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PAUL KÖRNER-SCHRADER
Im Brunnenloch gefangen
VERLAG
JUNGE 19 5 3
WELT
I
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D e r Brigadier Walter Stegmann w...
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PAUL KÖRNER-SCHRADER
Im Brunnenloch gefangen
VERLAG
JUNGE 19 5 3
WELT
I
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D e r Brigadier Walter Stegmann wischte sich den Schweiß von der braungebrannten Stirn und sagte entschlossen: „Ich krieche hinein." „In den brennenden Ofen?" fragte der junge Heizer Werner Burghardt und öffnete die Tür der Feuerbuchse. „Aber gewiß", erwiderte Stegmann. „Wir haben doch heute die Spitze zu halten. - Wir reißen das Feuer raus, kühlen mit dem Gebläse etwas ab, und ich krieche hinein, den Riß zu verschmieren." Der Flammenschein fiel auf seinen nackten Körper, daß er aussah, als wäre er aus Kupfer. Die automatisch in den Ofen geschüttete Kohle brannte nicht recht, obwohl das Gebläse Luft genug einführte. Werner Burghardt nahm die lange Eisenstange und stocherte auf dem Rost der Feuerung. Eine Verschlackung war nicht erfolgt. Die Heizer verließen einer nach dem andern einen Augenblick ihren Platz, um sich den Riß in der Buchse des Ofens neun anzusehen. Stegmann hatte noch drei Tage Urlaub zu bekommen. Morgen wollte er ihn antreten, da mußte die Anlage halbwegs in Schuß sein. Der Ofen vier wies allerdings auch noch einen kleinen Schaden auf. Aber dieser Ofen hielt sicher noch einige Tage stand. Eine vollständige Überholung wollte Stegmann gleich nach dem Urlaub vornehmen. Die Spitze hatte das Werk „Karl Liebknecht" planmäßig erst in der kommenden Woche wieder zu übernehmen. Der Brigadier sagte zu Werner Burghardt: „Reiß das Feuer raus! Ich hole die Schamotte." Werner nahm die Kratze und riß das Feuer aus dem Ofen. Sein Freund und Ofennachbar, Fritz Kramer, ergriff den Schlauch und bespritzte die vor dem Ofen liegende Glut mit Wasser, daß der weiße Dampf wie dichte Nebelwolken unter lautem Zischen in die Höhe stieg. Stegmann war mit dem Schamottemehl und einem flachen Holzbottich zurückgekehrt und rührte einen schlammigen Brei ein. Einige Splitter von Schamottesteinen lagen auf dem Fußboden. Einer der Kumpel schleifte eine breite starke Holzbohle herbei. Beißende Hitze entströmte dem Ofen. 3
Am Fluß entlang führte ein schmaler Pfad an Erlen- und Weidenbüschen vorbei. Das Wasser rauschte, Vögel sangen in den Büschen. Die jungen Heizer wählten zu ihrem Heimweg gern den Pfad am Fluß. Als sie um einen dichten Busch von Heckenrosen bogen, sagte Kramer: „Liegt da nicht jemand im Gras?" „Wo?" fragte Burghardt. „Nun, d o r t . . . " „Ja, Kinder, das ist unser Brigadier. Wißt ihr, er hat noch ein paar Tage Urlaub. Soll er uns doch heute mal erzählen, wie das war, als er im Brunnenloch gefangen saß." „Gut." „Glück auf!" grüßten die Jungen ihren alten Brigadier. „Glück auf!" dankte Stegmann, während sich die drei Burschen zu ihm ins Gras niederließen. „Nun, wie wär's, wenn du uns heute die Geschichte von der Gefangenschaft im Brunnenloch erzählen würdest?" fragte Werner. Stegmann sah die bittenden Augen - da holte er tief Luft und ließ das Buch, in dem er gelesen hatte, sinken; Seine Augen streiften über die Flur zum Werk, auf dem die rote Fahne wie eine gut ausgeglichene Flamme der Feueröfen hin- und herflatterte. Sie leuchtete verheißungsvoll in der Abendsonne. Und der Heizer begann: „Ja, das war eine verfluchte Zeit. Die Werke gehörten den Konzernherren. Sie verdienten goldene Berge, aber das war ihnen noch nicht genug. Sie wollten noch mehr Geld einsacken. Das ging aber nur durch einen Krieg. So bereiteten sie also den Krieg vor. Viele Arbeiter wollten sich nicht gefallen lassen, daß man ihnen die Haut vom Leibe zog. Auch ich sagte mir, daß ich etwas gegen diese Kriegshetzer tun müsse und schloß mich deshalb einer illegalen Gruppe an. Ich war damals noch ein junger Mensch." Die, Jungen hingen mit den Augen an den Lippen des Erzählers, der fortfuhr: „In meiner Heimat verband eine Fähre beide Teile der Stadt, weil die Brücken zu weit auseinanderlagen Der Fährbetrieb ging vom frühen Morgen bis gegen Mitternacht. Ein Drahtseil war an hohen Masten,' die an den Ufern standen, befestigt. An ihm zog man das Fährschiff hinüber und herüber. Damit das Schiff in der Strömung nicht weggetrieben werden konnte, hatte man in der Mitte eine lange Stange mit einer Rolle an der Spitze, die wieder auf dem Seil entlanglief, aufgestellt. Ein Genosse unserer Gruppe war auf die Idee gekommen, mitten über dem Wasser an das Seil ein Transparent mit einer KampfLosung zu hängen. Das war gut überlegt, denn dort war es nicht so leicht wegzuholen. Allerdings, hinzubringen war es auch nicht einfach! 6
Nach vielen "Vorbereitungen machten wir uns an einem Abend daran, das rote Tuch mit weißer Inschrift über den Strom zu hängen. Das Transparent glich einem Banner. Damit es recht glatt herunterhing, hatten wir eine Eisenstange eingenäht. Oben an dem Halteholz war ein dicker Strick befestigt, und in der Mitte des Strickes hatten wir einen Ring, einen riesigen Schlüsselring, angebracht. Als der Fährbetrieb nach Mitternacht ruhte, stiegen wir auf den Mast am rechten Ufer und drehten den Ring über das Seil, so daß er die Trosse umschloß. Durch den Schlüsselring hätten wir eine lange Schnur gezogen und an das eine Ende einen Eisenbolzen gebunden, der nun wie ein Pflock quer vor dem Ring lag. Einige Genossen ruderten jetzt mit einem Boot über den Strom und zogen an der Schnur das am Ring hängende Transparent am Seil entlang. Als es mitten über dem Wasser hing, ließen sie die Schnur los. Der schwere Bolzen fiel nach unten, zog die Schnur aus dem Ring, und sie versank mit ihm im Wasser. Das sollte einiges Kopfzerbrechen machen, die Losung wieder zu entfernen! Am anderen Morgen begann der Fährbetrieb, und mitten über den Wellen des Flusses hing straff gespannt das Banner mit der Inschrift: NIEDER MIT DEM WELTVERBRECHER HITLER! NIEDER MIT DEN KRIEGSHETZERN! Die Leute sammelten sich an den Ufern und Brücken an, um dem Schauspiel zuzusehen. Aus den Fenstern der umstehenden Häuser lehnten die Menschen, um teils die Inschrift, teils die Tat zu bewundern. Fuhr- die Fähre hinüber, so schob die Rolle den Ring mit dem Transparent ein paar Meter weiter, rollte dann aber darüber hinweg und nahm auf der Rückfahrt beides wieder ein Stück mit. Die Polizei fand sich ein, notierte den Tatbestand, wußte aber nicht, wie man die revolutionäre Inschrift wieder entfernen könne. Wir hatten uns also nicht verrechnet. Man versuchte es von der Fähre aus. Es ging nicht. Das Banner schob sich einige Meter weiter hin und dann wieder her. Eine wahre Völkerwanderung hatte begonnen, so daß man die Straßen und Plätze, die Brükken und Wege des Hafens absperren und von Menschen säubern mußte. Nachmittags hatte man endlich einen Mann gefunden, und zwar einen Seiltänzer, der das schwierige Werk der Entfernung der Kampfparole wagen wollte. Auf einer mechanischen Leiter der Feuerwehr erstieg er den Mast, nahm eine Balancierstange und schritt langsam, sich immer nur eine Handbreit weitertastend, vorwärts. Als er zur Mitte kam, fing das Seil mehr und mehr an zu schaukeln, und plötzlich sah man, wie der Seiltänzer die Stange weit von sich warf, abstürzte und ins Wasser fiel. Die Menge schrie. Polizei fuhr mit einem Motorboot aus, den Mann zu retten. 7
Auf diese Weise konnte man also das Transparent auch nicht beseitigen. Es war Abend geworden. Zahlreiche Naziwürdenträger erschienen, und sie sagten laut und deutlich — die Wut konnten sie nicht verbergen —, daß die Zuschauer morgen früh nur wiederkommen sollten, weil man dann die Täter an dem Seil hängen würde. Man setzte eine hohe Belohnung aus. Wer von den Tätern etwas wisse, der sollte viel Geld erhalten. Wenigstens wurde es versprochen. Schließlich hatte man sich weiter keinen Rat mehr gewußt, als hinaufzuklettern und das Seil am Mast abzuschneiden, so daß Seil und Banner ins Wasser fielen. Der Fährbetrieb ruhte längere Zeit - das trug dazu bei, daß man noch lange von unserer Tat sprach. Aber man hatte wohl Wind bekommen, daß ich an der Tat beteiligt gewesen sein müßte. War es Verrat? Wir haben es nie erfahren. Als ich am Morgen aus der Nachtschicht nach Hause kam, wurde ich gewarnt — seit fünf Uhr sei die Polizei in meiner Wohnung, um mich abzuholen. Ich hielt mich also vorerst zwei Tage lang bei Bekannten auf. Dann erfuhren wir aus einem Fahndungsblatt, das an allen Ecken der Stadt angeklebt wurde, daß alle Genossen unserer Gruppe steckbrieflich gesucht wurden. Jeder mußte nun einen anderen Weg gehen, um den Bewohnern der Stadt das Schauspiel zu ersparen, uns am Fährseil hängen zu sehen... So begab ich mich ,auf Reisen'. Unsere Route war genau festgelegt. In einem kleinen Dorfe sollte ich einige Tage bleiben und von dort dann weitergeschleust werden." „Und da wurdest du in einen Brunnen gesperrt?" fragte Werner. „Nein, ich ging freiwillig hinein." „Na, a b e r . . . " „Also, ich hatte mich auf dem Wege vom Bahnhof zum Dorf nach der Wohnung des Mannes erkundigt, bei dem ich mich melden sollte. Ein Mann, der zwischen den Bäumen der Straße das Gras weghackte, sagte mir Bescheid. Zu Herrn Merker sei es nicht weit. Ich brauchte nur die erste Straße rechts abzubiegen, dort, wo der Transformatorenturm der elektrischen Leitung steht. Von den drei Häusern, die in dieser Straße, welche übrigens eine Sackgasse war, standen, war das querstehende, also gewissermaßen der Boden vom Sack, das Anwesen des .Rechtsanwaltes'. Der Chausseearbeiter sah mich aufmerksamer an als mir angenehm war. Merker war kein richtiger Rechtsanwalt, sondern ein Kleinbauer, der von den Erträgnissen der paar Morgen Land, die er hatte, nicht leben konnte. Er betrieb daher noch die Aufzucht von Ferkeln. Da er außerdem das Zeug hatte, Anträge und schriftliche Gesuche besonders gut zu formulieren, den Bauern Briefe aufzusetzen, hatte man ihm diesen Beinamen gegeben. Als ich die Hoftür öffnete, bellte ein Hund heiser und wütend. Er lag an der Kette. Ein kleiner Mann trat aus der Stalltür und stellte 8
einen Eimer aus der Hand, um mich zu begrüßen. Er fragte, ob ich Ferkel kaufen wollte oder ob ich wegen der Läufer käme. Ich antwortete darauf, daß ich für beides Interesse hätte. So war es ausgemacht. Daran erkannte Merker, daß ich derjenige war, den man ihm gemeldet hatte. Der Rechtsanwalt' hatte listige, aber gutmütige Augen. Warm klang sein Gruß: Willkommen, Genosse! Er trat mit mir in den Schweinestall. ,Der Vorsicht halber wollen wir einen Posten aufstellen. Es fällt auf, wenn ein Fremder ins Dorf kommt', sagte er ruhig. Er rief seinen Sohn herbei, einen vielleicht zwölfjährigen, gewitzt aussehenden Jungen. Als dieser mich begrüßte, glitzerte er mich mit den gleichen listigen Augen an, wie es der Vater getan hatte. Erich sollte aufpassen, ob der Gendarm vielleicht von meinem Auftauchen Wind bekommen hätte. Der Junge erhielt den Auftrag, sich vor den Ackergeräten, die vor der Schmiede standen, herumzutreiben. Von da aus konnte er alles übersehen. Sowie sich der Landposten blicken ließ, sollte Erich über den Schmiedehof, durch den Garten des Schmiedes laufen, der sich an den des .Rechtsanwaltes' anschloß. Würde ihn jemand fragen, wer denn mit dem Dreiuhrzuge zu ihnen zu Besuch gekommen war, sollte er erklären, daß er niemanden gesehen habe. Auf alle Fälle sollte er jede verdächtige Beobachtung sofort dem Vater melden. Der Rechtsanwalt' berechnete dabei, daß, selbst wenn der Gendarm per Fahrrad käme, der Junge immer noch früher da sein würde, weil er hintenherum lief. Der Junge ging los. Man hörte ihn auf der Straße lustig pfeifen. Wir zwei machten uns indessen näher bekannt, und dann führte mich der Genosse ins Haus. Ich mußte mich erst waschen und danach auch essen. Beides tat mir sehr not. Auch das Herz der Frau Merker schlug für uns Arbeiter. Rührend sorgte sie für mich, der ich von denfaschistischen Henkern gesucht wurde. Sie erklärte mir liebevoll, warum ich nicht im Hause nächtigen sollte, obwohl es Raum genug hatte. Ich sollte auf dem Heuboden mein Lager bekommen, um dort sicherer zu übernachten. Eine Luke ging vom Heuboden zum Garten hinaus. An einem Balken hing ein Flaschenzug. Er diente dazu, Heu und Stroh auf den Boden zu ziehen, da der Heuboden zu hoch war. um ihn von der Fuhre aus zu erreichen Ein starkes Tau hing über einer Rolle und reichte bis zur Erde hinab .Also', sagte der .Rechtsanwalt', wir standen am Flurfenster im ersten Stock des Hauses, ,wenn nachts die Polizei kommt - sie hat schon einmal mitten in der Nacht das Haus durchsucht -, dann bellt der Hund jämmerlich. Hoffentlich hörst du das und wachst rechtzeitig auf Du läßt dich dann am Seil hinunter, es hält deine Last bestimmt aus. Wenn es dunkel ist, probierst du es gleich. Auf alles gefaßt sein ist besser, als nachher ratlos dazustehen. In der Not läufst du dort drüben an den d
Pflaumenbäumen vorbei aus dem Garten hinaus, springst über den kleinen Graben, der ja nur so breit wie eine Gosse ist, und überquerst die Wiesen. Von da erreichst du, wenn du an den Büschen entlanggehst, den Bahndamm.' Er wies auf einen deutlich erkennbaren Strich, die Bahnböschung. Sie war ziemlich hoch aufgeschüttet, weil es stark bergan ging. Dann zeigte der Genosse auf einen ganz bestimmten Erlenbusch am Bahndamm. Da sollte ich bis gegen halb vier Uhr morgens verweilen. Um diese Zeit käme ein Güterzug, auf den ich bequem aufspringen könne, weil der Zug dort wegen der Steigung langsam fahren müßte. Gegen sechs Uhr wäre ich dann in der Stadt und sollte auf dem Bahnhof nach Lademeister Stripki fragen. Würde er im Dienst sein, sollte ich zu ihm gehen und ihm die Frage stellen, ob für Schweinehändler Merker der Waggon bestellt wäre. Der Lademeister wisse dann Bescheid. Wäre aber Stripki nicht da, dann sollte ich sagen, ich sei ein Verwandter von ihm, und in der Güterabfertigung seine Adresse erfragen. So würde es keinem Menschen einfallen zu glauben, daß ich ein steckbrieflich gesuchter Antifaschist sei." Hier unterbrach Werner Burghardt den Erzähler: „Das waren ja nette Aussichten, sich am Seil hinablassen, auf den fahrenden Zug springen... aber immer noch besser, als mit dem Strick um den Hals über dem Fluß zu hängen." Stegmann nickte und fuhr dann fort: „Also, Frau Merker hatte ein gutes Essen bereitet. Pökelrippchen gehörten sowieso zu meinen Leibgerichten, und es schmeckte, da ich auch frisch gewaschen war, sehr gut. Während Merker auf dem Hofe Wasser pumpte und in den Stall trug, stopfte seine Frau meine Strümpfe und erzählte von den vielen Genossen, die schon im Hause gewesen und die später über die Grenze gegangen waren. Sie sprach dabei auch den Verdacht aus, daß die Leitadresse möglicherweise schon der Geheimen Staatspolizei bekannt sei, weil ein Mann, der vor einer Woche avisiert wurde, nicht eingetroffen wäre. Ich solle ruhig sein, aber ich müsse das wissen. Sie hatte recht. Natürlich wäre uns wohler gewesen, wenn der Mann vor mir gekommen wäre. Wenn er die Adresse verraten hatte, beobachtete man den Rechtsanwalt'. Wir hatten uns darauf einzurichten. Als mir nun die Augen zufielen, riet mir Frau Merker, ich sollte mich ruhig auf das Sofa legen, ^das in der geräumigen Küche stand. Sie meinte, es wäre besser, jetzt zu schlafen, damit ich in der Nacht, wenn die Häscher eventuell kommen würden, nicht so weit weg wäre im Schlaf. Wenn ich den Hund bellen höre, könnte ich zeitig Reißaus nehmen. Ich legte mich nieder, denn die Müdigkeit verlangte ihr Recht. Frau Merker breitete eine Decke über mich, nicht der Kälte wegen, denn 10
es war ja noch Hochsommer, sondern um die eklen Fliegen abzuhalten, die mir immerfort auf der Nasenspitze herumkitzelten. Fliegen gab es hier genug. Dann sprang auch noch eine Katze auf das Sofa und legte sich auf meine Brust. Ich vernahm bald, daß sie zufrieden schnurrte. Es hörte sich an, als röchele es in meinem Hals. Das Geräusch ging allmählich in das Fauchen einer Lokomotive über, und noch später meinte ich, es säge jemand in einer fernen Scheune Holz. Da war ich also fest eingeschlafen. Aber es gab keine richtige Ruhe nach all den Aufregungen. Nach kurzer Zeit wachte ich bereits wieder auf. Ich wusch mich am Brunnen. Der ,Rechtsanwalt' hatte Disteln, die er für die Ferkel stampfen wollte, in eine große Holzwanne getan. Vorher mußten die Disteln jedoch erst gewaschen werden, weil sie sandig waren. Auf dem eisernen Brunnenrand lag ein riesiger Zementdeckel, in der Größe eines Wagenrades. Er war halbiert, und durch die eine Hälfte führte das Rohr in die Tiefe. Auf der zweiten Hälfte stand das Faß mit den Disteln. Merker lächelte mir zu. Dann sagte er mit einem freudigen Klang in der Stimme: ,Das mit dem Transparent über dem Fluß in eurer Stadt war eine prima Sache. Das hat vielen Menschen neuen Mut gegeben. Sie haben wieder gesehen: Wir, die Antifaschisten, kämpfen entschlossen!' Er wollte gerade weitersprechen, als der Junge durch die Scheune eilig über den Hof gelaufen kam. Er berichtete, als wäre es die selbstverständlichste Sache von der Welt, ganz ruhig: ,Vater, sie kommen. Der Gendarm, der Ortsvorsteher und der Chausseearbeiter.' Also doch! Ich hätte den Chausseemann nicht fragen sollen, wo der Schweinehändler Merker wohnt, a b e r . . . Der Rechtsanwalt' erwies sich jetzt als ein entschlossener und umsichtiger Genosse. Wir rückten in Windeseile die Wanne weg und dann die eine Hälfte des Zementdeckels, der auf dem Brunnenloch lag. Die Platte bedeckte eine mannshoch ausgeschachtete Grube, die von dicken Zementringen umgeben war. ,Spring hinein', forderte mich Genosse Merker auf, als sich der Schlund vor mir geöffnet hatte. .Meine Jacke', sagte ich hastig und sprang in das runde Brunnenloch, das aussah wie der Hungerturm einer alten Burg, die wir als Kinder einmal besucht hatten. Kaum hatte es unter mir gequietscht, als mir das Jackett bereits hinterherflog. Dann schob sich der Deckel wieder auf seine alte Stelle. Es donnerte über mir, als der .Rechtsanwalt' die große Holzwanne mit den Disteln darin unter das Brunnenrohr rückte. Bald bellte der Hund recht heiser und wütend. Genosse Merker pumpte gerade Wasser auf die Disteln, als der Gendarm mit seinem Gefolge den Hof betrat. Merker hörte nicht auf zu pumpen, sondern rief nur den Hund zur Ruhe, der auch sofort nicht 11
mehr so wütend bellte und es allmählich ganz aufgab. Ich hörte über mir die sehr förmliche Begrüßung. Dann sprach anscheinend der Gendarm: .Merker, mit dem Dreiuhrzug ist jemand zu Ihnen gekommen. Wer war das? Wo ist er?' ,Das war ein Mann aus der Altmark. Er fragte, ob er dreißig bis vierzig Ferkel haben könne für den Kreis Osterburg.' Diese Antwort erfolgte so ruhig und gelassen, daß sie meine Erregung dämmte und mein warmes Empfinden für den prächtigen Genossen erhöhte. ,Wo ist er?' hörte ich jetzt den Gendarm fragen. ,Er ist gleich wieder gegangen, nachdem er sich kurz im Stall umgesehen hatte und erfahren mußte, daß ich keine Ferkel abgeben könne.' ,Er hat also keine gekauft?' , ,Nein. Ich habe zur Zeit nur elf Stück, und das waren ihm zu wenig.' ,Wo ist er hingegangen?' ,Ja, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich zum Bahnhof, oder auch ins Gasthaus.' .Nein, zum Bahnhof ist er nicht gegangen. Wäre er zum Halbsechsuhrzug gegangen, hätte ich ihn sehen müssen, denn ich habe extra eine halbe Stunde länger gearbeitet. Um fünf habe ich Feierabend, und um halb sechs war ich noch auf der Chaussee.' Das war der Chausseearbeiter, der so gesprochen hatte. Und nun vernahm ich noch ein dritte Stimme, das war der Ortsvorsteher: ,Wie hieß der Mann, und woher kam er?' Es klang barsch. ,Er war von Osterburg. Und wie die Leute heißen, meine Herren, frage ich erst, wenn sie gekauft haben. Was interessieren sonst die Namen? Sie würden einen doch für neugierig halten.' Diese Kettenhunde der faschistischen Räuber waren scharf wie hungrige Wölfe. Alles wollten sie beschnuppern. Ich hielt den Atem an, in der Meinung, sie könnten da oben das Geräusch hören. Auch die Stimme von Frau Merker war zu erkennen. Sie sagte, daß der Schweinekäufer bald wieder gegangen wäre. Der Junge wurde gefragt, ob er zu Hause war, als der Mann ankam. Aber Erich antwortete mit einem langgezogenen ,Nööööö.' Der gesuchte Schweinekäufer saß nun im Brunnenloch. Ich hörte, wie sich alle über den Hof begaben und ins Haus gingen, um mich zu suchen. Aber alles, was ich hatte, steckte zu meinem Glück mit mir in dem Loch. Ein Gefühl freudiger Genugtuung überkam mich. Sie würden mich doch nicht finden, diese faschistischen Spürhunde! Das Wasser des Schlammes drang langsam durch die Schuhe. Ich versuchte das Jackett anzuziehen, aber es war nicht so einfach. Das Loch hatte einen Durchmesser von etwas mehr als einem Meter. Mitten durch das Loch ging das Brunnenrohr in die Erde. Die Tiefe des ausgeschachteten Loches war kaum anderthalb Meter. Ich hätte also bis 12
fast zu den Knien im Schlamm versinken müssen, um aufrecht stehen zu können. Nachdem es mir geglückt war, die Jacke richtig auf den Leib zu kriegen, zog ich einen Fuß nach dem anderen aus dem Schlamm. Es hörte sich an, als ob die Handlanger auf einem Bau zwei Mollen voll Mörtel in den Kasten schlagen. Das Echo hallte noch ein paarmal von den Wänden. Oft durfte ich das nicht machen, denn sonst konnte es draußen zu hören sein. Zur Zeit stellten sie drinnen die Wohnung auf den Kopf - aber wußte ich, ob sie jemand auf den Hof postiert hatten? Sie werden mich in den Schränken, im Keller, auf dem Boden, in den Truhen und wahrscheinlich auch im Rauchfang bei den Speckseiten suchen. Derweil wollte ich auf Entdeckungsreisen gehen, ob nicht eine trocknere Stelle zu finden war als die, auf der ich jetzt stand. Nein, es war überall gleich schlammig. Ich hockte mich hin und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand des Brunnens. Bald wurde es mir aber eiskalt auf der Haut, obwohl es draußen noch Hochsommer war. Lange konnte ich nicht in dieser Stellung verweilen, weil mir Knie und Rücken ungeheuer schmerzten. Jetzt hörte ich deutlich, wie mehrere Menschen im Hause die Holztreppe hinunterpolterten, und in der Annahme, daß sie nun wieder auf den Hof kämen, verhielt ich mich ganz still. Es wurden Stimmen laut. ,Hast du ihn nicht gesehen?' fragte jemand, und Erich antwortete wie ein Unschuldslamm: ,Nein, ich bin gerade nach Hause gekommen.' Der Hund bellte wieder, das Zeichen, daß alle auf dem Hofe standen. Ich hörte Schritte, und dann schrien die Gänse, die sich in einem Stall aufhielten, der dicht am Brunnen war. Die Häscher waren jetzt also in den Gänsestall gegangen. Der Hund hörte wieder auf. zu bellen. Dann dröhnten Schritte über mir. Werden sie jetzt den Deckel hochheben? Die Stimme des Rechtsanwalts' tönte deutlich zu mir herunter: ,Lassen Sie mich wenigstens erst die Schweine füttern.' ,Nein, nein, das kann die Frau machen', vernahm man die Stimme des Gendarmen. Aber der Ortsvorsteher erwiderte ganz energisch: ,Die Frau kommt mit und der Junge auch.' Der Hund bellte wieder und zischte richtig dabei. Das bewies mir, daß die Hitlerschergen jetzt ganz dicht an der Hundehütte vorbeigingen. Sie begaben sich wohl in die Scheune und in die Schweineställe. Dann hörte das Kläffen wieder auf, und es knurrte nur ein wenig von der Hundehütte her. Aber nach einigen Minuten fing der Hund erneut an zu belfern. Ich hörte auch das Geräusch, das deutlich erkennen ließ, daß die Haustür zugeschlossen wurde. Da donnerte es ganz unverhofft über mir. Drei oder vier Pumpenschläge ließen das Rohr erzittern. Es dröhnte metallen, und ich dachte, daß vielleicht ein paar flüsternde Worte an mich gerichtet würden - aber es war nichts zu 13
hören, was mir galt. Der Hund bellte mörderisch, und die Kette klimperte über das Pflaster. Sicherlich befand sich der Suchtrupp in der Nähe des Tieres. Die ohnehin schon mit Wasser gefüllte Wanne war durch die wenigen Pumpenschläge jetzt übergelaufen, und es tropfte nun langsam zu mir herunter in die Grube. Die Stalltür klappte. Gleich darauf wurde das Hoftor abgeschlossen, dann war alles still. Nur die letzten Tropfen Wasser klatschten ins Brunnenloch, daß es sich anhörte, als werfe jemand Pfennig- oder Groschenstücke in einen Geldbeutel. Ich atmete auf! Die Henkerschergen waren weg! Sie hatten mich bis jetzt nicht bekommen. Sie sollten mich auch nicht finden. Und ich würde alles tun, um nicht umzukommen. Das wäre ein Kämpfer gegen Hitler weniger gewesen! Und ich wollte weiterkämpfen - bis zum Sieg unserer gerechten Sache. Aber meine Befreier aus dieser Bedrängnis waren auch weg, was im Augenblick weniger tröstlich war! Ich dachte an Erich, diesen prächtigen Burschen! Vater Merker hatte mir eine Geschichte von ihm erzählt. Er war schon ein kleiner Held. Unweit der alten Mühle, am Mühlenweg, hatte ein Obstpächter, ein ehemaliger kommunistischer Kreistagsabgeordneter, sein Häuschen gehabt. So ein zweistöckiges Landhaus. Man hatte ihn als bekannten Vertreter der Arbeiterschaft ins Konzentrationslager gebracht. Erich hatte sich gut mit ihm verstanden. Nach einigen Tagen hatte die Frau den Bescheid bekommen, daß ihr Mann gestorben wäre. Gestorben aber nicht von alleine. Man hatte, wie sich herausstellte, einen Knüppel dazu benutzt, um ihn sterben zu lassen. Als die kranke Frau vom Tod ihres Mannes erfuhr, ging sie abends ans Mühlenwehr und ertränkte sich. Das kleine Anwesen nahm man einfach weg und richtete ein sogenanntes Jugendheim darin ein. Im oberen Stock nistete ein Goldfasan, ein Amtswalter, der einmal wegen Wechselfälschung und Betrug im Zuchthaus gesessen hatte, weshalb er als alter Kämpfer galt. Im Garten des gestohlenen Hauses klopften abends die Hitler jungen Griffe. Hitler brauchte doch Soldaten für seinen Raubkrieg. Natürlich durfte man den Weg nun nicht mehr nach der Mühle nennen. Er sollte in Hitler-Weg umgetauft werden. Der Malermeister des Dorfes hatte ein paar wunderschöne Schilder gemalt. Weißlackierte Pfähle wurden an den Enden des Weges eingegraben. Der Chausseearbeiter hatte sie nach Feierabend eingesetzt. Mit großem Brimborium wurde die umbenannte Straße eingeweiht. Der .kleine Rechtsanwalt' hatte an den Tagen geheimnisvoll im Schuppen hantiert. Er hatte sich gleichgroße Bretter wie die der Straßenanzeiger besorgt, hatte sie ebenfalls weiß grundiert und dann mit schwarzem Lack in gleicher Schrift Buchstaben darauf gemalt. Als alles still und ruhig war im Ort, war er hingegangen, hatte hinter die zwei Worte der Straßenschilder ein schwarzes Ausrufungszeichen gesetzt und seine kleinen bemalten Bretter unter denen der 14
Wegbezeichnung angebracht. So konnte man am andern Morgen die doppelten Straßenschilder sehen, die keine Bezeichnung der Straße mehr enthielten, sondern eine Aufforderung, eine sehr dringende Aufforderung: HITLER WEG! ABER BALD! hieß es nun. Die Entdeckung dieser Inschrift erregte mehr Widerhall als die Einweihung. Man hatte wochenlang darüber gelacht und gelästert. Natürlich hatte man auch nach den Tätern gefahndet. Und was kam dabei heraus? Nichts, denn hier hatte Erich eingegriffen. Er hatte sich nämlich der Farbenbüchse und des Pinsels entledigt und beides über den Gartenzaun des Lehrerhauses geworfen. So fand man' die belastenden Utensilien im Garten des Lehrers. Der war nun keineswegs ein Gegner der braunen Horden, aber man verfiel doch darauf, ihn zu verdächtigen. Er hatte nämlich selbst das Naziabzeichen getragen, die Kinder nach Strich und Faden verprügelt und was dererlei Heldentaten mehr waren, um als rühriges Mitglied zu gelten. Aber er hatte sich auch um das Haus des erschlagenen Kommunisten beworben. An das alles hatte Erich gedacht, als er den Verdacht der Nazikumpane auf den Lehrer lenkte. Da dieser nicht so ein großer Verbrecher war wie der Wechselfälscher, hatte man ihm die Wohnung nicht gegeben. Nun war man darauf verfallen, anzunehmen, der Lehrer habe aus Rache dafür, daß er die Wohnung nicht bekommen hatte, diese Tat begangen. Wer bei der Geheimen Staatspolizei erst einmal verdächtig war, dem mußte was geschehen. Und so geschah etwas. Man brachte den Lehrer in die Kreisstadt, behielt ihn vier Tage und vier Nächte dort. Dann kam er wieder mit einigen blauen Flecken und einer geschwollenen Oberlippe. Ich konnte sicher sein, daß man aus Erich nichts über mich herauskriegen werde. Er würde nicht verraten, daß ich im Brunnenloch sitze. Seine Eltern hatten dafür gesorgt, daß er nicht so dachte, wie es damals in der Schule gepflegt wurde. Meine Lage fing nun aber an, unerträglich zu werden. Die Luft in der Grube wurde dünn. Beim Atmen war mir, als hätte ich in der Lunge mehr Luft als im Brunnenloch. Ein starker Druck lag mir auf der Brust. Es war, als drehe sich die Erde so schnell wie ein Karussell. Bald war ich mit dem Kopf oben, bald unten. Bald lag ich schräg, bald waagerecht. Dann kamen mir die Genossen in den Sinn; wo die wohl geblieben waren, ob man sie geschnappt hatte, oder ob sie ebenfalls in einer verzwickten Lage irgendwo saßen? Es wäre schön gewesen, bald aus diesem Mauseloch herauszukommen. Jetzt wollte ich versuchen, den Deckel aus eigener Kraft in die Höhe zu heben. Wenn ich ihn wenigstens ein wenig hätte lockern können, um etwas frische 15
Luft zu bekommen. Aber es erwies sich als unmöglich. Auf dem Deckel, der selber schon einen Zentner wog, stand doch noch die Wanne voller Wasser und Disteln. Mehr als zwei Zentner würde das gesamte Gewicht ausmachen. Das w a r nicht zu bewältigen. Ja, wenn man sich mit dem Rücken gegen die Platte h ä t t e stemmen können, so hätte m a n sie vielleicht etwas gerückt. Aber ich reichte ja n u r so hoch, um mit angewinkelten Armen die Hände gegen die Decke des nassen Grabes drücken zu können. Bei der geringsten Druckbewegung gab nicht die Platte, sondern der Schlamm unter meinen Füßen nach. Ich versuchte es nun doch, drückte mich aber n u r selber in den Brei des Brunnenloches ein. Wenn wieder ein einzelner Tropfen in das Loch klatschte, hörte es sich an, als ob jemand kichere. Die Beine w a r e n schon bis halb zu den Knien hinauf naß u n d eisekalt. Auch die dauernd gebückte Haltung w a r eine Stellung, die allmählich Schmerzen in allen Gliedern erzeugte. Aber es w a r doch immer noch besser, als über dem Flusse an einem Seil zu hängen oder umgebracht zu werden wie mein Freund Schuster, den m a n e r w ü r g t hatte, oder unseren Nachbarn, den m a n so unmenschlich schlug, bis der ganze Körper blutunterlaufen w a r u n d er an der Mißhandlung starb. Noch h a t t e ich die Möglichkeit, am Leben zu bleiben. Ich überlegte, ob ich mich nicht einfach flach auf den Schlamm setzen sollte, zumal die Beine sowieso schon pitschenaß waren. Aber d a n n w ä r e der ganze Körper in Schlamm gebadet. Ich k a m zu dem E n t schluß, mich mit dem Rücken gegen die Wand des Brunnens zu drücken u n d die Füße gegen das Rohr zu stemmen. Das ging gut. Die Kälte, die der Zementring dem Rücken vermittelte, w a r jedenfalls angenehmer als die, die von unten mit viel Feuchtigkeit vermischt war. Ich saß sogar ganz bequem, und bald w ü r d e m a n sicher F r a u Merker oder Erich wieder laufen lassen. So ging es schon. Im Heu zu liegen, w ä r e allerdings bequemer. Da könnte ich jetzt schlafen nach Herzenslust. Dann h ä t t e ich, wenn sie den .Rechtsanwalt' erst morgen früh entlassen sollten, bereits vollständig ausgeschlafen. Ich könnte trocken auf den Güterzug aufspringen und in die Kreisstadt fahren und bei Lademeister Stripki vorsprechen. Um sechs Uhr morgens w ä r e ich dort. Das Leben in der Stadt w ü r d e gerade beginnen, und es fiele gar nicht auf, daß einer m e h r durch die Straßen ging, zumal ich ganz frisch rasiert war. Wie spät es n u r sein könnte? Ich fing an, das Zeitempfinden zu verlieren. Abend w a r es schon. Die Gänse schrien und schnatterten, u n d so viel Verstand h a t t e ich noch, um zu wissen, daß sie vor Hunger lärmten. Auch die Schweine grunzten und bissen sich bereits gegenseitig in die Ohren, weil sie der Meinung waren, i m m e r ein anderes h ä t t e schuld am Hunger. Aber hier trugen diesmal die b r a u n e n zweibeinigen Schweinehunde schuld am Hunger der kleinen Ferkel. 16
Mich selbst quälte der Durst. Die Stellung, mit dem Rücken gegen die Wand, mußte ich schließlich wieder aufgeben, weil Füße, Knie und Rücken furchtbar schmerzten. So kniete ich mich zur Abwechslung geradewegs in den Schlamm und ging in gebückte Stellung, indem ich mich mit der Schulter gegen das Rohr lehnte. So mußten die rebellischen Kulis im alten China auf der Straße gekniet haben, bevor ihnen die Henker, mit dem krummen Säbel, durch einen einzigen Hieb den Kopf vom Leibe trennten, weil sie gegen die ungleichen Verträge und gegen das Ausbeutertum der eigenen und fremden Mandarine waren. Der Durst plagte mich bald derart, daß ich annahm, Fieber zu haben. Es war ein Widersinn. Man saß im Brunnen und mußte verdursten. Als ich nun wieder einmal in die Hockstellung gehen wollte, stieß ich unversehens mit den Zähnen an etwas Hartes, das ich hier nicht vermutete. Der Anstoß war so heftig, daß es um mich herum ordentlich brummte. Kam der Schall aus dem Rohr oder aus meinem Kopf? Als mir eine klebrige, salzig schmeckende Flüssigkeit über die Unterlippe rieselte, wußte ich, daß es Blut war. Ich war mit den Zähnen gegen den Abstellhahn der Pumpe gestoßen. Zwar hatte ich mir die Zähne blutig gestoßen, aber es war kein Grund zur Verzweiflung, war doch der Stoß gewissermaßen die Wünschelrute zu dem ersehnten Wasserlauf gewesen, der meinem Durst zupaß kam. Ihr wißt doch auch: Um zu verhindern, daß im Winter, bei starkem Frost, der Brunnen einfriert und zerbirst, ist in dem Hohlraum an der Pumpe ein Ablaufhahn angebracht. Dieser Entleerungshahn befindet sich in der Grube oberhalb des Ventils. Er wird mit einem Vierkantschlüssel von oben her bedient. Eine halbe Umdrehung genügt, und die Eisenstange öffnet den Hahn. Das Wasser fließt aus dem Hahn in die Grube, und das ganze Pumpenrohr ist. vom Wasser entleert. Der Frost kann keinen Schaden anrichten. So war es auch hier. Ich tastete und fühlte auch bald, wie das Ding funktionierte. Hier konnte ich also Wasser zapfen. Wunderbar kühles und sauberes Wasser floß heraus, so viel, wie ich gar nicht imstande war zu schlucken. Schade nur, daß ich den Hahn nicht wieder schließen konnte. Zum Öffnen hatte er sich mit den bloßen Fingern drehen lassen. Doch schließen ließ er sich nicht. So liefen immerhin einige Eimer Wasser zu mir herunter, daß Schlamm und Morast zunahmen und der Klitsch immer weicher wurde. Aber nachdem der Durst gestillt war, schien es, als wurde alles in mir ruhig. Vielleicht war es auch nur die Müdigkeit, die sich meldete. Die Luft wurde durch den geöffneten Ablaufhahn etwas besser; da kam eine neue Nervenprobe." „Wieder Polizei?" fragte ein junger Zuhörer interessiert. 17
Stegmann schüttelte den Kopf: „Viel schlimmer", sagte er nach einer kurzen Pause. „Ein Wagen ratterte ganz hohl, daß es zu mir in meine Grabeszelle drang, und dann fühlte ich, wie der Boden erzitterte. Ein Lastauto, ein schwerer Wagen mußte es sein. Er hielt. Dann hörte ich harte Stöße, Klopfen und Poltern. Hatten meine Freunde mich verraten? Der Hund bellte wie närrisch. Kommandostimmen gellten durch die Luft. Aha, es war unverkennbar, daß Menschen über das Tor kletterten. Der Hund geiferte so heftig, daß mancher Ton von der Heiserkeit verschluckt wurde. Nagelbeschlagene Schuhe eilten hastig über das Kopfsteinpflaster. Das Hundebeilen war nur noch ein Gurgeln. Dann knallte ein Schuß und noch einer. Der Hund verstummte augenblicklich, und ich vernahm nun Lachen und abgerissene Worte. In unmittelbarer Nähe verspürte ich Schritte. Nun würden sie die Wanne wegrücken und die Platte beiseiteschieben. Höhnende Augen werden in das unterirdische Gefängnis blinzeln, und dann wird es wieder einmal oder zweimal knallen. Ob sie mich dann bei den Beinen oder an den Händen, vielleicht sogar an den Haaren aus dem Loch zögen, konnte mir gleich sein. Aber sie schoben die Platte nicht weg. Die Schweine quiekten, weil sie geweckt worden waren und nun dachten, daß das verspätete Abendbrot in den Koben gluckern würde und sie sich den Bauch ordentlich mit Schlempe vollschlagen könnten. Die Gänse schrien auch ganz närrisch, aber der Hund war still. Schritte und Kommandos ertönten. Rufe erschallten von allen Seiten des Hofes, und dann hörte ich ganz deutlich, wie jemand rief: ,1m Hause hat der Gendarm schon gesucht!' Und ganz dicht bei mir erwiderte einer: ,Wir müssen noch einmal hinein. Diese Burschen sind mit allen Hunden gehetzt! — Schüßler, bringen Sie mal die Axt aus dem Schuppen!' Gleich darauf polterten hastige Schritte über das Pflaster. Ich vernahm sogar deutlich ein Keuchen, und dann knallten mächtige Hiebe gegen die Holztür des Hauses. Der Rechtsanwalt' hatte also nicht gestanden, daß er mich in das Brunnenloch gesperrt hatte." Nun mußten sie mich selber finden. Ich achtete auf jedes Geräusch. ,Im Heu habe ich ein merkwürdiges Knistern gehört, Herr Sturmführer!' berichtete einer. Und der Sturmführer, der ganz dicht zu meinem Haupte stand, befahl mit knatternder Stimme: .Dann wird die ganze Banse leer gemacht. Kein Halm bleibt mir da oben. Schmeißen Sie alles aus der Luke hinaus. Und wenn Sie den Kerl finden, pfeffern Sie ihn gleich hinterher! Aber sorgen Sie dafür, daß er nicht so weich fällt! - Die Sau!' setzte er noch nachträglich hinzu, als er bemerkte, daß er sich zu sachlich ausgedrückt hatte. ' 18
Dann hörte ich die Stimme des Sturmführers brüllen: ,John! John, kommen Sie mal her! — Was haben Sie denn da eben eingesteckt? Wurst, was?!' ,Jawoll, Herr Sturmführer!' ,Sie elender Greifbagger, immer nur an sich denken! Daß die anderen Kameraden auch einmal eine richtige Schlackwurst von diesem elenden Schweinepriester fressen wollen, daran denken Sie nicht, was? — Sind da noch mehr Würste?' ,Jawoll, Herr Sturmführer!' ,Los, Mensch, rin in den Bau, und alles, was Wurst heißt, hier aufs Pflaster geworfen, und wehe, wenn ich ein Stück in Ihrer Tasche finde. Was gemaust wird, gehört allen, verstanden? Eine geschworene Bande hält zusammen wie Pech und Schwefel, wie Tod und Teufel, Sie häßlicher Drahtwurm! Weg!' Die Stiefel klapperten auf dem Pflaster, als sei ein wildgewordener Hengst durchgebrannt, und dann stürmte John die Treppe hinauf in die Räucherkammer, wo der Wurstvorrat hing, und alsbald kam er die Treppen wieder herunter, lief wieder hinauf und kam wieder herunter. Es konnte sein, daß mich die Würste und Speckseiten, die Schinken und Schmalztöpfe retten könnten, wenn die Burschen nachher, in der Meinung, daß sie nun alles durchsucht hätten, ans Fressen und Saufen gingen. Wenn die Horde jetzt den Inhalt der Räucherkammer erblickt, würde ihnen der Speichel im Munde zusammenlaufen wie bei Raubtieren. Sie würden alles andere vergessen und außerdem der Meinung sein, daß sie nun ihre Schuldigkeit getan hätten. Die Bande schien ihre Arbeit gründlich zu machen. Jetzt rauschte es. Unverkennbar das Geräusch, das entsteht, wenn Stroh heruntergeworfen wird. Einige Male hörte ich rufen, was sich so anhörte, als hätten sie wirklich#jemand im Stroh aufgestöbert. Es waren aber nur Eier, die sie gefunden hatten, denn der Sturmführer schrie: ,Die Eier kommen auch hierher, daß mir keiner da Sonderaktionen macht! Ich werde nachher jedem die Tischen ausstauben, und wehe, wer gegen den Gemeinschaftssinn verstoßen hat. Wir teilen alles nachher, da gibt es keine Extrawürste.'" Der junge Biehla sprang auf und sagte erregt: „Na, das waren vielleicht Strolche. Stehlen und räubern nannten sie Gemeinschaftssinn? Wenn die dich gekriegt hätten, na, weißt d u . . . " „Du wurdest aber nicht erwischt?" fragte Werner Burghardt und zog seinen Kumpel wieder zu sich ins Gras. Stegmann schmunzelte, dann fuhr er in seiner Erzählung fort: „Einmal wurde ganz laut gelacht. Sicherlich saß der Räuberhauptmann auf der Bank, die vor der Haustür gegenüber dem Brunnen stand. Dann mußte sein Gesicht unaufhörlich auf den Brunnen gerichtet sein. 19
Konnte er nicht auf den Gedanken kommen, mal unter die Zementplatte zu schauen? Die Erregung würgte mich. ,Ruhig, nur ruhig bleiben', sprach ich mir zu. Ich dachte an die Freunde - an unsern Kampf. Jetzt saßen sie oben, die braunen Horden. - Wilde Wut würden sie haben, wenn sie jetzt wieder unverrichtetersache abziehen müßten. Meine Erregung ließ nach. Wir hatten das Transparent über den Fluß gespannt - dieser Schlag war gelungen. Jetzt sollten die Nazis uns wieder spüren. Obgleich sie Hunderttausende in die KZs sperrten, zu Tode marterten, waren es viele, die Widerstand leisteten. — Sie hätten mich gefunden, wenn nicht den .Illegalen' von überall Hilfe kam; da waren der Rechtsanwalt', Frau Merker, der mutige kleine Erich . . . Die Nazis rannten gegen eine Mauer, sie sollten an ihr zerbrechen. Ma^muß, wenn man für eine Sache ist, auch etwas für sie tun. Wer für den Frieden ist, muß ihm zum Siege verhelfen. Deshalb hatten wir ja das Transparent über den Fluß gehängt. Nun, alles, was mir daraus erwuchs, mußte ich auf mich nehmen. Mir fiel die Geschichte der russischen Revolutionäre ein, und der Text eines ihrer Lieder kam mir in den Sinn. Im zaristischen Rußland hatte man Tausende von Kämpfern eingesperrt und sie in den Kellern der Kerker an die Wände angeschlossen, wo sie jahrelang schmachteten, stets von patrouillierenden Schergen bewacht. Dennoch sangen sie: ,Geht nur immer auf und nieder, ewig haltet ihr mich nicht. Kämpfend, siegend! Meine Brüder, ohoho, bringen wieder mich ans Licht.' Ein schallendes Gelächter riß mich aus meinen Gedanken, und der Anführer sagte, als ob er einen freundlich klingenden Witz machen wollte: .Mensch, du siehst ja aus wie ein polierter Neger!' Und der Angesprochene erwiderte: ,Ich habe den ganzen Kohlenschutt umgewühlt.' Jetzt sammelten sich — die Nachforschungen schienen beendet — die einzelnen Mitglieder der Horde auf dem Platz zwischen Haus und Brunnen: ,Wer war im Kuhstall?' dröhnte eine Frage. .Hier!' erscholl es. ,Stroh und Futter, alles umgewühlt?' .Jawoll, Herr Sturmführer!' .Kann der Kerl auch nirgends mehr sitzen?' .Nein, Herr Sturmführer!' Obwohl die Aktion zum größten Teil vorbei war, konnte immer noch jemand auf den Gedanken kommen, in diesem unterirdischen Kessel nachzusehen, wenn ihm bewußt wurde, daß unter dem Deckel ein Hohlraum ist. Wo sie auch noch nicht waren, das war der Gänsestall. Den ließen sie aber keineswegs aus. Das Schreien, das die Tiere 20
jetzt ertönen ließen, lassen sie nur hören, wenn Fremde sichtbar werden. Da war ja wohl nicht viel zu suchen, außer den Gänsen selbst. Und daß man einige für ihr ehrliches Schimpfen bestrafte, darüber konnte selbst mir im dunklen Brunnenloch kein Zweifel aufkommen. Sie schrien, als steckten sie bei lebendigem Leibe am Bratspieß. Worte und Lachen dröhnten und quirlten über mir herum. .Nicht doch, du kannst doch einer Gans nicht das Genick umdrehen, das ist Mord', sagte jemand kreischend. ,Den Tauben dreht man den Hals um, aber eine Gans wird gestochen. Hier oben erhält sie einen Stich in den Kopf . . . ' ,Warte mal!' mischte sich ein anderer ein. Es entstand eine kleine Pause, dann sagte jemand: ,So, siehst du.' ,Weg, weg, das Blut spritzt mir ja an die Klamotten.' Das Schreien der Männer wurde immer lauter und das der Gänse immer leiser, bis die letzte der Entführten ihr Leben ausgehaucht hatte. Nur die kleinen mit den piepsigen Stimmen ließen sich vom Stall her noch hören. Ein paarmal klirrte es auf dem Pflaster, als ob Flaschen zersprangen. Es wurde getrunken. Das war deutlich zu hören. Und dann kam es, daß das Wort .Brunnen' fiel. Ganz deutlich hatte jemand .Brunnen' gesagt. Da war kein Irrtum möglich. Ich versuchte instinktiv, mich aufzurichten. Tatsächlich schepperte es über mir. Nun wollten sie wohl die Platte wegrücken. Die Schritte hörte ich ganz deutlich auf dem Zementdeckel. Ich fand mein Taschenmesser und öffnete es. Bei der Entdeckung wollte ich mich bis zum Letzten zur Wehr setzen. Aber das Schubbern war so gleichmäßig, woran ich erkannte, daß der Kolben im Brunnenrohr auf und nieder bewegt wurde. Es pumpte also jemand. Da aber kein Wasser im Rohr war, weil ich es vorher abgelassen hatte, klang das Schaben und Kratzen der Ledermanschette wie das Röcheln eines verendenden Tieres. Jetzt trampelte mir die Bande tatsächlich, im wahrsten Sinne des Wortes, auf dem Kopf herum: ,Prost! Prost!' ertönte es oben, und das ganze Gebaren, das sich über mir abwickelte, war das von Betrunkenen. Sicherlich waren sie im Keller gewesen und hatten dort Wein gefunden. Es wurden auch Ansätze gemacht, um zu singen. Dann ertönte die Stimme des Häuptlings: .Alles fertig?' .Jawoll, Herr Sturmführer!' antwortete es aus vielen Kehlen. Dann kam das Kommando: .Hemden runter und gewaschen!' Da pumpte schon wieder einer. Aber der fast trockene Lederkolben scheuerte nur die Wand des Pumpenrohres sauber; denn Wasser war nicht drin. Jemand fluchte: .Der Saukerl hat nicht mal den Brunnen in Ordnung.' 21
Ja, nun wollten sie sich waschen, aber der Brunnen gab kein Wasser." Fritz Kramer fiel Stegmann ins Wort: „Mensch, jetzt heben die den Deckel hoch." „Ja, das dachte ich in dem Augenblick auch. Ihr könnt mir glauben, daß mir der Atem stockte - diese. Anspannung ging über die menschliche Kraft. Siehst du, Werner, deshalb sagte ich gestern: im glühenden Ofen zu liegen kann leichter zu ertragen sein als in einem Wasserfaß zu sitzen. Doch zurück zu damals. - Nein, sie hoben den Brunnendeckel nicht hoch. Aber eine andere Gefahr drohte. Ein Eimer klapperte, dann sprudelte etwas Wasser in das Rohr. Ihr kennt das ja, wenn die Lederklappe des Kolbenventils undicht ist, muß man auch immer von oben etwas Wasser hineingießen, damit die Pumpe funktioniert. Einer begann zu pumpen, als bekäme er es in Akkord bezahlt; das Wasser floß aus dem Brunnen. Weil aber der Ablaufhahn geöffnet war und sich nicht mehr schließen ließ, lief ununterbrochen Wasser zu mir herunter. Aber auch das, was oben herausgepumpt wurde, kam zu mir herein, denn alles, was sie verplemperten, rieselte zwischen dem Deckel und den Ringen des Brunnens hinab. Ununterbrochen sickerte es durch die Decke, unter der ich stand. Hörten sie oben auf zu pumpen, lief natürlich das Wasser aus dem Hahn, und sie mußten später wieder neues in den Schaft des Pumpenrohres hineingießen. Das Treiben über mir wurde immer lebhafter. Bis über die Knie stand mir schon das Wasser. Der jetzt pumpte, war wohl voll vom Fusel, und da er beweisen wollte, welch ein tüchtiger Kerl er sei, schlug er ein Tempo an, daß ich in einer Viertelstunde in der unterirdischen Zelle zu ertrinken drohte. Ununterbrochen lief Wasser aus dem Abstellhahn, und ohne Pause sickerte es am Rande hinunter. Höher und höher stieg der Wasserspiegel. Aber ich würde nicht um Hilfe rufen. Mochte ich elend ersaufen. Fanden sie mich, wären die Freunde verraten gewesen, denn dann hätte die Polizei gewußt, daß ich mit Hilfe des .Rechtsanwaltes' dort hineingekommen war. Es durfte nicht noch das Leben des .Rechtsanwaltes', vielleicht auch noch das seiner Frau kosten. Und was wäre aus dem mutigen Erich geworden? Das Wasser stand mir nun bis zum Bauch. Es konnte immer noch sein, daß sie bald aufhörten zu pumpen, und dann würde das Wasser langsam versickern. Da verstummte schon das schluchzende Geräusch der Pumpe. Aber gleich darauf ergriff ein anderer den Schwengel und bewegte ihn weiter. Der Ablöser schlug ein gemäßigteres Tempo an. Nun war schon kein trockener Faden mehr an mir. Die Schuhe waren im Schlamm steckengeblieben, als ich die Füße herausziehen wollte. Jetzt hatten sich alle gewaschen. Man hörte auf zu pumpen; nun würde auch bald die Wasserzufuhr abgeschnitten sein. Noch war also 22
Hoffnung. Wenn sie allerdings auf die Idee kämen, die große Wanne auszugießen, dann müßte ich ertrinken. Endlich ertönte das Kommando zum Abrücken. Marschtritte und Fußschlürfen wurden laut, und dann knatterte das Auto. Ununterbrochen klatschten die Wassertropfen weiter zu mir herab; auf die kleine Fläche des Meeres, das so winzig klein war, aber immer noch tief genug, einen Menschen darin zu ertränken, und den .blanken Hans', den Seemannstod, in sich barg. Es wollte und wollte nicht aufhören zu tropfen, es dauerte endlos, ehe der letzte Rest des Wassers wieder den Weg zu mir in mein enges Loch gefunden hatte." Werner Burghardt fragte mit gespanntem Gesichtsausdruck: „Wer hat dich nun rausgeholt?" „Niemand, ganz allein bin ich hinausgekommen. Aber auch das erforderte höchste Geduld. Als die Schinderknappen den Hof verlassen hatten und alles still war, wich die Angst wieder von mir, und an ihre Stelle trat mächtig der Mut zum Leben. Ich verspürte keinen Durst mehr, keinen Hunger, keine Müdigkeit. Meine einzige Überlegung war: wie komme ich jetzt heraus? Um festzustellen, wie weit die eine und wie weit die andere Hälfte des Deckels ging, tastete ich die Platte über mir ab. Mein Plan war: mit dem rechten Fuß auf den Hahn zu treten, mit dem anderen gegen die Wandung, und dann mit dem Rücken gegen die Platte zu drücken. Ich wollte dabei so viel Kraft anwenden, daß der Deckel mitsamt der wassergefüllten Wanne nachgeben würde. Ich hätte mir nun sogar gewünscht, daß die Schergen die Tonne doch ausgegossen hätten. Das würde mir jetzt die Arbeit erleichtern. Ich wollte erst einmal die eine Seite des Deckels hochheben. Mir gelang, den rechten Fuß auf den Hahn zu stellen und auch den andern aus dem Wasser zu ziehen, obwohl er sich im Schlick festgesaugt hatte. Da ich aber keine Schuhe mehr anhatte und beim Pressen gegen die Decke der ganze Druck des Fußes auf dem Hahn lag, schmerzte es sehr. Ich stieg wieder hinab, zog das über und über durchnäßte Jackett aus und wickelte es derart um den Hahn, daß es eine gute Polsterung gab. Der Stoffwulst gab sogar eine größere Widerstandsfläche ab. So konnte man sehr bequem darauftreten. Das Wasser versickerte verhältnismäßig schnell. Der untere Zementring hatte allem Anschein nach Sickerlöcher, die ein schnelles Verrinnen in die Sandschicht ermöglichten. Was einem doch alles für Kleinigkeiten zugute kommen. Ich frohlockte förmlich, als ich zum zweitenmal auf den Hahn stieg. Das ging wunderbar. Ich stemmte mich gegen die Decke, daß es förmlich knackte im Rücken. Gleich könnte ich hinaussteigen, in die Küche rennen und mich mit der Decke des Sofas abtrocknen. Irgendwelche trockenen Kleidungsstücke würde ich schon finden, und dann . . .
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Wie sehr ich aber auch den Rücken gegen den Brunnendeckel preßte, er gab nicht nach. Wahrscheinlich hatte ich gerade die Hälfte erwischt, die an dem B r u n n e n befestigt war. Die konnte ich natürlich nicht hochheben. Also stieg ich hinunter, kletterte diesmal mit dem linken F u ß auf den Hahn und versuchte, die andere Hälfte, auf d e r die Wanne stand, hochzuheben. Ich fand sogar mit dem andern F u ß einen kleinen Halt an der Zementwand, dort, wo der obere Ring auf dem u n t e r e n lag und etwas verkantet war. Jetzt preßte ich den Rücken gegen die Platte. N u n m u ß t e es sich erweisen, ob es überhaupt eine Möglichkeit gab, meine Gruft zu sprengen und in die Freiheit zu gelangen. Ich drückte, als hieße es nicht n u r den Deckel zu heben, sondern ihn auch zu zermalmen. Und siehe da die Platte hob sich. Wunderbares, schummeriges Tageslicht fiel durch den Spalt in den Brunnenschacht. Das Wasser, welches nun als Spiegel wirkte, zeichnete den Himmel ab, und der Grund des Brunnens schien unendlich tief. Dicht auf dem Rande hing ich, mit einer Zementplatte auf dem Rücken, und lief jeden Moment Gefahr, mitsamt der Platte in den tiefen Brunnen zu stürzen. Von der Wanne w a r nichts zu spüren und nichts zu sehen. Jetzt klaffte die Lücke so weit, daß ich mit der rechten Hand die K a n t e der zweiten Hälfte des Deckels greifen konnte. Ich m u ß t e jetzt eine kleine Wendung machen, um mit beiden Händen zuzupacken. Dann wollte ich den Kopf durch die Öffnung zwängen, den Deckel mit Leibeskräften wegdrücken, und so die W a n n e zum Abrutschen zwingen. Aber der Kopf war noch nicht durch die Lücke, und die Hände hatten die Oberfläche noch nicht berührt. Ach, was kann der Mensch für ein Glück im Unglück und zugleich für Pech haben! Im selben Moment, als ich die Bewegung mit Händen und Kopf vornehmen wollte, brach der Hahn unter meinen Füßen ab. Der Deckel klappte polternd zu. Ich fiel der Länge nach ins Wasser. Die angehobene Wanne schwabberte aus, und der Inhalt lief sofort zu mir h i n u n t e r in die Grube. Ich kniete im Schlamm und weinte. Nicht die starken Abschabungen am Ellenbogen, sondern die Verzweiflung trieb mir die Tränen in die Augen. So dicht vor der Rettung zu stehen, so dicht, daß ich das Leben schon greifen konnte! Ich brauchte n u r zuzupacken - da rückte mir der einzige kleine Halt unter den Füßen weg und warf mich in das Grab zurück, dem ich soeben entsteigen wollte . . . Wäre der Hahn aber n u r einen Augenblick später abgebrochen, dann hätte mir die Wucht der Platte den Hals eingeklemmt, hätte mir mit einem Schlag den Halswirbel durchschlagen, und wenn der ,Rechtsanwalt' heimgekommen wäre, hätte mein Kopf unter der Platte hervorgesehen und der Körper im Brunnen gehangen. Das w ä r e das Ende 24
gewesen. Aber jetzt lebte ich noch. Ob das noch lange dauerte, war allerdings nicht bestimmt zu sagen. Kommt jetzt nicht bald Hilfe, dachte ich - muß ich erfrieren. Aber da lief ein kleiner heller Streifen über das Wasser der Grube! Das war ein Lichtstrahl. Ein kleiner dünner Lichtstrahl fiel durch die ein wenig verschobene Zementdecke in' das Dunkel. Mein Kopf schmerzte, als wolle er zerbersten. Desgleichen der linke Ellenbogen. Ein furchtbarer Durst quälte mich. Um nicht Gefahr zu laufen, daß das Wasser gänzlich in den Schlamm einzog, neigte ich mich und schlürfte das Naß in langen Zügen ein. Es schmeckte nach Schlamm, aber der Durst wurde gestillt. Durch den Spalt hörte ich die Hähne krähen und die Peitschen knallen. In der Ferne pfiff jemand, und ein fortwährendes Pingping klang von der Schmiede herüber. Die Menschen hatten noch keinen Feierabend gemacht. Es konnte also noch nicht sehr spät sein. Ich hörte auch das Summen vorbeifahrender Autos. Gab es noch einen Ausweg für mich? Ja, ich fand noch einen Ausweg. Ich hatte plötzlich ein Werkzeug, eine Eisenstange, die an dem Abstellhahn befestigt war und von der Oberfläche bis in die Mitte des Brunnenloches gereicht hatte. Wenn sie auch kaum so dick war wie ein Kinderfinger, konnte sie allerhand Hilfe bieten. Ich setzte sie so in die Lücke zwischen den beiden Deckelhälften an, daß ich die lose Hälfte Stück für Stück damit weiterwippen konnte. Der Spalt vergrößerte sich Zentimeter um Zentimeter. Das ganze Licht des sinkenden Tages fiel in das Brunnenloch. Jetzt wurde nun aber die Stange doch zu dünn, um den schweren Deckel damit weiterzuschieben. Da kam mir aber das Licht zur Hilfe. In den unteren Zementringen wurden die Sickerlöcher sichtbar. Sie waren so groß, daß man die Eisenstange gerade hineinstecken konnte. Ich schob das Eisen in das oberste Loch des Ringes, und schon war die Leiter fertig. Von dieser Stufe aus war es eine Kleinigkeit, den Körper in den Spalt zu zwängen. Erstaunlich schien mir, durch was für ein kleines Loch man hindurchkriechen kann, wenn es gilt, dem Tode zu entrinnen. Ich war draußen . . . ! Das erste, was ich auf dem nun in Dämmerlicht gehüllten Hof sah, war der tote Hund, der flach auf dem Pflaster lag. Die Blutspuren der geschlachteten Gänse glänzten auf den Steinen. Glasscherben lagen herum, und ich mußte mich vorsehen, um nicht mit den nackten Füßen hineinzutreten. Die triefende Hose zog ich aus und legte sie auf die Bank, wo vorher der Sturmführer gesessen hatte. Dann schritt ich, zitternd, nur mit Hemd und Strümpfen bekleidet, ins Haus, denn Jacke und Schuhe lagen ja im Schlamm. 25
Nun wollte ich mich abtrocknen und nach Kleidern Umschau halten. Als ich in die Küche trat, fiel mein Blick auf ein braunes Käppi auf dem Tisch. Daneben lag eine Pistole im Futteral, an einem breiten Riemen befestigt. Die Katze, die mir nachmittags auf der Brust gesessen hatte, sprang, als sie meiner ansichtig wurde, wieder auf das Sofa. Aber nach dem Sprung des Tieres erhob sich auf derselben Stelle, an der ich gelegen hatte, ein Mann im braunen Hemd der Hitlerschen Schergen. Der Tisch hatte ihn mir verdeckt. Seine Augen sahen verschlafen aus, die Haare waren zerzaust. Blitzschnell schoß es mir durch den Kopf; man hat eine Wache hiergelassen. Der Mann mußte tief geschlafen haben, und es schien, als glaubte er noch zu träumen, als er mich, einen zitternden, nur mit einem Hemd bekleideten Mann, vor sich sah. Das gab mir Zeit, an den Tisch zu springen, die Pistole zu ergreifen, sie blitzschnell aus dem Futteral zu ziehen und zu sagen: ,Bewegst du nur ein einziges Haar, schieß ich dich nieder.' Der Mann war verblüfft und sah sich nach der Wand, um, wo ein Fenster war. Ich hatte den Sicherungshebel der Waffe zurückgeschoben und richtete den Pistolenlauf auf ihn: .Beweg dich nicht, oder du bist eine Leiche!' zischelte ich ihn an. Er blieb regungslos sitzen. Es war ein hübscher Kerl in eurem Alter, wenn er nur nicht diese scheußliche Mörderuniform angehabt hätte. Was sollte ich tun? Es ging um Leben oder Tod, sollte ich hier den Wächter spielen, bis der Rechtsanwalt' nach Hause kam? Ich war halb nackend. Hätte ich Kleider gehabt, hätte ich den Mann in den Schweinestall sperren und zum Bahndamm laufen können. Da das Fenster am Sofa zur Straße hinaus ging, zwang ich den Mann, sich niederzulegen, damit er nicht, wenn jemand sichtbar würde, anfing zu schreien. Da kam mir die Idee, ihn in das Brunnenloch zu sperren, einen Zettel auf den Tisch zu legen, damit ihn der ablösende Posten befreien könne. Inzwischen wollte ich mir Bekleidung suchen. Aber dann überlegte ich, daß das wohl schwerfallen würde, denn der .Rechtsanwalt' war ein kleiner Mann, und ich hatte immerhin eine Länge von einhundertsiebzig Zentimetern. Plötzlich sagte der Mann: .Wenn Sie mir die Pistole wegnehmen, bin ich erledigt.' ,Wer sagt wegnehmen?' erwiderte ich. ,Das Ding will ich nicht behalten. Ich werde es in einen Teich werfen, wenn ich weg bin.' ,Ich werde eingesperrt, wenn die Waffe nicht herbeikommt', jammerte er. ,Tut mir leid', sagte ich. .Einer von uns beiden muß nun wohl daran glauben.' Als der Mann das hörte, richtete er sich halb auf und machte ein ängstliches Gesicht. Ich zwang ihn, sich wieder niederzulegen und fragte: .Wann wirst du abgelöst?' 26
,Sowie meine Schwester kommt, gehe ich', sagte er fast weinerlich. ,Meiner Schwester gehört nämlich das Grundstück, und sie sitzt mit ihrem Manne und ihrem Jungen in der Gendarmerie. Ich war dort, um mir einen Dienstplan zu holen, und da hat sie gesagt, ich solle nach Hause gehen und so lange warten, bis sie wiederkomme.' So stand also die Sache. Es war gar kein zurückgelassener Posten. Na, dann gut Glück. ,Haben Sie in der Jauchtonne gesessen, als die Haussuchung war?' fragte er jetzt. ,Ja, in der Jauchtonne. Und sag mir mal, was machst du jetzt, wenn ich sage: Scher dich zum Teufel?' ,Na, was soll ich da machen? Bloß, wenn ich die Waffe nicht habe, dann sperren sie mich ein. Was soll ich denn sagen, wo ich sie habe?' ,Sie sind also der Bruder von Frau Merker?' schlug ich jetzt einen anderen TÜm an. ,Ja.' ,Haben Sie auch die Haussuchung mitgemacht?' ,Nein, die waren extra aus der Kreisstadt gekommen!' .Wissen Sie, ich biete Ihnen einen Tausch an. Holen Sie mir Hose, Stiefel, ein Hemd und einen Rock, dann kriegen Sie die Waffe von mir wieder.' Er sprang sofort auf, um zu gehen. ,Einen Augenblick', sagte ich. .Werden Sie auch nicht zur Polizei gehen?' ,Nein, Sie haben mir ja nichts getan. Ich will doch nur meine Pistole wiederhaben. Ich hole von zu Hause eine Hose, Strümpfe, Schuhe, Hemd, Jacke und Schlips; aber meine Pistole muß ich wiederhaben, sonst geht's mir dreckig.' ,Gut, Kamerad', wurde ich jetzt ganz vertraulich. ,Ich will dich nicht ins Unglück stürzen wegen der Mordwaffe. Aber du wirst hingehen und sagen, der Gesuchte saß in der Jauchtonne meines Schwagers, und jetzt sitzt er nackend in der Küche.' Er schüttelte den Kopf. Ich zeigte die Waffe, ganz fest auf ihn gerichtet, und fragte: .Hast du schon mal damit geschossen, Kamerad?' .Nein, ich traue mich nicht.' Ganz klar war ich mir nicht, was ich machen sollte. Ließ ich ihn laufen, damit er mir die Kleidung hole, überlegte er es sich vielleicht doch und ging zur Gendarmerie - mich preiszugeben. Und dann, dann würden sie suchen, selbst das Gewürzschränkchen und den Schuhputzkasten umkrempeln - und mich finden. Noch unschlüssig, was ich tun sollte, sah ich durch das Fenster die unverkennbare Gestalt des .Rechtsanwalts' mit seiner Frau kommen. Der Junge war nicht dabei. Der SA-Mann atmete erleichtert auf, als nun seine Rettung nahte. Es war auch meine. 27
Der .Rechtsanwalt' lachte aus voller Kehle; als er in die Küche trat. Ich stand im Hemd an den Ofen gelehnt, hatte die Pistole in der Hand, und sein Schwager saß uniformiert auf dem Sofa, den Bauch voller Angst Ein kurzer Bericht genügte, und der ,Rechtsanwalt' sagte zu seinem Schwager: ,Jetzt gehst du nach Hause, holst alles, und wenn du wiederkommst, müssen wir den Mann wegbringen. Geh gleich durch den Schmiedegarten.' Ich gab ihm die Pistole, er schnallte um und entf ernte sich, um mir Kleidung zu holen. Die Frau erzählte, daß ihr Bruder sich geweigert habe, Mitglied der SA zu werden, daß ihm aber der Schmied so lange zugesetzt hätte, bis er sich doch entschloß, in die örtliche Organisation einzutreten. Ich sollte nun die Nacht im Heu verbringen. Das heißt, wir mußten es erst auf den Boden schaffen, aber man konnte ja auch draußen schlafen. Da kam plötzlich Erich angerannt. Wie am Nachmittag'meldete er: .Vater, drei Mann in Uniform im Anmarsch.' Da bogen sie auch schon um die Ecke. Es waren drei Hünen. Darauf stieg ich das zweitemal in das Brunnenloch. Als sie den Hof betraten, pumpte der .Rechtsanwalt' gerade wieder, aber es kam kein Tropfen. Diesmal bellte kein Hund, als die Männer kamen. ,Ist Kurt hier, Herr Merker?' I ,Der war hier, ist eben weggegangen, nach Hause.' ,Wir haben nämlich Geländedienst, die Gegend absuchen, nach einem Illegalen', klang es zu mir hinunter. Und die Stimme des Rechtsanwaltes' ertönte: ,Erich! Erich, lauf doch mal schnell zu Onkel Kurt und sage ihm, seine drei Kameraden warten hier. Er soll sofort herkommen. Lauf gleich durch den Schmiedegarten.' Diesmal brauchte ich nicht so lange zu warten. Die Klappe zum Brunnenloch hob sich bald. Für den Abend hatte ich Ruhe, suchten sie mich doch nun in der Umgebung, in den Büschen und den anderen Dörfern. Die Kleider des Schmiedegesellen paßten mir großartig." Stegmann erhob sich. Die Jungen sagten: „Erzähl doch weiter." „Wie bist du denn weggekommen?" „Mann, das war ein Ding." „Ein andermal", versprach Stegmann und strich sich die Grashalme von den Kleidern. „Ich muß noch in eine Sitzung, in eine Parteisitzung, ins Werk." Werner Burghardt stand an seinem Ofen, regelte die Kohlen- und Luftzufuhr und stocherte in der Glut, wenn es notwendig war. Er dachte an den Brigadier Stegmann, an die Geschichte, die er ihnen gestern erzählt hatte, und auch daran, daß er in den glühenden Ofen 28
stieg. Weil sich gerade Fritz Kramer näherte, sagte Werner: „Das ist ein Kerl, unser Brigadier, der Genosse Stegmann, immer weiß er einen Ausweg." Kramer antwortete: „Ja, von dem kann man noch viel lernen." „Das will ich auch", betonte Werner. „Dich möchte ich sehen, wenn du in einem Brunnenloch sitzen würdest", spöttelte Fritz. „Aber in den Ofen krieche ich noch allemal..." Fritz Kramer lachte, als ob er es nicht glauben wolle. Die Signalanlage brummte dreimal kurz, das Rufzeichen für die Heizer. Der stellvertretende Brigadier Kunze ging zum Apparat, nahm den Hörer und sprach hinein. Er kratzte sich hinter dem Ohr. Als er wieder angehängt hatte, lenkte er seinen Blick prüfend zum Standanzeiger, dann ging er zu den Heizern und sagte: „Jungs, gießt Öl in die Lampen, in Zschornewitz fällt eine Turbine aus, wir müssen ab zwölf Uhr die Spitze übernehmen." „O weh", meinte Biehla vom Ofen vier, „meine Räucherkammer hat einen Riß. Er wird immer länger. Wenn da man nicht zuviel Puste aus dem Schornstein fliegt." Werner Burghardt machte große Augen und sagte, als ob er einen Spaß mache: „Reiß das Feuer raus, ich krieche hinein und verpflastere die kleine Schramme." Genau so hatte das gestern Stegmann gesagt. Alle sahen sich verdutzt an, und an ihren Bewegungen war zu erkennen, daß sie das, was Burghardt gesagt hatte, nicht für ernst nahmen. Doch bald lohte die Flamme vom Ofen vier nicht mehr in der Buchse, sondern vor der Tür der Feuerung. Es zischte und qualmte. Asche und Schlacke wurden weggeschippt und das Gebläse eingestellt. Bohle und Bottich wurden hergeschleppt und auch die elektrische Lampe. Werner kroch, naß wie eine Wasserratte, in den Ofen. Er dachte an Stegmann und daran, wie der Brigadier im Wasserloch des Brunnens gesessen hatte und nicht heraus konnte, weil man ihn sonst umgebracht hätte. — Man müßte auch so sein wie Stegmann, ging es dem jungen Heizer durch den Kopf. Sein Freund Fritz Kramer gab ihm die L,ampe hinein. Als er auf der Bohle lag und in der Höllenhitze den Schlamm in den Riß warf, war ihm, also ob er aus tausend glühenden Schnauzen angeblasen wurde. Die Kameraden ließen ihn nicht aus den Augen, um zur Hand zu sein, wenn er sie brauchte. Plötzlich wurde es dem jungen Heizer trocken und eng im Halse. Rote und blaue Kreise drehten sich vor seinen Augen. Die Kollegen zogen ihn mit der Bohle heraus, die Kreise wurden grün, grau und dann schwarz. Gleich darauf rieselte feiner Wasserstaub über den Leib des jungen Helden. „Es riecht nach gebratener Gans", meinte Biehla lächelnd. „Die Haare sind ihm versengt", stellte Fritz Kramer fest. 29
„Das Käppi ist mir vom Kopf gefallen", meinte Werner und schaute, wie gestern sein Vorbild, zur Skala hinauf. „Nimmst meins, Werner", sagte Kunze und stülpte dem mutigen Jungen sein schmieriggrünes Käppi über die angesengten Haare. Er fügte noch, als hätte er es fast vergessen, hinzu: „Wenn du es dicht kriegst, haben wir in zwei Stunden soviel Kraft, daß sie uns aus den Ohren läuft." Das klang deutlich wie ein Lob. Werner hatte bei diesen Worten das Gefühl, als hebe er sich leicht wie ein Vogel in die Höhe: „Das wäre gelacht", bemerkte er, „wenn wir die Spitze nicht halten könnten. Nicht eine einzige Maschine soll stillstehen. Jede Lampe, jede Funzel soll brennen." Es klang, als habe er schon ein dutzendmal im Ofen gesessen. Dreimal war er hineingekrochen, dreimal hatten ihn die Kollegen wieder herausgeholt aus der glühendheißen Hölle. Aber dann war das Werk vollbracht. Gegen zehn Uhr stieg bereits die Säule der Skala, und zwei Stunden später stand sie weit über dem Punkt, der das Spitzenquantum anzeigte. Werner war sehr stolz auf sein Werk und die Kollegen auch. Zum Feierabend gingen die drei jungen Heizer, Werner Burghardt, Fritz Kramer und Heinz Biehla den Wiesenpfad entlang heimwärts. Stegmann lag wieder, in sein Buch vertieft, im Gras. Erfreut umringten ihn die Jungen und berichteten von Werners Tat. Der Brigadier bestand darauf, daß Werner schildere, wie er in den Ofen gekrochen sei und waö er sich dabei gedacht habe. Die Augen des Jungen leuchteten, als er beschrieb, was er empfunden hatte, als er in dem sengendheißen Ofen lag. Zum Schluß sagte er: „Als ich dann raus stieg, war mir ganz leicht. Es war so, als hätte ich tagelang gehungert, und nun war mir der Magen gefüllt. Als nachher die Skala stieg, wurde mir ganz froh ums Herz. Es soll uns doch keiner nachreden, daß wir versagt haben." Bevor die Jungen nach der Erzählung ihren Weg fortsetzten, sagte der Brigadier, und Freude klang aus seinen Worten: „Sehr schön, Jungs, immer aufpassen bei eurer Arbeit. Es ist ja ein volkseigener, euer eigener Betrieb. Nun kommt es auch noch darauf an, ihn zu verbessern, ihn zu schützen. Ihr braucht euch deshalb nicht in ein Brunnenloch zu verkriechen, weil ihr wollt, daß alles in Frieden und mit Fleiß gedeiht. In der nächsten Woche werden unsere Öfen generalüberholt, und ihr sollt sehen, wieviel Strom wir den Menschen unserer Republik geben werden, allen denen, die ihn brauchen." „Glück auf!" riefen die Jungen „Glück auf!" gab Stegmann zurück. Er sah den jungen Freunden seiner Brigade nach, bis sie um einen Erlenbusch gebogen waren. Die 30
Jungen sangen, und das „Lied der schwarzen Brüder" klang zu Walter Stegmann hinüber. Der Wind trug die letzten Verse deutlich her; „Wir haben's gewagt, die Räuber verjagt, auf daß sie nie kehren wieder. Aus Rauch und Ruß klingt froh der Gruß: Glück auf! Ihr schwarzen Brüderl Nun im eigenen Schacht bei Tag und bei Nacht, dröhnt fröhlich wie Freiheitslieder der Hauen Schlag, das Lied vom Tag: Glück auf! Ihr schwarzen Brüder!" Stegmann dachte: Es hat sich doch gelohnt, daß man in den Jahren der Verfolgungen und Martern durchgehalten hat, wenn man jetzt sieht, daß unsere Jungen für sich und für uns alle arbeiten, nicht mehr für die Konzerne und Kriegemacher. Sein Blick fiel wieder auf die rote Fahne, die über dem Dach des Werkes als flammendes Fanal der schönen Zukunft wehte.
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o e i t Jahren fährt Willi Steinhrink als üecksiiiann auf dem Fischkutter seines Vaters, und seit Jahren muß er sich dessen Räsonieren und Kommandieren anhören. Aber Willi fühlt sich alt genug, um selbständig zu werden. Wie kann er aber selbst Kutterführer werden ? Liebe Jungen und Mädel! Sicherlich wollt Ihr gern die Entwicklung dieses jungen Menschen weiterverfolgen.
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Er schildert ferner, wie groll die Schwierigkeiten sind, mit denen die junge volkseigene Fischerei zu kämpfen hat, wie schwer und verantwortungsvoll die Arbeit auf See ist und wieviel Freude sie trotzdem den Fischern bereitet. DIESES WERK WURDE MIT EINEM I. PREIS AUSGEZEICHNET
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