Geoffrey McSkimming
Cairo Jim im Tal der Könige
scanned 09/2008 corrected 11/2008 Cairo Jim ist zusammen mit dem Wunde...
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Geoffrey McSkimming
Cairo Jim im Tal der Könige
scanned 09/2008 corrected 11/2008 Cairo Jim ist zusammen mit dem Wunderkamel Brenda und der Ara-Dame Doris wieder auf den Spuren vergangener Zeiten unterwegs. Im Tal der Könige sucht das archäologische Erfolgstrio nach einem alten Pharaonengrab. Unermessliche Reichtümer soll die Grabkammer des Pharao Martenarten beherbergen. Während Cairo Jim seine Expedition im Dienste der Altertumsforschung unter-nimmt, hat sein Widersacher Captain Neptun Bone ganz andere Motive. Aber gibt es den Schatz von Martenarten überhaupt oder existiert er nur in der Vorstellung derer, die ihn suchen? ISBN: 3-570-12564-5 Original: Cairo Jim & Doris in Search of Martenarten Aus dem Englischen von Yvonne Hergane Verlag: OMNIBUS Erscheinungsjahr: 2001 Umschlaggestaltung: Klaus Renner
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Geoffrey McSkimming
Cairo Jim im Tal der Könige
Aus dem Englischen von Yvonne Hergane
Folgende Cairo-Jim-Abenteuer sind erschienen: Cairo Jim und die verschwundene Stadt (21237) Cairo Jim im Tal der Könige (21238) Cairo Jim und die vergessenen Götter (21197) Cairo Jim und der versunkene Sarkophag Der Taschenbuchverlag für Kinder Verlagsgruppe Random House München Berlin Frankfurt Wien Zürich Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Deutsche Erstausgabe März 2001 Band 21239 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2001 der deutschsprachigen Ausgabe bei OMNIBUS/C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © 1991 für den Originaltext Geoffrey McSkimming Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Cairo Jim & Doris in Search of Martenarten« bei Hodder Children’s Books, Australia Übersetzung: Yvonne Hergane Lektorat: Janka Panskus Umschlagbild: Gus Hunter Umschlaggestaltung: Klaus Renner Jo ■ Herstellung: Peter Papenbrok Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-570-12564-5 Printed in Germany www.omnibus-verlag.de 10 987654321
Für Belinda die weiß warum
1. Kapitel
Im Tal der Könige Weit, weit weg in Oberägypten, an einem Ort, der als das Tal der Könige bekannt ist, hatte sich wieder eine drückend heiße Nacht wie eine schwere Daunendecke über die zerklüftete Landschaft gesenkt und der jahrtausendealte Staub im Tal hüllte alles in Schweigen. Nur sehr selten störte ein Windhauch, der scheu vom Nil herüberdriftete, die Reglosigkeit der Luft. Alles war bewegungslos und wie versteinert. Grabesstille überall. Da begann Doris, die tapfere, farbenfrohe, Hieroglyphen lesende Aradame und Cairo Jims Dauerbegleiterin auf seinen archäologischen Forschungsreisen, lang und kräftig an einer Schnecke zu saugen. Schlüüüüürrffff. Cairo Jim, weithin bekannter Archäologe und Dichter, Entdecker der bekannten JocelynHieroglyphen, gefeierter Abenteurer und Sammler antiker Kunstgegenstände, wirbelte an dem kleinen Tisch herum, wo er gerade damit anfangen wollte, in sein Reisetagebuch zu schreiben. »Doris«, sagte er leise, doch mit einem Hauch sanfter Autorität,
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»ich hab dir doch schon hundertmal gesagt: Du musst die Schnecken kauen, nicht lutschen. Das Geräusch ist grauenhaft.« »Ich werde mich bemühen«, krächzte Doris und trippelte auf ihrer Stange hin und her. »Was würde Miss Osgood dazu sagen, wenn sie hier wäre?« »Ist sie aber nicht. Sie wird mindestens noch drei Wochen unterwegs sein.« »Eine Schande, dass Walküren Airways ihren Flugplan geändert haben. Aber in Marokko findet sie bestimmt auch interessante Dinge, mit denen sie sich beschäftigen kann.« Doris überlegte. »Heißt das, sie besucht uns jetzt nicht mehr so oft?« Jim drehte die Flamme seiner Kerosinlampe hoch und wandte sich wieder seinem Reisetagebuch zu. »Ja, ich fürchte, so wird es sein.« Gut, dachte Doris, während sie auf ihrer Weinbergschnecke herumkaute. Nicht dass ich Jocelyn Osgood nicht mag – man kann durchaus Spaß mit ihr haben, vor allem wenn wir Gin Rommé spielen (sie ist so leicht zu besiegen!). Aber es bringt mich auf die Palme, dass sie mir ständig Schleifen ins Gefieder binden will. Urgs. Wenn die Natur mich mit Schleifchen hätte haben wollen, wäre ich als Pudel zur Welt gekommen. Und wenn sie hier ist,
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rasiert sich Jim jeden Tag. Dabei hat ein Archäologe doch wohl Wichtigeres zu tun, als sich zu rasieren. Wenn er seine ganze Zeit aufs Rasieren vergeuden würde, würden wir das Grabmal von Martenarten nie finden! Und er würde nie dazu kommen, Gedichte zu schreiben. Sie pickte eine weitere Schnecke aus ihrer antiken Schneckenschale und überlegte, wie sie wohl aussähe, wenn sie wirklich ein Pudel wäre. Bestimmt hätte sie dann eine feuchte Schnauze, weiße Felllöckchen und ein dummes Stummelschwänzchen und würde an einer rosafarbenen Leine mit einer dicken, eine Parfümwolke hinter sich herziehenden Frau Gassi gehen. Die Vorstellung war so überwältigend grässlich, dass Doris ein ohrenbetäubendes Kreischen ausstieß, das im ganzen Tal widerhallte. »Riiiiiaaaaaaaarrrrrk!« »Pscht!«, zischte Cairo Jim. »Du weckst noch die Toten auf.« »Ich bitte um Verzeihung«, krächzte Doris. Der Archäologen-Dichter tauchte seine Feder ins Tintenfass, holte einmal tief Luft und setzte die Federspitze auf einer strahlend weißen Seite seines Reisetagebuchs an: Freitag, den 17. August 19:30 Uhr
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Wieder ein heißer Tag erfolgloser Aktivität, genau wie gestern und vorgestern. Und vorvorgestern. Und genau wie letzte Woche und vorletzte Woche und letzten Monat und den Monat davor. Vor genau drei Monaten sind wir ins Tal der Könige gekommen. Wir haben auf der Suche nach dem Grabmal gegraben und Tunnels in den Boden gehauen, aber alles, was wir bisher gefunden haben, sind wertlose Armreifen und steinerne Skarabäen – die in diesem weiten Land irgendwie überall zum Vorschein kommen – und ein Schwarz-Weiß-Foto von Neil Armstrong (es ist eine gute Aufnahme von ihm, wie er auf dem Mond herumtänzelt, ich habe sie in meinem Zelt aufgehängt). Heute kamen Nachrichten aus Kairo, der aufregendsten aller Städte. Offensichtlich hat Captain Neptun B. Bone vor zwei Wochen in der Gesellschaft zur Erhaltung von Altertümern einen Vortrag darüber gehalten, dass wir keine Chance hätten, das Grabmal von Martenarten hier im Tal zu finden, weil es wesentlich näher bei Kairo zu vermuten sei. Ich weiß nicht, woher er diese Information hat – wahrscheinlich von seiner unzuverlässigen Rabendame Desdemona –, aber es scheint, als hätten die Zuhörer ihm nach dem Vortrag begeistert applaudiert. Traurig, traurig, wenn die eigenen Kol-
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legen einem so vertrauensunwürdigen Mann wie Bone überhaupt Gehör schenken. Aber ich fahre mit meiner Arbeit fort. Wir werden nicht aufgeben und unsere Schaufeln nicht weglegen, bevor wir Martenarten nicht entdeckt haben. Nur eine Sorge hege ich: dass unser großzügiger und reicher Wohltäter, Gerald Perry (Esquire), uns die finanzielle Unterstützung streichen könnte, wenn wir nicht bald Erfolge aufweisen können. Bisher hat er sich unglaublich hilfsbereit und verständnisvoll gezeigt, aber seine Brieftasche ist – anders als unsere Ausgrabungen – kein Fass ohne Boden und ich fürchte, dass er sich das Projekt nicht mehr allzu lange wird leisten können. Es ist spät, ich gehe jetzt zu Bett. Wir müssen morgen wie immer ganz früh aufstehen und ich glaube, Doris bekommt nicht genügend Schlaf. Ihr Gefieder wirkt etwas matt. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass wir morgen auf etwas wirklich Unglaubliches stoßen. Müde legte Jim die Feder weg. Doris hatte in der Zwischenzeit ihre Schneckenmahlzeit beendet und kauerte in ihrer üblichen Nach-dem-AbendessenHaltung satt und zufrieden auf ihrer Stange. »Fertig?«, fragte sie.
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»Fertig«, erwiderte Jim. »Zeit zu schlafen.« »Schlafen! Vielleicht auch träumen!« »Sehr schön, Doris.« »Shakespeare«, erklärte die Aradame. »Gute Nacht.« »Raaark.« Cairo Jim nahm sein Reisetagebuch und die Kerosinlampe und ging in sein Zelt, wo Brenda das Wunderkamel auf dem Fußboden saß und Solitär spielte. Freundlich scheuchte er das Tier hinaus, sammelte die verstreuten Spielkarten ein, schlüpfte in seine Nacht-Galabija und putzte sich sorgfältig die Zähne. Dann rückte er das Foto von Neil Armstrong gerade und kletterte in sein altersschwaches Feldbett, wo er schnell in einen tiefen, von verschwommenen Träumen durchzogenen Schlaf fiel. Das Tal der Könige flüsterte seine jahrtausendealten Geheimnisse in die stille Nachtluft hinaus und irgendwo in der schlafenden Dunkelheit wartete das Grabmal von Martenarten darauf, entdeckt zu werden.
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2. Kapitel
Eine erste Spur
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wei Tage später – es war ein Sonntag – brannte die Sonne erbarmungslos auf das Tal der Könige herab. Doris war der Sonntag immer der liebste Wochentag. Sie freute sich auf ihr allwöchentliches Bad im Nil und noch mehr freute sie sich auf die leckeren Süßgoldkekse, die Jim in der kleinen Teestube von Mrs. Amun-Re bestellte, einer beleibten Dame, die die beiden Gäste immer sehr freundlich begrüßte. Seit neuestem machte Mrs. Amun-Re spezielle Süßgoldkekse nur für Doris, gefüllt mit Import-Schnecken aus Malawi, und die blau-gelbe Aradame hielt diese Kekse für die süßeste Versuchung, seit es Schokolade gab – was eine ziemlich unpassende Redewendung war, weil Doris Schokolade nicht ausstehen konnte. Aber nach dem Genuss der Schneckenköstlichkeiten, die ihr das Wasser im Schnabel zusammenlaufen ließen, war es ihr herzlich egal, welche dummen Redewendungen ihr durch den vom Begeisterungsrausch umnebelten Kopf schossen. An diesem Sonntagmorgen nun saß sie, wäh-
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rend Jim sich für ihren wöchentlichen Ausflug fertig machte, mit Brenda dem Wunderkamel im Staub und versuchte dem stummen Tier Canasta beizubringen. Brenda gab sich alle Mühe, die Spielregeln zu verstehen, aber Mathematik war noch nie ihre Stärke gewesen und die Zahlen auf den Karten brachten sie vollkommen durcheinander. Ihr normales Solitär-Spiel war ihr da wesentlich lieber, denn dort wusste sie, selbst wenn sie einen Fehler machte, war niemand in der Nähe, der sie auslachen konnte. Brenda war vielleicht nicht die begnadetste Kartenspielerin der Welt, aber sie steckte in vielerlei anderer Hinsicht voller Wunder und Jim hätte nicht um alles Gold in Ägypten auf sie verzichten wollen. Endlich war er bereit zum Aufbruch. Als er aus dem Zelt kam, setzte er seine Spezial-WüstenSonnenbrille und seinen Tropenhelm auf. »Guten Morgen, Doris. Guten Morgen, Brenda.« Doris flatterte kreischend auf seine Schulter hoch, während Brenda mit einem Begrüßungsschnauben antwortete. »Ah, du bist schon gesattelt«, sagte Jim zu der Kameldame. »Das hast du mir zu verdanken«, erwiderte Doris. »Wenn ich darauf gewartet hätte, dass du das machst, säßen wir heute Mittag noch hier. Ich hab
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mir fast den Schnabel gebrochen, als ich dieses verflixte Ding über ihre Höcker gehievt hab.« Wenn sie Hunger hatte, war Doris immer ein bisschen gereizt, und wenn die Aussicht auf Süßgoldkekse bestand, dann umso mehr. »Vielen Dank, Doris. Ich weiß deine Hilfe immer zu schätzen.« Jim zauste ihr liebevoll das Gefieder. »Na, dann lass uns gehen«, drängte sie und errötete unter ihrem Federkleid. Jim stieg mit der auf seiner Schulter thronenden Aradame in den Sattel und die drei ungleichen Freunde machten sich auf den Weg. Am Totentempel der Pharaonin Hatschepsut wimmelte es bereits von Touristen und Souvenirhändlern, obwohl es noch nicht einmal neun Uhr morgens war. Von dem schmalen Pfad aus, der aus dem Tal zu dem Dorf Gurna führte, konnten Jim, Doris und Brenda gut darauf hinunterschauen. »Guter Tag für die Getränkeverkäufer«, sagte Jim und Doris stieß dazu einen Glas zerberstenden Schrei aus, der von den Tempelmauern widerhallte und nicht wenige deutsche Touristen dazu veranlasste, hektisch unter irgendeinem Dach Schutz zu suchen. Während Brenda zwischen den zerfallenden
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Memnonskolossen hindurchstapfte, verfiel Jim ins Grübeln. »Ach, Doris«, seufzte er. »Ich würde alles, was ich besitze, darum geben, die Uhr zurückdrehen zu können – zurück zu jenen Zeiten, da diese Kolosse jeden Tag mit ihrem Gesang die morgendlichen Nebel empfingen. Als die Römer herkamen, hörten sie Klagelaute, die von den Köpfen der Statuen erschallten. Die Griechen sagten, das sei der Gesang einer göttlichen Stimme – der Stimme Memnons, der damit seine Mutter Aurora, die Morgenröte, begrüße. Doch nun sind die mächtigen Kolosse verstummt, es gibt keinen Gesang mehr. Aber wäre es nicht wunderbar, wenn Memnon noch zu unseren Lebzeiten wiederkäme … und …« »Würdest du wirklich alles hergeben, was du besitzt?«, fragte Doris. »Alles.« »Etwa auch mich?« Jim lachte. »Dich besitze ich doch nicht, meine gefiederte Freundin. Du bist frei wegzufliegen, wann du willst. Obwohl es mir das Herz brechen würde, wenn du es wirklich tätest.« Doris lächelte breit. »Tatsächlich?« »Aber sicher. Du bist für mich unentbehrlich, das weißt du doch. Wer sonst sollte mir die Hieroglyphen vorlesen?«
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»Jim?« »Ja?« »Würdest du mich auch mögen, wenn ich ein Pudel wäre?« Cairo Jim dachte einen Augenblick nach. »Ja, ich glaube schon. Aber du bist mir lieber, so, wie du jetzt bist. Ich hab mich so an deine gefiederte Natur gewöhnt.« Da lächelte Doris sogar noch breiter, bis ihr der obere Teil des Schnabels mit einem lauten Dwaaaaang! ins Gesicht hochklappte und sie ihn nicht mehr herunterbekam. »Jmmmmm …« »Was ist?« »Ich hbs sehn widr getn. Knnst d mr btte hlfn?« Jim griff nach oben und klappte ihr den Schnabel mit einem sanften Schubs wieder nach unten – so, wie er es immer tun musste, wenn Doris sich vor lauter Freude den Kiefer ausrenkte. Sie waren langsam vorangekommen, denn immerhin war es Sonntagmorgen, und da war es unmöglich, irgendetwas mit Hast zu tun. Doch schließlich erreichten sie Gurna, wo sie sich schnurstracks über die stark bevölkerte, staubige Hauptstraße auf den Weg zur Teestube von Mrs. Amun-Re machten. Brenda blieb vor ihrer aller Lieblingsladen stehen und Jim stieg mit Doris aus dem Sattel. Als Jim
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Brendas Zügel um den Kamelpfosten wickelte, kam Mrs. Amun-Re schon aus dem Laden gestürmt, wobei sie sich die mehligen Hände rieb und sich Teeblätter aus dem Haar zupfte. »Ah, Mr. Jim!«, rief sie aus. »Wie schön, dass Sie uns besuchen wieder mal. Sie sehen großartig aus. Willkommen.« Sie kniff ihm mit beiden Daumen und Zeigefingern in die Wangen und knuddelte sie mit so heftiger Zuneigung, dass Cairo Jims Augen zu tränen anfingen und der Tropenhelm ihm vom Kopf purzelte. »Prrrrrrriiiiiiiaaaaarrrrk!«, prrrrrriiiiiaaaaarrrrkte Doris. »Ach, sei still, du eifersüchtiger Vogel«, sagte Mrs. Amun-Re strahlend und wollte sich schon mit der gleichen Herzlichkeit den Wangen der Aradame widmen, aber Doris flatterte rechtzeitig auf die Sitzstange, die Mrs. Amun-Re ihr an ihrem Stammtisch in der schattigsten Ecke des Gartens errichtet hatte. »Wie geht es Ihnen, Mrs. A.?«, fragte Jim und hob seinen Tropenhelm wieder auf. »Mir geht’s so gut, wie die Sonne ist golden, Mr. Jim. Kommen Sie, kommen Sie, Ihr Tisch erwartet Sie, wie die Sphinx erwartet ihren Herzallerliebsten.« Sie führte Jim zu seinem angestammten Platz, wo Doris schon auf der Sitzstange hin- und her-
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trippelte. »Nur Geduld, Miss Doris. Ich hab deine Lieblingskekse gerade frisch geholt aus dem Ofen. Die Schnecken sind diese Woche besonders fett und saftig. Für Sie das Übliche, Mr. Jim?« »Ja, bitte. Und einen Teller Würmer für das Kamel.« »Aber gern.« Damit hastete sie in die Küche. Nachdem sie Doris ihre Schneckensüßgoldkekse, Brenda ihre Würmer und Jim seine übliche Bestellung (Süßgoldkekse – ohne Schnecken – und ein Kännchen heißen schwarzen Tee mit Zitronenscheiben) gebracht hatte, setzte sie sich mit an den Tisch und wischte sich mit der Schürze über den Nacken. »Und«, keuchte sie, »wie kommt voran die Martenarten-Entdeckung?« »Langsam, Mrs. A.«, antwortete Jim zwischen zwei Bissen. »Sehr langsam.« »Ungefähr so langsam, wie der Sand verrinnt in einer Sanduhr?« »Noch langsamer, fürchte ich. Tag für Tag graben wir und graben, manchmal bis tief in die Nacht, aber es taucht nichts Besonderes auf. Obwohl – gestern hab ich ein Foto von Agatha Christie auf meiner Schaufel gefunden.« Mrs. Amun-Re runzelte verwundert die Stirn. »Wieso sollte jemand fotografieren Agatha Christie, wie sie auf Ihrer Schaufel sitzt?«
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»Nein, nein, das Foto war auf meiner Schaufel.« »Ach so.« »Wahrscheinlich ist es in der Nacht dorthin geweht worden.« »Diese Agatha Christie war eine Schriftstellerin, nicht wahr?« Jim nippte an seinem Tee. »Ganz recht. Als junger Mann habe ich ihre Krimis eifrig verschlungen. Sie hat mich mit dazu inspiriert, selbst zu schreiben. Auch wenn sich diese Tätigkeit natürlich nicht bezahlt macht.« »Haben Sie das Foto zufällig dabei?« »Nein, ich hab’s im Zelt aufgehängt, direkt neben Neil Armstrong.« »Ich wusste gar nicht, dass er ist in der Gegend.« »Nein, ich meine, neben seinem Foto. Das hatte ich letzte Woche bei den Ausgrabungen gefunden.« »Ach so, dann ist ja gut. Ich wäre böse geworden, wenn er gewesen wäre hier und nicht hätte bei mir reingeschaut. Das macht er nämlich normalerweise, wissen Sie.« Doris genoss ihre Kekse in vollen Zügen. »Diese Woche haben Sie sich selbst übertroffen, Mrs. Amun-Re«, schwärmte sie. »Vielen Dank, meine kleine Freundin.« Die Besitzerin der Teestube wandte sich wieder an Cairo Jim. »Miss Jocelyn ist also nicht mehr bei Ihnen?«
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Jim schüttelte den Kopf. »Marokko«, sagte er nur. »Noch eine ganze Weile.« Mrs. Amun-Re verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zum Himmel hoch. »Es muss sein aufregend, da oben herumzufliegen«, seufzte sie. »Die ganzen fremden Orte, die man kann aufsuchen, die ganzen ungewöhnlichen Menschen, die man kennen lernt … Ach ja …« Sie beugte sich näher zu Jim. »Sagen Sie mir, Mr. Jim … Sie haben Miss Jocelyn gern, nicht wahr?« »Ja, sie ist ein guter Kamerad.« »Mir ist aufgefallen, dass Sie sind immer frisch rasiert, wenn sie ist im Lande.« »Hrrmpf«, hrrmpfte Doris leise. »Ja«, erwiderte Jim, »man muss schon ein bisschen auf sich achten.« »Und Miss Jocelyn – hat sie Sie auch gern?« »Ich nehme es an. Normalerweise bringt sie Doris und Brenda und mir kleine Geschenke mit. Und sie kommt immer wieder her. Also gehe ich mal davon aus, dass sie uns mag, ja.« »Und wann hören wir dann klingelingeling die Hochzeitsglöckchen?«, wisperte Mrs. Amun-Re verschwörerisch. Jim verschluckte sich fast an seinem Süßgoldkeks, während Doris beinahe von der Stange stürzte.
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»Ähm … nun …«, stammelte er. »Ehrlich gesagt, Mrs. A., hab ich die Sache noch nie von dieser Warte betrachtet. Ich bin Archäologe, wie Sie wissen, und Archäologen sind schwer beschäftigte Menschen.« Mrs. Amun-Re tätschelte seine Hand. »Aber eines Nachts der Tag wird kommen, wo die Dinge werden anders sein«, sagte sie lächelnd. »Und ich finde, dann Sie sollten fix machen die Sache mit Miss Jocelyn. Sie werden keine Bessere finden. Glauben Sie mir, ich verstehe einiges von solchen Dingen.« Jim nahm einen großen Schluck von seinem Tee. »Vielen Dank für den Rat, Mrs. A. Falls ich jemals beschließen sollte zu heiraten, sind Sie der zweite Mensch, der es erfährt.« »Der zweite? Und wer wird sein der erste?« Er zwinkerte Doris zu, die daraufhin krächzte. »Ach so, ich verstehe«, sagte Mrs. Amun-Re lachend. »Nun, ich lasse Sie jetzt essen in Ruhe. Genießen Sie.« Damit stand sie auf und ging zu einem anderen Tisch hinüber. Keine zwei Minuten später bekamen Jim und Doris Gesellschaft von Miss Pyrella Frith, einer hervorragenden Archäologie-Fotografin, deren Dienste Cairo Jim schon mehr als einmal in Anspruch genommen hatte. Sie war den ganzen Weg von der Fähre bis zur Teestube gerannt, sodass sie
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sich nun atemlos und aufgeregt auf den Stuhl fallen ließ, den Mrs. Amun-Re gerade freigemacht hatte. »Oh, Jim, ich bin ja so froh, Sie hier zu treffen«, japste sie. »O Mann, ganz schön heiß hier, nicht wahr?« »Ich finde es nicht so schlimm«, erwiderte er und sah zu, wie sie das lange weiße Band löste, das ihren breitkrempigen, mit einem Moskitonetz ausgestatteten weißen Strohhut auf ihrem Kopf fest hielt. Schließlich nahm sie den Hut ab und legte ihn sich auf den Schoß. Miss Pyrella Frith trug immer Weiß. Weiße Röcke, langärmlige weiße Blusen, weiße Stiefel, die bis über ihre weißen Knöchel zugeknöpft waren, und bei kühlerem Wetter auch lange weiße Handschuhe, die sie immer nur abnahm, wenn sie fotografierte. Sie war gegen viele Sachen allergisch, am allerstärksten gegen Sonneneinstrahlung – weswegen sie sich auch mit ungeheuren Mengen Sonnenmilch einkremte – und gegen die Blut saugenden Moskitos, die an den Ufern des Nils prächtig gediehen und sich rasant vermehrten. Mehrere Jahre lang war der Nordpol ihr Zuhause gewesen und sie hatte dort eine Menge über ihren Beruf gelernt, als sie eine Zeit lang bei einer freundlichen, sehr an Fotografie interessierten Eskimo-Familie in einem Iglu gewohnt hatte.
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»Nicht schlimm? Nicht schlimm? Puh, ich finde es heißer als einen ganzen Monat voller Sonnentage in Sansibar.« Sie nahm sich die Kamera von der Schulter und legte sie auf Jims Tisch. »Ich gäbe was darum, endlich wieder Schnee zu sehen.« »Möchten Sie einen Tee?«, fragte Jim. »Genau das Richtige, um einen Durst wie den meinen zu stillen«, sagte sie, noch immer schwer atmend. Ohne eine weitere Einladung abzuwarten, griff sie nach Jims Tasse und ließ sich den heißen Tee die Kehle hinabrinnen. »Ah, das ist schon viel besser«, sagte sie dann. »Genau das hab ich gebraucht.« »Es geht nichts über einen von Mrs. A.s berühmten Aufgüssen«, sagte Jim. Pyrella schüttelte ihr langes blondes Haar und sah ihn mit ihren eisbergblauen Augen ernst an. »Hören Sie zu«, hauchte sie hastig. »Ich werde nicht groß um den heißen Sand herumreden. Ich muss Ihnen etwas Wichtiges mitteilen.« »Tatsächlich?« »Ja. Kennen Sie die Rhampsinites-Zwillinge?« »Abdullah und Kelvin?« »Genau. Hinterlistige Leute, ich weiß, aber … Autsch!« Sie sprang von ihrem Stuhl auf. Mrs. Amun-Re kam aus der Küche herbeigerannt. »Was ist passiert? Miss Pyrella, alles in Ordnung? Was ist los?«
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Miss Pyrella Frith holte tief Luft und setzte sich wieder. »Tut mir Leid, dass ich Sie aufgeschreckt habe, Mrs. Amun-Re. Der Tee war wohl ein bisschen heiß.« »Vielleicht Sie sollten ihn nur langsamer trinken?« »Könnten wir bitte eine zweite Tasse haben, Mrs. A.?«, bat Jim. »Aber sicher, Mr. Jim, für Sie doch immer.« Und sie rauschte auf der Stelle davon. »Nun, wie gesagt«, fuhr Pyrella fort. »Ich bin gerade mit der Fähre von Luxor rübergekommen. Hab schon mal bessere Fahrten erlebt, muss ich sagen. Ich musste mir die Sitzbank mit einem Esel teilen, der entsetzlichen Mundgeruch hatte – weiß der Himmel, was der zum Frühstück gegessen hatte. Aber jetzt bin ich ja jedenfalls hier.« Sie griff in ihre Rocktasche und holte ein weißes Leinentaschentuch heraus, das um einen kleinen runden Gegenstand gewickelt war. Sie legte das Bündel auf den Tisch und begann gerade die Knoten aufzuknüpfen, als Mrs. Amun-Re mit der zweiten Tasse und Untertasse ankam. »Ich dachte, das hier könnte Ihnen gefallen«, sagte Pyrella. Als das offene Taschentuch schließlich den Blick auf den darin liegenden Gegenstand freigab, riss Jim die Augen auf und Doris klappte der untere Teil des Schnabels herunter. Mrs. Amun-Re starrte
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neugierig auf die winzige Lapislazuli-Brosche, die in der Mitte des Leinentuches lag. Fast eine Minute lang sagte keiner ein Wort. Miss Pyrella Frith schlug nach einem Moskito auf ihrem Schienbein und lehnte sich dann mit verschränkten Armen und einem breiten Lächeln zurück, offensichtlich sehr zufrieden mit der Reaktion, die sie mit der Brosche bei den anderen ausgelöst hatte. Als Jim schließlich sprach, klang seine Stimme wie von ganz weit her. »Woher haben Sie das?« »Von Kelvin Rhampsinites«, antwortete Pyrella. »Oder war es Abdullah? Ich kann sie nie auseinander halten. Jedenfalls: Einer von ihnen hat’s mir vor dem Winter Palace Hotel verkauft. Normalerweise schaue ich mir die Sachen, die sie einem andrehen wollen, nicht mal richtig an. Die meisten so genannten Artefakte sind auf den ersten Blick als Kopien zu erkennen – ich meine, wer hat schon mal von antiken Plastik-Skarabäen gehört? –, aber das hier sah anders aus. Irgendwie kam es mir echt vor. Antik. Also hab ich’s gekauft.« Cairo Jims Herz klopfte schneller. »Das war auch ganz richtig so, Miss Frith.« Er nahm die Brosche in die Hand, während Doris ihm auf die Schulter hüpfte. »Wissen Sie, was das ist, Mrs. A.?«, fragte er.
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Mrs. Amun-Re musterte das Ding, das im Sonnenlicht funkelte. »Nein, Mr. Jim, ich fürchte nicht.« »Iah«, sagte Jim. »Wie bitte? Sie meinen Iah – wie der Esel macht?« Mrs. Amun-Re stellte Tasse und Unterteller auf den Tisch. »Nein, nein, kein Esel … Die Gravur auf der Brosche – das ist Iah, oder auch Iach gesprochen, das alte ägyptische Symbol für den Mond.« »Iah«, krächzte Doris mit gesträubten Federn. »Ein Schilfblatt, ein ausgestreckter Unterarm, ein Strang aus geflochtenem Flachs und eine Mondsichel – ergibt zusammen das Zeichen für den Mond.« Pyrella lächelte und zog eine Augenbraue hoch. Sie hatte da so eine Ahnung. »Hat es vielleicht etwas mit Martenarten zu tun?«, fragte sie. »Ganz genau. Iah ist auch das Zeichen, das der Pharao Martenarten sich zulegte, als er verkündete, dass nur noch der Mond verehrt werden dürfe, und alle anderen Götter abschaffte. Hat sich damit bei den Hohepriestern nicht gerade beliebt gemacht, kann ich Ihnen sagen. Sie mussten nämlich ein Vermögen ausgeben, um die ganzen Tempel umzudekorieren, und silberne Mondfarbe war damals schon nicht billig. Aber es ging nicht nur um die
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Tempel. Martenarten ordnete an, dass riesige Statuen errichtet werden sollten, mächtige Bildnisse von ihm, wie er den Mond anbetete, und diese wurden überall aufgestellt, so weit das Auge reichte, in langen Reihen, die sich bis in die Wüste erstreckten und manchmal sogar noch weiter. Schmuck und Anthrazitvasen und alle möglichen anderen teuren Dinge wurden in Massen hergestellt und alle zeigten in der einen oder anderen Weise Iah und Martenarten.« »Meine Güte«, stieß Mrs. Amun-Re hervor. »Tja, Mrs. A., aber zu unserem Unglück sind kaum welche von diesen Gegenständen erhalten geblieben.« »Wie kommt das?« »Nachdem der Pharao Martenarten zur Ruhe gebettet wurde, begannen die Hohepriester, die wegen der ständig kletternden Preise für silberne Mondfarbe in die Armut getrieben worden waren, ihr Werk der Zerstörung. Sie zerschmetterten die Köpfe aller Statuen und sammelten so viele Martenarten-Gegenstände ein, wie sie auftreiben konnten. Diese wurden dann auf einen Lastkahn geladen und weit aufs Rote Meer hinausgebracht – und keiner hat sie je wieder gesehen. Es heißt, der Kahn sei auf hoher See mit Sprengstoff in die Luft gejagt worden. Aber nun«, er wischte sich eine Träne weg,
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die ihm vor lauter Aufregung unter der WüstenSonnenbrille über die Wange kullerte, »haben wir dank Miss Frith einen enormen Schritt auf dem Weg der Entdeckung getan.« »Na, da schmeiß mich doch einer in den Nil und nenn mich Feluke!«, rief Mrs. Amun-Re aus. »Ich hatte also Recht, Jim?«, fragte Pyrella. »Das Ding ist echt?« Jim holte aus einer Tasche seiner extraweiten Safari-Shorts eine kleine Juwelier-Lupe heraus. »Lassen wir mal die Expertin ran«, sagte er und hielt das Vergrößerungsglas vor Doris’ Auge. Eifrig spähte die Aradame hindurch. »Rark, ja«, entschied sie nach einer Weile. »Kein Zweifel – echter könnte die Brosche nicht sein.« »Wie kannst du dir so sicher sein?«, hakte Mrs. Amun-Re nach. »Die Hieroglyphen«, erwiderte Doris. »Mit bloßem Auge sind sie kaum erkennbar – nur wenn man ganz genau hinschaut. Aber mit dieser Lupe hier sind sie klar und deutlich zu lesen. Rirark.« »Lass mich auch mal sehen«, sagte Jim und hielt sich das Vergrößerungsglas vors Auge. »Ah ja, da sind sie, ringsum auf der Fassung. Erstaunlich.« »Und was steht da?«, wollte Pyrella wissen. »Im Uhrzeigersinn gelesen«, erklärte Doris, »ist da unser bekanntes Zeichen für den Mond, dann
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ein Vogel namens Jabiru, eine Art großer Storch, der liest sich Ba und bedeutet ›Seele‹, dann eine Hand – das D – plus dem ausgestreckten Unterarm schon wieder – das A –, dann noch ein Jabiru, und zum Schluss wieder eine Hand, diesmal mit einem Küken – einem U – dahinter.« »Iah Ba Da Ba Du«, flüsterte Jim. »Genau!«, sagte Doris. »Iah Ba Da Ba Du.« »Wie hübsch!«, rief Mrs. Amun-Re aus. Jim wandte sich an Pyrella. »Miss Frith, dürfte ich mir die Brosche für einen Tag ausleihen? Ich möchte den Rhampsinites-Zwillingen ein paar Fragen stellen.« Pyrella goss sich Tee ein. »Behalten Sie sie. Als Erinnerungsstück. Und hoffentlich als Omen für alles Gute, das noch kommen mag.« »Vielen Dank«, sagte Jim, gerührt von ihrer Großzügigkeit. »Wie kann ich mich dafür erkenntlich zeigen?« »Indem Sie mich sofort, wenn Sie das Grabmal gefunden haben, Fotos davon machen lassen. Ich brauche den Auftrag, wissen Sie. Im Moment gibt’s keine großen archäologischen Funde und ich hab’s satt bis oben hin, irgendwelche Touristen zu knipsen, die sich Eiscreme oder Falafeln in den Mund stopfen.« »Aber natürlich bekommen Sie den Auftrag, das
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hatte ich von Anfang an vor. Es gibt keine bessere Fotografin als Sie, Miss Frith.« Jim stand auf und reichte Mrs. Amun-Re fünf ägyptische Pfund. »Vielen Dank, Mrs. A.«, sagte er. »Sie wollen schon gehen? Aber Sie haben noch nicht aufgegessen Ihre Süßgoldkekse.« »Wir essen den Rest auf der Fähre. Komm, Doris.« »Warten Sie, ich hole Ihr Wechselgeld, Mr. Jim.« »Nein, Mrs. A., der Rest ist für Sie.« »Oh«, stieß Mrs. Amun-Re hervor, tief in ihrer Würde gekränkt. Da bemerkte Jim seinen Fehler. »Das ist kein Bakschisch, meine liebe Mrs. A. Kaufen Sie davon etwas Hübsches – für Sie ganz allein. Vielleicht einen neuen Hut oder eine Zigarettenspitze. Ich hätte Ihnen ja gern selbst etwas gekauft, aber während der Ausgrabungen kommt man einfach zu nichts.« »Ach so, in dem Fall …« Sie steckte das Geld in ihre Schürzentasche. »Ich bringe Ihnen eine Serviette, in die Sie einwickeln können Ihre Süßgoldkekse, dann sie bleiben hübsch warm.« Während sie in die Küche eilte, flog Doris zu Brenda hinüber und nahm deren Zügel vom Kamelpfosten. Die Kameldame war nach ihrer Portion Würmer hochzufrieden.
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Jim reichte Pyrella die Hand. »Sie sind ein Schatz«, sagte er. »Aber nicht doch«, wehrte Miss Pyrella Frith ab und schüttelte Jim kräftig die Hand. »Viel Glück.« »Ich glaube«, sagte Jim, setzte seinen Tropenhelm auf und schob seine Sockenhalter zurecht, »dass uns heute erstmals das Glück über den Weg gelaufen ist und wir nun auf der Schwelle zu einer unermesslichen Fülle von neuen Möglichkeiten stehen.« Während er seine Kopfbedeckung gerade rückte, dachte er einen Augenblick über seine Worte nach. »Das würde einen netten Gedichtanfang abgeben, meinen Sie nicht?«, fragte er Pyrella. »Ich würde an Ihrer Stelle lieber bei der Archäologie bleiben«, erwiderte sie freundlich. »Hier, Mr. Jim, ich habe Ihnen eingepackt ein paar ganz frische Süßgoldkekse aus der Küche. Sind höllisch heiß, also nicht gleich auffuttern.« »Danke, Mrs. A., Sie sind unschlagbar. Wir sehen uns dann nächste Woche, gleiche Zeit, gleicher Ort.« Mrs. Amun-Re knuddelte ihm wieder heftig die Wangen, sodass er ganz rote, brennende Ohren bekam. »Ich hoffe, Sie erreichen noch heute Nachmittag Ihr Ziel«, sagte sie. »Und jetzt ab mit Ihnen.« »Wiedersehen, Jim«, verabschiedete sich Pyrella.
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»Lassen Sie sich von den Zwillingen nicht übers Ohr hauen. Sie wissen ja, was die für widerliche Bengel sein können.« »Ich komme schon zurecht. Da müssen schon schlauere Ganoven kommen als die RhampsinitesZwillinge, um Cairo Jim Sand in die Augen zu streuen. Auf Wiedersehen, zusammen.« Doch als sie hastig den gut besuchten Hof von Mrs. Amun-Res Teestube verließen, bemerkte keiner der drei Freunde den stämmigen, bärtigen, stirnrunzelnden Fremden mit dem burgunderroten Fez, der in der gegenüberliegenden Ecke unter einer dürren Palme saß. Weder der Fremde noch sein Rabe schienen besonders gut gelaunt zu sein.
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3. Kapitel
Bei den Rhampsinites-Zwillingen
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ut mir Leid, Cairo Jim, aber Ihr Kamel darf nicht mit auf die Fähre.« »Hören Sie«, redete Jim auf den störrischen Fährmann ein, »Sie verstehen nicht. Es ist für uns außerordentlich wichtig, dass wir so schnell wie möglich nach Luxor kommen. Unser Schicksal erwartet uns. Wir müssen etwas herausfinden, das von vordringlicher Bedeutung ist. Also wären Sie bitte so nett und würden dafür sorgen, dass wir weiterkommen?« »Sie können auf die Fähre und Ihre Doris kann auf die Fähre …« »Ich bin nicht seine Doris«, krächzte die Aradame, »ich bin meine Doris.« »… aber das Kamel bleibt hier. So lauten nun mal die Vorschriften der Fährgesellschaft.« Jim war der Verzweiflung nahe. Er musste so schnell wie nur irgend möglich mit den Rhampsinites-Brüdern sprechen. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Aber auf einmal kam ihm ein Gedanke. »Sie irren sich, guter Mann«, sagte er. »Dies ist kein Kamel, sondern ein Esel.«
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Der Fährmann kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Sie halten mich wohl für bekloppt?« »Aber nein, das würde ich niemals wagen. Tatsache ist und bleibt jedoch: Dies ist meine zuverlässige Eselin Deirdre, die Doris und mir schon bei so manchem Abenteuer Gesellschaft geleistet hat. Mich wundert’s, dass Sie noch nie von ihr gehört haben, ihr Bild war nämlich schon oft in der Zeitung – Deirdre die Wundereselin.« »Nein«, erwiderte der Fährmann kopfschüttelnd. »Nie gehört.« »Sag dem klugen Fährmann Guten Tag, Deirdre.« Brenda das Wunderkamel – denn niemand anders war es natürlich – begann in bester Eselmanier lautstark zu schreien. Der Fährmann ging langsam um das Tier herum und sah sich jedes Körperteil sorgfältig an. Als er wieder an Brendas Kopf angekommen war, blickte er zu Jim und Doris auf, die im Sattel saßen. »Na fein, aber eines müssen Sie mir erklären, Cairo Jim: Wenn sie eine Eselin ist, warum ist sie dann so groß?« »Die Rasse der Emnobellischen Dschungelesel ist von sehr mächtigem Körperbau«, erklärte Jim. »Sie müssen so groß sein, sonst wären sie zu klein.«
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Doris, die auf Jims gebleichtem Tropenhelm kauerte, schlug mit den Flügeln. »Beeilung, Jim«, rief sie über das Geflatter hinweg. »Wir müssen los. Die Fähre legt gleich ab.« »Mag sein«, sagte der Fährmann und stellte sich seitlich neben Brenda hin. »Aber wie erklären Sie mir das hier?« Er fuhr mit seinem Fährmannsstock über Brendas größeren Höcker. »So etwas haben Esel wohl kaum, selbst wenn sie aus dem Emnobellischen Dschungel kommen.« Jim sah zu dem Mann herunter. »Nein, normalerweise nicht«, erwiderte er hastig. »Die meisten Emnobellischen Dschungelesel sind tatsächlich glattrückig. Und Deirdre war auch so – jedenfalls bis letzten Donnerstag, da hat sie nämlich plötzlich und ohne Vorwarnung begonnen anzuschwellen. Immer dicker und dicker ist sie da oben geworden, bis die Schwellungen das jetzige Ausmaß erreicht hatten.« »Aber warum?«, fragte der Fährmann. »Mumps«, verkündete Cairo Jim. »Mumps?« »Mumps, und zwar in seiner übelsten Form. Emnobellische Dschungelesel verunstaltet die Krankheit oft so, dass sie irrtümlich für Kamele gehalten werden. Aber abgesehen davon gibt es keine gefährlichen Symptome und die Schwellun-
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gen gehen üblicherweise nach etwa zwei Wochen zurück. Bei Menschen allerdings …« »Ja?«, hakte der Fährmann nervös nach. »Was ist mit Menschen?« Jim beugte sich zu ihm herunter und sprach jedes Wort mit besonderer Betonung aus. »Wenn Menschen das Pech haben, vom Emnobellischen Dschungelesel-Mumps befallen zu werden, blähen sich ihre Augen auf und ihre Arme und Beine schwellen so heftig an, dass sie weder stehen noch sitzen können, noch nicht mal mehr ihre Sandalenriemen zubinden.« Der Fährmann lief langsam grünlich an. »Natürlich«, fuhr Jim mit Blick auf die beinahe voll besetzte Fähre fort, »fallen Doris und ich nicht in die Kategorie der gefährdeten Personen. Ich habe vor einigen Jahren mehrere Monate im Emnobellischen Dschungel verbracht und bin daher gegen diese und ähnliche Krankheiten immun und Aras können vom Emnobellischen Dschungelesel-Mumps bekanntlich ohnehin nicht befallen werden …« »Wie steckt man sich eigentlich an?«, erkundigte sich der Fährmann ängstlich. »Ach«, antwortete Jim, »auf verschiedenen Wegen … Die meistverbreitete Variante ist das Küssen eines Emnobellischen Dschungelesels …« »Ha! Dass mir das passiert, ist ja wenigstens
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ausgeschlossen. Denn ehrlich gesagt finde ich dieses Tier nicht im Geringsten attrak–« Schschschmmmmmaaaatztz! Schon hatte Brenda ihm den denkbar sabbrigsten Kuss auf die Lippen gedrückt. Der Fährmann warf zu Tode erschrocken die Arme in die Luft, raffte dann die Schöße seiner Galabija, sprang von der Kante der Fähre und raste wie wild über die Straße davon, wobei er immer wieder auf den Boden spuckte und eine lange dünne Staubfahne hinter sich herzog. »Gut gemacht, Brenda«, sagte Jim. »Es hat genauso funktioniert, wie ich es mir erhofft habe. Hätte nie gedacht, dass es so viel Mühe machen würde, auf eine Fähre zu gelangen.« »Na los«, drängte Doris ungeduldig, »sonst legt sie noch ohne uns ab.« Und so bestiegen die drei unerschrockenen Abenteurer die mittlerweile überfüllte Fähre. Langsam tuckerte das dampfbetriebene Gefährt ans Ostufer des ruhigen, funkelnden Nils. Cairo Jim reichte Doris einen Süßgoldkeks, den sie auf der Stelle aufaß, glücklich und vorsichtig, um ja keinen Krümel auf Jims Tropenhelm fallen zu lassen. Jim dagegen brachte keinen Bissen herunter – so aufgeregt war er wegen der Informationen, die er den Rhampsinites-Brüdern zu entlocken hoffte.
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Viele kleine Feluken fuhren vorbei, die Segel voll aufgebläht in der kräftigen Brise. Je näher sie dem anderen Ufer kamen, desto größer wurde vor den Passagieren der Fähre der Tempel von Luxor. Und schließlich sprangen die drei ungleichen Freunde, noch bevor die Fähre am kleinen Kai unterhalb des Tempels angedockt hatte, an Land und machten sich eilig auf den Weg zum Winter Palace Hotel. Brenda galoppierte schnurstracks in die Empfangshalle des großen Gebäudes, wo sie vor der Rezeption schlitternd zum Stehen kam. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte der Mann hinter dem Tresen. »Das hoffe ich«, erwiderte Jim und sah aus dem Sattel zu ihm herab. »Man hat mir gesagt, die Rhampsinites-Brüder seien hier.« »Ja, sie waren heute Morgen hier«, sagte der Mann und beäugte Brenda unsicher. »Sie haben draußen irgendwelche grauenhaften Souvenirs an die Touristen verkauft. Aber ich hab sie weggeschickt. Sie schaden dem Ruf unseres Hauses, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Das wundert mich überhaupt nicht. Wissen Sie, wohin sie gegangen sind? Es ist sehr wichtig, dass wir sie finden.« Während der Rezeptionist antwortete, wandte er
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den Blick keine Sekunde von Brenda ab. »Versuchen Sie es doch bei ihrer Skarabäus-Grube da vorne an der Straße. Dort hängen sie meistens herum.« »Vielen Dank«, sagte Jim. »Ich werd’s probieren.« Er drehte Brenda herum und wollte schon die Empfangshalle verlassen, als der Rezeptionist ihm nachrief: »An Ihrer Stelle würde ich die Eselin mal zum Tierarzt bringen. Ich glaube, sie hat Mumps.« Brenda iiiiiaaaahte aus Leibeskräften, als sie wieder in den strahlenden Sonnenschein hinaustraten. In der Skarabäus-Grube der RhampsinitesZwillinge war Abdullah Rhampsinites gerade dabei, seinem Bruder Kelvin Rhampsinites mit einer billigen Plastikimitation eines antiken Kanopengefäßes, einer Art Deckelbecher, auf den Kopf zu schlagen. »Du Idiot, du hirnverbrannter Idiot!« »Autsch! Hör auf damit«, wimmerte Kelvin. »Ich hör erst damit auf, wenn du einsiehst, was für ein unglaublicher Blödian du bist.« »Aua! Bitte, bitte nicht, ich seh’s ja ein, ich seh’s ja ein.« »Blödian, Blödian, Blödian!« »Oooh, oooh, oooh! Gnade, Gnade!«
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»Wie konntest du das bloß machen? Die Brosche war das einzige echte Ding, das wir je gehabt haben. Wieso hast du sie verkauft?« »Autsch! Ich wollte es nicht, es war ein Versehen. Ich bin ganz durcheinander gekommen, als die Frau angefangen hat zu feilschen. Ich dachte, die Brosche wäre auch nur eine unserer billigen Kopien.« »Das Museum von Kairo hätte uns ein Vermögen dafür bezahlt. Hast du eine Ahnung, wie selten Martenarten-Stücke sind? Tausende hätten sie uns dafür gegeben, Tausende! Du Volltrottel!« »Au!« »Ich hätte Mutter den Parfumladen kaufen können, von dem sie schon immer geträumt hat, mit samtbezogenen Salonmöbeln und Satinkissen und einem kleinen Kamelpfosten vor der Tür und Lotosblüten überall …« »Und Schummerbeleuchtung«, warf Kelvin ein, »vergiss die Schummerbeleuchtung nicht.« »Und Schummerbeleuchtung«, schnaubte Abdullah. »Du Idiot!« »Auaaa!« Abdullah hielt kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen. »Aber selbst wenn ich ihr den Laden kaufen könnte – es würde nichts bringen«, sagte er. »Sie würde wahrscheinlich sowieso denken, er wäre von dir.«
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»Ich kann doch nichts dafür, dass sie uns nicht auseinander halten kann. Keiner kann uns auseinander halten.« »Aber sie ist unsere leibliche Mutter, um Himmels willen!« »Aaaaaahh!« »Sag mir, wer die Brosche gekauft hat, du Blödian.« »Diese Fotografin, die immer weiße Sachen anhat. Die mit dem Moskitonetz am Hut.« »Pyrella Frith«, zischte Abdullah wütend. »Genau die war’s«, sagte Kelvin. »Drei Pfund hat sie mir dafür gegeben.« Das stachelte den Zorn seines Bruders nur noch weiter an. »Drei Pfund? Drei Pfund? Wie viele Satinkissen kann ich für drei Pfund kaufen, was meinst du? Du hirnloser Blö–« »Lassen Sie den Deckelbecher fallen!«, dröhnte eine Stimme von irgendwo weit oben. Abdullah zuckte zusammen und ließ den Becher fallen – und zwar genau auf Kelvins Kopf. »Autsch!«, schrie Kelvin. Als sie aufsahen, erblickten sie am Rand der Grube Jim, Doris und Brenda, die sich dunkel gegen die gleißend helle Mittagssonne abzeichneten. »Das ist Cairo Jim«, flüsterte Kelvin, während die drei langsam auf dem schmalen Pfad in die
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Skarabäus-Grube stapften. »Was will der denn hier?« »Woher soll ich das wissen? Vielleicht will er ein paar Skarabäen. Steh auf und hol die Schubkarre.« »Kann ich nicht – du sitzt auf meinem Brustkorb.« »Blödmann.« Abdullah richtete sich auf und stieg von seinem Bruder herunter. Kelvin rannte augenblicklich zu der halb verfallenen Blechhütte, in der sie die Schubkarre aufbewahrten. »Na, wenn das nicht Kelvin Rhampsinites ist«, sagte Jim und sprang aus dem Sattel. »Ganz recht, Cairo Jim«, erwiderte der Rhampsinites-Zwilling. »Ich bin tatsächlich nicht Kelvin. Ich bin Abdullah.« »Tut mir Leid.« »Nein, braucht es nicht. Es ist tausendmal besser, Abdullah zu sein. Zumindest besitze ich ein Gehirn.« Und was für ein hinterlistiges!, dachte Doris, während sie von Jims Tropenhelm herabflatterte und sich auf Abdullahs Kopf niederließ. »Runter mit dir, du Federwisch«, kreischte Abdullah und versuchte Doris mit seiner knochigen Hand zu verscheuchen. Daraufhin flog sie krächzend zu Brenda hinüber und ging zwischen deren Höckern in Deckung.
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Kelvin schob die quietschende Schubkarre, die bis zum Rand voll mit glänzenden PlastikSkarabäen war, auf seinen Bruder zu. »Cairo Jim«, sagte er unterwürfig, »wie schön, Sie wieder zu sehen. Möchten Sie vielleicht ein paar Skarabäen kaufen? Womöglich sogar ein Dutzend? Wir haben gerade ein Sonderangebot und würden …« »Nein danke, die können Sie gleich wieder wegbringen«, entgegnete Jim. »Sie wissen doch, dass ich mit Ihren zwielichtigen Geschäften nichts zu tun haben will.« Die Brüder wechselten einen Blick und kicherten. Sie mochten solche Komplimente. Brenda musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. Es war das erste Mal, dass sie die Zwillinge so dicht nebeneinander stehen sah, und sie war erstaunt, wie sie sich aufs Haar ähnelten. Beide waren sehr groß gewachsen und dünn wie Bohnenstangen und trugen identische schwarz-rot gestreifte Galabijas sowie giftgrüne Plastiksandalen, die sie sich in dem kleinen Arbeitsschuppen hinten in der Grube gebastelt hatten. Dort stellten sie auch die tausenden und abertausenden von Plastik-Skarabäen und Kanopen-Imitaten her, die sie ahnungslosen Touristen mit der Behauptung andrehten, es wären kostbare Funde aus der neunzehnten Dynastie. Über dem linken Auge trugen
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die Zwillinge je eine schwarze Augenklappe, und zwar schon seit ihrer Kindheit, aber niemand wusste warum, und niemand hatte sich je die Mühe gemacht, es herauszufinden. Ihr Haar war rappelkurz geschnitten und immer schmutzig und zusammengerechnet hatten sie nur noch sieben Zähne im Mund – gelbe, grässliche Hauer. »Ich bin in einer sehr wichtigen Angelegenheit hier«, verkündete Cairo Jim. Er nahm die Brosche aus der Hemdtasche und hielt sie den Brüdern vors Gesicht. »Ich muss wissen, wo Sie das hier gefunden haben.« Abdullah wäre fast das eine unbedeckte Auge aus dem Kopf gefallen, als er seinen verlorenen Schatz erblickte. Er runzelte verschlagen die Stirn und stieß seinen Bruder in die Seite. »Aua«, stöhnte Kelvin. »Lassen Sie das, Sie Rohling«, warnte ihn Jim, »und beantworten Sie mir meine Frage.« Abdullah Rhampsinites’ Stirnrunzeln verwandelte sich in ein speichelleckerisches Grinsen. »Ah, Cairo Jim«, sagte er, als wäre Jim sein bester, liebster Freund, »Sie meinen dieses wertlose Ding da? Das wollen Sie bestimmt nicht haben. Lassen Sie mich Ihnen die Last dieses minderwertigen Gegenstands abnehmen.« Er griff in einen Schlitz seiner Galabija – wor-
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aufhin Doris ganz alarmiert aufschreckte – und holte eine Hand voll schmutziger, zerknüllter Geldscheine heraus. Als Doris sah, dass er nur Geld ans Tageslicht befördert hatte und kein Messer oder eine Pistole oder sonst irgendeine Waffe, entspannte sie ihr Federkleid wieder etwas, behielt den Mann aber weiterhin im Auge. »Würden Sie mir das Ding vielleicht verkaufen?«, fragte Abdullah. »Ich mache Ihnen ein sehr großzügiges Angebot. Ein Angebot, das Sie sicher nicht ausschlagen können. Wie wär’s mit einem Pfund?« »Machen Sie sich nicht lächerlich«, erwiderte Jim. »Okay, dann anderthalb Pfund?« »Sie strapazieren meine Geduld …« »Also gut, mein letztes Angebot: zwei Pfund und so viele Skarabäen, wie Sie tragen können.« »Diese Brosche ist unverkäuflich«, sagte Jim entschieden. Abdullah runzelte wieder die Stirn. »Sind Sie sicher?«, fragte er niedergeschlagen. »Absolut.« »Auch wenn ich zwei Paar Sandalen für den Esel drauflege?« Brenda schnaubte lautstark. »Entschuldigung – für das Kamel.«
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»Nicht für hundert Paar Sandalen und die flotteste Fatima Ägyptens kriegen Sie die Brosche!« »Lassen Sie Mutter aus dem Spiel«, sagte Kelvin. Jim steckte die Brosche zurück in die Tasche und ging einen Schritt näher auf die beiden zu. »Jetzt hören Sie mal, Abdullah …« »Ich bin Kelvin.« »Also gut, Kelvin. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Woher stammt die Brosche?« »Solche Informationen kosten schon eine Kleinigkeit«, brummte Abdullah. Jim holte seufzend seine Brieftasche heraus. »Vielleicht hilft das hier Ihrer abominablen Zunge auf die Sprünge. Aber ich will die Wahrheit.« Er hielt eine Pfundnote hoch. »Ach, wie hübsch Sie sich immer ausdrücken können, Cairo Jim.« Abdullah schnappte sich den Geldschein aus Jims Hand, geschmeichelt darüber, dass seine Zunge als »abominabel« bezeichnet worden war. Er hatte zwar keine Ahnung, was das Wort bedeutete, aber auf irgendeine fiese Art und Weise klang es gut in seinen Ohren. »Und?«, drängte Jim. »Ich hab die Brosche gefunden«, erzählte Kelvin. »Das ist mir schon bekannt«, erwiderte Jim. »Ich will wissen, wo Sie sie gefunden haben.« Abdullah streckte auffordernd die Hand aus.
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»Mehr Informationen, mehr Bakschisch«, sagte er mit einem lüsternen Grinsen. Jim drückte ihm seufzend eine weitere Pfundnote in die Hand. »Im Sand«, winselte Kelvin. »Ganz Ägypten ist voller Sand«, stieß Jim hervor. Langsam ging ihm die Geduld aus. »Also bitte wo im Sand?« Abdullahs Hand schnellte wieder vor und wieder legte Jim ihm eine Banknote hinein. »Im Tal der Könige.« Jim warf Doris einen Seitenblick zu. Sie schlug aufgeregt mit den Flügeln. Genau das hatten sie zu hören gehofft. »Und wo im Tal der Könige?« Noch eine Pfundnote. »In der Nähe von so ’n paar Grabmälern.« »Welchen Grabmälern?« Jims Kehle war vor lauter Vorfreude wie ausgedörrt. Er zahlte den nächsten Geldschein. Kelvin wollte gerade antworten, da ging Abdullah dazwischen: »Am Nachmittag ist das Erinnerungsvermögen meines Bruders nicht besonders gut …« »Blödsinn!«, protestierte Kelvin. »Sei still!« »Aber mein Erinnerungsvermögen ist hervorragend!«
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Abdullah kniff seinen Bruder in den Arm und wandte sich wieder an Cairo Jim. »Er ist manchmal ziemlich vergesslich, vor allem wenn die Sonne ihm so heftig auf den Kopf knallt. Er bräuchte einen Hut, der ihn schützt.« »So so, einen Hut?«, echote Jim. »Und Hüte sind bekanntlich nicht ganz billig, mein Freund.« Cairo Jim blätterte seine Geldscheine durch, bis er zu den größeren kam. Dann zog er eine FünfPfund-Note heraus. »Das sollte reichen«, sagte er. Abdullah lachte, wobei er seinen Mund weit aufriss und seine vier scheußlichen Zähne entblößte. »Ah, Cairo Jim, das ist sehr nett von Ihnen, wirklich sehr nett, aber ich fürchte, für fünf Pfund bekommt man keinen richtig brauchbaren Hut. Die Krempe würde ihm kaum über die Ohren reichen. Und Sie wollen doch nicht, dass mein lieber Bruder mit sonnenverbrannten Ohren herumläuft, oder?« »Gott bewahre!«, stieß Jim zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Hier sind zehn Pfund.« »Oh, Sie sind ja so großzügig. So freundlich und besorgt.« Abdullah nahm das Geld. »Aber mein Bruder braucht einen ganz besonderen Hut – mit einem kleinen solarbetriebenen Propeller oben
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drauf, der sich bei ganz starker Sonneneinstrahlung dreht und damit sein Haar kühlt. Es gibt nichts Schlimmeres als verschwitzte Haare im Nacken …« »Schon gut, schon gut. Hier sind zwanzig Pfund.« »Dreißig.« »Fünfundzwanzig.« »Neunundzwanzig.« »Sechsundzwanzig.« »Achtundzwanzig.« »Siebenundzwanzig.« »Siebenundzwanzigeinhalb.« »Siebenundzwanzig Pfund und keinen Piaster mehr.« Rasch zählte Jim das Geld zusammen und warf es Abdullah vor die Füße. »Und jetzt will ich endlich wissen«, forderte er, während Abdullah sich nach den Geldscheinen bückte, »in der Nähe welcher Grabmäler Sie die Brosche gefunden haben!« »Eine Fliegenklatsche wäre auch nicht schlecht«, schaltete sich Kelvin ein. »Eine aus Zebraschweifhaaren. Die ist auch nicht billig …« »Wenn Sie es mir nicht auf der Stelle sagen, Sie raffgierigen Schufte …« »Danke für die Blumen, Cairo Jim, besten Dank«, sagte Abdullah. »… hetze ich Doris auf Sie. Doris!«
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Sofort kam der große blau-gelbe Vogel angeflogen, ließ sich auf Jims angewinkeltem Arm nieder und musterte die Zwillinge bedrohlich. »Nein, bitte nicht!«, wimmerte Abdullah, dem bei der Vorstellung von so vielen Federn, die über seinem Kopf herumwirbeln sollten, der kalte Angstschweiß ausbrach. »Sag’s ihm, sag’s ihm«, drängte er seinen Bruder. »Ich hab sie zwischen dem Grab von Thutmosis I und dem von Seti II gefunden«, plärrte Kelvin. »Neben dem Pfad, auf dem nie jemand geht.« »In der Nähe des kleinen Hügels, der aussieht wie ein zerdrückter Filzhut?«, hakte Jim nach. »Ja, genau.« »Fliiiiiiiirrrrk«, fliiiiiirrrrkte Doris freudig. »Und sie lag einfach so da im Sand?« »Ja«, wimmerte Kelvin. »An der Oberfläche oder vergraben?« »Ein Stückchen vergraben.« »Aber woher wussten Sie dann, dass sie da liegt?« Kelvin erschauerte. »Wegen dem Raben«, erzählte er. »Da war ein riesiges schwarzes Vieh mit roten Augen und einer rauen gelben Zunge und Federn …« »Igitt«, warf Abdullah ein. »… Federn so schwarz wie die Nacht. Wenn es
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sich nicht auf mich gestürzt hätte, sodass ich zu Boden gehen und mir die Arme um den Kopf schlingen musste, hätte ich die Brosche nie gefunden. Ich hasse Vögel genau wie mein Bruder. Ich krieg Ausschlag von ihren Federn, überall so scheußliche rote Flecken. Also hab ich nur dagelegen, so reglos wie möglich, so ruhig wie der Nil in einer windstillen Nacht, und hab gewartet, bis das verfluchte Vieh wieder weggeflogen ist. Als ich das Auge aufgemacht hab, hab ich bemerkt, dass mit dem Sand direkt unter meiner Nase etwas nicht stimmt. Der war nicht so weich wie sonst überall, sondern irgendwie hart. Ich hab mich erst nicht getraut, mich groß zu bewegen, ich wusste ja nicht, ob der Rabe vielleicht wiederkommt, also hab ich nur mit der Nase so hin- und hergescheuert, bis der ganze Sand weg war. Und da lag es dann, dieses wunderschöne Ding, und meine Nase direkt auf den Hieroglyphen.« Cairo Jim war so überglücklich, dass er das Gefühl hatte, ein komplettes Sinfonieorchester würde in seinem Inneren zu einer Freudenarie ansetzen und mit einem Schlag alle Zweifel wegwischen, die er je in Bezug auf die Ausgrabungen gehabt hatte. Jetzt, nachdem er Kelvins Geschichte gehört hatte, war er sicher, dass er an der richtigen Stelle suchte. Zusammen mit Doris, die immer noch auf seinem
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Arm thronte, schwang er sich auf Brendas größeren Höcker und lenkte das Wunderkamel aus der Skarabäen-Grube hinaus. »Vielen Dank, Abdullah«, rief er über die Schulter zurück. »Sie waren mir eine unschätzbare Hilfe!« »Aber ich bin doch Kelvin!« »Kelvin, der größte Dämlack aller Zeiten«, fügte Abdullah hinzu und kniff seinen Bruder schmerzhaft in den Arm. »Aber was ist mit unserem Bad, Jim?«, fragte Doris, während sie zur Fähre zurückgaloppierten. »Ich fürchte, das wird warten müssen, meine Liebe«, erwiderte Jim, die Augen leuchtend vor neu erwachter Begeisterung. »Wir müssen vorwärts kommen, solange wir den Zeitfaktor auf unserer Seite haben. Weißt du, was diese kleine Brosche bedeutet? Sie ist der Schlüssel zu unserem Schicksal. Nach all der Zeit befinden wir uns endlich auf dem richtigen Weg. Jippie!« »Jippie«, wiederholte Doris. Sie war etwas beleidigt, weil sie auf ihre Plantschstunde im Nil verzichten musste, freute sich aber, dass Jim glücklich war. Ein »Jippie« kam ihm normalerweise sehr selten über die Lippen. Auch Brenda schien sich mitzufreuen, denn ihr
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Galopp war leichtfüßig und tänzelnd, als sie ihre beiden Freunde vom Dorf namens Gurna zurück in ihr abgeschiedenes Lager im Tal der Könige beförderte. Dort begannen sie wieder zu graben. Den warmen Schein der langsam untergehenden Sonne im Rücken, füllte Cairo Jim Eimer für Eimer mit Steinen, Sand und Geröll, und Doris schleppte jeden Eimer zum Steinhaufen und kippte ihn gehorsam dort aus, während Brenda die ganze Szenerie aufmerksam bewachte. Mit jedem Steinbrocken und jedem Körnchen Sand, die er wegräumte, schlug Cairo Jims Herz schneller. Welche ungeheuren Schätze sie wohl in der Tiefe erwarten mochten? Keiner der drei Freunde bemerkte das lange Teleskop aus Messing, durch das sie von der anderen Seite des Tales seit nunmehr drei Wochen beobachtet wurden.
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4. Kapitel
Zur selben Zeit jenseits der Sandhügel
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as Teleskop war immer noch auf sie gerichtet, als Cairo Jim, Doris und Brenda, die nach der anstrengenden Arbeit vollkommen erschöpft waren, ins Lager zurückzukehren beschlossen, um sich ein paar Stunden erholsamen Schlaf zu gönnen. Die Rabendame mit den pulsierenden roten Augen, der rauen gelben Zunge und den Federn so schwarz wie die Nacht wandte sich von dem Fernrohr ab und schaute ihren Herrn an. »Sie haben die Grabungsstätte verlassen«, meldete sie. »Sie sind auf dem Weg zurück zum Zelt.« Der stämmige, bärtige Mann mit dem burgunderroten Fez holte seine Uhr aus der Tasche seiner smaragdgrünen Weste hervor und warf im Schein des Mondes einen Blick darauf. »Dreiundzwanzig Uhr dreiunddreißig«, sagte er leise. »Die haben heute ganz schön lange gemacht. Hmm.« Desdemona, die Rabendame, gluckste in der stillen Nachtluft vor sich hin. »Wie hoch ist der Steinhaufen jetzt?«, fragte der Mann besorgt.
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Sie spähte wieder durch das Teleskop. »Viel größer als gestern, viel, viel größer.« »Lass mich mal sehen.« Er erhob sich aus seinem Korbstuhl, wo er den klagenden Tönen aus seinem uralten Grammofon gelauscht hatte, und ging zum Fernrohr. »Tatsächlich«, murmelte Captain Neptun B. Bone, nachdem er hindurchgeschaut hatte. »Fast schon groß genug. Nur noch ein paar Tage, dann sind wir so weit.« »Dann können wir den Sprengstoff platzieren?«, fragte Desdemona. »Arrrr«, knurrte Bone, der als Kind eindeutig zu viele Piratenfilme gesehen hatte. »Dann können wir den Sprengstoff platzieren.« Desdemona hüpfte aufgeregt auf und ab. »Bäng, bumm, bimm – und weg ist Cairo Jim. Nimmermehr, nimmermehr, nimmermehr!« Bone kehrte zu seinem Stuhl zurück und ließ sich langsam darauf nieder. »Ah, du hässliche Halunkenbraut«, sagte er zu dem glänzenden Vogel, »mein Plan ist der beste, der je geschmiedet wurde. Es gibt noch viel zu tun, aber sobald wir Cairo Jim und seine kleine Menagerie aus dem Tal vertrieben haben, gehören seine ganzen Schätze mir. Mir ganz allein!« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte.
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Desdemona pickte sich einen Floh vom Flügel und spuckte ihn in den Sand. »Also ist er auf der richtigen Spur?« Bone warf ihr einen scharfen Blick zu. »Natürlich ist er auf der richtigen Spur, du dummer Düsenvogel. Glaubst du etwa, wenn das nicht so wäre, würden wir schon seit Ewigkeiten hier sitzen und jede seiner Bewegungen mitverfolgen?« »Aber denen in Kairo hast du erzählt …« »Denen von der Gesellschaft zur Erhaltung von Altertümern hab ich erzählt, Jim würde an der falschen Stelle buddeln, ganz recht. Ich wollte ihr Vertrauen in ihn erschüttern.« »Aber warum?« Bone seufzte. »Für einen Raben bist du manchmal wirklich schwer von Begriff. Weil ich gehofft hatte, dass Gerald Perry Esquire davon erfährt und Cairo Jim vielleicht seine Unterstützung entzieht. Und dann hätte unser guter Freund seine Arbeit nicht mehr lange fortsetzen können. Aber leider hat Perry mehr Vertrauen zu Jim, als ich dachte. Und deswegen sind wir hier.« »Ach so«, krächzte die Rabendame. Bone verschränkte die dicken Wurstfinger und reckte die Arme gen Himmel, bis seine Knöchel laut knackten. »Aaaaaar«, kreischte Desdemona. »Ich kann es
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nicht ausstehen, wenn du das machst. Dann pulsieren meine Augen noch schlimmer als sonst.« »Martenarten, Martenarten, Martenarten«, murmelte Bone vor sich hin. »Der verschwundene Pharao. Aber er wird nicht mehr lange verschwunden bleiben. Bald wird die Entdeckung von Martenarten untrennbar mit dem Namen Neptun B. Bone verbunden sein. Ich werde in die Geschichte eingehen als der Mann, der das Grabmal entdeckt hat. Und weißt du, was mir dabei die größte Freude bereitet?« »Was könnte das bloß sein?« »Dass Cairo Jim keine Lorbeeren ernten wird. Nicht das kleinste Lorbeerblättchen. Er wird in Vergessenheit geraten – oder man wird sich an ihn höchstens als an den Mann erinnern, der aufgegeben hat und von hier weggegangen ist. Oder besser gesagt, weggerannt, wenn mein Plan aufgeht.« »Eines verstehe ich aber nicht«, warf Desdemona ein, während sie auf der Suche nach Flöhen mit der Schnabelspitze das Rückengefieder durchstöberte. »Was verstehst du nicht, du stumpfsinnige Stummellerche?« »Was bringt es, wenn wir den Steinhaufen in die Luft jagen? Sollten wir nicht lieber dort sprengen, wo sie graben?« »Törichter Tölpel.« Bone lächelte. »Denk doch
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mal darüber nach. Wenn wir die Ausgrabungsstätte in die Luft jagen, besteht die Gefahr, dass wir auch das Grabmal beschädigen. Ich hab so das dumpfe Gefühl, dass Jim schon ziemlich nahe am Eingang ist. Nein, ich hab mir das alles ganz genau zurechtgelegt. Wir stecken den Sprengstoff ganz unten in den Steinhaufen, und wenn der große Knall kommt, kracht das ganze Zeugs – Steine, Geröll, Sand, alles – den Hügel runter zur Ausgrabungsstelle und begräbt den Eingang unter sich, sodass die monatelange Arbeit von Cairo Jim zunichte gemacht ist. Arrr.« »Und dann? Was dann?« »Wenn ich Cairo Jim richtig einschätze – und ich hab ihn mal ziemlich gut gekannt, musst du bedenken –, dann wird er zwar entmutigt sein, aber trotzdem noch nicht aufgeben wollen. So stur, wie er ist, schickt er bestimmt einen Brief oder ein Telegramm an Gerald Perry Esquire, in dem drinsteht, was passiert ist und dass er mehr Zeit braucht. Aber das geht dann natürlich nicht.« »Warum?« »Weil mehr Zeit auch mehr Geld bedeutet. Viel, viel mehr Geld, und ich weiß zufällig, dass Gerald Perry Esquires Mittel langsam zur Neige gehen. Diese Täubchen-Schnellimbiss-Kette, die er eröffnet hat, läuft nicht besonders gut. Er ist darauf an-
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gewiesen, dass Cairo Jims Grabungsergebnisse und der Presserummel, der dann einsetzen würde, sein Geschäft ankurbeln. Also wird er natürlich, wenn er Jims Nachricht erhält, antworten, dass er sich die Grabungen nicht mehr leisten kann. Und Jim, der es sich seinerseits nicht leisten kann, die Arbeit auf eigene Kosten fortzuführen, wird gezwungen sein, aufzugeben und zu gehen.« Neptun B. Bone reckte den schwabbeligen Hals und fuhr sich mit den Fingerspitzen durch den rötlich braunen Bart. »Und genau an diesem Punkt, du flohzerfressenes Federvieh, komme ich ins Spiel. Sobald Jim und seine Freunde die Biege gemacht haben, räume ich das Geröll beiseite und mache da weiter, wo er aufhören musste.« Desdemona brach in lautes, heiseres Rabengelächter aus, das sich für Bones Ohren so anhörte wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzen. »Arrr, aufhören, aufhören«, flehte er und hielt sich mit den Händen die Ohren zu. »Was findest du denn so lustig?« Die Augen der Rabendame pulsierten verächtlich. »Dass du eine Kleinigkeit nicht bedacht hast«, krächzte sie. »Kann nicht sein.« »Doch, kann es sehr wohl.«
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»Nein, kann es nicht. Ich habe alles berücksichtigt. Das tun Genies wie ich nun einmal.« »Genie – pah! An deiner Stelle würde ich mich eher genieren. Ich sag dir, wo der Fehler steckt.« Bones Bart kribbelte in der stillen Nachtluft. »Na fein, du besserwisserischer Basstölpel«, schnaubte der Captain. »Los, sag’s mir.« Desdemona legte sich rücklings auf den Boden und verschränkte die Flügel unter dem Kopf. »Tja«, begann sie selbstgefällig, »wie genau willst du den Geröllhaufen denn wegräumen? Jim und diese grellbunte Doris haben drei Monate gebraucht, um den Haufen abzutragen. Wie lange, meinst du, brauchen wir – vor allem, wenn man deine Allergie gegen harte körperliche Arbeit bedenkt?« »Ich bin nicht allergisch gegen körperliche Arbeit«, wandte Bone ein. »Ich habe nur sehr empfindliche Hände. Die hab ich von meiner Mutter geerbt.« »Na fein, wenn man deine empfindlichen Hände bedenkt, sind wir an dem Steinhaufen bestimmt mindestens ein Jahr zugange.« Neptun B. Bone hob einen Stein auf und warf ihn in Richtung der Rabendame, wobei er allerdings darauf achtete, sich ja keinen Fingernagel zu zerkratzen. »Aaaahh!«, schrie Desdemona auf, als der Stein sie an der Stirn traf.
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»Du unterschätzt mich, Desdemona. Ich hab doch gesagt, ich hab an alles gedacht.« »Also gut«, stöhnte sie und rieb sich die Stirn. »Und wie räumen wir das Zeug dann weg?« »Hiermit.« Er holte eine Hand voll druckfrischer Geldscheine aus der Tasche seiner Knickerbockerhose. Die Rabendame richtete sich schlagartig auf. »Wo hast du das her?« »Du hast doch nicht etwa angenommen, ich hätte alle unsere Funde aus dem Fürstentum Purzellopanien ins Kairoer Museum gebracht? Ein paar der kostbaren Stücke hab ich natürlich privat verkauft. Das hier ist lediglich ein kleiner Teil des Erlöses.« * »Du arglistiger Archäologe!« »Ich muss also nur nach Gurna und zwei Dutzend kräftige junge Männer als Arbeiter anheuern. Erstaunlich, was man mit eintausend Pfund so alles kaufen kann. Bei so vielen Helfern tragen wir den Steinhaufen bestimmt in einer Woche ab.« »Gar nicht dumm«, murmelte Desdemona. Captain Neptun B. Bone genießt den Ruf, das Fürstentum Purzellopanien entdeckt zu haben, einen lange Zeit unbekannten Staat, dessen Einwohner sich auf den ersten Fahrrädern der Welt in den Wahnsinn geradelt hatten. *
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»Gib zu, dass du im Unrecht warst.« »Schon gut, schon gut«, krächzte sie finster. »Ich war im Unrecht.« »Arrr. Und noch was. Gib zu, dass ich ein Genie bin.« »Du bist ein Genie«, raunte sie kaum hörbar. »Ein was?« »Ein Genie.« »Ich kann dich nicht verstehen.« »Ein Genie!« »Schon besser. Und vergiss es bloß nie wieder.« Bone stand auf und marschierte in seinem Lager umher. »Du musst verstehen«, sagte er leise, »alles ist Teil meines Meisterplans. Teil zwei ist von ebenso großer Bedeutung: Cairo Jim Angst einjagen. Wir können den Steinhaufen ja nicht einfach so sprengen, ohne Vorwarnung und ohne ersichtlichen Grund. Sonst würde er doch misstrauisch werden, stimmt’s? Also brauchen wir vorher etwas, das ihm gehörig Angst einjagt.« Er drehte sich zu seiner Begleiterin um. »Deswegen hab ich dich die Fotos in die Grabungsstätte werfen lassen. Ach, da fällt mir ein, es wird Zeit für das nächste Bild.« Er stapfte zu einer großen Truhe aus Zedernholz, die vor der Eingangsklappe seines Pavillonzeltes stand, und machte den Deckel auf. In der Truhe befanden sich jede Menge Vergrößerungsgläser,
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Grammofonplatten, eine Sammlung verschiedenartiger Feze, Fotoalben, ein Sortiment Artefakte, die aus diversen Expeditionen durch Ägypten, Peru, Sumatra und einige kleinere afrikanische Länder stammten, ein paar alte Ausgaben der Zeitung der Gesellschaft zur Erhaltung von Altertümern und ein antikes Maniküre-Set in einer SchildpattKassette, das er ausnahmslos jeden Morgen und jeden Abend benutzte. Bone holte ein Bild aus einem der Fotoalben heraus. »Heute Nacht, Vogel, wenn in Cairo Jims Lager alle Lichter erloschen sind, wirst du dieses Porträt von Wilhelm dem Eroberer nehmen und es an der üblichen Stelle abwerfen.« »Wieso Wilhelm der Eroberer?« »Das wirst du schon noch rechtzeitig erfahren«, erwiderte er geheimnistuerisch. Desdemona streckte sich und gähnte. »Ich hab Hunger. Wie wär’s mit etwas Seetang?« Bone schüttelte sich. »Könnte mir nichts Schlimmeres vorstellen.« »Wie du meinst«, sagte die Rabendame achselzuckend und hüpfte zu der Leinentasche hinüber, in der sie ihren Vorrat an Konserven mit japanischem Seegras aufbewahrte. Sie rollte die oberste Dose heraus und begann sie mit ihrem Schnabel aufzuhacken.
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»Gegen eine Zigarre hätte ich jetzt allerdings nichts einzuwenden«, murmelte Bone vor sich hin. Er schlüpfte in sein Zelt und durchstöberte das Schränkchen seines kleinen Nachttisches, bis er eine dicke braune Zigarre gefunden hatte. Er biss das eine Ende ab, spuckte es auf den Boden und zündete die Zigarre mit seinem silbernen Feuerzeug an. Dann trat er wieder in die ruhige Nacht hinaus und versank in Gedanken. Ein kleines Problem gab es mit seinem Plan nämlich schon: Wann sollten sie den Sprengstoff platzieren? Bei Nacht war es unmöglich; zu groß war die Gefahr, dass Brenda das Wunderkamel, das kaum jemals schlief, den Lichtstrahl ihrer Taschenlampen bemerken würde. Er nahm einen langen, tiefen Zug von seinem übel riechenden Tabakstängel. Was er brauchte, war ein Ablenkungsmanöver bei Tageslicht – etwas, das Jim, Doris und Brenda für einige Stunden vom Ausgrabungsort weglockte. Aber was? Er sah zu Desdemona hinunter, die mit dem Schnabel eifrig in die Dose Seetang stieß. Das schmatzende Schlürfen, das darauf folgte, ließ ihm einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Bone blies eine dicke Rauchwolke in Desdemonas Richtung und ging wieder zu seinem Teleskop. Es musste doch etwas geben, womit er Jim und
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seine Freunde ablenken konnte! Er nahm das Fernrohr vom Ständer, hob es ans Auge und ließ den Blick über das gesamte Tal schweifen. Langsam zog die nächtliche finstere Landschaft an seinem Auge vorbei. Dann erblickte er plötzlich etwas, das ihn auf eine Idee brachte. Da war etwas in der Ferne, neben einer großen Grasfläche, die nur vom schwachen Mondschein erleuchtet wurde. Bone hielt die Zigarre mit den Zähnen fest, als er die Lippen zu einem breiten Grinsen verzog. Ein Plan begann in seinem Kopf Gestalt anzunehmen – ein Plan von der hinterlistigsten Sorte. Damit kann ich Cairo Jim lahm legen, dachte er und zitterte aufgeregt angesichts seiner eigenen Bösartigkeit. Aber um den Plan in die Tat umsetzen zu können, würde er ein zweites Paar Hände brauchen. Oder noch besser, ein zweites und ein drittes Paar. Er befestigte das Teleskop wieder auf dem Ständer und hastete zu seinem tragbaren kleinen Schreibtisch ins Zelt. Aus einer Schublade holte er einen Bogen blassgelbes Briefpapier, auf dem sein Name und sein Beruf eingeprägt waren: Captain Neptun Beinhart Bone, Archäologe, und dazu sein Emblem, eine kleine Zeichnung eines purzellopanischen Fahrrads. Dann nahm er einen Filzstift in die Hand und kritzelte eine kurze Nachricht aufs Papier:
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Liebe Rhampsinites-Zwillinge, bitte kommen Sie morgen (Montag) gegen Mittag in mein Lager. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten, der für Sie gleichermaßen interessant wie einträglich sein dürfte. Arrr. (Unterschrift) Captain N. B. Bone. PS: Falls Sie mich nicht auf Anhieb entdecken, halten Sie nach dem Raben am Himmel Ausschau. Ich bin direkt darunter. Er faltete das Blatt Papier zusammen und steckte es in einen limonengrünen Umschlag. »Desdemona!«, rief er dann. »Komm her!« »Ich bin aber noch nicht fertig«, wandte sie schlürfend ein. »Komm her, und zwar auf der Stelle, du rottender Raubwürger!« Desdemona stieß die fast leere Konservendose beiseite und hüpfte zur Zeltklappe. »Was gibt’s?«, fragte sie, während sie sich mit einer Klaue am Schnabel kratzte. »Streck deine Zunge raus.« »O nein, nicht schon wieder …«, wimmerte sie. »Her damit.« »Nein, bitte nicht dafür …« »Werd nicht frech. Raus mit der Zunge.« »Ach bitte, muss ich wirklich?«
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»Zunge raus!« Er packte die Spitze ihrer rauen, vom Seetang klebrigen Zunge mit zwei Fingern und fuhr dann mit der Klebekante des Umschlags viermal daran hin und her. »Argh!«, keuchte die Rabendame und versuchte sich mit aller Kraft loszureißen. Als Bone sie endlich losließ, purzelte sie rücklings aus dem Zelt und blieb schließlich in einer Staubwolke liegen. Bone stand auf und folgte ihr hinaus, das verschlossene Kuvert in der Hand. »Igitt!«, prustete Desdemona. »Ich hasse selbstklebende Umschläge.« »Also manchmal neigst du zu unnötigen Überreaktionen. Und jetzt hör mir gut zu.« Er paffte an seiner Zigarre, während er den Blick über das Tal wandern ließ. »In Cairo Jims Lager ist jetzt alles dunkel. Dies ist genau die richtige Zeit, um wieder ein Bild abzuwerfen. Aber vorher möchte ich, dass du das hier zu den Rhampsinites-Zwillingen bringst.« Er schleuderte ihr den Brief hin. Desdemona riss die pulsierenden Augen auf. »Arrr«, krächzte sie, »darf ich wieder ein bisschen über sie herfallen? Letzte Woche hätte ich Kelvin beinahe erwischt. Oder war es Abdullah? Ich kann sie nie auseinander halten …« »Nein, du darfst nicht über sie herfallen«, sagte
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Bone. Der Zigarrenrauch wirbelte durch seinen Bart. »Wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten.« »Schade, schade«, krähte Desdemona. »Na los, ab mit dir. Wir haben viel zu tun.« Die Rabendame hüpfte auf und ab. »Viel, viel, viel. Nimmermehr, nimmermehr, nimmermehr.« Sie klemmte sich den Brief in den Schnabel und hüpfte zu ihrer Seetangtasche hinüber, wo sie die Postkarte von Wilhelm dem Eroberer liegen gelassen hatte. Die klemmte sie zu dem Brief dazu, hob einen Flügel zum Salut in Richtung Bone und flatterte dann mit einem gedämpften Wuuuuuuusch auf. Während sie in den sternenübersäten Himmel hochflog, ging Neptun B. Bone wieder zu seiner gefüllten Truhe und holte sein Maniküre-Set heraus. Dann suchte er eine neue Platte mit traurigen Klängen aus und kurbelte das Grammofon an. Ratternd erwachte das Musikgerät zum Leben und Bone setzte die Nadel auf der Platte auf. Tief drangen die klagenden Töne in sein Bewusstsein. »Martenarten, Martenarten, Martenarten …« Selbst sein Herz pumpte ihm im Takt des vergessenen Pharaonamens das Blut durch die Adern, während er sich hingebungsvoll die Fingernägel polierte und in die schwarze Nacht hinausschaute.
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5. Kapitel
Memnons Rückkehr
A
m Donnerstagmorgen gönnten sich Jim, Doris und Brenda eine Atempause von den Grabungsarbeiten und frühstückten gerade auf der Picknickdecke, die Jocelyn Osgood ihnen für solche Gelegenheiten dagelassen hatte, als Doris auf einmal den Schnabel in Jims Rucksack steckte und ihr Päckchen Karten herausholte. »Hat jemand Lust auf ein kleines Spielchen?«, fragte sie und mischte schon die Karten. »Nein danke, Doris«, wehrte Jim ab. »Heute nicht, sei mir nicht böse.« »Aber Brenda spielt mit, nicht wahr, Brenda?« Bevor Brenda auch nur schnauben konnte, begann Doris die Karten auszuteilen. »Gin Rommé«, sagte sie zu der Kameldame, die verzweifelt die Augen unter ihren Klimperwimpern verdrehte. Jim nippte seufzend an seinem Tee. »Was ist los?«, fragte Doris, der sein Gesichtsausdruck nicht entgangen war. Aber Jim schien sie nicht gehört zu haben, deshalb stieß sie ein kurzes, kratziges Kreischen her-
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vor, bei dessen Klang Brenda die Karten augenblicklich auf die Decke fallen ließ. »Tut mir Leid, Doris«, sagte Jim, der mit den Gedanken ganz weit weg gewesen zu sein schien. »Hattest du etwas gesagt?« »Ich hatte dich gefragt, was los ist. Du siehst so besorgt aus.« Cairo Jim lachte und nahm seinen Tropenhelm ab. »Ach nein, ich bin nicht besorgt. Wieso sollte ich besorgt sein, wo wir doch kurz vor solch einer unglaublichen Entdeckung stehen?« Er nahm die Kanne in die Hand und goss sich neuen Tee ein. »Nein, ich bin nur ein bisschen verwirrt, mehr nicht.« Doris legte die Karten weg, gerade als Brenda es geschafft hatte, die ihren wieder aufzunehmen und sie schön handlich – oder eher huflich – aufzufächern. »Verwirrt? Weswegen?«, hakte die Aradame nach. »Wegen der vielen kleinen Sachen, die wir ständig beim Graben finden. Die ganzen Postkarten und so.« »An deiner Stelle würde ich mir deswegen keine Gedanken machen«, sagte Doris. »Aber es ist doch sonderbar, dass immer wieder so was auftaucht. Fast jedes Mal, wenn wir weg waren und dann wieder zurückkommen, finden
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wir etwas Neues. Und dann die seltsame Zusammenstellung der Personen: erst Neil Armstrong, dann Agatha Christie, letzten Sonntag Wilhelm der Eroberer, dann Umberto Eco und gestern schließlich Nikolai Gogol. Wenn das nicht merkwürdig ist!« »Wer ist Nikolai Gogol eigentlich?« Jim nippte an seinem Tee. »Ein russischer Schriftsteller, ist aber schon lange tot.« »Ooh«, krächzte Doris. »Hat Gogol Abenteuergeschichten geschrieben?« »Nein, eigentlich nicht.« »Schade. Ich würde jetzt zu gern eine hübsche Abenteuergeschichte hören.« »Was für eine?« Doris kratzte sich mit der Flügelspitze am Kopf. »Lass mal überlegen«, setzte sie an. »Oh, ich weiß: irgendwas mit Dschungel und Schlangen und so, und der Held ist auf der Suche nach seiner Angebeteten, die er finden muss, bevor diese Truppe verschwitzter Schurken ihn gefangen nimmt und ihn zwingt zu verraten, wo die Braun-rote Kaiserin ist, eine unschätzbar wertvolle Statue aus China, die vor neunzig Jahren verschwunden ist. Der Held weiß aber, dass sie in einer verlassenen Mine vergraben liegt, irgendwo in den Bergen Patagoniens.« Während sie sich in ihrer Abenteuergeschichte
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verlor, drehte sie in der Luft kleine Pirouetten über der Picknickdecke, bis sie schließlich flatternd auf Brendas Kopf landete. Brenda tat so, als wäre die Vogeldame gar nicht da, und konzentrierte sich darauf, ihren Tee nicht zu verschütten. »Und wie endet deine Geschichte, Doris?«, fragte Jim. »Ach, es gibt einen mächtigen Schwertkampf zwischen dem Helden und der Truppe verschwitzter Schurken, aber der Held gewinnt, und seine Angebetete, die Jocelyn Osgood wie aus dem Gesicht geschnitten ist, wirft sich in seine Arme und bringt ihn dazu, sich auf der Stelle gründlich zu rasieren.« Sie warf Jim einen flüchtigen Blick zu. »Und dann legen sie mitten im Dschungel einen Tango hin, oder vielleicht eine Rumba, und über ihnen funkeln die Sterne am Himmel.« »Und was ist mit der Braun-roten Kaiserin? Wird sie gefunden?« Doris hörte auf zu flattern und überlegte. »Nein«, entschied sie schließlich. »Die Braun-rote Kaiserin bleibt in der patagonischen Mine und der Held will sie gar nicht mehr, denn er hat ja seine Angebetete endlich gefunden, und das reicht schließlich für eine Geschichte.« »Also ohne deine Phantasie wäre das Leben nur halb so schön«, sagte Jim fröhlich.
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Doris lächelte selbstzufrieden. Da schossen ihr ein paar Melodiefetzen durch den Kopf. Sie stieß sich von Brendas Kopf ab und erhob sich hoch in die Lüfte, der Sonne entgegen. Mehr als eine Minute schwebte sie am heißen, wolkenlosen Himmel, bevor sie wieder herabschoss und sich genau in der Mitte der Picknickdecke anmutig niederließ. »Und jetzt ein kleines Liedchen«, verkündete sie. Sie hob kurz einen Flügel an den Schnabel und räusperte sich dezent, dann schlug sie die Schwingen vor sich zusammen und begann in bekannt schriller Aramanier zu singen: »Er gehört zu mir, wie mein Schnabel im Gesicht, und ich weiß, er bleibt hier … Das ist wahre Freundschaft – u-u-u, die nie mehr vergeht – u-u-u, Jim ist mir der liebste – u-u-u-u, Archäologen-Poeeee-he-he-heet!« Sie schloss mit einem fulminanten »Er gehört zu miiiiiiiir!«, dann trat sie einen Schritt zurück und verneigte sich bis zum Boden. Jim strahlte übers ganze Gesicht und klatschte begeistert, während Brenda belustigt schnaubte.
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»Bravo, bravo. Deine zauberhaften Klänge sind mir immer eine Quelle der Inspiration. Was für ein wunderbarer Vogel!« Doris’ Lächeln zog sich auf einmal wieder gefährlich in die Breite. »Jmmmm …? Knntst d btte …? Mn Schnbl …« »Aber ja, für dich tue ich doch alles, meine gefiederte Diva.« »Quaaauuuu«, schnaubte Brenda plötzlich aufgeregt, sprang auf und deutete mit dem Kopf auf die Spitze eines nahe gelegenen Hügels, über den sich eine staubige Straße wand. Jim stand ebenfalls auf und Doris flog auf seine Schulter. In der Ferne strampelte eine schmale weiße Gestalt auf einem weißen Fahrrad wie wild auf die drei zu. »Wer das wohl ist?«, überlegte Jim. Dann holte er hastig sein Fernglas heraus und sah hindurch. »Na so was, Miss Frith.« »Was kann sie denn nur wollen?«, krächzte Doris. »Nach ihrem entschlossenen Gesichtsausdruck zu urteilen, würde ich sagen, dass sie uns etwas mitteilen will. Sie hat die Zähne ganz fest zusammengebissen und runzelt finster die Stirn. Doris, holst du bitte noch eine Tasse und Untertasse aus meinem Zelt? Miss Frith braucht bestimmt gleich eine kleine Erfrischung.«
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Ohne ein Krächzen tat Doris, wie ihr geheißen. Fünf Minuten später erreichte Miss Pyrella Frith die Grabungsstätte. Sie klingelte einmal, brachte ihr Fahrrad in einer Staubwolke direkt neben der Picknickdecke zum Stehen und sprang ab. Jetzt hatte sie die Zähne noch fester zusammengebissen, denn die letzten fünf Minuten war sie über unbefestigte Sandhügel geholpert und ihr Fahrradsattel war nicht besonders gut gefedert. »Hallo, Jim, Doris, Brenda«, begrüßte sie die drei Freunde atemlos und nahm ihren Hut und das Moskitonetz ab. »Gut, dass ich euch erwische.« »Guten Morgen, Miss Frith«, erwiderte Jim. »Möchten Sie eine Tasse Tee?« »Keine Zeit, Jim.« »Keine Zeit?« »Keine Zeit. Da unten in der Nähe von Gurna ist etwas Unglaubliches im Gange, das müssen Sie sich anhören.« »Was denn?«, fragte Cairo Jim. »Kann’s Ihnen jetzt nicht sagen, bin zu erledigt. Sie müssen sofort mitkommen, wenn wir noch einen guten Platz ergattern wollen. Ich möchte ein paar anständige Bilder schießen und da hat sich schon eine ganz schöne Menge versammelt.« Sie hielt inne, um sich einen Floh vom Bein zu zupfen.
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»Merkwürdig. Ich wüsste nicht, dass es im Tal früher schon mal Flöhe gegeben hätte.« »In der letzten Zeit sind hier etliche merkwürdige Dinge vorgefallen«, sagte Jim. Pyrella fächelte sich mit der Hand Luft zu und atmete tief ein. »Los, wir müssen uns beeilen. Glauben Sie mir, es ist absolut erstaunlich.« »Na fein.« Jim, der wusste, dass Pyrella Frith so etwas nicht einfach so dahinsagte, eilte zum Lager und griff nach Brendas Sattel. »Soll ich das Geschirr wegräumen?«, fragte Doris, während Jim Brenda den Sattel über die Höcker hievte und ihn festzurrte. »Keine Zeit«, sagte Pyrella wieder, setzte sich den Hut samt Moskitonetz auf und schwang sich aufs Fahrrad. »Mir nach, ich kenne eine Abkürzung.« Jim schob seinen Tropenhelm auf den Kopf und kletterte auf Brendas Rücken. »Lass alles so liegen, bis wir wieder da sind, Doris. Aber nimm vier Orangen mit, wir essen sie unterwegs.« »Okey-dokey.« Doris warf die Früchte hinauf und flatterte dann auf den Sattel. »Miss Frith, das wird doch hoffentlich nicht lange dauern, oder? Wir haben noch jede Menge Arbeit vor uns.« Pyrella trat lächelnd in die Pedale. »Ich bin sicher, dass Sie nicht enttäuscht sein werden. Das
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Spektakel würden Sie bestimmt um nichts in der Welt verpassen wollen.« »Hoooch, Brenda, meine Hübsche.« Jim drückte der Kameldame sanft den Fuß in die Flanke, sodass sie sich erhob und losstapfte, hinter Pyrellas Fahrrad her. »Miss Frith, eines möchte ich aber schon noch wissen«, rief er. »Wohin gehen wir?« »Zu den Memnonskolossen«, antwortete sie, ohne sich umzusehen. »Arrrr, endlich sind sie weg«, brummte Neptun B. Bone, ein Auge am Teleskop. »Wurde auch Zeit«, grummelte Desdemona. »Hast du schon den Sprengstoff in die Tasche gepackt?« »Ja, fast alles. Ich hab das Dynamit, das TNT, das Gelatinedynamit und das Schießpulver. Nur das Nitroglyzerin fehlt noch.« Bone drehte sich zu ihr um. »Mit dem musst du besonders vorsichtig sein«, warnte er sie. »Ein Flügelschlag genügt und wir paddeln beide mit einer Feluke ins Jenseits – und zwar viel früher, als wir beide es uns je erträumt hätten.« Behutsam holte Desdemona die Flasche mit Nitroglyzerin aus dem Pavillonzelt und hob sie in die Reisetasche.
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Währenddessen hatte sich Bone wieder dem Fernrohr zugewandt und beobachtete, wie Pyrella, Jim, Doris und Brenda sich im Zickzack-Kurs einen Weg über die Hügel bahnten. »Und vergiss die Schaufel nicht«, sagte er. »Schon eingepackt.« »Den kleinen Besen, um unsere Fußspuren zu verwischen.« »Auch da.« »Und das Lufterfrischungsspray, um deinen Geruch zu übertünchen. Wir dürfen nicht die geringste Spur hinterlassen.« »Dickwanst«, schimpfte Desdemona leise. »Und wenn du damit fertig bist, geh und hol mir einen frischen Fez aus der Truhe. Ich glaube, ich werde heute den mandarinenfarbenen tragen.« »Faultier.« »Und hol mir auch meine Autofahrhandschuhe. Die violetten, damit sie zu meinen Gamaschen passen.« »Soll ich dir vielleicht auch noch die Socken einweichen?«, zischte die Rabendame. »Nein, das kann warten, bis wir wieder da sind.« »Fleischklops.« »Aber du kannst mir den Bugatti ankurbeln. Ich will mir nicht die Hände ölig machen.« »Eingebildete Dampfnudel.«
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Bone schleuderte einen Stein in ihre Richtung, wobei er darauf achtete, dass das Geschoss nicht in der Nähe des Sprengstoffs aufkam. Er hatte hervorragend gezielt, denn der Stein traf Desdemona direkt am Kopf. »Autsch!«, kreischte sie angesichts des unerwarteten Schlags und sah zum Himmel hoch, woher das Ding gekommen sein könnte. »Und pass in Zukunft besser auf, was du sagst«, dröhnte Neptun B. Bone. Miss Pyrella Frith hatte Recht gehabt: Eine große Menschenmenge hatte sich bereits auf dem Rasen rund um die Memnonskolosse versammelt. Viele Leute hatten Picknickkörbe dabei und machten es sich im Gras gemütlich. Touristen und Einheimische, die gleichermaßen neugierig waren auf das, was kommen mochte, drängten sich darum, das Eintrittsgeld zu bezahlen und eine gute Position vor den antiken Statuen zu ergattern. Freudige Erwartung lag in der Luft. Pyrella brachte ihr Fahrrad zum Stehen und wartete darauf, dass Brenda sie einholte. In der Zwischenzeit nahm sie ihre Voigtländer-Kamera aus der Fahrradtasche, putzte das Objektiv mit ihrem weißen Spitzentaschentuch und machte dann ein Bild von den Memnonskolossen, deren bröckelnde
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Gesichter vom grellen Sonnenlicht beleuchtet wurden. »Meine Güte«, stieß Jim hervor, als er neben Pyrella ankam. »Hier ist ja vielleicht was los!« »Hab ich’s Ihnen nicht gesagt? Lächeln, Doris.« Doris lächelte, aber nicht zu breit, damit Jim ihr am Ende nicht wieder den Kiefer einrenken musste, und Pyrella knipste ein schönes Foto von ihr auf Jims Tropenhelm. »Was wollen die denn alle hier?« Cairo Jim war völlig verblüfft. »Ich weiß, dass Archäologie manchmal richtig Spaß machen kann, aber das hier kommt doch ziemlich überraschend.« Er holte sein Fernglas heraus und beäugte die Menschenmenge. »Sehr interessant«, sagte er. »Um den Fuß der Statuen ist ein niedriger Zaun errichtet worden.« Er ließ den Blick langsam nach links hinüberwandern. »Oh, und da drüben ist eine Tafel, da steht was drauf.« »Was denn?«, hakte Doris nach. »Ist ein ziemliches Gekrakel und ein paar Schreibfehler sind auch drin, aber da steht: Höhren Sie Memnon! Nechste Show um 13 Uhr. Eintritt 50 Piaster.« »Wer treibt das Geld ein?«, fragte Pyrella. »Derjenige müsste doch wissen, was hier los ist.« Jim musterte die Menschenmenge. »Ich kann
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niemanden sehen, der Karten verkaufen würde«, sagte er nach einer Weile. »Ach, Augenblick mal, da drüben neben dem Getränkestand ist ein automatisches Drehkreuz.« Er spähte weiter durch das Fernglas. »Sieht so aus, als würden die Leute das Geld dort in einen Schlitz werfen und dann auf die nächstgelegene Rasenfläche gehen.« Er steckte den Feldstecher wieder in Brendas Satteltasche und lächelte. »Man stelle sich vor«, sagte er leise. »Nach all den Jahren, nach all der Zeit, nach all dem Wasser, das den Nil hinabgeflossen ist, ist nun endlich ein Stück Vergangenheit zurückgekehrt! Ich kann es kaum glauben, dass es wirklich passiert. Was ist das nur für ein wundervoller Tag!« »Na los«, drängte Pyrella. »Dann wollen wir auch mal bezahlen.« »Ja, Sie haben Recht«, erwiderte Jim und lenkte Brenda ans Ende der Menschenschlange. »Rerk«, krächzte Doris, der die ganze Sache irgendwie merkwürdig vorkam. Nachdem sie das Geld eingeworfen hatten, gingen sie durch das Drehkreuz und bahnten sich einen Weg durch die Menge, bis sie ganz in der Nähe der Kolosse ein freies Fleckchen Erde fanden. »Wie ist der Platz?«, fragte Pyrella. »Perfekt«, antwortete Jim. »Von hier aus müssten
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wir alles hören können.« Vor lauter Aufregung hatte er ganz feuchte Hände, als er Brenda den Sattel abnahm und ihn auf den Rasen legte. »So, darauf können wir bequem sitzen. Wie spät ist es, Miss Frith?« Pyrella sah auf ihre Armbanduhr. »Kurz nach zwölf.« »Wenn es doch nur schon ein Uhr wäre!«, sagte Jim. »Hmm«, hmmte Doris und scharrte mit den Krallen am Boden. »Ich hab noch genug Zeit, ein bisschen herumzustromern und ein paar Bilder zu schießen«, beschloss Pyrella. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen, Jim?« »Aber natürlich.« »Um eins bin ich längst wieder da.« Sie nahm ihre Kamera und machte sich durch die laute Menschenmenge davon. »Gute Idee«, sagte Doris. »Vielleicht mache ich auch einen kleinen Rundflug und schau mich um.« »In Ordnung, meine Liebe. Komm bald wieder.« »Raark!« Cairo Jim sah zu, wie sie über die Köpfe einer in der Nähe stehenden Familie hinwegflatterte, und ihr wunderschönes blau-gelbes Gefieder zeichnete sich strahlend gegen die Umrisse der weit entfern-
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ten Hügel ab. Er wollte sich gerade neben Brenda auf den am Boden liegenden Sattel setzen, als ihn plötzlich jemand von hinten packte und ihm in beide Wangen kniff. »Ah, Mr. Jim«, ertönte eine Stimme. »Hab ich mir doch gedacht, dass Sie auch würden hier sein.« »Na so was, Mrs. A.! Ähm … Sie sind es doch, oder?« Sie hob die Hände und hielt die langen Traubenreben und Bananenbündel auseinander, die von ihrem Hut herabbaumelten. Als ihr Gesicht zum Vorschein kam, erkannte Jim, dass es tatsächlich Mrs. Amun-Re war. »Aber natürlich ich bin es, Sie Dummi. Sie haben mich wohl unter dem neuen Hut nicht erkannt, was?« »Im ersten Augenblick nicht«, gestand Jim. »Gefällt Ihnen? Hab ich gekauft mit dem Bakschisch, das Sie mir gegeben haben neulich.« »Ja, er ist sehr … sehr fruchtig, nicht wahr?« »Sie finden mich damit also entzückend?« »Ähm … ja, selbstverständlich«, stammelte Jim, der schon lange nicht mehr so viel Obst auf einem Haufen gesehen hatte. »Die Ananas auf der Hutspitze gefällt mir ganz besonders.« Mrs. Amun-Re legte ihm die Hand auf den Arm und flüsterte verschwörerisch: »Ich verraten Ihnen
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was, aber Sie erzählen keiner Seele, ja? Ist alles aus Plastik!« »Plastik? Tatsächlich?« »Muss es auch sein. Bei dem Sonnenschein, den wir hier haben in Ägypten, das Zeug würde sonst keine fünf Minuten durchhalten.« »Ja, da haben Sie wohl Recht«, pflichtete Jim ihr bei. »Obst ist ganz schön empfindlich, wenn man es recht bedenkt. Möchten Sie sich vielleicht zu uns gesellen, Mrs. A.? Doris ist gerade für ein Weilchen abgeflogen und Miss Frith ist auf Foto-Tour, aber sie kommen bald zurück.« »Aber mit Vergnügen.« Sie stellte ihre Reisetasche ab und nahm auf dem Sattel am Boden Platz. Jim setzte sich seinen Tropenhelm wieder auf und kauerte sich zwischen Mrs. Amun-Re und Brenda (die mittlerweile, erschöpft von dem anstrengenden Marsch, eingeschlafen war). »Oh«, seufzte Mrs. Amun-Re, »ein wichtiger Tag ist heute, nicht wahr?« »Auf so etwas hab ich lange gewartet«, erwiderte Jim. »Und wie viele Leute sind gekommen!« Erstaunt musterte sie zwischen ihren Traubenreben hindurch die Menge. »Jeder, der wer ist in Gurna und Luxor, ist hier. Da«, sie streckte die Hand aus, »Familie Hapi. Sie haben Kühe, wissen Sie. Da ist
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Mr. Hapi und daneben Mrs. Hapi. Oh, aber ihr Hut gefällt mir nicht besonders. Sie sieht aus damit wie ein Vogel Strauß, finden Sie nicht auch, Mr. Jim?« Jim betrachtete Mrs. Hapi. »In gewisser Weise, ja, Sie haben wahrscheinlich Recht«, sagte er. »Eine Frau mit so einer Nase sollte nicht solche Federn tun auf ihren Kopf, sag ich immer. Früchte sind da viel kleidsamer.« »Sind das die Kinder der Hapis?« Mrs. Amun-Re schob sich ein paar Bananen aus dem Gesicht. »O ja«, antwortete sie. »Die kleine Cleo und ihr Bruder Travis. Ein frecher Bengel ist das, schon immer gewesen.« »Wieso stehen der kleinen Cleo denn die Haare so zu Berge?« »Wegen Travis. Der hat ihr vor zwei Wochen Klebstoff getan ins Haar, damit sie aussieht wie Nofretete. Seine Mutter war ganz schön ärgerlich, ich kann Ihnen sagen.« »Wie schrecklich«, meinte Jim. »Nicht so schrecklich wie damals, als er hat die Katze in die Veranda einbetoniert«, gab Mrs. Amun-Re zu bedenken. »Aber wieso macht er denn so etwas?« »Er fand, das Haus bräuchte eine Sphinx als Schutzpatronin, sozusagen. Seine Mutter hat ihm
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eine gehörige Abreibung verpasst. Ah, aber an sich sie sind eine glückliche Familie, die Hapis, obwohl Travis so eine Plage ist. Sogar die Katze hat sich abgefunden mit ihrem neuen Leben als Türstopper und Briefbeschwerer.« Sie streckte die Beine aus und seufzte. »Und, erzählen Sie mir, mein Freund, Sie sind der Entdeckung des Pharaos näher gekommen?« »Wir kommen ihr jeden Tag näher, Mrs. A.«, antwortete Jim. »Ich glaube, sehr bald werden wir alle eine Überraschung erleben.« »Das hoffe ich doch. Sie haben verdient, dass es klappt. Ich kenne keinen anderen Archäologen in ganz Ägypten, der … O mein Gott!« Sie fuchtelte plötzlich wild mit den Armen über der Ananas auf ihrem Hut herum. Cairo Jim sprang auf, um zu sehen, was los war. Als er die Ursache der ganzen Aufregung erkannte, sagte er: »Schon gut, Mrs. A., machen Sie sich keine Sorgen.« »Aber was ist denn da, Mr. Jim? Plötzlich war mir, als wäre eine kleine Bombe gefallen auf meinen Kopf, und irgendwas zieht und zerrt da. Was ist da auf meinem Hut los?« »Ich glaube, das kann Ihnen jemand anders viel besser beantworten als ich.« »Was? Ich verstehe nicht.«
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Jim stampfte zwei-, dreimal mit dem Fuß auf dem Boden auf. »Doris?«, rief er. Vorsichtig tauchte ein Schnabel hinter der gigantischen Ananas auf. »Ja?«, sagte Doris und sträubte das Gefieder. »Das ist Mrs. A.s Hut, mit dem du dir gerade den Bauch voll schlagen willst.« Die Aradame lehnte sich über die Hutkrempe herunter und starrte Mrs. Amun-Re ins Gesicht, »’n Tag!« »Hallo, Miss Doris. Was hast du denn da vor?« »Tut mir Leid, Mrs. Amun-Re, ich hab plötzlich so einen Hunger bekommen. Und aus der Luft sah Ihr Hut wie ein Festessen aus. Richtig knackig frisch, das Obst, vor allem die Himbeeren und diese kleinen Träubchen.« Sie hüpfte herunter und watschelte auf Jim zu, vor dem sie verlegen von einem Bein aufs andere tänzelte. »Dein Magen muss ja sein der reinste Müllschlucker«, sagte Mrs. Amun-Re lachend und betastete ihren Hut, um sicherzugehen, dass das Obst noch an seinem Platz saß. »Nächstes Mal musst du deine Adleraugen mehr anstrengen, Doris«, sagte Jim. Dann setzte er sich neben sie auf den Boden und flüsterte: »Es ist alles aus Plastik.« »Tatsächlich?« Doris verzog das Gesicht. »Ich
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scheine aus der Luft nicht mehr so gut zu sehen wie früher. Vorhin auch wieder – kurz bevor ich herkam, dachte ich, da auf der anderen Seite des Rasens wäre ein bezaubernder Tukan. Ich bin dann gleich runtergeschossen und hab mindestens fünf Minuten auf ihn eingeredet, bevor die Frau darunter die Arme nach oben gestreckt und ihn von ihrem Kopf runtergeholt hat. Und ich hab mir noch gedacht: Was für ein komischer Platz für ein Nickerchen.« Sie kratzte sich und lehnte sich dann gegen Jims Bein. »Vielleicht brauche ich eine neue WüstenSonnenbrille.« »Aber nein«, widersprach Mrs. Amun-Re, »du brauchst etwas zu essen. Das wird dich bestimmt aufmuntern.« Sie wühlte in ihrer Reisetasche und holte schließlich ein Bündel heraus, das in eine ihrer Teestuben-Servietten eingeschlagen war. »Ich hab hier genau das Richtige«, flötete sie. »Hier, meine Liebe, Süßgoldkekse für alle!« »Auch die Spezial-Ausführung mit Schnecken?«, wollte Doris wissen. »Auch die Spezial-Ausführung mit Schnecken, für dich und deinesgleichen.« »Priirrraaarrrk!«, priirrraaarrrkte Doris glücklich.
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»Beeil dich, du pestige Pseudonachtigall, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!« Desdemona warf Bone, der auf einem nahe gelegenen Felsen saß, sich mit seinem mandarinenfarbenen Fez Luft zufächelte und eine Zigarre rauchte, einen giftigen Blick zu. Sie hatten den Bugatti am Ende der Straße geparkt, damit sie im Sand keine Reifenspuren hinterließen, und waren dann zwanzig Minuten durch die zerklüftete, staubtrockene Landschaft zu Cairo Jims Ausgrabungsstätte marschiert. Auf dem Weg hatten sie beide ständig vor sich hin geschimpft. »Ich mach ja schon, so schnell ich kann«, zischte Desdemona und klemmte eine Dynamitstange neben die anderen Sprengstoffe, die sie bereits am Fuß des Steinhaufens in einem Loch angebracht hatte. »Bist du sicher, dass das hier die richtige Stelle ist?« »Sicher bin ich sicher.« »Genau die richtige Stelle?« »Ich hab sie doch mit meinem archäologischen Kompass und dem Sextanten ausgemessen, oder nicht? In Physik bin ich sehr gut, weißt du.« »Schon, aber …« »Hör auf, an mir zu zweifeln, Desdemona.« Er setzte sich den Fez wieder auf, damit sein kahler Kopf keinen Sonnenbrand bekam. »Arrr«,
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keuchte er und schnippte die Asche seiner Zigarre in den Staub. »Wie die Sache bei Gurna wohl gerade läuft?« Er holte seine goldene Taschenuhr aus der Westentasche und starrte darauf. »Noch eine halbe Stunde bis zum großen Moment.« »Zeit genug.« »Ich hoffe, die Rhampsinites-Zwillinge haben auch alles im Griff.« Desdemona stieß ein finsteres, seetangiges Kichern hervor und stopfte eine weitere Tube Gelatinedynamit ins Loch. »Ich würde ja zu gern Cairo Jims Gesichtsausdruck sehen«, sagte Bone mit einem gehässigen Grinsen. »Weißt du, wir sind irgendwie schon Glückskinder.« »Glückskinder? Rerk! Wie können wir Glückskinder sein – der eine wird ständig von Flöhen geplagt und der andere ist hoffnungslos größenwahnsinnig.« »Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie einen Floh gehabt.« Bone stieß scharf den Zigarrenrauch aus. »Wenn du nicht so nahe bei dem Sprengstoff wärst, hätte ich dir jetzt einen Stein auf den Schnabel geschmissen. Nein, ich werde dir sagen, warum wir Glückskinder sind. Weil Cairo Jim so ein Idealist ist. Wenn er das nicht wäre, wenn er mehr mit beiden Beinen auf dem Boden
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stünde, hätte ich mir etwas anderes einfallen lassen müssen, um ihn von hier wegzulocken. Irgendwas Glaubwürdigeres. Aber so naiv und sentimental, wie er ist, ist er natürlich prompt auf meinen Kolossentrick reingefallen. Außerdem ist er abergläubisch. Er glaubt immer noch an diese ganzen alten Mythen und Legenden und das wird uns beim zweiten Teil meines Plans noch zugute kommen.« Desdemona hüpfte auf einem Bein auf und ab. »Ja, langsam wird’s richtig aufregend, nicht wahr?«, sagte Bone. »Aufregend? Von wegen! Ich hab nur einen Floh an einer sehr empfindlichen Stelle, mehr nicht.« »Mach weiter mit deiner Arbeit, du muffeliges Moorhuhn.« »Wenigstens schau ich nicht so aus, als hätte mich jemand mit einer Fahrradpumpe aufgeblasen«, murmelte Desdemona. »Was war das gerade?« »Nichts, mein Captain.« »Hmmpf.« Bone griff sich sein Teleskop und sah zu Cairo Jims Lager hinüber. Langsam ließ er den Blick von Jims mehrfach geflicktem und repariertem Zelt zu Doris’ Sitzstange gleiten (einem Geschenk des letzten Sultans von Sansibar), an Brendas Kamelpfosten und Jims Rasiervorrichtung mit Spiegel vorbei
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zu dem kleinen Tisch, an dem Jim in sein Reisetagebuch und gelegentlich ein Gedicht schrieb. Darauf stand, inmitten von Füllfederhaltern, Buntstiften, Löschpapier, Blei-Stiftspitzern und Radiergummis, ein silbergerahmtes Foto von einer Frau, die am Flügel eines Flugzeugs lehnte. Captain Neptun B. Bone hielt das Fernrohr so ruhig wie möglich und kniff die Augen fest zusammen. Es war Jocelyn Osgood. Er ließ das Teleskop wieder sinken und biss kräftig auf seine Zigarre. »Aaaaarrrrr«, stöhnte er leise. Desdemona hatte ihn noch nie auf diese Art »Aaaaarrrrr« sagen gehört. Sie hörte auf, die Dynamitstangen aufzuschichten, und starrte ihn neugierig an. Ein besonderer Glanz lag in Bones Augen, als hätte ihm jemand gerade eine neue Farbe gezeigt, die er noch nie gesehen und von der er nicht einmal geträumt hatte. Das sah Neptun B. Bone aber gar nicht ähnlich. »Stimmt irgendwas nicht, Captain?«, fragte sie. Aber er hörte ihr Krächzen nicht. In Gedanken unternahm er nämlich gerade eine Reise in die Vergangenheit, zurück zu den Zeiten, als er und Jim noch Freunde gewesen waren und gemeinsam an der Grabungsstätte der Knickpyramide von Dahschur gearbeitet hatten. Das war lange, bevor sie
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beide ihre jeweilige gefiederte Begleiterin kennen gelernt hatten. Jede Menge Erinnerungen durchfluteten Bone, wie durchscheinende Geister aus einem früheren Leben. Er dachte zurück an den Tag, als Jocelyn Osgood in ihrer beider Lager eingeflogen war. Sie hatte sich damals auf eine Zeitungsannonce gemeldet, die Cairo Jim in der Hoffnung aufgegeben hatte, auf diese Weise einen Helfer zu finden. Das war das erste Mal gewesen, dass die beiden Archäologen Jocelyn Osgood gesehen hatten. Einen Monat lang hatte sie mit ihnen zusammengearbeitet, hatte mit ihrer kleinen Staubbürste geduldig den Sand von den Hieroglyphen weggefegt. Während dieser Zeit war es Bone nicht entgangen, wie gut – um nicht zu sagen hervorragend – sie und Jim miteinander auskamen, und das hatte ihn schrecklich gewurmt. Immer wenn er selbst versucht hatte, ihr eine Freude zu bereiten, war es irgendwie schief gegangen und am Ende war er auf den Archäologen-Dichter grenzenlos eifersüchtig geworden. Jedes Mal, wenn er Jocelyn Osgood mit Jim scherzen sah, jedes Mal, wenn ihr schallendes, ansteckendes Lachen durch das Lager hallte, wurde er fuchsteufelswild. Und am Ende hatte er es einfach nicht mehr ausgehalten. Er hatte seine Siebensachen gepackt, hatte die Ausgrabungsstätte verlassen und geschworen, nie mehr zurückzukehren.
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Und dann hatte er beschlossen, Menschen (jedenfalls diejenigen, die noch unter den Lebenden weilten) als reine Zeitverschwendung zu betrachten. In Zukunft, so hatte er sich vorgenommen, würde er nur noch drei Ziele kennen: Ruhm, Reichtum und Essen. Doch nun, als er nachdenklich ins Leere starrte, machte ihn allein schon der Gedanke an Jocelyn Osgood ganz kribbelig. »Ich hab dich gefragt, ob irgendwas nicht stimmt?« Bone drehte den Kopf ruckartig zur Seite, als hätte jemand direkt an seinem Trommelfell eine Pistole abgefeuert. »Mmm?«, murmelte er. »Du warst ja eine Million Meilen weit weg.« »Ja. Nein. Nicht eine Million …« Er zog lang und heftig an seiner Zigarre. »Sag mir eines, du biestiger Bartgeier …« »Ja?« Desdemona holte noch mehr Gelatinedynamit aus der Tasche. »Ich würde zu gern wissen: Was findet Jocelyn Osgood eigentlich an Cairo Jim? Wieso verbringt sie so viel Zeit mit ihm?« Die Rabendame holte eine Rolle Zündschnur hervor und begann einzelne Stücke an den Sprengstoffstangen und -tuben zu befestigen. »Weil er dichten kann«, raunte sie.
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»Dichten? Weil er dichten kann? Harrrr!« »Sie mag eben feinfühlige Archäologen.« Bone schleuderte seinen Zigarrenstummel zu Boden und zerdrückte ihn missmutig. »Dichten kann doch jeder«, grummelte er. »Du nicht.« »Doch, ich auch.« »Wetten, dass nicht?« »Wetten, dass doch, du vorlaute Vogelimitation?« Sie hörte auf, die Sprengstoffladung vorzubereiten, und funkelte ihn finster an. »Worum wollen wir wetten?« »Um alles, was du willst.« »Alles?« Desdemonas Augen pulsierten glühend rot. »Alles«, wiederholte Bone. »Also gut. Ich habe nur einen großen Wunsch …« »Raus damit.« »Bevor Jim und diese grellbunte Doris das Tal verlassen, will ich Doris rupfen.« »Du willst was?« »Ich will ihr jede Feder einzeln aus der Haut zupfen, Stück für Stück, ganz langsam, und ich will sie dabei schreien hören.« »Du hast wirklich einen abgrundtief bösen Cha-
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rakter«, sagte Bone mit Bewunderung in der Stimme. »Aber was willst du denn mit den Federn?« »Ich mach mir daraus den herrlichsten Umhang der Welt. Den trag ich dann bei ganz besonderen Gelegenheiten. Schwarz hat mir noch nie sehr gut gestanden, es beißt sich mit meinen Augen.« Sie pickte sich einen Floh aus der Achselhöhle. »Also gut, die Wette gilt.« »Fein, dann fang an zu dichten.« »Was, jetzt sofort?« »Jetzt sofort.« Er strich sich mehrmals mit dem Handrücken über den Bart und dachte angestrengt nach. »Mal sehen … Worum soll es in dem Gedicht gehen? Um irgendwas Wichtiges, würde ich sagen, irgendwas ganz Großartiges. Etwas, das mir lieb und teuer ist. Ah! Ich hab’s!« Er schlug die Beine übereinander und umgriff das obere Knie mit beiden Händen. »Na dann los, du Genie«, drängte Desdemona. Bone räusperte sich und begann sein Gedicht vorzutragen, wobei er jedes Wort laut und deutlich aussprach: »Ich heiße Bone, hab ’n Grammofon
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und werde bald sehr berühmt. Ich bin der beste Archäologe mit Weste, wie’s sich für mich geziemt.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. »Na, du schmuddeliger Schmutzgeier? Ich hab dir doch gesagt, dass ich’s kann.« »Blödsinn«, prustete Desdemona. »Das war ja grässlich.« »Die Wahrheit ist nie grässlich, du hirnlose Hohltaube.« »Es hat sich gar nicht richtig gereimt.« »Hat es doch.« »Klar, und meine Schwanzfedern sind weiß! ›Berühmt‹ und ›geziemt‹ reimen sich nicht.« Bone runzelte einen Augenblick die Stirn. »Wenn man von der Leidenschaft der Kunst davongetragen wird, dann schon«, sagte er selbstgefällig. »Aber das verstehst du täppisches Tüpfelsumpfhuhn natürlich nicht. Die einzige Leidenschaft, die du hegst, ist die für Seetang.« »Und die für die Federn von Doris, denk dran.« »Ja ja, das auch.« »Also kann ich sie haben?« »Du hast die Wette doch nicht gewonnen …« »Das war kein Gedicht.«
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»… aber weil ich so ein großmütiger Mensch bin, sollst du deinen Wunsch erfüllt bekommen.« »Ach, du bist ja so gut zu mir«, erwiderte Desdemona spöttisch. »Ja, ich bin für meinen Großmut bekannt.« Er warf wieder einen Blick auf seine Taschenuhr und wechselte schlagartig zurück zum nüchternen Geschäftston. »Wir müssen voranmachen, Vogel. Es ist bald so weit.« »Ja, ich hab’s gleich. Gleich, gleich, gleich …« Bone ließ den Deckel seiner Uhr zuschnappen. »Wenn du die Lunte überall befestigt hast, musst du einen flachen Graben vom Steinhaufen bis zu Cairo Jims Zelt ausheben und die Schnur da reinlegen.« »Und dann?« »Dann buddelst du die Lunte vorsichtig zu, den ganzen Graben entlang, und verwischst sorgfältig alle Krallenspuren. Das Ende der Schnur muss aus dem Boden rausschauen, aber leg einen Stein darüber, sonst stöbert dieses spitzfindige Kamel es am Ende noch auf.« Desdemona hielt in ihrem Tun inne und musterte ihn aus zusammengekniffenen, pulsierenden Augen. »Und du?«, fragte sie. »Was machst du währenddessen?« »Erst mal mache ich einen kleinen Spaziergang
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zur Grabungsstätte und lasse den guten Garfield an einer Stelle fallen, wo er einem direkt ins Auge springt.« Er stand auf und holte das Bild aus der Gesäßtasche seiner Knickerbockerhose. »Wenn ich zurückkomme, reinige ich die Luft von deinen stinkigen Hinterlassenschaften und dann können wir abdampfen.« »Überanstreng dich bloß nicht.« Sie pickte ein kleines Loch in die letzte Dynamitstange und steckte das eine Ende der Lunte hinein. Dann begann sie alle Schnurstücke zusammenzuknoten, sodass die Dynamitstangen eine einzige tödliche Kette ergaben. »Das machen Genies niemals«, sagte Bone und machte sich hügelabwärts auf den Weg zur Grabungsstelle. »Ah, Miss Pyrella, kommen Sie doch zu uns, bevor dieser gierige Vogel die ganzen Süßgoldkekse aufgegessen hat!« »Guten Tag, Mrs. Amun-Re«, erwiderte Pyrella und schleckte den letzten Rest von ihrem Vanilleeis. »Sie haben ja eine Menge Früchte auf dem Hut.« »Die Früchte des Lebens«, sagte Mrs. Amun-Re, »isst man am besten frisch, wissen Sie.« »Sehr gut, Mrs. A.«, lobte Jim. »Von wem ist der Ausspruch?«
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»Von mir. Hab ich mir gerade ausgedacht.« »Ah.« Er wandte sich Pyrella zu. »Und – schöne Bilder gemacht?« »Glaube nicht. Es standen mir zu viele Leute im Weg.« Sie zog ihre Handschuhe aus, holte ein Fläschchen Sonnenmilch aus der Rocktasche und quetschte sich ein bisschen von der weißen Creme auf die Handfläche. »Wenn es nur nicht so heiß wäre«, stöhnte sie, während sie die Sonnenmilch eifrig auf ihren Armen verteilte. Dann zauberte sie ihr Roll-on-Fläschchen mit Insektenschutzmittel hervor und begann sich damit alle freien Hautpartien einzureihen. »Keine Sorge«, sagte Jim, »bald bemerken Sie die Hitze gar nicht mehr. Ich war gerade dabei, Mrs. A. und Doris zu erzählen, wie Alexander der Große vor mehreren hundert Jahren mal seinen ganzen Hofstaat hierher gebracht hat. Sie haben genau hier ein Picknick veranstaltet und darauf gewartet, dass die Kolosse ihren Gesang ertönen ließen.« »Wirklich aufregend«, hauchte Mrs. Amun-Re. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich jetzt sitze genau da, wo mal Alexanders Größe geruht hat …« Sie rutschte auf dem Sattel hin und her. Brenda schnaubte lautstark. Pyrella steckte das Insektenschutzmittel weg und
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sah auf ihre Armbanduhr. »Punkt ein Uhr«, verkündete sie. »Es ist so weit«, flüsterte Jim ehrfürchtig und nestelte an seiner Sonnenbrille herum. »Prark!« Doris nahm einen letzten Bissen von ihrem Süßgoldkeks, sprang auf Jims Schulter und reckte den Hals, um besser sehen zu können. Plötzlich erklang ein lautes, knackendes Zischen und die Menschenmenge verstummte augenblicklich. Leute hörten auf, an ihren belegten Broten zu nagen und an ihren Getränken zu nuckeln, Babys hörten auf zu weinen oder zu brabbeln, Kamele hörten auf zu kauen und Esel hörten auf zu schreien. Travis Hapi dachte nicht mehr daran, Fliegen zu fangen, um sie seiner Schwester in die steifen Haare zu schmieren, und schaute stattdessen, sich gebannt auf die Unterlippe beißend, zu den Kolossen hinüber. Selbst Brenda das Wunderkamel war hellwach, weil nun der große Augenblick gekommen war. Aber unter den ganzen Versammelten gab es niemanden, der das Wunder begieriger erwartet hätte als Cairo Jim. Ein lautes Trompeten ertönte, gefolgt von drei dumpfen Schlägen und einem schrecklich schrillen elektrischen Kreischen. Viele der Anwesenden erschauerten und legten sich die Hände auf die Ohren.
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Als das Kreischen schließlich verebbt war, knackte es und eine Stimme sagte: »Test, eins, zwei …« Dann folgte eine Pause. Pyrella sah Jim fragend an. »Drei«, sagte schließlich eine zweite Stimme leise. »Drei«, knackte die erste Stimme wieder. »Es funktioniert.« »Dann mach vorwärts«, drängte die leisere Stimme. Der erste Sprecher räusperte sich. »Guten Tag, meine Damen und Herren und alle anderen Anwesenden. Willkommen zu dem seit langer Zeit aufregendsten Ereignis in ganz Ägypten. Wir hoffen, dass Ihnen die Show gefallen wird, aber wir müssen Sie darauf aufmerksam machen, dass das Fotografieren sowie die Aufnahme auf Tonband streng unter … unter …« »Untersagt«, zischte die zweite Stimme. »… untersagt ist.« »Die Stimmen kommen mir bekannt vor«, flüsterte Doris Jim ins Ohr. »Ja, mir auch«, erwiderte er stirnrunzelnd. »Und nun möchten wir Ihnen, ohne große Vorreden, zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten eine Sensation präsentieren: die überwältigenden Lemonenkolosse!« Ein dumpfer Schlag war zu hören, danach ein lautes »Autsch!«
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»Memnon«, raunte die leisere Stimme. »Die überwältigenden Memnonskolosse.« »Die überwältigenden Memmenkolosse.« »Blödian! Gib mir das Ding.« Die leise Stimme wurde lauter. »Nur noch ein letzter Hinweis, meine verehrten Damen und Herren und alle anderen Anwesenden. Wenn Sie als Erinnerung an dieses großartige Ereignis ein Souvenir erwerben möchten – im Anschluss an die Vorführung findet neben dem Drehkreuz am Eingang ein Verkauf statt. Und nun: die Kolosse!« »Doris«, sagte Jim. »Ich glaube, wir müssen der Sache auf den Grund gehen.« Er beugte sich hinunter und zerrte seinen Schirm aus Brendas Satteltasche heraus, auf der Mrs. Amun-Re halb saß. »Entschuldigen Sie bitte, Mrs. A.« »Oh, Mr. Jim«, stieß Mrs. Amun-Re hervor und rückte zur Seite. »Aber Jim, wollen Sie denn nicht hier bleiben und zuhören?«, fragte Pyrella entgeistert. »Ich werde alles mitbekommen, Miss Frith, und zwar direkt an der Quelle.« Brenda schnaubte und stampfte mit dem Huf auf. »Nein, Brenda, bleib du hier und behalte alles im Auge. Wir werden nicht lange weg sein.«
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Und schon begannen sich Jim und Doris einen Weg durch die erwartungsvolle Menge zu bahnen. Immer wieder mussten sie nach links und rechts Entschuldigungen murmeln, wenn sie sich an den eng zusammenstehenden und -sitzenden Grüppchen vorbeischlängelten. Als sie fast schon den Zaun erreicht hatten, der um den Sockel der Kolosse aufgestellt worden war, ertönte plötzlich lauter Gesang. Die Melodie war allerdings ganz und gar nicht das, was Pyrella Frith erwartet hatte, die nach Jims und Doris’ Weggang auf dem Sattel im Grünen sitzen geblieben war. Sie drehte sich zu Mrs. Amun-Re um. »Das ist ja merkwürdig«, sagte sie. »Das Lied kenne ich doch«, erwiderte Mrs. Amun-Re. »Hab ich gehört schon oft im Radio. Wie heißt es gleich …? ›Hansi klein ging allein …‹?« Pyrella nickte. »›Hänschen klein ging allein …‹ Seltsames Lied für die Kolosse. Aber wahrscheinlich müssen die auch mit der Zeit gehen.« »Wahrscheinlich.« Mrs. Amun-Re klopfte fröhlich im Takt mit dem Fuß auf den Boden. Währenddessen sprangen Jim und Doris über den Zaun und hasteten zu einer der beiden Statuen, wo sie sich eng an das abbröckelnde Gestein drückten. Dann schlichen sie sich langsam um den Sockel herum zur Rückseite.
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»Bleib nahe bei mir, Doris«, flüsterte Jim. Die Aradame kauerte sich unter die Krempe seines Tropenhelms und presste sich an seinen Nacken, während er seinen Schirm so fest umklammerte, als hielte er einen Degen in der Hand. »Achtung, fertig, los!« Gemeinsam schossen sie um die Ecke und Jim stieß den Regenschirm heftig nach vorn. Überrascht verharrten sie – da war nichts. Dann fiel Doris etwas ins Auge. »Da drüben, Jim, hinter der anderen Statue. Schau mal.« Und tatsächlich – dort hockten die Rhampsinites-Zwillinge auf dem Boden, über ein uraltes Kurbelgrammofon gebeugt, das an einen großen Verstärker und Lautsprecherboxen angeschlossen war. Sie wackelten mit dem Kopf zum Takt der Musik und grinsten. Hinter ihnen stand eine vor Skarabäen überquellende Schubkarre, und ein rostiges Mikrofon lag achtlos hingeworfen auf dem Boden. »Das hätte ich mir denken können«, raunte Cairo Jim. Lautlos krochen er und Doris auf die beiden Männer zu, bis sie nur noch wenige Schritte hinter ihnen waren. »Das Spiel ist aus, Sie dreisten Betrüger!«, rief Jim unvermittelt aus.
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Abdullah Rhampsinites wirbelte herum. »Cairo Jim!«, keuchte er, die Augen vor Angst weit aufgerissen. »Wir sind aufgeflogen!« »In der Tat, Kelvin, das sind Sie.« »Abdullah.« »In der Tat, Abdullah, das sind Sie. Was soll dieser ganze … Quatsch hier?« Jims Blut geriet vor Wut langsam in Wallung. »Wir sollten jetzt besser abhauen«, quiekte Abdullah. »Och, gerade jetzt, wo alles so gut läuft …«, jammerte Kelvin. Er sprang auf und stürzte zur Schubkarre, aber Jim und Doris waren schneller und stellten sich ihm mit gezücktem Regenschirm in den Weg. »Nicht so schnell, Sie Schuft«, warnte ihn Jim. Abdullah stieß die Grammofonnadel von der Schallplatte und riss den Stecker aus dem Verstärker. Dann klemmte er sich das altertümliche Musikgerät unter den knochigen Arm und rannte in die andere Richtung davon. »Ihm nach, Doris«, rief Jim. »Raaaaaaaaaarrrrrrkkk!« Und schon flatterte sie dem in Richtung der Hügel davoneilenden Abdullah hinterher und schlug bedrohlich mit den Flügeln über seinem Kopf. »Bitte, Cairo Jim«, flehte Kelvin. »Gnade! Ich hab doch nur auf Befehl gehandelt.«
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»Gnade? Ich werde Ihnen Gnade geben, Sie Halunke.« Jim, der so wütend war wie selten zuvor, schleuderte seinen Schirm zu Boden und packte Kelvin Rhampsinites bei den Schultern. Dann drehte er ihn herum und verpasste ihm einen saftigen Tritt in den Allerwertesten. Das kam für Kelvin so überraschend, dass er regelrecht aus seinen Sandalen katapultiert wurde und vornüber durch die Luft flog. »Jaaaaaauuuuuuuulll!«, brüllte er, bevor er mit einem dumpfen Krachen zu Boden ging. »Wagen Sie es bloß nicht, sich je wieder hier blicken zu lassen!«, schrie Cairo Jim. Kelvin rappelte sich auf, rieb sich den Hintern und taumelte dann hinter seinem entsetzten Bruder her, wobei er mehr als einmal im Saum seiner Galabija hängen blieb. Die Menschen auf dem Rasen rund um die Kolosse wanderten ziellos umher, verwundert darüber, dass die Musik so abrupt aufgehört hatte. Aber schon wenige Augenblicke später bekamen sie die Erklärung für den merkwürdigen Vorfall geliefert. »Test, Test. Meine Damen und Herren und alle anderen Anwesenden, hier spricht Cairo Jim. Sie haben sich bestimmt schon gefragt, wieso die Show so unerwartet abgebrochen wurde. Nun, es
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ist meine traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass wir alle hinters Licht geführt worden sind.« Ein ungläubiges Raunen ging durch die Menge. »Diese mächtigen Kolosse haben in Wahrheit überhaupt nicht für Sie gesungen«, fuhr Jim fort. »Was Sie gehört haben, war nämlich Teil eines hinterlistigen Plans, den die skrupellosen, vor nichts zurückschreckenden Rhampsinites-Brüder ausgeheckt haben. Aus reiner Habgier haben sie diesen Schwindel inszeniert – um Ihnen das Geld aus das Tasche zu ziehen. Aber seien Sie versichert, die beiden sind damit nicht durchgekommen. Meine Kollegin Doris und ich haben ihnen das Handwerk gelegt. Die Brüder befinden sich in diesem Augenblick auf der Flucht in die Berge. Meine Damen und Herren und alle anderen Anwesenden, ich werde das Drehkreuz höchstpersönlich öffnen und Ihnen jeden Piaster Ihres Eintrittsgeldes zurückzahlen. Und dank der dreisten, verachtungswürdigen Rhampsinites-Zwillinge wird es für jedes Kind unter den Zuschauern einen kostenlosen PlastikSkarabäus geben.« Ein halbherziges »Hurra« erhob sich an mehreren Ecken der Menschenmenge. Auf einmal rief Mrs. Amun-Re: »Ein dreifaches Hoch auf Mr. Cairo Jim und Miss Doris!«, und die
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Menge stimmte begeistert mit ein. Ein paar Männer warfen sogar ihren Fez in die Luft. Während Jim das Mikrofon abschaltete, kam Doris zurückgeflogen und landete auf einem der Schubkarrengriffe. »Ich hab ihn laufen lassen«, berichtete sie. »Aber vorher hab ich ihm noch kräftig die Flügel um die Ohren gehauen.« »Gut gemacht, meine Liebe«, sagte Jim, aber seine Stimme klang traurig. Er griff nach seinem Schirm und zeichnete niedergeschlagen Kreise in den Staub. »Was für eine schreckliche Enttäuschung.« »Mach dir nichts draus, Jim. Es gibt wichtigere Ding im Himmel und auf Erden.« Er sah sie an und der Hauch eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. »Shakespeare«, krächzte die Aradame. »Na ja, so ungefähr jedenfalls …« »Du hast Recht, meine Liebe. Es gibt wirklich wichtigere Dinge. Und nach einem davon müssen wir schleunigst weitergraben. Ich muss nur noch diese Geldangelegenheit regeln.« »Rark. Das hört sich doch schon viel besser an. Na dann los.« »Aber gern.« Cairo Jim streckte den Arm aus und die edle Aradame setzte sich darauf. Dann machten
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sie sich gemeinsam auf den Weg zur wartenden Menschenmenge. Fünf Minuten später begannen sie den Zuschauern, die sich in einer langen Schlange aufgestellt hatten, ihr Eintrittsgeld zurückzuerstatten. »Armer Jim«, sagte Miss Pyrella Frith leise, die das Treiben beobachtete. »Diese widerlichen Rhampsinites-Zwillinge!«, stieß Mrs. Amun-Re empört hervor, packte ihre Servietten mit den Süßgoldkeksen zusammen und strich sich über die Kirschen auf dem Hut, die sich lösen wollten. »Na, die werden was von ihrer Mutter zu hören kriegen! Wenn die davon erfährt, haben die beiden keine ruhige Minute mehr, das garantiere ich Ihnen! Diese Scharlachtannen!« »… Captain Bone, das war noch nicht alles. Mein armer Bruder hat am unteren Rücken einen riesigen blauen Fleck – und der hat genau die Form von Cairo Jims Stiefel!« »Was Sie nicht sagen?« »Vielleicht möchten Sie den Fleck sehen? Bruder, komm mal her …« »Nein, nein, nein, ich glaube Ihnen auch so.« »Richtig üble Verletzung.« »Ja, da bin ich mir sicher. Wo ist mein Grammofon?«
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Abdullah hob seine Galabija an und trat einen Schritt zur Seite. Ein kunterbunter Haufen Holzund Metallteile lag auf dem Boden. »Ich fürchte, ich hab es fallen lassen, als dieser schreckliche Vogel namens Doris mich gejagt hat«, gestand Abdullah. Bone war entgeistert. »Jetzt mach ich Sie aber zur Minna!«, keuchte er. »Lassen Sie Tantchen aus dem Spiel«, sagte Kelvin. »Haben Sie eine Ahnung, was das Ding gekostet hat? Es war ein äußerst wertvolles Stück!« »Das ist der Hintern meines Bruders auch«, wandte Abdullah ein. »Er kann jetzt nicht mal richtig sitzen. Ständig fällt er vom Stuhl, wenn Sie’s genau wissen wollen. Ich würde sagen, für diese Unannehmlichkeiten müssten Sie uns schon eine kleine Zulage bezahlen.« Bone stand aus seinem tiefen Lehnsessel auf und stieß Abdullah eine Wolke Zigarrenrauch ins Gesicht. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Kelvin …« »Ich bin Adullah.« »Es ist mir vollkommen egal, wer Sie sind, Sie zahnloser Trottel, klar? So wie ich die Sache sehe, haben Sie meinen Auftrag nicht komplett ausgeführt. Es war pures Glück und nicht Ihren Anstren-
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gungen zu verdanken, dass der Schwindel überhaupt so lange gut gegangen ist. Aber um Ihnen zu beweisen, was für ein großherziger Mensch ich bin, werde ich Ihnen trotzdem die Summe bezahlen, die wir ausgemacht hatten. Für den Verlust des Grammofons werden Sie allerdings schon aufkommen müssen.« »Ach, bitte, Captain Bone, Sie lassen wohl gar nicht mit sich reden?« »Ich lasse natürlich mit mir reden, Sie wilder Wischmopp. Also: Wir hatten uns auf fünf Pfund geeinigt, soweit ich weiß.« »Nein, Captain, zehn Pfund.« »Fünf.« »Zehn«, beharrte Abdullah. Bone warf ihm einen bösen Blick zu. »Desdemona hat ein hervorragendes Zahlengedächtnis. Soll ich sie rufen?« Abdullah erstarrte. Das war so ziemlich das Letzte, was er wollte. »Jetzt erinnere ich mich, es waren tatsächlich fünf Pfund«, gab er hastig nach. »Na also«, sagte Bone. »Die Kosten für die Reparatur meines Grammofons dürften sich auf mindestens fünfzehn Pfund belaufen. Sie schulden mir also zehn Pfund.« »Wie sollen mein Bruder und ich so viel Geld auftreiben?«, entgegnete Abdullah mit einem fins-
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teren Lachen. »Wir sind doch die ganze Zeit am Sparen, um unserer Mutter …« »Soll das heißen, Sie haben das Geld nicht?« »Genau das soll es heißen«, sagte Kelvin und rieb sich das Hinterteil. Bone seufzte und knackte laut mit den Fingerknöcheln. »Also gut. In dem Fall schulden Sie mir einen Gefallen.« »Einen Gefallen? Was meinen Sie damit?« »Mir fällt da schon noch was ein, keine Sorge.« »Aber Captain Bone …« »Jetzt hab ich aber genug von Ihnen. Weg, weg, aber dalli!« Er wirbelte auf dem Absatz herum. »Ich flehe Sie an …«, begann Abdullah. »Desdemona!«, rief Bone. Die Rabendame, die gerade eine Dose Seetang verzehrte, steckte den Schnabel aus Bones Pavillonzelt heraus. Es passte ihr nicht, dass sie gestört wurde, und ihre Augen pulsierten zornig. »Nein, nein, bloß nicht dieser Vogel! Also gut, wir verschwinden jetzt. Komm, Abdullah.« »Aber ich bin doch Kelvin«, sagte Kelvin. Abdullah sah erst seinen Bruder an, dann schaute er an sich selbst herunter. Schließlich kniff er Kelvin in den Arm. »Wie auch immer – komm endlich, du Dämlack!«, zischte er. »Autsch! Grobian.«
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Gemeinsam stapften sie davon. Desdemona sah zu Bone, der den Haufen Schrott betrachtete, der bis vor kurzem sein heiß geliebtes Grammofon gewesen war. Dann zog sie sich wieder ins Pavillonzelt zurück und widmete sich erneut ihrer Konservenmahlzeit. »Wenn man will, dass etwas anständig gemacht wird, muss man es immer selber machen«, schnaubte der dicke Mann, kickte die zerbrochenen Teile mit dem Fuß beiseite und begann über den nächsten Schritt seines genialen Planes nachzudenken.
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6. Kapitel
Ein stiller Augenblick
A
n diesem Abend schrieb Cairo Jim unter dem Baldachin des sternenübersäten Himmels eine Postkarte an Jocelyn Osgood: Liebe Jocelyn Osgood, viele merkwürdige Dinge sind hier in der letzten Zeit geschehen. Doris, Brenda und ich haben heute die Grabungsstätte verlassen, um uns den Gesang der Kolosse anzuhören. Aber dies stellte sich als der denkbar größte Schwindel heraus, von zwei raffgierigen Brüdern in Szene gesetzt, die für ihre Habsucht und Taktlosigkeit bekannt sind. Das war vielleicht eine Aufregung! Unsere Suche nach Martenarten geht währenddessen weiter. Die Entdeckung einer kleinen Brosche, die aus der Zeit seiner Herrschaft stammt, hat uns Auftrieb gegeben, und ich spüre, dass wir unserem Ziel mit jedem Tag näher kommen. Zu unserer Verblüffung stoßen wir an der Ausgrabungsstätte immer wieder auf Postkarten, die allesamt berühmte Menschen oder
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Tiere zeigen. Das letzte Stück dieser Serie habe ich heute Abend gefunden – ein Bild von Garfield. Sehr merkwürdig, wir wissen alle nicht, was wir davon halten sollen. Liebe Jocelyn Osgood, obwohl ich so klein geschrieben habe wie nur möglich, geht mir nun langsam der Platz aus. Ich erzähle Ihnen mehr, wenn wir uns das nächste Mal sehen, was hoffentlich sehr bald sein wird. Wir sind hier alle gesund und quietschfidel und ich hoffe, das ist bei Ihnen auch nicht anders. Ihr guter Freund, C. Jim. PS: Wenn Sie uns wieder besuchen kommen, könnten Sie bitte ein paar neue Schleifen für Doris mitbringen? Sie redet nicht darüber, aber ich weiß, dass sie sich sehr freuen würde. Irgendwo in den Bergen heulte ein Schakal den Mond an. Jim las noch einmal durch, was er geschrieben hatte, dann nahm er ein Blatt Löschpapier und tupfte die Postkarte sorgfältig ab. Doris, die auf ihrer Sitzstange kauerte, war beinahe eingeschlafen. Nach ihrer Rückkehr von den Kolossen hatten Jim und sie noch hart gearbeitet und nun war die Aradame vollkommen
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erschöpft. Ihr Bauch war voller Schnecken und ihre Brustfedern hoben und senkten sich mit jedem Atemzug. Brenda das Wunderkamel saß in Jims Zelt auf dem Boden, in ein neues Buch vertieft, und hatte die Beine bequem übereinander geschlagen. Das Buch war ganz nach ihrem Geschmack: eine Mischung aus Western und Abenteuergeschichte und mit zahlreichen Abbildungen illustriert. Sie hatte so viel Spaß beim Lesen, dass sie sich beinahe wünschte, sie könnte das beste Pferd des Cowboyhelden sein. Jim drehte die Kerosinlampe auf und schaute verträumt das Foto mit Jocelyn Osgood an. Während er in den Anblick ihres offenen Lächelns versank, floss ihm langsam ein sanfter Rhythmus zu, immer wieder, Stück für Stück, bis er sich schließlich in seinem Kopf festsetzte. Auf den Rhythmus folgten die Worte – die Art von Worten, die ihm immer in den Sinn kamen, wenn er an Jocelyn dachte. Einige der Worte taten sich zusammen und bildeten Reime, und bevor er sich’s versah, hatte Cairo Jim ein neues Gedicht verfasst. Er riss ein sauberes Blatt Papier hinten aus seinem Reisetagebuch und beeilte sich, das Gedicht niederzuschreiben:
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Oh Jocelyn, Jocelyn Osgood, du Königin der Lüfte, du bist die beste Stewardess, die je die Welt verblüffte. Kastanienbraun die Lockenpracht dein Antlitz sanft umringt und der Walküren schlichte Tracht dein Licht zum Strahlen bringt. Die Hörner auf dem Helm so spitz, so perlweiß deine Zähne, wie gerne ich mich in den Sitz in deinem Flugzeug lehne! Der Mund so süß, die Augen klar, so stramm die Rettungsweste, oh Jocelyn, du Walküren-Star, du bist und bleibst die Beste. Du bist so schrecklich weit von hier. Du fliegst, und wir? Wir graben. Wie wär es schön, ach könnten wir dich wieder bei uns haben! Mit deiner sichren, kühlen Art hast du mein Herz betört,
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sodass es – nun ist’s offenbart – sich nur nach dir verzehrt. Er saugte ein paar Augenblicke an der Kappe seines Füllfederhalters, unsicher, ob sich »betört« und »verzehrt« so richtig reimten. Dann lächelte er, tupfte das Gedicht mit dem Löschpapier ab und steckte es in die geheime Tasche in der hinteren Klappe seines Reisetagebuchs. Es gab schließlich Dinge, die selbst Doris nicht unbedingt wissen musste.
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7. Kapitel
Noch mehr Betrug und Verzweiflung
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itternd ergriff das Zwielicht vom Horizont Besitz. Der Boden gab die Hitze des Tages ab, sodass die Luft im schwindenden Licht flirrte. Noch hatte die nahende Nacht nicht ihre Kühle nach sich gezogen – es war immer noch sehr schwül und Cairo Jims Haut prickelte, als er auf seinem altersschwachen Feldbett lag und durch ein noch nicht geflicktes Loch im Zeltdach zum Mond hinaufschaute. Dieser Planet, überlegte er, ist heute noch derselbe wie in längst vergangenen Zeiten. Dieselbe Form, dieselbe Größe, dieselben Farben. Er schloss die Augen und dachte daran, wie die Menschen im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende den Mond gesehen hatten. Musiker hatten ihm Lieder gewidmet, Maler ihn in ihren Bildern verewigt, und unzählige Männer und Frauen hatten sich in seinem warmen silbernen Schein ineinander verliebt. Es hatte Menschen gegeben, die auf dem Mond gelandet waren. Und sogar ein paar, die darauf getanzt hatten. Jim riss plötzlich die Augen auf. Der Gedanke
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daran, wie Neil Armstrong in seinem dicken weißen Raumanzug auf dem Mond gewandelt war, hatte ihn auf eine Idee gebracht. Er zündete seine Lampe an und lenkte das Licht auf die Zeltwand, wo die Galerie der Bilder angebracht war, die ihm schon so lange Rätsel aufgab. Stumm starrten ihn die Fotos an, fast als würden sie ihn verspotten. »Ja«, sagte Jim laut, »ich werde dieser Sache auf den Grund gehen.« Er griff unter sein Kopfkissen und holte einen Bleistift sowie ein kleines Notizbuch hervor, das er dort für den Fall aufbewahrte, dass ihm mitten in der Nacht ein Gedicht einfiel. Dann rief er nach Doris. Sofort flatterte sie ins Zelt und machte es sich am Fußende des Bettes bequem. »Rirk. Ich bin froh, dass du gerufen hast. Ich wollte Brenda für eine Runde Siebzehnundvier begeistern, aber sie vergräbt sich lieber in irgendeine alte Cowboygeschichte. Wenn diese Kamelfrau zu lesen anfängt, kann nichts und niemand sie mehr von ihrem Buch ablenken …« »Meine Liebe, ich möchte herausfinden, was es mit diesen Bildern auf sich hat.« Er deutete auf die festgepinnten Fotos. »Könntest du mir dabei helfen?« »Was soll das heißen: was es mit ihnen auf sich hat?«
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Jim kaute auf dem Ende seines Bleistifts herum, bevor er antwortete: »Na ja, mir scheint, da muss etwas Bestimmtes dahinter stecken. Es kann doch kein bloßer Zufall sein, dass hier gleich sieben Bilder scheinbar aus heiterem Himmel aufgetaucht sind, oder? Ich meine, als wir Neil Armstrong gefunden haben, hab ich mir noch nichts dabei gedacht. Aber dann kam Agatha Christie und das machte mich schon ein bisschen stutzig. Und spätestens, als Wilhelm der Eroberer auf der Bildfläche erschien, kam mir das alles schon sehr spanisch vor. Umberto Eco und Nikolai Gogol haben mich vollkommen verwirrt, Garfield hat die Sache noch viel komplizierter gemacht, aber erst heute Nachmittag, als mir Richard Löwenherz auf den Kopf fiel, hat mich die Erkenntnis gestreift, dass das eine Botschaft sein könnte.« Doris streckte die Flügel aus. »Botschaft?«, wiederholte sie. »Von wem?« Jim starrte auf die Bilder, als könnten diese ihm einen Hinweis liefern. »Das ist nicht die entscheidende Frage. Was wir in Erfahrung bringen müssen, ist: Was hat das alles zu bedeuten?« »Dann lass uns an die Arbeit gehen«, krächzte Doris. Und genau das taten sie dann auch. Zunächst galt es herauszufinden, ob es zwischen
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den sieben Personen eine Verbindung gab. Und so stellten sie die folgende Liste auf: 1. Neil Armstrong war ein Astronaut und ein Namensvetter des berühmten Trompeters Louis Armstrong. 2. Agatha Christie war eine Schriftstellerin mit einem ungewöhnlichen Nachnamen. 3. Wilhelm der Eroberer war ein König mit einem Pferd. 4. Umberto Eco ist ein italienischer Schriftsteller und hat »Der Name der Rose« geschrieben. 5. Nikolai Gogol war ein russischer Schriftsteller und hat »Die Nase« geschrieben. 6. Garfield ist ein rot gestreifter Kater, der die meiste Zeit mit Fressen und Schlafen verbringt. 7. Richard Löwenherz war ein König mit einem ungewöhnlichen Nach- bzw. Beinamen. Cairo Jim und Doris waren sich darin einig, dass diese Liste sie nicht besonders viel weiter brachte. Jim beschloss die Sache ganz anders anzugehen. Vielleicht, mutmaßte er, ergaben die Buchstaben der sieben Namen aneinander gereiht eine kodierte Nachricht. Doris, die ja im Entziffern von Hieroglyphen bewandert war, bot sich an, den Kode –
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falls es denn wirklich einen gab – zu knacken, also schrieb Jim auf einen Zettel: NEILARMSTRONGAGATHACHRISTIEWILHEL MDEREROBERERUMBERTOECONIKOLAIGOGOLGARFIELDRICHARDLÖWENHERZ. Doris konzentrierte sich nun auf die Buchstabenreihe. Ab und zu krächzte sie dabei leise oder stieß eine Art Ts-Laut aus, manchmal kratzte sie sich auch am Gefieder. Ein paar Mal dachte sie schon, sie hätte den Kode entziffert, doch dann fiel ihr immer im letzten Augenblick auf, dass nicht alle Buchstaben ins Schema passten, sodass das Ganze keinen Sinn ergab. Eines ihrer Ergebnisse lautete zum Beispiel: »Brenda hat Höcker, logo, aber auch ein warmes Herz. Otto Griese will mit Gero Geier nach Rom radeln. Drollig. Rfiil.« Oder: »Hallo, wo ist der glorreiche König Martenarten begraben? Der olle Mocca-Holzwurm ist gierig. Aloha der Herr. Iif.« Besonders hilfreich war das alles nicht. Doris sprach weiter halblaut vor sich hin und landete schließlich bei Folgendem: »So ’ne Hitze hier! Der arme Wolfgang liebt ein Go-go-Girl. Der Daktari-Löwe Clarence schielt im Laub. Rroarrr. Moohh.« Das war der Zeitpunkt, an dem Jim klar wurde,
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dass sie so schnell mit keinem eindeutigen Ergebnis rechnen konnten. Draußen war alles still, totenstill. Die einzigen Geräusche stammten von Brenda, die weiter eine Buchseite nach der anderen umblätterte und von Zeit zu Zeit ein begeistertes Schnauben von sich gab. »Lass uns etwas Einfacheres probieren«, schlug Jim vor, riss das Blatt Papier heraus und knüllte es zu einer Kugel zusammen. Dann schrieb er NAACWDEUENGGRL auf die nächste Seite. »Aha, die Anfangsbuchstaben der Namen«, sagte Doris. »Fünf Vokale, neun Konsonanten. Mal sehen …« Sie machte immer wieder leise klackende Geräusche, während sie überlegte. »Wie wär’s damit? ›Nage Waldgruen‹ – nein, das ist nicht gut, da bleibt ein C übrig. Dann vielleicht eher ›Nager clauen WG‹?« »Glaub ich nicht.« Jim runzelte die Stirn. »›Klauen‹ schreibt man mit k.« »Ich weiß, ich weiß! Ich hab’s!« Doris hüpfte auf Jims Decke auf und ab. »Wuerg Nagel an CD.« »Wuerg Nagel an CD?« »Zumindest sind damit alle Buchstaben aufgebraucht«, sagte sie hoffnungsvoll. Jim schrieb die Wörter in sein Heft. »Wuerg Nagel an CD«, wiederholte er. »Wuerg CD an Nagel?
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Nagel an CD wuerg? CD an Nagel wuerg? Nein«, entschied er schließlich und strich alles aus. »Ich glaube, dass wir immer noch auf der falschen Fährte sind. Mal sehen, was passiert, wenn ich das mache …« Hastig schrieb er ACEEGL nieder. Doris sah ihn verständnislos an. »Der erste Buchstabe von jedem Nachnamen«, erklärte Cairo Jim. »Garfield hab ich mal weggelassen, der hat ja keinen.« Die Aradame starrte eine Minute auf die Buchstaben, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, nein, daraus kann man kein sinnvolles Wort bilden.« Jim strich alles weg, dann kritzelte er seufzend andere sieben Buchstaben aufs Papier – die Anfangsbuchstaben aller Vornamen. Konzentriert drehten sie die Buchstaben herum, bis sich daraus ein Wort ergab. Als Cairo Jim und Doris erkannten, was da plötzlich stand, gefror ihnen beinahe das Blut in den Adern. Auf einmal wehte eine starke Böe ins Zelt. Der heiße Wind brachte einen grauenhaften Geruch mit sich, eine Mischung aus abgestandener Grabluft und muffigem Zigarrenrauch. Jim schlug sich das Taschentuch vor den Mund, um dem Gestank zu entgehen. Die Fotos flatterten heftig gegen die sich aufblähende Zeltplane und die Seiten von
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Jims Notizbuch wurden der Reihe nach ausgerissen und vom immer stärker aufkommenden Wind gegen die hintere Zeltwand geschleudert. »Raaark!«, kreischte Doris, die verzweifelt versuchte, am Fußende des Bettes im Gleichgewicht zu bleiben. Die Kerosinlampe schlitterte über den Nachttisch und wäre sicher am Boden zerschellt, wenn Jim sich nicht darauf gestürzt und sie im letzten Augenblick aufgefangen hätte. Dann erstarb der Wind genauso plötzlich, wie er gekommen war, ebbte bis auf ein schwaches, feuchtes Flüstern ab und in der hereinbrechenden Dunkelheit war eine Stimme zu hören. »Cairo Jim«, sagte die unbekannte Stimme. »Cairo Jim. Cairo Jiiiiiiiiiiiim.« Jim und Doris blieben vorsichtshalber im Zelt und spähten nur zur Eingangsklappe hinaus. »Hörst du das?«, raunte Doris, der die Federn zu Berge standen. »Was ist das?« Ein dumpfes, schleifendes Geräusch war zu vernehmen, als würde etwas Schweres durch den Sand gezerrt. Und es klang, als würde es immer näher kommen. Plötzlich tauchte im Schein der flackernden Lampe eine riesige, von Kopf bis Fuß einbandagierte, schmutzig gelbe Gestalt auf. Sie hatte die Arme
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vor der Brust gekreuzt, die Binden, die ihre Augen verhüllten, waren altersfleckig und auf ihrem Kopf thronte, ebenfalls von Bandagen verhüllt, etwas gestaucht Zylinderförmiges. Aus dem winzigen Loch, hinter dem sich ihr Mund verbarg, drangen gedämpfte Pfeiftöne. Beim Anblick des Furcht einflößenden Besuchers blieb Jim und Doris beinahe das Herz stehen. »Wer … wer sind Sie und was wollen Sie?«, brachte Jim mühsam heraus. Das Wesen hob den rechten Arm und drehte ihnen die umwickelte Handfläche zu. Seine Stimme war tief, wie ein Donnergrollen, das von einem weit entfernten Berggipfel nach unten ins Tal dringt. »Ich bin Mar-ten-ar-ten«, sagte das Wesen. »Pharao von Ägypten, König über das ganze Land und das Volk, Diener und Botschafter von Iah, dem Großen Gott und Hüter des Mondes.« Wieder kam eine Windböe auf, ließ die Bandagen der Gestalt flattern und blies kräftig durch Jims Zelt. »Ich bin voller Zorn …« Cairo Jims Magen krampfte sich unter dem vernichtenden Blick der augenlosen Gestalt zusammen. »Sei gewarnt, Cairo Jim. Wer immer versucht,
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die Stätte meiner letzten Ruhe zu stören, wird für den Rest seines Lebens von den Flüchen der Pharaonen verfolgt werden und genauso wird es seinen Kindern ergehen und seinen Hunden. Schlag diese Warnung nicht in den Wind. Du hast den Großen Iah erzürnt, der auch in diesem Augenblick finster zu dir herabsieht. Er hat dir auf seine eigene geheimnisvolle Weise viele Nachrichten gesandt«, die Gestalt deutete mit ausgestreckter Hand auf die Bilder an der Zeltwand, »doch du hast die Zeichen übersehen. Du darfst mein Grabmal nicht weiter suchen. Du musst diesen Ort verlassen. Nimm alles mit, was dein ist, und kehr nie wieder zurück.« Langsam wich das Wesen zurück. »Geh weg von hier«, wiederholte es und seine gespenstische Stimme wurde dabei immer lauter. »Hör auf, Iahs Zorn zu erwecken. Geh, lass mich für alle Zeit in Frieden ruhen … bis in alle Ewigkeit!« Eine Sekunde vollkommener Stille folgte seinen Worten. Dann wurde die Luft von einer unglaublichen, beinahe trommelfellzerfetzenden Explosion zerrissen. Es war der ungeheuerlichste Knall, den Ägypten in seiner jahrtausendealten Geschichte je gehört hatte. BUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUMMM!
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Ein gigantischer Rauchpilz erhob sich, stieg höher und immer höher, bis er die Sterne am Himmel einzuhüllen schien. Durch die Wucht der Detonation wurde das Zelt aus seiner Verankerung gerissen und hochgeschleudert. Mitsamt Jim und Doris, die im Inneren hin und her geworfen wurden, wirbelte es wild flatternd durch die Lüfte. Schließlich brach es etliche Meter von dem Platz entfernt zusammen, wo es zuvor gestanden hatte. Jim und Doris, die bis auf ein paar Schrammen unverletzt geblieben waren, krochen unter dem Planenhaufen hervor, der einst ihr Zelt gewesen war. Ihr ehemaliges Lager war in eine riesige Staubwolke gehüllt. Steinbrocken und Sand flogen immer noch durch die Luft und verfehlten die beiden nur um Haaresbreite. Die Mumie des Pharaos Martenarten war nirgends zu sehen. Es war, als hätte der aufgewirbelte Staub sie verschluckt. »Quaaaauuuu«, war plötzlich ein schnaubendes Husten zu hören. »Brenda!«, kreischte Doris. Jim rannte zur Wunderkameldame hinüber, die noch immer dasaß und mit zitternden Hufen den Einband ihres Buches umklammerte. Die Explosion hatte den Buchblock Seite für Seite davongefegt,
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was Brenda genauso aufbrachte wie der Knall selbst, denn sie war mitten im letzten Kapitel gewesen, wo es besonders spannend wurde. »Brenda! Meine Hübsche, ist mit dir alles in Ordnung?« Sie musterte sich von oben bis unten, dann nickte sie. »Dann sind wir alle unverletzt. Das ist die Hauptsache.« Doris krächzte lautstark. »Jim, der Steinhaufen …!« Er sah hinüber zu dem Fleckchen Erde, wo einst die Gesteinsbrocken aufgehäuft lagen und das nun komplett flach war. »Um des lieben Ramses willen«, keuchte er. »Aber wo sind die Steine hin?« Doris schlug aufgeregt mit den Flügeln. »Schnell!«, rief Cairo Jim. »Zur Grabungsstelle!« Er schnappte sich eine Taschenlampe und gemeinsam rannten sie so schnell wie möglich los und schlitterten den felsigen Abhang zum Eingang ihrer Grabungsstelle hinunter. Ein Bild des Grauens bot sich ihren Augen. Alle Arbeit, die sie in die Suche gesteckt hatten, war zunichte gemacht. Es war hoffnungslos. Felsbrocken, Steine und
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Geröll hatten sich wie eine Lawine in den Tunnel ergossen und den Eingang vollkommen versperrt. »Monate«, brachte Jim mühsam heraus, dessen Kehle wie zugeschnürt war. »Alles. Zerstört.« Ungläubig kickte er einen Stein beiseite. »Alles umsonst.« Doris sah zu, wie er mit hängenden Schultern um den Trümmerhaufen herumschlich. So elend hatte die Aradame ihn noch nie gesehen. Sie wollte ihm etwas Tröstliches sagen, doch kein passendes Shakespeare-Zitat wollte ihr einfallen. Die Kette der Geschehnisse war einfach zu entsetzlich, zu unfassbar, und Doris wusste, dass nicht einmal der unsterbliche Dichter die grauenhafte Verzweiflung würde mildern können, die über sie alle hereingebrochen war. Also blieb sie stumm und wartete, über alle Maßen traurig. Auch Brenda war am Boden zerstört. Zum ersten Mal in ihrem Wunderkamelleben fühlte sie sich ganz und gar nicht wundersam. Während Cairo Jim in den schrecklichen Trümmern herumstocherte, war ihm, als hätte ihm ein Riese das Herz aus der Brust gerissen und in den Staub geworfen, wo es so lange vom Wind herumgewirbelt wurde, bis es sich in Milliarden Stückchen Nichts auflöste. Er fühlte sich vollkommen leer.
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Die Minuten verrannen. Es waren Minuten der Sprachlosigkeit, der völligen Verwirrung und Ratlosigkeit. Doch irgendwann konnte Jim den Anblick des Trümmerhaufens nicht länger ertragen. »Na los, Leute«, sagte er zu seinen Freunden, ohne sie anzusehen. »Wir müssen das Lager wieder aufbauen.« Aber in seinem tiefsten Inneren wusste er, dass es vielleicht nicht für lange Zeit sein würde. Doris und Brenda folgten ihm den bröckeligen Abhang hinauf. Langsam trottete die ungewöhnliche Gruppe zum Lagerplatz zurück, die Füße so schwer wie Zementblöcke. Jenseits der Hügel, im Tal der Könige, dachte Desdemona träumerisch an den wunderschönen Umhang, der bald ihr gehören würde. Sie kicherte leise aus dem Schnabelwinkel, während sie Bone von seinen Bandagen befreite. »Arrr.« Er verzog das Gesicht. »Diese Mullbinden stinken ja erbärmlich. Hättest du keine neueren klauen können?« »Mecker, mecker, mecker«, erwiderte die Rabendame. »Nie bist du mit irgendwas zufrieden.« »Pah! Die müffeln nach Grab!« »Was erwartest du eigentlich? Ich hab sie schließlich im Museum von Luxor aus einem
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Grabmal-Glaskasten stibitzt, als die Wache gerade wegschaute.« Bone verpasste ihr eine Kopfnuss. »Erk! Wofür war das denn?« »Mir war nur so danach. Ich muss zugeben, Vogel, heute Abend hast du dich überraschend geschickt angestellt.« »Du bist zu gütig«, murmelte Desdemona. »Ja, ich weiß. Du hast doch die Zeichnung von Richard Löwenherz an der Grabungsstätte abgeworfen, oder?« »Ja, schon am Nachmittag. Als ich rübergeflogen bin und die Lunte ausgegraben hab. Du hast dir zu der Zeit gerade den Schnurrbart eingewachst. Ich hab Cairo Jim das Bild direkt auf den Tropenhelm fallen lassen.« »Was? Er hat dich doch hoffentlich nicht gesehen?« »Unwahrscheinlich. Ich bin so schnell wie möglich wieder verduftet.« »Gut.« »Und jetzt sind deine Beine dran. Mach mal kurz auf breitbeinig verwegen«, sagte sie und fügte kaum hörbar hinzu: »Wenigstens einmal in deinem Leben.« Bone spreizte die Beine und Desdemona begann sie auszuwickeln.
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»Ich verstehe nicht, warum du nicht einem von den Rhampsinites-Zwillingen befohlen hast, sich so zu verkleiden. Das hätte uns eine Menge Arbeit erspart. Sie schulden dir doch sowieso einen Gefallen.« »Nein, nach dem Fiasko mit meinem Grammofon gestern wäre mir das zu riskant gewesen. Außerdem wollte ich mir den Spaß nicht entgehen lassen. Cairo Jim zu erschrecken war mein ganz spezielles Sahnehäubchen, wenn du verstehst, was ich meine. Dieser abergläubische Buddelknabe war so entsetzt, dass er fast aus seinen Sockenhaltern gekippt wäre. Arrr. Und als der große Knall kam, hat er sich schier in die Hose gemacht.« Desdemona kicherte. »Ich hoffe, dieser Doris ist der achso-feine Schnabel abgefallen!« Sie hörte auf, die Bandagen abzuwickeln, und pickte Bone ins Knie. »Denk dran, ich will ihre Federn«, krächzte sie. »Autsch! Ich hab’s dir doch versprochen, oder nicht? Du kriegst sie, bevor Cairo Jim und sein schräger Vogel abhauen.« Er spannte ungeduldig die Wadenmuskeln an und begutachtete seine Hände. »Mist«, murmelte er, »zwei Fingernägel abgebrochen. Dabei hatte ich sie vorher erst manikürt.« »Hab ich die Lunte nicht schön aufs Stichwort
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angezündet?«, fragte der Vogel mit den pulsierenden Augen. »Mm? Ach so, ja, ich hätte es selber nicht besser machen können. ›Ewigkeit‹. Genau aufs Stichwort.« »Ewigkeit«, echote Desdemona und kicherte wieder heiser. »Nimmermehr, nimmermehr, nimmermehr. Ha ha ha ha ha ha ha!« Ihr Gelächter wirkte ansteckend. Neptun B. Bone sah auf das silbern gerahmte Foto von Jocelyn Osgood, das er kurz vor Beendigung seines Auftritts als Mumie von Jims Tisch gestohlen hatte. Dann warf er den Kopf in den Nacken und schickte sein dröhnendes Lachen in die Nacht hinaus. Endlich stand das Zelt wieder. Doris und Brenda wussten, dass dies einer der seltenen Zeitpunkte war, wo Jim mit seinen Gedanken allein sein musste, also wünschten sie ihm eine gute Nacht und gingen nach draußen. Doris flatterte auf ihre Sansibar-Sitzstange und das Wunderkamel machte sich auf die Suche nach einem bequemen Fleckchen Erde, das nicht von der Explosion aufgerissen worden war. Als Jim sich mit gesenktem Kopf auf sein Feldbett setzte, fiel ihm auf einmal eines seiner heraus-
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gerissenen Notizbuchblätter ins Auge, das zwischen dem Fußende des Bettes und der hinteren Zeltwand auf dem Boden lag. Er bückte sich und hob es auf. Unterhalb der vielen hingekritzelten Buchstaben und Sätze stand das letzte Wort, das er vor dem Eintreffen des unheimlichen Besuchers aufgeschrieben hatte. Sieben einzelne Buchstaben. WARNUNG. Und wieder war ihm, als würde sich sein Blut in blankes Eis verwandeln. Er knüllte das Papier zu einer festen Kugel zusammen und schleuderte es zu Boden. Dann drehte er die Lampe herunter, bis auch das letzte kleine Flämmchen erstarb. Schließlich legte er, noch vollständig bekleidet, den Kopf auf das harte, flache Kissen, obwohl er wusste, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde. In dem kühlen, mit Topfpalmen bestückten, mit Marmor ausgelegten und mit Zedernholz vertäfelten Aufenthaltsraum der Kairoer Gesellschaft zur Erhaltung von Altertümern saßen zwei Herren in eleganten Ledersesseln und nippten grimmig an je einem Belzoni-Whopper * . *
Fruchtiger Drink, nach Giovanni Battista Belzoni benannt, einem ehemaligen Zirkus-Kraftmenschen, der 1818 als erster Europäer die Pyramide von Chephren betrat. 136
Der ältere der beiden hatte traurige Augen und ein schmales, eingesunkenes Gesicht, das zur Hälfte unter sorgfältig getrimmten, zu seinem grauen Schnurrbart passenden Koteletten verborgen war. Sein Name war Esmond Horneplush und er war seit über vierzig Jahren Mitglied der Gesellschaft zur Erhaltung von Altertümern. Viele dieser über vierzig Jahre hatte er als Archäologe gearbeitet, doch er hatte nie Entdeckungen gemacht, die ihm weltbewegenden Ruhm eingebracht hätten, und nun begnügte er sich damit, mit seinen Freunden und Kollegen im Aufenthaltsraum zu sitzen, in Erinnerungen an die guten alten Zeiten zu schwelgen und sich gelegentlich, mit angefeuchteten Lippen und funkelnden Augen, vorzustellen, was er alles hätte schaffen können. Der Mann, der ihm an diesem Nachmittag Gesellschaft leistete, hatte ein beutelrattenartiges Gesicht, kurzes dunkles Haar und einen nach oben gebogenen Oberlippenbart. Ein feines Netz von kleinen Fältchen, Ergebnis von zu vielen Stunden, die er ohne eine gute WüstenSonnenbrille in der Sonne zugebracht hatte, umgab seine kleinen Augen. Seine Wangen waren rundlich und rosig und sein ausgebeulter weißer Leinenanzug hatte schon bessere Tage erlebt. Der Mann hieß Gerald Perry Esquire und er war gera-
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de dabei, von seinem neuesten Geschäftsunternehmen zu berichten. »Ich dachte, das wird ein Knaller«, murmelte er niedergeschlagen und spielte mit dem winzig kleinen Papierschirmchen in seinem BelzoniWhopper. »Vorher hatte noch nie einer Tauben auf den Tisch gebracht, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Wissen Sie, was ich alles geplant hatte, Horneplush?« »Hmm? Nein, kann ich nicht behaupten«, antwortete Esmond Horneplush, der gerade einen spinnwebartigen Riss in der gegenüberliegenden Wand betrachtete und auszurechnen versuchte, wie viele Jahre es noch dauern würde, bis dieser sich ausgebreitet und den Türrahmen erreicht hatte. »Ich sag’s Ihnen. Tauben-Burger, TaubenRisotto, Tauben-Fleisch in dünnen Streifen, Tauben-Nuggets mit drei verschiedenen Soßen, speziell abgepackte Tauben-Flügel, Tauben mit galletas saladas – das ist Spanisch und heißt ›gesalzene Kräcker‹, wussten Sie das?« »Mm? Nein, ich kann kein …« »Tauben-Fleisch mit Kartoffelchips, gebratene Tauben, gebackene Tauben, gedünstete, gegrillte und geschmorte Tauben, Taube Wellington, Tauben con habas (also mit Bohnen), Tauben-Filet,
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Tauben mit Spagetti. Jeweils in hübschen kleinen Schachteln, zum Mitnehmen. Bequem und sauber. Garantiert ohne Kleckerei. Und alles wird von hilfsbereitem, freundlich lächelndem Personal ruckzuck über den Tresen gereicht. Aber keiner hatte Interesse daran«, schloss er mit einem Seufzen. »Ist alles im Sande verlaufen.« Er nippte an seinem Glas, während Horneplush ein Auge zukniff und das Muster des Mauerrisses mit dem Finger in der Luft nachzeichnete. »Und wissen Sie, wovon das meiner Meinung nach kommt, Horneplush?« »Hä?«, machte sein Freund, der nicht besonders aufmerksam zugehört hatte. »Ich sagte, wissen Sie, wovon das meiner Meinung nach kommt?« »Ähm … von aufsteigendem Wasserdampf vielleicht?« »Was? Aufsteigender Wasserdampf? In TaubenFleisch? Unsinn! Nein, ich glaube, es liegt am Geschmack. Die Leute scheinen dem Geschmack von Taubenfleisch nicht besonders zugetan zu sein. Sie halten Tauben für Ratten mit Flügeln – ein paar haben es mir direkt ins Gesicht gesagt. So ein Quatsch! Tauben und Ratten sehen sich doch überhaupt nicht ähnlich. Eine Taube schmeckt auch ganz anders als eine Ratte. Schon mal viel
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zarter.« Er nahm einen weiteren Schluck und dachte einen Augenblick nach. »Horneplush?« »Mmm? Was ist, Perry?« »Ich überlege gerade … Haben Sie schon mal Rattenfleisch gekostet?« Horneplush rührte mit seinem Strohhalm im Glas. »Nein«, erwiderte er. »Kann ich nicht behaupten.« »Jetzt, wo ich darüber nachdenke – ich auch nicht … Ich hab nur einmal an einer Maus geknabbert.« »Wirklich? Wo?« »Knapp oberhalb des Schwanzes.« »Nein, ich meine, wo waren Sie da?« »Ach so. Im tiefsten Emnobellien. Dschungelgebiet. Ich musste dahin zur Rettung …« In diesem Moment kam der Ober mit einem silbernen Tablett, auf dem ein kleines Kuvert lag. »Verzeihen Sie, Mr. Perry«, sagte er leise, »ein dringendes Telegramm aus dem Tal der Könige.« »So?« Gerald Perry stellte seinen Whopper ab und nahm den Umschlag in die Hand. »Oh«, rief er aus und hielt das Kuvert ins schwache grünliche Licht der Lampe. »Von Cairo Jim. Vielleicht ist er endlich fündig geworden. Vielen Dank, Lucas.« Der Ober wartete auf sein Trinkgeld.
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»Oh, Horneplush, seien Sie so freundlich und erledigen das, ja?« »Was?«, stammelte Horneplush und wandte den Blick endlich von dem Riss in der Wand ab. »Ach so, ja, natürlich.« Er legte zwanzig Piaster auf Lucas’ Tablett. »Bitte schön.« »Vielen Dank, Mr. Horneplush. Ich tue mein Bestes, damit mir dieser Geldsegen nicht zu Kopf steigt.« Der Ober verbeugte sich tief und verschwand lautlos im Dämmerlicht auf der anderen Seite des Raumes. »So, jetzt wollen wir mal sehen, was da steht.« Perry riss den Umschlag auf, faltete das Telegramm auseinander und las es leise für sich. »Ojemine«, sagte er, als er fertig gelesen hatte. »Sind doch hoffentlich keine schlechten Neuigkeiten?« Gerald Perry runzelte die Stirn und reichte Horneplush das Blatt. »Lesen Sie selbst«, murmelte er. KATASTROPHE STOPP UNGEHEURE EXPLOSION STOPP WIRFT UNS MONATE ZURÜCK STOPP ALLE ARBEIT UMSONST STOPP MÜSSEN GANZ VON VORNE ANFANGEN STOPP ERBITTEN VERLÄNGERUNG ETWA SECHS MONATE ODER MEHR STOPP WIR SIND NAHE DRAN AN. BRAUCHEN ABER MEHR
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MITTEL UND ZEIT STOPP WARTEN AUF ANTWORT STOPP JIM DORIS BRENDA Horneplush ließ das Telegramm sinken und sah seinen Kollegen fragend an. »Weitere sechs Monate! Können Sie sich das überhaupt leisten?« »Oje«, stieß Gerald Perry hervor und fuhr sich mit dem Daumennagel über die Lippen. »Oje oje oje …« Brenda stocherte mit einem Stock im Lagerfeuer, während Cairo Jim vor seinem Zelt auf und ab marschierte. »Wo bleibt sie nur?«, fragte er besorgt, die Augen aufgerissen. »Wir müssten doch schon längst eine Antwort bekommen haben.« Kommt schon noch, dachte Brenda. Kairo ist weit weg. Hab Geduld. »Wird schon noch kommen, schätze ich«, sagte Jim und hielt am nächtlichen Himmel Ausschau nach Doris. »Kairo ist weit weg. Ich muss Geduld haben.« Sehr gut, dachte Brenda. Und mach dir keine Sorgen. Vielleicht bekommen wir eine gute Nachricht. Vielleicht bewilligt uns Gerald Perry Esquire das Geld sofort. »Weißt du, Brenda, ich sollte mir wirklich keine Sorgen machen. Keine Nachrichten sind gute
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Nachrichten, so heißt es doch, oder? Vielleicht bewilligt uns Gerald Perry Esquire das Geld sofort.« Und dann können wir uns wieder an die Arbeit machen. »Und dann können wir uns wieder an die Arbeit machen.« Schließlich, überlegte das Wunderkamel weiter, während die Flammen immer höher schlugen, sind wir nicht die Einzigen, die Rückschläge einstecken mussten. Weißt du noch, dieser englische Archäologe damals vor langer Zeit? Der nach Tutan Norden gesucht hat? Er hat doch auch nicht aufgegeben, stimmt’s? Nicht einmal, als seine Mitarbeiter anfingen zu meutern, weil ihnen die Marshmallows ausgegangen waren. Nein, er hat unbeirrt weitergemacht – und denk nur dran, was er dann gefunden hat! Jim blieb stehen und kicherte. »Weißt du, meine Hübsche«, sagte er, »wir sind nicht die Einzigen, die in ihrer Arbeit zurückgeworfen werden. Die Archäologie war noch nie einfach. Vor langer Zeit gab es mal diesen Engländer, der ziemlich in Schwierigkeiten geriet, als seine Helfer die Ausgrabungsstätte verließen. Der Marshmallow-Vorrat war ihnen ausgegangen. Das ging den Leuten so gegen den Strich, dass sie ihre Sachen packten und den Engländer im Stich ließen. Aber er war sicher,
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dass er ganz nahe dran war an König Tutan Norden, also was tat er?« Er hat weitergegraben, dachte Brenda. »Er hat weitergegraben, das hat er getan. Immer weiter, immer weiter. Und weißt du, womit er für seine Mühe belohnt wurde?« Mit unsagbaren Schätzen. »Mit unsagbaren Schätzen, wie sie sich kein Mensch vorher hätte vorstellen können.« Den kostbarsten Artefakten. »Den kostbarsten Artefakten. Es war die größte Entdeckung in der gesamten Geschichte der Ägyptologie.« Jim schlug die Hände laut zusammen. Das Geräusch hallte wie ein Gewehrschuss durch die stille Nacht. »Aber das, meine Hübsche, ist nichts gegen die Schätze, die uns erwarten. Gar nichts. Im Vergleich zu dem, was wir finden werden, ist die Entdeckung des Engländers genauso viel wert wie der Inhalt eines Kaugummi-Automaten. Der Schatz von Martenarten wird bestimmt der größte und kostbarste sein, der je entdeckt wurde.« Dieser Name: Martenarten. Cairo Jims Augen füllten sich mit Furcht, als ihm plötzlich wieder jedes grauenhafte Detail des Mumienbesuches einfiel. Auch jetzt noch konnte er die entsetzliche, in diese schmuddeligen Bandagen gehüllte Gestalt vor seinem inneren Auge sehen. Bei der Erinnerung
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an deren schwarzen Sehschlitz, der statt normaler Augen nur alle finsteren Geheimnisse des Jenseits zu beherbergen schien, begann er zu zittern. Ihm war sogar, als hätte er den Gestank, den das Wesen verbreitet hatte, auf einmal wieder in der Nase. Die Haut an seinen Kniekehlen war plötzlich schweißnass und klamm und langsam kroch der frostige Schrecken ihm in alle Glieder, erfasste seinen ganzen Körper, bis der Archäologen-Dichter sich fühlte, als wäre er ein einziger überdimensionaler arktischer Eiszapfen. Bone hatte Recht gehabt: Cairo Jim war in der Tat abergläubisch und diese Eigenschaft drohte alles, worauf Jim, Doris und Brenda hingearbeitet hatten, zu gefährden. Ein Glück, dass die Kameldame wusste, wann sie die Sache in die Hufe zu nehmen hatte. Menschen träumen oft, dachte sie mit all ihrer telepathischen Kraft, und manchmal sind die Träume so lebensecht, dass man sie kaum mehr von der Wirklichkeit unterscheiden kann. Denk daran, Jim … Denk daran, wie verschwommen die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit ist … Die flackernden Flammen zeichneten Licht und Schatten auf Jims Gesicht und für einen Wimpernschlag verschwamm ihm das Feuer vor den Augen. Dann streckte er die Brust raus und holte tief Luft.
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»Was gestern geschehen ist, wird uns bald nur noch wie ein böser Traum vorkommen«, sagte er lächelnd zu Brenda. »Vielleicht war ja auch alles nur ein Traum, ein Albtraum. Vielleicht haben wir nur zu hart gearbeitet. Vielleicht hatten Doris und ich nur zufällig die gleiche Halluzination?« Und die Explosion? Was ist damit?, fragte Brenda in Gedanken. »Die Explosion kann allerdings keine Halluzination gewesen sein. Nein.« Jim klopfte mit den Fingerspitzen nachdenklich aneinander. »Aber es könnte eine Art … unterirdischer Ausbruch gewesen sein. Ja, das war’s. So was passiert, weißt du, immer wieder passiert so was, überall auf der Welt. Unterirdische Gase sammeln sich in unvorstellbaren Mengen an, können nirgendwohin entweichen, also … bumm! Wenn man sich’s recht überlegt, ist alles ganz logisch. Also, ich schätze …« Ein Flügelschlagen über ihnen unterbrach seine Ausführungen. Doris segelte in einem weiten Bogen über ihre Köpfe hinweg und landete dann direkt vor Jims Füßen, einen kleinen braunen Umschlag im Schnabel. Eifrig reichte sie Jim das Kuvert. »Ist gerade erst gekommen«, schnaufte sie. »Hab’s noch nicht gelesen. Die Frau in der Poststelle hat den Laden extra für uns offen gehalten. Das war sehr nett von ihr, nicht wahr?«
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»Ja, die Leute hier sind wirklich sehr nett«, erwiderte Jim glücklich. »Ist unfrei geschickt worden. Wir schulden der Poststelle also etwas. Müssen wir bezahlen, wenn wir das nächste Mal hingehen.« Doris flatterte auf Brendas Rücken und ließ sich erschöpft gegen deren Höcker sinken. »Ich bin völlig erledigt«, krächzte sie. »Vielen Dank, meine Liebe«, sagte Jim. »Du bist eine echte Heldin.« »Keine langen Vorreden«, keuchte Doris. »Mach den Umschlag auf.« »Ja, das sollte ich wohl besser tun.« Aber trotz seiner neu erwachten Zuversicht zögerte Cairo Jim. Unschlüssig stand er da, betastete das Kuvert, schüttelte es ein paar Mal und lauschte dem Hin- und Herrutschen des Telegramms darin. Er hielt den Umschlag flach auf der Hand, erst auf der rechten, dann auf der linken. Er klopfte damit gegen seine Handfläche. Er ließ ihn zwischen den Fingern hindurchgleiten. Er beäugte seinen Namen und die Adresse, die auf Arabisch auf den Umschlag geschrieben waren: Cairo Jim, Am Hügel von der Form eines zerknitterten weißen Filzhuts, Tal der Könige. Er leckte sich über die Lippen und tupfte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er wollte das Telegramm einfach nicht öffnen.
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Na komm schon, dachte Brenda und stampfte ungeduldig mit den Hufen im Sand auf. Lies vor. »Na komm schon«, krächzte Doris. »Lies vor.« Er sah seine beiden Freundinnen an, deren Augen im Schein der Flammen glänzten. Dann riss er mit wild klopfendem Herzen den Umschlag auf. »Da haben wir unsere Antwort«, sagte er und faltete das Telegramm mit bebenden Fingern auseinander. »Von der Gesellschaft zur Erhaltung von Altertümern.« »Quaaauuu!« Mach schon. »Rerk! Mach schon.« Cairo Jim holte einmal tief Luft und begann vorzulesen. SCHLIMME KATASTROPHE STOPP BIN ABER LEIDER NICHT MEHR IN DER LAGE ZU HELFEN STOPP TAUBEN VERKAUFEN SICH GAR NICHT GUT STOPP SCHLAGE RÜCKKEHR NACH KAIRO VOR STOPP GESELLSCHAFT KANN IHNEN NEUE EXPEDITION NACH BRASILIEN ANBIETEN STOPP NÄCHSTES MAL MEHR GLÜCK STOPP GERRY PERRY ESQ Jim setzte sich auf den Boden, warf das Telegramm mitsamt Kuvert ins Feuer und nahm seinen Tropenhelm ab.
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Doris zuckte mit den Flügeln. »Aber das ist doch nicht das Ende, oder?« Er sah sie traurig an. »Was meinst du damit?« »Wir können doch bestimmt etwas unternehmen. Können wir nicht unsere Mittel aufbrauchen? Wir haben doch sicher noch etwas Geld, oder nicht?« Jim holte seinen Geldbeutel aus der Tasche seiner Safari-Shorts, machte ihn auf und zählte langsam die darin befindlichen Banknoten. »Dreizehn Pfund«, verkündete er seufzend. »Das ist alles?« »Ein paar Münzen haben wir auch noch. Das wird insgesamt noch nicht mal für zwei Wochen reichen.« Doris flatterte von Brenda herunter und watschelte zu ihm hin. »Was ist da drin?«, fragte sie, hob mit dem Schnabel einen kleinen Lederbeutel auf, der Jim aus der Hosentasche gerutscht war, und ließ ihn in Jims Schoß fallen. Er lockerte die Kordel und holte die LapislazuliBrosche heraus, die Miss Pyrella Frith den Rhampsinites-Zwillingen abgekauft hatte. »Unser Schatz«, entgegnete er traurig. »Riiiirraark! Warum verkaufen wir den nicht? Mit dem Geld, das er uns bringt, könnten wir ein ganzes Jahr weitermachen!«
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Jim streckte die Hand aus und zerzauste ihr liebevoll die Federn. »Nein, meine Liebe, ich fürchte, das kommt nicht in Frage. Du weißt genauso gut wie ich, dass die Archäologie eine ehrenhafte Angelegenheit ist. Es wäre ein Verbrechen, solch ein wertvolles Stück wie dieses hier zu verkaufen. Nein, die Brosche muss nach Kairo ins Museum. Ich bin sicher, der Direktor findet einen hübschen Glaskasten, wo er sie reintun kann.« »Ich wollte ja nur helfen.« »Ich weiß, danke.« Jim steckte die Brosche zurück in den Beutel und zog ihn sorgfältig zu. Dann stand er auf und setzte sich seinen Tropenhelm wieder auf. »Ich glaube, wir gehen jetzt besser schlafen, meine Lieben. Wir müssen morgen früh aufstehen. Wir haben viel zu packen.« »Morgen?«, stieß Doris erschrocken hervor. »Wir gehen schon morgen hier weg?« »Es hat keinen Sinn, die Sache länger als nötig hinauszuschieben. Ich werde uns dann drüben in Luxor eine Feluke besorgen. Von Mrs. Amun-Re und Miss Frith können wir uns unterwegs verabschieden. Ein paar Tage auf dem Nil, dann sind wir … sind wir …« Er konnte nicht mehr weitersprechen, der Kloß
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in seinem Hals war einfach zu groß. Hilflos schluckte er. »Jim«, setzte Doris an. »Es geht schon wieder, meine Liebe. Gute Nacht. Und vielen Dank euch beiden, von ganzem Herzen, für all die Mühe, die ihr euch gemacht habt.« Damit wandte er sich ab und ging in sein Zelt. Doris kratzte unschlüssig mit den Krallen am Boden, unsicher, was sie sagen oder tun sollte. Nach einer Weile beschloss sie, dass es am besten sein würde, wenn sie sich auf ihre Sitzstange zurückzog. Als sie zu Brenda hinübersah, fiel ihr auf, dass die Nüstern der Kameldame bebten. »Dulden muss der Mensch sein Scheiden aus der Welt wie seine Ankunft«, sagte Doris. »Reif sein ist alles.« Sehr richtig, dachte Brenda und schnaubte. »Gute Nacht, du wundervolles stummes Tier«, sagte Doris. »Ich werde dich schmerzlich vermissen.« Sie flatterte zu Brenda und gab ihr mit dem Schnabel ein schnelles Küsschen aufs Ohr, bevor sie sich endgültig zur Ruhe begab. Die Wunderkameldame war mindestens genauso traurig wie Jim, denn sie wusste, dass es für sie in Kairo keinen Platz gab. Eine riesige Träne bildete sich in einem ihrer
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großen Augen, kullerte ihr über die Wange und platschte dann in den Sand, wo sie für einen Moment eine kleine Pfütze bildete. Dann saugten die feinen Sandkörnchen sie auf und der Boden war wieder so staubtrocken wie zuvor.
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8. Kapitel
Bravo, Brenda!
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or langer Zeit hatte einmal eine riesige Palme im Tal der Könige gestanden. Es war die höchste Palme mit dem dicksten Stamm weit und breit, und gigantische, glänzende grüne Wedel wuchsen an ihrer Spitze. Wenn es besonders heiß war, kamen Männer, Frauen, Kinder und Kamele und ruhten sich in dem kühlen Schatten aus, den die Palme in den Sand warf. In der Tat war diese Palme der einzige Baum, das einzige Stückchen Grün im ganzen Tal gewesen, und niemand wusste, wie sie überlebte. In dieser Gegend war Wasser, ob über oder unter der Erde, im besten Falle knapp, im schlechtesten überhaupt nicht vorhanden. Man konnte hier, wenn man nicht gut ausgerüstet war, ohne weiteres verdursten. Aber dieser Baum war irgendwie immer weitergewachsen und -gediehen, hatte sich mit jedem Jahr weiter der Sonne entgegengestreckt. Jahrhundertelang hatte die Palme dort gestanden und während dieser Zeit hatte sie vieles miterlebt. Stumm hatte sie mit angesehen, wie dutzende von Begräbnisprozessionen ins Tal gezogen waren,
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um die Könige in ihre üppig ausgestatteten Grabmäler zu betten, von wo aus sie das Diesseits verlassen und in das Leben nach dem Tode aufbrechen würden. Auch die Horden verzweifelter Grabräuber hatte die Palme gesehen – lautlos waren sie nach Einbruch der Nacht durch die Wüste geschlichen und hatten holpernde Wagen hinter sich hergezogen, um diese mit all dem Gold zu beladen, das sie zu finden hofften. Die Palme hatte die nächtlichen Schreie der unzähligen Schakale gehört, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, hatte grimmigen Staubstürmen getrotzt, tausenden Generationen von Vögeln als Nistplatz gedient und immer wieder den Übermut lästiger Jugendlicher und Durchreisender über sich ergehen lassen, die ihr Zeichen und Inschriften in die Rinde geritzt hatten. Und dann, vor über tausend Jahren, hatte die Palme zu sterben begonnen. Ihre Blätter waren verdorrt und geschrumpft und hatten sich langsam braun gefärbt, bis sie so schwach waren, dass die Sonne sie mühelos völlig verbrannte. Der riesige Stamm war von innen her verrottet und mit der Zeit hatte sich der majestätische Baum in einen riesigen Zylinder aus brüchigem, papierdünnem Holz verwandelt. Eine Weile stand er noch so im Tal, bis er an ei-
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nem besonders heißen Tag Feuer fing. Einen Tag und eine Nacht loderten die Flammen und alles, was danach von dem einst Ehrfurcht gebietenden Baum übrig blieb, war ein Haufen Asche, der von den strengen Wüstenwinden bald in alle Richtungen quer durch das Tal verweht wurde. Die Palme war weit und breit bekannt gewesen und viele Menschen empfanden ihren Verlust als sehr schmerzlich. Den Leuten aus dem nahe gelegenen Gurna und dem jenseits des Flusses liegenden Luxor kam es so vor, als hätten sie ein Mitglied ihrer Familie verloren. Selbst die Hohepriester aus dem Tempel von Karnak konnten keine Erklärung für das mysteriöse Dahinscheiden des Baumes finden, hielten es aber für ein schlechtes Omen, genau wie der Tod eines Königs oder einer Königin auf kommendes Übel hindeutete. Die Legende der gigantischen Palme wurde von einer Generation zur anderen überliefert; Mütter erzählten sie ihren Töchtern, Väter ihren Söhnen und immer so weiter. Doch mit der Zeit wurde die Geschichte immer kürzer. Wenn ein Vater etwa zu seinem Sohn sagte: »Hier hat einst, mein Sohn, eine mächtige Palme gestanden, so hoch, dass man ihre Spitze gar nicht sehen konnte«, so gab der Sohn, sobald er selbst Vater geworden war, an seine Tochter nur noch weiter: »Hier hat einst, meine
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Tochter, eine Palme gestanden, so hoch«, und er hob den Arm zum Himmel. Und die Tochter erzählte Jahre später ihrer eigenen Tochter: »Hier hat einst, mein Kind, eine hohe Palme gestanden«, aber sie hob den Arm nicht mehr. Immer kürzer und kürzer wurde die Geschichte, bis sie schließlich den Kindern, die sie zu hören bekamen, nichts mehr bedeutete und sie sie vergaßen, sodass sie ihren eigenen Kindern nichts mehr zu erzählen hatten. Und so zerfiel die Legende von der Palme genau wie die Palme selbst. Aber das war alles lange her. Nun ist es früher Morgen. Die Sonne geht gerade über dem Tal der Könige auf und das Licht wechselt von einem tiefen Nachtblau zu einem kräftigen Orange. In ein paar Stunden wird es strahlend hell sein, beinahe gleißend weiß, und ein weiterer Tag wird seinen Lauf nehmen. Für Brenda das Wunderkamel war es der traurigste Morgen, den sie je erlebt hatte. Bald würde Jim aufstehen, würde mit Doris seine Sachen packen und die Vorbereitungen für die Abreise nach Kairo treffen. Die ganze Nacht hatte Brenda daran gedacht und aus Angst vor dem Morgengrauen kein Auge zugetan. Es ist so ungerecht, dachte sie, während sie um die Grabungsstelle herumwanderte. Vor allem nach
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all der harten Arbeit. Jim und Doris sollten hier bleiben und weitersuchen. Martenarten muss doch irgendwo sein. Sie schnaubte laut und scharrte mit dem Huf im Staub. Was wir jetzt brauchen, überlegte sie weiter, ist ein Wunder. Und zwar jetzt gleich, noch heute Morgen, sonst ist es zu spät. Aber obwohl sie ein grundsätzlich optimistisches Kamel war, wusste Brenda tief in ihren Höckern, dass es keine Wunder mehr gab. Nicht in diesen Tagen und Zeiten. Sie wandte sich von dem Geröllhaufen ab, der den Zugang zum Grabungstunnel blockierte, und drehte den Kopf zur Seite, um zu spucken. Plötzlich erblickte sie etwas im Sand. Merkwürdig, dachte Brenda. Das ist mir bisher noch nie aufgefallen. Hmm. Was das wohl sein mag? Sie zog die Nase hoch und schob sich langsam auf das Ding zu, unsicher, ob etwas Gutes oder Schlechtes sie erwartete. Wenn es etwas Lebendiges war, wollte sie es nicht erschrecken. Schließlich konnte es sich auch als etwas sehr Schmackhaftes entpuppen. Aber je näher sie kam, desto weniger lebendig kam es ihr vor. Regungslos lag es am Boden. Vielleicht schläft es, mutmaßte Brenda. Vielleicht ist es eingeschlummert und hat seinen klei-
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nen Kopf unter dem Arm verborgen. Ich muss ganz still sein. Vorsichtig trottete sie näher und beäugte das Ding. Meine Güte, so was Runzliges!, dachte sie. Und was für eine hässliche Farbe – irgendwas zwischen Braun und Grau und Sandbeige. Kein Vergleich zu meiner eleganten Kamelfärbung. Hmmm. Und dazu noch so eine komische Form! Sie beugte den Kopf noch weiter herunter. Nein, entschied sie dann. Es schläft nicht. Ich würde es merken, wenn es atmen würde. Wenn Doris schläft, bewegt sich ja auch ihr Brustkorb auf und ab, wie wenn die Erde ganz lautlos zittern würde. Hmmmm. Was ist das bloß? Im ganzen Tal hab ich noch nie etwas Ähnliches gesehen. Das Rätsel des Runzeldings machte ihr zu schaffen, denn sie war jemand, der gern allem auf den Grund ging, ob Tier, Pflanze oder Stein. Brenda zog die Augenbrauen hoch und kaute unschlüssig auf ihrer Zunge herum, während sie grübelte, wie sie weiter vorgehen sollte. Dann streckte sie die Beine durch, nahm kurz Anlauf und sprang direkt auf das Ding drauf. Nichts. Nicht einmal das leiseste Quieken kam von dem rätselhaften Etwas unter ihrem Huf. Kein Geräusch deutete darauf hin, dass es zerquetscht worden war. Es versuchte auch nicht zu entfliehen.
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Es blieb einfach nur genauso regungslos liegen wie zuvor. Vorsichtig hob Brenda den Huf. Da fiel ihr zum ersten Mal auf, dass das Ding nicht direkt auf dem Sand lag, sondern zum Teil darin begraben war. Sie wich einen Schritt zurück und senkte den Kopf, bis ihre Nüstern das merkwürdige Etwas beinahe berührten. Vielleicht kam sie darauf, was es war, wenn sie daran schnüffelte. Schschnüffffff. Plötzlich musste sie niesen und schüttelte den Kopf. Staub. Das Ding roch nach nichts außer Staub und Alter. Ein längst vergessener Geruch, dachte Brenda. Sie trat behutsam mit dem Huf dagegen. Hölzern hörte es sich an. Und da wurde ihr klar, was es war. Nur eine Wurzel. Eine alte, tote Wurzel, knotig und blank poliert, von irgendeinem längst dahingeschiedenen Baum. Enttäuscht darüber, dass es nichts Aufregenderes war, schnaubte Brenda laut und bleckte das Gebiss. Dann senkte sie wieder den Kopf und klemmte sich die Wurzel zwischen die Zähne. Ich reiß sie aus, überlegte sie. Wieso sollte sie hier bleiben dürfen, wenn Jim und Doris gehen müssen? Hrrmmpf! Sie zog leicht daran, aber die Wurzel gab keinen
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Deut nach. Brenda runzelte die Stirn. Sie biss fester hinein (wobei sie darauf achtete, ja nicht einzuatmen – sie hasste es zu niesen, davon taten ihr immer die Höcker weh) und zog wieder daran, diesmal mit einem kräftigeren Ruck und langsamen Pendelbewegungen des Kopfes. Die Wurzel begann sich zu lockern. Brenda zerrte fester. Kleine Erdklumpen lösten sich um die Wurzel herum und bröckelten ab. Aha, dachte das Wunderkamel. Jetzt haben wir’s gleich. Beim nächsten Ruck, der noch kräftiger war als die anderen, kam die Wurzel ein Stück heraus. Sie war länger, als Brenda erwartet hatte – als würde sie bis zum Mittelpunkt der Erde reichen. Brenda zog und zog und mit jedem Mal kam die Wurzel ein weiteres Stückchen aus dem Boden. Ein letzter Einsatz ihrer starken Wunderkamelkiefer und das Ding war draußen. Brenda taumelte rückwärts, die Beute zwischen den Zähnen, und stolperte dabei über ihre eigenen Hufe, während der Boden, in dem die Wurzel gesteckt hatte, mit einem mächtigen Dröhnen in sich zusammenfiel. Donnnnnnnerrr! Der Lärm war beinahe so laut wie die Explosion seinerzeit und das ganze Tal der Könige erbebte mit einem dumpfen Grollen.
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Im benachbarten Gurna wachte Mrs. Amun-Re von dem Geräusch ihres im Geschirrschrank scheppernden Porzellans auf. Ein paar Straßen weiter wackelten in Miss Pyrella Friths Dunkelkammer die Flaschen mit Entwicklerflüssigkeit und Sonnenmilch und unverdünntem Insektenspray auf ihren Regalbrettern. Auf der Weide schreckten die Kühe der Familie Hapi aus ihrem friedlichen Schlummer auf und schwenkten alarmiert das Euter. Abdullah Rhampsinites, der gerade einen Albtraum von einem riesigen Wellensittich hatte, welcher ihn davonschleppte, riss sein gesundes Auge auf und schrie. Das wiederum weckte Kelvin auf, der neben ihm schlief, und er brüllte ebenfalls los, bis Abdullah ihn heftig in den Arm kniff. Überall sprangen Menschen aus ihren Betten und suchten panisch Zuflucht darunter, weil sie dachten, ein Erdbeben sei über sie hereingebrochen. Cairo Jim kam aus seinem Zelt herausgestürzt, dicht gefolgt von der wild flatternden Doris. »Rark!«, kreischte die Aradame. »Was in aller Welt …?« Jim hob den Feldstecher vor die Gläser seiner Sonnenbrille und richtete ihn auf die Grabungsstätte, wo er Brenda erblickte. Sie kauerte benommen am Boden, eine lange, spindeldürre Wurzel im Maul.
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»Brenda!«, schrie Jim. »Komm mit, Doris.« Sie flog auf seine Schulter und gemeinsam hasteten sie zu ihrer Freundin. »Quaaaauuuu«, schnaubte die Kameldame, die das Gefühl hatte, dass sich um sie herum alles drehte. Von jetzt an bleibe ich bei Würmern, beschloss sie. »Brenda, meine Hübsche!«, rief Jim von der anderen Seite des klaffenden Erdlochs herüber, das genau auf der Linie zwischen Lager und Grabungsstelle lag. Brenda hob einen Huf und winkte den beiden verdattert zu. »Was ist passiert?« Sie rappelte sich vorsichtig auf und zuckte die Achseln. Doris hüpfte von Jims Schulter herunter und watschelte auf den Rand des Lochs zu. »Jim«, stieß sie hervor und starrte hinab, »schau dir das mal an!« »Also, da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt!«, rief Jim, schob sich den Tropenhelm in die Stirn und kratzte sich im Nacken. Ein Stück unterhalb von ihnen, in das harte Gestein eingebettet und nur vom schwachen Morgenlicht erhellt, war eine Ecke einer Tür zu sehen. Einer jahrtausendealten ägyptischen Tür des Todes.
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9. Kapitel
Die Macht des Zufalls in der Archäologie
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ur das oberste Stück der Tür ragte heraus, der Rest war unter den herabstürzenden Sandund Gesteinsmassen begraben worden. Jim und Doris starrten sprachlos in das Erdloch hinunter, während Brenda den Kopf ständig von einer zur anderen Seite schwenkte, bis sie wieder klar denken konnte. Dann schob sie sich näher an den Rand der Grube und spähte ebenfalls hinab. Als sie erkannte, was da zu sehen war, legte sie ein kleines Freudentänzchen im Sand hin. Cairo Jims Herz klopfte zum Zerspringen. Sein Mund war wie ausgetrocknet, seine Beine fühlten sich schwach und wacklig an und seine Handflächen waren feucht vor Aufregung. Er ging auf allen vieren und reckte den Kopf über den Rand der Grube. Das Loch war groß genug, dass er und Doris hinuntersteigen konnten, und er konnte sogar abschätzen, dass man dort unten genug Platz haben würde, um eine Axt oder einen wuchtigen Hammer zu schwingen. Jim grub die Fingernägel in die Erdkante und lehnte sich weiter vor, doch als er sich tiefer hinunterbeugte, die Augen hinter der
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Sonnenbrille weit aufgerissen, kippte ihm auf einmal der Tropenhelm von der Stirn und fiel vornüber in die Grube. Zehn lange Sekunden lang sahen sie zu, wie Jims Kopfbedeckung in die Tiefe stürzte. Dann hörten sie den Helm mit einem leisen Plopp im weichen Sand am Boden des Lochs landen. Jim kroch rückwärts. »Also gut«, sagte er zu Brenda und Doris. »Lasst uns an die Arbeit gehen.« »Rark!«, krächzte Doris eifrig. In null Komma nichts hatten sie die nötige Ausrüstung zusammengestellt: eine lange Seilrolle, Jims beste Kerosinlampe, eine Strickleiter, Axt und Hammer, eine kleine, aber starke batteriebetriebene Taschenlampe, mehrere Bürsten und Pinsel, Kompass und Sextant, eine mittelgroße Hacke, zwei Schaufeln (eine große und eine etwas kleinere), Schreibpapier und Stifte, eine Lupe, Streichhölzer und eine Schachtel Kerzen, das Fernglas und ein Taschenmesser. Jim legte auch seinen Schirm auf den Haufen mit den Ausrüstungsgegenständen. Der Schirm hatte ihn bisher auf all seinen Entdeckungsreisen begleitet und er nahm ihn diesmal mehr aus Aberglauben denn aus praktischen Überlegungen heraus mit. Der Schirm verlieh dem Archäologen-
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Dichter ein Gefühl der Sicherheit, auf das er nicht verzichten wollte. »Die auch?« Doris steckte ihre Spielkarten in den Rucksack. »Nein, Doris«, widersprach Jim und holte die Karten wieder heraus. »Dafür werden wir keine Zeit haben.« Also machte sich die Aradame daran, Jims Wasserflasche aufzufüllen, während Brenda um das Erdloch herum auf die andere Seite trottete. Als Jim alles Nötige in seine Taschen, seinen Rucksack und unter seinen Gürtel gestopft hatte, wickelte er die Seilrolle ein Stück auf und reichte Brenda das eine Ende. »Meine Hübsche«, sagte er, »Doris und ich gehen jetzt runter. Für dich ist es da zu eng, fürchte ich.« Sie hob enttäuscht die Augenbrauen. »Aber das ist auch ganz gut so. Wir brauchen dich hier oben.« Brenda hob die Augenbrauen noch höher, diesmal aus gespannter Neugier. »Du musst das Seil gut festhalten, fester, als du je zuvor irgendwas festgehalten hast. Das Loch ist ganz schön tief. Nur ein einziger Ausrutscher und wir sind verloren.« Brenda klemmte sich das Ende des Seils zwischen die Zähne und biss bombensicher zu. Dann
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schnaubte sie einmal und nickte. Jetzt hatte sie das Gefühl, wichtig zu sein. »Sehr gut«, sagte Jim und warf das andere Ende des Seils in die Grube hinab. Zu dritt warteten sie, bis es unten angekommen war, lauschten auf das Zischen in der Luft und einen gelegentlichen dumpfen Schlag, wenn das Seil gegen die Felswände prallte. Jim kratzte sich am stoppeligen Kinn. »Bist du bereit, Doris, meine Liebe?« »Worauf du dich verlassen kannst.« Er bückte sich zu ihr hinab und reichte ihr seine Hand. Doris legte einen Flügel hinein. »Dann mal hoch mit dir.« Er hob sie auf seine Schulter und sie schlang ihm die Schwingen um den Hals. »Schön die Augen offen halten, Brenda«, sagte Jim, bevor er nach dem Seil griff und sich samt Doris der Steilkante näherte. Worauf du dich verlassen kannst, dachte Brenda und schnaubte. Jim hielt an der Kante noch einmal inne und sah, das Seil in der Hand, zum Himmel hoch. Diese Unternehmung widme ich Jocelyn, dachte er, wo auch immer sie gerade sein mag. Dann holte er tief Luft und verschwand langsam unter der Erde.
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Vorsichtig stiegen sie Schritt für Schritt nach unten, während Brenda oben das Seil die ganze Zeit gespannt hielt. Jim ließ sich immer nur ein kleines Stück am Seil nach unten gleiten, wenn er mit der Stiefelspitze an der Felswand festen Halt für seine Füße gefunden hatte. Das Gewicht seiner Ausrüstung zog ihn kräftig nach unten, was den Abstieg noch beschwerlicher machte. Als sie beinahe am Boden angekommen waren, flatterte Doris von seiner Schulter und kauerte sich auf den herabgefallenen Tropenhelm. Jim sprang den letzten Meter hinunter und landete sicher auf den Füßen. »Wir sind unten, Brenda«, rief er hinauf. »So weit, so gut. Zieh das Seil hoch.« Brenda tat, wie ihr geheißen, und wickelte das Seil zu einer ordentlichen Rolle auf. Dann machte sie es sich daneben bequem. Sie würde geduldig warten, wie lange es auch dauern mochte. Unten im Loch legte Jim die Ausrüstung in einer Ecke ab. Das Licht war nun heller, da die Sonne höher gestiegen war, und ein einzelner hellgelber, glitzernder Strahl fiel schräg auf den obersten Teil der antiken Tür. Doris flatterte zu Jim und sah zu, wie er mit einem durch die Lupe riesig vergrößerten Auge die Oberfläche der Tür absuchte. Dann steckte er das
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Vergrößerungsglas wieder in die Tasche und fuhr mit der Hand die perfekt geraden Linien und Winkel entlang, die in die Tür geschnitzt waren. Ein glückliches Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. »So etwas habe ich schon ganz lange nicht mehr gesehen«, sagte er leise. Doris konnte spüren, wie er immer aufgeregter wurde. Sie beugte sich vor und klopfte mit der Schnabelspitze kräftig an die Tür. Ein heiseres Echo drang von der anderen Seite zu ihnen herüber. Das Klopfgeräusch huschte hin und her, entfernte sich weiter und immer weiter, bis es ganz dumpf wurde, sich irgendwo in der Ferne verlor und schließlich gänzlich verstummte. »Ist aus Holz«, verkündete Doris. »Zedernholz, glaube ich.« »Doris!«, raunte Jim. »Was?« »Mach das noch mal.« »Was soll ich noch mal machen?« »Klopfen.« Also klopfte Doris noch einmal. Und wieder kam das Echo, klopf, klopf, klopf, klang immer weiter weg, brach sich Bahn durch Raum und Zeit, bis es schließlich in der unsichtbaren Leere jenseits der Tür abebbte.
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Cairo Jim bekam eine Gänsehaut an Armen und Beinen. »Hast du das gehört?«, fragte er nervös. »Hast du das gehört?« »Rerark. Was genau meinst du?« »Das wundervollste Geräusch der ganzen Archäologie!« »Wie bitte?« Jim hob die Aradame hoch und sah ihr in die Augen. »Ich meine das Echo, meine Liebe.« »Was ist damit?« »Das Echo sagt uns zwei Dinge. Zwei Dinge, die den Unterschied zwischen Alles und Nichts bedeuten.« »Wirklich?« »Darauf kannst du deine Sonnenbrille verwetten. Die Tatsache, dass wir ein Echo hören, heißt erstens, dass auf der anderen Seite etwas ist. Wenn da nichts wäre außer Sand und Gestein, würden wir gar nichts hören.« Immer noch in der Hocke, stampfte er mit einem Fuß auf den Boden. Ein dumpfer, leiser Schlag war zu hören, begleitet von einer aufsteigenden kleinen Staubwolke. »Das würden wir hören, wenn jenseits der Tür nichts wäre. Die Ägypter haben oft falsche Türen gebaut, um Grabräuber auf die falsche Fährte zu locken. Aber in unserem Fall ist das nicht so. Nein,
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diese Tür ist so echt und wirklich wie der Tag, an dem ich auf die Welt gekommen bin!« Doris standen die Kopffedern zu Berge. »Und das Zweite, was das Echo uns sagt?«, hakte sie nach und vor Aufregung brachte sie kaum den Schnabel beim Sprechen auseinander. »Was ist das?« Die Gänsehaut an Jims Armen und Beinen wurde noch schlimmer, bis sie fast schon pyramidenartige Gebilde formte. Er hielt sich Doris noch näher ans Gesicht und senkte die Stimme zu einem kaum hörbaren Raunen. »Tja, meine Liebe, das ist das Beste überhaupt.« Er hielt inne und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wir können ja nur einen kleinen Teil der Tür sehen. Schau«, fuhr er fort und drehte die Aradame herum. »Der Teil, der nicht begraben wurde, ist nur ein Bruchteil vom Ganzen. Gerade groß genug, dass ein erwachsener Mann bäuchlings auf die andere Seite krabbeln kann. Das heißt, nachdem wir sie durchbrochen haben. Der Rest der Tür, der unter dem Sand liegt, könnte vielleicht noch einen Meter lang sein, vielleicht aber auch zwanzig. Wir können es nicht herausfinden, ohne das ganze Geröll hier wegzuräumen. Aber eines wissen wir dank des Echos sehr wohl.« Doris neigte den Kopf in seine Richtung. »Und das wäre?«
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Jim sprach langsam, als würde er jedes Wort abwägen. »Doris, wenn die Tür unter der Erde nicht unbeschädigt wäre, würden die Schallwellen nicht so weit tragen, wie sie es vorhin getan haben. Das Echo wäre flacher, das heißt, wenn es überhaupt eines gäbe. Dieses Geräusch, meine liebe Freundin, beweist uns das Wichtigste überhaupt. Es bedeutet«, und hier wurde seine Stimme lauter, denn diese Entdeckung war schließlich das Beste, was einem Archäologen je widerfahren konnte, »es bedeutet, dass diese Tür noch nie aufgebrochen wurde. Nie geöffnet. Nie zerstört. Was dahinter liegt, hat noch niemand entdeckt!« Doris sprang von seiner Hand herunter und hüpfte im festgetretenen Sand auf und ab. Ihr war, als würden Weihnachten, Ostern und Geburtstag auf ein und denselben Tag fallen. »Rark!«, kreischte sie. »Riirk! Rerk! Bingo!« »Ja, das kannst du laut sagen – Bingo!«, wiederholte Jim. Sie hielt mitten im Hüpfen inne und wandte sich zu ihm. »Worauf warten wir dann noch?« Jim stand auf und holte seinen Tropenhelm. »An die Arbeit, meine Liebe. Die große Entdeckung wird unser sein.« Er packte seine Axt, spuckte sich kurz in die Handflächen, holte aus und schlug dann kräftig
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auf die Tür ein. Hieb für Hieb kämpfte er sich durch das uralte, trockene Holz, das problemlos zersplitterte, sodass Jim schon nach etwa einem Dutzend Schlägen ein Loch geschaffen hatte, durch das er sich würde hindurchzwängen können. »So«, keuchte er. »Das war ja nicht sehr schwer.« Doris stöberte im Rucksack und förderte schließlich die Taschenlampe zu Tage. »Dann wollen wir mal einen Blick dahinter werfen«, sagte sie. Der Archäologen-Dichter legte sich flach auf den Bauch und nahm seine Sonnenbrille ab. Dann schob er den Kopf vor und streckte ihn durch das Loch im Türblatt. Doris folgte seinem Beispiel. Vollkommene Dunkelheit empfing sie auf der anderen Seite. Doris ließ den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe über unzählige Spinnweben gleiten, einen regelrechten Baldachin aus fein gesponnenen, dichten Fäden, der es unmöglich machte, sehr weit zu sehen. »Urgs.« Doris schüttelte sich. »Ich hasse das Zeug.« »Kein Grund zur Panik«, beruhigte Jim sie. »Die Spinnen, die die Netze gewebt haben, sind höchstwahrscheinlich längst weg. Meine Liebe, leuchte mal da unten hin. Ich möchte wissen, wie weit es da in die Tiefe geht.« Die Aradame tat, wie ihr geheißen, und gemein-
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sam schätzten sie, dass es wohl etwa fünf Meter bis zum Boden waren. »Wir brauchen die Strickleiter«, entschied Jim, stand auf und löste den genannten Gegenstand von seinem Gürtel. Dann knüpfte er die Leiter auf und ließ das eine Ende in die Tiefe der Kammer hinabgleiten, bevor er das andere an einem großen Felsen im Eingangsbereich festmachte. Als er sich sicher sein konnte, dass alles perfekt war, kniete er sich hin und hievte sich den Rucksack auf die Schultern. »Komm, Doris«, flüsterte er. »Und sei vorsichtig. Bleib die ganze Zeit dicht bei mir. Wir wissen ja nicht, was uns da drin erwartet.« Damit legte er sich auf den Boden, schob seine Beine durch das Loch in der Tür und suchte auf der Strickleiter Halt für seine Füße. »Jim?« »Ja, meine Liebe?« »Ist das hier … könnte es … könnte es Martenarten sein?« Cairo Jim hielt inne und sah sie unsicher an. »Es gibt hunderte von unentdeckten Grabmälern hier im Tal. Ich weiß es wirklich nicht.« Dann schenkte er ihr ein breites, hoffnungsvolles Lächeln. »Aber es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Auf geht’s!«
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Doris sprang auf seine Schulter und gemeinsam machten sie sich an den Abstieg. Immer wieder klapperten Schirm, Lampe, Axt, Hammer, Schaufeln und Hacke, die von Jims breitem Gürtel herab hingen, gegeneinander. Doris hielt die Taschenlampe weiterhin fest unter den rechten Flügel geklemmt, und jedes Mal, wenn Jim eine Sprosse tiefer kletterte, wippte der Lichtstrahl wild auf und ab, erhellte mal die Spinnweben und im nächsten Augenblick schon wieder die dunklen Wände. Auf halbem Wege nach unten blieb Jim stehen. »Oje.« »Stimmt etwas nicht?«, fragte Doris. »Dieser Schirm ist wirklich lästig.« Jim löste eine Hand von der Strickleiter, die daraufhin bedenklich schwankte, griff nach seinem Gürtel und machte den störenden Gegenstand frei. »Schon besser. Mal sehen, wie weit es noch nach unten ist«, sagte er und ließ den Schirm fallen, der sofort von der Dunkelheit verschluckt wurde. Ein paar lange, stille Sekunden vergingen, bevor der Schirm mit einem lauten Scheppern unten landete. »Aha.« Jim lächelte. »Genau, wie ich gehofft hatte.« Er drehte den Kopf zu Doris. »Der Boden ist gepflastert.«
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Die Aradame krächzte leise. Dann kletterten sie weiter hinunter. Hinunter … hinunter … hinunter … hinunter in die schwarze Dunkelheit, bis sie schließlich am Ende der Strickleiter ankamen und Cairo Jim die Pflastersteine unter den Sohlen seiner Stiefel spürte. Als sie sich herumdrehten, standen sie plötzlich mit der Nase ganz dicht vor einem Vorhang aus Spinnweben. Schwer lastete der feine weiße Staub der vielen vergangenen Jahrhunderte auf dem Muster aus seidig schimmernden Fäden. Jim setzte seinen Rucksack am Boden ab und griff nach der Kerosinlampe. »Kannst du sie bitte mal anzünden, Doris? Ich muss hier ein bisschen Hausputz machen.« »Aber liebend gern«, erwiderte die Aradame und verzog angewidert das Gesicht. Sie hüpfte zum Rucksack, um die Streichhölzer herauszunehmen, während Jim die größeren Werkzeuge unter seinem Gürtel hervorholte und sie gegen die Tür lehnte. Diese Seite des Türblatts war, anders als die Vorderseite, nicht mit Schnitzereien verziert und ein kleiner Schauer rann Jim über den Rücken, als er bemerkte, dass die Tür nicht das geringste Zeichen
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eines eventuellen früheren Besuches aufwies. Er hatte also Recht gehabt. Er packte die große Schaufel und reckte den Stiel gerade nach vorn. Dann begann er die Spinnweben zur Seite wegzuschlagen. Sie waren dick und ziemlich reißfest, aber für einen unverzagten Archäologen wie Cairo Jim kein Problem; er hatte in seiner langen Karriere schon viele solche Netzkunstwerke gesehen und betrachtete sie nicht als Hindernis, sondern als wesentlichen Bestandteil der Altertumsforschung. Bald darauf waren alle Spinnweben aus dem Weg geräumt und ein dickes weißes Flaumbüschel klebte am Stiel der Schaufel, die Jim nun weglegte. Genau in diesem Moment hatte Doris es geschafft, die Lampe zu entfachen. Das bronzefarbene Licht flackerte und schimmerte in der Dunkelheit. Zum ersten Mal konnten Jim und Doris den Gang, in dem sie sich befanden, in seiner Gänze erkennen. Es war der breiteste, größte Erdstollen, den Jim je gesehen hatte. Er griff nach der Lampe und hielt sie hoch. Die Decke musste an diesem Ende des Ganges auf jeden Fall zehn Meter hoch sein. Als Doris den Strahl der Taschenlampe langsam an der Decke entlanggleiten ließ, bemerkten sie, dass diese immer höher wurde. An der Wand am anderen
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Ende schien die Entfernung zwischen Boden und Decke mindestens zwanzig Meter zu betragen. Doris schnappte hörbar nach Luft. Dann beleuchtete sie die gegenüberliegende Mauer selbst, wo sie eine zweite Tür des Todes erblickten, welche fast die gesamte Höhe von zwanzig Metern einnahm. Sie war anscheinend aus Granit, denn viele winzige Erzpünktchen blitzten im Licht der Lampe. Der Boden davor lag viel tiefer als an der Stelle, wo Jim und Doris standen, und der Gang fiel so steil ab, dass ein Ball, den sie hätten fallen lassen, sofort bis zur zweiten Tür gerollt wäre. Beide Seitenwände des unterirdischen Ganges waren mit detaillierten, gemeißelten, in allen Farben des Regenbogens ausgemalten Zeichnungen übersät. Eine Jagdszene auf der linken Wand war so farbenfroh und strahlend, als wäre sie erst gestern gezeichnet worden. Eine Gruppe Männer hatte auf einem Feld mehrere Tiere umzingelt. Die Jäger führten Speere und Messer bei sich, trugen kurze Röcke und waren kahlköpfig. Die nächste Zeichnung zeigte viele farbig ausgemalte Tiere – Löwen, Elefanten, Tiger, Giraffen, bezaubernd schöne Vögel, Schakale, Emnobellische Dschungelesel, Krokodile und sogar Affen. Keines der Tiere blickte besonders begeistert drein.
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Auf der rechten Wand war eine Art Prozession zu erkennen. In langen Schlangen aufgereihte Sklaven schleppten Käfige, die auf langen dünnen Stangen thronten. Und in den Käfigen saßen Löwen, Elefanten, Tiger, eine Giraffe (das war der höchste Käfig), bezaubernd schöne, aber traurige Vögel, Schakale und Krokodile. Mehrere Emnobellische Dschungelesel, auf denen Reiter saßen, gingen am Anfang der Karawane und ein Zwerg führte drei Affen an einer Kette. Auf dieser Zeichnung blickten die Tiere noch viel unglücklicher drein. Eine Gruppe elegant gekleideter Männer, deren Hautfarbe dunkler war als die der Sklaven, folgte der Prozession. Sie alle trugen kleine Kästchen, die mit Juwelen und Elfenbeinschnitzereien geschmückt waren. »Nubier und Abessinier«, erklärte Jim seiner gefiederten Freundin. »Sie kommen mit Geschenken für König oder Königin. Wahrscheinlich aus Anlass einer Krönungsfeier.« »Girr«, girrte Doris. »Lass uns weiterschauen.« Sie machte einen Schritt nach vorn und hätte noch einen weiteren gemacht, wenn Jim sie nicht am Flügel gepackt hätte. »Nein!«, zischte er. »Das darfst du nicht.« Doris schlug mit den Flügeln und versuchte sich loszureißen. »Was? Wieso nicht?«
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»Beruhige dich, Doris. Der Schein trügt.« »Häh?« Er setzte die Lampe ab und nahm der Aradame die Taschenlampe aus der Hand. »Schau mal«, sagte er und zeigte zur Decke. »Siehst du die Unebenheiten da? Diese ganzen riesigen Furchen überall?« »Na und? Waren die Arbeiter eben ein bisschen schlampig. Was ist damit?« »Aber nein, meine Liebe, nicht schlampig. Clever. Das sind Fallen.« »Fallen?« »Ja, versteckte Fallen. Ich war schon oft in solchen unterirdischen Bauten. Drüben im Tal der Noblen gibt es ein Grab mit fast genau den gleichen Fallen. Die wurden vor langer Zeit schon ausgelöst, niemand weiß, wie oder von wem, und nun sind die Furchen in der Decke leer. Als ich noch Archäologie studiert habe, habe ich mich einen Sommer lang speziell mit diesen Fallen beschäftigt.« »Rark.« »Wenn wir nicht aufpassen, geht der Auslösemechanismus los und wir werden verschüttet.« »Verschüttet?« »Lebendig begraben.« Doris schluckte trocken.
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»Aber es gibt einen Weg, das zu verhindern«, fuhr Jim fort. »Und alles hängt von dir ab.« »Von m… mir?« »Von dir.« Er tippte sich mit dem Finger auf die Unterlippe. »Wir müssen zur anderen Tür, das steht fest. Schließlich wollen wir sehen, was dahinter ist. Aber die alten Ägypter haben diesen Gang hier so entworfen, dass schon der kleinste Lufthauch – zum Beispiel durch einen feinen Flügelschlag – die Fallen auslöst.« »Faszinierend«, sagte Doris, die sich im Augenblick nichts sehnlicher wünschte, als in Mrs. Amun-Res Teestube zu sitzen und sich den Schnabel mit Spezial-Süßgoldkeksen voll zu stopfen. »Und was passiert dann?« »Dann senken sich, wenn mich nicht alles täuscht, riesige Steinplatten langsam aus den Furchen herab.« »Schluck.« »Wir können unmöglich mehr als fünf Schritte schaffen, ohne dass die Fallen losgehen«, sagte Jim gedehnt. »Ob es uns passt oder nicht, die Steinplatten werden runterkommen. Es gibt kein Entrinnen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie den Boden erreichen. Aber diese Zeit können wir nutzen, Doris. Dieses eine Mal haben wir die Zeit auf unserer Seite, dieses eine Mal arbeitet sie nicht gegen uns.«
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Er sah seine Begleiterin an. »Du, meine Liebe, kannst die Steinplatten aufhalten, bevor sie den Boden berühren.« »Ich? Wie das?« »Ich zeig’s dir.« Er nahm sein Fernglas und richtete es genau wie den Strahl der Taschenlampe auf die Granittür am anderen Ende des Ganges. »Gut.« »Was ist gut?« »Hier, sieh selbst.« Er reichte ihr das Fernglas und sie schaute aufmerksam hindurch. »Ich sehe nichts.« »Konzentrier dich.« Doris kniff die Augen zusammen. Plötzlich tauchte etwas auf: In der Mitte der Tür war ein Muster aus kleinen Löchern, jedes etwa so groß wie ein menschlicher kleiner Finger. »Löcher«, verkündete Doris. »Ich sehe Löcher.« »Und mit einem davon kannst du uns retten, meine Liebe.« Sie ließ das Fernglas sinken und schaute ihn verständnislos an. »Eines dieser Löcher beherbergt das Geheimnis«, erklärte Cairo Jim. »Wenn wir in das richtige Loch etwas hineinstecken, werden die Fallen außer Betrieb gesetzt und die Steinplatten bleiben sofort stehen. Dann können wir mühelos aus und ein
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gehen, wie wir wollen – vorausgesetzt, da ist noch genug Platz zwischen Steinplatten und Boden.« »Und wieso hängt das alles von mir ab?« »Meine Liebe, es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass wir in der kürzestmöglichen Zeit diese Löcher erreichen. Jede Sekunde zählt. Selbst wenn ich so schnell renne, wie ich kann, brauche ich bestimmt zwei Minuten, um mich diesen steilen dunklen Abhang hinunterzukämpfen. Zwei Minuten, in denen die Steinplatten unweigerlich herabsinken.« »Raark! Zu gefährlich!«, kreischte die Aradame. »Ein Ausrutscher und du brichst dir das Genick!« »Genau. Der Boden ist einfach zu uneben. Die Luft ist dagegen frei von jeglichen Hindernissen.« »Ich verstehe«, krächzte Doris. »Hier komme ich ins Spiel. Ich soll also rüberfliegen, ja?« Jim nickte. »So schnell du kannst. Davon hängt alles ab. Wenn ich das Licht von hier aus auf die Löcher richte, kannst du sie bestimmt ohne große Schwierigkeiten erkennen.« »Und was soll ich in das Loch stopfen?«, erkundigte sie sich. »Gute Frage«, erwiderte Jim und musterte nachdenklich seine Ausrüstung. Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Aber natürlich!« Er griff sich hastig seinen Schirm und reichte ihn Doris. »Das spitze Ende wird genau das Richtige sein.«
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»Ich wusste doch, dass dieses Ding sich irgendwann mal als nützlich erweisen würde«, krächzte der Vogel. »Ramm ihn in jedes Loch, ganz tief und fest, bis du das richtige Loch erwischt hast.« »Alles klar.« »Wenn es richtig knapp wird, wenn die Steinplatten dem Boden zu nahe kommen, dann rufe ich dich wieder zurück. Wir wollen doch nicht, dass du eingeschlossen wirst.« »Jim?« »Ja, meine Liebe?« »Nur noch eine Frage: Welches ist das richtige Loch?« Nach einem Zögern antwortete Jim: »Ich weiß es nicht, meine teure Freundin. Das ist bei jedem Grabmal anders. Du musst sie der Reihe nach durchprobieren.« »Warum gibt’s so viele davon?« Er legte Doris die Hand auf die Schulter. »Das wollte ich dir eigentlich nicht sagen, Doris«, sagte er ruhig, »aber eines der Löcher birgt den Tod. Es ist mit einem Mechanismus hinter der Tür verbunden. In dem Grab, das ich während meines Studiums erforscht habe, war es genauso. Wenn man aus Versehen das falsche Loch erwischt, krachen die Steinplatten herunter und der ganze Gang bricht zusammen.«
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»Uups«, stieß Doris nervös hervor. »Leider gibt es keine Möglichkeit, vorherzusagen, welches das todbringende Loch ist.« »Oh-oh«, murmelte die Aradame. Jim zauste ihr die Federn. »Wenn ich Flügel hätte, würde ich es selbst tun«, sagte er. »Es gefällt mir gar nicht, dass ich uns beide in solche Gefahr bringen muss. Bist du sicher, dass du das auf dich nehmen willst?« Doris streckte die gefiederte Brust heraus und schwang sich den Schirm auf die Schulter. »Die Götter mögen sich unser erbarmen«, erwiderte sie mit einem stoischen Grinsen. »Sagt Lebewohl und lächelt.« Jim grinste zurück. »Shakespeare?« »Worauf du deine Sockenhalter verwetten kannst. Wir sehen uns dann an der anderen Tür.« Doris holte einmal tief Luft und überkreuzte die Krallen, bevor sie, den Schirm im Schnabel, hochflatterte und blitzschnell durch den finsteren Gang schoss. Auf halbem Wege bremste sie ab, hielt sich flügelschlagend in der Luft und sah zu den Furchen an der Decke hoch. »Jim«, rief sie. Wegen des Schirms war sie nur schwer zu verstehen. »Was ist, Doris?«, rief Jim zurück. »Warum bist du stehen geblieben?«
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Doris ließ ein unterdrücktes Kichern hören. »Ich glaube, du hast dich geirrt. Sieht nicht so aus, als würde etwas runter–« Weiter kam sie nicht. Denn genau in diesem Augenblick fing die Decke heftig an zu beben und ein entsetzliches kratzendes Geräusch erklang irgendwo über ihrem Kopf. Vier gigantische Platten aus dickem Granit erschienen in den breiten Furchen und begannen sich zu senken. Langsam kamen sie auf Doris zu, schwebten mit einem lang gezogenen Knirschen herab. Vor Schreck hätte Doris beinahe den Schirm verschluckt. »Tut mir Leid«, krächzte sie. »Flieg!«, schrie Jim aus Leibeskräften. »Los, meine Liebe, flieg!« Doris stürzte davon, während der Lärm mit jedem Zentimeter, den die Steinplatten sich weitersenkten, immer lauter wurde. Jim griff nach der Taschenlampe und richtete den Strahl auf die Löcher in der riesigen Tür gegenüber. Doris flog nun schneller als je zuvor in ihrem Leben. »Ich bin da«, rief sie nach einer Weile, die Jim wie ein Jahrhundert vorkam. »Kannst du die Löcher gut sehen?« Sie nahm mit einem Flügel den Schirm aus
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dem Schnabel und schlug mit dem anderen Flügel, um sich in der Luft zu halten. »Ja. Sechs Stück sind es.« »Sechs?« Die Steinplatten ragten nun einen Meter aus den Furchen heraus und sanken weiter. »Such dir eins aus«, schrie Jim. Doris überlegte. »Ene, mene … miste!« Mit aller Kraft rammte sie die Spitze des Regenschirms in das dritte Loch von links. Ganz waagrecht ragte der Schirm aus der Tür heraus. Nichts geschah. Die Steinplatten kamen weiter herunter. »Das nächste«, rief Jim, der Doris durch das Fernglas beobachtete. Die Aradame packte den Schirm und zog ihn heraus. »Fein, wollen mal sehen … Wie wär’s mit dem hier?« Diesmal steckte sie den Schirm in das Loch ganz links außen. Wieder geschah nichts. Der Krach wurde immer lauter und kleine Bruchstücke rieselten von der Decke herunter. »Probier das Loch ganz rechts!«, erhob Jim die Stimme über das Getöse. Also wieder raus mit dem Schirm. Doris verspürte langsam ein nervöses Kribbeln im Bauch – die Steinplatten hatten sich nun schon fast drei Meter
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aus der Decke herabgesenkt. Hastig stieß sie den Schirm in das Loch, das Jim vorgeschlagen hatte. Ohne Wirkung. Scheinbar unaufhaltsam glitten die Steinplatten weiter in Richtung Boden. Doris wuchtete den Schirm heraus und beschloss, es gleich im Loch daneben zu versuchen. Sie klemmte sich das sperrige Ding in den Schnabel und flatterte ein kleines Stück von der Tür weg, gerade so weit, wie die näheste Steinplatte es zuließ. Dann stürzte sie sich mit Anlauf auf das Loch. Die Schirmspitze bohrte sich so tief hinein, dass sie voll und ganz im Loch verschwand. Der Schlag war so heftig, dass die Aradame nach hinten taumelte. Immer noch nichts. Die Steinplatten kamen weiter herab. Sie waren nun schon auf halber Höhe des Ganges und Jim musste sich auf alle viere knien, um mit der Taschenlampe darunter hindurchzuleuchten. »Doris! Die Platten beschleunigen! Beeil dich!« Doris schüttelte den Kopf und griff nach dem Schirm, aber als sie ihn herauszuziehen versuchte, gab er nicht nach. In ihrem Überschwang hatte sie ihn zu fest hineingerammt. »Jim!«, kreischte sie. »Er steckt fest!« »Was?« »Der Schirm. Ich krieg ihn nicht raus. Er rührt sich nicht von der Stelle!«
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Cairo Jim erbleichte. Nur noch eine Minute, dann würde der Gang verschlossen sein und alles, was sich jenseits der Granittür befand, wäre für immer verloren. Jim hatte nicht genug Zeit, um unter den Steinplatten hindurchzukriechen und selbst den Schirm herauszuziehen. In diesem entsetzlichen Augenblick traf er eine Entscheidung. »Doris! Du musst zurückkommen. Lass den Schirm da. Flieg wieder her, dann bist du in Sicherheit!« Keine Antwort. Jim versuchte zu Doris hinüberzuschielen, aber die Steinplatten versperrten ihm die Sicht. »Doris!«, schrie er wieder, während die Platten sich immer weiter herabsenkten. »Hörst du mich? Komm zurück!« »Raaaaark! Auf keinen Fall. Dafür sind wir schon zu weit gekommen!« Sie sammelte die letzten Kräfte und packte den Regenschirm. Mit einem heftigen Stöhnen lehnte sie sich zurück und fing an zu ziehen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Mit einem kratzenden Geräusch kam der Schirm so abrupt frei, dass Doris nach hinten purzelte. »Ich hab ihn!«, krächzte sie.
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»Doris! Komm zurück!« Aber sie hörte Jim nicht; der Lärm der Steinplatten war mittlerweile ohrenbetäubend geworden. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Je weiter die Platten herabsanken, desto mehr blockierten sie das Licht aus Jims Taschenlampe. Mit jeder Sekunde wurde die Granittür in tiefere Dunkelheit getaucht … Doris musste eine schwere Entscheidung treffen. Es gab nur zwei Löcher, die sie noch nicht versucht hatte. Das eine würde die Steinplatten stoppen, das andere … Als dieser Gedanke ihr durch den Kopf schoss, fing sie schlagartig an zu schwitzen. Unaufhaltsam rollten ihr die Schweißperlen von der gefiederten Stirn und tropften ihr vom Schnabel herab. Wie schwarze, runde Augen aus dem Jenseits starrten ihr die zwei übrig gebliebenen Löcher entgegen. Doris’ Flügel wurden schweißfeucht, und bevor sie sich’s versah, rutschte ihr der Schirm herunter und fiel zu Boden. »O nein!«, kreischte sie. Sie wirbelte herum. Das Licht der Taschenlampe sickerte schwach unter den Steinplatten hindurch, die nur noch anderthalb Meter vom Boden entfernt waren. Voller Verzweiflung stürzte Doris zu Boden und
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begann die dunklen Steinfliesen abzutasten. Sie trat mit den Klauen in alle Richtungen, wischte mit den Flügeln über das Pflaster, stieß mit dem Schnabel nach links und rechts. Und dann, endlich, spürte sie etwas Hartes, das sich von dem staubigen, sandigen Untergrund abhob, etwas Langes und an einem Ende Gebogenes. Ein Regenschirm kann manchmal das höchste Glück auf Erden bedeuten. Doris packte den Schirm mit dem Schnabel und schoss in die Dunkelheit hoch, dahin, wo sie die Löcher vermutete. Hastig tastete sie mit dem Flügel über die Tür, bis sie die Öffnungen gefunden hatte, und zählte sie der Reihe nach ab, bis sie sicher sein konnte, dass sie das zweite von links und das dritte von rechts entdeckt hatte, die letzten zwei verbliebenen. Ohne darüber nachzudenken, wie durchweicht ihr Gefieder war oder was passieren würde, wenn sie das falsche Loch erwischte, rammte sie den Schirm hinein, kräftig und rasch. In das dritte Loch von rechts. Die Decke erzitterte wie bei einem Erdbeben und es schien, als wäre die Zeit stehen geblieben. Knirschend kamen die Steinplatten zu einem Halt, kaum mehr einen Meter über dem Boden. Alles war still.
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»Na so was!«, kicherte Doris, die es kaum fassen konnte. »Doris! Meine Liebe, du hast es geschafft!« Jims Stimme überschlug sich vor Freude. »Wir haben es geschafft«, verbesserte sie ihn, flatterte zu Boden und schüttelte ihr Gefieder aus. »Warte dort, ich komme zu dir.« Cairo Jim raffte seine ganze Ausrüstung zusammen und kroch dann langsam über den abschüssigen Boden, ganz vorsichtig, um nicht mit dem Tropenhelm gegen die Steinplatten zu krachen. Die Taschenlampe, die ihm den Weg erhellte, hatte er sich zwischen die Zähne geklemmt. Ein paar Minuten später war er bei seiner Freundin. Er legte die Taschenlampe ab, nahm Doris in seine Arme und drückte sie ganz fest. Dann zauste er ihr das Gefieder und sagte: »Als alles dunkel war und schlimm, hast du die Fallen abgestellt. Du bist und bleibst für Cairo Jim der beste Ara dieser Welt!« »Raaark«, krächzte Doris. »Wir haben jetzt keine Zeit für Gedichte. Wir müssen weiterkommen.«
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»Da hast du Recht.« Jim lachte. »Lass uns an die Arbeit gehen.« Im Licht der Kerosin- und der Taschenlampe begutachteten sie die Tür, die so massiv schien wie der Granit, aus dem sie gebaut war. »So, wie ich die alten Ägypter kenne, ist sie bestimmt einen halben Meter dick«, sagte Jim. »Die schnellste Methode, sie zu überwinden, wäre Dynamit, aber das ist viel zu riskant. Am Ende bricht sonst noch das ganze Grabmal über uns zusammen. Nein, wir müssen mit Hammer und Hacke arbeiten, da führt kein Weg dran vorbei.« Doris flog mit der Lampe hoch und hockte sich vorsichtig auf den Griff des aus dem Loch herausragenden Regenschirms, während Jim sich eifrig am unteren Teil der Tür zu schaffen machte. Zunächst ließ er einen Hagelschauer heftiger Hammerschläge auf die Tür herabprasseln, und zwar immer auf die gleiche Stelle. Ein ums andere Mal donnerte der Hall der schweren Hiebe durch die unheimliche Dunkelheit des hohen Ganges. Beinahe zwanzig Minuten lang dauerte es, bis der Stein endlich zu knacken begann und die ersten feinen Haarrisse im flackernden Schein der Lampe auftauchten. Jim schlug weiter auf die Tür ein, jedes Mal mit noch größerer Gewalt. Und während der ganzen Zeit behielt er Doris und den Schirm im Auge.
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Bald wurden die Risse breiter und verzweigten sich, bis schließlich kleine staubige Felsstücke herausbrachen. Nun war es Zeit für die Spitzhacke. Jim nahm sie und begann den geschwächten Granit mit raschen Hieben zu bearbeiten. Tick, tick, tick, machte die Pickelspitze, wenn sie auf die harte Oberfläche traf. Manchmal löste ein besonders gut platzierter Schlag große Brocken aus der Tür, aber manchmal flogen auch nur kleine, im Licht glitzernde Feldspat- oder Quarz-Splitter weg. Doch Cairo Jim machte unablässig weiter. Schweißtropfen sammelten sich oberhalb seiner Augenbrauen und rannen ihm den Rücken hinunter und seine Lungen füllten sich mit der muffigen Luft des unterirdischen Ganges. Nach einer Stunde schließlich hatte er ein Loch geschaffen, welches groß genug war, dass Jim und Doris hindurchkriechen konnten. Jim ließ die Hacke zu Boden fallen und wischte sich den klebrigen Staub von der Stirn. »So«, keuchte er und holte seine Wasserflasche aus dem Rucksack. »Du kannst jetzt runterkommen, meine Liebe.« Vorsichtig flatterte Doris vom Regenschirm herunter und stellte die Lampe am Boden ab. Jim machte die Flasche auf und nahm einen
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großen Schluck von dem kühlen Wasser. Sofort rann die Flüssigkeit seine Kehle hinunter und stillte den quälenden Durst, der ihn nach der anstrengenden Arbeit plagte. Dann schraubte er den Verschluss wieder zu und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Na, Doris, sollen wir reingehen?« »Ich dachte schon, du fragst nie mehr.« »Nicht vergessen, du musst dicht bei mir bleiben!« Sie leuchteten durch das Loch und quetschten sich dann mitsamt den ganzen Werkzeugen hindurch. Auf der anderen Seite angekommen, schnappten Cairo Jim und Doris gleichzeitig nach Luft. Denn jenseits der Tür des Todes bot sich ihren Augen ein überwältigendes Bild: ein riesiger unterirdischer Tempel, so lang und breit wie vier Fußballfelder. Die beiden hatten schon viele Tempel gesehen, sowohl über als auch unter der Erde, aber keinen, der diesem hier auch nur annähernd geglichen hätte. Der dunkle Raum vor ihnen war ein Labyrinth aus polierten Kalksteinsäulen, jede von so ungeheurem Umfang, dass selbst drei ausgewachsene Männer sie beim besten Willen nicht hätten umfassen können. Alle Säulen waren mit virtuos geschnitzten Zeichnungen und Hieroglyphen ver-
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ziert. Atemlos ließ Jim den Strahl seiner Taschenlampe langsam über die Säulen nach oben gleiten und bemerkte staunend, dass sie bis ganz zur Decke aufragten, wo sie von Wolken alter Spinnweben umhüllt waren. Doris war ein Stück weggetapst, um in einem kleinen Haufen Kieselsteine zu stochern, in der Hoffnung, es würden sich Rubine darunter verbergen. Jim schloss die Augen und machte in Gedanken eine Zeitreise – wie es vor dreitausend Jahren wohl in diesem Tempel ausgesehen hatte? Er sah kleine Wandschalen, aus denen flackernde Flämmchen hochschlugen und die Steinmauern beleuchteten. Dann kam eine Prozession von Hohepriestern heran, die bei jedem Schritt tief hängende Gefäße mit glühendem Weihrauch vor ihren heiligen Roben schwenkten. Dahinter schritten vestalische Jungfrauen durch den Rauch, die samtweichen Stimmen zum Gesang erhoben. Andere – tiefere, sonorere – Stimmen fielen mit ein und verwandelten den Gesang in Klagelieder, während die Mitglieder des Königshofes den geheiligten Ort betraten. Ganz am Schluss erschien der Pharao. Er saß erhöht auf einem güldenen, auf goldbeschlagenen Pfählen ruhenden Thron, der von einem Dutzend Sklaven getragen wurde. An diesem Punkt endete Cairo Jims Reise in die
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Vergangenheit und er öffnete die Augen. Irgendwie konnte er den Pharao nicht richtig erkennen, sosehr er sich auch bemühte, und statt der Prozession war nur noch ein unscharfer schwarzer Nebel zu sehen. Das Einzige, was er jetzt hörte, war Doris’ Schnabel, der schwach über den Kalksteinboden schrappte und die Kieselsteine auseinander schob. Jim ließ den Strahl seiner Taschenlampe wieder über die Kapitelle der Säulen gleiten, über die Spinnweben, die sie an die Decke zu kleben schienen. Und plötzlich erblickte er eine Zeichnung. Ganz schwach schimmerte sie zwischen den Spinnennetzen hindurch. Sie war mit silberner Farbe auf den Stein gemalt. Ein Zeichen stand ganz dicht neben dem anderen. Jim ließ den Lichtstrahl rasch über die gesamte Decke des Tempels huschen. Jeder Quadratzentimeter war mit den gleichen Zeichen verziert, zu hunderten und tausenden prangten sie über seinem Kopf. »Iah Ba Da Ba Du«, raunte Jim leise. Doris hob den Kopf. »Was?« »Iah Ba Da Ba Du.« Der Anblick raubte ihm schier den Atem. Doris sah zu dem hin- und herwandernden Lichtstrahl hoch. Als sie das Schilfblatt, den ausgestreckten Unterarm, den geflochtenen Flachsstrang
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und die Mondsichel erblickte, die sich ein ums andere Mal aneinander reihten, alle mit der silbernen Mondfarbe gemalt, welche die Hohepriester in den Ruin getrieben hatte, wäre sie fast rückwärts umgefallen. »Iah Ba Da Ba Du«, krächzte sie. Der Archäologen-Dichter und die Aradame sahen einander an. »Martenarten«, flüsterten sie einstimmig. Direkt über ihnen, höchstens vielleicht ein Stückchen weiter links, begann Brenda das Wunderkamel sich zur gleichen Zeit schläfrig zu strecken. Sie blinzelte zur Sonne hinauf, die sich mittlerweile an den höchsten mittäglichen Punkt geschoben hatte. Hmm, dachte sie. Jetzt sind die beiden aber schon ziemlich lange da unten. Was sie da wohl machen? Überall herumstöbern, nehme ich an. Träge schlug sie mit dem Schwanz nach einer Fliege. Ich hoffe nur, dass es ihnen gut geht. Auf einmal drang ein Geräusch an ihr Ohr, nur ganz schwach zwar, aber immerhin vernehmbar. Es kam von irgendwo hinter Brenda. Was das wohl sein mag?, überlegte sie. Sie drehte den Kopf, aber als sie nichts sah, schnaubte sie nur und widmete sich wieder ihren Tagträumen. Ach, wenn ich jetzt bloß einen guten Western zum Lesen hätte!, seufzte sie innerlich.
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Im Tempel von Martenarten führten Cairo Jim und Doris einen Freudentanz auf. Immer wieder wirbelten sie in kleinen Kreisen herum, hüpften zwischen den Säulen hindurch, wobei Jim in die Hände klatschte und Doris im Takt mit den Hüften wackelte. »Martenarten, Martenarten, Martenarten«, sang Jim aus voller Kehle. »Rark, rark, rark«, begleitete ihn Doris. Und dann fügten sie ihre Stimmen zu einem ohrenbetäubenden »Iah Ba Da Ba Du! Iah Ba Da Ba Du!« zusammen. Nach einer Viertelstunde entschieden sie, dass es wohl besser wäre, mit dem Tanzen aufzuhören und mit der Suche weiterzumachen. Schließlich konnten sie nach der großen Entdeckung immer noch so viel tanzen, wie sie wollten. Irgendwo in dieser dunklen, verlockenden Halle befand sich die letzte Ruhestätte ihres Pharaos und es lag an ihnen, sie zu finden. Sie packten ihre Ausrüstung zusammen und machten sich schwer beladen auf den Weg durch den Säulenwald. Jim ließ alle paar Schritte kleine Papierkügelchen als Wegmarkierung fallen, sodass sie später durch das Labyrinth zurückfinden würden. Die Säulen hörten einfach nicht auf. Jedes Mal,
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wenn Jim und Doris meinten, die letzte Reihe erreicht zu haben, verdrängte das Licht ihrer Lampen die Düsternis und sie standen wieder vor einem Wald aufragender Steinpfeiler. Ab und zu entzifferte Doris einige der Hieroglyphen, welche die Säulen zierten, aber daraus wurden sie auch nicht schlauer. Meistens ging es in den Zeichnungen um Schlachten, die Martenarten in Ober- und Unterägypten geschlagen und gewonnen hatte, um die heilenden Kräfte von Iah oder um das Leben der Pharaonenfamilie. Nirgendwo ein Hinweis auf Martenartens Grabkammer. Doch schließlich endeten die Säulen und die beiden Abenteurer standen auf einmal vor einer hohen Mauer. Am Fuße der Mauer sammelte sich dunkles Wasser in einer runden Senke, die in den Alabasterboden eingelassen war. »Doris, schau mal! Eine heilige Quelle. Ist bestimmt Nilwasser.« »Aber der Nil ist doch kilometerweit weg.« »Wo eine Quelle ist, da ist auch ein Weg …« »Wohin?« »Zum heiligsten Heiligtum.« Jim nahm Doris die Lampe ab und hielt sie hoch, um die Mauer zu erhellen. Einige Meter zu ihrer Rechten erblickten sie eine
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Nische. Gemeinsam schlichen Jim und Doris darauf zu, ganz leichtfüßig, als würden sie auf Luftpolstern wandeln. Jim leuchtete in den kleinen quadratischen Raum hinein, der sich ein Stück unterhalb von ihnen auftat. »Raaaark!«, kreischte Doris plötzlich. Das Gesicht eines kleinen Tieres blitzte im Licht der Lampe auf. Kopf und Schultern des Tieres waren mit dem steifen Kopfschmuck eines Pharaos bedeckt. »Schon gut, meine Liebe«, sagte Jim. »Das ist nur der Wächter des Gebetsraumes.« Langsam stiegen sie die drei Stufen hinab, die in den Raum führten. Ein großes Boot ruhte noch genauso auf einem hohen Anthrazitblock, wie es vor tausenden von Jahren dort aufgestellt worden war. Es war etwa einen Meter lang und wurde seitlich von Stangen gestützt, die etwa doppelt so lang waren. In der Höhe maß das kunstvoll aus Zedernholz geschnitzte staubige Schiff ebenfalls einen Meter. »Dieses Vieh hat mir vielleicht eine Angst eingejagt«, sagte Doris, die sich nur langsam wieder von dem Schrecken erholte. Jim lachte. »Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Jetzt nicht mehr.« Er legte das Werkzeug in einer Ecke ab, während
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die Aradame nach der Lampe griff und die mit Hieroglyphen bedeckten Wände in Augenschein nahm. Nach ein paar Minuten rief sie nach Jim. »Was ist, meine Liebe?«, erwiderte er. »Kann ich bitte mal einen Pinsel haben?« Jim wühlte in seinem Rucksack, bis er einen Pinsel gefunden hatte, und reichte ihn Doris. »Das hier könnte interessant sein«, sagte die blau-gelbe Papageiendame und fegte den Staub von einer Reihe eingeritzter Zeichen. »Was steht da?«, fragte Jim. Für ihn war das alles nur eine Ansammlung von Beinen, Flügeln, menschlichen Gestalten, Monden, Augen und einigen anderen uralten Symbolen. »Mal sehen.« Doris räusperte sich, denn ihre Kehle war vom Staub ganz rau geworden. Dann begann sie langsam zu entziffern: »Sie, die fliegen können, sie, die schreiben können, sie, die vier Beine haben, sie, die jene Bildnisse besitzen, sie, die tapfer und zu Opfern bereit sind, sie werden erobern die Dunkelheit dieser Grabstätte und entdecken die Seite des Lichts.«
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»Natürlich!«, rief Jim aus. »Natürlich! Dass ich daran nicht schon früher gedacht hab! Das Rätsel von Iah!« »Das Rätsel von Iah?« »Das berühmte Rätsel von Iah. Jeder Archäologe und jede Archäologin, der beziehungsweise die etwas auf sich hält, weiß davon. Es ist in den Stein von Rosetta eingraviert!« »Ach ja?« »Ein Archäologe namens Champollion war der erste Mensch, der die Hieroglyphen der alten Ägypter entzifferte, und die Inschriften auf dem Stein von Rosetta waren ihm dabei eine entscheidende Hilfe. Als der Stein gefunden wurde, wusste niemand, warum neben den anderen Texten auch das Rätsel von Iah darauf stand. Keiner hatte eine Ahnung, woher das Rätsel stammte, weil nämlich keiner wusste, wo das Grabmal von Martenarten war. Wie das Rätsel auf den Stein kam, war und ist ein richtiges Mysterium.« Jim fuhr mit den Fingern die eingeritzten Hieroglyphen nach. »Vielleicht hat der Hohepriester, der diese Stätte als Letzter lebend verlassen hat, die Botschaft zu den anderen Inschriften in den Stein graviert.« Er sah seine Freundin an. »Und wir haben jetzt das Original!«, raunte die Aradame.
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»Doris!« Sie zuckte zusammen. »Raark!« »Lies noch mal vor.« »Noch mal?« »Ja, bitte ganz langsam!« Doris ließ das Licht der Lampe an der Mauer entlangwandern und begann zu lesen: »Sie, die fliegen können …« »Das bist du«, warf Jim ein. »Du kannst fliegen.« »… sie, die schreiben können …« »Das bin ich. Ich schreibe Gedichte.« »… sie, die vier Beine haben …« »Vier Beine?«, wiederholte Jim verwundert. »Vier Beine? Warum …?« »Ich hab zwei«, meinte Doris. »Und ich auch«, fügte Jim hinzu. »Wenn wir sie zusammenzählen, haben wir …« »… vier! Wir – ›sie‹ – haben vier!« Doris fuhr fort: »Sie, die jene Bildnisse besitzen, sie, die tapfer und zu Opfern bereit sind, sie werden erobern die Dunkelheit dieser Grabstätte und entdecken die Seite des Lichts.« Jim klatschte begeistert in die Hände. »Das ist es, Doris, das ist es! Wir sind hier, wir besitzen die Fotos, wir sind tapfer und haben schon so manches Opfer gebracht, wir haben die Fallen und die Spinnweben überwunden, wir sind ›sie‹! Das Licht wird unser sein!«
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Er brach ab. »Es gibt nur ein Problem«, sagte er schließlich gedehnt. »Und zwar?« »Wie kommen wir zum Licht?« »Frag mich was Leichteres«, entgegnete die Aradame. »Es muss hier etwas geben … eine Art Richtungsweiser.« Er tastete die Wände ab, in der Hoffnung, einen Hebel oder Griff zu finden, irgendetwas, das ihnen den Weg zeigen konnte. »Doris«, rief er auf einmal aus, »hier ist noch etwas. Gleich unterhalb des Rätsels.« Sie packte den Pinsel und bürstete den Staub von der Stelle weg. »Was steht da?«, fragte Jim eifrig. Doris las die Inschrift für sich, dann schnalzte sie unzufrieden mit der Zunge. »Komm schon, Doris, was steht da?«, wiederholte Jim. »Wer hätt’s gedacht? Ein Gedicht.« »Lies vor, es könnte uns Hinweise liefern.« Doris zuckte mit den Schultern. »Also gut, warum nicht.« Erst las sie es noch einmal leise, dann rezitierte sie mit Sing-Sang-Stimme: »Nur eines Vogels Schnabel das Licht kann offenbaren,
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kann Finsternis verbannen und Helligkeit erfahren.« Als sie geendet hatte, warf sie schnaubend die Flügel hoch. »Was hab ich dir gesagt? Hier gibt’s nur Rätsel und Verse und Spinnweben und hinterhältige Fallen. Etwas anderes finden wir wahrscheinlich gar nicht. Immer nur dasselbe Zeug. Ich wette, hier gibt’s überhaupt keinen Schatz. Riirark!« In ihrer Verzweiflung hackte sie mit der Schnabelspitze auf den Punkt am Ende der Inschrift ein. Und da geschah das Unglaubliche: Der Raum erzitterte und das große hölzerne Boot begann mit einem markerschütternden Knirschen in den Boden hinabzugleiten. Jim und Doris warfen einander einen viel sagenden Blick zu, während das Schiff in der Versenkung verschwand. Ohne ein Wort packten sie ihr Werkzeug zusammen und stiegen, beide Lampen hell erleuchtet, in die lauernde Dunkelheit der neu entdeckten Grube hinunter. Sechzehn in den Kalkstein gehauene Stufen führten in einem Bogen steil hinab. Die Stufen waren schmal und rutschig und die beiden Forscher mussten höllisch aufpassen, um nicht den Halt zu verlieren. Vorsichtig, aber entschlossen stapften sie
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immer weiter und waren nach kurzer Zeit beinahe unten angelangt. Doris ließ das Licht ihrer Lampe über einige weiße Gegenstände gleiten, die verstreut auf den letzten Treppenstufen lagen. »Raaaaaaaaaaaaaaaaaarrrrrrrrrrrrrrrrrrkkkk!«, kreischte sie plötzlich und der Schrei hallte über die Treppe nach oben. »Keine Angst, Doris«, flüsterte Jim und musterte die beiden auseinander gebrochenen Skelette, die wohl schon seit Urzeiten auf den Stufen lagen. »Die tun dir nichts.« »Lass uns schnell dran vorbeigehen«, krächzte seine Begleiterin. »Das waren wahrscheinlich die letzten Sklaven, die diesen Geheimgang kannten«, mutmaßte Jim, während sie vorsichtig über die Knochenhaufen hinwegstiegen. »Die Wachen haben sie vermutlich getötet, damit sie nichts verraten konnten.« So einen Job macht man bestimmt nicht mit besonderer Begeisterung, dachte die Aradame, als sie über einen zerbröselnden Brustkorb hüpfte. Also da wäre ich ja lieber noch ein Pudel als ein Sklave, vor allem, wenn man als Sklave – oh! Plötzlich blendete die beiden Forscher ein strahlendes Glitzern und Funkeln, heller als der Sonnenschein.
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Eine hohe, schmale Kammer mit goldbemalten Wänden, einer mit silbernen Mondsymbolen übersäten Decke und tausenden kostbaren antiken Schätzen tat sich vor ihren Augen auf. In der Mitte der Kammer war ein kleiner Kanal in den Boden eingelassen, angefüllt mit glänzendem, stillem Wasser. Kostbare Smaragde und Diamanten waren in den Boden des Kanals eingebettet und reflektierten, zusammen mit den Goldverzierungen an den Wänden, das Licht aus Jims und Doris’ Lampen so stark, dass der Raum heller war als jeder Ort, den sie jemals gesehen hatten. Hastig holten die beiden Abenteurer ihre Sonnenbrillen heraus und schoben sie vor ihre geblendeten Augen. Nun war das Licht nicht mehr so gleißend hell und sie konnten jedes Detail deutlich erkennen. Ihre Verblüffung wuchs noch, als sie die unschätzbare Ansammlung kostbarer Kunstgegenstände musterten. Gleich neben ihnen ragten zwei gigantische Statuen des Pharaos Martenarten majestätisch auf; auf ihren ausgestreckten Händen ruhten goldene Halbmonde. »Sieh dir mal diese edle Nase an«, sagte Jim atemlos. »Diese kraftvollen Kieferknochen, diese durchdringenden Augen. Die bestechenden Wangengrübchen. Das ist wahrlich das Gesicht eines Königs!«
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Doris pfiff zustimmend und watschelte zwischen den Füßen einer der Martenarten-Statuen hindurch, um zur linken Wand der Kammer zu gelangen, den Schnabel ehrfürchtig aufgerissen. Währenddessen sprang Jim über den Kanal und eilte zur rechten Wand, um sich den erstaunlichen Schatz anzusehen. Immer wieder riefen sie sich über das glänzende Wasser hinweg zu, wenn sie etwas besonders Aufregendes entdeckt hatten. Da standen Betten aus reinem Gold und Silber, eines ordentlich neben dem anderen aufgereiht, ihre Auflagen aus feinstem gesponnenen Gold gewebt. Sie sollten dem König als Ruhestätten dienen, bevor sein Geist das Grabmal verließ, um in das Leben nach dem Tode überzugehen. Ganz in der Nähe befand sich eine hohe, breite Ablage, auf der hunderte hölzerner Statuen in den verschiedensten Größen standen, allesamt kunstvoll geschnitzt und vergoldet, und jede einzelne stellte Martenarten dar. Runde Teller aus Silber und Gold ruhten auf den Deckeln großer Elfenbeinkästchen, die mit eingelegten bunten Glastäfelchen versehen waren. Doris spähte durch die gläsernen Einlegestückchen in eine der Schatullen und musste angesichts des darin funkelnden Berges von Armreifen, Ringen und Anhängern blinzeln.
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Jim klappte den Deckel einer aus Ebenholz geschnitzten Truhe auf und sah, dass sie bis zum Rand angefüllt war mit Halsketten aus Diamanten und Rubinen. Daneben türmten sich unordentlich, als hätte jemand sie in Eile fallen lassen, sechs Diademe aus kanariengelbem Gold und roten Karneolen. Sie lehnten an einem auf einer Holztafel gemalten Bild, das den König zeigte, wie er von seinem Streitwagen aus Straußenvögel, Gazellen, Hirsche und Löwen jagte. Zur gleichen Zeit hatte Doris zwei Throne aus geschnitztem, vergoldetem Holz entdeckt, die mit Halbedelsteinen, Glassplittern und Silberbeschlägen geschmückt waren. Die Armlehnen hatten die Form gekrönter Schlangen, die lange, dicht gefiederte Schwingen aufwiesen. Auf der Rückenlehne der Throne prangte ein großes Relief von Iah, von dem silberne Mondstrahlen nach allen Richtungen ausgingen. Schatullen aus Alabaster mit Griffen aus Obsidian; bronzene Krummsäbel; Kopfstützen aus türkisblauem Glas und geschnitztem Elfenbein; Alabastervasen, die in einem atemberaubenden, frostigen Weiß schimmerten; Weinbecher aus Keramik und zierliche Parfümflakons; kleine Bootsmodelle aus bemaltem Holz; ein gebogenes Bronze-Zepter, mit Blattgold und Glasstückchen verziert; Amulette aus Lapislazuli; Bumerangs und Wurfhölzer – über all
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diese Gegenstände stolperten Jim und Doris, glücklich wie kleine Kinder an Weihnachten. Jede Entdeckung kam ihnen noch unglaublicher vor als die vorhergehende und vor Aufregung bekamen sie wieder einmal eine Gänsehaut. Schließlich blieb Jim vor einem goldenen, an die drei Meter großen Geier stehen. »Doris, schau mal«, rief er zu ihr hinüber, »das könnte deine Mutter gewesen sein.« »Ha ha«, krächzte die Aradame, flatterte über den Kanal und landete auf dem Schnabel der Vogelstatue. Im Licht der Lampe glühten die Augen des Geiers unheimlich. »Und sieh dir mal das an«, staunte Jim und deutete auf den riesigen Streitwagen, der neben der Statue stand. Langsam fuhr er mit den Fingerspitzen über die mächtigen Speichen bis zur Radnabe. »Wie oft der König wohl damit gefahren ist?« Neben dem Streitwagen kamen drei große Liegen in Sicht, die der Länge nach aufgereiht waren und auf kunstvoll geschnitzten Tieren mit schlankem Körper und Löwenpranken ruhten. Die Köpfe der Tiere waren höchst ungewöhnlich, eine Kreuzung aus Nilpferd und Krokodil, mit Zähnen aus Elfenbein und rot bemalten Zungen. »Die sollten den Pharao wahrscheinlich vor bösen Geistern schützen«, erklärte Jim.
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Eine Vielzahl von Gegenständen lag auf und unter den Liegesofas: goldene Brustpanzer in Form von Vögeln mit Menschenkopf und Flügeln aus mitternachtsblauem Glas; große Skarabäen aus Lapislazuli; noch mehr goldene Armreifen mit dem Horusauge aus rotem Glas, Amethyst und Malachit; silberne Dolche; zwei mächtige Keulen aus blattgoldüberzogenem Holz; elegante Spazierstöcke und feierliche Königsstäbe; ein kleiner, schwarz lackierter Schrein mit einem hellen Halbmond auf dem Deckel; Heerestrompeten aus Silber; langstielige Fächer aus Straußenfedern, die so gut erhalten waren, als wären sie erst gestern gefertigt worden; Werkzeuge aus Holz und Bronze und mehrere hübsche Truhen. Nachdem Jim vorsichtig einen Alabasterkelch von einer der Truhen heruntergehoben hatte, nahm er sein Taschenmesser und knackte mit angehaltenem Atem den Deckel der Truhe auf, was ihm keinerlei Mühe bereitete. Diese Truhe schien die Kleider des Pharaos zu beinhalten – Gürtel, Ledersandalen mit Goldverzierungen, Handschuhe, Perücken und mehrere Ballen üppig bestickter Stoffe. Alles war vom Zahn der Zeit vollkommen verschont geblieben und wirkte wie neu. Doris setzte sich auf Jims Schulter und krächzte bewundernd, während er ein Stück nach dem anderen begutachtete.
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Nach einer Weile klappte er den Deckel wieder zu und stand auf. Dann ging er zur anderen Seite des Raumes hinüber, an den Reihen zierlicher, durchscheinender Bodenlampen aus Alabaster vorbei, über Papyruskörbe und Ebenholzstatuetten auf goldenen Sockeln hinweg, bis er schließlich vor vier nebeneinander aufgebauten kleinen Gefäßen stand. Sie waren strahlend weiß und in die Deckel waren detailgetreue Nachbildungen vom Kopf des Pharaos eingraviert worden. Es waren die Kanopen-Gefäße, in denen die inneren Organe des Königs aufbewahrt wurden. »Da ist er, meine Liebe«, flüsterte Cairo Jim und jede Faser seines Körpers vibrierte vor Aufregung. »Da ist er.« Jenseits der Deckelbecher befand sich der mächtige Sarkophag des Pharaos Martenarten. Mit wild klopfendem Herzen traten sie vor die Grabplattform. Jim holte die Streichhölzer heraus und zündete zwei kleine Fackeln an, die aus der rückwärtigen Wand schräg herausragten. Im Schein der flackernden Flammen glänzte der schwere, dick mit Gold überzogene Steinsarg so hell, dass er wie ein gleißendes, mit Juwelen gesprenkeltes gelbes Meer wirkte. Jim und Doris waren unfähig zu sprechen. Selbst in ihren kühnsten Träumen hätten sie sich
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solch einen überwältigenden Anblick nicht vorstellen können. Was sie sahen, war die äußere Sarghülle. Darunter würde es, wie es sich für den Rang eines Pharaos geziemte, zwei weitere Särge geben, jeder kleiner als der vorhergehende, jeder noch reichhaltiger vergoldet und mit mehr Edelsteinen verziert. Und im dritten, innersten Sarg würde der König liegen. Jim und Doris stiegen zur Grabplattform hinauf und blieben dicht vor dem Sarkophag stehen. Sachte fuhr Cairo Jim mit den Händen über den Deckel, über die modellierten goldenen Hände des Pharaos, die ein langes, gestreiftes Zepter und einen Knotenwedel umklammert hielten, und blies ihm vorsichtig den Staub vom Gesicht. Sein ganzer Körper war mit Gänsehaut überzogen, selbst seine Augenbrauen prickelten. »Die Zeit des reinen Träumens ist vorüber«, wisperte er. »Unsere monatelange Suche hat nun ein Ende gefunden.« Doris betrachtete andächtig den fein geschwungenen Kopf des Königs mit seinem blau gestreiften Kopfschmuck. Statt Augen starrten zwei pechschwarze Vertiefungen zu der von Spinnweben überzogenen, mit Halbmonden übersäten Decke hinauf. Langsam strich die Aradame mit einem
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Flügel über die gebieterischen Wangengrübchen des Pharaos. Dann wandte sie sich an Jim. »Wie kann dieser Sarkophag ein Gegenstand des Todes sein, wo er doch so voller Leben ist?« Jim lächelte. »Der Zauber der alten Sargmaler«, erwiderte er leise. »Sie waren hervorragende Meister ihrer Kunst.« Er nahm sein Taschenmesser und glitt damit durch die Ritze zwischen Unter- und Oberteil des Sarkophags. »Jim?« »Ja, meine Liebe?« »Alles ist so wunderschön.« »In der Tat, das ist es.« »Und es steht hier schon seit so langer Zeit.« »Das stimmt auch.« »Wieso müssen wir es dann stören?« Jim hielt in seinem Tun inne. »Was meinst du damit?« »Na ja, können wir nicht einfach alles so lassen? Muss es wirklich nach Kairo ins Museum? Wieso kann es nicht einfach hier stehen bleiben?« »Entdeckung ist das Eine, Doris, Wissen das Andere. Erst wenn all diese kostbare Pracht im Museum steht, ist sie vor skrupellosen Grabräubern sicher. Und wir haben die große Chance,
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Dinge zu erfahren, die wir vorher nicht wussten.« »Zum Beispiel?« »Wir könnten mehr über unsere Vorfahren erfahren«, antwortete Jim und senkte die Stimme zu einem fast unhörbaren Flüstern, »und vielleicht sogar über uns selbst …« »Girr«, girrte Doris. »Stell dir mal vor, meine Liebe«, fuhr Jim fort, während er eine dicke Schicht Staub und Sand entfernte, »stell dir mal vor, was sich hier drin befindet. Die Mumie des geheimnisvollen Königs liegt unangetastet im Sarg und wartet nur darauf, von uns entdeckt zu werden …« »Das glaubst auch nur du! Du miserabel dichtender Archäologe, du!«, drang plötzlich eine Stimme von der anderen Seite des Kanals zu ihnen herüber. Die beiden Abenteurer fuhren entsetzt herum und Jim ließ vor Schreck das Messer fallen. Am Fuße der mit Skelettteilen übersäten Treppe stand Captain Neptun B. Bone und auf seiner Schulter thronte bedrohlich die flohzerfressene Desdemona, eine brennende Kerze auf den Kopf gebunden. Bone, der seinen zinnoberroten Fez trug, hatte eine antike Muskete, eine richtige Donnerbüchse, direkt auf Jim und Doris gerichtet.
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Doris stieß ein lang gezogenes, gellendes Kreischen aus, das durch die ganze Kammer hallte, dann aber rasch von der dämmenden Schicht der unzähligen Spinnweben an der Decke verschluckt wurde.
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10. Kapitel
Eine Donnerbüchse droht alles zu zerstören
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unkles Tageslicht empfing sie. Cairo Jim blinzelte, als er aus dem obersten Gang in die beschattete Grube hinaustrat, die Brenda sozusagen aus Versehen geschaffen hatte. Grunzend schob sich Neptun B. Bone nach ihm durch das Loch in der Zedernholztür, was keineswegs leicht zu bewerkstelligen war – er quetschte sich schwitzend mühsam hindurch. Die Sonnenstrahlen, die gleißend hell vom Himmel fielen, brannten in Jims Augen und er griff in seine Hemdtasche, um die Sonnenbrille herauszuholen, die er nach dem Verlassen der Grabkammer von Martenarten abgenommen hatte. Bone rammte ihm die Mündung der Muskete in den Rücken. »Hände schön oben lassen, Jim«, polterte er. »Arrr, so ist es gut. Ich will dich noch nicht gleich umpusten.« »Was hast du eigentlich hier zu suchen, Bone?«, fragte Jim, auf dessen Augenbrauen sich Schweißperlen bildeten. »Ich bin dir gefolgt, Alter. Besonders schwer war das übrigens nicht. Sehr aufmerksam von dir, diese
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Spur zu legen.« Er ließ mehrere von Jims Papierkügelchen durch die Finger rieseln. »Hat mir und Desdemona sehr geholfen.« »Autsch!«, kreischte Doris, als Desdemona sie mit der Schnabelspitze pikste und sie durch das Loch in der Tür schubste. »Pass auf mein Gefieder auf!« »Keine Sorge, du Technicolor-Tusnelda«, krähte die Rabendame, »das mach ich früher, als du denkst.« »Was für ein Spielchen spielst du hier?«, wandte sich Jim wieder an Bone. »Wozu die Waffe?« »Ich erklär dir alles, sobald wir oben sind.« »Und wie sollen wir aus der Grube rauskommen? Wir haben kein Seil.« »Glaubst du.« Bone schaute nach oben und legte sich die freie Hand wie einen Trichter um den Mund. »Rhampsinites-Zwillinge!«, rief er. »Werft das Seil herunter!« »Ich hätte es wissen müssen«, murmelte Jim angewidert. Plötzlich sauste ein verschwommenes Etwas, das an ein Seil geknotet war, auf sie zu. Hastig drückten sie sich an die Wände der Grube, während das Ding mit einem dumpfen Poltern zu Boden fiel. »Aua«, stöhnte das Etwas. »Abdullah, Sie Volltrottel …«, setzte Bone an.
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»Ich bin Kelvin …oooh, mein Kopf …« »Kelvin, Sie Volltrottel! Als ich gesagt hab, Sie sollen ein Gewicht ans Seilende binden, hab ich schon etwas wesentlich Kleineres gemeint.« »Ja, Captain Bone.« Abdullahs Kopf erschien über dem Rand der Grube. »Wollen Sie jetzt raufkommen?«, fragte er mit einem zahnlosen Grinsen. »Nein, Abdullah, wir würden jetzt lieber ein kleines Tänzchen aufführen«, entgegnete Bone und verdrehte die Augen. »Aber dafür ist doch nicht genug Platz …« »Natürlich wollen wir jetzt raufkommen, Sie Dämlack!« »Oh, vielen Dank, Captain Bone. Okay, ich halte das Ende hier fest. Sie können jederzeit hochklettern.« Damit verschwand sein Kopf außer Sicht. Bone drehte sich zu Jim und Doris herum. »Ich geh als Erster, aber verschwendet eure Energie nicht auf sinnlose Fluchtversuche«, warnte er sie und strich mit seinen kurzen Wurstfingern über die Donnerbüchse. »Denkt dran: Ich habe die Macht in Händen.« Während Jim zusah, wie Bone sich mühsam am Seil hochkämpfte, überdachte er die Situation, in der sie sich befanden. Was auch immer Bone vorhatte, es war bestimmt nichts Gutes. Doris und Jim
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hatten keine Chance, von hier zu fliehen – sie hätten höchstens zurück unter die Erde gehen können und dann wären sie wieder genauso weit gewesen wie jetzt. Es war ziemlich schlau gewesen von Bone, als Erster am Seil hochzuklettern, denn so konnte er weiterhin die Waffe auf sie gerichtet halten. Aber was war mit Brenda geschehen? Wo war sie? Doris wand sich in Desdemonas Griff und versuchte sich verzweifelt zu befreien. »Nein, Doris«, sagte Jim ruhig. »Wehr dich nicht. Das macht die Sache nur schlimmer.« Die Aradame sah ihn an und in ihren matten Augen spiegelte sich Besorgnis wider. »Wenn du meinst«, prustete sie. An der Grubenkante tauchte erst der zinnoberrote Fez, dann Bones Gesicht und schließlich das große Mündungsloch der Muskete auf. »Arr. Hoch mit dir, Jim. Und keine hastigen Bewegungen, klar? Ich hab einen ziemlich nervösen Zeigefinger am Abzug. Desdemona!« »Was ist, mein Captain?« »Hör auf dich zu kratzen und schaff deinen fedrigen Hintern hier rauf.« »Was für ein Grobian«, bemerkte Doris. »Schnabel halten und mitkommen.« Die Rabendame klemmte sich Doris’ Schwanzfedern in
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den Schnabel und flatterte dann mitsamt dem Ara aus der Grube hinaus. »Aaaaaaauuuuu«, kreischte Doris und schlug wild mit den Flügeln um sich. »Dafür wirst du noch bezahlen, Bone«, zischte Jim und kletterte am Seil hoch. »Ach, was du nicht sagst?« »Ja, darauf kannst du deine Donnerbüchse verwetten.« Kelvin hockte immer noch auf dem Boden der Grube und rieb sich abwechselnd den Kopf und das Hinterteil. »Aber Captain Bone, was ist mit mir?«, brüllte er nach oben. »Wie soll ich hier rauskommen?« »Sie können da unten bleiben«, erwiderte Bone. »Umso besser, wenn Sie aus dem Weg sind.« Kelvin runzelte die Stirn und rieb sich über die Augenklappe. »Ooohhh«, wimmerte er. Als Cairo Jim schließlich über den Rand der Grube kletterte, bot sich ihm ein fürchterlicher Anblick: Brenda das Wunderkamel lag gefesselt und geknebelt auf der Erde. »Brenda, meine Hübsche!«, rief er und eilte zu ihr. Sie schnaubte gedämpft durch den Maulknebel und blickte ihn aus großen, traurigen Augen an. »Das reicht, Cairo Jim!«, donnerte Bone und zielte mit der Waffe auf Jim, worauf dieser wie angewurzelt stehen blieb.
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»Was hast du ihr angetan, du Mistkerl?«, stieß Jim wütend hervor. »Keine Angst, deinem Kamel ist nichts passiert. Dieses dumme stumme Vieh wird niemandem erzählen können, was an diesem Nachmittag hier geschehen ist, nicht wahr? Also brauche ich es nicht umzulegen. Ich will ja auch nicht unnötig Munition verschwenden. Wir haben es nur ein bisschen verschnürt, damit es sich nicht aufführt.« »Brenda ist nicht dumm!«, protestierte Doris lautstark. »Sie ist ein Wunderkamel!« Desdemona pikste sie mit voller Kraft. »Kann ich sie jetzt haben?«, fragte sie Bone und ihre Augen schienen mit jeder Sekunde noch röter zu pulsieren. »Bald, sehr bald«, antwortete Bone mit einem bösartigen Grinsen. Er setzte sich auf einen großen Felsen, die Muskete immer noch auf Jim und Doris gerichtet, und zündete sich eine Zigarre an. »Die Ärzte sagen, Rauchen gefährdet die Gesundheit«, warf Jim ein. »Donnerbüchsen auch«, brummte Bone. »Fesseln Sie ihn, Kelvin.« »Abdullah«, korrigierte Abdullah ihn. »Wie auch immer – fesseln Sie ihn.« Abdullah zauberte schadenfroh kichernd ein
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Bündel uralter Verbandsrollen hervor, mit denen er Jim kreuz und quer einzuwickeln begann. »Was zum …?« »Ich werd dir sagen, was zum …«, grinste Bone hämisch. »Ich werd dir alles sagen. Denn weißt du, Cairo Jim, ich bin nämlich heute hier, weil ich etwas will.« »Was willst du?« »Ich will Martenarten.« »Bitte was?« »Ich will deinen Pharao.« Jim biss die Zähne aufeinander. »Keine Chance«, stieß er hervor. »Weder du noch sonst irgendjemand wird das kriegen, was da unter der Erde liegt. Das geht alles ans Kairoer Museum, sobald alles genauestens katalogisiert ist!« »Och, das geht in Ordnung«, sagte Bone nüchtern und die Quaste seines Fez flatterte im Wind. »Es wird schon alles genau katalogisiert werden. Na ja, vielleicht nicht ganz alles. Vielleicht landen ein paar Stücke aus Versehen auf der Ladefläche eines Lastwagens, wenn du verstehst, was ich meine …« »Ich verstehe nur zu gut, was du meinst, du hinterhältiger Ganove!« »… Und der Rest kommt – ja, ganz deinem Wunsch entsprechend – ins Kairoer Museum.« Bone paffte an seiner Zigarre. »Wie gesagt: Ich will
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Martenarten. Das heißt, ich will derjenige sein, der ihn entdeckt hat.« »Aber du hast ihn nicht entdeckt«, krächzte Doris. »Jim hat ihn entdeckt.« »Aber nur mit deiner und Brendas Hilfe«, warf Jim ein. »Arrr, genau«, seufzte Bone. »Das ist ja das Ärgerliche daran. Und deswegen bin ich jetzt hier. Um die Geschichte umzuschreiben.« »Und wie bitte gedenkst du das anzustellen?«, bohrte Jim wütend nach. Bone hob die Muskete hoch. »Was denkst du, womit ich das Ding hier geladen habe?«, fragte er. »Lass mich überlegen«, sagte Doris. »Mit guten Manieren? Charme? Oder vielleicht Diätpillen? Wenn das so ist, solltest du die Waffe am besten gegen dich selber richten.« Bone warf ihr einen solch bitterbösen Blick zu, dass seine Pupillen aussahen, als würden sie gleich bersten. Dann tat er einen tiefen Zug an seinem Tabakstängel und entspannte sich wieder. »Sehr witzig, Dorothy«, sagte er und pustete der Aradame den Rauch ins Gesicht. »Ich heiße Doris. Doris Salaam.« »Tut mir Leid. Ich hatte mal eine Freundin namens Dorothy. Nein, Jim, was ich da in der Waffe hab, dürfte dir bestimmt bekannt sein.«
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»Und was ist es?« »Du hast sicher schon mal von ›Elefanten-Gel‹ gehört, oder? Du hast doch so viel Zeit im Emnobellischen Dschungel verbracht, da hast du bestimmt miterlebt, wie es angewandt wurde.« Cairo Jim erbleichte. Er hatte mehrere Male gesehen, wie Tierärzte das äußerst wirkungsvolle, schleimige Mittel als Narkosestoff bei der Operation eingewachsener Elefantenzehennägel verwendet hatten. Jedes andere Lebewesen außer Elefanten fiel allerdings, sobald das Zeug mit seiner Haut in Berührung kam, augenblicklich in einen tiefen Schlaf, der bis zu sechs Monate andauern konnte. Jim nickte entsetzt. »Wusste ich’s doch, dass du es kennst«, fuhr Bone fort. »Ich hab mir für dich etwas absolut Einmaliges ausgedacht. Ein kleiner Schuss Elefanten-Gel, dazu die stinkigen alten Bandagen, und schon bist du eine Mumie. Wir schicken dich dann mit den anderen Schätzen nach Kairo. Ich erzähle den Leuten vom Museum, du wärst Martenartens Kumpel oder so und dass wir dich in einem Sarg neben dem des Königs gefunden hätten. Ich werde sogar dafür sorgen, dass sie dich in einem ganz besonderen Glaskasten zur Schau stellen, viel höher als die anderen Exponate. Das hast du dir doch schon immer gewünscht: ein Grab mit guten Aussichten.«
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Desdemona begann lauthals zu lachen. »Nimmermehr, nimmermehr, nimmermehr. Ha ha ha ha ha!« »Und dann«, sagte Bone und schnippte die Asche weg, »ist Schluss mit lustig, so wahr ich Emil heiße!« »Aber Sie heißen doch gar nicht Emil«, wandte Kelvin weinerlich aus der Grube ein. »Unser Onkel heißt Emil, aber den lassen Sie lieber mal aus dem Spiel.« »Damit kommst du nie durch, Bone!«, rief Jim. »Meinst du?« Bone paffte wieder an seiner Zigarre. »Ich bin ganz sicher«, erwiderte Jim entschieden. »Eines hast du nämlich nicht bedacht.« »Und das wäre?«, schnaubte der Mann mit dem Fez. »Das Rätsel von Iah.« Bone grinste Desdemona an, dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte lauthals los. »Was ist daran so komisch?«, wollte Doris wissen. Er hörte auf zu wiehern und drehte sich zu der Aradame um. »Das Rätsel von Iah?«, wiederholte er hämisch. »Das Rätsel von Iah? Arrr.« »Es befindet sich im heiligsten Heiligtum«, erklärte Jim. »Wir haben es auf dem Weg zur Grab-
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kammer entdeckt. Es besagt, dass wir die nötigen Voraussetzungen erfüllen, um …« Bone wirbelte herum und zielte mit der Donnerbüchse auf Cairo Jims Kopf. »Ich spreche mit dem Vogel«, plärrte er. »Tu mir den Gefallen und misch dich nicht ein.« Die Muskete immer noch auf Jim gerichtet, wandte er sich wieder an Doris. »Sag’s mir, du grellbunte Dolly …« »Doris!« »Erzähl mir von dem Rätsel. Ich hab’s vor langer Zeit mal gelesen, aber ich kann mich nur noch undeutlich daran erinnern. Hilf meinem Gedächtnis auf die Sprünge.« Doris wand sich, als Desdemona ihr die Krallen noch fester in die Flügel bohrte. »Na los, sing schon«, krächzte die Rabendame. »Er mag es nicht, wenn man ihn warten lässt.« »Das Rätsel ist in die Wand eingraviert, in der Nähe des Bootes im Gebetsraum«, sagte Doris widerwillig. »Und was bitte«, fragte Bone und betonte dabei jedes Wort übertrieben stark, als wäre Doris ein absoluter Vollidiot, »besagt das Rätsel?« »Sag’s ihm, Doris«, drängte Jim. »Dann wird er schon sehen, dass er keinen Anspruch auf Martenarten hat.« Die blau-gelbe Aradame sah Bone direkt in die
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Augen, dann plusterte sie die Brustfedern auf, holte einmal tief Luft und rezitierte das Rätsel. Als sie geendet hatte, sagte Jim: »Kapierst du’s denn nicht, du gewissenloser Gauner? Wir erfüllen all diese Bedingungen. Wir besitzen die Bildnisse!« Bone brach wieder in so schallendes Gelächter aus, dass sein Bauch unter der smaragdgrünen Weste schwabbelte und seine fleischigen Wangen unter seinem borstigen Bart ganz rot wurden. Als seine Belustigung abgeebbt war, nahm er erneut einen Zug an der Zigarre und starrte Jim hochnäsig an. Seine Augen blitzten wie bei einem Drachen. »Ihr?«, stieß er hervor. »So, glaubst du, du Möchtegern-Dichter? Nun, dann wollen wir mal sehen.« Er griff in die Gesäßtasche seiner Knickerbocker und holte ein flaches Päckchen heraus. Im gleißend hellen Licht sah es aus wie ein Bündel kleiner Blätter Papier, aber Jim konnte es nicht genau erkennen. »Tja …«, murmelte Bone und balancierte das Päckchen auf dem Knie. »Wie lautet das Rätsel gleich noch mal?« Er räusperte sich lautstark und warf seine Zigarre auf den Boden. »Arrr, jetzt weiß ich’s wieder. ›Sie, die fliegen können‹ … Nun, Neil Armstrong ist doch geflogen, oder nicht? Bis zum
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Mond ist er hochgeflogen.« Damit holte er das Schwarz-Weiß-Foto des Astronauten aus dem Stapel hervor und hielt es hoch. »›Sie, die schreiben können‹«, fuhr er fort. »Da hätten wir gleich drei großartige Schriftsteller.« Er schwenkte die Bilder von Agatha Christie, Umberto Eco und Nikolai Gogol durch die Luft. »›Sie, die vier Beine haben‹.« Schwupps, kam Garfield zum Vorschein. »›Sie, die tapfer und zu Opfern bereit sind‹.« Er holte die Radierung von Richard Löwenherz hervor, klemmte sie sich, ohne die Muskete loszulassen, in den Mund und zerriss sie mit einem Ratsch in zwei Hälften. »›Sie werden erobern …‹« Er hielt das Bild von Wilhelm dem Eroberer hoch. »›… die Dunkelheit dieser Grabstätte und entdecken die Seite des Lichts.‹« »Wo hast du die Bilder her?«, schrie Jim. »Die waren in meinem Zelt. Sie gehören mir!« »Arrr, da irrst du dich. Sie gehören mir. Haben mir schon immer gehört, seit Jahr und Tag. Tja, du bist nicht der Einzige, der die Inschriften auf dem Stein von Rosetta kennt. Ach so, jaaa«, fügte er plötzlich hinzu, als wäre ihm soeben ein Licht aufgegangen, »eine Zeile hab ich vergessen, nicht wahr? Wie hieß die gleich noch mal? Ah ja, jetzt
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fällt’s mir wieder ein: ›Sie, die jene Bildnisse besitzen‹. Genau.« Und damit warf er Jim die PostkartenSammlung vor die Füße. »Da hast du’s«, stieß er triumphierend hervor. »Ich bin ›sie‹. Ich habe sehr wohl einen Anspruch auf Pharao Martenarten.« Jim spannte alle Muskeln an, als wollte er die Bandagen sprengen. »Du bist ja geistesgestört, Bone!«, rief er. »Das ist doch alles vollkommen verrückt. Du hast keinen Anspruch. Du bist wahnsinnig!« Plötzlich richtete Bone sich auf und hob die Muskete an die Schulter, sodass sie wieder auf Jims Kopf zielte. »Genug geplaudert«, polterte er. »Desdemona! Es ist so weit. Tu dein Schlimmstes und nimm dir deine Belohnung!« »Oh, vielen Dank, vielen Dank, vielen Dank«, erwiderte die Rabendame begeistert und ließ vor Gier die Zunge heraushängen. Dann stülpte sie Doris einen Jutesack über den Kopf und drehte die entsetzte Aradame mit den Füßen nach oben. »Raaark!« »Was soll das?«, brüllte Jim. »Was hat sie mit Doris vor?« »Halt die Klappe«, entgegnete Bone. »Captain, willst du mitkommen und zuschauen?«
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»Nein«, antwortete der dicke Mann naserümpfend. »Ich hasse den Anblick von Federkielen.« »Wie du willst«, sagte die Rabendame, klemmte sich den Jutesack zwischen die Klauen und flog hoch. »Wir sehen uns dann im Lager wieder. Ha ha ha ha ha!« Abdullah beobachtete, wie die ungleichen Vögel immer kleiner und kleiner wurden. Er war heilfroh, dass die doppelte gefiederte Gefahr endlich weg war. »Bone, jetzt bist du zu weit gegangen!«, schrie Jim und wand sich unter den Verbänden. »Nein, Cairo Jim, das werde ich erst jetzt machen.« Er kniff die Augen zusammen und zielte auf einen unsichtbaren Punkt zwischen Jims Augenbrauen. Nur noch eine Sekunde, dann würde ein Strahl des heimtückischen gelben Gels aus der Musketenmündung hervorschießen und Bones Triumph wäre perfekt. »Wenn ich nett wäre, würde ich dir einen letzten Süßgoldkeks anbieten«, quälte er Jim ohne Gnade. »Tja, Pech gehabt, ich bin nicht nett. Arrr. Adios, Jim. Und träum was Schönes.« Jim schloss die Augen, während Brenda wild schnaubte. Captain Neptun B. Bone krümmte bösartig grin-
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send den Zeigefinger am Abzug. Sein borstiger Bart erzitterte, als er tief in der Kehle heiser kicherte. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Wumm! und er ließ die Waffe sinken.
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11. Kapitel
Das Gepäck der Walküre
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bdullah Rhampsinites fiel mit einem erschrockenen Grunzen nach hinten um, k.o. geschlagen von einem Satz Golfschläger, die aus heiterem Himmel auf ihn herabgestürzt waren. Jim schlug die Augen auf und sah Abdullah reglos unter dem schweren Geschoss liegen. »Gütiger Himmel!«, stieß Bone voller Entsetzen hervor, beschattete sich die Augen mit der Hand und sah nach oben. Eine große Tasche mit Krocketschlägern hielt mit großer Geschwindigkeit direkt auf ihn zu. »Was zum …?« Panisch hechtete er zur Seite und die Schläger stürzten in die Grube. Eine Sekunde lang war nichts zu hören, dann drang ein kläglicher Schrei und schließlich ein zweites, noch lauteres Wumm! an die Ohren der oben Stehenden. »Abdullah?«, rief Bone. »Das war Kelvin«, verbesserte Jim. »Kelvin?« Keine Antwort. Da landete ohne Vorwarnung ein orangefarbe-
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ner Hula-Hoop-Reifen knapp neben Brenda und Jims Herz machte einen Satz. »Sie, die fliegen können«, murmelte er leise vor sich hin. Eine Gestalt erschien am strahlend blauen Himmel über ihnen, schwebte an einem Fallschirm herunter und landete schließlich zwischen Jim und Bone. Es war unverkennbar eine Frau, und nachdem die riesige seidene Stoffhülle sich flach im Sand ausgebreitet hatte, bemerkte Jim, dass die Frau ganz besondere Fallschirmspringerhosen mit Walküren-Airways-Aufdruck trug. Sie nahm Fliegerbrille und Lederhelm ab und schüttelte ihre kastanienrote Haarpracht kräftig aus. Oh, Jocelyn, Jocelyn Osgood, wummerte Jims Herz. »Hallöchen,Jim, ich hab großartige Neuigkeiten!«, rief sie mit ihrer nüchternen, selbstsicheren Stimme (Jim fand es ganz hervorragend, wenn Frauen solch eine Stimme hatten). »Die CateringFirma von Walküren Airways streikt gerade, also gibt’s im Moment keine Passagier-Beförderung. Und da dachte ich mir, ich besuche …« Ihr Blick fiel auf die gelben Bandagen, die um Jims Arme und Beine gewickelt waren. »Oh, störe ich gerade?« »Allerdings«, raunzte Bone.
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Jocelyn wirbelte herum. Zum ersten Mal seit vielen Jahren begegnete sie dem dicken Bartträger wieder. »Na so was, wenn das nicht Neptun B. Bone ist.« »Jocelyn Osgood«, hauchte Bone und sein Magen krampfte sich noch säuerlicher zusammen. »Was ist denn hier los?«, fragte sie mit Blick auf die Donnerbüchse. »Jocelyn, er will mir Martenarten wegnehmen!«, platzte Jim heraus. »Sie haben ihn gefunden?«, rief Jocelyn aus und schnallte sich die Fallschirmgurte ab. »Oh, Jim, meinen Glückwunsch!« Bone hob die Waffe. »Das reicht jetzt, Cairo Jim«, sagte er warnend und überlegte fieberhaft, wie er jetzt weiter vorgehen sollte. »Jocelyn, es hat keinen Sinn, dass Sie auch in diese Angelegenheit mit hineingezogen werden.« »Aber Neptun, Sie wissen doch – Jims Angelegenheiten sind auch meine Angelegenheiten.« »Das muss diesmal aber nicht so sein. Lassen Sie uns eine Abmachung treffen: Wenn Sie mir versprechen, heute wegzusehen und in Zukunft regelmäßig einige Zeit Ihres Lebens mit mir zu verbringen, sorge ich dafür, dass Sie all das Gold bekommen, das Sie sich schon immer gewünscht haben.«
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Jocelyn Osgood starrte den durchgedrehten Captain entgeistert an. »Sie haben ja vielleicht Ideen«, schnaubte sie, stemmte die Hände in die Hüften und lachte ihm ins Gesicht. Das war zu viel für Bone. »Fein, fein, fein!«, kreischte er. »Wie Sie wollen. Aber kommen Sie mir hinterher nicht damit, ich hätte Sie nicht gewarnt. So, du bist als Erster dran.« Er richtete die Muskete wieder auf Cairo Jims Kopf. »Diese Leute! Bah!« Er hörte Jocelyns herunterfallenden Reisekoffer erst, als es zu spät war. Als er hochblickte, dräute der riesige schwarze Schatten bereits knapp über ihm. Bone ließ die Waffe fallen und hob seine fein manikürten Patschehändchen über den Kopf, um sich zu schützen, aber vergebens. Das Wumm!, das nun ertönte, war das lauteste von allen. Neptun B. Bone wurde mit den Füßen voraus in den weichen Sand gerammt und verschwand mit einem Wimmern von der Bildfläche. »Ah, ich hatte mich schon gewundert, wo mein Koffer bleibt«, sagte Jocelyn fröhlich und eilte zu Jim, um ihn auszuwickeln. »Jocelyn, Sie hatten schon immer ein unschlagbares Timing«, erwiderte Jim lächelnd. Einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke.
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Jocelyns Augen waren groß und strahlend, die von Jim warm und voller Dankbarkeit. Dann fielen die Bandagen herab und Jim setzte schnell seine Wüstensonnenbrille auf. »Kommen Sie«, sagte er drängend und packte Jocelyn am Arm. »Wir müssen Brenda befreien und dann Doris retten. Sie ist in den Klauen dieses teuflischen Raben von Bone. Wir dürfen keine Sekunde verlieren.« »Roger«, sagte Jocelyn zustimmend. »Lassen Sie unseren Vetter aus dem Spiel«, drang eine erstaunte Stimme aus der Grube. Jocelyn und Jim hasteten zu der Wunderkameldame, die schnaubend und sich windend im Sand lag. Jocelyn riss ihr den Knebel aus dem Maul, während Jim die Fesseln aufknüpfte, die ihr Abdullah (oder Kelvin?) angelegt hatte. »Quuuaaaauuuu.« Jocelyn machte sich als Nächstes am Sattel zu schaffen. Sie leckte Jim über Gesicht und Hände (Brenda natürlich, nicht Jocelyn) und klimperte erleichtert mit den Wimpern. Als er Brendas raue Zunge an seinen Wangen spürte, wurde Cairo Jim klar, dass er sich seit Tagen nicht mehr rasiert hatte, und er hoffte inständig, dass sein Aussehen Jocelyn nicht allzu viel ausmachen würde.
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»Okay«, sagte Jocelyn und straffte die Sattelriemen über Brendas Höckern. »Auf geht’s!« Nachdem sie beide aufgestiegen waren, rappelte sich das Wunderkamel Brenda auf. Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. »Kennst du den Weg?«, fragte Jim. Sie schnaubte. Ich finde Doris schon, keine Sorge, dachte sie und nickte. Ich bin doch nicht umsonst ein Wunderkamel. Jim lenkte sie herum und Brenda raste mit geblähten Nüstern in Richtung des Tals der Königinnen davon. »Raaaaaarrrk!«, kreischte Doris und wand sich unter dem Gewicht der Steine, die ihre Flügel auf den Boden pinnten. »Lass mich frei, du fiese Flohkiste!« Desdemona hüpfte im Kreis um sie herum, die Augen vor Aufregung so heftig pulsierend wie noch nie. »Ha ha ha«, kicherte sie heiser. »Ich lass dich erst frei, wenn ich gekriegt hab, was ich haben will.« »Und was soll das sein, du räudiger Raubwürger?« Die Rabendame hörte auf zu hüpfen und beugte sich über den Ara. »Mag sein, dass die Natur mich stiefmütterlich bedacht hat«, erklärte sie schadenfroh, »aber wenigstens kann ich mich bald mit fremden Federn schmücken.«
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Doris runzelte die Stirn. »Hä?« »Du hast keine Ahnung, wie man sich fühlt, wenn man so potthässlich ist, was? Dich haben die Leute bestimmt noch nie so angeschaut, als wärst du der letzte Dreck. Ist es dir schon mal passiert, dass eine Ratte vor dir zurückgewichen ist, weil sie deinen Anblick so widerlich fand? Noch nie, wette ich. Weil du nämlich so schön leuchtend bunt bist. Für dich nimmt sich natürlich jeder nur zu gern Zeit.« »Wahre Schönheit kommt von innen«, gab Doris zu bedenken. »Es spielt keine Rolle, wie man aussieht.« »Blödsinn«, krächzte Desdemona und pickte sich einen Floh vom Bauch. »Nur der Charakter zählt.« »Kleider machen Leute, oder in diesem Fall, Vögel. Und genau deswegen sind wir jetzt hier.« Sie beugte sich noch näher zu Doris herunter und ihr seetangiger Atem wehte der Aradame ins Gesicht. »Ich werde dir jede Feder einzeln ausrupfen«, verkündete sie langsam. »Stück für Stück, bis du nichts anderes mehr bist als ein stacheliger Haufen rosa Fleisch. Und dann mache ich mir einen Umhang aus deinen Federn, so einen mit einer kleinen Schärpe und Tunnelzug am Hals. Und wenn ich dann irgendwo vorbeifliege, werden alle sagen: ›Da
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fliegt Desdemona, die bezauberndste aller Rabendamen!‹ Ich werde im Restaurant sofort bedient und keiner tritt im Dunkeln mehr auf mich drauf!« Doris schloss die Augen und wimmerte laut. »Das wird dir auch nichts nützen, Ara«, sagte Desdemona lachend. »Hier draußen kann dich niemand schreien hören.« Sie richtete sich wieder auf und griff nach einer Feder auf Doris’ Kopf. »Bald ist deine Schönheit nimmermehr!« »Lass mich los! Riiirraaark! Fass mich bloß nicht an!« Desdemona krallte die Feder fester und wollte sie gerade ausreißen, als die Luft auf einmal merkwürdig still wurde. »Was tut das Ding hier?«, fragte die Rabendame, als sie nach oben sah. Ein großer malvenfarbener Kosmetikkoffer mit den Initialen J. O. fiel rasch in Richtung Erde herab. »Aaaaaaaarrrrrk!«, heulte Desdemona, ließ Doris’ Kopffeder los und wich zurück. Mit einem Wumm! knallte ihr der Kosmetikkoffer auf den Schädel, sodass sie augenblicklich bewusstlos zu Boden ging. Eine Sekunde später hörte Doris donnerndes Kamelhufgeklapper, dann Jims Stimme: »Doris! Meine Liebste, ist mit dir alles in Ordnung?«
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Mühsam drehte die Aradame den Kopf. »Der Rabe krächzt nimmermehr«, stieß sie glücklich hervor. Jim sprang aus dem Sattel und eilte auf sie zu. Hastig schleuderte er die Steine beiseite und half Doris auf die Beine. »Ich bin ein bisschen mitgenommen«, sagte sie, nachdem sie alle Körperteile inspiziert hatte, »aber sonst besteht kein Grund zur Sorge.« Fröhlich flatterte sie auf Jims Schulter hoch und schmiegte sich an seinen Hals. »Also hat dich Bone doch nicht gegelt?« »Nein«, antwortete er und strich ihr über den Schnabel. »Brenda, dir geht’s auch gut?« Das Wunderkamel grinste und schnaubte. »Es geht uns allen gut und das haben wir Miss Osgood zu verdanken.« »Hallöchen, Doris, mein Schätzchen«, sagte Jocelyn, klappte den Kosmetikkoffer auf und holte eine große gepunktete Schleife heraus. »Raaaark!«, krächzte Doris. »Ich hab dir etwas mitgebracht. Komm mal her.« Doris starrte erst die Schleife an, dann Jim. »Na geh schon«, flüsterte er. »Die hast du dir verdient.«
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Die Aradame flatterte zu Jocelyn und setzte sich auf deren Arm. Vorsichtig band Jocelyn ihr die Schleife um die Kopffedern. »So«, sagte sie und rückte das Schmuckband zurecht. »Sieht sie damit nicht umwerfend aus?« Daraufhin riss Doris den Schnabel unwillkürlich so weit auf, dass ihr der obere Teil mit einem lauten Klonnnngg ins Gesicht hochklappte, sehr zum Vergnügen von Cairo Jim.
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12. Kapitel
Heller als der Sonnenschein
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echs Monate später, nachdem alle Kunstgegenstände in Kisten verpackt und katalogisiert und nach Kairo gebracht worden waren, fand im festlich dekorierten Museum eine ganz besondere Ausstellungseröffnung statt. Miss Pyrella Frith, die in ihrem neuen Kleid aus weißer Spitze bezaubernd aussah, rannte geschäftig hin und her und rückte die riesigen Fotos gerade, die überall an den Wänden hingen. Jim hatte Wort gehalten und sie als offizielle Fotografin seiner Ausgrabungen engagiert. Unermüdlich hatte sie Seite an Seite mit Jim, Doris und Brenda gearbeitet und die wunderbaren Bilder, die am Ende dabei herauskamen, waren die ganze Mühe mehr als wert gewesen. Alle waren zur Eröffnung gekommen und alle waren gespannt wie ein Flitzebogen. In einer Ecke der Eingangshalle stand Mrs. Amun-Re und unterhielt sich angeregt mit Gerald Perry Esquire. Seitdem Jims Entdeckung bekannt geworden war, hatten seine Täubchen-Schnellrestaurants einen erheblichen Aufschwung erlebt und sich zu richtigen
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Goldgruben gemausert. So hatte er keinerlei Schwierigkeiten gehabt, den Rest der Grabungsarbeiten zu finanzieren. Nun war er ein reicher Mann, trug aber trotzdem immer noch denselben zerknitterten weißen Anzug wie eh und je. »Nun«, sagte Mrs. Amun-Re, die ein groß geblümtes Kleid und einen neuen Hut anhatte, dessen Dekoration aus künstlichem Gemüse fast bis zur Decke reichte, »ich wette, Sie sind heute ganz schön aufgeregt, nicht wahr, Mr. Perry Esquire?« »Mmm? Oh, ja«, erwiderte Gerald Perry. »Sehr. Ich habe letzte Nacht kaum ein Auge zugetan.« »Das überrascht mich nicht«, sagte sie und rückte den schweren Hut zurecht. »Dies ist ein hysterischer Tag. Die allererste Ausstellung zu Pharao Martenarten, meine Güte! Wie wundervoll für Mr. Jim und Miss Doris und Miss Brenda, nicht wahr?« »Absolut, Mrs. Amun-Re. Absolut.« »Natürlich ich wusste schon immer, dass Sie es würden schaffen. Es stand in den Sternen, wissen Sie. Meine Freunde sind eine Ehre für Ägypten.« Plötzlich erblickte sie jemanden auf der anderen Seite der Menschenmenge. »Oh, Mr. Perry Esquire«, sagte sie und strich sich das Kleid glatt, »würden Sie mich bitte entschuldigen? Ich habe gerade gesehen jemanden, den ich kenne.«
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»Aber natürlich.« »Huhu, Neil!«, schrie sie und bahnte sich einen Weg durch die Menge. »Wie finden Sie meinen Rhabarber?« Gerald Perry sah auf seine Armbanduhr. Hmm, dachte er. Es ist bald Zeit für Jims Rede. Wo sie nur bleiben? In diesem Moment ging ein Raunen durch die Reihen der Zuschauer, als auf einmal mehrere Zeitungsreporter und Fotografen zum Eingang liefen. Die Mitglieder der Gesellschaft zur Erhaltung von Altertümern wichen langsam zurück, als Cairo Jim und Doris auf Brenda dem Wunderkamel – die mit ihrem neuen, farbenfrohen Makramee-Sattel einfach prächtig aussah – in die Eingangshalle geritten kamen. »Da ist Cairo Jim!«, rief Esmond Horneplush. »Bravo!«, schrien die Anwesenden im Chor, während die Fotografen sich um das Kamel drängten, um einen möglichst guten Schusswinkel zu finden, und die Abenteurer in ein Blitzlichtgewitter tauchten. Gerald Perry eilte auf Cairo Jim zu. »Jim, du bist spät dran«, raunte er ihm zu. »Alle warten schon auf deine Rede.« »Hast du Miss Osgood gesehen?«, fragte Jim und ließ den Blick über die Menge wandern.
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»Hmm? Nein, kann ich nicht behaupten.« »Oje, wo steckt sie nur? Sie hatte versprochen zu kommen.« »Mach dir darüber keine Gedanken. Hallo, Doris, Brenda.« »Raark.« »Quaauu.« »Alle warten …« »Also gut.« Jim, Brenda und Doris stiegen die Stufen zum Rednerpodium hinauf, dicht gefolgt von Gerald Perry. »Meine sehr verehrten Damen und Herren und alle anderen Anwesenden«, begann Perry, nachdem er ins Mikrofon gepustet hatte. »Ich möchte Ihnen heute den Mann, den Ara und das Kamel des Tages präsentieren: Cairo Jim und seine Mitstreiterinnen Doris und Brenda!« Tosender Beifall erhob sich in den Zuschauerreihen. Dann trat Gerald Perry beiseite, Jim sprang aus dem Sattel und griff nach dem Mikrofon. Er wollte gerade mit seiner Rede anfangen, da fiel ihm ganz hinten im Raum eine Person ins Auge. Er lächelte, als sie ihre Fliegerbrille und den Stewardessenhelm abnahm. Jocelyn hielt den Daumen hoch und erwiderte sein Lächeln, wobei sie ihre perlweißen Zähne entblößte.
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Jim begann zu deklamieren: »Sie alle kamen heute her, um Schätze zu bestaunen, deren Entdeckung wir nun sehr stolz in die Welt posaunen. Ein skrupelloser Lumpengeck wollt in die Knie uns zwingen, versuchte uns drei um die Eck und den Erfolg zu bringen. Doch wir ertrugen alle Pein, verwanden alle Qualen, und können mit dem Sonnenschein nun um die Wette strahlen. Es war uns Freude und Genuss, den Fund zu transportieren und alles dann zum guten Schluss zu katalogisieren. So will ich nun mit einem Satz beenden unser Warten. Hier ist des Königs großer Schatz: das Gold von Martenarten!«
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Alle Versammelten waren sich darüber einig, dass Cairo Jim ein grandioser Archäologe war. Sie klatschten erneut und diesmal so heftig, dass das Gemüse auf Mrs. Amun-Res Hut wackelte. Dann reichte Gerald Perry seinem Freund Jim eine goldene Schere, sodass dieser mit Doris’ Hilfe das Band durchschneiden und damit die Museumsausstellung eröffnen konnte. Unter lauten Beifallsbekundungen eilten die Zuschauer füßetrappelnd auf die kostbaren Schätze zu. Gerald Perry nahm Jim am Arm und führte ihn und Doris in eine stillere Ecke. »Jim, eines möchte ich doch gerne wissen«, sagte er. »Was ist aus Bone und seinen Komplizen geworden?« Jim ließ auf der Suche nach Jocelyn den Blick über die Menge gleiten. »Das wissen wir nicht mit Sicherheit«, erwiderte er. »Als wir wieder zur Grabungsstelle gegangen sind, um Miss Osgoods Gepäck zu holen, waren er und die RhampsinitesZwillinge verschwunden.« »Und den Raben haben wir nicht angefasst, um uns keine Flöhe einzufangen«, fügte Doris hinzu. »Ich frage mich, wo sie sind«, meinte Perry. »Das Altertums-Kontrollorgan würde ihnen nämlich gern ein paar Fragen stellen.« Jim wandte sich zu ihm. »Bone drückt sich
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wahrscheinlich schon wieder in irgendeiner finsteren Ecke herum«, sagte er. »Es ist eben leider so, mein lieber Perry: Unkraut vergeht nicht.« »Da hast du wohl Recht«, seufzte Gerald Perry. »Hallöchen!« Jocelyn tauchte wie aus dem Nichts neben ihnen auf. »Mr. Perry, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Ihnen unsere drei gemeinsamen Freunde für ein Weilchen entführe?« »Mmm? Oh, Miss Osgood, guten Tag. Nein, nein, es macht mir nichts aus, Sie haben freie Hand.« Sie packte Jim am Arm. »Ich bringe sie Ihnen dann so in einem Monat wieder zurück.« »Wie bitte? In einem Monat?« »Was ist denn passiert?«, wollte Jim wissen. »Kommen Sie mit. Doris, Brenda, ihr bitte auch.« Sie führte die drei rasch aus dem Museum und auf eine sonnenbeschienene Rasenfläche hinaus, wo ein speziell umgerüstetes SopwithFlugzeug auf sie wartete. »Ich hab die Maschine gemietet«, erklärte Jocelyn. »Ich komme sowieso viel zu selten dazu, selber zu fliegen. Auf Dauer ist es schon ziemlich langweilig, nur Stewardess zu sein. Ich wünschte von Herzen, Walküren Airways würde auch Frauen als Piloten zulassen. Diese Fluglinie ist wirklich hoffnungslos altmodisch.«
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»Girr«, girrte Doris. »Also, alle einsteigen. Brenda, für dich gibt’s hinten einen speziellen Sitz, da hast du hoffentlich genug Platz für Höcker und Sattel. Doris, für dich hab ich eine Sitzstange anbringen lassen, da im Mittelteil. Und unter dem Sitz ist eine Tüte mit Mrs. Amun-Res Spezial-Süßgoldkeksen.« »Haben Sie das etwa mit ihr zusammen ausgeheckt?«, fragte Jim. Jocelyn setzte lächelnd Helm und Fliegerbrille auf. »Und Sie, mein lieber Freund, sitzen vorne neben mir im Cockpit.« »Aber …« »Einsteigen.« Jim wusste, dass es nichts bringen würde, sich dagegen zu wehren; Jocelyn Osgood war eine sehr willensstarke Persönlichkeit. »Tja, meine Lieben, wir tun besser, was sie sagt.« Nachdem alle bequem saßen, zog Jocelyn an einem Hebel und der hölzerne Propeller begann sich stotternd zu drehen, immer schneller und schneller, bis er zischend die Luft durchschnitt. Dann griff sie nach unten und zerrte an zwei Seilen, wodurch die Bremskeile vor den Rädern weggezogen wurden. Langsam rollte die Maschine durch die Tore des Museumsgeländes und auf die Straße hinaus, die von den Behörden aus Anlass der groß angelegten
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Ausstellungseröffnung für den Verkehr gesperrt worden war. »Auf Wiedersehen, Mr. Jim«, rief Mrs. Amun-Re, die den Abenteurern nach draußen gefolgt war, und schwenkte ein rosafarbenes Taschentuch über ihren Radieschen. »Kommen Sie bald wieder, Miss Jocelyn! Und ihr auch, Miss Doris und Miss Brenda!« »Machen Sie’s gut, Jim«, sagte auch Pyrella Frith und winkte. »Sie schreiben mir doch hoffentlich?« »Viel Erfolg, Jim«, rief Gerald Perry Esquire. »Und viel Spaß, wo auch immer ihr hinfliegt!« Jim, Doris und Brenda winkten die ganze Zeit zurück, während das Flugzeug die Hauptstraße entlang in Richtung der Tahrir Street rollte. Dann zog Jocelyn am Steuerknüppel und die Maschine erhob sich sanft in die Lüfte. Mehrere Minuten lang flogen sie über der Stadt, über den Basarstraßen mit ihren Galabija-Schneidern und Zelttuchwebern, bevor sie dann in einem weiten Bogen auf die Pyramiden von Gizeh zuhielten. Als sie immer näher auf die Sphinx zukamen, tippte Jim seiner Pilotin auf die Schulterklappe ihrer Fliegerjacke. »Wohin fliegen wir eigentlich genau?«, brüllte er über den Lärm des Motors hinweg. Jocelyn schaute ihn durch ihre dicke Brille an. »Sie brauchen Urlaub«, schrie sie zurück. »Sie haben zu viel gearbeitet, und Doris und Brenda auch.«
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»Urlaub?«, krächzte Doris, deren Federn vom Wind aufgeplustert wurden. »Raaark! Hast du das gehört, Brenda?« Die Wunderkameldame schnaubte glücklich und rückte ihre Höcker auf dem Ledersitz zurecht. Endlich wieder viel Zeit zum Lesen, dachte sie. »Also hab ich mir ein paar Wochen freigenommen«, fuhr Jocelyn fort. Jim lächelte. »Sehr schön. Aber wie heißt unser Ziel?« Sie sah zu den Wolkenbänken hinaus. »Elfenbeinküste – wie hört sich das an?« »Elfenbeinküste?« Jims Augen glänzten. »Wirklich?« Er machte es sich bequem und lehnte den Kopf an die Nackenstütze. Na ja, nach unserem außergewöhnlichen Abenteuer haben wir uns ein bisschen Urlaub wahrlich verdient, dachte er. Immer höher und höher schwebte die Maschine, bis sie nur noch als kleines Pünktchen am strahlenden ägyptischen Himmel zu sehen war. Der Motor dröhnte immer lauter, je höher sich das Flugzeug schraubte. Dann gab es plötzlich einen heftigen Schub nach vorn und eine weiße Rauchwolke schoss hervor. Im nächsten Augenblick war das Pünktchen vollkommen verschwunden und man sah nur noch den blauen Himmel des sonnigen Spätnachmittags.
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