John Grey
Im Tal der Mormonen Ronco Band Nr. 210/23
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967...
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John Grey
Im Tal der Mormonen Ronco Band Nr. 210/23
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Muß bei einem Stationer Hafergrütze essen und beten und verliert seine Post, was einem Pony-Expreß-Reiter nie passieren darf. Elia Josuah Hempleman – Ein Kerl wie ein Baum, der dennoch gefällt wird. Charly Elton – Raubt Mormonenfrauen und verkauft sie an die Indianer. Jacob Coleman – Will, daß die Mörder seines Vaters und seines Bruders sterben, hat aber Angst vor sich selbst.
Im Tal der Mormonen 23. Februar 1880 Vor uns liegt Medano in Colorado. Seit meiner letzten Eintragung ist viel Zeit vergangen. Vieles, fast alles, ist ganz anders gelaufen, als ich erwartet habe. Nachdem es Lobo und mir gelungen war, den jungen Bradford unmittelbar vor der Exekution zu retten, sind wir nur noch auf der Flucht gewesen. Pausenlos sind wir kreuz und quer durch das Land gehetzt worden. Der junge Lieutenant Bradford, das heißt, jetzt ist es kein Lieutenant mehr, hatte mich einst verbissen gejagt. Dann aber hatte er begriffen, daß ich unschuldig war und seine Vorgesetzten, die ihn auf meine Spur gesetzt hatten, ihn nach Strich und Faden belogen hatten. Er war leichtsinnig genug, darüber zu reden. Das hätte ihn beinahe den Kopf gekostet. In aller Stille wollte sich die Armee dieses lästigen Mitwissers entledigen. Nun, Lobo und ich haben ihm helfen können. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Unsere Wege haben sich damals rasch getrennt, denn er mußte genauso wie wir untertauchen. Ich hoffe, er hat alles überstanden, und es geht ihm gut. Er hat noch Verwandte, im Gegensatz zu uns. Vielleicht findet er bei denen einen Unterschlupf, vielleicht ist er aber auch schon tot. Schließlich ist ein halbes Jahr vergangen, seit wir ihn zum letztenmal gesehen haben. Das ist eine lange Zeit. Im Verlauf eines halben Jahres kann viel passieren. Wir mußten nach Colorado ausweichen, und mir fiel nur ein Ort ein, wo wir eine Chance hatten, endlich wieder Ruhe zu finden. Medano. Hier waren wir zuletzt vor über einem Jahr, und ich wollte eigentlich nicht eher hierher zurückkehren, bis meine Rehabilitierung feststand. Denn hier lebt die Frau, die ich liebe. Linda Hilton, die Tochter meines Todfeindes. Sie hält zu mir. Sie wird mir helfen. Ich spüre stärker denn je, daß ich sie brauche. Es ist spät am Abend. Wir rasten nur drei Meilen von Medano entfernt auf einem Plateau und sehen unter uns die Lichter der kleinen Stadt. Es hat sich viel verändert. In einem Nest zehn Meilen
nördlich ist uns gesagt worden, daß bei Medano Silber gefunden worden sei. Ich weiß, was das bedeutet. Ob Silber oder Gold, es ist immer das gleiche. Die Menschen werden verrückt, werden krank vor Gier, vergessen, daß sie Menschen sind und verwandeln sich in zweibeinige Raubtiere, für die nur noch das wertvolle Erz zählt. Wir wollen erst am nächsten Morgen in die Stadt reiten – ein Gebot der Sicherheit. Die Sonne ist längst gesunken. Wir sitzen an einem kleinen Feuer im Schatten einiger Geröllhalden. Überall liegt hoch Schnee. Es ist verdammt kalt. Die Winter sind hart in Colorado. Vor neunzehn Jahren war es auch Winter, es war auch Februar, als ich mein letztes Abenteuer beim Pony Expreß erlebte. Es war das Jahr 1861…
1. Elia Josuah Hempleman maß weit über sechs Fuß und war so breit wie eine alte Doughwoodeiche. Auf seinem kantigen Schädel wuchs dicht, buschig und kraus rotblondes Haar und umrahmte den mächtigen Kopf wie eine Löwenmähne. Der rotblonde Vollbart wucherte ungestutzt bis auf die breite Brust und bedeckte fast die ganze untere Hälfte des von tiefen Falten zerfurchten Gesichts. Er trug ein einfaches Leinenhemd, das für seine hünenhafte Gestalt noch zu weit war und offen über die abgewetzte Hose hing. Als Gürtel diente ihm ein einfacher Strick. Er reichte mir den tönernen Krug mit der frischen Milch, auf der eine fingerdicke Rahmschicht lag, und sagte mit seiner dröhnenden Stimme: »Nimm hin dieses Gottesgetränk, mein Sohn, und labe dich an der Gnade des Herrn, der uns in seiner wunderbaren Güte erhält.« Ich nahm den Krug und schenkte Milch in den Tonbecher ein, der vor mir auf dem Tisch stand. »Danke, Mr. Hempleman«, sagte ich und stellte den Krug zurück. Er war mir etwas unheimlich und erinnerte mich an die Abbildungen der biblischen Propheten, die ich in den Büchern der Mission am Pease River gesehen hatte. »Laßt uns beten und Gott danken«, sagte Elia Josuah Hempleman und faltete die großen, schwieligen Hände.
Auch ich faltete die Hände, und das gleiche taten die drei Frauen, die außer uns am Tisch saßen. Zwei davon, Maria und Josepha, waren die Ehefrauen von Mr. Hempleman, der ein strenggläubiger Mormone war und mit lediglich zwei Frauen ein geradezu spartanisches Leben führte. Die dritte war Eliza, seine jüngste Tochter. Mr. Hempleman hatte noch vier Töchter und fünf Söhne, wie ich wußte. Aber die waren mittlerweile alle verheiratet und lebten in der Nähe von Salt Lake City, einen Tagesritt westlich der Castle-Rock-Station, in der ich mich in diesem Moment befand und die von Mr. Hempleman geführt wurde. Ich kam nicht gern hierher. Es wurde den ganzen Tag gesungen und gebetet. Es durfte nicht geflucht werden, und es gab auch keinen anständigen Schluck Ingwerbier. Dafür konnte es einem blühen, daß Mr. Hempleman einem mit seiner schwieligen Rechten was hinter die Löffel haute, wenn man sich nicht »gottgefällig benahm«, wie er es ausdrückte. Obwohl ich mich schon mit Tod und Teufel herumgeprügelt hatte und mit meinen vierzehn Jahren wirklich schon fast mit allen Wassern gewaschen und in vielen Dingen ganz schön abgebrüht war – von Mr. Hempleman ließ ich mir Dinge gefallen, die mich bei anderen Männern veranlaßt hätten, meinen Revolver zu ziehen. Er strahlte eine geradezu bedrückende Festigkeit aus. Was er sagte, hatte etwas Unumstößliches. Es gab keinen Widerspruch dagegen, und immer, wenn ich gezwungen war, mit der Expreß-Post die Castle-Rock-Station anzusteuern, hatte ich das Gefühl, von unsichtbaren Fesseln umfangen zu werden, sobald ich auf dem Hof der Station aus dem Sattel stieg. Castle-Rock-Station befand sich in Utah, dem Staat der Mormonen. Mr. Hempleman war geradezu ein Symbol dieses Landes. Jetzt betete er, und wenn er betete, schien sich die Stationshütte in eine Kirche zu verwandeln. Ich hatte den Kopf gesenkt, und als Mr. Hempleman laut und dröhnend »Amen!« sagte, schaute ich wieder auf und aß die Hafergrütze, die vor mir auf dem Tisch stand. Auch Mr. Hempleman, seine beiden Frauen und Eliza, seine Tochter, aßen Hafergrütze. Ihnen schien sie zu schmecken. Das konnte ich nicht
behaupten. Mir schmeckte Hafergrütze sogar abscheulich, und nur das Bestreben, so kurz vor meinem Weiterritt nach Salt Lake City keinen Ärger mit Mr. Hempleman heraufzubeschwören, hinderte mich daran, auf den Tisch zu kotzen. Shita schien von ähnlichen Gefühlen beseelt zu sein. Er hockte, groß, graubraun, mager und sehnig, in einer Ecke des Raumes vor einer großen Schüssel mit Hafergrütze. Die Familie Hempleman war der Meinung, daß ihr Frühstück allemal auch gut genug für einen Hund sei. Shita war entschieden anderer Meinung, und er war nicht so feinfühlig wie ich und ignorierte den Napf einfach, obwohl er vermutlich hungrig war. Ich stopfte unter den gestrengen Blicken von Mr. Hempleman mit Todesverachtung einen Löffel nach dem anderen von dem grauen Pamps in mich hinein. »Ich hoffe, es schmeckt dir?« fragte Mrs. Josepha Hempleman. Ich bemühte mich zu nicken, und Mr. Hempleman verkündete dröhnend: »Alles schmeckt, was der Herr uns schenkt.« Ich wollte ihn fragen, ob er sicher sei, daß der liebe Gott schon mal Hafergrütze gegessen habe, aber ich unterließ es lieber. Es erschien mir nicht ratsam. »Du kannst noch mehr haben«, sagte Mrs. Maria Hempleman. »Nein, danke, Madam«, erwiderte ich mit gequältem Lächeln und würgte den Rest der Grütze hinunter. »Ein Junge in deinem Alter muß viel essen«, sagte Mrs. Josepha Hempleman und lud ihrer Tochter Eliza noch einmal den Teller voll. Das Mädchen war höchstens fünfzehn Jahre. Sie ging folgsam daran, die zweite Ladung Brei zu vertilgen. »Ich möchte auch noch etwas«, sagte Mr. Hempleman. »Hafergrütze ist nahrhaft und gesund, und der Hafer ist auf Gottes eigenem Land gewachsen.« Ich griff hastig nach meinem Becher und trank die frische, fette Milch, um den widerlichen Breigeschmack hinunterzuspülen. Mr. Hempleman blickte mich über den Rand seines Löffels hinweg an und sagte: »Wenn du in Salt Lake City bist, wirst du dann in den Tempel gehen und beten?« »Vielleicht«, sagte ich ausweichend.
»Das sagst du immer«, erwiderte er. »Aber bei Gott dem Herrn gibt es kein Vielleicht. Du solltest dich taufen lassen.« »Ich bin getauft«, sagte ich. »Es hat nicht viel genutzt«, sagte er. »Es ist mit euch Jungen immer das gleiche. Ihr reitet wie verrückt durch die Gegend, aber eure Gedanken reichen nicht weiter als bis zum Sattelknopf eures Pferdes. Ihr verdient viel Geld, und darüber vergeßt ihr Gott. Ihr seid gottlos, alle miteinander.« »Ich danke Ihnen für die Mahlzeit, Mr. Hempleman«, sagte ich und wollte mich erheben, ohne weiter auf seine Rede einzugehen. »Du hast noch nicht gebetet!« donnerte er. Fast fiel ihm sein Löffel in die Grütze. Ich setzte mich augenblicklich wieder, faltete die Hände und murmelte ein kurzes Gebet. Dann stand ich hastig auf, nickte den Frauen zu und eilte zur Tür. Hier lag meine Mochilla bereit, der Pony-Expreß-Sattel mit den mit Post gefüllten Packtaschen. Ich lud den Sattel auf meine Schulter und öffnete die Tür. Shita glitt an mir vorbei ins Freie, und auch ich floh geradezu aus dem Stationshaus, das aus mächtigen, ungeschälten Baumstämmen erbaut worden war. Ich konnte mir gut vorstellen, wie der riesige Mr. Hempleman zusammen mit seinen genauso riesigen Söhnen das Bauholz herangeschleppt hatte. Überall lag hoch Schnee. Der Himmel war von einer gläsern schimmernden Bläue, und die Wintersonne stand noch tief im Osten, wo sie erst vor einer Stunde hinter den Hügeln aufgegangen war. Ich sog die eiskalte, klare Luft in meine Lungen und stapfte, im Gehen meine gefütterte Jacke zuknöpfend, über den Hof zum Stall. Mich schauderte, als ich daran dachte, daß ich in zwei Tagen wieder hier sein würde. Wenn ich von Salt Lake City aus Post nach Fort Bridger brachte, mußte ich zwangsläufig wieder bei den Hemplemans rasten. Abends Grütze, morgens Grütze – ich hätte zu gern gewußt, was die beiden Hempleman-Frauen mittags für ein Gottesgeschenk auf den Tisch brachten. Shita sprang plötzlich an mir vorbei und bellte zweimal. Dann verschwand er hinter der Nordecke des Stallgebäudes. »Komm zurück!« rief ich. Dann sah ich ein Pferd hinter dem Stall,
das nicht auf die Station gehörte. Ich ging Shita nach, umrundete den Stall und sah weitere fünf Pferde. Daneben standen die Besitzer. Es waren fünf unterschiedlich große Männer. Sie trugen lange, gefütterte Mäntel mit hochgeschlagenen Kragen. Sie sahen aus, als hätten sie wochenlang auf einem Misthaufen gewohnt. Aus kalten Augen blickten sie mich an. Sie hielten Sharps-Karabiner in den Fäusten. Einer trug einen abgeschabten Topfhut auf dem Kopf. Er hatte eine kalte Zigarre im linken Mundwinkel hängen. »Hallo, Junge«, sagte er, ohne die Lippen zu bewegen. Aus seinem Mund wehte sein heißer Atem wie ein feiner Dampfschleier. Mit einer knappen Bewegung hob er sein Gewehr leicht an. Die Mündung zeigte auf meinen Bauch. Es knackte metallisch, als der Mann den Hahn zurückzog. * »Das ist doch das Haus von so einem verdammten Mormonen«, sagte der Mann mit der Zigarre im Mund. Ich antwortete nicht. »Wir mögen nämlich keine Mormonen«, sagte er. »Ganz und gar nicht«, ergänzte ein zweiter, ein dicker, spitzbärtiger Mann mit einer Hamstervisage und eisgrauen Mörderaugen. »Mormonen sind Hurenböcke«, sagte der Mann mit der Zigarre. »Und Mormonenweiber sind Nutten. Eine Schande für dieses anständige Land.« »Ihr seid nicht gerade Schmuckblätter«, sagte ich. »Wie wär's, wenn ihr euch mal waschen würdet? In eurer Nähe würde sogar ein Stinktier neidisch werden.« »Hör dir den Bengel an«, sagte der Dicke mit dem Spitzbart. Ich erwiderte seinen Blick ohne Furcht und dachte verzweifelt darüber nach, wie ich die Hemplemans warnen sollte. Aber mir fiel nichts ein. Ich hatte keine Chance. »Du hast ein freches Maul«, sagte der Mann mit der Zigarre. »Das werden wir dir stopfen.« Er tat zwei Schritte auf mich zu. Fast im selben Moment sprang
Shita auf ihn los. Er hatte bis jetzt knurrend neben den Pferden der Kerle gestanden. Einer der Halunken zielte mit seinem Gewehr auf Shita. Ich stieß einen verzweifelten Schrei aus und ließ mich fallen. Gleichzeitig zerrte ich meinen Navy-Colt aus dem Gürtel. »Nicht schießen!« hörte ich den Mann mit der Zigarre rufen. »Sonst hören sie uns im Haus!« Er wirbelte seinen Karabiner herum und traf Shita mit dem Kolben krachend auf den Schädel. Mir drehte sich fast der Magen um. Shita stieß ein leises Quietschen aus und plumpste wie ein Sack in den Schnee, wo er reglos liegenblieb. Ich richtete mich auf die Knie und hob meinen Revolver, rasend vor Wut. Im selben Moment tauchte ein Schatten neben mir auf. Der Dicke mit dem Spitzbart hatte sich mit ungeahnter Behendigkeit auf mich zu bewegt und schlug mit seinem Gewehrlauf zu. Mir rutschte der Hut vom Kopf. Ich spürte einen heftigen Schmerz und merkte nicht, daß ich zur Seite kippte. Dunkelheit umfing mich. Meine Muskeln wurden schlaff. Mein Denken und Fühlen setzten aus und damit auch der Schmerz. Das letzte, was ich dachte, war: Shita ist tot!
2. Mr. Elia Josuah Hempleman überragte sie alle. Sein wallendes rotblondes Haar und sein Bart schienen sich gesträubt zu haben. Mehr denn je erinnerte er an einen mächtigen Löwen. Aber sie schlugen ihn mit den Gewehrkolben gegen den Brustkorb. Er stürzte unweit der Haustür in den Schnee, und seine Größe nutzte ihm nichts mehr. Als er im Schnee lag, wären alle größer als er. Dumpfe, urige Schreie drangen aus seinem Mund, und er versuchte sich hochzustemmen und zu kämpfen, obwohl er eine klaffende Wunde am Hinterkopf hatte. Ich sah alles mit an, denn ich war nicht mehr bewußtlos. Dennoch rührte ich mich nicht, denn meine Waffe war weg, und ich wußte,
daß ich keine Chance hatte, am Leben zu bleiben, wenn ich jetzt eingriff. Ich zwang mich, still liegenzubleiben. Ich schloß sogar die Augen, als sie Elia Josuah Hempleman wieder schlugen. Denn ich konnte es nicht mitansehen, der Zorn hätte mich übermannen und zu einer völlig sinnlosen Tat treiben können. Ich konnte nicht helfen. Niemand konnte den Hemplemans mehr helfen. Ich konnte nur versuchen, selbst zu überleben. »Ist dir der Heilige Geist noch nicht erschienen?« grölte einer der Kerle. Die anderen lachten. Ich öffnete wieder die Augen und sah, daß sie den Mann an das Korralgatter fesselten. Einer schlug wieder zu. »Hörst du jetzt schon die Engel singen, Mormone?« schrie er, und wieder lachten sie. Elia Josuah Hempleman erwiderte den Blick des Schlägers kalt. Dann spuckte er ihn an. Der Bandit brüllte vor Wut, als der Speichel seine Wange traf. Mit beiden Fäusten drosch er auf den wehrlosen Mann ein. Aber Hempleman stand wie ein Fels und gab keinen Laut von sich. Er war so groß, so stark, so unerschütterlich und überlegen wie immer. Auch jetzt noch in der Niederlage. Ich mußte alles mitansehen, reglos im Schnee liegend, während die Kälte des Bodens meine Kleidung durchdrang und in meinen Körper fiel, während hämmernder Schmerz in meinem Schädel wühlte. Ich leistete innerlich Abbitte bei dem Stationer, den ich häufig verflucht und manchmal gehaßt hatte wegen seines missionarischen Starrsinns und seiner Herrschsucht, die er jedem gegenüber an den Tag gelegt hatte, besonders uns Pony-Expreß-Reitern, die er alle für gottlos hielt und regelmäßig mit nicht immer feinen Mitteln zu »bekehren« versucht hatte. In diesem Augenblick hatte ich eine unbeschreiblich große Hochachtung vor diesem hartköpfigen Mann. Sie rissen ihm das Hemd vom Leib und prügelten ihn immer wieder. Einmal sackte er in den Fesseln nach vorn. Aber er richtete
sich wieder auf. Sie holten die Frauen aus dem Haus. Sie trieben sie mit Kolbenhieben über den Hof. Josepha Hempleman war fast nackt. Sie bedeckte mühsam mit ein paar Stoffetzen ihre Blöße und stolperte barfuß durch den Schnee. Maria Hemplemans Rock war zerrissen, und nur Eliza war offenbar bis jetzt verschont geblieben. Anscheinend war eine Menge geschehen, seit sie mich bewußtlos geschlagen hatten. Die Halunken hatten die Zeit genutzt. »Euch verdammten Mormonen werden wir es zeigen!« hörte ich den Mann mit der kalten Zigarre sagen. »So was wie ihr gehört ausgerottet.« Er versetzte Maria Hempleman einen Tritt in den Leib. Die Frau stürzte mit verzerrtem Gesicht nieder. Aber sie wimmerte und weinte nicht. Sie klagte so wenig wie ihr Mann und bettelte nicht um Gnade. »Die sind aus Eisen!« hörte ich den dicken Mann mit dem Spitzbart sagen. Der Mann mit dem Topfhut und der Zigarre lachte und sagte: »Das werden wir ja sehen. Wir kriegen jeden verdammten Mormonen zum Singen.« Er ging ins Haus und kehrte mit einem brennenden Holzscheit aus dem Herdfeuer zurück. Er trug ihn wie eine Fackel, und er grinste, als er die Flamme an Elia Josuah Hemplemans langen Bart hielt. Ich hielt den Atem an, und wenn ich mich hätte rühren können, wäre ich aufgesprungen und fortgelaufen. Aber ich durfte mich nicht bewegen, ich mußte weiter den Bewußtlosen spielen, sonst war ich verloren. Mit leisem Zischen fuhr das Feuer am buschigen Bart Hemplemans hoch, erfaßte auch das lange, dichte Haupthaar, und binnen weniger Sekunden war der kantige Schädel des Mannes von lodernden Flammen umgeben. Es ging alles blitzschnell. Das Feuer erlosch, kaum daß es aufgezuckt war. Elia Josuah Hempleman stieß einen dumpfen Schrei aus und sackte in seinen Fesseln nach vorn. Der Kopf sank ihm auf die Brust. Schädel und Gesicht waren fast schwarz, von verglimmenden Haarstoppeln bedeckt. Josepha Hempleman schrie auf und hastete auf ihren Mann zu.
Eliza schlug beide Hände vor das Gesicht und taumelte. Aufschluchzend sank sie in den Schnee. Maria Hempleman wollte sich erheben, aber sie schaffte es nicht. In verkrümmter Haltung blieb sie am Boden liegen. Einer der Banditen schob seinen Fuß vor, als Josepha Hempleman an ihm vorbeihastete. Sie stolperte darüber und stürzte der Länge nach hin. Mit der Stirn schlug sie gegen die unterste Stange des Korralgatters. Sie wälzte sich herum und verlor ein paar der Stoffetzen, die bis jetzt noch ihren Unterleib bedeckt hatten. Ihr Gesicht, das ich immer nur mit einem gutmütigen Ausdruck gekannt hatte, wirkte verkniffen. Das Haar, das sie stets sauber zu einem Knoten zusammengefaßt getragen hatte, hing ihr wirr um den Kopf. Mit hocherhobenen Händen ging sie auf den Mann los, der sie zu Fall gebracht hatte. Der Mann lachte und drückte seinen Sharps-Karabiner ab. Der Schuß peitschte. Die Detonation wurde von den Castle Rocks vielfach verstärkt als Echo zurückgeworfen. Josepha Hempleman strauchelte, wurde vom Aufprall der Kugel zurückgeschleudert, drehte sich einmal um sich selbst und sackte in den Schnee. Tot. »Du Idiot!« sagte der Mann mit dem Topfhut und der Zigarre. »Die Frauen brauchen wir noch.« »Es sind noch zwei da«, erwiderte der andere, während er eine neue Papierpatrone in den Sharps-Karabiner schob. »Verschwinden wir«, sagte der Mann mit der Zigarre. Er war unzufrieden. Er spuckte die Zigarre aus, schob die Hände in die Taschen seines langen, gefütterten Mantels und stapfte an den Frauen vorbei ins Haus. »Ich will noch was essen, bevor wir weiterreiten!« rief der Dicke mit dem Spitzbart. »He, Elton, wir haben seit drei Tagen keine warme Mahlzeit mehr gehabt.« »Wir essen später«, sagte der andere von der Tür her. »Wir nehmen mit, was da ist.« »Warum sollen wir nicht hierbleiben?« sagte ein anderer Mann. »Ein festes Haus. Es ist warm und trocken. Wahrscheinlich gibt es
sogar saubere Betten.« »Es gibt auch schöne Särge«, sagte der Mann mit dem Topfhut. Er schien der Anführer zu sein. »Das hier ist nicht einfach eine Mormonenbude. Das ist eine Raststation. Hier reiten jeden Tag Leute vorbei, zweimal in der Woche verkehrt hier eine Postkutsche von Fort Bridger nach Salt Lake City.« Er drehte sich um und trat ins Haus. Die anderen fluchten leise, dann ging der dicke Mann mit dem Spitzbart zu Maria Hempleman, die sich halb aufgerichtet hatte und fassungslos auf die tote Josepha starrte. Auch Eliza hatte sich wieder erhoben. Sie lehnte an der steinernen Brunnenfassung und hatte sich übergeben. In diesem Moment erwachte Elia Josuah Hempleman aus der Bewußtlosigkeit und stieß einen geradezu tierischen Schrei aus. Er bäumte sich in den Fesseln auf. Er brüllte wie ein Stier. Einer der Banditen zog seinen Revolver. Es war eine fast neue Waffe. Ein Army Colt. Es war eine große, schwere Waffe im Kaliber .44. Als der Mann abdrückte, zuckte ein Feuerstrahl fast fußlang aus der Mündung. Das Geschrei Hemplemans ging im Krachen des Schusses unter. Dann wurde sein mächtiger Körper schlaff und rutschte an den Korralstangen hinunter, bis er leblos in den Fesseln hin. Er hatte ausgelitten. Kaltlächelnd steckte der Mörder die Waffe zurück in die Halfter. An der Haustür erschien der Mann, den der Dicke Elton genannt hatte. Er hielt Decken in den Händen und warf sie den beiden Frauen zu. »Nehmt das«, sagte er. »Es ist kalt. Wir haben einen langen Ritt vor uns.« »Was ist?« fragte der Dicke. »Gibt es Geld im Haus?« »Nicht der Rede wert«, sagte der andere. »Diese Mormonen sind stinkreich«, sagte der Dicke. »Ich weiß es. Sie denken an nichts anderes als an ihren verfluchten Propheten und ans Arbeiten. Wir sollten die Frauen fragen …« »Im Haus ist nichts«, sagte der andere. »Wir haben keine Zeit mehr. Holt ein paar Lebensmittel 'raus.« »Zünden wir das Haus an?« »Damit der Rauch meilenweit gesehen wird?« Der Mann ging an
seinen Leuten vorbei zu den Pferden. Er schritt ganz in meiner Nähe vorbei, aber er beachtete mich nicht. Seine Männer betraten das Haus und schleppten wenig später zwei prall gefüllte Säcke heraus. »Das ist alles«, sagte der Dicke. Er schien enttäuscht. »Auf was wartet ihr!« herrschte Elton Maria und Eliza Hempleman an. »Was haben Sie mit uns vor?« fragte Maria Hempleman. Ihre Stimme klang erstaunlich fest. »Das werdet ihr sehen.« »Wir wollen Elia begraben.« »Das werden die Krähen besorgen.« Der Mann zog eine neue Zigarre aus der Manteltasche, schob sie in den Mund und zündete sie an. Dann drehte er sich um und ging zu meiner Mochilla, die ich fallen gelassen hatte, um meinen Revolver zu ziehen. Er bückte sich und öffnete die Packtasche. Ich konnte sehen, daß er die Post nahm und unter seinem Mantel verschwinden ließ. »Los jetzt«, sagte er. Da drehte sich Eliza Hempleman um und versuchte, davonzulaufen. Der Mann, der sich Elton nannte, sprang in den Sattel und ritt hinter dem Mädchen her. Er erwischte es kaum dreißig Yards von der Station entfernt. Er bückte sich tief aus dem Sattel und griff in ihr volles, dunkelblondes Haar. Sie schrie und wehrte sich. Er glitt vom Pferderücken und zerrte sie zu sich heran. Dann ließ er sie los und schlug blitzschnell zu, bevor sie zurückweichen konnte. Sie stürzte zu Boden. Als der Mann ihr befahl, vor ihm herzugehen, folgte sie ihm widerspruchslos. Auf dem Hof nahm sie die Decke, die ihre Mutter ihr reichte, und warf sie sich um die Schultern. Dann stieg sie zu einem Banditen aufs Pferd. Maria Hempleman mußte sich vor den Spitzbart in den Sattel setzen. Dann trieben die Kerle ihre Tiere an und verließen den Stationshof. Sie ritten nordostwärts davon. Wenige Minuten später waren sie hinter einigen verschneiten Hügeln verschwunden. *
Ich richtete mich auf. Hämmernder Schmerz setzte sofort wieder in meinem Schädel ein. Ich schwankte, fühlte mich unsicher auf den Beinen und mußte mich einen Moment gegen die Stallwand lehnen, um nicht wieder umzufallen. Dann schaute ich zu Shita hinüber. Er lag noch immer flach ausgestreckt im Schnee und rührte sich nicht. Mir wurde übel. Ich setzte mich stolpernd in Bewegung und sah plötzlich meinen Revolver im Schnee liegen. Als ich mich bückte, schoß mir das Blut in den Kopf. Mir wurde für einige Sekunden schwarz vor den Augen. Aber ich hielt mich aufrecht und hob die Waffe auf. Sie war feucht vom Schnee. Ich wischte sie an meiner Jacke ab. Es war eine alte, abgenutzte Waffe. Ein Navy-Colt im Kaliber .36. Als ich die Waffe zurück unter den Gürtel steckte, begann sich Shita zu bewegen. Ich konnte es kaum fassen. Unwillkürlich hielt ich den Atem an und merkte plötzlich, daß meine Augen zu brennen begannen. Der Hund wimmerte leise, stöhnte dann und zuckte mit den Pfoten. Seine Muskeln spannten sich reflexartig. Er bewegte schließlich auch den Kopf hin und her. Sein Maul öffnete sich. Ein wenig Speichel tropfte in den Schnee. Dann versuchte er, sich aufzurichten. Ich blieb wie gebannt stehen und schaute zu. Mein Herz klopfte wild, und in meinem Kopf hämmerte es: Er ist nicht tot! Er lebt … Shita winselte wieder. Er verdrehte die Augen, wälzte sich auf den Bauch und stemmte sich vorn hoch. Hechelnd blieb er eine Weile so hocken. Dann stand er plötzlich wieder auf allen vier Pfoten. Er schwankte, schien sich nicht halten zu können, drehte sich dann einmal um die eigene Achse und leckte etwas Schnee auf. Er schüttelte immer wieder den Kopf wie ein Boxer, der nach einem schweren Schlag die Betäubung loszuwerden versucht. Auf einmal wedelte er mit dem Schwanz. Mir wurde ganz heiß. Ich eilte auf ihn zu, ging in die Knie und schlang meine Arme um seinen Hals. Er fuhr mir mit seiner heißen Zunge über das Gesicht und biß mir fast das linke Ohr ab. Als ich ihn losließ, sprang er hoch und stemmte mir die Vorderpfoten gegen die Brust, so daß ich nach hinten in den Schnee
kippte. Mit offenem Maul und weit heraushängender Zunge stand er dann da und schien mich anzulachen. In seinen großen Augen war wieder das lebhafte Funkeln und Glitzern, das ich so gut an ihm kannte. Er schien sagen zu wollen: »Kein Grund zur Aufregung, alter Junge. Alles in Ordnung. So ein Bumms auf den Kopf schmeißt mich nicht um.« Ich erhob mich, und er sprang neben mir her, als ich über den Hof zum Haus schritt. Ich ging vorbei an der Leiche von Josepha Hempleman, deren Blut ein häßliches Muster in die weiße Schneedecke gezeichnet hatte. Im Haus sah es schlimm aus. Die Mörder hatten alles durchwühlt, sie hatten Möbel zerschlagen, Schränke und Kommoden umgestürzt, Schubladen herausgerissen und ihren Inhalt auf dem Boden verstreut. Ich ging durch die Räume und stieg hinauf in das Obergeschoß. Hier sah es nicht besser aus. Ich fragte mich, was die Kerle mit den Frauen vorhatten, während ich die Treppe wieder hinunterstieg und zurück auf den Hof ging. Zunächst schleifte ich die Leiche von Josepha Hempleman ins Haus. Dann schnitt ich Elia Josuah Hempleman vom Korralgatter los. Er war schwer wie ein Pferd. Trotzdem schleppte ich auch ihn mit viel Mühe ins Haus, denn ich wollte nicht, daß sich Aasvögel mit seiner Leiche befaßten. Das hatte er nicht verdient. Als ich die Haustür hinter mir schloß und zum Stall ging, um mir mein Pferd zu holen, stand die Sonne bereits ziemlich hoch. Am nördlichen Horizont schwebten ein paar Wölkchen. Der Verlust meiner Post bereitete mir ziemliche Sorgen. Ich hatte keine Ahnung, was sich in den einzelnen Sendungen befand, aber das war auch gleichgültig. Es gehörte zu den obersten Prinzipien des Pony-Expreß-Unternehmens, die der Firma anvertraute Post stets und in jedem Fall zu transportieren und sicher ans Ziel zu bringen. Diesmal würde ich mit leeren Händen Salt Lake City erreichen. Zum erstenmal. Es war ein unangenehmes Gefühl, und ich fragte mich, ob es nicht besser gewesen wäre, doch einen Versuch zu unternehmen, die Banditen zu überrumpeln. Aber mir war klar, daß ich dann genau wie Mr. Hempleman für meine Post gestorben wäre. Soviel war mir dieses Bündel Briefe nicht wert.
Ich hatte gelernt, zu kämpfen. Ich war bisweilen sogar tollkühn, aber ein Held, der bedenkenlos sein Leben für ein paar Fetzen Papier hingab, war ich nicht. Ich kannte niemanden, der das getan hätte, höchstens mit dem Mund. Die meisten Helden, die ich kannte, waren tot. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, die Verfolgung der Kerle aufzunehmen, um die geklaute Post wiederzubeschaffen. Dann bestieg ich mein ungesatteltes Pferd und lenkte es nach Westen. Vielleicht würde ich später auf die Suche nach der gestohlenen Post gehen. Jetzt war es meine Pflicht als Angestellter des Pony-Expreß, unverzüglich weiterzureiten und den Verlust zu melden. Ich trieb mein Pferd an. Shita lief neben mir her. Er war wieder völlig in Ordnung. Er mußte einen Schädel aus Eisen haben. Ich beugte mich im Sattel vor und hoffte, Salt Lake City vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Der hämmernde Schmerz in meinem Kopf ließ in der eisigen, klaren Luft nach. Ich dachte, daß ich das Gesicht des Mannes mit dem Topfhut und der Zigarre, der Elton genannt wurde, nicht so rasch vergessen würde.
3. Die Sonne ging hinter den Black-Rock-Bergen unter. Der mächtige Salzsee, der sich nördlich der Stadt erstreckte, glitzerte so weiß wie der Schnee, der die Berge und die Straßen der Stadt bedeckte. Ich sah die Lichter von Salt Lake City vor mir und ritt durch die First South Street in die Stadt. Als ich das hellerleuchtete Theater von Salt Lake City passierte, vor dem Ein- und Zweispänner standen, denen elegant gekleidete Gentlemen mit ihren Ladies entstiegen, konnte ich die riesige Kuppel des Tabernakels erkennen, das im Zentrum der Stadt gelegen war. An hohen Feiertagen versammelte sich dort der Chor der Mormonen und sang. Einmal hatte ich es miterlebt und war tief beeindruckt gewesen. Jetzt bewegten mich andere Gedanken. Ich erreichte die Mainstreet und lenkte mein Pferd zur PonyExpreß-Agentur hinunter. Shita trottete mit hängendem Schwanz müde neben mir her. Mein Pferd war abgetrieben. Ich hatte das letzte
aus ihm herausgeholt. Schweißflocken tropften von seinen Nüstern. Sein Atem ging rasselnd. Als ich die Agentur erreichte, stieg ich aus dem Sattel. Ich fühlte mich wie gerädert. Es war lange her, daß ich ungesattelte Pferde geritten hatte. Der harte Ritt hatte mich mehr angestrengt, als ich zuvor gedacht hatte. Steifbeinig ging ich die Stufen des Vorbaus hinauf und betrat das Agenturgebäude. Ich hatte jetzt doch ein flaues Gefühl in der Magengegend. Obwohl ich mich absolut unschuldig am Verlust der Post fühlte, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Der Agent saß noch hinter seinem Schreibtisch, als ich eintrat. Er war ein ziemlich dicker Mann mit einer blankpolierten Glatze und einer stets geröteten Kartoffelnase, der anzusehen war, daß ihr Besitzer ziemlich viel zu trinken pflegte. Er hieß Constant Dubail und war Mormone. Ich hatte mich schon häufig gefragt, wie er seine Freude am Alkohol mit seiner Religion unter einen Hut brachte. Vermutlich war sein Glaube nicht sonderlich groß, und ihn hatte wohl auch bisher niemand beim Trinken erwischt. Zu seiner Ehre mußte gesagt werden, daß ihm selbst wenn er betrunken war fast nichts anzumerken war. Ich grüßte, und er nickte nur mit dem Kopf und sagte: »Du bist spät dran.« »Mr. Hempleman ist tot«, sagte ich. »Was?« sagte er. »Mrs. Josepha Hempleman ist auch tot«, sagte ich. Schweiß stand plötzlich auf seiner Glatze, und seine Hände zitterten. Vermutlich hätte er jetzt einen kräftigen Schluck Whisky vertragen können. Aber er traute sich nicht, vor jemand anderem zu trinken. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und starrte mich groß an. »Mrs. Maria Hempleman und Eliza sind entführt worden«, sagte ich. Ich nahm den Hut ab und beugte mich vor. »Können Sie die Beule sehen?« Er stand auf, umrundete den Schreibtisch und baute sich vor mir auf.
»Ja«, sagte er. »Ich kann sie sehen.« »Mein Hund hat auch so eine«, sagte ich. »Wir haben Glück gehabt.« »Wer waren die Kerle?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Es waren fünf. Einer wurde Elton genannt. Sie mochten keine Mormonen.« Constant Dubail schluckte. Er strich mit unsicheren Handbewegungen über seinen imposanten Bauch. Stumm watschelte er hinter den Schreibtisch zurück, fingerte eine Pfeife aus einer Schublade, stopfte sie, legte sie dann wieder weg und stierte eine Weile ins Leere. Die Tür hinter mir öffnete sich. Ein Pony-Expreß-Reiter trat ein. Er hieß Martin Hogan, ein drahtiger Bursche, etwas kleiner als ich, mit kurzgeschorenem schwarzem Haar. Er bewegte sich immer sehr schnell und erinnerte in seinem Auftreten irgendwie an ein Wiesel. Er nickte mir knapp zu und warf die Mochilla vor Dubail auf den Schreibtisch. Das riß diesen aus seiner Lethargie hoch. Mit fahrigen Bewegungen öffnete er die Packtaschen und nahm die in wasserdichtes Fettpapier gewickelte Post heraus. Geistesabwesend schrieb er etwas in sein Eingangsbuch und stellte eine Quittung aus. Hogan unterschrieb und ging so hastig und still, wie er aufgetaucht war, wieder hinaus. Constant Dubail schob den Sattel beiseite und stapelte die Post vor sich auf. Der Anblick schien ihn an etwas zu erinnern. Er hob den Kopf und schaute mich an. Ich war hundemüde, und Shita ging es genauso. Er hatte sich bereits vor dem bullernden Kanonenofen auf die Dielen gelegt und die Pfoten ausgestreckt. »Wo ist deine Post?« fragte Dubail. »Weg«, sagte ich. »Was?« »Die Banditen haben sie mitgenommen«, sagte ich. »Deine Post?« Die Nachricht, daß die Familie Hempleman praktisch ausgelöscht war, hatte ihn nicht so entsetzt wie die Tatsache, daß die Briefe nicht mehr da waren.
»Du hast einen Revolver«, sagte er. »Und ein Gewehr. Das ist dir gegeben worden, damit du die dir anvertraute Post in jedem Fall durchbringst, notfalls unter Einsatz deines Lebens.« Unter Einsatz deines Lebens! Das klang verdammt pathetisch, besonders aus dem Mund eines rotnasigen Fettsacks, der vermutlich nie in seinem Leben einen Sattel unter sich gehabt, einen Revolver in der Hand gehalten hatte und beim ersten Schuß vermutlich die Hosen vollgeschissen hätte. Hätte Elia Josuah Hempleman mir das gesagt, nun gut, es hätte mir nicht gefallen. Aber das war ein Mann gewesen, bei dem diese Worte glaubwürdig geklungen hätten. Nicht jedoch von Constant Dubail. Dubail erhob sich. Er watschelte um den Schreibtisch herum und gestikulierte aufgeregt mit seinen an zusammengebundene Würste erinnernden Armen. »Noch nie ist es auf meiner Linie passiert, daß Post verlorengegangen ist. Was für eine Schande. Das muß ich nach St. Joseph melden. Man wird mir mein Gehalt kürzen, vermutlich wird mir ein Schnüffler auf den Hals geschickt werden, der hier alles durchwühlt und meine Bücher prüft, um ein paar Haare in der Suppe zu finden und mich völlig 'rausschmeißen zu können. Das hast du mir eingebrockt. Begreifst du das überhaupt?« Er blieb unvermittelt stehen, wandte sich mir zu und stierte mich aus triefenden Kuhaugen an. »Es tut mir sehr leid, Mr. Dubail«, sagte ich, obwohl sich meine Schuldgefühle angesichts des widerlichen Schauspiels, das Dubail mir bot, bereits zu verflüchtigen begannen. »Wenn ich gewußt hätte, wie sehr der Verlust Sie trifft, hätte ich mich auch erschießen lassen«, sagte ich. Er schwieg einen Moment. Dann brüllte er los: »Du glaubst wohl, du kannst dich über mich lustig machen? Ich weiß, daß ihr ExpreßReiter euch für was Besonderes haltet. Aber wenn du glaubst, daß so einer wie du sich alles erlauben kann, bist du im Irrtum!« Jetzt lief sein ganzes Gesicht so rot an wie seine Nase, und es sah aus, als würde er jeden Moment wie ein Bai-Ion zerplatzen. »Du verdammter Versager!« schrie er mich an. »Ich glaube nicht, daß Sie das sagen sollten, Mr. Dubail«,
erwiderte ich. »So, glaubst du das nicht«, sagte er. »Warum nicht? Stimmt es etwa nicht? Du warst verantwortlich für die Post. Du hast sie dir wegnehmen lassen. Du hast versagt. Du bist ein Versager, ein gottverfluchter Versager!« »Das reicht, Mr. Dubail«, sagte ich. Ich war entschlossen, mich nicht länger beschimpfen zu lassen. »Ja«, sagte er. Er blieb hinter seinem Schreibtisch stehen. »Das reicht. Du hast recht. Dein Pferd steht vor der Tür?« »Ja.« Ich verstand die Frage nicht, aber ich hatte plötzlich wieder ein unangenehmes Gefühl im Magen. »Wo sind dein Sharps-Karabiner und dein Revolver?« »Das Gewehr habe ich auf der Station gelassen«, sagte ich. Es fiel mir jetzt erst ein. Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht. »In Ordnung«, sagte Dubail, dem offenbar alles egal war. »Dann gib deinen Revolver her.« »Der Revolver gehört mir«, sagte ich. »Er ist nicht Eigentum der Company.« Ich zog die Waffe und deutete auf den Stempel im Griff. Dubail winkte erschrocken ab, als er den schweren Revolver sah. »Darf ich fragen, was das alles soll, Sir?« fragte ich. »Darfst du«, sagte Dubail. »Nimm deinen verlausten Köder und scher dich zum Teufel. Du bist entlassen. Versager wie dich können wir nicht brauchen.« Ich schluckte einmal schwer. Das durfte doch nicht wahr sein. Diese Kröte schmiß mich einfach 'raus. »Auf was wartest du?« schrie er. »Verschwinde, bevor ich den Marshal hole und dich einsperren lasse. Du hast Eigentum der PonyExpreß-Company verschlampt. Also hau ab!« »Ich krieg noch Geld«, sagte ich, und in diesem Moment bereute ich es geradezu, daß ich mich nicht von den Banditen hatte erschießen lassen. Das wäre nicht so schlimm gewesen wie diese Demütigung. »Einen Dreck kriegst du«, sagte Constant Dubail. Jetzt fühlte er sich stark. Er musterte mich wie ein lästiges Insekt. »Sei froh, daß ich dich einfach so laufenlasse, ohne dir den Schaden zu berechnen, den du angerichtet hast.«
»Sie sind ein Schwein, Sir«, sagte ich. »Sie hätten mal Ihren fetten Arsch hinter dem Schreibtisch hervorbewegen sollen. Dann hätten Sie nur mal eine der Touren reiten sollen, die ich hinter mir habe. Vermutlich hätten Sie nicht nur die Post, sondern auch Ihre Hosen verloren, vor lauter Schiß nämlich.« Ich drehte mich um. »Komm, Shita«, sagte ich. »Was hast du gesagt?« keifte Dubail. »Was nimmst du Bengel dir heraus!« Ich kümmerte mich nicht darum, aber Dubail fühlte sich wirklich stark. Er folgte mir mit hastigen, watschelnden Schritten. Er hatte gezeigt, daß er die Macht besaß, mich 'rauszuschmeißen. Jetzt wollte er mir auch noch einen Tritt geben, um mir endgültig zu zeigen, was für ein lächerlicher Wurm ich gegen ihn war. Als er nach meiner rechten Schulter packte, um mich festzuhalten, sprang Shita ihn von der Seite an und biß ihn in den linken Oberschenkel. Dubail brüllte vor Schmerz. Der Stoff seiner Hose riß mit häßlichem Laut. Ich drehte mich um und blickte Dubail verächtlich an. »'raus, du lausiger Bastard!« keuchte er und preßte seine Linke auf die Wunde in seinem Bein. »Sie haben mich entlassen, Mr. Dubail«, sagte ich. Ich hatte meine Fassung wiedergewonnen. »Dazu haben Sie das Recht. Sie haben aber nicht das Recht, mich zu beschimpfen.« Ich klebte ihm eine, daß es wie ein Revolverschuß knallte und die Abdrücke meiner Finger sich deutlich auf seiner linken Wange abzeichneten. Fast wäre er umgekippt. Sprachlos starrte er mich an. Ich drehte mich um und ging mit Shita hinaus. Hinter mir knallte ich die Tür zu. Ein eisiger Wind strich durch die Mainstreet von Salt Lake City. Es war dunkel. Ein paar Sterne glitzerten am Himmel. Erst jetzt wurde mir bewußt, was geschehen war. Ich hatte keinen Job mehr, kein Dach mehr über dem Kopf, keine regelmäßigen Mahlzeiten. Ich hatte nichts mehr. Ich war wieder heimatlos. Ein Tramp. Mit Schimpf und Schande davongejagt. Ich vergrub die Hände in den Taschen meiner Jacke und schlenderte die Straße hinunter. Shita trottete neben mir her.
* »Ich will gerade schließen«, sagte der Storekeeper. »Ich will aber noch was kaufen«, sagte ich. »Hast du überhaupt Geld?« »Genug«, sagte ich. Er musterte mich skeptisch von oben bis unten. Dann nickte er und drehte sich um. »Komm rein.« Ich betrat hinter ihm mit Shita den Laden. Es war ein großes Geschäft mit zwei langen Theken und vielen Regalen. Es war warm hier. Im Hintergrund des großen Raumes hantierte eine Frau mit einem Besen. »Ich möchte ein Gewehr«, sagte ich. »Es muß nicht nagelneu sein. Hauptsache, es funktioniert, und es ist gut.« »Sharps habe ich da«, sagte er. »Und Spencer. Das sind die besten. Ein paar alte Springfields sind auch noch da, von vorn zu laden. Ich hab auch eine Volcanic.« »Es soll ein Sattelgewehr sein«, sagte ich und überlegte. Spencer und Volcanic waren gut, weil man damit mehrmals schießen konnte, ohne nachzuladen. Andererseits waren in der Wildnis die Patronen für diese Modelle schwer zu kriegen. Ich wußte das, denn ich hatte während meiner Zeit bei den Apachen mal einen Spencer-Karabiner besessen. »Ich nehme einen Sharps-Karabiner«, sagte ich. Der Mann verschwand für einen Moment und kehrte mit zwei Gewehren zurück. Sie waren beide gebraucht. Das eine war ein 48er Modell mit einem kleinen Fach im Kolben für Zündhütchen, das von einer Messingklappe verschlossen wurde. Diesen Karabiner nahm ich. Er war etwas leichter als der andere, ein 58er Modell, und erschien mir zuverlässiger. »Das kostet zwanzig Dollar«, sagte der Storeman. »Eine gute Waffe.« Ich kaufte Papierpatronen für den Karabiner und Patronen im Kaliber .36 für meinen Navy Colt, dazu eine schmale Ledertasche, die ich am Gürtel tragen konnte, in der die Patronenschachteln Platz
hatten. Außerdem erwarb ich eine Pulverflasche und Zündhütchen und einen Lederbeutel mit bereits gegossenen 36er Kugeln. Sicher ist sicher. Die Patronen konnten zu Ende gehen, und Ersatz war in der Wildnis kaum zu beschaffen. Im Store gab es auch gebrauchte Sättel, und ich kaufte einen, der mir bequem erschien. Alles zusammen sollte dreiundfünfzig Dollar kosten, aber ich handelte den Mann auf fünfundvierzig Dollar herunter. Dann zog ich meinen linken Stiefel aus, in dem ich fast hundert Dollar stecken hatte. »So eine Schuheinlage möchte ich auch haben«, sagte der Mann und kriegte große Augen. Ich bezahlte, steckte den Rest des Geldes in den Stiefel zurück und verschwieg, daß im anderen Stiefel gut zweihundert Dollar steckten. Immerhin hatte ich als Expreß-Reiter ganz gut verdient, sehr gut sogar, und ich frage mich noch heute manchmal, was ich mit dem vielen Geld angestellt hatte, daß mir nach meinem Rausschmiß in Salt Lake City nur etwa dreihundert Dollar geblieben waren. Aber dreihundert Dollar waren viel. Damit konnte man ein ganzes Jahr reichen, wenn man nicht zu aufwendig lebte. Mit dem Sattel auf dem Rücken und dem Sharps-Karabiner in der Linken marschierte ich mit Shita weiter. Hinter mir schloß der Store. Die große Mainstreet von Salt Lake City lag leer und verlassen vor mir. Nur ab und zu tauchte mal ein Mensch auf, der an mir vorbeihastete. Es gab keine Lichter von Saloons, und auch hinter den Fenstern der meisten Häuser war es dunkel. Mein Weg führte zu einem Mietstall. Ich hatte Hunger, aber ich bezweifelte, daß ich an diesem Abend noch etwas erhalten würde. Das Tor des Stalls war verschlossen. Ich schlug mit der Faust dagegen. Es rührte sich nichts, und ich klopfte wieder. So ging es fast fünf Minuten. Gerade als ich mich abwenden wollte, wurde von innen der Riegel entfernt, und verschlafen starrte mich ein magerer, schmalbrüstiger Mann mit strähnigem Haar an. »Ich möchte ein Pferd kaufen«, sagte ich. »Außerdem wollte ich fragen, ob ich mit meinem Hund in einer leeren Box schlafen kann.« »Ich kenne dich doch gar nicht«, sagte er. »Ich kann doch nicht einfach einen Fremden hier übernachten lassen.«
»Es ist verdammt kalt«, sagte ich. »Wollen Sie mich mit dem Hund in dieser Nacht unter einem Stepwalk schlafen lassen? Vielleicht sind wir morgen früh erfroren.« Ich war sicher, daß er Mormone war. Es gab eigentlich kaum jemanden hier, der nicht Mormone war. Er konnte es als guter Mormone nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, mir die Tür zu weisen. Vermutlich dachte er genau das gleiche, denn er sagte: »Also gut.« Er öffnete die Tür ein Stück mehr. Shita und ich schlüpften hinein. Es war warm im Stall, und es roch intensiv nach Pferdeschweiß, Stroh und Leder. Zwei Lampen brannten. »Willst du das Pferd jetzt kaufen, oder hat es bis morgen früh Zeit?« fragte der Stallmann. »Was ich habe, hab ich«, sagte ich. »Warum nicht jetzt?« Es gefiel ihm nicht, aber er sagte nichts. Er führte mich zu den hintersten Boxen und zeigte auf drei Pferde. Ich betrachtete die Tiere, während er mir lang und breit erzählte, warum sie zu verkaufen waren. Eines war kurzbeinig und stämmig. Es hatte eine breite, muskulöse Brust und einen kurzen Kopf mit einer Rammsnase. Sein Fell war braun und dicht. Hier und da gab es ein paar kahle Stellen, dort befanden sich kleinere Narben. Die Mähne war kurz und strohig. Es war kein schönes Pferd, aber es machte einen kräftigen, zähen und zuverlässigen Eindruck, und es war gesund. »Ich nehme den braunen Hengst«, sagte ich. »Der hat einem Goldsucher gehört«, sagte der Stallmann. »Er ist hier gestorben. Dreißig Dollar.« Das war ein anständiger Preis, und ich versuchte nicht, ihn zu drücken. Ich bezahlte und packte dann meine Sachen in die benachbarte leere Box, in der ich mit Shita die Nacht verbringen sollte. Sie war weich mit Stroh ausgepolstert. Ein warmer Platz. Ich fand, daß ich es gut getroffen hatte. »Hast du schon was gegessen?« fragte der Stallmann. »Nein«, sagte ich. »Ich hab auch nichts mehr«, sagte er. »Aber einen warmen Tee kannst du haben.«
»Danke«, sagte ich. Da klopfte es an die Tür. »Heute abend ist aber was los«, sagte der Stallmann. Er schlurfte davon, und während ich mir ein Lager bereitete, hörte ich eine tiefe Stimme an der Tür. »Der Junge muß irgendwo einen Schlafplatz gesucht haben. Er war im Store, und der Storeman hat ihn in diese Richtung gehen sehen.« Ich richtete mich auf und ging zum Tor. Shita blieb bei meinen Sachen zurück. Gerade wandte sich der Stallmann um. »Was ist los?« fragte ich. »Da draußen fragt jemand nach dir«, sagte er. Ich trat an ihm vorbei, hinaus in die Kälte. Erst sah ich nur zwei riesige Gestalten, dann erkannte ich die großporigen, bärtigen Gesichter. Jonas und Noah Hempleman, zwei von Elia Josuah Hemplemans Söhnen.
4. »Hallo«, sagte Jonas Hempleman. Er sah fast genauso aus wie sein Vater, wenn auch nicht ganz so knorrig, immerhin war er jünger. »Haben wir uns nicht schon mal auf der Station meines Vaters gesehen?« »Haben wir«, sagte ich. »Du warst heute morgen auch da, wie?« fragte Noah Hampleman. »Ja«, sagte ich. »Mr. Dubail hat uns benachrichtigt«, sagte Jonas Hempleman. »Wir wissen, was passiert ist.« »Es tut mir alles furchtbar leid«, sagte ich, und ich fühlte mich alles andere als wohl. Ich hatte keine Ahnung, was die beiden Riesensöhne des toten Mr. Hempleman von mir wollten. »Du warst dabei«, sagte Noah. »Du hast alles gesehen.« »Ja«, sagte ich. »Du hast nicht geholfen«, sagte Jonas. »Dann wäre ich jetzt auch tot.« »Du hattest einen Revolver und ein Gewehr.«
»Ich war bewußtlos«, sagte ich. »Und als ich erwachte, waren die Kerle gerade dabei, Ihren Vater umzubringen. Meinen Revolver hatte ich in diesem Moment nicht.« »Du hast zugesehen und nicht einen Finger gerührt«, sagte Noah. »Unsere kleine Schwester Eliza ist verschleppt worden und auch unsere Stiefmutter Mrs. Maria Hempleman, und du hast nichts getan.« »Was hätte ich denn tun sollen, zum Teufel?« Ich wurde langsam wütend. Das war nun das zweitemal an diesem Abend, daß mir jemand etwas vorwarf, der nicht dabeigewesen war, der mir zumutete, daß ich mein Leben hätte für nichts riskieren sollen. Denn außer, daß ich auch noch umgebracht worden wäre, hätte sich gar nichts geändert. Die Hemplemans wären dennoch umgebracht oder verschleppt worden. »Reiß bloß nicht noch dein Maul groß auf«, sagte Jonas. »Wir wissen schon, was du mit Mr. Dubail angestellt hast, als er dir gesagt hat, daß du ein Feigling seist, weil du unseren Eltern nicht geholfen hast.« »Er ist ein gottverdammter Lügner«, sagte ich. »Du sollst nicht fluchen und nicht Gottes Namen mißbrauchen«, sagte Jonas. »Unser Vater war ein guter Mann, der ein gottgefälliges Leben geführt hat. Er hat dich unter seinem Dach aufgenommen und dir Speise und Trank gegeben, und zum Dank dafür hast du dabei zugesehen, wie er ermordet wurde.« Jetzt hatte ich genug. Erst der Krach mit Constant Dubail und nun das. Ich hatte eine Menge hinter mir in meinem kurzen Leben, aber es war das erstemal, daß man mich am laufenden Band als Versager und Feigling bezeichnete. Das traf mich härter, als ich es wahrhaben wollte und zeigte. Ich war nie ein Feigling gewesen. Aber von sinnlosem Opfermut hatte ich auch nie etwas gehalten. Es sollte schon einen Sinn haben, wenn man sein Leben riskierte, das hatte ich bei den Apachen gelernt. Wer sich sinnlos opferte, hatte keinen Verstand und handelte wie ein Kind, nicht wie ein Krieger. Ich drehte mich wortlos um und wollte in den Stall zurückgehen. Da packte Jonas Hempleman mich an der linken Schulter. Ich drehte mich blitzschnell um, duckte mich und rammte ihm meinen Schädel
in den Leib. Aber die Hemplemans waren fast zwei Köpfe größer als ich und hatten Schultern wie Büffel. Jonas Hempleman schwankte, dann wurde ich von Noah gepackt und hochgehoben. Er wirbelte mich durch die Luft und schleuderte mich gegen die Stallwand. Ich hatte das Gefühl, sämtliche Knochen in meinem Leib seien gebrochen, als ich an den rauhen Brettern hinunterrutschte und in den Schnee sank. Jonas stampfte heran, bückte sich und riß mich hoch. Ich hob die Arme abwehrend vor meinen Kopf und versuchte gleichzeitig, ihn zu treten. Aber er hatte die Kraft einer Maschine, wischte meine Hände zur Seite und schlug mir rechts und links ins Gesicht. Ich fühlte Betäubungsschleier in mir aufsteigen. Matt bewegte ich mich noch immer, um mich zu verteidigen. Aber der geballten Kraft der riesigen Hemplemans hatte ich nichts entgegenzusetzen. »Verflucht sollst du sein!« hörte ich Jonas sagen. »Der Herr wird dich strafen.« Ich schloß die Augen und kämpfte mit der Bewußtlosigkeit. Bei jedem Atemzug fuhr ein glühendes Stechen durch meine Lungen. Das Stalltor öffnete sich knarrend. Shita schoß heraus und bellte laut, dann tappte er auf mich zu und winselte leise. »Schon – gut«, flüsterte ich. Der Stallmann trat heran. »Sind sie weg?« fragte er. Er hatte Angst. Ich konnte ihn verstehen. »Ja«, sagte ich leise. Er half mir hoch. Meine Muskeln zitterten vor Schmerzen und Schwäche. Ich schleppte mich in den Stall und konnte kaum den Becher halten, den der Stallmann mir reichte. Gierig trank ich den heißen Tee. »Hast du was angestellt? Was hast du den Burschen getan?« »Ich bin noch am Leben«, sagte ich. »Das ist alles.« »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Ich auch nicht«, sagte ich. »Das ist eine lange Geschichte.« Ich wankte in die hinterste Box des Stalles und ließ mich einfach ins Stroh plumpsen. Shita streckte sich neben mir aus. Vorn löschte der Stallmann die Lichter. Die Schmerzen ließen nach, und ich wurde innerlich ruhiger. Aber
die Demütigungen fraßen in mir. Ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Trotzdem kam ich nicht zur Ruhe. Ich durfte das alles nicht auf mir sitzen lassen. Ich mußte es ihnen zeigen, allen, diesem Fettsack Dubail und diesen selbstgerechten Hempleman-Brüdern. Wenn ich es nicht tat, würde ich vielleicht eines Tages wirklich glauben, daß sie recht hatten. Mir ging vieles im Kopf herum. Aber die Erschöpfung war stärker. Der Schlaf übermannte mich, kurz nachdem es im Stall dunkel geworden war. * Ich fühlte mich wie zerschlagen, obwohl ich die Nacht über ruhig geschlafen hatte. Die schlurfenden Schritte des Stallmannes weckten mich. Er blieb vor meiner Box stehen. »Du mußt jetzt aufstehen«, sagte er, als er sah, daß ich bereits wach war. »Wenn mein Boß sieht, daß du hier geschlafen hast, mußt du was dafür bezahlen.« »Danke«, sagte ich. Ich erhob mich und spürte jeden Knochen in meinem Körper. Vermutlich hatte ich überall blauunterlaufene Schwellungen. Ich fror. Das Stalltor stand weit offen, und die eisige Luft des Morgens drang ungehindert ein. »Wo gibt's hier was zu essen?« fragte ich den Stallmann. »Nächste Straße rechts«, sagte er. »Da ist Hunters Speisehaus. Nicht zu teuer, aber gut.« Ich legte dem stämmigen Braunen, den ich am gestrigen Abend gekauft hatte, meinen Sattel auf und steckte den Sharps-Karabiner in den Scabbard. Dann zog ich das Tier aus der Box, Er folgte mir ohne Scheu. Zusammen mit Shita und dem Pferd verließ ich den Stall. Die Luft roch nach Schnee. Um die schroffen Gipfel der Berge nordwestlich von Salt Lake City trieben graue Wolkenfelder. Die Sonne war bereits aufgegangen, wurde aber von einer milchigen Luftschicht überdeckt. Von Norden strich über den großen Salzsee ein schwacher Wind heran. Er war von schneidender Kälte. Ich ging zu einer grün angestrichenen Pumpe auf dem Hof. Sie
war fast zehn Fuß hoch, und der lange Pumpenschwengel hatte an seinem Ende ein Gewicht von der Größe eines Kinderkopfes. Er quietschte in der Aufhängung, als ich ihn bewegte. Es dauerte eine Weile, bis ein Wasserstrahl aus dem Rohr sprudelte. Als ich meine Hände darunter hielt, dachte ich, sie würden abfallen. Sekundenlang hatte ich kein Gefühl mehr darin, so kalt war das Wasser. Trotzdem überwand ich mich und netzte damit mein Gesicht. Die Kälte vertrieb die letzte Müdigkeit, schärfte aber auch meine Sinne und ließ mich die Schmerzen der brutalen Schläge, die ich am Abend hatte einstecken müssen, stärker fühlen. Als ich den Hof des Mietstalles verließ, öffneten gerade mehrere Geschäfte links und rechts der Mainstreet ihre Türen. Männer mit grauen Schürzen fegten die Stepwalks. Von Westen näherte sich eine Postkutsche der Stadt. Dick vermummt hockten ein Kutscher und ein bewaffneter Begleitmann auf dem Bock. Den Kutscher kannte ich. Aber er sah mich nicht. Er schaute starr geradeaus unter einer Fellkapuze hervor. Ich bog in die Querstraße ein, die der Stallmann mir genannt hatte und bewunderte wieder einmal die Übersichtlichkeit des Straßennetzes von Salt Lake City. In den meisten Städten im Westen, St. Joseph war da keine Ausnahme, waren die Straßen ohne System angelegt worden, wie es gerade paßte. Sie führten kreuz und quer durch eine unübersichtliche Häuseransammlung. In Salt Lake City war alles geordnet und klar. Ich fand das Speisehaus sehr schnell, es hatte gerade geöffnet. Ich war der erste und zunächst auch der einzige Gast zu dieser frühen Stunde. Eine verhärmt aussehende Frau kochte mir Kaffee und bereitete mir ein Frühstück aus gebratenen Eiern mit Schinken. Für Shita trieb sie sogar einen Knochen auf. Ich bezahlte für alles nicht mal einen Dollar und ließ mir schließlich noch ein Paket mit Broten packen. Als ich endlich aufbrach, herrschte bereits hektisches Getriebe auf den Straßen der Stadt. Hochbeladene Wagen rollten hin und her, Menschen eilten geschäftig über die Stepwalks. Kinder waren mit Büchern unter dem Arm auf dem Weg zur Schule. Sie alle führten ein geordnetes, geregeltes Leben. Wenn sie
morgens aufstanden, wußten sie, wie ihr Tag verlaufen würde, und wenn sie sich abends zum Schlafen niederlegten, brauchten sie nicht um ihr Leben zu fürchten. Sie brauchten keinen Revolver zu tragen, und sie brauchten nicht zu töten. Ich verließ die Stadt in östlicher Richtung. Bereits gestern abend, nachdem die Hempleman-Brüder mich zusammengeschlagen hatten, hatte ich den Entschluß gefaßt, und jetzt sah ich keinen Grund, ihn zu ändern: Ich würde den Killern folgen. Ich hatte meine Pflicht getan. Ich hatte die Agentur in Salt Lake City sofort vom Verlust der Post unterrichtet und war dafür entlassen worden. Jetzt konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Und ich hatte vor, allen zu beweisen, was ihre Beschimpfungen wert waren. Vor allem dem fetten Constant Dubail wollte ich es zeigen. Ich wollte die Post zurückholen und wollte sie ihm vor die Füße werfen. Ich wollte dem Pony-Expreß nichts schuldig bleiben. Und wenn sie meinten, daß es meine Schuld war, daß die Post weg war, nun gut, dann würde ich diese Schuld begleichen. Schon um Constant Dubail ins Gesicht lachen zu können. Ich ritt an den letzten Häusern am Stadtrand vorbei in die weite, leere schneebedeckte Ebene hinaus. Anfangs sah ich hier und da noch ein sauber gebautes Farmhaus stehen. Bald schon war nichts weiter mehr um mich als grenzenlose Einsamkeit. Shita sprang neben mir her, und ich ließ den Braunen ausgreifen. Er schien froh zu sein, nicht mehr im Stall stehen zu müssen, und ich war sicher, einen guten Kauf getan zu haben. Ich wußte, die Suche würde schwer werden, vielleicht würde sie mich den Kopf kosten. Aber ich wußte, auch, daß ich nach allem, was ich am Vortag hatte hinnehmen müssen, so handeln mußte, auch um meiner selbst willen. Ich besaß nicht viele Anhaltspunkte. Zwei Gesichter hatte ich mir gemerkt. Und einen Namen, Elton, von dem ich nicht wußte, ob er ein Vor- oder ein Nachname war. Das mußte genügen. Ich hatte ein Ziel, und das wollte ich verfolgen, koste es was es wolle.
5.
Das Tal lag eingebettet in den östlichen Ausläufern der WahsatchMountains. Bis zur Grenze nach Wyoming waren es keine vierzig Meilen. Das Tal mochte fünf Meilen im Durchmesser groß sein. Es gab drei Farmen hier. Sie lagen dicht beieinander. Quer durch das Tal führte eine breite Wagenstraße, die regelmäßig vom Schnee befreit worden war, so daß sich beiderseits des Weges hohe Schneewälle türmten. Das Dämmerlicht des anbrechenden Tages lag über dem Tal, in dessen Mitte ein mächtiges, weithin sichtbares, gewiß vierzig Fuß hohes Kreuz aufragte. Die Männer kamen von Südosten und ritten die Wagenstraße hinunter. Weit vor ihnen stieg eine dünne Rauchfahne aus dem Schornstein eines Farmhauses auf und vereinigte sich mit dem Grau des Morgens. Das war ihr Wegweiser. Der Anführer war ein Mann mit einem abgeschabten Topfhut. Er kaute auf einer kalten Zigarre. Die Männer hatten die Kragen ihrer Mäntel hochgeschlagen, ohne daß sie das besonders vor dem eisigen Reitwind schützte. Aber sie schienen unempfindlich gegen die Kälte zu sein. Sie waren Männer, die es gewöhnt waren, im Freien zu leben. Als das erste Farmhaus vor ihnen auftauchte, lösten sich die Frühnebelschwaden gerade auf. Das Haus stand gut hundert Yards abseits der Wagenstraße. Zusammen mit zwei solide wirkenden Stallgebäuden und einer Scheune bildete das Anwesen eine Hufeisenform. In der Mitte des Hofes befand sich ein Ziehbrunnen mit einer hüfthohen Einfassung aus Feldsteinen. Hinter einem Fenster brannte Licht. Die Reiter zügelten ihre Pferde und stiegen ab. Als sie weitergingen, führten sie ihre Tiere am Zügel mit. So verursachten sie kaum ein Geräusch und konnten sicher sein, im Haus nicht gehört zu werden. Sie hielten ihre Gewehre in den Fäusten. Als sie den Hof erreichten, ließen sie ihre Pferde im Schatten eines Stallgebäudes stehen. Dann gingen sie zum Haus. Die Tür öffnete sich. Ein Mann trat heraus. In jeder Hand einen Holzeimer. Er war jung und groß, und seine Schultern waren breit. Er sah die Männer erst, als er den Brunnen fast erreicht hatte. Sie
tauchten seitlich von ihm auf. Er ließ die Eimer fallen, drehte sich um und wollte zur Tür zurücklaufen. Da versperrten sie ihm den Weg. »Vater!« Er schrie. »Va …« Der Ruf brach jäh ab, erstickte in einem unartikulierten Gurgeln, als einer der Fremden sein Gewehr wie eine Keule herumschwang und ihn mit einem Kolbenschlag traf. Der junge Mann warf beide Arme hoch. Sein Oberkörper wurde nach hinten gewirbelt. Er verlor den Boden unter den Füßen, schien in die Höhe zu fliegen und überschlug sich fast, bevor er hart auf den Rücken stürzte. Röchelnd blieb er liegen. Er stöhnte unter den entsetzlichen Schmerzen, die seinen Körper durchrasten. Der Bandit, der ihn niedergeschlagen hatte, trat auf ihn zu und betrachtete ihn einen Moment mit kaltem Interesse. Er grinste teuflisch. Dann drehte er sich um. Seine Kumpane drangen gerade in das Haus ein. »Hallo, Mormone«, sagte der Mann mit dem Topfhut, als er die geräumige Wohnstube betrat. Zwei Männer und zwei Frauen saßen an einem Tisch. Eine dritte Frau kniete vor einem breiten Kamin und war dabei, ein Feuer anzufachen. Der eine Mann mochte um die fünfzig Jahre alt sein. Er war mittelgroß, hatte buschige Bartkoteletten und einen sauber gestutzten Kinnbart. Die drei Frauen waren in seinem Alter. »Schon gebetet?« fragte der Mann mit dem Topfhut. Er lachte leise. »Nein? Noch nicht? Dann beeil dich damit. Viel Zeit hast du aber nicht mehr.« Der bärtige Mann wollte aufspringen, der Bandit versetzte seinem Stuhl fast gleichzeitig einen Tritt, und der Stuhl kippte um. Der Farmer hatte sein Gewicht noch nicht verlagert und wurde mitgerissen. Er stürzte mit dem Stuhl zu Boden. Der Junge erhob sich sofort. Sein Gesicht verzerrte sich vor maßloser Wut. »Was erlauben Sie sich? Mein Vater hat Ihnen nichts getan. Wer sind Sie? Wo ist mein Bruder?« »Du fragst zuviel«, sagte der Bandit. Er versetzte dem Tisch einen
Tritt, und die Tischkante rammte dem jungen Mann in den Leib. Er hatte nicht damit gerechnet und mußte den Stoß voll nehmen. Er stöhnte gequält und kippte mit dem Oberkörper nach vorn auf die Tischplatte. Dann rutschte er langsam zu Boden. Eine der Frauen stieß einen spitzen Schrei aus. Sie schlug beide Hände vor das Gesicht. Der Bandit schaute sie an und warf dann einen Blick auf den Farmer, der sich aufrichtete. »Alles deine Frauen?« fragte er. »Respekt. Drei Weiber auf einmal. Kannst du es ihnen denn noch richtig besorgen, Alter?« Der Mann schwieg. Die Banditen lachten. Der Kerl mit dem Topfhut trat rasch auf die Frau am Kamin zu, bückte sich und riß sie aus ihrer knienden Haltung hoch. Die Frau zitterte am ganzen Körper und wagte nicht, sich zu bewegen, als er sie roh betastete und quetschte. Sie war bleich wie ein Laken und blickte starr an ihrem Peiniger vorbei. Der Bandit ließ sie los. »Schon etwas schlaff«, sagte er. »Aber noch ganz ordentlich.« Er wandte sich wieder dem Farmer zu. »Habt ihr Geld im Haus?« Der Mann schwieg jedoch beharrlich. Ein Bandit versetzte ihm einen Kolbenhieb in den Rücken, so daß der Mann stöhnend nach vorn taumelte. »Wir mögen keine Mormonen«, sagte der Anführer. »Wir können euch einfach nicht ausstehen. Euer Leben besteht nur aus Hurerei und Gotteslästerung. Und das Schlimmste ist, es geht euch auch noch besser als den anständigen Menschen in diesem Land. Ihr lebt in besseren Häusern, eure Ernten sind besser. Ich frage dich, ist das gerecht? Meine Freunde und ich, wir müssen in miesen Buden hausen, und doch sind wir anständige Christenmenschen.« »Haben Sie es schon mal mit Arbeit versucht«, sagte der junge Mann. Auch er hatte sich wieder erhoben. Er hatte beide Hände auf den Leibgepreßt. »Hör dir den Mormonenlümmel an«, sagte ein dicker Bandit mit einem Spitzbart. Er schob sich schwerfällig um den Tisch herum. Der junge Mann wich langsam zurück, bis er mit dem Rücken an die Wand stieß.
»Wir können es absolut nicht leiden, wenn man uns beleidigt«, sagte der Bandit mit dem Topfhut. »Wir sind friedliche Menschen.« »Äußerst friedlich«, sagte der Dicke und versetzte dem jungen Mann eine schallende Ohrfeige. Er versetzte ihm noch einen Tritt, als der Junge direkt vor ihm zu Boden ging. »Die Frauen sollen sich fertigmachen«, sagte der Bandit mit dem Topfhut. »Wir verreisen gemeinsam.« »Verlassen Sie mein Haus, Gentlemen«, sagte der Farmer. »Ich bitte Sie in Gottes Namen, gehen Sie und lassen Sie uns in Frieden.« »Wir gehen gleich«, sagte der Dicke. Er wandte sich an die anderen Männer. »Seht euch das Haus an. Aber gründlich.« Der Sohn des Farmers hatte sich erhoben und war zu einem Fenster getreten. Er stieß einen Schreckenslaut aus. Fassungslos starrte er hinaus auf den Hof. Dort lag sein Bruder. Sein Vater drehte sich um, konnte aber nicht sehen, was sein Sohn sah. »Geh ruhig zum Fenster, Mormone«, sagte Elton. Er nahm den Topfhut ab und kratzte sich am Haaransatz. »Was ist?« sagte er zu den Frauen. »Ihr sollt euch abmarschfertig machen. Zieht euch Mäntel an.« »Warum habt ihr das getan?« fragte der Farmer. Er war ans Fenster getreten, wandte sich nun ab und schaute Elton an. Der Bandit gab keine Antwort. Er drehte sich um und schrie in den oberen Teil des Hauses: »Wo bleibt ihr, zum Teufel?« Als er ein schabendes Geräusch hinter sich hörte, wirbelte er herum. Er sah gerade noch, daß der Farmersohn durch die Tür schlüpfte. Der Sharps-Karabiner, den er locker in der Linken hielt, flog hoch. Die Detonation fing sich dröhnend im Raum. Pulverdampf stieg beißend auf. Das mächtige Geschoß durchdrang die Haustür eine Handbreit oberhalb der Klinke. Die Wucht des Aufschlags warf die Tür ins Schloß. Der Bandit sprang zu einem Fenster und durchstieß einfach mit dem Gewehrlauf die Glasscheibe. Klirrend regneten die Splitter zu Boden. Da hatte er bereits nachgeladen und feuerte zum zweiten Mal. Der junge Mann hetzte draußen mit großen Sätzen durch den Schnee. Er lief geduckt, im Zickzack. Eltons zweiter Schuß wirbelte
dicht neben dem Flüchtling eine Schneefontäne in die Höhe. Bevor der Bandit ein drittes Mal schießen konnte, war der Farmersohn hinter einer Schneeverwehung verschwunden. Fluchend drehte sich der Killer um. Er hatte seine kalte Zigarre durchgebissen. Sie war zu Boden gefallen. Der Bandit spuckte die Tabakkrümel aus, die in seinem Mund zurückgeblieben waren. Er klappte den Blockverschluß des Karabiners herunter, schob eine neue Papierpatrone in den Lauf, setzte ein Zündhütchen auf den Zündnippel und starrte mit wutverzerrtem Gesicht den bärtigen Farmer sekundenlang an. »Dein Sohn ist weg«, sagte er. »Vielleicht kriegen wir ihn noch. Vielleicht auch nicht. Du wirst jedenfalls nichts mehr davon haben.« Er schoß mit dem Karabiner von der Hüfte aus. Der Farmer blickte direkt in das grelle Mündungsfeuer. Er riß entsetzt den Mund auf und wurde auch schon vom Aufschlag der Kugel hochgehoben und gegen die Wand geschleudert. Die Frauen kreischten auf, als sie den Mann am Boden liegen sahen. Der Bandit wirbelte herum. Auf der Treppe sah er seine Kumpane stehen. Einer hielt einen Kopfkissenbezug in den Fäusten, der mit allerlei Dingen vollgestopft war, die die Kerle im Haus gefunden hatten. »Was starrt ihr so?« schrie Elton. »Was ist in dem Sack?« »Ein bißchen Schmuck, ein bißchen Geld«, sagte der Dicke mit dem Spitzbart. »Nicht viel.« »Dann sorgt dafür, daß die verfluchten Weiber jetzt endlich begreifen, daß sie uns begleiten werden. Beeilt euch. Der verdammte Junge ist weggelaufen. Der wird die Nachbarn alarmieren.« »Die haben längst die Schüsse gehört«, sagte der Dicke. Elton antwortete nicht. Er ging hinaus. Als seine Leute die Frauen auf den Hof zerrten, saß er bereits im Sattel und spähte durch den trüben Morgen zum nächsten Farmhaus hinüber. Es lag knapp eine halbe Meile entfernt. Von dem geflüchteten Farmersohn war nirgends etwas zu entdecken. *
Als sie knapp dreißig Yards von dem Farmhaus entfernt waren, blitzte es an einem Fenster links der Tür kurz auf. Die peitschende Schußdetonation wehte durch das Tal. Der Dicke mit dem Spitzbart schoß sofort zurück. Am Haus zersplitterte ein Fenster. Fast gleichzeitig krachte abermals ein Schuß, und unmittelbar neben dem dicken Banditen richtete sich ein Reiter steil im Sattel auf und stürzte nach hinten. Sein Pferd tänzelte nervös. »Verdammt noch mal.« Elton riß fluchend sein Pferd herum. »Das hat uns der Junge eingebrockt.« »Du hättest besser zielen sollen«, sagte der Dicke. »Wir holen sie uns trotzdem«, sagte Elton. Sie ritten davon und schlugen einen Bogen. Ihren toten Kumpan ließen sie liegen. Das Farmhaus war nicht zur Verteidigung gebaut. Ein fensterloser Schuppen verdeckte die Südseite des Gebäudes. Von hier näherten sich die Banditen. Als sie den Schuppen erreichten, stiegen sie ab. Die drei Frauen, die gefesselt auf ihren Pferden saßen, blieben zurück, bewacht von dem Dicken mit dem Spitzbart. Elton umrundete mit den beiden anderen den Schuppen. Ihnen krachten Schüsse entgegen, kaum daß sie sich auf der anderen Seite des Schuppens sehen ließen. »Ich dachte immer, Mormonen können nicht schießen«, sagte einer der Banditen. »Hast du gedacht, die schmeißen mit Gebetsbüchern?« fragte Elton. Er blickte sich um und deutete auf einen mit Feuerholz beladenen Wagen, der mit hochgeklappter Deichsel nur wenige Schritte entfernt vom Schuppen stand. Die Männer verstanden sofort. Elton schob sich vor bis zur Schuppenecke und begann, das Haus unter Feuer zu nehmen, während seine beiden Kumpane aus der Deckung zu dem kleinen Wagen stürmten. Sie schafften es glatt, und wenig später setzte sich das Gefährt in Bewegung und rollte auf das Haus zu. Die beiden Killer schoben es wie einen Schutzschild vor sich her. Ein paar Schüsse fielen vom Haus aus, aber sie trafen nicht. Dann stieß der Wagen gegen die Hauswand. Die Banditen stiegen hinauf und
kletterten über die Holzladung auf das Dach. »Steckt die Bude an!« schrie Elton. Er schob sich den Topfhut weit in den Nacken, fingerte eine Zigarre aus der Manteltasche, biß die Spitze ab und zündete sie an. Die beiden Kerle stürmten über das Dach zum rauchenden Schornstein. Einer lachte laut und hob seinen Kugelbeutel hoch. Er leerte, so daß Elton es sehen konnte, seine Pulverflasche in den Beutel, verschloß ihn sorgfältig und warf ihn in die Kaminöffnung. Dann eilten die Männer zum Dachrand zurück. Im nächsten Moment ertönte im Innern des Hauses ein dumpfer Knall. Schreie waren zu hören. Eine der Fensterscheiben zersplitterte. Schwarzer Qualm drang heraus. Zwei Steine aus dem oberen Rand des Schornsteins lösten sich und polterten aufs Dach. In diesem Augenblick rief der Dicke von der anderen Seite des Schuppens, daß sich Reiter näherten. Elton verließ seinen Platz und eilte zu den Pferden zurück. Er sah, daß sich vier Männer aus der Richtung des dritten Farmhauses näherten. »Wir sind nur noch vier«, sagte der Dicke. »Und wir haben die drei Weiber zu bewachen.« Elton antwortete mit einem Fluch. Er riß den Sharps-Karabiner an die Schulter und feuerte. Einer der Reiter schwankte im Sattel und stürzte in den Schnee. Er versank in einer hohen Schneewehe. Die anderen rissen die Zügel zurück und verhielten unentschlossen. Elton lud blitzschnell nach. »Schieß!« schrie er den Dicken an. Dann feuerte er wieder. Eins der Pferde brach wie vom Blitz getroffen zusammen und begrub den Reiter unter sich. Die beiden anderen Reiter schossen nun zurück. Aber sie waren keine geübten Schützen. Ihre Kugeln bohrten sich mit häßlichem Laut in die Schuppenwand, ohne die Banditen zu gefährden. Der Dicke mit dem Spitzbart schoß, und es hatte den Anschein, als habe er einen Mann getroffen, aber es stürzte keiner aus dem Sattel. »Vorwärts«, sagte Elton. »Wir hauen ab. Das Haus hier können wir doch nicht mehr knacken. Dazu brauchen wir den Rücken frei. Aber die Kerle dort vorn sind von der anderen Farm gekommen.
Dort sind jetzt wahrscheinlich nur noch die Weiber.« Der Dicke grinste. »Während die hier ihre Wunden lecken, räumen wir dort ab.« »Du hast es erfaßt.« Elton lachte wild. »Wir lassen uns doch nicht von ein paar dreckigen Mormonen unterkriegen!« Er schrie nach seinen Leuten, dann ritten sie in östlicher Richtung davon. Sie beobachteten, daß hinter ihnen die beiden unverletzt gebliebenen Reiter zu dem Farmhaus sprengten. Als die Banditen außer Sicht waren, schwenkten sie nach Norden, mit ihren drei Gefangenen, und ritten in großem Bogen zu dem dritten Farmhaus. Es lag in einer Senke und war von den beiden anderen Anwesen aus nicht zu sehen. Die Banditen näherten sich dem Haus und den beiden Scheunen von der Rückseite. Sie hatten das Anwesen fast erreicht, als sie eine Frau in einem dunklen, bodenlangen Kleid aus einfachem Sackleinen zu einem flachen Schuppenanbau gehen sahen. Als sie die Reiter entdeckte, begann sie zu laufen. Sie raffte ihr langes Kleid, stolperte durch den Schnee und verlor ein graues Kopftuch. Elton und der Dicke trieben ihre Pferde an und versuchten, ihr den Weg abzuschneiden. Aber es gelang ihr, den flachen Schuppen zu erreichen und hineinzuschlüpfen. Sie schlug die Tür hinter sich zu. Der Dicke lachte. Der kalte Reitwind hatte sein feistes Gesicht gerötet. Er sprang aus dem Sattel und eilte unerwartet behende auf die Schuppentür zu. Er warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen, so daß die Tür erzitterte. Aus dem Innern war ein Schrei zu hören. Der Dicke hob sein rechtes Bein und trat wuchtig gegen die Tür. Sie war nicht besonders stabil und barst aus der Halterung. Hühner gackerten aufgeregt. Als der Dicke hineinstürmte, flatterte ein Schwarm erschrockener, aufgescheuchter Hühner in die Höhe und blendete den Mann. Er schlug schützend die Hände vor den Kopf, sah einen Moment nichts und fühlte nur einen heftigen Schmerz, als die Frau, die sich bis in die hinterste Ecke des kleinen Stalles zurückgezogen hatte, ihm den Futtereimer auf den Kopf schlug. Er taumelte, und die Hühner flüchteten an ihm vorbei ins Freie. Die Frau eilte mit.
Sie hastete verzweifelt über den Hof der Farm. Elton trieb sein Pferd an und löste sein Lasso vom Sattelhorn. Er schleuderte es sehr geschickt. Die Schlinge öffnete sich im Flug und holte die Frau ein. Sie senkte sich über sie und legte sich um ihre Schultern. Elton riß sein Pferd herum, und das Lasso spannte sich jäh. Die Frau stieß einen gurgelnden Laut aus und stürzte zu Boden. Elton schleifte sie ein Stück hinter sich her, bevor er anhielt und abstieg. Da hatten auch die beiden anderen Banditen mit den gefangenen Frauen den Hof erreicht. Gerade torkelte fluchend der Dicke aus dem Hühnerstall. Er hielt seinen Colt in der Faust und schoß zweimal, dreimal, viermal. Die Geschosse rissen wild flatternde und gackernde Hühner hoch. Federn wirbelten durch die Luft. Der Dicke suchte nach seinem Hut. Er blutete im Gesicht, wo scharfe Schnäbel und Krallen ihn getroffen hatten. Elton lachte. Er stand vor der Haustür und stieß sie mit einem Fußtritt auf. Rasch sprang er zur Seite. Im Innern krachte ein Schuß. Eine Schrotflinte. Die Ladung zerfetzte den Türrahmen. Elton drang ins Haus ein. Er fand die zweite Frau und ein junges Mädchen in einer Schlafkammer. Sie hielten die leergeschossene, einläufige Schrotflinte noch in den Händen. Elton jagte sie aus dem Haus. Dann durchschritt er die Räume und warf in der Küche einfach den Herd um. Die rote Glut setzte die Fußbodendielen in Brand. Elton verließ das Haus. Seine Männer hatten inzwischen drei Pferde aus einem Stall geholt und die neuen Gefangenen gezwungen, sie zu besteigen. Elton drückte sich den Topfhut tief in die Stirn. Seine Zigarre war ausgegangen. Er suchte ein Zündholz aus der Tasche, riß es an und hielt die Flamme an das Ende der Zigarre. Genußvoll sog er den würzigen Rauch in seine Lungen. Als er zu seinem Pferd ging, schlugen bereits Flammen aus dem Küchenfenster. Ein paar Glasscheiben zerplatzten in der Hitze. Der Bandit schwang sich in den Sattel und gab seinen Leuten ein Zeichen. Die gefangenen Frauen leisteten keinen Widerstand. Sie hätten auch keine Chance gehabt. Das junge Mädchen weinte leise. Die anderen blickten ihrem Ungewissen Schicksal stumm entgegen. Die Banditen ritten in nordöstlicher Richtung davon und verließen
das Tal. Hinter ihnen stieg eine mächtige, schwarze Rauchfahne in den grauen Winterhimmel.
6. »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, gelobet sei der Herr.« Der hochgewachsene Mann im aschgrauen Umhang, der seine kräftige, knorrige Gestalt bis zu den Knöcheln umfloß, klappte die große, in Leder gebundene Bibel in seinen schwieligen Händen mit langsamer Bewegung zu. Er senkte den Kopf, und die Männer, Frauen und Kinder, die ihn umstanden, falteten die Hände und sagten im Chor: »Amen.« Es hatte leicht zu schneien begonnen. Feine, weiche Flocken schwebten in die geöffneten Gräber. Ich zügelte meinen braunen Hengst ein Stück abseits der Versammlung, aus deren Mitte das hohe, im ganzen Tal zu sehende Kreuz hervorragte. Als ich abstieg, hob der hochgewachsene Mann im aschgrauen Umhang den Kopf und schaute mir entgegen. Sein Gesicht erinnerte mich ein wenig an Elia Josuah Hempleman. Es war faltig wie altes Leder. Sein Kinn wurde von einem sauber gestutzten schwarzen Bart bedeckt. Seine Augen schimmerten dunkel und ausdrucksstark. Er hielt die Bibel in beiden Händen, seine Lippen bewegten sich ein wenig. Er schien still für sich zu beten. Ich trat zwischen die Menschen, die mich stumm anschauten, als sie mich bemerkten, und warf einen Blick in die offenen Gräber. Es mußte eine schwere Arbeit gewesen sein, sie in den hartgefrorenen Boden zu hacken. Es waren vier. Neben jedem Grab lag ein Kreuz, das später den Erdhügel über dem Leichnam zieren sollte. Auf drei von den Kreuzen standen Namen, das vierte war leer. Ich hatte die Toten nicht gekannt, aber ich faltete ebenfalls die Hände. Ich fühlte, daß ich hier richtig war. Diese Toten waren keines natürlichen Todes gestorben. Nicht vier Menschen auf einmal an einem einzigen Tag, zumal ich sah, daß unter den Männern, die am
Rand der Gräber ständen, einige verletzt waren. Sie trugen frische Verbände. Einer stützte sich auf eine primitiv gefertigte Krücke. Sein linkes Bein war geschient. Sie hoben die Köpfe und beendeten ihr Gebet. Einer trat vor und griff nach einem Spaten, der im Boden steckte. »Waren es fünf Männer?« fragte ich, bevor er mit der Arbeit beginnen und die Gräber schließen konnte. Es schneite etwas stärker. Flocken trafen mein Gesicht, zerschmolzen auf der Haut und rannen als Eiswasser in dünnen Bächen über meine Wangen. Die Blicke richteten sich auf mich. Ich schaute den großen, schwarzbärtigen Mann fragend an. Ich hatte einen langen und harten Ritt hinter mir. Zunächst hatte ich die Station der toten Hemplemans angesteuert und war von dort aus nordostwärts geritten wie die Banditen. Ich hatte ihre Spur verloren, und es war im Grunde Zufall gewesen, daß ich sie am Morgen dieses Tages wiederentdeckt hatte. Gerade rechtzeitig, um die ungefähre Richtung feststellen zu können, in die die Killer sich bewegt hatten. Dann hatte es zu schneien begonnen, und ich hatte mich auf meinen Instinkt verlassen müssen. Jetzt war ich hier, in diesem Tal am Fuße der Wahsatch-Mountains. Shita drängte sich neben mich. Ich strich ihm über den Kopf, ohne den großen Mann unter dem Kreuz aus den Augen zu lassen. »Es waren fünf Fremde«, sagte er. »Kennst du sie?« »Einer heißt Elton«, sagte ich. »Mehr weiß ich nicht.« Der Mann, der die Gräber schließen sollte, stieß den Spaten in den Boden zurück und sprang in eins der Gräber. Sie waren höchstens drei Fuß tief. Der Mann bückte sich und schlug am Kopfende der Leiche die Decke zur Seite, in die der Körper gewickelt worden war. Ich blickte in ein unrasiertes, wachsbleiches Gesicht mit offenstehendem Mund. Die Wangen waren eingefallen, die Züge scharf. »Das ist einer«, sagte ich. Der Mann legte die Decke wieder über das Gesicht des Toten. »Du suchst die Männer?« fragte der Mann unter dem Kreuz. »Ja«, sagte ich. »Wann waren sie hier?« »Am Morgen«, sagte er.
Jetzt war es Mittag. Der Vorsprung der Banditen war nicht groß, aber bei diesem Wetter war er ausreichend. Der Schnee verdeckte alle Fährten. »Sie haben Frauen mitgenommen«, sagte ein alter Mann neben mir. »Sechs Frauen. Meine jüngste Tochter ist dabei. Sie ist erst fünfzehn.« »Wir dürfen nicht klagen, Bruder«, sagte der große Mann. Er schob die Bibel unter seinen grauen Umhang. »Nein, wir dürfen nicht klagen«, sagte ein junger Mann heftig. Er drängte sich nach vorn und hob die rechte Faust. »Wir müssen etwas tun.« »Der Herr spricht, die Rache ist mein«, sagte der große Mann. »Wir müssen demütig sein. Gottes Mühlen mahlen langsam, aber stetig. Die Männer, die uns soviel Leid zugefügt haben, werden ihre Strafe erhalten.« »Ja, wenn wir sie jagen«, sagte der junge Mann. »Du bist verbittert, weil du deinen Vater und deinen Bruder verloren hast, weil deine Mutter und die anderen beiden Frauen deines Vaters entführt wurden. Du bist jung und ungestüm. Du solltest dich im Gebet mit Gott beraten.« »Sie hassen die Mormonen«, sagte ich. »Vielleicht bringen sie schon morgen andere von euch um. Ich weiß nicht, was sie mit den Frauen anstellen. Etwas Gutes sicherlich nicht. Einen Tagesritt südlich von hier haben sie den Stationer Elia Josuah Hempleman und eine seiner Frauen umgebracht.« »Wir haben nicht das Recht, Rache zu üben«, sagte der große Mann. Der Junge zeigte anklagend auf eins der Gräber. »Dort liegt Phineas Coleman, ein Mann, der sein Leben lang gearbeitet und niemals jemandem Böses getan hat. Er hat ein gottgefälliges Leben geführt. Neben ihm liegt Habakuk, mein Bruder. Auch er hat niemals jemandem Leid zugeführt. Beide sind tot, ich will, daß ihre Mörder sterben.« Er wandte sich mir zu. »Du suchst diese Fremden?« Ich nickte. »Ich komme mit dir«, sagte er.
»Ich reite lieber allein«, erwiderte ich. »Dann werde ich auch allein suchen«, sagte er. »Bist du schon mal tagelang geritten, ohne Pause?« »Ich werde es schaffen«, sagte er. »Was verstehst du von Fährtensuche?« fragte ich. »Es wird genügen.« »Diese Männer sind eiskalte Killer«, sagte ich. »Sie leben in der Wildnis. Für sie gibt es keine Regeln, nur das Gesetz des Überlebens. Wie gut kannst du schießen?« »Ich bin oft auf die Jagd gegangen.« »Auch auf Menschenjagd?« Er schwieg und senkte den Kopf. Dann sagte er trotzig: »Ich werde sie suchen.« »In welche Richtung sind sie geritten?« fragte ich den großen Mann. »Nach Nordosten«, erwiderte er. »Kann ich irgendwo etwas zu essen kriegen?« fragte ich. »Etwas Warmes?« »Du kriegst bei mir was«, sagte der junge Mann. »Gut.« Ich drehte mich um und ging zu meinem Pferd zurück. Der junge Mann folgte mir. Er war so groß wie ich und etwas breiter. Ich schätzte ihn auf neunzehn Jahre. Sein dunkelbraunes Haar fiel ihm in einer widerspenstigen Tolle in die Stirn. Als ich in den Sattel stieg, schritt er zu Fuß voraus. Ich folgte ihm. Hinter uns begannen die Männer, die Gräber zu schließen. Noch immer schneite es. Wenig später sah ich eine kleine Farm vor uns auftauchen. Der junge Mann bewegte sich mit weitausgreifenden Schritten darauf zu. * »Ich heiße Jacob Coleman«, sagte er. Wir saßen in der Wohnstube am Tisch. Im Kamin flackerte ein Feuer. Es war warm und trocken. Shita hatte sich vor dem Kamin ausgestreckt, nachdem er eine Schüssel mit Fleischbrühe vertilgt hatte. Mein brauner Hengst stand im Stall. Vor dem Fenster, das bei
dem Überfall der Banditen zerstört worden war, hatte der junge Mann eine Decke aufgehängt. »Dort ist mein Vater gestorben«, sagte Jacob Coleman. Er zeigte auf den dunklen Fleck auf den Dielen. »Draußen im Hof hat mein Bruder gelegen.« Ich erwiderte nichts. Ich säbelte an dem Steak herum, das er mir gebraten hatte. »Dann sind sie weitergeritten«, sagte er. »Mein Vater hatte drei Frauen. Ursprünglich hatte er nur eine, meine und meines Bruders Mutter. Dann starb vor zwei Jahren sein Schwager, und dessen Frauen waren unversorgt und allein. Da hat er sie auch geheiratet. Bei uns ist das möglich.« »Ich weiß.« Ich nickte und aß weiter. »Sie haben versucht, bei den Kinseys einzudringen. Noah Kinsey ist der Mann, der vorhin gepredigt hat. Ich war vorher da, habe die Kinseys gewarnt. Dann hat Noah Kinseys Bruder einen der Halunken aus dem Sattel geschossen. Sie sind trotzdem weitergeritten und haben eine Sprengladung durch den Kamin geworfen. Außer Noah Kinsey und mir sind alle anderen, die im Raum waren, verletzt worden. Dann tauchte Moses Hustler mit seinen drei Söhnen auf. Einen haben die Kerle erwischt, dem anderen wurde das Bein gebrochen, als sein Pferd stürzte. Die Kerle haben dann so getan, als ritten sie fort, aber sie haben einen Bogen geschlagen und sind zum Haus von Hustler geritten, wo sich nur noch seine Frau und seine beiden Töchter aufhielten. Sie haben sie alle drei mitgenommen. Außerdem haben sie das Haus in Brand gesteckt. Das ist die ganze Geschichte.« »Ich reite weiter, wenn es aufgehört hat zu schneien«, sagte ich. »Mir geht es zunächst um die Post, die die Kerle mir geklaut haben. Aber ich krieg auch 'raus, was sie mit den Frauen anstellen.« »Ich begleite dich«, erklärte Jacob. »Nein«, sagte ich. Ich schob das letzte Stück Fleisch in den Mund und lehnte mich zurück. »Du jagst diese Kerle wegen ein paar Briefen«, sagte er wild. »Ich will sie jagen, weil sie meinen Vater und meinen Bruder umgebracht haben. Ist das nicht ein besserer Grund?«
»Kein Grund ist gut genug, wenn man nicht die Chance hat, das, was man sich vornimmt, auch zu tun«, sagte ich. »Du hast keine Chance.« »Das werden wir ja sehen«, sagte er. Ich bewegte mich kaum, Jacob nahm es nicht wahr, erst als plötzlich die Mündung meines Navy Colts auf ihn zeigte, weiteten sich seine Augen. »Kannst du das?« fragte ich. Ich ließ die schwere Waffe um den Zeigefinger wirbeln und schob sie zurück in den Gürtel. »Und wenn du so ein Ding in der Hand hältst, wirst du dann auch abdrücken, wenn es sein muß? Jetzt nimmst du dir das vor. Klar. Und wahrscheinlich würdest du es wirklich tun. Aber es kommt darauf an, daß du es als erster tust, wenn ein Gegner vor dir auftaucht, daß du es tust, ohne lange zu überlegen. Und es ist nicht einfach, einen Menschen zu erschießen, das kannst du mir glauben.« »Hör mal«, sagte er. »Du bist doch jünger als ich und …« »An Jahren vielleicht«, sagte ich. Ich blickte an ihm vorbei auf die gescheuerte- Tischplatte. »Nicht an Erfahrungen.« Ich stand auf und trat ans Fenster. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen. »Ich bin weiß Gott nicht stolz darauf«, sagte ich. »Ich wäre auch lieber auf einer Farm aufgewachsen, so wie du.« Ich drehte mich um. »Ich reite allein.« Er sagte nichts. Ich setzte mich neben Shita an den Kamin, während Jacob den Tisch abräumte. Ich dachte an die Killer. Es waren nur noch vier. Vier Männer zuviel. Sie mußten irgendwo unterkriechen, wenn sie nicht unterwegs waren. Irgendwo mußten sie ein Versteck haben. Es konnte nicht so weit entfernt sein, sonst hätten sie nicht im Verlauf weniger Tage zweimal in dieser Gegend auftauchen können. Bevor sie hierher geritten waren, hatten sie sich irgendwie der beiden Hempleman-Frauen entledigt. Der Ort, wo sie das getan hatten, konnte höchstens zwei Tagesritte entfernt liegen. Es war anzunehmen, daß sie die entführten Frauen aus diesem Tal ebenfalls dorthin bringen würden. Es mußte möglich sein, eine Spur von ihnen zu finden, trotz des Schneefalls. Jacob hatte gesagt, er habe einen besseren Grund, die Banditen zu jagen, als ich. Damit hatte er zweifellos recht. Ich jagte einem
Bündel Post nach. Aber diese Papiere verkörperten meinen Stolz, meine Selbstachtung. Dennoch, es war ein guter Grund. Männer zu jagen, die den eigenen Vater und den Bruder umgebracht hatten. Einen Moment überlegte ich, ob ich ihn nicht doch mitnehmen sollte. Aber ich schob diesen Gedanken beiseite. Er würde mich nur aufhalten und behindern. Ich würde genug damit zu tun haben, selbst am Leben zu bleiben. Ich konnte nicht auch noch auf ihn achten. Er war zu unerfahren, er hatte nie gelernt, zu kämpfen, so wie ich. Er war ein Farmer und konnte mit dem Pflug besser umgehen als mit einem Revolver. Nach fast einer Stunde hörte es auf zu schneien. Es war jetzt spät am Nachmittag. Jacob hatte mir die ganze Zeit von seinen Eltern erzählt, daß sie noch zu jenen gehört hatten, die mit Handkarren quer durch den Kontinent nach Utah gezogen waren. Ich erhob mich, zog meine gefütterte Jacke wieder an, setzte meinen Hut auf und nahm meinen Sharps-Karabiner. Shita erhob sich ebenfalls, ausgeruht und voller Tatendrang. Jacob sagte nichts. Er bat mich nicht mehr, ihn mitzunehmen. Ich dachte, daß er es aufgegeben hatte. »Danke«, sagte ich an der Tür. »Für was?« »Für das Essen«, sagte ich. »Und daß ich mich ausruhen konnte.« »Ich hoffe, du kriegst sie«, sagte er. »Das würde mir reichen.« Ich ging mit Shita hinaus. Er stand noch eine Weile an der Tür und schaute mir auch nach, als ich mit dem Braunen den Stall verließ und nordostwärts davonritt. Shita trottete durch den tiefen Schnee neben mir her. Ich ritt auch an der Farmruine vorbei, aber hier gab es natürlich keine Spuren mehr. Trotzdem hielt ich mich weiter nordöstlich, als ich schließlich das Tal verließ und das Land unübersichtlich und hügelig wurde. Wind von Norden frischte auf und stemmte sich gegen mich. Die Temperaturen sanken rapide. Ich schlang mir bald mein Halstuch vor das Gesicht, aber das schützte kaum vor der schneidenden Kälte. Es wurde rasch dunkel. Nach kaum drei Stunden war das Tageslicht nur noch so schwach, daß ich keine hundert Yards weit
mehr sehen konnte. Daß die Sonne unterging, konnte ich nur ahnen. Der Himmel war grau in grau. Ich ritt weiter, bis ich einen windgeschützten Platz im Schatten einiger Granitfindlinge entdeckte. Hier stieg ich vom Pferd. Der Schnee lag auf der windabgewandten Seite nicht so hoch, so daß ich hier ohne Schwierigkeiten ein Nachtlager aufschlagen konnte. Ich hatte einen harten Weg vor mir und beschloß, nicht lange nach trockenem Reisig zu suchen und ein Feuer anzufachen. Ich hatte heute bereits eine warme Mahlzeit erhalten und war nicht verwöhnt. Es war noch ein Rest von den Broten da, die ich als Wegzehrung in Salt Lake City gekauft hatte. Das aß ich zusammen mit Shita. Dann scharrte ich eine Mulde in den Schnee, in der ich meine Decke ausbreitete. Ich rollte mich hinein, und schon bald wurde mir warm. Wer sich in der Wildnis auskannte, brauchte auch bei eisiger Kälte und hohem Schnee nicht zu frieren. Auch wenn es kaum zu glauben ist, so ein Schneebrett kann wärmer sein als die feinste Daunendecke. Shita preßte sich fest an mich, während die Dunkelheit sich mehr und mehr verdichtete. Dann sprang er plötzlich auf und stürzte kläffend davon. Ich war bereits im Halbschlaf und fuhr fast augenblicklich hoch. Die Kälte durchströmte sofort wieder meinen Körper und vertrieb die bleiernde Schwere, die bereits Besitz von meinen Gliedern ergriffen hatte. Ich hielt meinen Revolver schon in der Faust, als ich einen Schatten aus der Finsternis auftauchen sah. Shita bellte nicht mehr, er sprang statt dessen plötzlich wieder auf mich zu. »Stehenbleiben!« rief ich. »Ich schieße.« Dann bewegte ich mich sofort einige Schritte zur Seite. Der Schatten näherte sich. Seine Konturen wurden schärfer. Ein Mann, der ein Pferd am Zügel führte. Ich erkannte ihn und ließ den Colt sinken. Jacob Coleman. »Hallo«, sagte er. Er sah müde aus und fror. Aber er grinste schief, als er mich sah. »Es war gar nicht so einfach, dich zu finden«, sagte er. »Es war auch verdammt schwer, dir zu folgen, ohne daß du es merkst.« »Ich hab nichts gemerkt«, sagte ich. Kalte Wut ballte sich in mir
zusammen. Aber ich beherrschte mich. »Jetzt reiten wir doch zusammen«, sagte Jacob. Ich sagte gar nichts mehr.
7. Ich packte meine Sachen zusammen, ohne zu frühstücken. Es war nichts mehr da, das ich hätte essen können. Ich hoffte, im Verlauf des Vormittags auf eine menschliche Ansiedlung zu stoßen und dort meinen Hunger stillen zu können. Eine vage Hoffnung. Das Land war schwach besiedelt, aber ich vertraute auf mein Glück. Außerdem war ich es gewöhnt, ohne regelmäßige Mahlzeiten auszukommen. Es war ein grauer Morgen. Der Himmel hing tief. In der Nacht hatte es wieder geschneit. Jacob erwachte, als ich meinem braunen Hengst den Sattel auflegte. Er fuhr verschlafen und frierend hoch. »He, willst du weiter?« »Hast du gedacht, wir lassen uns hier häuslich nieder?« »Du bist ganz schön sauer, wie?« Jacob schälte sich aus seinen Decken und streckte die steifen Glieder. »Ich tanze und singe vor Freude«, sagte ich. »Das siehst du doch.« »Du wirst sehen, daß wir beide ein gutes Gespann sind«, erklärte er. Ich knurrte etwas, zurrte die Sattelgurte fest, schob den Karabiner in den Scabbard und schwang mich auf den Pferderücken. »He, warte auf mich.« Ich gab keine Antwort und trieb den Braunen an. Ich dachte gar nicht daran, zu warten. Ich hatte ihn ja ausdrücklich davor gewarnt, mir zu folgen. Ich wollte allein reiten. Gab mir die Tatsache, daß er es fast verschlafen hätte und jetzt verlangte, ich solle auf ihn warten, nicht recht? Er war nicht dazu geschaffen, um in der Wildnis zu leben. Ich hatte ein bestimmtes Ziel, und ich durfte keine Zeit verlieren. Es ging nicht, daß ich womöglich ständig auf ihn warten mußte. Hinter mir hörte ich ihn fluchen, aber ich störte mich nicht daran, obwohl auch Shita mit meinem Verhalten anscheinend nicht ganz
einverstanden war. Er trottete neben mir her und blickte mich von unten vorwurfsvoll an. Ich ritt über einen Hügelkamm und blickte angestrengt durch den trüben Frühdunst. Das Land sah überall gleich aus. Solange der Nebel tief über dem Boden hing, gab es kaum eine Möglichkeit, sich zu orientieren. Der in der Nacht gefallene Schnee war nachgiebig und klebrig. Mein Pferd sank tief darin ein. Schneeklumpen blieben an dem zottigen Haar seiner Fesseln hängen. Jacob tauchte hinter mir auf. Er keuchte, als er sein Pferd neben mich trieb. »Du hättest warten können«, sagte er. »Nein«, sagte ich. »Ich hab's eilig. Und ich habe keinen Vergnügungsritt vor mir. Ich hab dir oft genug gesagt, daß das Leben in der Wildnis anders ist als auf einer Farm.« »Gut, gut«, sagte er. »Ich hätte dir nicht heimlich nachreiten sollen. Aber jetzt bin ich da, und wir haben dasselbe Ziel. Also, warum sollen wir nicht zusammenhalten?« »Ich halte ja zusammen«, sagte ich. »Du nicht. Du schläfst zu lange.« »Morgen bin ich eine Stunde früher wach als du«, sagte er wütend. »Glaub nur nicht, daß du mich abhängen kannst. Ich krieg die Mörder meines Vaters und meines Bruders, und ich finde auch meine Mutter und die anderen Frauen wieder.« »Ich hab' dich nicht eingeladen«, sagte ich. »Solange du bei mir bist, wirst du dich an mich halten, oder ich laß dich sitzen.« »Wir werden ja sehen, wer länger durchhält.« Ich grinste und sagte nichts mehr. Jacob war wütend auf mich, aber das spielte keine Rolle. Er würde mir jetzt beweisen wollen, daß er genauso zäh und hart war wie ich. Das war gut so, denn er würde alles vermeiden, was mich aufhalten konnte. Langsam begann ich mich mit dem Gedanken anzufreunden, nicht allein reiten zu müssen. Jacob war zwar kein Mann, der gewöhnt war, zu kämpfen. Aber er hatte einen starken Willen, und er verfolgte sein Ziel mit Entschlossenheit und Zähigkeit. Er würde sich vielleicht zu einem guten Partner entwickeln. Vielleicht würde ich sogar noch froh sein, daß er da war, denn immerhin waren es vier knallharte Burschen,
denen ich auf den Fersen war. Ich konnte durchaus Beistand brauchen. Es wurde an diesem Tag nicht hell. Wir ritten ungefähr zwei Stunden, ohne daß ein Wort zwischen uns fiel. Der Nebel über dem Land löste sich zögernd auf, aber die tiefhängende Wolkendecke blieb. Es roch nach Schnee. »Ich hab Hunger«, sagte Jacob nach einer Weile. »Ich auch«, sagte ich. »Wohin reiten wir eigentlich?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich hoffe, in die richtige Richtung.« »Du weißt gar nicht, wohin wir reiten?« »Weißt du es?« »Nein, aber ich dachte …« »Woher soll ich es dann wissen? Immerhin bist du gar nicht so weit von hier geboren worden.« »Wie sollen wir denn die Kerle finden, wenn …« »Indem wir sie suchen«, sagte ich. »Dazu muß ich nicht unbedingt wissen, in welcher Gegend ich mich aufhalte. Es reicht, wenn ich weiß, daß sie hiergewesen sein könnten.« »Es sieht nicht so aus, als gäbe es eine Menschenseele hier.« »Der äußere Schein zählt gar nicht«, sagte ich. »Wir wissen nur eins: Die Banditen haben euer Tal in nordöstlicher Richtung, verlassen. In diese Richtung reiten wir jetzt auch. Vielleicht haben sie nach zehn Meilen ihren Kurs geändert. Aber das können wir nicht wissen, und solange wir das nicht wissen, reiten wir nach Nordosten.« »Notfalls bis ans Ende der Welt, wie? Ist das deine ganze Weisheit vom Leben in der Wildnis?« »Nein«, sagte ich. »Wir werden bei der nächsten Ansiedlung fragen, ob Fremde aufgetaucht sind. Die Kerle müssen auch essen und trinken und irgendwo schlafen.« »Hier gibt es doch nicht mal eine Erdhöhle, geschweige denn eine Hütte.« »In knapp einer Meile«, sagte ich. »Was?« sagte er. »Du schläfst nicht nur zu tief und zu lange«, sagte ich. »Du bist
auch noch blind. Vor uns ist Rauch.« Er starrte angestrengt nach vorn und entdeckte schließlich die dünne Rauchfahne, die irgendwo aus der tristen Schneelandschaft auftauchte und dem tief hängenden Himmel zustrebte. Sie war schlecht zu erkennen, aber ich war es gewöhnt, auf solche Zeichen zu achten. Jacob versank wieder in mürrisches Schweigen. * Der Handelsposten lag oberhalb einer Furt des Bear River, der im Moment völlig vereist war. Die Niederlassung bestand aus zwei langgestreckten, flachen Holzbauten. Sehr solide. Die Fenster waren schmal und hatten sicherlich oft als Schießscharten gedient. Zwischen beiden Hütten stand ein flacher Frachtwagen mit hochgeklappter Deichsel. Ich stieg vom Pferd und ging auf das größere der beiden Gebäude zu. Jacob zügelte hinter mir sein Pferd. »Was jetzt?« rief er mir nach. »Ich denke, du hast Hunger«, sagte ich. »Bring die Pferde in den Stall.« Ich deutete auf den Anbau an der zweiten Hütte. »Aber laß nicht dein Gewehr im Scabbard stecken.« Ich stieg die wenigen Stufen des Vorbaus hinauf und klopfte mir den Schnee von den Stiefeln. Shita stand schwanzwedelnd neben mir und schien ebenfalls froh zu sein, wieder in eine warme und trockene Stube zu dürfen. Ich stieß die Tür auf und trat ein. Zwischen zwei Kistenstapeln führte ein schmaler Gang hindurch zu einer Ladentheke, die aus übereinandergestellten leeren Tomatenkisten bestand. Davor war in dem mit Waren aller Art vollgestopften Lagerraum Platz für drei Tische mit den dazugehörenden Stühlen gelassen worden. Ein kahlköpfiger Mann saß hinter der Theke. Er blätterte in einem zerlesenen Magazin. Neben ihm stapelten sich abgegriffene Kataloge und alte Zeitungen. Der Mann hatte einen ungepflegten, struppigen Schnauzbart, dessen Enden bis zu den Kinnwinkeln reichten. Er trug ein schmutziges Hemd und erwiderte meinen Gruß nicht, als ich an der
Theke vorbeiging und meinen Karabiner auf einen Tisch legte. »Wir wollen was essen«, sagte ich. Ich knöpfte meine Jacke auf und hängte meinen Hut an einen Haken. »Wir?« »Mein Freund stellt draußen die Pferde unter.« »Ich hab noch Chilli von gestern da«, sagte er. Er strich sich über seine Glatze und erhob sich. »Dazu könnt ihr Schinken haben. Auch Kaffee.« »Sicher«, sagte ich. »Ein Sauwetter.« »Ja, ja«, sagte er. »Es verirrt sich kaum jemand in diese Gegend, nicht jetzt, nicht bei diesem Wetter.« »Sie haben ein schönes Lager.« »Für das Frühjahr und den Sommer«, sagte er. »Dann ziehen Trecks hier vorbei, die hoch nach Montana und Idaho wollen. Manche ziehen noch immer nach Kalifornien, aber da ist es mit dem Gold wohl vorbei.« »Gibt es Indianer hier?« »Cheyennes und Sioux«, sagte er. »Oglalas. Aber mit denen hab ich keinen Ärger. Manchmal tauchen sie hier auf und tauschen Felle gegen Lebensmittel.« »Wenig Kundschaft jetzt, wie?« »Ja«, sagte er. »Wenig Kundschaft. Zwei Portionen?« »Zwei«, sagte ich. »Und einen großen Topf Kaffee. Aber schwarz.« Er nickte und bewegte sich schwerfällig davon. Das Magazin ließ er aufgeblättert auf der Theke liegen. Ich beschloß, ihn später mehr zu fragen. Erst hatte ich Hunger. Der Stationer lief mir nicht weg. Ich lehnte mich zurück. Es war warm. Dicht neben der Theke stand ein Kanonenofen mit rotglühender Platte. Der ganze Raum duftete intensiv nach Kaffee, Tabak und Gewürzen. Die Tür öffnete sich. Ich konnte sie von meinem Platz aus nicht sehen. Wenig später tauchte Jacob hinter den aufgestapelten Kisten auf. Er schleppte sein Gewehr mit, eine riesige Kentucky-Rifle, die fast so groß war wie er selbst. Der Schaft war an einer Stelle gesplittert, und jemand hatte sehr ungeschickt einen Metallring darüber gesetzt und das Holz geleimt. Der Bruch war leicht zu
erkennen. »Ich hab' Essen bestellt«, sagte ich. »Setz dich hin. Ich denke, wir werden hier einiges erfahren.« »Hast du den Stationer schon gefragt?« Er beugte sich aufgeregt vor. »Ich bin doch nicht bescheuert. Erst will ich in Ruhe essen. Ich sag dir eins, halt die Klappe! Überlaß das Reden mir.« »Schon gut«, sagte er gekränkt. Da tauchte bereits der Stationer mit einem Tablett auf, auf dem zwei Teller standen. »Kaffee ist gleich fertig«, sagte er. »Alles zusammen einen Dollar.« »Wir wollen etwas Proviant mitnehmen«, sagte ich. »Wir bezahlen alles zusammen.« Er nickte nur und schlurfte wieder davon. Wir begannen zu essen. Es schmeckte nicht, aber wir hatten Hunger und hofften auf den Kaffee, mit dem wir den scheußlichen Geschmack 'runterspülen wollten. Vorn öffnete sich die Tür. Wir schauten auf. Zwischen den Kistenstapeln tauchte ein Indianer auf. Er war hochgewachsen und breitschultrig. Sein Gesicht war etwas aufgedunsen. Er trug einen knielangen Umhang aus Elchhaut und eine Fellmütze, in der eine Adlerfeder steckte. An seiner Hüfte baumelte ein Schädelbrecher. Er hatte ein sorgfältig zusammengeschnürtes Bündel Biberpelze unter dem Arm, trat zur Theke und warf es darauf. Stumm musterte er uns. Er war ein Cheyenne. »Rooster nicht da?« fragte er plötzlich mit dumpfer, gutturaler Stimme. Jetzt wußten wir wenigstens den Namen des Stationers. »Doch«, sagte ich. Da tauchte der Mann bereits auf. Er warf dem Indianer nur einen kurzen Blick zu und brachte uns den Kaffee und zwei Becher. »Gute Felle«, sagte der Indianer. Er öffnete das Bündel. »Ich kann jetzt keine Felle brauchen«, sagte Rooster. Er warf dabei einen Seitenblick auf uns, und mir war klar, daß er nicht wollte, daß wir dem Handel beiwohnten. »Gute Felle«, wiederholte der Indianer beharrlich. »Eagleman bringt immer gute Felle. Whisky, Rooster! Gib Whisky!«
»Indianer kriegen keinen Whisky«, sagte Rooster. »Du kannst Mehl und Zucker haben. Wie ist es mit Zucker?« »Whisky«, sagte der Cheyenne. Diesmal klang es etwas schärfer. »Sind Felle nicht gut?« »Ich brauche keine Felle«, sagte Rooster. Der Indianer beugte sich vor und krallte seine Linke in Roosters schmutziges Hemd. Der Glatzkopf schwitzte auf einmal. »Laß mich los, zum Teufel!« rief er. »Felle gut«, sagte der Indianer drohend. »Sie sind gut«, sagte Rooster. »Ja doch, verdammt, sie sind gut. Du kriegst einen halben Sack Zucker dafür.« »Whisky«, sagte der Cheyenne. »Wenn Felle nicht genug, dann das dazu.« Er warf etwas auf die Theke, das im Schein der Petroleumlampe, die an einem Deckenbalken hing, aufblitzte. Ich reckte unwillkürlich den Kopf, und dann fuhr ich hoch und stellte meinen Kaffeebecher ab. Auf der Theke lag ein kleines silbernes Kreuz mit einer dünnen Kette. Das hatte ich bei Eliza Hempleman gesehen. Sie hatte es immer um den Hals getragen. Ich umrundete den Tisch und trat zur Theke, während Jacob mich verwirrt anschaute und die Veränderung, die jäh mit mir vorgegangen war, nicht zu verstehen schien. »Ein schönes Kreuz«, sagte ich. Der Indianer schaute mich an und legte seine Rechte darauf. »Nur für Whisky«, sagte er. »Na los, Mr. Rooster«, sagte ich. »Geben Sie ihm den Whisky. Sie tun es doch sonst auch, wie?« »Ich weiß nicht, was die Rothaut will«, sagte der Stationer wütend. »Ich liefere weder Whisky noch Waffen an die Indianer. Das ist verboten.« »Wo hast du das Kreuz her?« fragte ich den Cheyenne. »Gehört mir.« Er musterte mich mißtrauisch. »In Ordnung«, sagte ich. »Wo hast du es her?« »Weiße Frau«, sagte er. »Fünf Männer haben sie gebracht?« »Ja.«
Ich wandte mich an den Händler. »Es sind jetzt nur noch vier«, sagte ich. »Der Anführer heißt Elton und trägt einen Hut, der wie ein Topf aussieht. Ein anderer ist dick wie eine Tonne und hat einen Spitzbart.« »Ich kenne niemanden, der so aussieht«, erklärte der Stationer. »Sie sind aber in diese Richtung geritten«, sagte ich. »Sie waren in einem Tal anderthalb Tagesritte von hier und haben sechs Frauen mitgeschleppt. Sie müssen hier vorbeigeritten sein.« »Hier reiten viele Leute vorbei.« »Vorhin haben Sie was anderes gesagt.« »Verschwinde«, sagte Rooster. Seine Hände zitterten auf einmal. »Du und dein Freund, seht zu, daß ihr 'rauskommt.« Jacob hatte sich erhoben. Ich sagte über die Schulter, ohne Rooster aus den Augen zu lassen: »Paß auf den Indianer auf.« Jacob nahm sofort sein altes Gewehr vom Tisch und richtete es auf den Cheyenne. »Wo kommt der Indianer her?« fragte ich. »Was weiß ich«, sagte Rooster. Da zog ich meinen Revolver und zielte auf seinen Kopf. Es knackte metallisch, als ich den Hammer zurückzog. Roosters Augen wurden groß und rund. »Er kann nicht weit von hier wohnen«, sagte ich. »Er hat das silberne Kreuz von einer Frau, die von den Halunken Eltons verschleppt wurde. Also müssen sie hier in der Nähe gewesen sein. Ich wette, sie waren auch hier. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, sich in diesem Land mit Proviant zu versorgen.« »Ich – ich weiß nicht, was du willst.« Rooster blickte starr auf meinen Revolver. »Nimm das Ding weg, Junge.« »Der Teufel ist Ihr Junge.« Ich beugte mich unvermittelt vor und schlug mit dem Revolverlauf zu. Ich wußte, daß man in diesem Land Gewalt brauchte, um sich durchzusetzen. Darum zögerte ich nicht, zuzuschlagen. Die Laufmündung riß Roosters Wange auf. Er brüllte und schlug die Hände vors Gesicht. »Sie waren hier!« Ich zielte wieder auf Roosters Schädel. Er nickte.
»Oft?« »Ab und zu.« »Wo bringen sie die Frauen hin?« »Zu den Indianern. Keine Ahnung, welche Dörfer, welche Stämme.« Rooster deutete auf den Cheyenne. »Eagleman weiß es.« »Und wo verstecken sie sich? Irgendwo müssen sie wohnen.« »Ich weiß nichts«, sagte Rooster. »Ich hab alles gesagt.« »Wer ist Elton?« »Mormonen-Charly«, sagte Rooster. »Er heißt Charly Elton. Alle nennen ihn Mormonen-Charly. Sein Vater war Mormone und hat ihn ziemlich streng erzogen. Elton soll ihn eines Tages umgebracht haben, jedenfalls erzählen das seine Leute. Er haßt Mormonen, weil er seinen Vater gehaßt hat.« »Ich kenne Versteck von Mormonen-Charly«, sagte der Indianer plötzlich. »Du kennst gar nichts!« schrie Rooster. Ich beugte mich vor und schlug blitzschnell noch einmal zu. Als ich von der Theke zurückwich, warf ich einen Blick auf Jacob. Er starrte mich fassungslos an und war bleich wie eine frischgekalkte Wand. »Eagleman will Whisky«, sagte der Indianer würdevoll, ohne den heulenden Rooster oder unsere Waffen zu beachten. »Guten Whisky für gute Felle. Wenn ihr mir gebt Whisky, dann ich euch führen.« »Zum Versteck von Mormonen-Charly?« »Für guten Whisky«, sagte er nachdrücklich. Ich hatte eine ganze Menge dagegen, daß Indianer Whisky tranken. Ich hatte schließlich selbst unter Apachen gelebt und fühlte mich noch heute manchmal als Indianer. Ich wußte, daß der Alkohol eine der gemeinsten Waffen des weißen Mannes war, die indianischen Stämme zu vernichten. Aber hier ging es um keine Kleinigkeit. Ich nickte schnell und sagte: »Du kriegst zwei Flaschen Whisky von uns, wenn du uns führst.« »Guten Whisky«, sagte er. Ich wandte mich an Rooster, der mich aus feucht schimmernden Augen haßerfüllt anstierte.
»Geben Sie ihm zwei Flaschen guten Whisky«, sagte ich. Ich griff in die Tasche und warf zwei Dollarstücke auf die Theke. »Reicht das für Whisky und Essen?« Rooster nickte. Er stellte zwei Flaschen auf den Tisch. Eagleman ergriff eine, entkorkte sie und setzte sie an den Mund. Gierig trank er einige große Schlucke. Als er die Flasche wieder absetzte, leuchteten seine Augen. »Guter Whisky«, sagte er. »Du führst uns?« »Ich führe«, sagte er und trank wieder. »Ich genau kennen Versteck von Mormonen-Charly mit Hut, der aussieht wie Topf.« »Wann war er zuletzt hier?« fragte ich den Stationer. »Gestern früh«, sagte Rooster. »Wohin wollte er?« »Keine Ahnung. Er hatte die Frauen bei sich.« »Wie lange treibt er das schon?« »Mit den Frauen? Noch nicht lange. Früher hat er nur die Farmen der Mormonen überfallen, oder er hat Transporte ausgeplündert.« Ich wandte mich halb um und sagte zu Jacob: »Hol unsere Pferde aus dem Stall.« Jacob beeilte sich, meiner Anweisung Folge zu leisten. Ich hatte den Eindruck, daß er froh war, das Haus verlassen zu können. »Wir reiten, Eagleman«, sagte ich. »Und Sie, Mr. Rooster, sollten den Mund halten, wenn Elton hier noch einmal auftaucht. Wenn wir ihn nämlich nicht finden, müssen wir annehmen, daß Sie ihn gewarnt haben. Dann kehren wir zurück.« Rooster sagte nichts, und ich nickte Eagleman zu, der seine Felle wieder einpackte und sagte, daß er sie wieder anbieten werde, wenn er neuen Whisky brauche. Dann steckte er eine Whiskyflasche unter seinen Umhang, die andere behielt er in der Hand. Er trank ab und zu einen Schluck. Er ging voraus, als wir die Hütte verließen. Ich nahm meinen Sharps-Karabiner vom Tisch und folgte ihm rückwärts gehend, so daß ich Rooster im Auge behalten konnte. Er glotzte mir nach, und ich sah ihm an, daß er mir gern in den Rücken geschossen hätte. Aber ich gab ihm keine Chance dazu.
Auf dem Hof stand Jacob schon bereit. Shita verließ als letzter hinter mir die Station. Ich schlug die Tür zu und eilte zu meinem Pferd. Eagleman hatte direkt unterhalb des Vorbaus einen Schecken stehen. Wortlos schwang er sich in den Sattel und ritt nach Osten. Wir folgten ihm. »Woher hast du gewußt, daß dieser Rooster Bescheid weiß?« fragte Jacob auf einmal. »Ich hab's gar nicht gewußt«, sagte ich. »Ich hab die Kette bei dem Indianer gesehen und mir gedacht, daß Rooster vielleicht etwas wissen könnte. Außerdem habe ich gesehen, daß er lügt.« »Ich glaube nicht, daß ich ihn hätte schlagen können«, sagte Jacob. »Reite lieber wieder nach Hause«, sagte ich. »Wenn der Indianer uns zum Versteck von Elton und seinen Leuten führt, darfst du nicht erst überlegen, ob du jemandem weh tun willst oder nicht.« »Das ist was anderes. Der Stationer hatte uns nichts getan.« »Doch«, sagte ich. »Er wollte Elton decken.« »Hättest du ihn erschossen, wenn er nicht geredet hätte?« »Nein«, sagte ich. »Aber er hat es geglaubt. Ich schieße nur, wenn mich jemand bedroht.« »Ich dachte, du würdest wirklich abdrücken«, sagte Jacob. Er schien sehr nachdenklich zu sein und erst jetzt richtig zu begreifen, auf was er sich eingelassen hatte. Ich antwortete nicht. Sachte begann es zu schneien.
8. Eagleman zügelte sein Pferd. Er stieg am Rand eines schmalen Waldgürtels ab. »Was ist los?« fragte ich. »Rasten«, sagte er. »Guter Platz.« Es war Abend und hatte aufgehört zu schneien. Trotzdem wäre ich gern weitergeritten. Aber wir waren auf unseren Führer angewiesen, darum erschien es mir besser, sich zu fügen. Eagleman drang ins Unterholz ein und zog sein Pferd am Zügel hinter sich her. Nach nur wenigen Yards öffnete sich eine kleine
Lichtung vor uns, ein windgeschützter Platz. Während Jacob und ich abstiegen, scharrte Eagleman bereits in der Mitte der Lichtung den Schnee zur Seite. »Hier Feuer«, sagte er. »Feuer ist gut«, sagte ich. »Aber wir haben keinen Proviant.« Durch den unerwartet verlaufenden Besuch in der Handelsstation hatte ich total vergessen, Proviant einzukaufen. »Feuerholz sammeln«, sagte Eagleman unbeeindruckt. Er nahm einen Bogen und einen mit Pfeilen gefüllten Köcher vom Sattel seines Schecken. »Hund soll mitkommen.« Ich warf einen Blick auf Shita, strich ihm über den Kopf und sagte: »Geh mit ihm, hörst du.« Er legte den Kopf schief und wackelte mit den Ohren. Zweifelnd erwiderte er meinen Blick, bis er begriff, daß es mir durchaus ernst war. Er ging zu dem Indianer hinüber und beschnüffelte ihn mißtrauisch. Dann hob er den Kopf und wedelte schwach mit dem Schwanz. Eagleman blickte ihn würdevoll an und sagte: »Komm, Hund.« Er drehte sich um und verschwand im Wald. Shita trottete hinter ihm her. »Will er etwa auf die Jagd gehen?« fragte Jacob. »Ja.« »Der schießt doch nie etwas«, sagte Jacob. »Der hat mindestens eine halbe Flasche Whisky im Bauch, außerdem wird es ständig dunkler.« »Das bedeutet nicht viel«, sagte ich. »Er scheint eine Menge Whisky zu vertragen. Und ein Indianer jagt bei Nacht genauso sicher wie am Tag.« Jacob schüttelte ungläubig den Kopf, aber er schwieg. Zusammen mit mir machte er sich daran, halbwegs trockenes Reisig zu sammeln. Es war gar nicht so einfach, aber wir fanden schließlich doch genug, um ein Feuer anfachen zu können. In der Zwischenzeit war es völlig dunkel geworden. Der Himmel war noch immer bedeckt. Kein Stern war zu sehen. Dafür wurde der Wind stärker. Er heulte um die Wipfel der Bäume. Plötzlich knackte es im Unterholz. Dann hastete ein pelziger
Schatten auf mich zu, rannte mich fast über den Haufen und beleckte meine Hände. Shita war wieder da. Hinter ihm tauchte Eagleman auf. Er warf seinen Bogen und den Köcher zu Boden und legte zwei Fasanen daneben. »Guter Hund«, sagte er. »Verdammt guter Hund.« »Das will ich meinen«, sagte ich. Ich bückte mich und nahm einen der Fasanen auf. Bei seinem Anblick begann mein Magen zu knurren. Ich warf den Fasan Jacob in den Schoß. »Rupf ihn«, sagte ich. Dann machte ich mich über den zweiten her, während Eagleman einige Hölzer als Bratspieße anspitzte und das Feuer anfachte. Wir zerlegten die Fasanen, steckten die einzelnen Stücke auf die Spieße und ließen sie über den Flammen braun werden. Dann rieben wir sie mit Asche ein und aßen sie. Dazu tranken wir Wasser aus unseren Feldflaschen. »Ist es noch weit bis zum Versteck von Mormonen-Charly«, wollte ich von Eagleman wissen. »Nicht viel weit«, sagte er. »Morgen sind wir da.« Er trank Whisky zu dem gebratenen Fleisch, warf die leere Flasche in die Dunkelheit und entkorkte die zweite. »Wenn wir bei Versteck«, sagte er. »Eagleman dann noch eine Flasche Whisky.« »Vereinbart waren zwei«, sagte ich. »Die hast du gekriegt.« »Verdammt wenig«, sagte er. »Verdammt viel«, widersprach ich. »Und genug. Du solltest nicht soviel trinken. Der Alkohol zerfrißt einem Mann das Gehirn und lähmt die Kräfte des Kriegers.« »Whisky gut«, sagte Eagleman. »Gibt Mut.« Ich gab es auf. Ich hatte kein Talent, ihn zu bekehren. Vermutlich konnte das niemand. Bei Eagleman war es schon zu spät. Er begriff nicht mehr, daß er sich mit seiner Gier nach Brandy den Weißen auslieferte, daß er daran zugrunde gehen konnte, wie schon manche kleinere Stämme zugrunde gegangen waren. »Du viele Dollars«, sagte Eagleman. Er wischte sich mit dem linken Handrücken einige Whiskytropfen vom Kinn. »Rooster gibt Whisky für Dollars. Wenn wir bei Versteck, du gibst mir einen Dollar.«
»Keinen Dollar«, sagte ich. Ich blickte ihm fest in die Augen. Er hockte auf der anderen Seite des Feuers mir genau gegenüber. Jacob saß seitlich von uns, nagte an einer Fasanenkeule und beobachtete uns stumm. Für ihn war das alles eine fremde Welt, von der er bisher nicht einmal gewußt hatte, daß sie existierte. Vermutlich verstand er Eaglemans Whiskygier genausowenig wie ich. Aber er war Mormone und dazu erzogen, daß Alkohol Teufelswerk war. Meine Motive, Eagleman den Whisky auszureden, verstand er vermutlich auch nicht. Eaglemans Pupillen waren unnatürlich klein. Der Alkohol begann jetzt immer stärker zu wirken. Sein Oberkörper schwankte ein wenig hin und her. »Einen Dollar«, sagte er. »Eagleman ist ein großer Krieger«, sagte ich. »Er braucht keinen Whisky, um Mut zu haben. Und er hält sich an Abmachungen. Zwei Flaschen sind genug.« Er schwieg unbefriedigt, trank weiter und stierte dumpf brütend in das niederbrennende Feuer. Jacob und ich rollten uns in unsere Decken, als Eagleman noch immer in die Glut stierte. Die tanzenden Flämmchen warfen zuckende Schatten auf sein Gesicht. Als die letzte Glut erlosch, legte sich auch Eagleman zum Schlafen nieder. Er schnarchte so laut, daß Shita unwillig knurrte. Ich hörte Jacob leise beten und dachte, daß es vielleicht gar nicht so schlecht sei, wenn ich das auch mal versuchte. Dann schlief ich ein. * Am nächsten Morgen war der Himmel klar. Die Temperaturen waren gesunken. Es herrschte klirrender Frost. Ich war steif vor Kälte und konnte mich kaum erheben, als ich erwachte. Eagleman war bereits wach. Er hockte an der kalten Feuerstelle und trank seine zweite Flasche Whisky leer. Jacob erwachte erst, als ich ihm eine Handvoll Schnee ins Gesicht warf. Shita leckte an der hartgefrorenen Schneekruste, um seinen Durst zu stillen. Ich suchte zusammen mit Jacob noch etwas Reisig, um das Feuer noch einmal anzufachen. Eagleman nahm daran keinerlei
Anteil. Er brütete vor sich hin und starrte auf die leere Flasche, die vor seinen Füßen im Schnee lag. In einem Topf, den Jacob bei sich hatte, tauten wir Schnee auf und tranken das warme Wasser. Es schmeckte nicht besonders, aber es half in der bitteren Kälte. Während wir unsere Decken zusammenrollten, stand Eagleman plötzlich auf und ging zu seinem Pferd. »Weiterreiten«, sagte er. Seine Stimme klang schwer von Whisky und etwas heiser. »Wie lange dauert es noch?« fragte ich. »Wenn Sonne oben«, sagte er. »Was heißt das?«, fragte Jacob. »Er meint, wenn es Mittag ist, sind wir da«, sagte ich. Ich zurrte die Sattelgurte meines Braunen fest und blickte Eagleman fest an: »Weißt du, ob Mormonen-Charly in seinem Versteck ist?« »Kann sein«, sagte er gleichgültig. »Wenn er da ist, kann er uns bemerken, wenn wir zu seinem Versteck reiten?« »Wird nichts merken«, sagte Eagleman. »Du gibst mir Dollar für Whisky, Mormonen-Charly wird nicht merken, wenn wir kommen.« »Keinen Dollar«, sagte ich. Ich durfte jetzt auf keinen Fall nachgeben. Es würde sonst nicht bei einem Dollar bleiben. »Ich hoffe, du redest nicht mit gespaltener Zunge und versuchst nicht, uns 'reinzulegen.« Er legte die flache Rechte auf sein Herz. »Eagleman spricht nie mit gespaltener Zunge. Wir Freunde. Du mir Whisky gegeben.« Das klang logisch. Vermutlich war er der Freund eines jeden, der ihm eine Flasche Whisky spendierte. »Hat Mormonen-Charly dir auch schon mal Whisky gegeben?« »Mormonen-Charly verkauft Frauen, keinen Whisky.« »In Ordnung«, sagte ich. »Reiten wir.« Wir stiegen in die Sättel. Eagleman setzte sich an die Spitze und ritt weiter ostwärts am Waldrand entlang. Jacob und ich ritten nebeneinander. Shita sprang mal zwischen uns, mal neben uns her. Jacob war sehr blaß an diesem Morgen. Ich hatte das Gefühl, daß ihm das Geschehen in dem Handelsposten noch immer im Kopf herumging. Vermutlich war er in absolutem Frieden aufgewachsen. Im Tal der Mormonen hatte es keine Gewalt gegeben. Seine erste
Begegnung mit der Gewalt war der Überfall der Banditen des Charly Elton gewesen. An jenem Tag hatte er lernen müssen, daß die Welt außerhalb des Mormonentales keine Idylle war, daß es Menschen gab, die sich schlimmer als Raubtiere benahmen. Wir ritten Stunde um Stunde durch das verschneite Land. Es wurde Mittag. Eine grelle, kalte Sonne kletterte am Horizont empor. Es wurde Mittag, aber wir sahen noch kein Ziel vor uns. Ich sprach Eagleman nicht darauf an. Er ritt ohne Pause seinen Weg und schien uns vergessen zu haben. Ich hatte keine Lust, wieder ein fruchtloses Palaver mit ihm anzufangen. Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein, und ich spürte instinktiv, daß er uns richtig führte. Aber er schien uns zu grollen. Es schien ihn sehr zu quälen, daß er keinen Whisky mehr hatte und auch keinen mehr von uns erhalten würde. Jacob war mit sich selbst beschäftigt, so daß ihm gar nicht auffiel, daß wir nach Eaglemans Zeitangabe von heute morgen längst hätten am Ziel sein müssen. Wir überquerten einmal einen vereisten Fluß, dessen Namen ich nicht kannte. Ich wußte nur, daß wir uns nicht mehr in Utah, sondern in Wyoming befanden. Die Landschaft wurde hügeliger und unübersichtlicher. Kahle Sträucher ragten aus dem Schnee wie die Skelette einer untergegangenen Welt. Hier und da waren kleine Bauminseln zu sehen. Die Sonne rückte westwärts über den Horizont, und es war irgendwann am Spätnachmittag, als ein Waldstück vor uns auftauchte und wir eine Blockhütte, eingebettet ins Unterholz des Waldrandes, entdeckten. Eagleman zügelte sein Pferd und drehte sich im Sattel um. »Dort Versteck«, sagte er. Er hatte die Richtung inzwischen so verändert, daß wir uns nicht mehr im offenen Land befanden. Eagleman hatte uns im Schutz von Buschgruppen herangeführt, so daß wir sicher sein konnten, vom Haus aus nicht gesehen zu werden, falls sich dort jemand aufhielt. Je mehr wir uns näherten, um so sicherer wurde ich, daß das nicht der Fall war. Die Hütte war leer. Kein Rauch, kein Leben, kein Zeichen dafür, daß Menschen hier waren. Eagleman glitt aus dem Sattel und bedeutete uns, abzuwarten.
Dann verschwand er blitzschnell im Wald. Ich zog meinen SharpsKarabiner aus dem Scabbard und legte ihn quer vor mich in den Sattel. Als ich einen Seitenblick auf Jacob warf, sah ich, daß seine Hände zitterten und er noch blasser war als am Morgen. Ich sagte nichts. Shita saß neben meinem Braunen und hatte die Ohren gespitzt. Die Zunge hing ihm ein Stück auf dem Maul. Seine Haltung verriet gespannte Bereitschaft. Es dauerte vielleicht eine Viertelstunde, dann war Eagleman wieder da. Er blickte uns mürrisch an, als er sich in den Sattel schwang. »Niemand da«, sagte er. Er trieb sein Pferd wieder an. Wir folgten ihm. Jacob wirkte sichtlich erleichtert. Wir ritten, ohne sonderlich auf unsere Deckung zu achten, auf die Hütte zu, führten unsere Pferde um den Bau herum und ließen sie vor einem kleinen Stallanbau stehen. Dann gingen wir zurück zur Vorderseite. Die Tür war unverschlossen. Eagleman stieß sie auf. Wir traten hinter ihm ein. Vor den schmalen Fenstern hingen alte Decken, daher war es dunkel im Raum. Eagleman tastete sich vor und drehte sich unvermittelt um. Er hielt mir eine Kerze entgegen, die er von dem Tisch genommen hatte, der in der Mitte des einzigen Raumes stand. Ich nahm die Kerze, klemmte meinen Karabiner unter den linken Arm und suchte in meinen Taschen nach einem Zündholz. Jacob kam mir zuvor. Er riß ein Zündholz am Türrahmen an und hielt die Flamme an den Docht. Mit der brennenden Kerze schritt ich durch den Raum, tropfte etwas warmes Wachs auf die Tischplatte und setzte die Kerze darauf. Nun stand sie fest. Jacob schloß die Tür. Ein schwacher, aber angenehm warmer Lichtschein erhellte den finsteren Bau. Ich legte meinen Sharps-Karabiner auf die Tischplatte und drehte mich um. Das erste, was ich sah, war zusammengeknülltes, braunes wasserdichtes Papier mit dem Stempel des Pony-Expreß.
9. Ich öffnete meine gefütterte Jacke und warf den Hut auf einen der
staubigen Stühle. Die Hütte war geräumig. An den Wänden standen einfache Holzpritschen, acht Stück, jeweils zwei übereinander. Es gab ein paar Stühle und ein paar Regale. Obwohl sich die Hütte in recht unordentlichem Zustand befand, war an ein paar Speiseresten zu erkennen, daß noch vor kurzer Zeit Menschen hier gewesen waren. Mir genügte das Pony-Expreß-Papier. In dieses braune Papier war die Post gehüllt gewesen, die ich zu transportieren gehabt hatte. Ich bückte mich und hob die zerknüllten Bogen auf. Als ich ein wenig weitersuchte, fand ich die Post. Die Briefe waren alle aufgerissen und dabei teilweise stark beschädigt worden. Vermutlich war es den Kerlen darum gegangen, nachzuschauen, ob sich Wertsachen in den dünnen Kuverts befanden. Dann hatten sie die Briefe hinter eine der Pritschen gesteckt. Ein Wunder, daß sie sie nicht verbrannt hatten. Aber vielleicht hatten sie sie noch lesen und sich auf diese Weise bei ihren Aufenthalten hier die Zeit vertreiben wollen. Wer konnte das schon wissen? Die Gedanken von Banditen wie jenen, die Charly Elton folgten, waren schwer nachzuvollziehen. Ich sammelte die Post ein. Ein paar der Briefe waren fleckig geworden, aber das war egal. Für mich war die Hauptsache, daß ich sie gefunden hatte. Ich packte sie, so gut es ging, wieder in das braune Packpapier und schob sie unter mein Hemd. Als ich aufschaute, stand Eagleman an einem der Fenster und hatte die Decke davor etwas angehoben. Er blickte schweigend hinaus. Jacob stand in der Mitte der Hütte und blickte sich etwas verloren um. Ihm war anzusehen, daß er sich nicht sonderlich wohl fühlte. Er schien auch nicht zu verstehen, daß es Menschen gab, die unter diesen Umständen leben konnten, in dieser dreckigen, zugigen Bude, in gottverlassener Abgeschiedenheit, unter primitivsten Bedingungen. »Es ist kalt«, sagte er plötzlich. Er deutete auf den rostigen Kanonenofen, der in einer Ecke stand. Ein einfaches, vermutlich nicht ganz dichtes Rohr führte hinauf zum Dach. »Können wir nicht Feuer machen?« »Damit jeder, der hier vorbeireitet, genau weiß, daß jemand in der Hütte ist?« sagte ich. »Daran hab ich nicht gedacht«, sagte er. »Aber jetzt ist ja niemand
hier, außer uns.« »Das wird sich hoffentlich ändern«, sagte ich. »Begreifst du nicht, wo du hier bist? Du stehst im Versteck der Kerle, die deinen Vater und deinen Bruder umgebracht haben.« Er nickte, aber er schien doch nicht ganz zu begreifen, was das bedeutete. »Sie können in ein paar Tagen hier auftauchen«, sagte ich. »Vielleicht auch erst in zwei oder drei Wochen. Aber sie können genausogut im Laufe der nächsten Stunde hier aufkreuzen. Dann wirst du dein Gewehr benutzen müssen.« Er antwortete wieder nicht. Statt dessen drehte Eagleman sich plötzlich um. Er blieb am Fenster stehen und musterte mich. Er wirkte irgendwie verändert. Ich nahm an, daß es daran lag, daß er seit Stunden keinen Tropfen Alkohol mehr erhalten hatte. »Ich euch geführt«, sagte er. »Wir jetzt da.« »Du hast uns gut geführt«, sagte ich. »Ich jetzt fertig«, sagte er. »Ich gehe.« »Du hast deine Arbeit getan«, sagte ich. »Du kannst jetzt gehen.« »Ich reite zu Rooster«, sagte er. »Guter Whisky.« »Du mußt wissen, was du tust.« »Dollar für Whisky«, sagte er. Seine Augen glänzten seltsam. »Wir haben doch schon darüber gesprochen«, sagte ich. »Keine Dollars.« Er nickte. »Keine Dollars.« Seine Stimme klang schleppend. Er wandte sich zur Tür und ging mit schweren Schritten darauf zu. Er drückte die Klinke hinunter und war schon fast draußen, als er sich auf der Schwelle noch einmal umdrehte. »Stellt Pferde in Wald, nicht in Stall.« »Klar«, sagte ich. »Wir verraten uns doch nicht selbst.« Er ging und schloß die Tür. Ich setzte mich auf eine der Pritschen und schaute Jacob an. »Ich habe, was ich will«, sagte ich. »Ich könnte auch gehen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann doch nicht allein …« »Es war deine Idee, mitzureiten«, erinnerte ich ihn. »Ich wollte nur die Post, und die habe ich jetzt.« Plötzlich lief er rot an. »Dann hau doch ab.« Seine Stimme zitterte.
»Nimm deine Scheißpost und hau ab. Ich werd mit den Kerlen schon fertig, wenn sie hier aufkreuzen. Ich schaff es allein.« »Tust du nicht.« Ich grinste. »Ich bleibe. Es ist übrigens besser, du bist wütend. Auf dem Weg hierher hast du ausgesehen wie das heulende Elend.« »Ich scheiß mir nicht in die Hose!« schrie er. »Du kannst gehen.« »Das werd ich auch«, sagte ich. »Und zwar die Pferde in den Wald bringen. Wir bleiben in der Hütte, und wenn die Halunken auftauchen, sollen sie nicht gleich wissen, daß jemand ihr Versteck entdeckt hat.« Ich ging zur Tür. Jacob war noch immer wütend, und ich wußte, daß es in Wahrheit seine Unsicherheit war, seine Nervosität. Aber es war besser, er reagierte sich ab, statt sie in sich hineinzufressen. »Ich habe keine Angst!« schrie er mir nach. »Geh doch zum Teufel.« »Ich dachte, Mormonen fluchen nicht«, sagte ich grinsend und ging hinaus. Shita folgte mir. Ich hörte Jacob in der Hütte noch schimpfen und umrundete den Bau. Er war ziemlich alt. Vermutlich war die Hütte vor vielen Jahren von einer Gruppe von Felljägern und Trappern errichtet worden. Eaglemans Schecke war fort. Ich nahm meinen Braunen und Jacobs Tier am Zügel und führte sie tiefer in den Wald. Dabei zerbrach ich mir den Kopf über die Spuren, die in der Schneedecke deutlich sichtbar waren und geradewegs zur Hütte führten. Irgendwie mußten wir sie beseitigen. Sie deuteten sofort darauf hin, daß sich jemand in der Hütte aufhielt, und das würde die Banditen warnen. Außerdem würden wir abwechselnd auf die Jagd gehen müssen. Wir besaßen keinen Proviant und durften auch nicht in der Hütte kochen. Der Rauch hätte uns verraten. Wir würden uns unsere Mahlzeiten irgendwo im Wald zubereiten müssen. Ich hoffte nur, daß wir nicht gezwungen waren, uns lange in der Hütte aufzuhalten. Es würde sonst ein ziemlich tristes und karges Leben sein. Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Shita knurrte. Er war ein Stück vorausgeeilt, stand nun breitbeinig da und starrte auf einen natürlichen Wall aus dichtem Gestrüpp. Ich blieb stehen und ließ die Zügel der Pferde los. Als ich noch
zwei, drei Schritte gegangen war, bemerkte ich einen Schatten hinter dem Gestrüpp. Shita bellte jetzt, und dann trat Eagleman aus der Deckung. Ich war überrascht. Er schaute mich düster an. In der Rechten lag sein Schädelbrecher. »Du bist noch hier?« »Du verdammt viele Dollars«, sagte er. »Rooster will Dollars für Whisky.« »Bist du verrückt?« Ich verstand sofort, was er wollte. Er mußte krank sein vor Gier. Er brauchte seinen Whisky, er war einfach süchtig danach. Ich konnte ihm nicht ausweichen. »Eagleman viel klug«, sagte er. »Du hast Dollars. Dollars für Whisky.« »Du bist ein Idiot!« sagte ich scharf. Er lachte. Plötzlich flog die Faust mit dem Schädelbrecher hoch. Shita schoß mit einem Satz auf Eagleman zu. Da wirbelte der Schädelbrecher schon durch die Luft. Ich ließ mich fallen und rollte durch den Schnee, während ich meinen Revolver unter der Jacke hervorzog. Die schwere Schlagwaffe des Indianers streifte mich an der linken Schulter und prallte hart gegen einen Baum. Eagleman hatte Shitas Angriff abgewehrt und riß sein Messer aus dem Gürtel. Ich hielt meinen Navy Colt in der Faust, als er auf mich losstürmen wollte, und drückte ab. Das Krachen der Detonation hallte durch den Wald. Eagleman blieb wie angewachsen stehen. Da schoß ich noch einmal. Eaglemans Augen wurden groß und rund. Er starrte mich ungläubig an. Das Messer entglitt ihm. Er schaute an sich hinunter. Dann preßte er beide Hände auf den Leib und fiel auf die Knie. In dieser Haltung verharrte er eine Weile. Er atmete keuchend, rasselnd. Ich sah kein Blut an ihm, nur die beiden kleinen Löcher, in seinem wildledernen Umhang. Auf einmal kippte Eagleman nach vorn und fiel aufs Gesicht. Reglos blieb er liegen. Er war tot. * Ich erhob mich. Stinkend hing Pulverdampf in der eisigen Luft. Shita
umrundete Eagleman schnüffelnd und zog sich ziemlich rasch von der Leiche zurück. Ich trat zu dem Toten und drehte ihn auf den Rücken. Seine Augen standen weit offen. Fluchend lud ich meinen Revolver nach und schob ihn unter den Gürtel zurück. Die Leiche mußte weg. Zurück zur Hütte konnte ich sie nicht schleppen. Ein Loch in die gefrorene Erde zu graben war zu mühsam und zeitraubend. Schritte ertönten hinter mir. Atemlos tauchte Jacob auf. Er warf einen Blick auf mich und dann auf die Leiche. Fassungslos blieb er stehen und schien etwas sagen zu wollen. Schließlich stammelte er: »Du – du hast ihn …« »Er wollte mich umbringen«, sagte ich. »Er wollte mich bestehlen, um sich Whisky kaufen zu können.« »Er ist tot?« »Was sonst?« Ich bückte mich und faßte den Toten unter den Achseln. »Los, nimm die Beine. Wir tragen ihn ins Gestrüpp und decken ihn mit Schnee zu.« Jacob folgte meiner Anweisung wie in Trance. »Er ist noch warm«, sagte er, als wir ihn ablegten und mit bloßen Händen Schnee über ihn häuften. Sollte es Wölfe in der Nähe geben, würde das nicht viel nutzen. »So werden die Mörder deines Vaters und deines Bruders aussehen, wenn du sie erschossen hast«, sagte ich. Da schwieg er, und ich zweifelte in diesem Moment mehr denn je, daß er fähig sein würde, seinen Finger um den Abzug zu krümmen, wenn der entscheidende Moment da war. Später trottete er neben mir her, als ich ein Versteck für die Pferde suchte. Er sprach kein Wort dabei, als wir die Tiere – auch Eaglemans Schecke war dabei – an einer windgeschützten Stelle tief im Unterholz anhobbelten und das Versteck dann mit Reisig tarnten. Er schwieg auch auf dem Rückweg zur Hütte. »Kommst du mit auf die Jagd?« fragte ich, als ich meinen SharpsKarabiner nahm. »Nein«, sagte er. »Dann setz dich an eins der Fenster und schlaf nicht ein. Laß dich nicht überrumpeln. Wenn ich zurückkehre, geb ich dir ein Zeichen.«
Er nickte nur. Ich ging mit Shita hinaus. Es wurde jetzt ziemlich schnell dunkel. Ich mußte mich beeilen und hatte wenig Hoffnung, jetzt noch Jagdglück zu haben. Aber ich verspürte Hunger, und Jacob ging es vermutlich genauso, auch wenn er nichts davon sagte. Ich dachte darüber nach, daß es vielleicht ein Fehler war, hier zu warten. Was gingen mich Jacobs Rachegefühle an? Andererseits fühlte ich mich auf eine nicht erklärbare Weise mit ihm verbunden. Vielleicht war ich ein gefühlsduseliger Idiot, aber ich brachte es einfach nicht fertig, ihn jetzt allein zu lassen. Wenn ich das tat, war er zweifellos verloren. Selbst wenn die Banditen wider Erwarten ihr Versteck zunächst einmal nicht aufsuchten, war Jacob ein toter Mann. Er war nicht in der Lage, in der Wildnis allein zu überleben, und ich bezweifelte auch, daß er den Weg zurück nach Haus finden würde. Für einige Zeit schob ich die Gedanken an Jacob und die Banditen zur Seite und konzentrierte mich auf die Jagd. Ich verließ mich auf meinen Instinkt. Das ständige Leben in der Wildnis und der immerwährende Kampf ums Überleben hatten meine Sinne geschärft. Ich wußte, wo sich zu diesen Zeiten Wild zu verkriechen pflegte, und es dauerte tatsächlich nicht lange, bis ich Spuren von Wildtieren fand, denen ich folgte. Sie führten zu einem Wasserloch, das erstaunlicherweise nicht zugefroren war. Nur an den Rändern hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet. Ich prüfte die Windrichtung und zog mich dann ins Unterholz zurück. Hier legte ich mich auf die Lauer, bereit, notfalls einige Stunden bewegungslos in der Kälte zu verbringen. Shita streckte sich neben mir aus. Sein Fell war dicht und fest und schien ihn selbst bei der bittersten Kälte noch nicht frieren zu lassen. Die Dämmerung verdichtete sich. Ich wartete geduldig. Die majestätische Ruhe des weiten Landes und des Winters umgab mich. Obwohl ich mich nur auf die Jagd hatte konzentrieren wollen, drängten sich andere Gedanken in meinen Kopf. Was würde geschehen, wenn die Banditen in diesem Moment zurückkehrten und Jacob allein in der Hütte antrafen? Was aber würde geschehen, wenn sie zunächst Roosters Handelsposten ansteuerten? Rooster würde mit Sicherheit nicht schweigen. Er würde ihnen erzählen, was
vorgefallen war, und sie würden wissen, daß wir auf sie warteten. Vielleicht war es eine Schnapsidee, ausgerechnet im Versteck der Killer auf sie zu warten. Das Auftauchen eines Präriehasen vertrieb die finsteren Gedanken. Ich wagte kaum zu atmen. Shita hatte den Kopf gehoben und die Ohren gespitzt. Er rührte sich nicht und verursachte kein Geräusch. Der Hase hüpfte zum Wasser, baute Männchen und schaute in alle Richtungen. Dann wandte er sich dem Wasserloch zu. Wenig später folgten weitere Hasen, drei, vier, fünf und mehr. Ich überlegte. Ich war etwa dreißig Yards vom Wässerigen entfernt. Die Sicht war nicht mehr gut. Wenn ich jedoch mit dem Gewehr schoß, konnte ich nur einen Hasen erwischen. Bevor ich nachgeladen hatte, waren die anderen alle verschwunden und würden heute nicht mehr zurückkehren. Mit dem Revolver brauchte ich viel Glück, um bei diesem Licht zu treffen. Ich hatte aber die Chance, mindestens zwei Tiere zu schießen. Ich legte den Karabiner in den Schnee und zog geräuschlos den Revolver unter der Jacke hervor. Schwer lag die Waffe in meiner Faust. Ich drückte den Abzug durch und zog dann langsam den Hammer zurück, so daß er nicht einrasten und kein verräterisches Klicken verursachen konnte. Ruhig atmete ich durch, und dann ließ ich den Hammer los. Er flog nach vorn. Der Schuß krachte, und noch während die Waffe in meiner Hand ruckte und der von grauem Pulverdampf umwehte Mündungsblitz aus dem Lauf zuckte, riß ich den Hammer wieder zurück, drückte ab und schoß dann ein drittes Mal. Ich sah beim zweiten Schuß einen Hasen durch die Luft wirbeln, beim dritten Schuß überschlug sich ein zweiter. Von den anderen Tieren war nichts mehr zu sehen. Shita sprang auf, hetzte zum Wasserloch und schleppte mir einen der toten Hasen entgegen, wobei er sich aufführte, als habe er ihn persönlich erwischt. Ich war zufrieden, und wieder meldete sich mit aller Macht der Hunger in meinen Därmen, als ich die beiden Tiere sah. Ich hielt sie an den langen Ohren gefaßt, als ich sie forttrug. Irgendwo im Wald fachte ich ein Feuer an. Es war nun schon
dunkel. Ein paar Sterne blinkten am Himmel neben der schmalen Sichel des Mondes. Aber die Luft war trüb. Das Wetter änderte sich wieder. Es war nicht mehr ganz so kalt wie am Tage. Ich war sicher, daß es bald wieder schneien würde. Ich briet das Fleisch der Hasen sehr sorgfältig, denn es sollte mehrere Tage halten. Dann stillte ich meinen Hunger, packte den Rest des Fleisches in eine der beiden frischen Häute und trat den Heimweg an. Es war schon recht spät in der Nacht, als ich die Hütte wieder erreichte. Alles war still. Offenbar war nichts vorgefallen. Als ich die Tür aufstieß, schreckte Jacob auf seinem Stuhl am Fenster hoch. Er war eingeschlafen. »Es wird schneien«, sagte ich, während ich ihm ein Stück von dem gebratenen Hasenfleisch reichte und meine Decke auf einer Pritsche ausbreitete. Er aß, ohne zu antworten. »Wenn es schneit, sind morgen unsere Spuren nicht mehr zu sehen. Das wäre ein Glück. Dann dürfen wir die Hütte nicht mehr verlassen. Niemand, der nicht Bescheid weiß, wird dann noch vermuten, daß jemand sich in der Hütte aufhält.« Jacob nickte wieder ohne ein Wort zu sagen. »Leg dich zuerst hin«, sagte ich. »Ich nehm die erste Wache.« Er gehorchte, und ich nahm seinen Platz am Fenster ein. Shita streckte sich am Boden aus, legte den Kopf zwischen die Vorderpfoten und schien sofort einzuschlafen. »Ronco.« Jacobs Stimme klang leise von der Pritsche her. Ich hatte zuerst gehört, wie er flüsternd gebetet hatte. »Ja?« »Ich glaube, ich hätte nicht mitreiten sollen. Es war ein Fehler.« »Ach, es war schon richtig, Jacob«, sagte ich. Es hatte keinen Sinn, ihm jetzt noch mehr den Mut zu nehmen. Es war genug auf ihn eingestürzt, an dem er kräftig zu kauen hatte. Er war ohnehin kurz davor, den Mut endgültig zu verlieren. »Nein, es war falsch«, beharrte er. »Du hattest recht. Aber jetzt – jetzt ist es wohl zu spät.« »Zum Umkehren ist es zu spät«, sagte ich. »Aber es ist nie zu spät,
zu versuchen, das Beste aus einer Sache zu machen. Du wirst es schon schaffen, Jacob. Zusammen schaffen wir es.« »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich war ein Idiot.« Ich antwortete nicht, denn ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte. Irgendwann hörte ich seine ruhigen Atemzüge. Er war eingeschlafen.
10. Es begann noch vor dem Morgengrauen zu schneien, wie ich vorausgesagt hatte. Erst fielen die Flocken sacht, dann immer dichter. Schließlich kam Wind auf und jagte den Schnee in dicht geballten Böen vor sich her. Der Wind drang durch die Ritzen der Hütte, und ich legte mir meine Decke um die Schultern, denn ich fror. Aber ich war zufrieden. Wenn es Tag wurde, gab es keine Spuren mehr. Dann war das Land um die Hütte glatt und weiß und ohne Makel. Ich weckte Jacob und legte mich dann zum Schlafen nieder. Es schneite auch noch den ganzen Tag, und erst in der folgenden Nacht ließ der Schneefall nach. Wir taten wenig. Wir lagen auf unseren Pritschen, aßen sparsam von unserem kleinen Fleischvorrat und sprachen. Jacob erzählte von den Mormonen, und ich erzählte von den Apachen. Und wir warteten darauf, daß etwas Entscheidendes geschah. Es geschah nichts. Nicht in der folgenden Nacht, nicht am zweiten Tag. Unser Fleisch ging zu Ende. Wir wurden unruhig. Jacob vor allem. Ich begann daran zu zweifeln, ob die Logik so zwingend war, daß die Banditen, nachdem sie die entführten Frauen an die Indianer verkauft hatten, in ihr Versteck zurückkehren würden. Vielleicht befanden sie sich längst auf einem weiteren Raubzug, vielleicht … Es gab zu viele Zweifel, und von Stunde zu Stunde wurden es mehr. Der Tag ging zu Ende, und ich spielte bereits mit dem Gedanken, die Hütte zu verlassen und die Pferde zu holen. Viel länger konnten wir die Tiere nicht allein und unversorgt in ihrem Versteck stehen lassen.
Es wurde Abend, und wieder begann es zu schneien. Jacob übernahm die erste Wache. Ich streckte mich zum Schlafen aus, und ich hatte wenig Hoffnung, daß noch etwas passieren würde. Ich hatte mich mit Jacob darüber geeinigt, daß wir nur noch einen Tag warten und am nächsten Abend abziehen wollten. Obwohl das für Jacob höchst unbefriedigend sein mußte, hatte er erleichtert zugestimmt. Jetzt saß er an einem der Fenster, hatte die Decke davor leicht angehoben und blickte hinaus. Ich beobachtete ihn eine Weile, bis mich der Schlaf übermannte. Ich erwachte, als Shita leise knurrte. Er war während der Nacht auf meine Pritsche gehüpft und hatte sich neben mich gelegt. Er wärmte mich. Verschlafen blinzelte ich in die Finsternis der Hütte. Meine Glieder waren bleischwer. Ich wandte den Kopf und sah Jacob am Fenster sitzen. Es schien sich seit dem Zeitpunkt, da ich eingeschlafen war, nichts verändert zu haben. Und doch war nicht mehr alles genauso. Es dauerte eine Weile, bis es mir auffiel: Die Decke vor dem Fenster war nicht mehr angehoben. Jacobs Kopf hing nach vorn. Er schlief. Shita knurrte immer noch. Ich streifte meine Decke ab und richtete mich langsam auf. Die bleiernde Müdigkeit wich fast schlagartig aus meinem Körper. Mein Instinkt signalisierte Gefahr. Ich griff nach meinem Revolver, den ich am Kopfende der Pritsche liegen hatte. Als ich mich aufrichtete, glitt Shita fast geräuschlos neben mir von der Pritsche und blieb in angespannter Haltung im Raum stehen. Gleichzeitig hörte ich hinten im Stallanbau Geräusche, dann war das Knirschen von Schnee unter Stiefelsohlen zu hören, und eine rauhe Männerstimme ertönte, die ich sofort erkannte. Ich hatte sie vor der Station der Hemplemans gehört. Es war die Stimme des Dicken mit dem Spitzbart. Ich glitt zum Fenster und stieß Jacob an. Er fuhr erschrocken hoch. Ich preßte die Linke auf seinen Mund und deutete mit dem Revolver zur Tür. Er begriff erstaunlicherweise sofort, was das bedeutete, und fast augenblicklich begannen seine Hände zu zittern. Es war direkt ein Wunder, daß er sein Gewehr nicht fallen ließ. »Reiß dich zusammen«, flüsterte ich. Dann glitt ich hinter die Tür. Mit einer Handbewegung beorderte ich Shita neben mich. Er
gehorchte sofort, und als ich Jacob bedeutete, er solle sich in eine hintere Ecke des Raumes zurückziehen und sein Gewehr bereithalten, beeilte auch er sich, meine Anordnung zu befolgen. Er bewegte sich vorsichtig und verursachte kaum ein Geräusch. Ich preßte mich hart gegen die Hüttenwand und lauschte nach draußen. Ein Mann lachte, und dann sagte jemand etwas davon, daß man jetzt erst einmal eine Pause einlegen solle. Ein anderer stimmte dem zu und sprach davon, daß einer am nächsten Tag zu Roosters Handelsposten reiten müsse, um neuen Proviant zu holen. Auch diese Stimme erkannte ich. Sie gehörte dem Anführer der Killer. Elton. Mormonen-Charly. Meine Muskeln spannten sich. Auch mich hatte eine leichte Erregung erfaßt. Normalerweise war ich eiskalt, wenn Gefahr drohte. Diesmal aber standen vier Männer gegen mich, im Umgang mit Waffen geübt. Ich war allein, Jacob hatte ich schon abgeschrieben. Ich glaubte nicht, daß er es fertigbringen würde, sich jetzt noch zu überwinden. In diesem Moment erreichte der erste Mann die Tür und stieß sie ins Innere. Ein eisiger Hauch drang von draußen herein. »Bringt die Pferde in den Stall«, sagte der Mann. Es war Elton. Er schien sich eine Zigarre anzuzünden. Ich hörte das leise Zischen einer Zündholzflamme, dann roch es nach würzigem Tabak. Ich preßte mich noch enger an die Wand. Keine Armlänge entfernt von mir befand sich Charly Elton, nur durch die Tür getrennt. Er polterte in den Raum und stampfte den Schnee von seinen Stiefeln. Am Tisch blieb er stehen und zündete eine Kerze an. Im selben Moment entdeckte er Jacob, der zwischen zwei Pritschen am Boden hockte und mit seiner alten Kentucky-Rifle genau auf Eltons Bauch zielte. Ich sah Eltons breiten Rücken vor mir. Er trug wieder seinen Topfhut und hatte ihn weit in den Nacken geschoben. Hinter ihm trat ein weiterer Mann ein. Ich konnte ihn nur schemenhaft erkennen, war aber sicher, daß es der Dicke mit dem Spitzbart war. Die beiden anderen waren offenbar noch draußen mit den Pferden beschäftigt. Shita verhielt sich mustergültig. Er gab keinen Laut von sich. Ich hob langsam meinen Colt und war bereit, den Männern in den
Rücken zu schießen, wenn es sein mußte, so schwer mir das auch fiel. Elton ließ das brennende Zündholz fallen. Es erlosch am Boden. Dann löste sich seine Erstarrung. »Wen haben wir denn da?« Er beugte sich vor, nahm seinen Topfhut ab und legte ihn auf den Tisch. Jacob antwortete nicht. Er zielte lediglich weiter auf den Mann. Ich konnte im Lichtschein sein bleiches Gesicht sehen. »Wer bist du, Junge?« fragte Elton. »Den haben wir schon mal gesehen«, sagte der Dicke hinter ihm. »He, das ist einer von den verdammten Mormonen. Das ist der Junge, der uns davongelaufen ist.« »Richtig«, sagte Elton. Er sagte es, als sei Jacob ein guter alter Bekannter. »Nett, daß du uns besuchst. Wir haben uns lange überlegt, wie wir dich noch kriegen.« »Sie – Sie haben meinen Vater umgebracht«, sagte Jacob. Seine Stimme zitterte etwas. »Und meinen Bruder. Was haben Sie mit meiner Mutter und den beiden anderen Frauen meines Vaters getan? Wo sind sie?« »Gut aufgehoben«, sagte Elton. »Wie hast du uns gefunden?« »Sie – Sie sind – ein Mörder«, preßte Jacob heraus. Meine Faust schloß sich noch fester um den Griff des Revolvers. Gleich würde Jacob die Nerven verlieren, dann mußte ich abdrücken, gleich … »Ich hab deinen Vater umgebracht«, sagte Elton, »weil er ein gottverdammter Mormone war. Du bist auch einer, und du bist dazu noch ein verfluchter Schnüffler und beleidigst mich. Deshalb werde ich dich jetzt auch umbringen.« »Er hat ein Gewehr, Elton«, sagte der Spitzbart. Elton lachte und griff zum Colt. Ich spannte geräuschlos den Hammer meines Revolvers. In diesem Moment erfüllte eine dröhnende Detonation die Hütte. Für einen Moment konnte ich Jacob nicht mehr sehen. Ein feuriger Blitz blendete mich. Er zuckte aus der großen Mündung von Jacobs Kentucky-Rifle. Eltons Lachen brach jäh ab. Er torkelte wie von einem Huftritt getroffen nach hinten und stieß gegen den Dicken. Dann beugte er
sich vor. Die Zigarre rutschte ihm aus dem Mund. Mit dem Kopf voran stürzte er gegen die Tischkante und krachte zu Boden. Wimmernd wälzte er sich über die Dielen und blieb schließlich auf dem Rücken liegen. Jacob hockte wie angewurzelt und fassungslos über das, was er getan hatte, in seiner Ecke, während der dicke Bandit mit dem Spitzbart seinen Revolver aus der Halfter zog. Jetzt handelte ich, selbst einen Moment überrascht und wie gelähmt wegen Jacobs unerwarteter Reaktion. Ich warf mich gegen die Tür, denn von draußen hörte ich die beiden anderen Banditen, die der Schuß alarmiert hatte, durch den Schnee hasten. Die Tür schwang wuchtig herum und knallte ins Schloß. Vorher aber streifte sie den linken Ellenbogen des Dicken, der schmerzerfüllt aufjaulte und sich herumwarf. Shita sprang ihn an, aber noch bevor der Hund den Mann erreichte, hatte ich meinen Revolver gehoben. Der Dicke hatte seine Waffe gerade gezogen, als ich abdrückte und ihm eine Kugel seitlich durch den Kopf schoß. Er brach auf der Stelle zusammen und stürzte über den toten Elton. Ich verharrte nur einen Sekundenbruchteil, in dem ich auf den dicken Mann am Boden starrte, dann sprang ich mit einem Satz über die Leichen weg. Für Gewissensbisse blieb keine Zeit. »Lad dein Gewehr nach!« zischte ich Jacob an und blies das Licht der Kerze aus. Mit einem Schlag wurde es stockfinster im Raum. Ich begab mich sofort an eins der Fenster. Als ich die Decke davor leicht anlüftete, sah ich draußen zwei Schatten durch den Schnee huschen. Ich zögerte nicht und feuerte sofort. Noch bevor die Detonationen in der kalten Nacht verhallt waren, spürte ich Jacob neben mir. Sein Atem ging heftig. Er flüsterte vor sich hin, nur für sich selbst, aber ich hörte es. »Ich habe ihn getötet«, sagte Jacob leise. »Ich habe ihn umgebracht.« Ich unterbrach sein Selbstgespräch nicht. Jetzt kam es darauf an, ob er das Erlebnis verkraftete oder daran zerbrach. Er hatte einen Menschen getötet, und damit mußte er allein fertigwerden. Ich schob den Revolverlauf über die untere Kante des Fensters.
Als ich abdrückte, hörte ich draußen einen erstickten Schrei. »Elton!« brüllte ein Mann. »Was ist los da drinnen, zum Teufel?« Ich schoß wieder und schrie zurück: »Elton ist tot, der verdammte Spitzbart auch. Und jetzt seid ihr dran!« Ein Fluch ertönte, dann wurde es still. Ich benutzte die Pause, um die leergeschossenen Kammern meines Revolvers nachzuladen. Jacob hockte neben mir und blickte starr in die Nacht hinaus. Er hatte seine Kentucky-Rifle mit beiden Fäusten umklammert. Als ich mit dem Nachladen fertig war, hörte ich plötzlich Pferdegeräusche. Dann sah ich weit entfernt von der Hütte zwei Reiter ostwärts in die Nacht verschwinden. Ich ließ den Revolver sinken und stieß Jacob von der Seite an. »Wir haben es geschafft«, sagte ich. »Es ist vorbei. Und du hast gekriegt, was du willst.« Er schaute mich an, als sähe er mich zum erstenmal. Dann nickte er unsicher. »Ja«, sagte er. »Ich habe ihn getötet.« Er drehte sich langsam um und blickte auf die beiden Leichen. Plötzlich würgte er, und dann übergab er sich. Aber das war für ihn ganz normal. Und als er mich danach wieder anschaute, wirkte er nicht mehr verstört, nur noch etwas unsicher und nervös. Da wußte ich, daß er es geschafft hatte.
11. Die Spur führte nordwärts. Wir folgten ihr seit dem Morgen. Den Rest der Nacht hatten wir verschlafen, während nicht weit von unseren Pritschen die beiden toten Banditen gelegen hatten. Shita hatte gewacht. Am Morgen hatte ich die Pferde geholt. Jetzt waren wir seit Stunden unterwegs. Es wurde Mittag. Wir ritten auf der Fährte der Banditen zurück. Wir hofften, auf diese Weise die entführten Frauen zu finden. Jacob war wie verändert. Die wenigen Stunden Schlaf hatten genügt, seine überreizten Nerven zu beruhigen. Nach dem Erwachen war er sicherer aufgetreten und hatte sich sichtlich freier gefühlt. Der Kampf in der Nacht war eine Bewährungsprobe gewesen. Er hatte sie
bestanden und verkraftet. Wir sprachen nicht weiter darüber. Ich war jedoch jetzt sicher, daß ich mich auf Jacob verlassen konnte, wenn es kritisch wurde. Er würde jetzt nicht mehr so leicht die Nerven verlieren. Unterwegs war es mir gelungen, ein Schneehuhn zu schießen. Es baumelte an meinem Sattelhorn. Als die eisige Sonne den höchsten Stand erreicht hatte, hielten wir im Schatten einer kahlen Baumgruppe an, um zu rasten und unseren Hunger zu stillen. Während Jacob das Huhn rupfte, suchte ich nach Reisig und fachte ein Feuer an. Wir tauten wieder Schnee in Jacobs Topf über dem Feuer auf und tranken das warme Wasser. Zur Not genügte es, aber ich sehnte mich nach einem heißen Schluck Kaffee. »Sollten wir nicht Verstärkung holen, wenn wir wissen, wo die Frauen stecken?« fragte Jacob, während er mit Heißhunger eine Hühnerkeule verspeiste. »Die Armee wird die Frauen doch sicher 'rausholen.« »Die Armee wird den Teufel tun«, sagte ich. »Die fangen nicht zu dieser Zeit wegen ein paar Frauen einen neuen Krieg mit den Cheyennes an. Wir werden nicht solange warten. Wir holen sie selbst 'raus. Aber darüber können wir reden, wenn wir die Frauen gefunden haben.« »Allein?« Jacob blickte mich ungläubig an. »Wir zwei …« »Vermutlich handelt es sich um das Winterlager eines Stammes, in das Elton die Frauen gebracht hat«, sagte ich. »Winterlager sind selten groß, weil es während der Wintermonate schwer ist, Nahrung zu beschaffen. Deshalb werden im Herbst Vorratslager angelegt, die aber nur für kleinere Stammesgruppen ausreichen. So ein Winterlager darf deshalb nicht zu groß sein, sonst sind die Vorräte zu schnell aufgebraucht, und dann wird wochenlang gehungert.« »Trotzdem«, sagte Jacob. »Wir sind nur zwei, und wie sollen wir die Frauen fortschaffen? Die Indianer werden uns verfolgen.« »Kaum«, sagte ich. »Und wenn, dann nicht weit. Nicht bei diesem Wetter. Die Krieger sind darauf eingestellt, sich während der Wintermonate auf die faule Haut zu legen. Sie ändern ihre Gewohnheiten ungern. Außerdem müßten sie Vorräte mit sich führen, Vorräte, die im Lager gebraucht werden. Zerbrich dir nicht
den Kopf darüber. Überlaß das alles mir.« Jacob blickte mich zweifelnd an. Er war nicht überzeugt, aber er sagte nichts mehr. Wir blieben noch gut eine halbe Stunde sitzen und wärmten uns auf. Dann löschten wir das Feuer und bestiegen wieder unsere Pferde. Shita trottete voraus, als wir weiter nordwärts auf das Bergland zuritten. Ich dachte nicht mehr an die Banditen und an die beiden Toten, die wir in der Hütte liegengelassen hatten. Irgendwann würde sie vielleicht jemand finden. Dann waren höchstens noch die Knochen übrig. Meine Gedanken waren bereits bei den verschleppten Frauen. In Wirklichkeit würde es nicht so einfach sein, sie zu befreien, wie ich es Jacob vorgespielt hatte. Ich fragte mich, ob wir überhaupt eine Chance hatten. Versuchen mußten wir es. Was aber, wenn Charly Elton und seine Banditen die Frauen nicht alle zu ein und demselben Stamm gebracht hatten? Möglich war alles. Die Fährte, der wir folgten, führte uns in jedem Fall zu den Indianern, bei denen sich die Frauen aufhielten, die Elton zuletzt aus dem Tal am Fuß der Wahsatch-Mountains entführt hatte. Aber ob sich dort auch Mrs. Hempleman und ihre Tochter Eliza aufhielten? Ich hoffte es, und die Vermutung lag nahe, denn immerhin hatte der tote Eagleman das silberne Kreuz Elizas bei sich gehabt und mich damit erst auf die Spur gebracht. Ich hatte das Kreuz dem Toten abgenommen und trug es jetzt in meiner rechten Hosentasche. Es bedeutete, daß Eagleman zu dem Stamm gehört hatte, der die Frauen aufgenommen hatte, und das bedeutete auch, daß es ein Stamm war, der zu Pferde in kurzer Zeit zu erreichen war. Die Tage waren kurz. Die Dämmerung sank bereits über das Land. Wir ritten weiter, bis es Nacht wurde, und schlugen schließlich am Fuß eines Hügels ein Lager auf. Ich war zufrieden mit mir, denn ich hatte erreicht, was ich wollte, ich hatte die Post, die mir gestohlen worden war, wieder. Alles, was nun folgte, tat ich aus freiem Antrieb. Ich fühlte mich nicht dazu gezwungen. Ich dachte an die entführten Frauen, denen es zu helfen galt. Wie mein Leben danach aussehen sollte, das war ein Problem, über das ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht den Kopf zerbrach.
* Der Himmel hatte sich am Vormittag eingetrübt. Der Wind war schärfer geworden. Jetzt war es Mittag, und eine graue Wolkendecke hing über dem Land. Aus den Öffnungen an den Spitzen der Zelte stieg der Rauch von Feuern. Der Wind erfaßte und zerfetzte ihn und trieb ihn westwärts über das Zeltdorf, das am Ufer eines schmalen Flusses lag, dessen Eisdecke an mehreren Stellen aufgeschlagen worden war. Wir standen hinter einer kahlen, schneebedeckten Buschinsel, die aber noch genug Schutz bot, so daß wir vom Dorf aus nicht gesehen werden konnten. Die Fährte der Banditen war nur noch schwach zu sehen. Sie führte unterhalb des Hügels, auf dem wir uns befanden, zu dem vereisten Fluß und verlor sich auf der anderen Seite zwischen den Zelten des Cheyennecamps. Wir waren am Ziel. Zwei Squaws tauchten zwischen den Zelten auf. Sie trugen trotz der Kälte dünne Wildlederkleider mit Fransen an den Säumen und hatten ihr langes Haar zu Zöpfen geflochten. Sie waren ziemlich breit und stämmig, wie die meisten Indianerinnen es mit den Jahren wurden, geprägt von dem harten, entbehrungsreichen Leben, das viel Kraft von ihnen verlangte. Sie trugen Ledereimer und gingen damit zum Fluß hinunter, zu einem der Löcher in der Eisdecke. Hier füllten sie die Eimer auf und kehrten zurück ins Dorf. Sie verschwanden in einem Zelt. Danach blieb es wieder still zwischen den Wigwams. Meine Blicke schweiften über das Lager. Am Nordrand entdeckte ich zwischen zwei Hügeln die Pferde der Krieger. Es mochten vierzig sein, vielleicht auch mehr. Sie standen dicht beieinander in einem Seilkorral. Ihr Standort war ungünstig, denn ich hatte einen Plan, um die Frauen aus dem Dorf zu holen, der eine Menge mit den Pferden zu tun hatte. Es wäre besser gewesen, wenn sie nahe beim Fluß gestanden hätten. Aber das war schließlich nicht das einzige Problem. Daß die verschleppten Frauen hier sein mußten, bewies die Fährte
der Banditen, der wir bis hierher gefolgt waren. Aber es gab kein Zeichen dafür, wo sie festgehalten wurden. Dreißig Zelte standen am Fluß, eines sah aus wie das andere. In der Mitte befand sich ein offenes Rund mit einem Totempfahl und zwei kalten Feuerstellen. Lediglich am Rand davon stand ein Zelt, das die anderen etwas überragte. Davor stak eine Lanze im Schnee, an der ein Skalpzopf hing. Das mußte das Häuptlingszelt sein. Als ich Jacob anschaute, bemerkte ich seinen verzweifelten Blick. Ratlos starrte er auf das Lager hinunter und wandte sich dann an mich. »Wenn sie hier sind«, sagte er, »mein Gott, wie kriegen wir das heraus, und wie kriegen wir heraus, in welchem Zelt sie stecken?« »Nichts einfacher als das«, sagte ich. »Wir gehen von Zelt zu Zelt, klopfen an und fragen.« Einen Moment lang musterte er mich skeptisch und schien nicht recht zu wissen, ob ich es ernst meinte. Der eisige Wind strich über den Hügel, und wir zogen frierend die Schultern hoch. Es roch geradezu nach einem Unwetter. Wir hatten nicht viel Zeit, und das erschwerte alles zusätzlich. »Wenn einzelne Krieger schon Besitzerrechte auf sie angemeldet haben«, sagte ich, »kriegen wir sie nicht 'raus, dann sind sie nämlich schon verteilt, und jede befindet sich in einem anderen Zelt und ist nicht allein. Aber das glaube ich nicht. Es wäre unwahrscheinlich. Dafür sind sie noch nicht lange genug bei dem Stamm. Normalerweise ist es so, daß sie zunächst geprüft werden, wie sie sich anstellen, wie sie mit dem Leben hier zurechtkommen. Stellt sich heraus, daß eine Frau zu schwach oder zu widerspenstig ist und keine Chance besteht, sie zu ändern, holt kein Krieger sie sich als Squaw in sein Zelt. Dann bleibt sie ewig ein Arbeitstier, eine Art Sklavin, die die widerlichsten Arbeiten tun muß und ziemlich früh zugrunde geht. Ich nehme also an, daß sie zunächst wie normale Gefangene behandelt werden, die nach und nach zu einigen Arbeiten herangezogen und beobachtet werden. So lange werden sie in einem Zelt zusammen wohnen und gefesselt sein.« »Gefesselt?« »Wenn nicht, würde das Zelt, in dem sie sich befinden, bewacht«,
sagte ich. »Dann wäre es für uns leicht, herauszufinden, wo sie stecken. Da sie nicht bewacht werden, ist auf andere Weise dafür gesorgt worden, daß sie nicht davonlaufen können. Also sind sie gefesselt.« Ich blickte wieder auf das Dorf hinunter, und mich durchzuckte plötzlich eine Idee. »Wenn sie gefesselt sind«, sagte ich fast mehr zu mir selbst als zu Jacob, »wenn sie nicht bewacht werden, dann muß das Zelt von außen verschlossen sein.« »Wie wird ein Zelt verschlossen?« fragte Jacob. »Mit Lederschnüren. Sonst würde es bei starkem Wind ganz schön durch die gute Stube ziehen. Aber die Schnüre sind innen verknotet, wenn sie außen verknotet sind …« »Dann kann es nicht von innen gemacht worden sein. Dann ist das Zelt von außen verschlossen worden, weil jemand darin eingesperrt ist«, fuhr Jacob aufgeregt fort. Eine jäh aufheulende Windböübertönte ihn beinahe. »Richtig«, sagte ich. Ich trat frierend von einem Bein aufs andere. »Wir warten bis zum Abend.« »Aber das Wetter …« Jacob blickte zum Himmel, der sich mehr und mehr verfärbte. Der Wind nahm an Stärke und Heftigkeit zu. »Vielleicht hilft uns das«, sagte ich. »Die Cheyennes werden sich in ihre warmen Zelte verkriechen, wenn draußen ein Unwetter tobt. So läuft uns niemand in die Quere.« Jacob nickte nur. Er hatte sich gefütterte Pelzhandschuhe angezogen und umklammerte den Lauf seiner Kentucky-Rifle. Ich zog meinen Hut tiefer in die Stirn und dachte, daß sich das alles einfacher anhörte, als es war: bei Dunkelheit und womöglich während eines heftigen Sturms ein bestimmtes Zelt zu finden, ohne selbst entdeckt zu werden, schließlich die gefangenen Frauen zu befreien und mit ihnen unbemerkt zu flüchten … Ich dachte lieber nicht weiter. »Pferde sind ja auch genug da«, hörte ich Jacob sagen. Er vertraute mir offenbar grenzenlos. Er hatte keine Ahnung, was uns bevorstand. So, wie ich alles dargestellt hatte, klang es einfach und kinderleicht. »In ein paar Tagen können wir wieder zu Hause sein.«
»Du«, sagte ich. »Du bist zu Hause. Ich nicht. Aber du hast recht, Pferde sind genug da.« Er verstand die Ironie in meinen letzten Worten nicht und nickte nur verwirrt, während ich den Hügel verließ, um bei den Pferden und Shita auf den Abend zu warten. * Der Sturm peitschte den Schnee in Böen über das Zeltdorf. Die Luft war erfüllt vom Orgeln, Dröhnen und Heulen des Unwetters. Tiefe Finsternis hing über dem Tal am Fluß. Unruhig schnaubten die Indianerpferde am Seilkorral. Jacob und ich liefen den Hügel zum Fluß hinunter. Shita eilte neben uns her. Wir verhielten einen Moment am Ufer und schauten zu den Zelten hinüber. Kein Mensch war zu entdecken. Wir hatten uns darauf geeinigt, uns nur mit Zeichen zu verständigen. Als ich auf das Eis hinauslief, folgte Jacob mir, ohne zu zögern. Shita sprang vor uns her und erreichte noch vor uns das Zeltdorf. Der Wind packte nach uns mit tausend Fäusten, er schien uns über den Fluß zurückjagen zu wollen. Wir stemmten uns gegen ihn, bis wir uns zwischen den Zelten befanden und ein wenig geschützt waren. Ich bedeutete Jacob mit beiden Händen, er solle die linke Seite des Dorfes untersuchen. Er verstand sofort und lief los, während ich mit Shita zwischen den Zeltreihen auf der rechten Seite hindurcheilte. Das Unwetter schwoll mehr und mehr an. Der Schnee zwischen den Zelten war hartgefroren und glatt, und ich mußte aufpassen, von den heftigen Böen nicht aus dem Gleichgewicht und ins Rutschen gebracht zu werden und womöglich gegen eins der Zelte zu stürzen. Das Risiko, das Jacob und ich eingingen, versuchte ich möglichst zu ignorieren. Aber ich dachte doch immer wieder daran. Wenn jetzt eins der Zelte geöffnet wurde und ein Krieger heraustrat, war alles aus. Es war zweifelhaft, ob wir dann überhaupt noch die Chance hatten, über den Fluß zu gelangen und unsere Pferde zu erreichen. Vor jedem Zelt blieb ich stehen, während der Sturm an mir zerrte. Es war so dunkel, daß ich mich jedesmal tief über den Eingang
bücken mußte, um die Verschnürung zu kontrollieren. Die Zeit schien stehenzubleiben. Ich hatte das Gefühl, keinen Yard voranzugelangen. Schon nach dem vierten Zelt glaubte ich, mich im Kreis zu bewegen und immer dasselbe Zelt zu überprüfen. Stunden schienen zu verstreichen. Der Sturm raubte mir den Atem. Meine Augen brannten in der eisigen Kälte. Als plötzlich jemand an meiner Schulter zerrte, fuhr ich herum und langte gleichzeitig nach meinem Revolver. Jacob stand hinter mir. Er fuchtelte wie wild mit den Armen. Ich verstand nicht sofort, was er wollte, aber ich folgte ihm. Er führte mich durch das halbe Dorf und blieb darin vor einem Zelt stehen. Mit der Rechten deutete er auf die Verschnürung. Sie befand sich außen. Jetzt zögerte ich. Das war das Zelt, nach dem wir gesucht hatten. Aber stimmte meine Theorie? Mußten sich die entführten Frauen unbedingt in diesem Zelt befinden? Neben mir gestikulierte Jacob wie verrückt mit Händen und Füßen und schien nicht zu begreifen, warum ich noch zögerte. Er war ganz sicher, daß meine Annahme stimmte. Er hegte nicht den geringsten Zweifel. Warum also ich? Ich beugte mich jäh vor, zog mein Messer und zerschnitt die Verschnürung. Sofort zerrte der Wind die Zeltpläne hoch. Ich ging in die Knie und schob mich halb ins Innere. Hier war es warm und trocken. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann sah ich schemenhaft mehrere Körper in Decken gerollt am Boden liegen. Es waren keine Krieger, soviel war klar. Und im Toben des Unwetters hörte ich plötzlich eine leise Stimme sagen: »Wer ist da?« »Keine Angst«, sagte ich, »Wir sind hier, um zu helfen.« Ich kroch ganz in das Zelt und riß ein Zündholz an. Im Licht des flackernden Flämmchens sah ich drei Frauen. Zwei davon kannte ich nicht, die dritte war sehr jung, und sie kannte ich. Es war Eliza Hempleman. Aus verweinten, geröteten Augen blickte sie mich an. Sie waren gefesselt und konnten sich selbst nicht rühren. Ich schnitt die Lederriemen durch, gerade als Jacob seinen Kopf in das Zelt steckte und sich vor Freude kaum halten konnte, als er unter den
Frauen seine Mutter erkannte. »Wo sind die anderen?« fragte ich Eliza. »Wo ist deine Mutter?« Sie machte eine hilflose Handbewegung. »Mutter ist tot«, sagte sie. »Sie ist schon unterwegs gestorben. Die anderen sind im Zelt nebenan.« Wir verließen das Zelt und holten auch die anderen vier Frauen. Jacob erledigte das, denn es waren alles Frauen aus seinem Tal, und darunter waren auch die beiden anderen Frauen seines Vaters. Dann huschten wir durch den Sturm zum Nordrand des Dorfes, wo die Pferde standen. Ich hatte keine Ahnung, ob die Frauen mit den Indianerponies fertigwerden würden, aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Sie würden es einfach müssen. Es war ihre einzige Chance. Als wir den Seilkorral erreichten, begann es unvermittelt und heftig zu schneien. Die Sicht wurde schlagartig schlecht. Der Sturm hüllte das Zeltdorf mit dichten Schneeschleiern ein. Die Pferde scheuten zurück, als wir in den Korral eindrangen. Es waren durchwegs kurzbeinige, stämmige Tiere mit langen Mähnen. Sie trugen alle leichte Hanfhalfter. »Hierher!« brüllte ich gegen den Sturm los. »Los, hierher!« Ich hielt zwei Tiere am Zügel gepackt, und Jacob half seiner Mutter und einer anderen Frau beim Aufsteigen. Die Tiere bockten ein wenig, aber die Frauen fanden sich überraschend gut mit ihnen zurecht. Schon stiegen die nächsten beiden auf, und nach ihnen die anderen. Am Schluß half ich Eliza auf eins der Pferde. Da hörte ich Shita bellen. Sein Bellen übertönte das Heulen des Wetters. Ich drehte mich um und sah im Schneegestöber einen Indianer. Es war ein hochgewachsener Krieger, der in einen Fellumhang gehüllt war. Zusätzlich hatte er sich eine Decke über Kopf und Schultern geworfen. In den Fäusten hielt er ein langläufiges Gewehr. Also hatte es doch einen Wachtposten gegeben. Wir hatten ihn in der Dunkelheit und während des Sturms nur nicht bemerkt. Sekundenlang standen wir uns wie gelähmt gegenüber. Dann riß er sein Gewehr hoch und legte es auf mich an. Ich griff zum Colt, aber Shita sprang wie ein Geschoß vom Boden hoch und prallte gegen die Brust des Cheyennes.
Der Krieger geriet ins Taumeln. Der Gewehrlauf schwenkte hoch. Ich warf mich nach vorn. Der Mann schüttelte Shita ab, aber der Hund knurrte wie ein Wolf und sprang wieder an dem Krieger hoch. Diesmal warf er ihn um. Ich hob meinen Colt und schlug zu, bevor der Cheyenne sich wehren konnte. Der Revolverlauf traf den Mann quer über die Stirn. Der Krieger sackte zurück und blieb reglos liegen. Shita ließ sofort von ihm ab. Ich drehte mich um und schwang mich hinter Eliza auf das ungesattelte Pferd. Jacob war hinter seiner Mutter aufgestiegen. Wir trieben die Pferde quer durch das Dorf. Der Sturm schleuderte den Schnee schaufelweise gegen uns. Wir konnten kaum noch etwas sehen, aber wir ritten weiter, denn es ging um unser Leben. Wir überquerten den Fluß und jagten den Hügel hinauf, hinter dem unsere Pferde standen. Hier stiegen Jacob und ich um, dann übernahm. ich die Führung. Jacob ritt am Schluß. Vermutlich war der Wachtposten inzwischen wieder zu sich gekommen, vermutlich hatte er Alarm geschlagen. Aber ich hoffte, daß wir es schaffen würden. Wir hatten einen guten Vorsprung, der Sturm und die Dunkelheit würden uns helfen, und der Schnee würde unsere Spuren zudecken. Ich versuchte, mich zu orientieren. Irgendwie gelang es mir, und dann ritten wir südwestwärts durch das Unwetter, zurück zum Tal der Mormonen.
12. Im gleißenden Licht der Wintersonne lag die Silhouette von Salt Lake City vor mir, umgeben von schneebedeckten Bergen, im Nordwesten begrenzt von dem gewaltigen Salzsee. Ich zügelte mein Pferd und lehnte mich im Sattel zurück. Ich konnte selbst kaum glauben, daß ich nur wenige Tage zuvor noch in Lebensgefahr gewesen war und Kopf und Kragen riskiert hatte. Um mich herum war das weite, einsame Land, und vor mir lag die Zivilisation. Ich war aus der Wildnis zurückgekehrt.
Im Tal am Fuß der Wahsatch-Mountains war bei der Rückkehr von Jacob und den verloren geglaubten Frauen ein Freudenfest mit vielen Dankgebeten gefeiert worden. Ich war am selben Tag noch weitergeritten und hatte mich nicht mal richtig von Jacob verabschieden können. Aber ich hatte Eliza Hempleman zurückbringen wollen. Als ich mich jetzt umschaute, blickte sie mich an. Sie hatte ihr Pferd nur wenige Yards hinter mir gezügelt. Sie war blaß. Ihre Augen glänzten feucht. Ich wußte, sie dachte an ihre Mutter und ihren toten Vater. »Es ist vorbei, Eliza«, sagte ich. »Hier wohnen deine Brüder, und du wirst irgendwo ein neues Zuhause finden.« »Dort drüben liegt die Farm meines Bruders Jonas«, sagte sie. Sie zeigte auf ein kleines Anwesen, fast eine halbe Meile von der Straße entfernt. Sie sagte es nicht, als ob sie sich freuen würde. »Dann ist es besser, wir trennen uns.« Ich dachte an meine letzte Begegnung mit Jonas Hempleman und hatte kein Verlangen, ihn wiederzusehen. »Ich muß in die Stadt, und danach reite ich weiter.« »Wohin?« »Keine Ahnung. Irgendwohin.« »Hast du kein Zuhause?« »Nein.« »Das ist schlimm«, sagte sie leise. »Man kann es aushalten.« »Ich weiß nicht, wie ich mich bedanken soll.« Ein paar Tränen rannen über ihr Gesicht. »Es ist schon gut.« Ich schämte mich ein wenig und sagte nichts davon, daß es ursprünglich nicht meine Absicht gewesen war, nach ihr zu suchen und sie zurückzuholen, daß es mir eigentlich nur um die Post gegangen war. Ich griff in die rechte Hosentasche und zog das silberne Kreuz mit der Kette heraus. »Hier«, sagte ich. »Das gehört dir, denke ich.« Sie blickte erstaunt darauf und nahm es. »Es ist von meinem Vater. Wo hast du es her? Ein Indianer hat es mir weggenommen.« »Von dem hab ich es«, sagte ich. »Ohne das Kreuz hätten wir vielleicht die Spur zu euch nie gefunden.«
Ich beugte mich vor und versetzte ihrem Pferd einen Schlag auf die Hinterhand. Es setzte sich in Bewegung. »Leb wohl!« rief ich ihr nach. Ich sah, daß sie noch etwas sagen wollte, aber ich zog meinen Braunen rasch herum und trieb ihn an. Ich mochte keine Tränen, und ich wollte keinen Dank. Ich hatte getan, was getan werden mußte. Jetzt gab es nur noch eine Sache zu erledigen. * Ich ritt die Main Street von Salt Lake City hinunter, vorbei an den Fassaden der solide wirkenden Backsteinhäuser mit den sauber blitzenden Fensterscheiben. Vor dem Office des Pony-Expreß zügelte ich meinen Braunen und betrat mit Shita zusammen das Gebäude. Hinter dem breiten Schreibtisch von Constant Dubail standen zwei Männer. Einer war Dubail, der Agent, selbst. Fett und rotgesichtig wie immer. Der andere Mann daneben war mittelgroß und drahtig. Er trug einen grauen Leinenanzug, der die Schulterhalfter mit dem Revolver nur schlecht verbarg. Es war Cargo Flatt, mein Freund aus St. Joseph. Ich knallte die Tür hinter mir zu und marschierte auf den Schreibtisch zu. Constant Dubail drehte sich um. Sein aufgedunsenes Gesicht verzerrte sich. »Du?« Seine Stimme klang hoch und aufgeregt. »Du wagst dich hier noch einmal 'rein? Pack deinen lausigen Köter und verschwinde, sonst lernst du mich kennen.« »Ich kenne Sie längst, Sie Fettsack«, sagte ich. »Ich möchte wetten, Sie haben mehr Läuse, als mein Hund je gesehen hat.« Ich blieb am Schreibtisch stehen, während Dubail nach Luft schnappte. Dann griff ich unter mein Hemd und zerrte die Briefe hervor. Ich warf sie auf die Tischplatte und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Sie haben mich 'rausgeschmissen, Mr. Dubail, weil mir die Post gestohlen worden ist. Da ist sie. Das war es, was ich dem PonyExpreß noch schuldig war, und ich bleibe niemandem etwas
schuldig. Sie schulden mir zwar noch einen Rest Lohn, aber den schenke ich Ihnen, denn auf Ihre gottverdammten Dollars bin ich nicht angewiesen. Lieber fresse ich Dreck. Davon wird man zwar nicht so fett wie Sie, aber man bleibt ein anständiger Kerl.« Dubail starrte auf die Post, dann auf mich, und dann sackte er schnaufend auf seinen Stuhl. »Sir«, quäkte er und schaute Cargo Flatt an. Anklagend deutete er auf mich. »Sir …« Aber Cargo Flatt beachtete ihn nicht. »Hallo, Ronco«, sagte er. »Hallo, Cargo«, sagte ich. »Du bist hier?« »Ich überprüfe Mr. Dubails Geschäftsführung. Nach dem Verlust der Post war das leider notwendig. Aber nun ist ja alles in Ordnung bis auf die armen Hemplemans.« »Eliza Hempleman ist bei ihrem Bruder Jonas«, sagte ich. »Ich habe sie zurückgebracht.« »Ich konnte mir nicht vorstellen, daß du dir etwas wegnehmen läßt«, sagte er. »Jeder begeht mal einen Fehler«, sagte ich. »Und es wäre Wahnsinn gewesen, wenn ich versucht hätte, um die Post zu kämpfen. Ich hatte keine Chance.« »Ich kann dafür sorgen, daß du wieder eingestellt wirst«, sagte er. »Nein, danke«, sagte ich. »Ich habe genug von dem Laden.« Dabei schaute ich Constant Dubail an. Cargo Flatt nickte. Er umrundete den Schreibtisch, und Shita drängte sich schwanzwedelnd neben ihn. Er bückte sich und streichelte ihn. »Suchen Sie sämtliche Eintragungen der Eingänge und Ausgänge Ihrer Post in den letzten sechs Monaten heraus, Mr. Dubail«, sagte Cargo Flatt. »Und sorgen Sie dafür, daß die Post, die Ronco zurückgebracht hat, sortiert wird.« »Jawohl, Sir«, sagte Constant Dubail und platzte fast vor Wut. Cargo Flatt legte mir die Rechte auf die Schultern und schob mich vor sich her, hinaus aus dem Office auf den Vorbau, bis zu der Rampe, an der die Postkutschen anhielten. Hier stand auch mein Pferd. »Er muß nicht hören, was ich sage«, erklärte Flatt. Er sprach leise
und blickte mich ernst an. »Mit dem Pony-Expreß ist es vorbei. Es weiß bisher kaum jemand. Aber zwei oder drei Monate weiter, dann gibt es keinen Pony-Expreß mehr.« Ich musterte ihn erstaunt. »Du willst nicht mehr als Expreß-Reiter arbeiten. Vielleicht überlegst du es dir anders und kehrst zurück. Ich will dir sagen, daß du das nicht tun sollst. Es ist sinnlos. Ich kann dafür sorgen, daß du wieder eingestellt wirst. Aber es geht nicht mehr lange so weiter.« »Es war doch immer viel zu tun«, sagte ich. »Die Kosten sind sehr hoch«, sagte Cargo Flatt. »Die vielen Stationen, die vielen Pferde, die Reiter … Es ist einfach zuviel. Russel, Majors und Waddell haben alles investiert und sind ziemlich verschuldet. Jetzt halten die Banken nicht länger still. Wenn kein Wunder geschieht, bricht in ein paar Wochen alles zusammen. Außerdem wird es bald überall Telegrafenlinien geben, dann sind Expreß-Reiter sowieso überflüssig geworden. Es ist das beste, sich rechtzeitig abzusetzen. Hast du schon was vor?« »Nein«, sagte ich. »Geh nach Westen. Du kannst dich überall durchschlagen. Du kannst reiten und schießen, du kennst dich mit Indianern aus und weißt in der Wildnis Bescheid. Leute wie dich braucht man. Außerdem bist du dann hier 'raus, wenn der Krieg ausbricht. Ich garantiere dir, im Laufe der nächsten acht Wochen ist der Krieg mit dem Süden da. Weit im Westen wird davon nichts zu spüren sein. Dort solltest du hingehen. Geh nach Idaho oder nach Montana.« »Und du?« »Ich?« Er lächelte müde. »Nach allem, was ich weiß, wird ein Mr. Ben Holladay die Postlinie und alles, was dazugehört, aufkaufen. Es wird vieles anders werden, aber Agenten, die für die Sicherheit der Kutschen sorgen, braucht auch Mr. Holladay. Vielleicht übernimmt er mich. Wenn nicht …« Er zuckte mit den Schultern. »Hast du Geld?« »Ich hab' ein bißchen gespart.« »Das ist gut«, sagte er. »Die Kasse hier ist fast leer. Dubail könnte dir nicht mal den Restlohn auszahlen, selbst wenn er wollte. Es wird auch kein Geld mehr aus St. Joseph überwiesen. Ich glaube nicht,
daß Mr. Dubail sein nächstes Gehalt noch erhält. Vielleicht schmeiße ich ihn sogar 'raus, wenn ich Unregelmäßigkeiten in seinen Büchern finde.« »Er säuft«, sagte ich. »Das tut er«, sagte Cargo Flatt. »Er ist im Grunde auch ein armes Schwein.« Er klopfte mir auf die Schultern. »Vielleicht sehen wir uns nicht wieder. Du bist ein feiner Kerl, Ronco. Geh und tut das, was ich dir gesagt habe. Und halt den Mund über das, was du nun weißt.« »Klar«, sagte ich. »Wir sollten zusammen reiten. Du und ich. Du solltest nicht auf einen sterbenden Gaul setzen, Cargo.« Er lächelte wieder. »Ich bin nicht so jung wie du. Es gibt eine Frau in St. Joseph, die auf mich wartet. Ich muß bleiben. Aber du bist jung genug. Deine Chance liegt im Westen. Idaho, Montana, wo auch immer.« Ich nickte und fühlte Beklommenheit in meiner Kehle hochkriechen. Ein eigenartiger Druck erfüllte meinen Magen. Als Cargo Flatt mir seine Rechte hinstreckte, ergriff ich sie und spürte seinen festen Händedruck. Ich schluckte schwer. »Leb wohl, Ronco«, sagte er. Sein Gesicht wirkte starr. »Mach's gut«, sagte ich. »Hau bloß ab«, sagte er. »Endlich keinen Ärger mehr mit dir.« Er grinste ein wenig schief, während er das sagte. Ich schwang mich in den Sattel und winkte ihm zu. Da drehte er sich um und ging zurück ins Haus. »Komm, Shita«, sagte ich. Ich ritt die Straße hinunter, kaufte im Store Vorräte für einen längeren Ritt und verließ kaum eine halbe Stunde später die Stadt. Ich wußte, daß ein neuer Abschnitt in meinem Leben begonnen hatte …
ENDE
Vorschau O'Connors Peitschenhieb traf Lobo an der linken Schulter. Trotz des Schmerzes verzog Lobo keine Miene. Er warf Ronco einen knappen Seitenblick zu, und der nickte unmerklich. Obwohl sie beide durch eine Fußkette aneinander gefesselt waren, riskierten sie es und sprangen den irischen Aufseher an. Der Ire reagierte zu spät und wurde zu Boden gerissen. Blitzartig waren Ronco und Lobo wieder auf den Beinen. Von der Seite stürmten die anderen Aufseher heran. Ronco packte zu und zog O'Connor hoch. Lobo schlug von links zu. Als der Kopf des Iren nach hinten kippte, setzte Ronco nach und schmetterte ihm einen brettharten Haken unter das Kinn. Der Ire ging gurgelnd zu Boden. Genau in diesem Moment waren die anderen Aufseher zur Stelle. Mit triumphierendem Johlen knüppelten sie die beiden Freunde nieder … Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 211 dieser großen deutschen WesternSerie:
Die Rache des Elam Chivas