken jetzt nicht, dachte er voller Unruhe. Aber das war ein Irrtum. Warum sonst würde sie ihn genau in diesem Augenblick ganz fast an sich drü cken. ENDE
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