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DAS BUCH Einst durchzogen magische Kraftlinien das Inselreich Bhealfa, doch die Usurpatoren aus Gath Tampoor haben Menschen und Magie gnadenlos unterworfen. Aufstände werden im Keim erstickt, Aufwiegler ohne Prozess verurteilt. Der einzige Widerstand formiert sich unter der Führung des Diplomaten Karr. In den politischen Angelegenheiten Bhealfas bewandert, weiß er, dass seinen Leuten nur ein Ausweg bleibt: die Übersiedlung auf eine andere Insel und die Gründung eines eigenen, friedlichen Staates. Mit aller Macht treibt er diesen ebenso ehrgeizigen wie verzweifelten Plan voran und versucht dabei, den Qalochier Reeth Caldason ein weiteres Mal für seine Ziele einzuspannen. Caldason, dem der Ruf der Unsterblichkeit vorauseilt, wird indessen von heftigen Albträumen und Anfällen gequält. Seine Hoffnung, vom Magischen Bund Heilung zu erfahren, hat sich zerschlagen, allein das Schicksal seiner Freunde Kutch und Serrah hält ihn noch in der Stadt Valdarr. Da wird der Sänger Kinsel Rukanis, ein Mitglied der Widerstandsbewegung, in Gewahrsam genommen. Machtlos müssen die Gefährten mit ansehen, wie er gefoltert und dann zu lebenslangem Dienst auf den Galeeren verurteilt wird. Nur einer aus den Reihen der Widerständler begehrt auf, um Kinsel beizustehen - mit verheerenden Folgen ... Mit »Das magische Zeichen« setzt Bestseller-Autor Stan Nicholls die atemberaubende Fantasy-Trilogie fort, die mit »Der magische Bund« begann. DER AUTOR Stan Nicholls war viele Jahre in London als Lektor, Herausgeber, Journalist und Kritiker tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben von Fantasy-Romanen widmete. Seit dem internationalen Bestseller-Erfolg von »Die Orks« gehört der Brite zur ersten Garde zeitgenössischer Fantasy-Autoren. Nicholls lebt mit seiner Frau in den West Midlands. Weitere Informationen zum Autor unter: www.stannicholls.com
STAN NICHOLLS
DAS MAGISCHE ZEICHEN Roman Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Titel der englischen Originalausgabe QUICKSILVER ZENITH Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski Das Umschlagbild malte Geoff Taylor Umwelthinweis: Das Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Deutsche Erstausgabe 04/2005 Redaktion: Angela Kuepper Copyright © 2004 by S. J. Nicholls Copyright © 2005 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2005 http://www. hey ne. de Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 3-453-53022-5 Für ihre Liebe und ihre unerschöpfliche Unterstützung widme ich DAS MAGISCHE ZEICHEN
meiner lieben Schwiegermutter Eileen (Paddy) Booth, meiner Schwägerin Janet Calderwood, ihrem Partner Owen Sutherland und meinen wundervollen und erschreckend klugen Nichten Anna und Elaine Kennedy.
WAS BISHER GESCHAH Die Welt ist mit Magie getränkt. Ihr Einfluss ist auf jeder Ebene der menschlichen Kultur spürbar. Sie zeigt sich in Form von Technologie, als Währung und als Instrument der Kontrolle. Die Verfügungsgewalt über die Magie und deren Qualität bestimmen den gesellschaftlichen Status. Sie kann sich auf vielerlei Arten manifestieren, darunter auch als künstliche Lebensformen, die allgemein als Zauber bezeichnet werden. Das magische System ist das Vermächtnis eines lange verschollenen Volks, dessen Angehörige als die Gründer bezeichnet werden. Ihre Ära, die Traumzeit, erlebte vor der Morgendämmerung der aufgezeichneten Geschichte ihre Blüte. Doch es bleibt ein Geheimnis, wie diese Zeit zu Ende ging. Die rivalisierenden Reiche Rintarah und Gath Tampoor, einander in Waffen und Magie ebenbürtig, beherrschen gegenwärtig den größten Teil der Weltkugel. Der Inselstaat Bhealfa liegt zwischen ihnen wie ein Ei in einer Schraubzwinge. Zu verschiedenen Zeiten hat die Insel 7 als Kolonie zum einen oder zum anderen Reich gehört. Im Augenblick trägt sie die Ketten von Gath Tampoor. Bhealfas Herrscher ist Prinz Melyobar. Er ist nichts als eine Marionette und von der fixen Idee besessen, der Tod sei ein lebendiges Wesen. Um seinem Schicksal zu entgehen, hat Melyobar unter ungeheuren Kosten einen magisch angetriebenen, beweglichen Hofstaat eingerichtet: einen schwebenden Palast, der niemals anhalten darf. Die nach tausenden zählende Gefolgschaft, die der Palast anlockt, verleiht dem Hof das Aussehen einer Nomadenstadt. Die Brutalität der Reiche hat eine Widerstandsbewegung auf den Plan gerufen, die auch in Gath Tampoor und Rintarah selbst sowie in den vielen abhängigen Gebieten aktiv ist. Der bewaffnete Widerstand bildet das Herz dieser Opposition. Die Paladin-Clans sind die wichtigsten Organe der Unterdrückung durch die Reiche. Sie sind Söldner, doch die eigennützigen Regeln der Clans erlauben es ihnen, beiden Seiten zu dienen. Mit Ausnahme der Regierungen sind sie so wohlhabend und mächtig wie jede andere Institution in den Reichen. Reeth Caldasons Hass auf die Paladine ist legendär. Reeth ist Qalochier und in den Augen der Behörden ein berüchtigter Gesetzloser. Die Qalochier, ein eingeborenes Kriegervolk in Bhealfa, sind nahezu ausgerottet. Sie wurden betrogen, abgeschlachtet und massakriert. Caldason gehört zu jener Hand voll Menschen, die das Gemetzel überlebt haben, und er sinnt auf Rache. Außerdem sucht er Heilung von einem einzigartigen, unerklärlichen Leiden. Anfangs widerstrebend, freundet er sich mit Kutch Pirathon an, dem jungen Lehrling eines Zauberers, 8 den er konsultieren wollte, der jedoch von den Paladinen getötet wurde. Caldason schockiert Kutch, weil er einerseits magische Hilfe sucht, andererseits aber strikt gegen die Magie eingestellt ist, die jedermann für selbstverständlich hält. Noch beunruhigender sind die Anfälle von blinder Raserei, unter denen Caldason leidet, und die bizarren Visionen, die ihn heimsuchen. Die beiden begegnen dem Patrizier Dulian Karr, einem politischen Dissidenten, der in Opposition zu den Kolonialherren steht. Karr bietet Caldason an, ihn mit dem Bund in Verbindung zu bringen, einem Geheimorden von Magiern, die ihn möglicherweise von seinen entsetzlichen Anfällen befreien können. Caldason willigt ein, den Patrizier und Kutch nach Valdarr, Bhealfas größter Stadt, zu begleiten. In Merakasa, der Hauptstadt von Gath Tampoor, leitet Serrah Ardacris eine Spezialeinheit des Rates für Innere Sicherheit. Bei einer Razzia im Haus einer Bande, die das illegale Rauschgift Ramp vertrieben hat, wird ein Angehöriger ihrer Einheit getötet. Da er der Sprössling einer Adelsfamilie war, kommt es zu politischen Komplikationen. Serrah wird zu Unrecht für seinen Tod verantwortlich gemacht und unter Druck gesetzt, ein öffentliches Geständnis abzulegen. Obwohl sie misshandelt wird, weigert sie sich. Serrahs Tochter Eithne ist mit fünfzehn Jahren an einer Überdosis Ramp gestorben. Eithne erscheint Serrah, anscheinend von den Toten wieder auf er standen. Doch Serrah durchschaut den grausamen magischen Trick, der ihren Willen brechen soll. Als sie der Verzweiflung nahe ist, wird sie von einer Widerstandsgruppe aus der Gefangenschaft befreit. Sie entkommt 9 und kann auf einem Schiff, das nach Bhealfa segelt, aus Gath Tampoor fliehen. Unterwegs belauscht sie ein Gespräch über einen Kriegsherrn namens Zerreiss, der sich in den von Barbaren beherrschten Wüsten im Norden erhoben haben soll. Sein Volk bezeichnet ihn als den Mann, der von der Sonne fiel, und er besitzt angeblich eine unbekannte Art von Macht, die ihn befähigt, Land um Land zu erobern. Der Oberste Clanchef Ivak Bastorran, erblicher Anführer der Paladine, und Andar Talgorian, der imperiale
Gesandte Gath Tampoors, stellen die gewohnten Rivalitäten zurück, um eine gemeinsame Expedition auszurüsten, die mehr über Zerreiss in Erfahrung bringen soll. Angespornt werden sie durch den Verdacht, dass Rintarah eine ähnliche Mission plant. Devlor Bastorran, Ivaks Neffe und Protege und dank seines Erbrechts der zukünftige Anführer der Clans, ist besessen davon, Reeth Caldason zu töten oder zumindest gefangen zu nehmen. Sein Onkel mahnt ihn zur Vorsicht und offenbart ihm, dass die Paladine in Bezug auf Caldason gewisse, nicht näher bestimmte Regeln befolgen müssen - Regeln, die von der höchsten Autorität festgelegt worden seien. Tanalvah Lahn, Qalochierin und vom Staat lizenzierte Kurtisane, hat nie ein anderes Leben gekannt als die Arbeit in den Freudenhäusern von Jecellam, der Hauptstadt Rintarahs. Doch alles verändert sich, als ihre beste Freundin, eine Prostituierte wie sie, von einem Freier ermordet wird. Ln einem Akt der Selbstverteidigung tötet Tanalvah den Mann unabsichtlich. Voller Angst vor den Konsequenzen nimmt sie die bei10 den kleinen Kinder ihrer Freundin mit und flieht. Sie erkauft sich eine Überfahrt auf einem Schiff und gelangt mit den Kindern nach Bhealfa. Kinsel Rukanis aus Gath Tampoor ist einer der bedeutendsten klassischen Sänger seiner Zeit. Als Pazifist unterstützt er insgeheim den Widerstand. Rukanis begegnet Tanalvah und den Kindern im Hafen von Valdarr, wo sie von Wächtern und einem Paladin verfolgt werden. Serrah Ardacris, die ebenfalls in diesem Hafen an Land gegangen ist, rettet Kinsel und die anderen und tötet dabei drei ihrer Verfolger. Kinsel bringt die Frau und die Kinder in ein sicheres Haus des Widerstands. Reeth Caldason, Kutch Pirathon und Dulian Karr treffen in Valdarr ein. Sie lernen Phönix kennen, den Anführer des Bundes, der zunächst in der Verkleidung eines launischen zehnjährigen Mädchens auftritt. In Wirklichkeit ist Phönix ein älterer Magier, der das Wenige studiert hat, das von der magischen Überlieferung der Gründer noch erhalten ist. Er gebraucht seine herausragenden magischen Fähigkeiten, um in verschiedenen Verkleidungen aufzutreten. Caldason lernt auch Quinn Disgleirio kennen, einen Abgeordneten der Bruderschaft der Gerechten Klinge. Die Bruderschaft, ein lange Zeit ruhender Orden, ist vor kurzem wieder aktiv geworden, um für Bhealfas Unabhängigkeit zu kämpfen. Der Widerstand, der Bund und die Bruderschaft der Gerechten Klinge haben ein Bündnis geschmiedet, um gegen die Tyrannei des Reichs zu kämpfen. So wurde der Vereinigte Revolutionsrat gebildet. Karr vertraut Caldason an, dass der Rat auf etwas viel Radikaleres abzielt als auf eine bloße Revolution. Sein Ziel 11 ist nichts Geringeres als die Gründung eines freien Staates, dessen Standort jedoch noch gefunden werden muss. Derweil kommt das ganze Ausmaß von Caldasons Leiden ans Licht. Er ist sehr langlebig und äußerst widerstandsfähig, wenngleich nicht ganz und gar unsterblich. Wenn er verletzt wird, dann heilen seine Wunden bemerkenswert schnell, und er altert nur sehr langsam. Seit sein Stamm vor mehr als siebzig Jahren ausgerottet wurde, befindet er sich in diesem Zustand, doch er hat keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist. Seine Visionen und Tobsuchtsanfälle lassen ihn mitunterfürchten, er könne eines Tages ganz und gar den Verstand verlieren. Phönix glaubt, die Gründer hätten eine Sammlung ihres Wissens hinterlassen, das er die Quelle nennt. Diese Quelle ist angeblich mit der Legende der Clepsydra verknüpft, bei der es sich um ein Gerät handeln soll, mit dem man die Äonen bis zum Ende der Welt abmessen kann. Wenn diese Geschichten zutreffen, dann könnte die Quelle dem Widerstand eine mächtige Waffe gegen die Reiche in die Hand geben, und zugleich könnte Caldason dort von seinem Leiden geheilt werden. Die Forschungen des Bundes haben einen möglichen Fundort der Clepsydra offenbart, den Caldason dringend aufsuchen will. Der Rat verspricht ihm, eine Expedition auszurüsten, doch das dauert seine Zeit. Phönix glaubt auch, Kutch könne ein latenter Aufklärer sein. Der Zauberlehrling besitzt eine äußerst seltene natürliche Begabung, denn er kann die Illusionen der Magie durchschauen und instinktiv Vorspiegelungen von der Realität unterscheiden. Kutch willigt 12 ein, sich von Phönix ausbilden zu lassen, um seine Fähigkeiten zu entwickeln. Caldasons und Kutchs Lebenslinien kreuzen sich mit denen von Serrah Ardacris, Kinsel Rukanis, Tanal-vah Lahn und der Kinder, die beim Widerstand Unterschlupf gefunden haben. Es dauert nicht lange, bis Kinsel und Tanalvah ein Liebespaar werden und zusammen mit den Kindern in ein Haus ziehen. Doch Tanalvah macht sich Sorgen, weil Kinsel mit seiner Arbeit für den Widerstand große Risiken eingeht. Devlor Bastorran entdeckt, dass Kinsel und Tanalvah an der Auseinandersetzung im Hafen beteiligt waren. Er lässt sie beobachten und wartet zunächst ab. Unter der Leitung von Caldason und Serrah wird eine Spezialeinheit gebildet. Sie sollen in ein geheimes Archiv der Regierung eindringen und die Akten zerstören. Während dieses Unternehmens findet Caldason in einem Regal eine Akte mit seinem Namen, aus der allerdings sämtliche Seiten entfernt worden sind. Das Archiv wird zerstört, und auf der Flucht gerät Caldason mit Devlor Bastorran aneinander. Ein wilder Zweikampf entbrennt, in dem der Paladin schwere Verletzungen davonträgt. Als sie in einem Tempel Zuflucht sucht, trifft Serrah auf Tanalvah. Tanalvah ist eine Anhängerin der wohlwollenden Göttin Iparrater und fordert Serrah auf, dem Orakel des Tempels eine Frage zu stellen. Die
Antwort stürzt Serrah in eine tiefe Melancholie. Unbelehrbar von der Richtigkeit seiner Ansichten überzeugt, entwickelt Prinz Melyobar den Plan, die gesamte Bevölkerung Bhealfas auszurotten. Er will damit seinem großen Widersacher, dem Tod, die Menschenmassen nehmen, in denen er sich verbirgt. 13 Kutch erzählt Caldason, dass auch er Visionen hat. Als der Zauberlehrling sie beschreibt, erkennt Caldason, dass sie die gleichen Träume haben. Zutiefst bekümmert unternimmt Serrah einen Selbstmordversuch und lässt sich auch nicht aufmuntern, als Dulian Karr verkündet, der rechte Ort für einen Rebellenstaat sei gefunden ... 14 Die Wirklichkeit bekam keine Atempause. Sie war und blieb von magischen Impulsen erschüttert. In der Nacht legte sich ein dichter, drückender Nebel über die Stadt, der die Geräusche dämpfte, während er die ewigen magischen Entladungen nur geringfügig abschwächen konnte. Die Funken der Zauberei pulsierten und flimmerten; Illusionen flogen durch die Lüfte, Erscheinungen gingen um. Ein junger Mann schlurfte durch taufeuchte Straßen. Er hatte sich gegen die herbstliche Kälte dick eingepackt und den Kragen hochgestellt. Die verbeulte Kappe hatte er sich tief in die Stirn gezogen, doch ein paar ungehörige Strähnen seines blonden Haars lugten unter dem Rand hervor. Er konnte nichts sehen. Seine Augen waren hinter einer Vorrichtung verborgen, die an eine lederne Maske erinnerte. Sie bestand aus zwei runden Flecken, die vor dem Gesicht festgezurrt waren. Hinter jedem Flecken steckte eine weich eingepackte Münze. In einer Hand hatte er einen Stock, mit dem er unsicher seinen Weg ertastete. Um die andere hatte er eine Leine geschlungen, deren Ende an einem Halfter befestigt war, das den glänzenden schwarzen Panzer eines Tausendfüßlers umgab - eines Wesens von den Ausmaßen eines großen Jagdhundes. Es bewegte sich geschmeidig; die riesigen Insektenaugen starrten unergründlich, die unzähligen dürren Beinchen bewegten sich in Wellen. Der junge Mann war nervös. Er befürchtete, dass er sich in einer nicht eben ungefährlichen Gegend befand, und wusste nicht, wie spät es war. Mit dem Stock tappte er nach links und nach rechts und ging zögernd weiter, als hätte er erst vor kurzem das Augenlicht verloren. Der Tausendfüßler zerrte an der Leine, sah sich neugierig um, schnüffelte und lenkte seinen Schutzbefohlenen um Hindernisse herum. Der junge Mann hatte es eilig. Hätte er sehen können, dann hätte er das Gewitter von Magie zu beiden Seiten wohl als recht gewöhnlich und billig eingeschätzt. Ein weiterer Blick hätte ihn vielleicht innehalten lassen, denn vor ihm tauchte ein Lichterpaar im Nebel auf und näherte sich rasch. Er hörte ein Geräusch und hielt den Tausendfüßler mit einem Ruck an der Leine an. So stand er und lauschte mit schief gelegtem Kopf. Die Blenden vor den Augen sahen aus wie dunkle Löcher im Kopf. Er hörte das regelmäßige Knirschen von Stiefeln auf Pflastersteinen. Eine kleine Gruppe, die im Gleichschritt marschierte. Sie kam in seine Richtung. Sein Unbehagen wuchs, und er dachte daran, sich zu verstecken. Er hob eine Hand an die Maske, als wollte er sie abnehmen. »Du da! Keine Bewegung!« 16 Das schleifende Geräusch, mit dem die Klingen aus den Scheiden gezogen wurden, unterstrich die Warnung. Der junge Mann hielt den Atem an und blieb mucksmäuschenstill stehen. Der Tausendfüßler schlängelte sich zu ihm zurück und strich um seine Beine, wie es eine erschreckte Katze tut, wenn sie Schutz sucht. Aus den wehenden, gelblichen Nebelschwaden tauchte eine Gruppe von Männern auf, vorneweg eine aus drei Bewaffneten bestehende Streife in grauen Uniformen. Neben ihnen schritt ein Paladin, dessen rote Tunika einen starken Kontrast zu ihrer farblosen Kleidung bildete. Der Magier, der wie üblich die Streife begleitete, kam als Letzter. Er trug braune Gewänder und hatte einen geschnitzten Stab in der Hand. Zwei Wachleute waren mit magischen Laternen ausgerüstet, welche die Straße in weiches Licht tauchten. »Lass die Waffe fallen!« Ihm wurde bewusst, dass sie seinen Stock meinten. Er ließ ihn los. Das Klappern klang in der gespannten Stille unnatürlich laut. Vorsichtig näherten sie sich ihm. »Weißt du nicht, dass Sperrstunde ist?« Der Sprecher war der Hauptmann der Wache, ein schlaksiger Mann mit mürrischem Gesicht. Trotz der Kälte waren seine Arme nackt. Auf einen Arm war ein wutentbrannter, Feuer speiender Drache tätowiert - das Abzeichen Gath Tampoors, des herrschenden Reichs. Der Junge, der die Maske noch nicht abgenommen hatte, schwieg. »Hast du etwa die Sprache verloren?« »Es tut mir Leid, ich ...« 17 »Du brichst die Sperrstunde«, knurrte der Paladin. »Warum?« Der junge Mann drehte sich zu dem neuen Sprecher herum und schluckte schwer. »Ich ... ich habe die Zeit falsch
eingeschätzt. Ich dachte ...« »Das ist keine Entschuldigung«, unterbrach ihn der Hauptmann. »Und blind zu sein ist auch keine«, fügte ein anderer Bewaffneter barsch hinzu. »Aber ich ...« »Unwissenheit ist keine Entschuldigung«, zitierte der Paladin. »So sagt es das Gesetz.« Irgendjemand knuffte ihn in die Rippen, und er zuckte zusammen. »Was machst du hier?«, fragte ein anderer. Sein Atem roch nach billigem Pfeifentabak. »Wer hat dich hergebracht?«, knurrte ein Dritter, der sich ungemütlich nahe zu dem jungen Mann vorbeugte. Der Blinde wich ein wenig zurück, als die Fragen auf ihn einprasselten. Verschüchtert wollte er antworten und beschwichtigen, doch sie waren nicht auf Antworten aus, sondern vor allem darauf, ihn zu schikanieren. Der Hauptmann beäugte den Tausendfüßler. »Woher hast du einen so teuren Zauber?« »Das war ein Geschenk«, log der junge Mann. »Wen könntest du wohl kennen, der so reich ist?« Der junge Mann antwortete nicht. »Kannst du beweisen, dass er dir gehört?«, bohrte der Clankrieger weiter. »Wie ich schon sagte, es war ...« »Dann haben wir das Recht, ihn zu zerstören.« 18 Der Paladin nickte dem Zauberer zu. Mit gemessenen Bewegungen zückte er ein Messer mit einer langen, silbernen Klinge, das durch Sprüche verstärkt und aufgewertet worden war, und bot es mit dem Griff voraus dar. Der Hauptmann der Wache nahm es entgegen. »Wenn du nicht beweisen kannst, dass er dir gehört«, sagte der Hauptmann, »dann darfst du ihn nicht behalten.« »Bitte, nicht...«, flehte der Junge. Der Tausendfüßler schaute bekümmert zu ihm auf. Der Hauptmann bückte sich, hob das Messer und stieß es dem Geschöpf in den Rücken. Tausend Risse platzten im Panzer des Insekts auf. Es blutete Licht. Wie dünne Nadeln brach das Licht ringsum hervor. Einen Augenblick später waren es schon Lichtbalken, die so hell leuchteten wie die Sommersonne und genauso grell im Auge brannten. Der Tausendfüßler wurde durchsichtig und verblasste zu einem leeren Umriss, bis er sich in silbrigem Dunst auflöste, der noch einmal flackerte, bevor er endgültig verschwand. Der Zauber war gestorben. Seufzend füllte die Luft das Vakuum, das er hinterließ. Die Leine, die der junge Mann festhielt, wurde schlaff, der Halfter war leer. Die Bewaffneten lachten ihn aus. »Das war doch nicht nötig«, protestierte er schwach. »Du hast keine glaubwürdigen Antworten, und du verletzt die Ausgangssperre«, erklärte ihm der Paladin. »Wir werden dich einlochen.« »Los, komm.« Der Hauptmann legte dem jungen Mann grob die Hand auf die Schulter. 19 »Nein, ich will nicht!«, platzte der junge Mann heraus und versuchte, die Hand abzuschütteln. »Was hast du gesagt?« »Ich meine ... das war doch nur ein Versehen. Ich wusste doch nicht, dass ich das Gesetz gebrochen hatte, und ...« Der Hauptmann versetzte ihm einen kräftigen Schlag ins Gesicht, woraufhin der junge Bursche taumelte. »Du redest nur, wenn du gefragt wirst.« Ein roter Fleck breitete sich auf der Wange des Jungen aus, und aus dem Mundwinkel rann Blut. »Und du wirst uns mit dem gebotenen Respekt anreden«, fügte der Stadtwächter hinzu, während er noch einmal die Faust hob. »Nehmt eure dreckigen Hände weg.« Aus dem Nebel tauchte jemand auf. Er war, groß und dunkel. Sein wehender Mantel verlieh ihm das Aussehen eines riesigen geflügelten Tiers. Der Wächter drehte sich um und stellte sich dem Fremden. »Wer, zum Teufel, bist denn du"?« Die Bewaffneten vergaßen ihren Gefangenen und wandten sich dem Neuankömmling zu. »Tretet zur Seite«, sagte er. Sein Tonfall war ruhig. Gelassen. »Wer, zum Teufel, bist du, dass du glaubst, du könntest uns Befehle erteilen?«, rief der Paladin. »Ich sagte, tretet zur Seite.« »Wer bist du, dass du hier nach der Sperrstunde herumläufst und die Stadtwache behinderst?«, entgegnete der Wächter. Er war wütend, zugleich aber auch verunsichert, denn er war nicht daran gewöhnt, dass jemand seiner Autorität trotzte. 20 »Der Junge kommt mit mir.« »Ach, wirklich? Nun, hier haben nur wir zu bestimmen.« Er schwenkte das Messer des Magiers, um seine Worte zu unterstreichen. »Wenn er überhaupt irgendwo hingeht, dann geht er mit uns. Und dich nehmen wir auch
gleich mit.« Der Fremde kam näher. Seine Bewegungen verrieten keine Eile, er ging fast gemächlich. Doch als das Licht der Laternen ihn erfasste, verrieten seine Augen, wie gefährlich er war. »Nein, wir kommen nicht mit«, sagte er. Der Hauptmann der Wache starrte ihn an. Er musterte das finstere Gesicht des Fremden. Die etwas eckigen Züge, die leicht gerötete Haut, das lange, pechschwarze Haar. »Schau mal einer an«, höhnte der Hauptmann. Er drehte den Kopf zur Seite und spuckte verächtlich aus. »Wir haben hier ja einen richtigen Strolch vor uns, Leute.« Seine Kameraden lachten, einig in ihrer Borniertheit, wenngleich ein wenig verunsichert. Der Paladin schwieg, auch der Zauberer hielt sich zurück. Der Junge drehte verblüfft den Kopf hin und her und versuchte zu verfolgen, was da vor sich ging. »Der glaubt wohl, er könnte Leute beleidigen, die weit über ihm stehen«, verkündete der Hauptmann großspurig. »Jetzt werden wir ihm mal zeigen, welchen Preis er dafür zu zahlen hat.« Der Fremde trat vor. Er blieb erst stehen, als die Messerspitze des Hauptmanns seine Brust berührte. Besonders besorgt schien er freilich nicht. Ihre Blicke trafen sich. Der Fremde wich nicht aus und rührte sich nicht. Die Knöchel des Hauptmanns waren weiß vor Anspannung. 21 Ein Schwärm übergroßer Schmetterlinge torkelte vorbei. Sie waren grellbunt und sahen aus, als wären sie aus Blech geschmiedet. Die flatternden Flügel quietschten leicht. Niemand achtete auf sie. »Wir können die Sache friedlich beilegen«, sagte der Fremde. »Überlasst mir den Jungen, und ich lasse euch gehen.« »Du lässt uns ...« Der Hauptmann kochte vor Wut. Er verstärkte den Druck des Messers. »Eher wird die Hölle zufrieren, als dass ich vor einem wie dir kneife.« »Ich könnte dafür sorgen, dass du dort bald persönlich die Temperatur prüfst«, sagte der Mann lächelnd. Das Lächeln war keineswegs freundlich zu nennen. Möglicherweise dämmerte dem Hauptmann inzwischen, wen er vor sich hatte, denn er war plötzlich ausgesprochen nervös. »Wer bist du?«, fragte er mit belegter Stimme. »Ein Mann, dem es nicht gefällt, vor einer Messerspitze zu stehen.« Es folgten einige rasche Bewegungen, so schnell und fließend, dass die anderen mit ihren Blicken nicht folgen konnten. Jetzt hatte der Fremde das Messer in der Hand. Er hielt es an der Klinge mit dem Griff nach oben. Der Hauptmann starrte ihn mit leeren Händen an. »Ich glaube, das gehört dir«, sagte der Fremde. Dann warf er es, doch sein Ziel war nicht der Hauptmann der Wache. Das Messer traf den Zauberer. Es durchbohrte seine Brust und drang tief ein. Unter dem Schnurrbart öffnete sich ein überraschtes »Oh«, und der Zauberer starrte verwirrt auf den Messergriff, der in seiner Brust 22 steckte. Dann brach er in seinen wallenden Gewändern zusammen. Wo zuvor Lähmung geherrscht hatte, brach jetzt ein Tumult aus. Alle außer dem Fremden brüllten durcheinander. Es gab hastige Bewegungen, Waffen wurden gezückt, Laternen eilig abgestellt. »Was ist los?«, jammerte der Junge, der sich inmitten des Chaos um sich selbst drehte. »Was ist los?« Der Fremde stieß ihn zur Seite, sodass der Bursche torkelte und stürzte. Unter dem weiten Mantel holte der Fremde rasch zwei Schwerter hervor. Die Streife griff an. Auf Händen und Knien und mit gesenktem Kopf suchte der Blinde sich vom klirrenden Stahl zu entfernen. Er prallte gegen eine Wand, drückte sich mit dem Rücken gegen die raue Fläche und machte sich so klein wie möglich. Ein Wächter umging den Fremden und wollte von hinten angreifen. Ein genau gezielter Stoß mit einem steinharten Ellenbogen vereitelte den Plan. Seine Nase brach mit vernehmbarem Knacken. Beide Hände vors Gesicht gepresst, taumelte der Wächter zurück. Ohne sich aus dem Rhythmus bringen zu lassen, nahm der Fremde sogleich den Kampf gegen die anderen auf. Er sah sich nun dem Hauptmann und dem dritten Wächter gegenüber. Sein bei weitem gefährlichster Gegner, der Paladin, kniete neben dem Zauberer. Er tastete am Hals des Magiers nach einem Puls und beobachtete währenddessen den Kampf. Der Hauptmann wurde wütend, und seine Wut machte ihn unbeherrscht. Er kämpfte mit weit ausholenden Schlägen und achtete kaum auf seine Deckung. 23 Sein Gefährte war vernünftiger. Er teilte genau bemessene und gut gezielte Hiebe aus. Der Fremde bekämpfte beide Gegner mit gleicher Heftigkeit, und seine beiden Klingen zuckten blitzschnell vom einen zum anderen. Die abgestellten Laternen warfen ein gespenstisches grünes Licht auf die Straße und hinter dem kauernden Burschen die riesigen Schatten der Kämpfer auf die Mauer. Es waren die Schatten wild fechtender Riesen, die
ein verrücktes Ballett aufführten. Bis einer von ihnen stehen blieb. Ein bestürzter Ausdruck ergriff Besitz vom Gesicht des Hauptmanns. In seiner Brust steckte ein Schwert. Der Fremde zog es heraus, und ein roter Blutschwall ergoss sich auf die Straße. Die Knie des Hauptmanns gaben nach, und er brach zusammen. Sein Kumpan war einen Atemzug lang wie betäubt, dann griff er mit verdoppelter Wut wieder an. Der Mann mit der gebrochenen Nase, das Gesicht blutverschmiert und doch bleich, hatte sich weit genug erholt, um sich wieder einzumischen. Sie wollten ihren Gegner mit brutaler Kraft überwältigen, doch der Fremde hielt sie mühelos auf Abstand, wich ihren Hieben aus und sprang gewandt und leichtfüßig zur Seite, ehe ihn die Stiche trafen. Nichts, was sie taten, konnte seinen Angriff verlangsamen. Dann nutzte er eine Lücke. Der junge Mann, der sich an die Wand drückte, barg den Kopf in den Händen. Ein halbes Dutzend Schritte links neben ihm war ein verschlossenes Fenster. Ein grau uniformierter Körper flog darauf zu und krachte durch die hölzernen Läden. Halb drinnen, halb draußen blieb der Stadtwächter mit zappelnden Beinen hängen. Der Bursche wimmerte. 24 Nachdem der Wächter mit der gebrochenen Nase nicht mehr mitspielte, wandte sich der Fremde dem noch kampffähigen Bewaffneten zu und fiel wie ein heißhungriger Wolf über ihn her. Hellrotes Blut spritzte ein Stück über dem jungen Burschen an die Mauer. Einige Tropfen trafen auch ihn; warm rieselte es auf seinen Kopf, auf Hände und Schultern. Er schrie erschrocken auf. Der Fremde kümmerte sich nicht weiter um den besiegten Wächter, sondern konzentrierte sich auf den Paladin, der noch beim Magier kniete. Sie starrten einander an. Der Paladin war jung und kräftig und makellos herausgeputzt, sein Haar und der Bart waren sauber gestutzt, wie es seiner Zunft entsprach. Langsam erhob er sich und trat gemessenen Schrittes vor. Im Gehen zog er das Schwert. Der Fremde steckte unterdessen die breitere Klinge weg und war nun nur noch mit dem Florett bewaffnet. »Warum tust du das?«, fragte der Paladin. »Damit wir als Ebenbürtige kämpfen können.« »Ritterlichkeit bei einem Wilden?«, höhnte er. »Nur ein Narr gibt einen Vorteil so leicht aus der Hand.« Langsam umkreisten sie einander. »Wir werden ja sehen«, erwiderte der Fremde. Sie bewegten sich gleichzeitig und schnell. Ihre Klingen trafen aufeinander, schepperten und verhakten sich kurz. Die Männer lösten sich voneinander, zogen sich zurück und begannen nun ernstlich zu kämpfen. Sie stachen, hackten und hieben und drangen unter regelmäßigem Klirren von Stahl aufeinander ein. Der Paladin war ein geschickter Kämpfer, und er hatte die nötige Disziplin, doch er war kein Gegner für den Fremden. 25 Das Ende war abzusehen, als der Fremde einen Hieb parierte und die Klinge seines Gegners ablenkte. Die folgende Riposte zerfetzte eine Lunge des Paladins und ließ ihn zu Boden sinken. Bäche von Blut rannen in die Gosse und färbten das träge fließende Wasser. Der Fremde sah sich zu dem jungen Burschen um, der an der Mauer kauerte. Er steckte das Schwert in die Scheide und eilte mit wehendem Mantel zu ihm. »Steh auf«, sagte er. Der junge Mann bewegte sich nicht, abgesehen davon, dass er zitterte. »Auf die Füße!« Er rührte sich immer noch nicht. Der Fremde verlor die Geduld und zog ihn unsanft am Kragen hoch. »Nimm das Ding ab.« »Nein, ich kann nicht, ich ...« Er wurde gegen die Mauer gestoßen. »Nimm es ab!« »Ich trau mich nicht.« Der Fremde riss dem Jungen brutal die Maske vom Gesicht und warf sie fort. Die befreiten Münzen rollten klimpernd übers Pflaster. Der Junge hielt die Augen fest geschlossen. »Mach die Augen auf«, verlangte der Fremde. »Mach sie auf.« Mühsam und heftig zitternd gehorchte der Bursche. »Wie geht's?« Der Junge blinzelte und sah sich benommen um. »Es ... ich glaube, es geht schon.« »Diese Maskerade ist doch wirklich nicht nötig. Es ist dumm und gefährlich und ...« »Nicht nötig? Du weißt, was ich gesehen habe. Wie kannst du da sagen ...« 26 In der Nähe stöhnte jemand. Es war der Hauptmann der Wache, der noch schwach atmete. Der Fremde zog ein Messer. »Nein«, bat ihn der Junge. »Kannst du ihn nicht einfach in Ruhe lassen?« »Wir machen keine Gefangenen. So wenig wie sie.« Er trat zu dem Schwerverletzten und setzte seinem Leiden ein rasches Ende. Der Junge konnte nicht hinschauen. Der Fremde wischte sich die Klinge an einem Tuchfetzen ab. »Du hältst mich für grausam, aber dies ist ein
Krieg. Vielleicht wird er nicht so genannt, aber es ist ein Krieg.« Der Junge nickte. »Ich weiß.« »Komm schon, es bringt nichts, hier noch länger zu verweilen.« Zusammen machten sie sich im Nebel auf den Weg. Etwas, das an einen Aal erinnerte, schwamm vorbei. Es hatte Streifen wie ein Bonbon und Flügel, die viel zu winzig waren, um mit ihnen zu fliegen. Als es sich durch die Luft schlängelte, hinterließ es eine Spur von orangefarbenen Funken. Erheblich milder gestimmt fragte Caldason: »Wie fühlst du dich?« »Ich habe Angst«, sagte Kutch. 27 Die Morgendämmerung war nahe, der Nebel lichtete sich. Valdarr, theoretisch die Hauptstadt des Inselstaates Bhealfa, begann sich zu regen. Menschen traten auf die Straße zwischen die magischen Erscheinungen, die niemals schliefen. Wie in allen großen Städten waren Reich und Arm nicht weit voneinander entfernt. Daneben gab es auch Bezirke, die weder besonders wohlhabend noch besonders Not leidend waren - unauffällige Wohnviertel, in denen die Gebäude und dazugehörigen Zauber ein bescheidenes Mittelmaß aufwiesen. Eine geschlossene Kutsche fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch eine solche Gegend. Sie wurde von zwei pechschwarzen Pferden gezogen. Den Fahrer, der von Kopf bis Fuß in dunkle Gewänder gehüllt war, konnte man nicht erkennen. Das Gefährt klapperte durch schmale Straßen, die gerade zum Leben erwachten, und hielt vor einer Reihe spartanischer Gebäude. Die meisten waren private Wohnhäuser, andere erfüllten 29 verschiedene Grundbedürfnisse der Bevölkerung. Billige Waren und geschmacklose Zauber waren vor den Läden auf wackligen Tischen aufgestapelt. Ein Passagier stieg aus der Kutsche. Er hatte den Mantel eng um sich gezogen, und sein Gesicht war finster. Der Kutscher ließ sofort die Peitsche knallen, und die Kutsche entfernte sich. Während das Klappern der Hufe verklang, blieb der Fahrgast stehen und blickte die verlassene Straße hinauf und hinunter, bevor er sie überquerte und durch die offene Tür in eine Bäckerei trat. Brotlaibe, Kuchen und Zuckerwerk lagen zum Auskühlen auf Holzregalen und warteten auf Kundschaft. Im Augenblick war nur eine alte Frau im Laden. Sie stand direkt vor der zerkratzten Theke und begrüßte den Mann mit einem Nicken. Ohne ein weiteres Wort schob er sich an ihr vorbei und ging in den hinteren Teil des Raumes, wo er eine Steintreppe hinabstieg, bis er vor einer massiven Tür stand. Er klopfte, und als man ihn durch einen Türspion in Augenschein genommen hatte, wurde er eingelassen. Wärme und der Duft von frisch gebackenem Brot schlugen ihm entgegen. Die Backstube war lang gestreckt und niedrig und hatte eine gewölbte Decke aus unverputzten Ziegelsteinen. Mehlsäcke, Fässer mit getrockneten Früchten und Salzfässchen standen herum. An einer Wand befanden sich drei Backöfen. Jeder hatte zwei eiserne Türen - eine für das Backwerk und eine zweite, hinter der ein starker Gitterrost das Feuer hielt. Schwitzende Männer entriegelten die Türen mit Zangen und speisten das Feuer mit Holzklötzen, die gleich daneben aufgestapelt waren. Bäcker mit weißen 30 Schürzen schoben den rohen Teig auf langen, abgeflachten Stangen in die Ofenkammern. Der Besucher wurde erkannt und begrüßt. Er legte den Mantel ab und ließ sich auf dem einzigen Stuhl nieder. Er wirkte vornehm, seine Kleidung war von guter Qualität. Das silbergraue Haar trug er ungewöhnlich lang. Seine Augen blickten müde in die Runde, doch man sah, dass ein wacher Verstand dahintersteckte. Er war nicht so alt, wie seine Müdigkeit vermuten ließ. Er ging zum letzten der drei großen Öfen, und die Arbeiter sammelten sich um ihn. »Ich werde alt«, sagte er mehr zu sich selbst. Dann, etwas lauter: »Wenn Ihr so freundlich sein könntet?« »Aber gern, Sir«, erwiderte der Bäckermeister und gab den anderen ein Zeichen. Er war dick, und auf seiner Haut glänzte der Schweiß. Ein Mann trat vor und öffnete die Feuerklappe eines mächtigen Backofens. Die Hitze drang wie ein körperlich spürbarer Schlag heraus, tosende Flammen brachen hervor. Zwei kräftige Arbeiter packten den Besucher. Sie legten ihm die Hände in die Kniekehlen und unter die Schulterblätter, um ihn zu halten, und hoben ihn wie in einem Sessellift. Mit geübten Bewegungen schwangen sie ihn vor und zurück und holten Schwung. Dann warfen sie ihn in den Backofen. Die Glut schien völlig real, und die Hitze versengte ihm die Haut. Er hätte beinahe laut geschrien, obwohl er es besser wusste. Einen Moment später war er durch. Vom grellen Licht wechselte er in relative Dunkelheit, von lodernder Hitze in willkommene Kühle. 31 Er landete weich auf einem Haufen mit Garn ausgestopfter Säcke, aber trotzdem raubte ihm der Aufprall den Atem. Von dieser Seite aus war der Zauber, durch den er geflogen war, nicht mehr als ein fenstergroßes Loch in einer Wand. Gedämpfte Farben, die sanft umeinander kreisten wie Öllachen auf einer Wasserfläche. Auf dieser
Seite gab es keine Illusion von Flammen und gewiss keine Hitze. »Auf die Beine, Patrizier.« Dulian Karr schaute auf. Eine Frau in mittleren Jahren hatte sich vor ihm aufgebaut. Sie war kräftig und hatte eine eher muskulöse als weibliche Figur und einen durchdringenden Blick. Wie immer war sie mit einem dicken Packen Dokumente ausgerüstet, den sie sich im Augenblick unter den Arm geklemmt hatte. Sie streckte ihm die freie Hand entgegen, die für eine Verwaltungskraft überraschend schwielig war. »Goyter«, grüßte er die Frau und ließ sich auf die Füße ziehen. Als er aufstand, schnaufte er durch die geschürzten Lippen. »Mir tun alle Knochen weh«, klagte er. »Quatsch«, schnaubte die resolute Frau. »Ihr seid doch kaum älter als ich. Ich schlage vor, dass Ihr aufhört, Euch selbst zu bemitleiden, und Euch stattdessen hier nützlich macht. Jedenfalls hebt das für gewöhnlich Eure Stimmung ganz deutlich.« Nachdem sie ihren Spruch aufgesagt hatte, drehte sie sich um und marschierte davon. Karr lächelte, als er sie eilig abziehen sah, um jemand anderen zu drangsalieren. Auswahl hatte sie wahrlich genug. Dieses Versteck war viel größer als die Bäckerei, die er gerade hinter sich gelassen hatte. Es bestand aus den Kellern mehre32 rer benachbarter Häuser, die man mit Durchbrüchen verbunden hatte. Mindestens zwanzig Leute arbeiteten hier. Er klopfte sich den Staub von den Kleidern und begann mit seinem Inspektionsrundgang. Eine Abteilung war der Herstellung von Zaubern vorbehalten. Männer und Frauen saßen, mit Baumwollhandschuhen geschützt, an langen Tischen und arbeiteten behutsam mit magischen Sprengsätzen. Unter den aufmerksamen Blicken einiger Magier, die hier die Aufsicht führten, wurde ein Vorrat an illegaler Munition hergestellt: Zauberkapseln, Blender, falsche Feuer, Stinkbomben, Betäubungsstäbe, Abschirmungen gegen Lauscher, die als Halsketten oder Armbänder getarnt waren. Er begrüßte die Leute kurz und ging weiter, um den Schießstand aufzusuchen. Ein mehrere hundert Schritt langer und etwa dreißig Schritt breiter Raum war dem Erproben okkulter Waffen vorbehalten. Angesichts der Gefährlichkeit der Sprüche war dieser Bereich mit einem schützenden Feld versiegelt. Die Abschirmung war fast völlig durchsichtig und schimmerte, einer Seifenblase nicht unähnlich, ganz leicht in allen Regenbogenfarben. Am hinteren Ende des Schießstandes waren mehrere Puppen aufgestellt worden. Im Grunde waren es bessere Vogelscheuchen, die man an Holzrahmen befestigt hatte. Am vorderen Ende zielten die Waffentester. Energielanzen zuckten von den Stäben hinüber und enthaupteten die Opfer, dass das Stroh in alle Richtungen flog. Andere, mit Zauber verstärkte Waffen umhüllten die Opfer mit elastischen ektoplasmati33 sehen Netzen oder durchbohrten sie mit Eiszapfen. Einer der Tester setzte sich ein Messinghorn an die Lippen und blies hinein. Doch statt eines Tons kam eine Wolke winziger geflügelter Eidechsen mit spitzen Krallen und rasiermesserscharfen Zähnen heraus. Der Schwärm summte zu einer Puppe und zerfetzte Tuch und Holz. Eine andere Testerin hielt einen Kampfstab umfasst. Er war kurz und schwarz und mit einem Handgriff versehen. Die daran befestigten Lederbänder konnte man sich um Finger und Handgelenke wickeln. Als sie mit dem Stab zielte, spuckte er apfelgroße Feuerkugeln aus. Beim Aufprall platzten die Kugeln und setzten die Puppen in Brand. Einige verfehlten ihr Ziel und sprangen eine Weile im Schießstand herum, ehe sie explodierten. Eine Kugel, die kein Ziel gefunden hatte, prallte vom Boden ab und nahm Kurs auf Karr. Direkt vor seinem Gesicht schlug sie gegen den fast unsichtbaren Schild und explodierte in einem strahlend roten und gelben Blitz. Er zuckte instinktiv zurück, obwohl er wusste, dass ihm nichts geschehen konnte. Die Testerin grinste verlegen. Sie kam ihm noch sehr jung vor. Goyter tauchte neben Karr auf. »Wir arbeiten noch an der Stabilität«, meinte sie mit einem Nicken zum Stab hin. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Diese Nervosität sieht Euch aber gar nicht ähnlich. Stimmt etwas nicht?« »Schon gut, ich bin nur ... etwas müde.« »Hmm.« Sie war nicht überzeugt, drehte sich aber wortlos um und wandte sich wieder ihren anderen Pflichten zu. 34 Karr stand mit geschlossenen Augen da und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. In einem schattigen Winkel in der Nähe regte sich etwas. Langsam kam ein riesiger Körper ins Licht. Das Geschöpf war stark und kräftig gebaut, die Schultern breit. Es hatte einen dicken schwarzen Pelz und kurzes, rotbraunes Haar auf der helleren Brust. Das Gesicht sah aus wie altes Leder, die Nase war platt, und die Augen waren schwarz. Leicht torkelnd kam es dem Patrizier entgegen, die Fingerknöchel schleiften fast über den Boden. Als Karr das Schlurfen hörte, drehte er sich um. »Was haltet Ihr davon?«, fragte der Gorilla. Er drehte sich ungeschickt um sich selbst und gab unbewusst die Parodie einer arthritischen Matrone zum Besten, die sich in einem neuen Kleid bewundern lässt. »Es ist ein bisschen unförmig, aber erheblich bequemer als das kleine Mädchen. Noch ein paar minimale Anpassungen, und es müsste ...« »Um Gottes willen, erspart uns das«, unterbrach Karr ihn müde. »Was?«
»Mir hat das Kind besser gefallen.« »Oh.« So weit das überhaupt möglich war, schien der Gorilla enttäuscht. »Warum denn?« »Ich mag es nicht, wenn Ihr Euch ständig verändert. So widerborstig die Kleine auch war, bei ihr wussten wir wenigstens, woran wir waren.« »Mir kam es so vor, als wäre es höchste Zeit für eine Veränderung.« »Findet Ihr nicht, dass wir auch so schon genügend Veränderungen zu ertragen haben?« 35 »Dies aus Eurem Mund zu hören ist mir ein besonderes Vergnügen.« »Irgendwann reicht es einfach. Ich bin derzeit wirklich nicht in Stimmung, Streitgespräche mit einem Menschenaffen zu führen. Wenn es Euch also nichts ausmacht...« Der Gorilla hob beschwichtigend die Pranken. »Na gut, na gut.« Er drehte sich um und hoppelte mit baumelnden Armen und eingeknickten Knien in seine Ecke zurück. Im dortigen Zwielicht gab es heftige Bewegungen, ein helles Flackern war zu sehen, honigfarbener Nebel wallte, und ein stechender Schwefelgeruch breitete sich aus. Dann kam ein schlaksiger Mann aus der Ecke hervor. Er war alt und hatte ein abgehärmtes Gesicht, doch sein Rücken war gerade, und er schritt fest aus. Er trug ein einfaches blaues Gewand, das von einem Kummerbund gehalten wurde, und mit Gold bestickte Pantoffeln. Dieser Kleidungsstil wurde von vielen Magiern bevorzugt. Während er näher kam, strich er sich einige widerspenstige Strähnen im grauen Haar und Bart glatt. »Ich muss schon sagen, Ihr seid heute ausgesprochen schlecht aufgelegt, Patrizier«, bemerkte er. »Es tut mir Leid, Phönix. Es ist eine schwierige Zeit.« »Ihr seid erschöpft, Mann.« »Wir stehen unter großem Druck. Da der Umzug so nahe bevorsteht...« »Ihr könnt nicht die Sorgen der ganzen Welt auf Euren Schultern tragen. Ihr seht aus, als stündet Ihr schon mit einem Fuß im Grab. Ihr müsst lernen, Euch zu entspannen.« 36 »Entspannen? Wie könnte ich mich entspannen? All die Vorbereitungen und die Logistik, die große Zahl der beteiligten Menschen... Das Ausmaß dessen, Was wir vorhaben, ist geradezu atemberaubend.« »Trotzdem solltet Ihr Euch ein wenig schonen und mehr delegieren.« »Wusstet Ihr eigentlich schon«, antwortete Karr, der den Ratschlag überging, »dass letzte Nacht ein halbes Dutzend Häuser von hohen Kolonialbeamten in Flammen aufgegangen sind?« »Davon habe ich gehört.« »Allerdings war es nicht unser Werk. Die Leute nehmen die Dinge allmählich selbst in die Hand.« »Das ist doch gut, oder etwa nicht? Je mehr Schläge das Regime einsteckt, desto besser ist es für unsere Sache, oder nicht?« »Ihr wisst genau, dass wir keinen bewaffneten Aufstand anzetteln wollen. Wir setzen ihnen zu, ja, aber wir wollen keine direkte Konfrontation. Alles, was wir tun, fußt auf der Annahme, dass wir auf diese Weise nicht gewinnen können.« »Wir können aber auch nichts daran ändern, Karr. Wenn die Menschen so erbost sind, dass sie zuschlagen, dann sollten wir die Letzten sein, die sie daran zu hindern versuchen.« »Wir wollen aber keine Anarchie.« »Ich bin nicht sicher, ob ich da zustimmen kann. Hartes Durchgreifen der Regierung treibt uns die Leute in die Arme.« »Dabei ist alles meine Schuld.« »Was denn?« »Die letzten drei Monate, in denen die Repressionen immer schlimmer geworden sind. Ausgangssper37 ren, Unschuldige werden ins Gefängnis geworfen, Folterungen, Massenhinrichtungen. Alles ausgelöst durch den Überfall auf das Archiv. Ich hätte die Mission nicht genehmigen dürfen. Es war ein Fehler.« »Nein, es war kein Fehler. Wir haben sie empfindlich getroffen, und es war klar, dass es Gegenreaktionen geben würde. Es ist wirklich nicht nötig, dass Ihr Euch an allem die Schuld gebt.« »Was wir gewonnen haben, wurde durch die Folgen nahezu wieder aufgehoben. Die Paladine haben jetzt praktisch freie Hand. Die geringfügigen Freiheiten, die wir noch hatten, sind noch weiter eingeschränkt worden. Warum sollte ich mir da keine Vorwürfe machen?« »Weil es nicht Eure Schuld ist. Oder haltet Ihr Euch selbst für so wichtig und verkennt, dass auch Ihr nicht mehr seid als ein Rädchen im Getriebe, genau wie alle anderen? Ihr seid schließlich nicht der Einzige, der versucht, diesen Plan umzusetzen.« Karr gab sich geschlagen. »Das hatte ich wohl verdient. Ich glaube, ich bin vor allem deshalb so besorgt, weil wir ursprünglich gehofft hatten, an diesem Punkt eine weitaus bessere Kontrolle über die Entwicklung zu haben.« »Kontrolle ist eine Illusion, das solltet Ihr doch inzwischen wissen. Selbst im günstigsten Fall können wir nicht mehr tun, als auf der Woge mitzuschwimmen. Verliert nicht den Glauben, Karr. Nicht gerade jetzt. Nicht wenn wir so nahe vor dem Ziel stehen und dieses Ziel so viel Streit heraufbeschwört.«
»Streit ist ein zu starkes Wort. Einige Leute müssen noch überzeugt werden, das ist alles.« »Und der Grund dafür ist nicht schwer zu erken38 nen, oder?« Der Magier verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich meine, wenn man von allen Orten, die man aussuchen konnte, ausgerechnet...« »Fangt nicht wieder damit an, Phönix, ich bitte Euch. Das Ziel unserer Flucht wurde von allen Angehörigen des Bundes mit Ausnahme von Euch selbst und obendrein vom gesamten Rat gebilligt.« »Ich weiß, ich weiß. Ich meine ja nur, es ist ... eine ungewöhnliche Wahl. Und das ist unter denen, die Bescheid wissen, eher eine allgemeine Einschätzung.« »Die Entscheidung ist gefallen. Es gibt jetzt kein Zurück mehr.« »Ich wollte Euch ja nur daran erinnern, dass die Entscheidung nicht überall auf helle Begeisterung gestoßen ist«, erklärte Phönix. Seine Stimme klang ein wenig beleidigt. »Auch damit sagt Ihr nichts Neues.« Gerade als sie ihr Patt erreicht hatten, tauchte Goyter mit zwei Neuankömmlingen auf. Einer war groß und abgehärtet und trug ein schwarzes Gewand. Seine Augen waren dunkel und durchdringend. Mit ihm kam ein junger Bursche, beinahe schon ein Mann. Nicht rasiert wie sein Begleiter, sondern sehnsüchtig auf einen Schnurrbart wartend, und schüchtern. »Guten Morgen, Reeth«, begrüßte Karr den älteren Mann, froh über die Unterbrechung. Caldason nickte. »Und wie geht es dir heute?«, wollte Karr von dem jungen Burschen wissen. Kutch Pirathon sagte kein Wort, sondern starrte nur den Qalochier an. »Es ist schon wieder passiert«, erklärte Caldason. »Die Visionen?«, fragte Phönix. 39 »Und er hat schon wieder auf die gleiche Art versucht, ihnen zu entgehen.« Kutch ließ verlegen den Kopf hängen. Phönix seufzte. »Wir müssen das Übel bei der Wurzel packen.« An Caldason gewandt, fügte er hinzu: »Es wäre nützlich, wenn wir mehr Einzelheiten über das erfahren könnten, was er sieht.« »Ich habe Euch darüber bereits alles gesagt, was ich weiß.« Caldasons Antwort war schroff genug, um jede weitere Nachfrage zu unterbinden. »Komm schon, Kutch. Wir wollen darüber reden.« Phönix fasste den Jungen am Arm. »Augenblick mal.« Karr deutete auf Kutchs blutbefleckten Wams. »Was ist das denn?« »Was glaubt Ihr denn, was es ist?«, gab Caldason ein wenig gereizt zurück. »Wie oft muss ich Euch eigentlich noch sagen, dass Ihr solche Schlägereien bleiben lassen sollt?« »Ihr könnt es so oft sagen, wie Ihr wollt. Das wird mich nicht davon abhalten, zu tun, was ich für richtig halte.« »Wir können es uns wirklich nicht erlauben, jemanden wie Euch zu verlieren, aber wir können ganz sicher darauf verzichten, unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.« »Eine Streife hat mich aufgegriffen«, warf Kutch ein, »und Reeth ...« »Es ließ sich nicht vermeiden, Karr«, unterbrach Caldason ihn. »Oder wäre es Euch lieber gewesen, wenn der Junge erwischt und zum Reden gebracht worden wäre?« »Ich war dumm«, räumte Kutch mit niedergeschlagenen Augen ein. 40 »Und unbesonnen«, fügte Caldason hinzu. Der Junge schaute auf, und seine Antwort war beinahe ein Flüstern. »Ich glaube, ich bin nicht der Einzige, dem man dies vorwerfen könnte.« Caldason wollte etwas erwidern, doch er hielt sich zurück. Schließlich ergriff Karr wieder das Wort. »Jedenfalls ist jetzt gewiss nicht der richtige Augenblick, um den Narren zu spielen.« Sein Blick wanderte vom Mann zu dem Jungen. »Das gilt für euch beide.« Goyter und Phönix hatten bisher unbeteiligt in der Nähe gestanden; nun wandte er sich an sie. »Wie die beiden aussehen, braucht Kutch jetzt vor allem etwas Schlaf. Seht zu, dass er ihn bekommt, und dann tut, was Ihr tun könnt, Phönix.« Der Magier nickte und wollte gehen. Dann bemerkte er, dass Caldason ihn anstarrte. »Was ist los? Was ist denn?« »Ich glaube, der Affe hat mir besser gefallen.« »Pah.« Phönix drehte sich auf dem Absatz um. Kutch warf ihm noch einen langen Blick zu, ehe er mit Goyter im Labyrinth der Kellerräume verschwand. »Ich mache mir Sorgen wegen des Jungen«, gestand Karr, als sie gegangen waren. »Nicht ganz unbegründet«, meinte Caldason. »Ich weiß, was er sieht.« »Aber wir sind bezüglich der Frage, warum Ihr die gleichen Visionen habt, noch keinen Schritt weitergekommen.« »Ich versuche seit Jahren herauszufinden, warum ich sie habe und was sie bedeuten könnten. Es kommt mir so vor, als hätte ich ihn ... als hätte ich ihn irgendwie angesteckt.«
41 »Wir können nur hoffen, dass Phönix und der Bund irgendeine Lösung finden.« »Falls sie nicht alles noch schlimmer machen.« »Eure Haltung der Magie gegenüber ist verständlich, doch sie entspricht im Grunde nicht der Realität. Wenn es nach Euch ginge, dann sollen wir die womöglich einzige Gelegenheit einer Heilung für den Jungen gänzlich ignorieren. Ganz zu schweigen von den vielen anderen Vorteilen, die uns die Magie verschafft.« Er nickte zum Schießstand hin. Die erste Abteilung Puppen war zerfetzt und verkohlt, und die Überreste waren beseitigt worden. Jetzt arbeiteten die Tester daran, eine neue Gruppe zu zerstören. Einige Figuren trugen die auffälligen roten Umhänge der Paladin-Clans. Winzige Lichtblitze, so grell, dass es in den Augen schmerzte, sprangen knisternd aus den Stäben der Tester. Ein Pfeil wurde abgeschossen und mit einem präzisen Spruch in einige Dutzend identischer Pfeile aufgespalten. Die Zauberpfeile verpufften beim Aufprall und verschwanden, der echte Pfeil aber durchbohrte sein Ziel. Andere Geschosse wurden mit Schleudern abgefeuert, zerplatzten in einer grünen Wolke vor den Füßen der Puppen und gaben ein Knäuel angriffslustiger grüner Schlangen frei. »Ich vertraue lieber auf kalten Stahl«, meinte Caldason. »Das ist aber nicht das, was Kutch braucht.« »Gestern Abend hat es ihm geholfen.« Karr schüttelte langsam den Kopf und lachte leise. »In diesem Punkt werden wir wohl nie einer Meinung sein, was?« »Wahrscheinlich nicht.« Caldason sah ihn an. »Ihr 42 sagtet, Kutch brauche Ruhe. Das gilt aber noch viel mehr für Euch selbst. Ihr seht abgespannt aus.« »Das habe ich in der letzten Zeit schon öfter gehört.« »Dann richtet Euch danach. Die Leute können sich nicht alle irren. Ihr habt Euch zu viel aufgebürdet.« »Es wird bald besser werden, hoffe ich. Ich lege demnächst mein politisches Amt nieder und verzichte auf den Titel des Patriziers.« »Das habt Ihr schon oft angekündigt.« »Dieses Mal mache ich Ernst. Es ist ein Schritt, den ich schon längst hätte tun sollen.« »Gut. Wann wird es so weit sein?« »In ein paar Tagen. Es wird sich seltsam anfühlen, nachdem ich diesen Titel schon so lange trage.« »Ich glaube nicht, dass Politiker wirklich viel erreichen können. Selbst die paar Anständigen werden letzten Endes korrumpiert. Ihr solltet sehen, dass Ihr da rauskommt.« »Das denke ich inzwischen auch. Und vielleicht habe ich sogar viele Jahre verschwendet.« »Nein, verschwendet waren sie nicht. Ich sage ja nicht, dass Politiker überhaupt nichts ausrichten können.« Der Patrizier lächelte. »Aus Eurem Munde ist das ein gewaltiges Zugeständnis. Aber ich bin bereit für den Wechsel, auch wenn ich dadurch den geringen Schutz verliere, den mein Status mir bisher noch bietet.« »Dann werdet Ihr also tun, was Ihr Rukanis zu tun drängt, und in den Untergrund gehen?« »Darüber muss ich noch nachdenken. Wenn ich unmittelbar nach meinem Rücktritt verschwinde, be43 stätige ich möglicherweise nur den Verdacht, den die Behörden ohnehin schon haben. Vielleicht sollte ich eine Weile am öffentlichen Leben teilnehmen. Aber vorher habe ich noch eine äußerst unerfreuliche Aufgabe zu erledigen.« »Was denn?« »Ein gesellschaftliches Ereignis. Ein sehr hochrangiges dazu. Es ist ein Ball, bei dem gleich zwei Dinge zusammenkommen, die ich nicht mag: offizielle Auftritte und Maskerade.« »So etwas ist auch nicht unbedingt nach meinem Geschmack, aber ganz so schlimm klingt es doch eigentlich nicht.« »Ihr habt das Schlimmste ja noch gar nicht gehört. Der Ball wird vom Diplomatischen Korps aus Gath Tampoor und den Clans gemeinsam ausgerichtet. Ich werde das Vergnügen haben, die Gesellschaft von dem Gesandten Andar Talgorian und niemand Geringerem als Ivak Bastorran persönlich zu genießen.« »Ich würde einen ordentlichen Preis dafür bezahlen, mit dem Kerl ein paar Minuten allein verbringen zu dürfen«, knurrte Caldason. »Aber wenn es Euch so unangenehm ist, dann geht doch einfach nicht hin.« »Das lässt das Protokoll leider nicht zu. Vor allem nicht, weil ich dort meinen Rücktritt erklären will.« »Dann müsst Ihr es eben lächelnd ertragen.« »Ja, und danach konzentriere ich mich ausschließlich auf die Planung für unsere neue Zuflucht. Da wir gerade dabei sind ...« Mit der Gewandtheit des Berufspolitikers wechselte er das Thema. »Ich werde mich bald mit dem derzeitigen Besitzer des Ortes treffen, und ich hätte Euch gern dabei.« »Was könnte ich schon beisteuern?« 44 »Vielleicht etwas sehr Wertvolles. Ich kann noch nicht in die Einzelheiten gehen, aber ich möchte mich jetzt schon vergewissern, ob Ihr mitkommt.« »Es wäre hilfreich, wenn ich eine Ahnung hätte, was Ihr von mir erwartet.«
»Vielleicht könnt Ihr dem neuen Staat einen Dienst erweisen. Vielleicht aber auch nichts weiter, als dass Ihr als Beobachter am Treffen teilnehmt.« Caldason überlegte. »Also gut.« »Ich hätte auch Serrah gern dabei.« »Bei den Verhandlungen?« »Letzten Endes könnte es mit Eurer Einheit zu tun haben, der sie ja angehört.« »Unsere Einheit, die seit drei Monaten keinen Einsatz mehr hatte.« »Ich würde Serrah jedenfalls gern einschließen. Wir können es uns nicht erlauben, jemanden mit ihrer Erfahrung außen vor zu lassen, zumal wir in uns einer so schwierigen Lage befinden.« »Ich hätte sie gern wieder an meiner Seite. Sie hat nach ihrem Selbstmordversuch große Fortschritte gemacht. Allerdings ist sie manchmal ... unberechenbar.« »Sie hat so viel verloren, Reeth. Ihr Kind, ihren Beruf, ihr Land. Alles, woran sie geglaubt hat. Ich finde, man muss es ihr nachsehen, wenn sie etwas sprunghaft ist. Für einen echten Einsatz ist sie wohl noch nicht ganz bereit, aber wir sollten allmählich über diese Möglichkeit nachdenken.« »Wie ich schon sagte, ich hätte sie gern wieder an meiner Seite.« »Ausgezeichnet. Ich werde es ihr ausrichten lassen.« Er sah sich im geschäftigen Keller um und bemerkte 45 Goyter, die zu ihnen zurückkehrte. Er winkte sie zu sich. »Wisst Ihr vielleicht, wo Serrah sich heute Morgen aufhält?«, fragte er. Goyter befeuchtete einen Daumen mit der Zunge und blätterte ihre zahlreichen Dokumente durch. »Sie ist bei Tanalvah Lahn.« »Ah, das ist gut. Tanalvah ist ein Pol der Ruhe. Sie wird dafür sorgen, dass Serrah keinen Ärger bekommt.« 46 Serrah Ardacris hatte Ärger. Erschrocken sah Tanalvah, wie ihre Schutzbefohlene von den beiden Wächtern, die noch auf den Beinen waren, an die Mauer zurückgedrängt wurde. Sie hatten Piken und waren im Vorteil, und sie waren wütend. Serrah kämpfte gegen sie, als hätte sie Tollwut, und hackte wild mit der Klinge um sich, während sie sich zurückzog. Für Tanalvah sah die Lage hoffnungslos aus, doch Serrah schien zu lachen. Drei Kameraden der Wächter waren bereits am Boden. Einer stöhnte und wollte sich aufrichten, ein anderer lag bewusstlos auf dem Rücken. Um den Dritten, der sich ebenfalls nicht mehr rührte, breitete sich eine Blutlache aus. Die Bank, die sie am Kontrollpunkt auf die Straße gestellt hatten, war umgekippt, und im kalten Morgenwind flatterten Papierfetzen herum. Zu beiden Seiten des Wagens, der als Straßensperre diente, hatte sich eine kleine Menschenmenge gesammelt. 47 Ein lautes Krachen holte Tanalvah in die Gegenwart zurück. Serrah hatte die Pike eines Wächters in der Mitte durchgehackt. Der Besitzer starrte seine zerstörte Waffe fassungslos an, dann konnte er gerade noch ihrem nächsten Schlag ausweichen. Er warf die nutzlose Pike weg, zog sich rasch zurück und tastete nach seinem Schwert. Serrah nahm sich unterdessen grinsend seinen Kollegen vor. Er verfolgte eine einfache Strategie: Er wollte sie wie ein Stück Vieh vor sich hertreiben, bis er ihr die Pike in die Brust bohren konnte. Serrah hielt ihn für wenig einfallsreich. Sie drehte sich zu ihm um und nutzte den Schwung, um ihm einen tiefen Schlag zu versetzen. Er zuckte zurück und entging dem Hieb um Haaresbreite. Ihr nächster Schlag fügte ihm einen tiefen Schnitt auf der Hand zu. Heulend löste er die verletzte Hand von der Pike, die daraufhin wegsackte. Als er seine Waffe neu ausrichten wollte, griff sie sofort wieder an. Ihr Schlag traf ihn voll, er taumelte zurück und landete, alle viere von sich gestreckt, auf dem Boden. Die Pike rollte weg. Selbst von ihrem Standort aus, gut dreißig Schritt entfernt, glaubte Tanalvah noch einen satten Aufprall zu hören, als der Mann auf dem Pflaster landete. Serrah warf den Kopf zurück; ihr langes pechschwarzes Haar fiel offen herab, und sie lachte laut. Teilweise triumphierend, teilweise aber auch von tieferen Gefühlen bewegt. Der letzte Wächter griff sie an und brüllte, um seine Furcht zu verbergen. Sie blieb ungerührt stehen und ließ ihn kommen. Ihre Schwerter krachten zusammen und gaben ein unschönes Klirren von sich, das niemandem in der Umgebung entging. Dann entbrannte ein heftiger, erbitterter Zweikampf. 48 Ihr stürmischer Angriff brachte ihn rasch aus dem Konzept, und ihm war anzusehen, dass er die Auseinandersetzung am liebsten sofort beendet hätte. Seine Augen verrieten genug, selbst Tanalvah konnte es, einen guten Steinwurf entfernt, deutlich erkennen. Doch er bekam keine Atempause, und der Kampf wurde immer heftiger. Der Wächter schlug und hackte drauflos, während Serrah ihre Klinge führte wie ein Skalpell. Er wollte sie mit roher Gewalt und Körperkraft überwinden. Sie dagegen focht wie eine Meisterin. Einen Augenblick später schlug sie zu. Ihre Klinge riss ihm die Wange auf. Er stieß einen Schrei aus und legte eine Hand auf die Wunde. Rote Fäden rannen zwischen seinen Fingern hindurch. Voller Schmerzen ging er auf sie los und fuchtelte, wutentbrannt und heiser brüllend, mit dem Schwert herum. Sie lenkte seine Klinge ab und stach ihn nieder. Mit hängendem Kopf sank er eher, als dass er fiel, auf die Knie. Als er endgültig umkippte, hatte sie sich schon ein gutes Stück entfernt.
Tanalvah kam aus ihrem Versteck hervor und rannte der Freundin entgegen. Serrah lächelte. »Komm schon, wir müssen verschwinden!« Serrah starrte sie verständnislos an. Tanalvah packte ihr Handgelenk. »Wir können nicht hier bleiben, nun komm schon!« Serrahs Lächeln verblasste, und sie kam wieder zu sich. Sie betrachtete Tanalvahs Hand. »Du zitterst ja.« »Du bist diejenige, die eigentlich zittern sollte.« Sie drückte Serrahs Arm. »Das ist doch verrückt, gleich werden andere Bewaffnete kommen. Wir müssen sofort verschwinden.« 49 Die Gaffer schauten schweigend zu. Serrah sah sich um, als hätte sie ganz vergessen, wo sie war. Dann tauchte ein Teil ihrer alten Entschlossenheit wieder auf. »Ja. Ja, du hast Recht.« Sie nickte zur Durchgangsstraße hin. »Da entlang.« Sie rannten. Vereinzelte Hochrufe waren aus der Menge zu hören, einige riefen auch Ermutigungen. Wieder andere schrien, es habe ein Verbrechen gegeben. Als die Frauen sich im Laufschritt entfernten, gab es hinter ihnen eine nervöse Unruhe und ein wütendes Gedrängel, und eine kleine Abteilung Bewaffneter, die Bhealfa unter ihrer Knute hielten, erschien auf dem Schauplatz. Doch Serrah und Tanalvah wurden nicht verfolgt. Jedenfalls nicht von Menschen. Sie waren schon einen ganzen Häuserblock weiter, als Tanalvah an Serrahs Ärmel zupfte. »Schau!«, sagte sie und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Serrah sah nach hinten, ohne die Schritte zu verlangsamen. In Höhe der Dachkanten flog etwas, und es näherte sich rasch. Die riesigen Flügel flappten langsam und geradezu bedächtig. Dabei wusste jedes Kind, dass dieses Ding eigentlich gar keine Flügel brauchte. Ein Schatten fiel über die fliehenden Frauen. Das Wesen kreiste über ihnen, und jetzt konnten sie es deutlicher sehen. Es war eine Kreuzung, eine Art Fledermaus mit Merkmalen eines Insekts, wozu auch drei Paare von spindeldürren Beinen zählten. Es sah einer Stubenfliege recht ähnlich, hatte allerdings die Größe eines Heuwagens und rot glühende Augen. 50 »Ich glaube nicht, dass es ein Menschenjäger ist«, meinte Serrah. Sie runzelte gereizt die Stirn. »Das ist nur ein verdammter Schnüffler.« »Dann wird er sicher gleich herausschreien, dass er uns gefunden hat.« Sie liefen jetzt im Trab, doch der Spürzauber blieb über ihnen und hielt ihr Tempo. Zu dieser frühen Stunde waren nicht viele Menschen auf den Straßen, und die wenigen, die unterwegs waren, interessierten sich vor allem für die Verfolgungsjagd. »Alarm, Alarm!«, kreischte der Spürzauber. »Verbrecher gesichtet! Ruft die Wache!« »O nein«, seufzte Tanalvah. Die Leute blieben stehen und drehten sich um. »Zur Hölle damit.« Serrah griff zum Gürtel. Der Zauber flog über ihnen dahin und schrie: »Flüchtlinge, Aufständische, hierher, hierher, hierher!« Serrah zog ein Wurfmesser mit kurzer Klinge heraus. »Alarm, Alarm! Gesetzlose Elemente sind unterwegs! Ruft die ...« Sie holte weit aus und warf das Messer mit aller Kraft. »... örtlichen Milizen oder ...« Die Klinge traf die weiche Unterseite des Wesens und verschwand, als wäre sie verschluckt worden. Der Zauber blieb abrupt in der Luft stehen, auch die zackigen Flügel stellten ihre Arbeit ein. So unmöglich es auch aussah, das Wesen schwebte reglos in der Luft. Dann erschien an der Stelle, wo das Messer eingedrungen war, ein roter Fleck, der rasch größer wurde. Der Anblick erinnerte an Feuer, das ein Blatt Papier verzehrt, nur dass das vermeintlich feste Fleisch der Erscheinung nicht in Asche, sondern in unzählige sil51 berne Flocken verwandelt wurde. Immer schneller griff die Zerstörung um sich und verzehrte den Körper des Zaubers, fraß sich an den Flügeln entlang und löste die dürren Beine auf. Der schwarze Körper zerfiel zu einem Schauer strahlender Kügelchen. Wie silberner Hagel fielen sie herab und zerplatzten leise auf dem Straßenpflaster. Was dann noch übrig war, ging als weicher Regen nieder, der an Lötzinn erinnerte, bestäubte einen Augenblick lang die Straße und verschwand. Irgendwo fiel auch Serrahs Messer wieder herunter und klapperte auf das Pflaster. Sie hörten es, aber sie achteten kaum darauf. »Guter Wurf«, flüsterte Tanalvah, auch wenn sie offenbar immer noch große Angst hatte. »Ich habe ein gutes Messer verloren«, beklagte sich Serrah. Sie rannten weiter. Dieses Mal gaben sie sich bei der Flucht etwas mehr Mühe. Sie bewegten sich durch Seitengassen und Hinterhöfe, schmale Straßen und überdachte Durchgänge. Wo sie einen Blick auf die Hauptstraßen werfen
konnten, sahen sie berittene Milizionäre, die in jene Richtung vorrückten, aus der sie kamen. »Langsamer«, keuchte Serrah. »Wenn wir rennen, erregen wir nur unnötige Aufmerksamkeit.« »Mehr als wenn wir Leute umbringen?«, gab Tanalvah zurück. Serrah zuckte mit den Achseln. »Legst du es etwa darauf an, geschnappt zu werden?« »Nein.« Serrah warf ihr einen harten Blick zu. »Das wird nie wieder passieren. Lieber sterbe ich.« 52 »Ah, so sieht das aus.« »Was meinst du?« »Musst du da wirklich noch fragen? Du bist unberechenbar, Serrah. Was du da getan hast, war ... es war unvernünftig.« »Ich lasse mich nicht wie ein Stück Dreck behandeln.« »Es war völlig überflüssig. Du hättest ihnen einfach deinen Ausweis zeigen sollen. Die Fälschungen sind gut genug, um nicht aufzufallen.« »Du verstehst nicht, worum es mir geht, Tan. Sie haben mich respektlos behandelt. Ich bin kein Stück Fleisch, ich lasse mich nicht herumstoßen und beleidigen.« »Was nützt dir der Respekt, wenn du getötet wirst? Oder wenn sie uns beide schnappen? Wer weiß, was uns hätte passieren können.« Es waren nicht nur Tanalvahs erregte Vorhaltungen, die andere Passanten auf sie aufmerksam machten. Auch Serrahs pechschwarzes Haar, die hellbraune Hautfarbe und die markanten Gesichtszüge lockten die Blicke der Menschen an. Sie hatte genügend Erfahrung mit den Vorurteilen gegenüber Qalochiern, um die Blicke zu ignorieren. »Wie ich schon sagte«, gab Serrah kalt zurück, »man wird mich nicht fangen.« »Und was ist mit mir?« »Ich lasse auch nicht zu, dass es mit dir geschieht.« »Wirklich? Wie willst du das verhindern?« »Wenn es so aussieht, als könnten sie dich schnappen, dann würde ich dir die Kehle durchschneiden.« »Das finde ich wirklich beruhigend«, gab Tanalvah sarkastisch zurück. »Aber manche Handlungen haben Folgen, die nicht nur dich selbst betreffen.« 53 »Glaubst du, das wüsste ich nicht?« »Du handelst, als wäre es dir nicht klar.« »Ich tue, was ich tun muss.« »Und wenn der Kampf, den du gerade vom Zaun gebrochen hast, ein Urteil erlaubt, dann genießt du es.« »In gewisser Weise schon. Nichts ist so gut geeignet wie der nahende Tod, um dem Leben einen Sinn zu geben.« »Das ist ja immerhin ein Fortschritt. Vor einiger Zeit wolltest du nur den Tod und nichts sonst.« »Geh weiter«, drängte Serrah sie, ohne auf ihre Worte einzugehen. Als sie weiterliefen, murmelte Tanalvah: »Bei den Göttern, manchmal machst du mir richtig Angst.« Sie näherten sich dem Stadtzentrum. Hier waren die Straßen belebter als weiter draußen. Es war ein frischer Morgen, und die schwache, frühe Herbstsonne verbrannte den letzten Dunst der vergangenen Nacht. Der Nebel hatte sich gelichtet, doch die Magie lag wie immer schwer über der Stadt. Wo die Menschen sich in größerer Zahl versammelten, gab es natürlich auch magische Erscheinungen im Überfluss. Auf den Plätzen, Märkten und Boulevards im Zentrum Valdarrs war die Magie trotz der frühen Stunde schon dicht gewoben, und ihre Vielfalt entsprach jener der Bevölkerung. Für die Reichen waren die Zauber ein Mittel, um ihren Reichtum zu demonstrieren. Sie schlenderten in Begleitung magischer Eskorten, die unerhört schön oder ausnehmend widerwärtig waren, durch die Straßen. Sie lockten Schwärme fliegender Tauben aus Eis zu sich, die schmolzen oder in tausend Stücke zer54 sprangen, wenn sie den Boden berührten. Sie beschworen Scharen rosafarbener Rehkitze herauf oder Libellen in der Größe von Tauben, in deren Körpern blendend helles Licht pulsierte. Sie ließen sprechende Bären herumlaufen und erschufen Hähne, die eher singend als krähend die Stunde verkündeten. Für die Armen war die Magie eine Linderung ihres Elends. In Seitenstraßen und anrüchigen Vierteln spielten ungewaschene Kinder mit billigen Spaßzaubern, die flackernd und unscharf ihre Magie zum Besten gaben. Akrobaten, in verschwommenen Farben dargestellt, führten flackernd ihre Kunststücke vor. Die hageren Eltern der Kinder trugen Lumpen und versuchten, sich mit Betteln über Wasser zu halten. Sie setzten primitive Zauber ein, die gefälscht oder gestohlen waren, um einfache Musikinstrumente zu erschaffen. Magische Pfeifen und Geigen schwebten frei in der Luft und quakten und kratzten einfache Melodien. Hin und wieder warf ein Passant eine Münze in eine umgedrehte Mütze. Es gab auch magische Bettler, die für einen guten Zweck sammelten, etwa um die Armut zu lindern. Diese Zauber, die saubere Lumpen und sauber gewaschene, lächelnde Gesichter hatten, waren idealisierte Versionen ihrer menschlichen Gegenstücke. Ihre Mützen quollen vor Münzen über, während die echten Armen ignoriert wurden.
Überall fanden sich glitzernde Illusionen und raffinierte Trugbilder, um die Sinne zu täuschen. Ständig erschienen neue Zauber, während andere, verbraucht oder weggeworfen, erloschen. Ein neuer Tag der unendlich formbaren Realität hatte begonnen. 55 Serrah und Tanalvah nahmen all das ganz selbstverständlich hin. Ihre Gedanken kreisten vor allem um die Frage, wie sicher sie auf den Straßen waren. Wie nicht anders zu erwarten, mischten sich Streifen und Milizabteilungen unter die Menschen, und in der letzten Zeit hatte deren Zahl noch erheblich zugenommen. Jetzt standen zusätzlich sogar gewöhnliche Soldaten an jeder Ecke, und überall waren die auffälligen roten Uniformen der Paladin-Clans zu sehen. Tanalvah bemühte sich so gut sie konnte, jede Aufmerksamkeit zu vermeiden. Sie betete, dass Serrah ihrem Beispiel folgen möge. »Es gibt ein Gerücht, dass demnächst der private Waffenbesitz verboten werden soll«, vertraute Tanalvah ihr an. »Wie kann das sein? Du darfst nicht so viel auf den Klatsch geben, Tan.« »Kinsel hat es in der Konzerthalle gehört. Ein hochrangiger Beamter soll es gesagt haben.« »Das werden sich die Leute nicht gefallen lassen. Sie werden Widerstand leisten. Falls jemand versuchen sollte, mir das Schwert abzunehmen ...« »Da geht es schon wieder los. Du tust, als wäre alles durch Gewaltanwendung lösbar.« »Wie sonst willst du sie aufhalten? Mit zärtlichen Worten und Girlanden?« »Ich meine doch nur, dass ...« Tanalvah sah sich um und senkte die Stimme. »Ich meine doch nur, dass es nicht der richtige Augenblick ist, irgendein Risiko einzugehen. Nicht wenn der Umzug so nahe ist.« Eine Erscheinung, die einem Gespenst ähnelte, flog mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Sie wirkte irgendwie weiblich und war in eine Art Gaze gehüllt, die hin56 ter ihr her flatterte wie Spinnweben. Das Wesen kümmerte sich nicht um sie. Tanalvah nahm an, dass es sich um eine Art Botenzauber handelte. »Da ich nicht beteiligt bin, kann ich die Pläne auch nicht in Gefahr bringen, oder?« »Aber ich bin sicher, dass sie dich dabeihaben wollen. Schließe dich der Bewegung an. Mit deinen Fähigkeiten ...« »Ja«, gab Serrah zynisch zurück. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen.« »Ach, Serrah ... ja, wir brauchen dich wirklich. Ob du nun beim Umzug eine Rolle spielen willst oder nicht.« Sie erreichten eine Kreuzung zweier Durchgangsstraßen. Große Kutschen fuhren vorbei, die von Zebras, Hirschen, Panthern, grotesk vergrößerten Schwänen und Eidechsen sowie hundert anderen exotischen Tieren gezogen wurden, in die man die Pferde mithilfe der Magie verwandelt hatte. »Ich gehe wieder in Karrs Haus«, entschied Serrah. »Ich komme mit.« »Nein, das ist nicht nötig.« »Ich mache mir Sorgen um dich.« »Es ist wirklich nicht nötig.« »Nun ja, ich sollte eigentlich zu Kinsel zurückkehren. Bist du sicher, dass du zurechtkommst?« »Ja, es wird schon gehen.« »Wenn du wieder auf eine Straßensperre triffst...« »Ich verspreche dir, dass ich mich zurückhalten werde.« Serrah lächelte schwach, aber von Herzen, drehte sich um und verschwand in der Menge. Tanalvah sah ihr noch einen Augenblick nach, dann entfernte sie sich in die andere Richtung. 57 Es war nicht weit bis zum Haus, doch Tanalvah näherte sich ihrem Ziel vorsichtshalber auf Umwegen. Sie lebte jetzt in einer wohlhabenden Gegend. Es gab hier breite, saubere Straßen und großzügige, gut unterhaltene Häuser. Die Magie, die man hier zu sehen bekam, war geschmackvoll und teuer, und die Bettler hielten sich fern. Alles an dieser Gegend schien geeignet, ihr Schuldgefühle einzuflößen. Als Tanalvah die Villa betrat, wartete ihr Geliebter schon auf sie. Sie umarmten sich, dann sagte er: »Was ist los, Tan? Du wirkst so besorgt.« »Ich war mit Serrah unterwegs.« »Ah.« Mehr brauchte Kinsel Rukanis eigentlich nicht zu wissen. Er war in der Nähe gewesen, als Serrah ihrer tiefen Verzweiflung nachgegeben hatte, und er hatte beobachten können, wie es ihr seither ergangen war. Dennoch fragte er: »Was ist denn passiert?« »Nichts, was sie nicht schon ein Dutzend Mal getan hätte. Nicht, dass es dadurch weniger beängstigend wird.« »Nein. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir, wenn Serrah nicht gewesen wäre ...« »... dass wir dann gar nicht erst bis hierher gekommen wären. Ich weiß. Wenn sie dies nicht für uns getan hätte, dann würde ich sagen, sie soll zur Hölle fahren.« »Sie braucht ihre Freunde jetzt mehr denn je. Mit ihrem Selbstmordversuch haben ihre Sorgen ja nicht aufgehört. Ganz im Gegenteil.« »Wenigstens hat sie es nicht noch einmal probiert.«
»Wirklich? Meinst du nicht, ihr waghalsiges Auftre58 ten könnte womöglich nichts weiter als eine andere Art sein, ihrer Todessehnsucht nachzugeben?« »Ich glaube, ganz so einfach ist das nicht. Nun ja, teilweise mag es durchaus zutreffen. Vor allem glaube ich, dass sie ... dass sie ausprobiert, wie weit sie gehen kann. Es ist, als müsste sie stets die Kontrolle behalten, auch wenn es bedeutet, dass sie Situationen erzeugt, in denen sie die Kontrolle höchstwahrscheinlich schnell verlieren wird.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ach, ich weiß es auch nicht.« »Wir können im Augenblick keine derartigen Probleme gebrauchen, Tan. Nicht, da der Umzug unmittelbar bevorsteht.« »Das habe ich ihr auch gesagt. Vielleicht hat sie es verstanden, aber sicher bin ich mir nicht.« Kinsel seufzte. »Der Rat hat wahrlich genug Probleme, mit denen er sich befassen muss, zumal unser Ziel so großen Widerspruch erregt hat.« »Das muss aber nicht deine Sorge sein, mein Lieber. Sollen doch die anderen die Entscheidungen fällen. Zerbrich dir deshalb nicht den Kopf.« »Das sieht mir ähnlich, was?« Er lächelte beinahe schüchtern. »Ich glaube, ich kann nicht anders, weil mir dieses Unternehmen nun einmal sehr am Herzen liegt. Ich will auf keinen Fall, dass es irgendwie gefährdet wird.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Das weiß ich doch. Selbst wenn wir nicht völlig mit dem Ort einverstanden sind, den der Rat ausgewählt hat.« »Es war auf jeden Fall eine kluge Wahl.« »In gewisser Weise, ja. Aber sie weckt bei vielen meiner ehemaligen Berufskolleginnen böse Erinnerungen. Der Ort war bei Huren nie besonders beliebt.« 59 »Ich wünschte, du würdest...« »Wir können nicht ungeschehen machen, was ich früher getan habe, Kin. Ich dachte, wir seien uns einig, dass wir ehrlich damit umgehen wollen.« »Das sind wir auch. Es gefällt mir nur nicht, wenn du so über dich selbst sprichst.« »Es ist doch nur ein Wort. Eine Beschreibung für etwas, das ich früher einmal getan habe, aber nicht für das, was ich jetzt bin.« »Ja, das ist richtig, meine Liebe. Und was unseren Zufluchtsort angeht, so können wir seine Geschichte zu vergessen versuchen und etwas Besseres aufbauen. Es spielt keine Rolle, wo unser Zufluchtsort ist. Wichtig ist nur ...« Er beugte sich vor und küsste sie. »Wichtig ist nur, dass wir den gleichen Traum träumen.« »Ja, Liebster.« »Ich wünschte nur, ich könnte etwas Konstruktives beisteuern, um den Traum zu verwirklichen.« »Ist heute ein Tag, an dem du dir ständig Vorwürfe machen musst?« »Nun ja, als Pazifist kann ich in der Widerstandsbewegung nicht viel ausrichten.« »Du Narr«, widersprach sie liebevoll. »Du hast unermesslich viel für die Sache getan und dabei sogar dein Leben riskiert.« »Ich glaube, jetzt übertreibst du ein wenig, Tan. Wie auch immer, seit Karr mich nicht mehr als Spion arbeiten lässt, komme ich mir vor wie das fünfte Rad am Wagen.« »Ich bin froh, dass er dich da herausgezogen hat. Es ist viel zu gefährlich geworden. Jetzt kannst du dich auf deine wahre Begabung konzentrieren.« 60 »Anis Singen? Das kommt mir in Zeiten wie diesen ziemlich unsinnig vor.« »Es schenkt den Menschen eine kleine Erholungspause. Unterschätze nicht den Wert, den dies hat, mein Lieber.« »Wenn überhaupt jemand eine Erholungspause bekommt, Tan, dann sind es die falschen Leute - die Wohlhabenden, die Mächtigen, die Besatzer und ihre Anhänger. Ich komme mir so nutzlos vor.« »Dann unternimm etwas und mach dich nützlich.« »Wie meinst du das?« »Du hast eine Gabe, die dir von den Göttern geschenkt wurde. Es ist eine Sünde, sie nicht zu nutzen. Lasse diejenigen deine Stimme hören, die sie normalerweise nie hören würden. Lass die Armen endlich auch einmal etwas Schönes erleben.« »Ich habe immer versucht, vor möglichst großem Publikum aufzutreten.« »Ja, aber was ist dabei herausgekommen? Ein paar Freikarten für Bedürftige. Das ist nicht deine Schuld, Kin. So sieht das System, in dem du dich befindest, eben aus. Nein, ich stelle mir eine große Veranstaltung vor, billig genug, damit die Menschen es sich leisten können. Nein, vergiss das. Umsonst. Umsonst und für jeden offen.« »Auf einem großen Platz in der Stadt. Oder in einem Park.« »Genau.« »Das ist eine gute Idee, Tan. Aber ...« »Was denn?« »Vergiss nicht, dass hier eine Art Ausnahmezustand herrscht. Kriegsrecht. Die Behörden sind nicht gerade versessen auf große Versammlungen.«
61 »Du kennst so viele Leute. Nutze deine Kontakte. Lass deine Beziehungen spielen.« Kinsel fing an zu strahlen. »Ja, das könnte ich vielleicht versuchen.« »Verkaufe es als Ereignis, das die Massen besänftigen soll. Du weißt schon, ein Weg, um die Leute von ihren Sorgen abzulenken.« »Brot und Spiele.« »Wenn du es nicht ernst nimmst, Kin ...« »Doch, doch.« Er umarmte sie lachend. »Wie ich schon sagte, es ist eine gute Idee. Vielen Dank, Tan.« Sie spürte, dass die Idee ihn gepackt hatte. Es war gut, dass er wieder ein Ziel vor Augen hatte und nicht mehr ständig an den Umzug dachte. Auf der Treppe war ein Poltern zu hören, dann wurden schrille, aufgeregte Stimmen laut. Kinsel grinste. »Da kommt der Ärger.« Zwei kleine Wirbelstürme platzten herein. Teg, beinahe sechs Jahre alt, hatte einen roten Schopf und Sommersprossen auf den Wangen. Seine Schwester Lirrin, beinahe neun, hatte eine lange blonde Mähne, die fast so hell war wie ihre Haut. Die Kinder warfen sich in die ausgebreiteten Arme. Lachend und unter lebhaftem Austausch von Zärtlichkeiten schob Kinsel sie ins Wohnzimmer. Tanalvah folgte als Letzte und beobachtete die anderen. Lirrin, die wie immer ein wenig ernst schien, sogar dann, wenn sie keinerlei Aufgaben zu verrichten hatte. Teg, glücklicherweise noch viel zu klein, um die entsetzliche Wahrheit über die Ermordung ihrer Mutter zu verstehen. Und Kinsel. Ein wenig klein geraten, aber kräftig gewachsen, mit dem fassähnlichen Brustkorb des 62 klassischen Sängers, kurz gestutztem schwarzem Haar und einem sauber getrimmten Bart. Auf Händen und Knien ließ er sich glücklich von den Kindern als Pferdchen benutzen und wurde selbst wieder zum Kind. Vielleicht versuchte er auf diese Weise, die Verletzungen zu heilen, die seine eigene Kindheit überschattet hatten. Tanalvahs Familie. Die einzige Familie, die sie je gehabt hatte. Wie durch ein Wunder war diese Familie auf einen Schlag in ihr Leben getreten. Ein Geschenk der Götter. Sie sollen ein besseres Leben haben, dachte sie. Wir alle wollen es haben. In unserem neuen Heim. Sie schauderte, als wehte ihr aus der ungewissen Zukunft ein kalter Wind entgegen. Falls wir jemals dort ankommen. 63 Wie in jedem anderen Land gab es auch in Bhealfa Gegenden, die man gewöhnlich mied. Gefährliche, unheimliche Orte wie die Große Schlucht in Murcall, die sich der Legende nach einst aufgetan hatte, um die eindringende Horde eines Kriegsherrn zu verschlucken. Orte wie den Wald von Böhm mit seinen eigenartigen Ruinen, von denen viele Menschen glaubten, sie seien bereits in der Ära der Gründer entstanden, und aus denen nur wenige Reisende jemals zurückkehrten. Oder die Bodenverwerfung im Tal von Starkiss, wo in regelmäßigen Abständen ein Geysir rohe Magie ausspuckte, obwohl man schon seit dreißig Jahren versuchte, das Loch zu schließen. Auch in den Städten gab es unbeliebte Viertel. Gesetzlose Bezirke, Schuldtürme und Besserungsanstalten nahmen die vorderen Plätze auf der Liste ein. Ein Ort aber wurde noch stärker gemieden als alle anderen. Ein Ort, zu dem die Menschen eher geschleppt wurden, als dass sie ihn freiwillig aufsuchten. 65 Das Hauptquartier der Paladin-Clans in Valdarr war eine abweisende Bastion, die in der herbstlich frühen Dämmerung womöglich noch schroffer wirkte, als sie es ohnehin schon war. Es war ein großer, beeindruckender Komplex aus grauen Steinbauten, die von hohen Mauern und streng bewachten Toren abgeschirmt wurden. Schwarze Banner flatterten auf den zahlreichen Wachtürmen. Die Tatsache, dass dieser Gebäudekomplex an einer so prominenten Stelle stand, legte ein Zeugnis von der unermesslichen Macht der Clans ab. Die Paladine waren Glücksritter, um es höflich auszudrücken, kämpften sie doch sowohl für Gath Tampoor als auch für Rintarah und verkündeten obendrein, es könne keinen Interessenkonflikt geben. Ihre verfassungsrechtliche Position war einzigartig. Sie galten als staatenlos - eine juristische Finesse, die sie dankbaren Kunden in beiden Lagern zuzuschreiben hatten. Wenn ein Unwissender fragte, was denn die Paladine zu bieten hätten, das die normalen Truppen nicht bieten konnten, dann lautete die Antwort: Alles und jedes. Folglich waren sie reich und übten großen Einfluss aus. Als das Licht schwächer wurde, lief ein Mann über die makellos sauberen Wege zwischen zwei Reihen gut gepflegter Gebäude. Ein Beobachter hätte ihn auf etwa zwanzig geschätzt. Er war blond und glatt rasiert. Seine Tunika war schwarz und hatte dreifache rote Linien an den Ärmeln und einen roten Flecken auf der linken Brust. Diese Abzeichen verrieten, dass seine Aufgaben eher im Verwaltungsbereich als bei der kämpfenden Truppe lagen und dass er den Clans diente, ohne jedoch als vollwertiges Mitglied geboren zu 66 sein. Unter einem Arm trug er eine Dokumentenmappe aus wasserabweisendem Stoff. Mit geradem Rücken bewegte er sich energisch, der freie Arm pendelte wie bei einer militärischen Parade. Aufmerksame menschliche Augen beobachteten ihn, und Lauschzauber schwebten über ihn hinweg.
Seine Gedanken kreisten um die Geheimnisse, die in dieser abweisenden Umgebung gehütet wurden. Die Geheimnisse der Paladine und seine eigenen. Er erreichte ein niedriges, lang gestrecktes einstöckiges Gebäude, das genau genommen nur ein Gebäudeflügel war, der aus einem größeren, zentralen Bauwerk ragte. Dies war der Kern der Festung. Die Mauern waren atemberaubend hoch und mit Zinnen bewehrt. Der Gebäudeflügel war eine Krankenstation, die den hochrangigen Offizieren vorbehalten war. Zwei Wächter standen vor der Tür. Ihre Tuniken waren karminrot, was sie als Vollmitglieder der Clans auswies. Sie salutierten nicht, als er kam, sondern traten nur zur Seite und ließen ihn passieren. Er nickte und trat ein. Drinnen ging er einen Flur hinunter, von dem zu beiden Seiten Türen abzweigten. Der Raum, den er aufsuchen wollte, befand sich am hinteren Ende. Kurz bevor er ihn erreichte, flog die Tür auf. Ein älterer Mann stolperte heraus. Seine Gewänder wiesen ihn als Arzt aus, und er war offensichtlich sehr erregt. Kaum dass er durch die Tür war, flog ein Porzellankrug hinter ihm her, der ihn nur knapp verfehlte und an der gegenüberliegenden Wand zerschellte. Mit aschgrauem Gesicht stürmte der Heiler vorbei und floh. Der junge Mann holte tief Luft, klopfte an und steckte den Kopf ins Zimmer. 67 »Ich sagte doch, dass Ihr draußen bleiben sollt - oh, du bist es, Meakin.« Devlor Bastorran, der Erbe der Führerschaft über die Clans, lag in einem übergroßen Bett. Ein Bein war vom Oberschenkel bis zum Fußgelenk eingegipst und hing in einem Flaschenzug. Er hatte zahlreiche Narben und Schürfwunden, und im kurz geschnittenen schwarzen Haar konnte man eine kleine rasierte Stelle erkennen, wo eine Platzwunde noch nicht ganz verheilt war. Er stellte die Porzellanschale ab, die er gerade hatte werfen wollen. »Nun steh nicht so herum, Mann. Komm herein!« Lahon Meakin trat ein. »Wenn es Euch gerade nicht passt, Sir ...« »Zeit ist etwas, das ich im Augenblick im Überfluss habe.« Er nickte zu einem Stuhl hin. »Setz dich.« Der Adjutant schloss hinter sich die Tür und ließ sich auf einem Stuhl nieder. Die Aktenmappe legte er auf seinen Schoß. Bastorran drehte sich um und sah ihn an. Die Bewegung schmerzte offensichtlich, denn er zuckte zusammen. »Verdammtes Bein!« »Soll ich Hilfe holen, Sir?« »Auf keinen Fall. Wenn dieser letzte Heiler als Maßstab dienen soll, dann bin ich ohne die Art von Zuwendung sicher besser dran.« »Sir.« »Also gut, dein Bericht.« Meakin blätterte die Akten in seiner Mappe durch. »Und fasse dich kurz, ja?«, fügte Bastorran hinzu. »Nur das Wichtigste.« »Ja, Sir. Ich habe hier eine Übersicht.« Er fischte ein Dokument heraus und räusperte sich. »Mal sehen. Die 68 Berichte für den heutigen Tag sind noch nicht vollständig eingegangen, aber wir haben den größten Teil der Zahlen aus Valdarr für die letzten vierundzwanzig Stunden. Es gab vierzehn Fälle von öffentlicher Ruhestörung, die schwerwiegend genug waren, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Fünf Fälle von Brandstiftung in Gebäuden der Regierung oder des Reichs. Es gab einen Versuch, einen Waffentransport zu entführen, der erfolglos verlief, wenngleich drei Todesopfer zu beklagen sind. Leider haben bei verschiedenen Vorfällen auch zwei Paladine ihr Leben verloren. Ebenso elf Angehörige der Stadtwache und ein lizenzierter Zauberer, der einer solchen Einheit zugeteilt war.« »Festnahmen?« Meakin sah auf einem anderen Dokument nach. »Äh, siebenhundertzweiundzwanzig, Sir.« »Schon wieder gestiegen.« »Ja, Sir. Einunddreißig davon wurden mit einer standrechtlichen Hinrichtung zum Abschluss gebracht, wie es die neuen Notstandsverordnungen erlauben.« »Ausgezeichnet. Es sieht so aus, als hätte man uns endlich gestattet, die Samthandschuhe auszuziehen.« »Der Hohe Clanchef wird sich sicher sehr darüber freuen, Sir.« »Mein Onkel?« Bastorrans Gesicht verdüsterte sich. »Da er sich doch schon seit so langer Zeit für härtere Maßnahmen gegenüber den Aufständischen einsetzt, Sir«, fügte Meakin eilig hinzu. »Ah, ja. Onkel Ivak steckt im Augenblick ziemlich in der Scheiße.« Wenn Meakin der Ansicht war, diese Bemerkung sei respektlos, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Wollt Ihr die Einzelheiten hören, Sir?« 69 »Was?« »Über die Verhaftungen. Ich kann sie für Euch aufschlüsseln nach ...« »Einzelheiten ermüden mich, das solltest du doch inzwischen wissen. Das einzig Wichtige ist, dass wir jetzt mehr Kriminelle denn je ins Gefängnis oder aufs Schafott schicken. Aber das ist nicht der Grund dafür, dass ich
dich gerufen habe.« »Sir?« »Du sollst jemanden kennen lernen. Ich weihe dich ein, weil du möglicherweise zu dieser Person Verbindung aufnehmen musst, wenn ich es nicht selbst tun kann. Du brauchst aber nicht zu wissen, welche Aufgabe sie für die Clans erledigt, und du musst nicht mehr als unbedingt nötig über diese Besucherin erfahren.« »Ich verstehe, Sir.« »Dann verstehe auch dies«, fuhr er mit Nachdruck fort und fasste seinen Adjutanten scharf ins Auge. »Alles, was du in Zusammenhang mit dieser Person erfährst, ist streng geheim. Jeder Vertrauensbruch wird schärfste Konsequenzen nach sich ziehen. Du stehst noch nicht lange in meinen Diensten, deshalb will ich dich an die Bedeutung des Eides erinnern, den du auf die Clans geschworen hast, und an deinen persönlichen Eid auf mich. Du weißt, welche Folgen es hat, wenn du ihn brichst.« »Ja, General.« Etwas milder gestimmt, fuhr Bastorran fort: »Du bist bei den Paladinen rasch aufgestiegen, Meakin. Bemerkenswert schnell sogar, wenn man bedenkt, dass du nicht von Geburt an zu den Clans gehörst. So etwas geschieht nicht oft, und nicht alle beobachten 70 deinen Aufstieg mit wohlwollenden Blicken. Betrachte dies also als eine Prüfung deiner Loyalität. Diene mir gut, und du wirst es nicht bereuen.« »Ja, Sir. Danke, Sir.« »Ich sollte dir noch etwas über unsere Besucherin sagen. Sie ist eine Symbiontin.« Meakin hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. »Eine Verschmolzene?« »Ich glaube, das ist der gebräuchliche Begriff für eine sehr ungewöhnliche ... Beziehung. Du solltest ihn aber nicht in ihrer Gegenwart gebrauchen.« »Natürlich nicht, Sir.« »Ich erwarte, dass du ihr gegenüber die gleiche Höflichkeit an den Tag legst wie gegenüber jedem anderen, der für uns arbeitet.« »Ich habe noch nie eine Symbiontin gesehen, Sir. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß.« »Nur sehr wenige Menschen bekommen sie zu sehen. Es gibt wohl nicht sehr viele von ihnen. So einen Pakt gehen nicht viele Menschen freiwillig ein.« Draußen auf dem Flur regte sich etwas. »Ich glaube, du wirst gleich deine erste Begegnung erleben, Meakin.« Jemand klopfte laut an die Tür. »Herein!« Begleitet von einem Wächter, den Bastorran sodann mit einer knappen Geste entließ, trat der Gast ein. Die Person, die nun vor ihnen stand, war eine beeindruckende Erscheinung. Sie wirkte androgyn, das hellblonde Haar war so kurz geschnitten, dass man es kaum noch erkennen konnte. Die Haut war wie weißer Marmor, und sie hatte schmale, blutleere Lippen. Meakin fand ihre Augen äußerst beunruhigend. Sie waren unglaublich groß, und die Iris waren schwärzer 71 als alles, was er bisher bei einem Menschen gesehen hatte. Die helle Haut hob diese Abgründe noch stärker hervor. Sie war schlank, doch ihre Haltung verriet, dass sie durchtrainiert und kräftig war. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Eigenartiges, als wären alle Konturen nicht ganz dort, wo sie eigentlich sein sollten. Die Frau war weder hässlich noch schön zu nennen, allerdings besaß sie eine strenge Eleganz. Wie ein Fleisch gewordener Gletscher. Insgesamt hinterließ sie einen beunruhigenden und irgendwie hypnotischen Eindruck. Sie war völlig entspannt und erwiderte ungerührt den Blick der Männer. »Willkommen«, sagte Bastorran schließlich. Die Frau nahm den Gruß kaum zur Kenntnis. »Dies ist mein Adjutant«, fuhr er fort. »Sein Name ist Lahon Meakin. Meakin, begrüße Aphri Kordenza.« Beide nickten, sie sehr knapp und desinteressiert. »Für den Fall, dass ich mich nicht persönlich mit Euch treffen kann, Kordenza, könnt Ihr mit Meakin hier Verbindung aufnehmen. Aber nur mit Meakin und mit niemandem sonst. Ich hoffe doch, das ist klar?« »Ja.« Meakin sträubten sich die Haare, als er das Timbre ihrer Stimme hörte. »Es gibt keinen Grund mehr, dass du noch hier verweilst, Meakin«, entschied Bastorran. »Du kannst jetzt gehen.« Der Adjutant hatte den Befehl offenbar nicht gehört und starrte die Symbiontin unverhohlen an. »Meakin.« »Sir!« 72 »Verschwinde. Und sorge dafür, dass wir nicht gestört werden.« Der Adjutant sammelte seine Papiere ein und ging leise hinaus. Der ans Bett gefesselte Paladin und die magische Symbiontin betrachteten einander.
»Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich entkopple?«, fragte Kordenza. »Wie bitte?« »Das Teilen des Körpers mit einem magischen Partner wird unbequem, wenn wir zu lange beide gleichzeitig darin sind. Ich bekomme ein Gefühl, als hätte ich zu viel gegessen. Ich hoffe, unsere Kohabitation in Zukunft weniger unangenehm gestalten zu können. Bis dahin aber ...« Ohne die Handschuhe auszuziehen, deutete sie mit einem Daumen auf ihre flache Brust. »... lieber draußen als drinnen, wenn Ihr wisst, was ich meine.« Sie lächelte, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. »Vergesst nur nicht, dass ich Männer draußen vor der Tür habe. Falls Ihr daran denken solltet...« »Regt Euch ab, General. Wir sollten einander vertrauen. Wir haben eine geschäftliche Beziehung. Außerdem, wenn wir Euch töten wollten, dann wärt Ihr längst tot.« Das Wort »wir« störte ihn erheblich. »Nun gut, nur zu.« Was als Nächstes geschah, war erschreckend genug, auch wenn es schnell vor sich ging. Aphri Kordenza machte einfach einen Schritt zur Seite. Doch ein Umriss ihres Körpers blieb auf dem Platz stehen, den sie gerade geräumt hatte. Der Umriss schwebte in der Luft wie ein Seil, das ihre Figur nachzeichnete. Inner73 halb dieser Silhouette tanzten und wirbelten kleine Partikel wie im Kaleidoskop. Sie verdichteten sich, und nach einigen Sekunden entstand eine neue Gestalt, die annähernd menschlich wirkte. Sie sah aus wie Kordenzas Ebenbild. Bastorran bemerkte eine fast unsichtbare, geschmeidige Membran, oder ein Spinnennetz aus vielen kleinen Fäden, das Kordenza mit dem heraufbeschworenen Zauber verband. Das Geflecht spannte sich, riss und wurde sogleich vom Doppelgänger absorbiert. Bei näherer Betrachtung stellte sich freilich heraus, dass Kordenzas Doppelgänger nicht völlig identisch war, auch wenn er die gleiche Kleidung trug. Genau wie sie war er androgyn, doch er besaß eindeutig maskuline Züge. Und er war nicht ganz und gar menschlich. Kordenza streckte sich, zog die Ellenbogen zurück und ließ den Kopfkreisen. Dabei erweckte sie den Eindruck, als wäre ihr eine Last von den Schultern genommen worden. Ihr magischer Zwilling tat neben ihr das Gleiche. Ohne es zu bemerken, war jeder ein Spiegel für den anderen, wie bei einer gut durchdachten Choreografie. Kordenza schnaufte und richtete sich auf. »Was Ihr zu sagen habt, könnt Ihr uns beiden sagen.« »Wir arbeiten zusammen«, fügte das magische Wesen hinzu. Seine Stimme verriet, was es wirklich war, sofern man überhaupt noch Zweifel haben konnte. Die Stimme klang sehr nach Zauberei, ein wenig hohl, ein wenig leblos, nicht ganz und gar menschlich. Bastorran betrachtete das Paar schweigend, als müsste er überlegen, mit wem er sich nun zu befassen 74 hatte. »Wie soll ich Euch nennen?«, fragte er schließlich. »Aphrim«, entgegnete das magische Wesen. Aphri lehnte sich mit verschränkten Armen an eine Kommode. Das Zauberwesen, das Bastorran sich mit großer Mühe als ein »Er« vorzustellen versuchte, nahm am Kamin eine ähnliche Haltung an. »Lasst uns anfangen.« Bastorran gab sich einen Ruck. »Ihr seid Euch der Natur Eures Auftrags bewusst?« »Wir akzeptieren nur eine Art von Aufträgen«, erwiderte Aphri. »Wir müssen nur noch wissen, wer das Ziel ist«, fügte der Zwillingsbruder hinzu. »Wenn Ihr es hört, werdet Ihr womöglich lieber zweimal darüber nachdenken, ob Ihr annehmt.« Das Wortspiel war nicht beabsichtigt, und keiner seiner Gäste schien es zu bemerken. »Für Herausforderungen sind wir immer zu haben«, erklärte Aphrim. »Das hält uns wach«, ergänzte Aphri. »Ich nehme an«, sagte das magische Wesen, »dass Euer Problem mit Eurem derzeitigen Gesundheitszustand zusammenhängt, oder?« »Ihr wollt Euch rächen«, mutmaßte Aphri. »Nicht nur für die Verletzungen ...« »... sondern auch für die entsetzliche öffentliche Demütigung, die Ihr erleiden musstet.« Bastorran fand ihre Art und Weise, sich die Antworten zu teilen, mindestens ebenso entnervend wie die Worte selbst. »Eine Blamage, die nicht nur Euren eigenen Ruf befleckt ...« 75 »... sondern auch den Clans insgesamt schwer im Magen liegen dürfte, und außerdem ...« »Schon gut! Ich bin mehr als geneigt, Euch für diese Unverschämtheiten auspeitschen zu lassen.« »Das dürfte, sofern es mich betrifft, auf gewisse technische Schwierigkeiten stoßen«, bemerkte der magische Zwillingsbruder. »Es scheint, als wären unsere Annahmen richtig gewesen, Aphrim«, sagte Kordenza. »Ja«, bestätigte Bastorran. »Es geht um Caldason. Ich will ihn vernichten.« »Hmm. Er ist ein berüchtigter Bandit.« »Manche behaupten, er könne überhaupt nicht getötet werden.«
»Das ist abergläubischer Quatsch«, fauchte Bastorran. »Mag sein«, räumte Aphri ein. »Dennoch würde ein solcher Auftrag selbstredend eine nicht unerhebliche Entlohnung erfordern.« »Das dürfte kein Problem sein, vorausgesetzt, Ihr stellt keine exorbitanten Forderungen.« »Wir wissen genau, dass dieser Auftrag ein exorbitantes Honorar erfordert, General. Und was die Art der Bezahlung angeht, so wollen wir natürlich Bargeld haben, doch wir würden auch einen größeren Teil in Form von Magie annehmen. Wäre das ein Problem?« »Für die Clans? Nein, das ist kein Problem für uns. Aber warum?« »Unsere Beziehung verschlingt eine Menge Magie.« Aphri warf einen Blick zu Aphrim. »Besonders, da mein Partner viel Kraft benötigt, um mit Menschen zu interagieren.« Bastorran zog die Augenbrauen hoch. 76 »Also gut, um sie zu töten«, korrigierte sie sich. »Ob Geld oder Magie, Ihr könnt Euren Sold in jeder Form bekommen, die Ihr für richtig haltet, solange Ihr mir nur Caldason erledigt.« »Ich will uns keineswegs um den Auftrag bringen«, meinte Aphri, »aber warum könnt Ihr das nicht selbst erledigen? Angesichts der Möglichkeiten, die den Clans zur Verfügung stehen ...« »Es gibt gewisse Einschränkungen hinsichtlich der Art und Weise, wie wir mit dem Qalochier verfahren dürfen.« Ihre übergroßen Augen wurden noch ein wenig weiter. »Die mächtigen Paladine stoßen an ihre Grenzen?« Es war mehr als nur eine Stichelei am Rande. »Wir wollen einfach sagen, dass es gewisse organisatorische Aspekte gibt, die Euch nicht zu kümmern brauchen. Ihr müsst lediglich wissen, dass wir in diesem Fall beschlossen haben, den Auftrag einem Außenstehenden zu erteilen.« »Wie finden wir die Zielperson?«, fragte Aphrim. »Ihr mischt Euch unter die Nichtsnutze. Sagt nicht, dass Ihr nicht Eure Möglichkeiten habt. Außerdem sorge ich dafür, dass Ihr alle Informationen aus der Spionageabteilung der Clans bekommt, die nützlich sein könnten. Und natürlich werde ich Euch ein gewisses Maß an Schutz bieten, wenn Ihr Euch an die Arbeit macht.« Er war jetzt sichtlich verstimmt. »Wollt Ihr nun diesen Auftrag annehmen oder nicht?« »Eine Frage noch«, warf Aphri ein. »Weiß der Hohe Clanchef davon?« »Ich bin der einzige Amtsträger, über den Ihr Euch den Kopf zerbrechen müsst«, gab Bastorran kalt zu77 rück. »Mein Onkel ist ein viel beschäftigter Mann. Ich belästige ihn nicht mit Routineangelegenheiten.« Die Zwillinge wechselten einen Blick. »Eins muss Euch klar sein«, fuhr er grob fort. »Wenn Ihr scheitert oder eine Indiskretion begeht, dann werde ich Euch ...«, er deutete auf Aphrim, »auslöschen lassen. Ihr dagegen ...«, er deutete auf Aphri, »werdet die Bekanntschaft meines Foltermeisters machen. Ihr könnt sicher sein, dass er Euch erst die Augen aussticht, wenn er mit Euch fertig ist.« »Das klingt sehr einladend«, meinte Aphrim leise. »Ich glaube, wir haben uns verstanden.« Bastorran schenkte ihnen ein kaltes Lächeln. »Und vergesst meinen Onkel. Wie ich schon sagte, er hat im Augenblick mehr als genug mit anderen Dingen zu tun.« 78 Nach der brutalen Besetzung Bhealfas hatten die Eroberungstruppen Gath Tampoors alles niedergerissen, was an den Sieg der letzten Besatzer aus dem rivalisierenden Reich von Rintarah erinnerte. Auf den Ruinen waren noch größere, höhere und weitläufigere Gebäude entstanden. Nur wenige waren so prächtig wie die riesige Anlage, die Gath Tampoor im Zentrum Valdarrs errichtet hatte. In Sichtweite des Hauptquartiers der Clans erbaut, bildete sie einen krassen Gegensatz zu jenem finsteren Gelände. Der Stützpunkt der Paladine wirkte düster und bedrückend, doch dieses Gebäude war feierlich und rühmte mit jeder Fuge die Macht seiner Erbauer. Es war ein Monument des Triumphs und der Herrschaft. Ein Gebäude, das protzte. Die Architektur hatte, ganz wörtlich, etwas Magisches. Die Steine, aus denen der Komplex gebaut worden war, waren mit Zauberkraft behandelt, und sogar in den Mörtel war magisch veränderter Sand gemischt worden. Die Pigmente, mit denen die wundervollen 79 Buntglasfenster eingefärbt waren, hatte man angeblich aus konzentriertem Dämonenblut, den gemahlenen Knochen von Trollen und getrockneten Mähnen von Einhörnern gemischt - obwohl solche Wesen gewiss nicht mehr existierten, falls sie es denn überhaupt einmal getan hatten. Das Ende vom Lied war jedenfalls, dass das Gebäude vor magischer Energie flimmerte. Auf den Außenmauern konnte man nach Belieben wundervolle Bilder erscheinen lassen - beispielsweise die Porträts von Helden und Staatsmännern, von Forschern und Kaufleuten des Reichs. Gesichter, die das Volk aufmuntern oder doch wenigstens daran erinnern sollten, dass es besiegt war. Die Besatzer aus Gath Tampoor hatten es keineswegs ironisch gemeint, dem Gebäude den Namen
»Freiheitshalle« zu geben. Angeblich sollte es ein Palast des Volkes sein, doch natürlich durften gewöhnliche Sterbliche, es sei denn als Diener, nur selten die Schwelle überschreiten. Die riesige Halle wurde von zwanzig magisch betriebenen Kristalllüstern beleuchtet. Sie waren groß wie Heuhaufen und hingen ohne sichtbare Befestigung unter der gewölbten, mit Gold belegten Decke. Ihr Licht ließ den Schmuck des Raums glitzern und funkeln. Auch hier gab es Gold, viel Gold, und dazu blinkte Silber und funkelten Edelsteine. Edelmetall und auserlesene Juwelen waren in Schmuck und Möbel eingearbeitet. Geschmackvolle Behänge hatte man auf den vertäfelten Wänden drapiert. Die Teppiche auf dem Boden waren dick und weich. Nicht nur Füße liefen darüber, sondern auch Krallen, Hufe, Klauen und Saugnäpfe. Zu Fleisch gewordene Träume. Oder Albträume. Menschen mit den 80 Köpfen von Adlern, Ziegen und Heuschrecken liefen umher. Müßiggänger, die ihre Körper verändert hatten und verzierte Masken trugen. Menschen, die sich als Dämonen und Cherubim verkleidet hatten. Es gab Katzen und Küchenschaben, so groß wie Männer. Die beste Körpermagie, die man mit Geld kaufen konnte. Echte Schimären mischten sich unter die Menschen. Magische Wesen in vielfältigen ausgefallenen Gestalten, mitgebracht als Gefährten oder Haustiere oder einfach nur, um Eindruck zu machen. Es war unmöglich, die Magie von den Geschöpfen aus Fleisch und Blut zu unterscheiden, und jedes Zauberwesen war ein Spiegel für den Besitzer. Einige wirkten engelhaft, die meisten waren Inkarnationen grundlegender Instinkte, hässlich und käuflich. Der Maskenball war in vollem Gange. Ein magisches Orchester spielte auf, livrierte Lakaien eilten mit hoch erhobenen Zinntabletts zwischen den Tänzern hindurch. In der Gewissheit, dass sie über dem Gesetz standen viele der Anwesenden waren eigentlich sogar Diener des Gesetzes -, benahmen sich die Müßiggänger, wie es ihnen beliebte. Manche genossen Trauben und Hopfen in ungesunder Menge. Andere gaben sich den Freuden von Cuzcoll, Vipernbiss oder Pelluzid hin oder griffen gleich zu stärkeren Drogen wie Säbelschnitt, Roter Reif und sogar Ramp. In einer stillen Ecke waren eine Ratte und eine Schlange in ein ernstes Gespräch vertieft. »Ich sage ja nicht, dass ich mit ihnen sympathisiere, um Himmels willen«, protestierte die Ratte. »Es ist aber eine Frage der Methode.« »Ihr habt diesen Dissidenten gegenüber schon im81 mer viel zu viel Nachsicht gezeigt«, schnaubte die Schlange. »Das weise ich entschieden zurück! Ich verabscheue sie genau wie Ihr. Unsere Meinungsverschiedenheit dreht sich nur um die Art und Weise, wie das Problem am besten anzugehen ist.« »Ist das nicht inzwischen eine müßige Diskussion? Von ganz oben sind Befehle gekommen, und jetzt spielt es keine Rolle mehr, was wir denken. Oder stellt Ihr die Weisheit unserer Vorgesetzten in Frage?« »Aber nein, natürlich nicht. Ich sage nur, dass man mit Honig mehr Fliegen fängt als mit Essig. Ich war schon immer der Meinung, dass verdeckte Aktionen die beste Politik sind, um diesen Abweichlern zu begegnen.« »Ihr wollt ihnen um den Bart gehen, meint Ihr.« Die Schnurrhaare der Ratte zuckten gereizt. Bevor sie antworten konnte, drängte sich ein betrunkener Satyr zwischen ihnen hindurch. »Wir wollen uns lieber setzen«, meinte die Schlange und nickte in Richtung eines leeren Tischs. Sobald sie sich niedergelassen hatten, kam ein Diener mit Getränken. Wein für die Ratte, Branntwein für die Schlange. Der Rattenmann trug ein schweres, kupferfarbenes Medaillon. Er strich mit dem Finger darüber und legte die Maske ab. Zum Vorschein kam ein glatt rasierter Mann in mittleren Jahren. Die reine Haut und das ergraute, sorgfältig frisierte Haar wiesen ihn als Menschen aus, der eher vom Reden als vom Handeln lebte. Die Schlange folgte seinem Beispiel und legte ebenfalls die Verkleidung ab. Dieser Mann war älter, und sein Gesicht war von einem Leben voller Taten gezeichnet. Sein Haar und sein Bart waren militärisch kurz gestutzt und weit stärker ergraut als bei seinem Gegenüber. »Ihr müsst aber zugeben, Hoher Clanchef«, sagte die ehemalige Ratte, »dass die Unruhen schlimmer geworden sind, seit die Notstandsverordnungen eingeführt wurden.« »Nach Einführung solcher Regelungen gibt es immer eine Phase der Unruhe«, erklärte Ivak Bastorran, während er seinen Cognacschwenker hob. »Das wird sich schon wieder beruhigen, sobald die Hitzköpfe begreifen, dass wir es ernst meinen.« Andar Talgorian, der Botschafter von Gath Tampoor, war der Ansicht, dass der Paladin wie üblich viel zu sehr von sich selbst eingenommen war. Er trank einen Schluck Wein und behielt seine Gedanken für sich. »Die Berichte, die das diplomatische Korps erreichen, sprechen freilich keineswegs dafür, sondern lassen, ganz im Gegenteil, eher befürchten, dass die Unruhen wie ein Flächenbrand um sich greifen.« »Ich würde nicht sagen, dass die Situation so schlimm ist. Wir konnten im Kampf gegen die Terroristen gewisse Erfolge verzeichnen, und es liegt in der Natur der Sache, dass sie zurückschlagen.« »Ihr gebt es also selbst zu. Euer hartes Durchgreifen macht alles nur noch schlimmer.« »Das habe ich nicht gesagt. Wir rotten Ungeziefer aus. Es muss zwangsläufig Blutvergießen geben, ehe wir
damit fertig sind. Es kommt jetzt nur darauf an, nicht die Nerven zu verlieren.« »Wir wollen nur hoffen, dass die Rebellen zuerst der Mut verlässt. Um unser aller willen.« 83 »Ihr überschätzt diese Lumpen bei weitem, Talgorian. Nicht zuletzt, indem Ihr sie als Rebellen bezeichnet. Sie sind Verbrecher und Glücksritter, oder auch Vandalen. Abschaum. Ich bin stolz darauf, dass die Clans in vorderster Front stehen, wenn es darum geht, sie auszulöschen.« »Es muss sehr befriedigend sein, endlich freie Hand zu haben«, bemerkte der Botschafter trocken. »Ich habe noch nie einen Hehl aus meinen Ansichten über die öffentliche Ordnung gemacht. Und es scheint, als stünde ich mit meiner Meinung nicht allein da. Ihr wisst so gut wie ich, dass auch Rintarah hart durchgreift. Das bedeutet, dass dieses Geschwür überall aufgebrochen ist.« »Dann sind die Aufständischen also doch organisiert? Ihr könnt nicht beides gleichzeitig vertreten, Bastorran. Entweder es ist ein Ausdruck von unorganisiertem Ungehorsam, oder es ist eine Bewegung.« »Sie sind so gut organisiert wie jede andere Horde von Banditen, und ihre Ziele sind genauso edel.« »Wir sollten uns nicht durch ein vorgefasstes Bild selbst täuschen«, gab Talgorian spitz zurück. »Sonst könnten wir womöglich noch die wahre Natur des Problems verkennen.« »Unsinn. Die Wahrheit ist, dass beide Reiche schärfere Sanktionen verhängen, weil die Gesetzlosigkeit ansteckend ist, sobald man dem Pöbel zu viel Freiheit gewährt. Im Osten und Westen war man zu nachgiebig. Es ist höchste Zeit, das Ruder herumzuwerfen.« »Es kommt mir eher so vor, als wolltet Ihr neues Öl ins Feuer gießen.« »Wie würde denn Eure Lösung aussehen? Freund84 liehe Worte? Den unverschämten Forderungen nachgeben?« »Ich würde ein wenig Balsam verteilen. Den Leuten ein paar Zugeständnisse machen. Ein oder zwei unwichtige Gesetze widerrufen, vielleicht die Steuern ein klein wenig senken und den Ärmsten besseren Zugang zur Grundversorgung gewähren. Mit vollem Bauch erhebt man sich nicht so leicht.« »Das kommt mir vor wie Katzbuckelei. Warum sollte man ihnen geben, was sie nicht verdient haben?« »Ihr habt mich nach meiner Meinung gefragt. Ich glaube, was ich sage, ist gar nicht so falsch, wenn man es geschickt anfängt. Eine Möhre, um den Esel zu locken.« »Eine Möhre«, höhnte der Paladin. »Wie wäre es mit der Gerte?« »Glaubt nur nicht, ich sei zimperlich. Meine Vorgehensweise würde die Anführer isolieren und schlecht dastehen lassen. Man könnte sie sogar so weit isolieren, dass sie ermordet werden können, wie es der Rat für Innere Sicherheit daheim gelegentlich handhabt.« »Dann sind wir einer Meinung. Auch die Clans sind der Ansicht, dass die Agitatoren beseitigt werden müssen. Es ist eben nur so, dass Ihr ein paar verfaulte Köpfe in einem Salatbeet seht, während wir glauben, dass längst der ganze Garten verseucht ist.« »Worauf Ihr am liebsten alles mit Stumpf und Stiel ausreißen würdet.« »Allerdings, wenn es nötig ist. Doch Ihr solltet solche Überlegungen besser uns überlassen, Talgorian. Ihr macht Euch einfach zu viele Sorgen.« »Genau dafür werde ich ja auch bezahlt.« 85 »Auch dieser Kriegsherr, von dem Ihr so besessen seid«, bohrte Bastorran weiter. »Auch seinetwegen macht Ihr Euch viel zu große Sorgen.« »Nichts ist geschehen, das mich glauben lässt, die von Zerreiss ausgehende Bedrohung sei geringer geworden«, meinte der Botschafter empört. »Nach allem, was wir hören, führt er weiterhin Angriffe durch.« »Ich weiß nicht, warum Ihr Euch deshalb so aufregt. Wenn die Barbaren sich zum Zeitvertreib gegenseitig abschlachten, dann ist das ihre Sache. Für das Reich sind sie jedenfalls keine Gefahr.« »Abermals hoffe ich, dass sich Euer Optimismus als begründet erweist.« »Ihr braucht Euch da nicht allein auf meine Meinung zu verlassen. Die Expedition, die in den Norden geschickt wurde, müsste bald ihr Ziel erreichen. Dann werdet Ihr selbst sehen, was von diesem Zerreis zu halten ist. Ach ja, hat man eigentlich schon Nachrichten bekommen?« »Nein. Wie unsere Agenten berichten, hat auch die von Rintarah ausgesandte Expedition noch keine Botschaft geschickt.« »Die Nachrichten aus dem Barbarenland fließen immer spärlich. Auf diesem weiten Weg gibt es immer wieder Verzögerungen.« »Das mag sein.« »Da, jetzt macht Ihr schon wieder so ein ängstliches Gesicht.« Er trank einen Schluck. »Vertraut mir, Botschafter. Ihr werdet schon sehen, dass dies alles nichts weiter ist als ein paar lästige Nadelstiche.« Talgorians Aufmerksamkeit richtete sich längst auf das andere Ende des Saales. Er nickte in die betref86 fende Richtung. »Da wir gerade von Nadelstichen reden ...« Bastorrans Blick irrte umher, dann erkannte er, wen der Diplomat meinte. »Ach, Dulian Karr.« Keine Spur von Wärme klang in seiner Stimme mit.
Karr stand mit dem Rücken zu der Wand, die das allgegenwärtige Symbol der Macht von Gath Tampoor trug: den wilden Drachen mit den schillernden Schuppen, der Zauberflammen spuckte. Karr unterhielt sich mit einigen Leuten, doch selbst aus der Ferne war zu sehen, dass er innerlich nicht bei der Sache war. Er trug eine einfache Augenmaske aus schwarzem Tuch, die in starkem Gegensatz zu dem aufwändigen Gesichtsschmuck der anderen Gäste stand. »Diese Rede, die er vorhin gehalten hat«, meinte Talgorian, »war im Grunde schon als subversiv zu bezeichnen. All dieses Geschwafel über die Barmherzigkeit für die so genannten Mittellosen ...« »Das war beinahe schon umstürzlerisch, wenn Ihr mich fragt. Eine Haltung, die der Euren nicht unähnlich ist.« Das Gesicht des Gesandten lief dunkelrot an. »Diese Bewertung verbitte ich mir entschieden. Wie ich schon mehrmals betont habe, unterscheiden wir uns lediglich in der Frage, welche Methoden ...« »Ja, ja, schon gut. Ich habe Euch auf den Arm genommen, Mann. Eure Ansichten erscheinen mir einfach unangebracht. Karr dagegen bewegt sich am Rande des Verrats.« »Das nehme ich dann wohl als verstecktes Kompliment«, meinte Talgorian kühl. »Wenigstens wisst Ihr den Unterschied zwischen meinen Gedanken über eine 87 richtige Strategie und Karrs Liebäugeln mit staatsfeindlichen Elementen zu würdigen.« »Ihr wisst, dass es mehr als ein Liebäugeln ist. Wir haben ihn, genau wie Eure Leute, schon seit Jahren im Verdacht. Er ist ein Sympathisant, ein Anhänger der Aufständischen. Vielleicht sogar mehr als das.« »Verdacht ist eine Sache, den Verdacht beweisen eine ganz andere.« »Die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Vergesst nicht, dass wir jetzt weitgehend freie Hand haben. In ein paar Wochen wird er sein Amt als Patrizier an den Nagel hängen. Dieses Amt gab ihm bisher einen gewissen Schutz. Sobald er sich daraus zurückzieht, verliert er auch den Schutz.« »Er ist ein Mann, den man nicht unterschätzen sollte. Es braucht schon eine gewisse Gerissenheit, um so lange Jahre so hart am Wind zu segeln.« »Glaubt mir, er wird reichlich Gelegenheit bekommen zu straucheln. Wenn er auch nur um Haaresbreite vom rechten Weg abweicht...« »Er hat uns gesehen.« Karr wich den bizarr herausgeputzten Tänzern aus und kam zu ihnen herüber. Sie begrüßten ihn mit geheucheltem Lächeln und unaufrichtigen Gesten. »Patrizier«, sagte Talgorian gedehnt. »Das war eine ausgezeichnete Rede.« »Sehr aufschlussreich«, fügte Bastorran hinzu. »Vielen Dank.« Talgorian deutete auf einen freien Stuhl. »Bitte, nehmt doch Platz.« »Nun denn«, sagte der Diplomat. »Ihr wollt Euch also tatsächlich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Nach ... wie viele Jahre waren es eigentlich?« 88 »Viel zu viele, wie mir manchmal scheint.« Karrs Bemerkung wurde mit dem gebührenden unechten Lächeln quittiert. »Und wie werdet Ihr danach Eure Tage ausfüllen?« »Ich nehme an, dass es eine Menge Dinge geben wird, die mich beschäftigen werden, Hoher Clanchef.« »Zweifellos wird Euer Mitgefühl mit den Unterdrückten auch in Zukunft einen Ausdruck finden«, warf Talgorian ein. »Vielleicht in der Form von mildtätigen Werken?« »Ich hoffe, ich werde immer Zeit für die weniger Glücklichen finden.« »Wie ich sehe, bringt Ihr auch heute mit Eurem Kostüm diese Solidarität zum Ausdruck«, kommentierte Bastorran Karrs schlichte, schmucklose Maskerade. Der Patrizier lächelte humorlos. »Meiner Ansicht nach haben die Privilegierten die Pflicht, mit gutem Beispiel voranzugehen.« »Indem wir selbst verarmt aussehen? Womit ich Euch natürlich nicht beleidigen will.« »Gewiss, Botschafter. Ich dachte eigentlich eher an Bescheidenheit im Konsum.« Er bemerkte ihre verwirrten Gesichter. »Seht Euch nur um.« Bastorran schniefte. »Ich sehe wohlgenährte Männer und Frauen. Sie geben ein Beispiel dafür, dass alle ein besseres Leben haben könnten.« »Jedermann könnte unter der schützenden Hand des Reichs gedeihen, wenn er nur wollte«, fügte Talgorian salbungsvoll hinzu. »Aber wie viele von denen hier haben es wirklich verdient?«, fragte Karr. »Immer zum Widerspruch aufgelegt, nicht wahr, Karr? Das öffentliche Leben wird ärmer sein, wenn 89 Ihr Eure schlagfertigen Bemerkungen nicht mehr zum Besten gebt.« »Ich fürchte nur, die Not leidenden Menschen haben nicht viel zu lachen.« »Eure geliebten Unterdrückten«, erwiderte der Paladin gereizt, »täten sicher gut daran, ihr Los durch harte Arbeit zu verbessern.« »Die meisten täten nichts lieber als genau dies. Wenn es doch nur Arbeit gäbe, und wenn sie nicht ständig
Gefahr liefen, willkürlich aufgegriffen und verprügelt zu werden, sobald sie sich auf den Straßen blicken lassen.« »Wer sich nichts zuschulden kommen lässt, hat nichts zu befürchten.« »Sie würden entgegnen, dass sie so oder so als Feinde des Staates betrachtet werden. Dabei sind sie ja keineswegs alle Aufständische.« Bastorran starrte ihn böse an. »Ihr würdet Euch wundern, wenn Ihr wüsstet, wer alles dazu zählt, Patrizier.« »Ihr seid gewiss von edlen Gefühlen angetrieben, Karr«, warf Talgorian ein, »und wir können Eure humanitären Neigungen selbstverständlich aus ganzem Herzen billigen. Lasst uns die Gläser heben und auf Euren Ruhestand trinken.« Er wollte einem Diener winken. »Nein«, hielt Karr ihn zurück. »Vielen Dank, aber ... es war ein langer Tag, und ich muss noch einige Leute sprechen, ehe ich gehen kann.« »Ihr wirkt ein wenig abgespannt, wenn Ihr verzeiht.« »Ach, das ist nichts weiter. Überarbeitung. Ihr wisst schon, ich versuche, alles in Ordnung zu bringen, bevor ich in den Ruhestand gehe.« »Ihr solltet dabei aber nicht Eure Gesundheit aufs Spiel setzen«, sagte Bastorran mit unüberhörbarer Schärfe. »Es war eine kluge Entscheidung, in den Ruhe90 stand zu treten. letzt könnt Ihr Eure Bürde ablegen und es anderen überlassen, sich um das Wohlergehen der Menschen zu kümmern.« »Ja, so ist es.« Karr verabschiedete sich von den Männern mit einem knappen Nicken. »Hoher Clanchef, Botschafter Talgorian.« Dann ging er. Als sie ihm nachsahen, wie er sich durchs Gedränge bewegte, hauchte Talgorian nur ein einziges Wort: »Skandalös.« »Er wollte noch nicht einmal mit uns anstoßen. Und was seine Ansichten angeht ... freie Meinungsäußerung, gut und schön, aber ...« »Er sieht krank aus, findet Ihr nicht auch?« »Ich glaube fest daran, dass die innere Verfassung die äußere Erscheinung bestimmt. In neun von zehn Fällen sind es Schuldgefühle, die äußerlich den Eindruck von schlechter Gesundheit erwecken.« »Wenigstens wird er nun das bisschen Macht abgeben, das ihm seine Position verliehen hat.« »Das bedeutet aber nicht, dass er aufhören wird, sich für unmögliche Anliegen einzusetzen. Der Mann ist der geborene Unruhestifter.« »Dann werdet Ihr ihn im Auge behalten?« »Aber ganz gewiss, Botschafter, ganz gewiss. Genau wie Ihr, nehme ich an.« Talgorian beugte sich vertraulich vor. »Wusstet Ihr eigentlich, dass es schon mehrere Anschläge auf ihn gegeben hat?« »Allerdings, und zwar mehr als nur einige wenige, wenn ich mich nicht irre. Und alle haben den Eindruck erweckt, sie seien offiziell sanktioniert.« »Nicht von meinen Leuten und auch nicht von irgendwelchen anderen Behörden, soweit ich weiß.« Er 91 flüsterte jetzt. »Ich nehme an, sie gehen auf das Konto des Rates für Innere Sicherheit.« »Wenn die Paladine die Arbeit übernehmen, gibt es keine Fehlschläge mehr.« »Zweifellos. Ich wollte damit lediglich sagen, dass der RIS ja eigentlich nicht außerhalb von Gath Tam-poor operieren darf. So wollen es die Gesetze. Ich habe allerdings auch Gerüchte gehört, dass seine Methoden dennoch auf die Protektorate ausgedehnt werden.« »Und was haltet Ihr davon?« »Falls Karr das Opfer eines Mordanschlags werden sollte, dann könnten meine Vorgesetzten, Eure Arbeitgeber also, schwerlich einen großen Wirbel machen, nachdem einer ihrer eigenen Dienste bereits etwas Ähnliches versucht hat.« »Gut zu wissen. Ich werde es im Auge behalten.« Er betrachtete das bizarre Gedränge. »Wir vernachlässigen unsere Pflichten. Wir sollten uns besser wieder den Gästen zeigen.« Er berührte sein Medaillon, und seine magische Maske baute sich wieder auf. Ein längliches Maul erschien, die Augen wurden schmale Schlitze, und grüne Schuppen bildeten sich heraus. »Ausgezeichnete Maske«, lobte Talgorian. »Nicht schlecht, was?« Bastorran bewunderte sich in einem Wandspiegel. Auch der Botschafter reaktivierte seine Maske. Graues Fell wuchs, die Nase verlängerte sich, der Schnurrbart spross. Bastorran betrachtete sein Gegenüber. »Was ich vorhin schon fragen wollte ...« »Hmm?« »Warum eine Ratte?« »Selbstironie.« 92 Die unlängst erlassenen Gesetze zur Wahrung der öffentlichen Ordnung wirkten, je nachdem, wer betroffen war, sich ganz unterschiedlich aus. Die Bürger von Gath Tampoor, die in der Kolonie Bhealfa lebten, ignorierten sie
einfach. Ähnliche Nachsicht übte man mit den Bürgern Bhealfas, die genügend Macht und Einfluss besaßen. Solche Unterschiede gab es auch in Hinblick auf die nächtliche Ausgangssperre. Wer reich war und Ansehen genoss, konnte sich jederzeit frei bewegen. Die Schwachen und Mittellosen aber hatten ständig die Gesetzeshüter im Nacken. Als die Sperrstunde näher rückte, waren die Straßen voller Passanten, die sich auf dem Heimweg befanden. In einem Gewerbegebiet brandete die Woge der Menschen an den Bug eines Gebäudes, das am Zusammenfluss zweier wichtiger Verkehrsadern stand. Äußerlich wirkte es wie ein Verwaltungsgebäude, eine Heimstatt von Erbsenzählern, und wer das Gebäude betrat, stellte fest, dass es sich tatsächlich so verhielt. 93 Doch die Schreiber und Büroarbeiter hatten sich dem Strom der anderen Menschen angeschlossen, und mittlerweile war das Gebäude verlassen. Die Stockwerke waren dunkel. Eines davon war raffiniert im Dachboden untergebracht und vor neugierigen Blicken gut abgeschirmt. Es war schwierig, aus dem Innern des Gebäudes einen Zugang zu finden, und angesichts der magischen Schutzvorrichtungen war es obendrein tödlich. Eine kleine Gruppe hatte sich dort versammelt. »Wo, zum Teufel, bleibt eigentlich Disgleirio?«, knurrte Caldason. »Wahrscheinlich ist er im Gedränge stecken geblieben«, erklärte Karr. »Wenn Ihr hier herumlauft wie ein gefangenes Raubtier, wird er auch nicht schneller kommen. Setzt Euch zu uns.« Der Qalochier seufzte und ließ sich gegenüber von Karr am großen Holztisch nieder. An einem Ende saß Kutch, der nervös mit seiner improvisierten Augenbinde spielte. Auch Serrah war da, doch sie hielt sich abseits von den anderen und hatte den Stuhl ein Stück weggerückt. Ihrem Gesicht war nicht anzusehen, was sie dachte. »Während wir warten«, fuhr Karr fort, »kann ich Euch etwas erzählen, das Euch vielleicht interessiert.« Er schob sich einen Finger ins rechte Ohr, drehte ihn herum und bohrte tiefer. Dann zog er mit Daumen und Zeigefinger einen winzigen Gegenstand heraus. Der milchige Glanz des Objekts erinnerte an eine Perle. Er warf es gegen die nächste Wand. Die kleine Kugel prallte nicht ab und zersprang auch nicht. Sie blieb haften, als wäre sie von Harz umhüllt, flachte sich ab und breitete sich aus. Als sie ihren 94 Umfang verdoppelt hatte, entfaltete sie sich einmal und noch einmal. Wie Blütenblätter legten sich die Ausläufer über die Wand, bis ein schimmernder, perlmuttfarbener Bildschirm entstanden war. »Hier hätten wir einen weit ausgeklügelteren Plan«, erklärte Karr. »Besser als alles, was wir bisher hatten.« Linien und Konturen, Senken und Erhebungen schälten sich heraus, bis eine dreidimensionale Abbildung einer Insel entstanden war. Sie hatte in etwa die Form einer Niere, in deren Ende ein hungriger Hund gebissen hatte. Es gab Klippen, Sandstrände, Buchten und Flussmündungen. Vor der Küste tauchten Riffe und Felsbrocken im unruhigen Meer auf. Im Westen und im Süden gab es natürliche Häfen, im Landesinneren grüne Weiden, Hügel und Wälder. Von Osten her schlängelte sich ein Fluss durchs Land, verzweigte sich und mündete an der Nordostküste ins Meer. Wege liefen im Zickzack über das Land, größere Straßen gingen von den Häfen aus. Hier und dort waren vereinzelte Gebäude zu sehen; in der Nähe des Zentrums der Insel gab es eine Ansiedlung, die man beinahe schon als Stadt bezeichnen konnte. »Die Hoffnung der Welt«, verkündete Karr. »Batariss.« Serrah fuhr aus ihren tiefen Gedanken auf. »Was?« »Das ist der ursprüngliche Name der Insel, auch wenn es viele wohl nicht mehr wissen.« »Ich erinnere mich noch an die Zeit, als man nur diesen einen Namen kannte«, erwiderte Caldason. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Serrah. Wahrscheinlich war es als Scherz gemeint. Er beschloss jedenfalls, es so aufzufassen. »Wir wollen die Insel umbenennen«, erklärte Karr. 95 »Wir sollten ihr einen Namen geben, der ihrer neuen Bedeutung gerecht wird. Vielleicht sollten wir sie nach einem Märtyrer des Widerstands benennen - Sab Winneba, Kryss Mirrall oder ...« »Ich bin sicher, dass die Kämpfer diese Ehre verdient hätten«, unterbrach Caldason ihn, »aber macht Euch darauf gefasst, Patrizier, dass niemand sie anders nennen wird als bei dem Namen, den jeder kennt.« »Der Rat findet, dies sei eine gute Gelegenheit, einige zu ehren, die das höchste Opfer für unsere Sache erbracht haben.« »Wirklich sehr aufmerksam. Aber glaubt Ihr nicht, wir sollten uns zunächst einmal darauf konzentrieren, überhaupt dorthin zu kommen?« Kutch brach als Erster das darauf folgende Schweigen. »Ich hatte immer angenommen, sie wäre nach ihrem Umriss benannt worden oder so.« »Nein«, entgegnete Karr. »Nach ihrer Funktion.« »Ich wusste nicht, dass dort wirklich Edelsteine abgebaut werden.« »Das trifft auch nicht zu. Man nennt sie die Diamantinsel, weil sie so viele Leute reich gemacht hat.« »Wie ist es dann möglich, dass wir die Gelegenheit bekommen, sie zu kaufen?«, fragte Serrah.
»Sie ist schon seit Jahren im Niedergang begriffen. Ihre Blütezeit erlebte sie, als Reeth noch ein Kind war. Wenn sie immer noch Reichtümer in gleichem Maße wie früher hervorbrächte, dann könnten wir sie keinesfalls erwerben. Wie es aussieht, hat der derzeitige Besitzer aber genug davon und will in den Ruhestand gehen.« »Wie kann eine Insel von dieser Größe überhaupt in privater Hand sein? Ich dachte, nur die Herrscher der 96 Reiche hätten genügend Einfluss, um Grundbesitz von diesen Ausmaßen zu besitzen.« »Die Insel hatte schon immer einen Sonderstatus. Früher, vor einem Jahrhundert oder noch weiter zurück, war die Insel eine Beute, um die Rintarah und Bhealfa sich stritten, wie sie heute um Bhealfa oder um die anderen Kolonien streiten.« »Was ist dann geschehen? Was hat sich verändert?«, fragte Kutch. »Beide Seiten kamen zu dem Schluss, dass die Beute doch zu klein war, um ihretwegen Blut zu vergießen. Dann ist irgendjemand, wahrscheinlich einer der alten Räuberclans, auf die Idee gekommen, die ganze Insel in einen Vergnügungspark zu verwandeln. Dies geschah in einer tugendhaften Phase der Reiche, als Glücksspiel und Prostitution nicht erlaubt waren. Batariss befriedigte diese Bedürfnisse. Ein weiterer Faktor ist natürlich, dass die Insel nicht in den Hoheitsgewässern der beiden Reiche liegt. Der nächste Nachbar ist Bhealfa. In der Praxis existierte die Insel weiter wie gehabt, weil die Reiche, die jeweils die Kontrolle über diesen Teil der Welt ausübten, sie einfach in Ruhe ließen.« »Aber warum taten sie das?« Karr ließ den Blick über seine kleine Zuhörerschaft schweifen. »Ihr müsst das doch alles schon einmal gehört haben.« Serrah zuckte nur mit den Achseln. »Es füllt die Zeit aus, bis Disgleirio sich bequemt, hier zu erscheinen«, bemerkte Caldason. »Ich weiß überhaupt nichts darüber«, sagte Kutch. »Ich finde es faszinierend.« »Also gut«, fuhr Karr fort. »Warum haben die Rei97 che Batariss oder die Diamantinsel sich selbst überlassen?« Er holte tief Luft und dachte nach. »Nun, es gibt einige Hinweise darauf, dass die Reiche früher, als die Insel noch ein exklusiver Ferienort war, ihre Günstlinge als Belohnung dorthin schickten. Später, als es für immer mehr Menschen einfacher wurde, die Insel zu besuchen, dachte man wohl, sie sei eine Art Ventil für die aufgestaute Unzufriedenheit der Massen. Oder wenigstens für diejenigen, die es sich leisten konnten. Dies waren die betuchten, gebildeten Mitbürger, denen man zutrauen konnte, einen organisierten Widerstand aufzubauen. Die Sorte Untertanen, die ein Herrscher bei Laune halten möchte. Andererseits gehen die Gerüchte auch wieder dahin, dass die Behörden immer noch an der Insel verdienen. Inoffizielle Steuern, so nennt man das zuweilen. Wer kann schon sagen, warum die Diamantinsel in Ruhe gelassen wird? Ich glaube, es ist einfach nur ein unerledigter Punkt auf ihrer Liste.« »Dann werden sie diesen Punkt ziemlich schnell abhaken, wenn wir in großer Zahl dorthin umziehen«, gab Caldason zu bedenken. »Nicht, wenn wir es geschickt genug anfangen. Und sobald genügend Leute von uns auf der Insel sind ...« »Ich verstehe. Der Blutzoll, um die Insel zurückzuerobern, wäre zu hoch. Das ist eine sehr riskante Strategie.« »Natürlich. Doch wir haben unser Vorhaben genau geplant. Wenn alles verläuft, wie es laufen soll ...« »Das ist sehr wahrscheinlich, wenn Ihr alle hinter Euch habt...« »Mir ist klar, dass die Insel vielen im Widerstand als unglückliche Wahl erscheint...« 98 »Ach, ich weiß nicht«, warf Serrah ein. »Eine Urlaubsinsel finde ich auch nicht verrückter als viele andere Orte, auf die Ihr hättet kommen können.« Karr ignorierte den Seitenhieb. »Seht sie Euch an.« Er nickte zur schimmernden Karte hin. »Sie ist vollkommen. Ungefähr ein Zehntel so groß wie Bhealfa, groß genug, um eine ansehnliche Bevölkerung zu ernähren. Sie hat Süßwasser und reichlich Holz. Außerdem viel urbares Land. Und man kann sie gut verteidigen. Mit der Zeit wird sie sich ganz und gar selbst versorgen können.« »Mit der Zeit«, wiederholte Caldason. »Das wird ein Wettrennen, und wenn Ihr glaubt, Gath Tampoor werde untätig zuschauen, wie Ihr ...« »Es ist ein riskantes Unterfangen, das wissen wir. Der ganze Plan beruht darauf, dass wir in mehr als einer Hinsicht großes Glück haben. Aber was sollen wir sonst tun? Resignieren und uns von den Eroberern überrollen lassen? Jede Hoffnung aufgeben, dass wir eines Tages ihre Ketten abstreifen können?« »Niemand will das«, meinte Serrah. »Aber ist dies der richtige Augenblick, das alles noch einmal durchzukauen?« »Ihr habt Recht. Der Besitzer muss jeden Augenblick hier eintreffen, und wir sollten ihm geschlossen gegenübertreten.« »Ich werde nicht aus der Reihe tanzen«, versprach Caldason. »Es wäre schön, wenn ich das glauben könnte«, sagte Karr lächelnd. »Phönix hat dieses Gebäude persönlich gegen Lauscher abgesichert. Kutch, du bist unsere zweite Verteidigungslinie. Ich hätte dich nicht darum gebeten, wenn wir nicht so knapp an Aufklä99
rem wären. Besonders angesichts der ... angesichts der Schwierigkeiten, die du in der letzten Zeit hattest.« »Wollt Ihr damit etwa sagen, dieses Treffen könnte gefährlich werden?«, fragte Caldason. »Nein. Aber wir wollen nicht vergessen, mit wem wir es hier zu tun haben. Bist du bereit, Kutch? Wenn du lieber ...« »Ich will helfen. Aber was soll ich tun, wenn ich etwas spüre?« »Einfach laut schreien«, sagte Caldason. »Wir erledigen dann den Rest.« »Weiß unser Besucher, warum wir die Insel haben wollen?«, fragte Serrah. »Ich glaube, es ist ihm ziemlich egal, auch wenn er nicht dumm ist. Ein schäbiger Opportunist mag er sein, aber gewiss nicht dumm.« »Ich kann es kaum erwarten, ihn kennen zu lernen.« Am hinteren Ende des Dachbodens begann über einer massiven Doppeltür eine magische rote Kugel zu blinken. »Euer Wunsch soll offenbar gleich in Erfüllung gehen.« Knarrend und quietschend wurde die Tür aufgestoßen. Der Mann, der nun eintrat, war um die dreißig. Er hatte einen sauber getrimmten Schnurrbart und ein hartes Gesicht. Seine Kleidung und sein Selbstvertrauen wiesen ihn als geübten Schwertkämpfer aus. »Verzeiht mir«, sagte er, als er sein Cape aufschnürte. »Die Straßen waren verstopft, und ich musste die ganze Zeit gegen den Verkehrsstrom laufen.« »Manche brechen lieber beizeiten auf«, meinte Caldason. 100 »Nicht jeder hat so viel Zeit.« Der Qalochier und Quinn Disgleirio, der Anführer der Bruderschaft der Gerechten Klinge, wechselten einen Blick. »Schon gut, Reeth«, beschwichtigte Karr. »Er hat eben keine gute Laune.« »Wann hätte er die schon jemals gehabt?« »Ihr habt nichts verpasst, Quinn«, fügte Karr eilig hinzu. »Unser Gast ist noch nicht eingetroffen.« »Doch, er ist da. Er kommt gerade herauf.« Der Patrizier wurde geschäftlich. »Also gut. Die Waffen offen sichtbar, wie vereinbart.« Disgleirio, Serrah und Caldason zogen widerstrebend ihre Klingen aus den Scheiden und legten sie auf den Tisch. »Kutch, verstecke deine Augenbinde.« Wieder begann die Kugel zu blinken. »Und ihr anderen, denkt daran, dass unser Besucher klug und gewissenlos ist. Aber vergesst auch nicht, dass er uns so dringend braucht wie wir ihn.« Die Türflügel wurden aufgestoßen und krachten gegen die Wände. Ein kleiner Hofstaat trat ein. Vier Leibwächter waren es, die gleichartige schwarze Lederwämser, Kniebundhosen und Stiefel trugen, dazu Lederhandschuhe und Stirnbänder. Unter ihnen war eine Frau mit roten Haaren und grünen Augen, keineswegs weniger gefährlich als ihre männlichen Kollegen. Alle vier waren hervorragend bewaffnet. Sie nahmen ihren Arbeitgeber in die Mitte, und einen Augenblick lang schien es gar, als trügen sie ihn in Schulterhöhe. Doch als sie ausfächerten, wurde klar, dass er nicht durch Muskelkraft, sondern durch Magie in der Luft gehalten wurde. Er saß auf einer großen, gepolsterten Scheibe 101 mit einer Lehne, die an einen Stuhl erinnerte. Seine Beine baumelten über die Kante, und er hatte sich einen dicken Sicherheitsgurt um die Hüfte gelegt. Diejenigen, die Zahgadiah Darrok noch nie gesehen hatten, aber um seinen Ruf wussten, hätten vielleicht einen Mann erwartet, der von Faulheit und Ausschweifung gezeichnet war, und keinen, der so durchtrainiert aussah wie ein Athlet. Er hatte ein markantes Gesicht, einen sauber getrimmten blonden Schnurrbart und aufmerksame, hellblaue Augen. Der einzige Missklang entstand, sobald er den Mund aufmachte. Ein rascher Befehl an seine Eskorte, die Waffen abzulegen, wurde mit einer knirschenden Stimme erteilt, die nicht recht zu seinem Äußeren passen wollte. Die Stimme klang eher nach einem gewohnheitsmäßigen Pfeifenraucher und Konsumenten von scharfem Likör. Als Darroks Leibwächter die Waffen abgelegt hatten, stellte Karr die Anwesenden einander vor. Dann zogen sich die Beschützer zurück, beobachteten aber aus einiger Entfernung aufmerksam den Verlauf der Begegnung. Darrok lenkte seine schwebende Scheibe zum Tisch und senkte sie ab, bis er in normaler Höhe saß. »Können wir Euch eine Erfrischung anbieten?« Karr deutete auf die Weinflasche und das Gebäck auf dem Tisch. »Ich halte nichts davon, Geschäftliches mit Gelüsten zu verquicken«, knirschte Darrok. »Wie Ihr wollt.« »Ich schlage vor, dass wir umgehend über die letzte Zahlung reden.« »Deshalb sind wir hier.« 102 »Könnt Ihr das Geld beschaffen?« »Aber gewiss.« »In Gold?« »Ja, in Gold.« »Und Ihr könnt es liefern, wie ich es bestimmt habe?« »Wir können von unserer Seite alle Bedingungen erfüllen. Aber natürlich wüssten wir auch gern, ob dies
genauso für Euch gilt.« Darrok zeigte sich ein wenig gereizt. »Ihr habt mein Wort.« »Wir wollen Euch keineswegs beleidigen. Doch es ist wichtig, dass Ihr unser Bedürfnis versteht, die Übergabe so reibungslos und diskret wie möglich vorzunehmen.« »Ich könnte fragen, warum Ihr heimlich vorgehen wollt, wenn Eure Ziele legal sind.« »Ich bin sicher, dass jeder von uns private Angelegenheiten hat, die er niemandem offenbaren möchte«, sagte Karr. »Ich könnte Euch auch daran erinnern, dass ein Anteil des nicht unbeträchtlichen Preises, den wir zahlen, genau diese Vertraulichkeit gewährleisten soll.« »Die werdet Ihr bekommen. Ich garantiere es.« »Ich möchte noch in einem weiteren Punkt um Eure Garantien bitten.« »Ach?« »Wie Ihr wisst, werden bald einige unserer Leute als Vorhut auf der Insel eintreffen. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass Ihr mit ihnen zusammenarbeitet.« »Darüber waren wir uns längst einig, Karr.« »Ich sage es nur, um noch einmal die Bedeutung zu unterstreichen.« 103 »Ja, schon gut, schon gut. Es soll geschehen, wie Ihr wünscht. Was nun das Gold angeht...« »Ihr könntet uns eine Menge Schwierigkeiten ersparen«, warf Disgleirio ein, »wenn wir die Zahlung hier auf dem Festland leisten könnten.« »Wer will denn nun gegen die Abmachung verstoßen? Wir haben vereinbart, dass der Rest des Goldes auf die Insel geschafft und von dort aus weiterbefördert wird.« »Damit übernehmen wir das ganze Risiko, und Ihr habt nur Vorteile.« Darrok zuckte mit den Achseln. »Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis.« »Wir erfüllen den Vertrag von unserer Seite«, versprach Karr. »Haltet Ihr nur Euren Teil ein, und die Lieferung wird in wenigen Wochen eintreffen.« »Ihr tut sicher gut daran, sie mit möglichst großem Begleitschutz zu schicken.« »Natürlich werden wir unsere Vorkehrungen treffen.« »Ihr werdet womöglich etwas mehr als die üblichen Vorkehrungen brauchen.« Disgleirio sah ihn misstrauisch an. »Was meint Ihr damit?« »Nun, es gibt ein ... ein gewisses Maß an Unfrieden in meinen Gewässern.« »Welche Art von Unfrieden?« »Wir haben Probleme mit Freibeutern.« »Ihr meint Piraten?«, platzte Kutch heraus. »Ich bin es nicht gewöhnt, von einem Kind ausgefragt zu werden.« »Dann antwortet einem Mann«, sagte Caldason und nahm eine drohende Haltung an. 104 »Ich bin auch nicht daran gewöhnt, mich einem angeheuerten Helfer zu erklären«, sagte Darrok verächtlich. Der Qalochier sprang auf, und sein Stuhl kippte um. Serrah folgte seinem Beispiel, und Darroks Leibwächter eilten sofort herbei. »Es reicht!«, donnerte Karr. »Wir sind hier, um zu reden, und nicht, um zu kämpfen. Beruhigt Euch. Das gilt für alle.« Einige Atemzüge lang standen alle reglos da und starrten einander an, die Fäuste geballt und die Muskeln gespannt. Karr nickte seinen Leuten zu. »Setzt Euch.« Darrok schickte seine Leibwächter mit einer Geste wieder zurück. Caldason stellte seinen Stuhl auf, und auch Serrah setzte sich wieder. Beide bewegten sich zögernd und behielten ständig die Eskorte im Auge. »So, dann habt Ihr also Schwierigkeiten mit Piraten«, sagte Karr. »Ich glaube, sie nennen sich lieber Händler und Abenteurer«, wandte Darrok ein. »Zum Teufel damit, wie sie sich selbst nennen. Warum habt Ihr uns das nicht gesagt?« »Ich sage es Euch doch jetzt.« »Wie groß ist das Problem denn?«, wollte Disgleirio wissen. »Bis vor kurzem war es beherrschbar. Nicht mehr als eine kleine Unbequemlichkeit. Aber das hat sich verändert.« »Warum?« »Früher waren die Freibeuter nicht organisiert. Sie haben ebenso häufig gegeneinander gekämpft, wie sie 105 Reisende ausgeplündert haben, die ihnen über den Weg gelaufen sind. Jetzt haben sie sich zusammengeschlossen und ein Bündnis gegründet.« »Das bedeutet, dass sie irgendeine Art von Anführer gefunden haben«, überlegte Caldason. »Wer hat sie so hinter sich einen können?« »Ihr seid klüger, als es den Anschein hat. Habt Ihr schon einmal von einem Mann namens Kingdom Vance
gehört?« »Oh, verdammt«, murmelte Serrah. »Also kennt Ihr den Namen«, sagte Darrok. Karr sah ihn finster an. »Wer kennt ihn nicht? Immerhin ist er der berüchtigtste, kaltblütigste Freibeuter, der jemals einem Menschen die Kehle durchgeschnitten hat. Wollt Ihr mir etwa sagen, dass er dieses Bündnis geschmiedet hat?« Darrok nickte. »Er muss den anderen einen Preis geboten haben, der verlockend genug war, um sie zusammenzubringen«, meinte Caldason. »Eine Beute, die ihre Differenzen mehr als aufwiegt.« »Das hat er getan. Er hat ihnen etwas angeboten, das sie schon lange wollen.« Darrok hielt inne und betrachtete die Gesichter seiner Gastgeber. Er sah, dass einer oder zwei es bereits erraten hatten. »Einen festen Stützpunkt. Ein Land, das sie ihr Eigen nennen können.« »Sie wollen die Insel haben«, flüsterte Disgleirio, dem die Wahrheit dämmerte. »Darrok, Ihr seid ein Bastard. Das grenzt an Verrat. Worauf seid Ihr aus? Wollt Ihr mehr Geld? Läuft es darauf hinaus?« Unwillkürlich war er aufgesprungen. »Von meiner Seite gibt es keine Täuschung.« Darrok winkte seinen nervösen Leibwächtern, dass sie sich zu106 rückhalten sollten. »Ich bitte nur um die abschließende Zahlung.« »Nachdem Ihr uns diese Neuigkeiten serviert habt? Vergesst es.« »Ihr werdet feststellen, dass unser Abkommen vorsieht, dass es ohne vollständige Zahlung keinen Abschluss gibt. Und ich darf behalten, was bisher schon gezahlt worden ist.« Disgleirio drehte sich wutentbrannt zu Karr herum. »Auf so etwas habt Ihr Euch eingelassen?« Darrok antwortete, bevor der Patrizier etwas erwidern konnte. »Es gibt nicht gerade viele Inseln, die zum Verkauf stehen. Wie ich schon sagte, Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Nehmt an oder lasst es bleiben.« »Karr?«, bohrte Disgleirio. »Er hat Recht. Wir sind nicht in der Position, die Bedingungen zu diktieren.« Serrah brach schließlich das Schweigen, das sich über den Raum senkte. Im Gegensatz zum aufgebrachten Disgleirio schien sie beinahe amüsiert. »Nun, die Luft hier im Raum könnte man mit dem Messer schneiden«, sagte sie. Mit einem Blick zu den abgegebenen Waffen fügte sie hinzu: »Will es vielleicht jemand versuchen?« Karr stand auf und bat mit einer Geste um Ruhe. »Also gut. Bleibt ruhig, lasst uns die Sache vernünftig regeln. Wir werden schon eine Lösung finden.« »Immer der Diplomat, was, Patrizier?« Serrah schenkte ihm ein Lächeln, das fast ein wenig irre wirkte. »Er hat Recht«, unterbrach Darrok. »Es ist möglich, dass Ihr Rivalen habt, was die Insel angeht. Na und? Verglichen mit Euch ist ihre Zahl klein, wenn man sich 107 ansieht, wen Ihr auf Eurer Seite habt. Ihr werdet schon damit klarkommen.« »Das klingt, als wäre es eine Kleinigkeit«, bemerkte Disgleirio, der immer noch kochte. »Nein, es sollte eher so klingen, als wäre es nicht mein Problem. Meine einzige Sorge ist, wie ich das Geld ausgebe, das ich von Euch bekomme.« »Damit Ihr Euch noch mehr Spielzeuge wie das da kaufen könnt?« Er deutete mit dem Daumen zur schwebenden Scheibe. Darrok ließ sie aufsteigen, bis er in Kopfhöhe der Männer schwebte. »Es ist eher eine Notwendigkeit denn ein Luxus.« Er klopfte mit dem Knöchel auf seine Beine. Der hohle Klang verriet, dass sie künstlich waren. »Kingdom Vance«, sagte er nur. »Und genau deshalb ist das alles nicht mein Problem.« Als sie die Neuigkeit verdaut hatten, beschied Karr: »Wir müssen darüber nachdenken.« »Ich bin noch ein paar Tage in Valdarr. Ihr wisst ja, wie Ihr mich erreichen könnt.« Zahgadiah Darrok winkte seinem Gefolge. Die Leibwächter kamen und holten ihre Waffen, bauten sich um ihren Herrn auf und folgten ihm, als er zum Ausgang schwebte. Hinter ihnen fielen die Türflügel mit lautem Knall zu. Karr wandte sich an die anderen. »Wir wollen uns dadurch nicht abschrecken lassen.« »Wirklich?« Caldason gab sich keine Mühe, seinen Zynismus zu verbergen. »Ja. Viel zu viele Leute bauen auf uns. Wir sind es ihnen schuldig.« »Ich kann nicht glauben, dass Ihr mit diesem Mann so eine Abmachung getroffen habt«, klagte Disgleirio. 108 »Ist die Aufgabe, vor der wir stehen, nicht auch so schon schwierig genug?« »Geschehen ist geschehen, Quinn. Und Darrok hat Recht damit, dass Angebot und Nachfrage die Preise bestimmen. Er hat uns über den Tisch gezogen.« »Und was sollen wir jetzt dagegen tun?« »Zuerst einmal sollten wir die Truppe verstärken, die Reeth mit der Goldlieferung anführt.« »Augenblick mal«, unterbrach Caldason. »Es ist eine Sache, mich zu bitten, das Gold abzuliefern. Aber von mir zu erwarten, dass ich gegen ein Piratenbündnis antrete, ist eine ganz andere.«
»Aber Ihr müsst doch einsehen ...« »Ich sehe nur, dass ich trotz Eurer Versprechungen meinem Ziel, die Clepsydra zu finden, keinen Schritt näher gekommen bin. Jetzt wollt Ihr mich für einen Krieg verpflichten, mit dem ich nichts zu tun habe.« »Aber der Plan ...« »Das ist Euer Problem, Karr. Sucht Euch einen anderen Trottel.« Er ging zur Tür und schnappte sich unterwegs die Schwerter vom Tisch. »Reeth!«, rief Kutch. »Lass ihn laufen«, riet Karr ihm, als die Türen ein weiteres Mal zugeknallt wurden. »Er wird schon wieder zu sich kommen. Und wenn nicht...« »Seht mich nicht so an«, sagte Serrah. »Man kann mir schließlich nicht weit genug vertrauen, um mich zu schicken, oder?« Kutch ließ mutlos die Schultern hängen. Disgleirio legte, immer noch wütend, sein Schwert wieder an. Karr seufzte müde und schwieg. Er starrte die strahlende Karte auf der Wand an. Dann schnippte er mit 109 den Fingern. Die Karte zog sich sogleich zusammen und fiel auf den Boden; dann sprang sie wieder hoch, einmal nur, und flog in hohem Bogen zielsicher in seine ausgestreckte Hand. Er nahm die Hoffnung der Welt und steckte sie sich ins Ohr. 110 Schweigen herrschte. Ein weicher Dunst umgab ihn. Ihm war kalt, und er fühlte sich gewichtslos. Langsam kehrte das Gefühl zurück. Doch er hatte keine Vorstellung, wer er war und wo er war. Dann bemerkte er einen starken Luftzug, der auf seiner Haut kribbelte und sein Haar zauste. Es stach in den Augen und ließ Tränen hervorquellen. Sein Magen regte sich. Der Puls pochte in seinen Ohren. Er stürzte. Die klebrige weiße Umgebung verschwand. Als er stürzte, sah er, dass es eine Wolke gewesen war, die inzwischen hoch über ihm stand. Dann ein Blick, noch höher hinauf, wo die Sterne auf blauen Samt gepudert waren. Er drehte sich und wand sich und konnte die Erde sehen, so tief unter sich, dass sogar die Krümmung zu erkennen war. Er fiel mit dem Kopf voraus, und rings um ihn pfiff der Wind. Er hatte keine Kontrolle über den Sturz, aber irgendwie schien er sich auf einmal absichtsvoll zu bewegen. Er fiel nicht mehr einfach hinunter, sondern er flog. 111 Das Land unter ihm wuchs, einzelne Merkmale schälten sich deutlicher heraus. Mit Schnee bedeckte Berggipfel, silberne Flüsse und saftige Wiesen. Er glitt über Ebenen, fruchtbare Täler und die smaragdgrüne Wolle großer Wälder. Noch tiefer sah er hier und dort auch die Hand der Menschen. Gepflügtes Land zwischen den Wiesen, aus Granit gebaute Bauernhäuser, Holzhütten und die Narben der Straßen. Ein Schwindel erregender Schwenk brachte ihn auf eine solche Straße hinunter. Er flog höher als die höchsten Bäume und folgte ihr. Eine große Gruppe Reiter tauchte auf. Bewaffnete, die wie der Teufel galoppierten. Er beschattete sie und folgte mühelos den Biegungen und Windungen der Straße. Viele Meilen hielt er Schritt mit ihnen. Dann dämmerte ihm, dass sie nicht die Einzigen waren, die sich in diese Richtung bewegten. Noch etwas anderes folgte den Reitern. Etwas, das flog wie er selbst, doch in größerer Höhe und hinter ihm. Es jagte die Reiter nicht, sondern begleitete sie, trieb sie an. Was es auch war, das den aufgewühlten Himmel durchquerte, man konnte es spüren, aber nicht sehen. So eigenartig es klang, es war zugleich ein Rudel und ein einziger Verstand. Er wusste es, ohne genau zu begreifen, woher er es wusste. Ebenso gewiss war, dass es eine böse Kraft besaß. Eine Bedrohung, die auf ihn zielte und tiefe Angst weckte. Seine Furcht spornte ihn an. Er beschleunigte und schoss nach vorn, überholte die Reiter und das Entsetzen, das ihnen folgte. Er bewegte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit; die Landschaft unter ihm war nur noch verschwommen zu erkennen, ein grüner Streifen mit braunen Flecken. Seen wie Spiegel, Felder wie Flickenteppiche, Wäldchen, die das Licht tranken. Bis 112 er endlich eine ferne Region erreichte, wo das Land noch wild war. Dort wurde er langsamer. Er schwebte über einer Waldlichtung, auf der vier oder fünf hellbraune Halbkugeln standen. Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass es sich um Rundhäuser handelte, aus Holzbalken gebaut und mit Stroh gedeckt. Eine Hand voll Menschen bewegte sich im Lager. Einer zog einen Eimer aus dem Brunnen, ein anderer schnitt Holz. Die meisten hielten Wache. Vieh war in Pferche gesperrt, mehrere Pferde hatte man an einen Pfosten gebunden. Irgendwie kam ihm die Gegend sehr bekannt vor, und als er langsam tiefer sank, er konnte einfach nicht anders, nahm sein Unbehagen noch zu. Sachte und lautlos landete er. Er rechnete damit, von den Leuten zur Rede gestellt zu werden, doch niemand drehte den Kopf, und keine Wächter kamen gerannt. Er konnte sehen, ohne gesehen zu werden. Als Erstes sah er, dass es Leute von seiner eigenen Art waren. Ein Schrei war zu hören. Er kam aus einer kleinen Hütte, die ein Stück abseits von den anderen stand. Kein Bewohner des Lagers drehte sich um. Sie schnappten sich nur ihre Waffen und sahen nervös zum Wald. Wieder ertönte der Schrei, schrill und länger als beim ersten Mal. Er bewegte sich zu dessen Ursprung, unsichtbar wie
ein Geist. Das Innere der Hütte lag im Halbdunkel und wurde nur vom weichen Licht abgedeckter Laternen erhellt. Als seine Augen sich umgestellt hatten, konnte er eine kleine Gruppe von Menschen erkennen, die rings um etwas kauerten, das sich auf dem nackten Erdboden befand. Zwei waren Matriarchinnen, weise Frauen, de113 nen eine Novizin diente. Die letzte Person war ein alter Mann, der einem unbekannten Volk angehörte. Auch er wirkte auf eigenartige Weise vertraut. Er drang tiefer in die Hütte ein und sah, dass die Menschen sich um eine Frau von seiner eigenen Art kümmerten, die auf grobem Sackleinen lag. Ihr Wollhemd war um die Hüfte gerafft, sodass der pralle Bauch entblößt war. Strähnen ihres glänzenden schwarzen Haars klebten auf der schweißfeuchten Stirn. Sie hatte die Lippen zurückgezogen und zeigte die makellosen weißen Zähne. Obwohl ihr Gesicht vor Schmerzen verzerrt und das Licht nur schwach war, erkannte er, dass sie eine Schönheit war. Gebannt schaute er zu, wie die anderen sich um die Frau bemühten. Doch sehr schnell wurde deutlich, dass etwas nicht stimmte. Die Frau wand sich jetzt heftiger, und ihre Schreie wurden länger. Die Helfer wechselten besorgte Blicke, und ihre Bemühungen bekamen etwas Hektisches. Machtlos, als körperloser Zuschauer konnte er nur beobachten, wie sie sich als Hebammen versuchten. Als der Knabe geboren war, sank die Frau auf ihr Lager und schwieg. Jetzt herrschte eine Stille, die viel unheimlicher war als ihre Schreie. Auch das Kind war still. Ein totes kleines Ding schien es zu sein, das nicht atmete. Während die Frauen sich bemühten, die starken Blutungen der Frau zu stillen, nahm der alte Mann das Kind auf. Rasch schnitt er mit einer silbernen Sichel die Nabelschnur durch, wie es die Tradition gebot. Dann hob er das blau verfärbte Neugeborene an einem Fußgelenk hoch und klatschte ihm mit der Hand aufs Hinterteil. Noch zweimal musste er schlagen, ehe das Kind nach Luft schnappte und zu schreien begann. 114 Die Mutter konnte nicht wiederbelebt werden. Sie lag reglos da und bekam bereits die bleiche Farbe des Todes. Ihr Mund war erschlafft, die Augen trüb. Die Verzweiflung ihrer Helfer griff auch auf den Beobachter über. Eine eiserne Klammer legte sich um sein Herz. Eis strömte durch seine Adern. Sein Kummer war stärker, als es bei einem bloßen Zuschauer hätte sein sollen. Er schob sich noch näher heran. Schreie, die von draußen hereindrangen, ließen ihn zögern. Der alte Mann drückte das Neugeborene fest an seine Brust. Ängstlich schauten die Hebammen zur Tür. Die Rufe wurden lauter. Er sah die Bewohner der Hütte ein letztes Mal an, bevor er sich zurückzog. Draußen herrschte helle Aufregung. Männer rannten und brüllten. Einige warfen Sättel auf Pferde, andere waren bereits aufgesessen und nahmen eilig die Tiere herum, dass der Schlamm nur so spritzte. Durch die Bäume konnte er die Reiter erkennen, die er auf der Straße gesehen hatte. Viele waren es, die rasch näher kamen. Die Männer aus dem Lager, hoffnungslos in der Unterzahl, bemühten sich, die Eindringlinge aufzuhalten. Einige blickten zum Himmel hinauf. Dort war etwas, ein brütendes Wesen. Doch nur er konnte die bösartige Horde schwarzer Gespenster, die am Himmel lauerten, wirklich sehen. Der alte Mann kam aus dem Rundhaus. Er hatte das Kind in eine blutige Decke gewickelt und blieb einen Augenblick stehen, um sich zu orientieren. Traurig blickte erzürn unheildrohenden Himmel hinauf. Dann fasste er sein Bündel fester und lief überraschend geschwind in den Wald, fort von den Angreifern. Die Schatten wallten und sammelten sich am Himmel. Sie konnten fließen und unendlich viele verschie115 dene groteske Gestalten annehmen. Als sie herabstießen, gingen ihnen grelle Lichtströme voraus. Entsetzliche Kräfte rissen die Luft auf, Feuerlanzen zuckten hinunter, und eine tödliche Strahlung breitete sich aus. Wie ein lebender, todbringender Regen fielen sie herunter. Wie droben, so drunten. Die Reiter stürmten auf die Lichtung. Mit blutrünstigen Schreien und zuckenden Klingen griffen sie an. So wenige sie auch waren, die Menschen seines Volks stellten sich auf, um die Angreifer abzuwehren. Über das Land und vom Himmel her kamen die Feinde. Flammen und Stahl drangen auf ihn ein und umhüllten ihn. Er kam zu sich und unterdrückte einen Schrei. Dann spürte er den Griff einer Hand, packte das Handgelenk und hielt es fest wie ein Schraubstock. »Autsch, du tust mir weh!« Caldason blinzelte und orientierte sich. »Kutch? Was, zum Teufel, tust du hier? Weißt du nicht, wie gefährlich es ist, wenn du ...« »Du hast gebrüllt wie am Spieß, dass fast das Haus eingestürzt wäre. Ich habe dich von oben gehört.« »Ich ... es tut mir Leid.« Er ließ los. Kutch schnitt eine Grimasse und rieb sich das Handgelenk. »Was ist denn passiert? Schon wieder einer?« »Ja.« Er richtete sich auf und schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. »Ein ... ein Traum, oder wie man es auch nennen will.« »Es klang schlimm.« Der Qalochier nickte. »Anders als sonst.« Dann fiel 116
ihm etwas ein. »Aber was ist mit dir? Ich meine, hast du auch etwas gesehen? Warst du ...« »Nein, ich habe nichts mitbekommen. Dieses Mal nicht. Es geschieht auch seltener, seit ich nicht mehr so oft als Aufklärer arbeite.« »Meinst du, dass da ein Zusammenhang besteht?« Er schwenkte die Beine von der Pritsche und ließ die steifen Schultern kreisen. »Tja, es hat angefangen, als ich mit meiner Ausbildung zum Aufklärer begonnen habe. Ich wüsste nicht, dass sich sonst noch etwas verändert hätte.« »Du selbst hast dich stark verändert, seit wir hierher gekommen sind, Kutch.« »Wirklich? Wie denn?« »Überwiegend zum Besseren.« Er lächelte leicht. »Du sagtest, dieser Traum sei anders gewesen.« Das Lächeln verschwand. »Ja. Manches kam mir bekannt vor. Viel zu bekannt. Aber da war auch etwas Neues.« »Was denn?« Caldason stand auf und ging an ihm vorbei zum Fenster. Der Morgen graute, und auf Valdarrs Straßen herrschte schon reges Treiben. Drunten bewegten sich überwiegend echte Menschen, doch hin und wieder sah man auch eine magische Erscheinung. Viele Illusionen waren auf den ersten Blick zu erkennen, andere waren von einem flüchtigen Beobachter nicht ohne weiteres von Fleisch und Blut zu unterscheiden. Lichtblitze zeigten, wo neue Zauber erschienen. Ebenso groß war die Zahl der lichtlosen Implosionen, wo sich verbrauchte Zauber auflösten. Ein Vogelschwarm zog über den grauen Himmel. Vielleicht waren sie echt. Er wusste es nicht zu sagen. 117 »Reeth?« »Die Visionen haben mir viele Male meinen Tod gezeigt«, sagte Caldason, der immer noch die Szenerie draußen betrachtete. »Oder das, was mein Tod hätte sein sollen. Jetzt ist etwas Neues passiert.« »Was es auch war, es hat dich anscheinend ganz schön mitgenommen.« »Ich habe gesehen, wie ich auf die Welt gekommen bin und wie meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist.« Er drehte sich zu dem Burschen um. »Ich war für den Tod meiner Mutter verantwortlich, Kutch.« Hoch droben flatterten die Vögel träge der aufgehenden Sonne entgegen. 118 Tausende Vögel verdunkelten den regenschweren Himmel. Sie kreisten über einem Gebiet, das vergleichsweise dünn besiedelt war, obwohl es sich mitten in Bhealfa befand. Die Aussicht auf leichte Beute hatte sie in so großer Zahl angelockt: nicht nur die unzähligen Würmer, die ans Licht kamen, sondern auch die Menge an Abfällen, die vom Geleitzug hinterlassen wurde. Für die Vögel war es ein niemals endender Festschmaus. Allerdings war er nicht ganz ungefährlich. Auch wilde Hunde und Raubkatzen wurden von diesem Angebot angelockt. Und die Menschen in der großen Prozession setzten Falken und Bogenschützen ein, um die Vogelschwärme zu reduzieren, oder einfach nur zum Sport. Die anderen Rivalen der Vögel waren die Trödler, die dem Geleitzug folgten. Diese Männer, Frauen und Kinder lebten in einer ebenso strengen Hierarchie wie die anderen Menschen in der übrigen Gesellschaft, aus der sie verstoßen worden waren. Die Geringsten 119 unter ihnen, die Dungsammler, wanderten zu Fuß und schleppten auf Karren und Wagen die Früchte ihrer Arbeit hinter sich her. Direkt über ihnen standen die Lumpensammler. Der Name entsprach nicht ganz ihrer Tätigkeit, denn sie lasen nicht nur abgelegte Kleider, sondern vor allem auch wertvolle Gegenstände aus dem Abfall auf. Beflügelt von Geschichten über weggeworfene Münzen und sogar Juwelen, führten sich viele Lumpensammler auf wie Goldgräber. Hin und wieder stieß man auch auf eine Leiche. Es handelte sich um Hingerichtete oder um Ausgestoßene, was aufs Gleiche hinauslief, wenn sie von den höheren Stellen des Geleitzuges heruntergeworfen worden waren. Manche hatten auch Selbstmord begangen, weil sie dem Tod durch die eigene Hand gegenüber der willkürlichen Grausamkeit des Regimes den Vorzug gaben. Sobald sie ausgeplündert waren, überließ man die Toten den Totengräbern. Diese bunt zusammen gewürfelte und von allen anderen geächtete Truppe setzte sich aus Verbannten zusammen - Menschen, die an hässlichen Krankheiten litten oder geistig verwirrt waren und keine andere Beschäftigung finden konnten. Sie lebten davon, die Leichen an die nicht selten adligen Angehörigen zu verkaufen, die ihre Verstorbenen anständig begraben wollten. Die reisenden Handwerker hielten sich im Vergleich zu den Trödlern, Lumpensammlern und Totengräbern für etwas Besseres. Tischler, Baumeister, Dachdecker, Wagner, Hufschmiede und Vertreter eines Dutzends weiterer Berufe zählten zu ihnen. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt mit der Reparatur der Schäden, die durch die Prozession angerichtet wurden. Eine Hand 120 voll Magier von zweifelhaftem Ruf stand mit dieser Truppe in lockerer Verbindung. Sie versprachen den Betroffenen Schutzzauber, damit solche Katastrophen in Zukunft vermieden wurden. Da sie wohlhabender waren als die unter ihnen stehenden Kasten, konnten sich die Handwerker ein gewisses Maß an primitiver Magie erlauben. Manch einer verfügte über magische Vogelscheuchen, die er ab und zu auf
die Vögel losließ, um ein paar Minuten verschnaufen zu können. So sah es also in dieser kühlen Morgendämmerung aus. Ein Spruch löste eine ohrenbetäubende Salve aus. Brennende bunte Fäden stachen in den Himmel hinauf und verscheuchten die erschrocken kreischenden Ziele. Die Vögel flohen in höhere Regionen und formierten sich neu. Ein Trödler nahm den Aufruhr als willkommene Unterbrechung, um den Rücken zu strecken. Er hob eine Hand und wischte sich die Stirn trocken, auf der ihm trotz der kühlen Morgenstunde schon der Schweiß stand. Er holte Luft, sah sich nach der Quelle der Unruhe um, die etwa eine Meile entfernt war, und spürte das vertraute Pochen unter den Füßen, während sie sich langsam entfernte. Dieses Spektakel und dieses Chaos, es jagte ihm immer wieder Ehrfurcht ein. Und er musste dankbar sein, dass es ihn ernährte. Es war ein Wunder, ein Geschenk der Götter. Diese Schattenwirtschaft, die allein auf den Narrheiten eines Mannes beruhte, der allgemein für verrückt gehalten wurde. Jemand hatte Prinz Melyobars fliegenden Hofstaat einmal mit einer Sau verglichen, die ihre unzähligen Ferkel nährte. Die weniger Wohlwollenden dachten 121 an einen aufgedunsenen Blutegel, der den Lebenssaft aller Menschen im Land anzapfte. Melyobars Palast war ein kapriziöses Ding. Riesig war er und entsprach dem aufgeblasenen Ich seines Herrn, brachte zugleich aber auch dessen Verwirrung zum Ausdruck. Überall gab es Türme und Zinnen. Eine Unmenge Statuen standen auf den Wehrgängen, ebenso ausgefallen wie absonderlich. Die Anlage starrte vor Verteidigungsbauten und Sperren gegen Eindringlinge. Alles war verziert, geschnitzt, gefärbt, überdeckt und überlagert von kostbaren Steinen und Edelmetall. Insgesamt machte das Ding den Eindruck eines stachligen Kuchens, den ein manischer Koch mit einem Überguss versehen hatte. Niemals stand diese Festung oder dieser Palast auch nur eine Sekunde still. Er schwebte und wurde durchs Land gelenkt, angetrieben von Schwindel erregend teurer Magie. Sein einziger Zweck war es, dem Bedürfnis des Prinzen Genüge zu tun, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und ihm zu entrinnen. Mit diesem Bedürfnis war er zwar allein, aber er fand Nachahmer. Um ihre Position bei Hofe nicht zu verlieren, waren die Adelsfamilien gezwungen, ähnliche Paläste zu unterhalten, die natürlich nicht ganz so großzügig angelegt sein durften wie der des Prinzen. Die Gilden schlössen sich dem Zug an, dazu noch zahlreiche bedeutende Höflinge und reiche Mitbürger. Alle wetteiferten darin, ihr Vermögen zu verprassen, indem sie den äußeren Schein wahrten. Auch verschiedene magisch angetriebene Nebengebäude standen dem Prinzen zur Verfügung. Die königliche Garde, die Rittmeister, die Waffenschmiede, Pfeilmacher, Verwalter, Gelehrte, Wahrsager, Zaube122 rer und ein Dutzend anderer Gruppen von Spezialisten verfügten jeweils über eigene Transportmittel. Weniger wichtige Beamte und Anhänger, deren Zahl Legion war, mussten auf konventionelle Methoden zurückgreifen, um mit dem Palast Schritt zu halten. Unzählige Reiter befanden sich im Gefolge, darunter mehrere Abteilungen Kavallerie und eine ganze Division Paladine. Wagen, Kutschen, Karossen, Einspänner und Streitwagen gab es zu hunderten. Ihre Insassen hatten es, verglichen mit den nach tausenden zählenden Fußgängern, vergleichsweise leicht. Letztere mussten auf ein ausgeklügeltes System von mit Pferden bespannten Schlafkutschen zurückgreifen, um hin und wieder Ruhe zu finden. Die einzige Regel war, dass der Geleitzug auf gar keinen Fall anhalten durfte. Es hatte durchaus ernst gemeinte Vorschläge gegeben, Melyobars fliegende Narretei offiziell als Stadt anzuerkennen. Nichts war dem Prinzen ferner als dieser Gedanke. Ihm ging es ausschließlich darum, seinen Todfeind zu überlisten. Zu diesem Zweck stand er mit einer Abteilung seiner Miliz auf dem Exerzierfeld, das aus einem der höchsten Wälle des Palasts herausragte. Als Monarch war Melyobar automatisch der oberste Befehlshaber der vereinigten Streitkräfte, auch wenn es sich nur um einen Ehrentitel handelte, da im Grunde Gath Tampoor das Land beherrschte. Aus irgendeinem nicht nachvollziehbaren Grund hatte der Prinz sich entschlossen, heute als Lordadmiral der Flotte aufzutreten, wie es ihm von Rechts wegen zustand. Die dunkelblaue Uniform mit den gepolsterten Schultern war mit goldenen Tressen verziert. Der 123 Mantel passte nicht ganz über den Schmerbauch, daher standen die goldenen Knöpfe offen. Kniebundhosen mit Goldstreifen an den Seiten und glänzende kniehohe Stiefel verhüllten seine kümmerlichen Beine. Er trug einen Dreispitz mit einer weißen Feder auf dem Kopf. Strähnen von ergrautem Haar lugten unter dem Rand hervor und verliehen seinem fahlen, aufgedunsenen Gesicht das Aussehen einer gesprungenen Eierschale. Außerdem hatte er ein prächtiges Schwert, mit dem er vortrefflich herumfuchteln konnte. »Jetzt lasst den Nächsten los!«, verlangte er. Seine Stimme war viel zu schrill, um irgendjemanden zu beeindrucken. »Sir!« Ein Sergeant knallte die Hacken zusammen und schaffte es tatsächlich, ernst zu bleiben. Er marschierte los und brüllte Befehle. »Da rüber!«, rief der Prinz. »Da entlang!« Er deutete auf ein fernes Bauernhaus, an dem sie langsam vorbeifuhren. »Beeilt euch!«
Eine Abteilung Soldaten bemannte eines der großen Belagerungskatapulte, die vor der Brustwehr standen. Das Holz krachte, als sie hektisch den Wurfarm zurückkurbelten. Einer nahm einen Schlägel zur Hand, um die Keile unter die Vorderräder des Katapults zu zwängen. Vier Männer kamen mit einem Netz, in dem sie einen runden, lederartigen Gegenstand trugen, größer als der Kopf eines Ochsen. Er war schwer genug, um sie ein wenig wanken zu lassen. Ein blau gewandeter Zauberer folgte ihnen; er war mit einem kleinen Samtbeutel bewaffnet. Der schmächtige, kahlköpfige und bärtige Mann schaute mit dem gebotenen Ernst in die Runde. 124 Melyobar klatschte in die Hände wie eine Lehrerin, die ihre Kinder antreiben will. »Nun macht schon, macht!« Sie luden die Lederkugel auf den Wurfarm des Katapults. Der Magier kramte in seinem Beutel und produzierte dann eine rechteckige Steintafel, deren Größe und Farbe an ein rotbraunes Blatt im Herbst erinnerte. Er schob sie in die Seile, die die Kugel zusammenhielten, und murmelte eine Anrufung. Der Prinz sah mit kaum verhohlener Ungeduld zu. »Wir wollen dieses Mal aber etwas genauer zielen, nicht wahr?«, bemerkte er sarkastisch. Er nahm ein durch Magie verstärktes Fernglas vom Tisch, auf dem eine ganze Anzahl dieser Geräte aufgestapelt waren. Wenn er es vors Auge hielt, konnte er das Bauernhaus aus der Nähe betrachten, gerade so als befände es sich nur einen Steinwurf vom Palast entfernt. Er sah, dass einige Leute sich auf der Veranda versammelt hatten. Ein paar winkten herüber. Melyobar blinzelte empört, als das Bild flackerte und verblasste. Das Fernrohr hatte seine Magie verbraucht, und er warf es gereizt fort. Es rollte ein paar Schritt weit und fiel über die Kante. Er schnappte sich das Nächste vom Tisch. Etwa ein Dutzend weitere Ferngläser waren noch vorhanden, und jedes war so viel wert, wie ein Milizionär im Monat verdiente. Die Katapultmannschaft hielt sich bereit, während der Prinz sein Fernglas ausrichtete. Als das Bauernhaus genau auf gleicher Höhe war, hob er das Schwert. »Feuer!« Der Hebel wurde gezogen, und der Wurfarm schnellte mit gewaltiger Kraft nach oben. Die abgefeuerte Lederkugel stieg rasch empor. In einem großen Bogen 125 flog sie zum Bauernhaus. Die Bewohner liefen erschrocken fort. Ameisen, die vor einem Stiefel flohen. Man sah dem Zauberer die Anspannung an, als er mit halb geschlossenen Augen seine Beschwörungen murmelte. Melyobar beobachtete das Ziel durchs Fernglas. Ein schwarzer Punkt kam herunter. Es sah so aus, als wollte die Kugel harmlos weit hinter dem Bauernhaus auftreffen. Die fliehenden Ameisen erkannten dies ebenfalls, und die meisten blieben stehen und starrten nach oben. Als die Kugel direkt über dem Dach war, erreichte die Anrufung des Magiers ihren Höhepunkt, und sie platzte lautlos. Einen Sekundenbruchteil später drang ein gedämpfter Knall bis zum Palast. Eine purpurne Wolke hing in der Luft, wo die Kugel gerade noch gewesen war. Dann entließ sie wie eine Regenwolke ihre Fracht. Eine blaue Flüssigkeit regnete herunter und prasselte aufs Dach, auf den Garten vor dem Bauernhaus und die verblüfften Zuschauer herab. Unbeeindruckt vom Wind hielt die Wolke ihre Position. Aus dem Nieselregen wurde ein starker Guss. Jetzt rannten die Leute wieder. Sie hatten sich die Hände über den Kopf gelegt, während das blaue Wasser die ganze Gegend färbte. »Besser«, lobte Melyobar. »Viel besser.« Der Magier entspannte sich ein wenig, und auch die Milizionäre am Katapult und auf dem Exerzierplatz wirkten erleichtert. Drüben beim Bauernhaus hörte die Sintflut unterdessen auf. Die Wolke verschwand, und die letzten purpurnen Schwaden verzogen sich. Der Prinz winkte den Magier zu sich. »Das gefällt mir schon viel besser. Die Übung macht den Meister, nicht wahr?« 126 »Äh, ja, Euer Hoheit. Vielen Dank, Euer Hoheit.« Er verneigte sich ungeschickt. »Man muss alle Fehler ausbügeln. Man muss sich ins Zeug legen, und so weiter.« »Wir könnten die Wünsche Eurer Hoheit gewiss besser erfüllen, wenn wir etwas genauer wüssten, welche Absichten und Ziele Ihr verfolgt.« Der Magier bereute sofort, dies ausgesprochen zu haben. Melyobars Gesicht verdüsterte sich, doch wie sich herausstellte, bekam er keinen seiner gefürchteten Wutausbrüche. Er beugte sich vor wie ein Verschwörer. »Es soll reichen zu sagen ...« Er drehte den Kopf nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass sie nicht belauscht wurden. »Es soll reichen zu sagen, dass meine Arbeit hier zur Zerstörung des ...«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern, »... des großen Zerstörers führen wird.« »Wir haben gewiss alle den Wunsch, dass es so kommen möge, Hoheit.« Der Magier wählte seine Worte vorsichtig, denn er wusste, dass jedes Gespräch mit dem Prinzen wie ein Rundgang durch ein Haus voller Zauberspiegel war. »Der Plan ist gut«, vertraute Melyobar ihm an. »Mein Vater, der König, hat ihn selbst entwickelt.« »Wirklich, Hoheit?« Der Magier schluckte. »Welch ein Glück für uns, dass die große Weisheit Seiner Majestät
uns dabei hilft, dieses Problem zu lösen.« »Aber gewiss doch. Das sage ich ihm auch selbst oft, wenn wir uns unterhalten.« Der Magier wusste so gut wie alle anderen, dass der König tot oder wenigstens so gut wie tot war. Er nickte bedächtig und versuchte, sich einen passenden Gemeinplatz auszudenken, den er als Antwort geben 127 konnte. »Ich hoffe doch, dass Seine Majestät bei guter Gesundheit ist«, gab er in seiner Verzweiflung zurück. »Bei bester Gesundheit und guter Dinge. Und er will unbedingt dabei helfen, den Feind zu vernichten.« »Das ist ausgezeichnet, Hoheit. So sind die Tage des Schnitters wohl gezählt.« »Zweifellos. Und heute habe ich, was meine Bewaffnung gegen ihn angeht, einen großen Schritt gemacht.« Der Magier warf einen verstohlenen Blick zum durchnässten Bauernhaus. »Ich bitte um Verzeihung, Hoheit, aber mit... mit gefärbtem Wasser?« Melyobar zwinkerte listig und tippte sich an den Nasenflügel. »Oh, schaut nur. Eine Scheune. Sergeant! Ein neues Ziel!« 128 Das geht doch nicht«, flehte Kutch. »Ich kann das nicht.« »Du schaffst es«, beharrte der Magier. »Vertrau mir. Konzentriere dich auf die Übung und ...« »Ich kann nicht! Zuerst dachte ich, es sei eine gute Idee, aber jetzt kann ich Euch sehen ...« »Genau darum, mich zu sehen, ging es doch, oder? Nun vergiss alles andere und konzentriere dich auf deine Aufgabe.« »Das ist nicht so einfach.« »War irgendetwas, das mit der Kunst der Magie zu tun hat, schon irgendwann einmal einfach? Versuche es nur. Willst du das für mich tun?« »Ich ... ja, ich versuche es.« »Gut. Ich schlage vor, dass wir einen Augenblick lang still sind und uns konzentrieren. Atme, wie man es dich gelehrt hat.« Kutch nahm die Meditationshaltung ein: gerader Rücken, die Hände auf die Schenkel gelegt. Er war steif und nervös. 129 »Entspanne dich.« »Auch das Entspannen ist manchmal schon schwere Arbeit«, grollte der Bursche. Ein Lächeln ließ Falten im Gesicht des alten Mannes erscheinen. Die Zähne, die zum Vorschein kamen, waren gut erhalten und ebenmäßig. Sein Gesicht war voller Runzeln und wettergegerbt, und er verstand sich darauf, einen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der gleichermaßen streng und wohlwollend wirkte. Bis aufs i-Tüpfelchen entsprach er Kutchs altem Meister Grentor Domex. Kutch hatte die Augen geschlossen, doch seine Wimpern bebten und verrieten, unter welcher Anspannung er stand. Der Magier ließ ihn in Ruhe. Es war still in dem schwach erleuchteten Raum. Unverkennbar war es das Arbeitszimmer eines Magiers, voll gestopft mit Steintöpfen und Glaskrügen voller Kräuter und Elixiere und all dem anderen Zubehör, das man für Zeremonien brauchte, sowie den vielen alten Büchern. Alles war willkürlich und unordentlich irgendwo aufgestapelt. Der Raum hatte etwas Behelfsmäßiges an sich. Offenbar war der Bewohner ein ruheloser Geist. Nach einigen Minuten sagte der Magier: »Öffne die Augen.« Der Bursche gehorchte. »Das brauchen wir doch jetzt nicht mehr, oder?« Der Magier beugte sich vor, nahm die Augenbinde, die Kutch in der Hand hatte, und warf sie auf den Tisch. »Nein, die brauchen wir wirklich nicht mehr.« Kutch nickte, prägte sich aber vorsichtshalber genau ein, wo sie lag. »Wir versuchen etwas anderes«, beschloss der Ma130 gier. »Schau mal da drüben.« Er deutete auf einen hohen Holzschrank mitten im Raum. Die Türen bestanden zur Hälfte aus Drahtgeflecht. Drinnen bewegte sich etwas, doch das Gitter war zu engmaschig, um erkennen zu lassen, was es war. Der Magier machte eine rasche Geste, und die Schranktüren flogen auf. »Welche ist echt?«, rief er. Drei Tauben flatterten heraus, eine schwarz, eine weiß und eine grau. Sie breiteten die Flügel aus und flogen los. Das Zimmer war klein, und die aufgeregten Vögel schienen überall zugleich zu sein. Sie beschrieben Kreise in der Luft, prallten gegen Möbel, pickten an den geschlossenen Fenstern und machten einen Höllenlärm. »Konzentriere dich, Kutch!«, rief der Magier, der den Lärm nicht zu bemerken schien. »Konzentriere dich, konzentriere dich!« Kutch bemühte sich, seine Aufklärerbegabung einzusetzen. Die hektischen Bewegungen, das Gurren der Vögel, die flatternden Flügel, all das brachte ihn durcheinander. Zettel flogen im Zimmer herum, ein Steintopf fiel aus einem Regal und zerbrach, und etwas Zähflüssiges und Hellgrünes breitete sich auf dem Boden aus. Eine Phiole mit einem funkelnden, lachsfarbenen Pulver fiel herunter und zerbrach direkt daneben. Keine der Substanzen hatte einen sonderlich angenehmen Geruch. Den Magier störte es nicht. »Du schaffst das!«, drängte er. »Hab nur Vertrauen zu deinem Meister.«
»Ihr seid aber nicht mein Meister«, antwortete Kutch bockig. Seine Stimme war in dem Lärm kaum zu hören. »Mein Meister ist tot.« Der Magier sah die feuchten Augen des Burschen und seufzte. Er schnippte mit den Fingern, und sofort 131 wurde es still. Die Tauben standen, mitten in der Bewegung erstarrt, in der Luft. Zwei von ihnen, die weiße und die schwarze, verloren ihre Konturen. Federn und Fleisch lösten sich zu goldenen Flocken auf. Die schimmernden Umrisse der Vögel blieben noch einen Augenblick sichtbar, dann verblassten sie. Noch ein Fingerschnippen, und die echte Taube, die graue, war befreit. Ihre Flügel schlugen wieder, und sie kehrte gehorsam in den Schrank zurück. Hinter ihr schloss sich die Tür. »Es tut mir Leid, Kutch«, sagte der Magier. »Ich ... einen Augenblick.« Er senkte den Kopf, und sofort lösten sich seine Gesichtszüge auf. Sie kamen in Bewegung, änderten und verformten sich. Seine Haut bekam eine breiige, nachgiebige Konsistenz und zerfloss wie heißes Kerzenwachs. Das Ebenbild von Kutchs früherem Meister verschwand, und ein neues Gesicht entstand an dessen Stelle. Jetzt saß ein anderer alter Mann auf dem Stuhl, ganz anders als derjenige, der noch wenige Sekunden vorher dort gesessen hatte. Auch er war Kutch bekannt, doch es war nicht mehr Grentor Domex. Phönix bewegte den Kopf, als wollte er seine Benommenheit abschütteln. »Vielleicht habe ich ihn nicht gut genug nachgeahmt«, überlegte er. »Immerhin habe ich deinen Meister schon einige Jahre nicht mehr gesehen, und ich musste mir vorstellen, wie er in der Zwischenzeit ...« »Nein, das war es nicht«, erklärte Kutch. »Wenn überhaupt, dann wart Ihr viel zu gut.« »Ich dachte, es könnte dir Sicherheit geben, wenn ich in der Gestalt deines Meisters auftrete.« 132 »Das dachte ich auch, aber es hat nur die Erinnerungen geweckt, und es waren keine guten. Erinnerungen an seinen Tod und daran, dass ...« »Ich verstehe. Verzeih mir.« »Aber ... ich war nicht nur aufgeregt, weil ich meinen Meister wieder gesehen habe.« »Nein?« »Warum lasst Ihr mich weiter das Aufklären üben, obwohl ich erst einmal Hilfe wegen dieser Visionen brauche, die ich hatte?« »Ich sehe es so, als müsste ich ein lahmes Pferd behandeln.« »Ich bin kein Pferd, und ich bin auch nicht lahm.« »Nein, aber das Pferd, das du reitest, könnte es sein.« »Das verstehe ich nicht.« »Du nimmst an, dass deine Visionen in irgendeiner Weise mit der Ausbildung zum Aufklärer zu tun haben.« »Ich kann mir kaum vorstellen, was es sonst sein sollte.« »Ich stimme dir zu, dass es nahe liegt. Wir müssen also das Pferd herumführen, um zu erkennen, wo das Problem liegt.« »Dann glaubt Ihr auch, dass es mit dem Aufklären zu tun hat?« »Ich versuche zunächst einmal, alles auszuschließen, was nicht in Frage kommt, Kutch.« »Habt Ihr denn schon einmal von Aufklärern gehört, die ähnliche Probleme hatten?« »Nein. Andererseits ist die Zahl der Aufklärer sehr klein, und ich kenne gewiss nicht alle. Es gibt aber keinen Grund zu der Annahme, dass das Aufklären in dieser Hinsicht gefährlich sein könnte.« 133 »In welcher Hinsicht?« »Nun, wir wissen im Augenblick noch nicht viel, aber es scheint, als neigten Aufklärer ein wenig mehr als andere dazu, in gewisse Fallen zu tappen.« »Welche denn?« »Übermäßiger Genuss von Alkohol, Drogenkonsum, unsoziales Verhalten, solche Dinge.« »Warum habt Ihr mir das nicht gleich gesagt?« »Teilweise, weil ich da noch nicht so viel wusste wie jetzt. Ich habe inzwischen Nachforschungen angestellt. Übrigens sind es nicht viele, die auf diese Weise scheitern. Ich vermute, es liegt nicht so sehr an der Fähigkeit selbst, sondern sie fallen wohl eher dem Druck zum Opfer, dem sie ausgesetzt sind, wenn sie ihre Fähigkeit ständig einsetzen müssen.« »Ihr sagtet >teilweiseHelden