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Anja Lobenstein-Reichmann Houston Stewart Chamberlain Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung
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Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
95
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Anja Lobenstein-Reichmann
Houston Stewart Chamberlain Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung Eine sprach-, diskursund ideologiegeschichtliche Analyse
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020957-0 ISSN 1861-5651 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Zu einem Christlichem hertzen pertinet, ut sit gratum, non solum ad deum praecipue, sed etiam gegen leuten. Luther, WA 45, 195, 1-2.
Bücher entstehen selten im stillen Kämmerchen eines einzelnen Autors. Sie sind in der Regel das Ergebnis eines langen und regen Gedankenaustauschs mit vielen anderen Menschen. Dies gilt auch für dieses Buch. Oft waren es die Gespräche am Rande, die Nebensätze in anderen Themenkonstellationen, die plötzlichen Aufschluss für die eigenen Fragen gebracht haben. Nicht jedem dieser Gesprächspartner kann an dieser Stelle in nötigem Maße gedankt werden. Einige wenige jedoch möchte ich nennen. Von herausragender Bedeutung war vor allem Peter von Polenz. Er hat meine Arbeit immer mit konstruktivem Interesse begleitet und war schließlich auch einer der ersten Leser des hier vorgelegten Buches. Von seiner kritischen Lektüre habe ich maßgeblich profitieren können, ganz abgesehen davon, dass seine "Deutsche Satzsemantik" und seine dreibändige Sprachgeschichte immer noch ein Erlebnis für mich sind und grundlegend für diese Arbeit waren. Peter von Polenz' Art Sprachgeschichte weniger als Laut- und Formengeschichte zu betreiben wie als Geschichte handelnder Menschen hat mir in fachlicher wie in fachprogrammatischer Hinsicht manche Wege gewiesen. – Tief verbunden bin ich auch wieder Andreas Gardt, der nun schon das zweite Mal die Last der frühen Lektüre einer meiner Schriften auf sich genommen hat. Den anderen Herausgebern, Stefan Sonderegger, Christa Dürscheid, Oskar Reichmann, sowie dem Verlag Walter de Gruyter danke ich ebenfalls für die Aufnahme in die Reihe Studia linguistica germanica. Den Habilitationsgutachtern an der Universität Trier, Rainer Wimmer, Ulrich Püschel, Herbert Uerlings, Hartmut Reinhart und Andreas Gestrich (Deutsches Historisches Institut, London), bin ich zu großem Dank verpflichtet. Die Jahre an der Universität Trier waren in vielerlei Hinsicht gute Jahre. Sie brachten mir den interdisziplinären Austausch mit Herbert Uerlings, viele fruchtbare Fachgespräche mit Ulrich Püschel und Rainer Wimmer. Speziellen Dank schulde ich Ulrich Püschel und seiner Frau, Marlene Faber: Sie beide haben meine Trierer Jahre zu der schönen Zeit gemacht, die sie für mich war.
VI Vorwort
Dass ich dieses Buch schreiben konnte, ist zum einen deswegen möglich geworden, weil mich die Direktoren des Instituts für deutsche Sprache, Gerhard Stickel und Ludwig Eichinger, dankenswerter Weise von 2002 bis 2008 beurlaubt haben und vor allem weil Rainer Wimmer mir in Trier die Möglichkeit zur Habilitation gegeben hat. Seine warmherzigkritische Art, die Welt und alles, was diese zusammenhält, zu betrachten, seine fachliche Kompetenz und sprachkritische Brillanz, aber auch seine Fähigkeit, mich immer zur rechten Zeit aufzumuntern, sind mir zum bleibenden 'Bildungs'erlebnis geworden. Ohne meinen Mann jedoch, den jahrelangen kommunikativen Austausch mit ihm, ohne seinen fachlichen Rat, vor allem aber ohne seine Bereitschaft, eine zeitaufwendige Korrektur zu übernehmen, wäre dieses Buch nicht das, was es jetzt ist. Ihm sei es gewidmet.
Inhaltsverzeichnis 0. Vorwort .................................................................................................... I. Einleitung...................................................................................................
V 1
II. Houston Stewart Chamberlain ............................................................. 1. Chamberlains Wirkungsgeschichte ................................................. 2. Historiographische Würdigung Chamberlains .............................. 3. Das deutsche Bildungsbürgertum oder Chamberlains Adressaten........................................................
10 35 39
III. Der sprachwissenschaftliche Ansatz.................................................. 1. Zur Sprachlichen (Re-)Konstruktion von Weltanschauung: Theoretische Prämissen .................................................................... 2. Zur Sprachlichen (Re-)Konstruktion von Weltanschauung: Methoden ............................................................................................ 2. 1. Corpus und Exzerption............................................................. 2. 2. Lexikographische Textanalyse.................................................. 2. 3. Aufbau der Wortartikel.............................................................. 2. 4. Vom Begriff zum Diskurs.........................................................
58
43
58 65 69 70 74 77
IV. Das Menschenbild bei Houston Stewart Chamberlain................... 1. Zum Wort Menschenbild und damit zur Relevanz des Gegenstandes...................................................................................... 2. Das Wort Mensch bei Houston Stewart Chamberlain................... 3. Der Artikel Mensch, die lexikalsemantischen Ergebnisse ............. 4. Die Verortung des Menschen.......................................................... 5. Die Essenz des Menschlichen.......................................................... 6. Onomasiologische Vernetzung, Prädizierung und die Folgen ... 7. Zusammenfassung und Weiterungen .............................................
79 79 86 91 93 94 97 102
V. Die Wortbildungen mit Mensch bei Houston Stewart Chamberlain ......................................................
105
VI. Rasse als Essenz des Menschlichen.....................................................
113
Inhaltsverzeichnis
VIII
VII. Das Wortfeld 'Mensch' ....................................................................... 1. Persönlichkeit ......................................................................................... 1. 1. Exkurs: Jesus Christus und andere Persönlichkeiten der Weltgeschichte ................... 2. Genie...................................................................................................... 3. Held....................................................................................................... 4. Individuum............................................................................................. 5. Der Künstler und die Kunstreligion.................................................. 6. Der Germane – der Liebling der Götter oder die Annäherung an einen alten „homo novus“ ................... 7. Der Arier.............................................................................................. 8. Der Semit und die „Judenfrage“....................................................... 8. 1. Pseudo-Ethnogenetische Argumentationen........................... 8. 2. Die „Judenfrage“ ........................................................................ 8. 3. Konsanguinität oder der Topos von der reinen jüdischen Rasse............................................................................................. 8. 4. Kongenialität oder die Aberkennung von Moralität und Sittlichkeit .......... 8. 5. Die Religionsfrage ...................................................................... 9. Der neu zu schaffende Mensch – das Symptom einer Epoche?
124 125 130 138 142 147 154 163 175 186 191 193 195 200 208 217
VIII. Ideologiewortschatz........................................................................... 222 1. Kennzeichen des Ideologiewortschatzes ....................................... 222 2. Ideologiewörter .................................................................................. 227 2. 1. Entartung und Degeneration .......................................................... 227 2. 2. Leben.............................................................................................. 233 2. 2. 1. Leben und Wissenschaft......................................................... 239 2. 2. 1. Leben und Religion.................................................................. 241 2. 3. Kraft............................................................................................... 247 2. 4. Wille............................................................................................... 252 2. 4. 1. Chamberlains Instrumentalisierung von 'Wille' bei M. Luther .......................................................................... 254 2. 4. 2. Chamberlains Instrumentalisierung von 'Wille' bei I. Kant................................................................................ 258 2. 4. 3. Chamberlains Instrumentalisierung von 'Wille' bei A. Schopenhauer..................................................................... 263 2. 5. Führer............................................................................................. 269 2. 6. Sozialismus..................................................................................... 273 2. 7. Liberalismus und das Prinzip der 'Gleichheit' .......................... 276 2. 8. „Neger“.......................................................................................... 281
Inhaltsverzeichnis
IX
3. Chamberlains Ideologiemetaphern ................................................. 284 3. 1. Eine kurze Einführung .............................................................. 284 3. 2. Chamberlains Metapherngebrauch .......................................... 289 3. 2. 1. Körpermetaphorik oder der „organische Rassenzusammenhang“............................. 294 3. 2. 2. Pflanzenmetaphorik und das „Absterben in der Knospe“ .................................. 300 3. 2. 3. Tiervergleich und Tiermetaphorik oder von Rebläusen und Schlangen.................................... 304 3. 2. 4. Sinnesmetaphorik und Weltanschauung............................. 310 3. 2. 5. Blutmetaphorik oder die ererbte Schuld............................. 325 3. 2. 6. Lichtmetaphorik und die Epiphanie der Germanen......... 328 3. 2. 7. Das Chaos und das antinationale Prinzip........................... 338 3. 2. 8. Schlaf- und Erweckungsmetaphorik? Oder: Deutschland erwache! ...................................................... 343 3. 2. 9. Kampfmetaphorik ................................................................. 351 3. 2. 10. Pathologisierende Metaphorik: Krankheit und Tod....... 354 3. 2. 11. Die Wiedergeburt................................................................. 356 3. 2. 12. Katastrophenmetaphorik .................................................... 357 3. 2. 13. Reinheitsmetaphorik............................................................ 360 4. Zwischenfazit ..................................................................................... 363 IX. Von der Satzsemantik zur Textpragmatik......................................... 365 1. Rassenindividualität und Völkerchaos – Gattungstypisierende Kollektivierung oder die Entindividualisierung des Menschen .. 365 1. 1. Der kollektive Singular – eine sprachliche Form zur Stigmatisierung ............................. 369 1. 2. Kollektivierung durch Sprache................................................. 381 1. 3. dem deutschen Leser -Pronominale Handlungsrollen oder das inkludierende Wir 385 2. wo der Mensch zum Bewusstsein freischöpferischer Kraft erwacht –Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen bezüglich des Wortes Mensch in den Schriften Chamberlains..... 398 2. 1. Der propositionale Akt.............................................................. 398 2. 2. Präsuppositionen ........................................................................ 399 2. 3. Beispielanalysen .......................................................................... 413 2. 4. Existenzpräsuppositionen ......................................................... 421 3. wird wohl kaum jemand zu leugnen sich vermessen – Metakommunikative Legitimationsfiguren und Sprechereinstellungen................................................................ 426 4. Jünger der wahren Meister unseres Geschlechtes – Chamberlains geschichtsphilosophisches Erbauungsschrifttum......................... 431
Inhaltsverzeichnis
X
X. Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung – Eine kommunikations- und diskursgeschichtliche Analyse.............. 437 1. Der Diskursbegriff, ein theoretischer Exkurs ............................... 437 1. 1. Einführende Bemerkungen ..................................................... 442 1. 1. 1. Diskursive Linien .................................................................. 446 1. 2. Diskurstypen ............................................................................. 449 1. 3. Der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott, zu Natur, Kultur und Gesellschaft. ........................ 453 1. 4. Die neue Weltanschauung in ihren diskursiven Traditionen ............................................. 457 2. Der religiöse Diskurs......................................................................... 462 2. 1. Die Reformation der Reformation – auf der Suche nach einer neuen Religion ............................ 462 2. 2. Das Germanische Christentum – eine besondere Form des Antisemitismus ............................. 465 2. 3. Paul de Lagarde, ein Kritiker der zeitgenössischen Theologie und Vorläufer Chamberlains ..................................................... 473 2. 4. Ernst Bergmanns 25 Thesen der Deutschreligion. ............... 480 2. 5. Chamberlains Ethik.................................................................... 484 3. Der biologistische Menschenbilddiskurs: Der Darwinismus...... 488 4. Joseph Arthur Graf von Gobineau................................................. 499 4. 1. Rasse bei Gobineau ..................................................................... 502 4. 2. Dehumanisierung und Vergöttlichung.................................... 505 4. 3. Der Verfall................................................................................... 512 4. 4. Chamberlain und Gobineau...................................................... 513 5. Der Kulturdiskurs: Bildungsreligion und Kulturkritik................. 517 5. 1. Der Menschenbildungsdiskurs ................................................. 517 5. 2. Johann Wolfgang Goethe: der Prometheus oder das faustische Prinzip.......................... 522 5. 3. Schopenhauers Pessimismus und Chamberlains Utopie...... 526 5. 3. 1. Schopenhauer als Erzieher.................................................... 526 5. 3. 2. Schopenhauer und Chamberlain.......................................... 533 5. 4. Friedrich Nietzsche .................................................................... 538 6. Richard Wagner.................................................................................. 548 6. 1. Richard Wagner und sein Kreis................................................ 548 6. 2. Der „Großideologe“ Wagner: vom Antisemitismus zur Kunstreligion.................................. 551 6. 3. Die Krankheit der modernen Zivilisation .............................. 554 6. 4. Das Menschenbild und die Kunst ........................................... 558 6. 5. Menschenbild und Judentum.................................................... 560 6. 5. 1. Die Heilsutopie: Erlösungsantisemitismus......................... 562
Inhaltsverzeichnis
XI
6. 6. Wagner und Chamberlain.......................................................... 571 6. 6. 1. Wagners Einfluss auf Chamberlain ..................................... 571 6. 6. 1. 1. Exkurs: Die Praeger-Affäre.............................................. 578 6. 6. 1. 2. Chamberlains Wagnerbiographie .................................... 580 6. 7. Der Bayreuther Kreis oder die tanzenden Derwische.......... 583 6. 8. Richard Wagner und Adolf Hitler – keine ganz gewöhnliche Rezeptionsgeschichte .................... 597 7. Die Lebensreform.............................................................................. 604 8. Georg Schott oder das Hochziel arisch-germanischer Kultur............... 610 9. Chamberlain und die nationalsozialistischen Folgen ................... 613 9. 1. Chamberlain und Hitler............................................................. 613 9. 2. Hitlers Arier – das höchste Ebenbild des Herrn............................ 620 9. 3. Rassismus und Menschenbild................................................... 629 9. 4. Die Stigmatisierung und Dehumanisierung der Juden ......... 632 9. 5. Metaphorik der Dehumanisierung .......................................... 638 9. 6. Utopie: Sakralisierung und Vergöttlichung des Ariers oder: Hitlers höheres Menschentum.......................................................... 645 10. Chamberlain und seine diskursive Tradition – ein Fazit ........... 654 XI.Houston Stewart Chamberlain – oder: „Das Scheitern der interpretierenden Klasse“......................................... XII. Literaturverzeichnis ............................................................................ 1. Chamberlains Schriften..................................................................... 1. 1. Alphabetisch geordnete Liste der in dieser Untersuchung eingeführten Werkabkürzungen................................................... 2. Zeitgenössische, konservative und völkische Schriften............... 3. Literarische Quellen und wissenschaftliche Literatur ................
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I. Einleitung In den zahlreichen Diskussionen, die es seit 1945 zum Thema Nationalsozialismus gegeben hat, wurde eine Frage besonders häufig aufgeworfen: Wie konnte es geschehen, dass im Land der Dichter und Denker humanistisch gebildete Menschen einem Anstreicher1 wie Hitler gefolgt sind, dass sie ihn in großer Zahl gewählt haben und nicht nur mit diesem einen Akt erheblichen Anteil an seinen Verbrechen hatten? Abgesehen von dem in solchen Argumentationen mitschwingenden Bildungschauvinismus, der in den Präsuppositionen besteht, gebildete Menschen seien letztlich politisch klüger und deshalb auch weniger verbrechensanfällig als nicht gebildete, ist diese Frage durchaus berechtigt. Denn aus der Perspektive der Nachgeborenen2 ist weder der Nationalsozialismus verstehbar noch die Begeisterung seiner Anhänger. Eine zentrale Aufgabe der vorliegenden Arbeit besteht nun darin, auf der Basis des idiolektalen Corpus der Texte Houston Stewart Chamberlains zu zeigen, dass gerade das Bildungsbürgertum durch seinen latenten Antisemitismus, seinen in der Regel offen vorgetragenen Nationalismus, seine Verkehrung aller Dogmen der christlichen Religion und besonders durch seinen die eigene Identität prägenden Kulturchauvinismus (mit den Identifikationszentren 'Künstlertum', 'Schöpfertum', 'geistige Freiheit', 'Idealismus') schon lange vor Hitler auf eine Weltanschauung vom Zuschnitt des Nationalsozialismus vorbereitet war. Diese Vorbereitung und die ihr zugrunde gelegten Wünsche machten es dem Bildungsbürgertum leicht, moralische Bedenken gegen Hitler zur Seite zu schieben. Chamberlains Adressaten waren genau diese Bildungsbürger bzw. all diejenigen, die sich als solche verstanden. In der spezifischen Aufteilung Pierre Bourdieus bilden sie eine distinktive Klasse in der Gesellschaft, die durch einen bestimmten Habitus gekennzeichnet ist. H.-U. Wehler (1998, 30) beschreibt Habitus als "Gelenkkonzept, als einen Scharnierbegriff, der Lage und Handeln verknüpfen, sozioökonomische Klassenpositionen und soziale Praktiken einerseits, kulturelle Sinndeutung, Symbolkonstruktion, Weltbild andererseits gemäß der Doppelnatur der sozialen Welt miteinan_____________ 1 2
So die Bezeichnung Bert Brechts für Adolf Hitler in vielen Gedichten, z.B. im "Lied vom Anstreicher Hitler". In: Brecht, Gedichte 1981, 441. Brecht, An die Nachgeborenen. In: Gedichte 1981, 722.
2 Einleitung
der vermitteln soll. Habitus – das ist dann die Summe aller verinnerlichten Dispositionen, die Verhalten, Denken, Wahrnehmung und Emotionen, Mimik und Gestik, Sprache und Augensprache regulieren und steuern. […] Die Handlungs-, Wahrnehmungs-, Gefühls-, Denkschemata des Habitus wirken realiter als eine Art von evaluativem, kognitivem, motorischem, emotionalem Syndrom, das die soziale Praxis, durch die es selber geschaffen worden ist, wiederum erzeugt und beeinflußt". Der hier angedeutete reziproke Prozess des Strukturierens und des Strukturiertwerdens, des Gefühls, einerseits den klassenspezifischen Dispositionen ausgeliefert zu sein und diese andererseits mitprägen zu können, bildet die Basis für eine Einordnung Chamberlains in den gesellschaftlichen Diskurs seiner Zeit. Er ist Bildungsbürger und schreibt für solche, ist also definiert durch diese soziale Disposition und wirkt als schreibender Zeitgenosse selbst wieder auf sie zurück. Chamberlain befriedigt dabei ein zentrales Bedürfnis seiner Klasse, nämlich im Sinne Max Webers die Kultivierung ihrer Sonderstellung, Würde und sozialen Ehre durch die Fortführung und Vertiefung bestimmter klassendistinktiver Praktiken. Er ist so einerseits passiver Teil einer bestimmten Weltdeutung und andererseits eigenständiger Bildner derselben. Kulturelle Sinndeutung, Symbolkonstruktion und Weltbild (s. das Zitat von Wehler) werden durch Sprache wahrgenommen und gestaltet. Gebildete, damals wie heute, also die so genannten Bildungsbürger, werden nicht als solche geboren, sondern mit bestimmten Texten und Texttraditionen zu Gebildeten innerhalb einer Bildungsgemeinschaft sozialisiert. Zu solchen Sozialisationstexten gehören die Werke der deutschen Klassiker wie diejenigen Goethes und Schillers, die des Philosophen Kant, wenn man protestantisch ist, auch diejenigen Luthers, und wenn man es nicht ist, trotzdem Luther, weil er ja ein Deutscher war. Die Bildungsbürger, die 1933 und schon vorher Hitler unterstützt bzw. ihm zur Macht verholfen haben, kannten ihre großen Deutschen, zu denen auch noch Johann Sebastian Bach, Immanuel Kant, Friedrich der Große, Ludwig van Beethoven und Otto von Bismarck hinzuzuzählen wären. Auf die mit diesen Namen angedeuteten Bezugspersonen und Traditionsstränge war man stolz, mit ihnen konnte man sich als von derselben kulturellen Gesinnung identifizieren. Die genannten Persönlichkeiten waren auch die Legitimationsgrößen für konservative Autoren wie Houston Stewart Chamberlain, Julius Langbehn, Paul de Lagarde, Artur Moeller van den Bruck und andere, deren gemeinsames Kennzeichen nach all ihren Schriften einerseits eine nahezu religiöse Übersteigerung der deutschen Kultur in einer so genannten Bildungsreligion3 und andererseits die Inszenierung der Drohkulisse des _____________ 3
Von Polenz, Sprachgeschichte III, 1999, 303 bzw. 58, dort: idealistische Ersatzreligion.
3 Einleitung
kulturellen Untergangs war. Gerade mithilfe der genannten Klassiker meinten sie aufweisen zu können, wie sehr der kulturelle Niedergang des Abendlandes bereits vorangeschritten sei, aber auch, welche Lösungen es dagegen gäbe. Die genannten Kulturpessimisten schrieben und publizierten in der zweiten Hälfte des 19. und in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sie gehörten in einer heute kaum nachvollziehbaren Weise zum Lesekanon der bürgerlichen Wohnstube. Wollte man eine Kommunikationsgeschichte dieser Zeit schreiben, so stünden sie als diskursbestimmend neben den Klassikern ganz oben. An der Spitze einer solchen Liste stände auf jeden Fall auch Houston Stewart Chamberlain, speziell mit seinem zweibändigen Werk Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. Damit ist einer der wichtigsten Gründe angedeutet, warum Chamberlain mit seinen Schriften als Ausgangspunkt der Untersuchung dient. Die Rezeption seiner Werke ist staunenerregend. Chamberlain starb im Jahre 1927. Sein Wirken hatte direkten Einfluss auf die Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Chamberlains erstes schriftstellerisches Werk war eine zweibändige Monographie (1896 erschienen) über Richard Wagner. In Wagner hatte Chamberlain zeitlebens seinen Meister4 gefunden, der ihn sowohl in seinem Kunstverständnis als auch in seiner politischen und gesellschaftlichen Ideologie prägte. Neben Wagner gehörte der Rassetheoretiker Joseph Gobineau mit seinen Schriften zu den Vorbildern, die 1899 zu Chamberlains Grundlagen geführt hatten. Damit sind die beiden wichtigsten Bereiche umrissen, in die Chamberlains Argumentation hineingehört: Es geht zum einen um ein nationalbürgerliches und nationalchauvinistisches Kunstverständnis und damit einhergehend zum anderen um eine Weltanschauung, in der die Rasse als zentraler Motor für menschliches Sein, menschliches Handeln, für die Erklärung von Geschichte und Kultur und vor allem für die Vorstellung von Zukunft herangezogen wird. Die Grundlagen, in denen sich Bildungschauvinismus mit Rassismus zu einem einheitlichen Welterklärungsmodell vereinen, sind in den Jahrzehnten nach ihrer Erstpublikation hunderttausendfach verkauft und nicht nur bei den Völkischen, sondern im gesamten Bildungsbürgertum vielfach und nachweislich mit Begeisterung gelesen worden. In ihnen wird die abendländische Geschichte als ein lange währender Kampf der so genannten indogermanischen mit der so ge_____________ 4
Hinweis zur Notation: Im Fließtext werden Titel, zitierte Wörter und kürzere Quellenzitate kursiv gesetzt, längere Belege oder Zitate aus der Sekundärliteratur stehen in Anführungszeichen. Lange Belege sind eingerückt und recte zitiert. Zitatnachweise werden im Text in Klammern angegeben, Begriffe stehen in einfachen Häkchen '…', Wortbedeutungen in kleinen Spitzklammern >…kognitive Gestalt des Menschen, von Menschen entworfene umrisshaft gedachte Vorstellung der wesentli_____________ 6 7
Vgl. Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark 1999. Vgl. Ricken 2004, 156f.
83 Zum Wort Menschenbild bei Houston Stewart Chamberlain
chen Züge des Menschen (sowohl bezogen auf physische wie auf psychische Kategorien)Produkt der eigenen Schaffens- und Schöpferkraft< erhält. Beide Aspekte sind im folgenden Zitat angelegt. GL 64f.: Was den Menschen nun zum wahren M e n s c h e n macht, zu einem von allen, auch den menschlichen Tieren verschiedenen Wesen, das ist, wenn er dazu gelangt, OHNE NOT ZUERFINDEN, seine unvergleichliche Befähigung nicht im Dienste eines Naturzwanges, sondern frei zu betätigen, oder – […] – wenn die Not, welche ihn zum Erfinden treibt, nicht mehr von aussen, sondern von innen in sein Bewusstsein tritt; wenn das, was sein Heil war, nunmehr sein Heiligtum wird. Entscheidend ist der Augenblick, wo die freie Erfindung bewusst auftritt, das heisst also der Augenblick, wo der Mensch zum Künstler wird. […] Erst wenn ein einzelner Mensch, wie Homer, frei nach seinem eigenen Willen, die Götter erdichtet, wie er sie haben will, wenn ein Naturbeobachter, wie Demokrit, aus freier Schöpferkraft die Vorstellung des Atoms erfindet, wenn ein sinnender Seher, wie Plato, mit der Mutwilligkeit des weltüberlegenen Genies die ganze sichtbare Natur über Bord wirft und das menschenerschaffene Reich der Ideen an ihre Stelle setzt, [...] dann erst ist ein durchaus neues Geschöpf geboren, jenes Wesen, von dem Plato sagt: "Er hat Zeugungskraft in der Seele viel mehr als im Leibe" [...].
Wo der Mensch zum Künstler wird, wird er erst zum Menschen, so lautet das Fazit dieses Zitates, das als Einstieg in die Ideenwelt eines Houston Stewart Chamberlain dienen soll. Das Schöpferische, sowohl als realkreationistische wie auch als künstlerische Fähigkeit, ist das Schlüsselwort des Menschseins, das Kriterium der Inklusion, aber auch der Exklusion. Deutlich werden Chamberlains Traditionen, so der antike Mythos vom Bildhauer Pygmalion, der sich in die von ihm selbst geschaffene Statue verliebt und sie mit göttlicher Hilfe zum Leben erweckt, und der den vorgestellten Prometheusmythos ergänzt. "Dieses Motiv [der Statuenbelebung, ALR] wird seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr zum Existenzsymbol des Künstlers, der auch das Tote und Künstliche durch seine schöpferische Glut belebt"8 (Borchmeyer 2002, 32). Schillers Gedicht "Die Ideale" ist nur ein Beispiel für diese Tradition, die besonders bei Nietzsche ihren spezifischen Ausdruck findet. Der Künstler bzw. das Genie werden zum Inbegriff, zum Maßstab des Menschlichen, eines Menschlichen allerdings, _____________ 8
Borchmeyer, Richard Wagner 2002, 32.
84 Das Menschenbild von Houston Stewart Chamberlain
das sich bei Chamberlain mehr dem idealen Göttlichen annähert als der realen Kreatur. Nur wo der Mensch erschafft, erfindet, erdichtet, nur wenn er schöpferisch ist und Zeugungskraft besitzt, wenn er zur geistigen und künstlerischen Gestaltung des Lebens fähig ist (so die im obigen Zitat gebrauchten Ausdrücke), und vor allem, wenn er sich sogar seine eigenen Götter erschafft, da erst sei er wirklich Mensch. Doch nicht nur das unterscheide den Menschen vom Tier und (noch wichtiger) von 'menschlichen Tieren'. Das Ameisenstaatendasein, das Chamberlain abfällig als Civilisation betitelt (Gl 69) und dem er Kultur gegenüberstellt9, reicht nicht aus, um das Menschsein zu gewährleisten. Echtes Menschsein bedarf einer innerlichen moralischen Klärung (Gl 64), und es muss weiter, geradezu neu geschaffen werden. Diejenigen Menschen, die nicht 'schöpferisch' wie Demokrit sind, die keine Welt aus sich selbst und ihren Ideen erschafften wie Platon, bleiben auf der Strecke. Dem schöpferischen Genie gegenüber steht die menschliche Ameise, die außerhalb ihres fest gefügten Systems hilflos ist (Gl 371), die zwar schafft, aber nichts erschafft. Welche Rolle hat sie im Menschenbild Chamberlains? Welche Folgen hat ein solcher Status für die Bewertung als Mensch? Wem gilt die innere moralische Klärung, den wenigen Ausnahmegestalten, den Künstlergenies, einer bestimmten Gruppe von Menschen oder etwa allen? Um es vorwegzunehmen: Der neue Mensch als das Produkt des Bildens wird nicht mehr in die Extreme entweder Geniekünstler oder Ameise zerfallen. Er wird den alten Menschen als solchen auflösen und durch einen neuen ersetzen. Dieser neue Mensch ist nicht nur bei Houston Stewart Chamberlain der Arier.10 Es ist kein Zufall, dass auch Hitler in Fortführung der von Chamberlain vertretenen Tradition Prometheus in einen direkten Zusammenhang mit der so genannten arischen Rasse bringt: Hitler, Mein Kampf I, 318: Was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnissen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers. Gerade diese Tatsache aber läßt den nicht unbegründeten Rückschluß zu, daß er allein der Begründer höheren Menschentums überhaupt war, mithin den Urtyp dessen darstellt, was wir unter dem Worte "Mensch" verstehen. Er ist der Prometheus der Menschheit, aus dessen lichter Stirne der göttliche Funke des Genies zu allen Zeiten hervorsprang, immer von neuem jenes Feuer entzündend, das als Erkenntnis die Nacht der schweigenden
_____________ 9
10
Dies ist eine Gegenüberstellung, die nicht erst mit Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" üblich wurde, sondern wie vieles andere auch auf Richard Wagner zurückzuführen ist. Vgl. dazu: Wagner, Dichtungen und Schriften 8, 1983, 247ff. Vgl. dazu auch den Nationalsozialisten Ernst Bergmann, Der Mensch, das Werk, der Nachruhm. In: Schlüssel zum Weltgeschehen 11. 1931, 359-374. Bergmann, ein Anhänger der Welteislehre von Hanns Hörbiger, bezeichnet auf S. 374 Deutschland als das "Bildungsland der neuen Menschheit."
85 Zum Wort Menschenbild bei Houston Stewart Chamberlain
Geheimnisse aufhellte und den Menschen so den Weg zum Beherrscher der anderen Wesen dieser Erde emporsteigen ließ.
Dass es eine Verbindung zwischen Hitler und Chamberlain gibt, ist bekannt; worin genau die verbindenden Gemeinsamkeiten liegen, jedoch weniger. Dass deutliche Parallelen im Menschenbild bestehen, ist zwar nur eines von vielen Bindegliedern Chamberlains zu Hitler, aber für die weitere Untersuchung das interessanteste, denn dieses Menschenbild könnte zum Schlüssel für die Begeisterung werden, die auch das Bildungsbürgertum für Hitler hegte. Es muss traditionelle Anlagen so mit spezifischen neuartigen Interpretationen verbinden, dass es affirmativ von den Nationalsozialisten ebenso wie von den Bildungsbürgern der Zeit Chamberlains vertreten werden konnte. Es geht also u. a. um die These, dass Chamberlains Weltbild in einer Tradition steht bzw. dass er diese verstärkt und teilweise neu begründet; sie war jedem Bildungsbürger seiner Zeit nicht nur vertraut, sondern lieb und teuer, so dass gerade das damit verbundene Menschenbild von Hitler nur aufgegriffen zu werden brauchte, damit er trotz aller sozialchauvinistischen Widerstände gegen den "Anstreicher" und die Nationalsozialisten auch von den Bildungsbürgern, oder muss man sagen, gerade von diesen gewählt wurde. Es soll im Folgenden also darum gehen, den eigenen Traditionen nachzuspüren, die, wie Jaspers es eingangs formuliert, als "Faktor unser Leben" von heute noch bestimmen. Die entscheidenden Schlagworte, die zur Diskussion der genannten These und damit zur Rekonstruktion der entsprechenden Menschenbilder gebraucht werden, sind bereits gefallen. Ich wiederhole sie noch einmal in der Reihenfolge ihres Auftretens: Mensch / Gestalt des Menschen / die große Persönlichkeit / das Genie / der Übermensch / der Schöpfer / die Kreatur / das Individuum / das Kollektiv / die Masse / Kultur / Zivilisation, das Leben, der Künstler / der neue Mensch / der Arier. Diesen Ausdrücken wird man im Zusammenhang mit dem Bild vom Menschen immer wieder begegnen, nie jedoch in der gleichen Weise, immer in variierenden Semantisierungen und innerhalb unterschiedlicher Ideologien. Über ihren Schlagwortcharakter muss noch diskutiert werden. Nicht zu leugnen ist, dass sie ein wichtiges Kriterium für Schlagwörter erfüllen: Sie sind programmatisch, und dies nicht nur für die Weltbildkonstruktion Houston Stewart Chamberlains.
86 Das Menschenbild von Houston Stewart Chamberlain
2. Das Wort Mensch bei Houston Stewart Chamberlain Mensch, der 1. >zur Klasse der Säugetiere gehöriges, eine eigene Spezies derselben bildendes, im Unterschied zu Tier mit Sprache, mit der Fähigkeit zu sittlicher Entscheidung, zu Erkenntnis von Gut und Böse ausgestattetes, damit von seiner biologischen Anlage her einerseits der möglichen Herabsinkung zum Tier ausgesetztes, andererseits der Nähe zu Gott fähiges WesenGesamtheit aller Menschen, in der niemand exkludiert istTeilmenge derjenigen Menschen, die sich in Chamberlains Qualifikationsskala als "wahrer" Mensch vom biologischen Menschen (im Sinne von 1) abheben; der eigentliche Mensch im Unterschied zum negativ ausgegrenzten, da nicht die natürlichen Anlagen zur qualitativen Auszeichnung entwickelnden biologischen MenschenProdukt der Veredelung des Menschen< und b) >Mensch, wo er im Sinne der Chamberlain'schen Tier- / Gott-Dichotomie am menschlichsten ist: deshalb Künstlermensch, Gottmensch, GenieEinzelexemplar der Gattung Mensch, das sich durch bestimmte Kennzeichen von anderen Einzelexemplaren der Gattung unterscheidetkollektives Individuumeine bestimmte Anzahl von Einzelmenschen, die sich durch positiv bewertete Kennzeichen von anderen Menschen bzw. Menschengruppen unterscheideneinem bestimmten Ausnahmemenschen, aber auch Völkern oder Menschengruppen inhärente, oft in ontologisierter Form wirkende außergewöhnlich kreative Gestaltungskraft, die kulturelle, gesellschaftliche Entwicklung möglich machtbesonders begabte Einzelperson als Inbegriff bzw. Verkörperung der schöpferischen Kraft eines Volkes bzw. einer Rasseeine sich durch Mut und Tapferkeit besonders auszeichnende Einzelperson als Inbegriff ("Quintessenz der Rasse"; s. o.) bzw. Verkörperung der schöpferischen, vor allem auch kämpferischen Kraft einer RasseKriegsheld, Person, die sich im Krieg oder Kampf durch Tapferkeit und Mut auszeichnetKriegsheldHauptfigur in einem literarischen Werkdie Titelfigur in einem Drama oder in einer Sagedie vorausgesetzten Rassekennzeichen in maximaler Verdichtung aufweisendes, insofern nicht als real konzipiertes, sondern abstrakt und gleichzeitig ideal gedachtes menschliches Einzelwesen, Idee eines Rasseindividuumsdurch gleiche Rasse gekennzeichnete Großgruppe von Menschen< zu verstehen (z. B. nationale Individuen; Gl 793). – Bdv.: Mensch 2 (Wagner 13), Persönlichkeit 1 (Vorr. Kant 8), Weltgeist (AW 57); das Ewigwährende / Niewiederkehren_____________ 27
Artur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich 1926, 135.
148 Das Wortfeld 'Mensch'
de / Unteilbare / Unvergleichliche (Kant 93). – Paraph.: Verkörperung des Weltgedankens (Gl 896). – Präd. und Synt.: Individuum als Subjekt: hier tritt, wie die Göttin aus dem Schaume, das Individuum aus der Menge heraus, ein Neues, Unvergleichliches, [...] (Kant 93); das Individuum [bleibt] das eigentliche mysterium magnum (Lebenswege 268); jegliches Individuum spricht mit dem Gott [...] und steht als ein neues Unerforschliches, nicht zu Ergründendes da (GL 90); das Individuum kann nur innerhalb bestimmter Bedingungen, welche in das Wort "Rasse" zusammengefasst werden, zu der vollen, edelsten Entfaltung seiner Anlagen gelangen (GL 369); Grundstock […] woraus […] Individuen von durchschnittlich höherem Werte hervorgehen (Gl 370); zahlreiche Individuen mit geradezu "überschwänglichen" Eigenschaften [entstehen] (Gl 370); das menschliche Individuum kann nicht als vereinzeltes Individuum (Bed. 3), nicht als beliebig austauschbarer Brettstein, sondern nur als Teil eines organischen Ganzen, eines besonderen Geschlechtes seine höchste Bestimmung erfüllen (Gl 371); nur das bewusste, freie Individuum erhebt sich zum Verständnis der Unvergleichlichkeit anderer Individualitäten28 (Gl 850). Individuum in Gleichsetzungskonstruktionen: dass wir Nordeuropäer als bestimmtes Individuum dastehen (Gl 859). Individuum als Genitivattribut: die Empörung (AW 46) / das Besondere und Unterscheidende (Kant 12) / die Entwickelung (Kant 59) / das Denken (Kant 589) / die Denkkraft (Kant 589) / die Einheitlichkeit (Kant 569) / die unvergleichlichen Eigenschaften / das Wesen (GL 90) / die Freiheit (Gl 832) / der innerste Mittelpunkt des Individuums (Gl 863); [die Treue gegen das eigene Blut] ist eine freie Selbstbestimmung des Individuums (GL 460); [Reformation] eine Lossagung zugleich des Individuums und der Nation (Gl 567). Individuum als Akkusativobjekt: dieses System kann nationale Individuen [nicht] in ihrer Eigenart und als Grundlage geschichtlichen Geschehens anerkennen (Gl 793). Individuum in einer präpositionalen Nominalgruppe: Rasse ist für die Kollektivität, was Persönlichkeit für das Individuum (Br I, 149); dass die Wahl der miteinander Zeugenden von entscheidendstem Einfluss auf das neugezeugte Individuum ist (Gl 370); [wer einen Schädel zu lesen weiß] der könnte über das Individuum viel aussagen (GL 446). Individuum mit Adjektivattribut: das bewusste, freie (Gl 850) / menschliche (Gl 371) / lebendige (Gl 90) / nationale Individuum (Gl 793). – Wbg. Individualität (AW 57; Br II, 134 u.ö.), individuell (Gl 10 u. ö.).
2. >Einzelmensch als fest eingebundener Teil eines geordneten WeltgefügesEinzelseele als eine über den Tod hinausgehende Wesenheitungebundenes, orientierungsloses und von der Weltordnung losgelöstes Einzelwesen, in seiner Vereinzelung, Uneinheitlichkeit und Zerrissenheit hervorgegangen aus dem Völkerchaosgeniale Persönlichkeit, die kreativ und schöpferisch in das Weltgeschehen eingreift und aufgrund gottähnlicher Fähigkeiten auch eingreifen kann; Inbegriff des kreativen Menschenvon weitem sichtbares, Macht und Herrschaft demonstrierendes, durch festes und hohes Mauerwerk unüberwindlich scheinendes Gebäude, das der Sicherheit seiner Bewohner vor Angriffen von Feinden dientUnvermischtheitErgebnis von Mischung, von gezielter ZuchtwahlAbsolutheit und VollkommenheitUnschuld, Tugendhaftigkeitzusammenlesen, sammeln< mitzudenkenden Handlungsaspekt hinweisen. Kollektiv offenbart deutlicher den Konstruktcharakter von Gemeinschaftsbildung, zum einen dadurch, dass es das von jemandem Zusammengelesene bezeichnet und damit zum anderen jemanden impliziert, der etwas zusammengelesen bzw. auf einen Punkt zusammengebracht hat (Georges I, 1265; s. v. colligo). Für Chamberlain sind die Größen 'Individuum' und 'Kollektiv' Gegensätze, ist das Eine das Isolierte, Losgelöste, das andere das Gebundene _____________ 1
Vgl. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1927/30) IX, 2003, 243.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
366
und Verbindende. Verkürzt könnte man sagen: Dem Chaos von Individuen steht bei ihm die Ordnung des Kollektivs gegenüber. Innerhalb dieses Ordnungsrahmens ist 'Rasse' zu finden, außerhalb seiner das Völkerchaos. Rasse, aber auch Sprache, verbinden nicht nur Menschen zu einer Gemeinschaft, sondern sind bei Chamberlain das Ordnungs- und Gestaltungsprinzip überhaupt. Ob Homer, Kant, Goethe oder Luther, alle Individuen, und seien sie noch so individuell und genial, historisch noch so bedeutsam und unverwechselbar, sind für Chamberlain nicht ohne das Volk, das heißt für ihn: nicht ohne die Rasse, aus der sie stammen, nicht ohne die Sprache, in der sich ihre Rasse kultiviert, denkbar. Beide bilden den Boden, auf dem Persönlichkeit und Genie erwachsen können. Dabei wird die Persönlichkeit selbst, wie gezeigt wurde, entindividualisiert. Sie verliert ihren Eigenwert, wird funktionalisiert und dient nur noch einem kollektiven, höheren Heilsplan. Aussagen über die Autonomie des Individuums sind daher mit besonderer Vorsicht zu betrachten: Gl 1071: einzig jener leuchtende Mittelpunkt - die Emanzipation des Individuellen – wird gewöhnlich übersehen und musste daher hier betont werden; nur durch die Augen des Genies kann uns eine leuchtende Weltanschauung zu Teil werden, und einzig in unseren eigenen Sprachen kann sie Gestalt gewinnen.
Die Rede von der Emanzipation des Individuellen führt bewusst in die Irre. Sie impliziert keineswegs die Eigenverantwortlichkeit eines Einzelnen oder gar die Autonomie des Individuums, das frei und schöpferisch in die Kultur- oder Weltgeschichte eingreift. Zum Ausdruck kommt hier vielmehr die parallel zu "Persönlichkeit" vollzogene Kollektivierung von 'Individualität'. Individualität erhält dabei zwei Pole. Sprachlich wird sie von Chamberlain einerseits durch das Individualisieren von Kollektiven und andererseits durch das Entindividualisieren (d. h. Kollektivieren) von Individuen geschaffen. Wenn man also vom Individualismus z. B. des echten Germanen spricht, so hat das mit einem Einzelmenschen der Zeit um Christi Geburt ebenso wenig zu tun wie das Wort Rassenindividualität (GL 23). Indem Chamberlain Völker personifiziert, indem er ihnen einzelmenschliche, individuelle Eigenschaften zuschreibt, gibt er ihnen ein persönliches Gesicht und einen spezifischen Charakter. Damit hat er neben dem Individuum eine eigene weitere Handlungsgröße mit offensichtlich anderer Existenzweise als das Individuum geschaffen. Nachdem er diese Größe angesetzt hat, lässt er sie auf das Individuum zurückwirken: Das Einzelwesen wird in seiner Handlungsfähigkeit und vor allem in seiner Handlungsfreiheit auf das beschränkt, was das Kollektiv vorgibt. Indem seine Charaktereigenschaften an die Rasse gebunden oder gar überhaupt von Rasse abhängig gemacht werden, beraubt er es seiner Individualität und seiner individuellen Entscheidungs- und Erkenntnisfähigkeit. Das folgen-
Rassenindividualität und Völkerchaos
367
de Zitat, das in einem offensichtlichen Gegensatz zu dem vorangehenden steht und offen legt, dass das erste eine bloße Konzession an seine Leser war, macht Chamberlains wahre Individualitätsvorstellung deutlich. Gl 26: Es ist nämlich auffallend, wie unendlich wenig die einzelnen Individualitäten sich im Allgemeinen voneinander abheben. Die Menschen bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten eine atomistische, nichtsdestoweniger aber sehr homogene Masse.
Individualität existiert ausschließlich innerhalb des Kollektivs Rasse, außerhalb ist sie Atom, nur noch Partikel einer homogenen Masse, unkontrollierbar und bedrohlich. Damit degeneriert sie zur quantitativen Größe, die mit wahrer Qualität, dies ist die Gesamtheit derjenigen Eigenschaften, die Einzelmenschen unverwechselbar machen und gegeneinander abheben, nichts mehr zu tun hat. Wenn ich oben von zwei Polen (Individualisieren von Kollektiven auf der einen Seite und Entindividualisierung von Individuen auf der anderen) ausgegangen bin, so spiegelt dieses Bild die absolute Opposition, die Chamberlain errichtet, wenn er der gesichtslosen Masse, die deswegen keine Individualität besitzt, weil sie keine Anbindung an die Rasse hat, also ein Urbrei charakterbarer Rassenlosigkeit2 ist, als Gegenpol der Persönlichkeit bzw. dem Genie gegenüberstellt. Das Suffix -bar des neugebildeten Adjektivs charakterbar ist dabei nicht im Sinne des etymologisch differenten -bar in fruchtbar (>fruchttragenderträglich, kann ertragen werdenfrei von etwas)" (Weinrich 1993, 853). Doch die Partikel wird im hier vorliegenden Beleg gerade nicht dazu verwendet, den Leser auf eine Glaubwürdigkeits-Wendung aufmerksam zu machen, also die uneingeschränkte Gültigkeit der darauf folgenden Aussage zu relativieren. Für ihn sind die aufgeführten Geschöpfe nämlich in der Tat keine Menschen mehr. Was man unter der lexikalischen Einheit Geschöpf zu verstehen hat, wird erst deutlich, wenn man weiter liest: Juden, der asiatische und afrikanische Knecht, der syrische Bastard, der Mongole, der die hehren Blüten des urarischen Lebens […] unter seinem rohen, bluttriefenden Fusse zertritt, der vom Wüstenwahnsinn bethörte Beduin (Gl 551). Geschöpfe werden _____________ 38
Iterativ im Sinne von Levinson 2000, 198.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
416
also in der Kontextualisierung Chamberlains zu meuchelmörderischen Verbrechern, die dasjenige zerstören, was den Menschen ausmacht, nämlich Gesetz, hellenische Philosophie, indisches Dichten und Denken. Sie werden in dieser Auflistung kriminalisiert und beinahe schlechter noch bewertet als Tiere. Das Wort Geschöpf verliert auf diese Weise alle möglichen positiven Assoziationen, die es z.B. mit einer Verweisung auf den Schöpfungsakt Gottes als Geschöpfe Gottes gehabt hätte. Chamberlains Relativierung durch eigentlich vermittelt also nur scheinbar den Eindruck von Besonnenheit und Differenziertheit. Dass er diese Relativierung vornimmt, damit er sich im Falle kritischer Rückfragen darauf berufen könnte, weist deutlich darauf hin, dass er sich selbst der Brisanz seiner Provokation bewusst ist, sie aber dennoch bewusst ausführt. Er will ausloten, wie weit er gehen kann. Er schafft ferner damit die Grundlage, auf der er die ihm wichtigere Aussage des Folgesatzes, die Propagierung des Germanen als Retter, die rein pseudoargumentativ durch bloße Aggregation angeschlossen ist, als unhinterfragbar hinzustellen. Genau dies ist sein Argumentationsziel. 3. Beispiel: GL 12: doch der grundsätzliche Unterschied besteht darin, ob nur Interessen aufeinander stossen, oder ob ideale, durch bestimmte Eigenart eingegebene Ziele der Menschheit vorschweben: diese Ziele besitzen wir nun seit dem 13. Jahrhundert (etwa); wir haben sie aber immer noch nicht erreicht, sie schweben in weiter Ferne vor uns, und darauf beruht die Empfindung, dass wir des moralischen Gleichgewichts und der ästhetischen Harmonie der Alten noch so sehr ermangeln, zugleich aber auch die Hoffnung auf Besseres. Der Blick zurück berechtigt in der That zu grossen Hoffnungen.
In diesem Beleg, in dem Chamberlain die idealen Ziele der Menschheit fokusiert und sie den kurzfristigen Interessen positiv gegenübergestellt, wird besonders auf der zweiten Präsuppositionsebene deutlich, welchen Zustandsbericht er über seine eigene Zeit abgibt. (i) wir haben sie [Ziele] aber immer noch nicht erreicht. (i') kategorielle / lexikalische Präsupposition durch das Verb erreichen. >> Seit dem 13. Jh. versucht die Menschheit, diese Ziele zu erreichen. (ii) immer noch nicht (ii') iterativ-lexikalische Präsupposition: >> Man versucht es weiterhin: es bleibt als Ziel bestehen. >> Auf einer zweiten Ebene ist dies ein versteckter Vorwurf, der mit einem deutlichen Appell einhergeht. Immer noch nicht ist dann zu verstehen als: man hat sich noch nicht ausreichend bemüht, und die Bemühungen müssen verstärkt werden. (iii) des moralischen Gleichgewichts und der ästhetischen Harmonie der Alten ermangeln. (iii') Faktizitätspräsupposition:
417 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
>> Die Alten waren moralisch im Gleichgewicht und hatten ästhetische Harmonie, während dies auf die Jungen nicht zutrifft.
Chamberlains Botschaft auf allen Textebenen lautet: wir haben die Hoffnung auf Besserung, wir müssen uns nur intensiver bemühen. 4. Beispiel: Vorw. 14. Aufl. XXIV: bei dem einzig wirklich gebildeten Volk der Erde [gemeint sind die Deutschen].
Die Proposition dieses Belegs ist deutlich, die Deutschen sind das einzig gebildete Volk der Erde. Das zum Adjektiv gebildet hinzugefügte Adverb wirklich kennzeichnet nicht nur die Modalität der Aussage, sondern präsupponiert auch, dass es nicht gebildete Völker gibt. (i) wirklich gebildetes Volk (i') kontrafaktische Präsupposition: >> es gibt weniger gebildete bzw. ungebildete Völker. >> aber auch: es gibt Völker, die nur scheinbar gebildet sind.
Mit solchen Präsuppositionen kann Chamberlain eine Relativierung der Leistungen Anderer vornehmen, ohne explizit oder direkt ausfällig zu werden. Indem er die Eigengruppe überhöht, erniedrigt er alle Anderen, ohne sie direkt anzugreifen. Ähnliche Fälle liegen vor, wenn er von der wirklichen Schöpferkraft (Gl 1162), vom echt germanischen Mann (Gl 529) schreibt, von der echten deutschen Staatskunst (Weltstaat 41) oder von der echt indoarischen Weltanschauung (AW 46), vom wahren Menschen (Gl 68) usw. 5. Beispiel: GL 865: Die Civilisation und Kultur, welche, vom nördlichen Europa ausstrahlend, heute einen bedeutenden Teil der Welt (doch in sehr verschiedenem Grade) beherrscht, ist das Werk des Germanentums: was an ihr nicht germanisch ist, ist entweder noch nicht ausgeschiedener fremder Bestandteil, in früheren Zeiten gewaltsam eingetrieben und jetzt noch wie ein Krankheitsstoff im Blute kreisend, oder es ist fremde Ware, segelnd unter germanischer Flagge, unter germanischem Schutz und Vorrecht, zum Nachteil unserer Arbeit und Weiterentwickelung, und so lange segelnd, bis wir diese Kaperschiffe in den Grund bohren. Dieses Werk des Germanentums ist ohne Frage das Grösste, was bisher von Menschen geleistet wurde.
Die Proposition lautet: Die Germanen haben dass Größte, das bisher von Menschen geleistet wurde, geschaffen, nämlich Zivilisation und Kultur. Der Satz impliziert entsprechend die Botschaft: Die Germanen sind die größten Kultur- und Zivilisationsträger der Weltgeschichte. Dabei wird unterstellt: (i) Werk des Germanentums (2x)
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
418 (i') Existenzpräsuppositionen: 1. es gibt so etwas wie das Germanentum, 2. es gibt etwas, nämlich 'das Werk', das man exklusiv dem Schaffen einer Größe vom Typ 'Germanentum' zuschreiben kann.
Ähnlich relevante Existenzpräsuppositionen sind Civilisation und Kultur, wobei hier wieder vor allem das Determinativ die interessant ist, da es neben der Existenz auch noch tendenziell eine gewisse Exklusivität impliziert. Man könnte ja auch von Europas Kulturen und Civilisationen im Plural schreiben. (ii) Die Civilisation und Kultur, welche… (ii') Existenzpräsupposition: >> es gibt so etwas wie Civilisation und Kultur, was für heutige Leser weniger in Frage steht, wie die Existenz von Ariern oder Germanen. Kategoriell gehören alle Ausdrücke derselben Abstraktionskonstruktion an.
Was in diesem Beleg außerdem anklingt, ist die Behauptung, Zivilisation und Kultur gehören zum Germanentum dazu, seien geradezu Eigenschaften des Germanen. Alles andere sei Krankheitsstoff oder ein betrügerisches Kuckucksei, das seiner Strafe entgegensehen muss. Die Sprechereinstellung Chamberlains wird im epistemischen Zusatz ohne Frage deutlich. Das Für-Wahr-Halten wird durch die Betonung der Richtigkeit der Aussage noch verstärkt; eine Nachfrage würde Unkenntnis suggerieren. Doch man muss nachfragen, da Chamberlain selbst Einschränkungen vorgibt, wenn er schreibt: (iii) was an ihr nicht germanisch ist […]. (iii') Existenzpräsupposition: >> Es gibt in der Kultur Nicht-Germanisches.
Das Zugeständnis, dass es etwas Ungermanisches an Kultur und Zivilisation gibt, dient der indirekten Handlungsaufforderung an den Leser, eine bessere Zukunft zu schaffen. Die Temporalia noch … nicht und jetzt noch präsupponieren jedenfalls, dass das Ungermanische schon bald aus dem Blut und damit der Kultur verschwinden soll. 6. Beispiel: GL 676: Nichts wäre falscher, als wenn man die jüdische Mitwirkung bei der Erschaffung des christlichen Religionsgebäudes lediglich als eine negative, zerstörende, verderbende betrachten wollte.
Mit der konzessiven Partikel lediglich wird etwas eingeräumt, und zwar nach folgendem Muster: Es gibt negative, zerstörende [...] Aspekte der Mitwirkung (faktische Präsupposition); dies ist nicht bezweifelbar; dennoch ist zu relativieren; relativieren kann man aber nur etwas, das hoch zu veranschlagen ist; dies bestätigt im Umkehrschluss die Faktizität der negativen, zerstörerischen Mitwirkung. In der Regel folgen auf solche Argumentationsfiguren dann nochmals bestätigende Aussagen der faktischen Präsupposi-
419 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
tion. Und tatsächlich betont Chamberlain zunächst einmal die Bedeutung des Judentums, um es dann als religions- und kulturzersetzend anzuprangern; typisch ist wieder die Konjunktion aber. Forts.: […] Aber auch ohne die uns natürliche Auffassung zu verlassen, genügt ein vorurteilsfreier Blick, um den jüdischen Beitrag als sehr bedeutend und zum grossen Teil als unentbehrlich zu erkennen. Denn in dieser Ehe war der jüdische Geist das männliche Prinzip, das Zeugende, der Wille. Man redet vom heutigen Antisemitismus; […]. Was bildet denn die geheime Anziehungskraft des Judentums? Sein Wille. Der Wille, der, im religiösen Gebiete schaltend, unbedingten, blinden Glauben erzeugt. Dichtkunst, Philosophie, Wissenschaft, Mystik, Mythologie.... sie alle schweifen weit ab und legen insofern den Willen lahm; sie zeugen von einer weltentrückten, spekulativen, idealen Gesinnung, die bei allen Edleren jene stolze Geringschätzung des Lebens hervorruft, welche dem indischen Weisen ermöglicht, sich lebend in sein eigenes Grab zu legen, welche die unnachahmliche Grösse von Homer‘s Achilleus ausmacht, welche den deutschen Siegfried zu einem Typus der Furchtlosigkeit stempelt, und welche im 19. Jahrhundert sich monumentalen Ausdruck schuf in Schopenhauer‘s Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben.
Mit der Fokussierung auf die Modalpartikel lediglich wird die Feststellung eines vermeintlich negativen Einflusses der Juden nicht mehr hinterfragbar. Es ist eine Art Ablenkungsmanöver, mit dem die eigentliche Aussage verpackt wird. Chamberlain bedient die typischen Topoi des antisemitischen Diskurses: negativ, zerstörend und verderbend und bestätigt sie in ihrem antijüdischen Assoziationszusammenhang. 7. Beispiel: GL 512, Anm. 2: Geschichtsphilosophisch würde man wohl diese eigentümliche Vorliebe der Juden für den abhängigen, gewissermassen parasitären Zustand aus dem lang andauernden Abhängigkeitsverhältnis zu Israel erklären. Es ist übrigens höchst bemerkenswert, dass die Judäer nicht erst auf das Exil (noch weniger auf die sog. Zerstreuung) warteten, um ihre Vorliebe für dieses Leben zu bethätigen.
Das auffallendste Prinzip Chamberlains ist, wie schon im Metaphernkapitel deutlich wurde, dass er sich in der Regel einer indirekten Ausdrucksweise bedient. (i) Vorliebe der Juden für den abhängigen, gewissermassen parasitären Zustand (i') Existenzpräsupposition eines Zustandes mit eingelagerter Faktizitätspräsupposition: >> Juden sind Parasiten.
Er sagt eben nicht explizit: Juden sind Parasiten, sondern er präsupponiert dies auf der Basis eines anerkannten Konsenses mittels der Wortbildung parasitär, diese steht nicht in der Prädikation, sondern als Adjektivattribut
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
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zu Zustand; und dieser steht auf der 2. Unterordnungsstufe zu Vorliebe. In einem ironisch gemeinten Folgesatz wird unterstellt: >> Die Juden waren schon vor dem Exil und vor der Zerstreuung, also von ihrem Typ oder von ihrer Natur her, zu parasitär genutzter Abhängigkeit veranlagt. Das Exil entsprach also ihrer Natur.
8. Beispiel: Gl 551: Jedenfalls vermag nur schändliche Denkfaulheit oder schamlose Geschichtslüge in dem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte etwas anderes zu erblicken als die Errettung der agonisierenden Menschheit aus den Krallen des Ewig-Bestialischen. (i) die Errettung der agonisierenden Menschheit aus den Krallen des Ewig-Bestialischen. (i') Faktizitätspräsupposition: >> die Menschheit war in Agonie / in den Krallen des Ewig-Bestialischen (i') Existenzpräsupposition: >> Es gibt das Ewig-Bestialische.
Die Dämonisierung, wie sie oben schon angedeutet wurde, findet nicht nur hier ihre Fortsetzung. Die 'Krallen' der Bestie sind Teil einer systematisch errichteten apokalyptischen Drohkulisse, die sich auf allen Ebenen des Textreliefs spiegelt. Sie sind nicht die Waffen einer substantivisch ausgedrückten Entität, sondern eine Qualität mit ubiquitemporärer (ewiger), immer und überall lauernder Existenz. Was auf den ersten Blick noch ornativ-fiktional wirkt und isoliert sogar als humanistisches Programm gelesen werden könnte, ist auf der Präsuppositionsebene die Konstruktion einer apokalyptischen Wirklichkeit, angesichts deren man nur resignieren kann oder gegen die man sich wehren muss. Die gesamte Analyse der Bespiele hat folgendes gezeigt: 1. Die Schwierigkeit einer klaren Trennung von Präsupposition und expliziter Aussage erhöht sich durch die Stilistik der Corpustexte. Chamberlain arbeitet durchgehend mit ideologischen Ausdrücken sowie mit Allusionen bzw. mit lockeren, allen Kennern der sprachlichen Formulierungstraditionen vertrauten Anspielungen auf kulturelle Hochwertbereiche. 2. Es gibt keine klare Unterscheidung zwischen präsupponierter und explizit vorgetragener, damit kommunikativ regresspflichtiger Aussage. Dies bestätigt im Nachhinein auch die Adäquatheit eines pragmatischen Präsuppositionsbegriffs. 3. Zu diesen Hochwertbereichen zählt erstens die christliche Religion; diese nicht verstanden unter offiziellen dogmatischen Aspekten, sondern verstanden als Gesamtbereich weltanschaulicher bis krass ideologischer
421 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
Interpretationsräume. Dazu zählt zweitens der gesamte Bereich von Kunst, Geist, hoher Literatur und Genialität, den man nur zu evozieren braucht, um einen ganzen Chor von Zustimmungen zu initiieren. Eine texttechnisch bessere Manipulationstechnik kann es kaum geben. 2. 4. Existenzpräsuppositionen Die Existenzpräsupposition kann als besonders geeignet angesehen werden, das akzeptierte und als selbstverständlich angesehene Hintergrundwissen greifbar zu machen. Eine interessante Art solcher Existenzpräsuppositionen lässt sich im folgenden Beleg nachweisen: GL 225: Die Erfindungsgabe des Menschen ist eng beschränkt; das schöpferische Gemüt kann nur mit Gegebenem arbeiten: Homer muss M e n s c h e n auf dem Olympos inthronisieren, denn was er sah und erlebte, zieht seiner Gestaltungskraft die unübersteigbare Grenze; dass er seine Götter so ganz menschlich darstellt.
Präsupponiert wird hier u. a.: – dass es Homer gab, – dass es ein schöpferisches Gemüt gibt, – dass es Erfindungsgabe gibt, – dass es Gestaltungskraft gibt, – dass es Grenzen gibt, – dass es einen Olymp gab, – dass es Götter gibt. Diese Existenzpräsuppositionen stehen in engster Verbindung mit faktischen Präsuppositionen der Art: Menschen besitzen Erfindungsgabe / Homer besitzt Gestaltungskraft / Homer kann Götter im Olymp inthronisieren usw. Diese sind aber nicht Gegenstand des vorliegenden Absatzes, auch wenn mit diesem Exkurs schon angedeutet ist, dass jede Existenzpräsupposition in der Regel weitere Präsuppositionen nach sich zieht und dass gerade flankierend auftretende Faktizitätspräsuppositionen solche Existenzbehauptungen zusätzlich unterstreichen. Dass Chamberlain zunächst die Begrenzung der menschlichen Erfindungsgabe auf das von ihm Erlebte und Gesehene feststellt, steht im Gegensatz zur nachfolgenden (nicht mehr zitierten) Behauptung, der Mensch könne seine eigenen Götter schaffen. Das Verb inthronisieren deutet eine neue Hierarchie an, in der der Mensch über den Göttern verortet wird. Das Possessivpronomen sein in seine Götter rundet dieses Bild zusätzlich ab. Dieser Beleg dient sowohl auf der propositionalen als auch auf der präsuppositionalen Ebene der Konstruktion der Übermenschen. Bei genauer Betrachtung liegen bei der obigen Aufzählung zwei Arten von Existenzpräsuppositionen vor, erstens solche, die die Existenz von
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
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Personen und Sachen und zweitens solche, die deren Existenzweisen betreffen. Existent sind also einerseits Homer, Goethe, Gott oder (an anderer Stelle) die Germanen, andererseits Abstraktgrößen wie Erfindungsgabe, Gemüt und Gestaltungskraft, also Entitäten, die außerhalb des exophorischen Zugriffs stehen und nur insofern Existenz haben, als sie Textgegebenheiten sind. Entsprechend möchte ich die Existenzpräsupposition untergliedern in personenbezogene und sachverhalts- bzw. gegenstandsbezogene Existenzpräsuppositionen. Strittige Fälle, die zwischen beiden Ansätzen liegen, wären der Germane oder der Arier. Ein weiterer Kategorisierungsversuch innerhalb der Existenzpräsuppositionen basiert auf der Unterscheidung von 'vorwiegend referenzbezogen' und 'vorwiegend prädikationsbezogen'. Maximaler Referenzbezug liegt in Fällen vor, wie sie Dorothea Franck (1973, 33) mit dem Beispiel Johns Kinder schlafen alle veranschaulicht und wie sie sich auch bei Chamberlain immer wieder in den Sätzen finden lassen, in denen das thematisch gebrauchte Subjekt nicht weiter expliziert wird: der Engländer allein ist Mensch, alle übrigen sind "foreigners".39 Prädikationsorientiert sind dagegen Existenzpräsuppositionen wie im folgenden Beleg: alle diese Güter, welche das Leben uns Menschen erst lebenswert machen, sind an den Staat gebunden (PI 49). In diesem letzteren Fall können mehrere Schichten der Existenzpräsupposition unterschieden werden: 1. Es gibt Güter, die das Leben lebenswert machen. Dies ist noch eine referenzorientierte Existenzpräsupposition. Der Relativsatz "welche…." spezifiziert diese besondere Art von Gütern durch prädikative Zuschreibungen und macht dabei wiederum eine referenzorientierte Existenzpräsupposition, nämlich: 2. Es gibt ein lebenswertes Leben. Wenn es aber ein 'lebenswertes Leben' gibt, dann ist auch der Umkehrschluss impliziert, dass es 3. auch ein Leben gibt, das nicht lebenswert ist. Insgesamt sind folgende Existenzpräsuppositionen in der kontextuellen Umgebung von Mensch zu finden. Als existent und damit als nicht weiter hinterfragbar werden vorausgesetzt (in Auswahl): Metaphysische Größen zur Legitimierung des eigenen Geschichts- und Handlungskonzeptes : – Gott (dt. Friede 87; Br. ) – Buddha (Gl 238) – Natur (Gl 313; 319; PI 46), Naturkraft (PI 11) – Leben (Gl 319), Lebensatem (Gl 86)
_____________ 39
Chamberlain, Wer hat den Krieg verschuldet? 49.
423 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
– Seele (Br 132) – Not, Notwendigkeit (PI 10; PI 45) – wahre Sittlichkeit (Dt. Friede 100) – indoeuropäische mythische Religion [GL 668] – der rote Faden der Geschichte - die verschiedenen Individualitäten der Völker und Nationen (Gl 844) usw.
Metaphysische Größen als Bestandteile von Drohkulissen und eines dualistischen Weltbildes: – das Böse: das radikal Böse im Menschen und in der Gesellschaft (GL 53) – das Chaos (Gl 605); Völkerchaos (Gl 362; 662; 684) – der Dämon der Niedertracht (Zuversicht 6) – Entartung (Gl 668) – die neue Welt, die mit unheimlicher Hast von allen Seiten hervorschießt (PI 20): referentiell und prädikativ, dann: Existenz einer alten Welt, die nun zerstört wird. Hier nun einerseits die Konnotation von Vertrautheit des Alten und andererseits die Drohkulisse der Zerstörung (= faktisch) durch das Neue, auf das man keinen Einfluss hat.
Weltimmanente Größen als Bestandteile eines bestimmten Menschenbildes und einer bestimmten Weltordnung: – Menschen und Menschentypen (allgemein): – verschiedene Menschentypen (Deutschgedanke 59) – Gattung Mensch (PI 48) – Menschen, die keine sind (PI 48) – Menschen ohne Staat (PI 48) – der wahre Mensch (GL 68), damit auch 'falscher' Mensch (auch 'menschliches Tier') mitgemeint – edle Rassen (Gl 313), dann unedle Rassen – Rassenindividualitäten (Gl 26) – edelgezüchtete Mensch[en] (Gl 321), dann auch: 'unedle' Menschen – die große Persönlichkeit (PI 11) – Genies (Gl 321 u. ö.) – Lichtgestalten (Br AH zum Geb. 1924) – bedeutende Menschen (ebd.) – undressierter Mensch (Br 102f, dann auch: dressierter Mensch – der vollendete (Br 168f.) / vollwertige Mensch (ebd.), dann auch: der 'unvollendete, nicht vollwertige' Mensch. – unwissender, ideenloser und idealloser Mensch (IuM 25): dann auch: wissender Mensch oder Mensch mit Ideen und Idealen. (Gl 210: Römer als unidealer Mensch). – freie Menschen (Gl 829), dann auch: unfreie Menschen – geistig zurückgebliebene Menschen (Urbewohner von Zentralaustralien) (GL 155) usw.
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Typen erkennbar an der nationalen Zuordnung im Sinne von Größen, mit denen nationale oder rassistische Identifikationen vorgenommen werden: – der Engländer (Wer hat den Krieg verschuldet 49), der Römer (AW 68), der Deutsche (Wille 12), der deutsche Mensch (Br 78f.) – der Jude (Gl 404), der Semit (Gl 20), der syrisch-kleinasiatische Mensch (Gl 424), der Arier (z. B. Gl 141; 597), der Indoarier (AW 68), Indoeuropäer (Gl 404) – das Germanentum (Gl 580; 865) – die germanische Rasse (PI 48) – Herren der Welt (Gl 597) – neue Menschen (Gl 181) – Feinde des Deutschtums (Br I, 34f.) usw.
Entitäten, die speziell das soziale und biologische Leben des Menschen betreffen: – der Kampf um das Menschsein (Dt. Friede 87) – Menschwerdung (PI 48) – Staat (PI 48) als oberstes weltimmanentes Ordnungs- und Hierarchieelement – alles nivellierende[s] Imperium (Gl 829: Rom) – lebenswertes Leben (PI 49), dann auch: 'nicht lebenswertes' Leben – Krankheit, die [den Menschen] beschlichen hat (GL 319) – Ideale (IuM 26) – unbegrenzte moralische Freiheit (PI 32): referentiell und prädikativ, dann: Existenz anderer Freiheiten, die nicht moralischer Natur sind bzw. die begrenzt sind – angeerbte physische (und mit dieser zugleich die moralische) Struktur des Menschen (Gl 141): Aussage: Charakter des Menschen ist erblich. – gesellschaftliche Instinkte (Gl 184) – Instinkte, welche den Menschen zum gesellschaftlichen Zusammenleben treiben (Gl 190) – animalische Natur (GL 244) – innerliche Umwandlung des Menschen (Gl 745) – wahrhafter Wille aus den Tiefen (Wille/ Wille 10): referentiell und prädikativ, dann: Existenz eines nicht wahrhaftigen Willens.
Es wäre durchaus interessant, im Weiteren eine strukturelle Typologisierung der unterschiedlichen Existenzpräsuppositionen durchzuführen, also in Bezug auf Existenzpräsupposition durch Determinativartikel oder Existenzpräsupposition durch Pronomina, z. B. Possessivpronomen. Beispielsweise: PI 51: der Mensch ist nicht Ameise, vielmehr hält seinem staatenbildenden Trieb ein anderer Trieb das Gleichgewicht: der Trieb, sein Glück in sich und in dem kleinen vom Ich belebten Kreis zu finden.
Die Präsuppositionen des letztzitierten Belegs lauten: >> Es gibt einen staatenbildenden Trieb. Der Mensch hat ihn, aber er hat auch andere Triebe. >> Staatenbildung ist ein biologischer Trieb.
425 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
Die Anlehnung an die Darwinsche Gedankenführung ist offensichtlich. Es wird keinesfalls in Frage gestellt, ob man das staatenbildende Verhalten des Menschen tatsächlich als biologischen Trieb bezeichnen kann. Auch eine sich gegenseitig bedingende Beziehung zwischen Gesellschaft und Biologie des Menschen wird als Konsens vorausgesetzt. Fassen wir zusammen, was die Präsuppositionen Chamberlains über seine Textwelt und über den Zeitgeist, in dem sie verankert sind, aussagen. Chamberlain präsupponiert mit Bezug auf den Menschen ein Ordnungsgefüge aus nationaler und rassischer Zugehörigkeit, Religion, Sittlichkeit, Geschichte und Natur, das durch das Böse, das Chaos und die Rassenzersetzung bedroht und latent dem Untergang geweiht ist. Sowohl die positiven Ordnungsgrößen wie die negativen Zerstörungsfaktoren werden von ihm ontisiert und erhalten immer wieder den Status von Handlungsträgern. Diese wirken dualistisch-manichäisch aufeinander und auf das Weltgeschehen ein, so dass eine chiliastische Atmosphäre zwischen Untergangs- und Verfallsbedrohung auf der einen und Zukunftsutopie auf der anderen Seite entsteht. Die präsupponierten Entitäten und Zustände erhalten entsprechend auch dualistische Bewertungen: Die Stigmatisierung des Juden als Vertreter des Bösen schlechthin auf der einen Seite und die Vergöttlichung des Indogermanen / Germanen als Kulturschöpfer und –träger auf der anderen. Im Zentrum dieser Ideologie steht die Spaltung des Menschen: die Dreigliederung 'Tier', 'Mensch', 'Gott' wird damit durch eine Vierergliederung von 'Tier', 'Tiermensch', 'Gottmensch', 'Gott' ersetzt. Aus dieser Vierergliederung mit ihrem Leitideologem der Ungleichheit der Rassen, das sich wie ein roter Faden durch alle Texte Chamberlains hindurchzieht, ergeben sich neue Handlungsmöglichkeiten, ja sogar Handlungspflichten, die schon bei Chamberlain ausgesprochen werden und mit weitgehend gleichem Inhalt das politische Handlungskonzept des Nationalsozialismus bestimmen. Die manipulative Funktion der Präsuppositionen kann bestätigt werden. Das explizit Gesagte findet in den Präsuppositionen eine Grundlage, verstärkt den Eindruck von Wahrheit nicht nur atmosphärisch, sondern auch durch unterstellte Bekanntheit und Zustimmung. Die Komplexität der Welt wird auf der Ebene der Präsuppositionen auf einen einfachen Dualismus mit klaren Antworten reduziert. Die so errichtete Fiktion von Verfall und Rettungsmöglichkeit, von drohendem Untergang und Zukunftsutopie, von Hexen, Dämonen und Monstern auf der einen Seite und Gottmenschen auf der anderen erfährt schließlich ihre Indienstnahme durch den radikalen Antisemitismus. Es ist auffällig, dass gerade die Präsuppositionsebene dazu genutzt wird, das (noch) Unsagbare auszudrücken. Chamberlain ist auf diese Weise weniger angreifbar, bleibt salonfähig und ist dennoch deutlich. Die Infamität der Chamberlain'schen Präsuppo-
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
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sitionen liegt auf der Hand. Er nutzt sie, um seine Weltanschauung in manchmal offene, in der Regel aber eher versteckte Handlungsanweisungen umzumünzen. Von der Rezipientenseite her argumentiert heißt das: Man war offensichtlich erstens dazu bereit, Weltuntergangstheorien und Verfallsdiagnosen zu rezipieren und zu akzeptieren, zweitens den präsupponierten Verfall als Folge eines universalen Kampfes anzusehen, drittens ihn einer bestimmten Gruppe von Menschen anzulasten und viertens daraus Handlungskonsequenzen abzuleiten. Die These dieses Buches lautet, dass insbesondere bildungsbürgerliche Kreise als die vornehmste Rezipientengruppe Chamberlains sich bereits im Konsens über diese Schrittfolge befanden, auch wenn dieser Konsens sich salonorientiert noch an Konventionen hielt. Man könnte bei machen Textstellen überlegen, ob Chamberlain in seinen Präsuppositionen vielleicht auslotet, wie weit er mit seinen Forderungen nach einem neuen Menschentyp gehen konnte. Dass er auch diesen als Konsens ansieht, zeigt sein gesamtes Werk. Im Kapitel über die anaphorischen und kataphorischen Diskurse (Kap. X) wird dieser zeittypische Konsens noch ausführlicher thematisiert.
3. wird wohl kaum jemand zu leugnen sich vermessen – Metakommunikative Legitimationsfiguren und Sprechereinstellungen Im folgenden Kapitel soll es nicht mehr um die Beziehung zwischen Sätzen und ihren Präsuppositionen gehen, sondern um Deklarationen über bestimmte Aussagen. Statt des nicht determinierten Deklaration hätte man auch Komposita wie Wahrheits- oder Gültigkeitsaussage, -betätigung, -präsupposition gebrauchen können, falls man jedenfalls bereit ist, 'Wahrheit' ihres (onto)logischen Anspruchs zu entheben und pragmatisch in Richtung auf alles Mögliche an Aussagen, Einstellungen, Bewertungen usw. aufzulösen. Gemeint sind also "Attitüden / Einstellungen des Sprechers / Verfassers zum propositionalen Gehalt (Aussagegehalt) […], von Gewissheit und Vermutung, über Distanzierung und Bewertung bis zu Wollen, Erwarten, Hoffen."40 Oft wird derselbe epistemische Ausdruck, wenn er adjektivisch gebraucht wird, zum Präsuppositionslauslöser, der die nunmehr kaum bestreitbare Faktizität einer Proposition angibt: Das Gesagte ist so und nicht anders. Wird dasselbe Wort aber adverbial eingesetzt, besagt es: Das Gesagte wird von mir als wahr, richtig, gültig, unbestreitbar bewertet, und Du, lieber Leser, hast das als Faktum aufzufassen. _____________ 40
Vgl. dazu: von Polenz 1988, 213f.
427 Metakommunikative Legitimationsfiguren und Sprechereinstellungen
Wer hat den Krieg verschuldet? 68: Immer handelt es sich um eine "Auswahl", und sobald ich auswähle, entsteht ein schiefes Bild der tatsächlichen Vorgänge.
Selbst in diesem kurzen Textausschnitt erkennt der Leser durch den Gebrauch des Adjektivs tatsächlich, dass der Autor ein Bild von Vorgängen unterstellt, das der Wahrheit nicht voll entspricht. Das Adjektiv gibt also an, dass die Vorgänge anders abgelaufen sind, als es das Bild, das dann auch als schief charakterisiert wird, vermittelt. An dieser Aussage kann es keinen begründeten Zweifel geben; in dem Maße, in dem das der Fall ist, betrifft sie die Proposition. Anders ist dies beim folgenden Beleg. HuA 28: es könnte für alle Zukunft - für die ganze Zukunft des Menschengeschlechts - verhängnisvoll werden, wenn weite Schichten des deutschen Volkes noch länger blind blieben für die Eigenart der Lage, die sich tatsächlich, in Folge des Verhaltens Englands, zu einem unausweichlichen "Hammer oder Amboß" ausgebildet hat.
In beiden Fällen handelt es sich um Bestätigungen von Aussagen, ein gewichtiger Unterschied ist jedoch, dass im letzteren explizit gemacht wird, dass es sich hierbei um eine Sprechereinstellung handelt. Der Autor offenbart sich in und mit ihnen explizit in seinen Bewertungen, Hauptinteressen, aber auch in seinen Unsicherheiten. Denn die besondere Hervorhebung und Fokussierung eines Sachverhaltes durch den Autor dient nicht nur dem Hinweis an den Leser, dass er diese Stelle mit erhöhter Aufmerksamkeit wahrnehmen soll und dass die Wahrheit derselben nicht zu leugnen ist, sondern sie dient auch der Selbstoffenbarung: Ich kommentiere in dieser Weise nur solche Aussagen, die mir besonders wichtig sind, bzw. solche, von denen ich annehme oder schon weiß, dass sie fragwürdig sind und von anderen angezweifelt werden. Interessant sind vorwiegend diejenigen sprachlichen Mittel, mit denen ein Autor den Wahrheitswert von Aussagen entweder unterstreichen, relativieren bzw. anzweifeln oder gar gänzlich verneinen kann. Solche Mittel können sein (im Rückgriff auf von Polenz 1988, 214f., mit Beispielen Chamberlains): – performative Obersätze (zustimmend:): Ich bin überzeugt (Kriegsaufsätze / England 52 u. ö.) / ich bin zu der Überzeugung gelangt (Gl 20) / Niemand wird leugnen (Gl 20) / (ablehnend:) Ich bezweifle (HuA 52 u. ö.) usw. – prädikative Obersätze: (zustimmend:) Sicher ist,… (Gl 425) / Es ist evident und braucht nicht erst erwiesen zu werden, dass… (Gl 574) / Es ist und bleibt eine Tatsache, dass… (Wille 14) / Das sind Thatsachen (Gl 574) / (ablehnend:) es ist unwahr (Gl 10) / falsch (Gl 470) usw. – Modaladverbien: (zustimmend:) Wahrlich (Gl 313) / wirklich (Gl 889; 1107) / tatsächlich (HuA 28) / zweifellos (Gl 425) / sichtbarlich (Br II, 175f.) / unfraglich (Vorw. 14. Aufl. XXVI) / freilich (Gl 593) / handgreiflich (Gl 29) / natürlich (AW 60; Gl 207; 332; 384, 584) / (ablehnend bzw. relativierend:) wahrscheinlich (Gl 344), anscheinend, eventuell, vielleicht, vermutlich, angeblich (Kriegsaufsätze / Deutschland 70).
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
428 – Modalpartikeln: ja (Man weiss es ja; Gl 573) / doch (Kriegsaufs. / Friedensliebe 10; 17; 38; 42; PI 19 u. ö.) / eben (Gl 425) / (relativierend bzw. ablehnend:) wohl (AW 29; 46; Goethe 11) / etwa (Lebenswege 298) / gewiss (Gl 574; PI 22). – Modalität unterstreichende Phrasen: ohne Frage (Gl 597; 865 u. ö.) / in Wahrheit (Gl 20; 313) / kein Zweifel (Gl 470; 674) / ohne Zweifel (Gl 384; 425) / in der Tat (Br II, 181) / was doch klar vor Aller Augen liegt (Gl 318; in variierender Form häufig z. B. Gl 329; 572) / Wer ein offenes Auge besitzt, erkennt ja bei Tieren "Rasse" sofort (Gl 321) / mit voller Sicherheit (Gl 329) / (ablehnend): Ähnlichen Widersinnigkeiten begegnen wir überall auf Schritt an Tritt (Gl 315) / Weitere Bestätigung wird der Leser überall finden (Gl 1083) / Eine sehr wichtige Einsicht habe ich noch nicht ausdrücklich formuliert; sie ergiebt sich aus allem Gesagten von selbst (Gl 344) / Die Erklärung liegt offen vor uns (Gl 467) / sie ermöglicht es uns, mit absoluter Präcision festzustellen (Gl 471) / Jeder Gebildete weiss, dass … (Gl 674 nach oben?) / Will man weite geschichtliche Komplexe vereinfachen und doch wahrheitsgemäss zusammenfassen, so nehme man zunächst die unbestreitbaren konkreten Thatsachen (GL 840). Mit deutlicher Tendenz zur Bevormundung: dass…, wird wohl kaum jemand zu leugnen sich vermessen (Gl 8) / um dem blödesten Auge dieses Geheimnis zu enthüllen (Gl 313) / Wie können denn einsichtsvolle Menschen bezweifeln, dass… (Gl 318) / so darf wohl vorausgesetzt werden, dass der Leser die nötige Korrektur automatisch ausführt (Gl 471) / Alle, die überhaupt das Recht haben, mitzureden, bezeugen nämlich einstimmig (Gl 470) / Es handelt sich hier nicht um müssige Wortklauberei, sondern um historische Einsicht (Gl 571).
In Chamberlains Schriften sind solche metakommunikativen Äußerungen besonders häufig nachzuweisen. Dies hat seinen Grund erstens in der beziehungs- und meinungssteuernden Anlage seiner Argumentationsweisen. Mit ihrer Hilfe kann der Autor nämlich gezielt perlokutiv tätig sein, das heißt, er versucht, seine Leser von der Wahrheit der eigenen Aussagen zu überzeugen und diejenige des Gegners zu desavouieren. P. von Polenz schreibt (1988, 214): "Es muß schon ein besonderer Anlaß oder Zweck vorliegen, wenn das FÜR-WAHR-HALTEN ausnahmsweise […] sprachlich ausgedrückt wird. […] Anlaß zum sprachlichen Ausdruck des FÜRWAHR-HALTENS ist meist, dass man bei den am Kommunikationsakt Beteiligten mit Zweifeln an der Wahrheit des Aussagegehaltes rechnen muß oder dass schon Gegenteiliges oder Anderes darüber geäußert worden ist". Es geht dabei also auch um die Frage der Glaubwürdigkeit der eigenen Person und der von ihr vorgenommenen Setzungen. Je offensichtlicher der Setzungscharakter einer Aussage ist, desto häufiger werden solche metakommunikativen Äußerungen, und umso wichtiger ist die Imagepflege des Autors. Er muss sich als kompetent und wissend darstellen und möglichen Gegenargumenten zuvorkommen. Der eigenen Imagearbeit41 dienen Äußerungen, die man rhetorisch als Captatio benevolentiae klassifizieren würde: als Person tritt man bescheiden
_____________ 41
Püschel 2000, 483; Holly 1979.
429 Metakommunikative Legitimationsfiguren und Sprechereinstellungen
mit der Haltung des um Wohlwollen Bittenden auf, die Sache aber vertritt man als Wahrheit. GL 633: Und so muss es mir bescheidenen Historiker – der ich auf den Gang der Ereignisse nicht einzuwirken vermag, noch die Gabe besitze, die Zukunft hell zu erschauen – genügen, dem Zwecke dieses Buches gedient zu haben, indem ich das Germanische vom Ungermanischen schied. Dass der Germane eine der grössten Mächte, vielleicht die allergrösste, in der Geschichte der Menschheit war und ist, wird keiner leugnen wollen; es war aber für die Beurteilung der Gegenwart nötig, genau festzustellen, wer als Germane betrachtet werden darf, wer nicht. (Hervorhebungen von ALR).
Es sind vorwiegend seine weltanschaulichen Prämissen, die mit den genannten stilistischen Mitteln als selbstverständliche Wahrheiten unterstrichen werden, darunter vor allem die Rassentheorie und der Antisemitismus. Vierfachbestätigungen wie die folgende sind zwar die Ausnahme, aber insofern bezeichnend, als hier der entscheidende und völlig absurde Kernpunkt seiner gesamten Weltanschauung nur aufgrund von wahrheitsbeteuernden Adjektiven zur Wahrheit deklariert wird, nämlich die als unfraglich wahr erwiesene Tatsache der Rasse (Vorw. 14. Aufl. XXVI). 'Rasse' ist damit nicht nur eine Tatsache, sondern eine solche, die erwiesen ist, genauer: als wahr erwiesen ist, noch genauer: als unfraglich wahr. In vielen Einzelargumentationen wird deutlich, dass eine Aussage dadurch als nicht hinterfragbar präsentiert wird, dass man sie mit historischen Fakten sowie mit Wahrscheinlichkeiten belegt: GL 425: Hebräer sind eben Bastarde zwischen Semiten und Syriern. Diese Mischung hat man sich nicht so vorzustellen, als hätten sich die Hirtennomaden sofort mit der fremden Rasse gekreuzt, sondern vielmehr in folgender Weise: einesteils fanden sie Viertel- und Halb-Hebräer in ziemlicher Anzahl vor, durch welche der Übergang vermittelt wurde, andernteils unterwarfen sie sich zweifellos die Ureinwohner (wie die Herrschaft der semitischen Sprachen, des Hebräischen, des Aramäischen u. s. w. beweist) und zeugten mit ihren syrischen Sklavinnen Söhne und Töchter: später (in halbhistorischen Zeiten) sehen wir sie mit unabhängigen Sippen des fremden Volkes freiwillig Ehen schliessen, und ohne Zweifel war das inzwischen schon seit Jahrhunderten Sitte geworden. Doch, wie man sich auch den Vorgang der Vermischung vorstellen will, sicher ist, dass sie stattfand. (Hervorhebungen von ALR).
Die Behauptung, Hebräer seien Bastarde, die man – abgesehen von den negativen Assoziationen des Ausdrucks – vor allem dann als abwertend auffassen wird, wenn man über Generationen hinweg von der eigenen Reinheit überzeugt wurde, bedarf für Chamberlain offensichtlich des Wahrheitsbeweises. Zu diesem greift er auf das kaum Bestreitbare zurück, auf die Unterwerfung von Ureinwohnern und damit einhergehende Vermischungen, und kennzeichnet diesen Vorgang mittels des Adverbs zweifellos. Aufmerksamkeitssteigernd tritt der bildstarke Hinweis auf syrische Sklaven hinzu, über die inklusive Beweisformel sehen wir und das bestärkende
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
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ohne Zweifel mündet die Argumentation dann in die Tatsachenfeststellung; sie lautet: Wie die Details dieses Vorgangs auch sein mögen, sicher ist das Faktum der Vermischung. Die Schlussfolgerung, die nach diesen Argumenten im Gewande der logischen Herleitung auftritt, wird mittels sicher ist eingeführt und mündet in einem aus drei Wörtern bestehenden apodiktischen Inhaltsatz, der die Ausgangsbehauptung in anderer Form wiederholt. Der vermeintliche Nachweis ist also in Wirklichkeit ein Argumentationskreis. Dieses argumentative Sich-im-Kreise-Drehen ist typisch für Chamberlain'sche Beweisführungen. Es zeigt sich, dass gerade der unsinnige Topos von der reinen jüdischen Rasse im Hintergrund steht und von ihm aus der Welt geschafft werden soll. Es zeigt sich aber auch, dass hier die eine Fiktion die andere stützen soll. Auffallend ist, mit welcher Dichte er seine Texte mit Selbstbestätigungen durchzieht; je zweifelhafter die Aussage ist, desto bestimmender sind seine metakommunikativen Regieanweisungen an den Leser. Gl 8: Dass die nördlichen Europäer die Träger der Weltgeschichte geworden sind, wird wohl kaum jemand zu leugnen sich vermessen.
Die in einem Nebensatz geäußerte und deshalb kommunikativ nicht voll regresspflichtige, zur Präsupposition tendierende Aussage, dass die nördlichen Europäer die Träger der Weltgeschichte seien, wird durch den Hauptsatz zur nicht mehr hinterfragbaren Wahrheit erklärt, obwohl man gerade diese Aussage eher von den Südeuropäern, den Griechen und Römern akzeptieren würde, später von den Franzosen oder Italienern, die Chamberlain keineswegs zu den nördlichen Europäern zählt. Der prinzipiellen Fragwürdigkeit seiner Aussage entgegnet Chamberlain hier ganz offensichtlich mit kommunikativer Gewalt gegen den potentiell zweifelnden Leser. Noch aggressiver geht er im folgenden Beleg vor: GL 313: In Wahrheit sind die Menschenrassen, […] so verschieden wie Windhund, Bulldogge, Pudel und Neufundländer. Die Ungleichheit ist ein Zustand, auf den die Natur überall hinarbeitet; nichts Ausserordentliches entsteht ohne "Specialisierung"; beim Menschen, genau so wie beim Tier, ist es die Specialisierung, welche edle Rassen hervorbringt; die Geschichte und die Ethnologie sind da, um dem blödesten Auge dieses Geheimnis zu enthüllen.
Geht er direkt auf die Meinung anderer ein, so kann er ebenso kommunikationsaggressiv werden. Gl 1079: Das alles kann und soll uns der wissenschaftliche Geschichtsforscher und also auch der Kunsthistoriker - an der Hand sichtbarer Tatsachen zeigen, nicht aber unser Urteil durch lendenlahme Verallgemeinerungen verblöden.
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4. Jünger der wahren Meister unseres Geschlechtes – Chamberlains geschichtsphilosophisches Erbauungsschrifttum Br I, 318 (1915): zwei Dinge hat aber Deutschland: anbetungswürdige Einzelne, und eine Gesamtheit [...]. Für mich handelt es sich um eine geschichtsphilosophische Erkenntnis - um den Willen Gottes.
Man kann bei Chamberlain drei Gruppen von Autoritäten unterscheiden, zum einen die Autorität eines germanischen Gottes, dann diejenige (über)menschlicher Persönlichkeiten und drittens diejenige der durch Ontisierung bzw. Anthropologisierung oder Sakralisierung zu handelnden Kräften gewordenen Größen wie 'Staat' (PI 45), 'Deutschland' (Br II, 57; Friedensliebe 9ff.), 'Zeit' (PI 26), 'Geschichte' (Gl 321), 'Natur' (Gl 319; PI 46), vor allem aber 'Rasse' (Gl 321). Der Mensch ist in diesem oft komplementär angesetzten und wirkenden Geflecht ein Getriebener, ein Bedrohter oder Gefangener, und seine Handlungsmöglichkeiten erscheinen auf ein Minimum begrenzt. Er ist umgeben von einer Unzahl auf ihn einwirkender, an ihm zerrender und ihn bewegender Kräfte, die alle dem übergeordneten Prinzip 'Rasse' unterworfen sind. Greifbarer als diese und vor allem ganz und gar nicht anonym sind die Vorbilder, denen Chamberlain nachlebt, die ihm, wo Argumente fehlen, immer das geeignete Zitat liefern, auch wenn sie selbst genau zu dem von ihm diskutierten Thema niemals etwas geäußert haben. Keyserling mag im Hinblick auf die so genannte Bildungsreligion richtig liegen, wenn er behauptet, dass Chamberlains wichtigstes Erfolgsprinzip, das also, was ihn zum Massenerfolg geführt hat,42 das Abrufen von Bildungsgütern bzw. Bildungsgöttern, das heißt vor allem das ausführliche Zitieren war. W. Frühwald43 macht deutlich, dass "Zitatfunktion und Zitathäufigkeit aber Kriterien [sind] für den Pegelstand der sozialen Geltung bildungsbürgerlichen Verhaltens", und P. Auer (1999, 250) schreibt in seinen Ausführungen zu Pierre Bourdieu vom "mühsam erworbenen, inkorporierten Kapital"44 mit Distinktionswert, was auf Chamberlain bezogen nichts anderes bedeutet, als dass er mit Zitaten seine prestigeträchtige hohe Bildungsbürgerlichkeit zum Ausdruck bringt und damit zugleich auch die seiner Rezipienten bedient. Der Autor der Grundlagen war ein Zitatensammler. Die durchgehend herangezogenen Legitimationsgrößen wurden bereits genannt; es sind _____________ 42 43 44
Keyserling, Reise durch die Zeit 1948, 133. Frühwald 1990, 208. Vgl. dazu auch Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede 1982; Zu Bourdieu und zum Distinktionswert von Sentenzen: Auer 1999, 250.
432 Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
Luther, Kant, Goethe, Schiller, Fichte, Schopenhauer und nicht zuletzt Wagner. Ihre Zitate dienen in der Regel eher der Autorisierung des Diskurses als der inhaltlichen Argumentation. Keyserling ergänzt: Keyserling 1948, 126: Chamberlain lebte buchstäblich von Sprüchen, welche ihm Glaubensartikel waren; genau in dem Sinne zitiert er dort, wo jeder andere persönlich untersucht und verstandesgemäß geschlossen und bewiesen hätte. Zur genauen Analyse und zur scharfen Diskriminierung fehlte ihm die erforderliche Begabung in erstaunlichem Grad. […] Aber wenn Chamberlain zitierte, so war es doch niemals X-Beliebiges: es mussten kanonisierte Heilige sein.
Die Inanspruchnahme Kants oder Schopenhauers (vgl. s. v. Wille) zeigt in aller Deutlichkeit, wie Chamberlain mit seiner Bildung wuchert, seine Thesen legitimiert und dabei auch gezielt inhaltliche Widersprüche kaschiert. Zu den Bildungsgöttern, den kanonisierten Heiligen, kommen die mehr oder minder anerkannten wissenschaftlichen Autoritäten wie Darwin, Leopold von Schröder, Paul Deussen, Heinrich von Treitschke und andere. Aus ihren Schriften kompiliert er seine Theorien, fügt zusammen, was oft nicht zusammenpasst, würde man den Kontext des Originals genauer betrachten. Die zuerst genannten Personen dienen der Vermittlung von Bildungsreligion im hier vorgetragenen Sinne, die Nennung der zweiten Gruppe suggeriert wissenschaftliche Kompetenz. Chamberlain stellt sich damit als jemand dar, der einerseits als Glied innerhalb einer Gemeinde religionsähnlicher Art bzw. einer Gemeinschaft von Wissenden steht, der diese andererseits aber dadurch überragt, dass er nicht in der Gemeinschaftsbindung aufgeht, sondern sie für seine Zwecke funktionalisiert. Dem entspricht seine Imagepflege; er versucht, selbst vorzuleben, was er zu sein anstrebt, ein idealer durch Kunst und wahre Erkenntnis Gebildeter. Dabei kommt der Legitimationsgröße 'Religion' eine besondere Bedeutung zu. Rein formal lässt sich sein Synkretismus bereits mit der Aufzählung religiöser Autoritäten, auf die er sich immer wieder bezieht, belegen. Die Reihe reicht von Augustinus über Thomas von Aquin und Martin Luther bis hin zu Paul de Lagarde. Auf das Neue Testament als Grundlage des Christentums wird nicht nur in Form von klassischen Bibelallusionen Bezug genommen, sondern auch durch eine die Schriften Chamberlains durchgehend kennzeichnende Sakralsprache. Wie leichtfüßig der Übergang von theologischer Sakralität zur Bildungsreligion ist, zeigt der folgende Beleg: Alle genannten Autoritäten werden zusammen angesprochen, und der Unterschied zwischen einem Goethe und einem Christus marginalisiert sich durch die Rede von den (größten) Männern und wahren Meistern. AW 89: Kultur hat mit Technik und Wissensmenge nichts zu tun; sie ist ein innerer Zustand des Gemütes, eine Richtung des Denkens und Wollens; zerrissene
433 Chamberlains geschichtsphilosophisches Erbauungsschrifttum
Seelen ohne abgerundetes Ebenmaß der Anschauung, ohne flügelsicheren Hochflug der Gesinnung sind bettelarm an dem, was erst dem Leben Wert verleiht. Doch wandeln wir heute gleich "durch feuchte Nacht", sahen wir nicht in Deutschlands größten Männern die "Gipfel der Menschheit" neu erglänzen? Wer nur einmal die Augen hinaufrichtete, der lernte hoffen. Und da diese Männer ihr Licht ebenso über die Vergangenheit wie über die Zukunft werfen, indem sie die fast erloschenen Strahlen der fernen Gipfel auffangen und im Brennpunkt ihres Geistes zu neuen Flammen anfachen, so glaube ich versichern zu können, daß wenigstens diejenigen unter uns, die es nicht verschmähten, Jünger der wahren Meister unseres Geschlechtes zu sein, sehr "bald" sich in die besondere Art der arischen Weltanschauung hineinleben und dann empfinden werden, als seien sie in den Besitz eines bisher unrechtmäßig vorenthaltenen Eigentums getreten.
Bereits der erste Satz öffnet 'Kultur' in Richtung auf 'Religion'; man beachte die Ausdrücke innerer, Gemüt, zerrissene Seele. Die metaphernreiche Sprache und der Predigtstil erinnern an Erbauungsschrifttum und Bibeltexte. Der Psalm 23 "und ob ich schon wanderte im finsteren Tal" wird abgewandelt zu "doch wandeln wir heute gleich durch feuchte Nacht", das Hinaufrichten der Augen beschreibt die Haltung des Betenden, der sich jedoch nicht auf Gott, sondern auf germanische Geistesgrößen richtet und durch sie hoffen lernt. Noch deutlicher wird Chamberlain mit der Doppelformel Jünger und Meister, die in der Regel mit Christus und seinen Jüngern assoziiert wird. Die Licht- und Feuermetaphorik tut ihr Übriges. Es braucht hier nur noch angefügt werden, dass diese Kennzeichnungen eine tragende Rolle in der Metaphorik der Folgezeit haben werden, so wenn Chamberlain Wagner als seinen Meister anerkennt, Cosima als Meisterin45 anspricht und sein eigener Verehrer Keyserling ihn zu Johannes dem Täufer46 macht. Chamberlains Schriften pendeln zwischen einer bildungsbürgerlichen Geschichtsphilosophie und religiöser Erbauungsliteratur, der Predigtstil offenbart sich besonders in den Kriegsaufsätzen. Die Titel seiner Werke spiegeln dieses synthetisierende Ineinandergreifen der verschiedenen Textsorten und Textmuster: Zunächst die bildungsreligiösen Hagiographien zu Richard Wagner, dann zu Goethe und Kant, wobei die letztgenannten im Übergang zwischen werkbiographischen und programmatischen kultur- und geschichtsphilosophischen Schriften anzusiedeln sind.
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Vgl. den Briefwechsel mit Cosima Wagner, z. B. Brief vom 18. 9. 1893; BW 350: „Wie soll ich Ihnen für Ihren Brief danken, hochverehrte Meisterin? […] Ich tröste mich mit den harten Worten über die Dankbarkeit in den „Fragmenten“ – nein, in „Jesus von Nazareth“ -: „Dankbarkeit ist einer der leeren Begriffe, welche in einer egoistischen Gemütsschwäche beruhen“ –; ich will versuchen, die egoistische Gemütsschwäche zu überwinden und dafür, was ich an „Kraft“ besitze, stets ganz in ihren Dient stellen“. Keyserling 1948, 133.
434 Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
Das Hauptwerk (die Grundlagen) ist im Sinne Oppenheimers der Inbegriff einer rassentheoretischen Geschichtsphilosophie.47 Werke dieser Art sind übrigens keine Ausnahmefälle, sondern in doppelter Hinsicht kennzeichnend für ihre Zeit. Zum einen repräsentieren sie eine neue Art des populistischen Schreibens, da sie für Laien verständliche Synthetisierungen einer immer komplexer und undurchschaubarer werdenden Erkenntniswelt darstellen. Georg Field schreibt: Field 1981, 3: He was one of the most successful exemplars of a new literary type: the popular synthesizer who, in an age of specialization, dispensed with academic caution and strove to impose an order on the chaos of experience by drawing together all his knowledge in an easily grasped unified vision.
Chamberlain schlägt programmatische Schneisen in nahezu alle relevanten Bereiche von der Kultur über die Religion bis hin zur Politik. Er vereinfacht, was in der Wahrnehmung der Zeitgenossen immer unverständlicher geworden war. Mit seinen Büchern gehört er zweifellos zu den ersten erfolgreichen Vertretern populistischer, komplexitätsreduzierender pseudowissenschaftlicher Textsorten. Sie stehen in der Nachfolge Gobineaus und werden über Chamberlains Grundlagen zu Alfred Rosenbergs Mythus ins 20. Jahrhundert getragen. Zum anderen stehen die genannten Werke in gewisser Weise in einer Tradition, die besonders Friedrich Nietzsche in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen ausformuliert hat. Im Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben48 wendet er sich gegen den vorherrschenden Historismus seiner Zeit und dessen Untauglichkeit zur wahren Bildung. In seinen Augen schade ein Übermaß an Historie dem Lebendigen49 und die Verwissenschaftlichung sei überhaupt der Tod des Menschen:50 Nietzsche, Werke 1, 209: Gewiß, wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmutlosen Bedürfnisse und Nöte herabsehen. Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.
Nietzsche fordert, dass man Historie zum Zwecke des Lebens (ebd. 218f.) betreibe und unterscheidet dabei drei Arten, die drei Bedürfnissen des Lebens entsprechen: 1. eine monumentalistische 2. eine antiquarische und 3. _____________ 47 48 49 50
Max Weber, Diskussionsreden auf dem zweiten Deutschen Soziologentag in Berlin 1912. In: Weber, SSP 487ff. Vgl. dazu: Lobenstein-Reichmann 2008. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Werke 1, 209ff. Nietzsche, a. a. O. 219 Nietzsche, a. a. O. 210.
435 Chamberlains geschichtsphilosophisches Erbauungsschrifttum
eine kritische. Alle drei Betrachtungsweisen müssten ineinandergreifen, die antiquarische, um das Gewesene zu bewahren, die kritische, um die Gegenwart von den Fehlern des Vergangenen frei zu halten (ebd. 229), und die monumentalistische, um den Lebenden und vor allem den Tätigen das Mögliche vor Augen zu führen. Geschichte solle schlichtweg zur Tat erziehen. Sie solle funktionalisiert werden, und zwar als Mittel gegen die Resignation, durch Bildung eines Höhenzuges, Verlebendigung des Vergangenen in monumentalischer Historie. Dies ist, um es auf den springenden Punkt zu bringen, ein Aufruf zur Kulturtat, womit Chamberlain sich seinem Selbstverständnis nach durchaus parallelisieren kann. Nietzsche, ebd. 220: Daß der Tätige […] nicht verzage und Ekel empfinde, blickt er hinter sich und unterbricht den Lauf zu seinem Ziele, um einmal aufzuatmen. Sein Ziel aber ist irgendein Glück, vielleicht nicht sein eignes, oft das eines Volkes oder das der Menschheit insgesamt; er flieht vor der Resignation zurück und gebraucht die Geschichte als Mittel gegen die Resignation. Zumeist winkt ihm kein Lohn, wenn nicht der Ruhm, das heißt die Anwartschaft auf einen Ehrenplatz im Tempel der Historie, wo er selbst wieder den Späterkommenden Lehrer, Tröster und Warner sein kann. Denn sein Gebot lautet: das, was einmal vermochte, den Begriff »Mensch« weiter auszuspannen und schöner zu erfüllen, das muß auch ewig vorhanden sein, um dies ewig zu vermögen. Daß die großen Momente im Kampfe der einzelnen eine Kette bilden, daß in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, daß für mich das Höchste eines solchen längstvergangenen Momentes noch lebendig, hell und groß sei – das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht.
Die Geschichte als Mittel gegen die Resignation (s. o.), der Historiker als Lehrer, Tröster und Warner, Geschichtsschreibung als motivierende und schöpferische Sinnstiftung und nicht als lebensfremde objektivistische Wissenschaft. Chamberlains Geschichtsphilosophie entspricht dieser Forderung, wenn auch sicherlich nicht im Sinne ihres Erfinders Nietzsche. Seine Ideologie versteht sich als eine sinnstiftende Geschichtsutopie, die der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gleichermaßen gerecht werden will. Sie ist vergangenheitsbewältigende Welterklärung, gegenwartsbezogene Handlungsanweisung für die Tätigen und Zukunftsutopie für die Perspektivlosen in einem. Sie findet ihren spezifischen Ausdruck in der beschriebenen Textsorte, die nicht nur als typisch für das ausgehende 19. und das beginnende 20. Jahrhundert51 gelten muss, sondern letztlich auch erst die Erfindung dieser Zeit war. Die in den Grundlagen ausformulierte rassentheoretische Welterklärung, die Max Weber zu Recht als Rassenmystik52 ablehnt, wird entspre_____________ 51 52
Zur Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts auch: Raphael, Geschichtswissenschaft 2003, 198. Weber-SSP 487.
436 Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
chend ihrer sinnstiftenden Funktion flankiert von religionsgeschichtlichem bzw. -philosophischem Erbauungsschrifttum, wobei die Grenzen zwischen den einzelnen Orientierungen längst aufgehoben sind. Die Komplexitätsreduktion wird somit zur umfassenden Welterklärung. Aber auch die anderen Schriften, so die Arische Weltanschauung, die Worte Christi und Mensch und Gott speisen sich aus derselben rassenmythologischen Quelle. Nietzsche könnte hier ebenfalls Pate gestanden haben; in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik schreibt er: Nietzsche, Werke I, 184: Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine mächtigeren ungeschriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt.
Gerade die immer wieder durchbrechende Sakralsprache, in der Chamberlain im Stile Wagners von Sünde (Zuversicht 6) und Erlösung (AW 66; PI 24; Gl 666f.) schreibt, zeigt den utopischen Charakter seiner Schriften, in der sich Persönlichkeits- und Heiligenkult mit biologischem Rassenkult verbinden und als geschichtsphilosophische Textsorten der Konstitution einer monumentalistischen, auf Heroisierung der eigenen Gruppe hinzielenden Nationalreligion dienen. Chamberlains politische Schriften Der demokratische Wahn oder die Politischen Ideale, die in erster Linie als Oppositionsschriften gegen die Anderen angedacht sind, fordern nur noch radikaler ein, was geschichtsphilosophisch erkannt worden ist, nämlich die Umsetzung der germanischen Weltanschauung. Seine Kriegsaufsätze schließlich, in denen der utopische Aspekt vor den Realien zurücktritt, sind polemische Versuche, den Tagesanforderungen des Weltenbrandes gerecht zu werden, ohne dabei von der pseudoreligiösen Bestimmung der Germanen abzukommen. Religion, Kultur und Geschichte sind in allen Schriften Ausdrucksformen der alles bestimmenden Rasse. Insofern sind auch Chamberlains unterschiedliche Textsorten letztlich immer nur Abwandlungen des einen Themas und, wenn man so will, Kennzeichen der einen sich in unterschiedlichen Gewändern kleidenden immer wiederkehrenden geschichtsphilosophischen Utopie.
X. Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung – eine kommunikations- und diskursgeschichtliche Analyse Es gibt keine Aussage, die keine anderen voraussetzt. Foucault1
1. Der Diskursbegriff, ein theoretischer Exkurs Nachdem bisher lexikalische, satzsemantische, textlinguistische und pragmatische Analysen der Texte Chamberlains unternommen worden sind, geht es nunmehr um diejenigen Schriften anderer Autoren, die kataphorisch und anaphorisch traditionsbildend im historischen Zusammenhang zu Chamberlain stehen. Spätestens an dieser Stelle ist ein kurzer theoretischer Exkurs angebracht. Der Begriff 'Diskurs' ist in den letzten Jahrzehnten sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Geschichtswissenschaft zum Leitbegriff avanciert, ohne dabei eine terminologische Festlegung zu erfahren,2 ein Umstand, der nicht gegen, sondern für den hohen Stellenwert der Fragestellungen spricht, die sich mit dem Begriff verbinden. Je nach Forschungsgegenstand, Fragestellung oder Schulenbildung werden in der Diskussion unterschiedliche Gewichtungen und Fokussierungen vorgenommen.3 Die heute kursierenden Diskursbegriffe sind entsprechend so vielfältig und vielschichtig wie die Autoren, die sie verwenden.4 Deswegen ist es notwendig, hier eine Arbeitsdefinition auf der Grundlage bereits vorhandener Definitionen zu versuchen und sie den praktischen Analysen voranzustellen. Die hier zugrunde gelegte Basisdefinition ist diejenige von Busse / Teubert.
_____________ 1 2 3 4
Foucault, Archäologie des Wissens 1981, 145. Ich verzichte an dieser Stelle auf eine ausgiebige Forschungsdiskussion und verweise stattdessen auf Wengeler 2003; Mills 2007; Warnke 2007. Vgl. dazu Foucault 1981, 116; vgl. auch Mills 2007, 1-10. Verwiesen sei hier nur auf den konversationsanalytischen Diskursbegriff bei van Dijk 1974 oder den Diskursbegriff von Jürgen Habermas, der laut H. Bußmann (1990, 171) darunter eine "Erörterung mit dem Ziel der Wahrheitsfindung" versteht und damit den Schwerpunkt auf die "Diskussion der Normen sowie der Gültigkeit oder Ungültigkeit von Behauptungen" setzt. Vgl. dazu: Habermas 1985 und 1991; van Dijk 1974 und 1987.
438 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Busse / Teubert5 1994, 14: Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinn virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird. Zu einem Diskurs gehören alle Texte, die - sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen, - den als Forschungsprogramm vorgegebenen Eingrenzungen in Hinblick auf Zeitraum/Zeitschnitte, Areal, Gesellschaftsausschnitt, Kommunikationsbereich, Texttypik und andere Parameter genügen - und durch explizite oder implizite (text- oder kontextsemantisch erschließbare) Verweisungen aufeinander Bezug nehmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bilden.6
Die Auswahl der nachfolgend diskutierten Autoren und Texte ist nach diesem Konzept erfolgt. Gemeinsame Thematik, intertextuelle Verbindungen, vor allem das Kriterium eines "gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang[s]" sind dabei berücksichtigt worden. Gemäß dem Diskursverständnis von Foucault,7 dessen Diskurserörterungen als zusätzliche theoretische Grundlage herangezogen werden, besteht ein solches virtuelles Textcorpus aus einer bestimmten Menge diskursiver Ereignisse: Foucault 1981, 42: Das Feld der diskursiven Ereignisse dagegen ist die stets endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allen den linguistischen Sequenzen, die formuliert worden sind; sie können durchaus zahllos sein, sie können durch ihre Masse jegliche Aufnahme-, Gedächtnis- oder Lesekapazität übersteigen: sie konstituieren dennoch eine endliche Menge.
Diese Menge kann also so groß sein, dass sie nur in einer interpretierenden Auswahl untersucht werden kann. Eine solche Auswahl nennt F. Schößler (2006, 39) "die Möglichkeitsbedingungen des Aussagens, die zu einem Archiv der Epoche zusammengestellt werden können." Ein solches Archiv umfasst eine nahezu unendliche Anzahl von Äußerungen, die als _____________ 5
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7
Busse / Teubert, Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? 1994, 10-28. Vgl. außerdem: Auer 1999; Fairclough 1995; S. Jäger 2002. Und unter geschichtswissenschaftlichem Aspekt: Sarasin 1998. Zum Vergleich eine Definition von Foucault 1981, 170: "Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören. Er bildet keine rhetorische oder formale, unbeschränkt wiederholbare Einheit, deren Auftauchen oder Verwendung in der Geschichte man signalisieren (und gegebenenfalls erklären) könnte. Er wird durch eine begrenzte Zahl von Aussagen konstituiert, für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann. Der so verstandene Diskurs ist keine ideale und zeitlose Form, die obendrein eine Geschichte hätte. Das Problem besteht also nicht darin, sich zu fragen, wie und warum er zu diesem Zeitpunkt hat auftauchen und Gestalt annehmen können. Er ist durch und durch historisch: Fragment der Geschichte, Einheit und Diskontinuität in der Geschichte selbst, und stellt das Problem seiner eigenen Grenzen, seiner Einschnitte, seiner Transformationen, der spezifischen Weisen seiner Zeitlichkeit eher als seines plötzlichen Auftauchens inmitten der Komplizitäten der Zeit." Grundlegend hierzu: Foucault 1981.
439 Der Diskursbegriff
solche jedoch "die scheinbar selbstverständliche Einheit des Subjekts durch reglementierende Sprachordnungen" hervorbringen. "Denn es sind diskursive Ordnungen, die das Subjekt produzieren. Nach Foucault definieren Diskurse, was als wahr/falsch und normal/wahnsinnig gilt; sie entscheiden über das Sagbare/Unsagbare und stellen auf dieses Weise das Subjekt bzw. seine Normalität her" (ebd. 37). Dieses Sagbare und dieses Unsagbare waren bereits relevanter Gegenstand des vorliegenden Buches. Beide kommunikativen Normgrößen sind im terminologischen Sinne Michel Foucaults diskursabhängig, in demjenigen Ralf Konersmanns zeitgeistabhängig. Der Zeitgeist als "Stifter epochaler Identitäten" wird gebildet durch diskursive Ordnungen. Er bildet die Matrix, auf der Präsuppositionen gelingen können, und er bestimmt die "kommunikativen Standards" (Konersmann 2006, 94) bzw. die "reglementierenden Sprachordnungen" (Schössler/Foucault; s. o.) einer Zeitgeist- bzw. Diskursgemeinschaft. Das "Archiv einer Epoche" ist in seiner besonderen Art der Vertextung entsprechend verantwortlich dafür, welche kommunikativen Innovationen durch Autoren möglich sind und welche kommunikativen Kollaborationen vom Rezipienten passiv mitgemacht und aktiv durchgeführt werden. Ein Aspekt der aktiven Kollaboration ist Teilhabe an der Textproduktion und damit das Wechseln von der Rezipienten- zur Autorenseite, womit der ewige Kreislauf des Diskurswelten gestaltenden Kommunizierens fortgesetzt wird. Hat bisher Chamberlains aktiver Anteil an dieser Teilhabe im Zentrum der Betrachtungen gestanden, so soll nun sein Archiv ins Visier genommen werden. Archiv ist hier im doppelten Sinne zu verstehen. Es geht zum einen um das Archiv, auf das er als Synthetisierer seiner Epoche selbst ausgiebig zurückgreift, und zum anderen auf das Archiv, das er mit seinen Schriften für seine Rezipienten mitgeschaffen hat. Die Auswahl für das Archiv/Textcorpus ergibt sich im vorliegenden Fall aus den von Chamberlain vorgegebenen intertextuellen Bezügen, also aus direkten Zitaten anderer Autoren und indirekten Verweisen und Anspielungen auf sie. Dabei muss jedoch aufgrund der Vielzahl der vorgenommenen Bezüge eine weitere Auswahl stattfinden. Diese beruht einerseits auf der Bedeutung des jeweiligen Autors bzw. eines oder mehrerer seiner Texte für Chamberlain und andererseits auf der Breite und Wirkung seiner Rezeption. Es werden also sowohl aus der Zeit vorher wie nachher jeweils diejenigen Autoren herangezogen, die eigene Rezeptionsdomänen haben und über diese Einblicke in andere Kommunikationsbereiche eröffnen. Diese gilt innerhalb folgender Bereiche: – des religiösen für P. de Lagarde (anaphorisch), Ernst Bergmann (kataphorisch), – des evolutionsbiologischen für Charles Darwin (anaphorisch), – des rassentheoretischen für Gobineau (anaphorisch), – des philosophischen für Kant, Schopenhauer und Nietzsche (anaphorisch),
440 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
– des literarischen für Goethe (anaphorisch), – des musikalischen für Wagner (anaphorisch), – des bildungsrelevanten für Schott (kataphorisch), – des kulturkritischen für die Lebensphilosophie (kataphorisch), – und nicht zuletzt des politikideologischen für Hitler (kataphorisch).
Die hier genannten Autoren und ihre Texte werden in einem diskurskataphorischen und einem diskursanaphorischen Sinn behandelt. Wagner ist in diesem Sinne als diskursanaphorische Größe zu betrachten, während Schott und Hitler diskurskataphorisch wären. Mit Wagner haben wir also einen der diskursiven Vorläufer der Texte Chamberlains, in Hitler einen diskursiven Nachfolger. Damit wird keineswegs gesagt, dass der eine den anderen nur beerbt; es wird lediglich behauptet, dass Chamberlain Wagners diskursive Ereignisse, vor allem wohl dessen Judenschrift, in der ihm geeignet erscheinenden Weise in seinen eigenen Diskursen verarbeitet und sie dann in der so entstehenden Brechung bzw. Neunutzung an dritte weitergibt, die ihre eigenen Diskursbeiträge damit amalgamieren und dann ihrerseits wieder auf übernommene, modifizierte bis weitestgehend veränderte Aussagen "tatsächlicher" Vorgängertexte oder von Autoren stützen, die wieder nur im Sinne der eigenen Aussage instrumentalisiert wurden. Damit bin ich beim entscheidenden Aspekt dieser letzten Phase der Untersuchung angelangt, nämlich beim konstruktiven Aspekt von Diskursen.8 Foucault 1981, 74: Ich möchte zeigen, daß der Diskurs keine dünne Kontakt- oder Reibefläche einer Wirklichkeit und einer Sprache, die Verstrickung eines Lexikons und einer Erfahrung ist; ich möchte an präzisen Beispielen zeigen, daß man bei der Analyse der Diskurse selbst die offensichtlich sehr starke Umklammerung der Wörter und der Dinge sich lockern und eine Gesamtheit von der diskursiven Praxis eigenen Regeln sich ablösen sieht. Diese Regeln definieren keineswegs die stumme Existenz einer Realität, keinesfalls den kanonischen Gebrauch eines Wortschatzes, sondern die Beherrschung der Gegenstände. […] Eine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.
Diskurse sind die tragenden Konstruktionspfeiler von Weltanschauungen, wobei das partizipiale Attribut hier als doppelsinnig im Sinne von >stützend< und von >verbreitend< bzw. >weiter tragend< gemeint ist. Die von Foucault eingeführten "Praktiken", die als Diskurse die Gegenstände, von denen man spricht, erst bilden, bezeichnet er später als "diskursive _____________ 8
Vgl. Spiegel 1990, 77: "In that sense, texts both mirror and generate social realities, are constituted by and constitute the social and discursive formations which they may sustain, resist, contest, or seek to transform, depending on the case of hand. There is no way to determine a priori the social function of a text or its locus with respect to its cultural ambience”
441 Der Diskursbegriff
Praxis". Diese ist es, die – unabhängig von der gerade gebrauchten terminologischen Fassung – im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen steht. Dabei sind folgende Unterscheidungen zu beachten: Es gibt nach dem Relevanzkriterium Beiträge, die diskursprägend und solche, die diskursirrelevant, damit vielleicht diskursstützend sind, aber nicht die Diskursgeschichte bestimmen. Es gibt nach dem medialen Kriterium Beiträge, die schriftlich abgefasst und publiziert wurden, und es gibt Beiträge, die sich mündlich, damit einmalig vollziehen. Verbindet man beide Kriterienpaare miteinander, dann wird man sagen dürfen, dass diskursprägende Beispiele eher in Schriftfassung vorliegen, diskursirrelevante eher mündlich vollzogen wurden. Diese Affinitäten lassen natürlich die Aussage zu, dass es durchaus schriftliche Diskursereignisse gegeben hat, die irrelevant waren, wie es auch mündliche Diskursbeiträge (z. B. im Bildungswesen, in den Salons) gegeben haben wird, die prägend waren. Verschriftlichung und darauf folgende Publikation, also Öffentlichmachung geben darüber hinaus deutliche Hinweise auf die von der historischen Öffentlichkeit zugestandene Relevanz des diskursiven Ereignisses. Sie spiegeln also nicht nur inhaltlich die diskursiven Praktiken, sondern außerdem auch die zeitgeisttypischen Modi derselben. Foucault 1981, 170: Sie [diskursive Praxis] ist eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben.
Der komplexe mündliche Hintergrund, in dem sich zum Beispiel passive Rezeption mit aktiven, aber nur mündlichen und damit nicht überlieferten Beiträgen kreuzen, fehlt vollständig. Wir können ihn höchstens erahnen, wenn wir die Briefe Chamberlains heranziehen, in denen er auf die vielfältig geführten Diskussionen seiner Zeit hinweist. Damit ist einer der wichtigsten Aspekte der historischen Diskursanalyse angesprochen, ihr Bezug auf schriftlich überlieferte Texte. Anders als bei Foucault (vgl. das Zitat oben), bei dem es weniger um das Was der Aussagen als um die Bedingungen, Formen und Regeln geht, unter denen Bücher entstehen und publiziert werden bzw. nicht erscheinen können, steht hier das verbindende Was, der ideologiebildende thematische Zusammenhang im Focus der folgenden Beschreibungen. Dabei wird das Stichwort der diskursiven Praxis anders als bei Foucault aus der Anonymität, die das Stichwort suggeriert, herausgelöst. Denn Diskurse sind natürlich nur greifbar über Texte, die von Autoren verfasst worden sind und eine reale historische Verortung haben. Entsprechend dem schon angesprochenen konstruktiven Charakter von Diskursen soll diese reale Veror-
442 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
tung auch insofern besonders beachtet werden, als ich ganz im Sinne Foucaults zeigen möchte, dass es "keine Aussage gibt, die keine andere voraussetzt" (Foucault 1981, 145), und dass sich die Modalitäten der Aussagen je nach Kommunikationszusammenhang ändern können, es aber oft nur in ihren Gewichtungen tun. Das bisher Erörterte zusammenfassend verstehe ich daher unter Diskurs die Gesamtheit von Texten, die von inhaltlich einschlägig interessierten Autoren zu einem als aktuell bzw. wichtig geltenden, von anderen abgrenzbaren Thema (wie Rasse, Frauen, Emanzipation) verfasst und von entsprechend interessierten Rezipientengruppen wahrgenommen, kommuniziert und nicht nur in ihr ideologisches Verhalten einbezogen werden, sondern die kollektive Sinnproduktion einer Gesellschaft entscheidend beeinflussen, wenn nicht gar begründen. Sie konstituieren eine spezifische Zeitgeistgemeinschaft mit allen angesprochenen Konsequenzen. Ein Diskurs ist jedoch nicht an einen mehr oder weniger geschlossenen Kreis kommunikativ bestimmender Einzelpersonen und Rezeptionsund Multiplikationsgruppen innerhalb einer bestimmten kulturpolitischen Situation gebunden, sondern steht in einem Netz (geistes)verwandter oder oppositioneller Diskurse. Diskurse werden nicht nur verstanden als sich selbst generierende und von selbst wieder abebbende kommunikationsgeschichtliche Einheiten, sondern auch als reziproke Konstrukte, die bei aller Bindung an kommunikativ charismatische Persönlichkeiten und die deren sprachgestalterischen Fähigkeiten in der Gesellschaft stehen, d. h. von einem ideologisch handelnden Expertenkreis multipliziert und von einem aufnahmewilligen Rezipientenkreis übernommen werden. 1. 1. Einführende Bemerkungen Es geht im folgenden Kapitel nicht um eine inhaltlich genaue referierende Wiedergabe originärer Gedanken bestimmter Autoren. Ausgangspunkt der Beschreibung sind vielmehr die in den vorangegangenen Kapiteln zu Chamberlain zusammengetragenen (lexikalischen, satzsemantischen und pragmatischen) Diskurshinweise, seien diese intertextueller oder metasprachlicher Natur oder konkrete Bezugnahmen auf andere Autoren und deren Schriften durch explizite Namensnennungen bzw. Zitate. Aber auch nicht kenntlich gemachte Zitate, also Textallusionen, indizieren die diskursive Vernetzung, in der Chamberlain zu verorten ist, ebenso wie Formulierungstraditionen (gleiches Vokabular, gleiches Spiel mit Metaphern9) oder inhaltlich betrachtet, thematische Bezüge, Topoi und themengebundene Semantisierungen. Es soll gezeigt werden, dass Chamberlain einer_____________ 9
Foucault 1981, 51.
443 Der Diskursbegriff
seits das Produkt eines Diskurses ist, der schon lange vor ihm begonnen und seinen Lauf angetreten hat, dass aber sein Eintreten in diesen Diskurs diesen und dessen Fahrtrichtung in einer Weise beeinflusst hat, der nicht unterschätzt werden darf. Chamberlain ist die tragende diskursive Brücke, die den Rassediskurs aus dem 19. ins 20. Jahrhundert überführt hat und dabei auch vorgab, an welcher Landestelle der Diskurs ankommen sollte. Viele Argumente derjenigen Diskurse, die für Chamberlain wichtig waren, wurden im Zusammenhang mit dem Menschenbild in ihren Grundzügen bereits aufgearbeitet: Ungleichheit der Menschenrassen, Arierideologie, Antisemitismus, germanische Erlösungsreligion, damit verbunden Perfektibilität des Menschen durch das Künstlertum. Topoi wie die genannten werden und wurden über längere Zeitspannen hinweg verwendet, ohne dass man ihre Erstverwendung genau nachweisen könnte. Sie werden rezipiert, manchmal sogar genau dem rezipierten Wortlaut nach zitiert, d. h. man kann ihre korrekte Einzelzitation sogar punktuell festmachen. Dies ist der wissenschaftliche Zugang, der jedoch die Ausnahme bildet. Denn in der Regel ist in der weiteren Überlieferung die genaue Zitation nur bedingt von Belang, weil sie sich im Laufe des Kommuniziertwerdens zusammen mit anderem Rezipiertem zu Amalgamierungen eigener Art verbindet. Smith-Rosenberg 1989, 102:10 Each discourse is an amalgam of earlier discourses, the vocabulary it chooses, the meanings it assigns to words, its very grammar, the result of repeated conflicts and compromises. The muted voices of defeated discourses and lost meanings haunt present usage.
Es soll von vorneherein postuliert sein, dass die semantischen Gehalte von Diskursen individuell geprägt, damit prinzipiell wandelbar sind, und zwar auch je nach Interessenlage der Rezipienten. Auch wenn die Strukturen übereinstimmen, kann die Anwendung variieren. Denn gerade Diskurse spiegeln die normale Rezeption von Sprache. So schreibt Hörmann (1994, 27): "Wir erfassen im Vorgang des Verstehens nicht nur Information, wir schaffen auch Information, nämlich jene Information, die wir brauchen, um die Äußerung in einen sinnvollen Zusammenhang stellen zu können." Insofern geht es beim Textverstehen immer um eine Wechselbeziehung zwischen der Information, die durch den Text übermittelt wird, und der Information, die durch das Wissen des Rezipienten entsteht (Text-Leser-Interaktion): Ausgehend von dieser allgemein anerkannten Prämisse, dass Rezeption keine darstellungsfunktional orientierte Resemantisierung ist, sondern eine interaktive, zeit-, interessen- und funktionsgebundene Neusemantisierung müssen bei diskursgeschichtlichen Betrachtungsweisen drei Größen besonders betrachtet werden: 1. Der _____________ 10
Smith-Rosenberg, zitiert nach Wengeler 2003, 119.
444 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
angesetzte Ausgangstext. 2. der vom Rezipienten mit Bezug auf den Ausgangstext erstellte Rezeptionstext und 3. speziell der Anknüpfungspunkt bzw. die Anschlussstelle, die den Ausgangstext mit dem Rezeptionstext verbindet. Dabei ist die Auswahl aus den Texten maßgeblich für die Analyseergebnisse. Methodische Probleme ergeben sich schon bei der Linienfindung, also bei der Suche nach den möglichen textexternen und textinternen Verbindungen von Ausgangs- und Rezeptionstexten, dann bei der Frage nach den spezifisch nachweisbaren Anknüpfungspunkten zwischen den Texten, schließlich bei der Suche nach möglichen Übermittlungstexten, das sind solche, die einen Text A indirekt mit einem Text B verbinden. Schwierig ist weiterhin die Frage nach dem Anfang eines Diskurses. Zwar sind Diskurse gerade bei Foucault dadurch definiert, dass sie keinen Beginn haben, unter methodischem Aspekt muss ein solcher dennoch angesetzt werden. Dies kann von einem bestimmten (späteren) Text ausgehend in der Zeitlinie nach rückwärts und es kann in umgekehrter Richtung von früher nach später verlaufen. Metakommunikative Kommentare sind dabei eine wichtige Stütze. Das Nachzeichnen von diskursiven Linien ist trotz der genannten Unsicherheiten lohnenswert, auch wenn von vorneherein mit Bedacht damit umgegangen werden muss. Es sollen ebenso wenig Zwangsläufigkeiten suggeriert werden wie Zufälligkeiten. Die Nachzeichnung soll aber die Einbettung der unterschiedlichen diskursiven Ereignisse in eine Zeitgeistgesellschaft mit ihren speziellen kulturellen und soziologischen Prägungen andeuten. Es geht also nicht um Kontinuitäten, sondern um latent vorhandene Diskurshorizonte, in denen diskursive Ereignisse sagbar bzw. nicht sagbar sind, also um den "Raum dessen, was gesagt werden kann" und die "Grenzen zu dem, was ungesagt bleiben muß" (Konersmann 2006, 103). Ohne diesen Raum wäre Chamberlain nicht möglich gewesen, ohne dessen Möglichkeiten hätte er nicht wirken können. Die folgende Darstellung konzentriert sich daher auf diejenigen Linien, die einerseits zum Verständnis von Houston Stewart Chamberlains Menschenbild notwendig sind und die ihm andererseits überhaupt erst den Raum für eigene Konstruktionen eröffnet haben. Im Mittelpunkt stehen die Menschenbildkonstruktionen in der Geistes- und Diskursgeschichte, die Chamberlain selbst zum Aufbau seines eigenen Konstruktes nutzt. Ausgewählt wurden diejenigen Autoren bzw. Texte, die erstens aufgrund metakommunikativer Kommentare Chamberlains (dies gilt für Kant, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, Darwin und vor allem natürlich Wagner) zu seinem Auswertungs- oder Instrumentalisierungsinventar, damit zu seinen textlichen Bezugspunkten gehören, und zweitens diejenigen, die aufgrund analytisch nachweisbarer kommunikativer Vernetzungen (z. B. Lebensreform, völkische Bewegung) seinen Rezeptionsbereich be-
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stimmten. Fortgeführt wird die Linienziehung von Tradition und Gleichzeitigkeit schließlich in die (von Chamberlain aus gesehene) nationalsozialistische Perspektive mit Adolf Hitler. Damit entsteht in dieser Arbeit eine Linie mit den zeitlichen Eckpunkten Kant und Hitler. Sie ist natürlich ihrerseits eine Konstruktion, die mindestens Verwunderung und ebenso sicher Ablehnung erfahren wie Verärgerung hervorrufen wird. Deshalb soll unmissverständlich klargestellt werden: Ich behaupte nicht, dass es zwischen Goethe und Chamberlain oder zwischen Goethe und Hitler irgendwelche Gemeinsamkeiten gäbe, die ontisch nachweisbar wären. Ich behaupte auch nicht, dass man Aussagen Goethes, Kants oder Schopenhauers wissenschaftlich plausibel und logisch auch nur ansatzweise schlüssig mit der Ideologie Chamberlains oder eines Nationalsozialisten verbinden könnte. Ich versuche vielmehr nachzuweisen, dass es eine Person namens Houston Stewart Chamberlain gegeben hat, die bestimmte Aussagen Goethes oder eines anderen Autors ausgewählt, aufgegriffen, verändert, permutiert und verfälscht hat. Die Produkte dieser Verkehrungen wurden zu Bausteinen einer Ideologie, die textlich mit dem Blick auf vorhandene Rezeptionsdispositionen so gefasst wurde, dass sie die Rezipienten auch erreichte und zur affirmativem Aufnahme bis Übernahme und damit zur Weitertradierung derselben bis hin zum Nationalsozialismus führte. Chamberlains Rolle ist in diesem kommunikativen Prozess so vielseitig wie die Linien, die hier aufgelistet werden. Er ist sowohl Rezipient als auch Produzent von Weltanschauungstexten, aber er ist vor allem ein radikal konstruktiver, das heißt traditionelles Gedankengut neu semantisierender Vermittler. Er ist die Person, die kommunikative Anschlusspotentiale zwischen einem Autor und seinem zeitgenössischen Rezipienten findet oder setzt, diese so installierten Potentiale diskursiv aufnimmt und mit notwendigen semantischen Verschiebungen passend macht für ideologisch völlig andersartig gedachte Orientierungen. Die Nachzeichnung der inhaltlichen Konstruktion Chamberlains muss damit ebenso im Mittelpunkt vorliegender Arbeit stehen wie die sprachlich-stilistische Gestaltung seiner Texte. In einem ganz fundamentalen Sinne ist es die Einheit von beidem, die beschrieben werden muss. Methodische und inhaltliche Voraussetzung der folgenden Beschreibung waren die vorangegangenen lexikalischen und satzsemantischen Analysen. Ohne die Sammlung dieser sprachlichen Bausteine der diskursiven Architektur könnten weder die semantischen noch die textlichen Zusammenhänge erkannt werden, die einen Diskurs ausmachen. Ohne wortsemantische Analysen, Begriffsgeschichte und Präsuppositionsanalysen bleiben Diskursgeschichten nur an der Oberfläche.
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1.1.1. Diskursive Linien Folgende Linienstränge fallen im Zusammenhang mit der Menschenbildkonstruktion besonders ins Gewicht: 1. Der folgenschwere Missbrauch der aufklärerischen Überzeugung von der Perfektibilität, der Entwicklungsfähigkeit aller Menschen hin zum Besseren, und die ebenfalls aufklärerische Auffassung, dass sich aus dieser Fähigkeit eine Pflicht ergibt, kann als Zwang zu Wandel und permanenter Veränderung verstanden werden. Die negative Seite eines solchen Verständnisses, also von Perfektibilität als Pflicht zur Perfektion, kann dazu genutzt werden, bestimmten Menschen und Menschengruppen zu bescheinigen, dass sie dieser Pflicht nachgekommen seien, während andere sich ihrer entzogen hätten. Das bedeutet zunächst nur die Unterscheidung in 'entwickelt' und 'nicht entwickelt', die auch heute noch jeder Pädagoge oder sonstiger Kulturschaffende bzw. -vermittelnde als vertretbar betrachten würde. Wenn man dann aber die Entwickeltheit (als einer sozialen Errungenschaft) mit Entwicklungsfähigkeit (einer letztlich biologischen Größe) verbindet, also behauptet, entwickelt zu sein, bedeute entwicklungsfähig zu sein und entsprechend 'nicht entwickelt' mit 'nicht entwicklungsfähig' gleichsetzt, dann liegt ein offensichtlicher, wenn auch nur bei genauem Lesen durchschaubarer logischer Fehler vor; dann werden Menschen und Menschengruppen nicht mehr nur unterschieden, sondern nach so genannten biologischen Voraussetzungen, in Wirklichkeit nach ideologischen Setzungen hierarchisiert. Unterscheidung wird dann bald zur Hierarchisierung und diese zur Diskriminierung. Selbst wenn man dies abschwächt und im Komparativ ein Mehr oder Weniger annimmt, bleibt die Diskriminierung erhalten: Es gibt Menschen (Individuen und Menschengruppen), die entwicklungsfähiger als andere sind (und umgekehrt). Und das heißt dann bald auch: Es gibt bessere und schlechtere Individuen und bessere und schlechtere Gruppen von Menschen, womit sich die Argumentationsklitterung zum Rassegedanken öffnet. Mit der Dichotomie von 'besser / schlechter' ist das Menschenbild, mit ihm die Frage nach den genauen Definitionskriterien angesprochen. Sie lässt sich einerseits auf dem Hintergrund biologistischer Entwicklungstheorien, andererseits in der Terminologie und nach den offiziellen Wertvorstellungen der Jahrzehnte um 1900 behandeln. Nach dem biologistischen Hintergrund wird die Einheit des Menschen durch die Vorstellung eines Mehr oder Weniger-Menschen mit Öffnung zum Tier aufgelöst, was zu Ausdrücken wie Zweifüßler (so Schopenhauer, natürlich in seinem Kontext), Ameisenmensch bis Unmensch (so Chamberlain) zum (un)werten Leben (im Nationalsozialismus) führt. Aus der Beachtung der zeitgenössischen Wertvorstellungen ergibt sich eine Lexik, die um Ausdrücke wie Künstler,
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Übermensch (Nietzsche), Genie, Persönlichkeit, Halbgott (Wagner), Arier (Gobineau, Hitler) kreist (hier nur einige Nennungen) und die Grenze zwischen Mensch und Gott verschiebt. 2. Auf dem Weg zum "Prothesengott" Mensch wird der nationale Faktor immer wichtiger. Ohne auf die Frage einzugehen, was im Detail bei den einzelnen Autoren unter national zu verstehen sei, verbindet sich die Menschenbildkonstruktion in Reaktion auf Napoleon immer mehr mit Aspekten der nationalen Identifikation. Je instabiler das herkömmliche Verständnis vom Menschen aufgrund der diskutierten Übergangsverhältnisse in der Evolutionstheorie wird, je alltagsumfassender die moderne Technik ins Leben der Menschen eingreift und alte soziale Strukturen auflöst, desto wichtiger werden die Fragen nach der Zugehörigkeit zu einer überschaubaren, positiv distingierten, 'dem besseren Teil der Menschheit zugehörigen Gemeinschaft'. Der Universalismus, hier verstanden als Gleichheit aller Menschen, wird dabei durch diskriminierende Unterscheidungen im Sinne des vorangehenden Absatzes und um so kleinräumiger gedacht, je großräumiger die tatsächlich erreichbare Welt wird. Der Menschenbilddiskurs verbindet sich aber nicht nur aus identifikatorischen Motiven mit dem Nationalismusdiskurs. Es kommt hinzu, dass der deutsche Nationalismus eigenen historischen Bedingungen unterliegt. Diese bestehen darin, dass das Alte Reich (Heiliges römisches Reich deutscher Nation) in Territorien unterteilt war, deren Souveräne sich einer politischen Nationsbildung widersetzen mussten. Das bedeutete nach gängiger Auffassung innere und äußere Schwäche, Abspaltungen, Annexionen durch absolutistisch regierte Nachbarstaaten. Die Nationsbildung, wie sie im 19. Jahrhundert schließlich erfolgte, galt dann als "verspätet" und als unvollständig, entsprach jedenfalls nicht den Erwartungen, zumindest nicht den Erwartungen derjenigen, die eine Sprachnation im Sinne von Deckungsgleichheit sprachlicher und politischer Grenzen erträumten. Die Spuren der "verpassten" Nationsbildung waren denn auch mit der Reichsgründung von 1871 keineswegs beseitigt. Sprache, außerdem Kultur bildeten also seit der Barockzeit, in Einzelzügen bereits seit dem 16. Jahrhundert, die Identifikationskriterien, an denen die eigene nationale Identität abgearbeitet werden konnte. Sie waren Identifikationsmarker, deren Wert mit jeder berühmten Persönlichkeit, die man als sprach- oder kulturdeutsch ansehen konnte, vergrößert wurde. Die in (1) behandelte Perfektibilität des Menschen inkarnierte sich gleichsam in ihnen, führte zu fast religiösen Überhöhungen des bildenden Künstlers, des Komponisten als des Tonkünstlers und des Dichters als des Sprachkünstlers. Indem der Künstler (im umfassenden Sinne des Wortes) als deutsch, als der eigenen Sprach- und Kulturgemeinschaft zugehörig, betrachtet wurde, erfuhr man
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auch als Teilhaber dieser Gemeinschaft eine Aufwertung, man fühlte sich mitgeadelt, die künstlerische Perfektion der großen Persönlichkeit konnte als jedem Einzelnen erreichbar verstanden werden; und mit einigen Verdrehungen war man sogar in der Lage, die große Persönlichkeit als Verlängerung der eigenen Art zu sehen. Der Kulturdiskurs im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts gleicht einer sich aus dem Bewusstsein des zu spät Gekommenen nährenden, am "Künstler" orientierten ständigen Überhöhung der eigenen Möglichkeiten. Die Qualität 'deutsch' trat dabei immer stärker in den Vordergrund, war der Garant für Teilhaftigkeit am Kulturschaffen. Bei Kollokationen wie Deutsche Kunst, Deutsche Musik, Deutsches Wesen, vor allem aber auch Deutsche Sprache war das Adjektiv, um es zu pointieren, ersetzbar durch das besitzanzeigende Pronomen unsere oder gar meine. Die Folgen sind für Teile des kollektiven Selbstbewusstseins der Rezipienten Chamberlains nicht zu unterschätzen. Wenn das mein und unser sich auch noch rassisch vererbt und Kontinuität verspricht, dann wird aus dem Selbstbewusstsein Hochmut und aus dem Hochmut Verachtung für diejenigen, die an der Gemeinschaft keinen Anteil haben. Der Kunstdiskurs ist (bei Anerkennung aller internen Differenzierungen und allen neutralen Leistungen) insofern auch ein beständiges Aufbauen von intellektuellem Hochmut einer bildungsbürgerlichen Elite. Im Schaffen des großen Künstlers erkennt diese den analogischen Zusammenhang aller Kunstarten, baut ihn zu einer Kunstmetaphysik aus, deren Symbole vom Kreuz des Christentums über den heiligen Gral bis hin zum Hammer als dem Werkzeug des Germanengottes Thor geht. 3. Damit ist schon angedeutet, dass es nicht genügt, dem Kunstdiskurs zu folgen, sondern dass auch der Religionsdiskurs im Mittelpunkt der weltanschaulichen Diskursdiskussion zu stehen hat. Ein neues Menschenbild kann nur einhergehen mit der Konstruktion neuer religiöser Riten und Fundierungen. Die soeben genannten Symbole Kreuz, Hammer und Gral stecken den Rahmen einer bestimmten durch Wagner und Konservativismus geprägten Religion ab. In dem Maße, wie dabei herkömmliche Symbol- und Sprachtraditionen beibehalten werden, kann der Rezipient Anknüpfungen an ihm Vertrautes vornehmen. Die Nutzung des Traditionspotentials erfolgt im Sinne der zu entwickelnden Ideologie. 4. Die genannten Inhalte des Menschenbilddiskurses, Perfektibilität, Nationalismus, Kultur und Religion, verlaufen in Texten über eine Zeitspanne von rund 150 Jahren. In dieser Phase wurden auch die konstruktionsrelevanten Fundamente gelegt für den Indogermanen- und den Arierdiskurs. Der sprachgenetische Diskurs des 19. Jahrhunderts,11 der von herausragenden, darunter sehr vielen deutschen Philologen geführt wurde, _____________ 11
Vgl. dazu Römer 1985.
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muss als maßgebliche Anschubkraft für Weltanschauungen Chamberlainscher Prägung angesehen werden, auch wenn sich der wissenschaftliche Indo-Germanendiskurs später davon lösen konnte. Dass er sich aber überhaupt von seinem sprachgenetischen Ausgangspunkt abtrennen ließ, ist der eindrucksvollste Beweis für das Ausmaß des Interesses, das er von Beginn an in der Gesellschaft fand.12 1. 2. Diskurstypen In den vorangegangenen Abschnitten wurde der Terminus Diskurs einerseits synonym für Linie gebraucht, andererseits aber auch hyperonym. Dies ist kein terminologisches Versehen. Jeder Einzeldiskurs setzt sich aus ganz unterschiedlichen Linien zusammen und ist in seiner Komplexität selbst immer Teil eines anderen Diskurses. Anders ausgedrückt: Es gibt ebenso wenig einen Einzeldiskurs, der nicht mit anderen vernetzt ist, wie es einen Diskurs gibt, der nicht aus mehreren Einzeldiskursen bestünde. Kommunikation definiert sich systematisch aus solchen diskursiven Vernetzungen. Entscheidend ist kultur- wie mentalitätsgeschichtlich nur, welcher Diskurs gerade von wem mit einem anderen verbunden bzw. verbündet wird. Das Aufzählen, Sammeln und Analysieren von Einzeldiskursen einer bestimmten Zeit ist daher kommunikationsgeschichtlich und mentalitätshistorisch von hohem Wert. Doch dies allein scheint mir nicht ausreichend zu sein. Natürlich gibt es einen Antisemitismusdiskurs im ausgehenden 19. Jahrhundert, auch einen Künstler- oder einen Nationalismusdiskurs, und es ist unabdingbar, die jeweils geführten Argumentationsstränge in ihrem inneren Aufbau und hinsichtlich ihres Beitrags zum Gesamtdiskurs zu untersuchen. Entscheidend ist aber außerdem die Frage, welche Diskurse sich zu welcher Zeit in welcher gesellschaftlichen Konstellation miteinander verbinden und sich zu neuen, komplexeren Diskurssystemen entwickeln. So ist der Menschenbilddiskurs erst dann wirklich explosiv, wenn er sich mit dem bereits genannten antisemitischen oder dem Kunstdiskurs verknüpft bzw. verknüpft wird, und umgekehrt, wenn es dem Antisemitismusdiskurs gelingt, sich als selbstverständlicher Bestandteil des Menschenbild- oder des Kunstdiskurses zu etablieren. Dann entsteht ein neues Netzwerk, in dem die Einzeldiskurse als semantische Zeichensysteme nicht mehr unterscheidbar sind und die Frage nach dem Menschen automatisch zu einem Problem der Kunstfähigkeit oder zu _____________ 12
Vgl. dazu: Vermeer 1984, 268f.; Lobenstein-Reichmann 2005.
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einer Frage nach der Rasse wird. Bei dem Vorgeführten ist folgende Beobachtung von entscheidender Wichtigkeit. Es gibt so etwas wie anthropologische Grundfragen, die nicht an eine bestimmte Zeitspanne gebunden sind, sondern die Menschen sozusagen seit Menschengedenken bewegen und auch in Zukunft bewegen werden. Dazu gehört sicher die Frage nach dem Menschen selbst, was er ist, woher er kommt und wohin er geht, entsprechend auch die nach einem höheren Wesen, das immer wieder vom Menschen als menschenähnlich gedacht wird und möglicherweise gerade deshalb als Leitprinzip über ihm und allem Lebendigen zu verorten ist. Man kann diese Fragen als rote Fäden jeder inhaltsbezogenen Kommunikationsgeschichte betrachten. Auch wenn sie überlieferungsgeschichtlich zu einem erheblichen Teil von Experten, wie Philosophen und Theologen, diskutiert wurden und die Antworten je nach Zeit, Kulturraum und sozioökonomischen Bedingungen unterschiedlich verliefen, gehören diese Fragen sozusagen zum Inventar jedes reflektierenden Individuums und sind insofern keine Diskurse. Als kommunikationsgeschichtlich zeitlos, gleichsam Dauerbrenner, um sie salopp zu kennzeichnen, stellen sie erstens aber immer den Hintergrund dar, auf dem die zeit- und manchmal zeitmodeabhängigen Diskurse funktionieren. In ihren spezifischen Antwortversuchen können sie jedoch zu einem abgrenzbaren, zeit- und gruppenspezifischen, modeabhängigen Ideologiediskurs werden. Wenn man sich den hier angedeuteten Religionsdiskurs genauer ansieht, so fällt auf, dass er zwar auf dem Muster der anthropologischen Grundfrage, "was ist der Mensch und in welchem Verhältnis steht er zu Gott", verläuft, dass er in seinen Antworten aber in keiner Weise einer anderen Zeit als der hier vorgestellten zugeordnet werden könnte, dass er von einer ganz spezifischen nichtreligiösen Ideologie und entsprechend auch von abgrenzbaren und identifizierbaren Gruppen getragen wird. Während also die Grundfrage nicht unter die Definition von 'Diskurs' fällt, ist die spezifische Antwort einer Zeit durchaus in diesem Sinne zu verstehen. So können wir mit vollem Recht von Religionsdiskursen sprechen oder vom Menschenbilddiskurs, und sind uns dabei im Klaren, dass mit Diskurs deutlich gemacht wird, dass es sich um zeitbedingte Ausprägungen eines unerschöpften und unerschöpflichen Leitthemas handelt. Durch den engen thematischen Zusammenhang mit den Leitfragen jedoch suggerieren diese Diskurse anthropologische Konstanz, Allgemeingültigkeit und Überzeitlichkeit, sie treten mit dem Anspruch auf generelle Aufmerksamkeit auf und versprechen mithin nicht nur dem unkritischen Kommunikationsteilnehmer, alle wichtigen Fragen ein für allemal zu klären. Diese Art von Diskurs, der sich aus anthropologischen Grundfragen ableitet, möchte ich daher als Universaldiskurs klassifizieren. Der Terminus universal ist aber insofern diskutabel, als er eine absolute
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Zeitenthobenheit voraussetzt. Wenn ich dennoch daran festhalte, so erfolgt dies unter steter Berücksichtigung von zwei Argumenten. Erstens beziehen sich die damit angesprochenen Diskurse auf universelle bzw. als universell empfundene Themen wie 'Religiosität' und 'Menschenbild'. Eine wahrscheinlich nur analytisch denkbare Zeitenthobenheit und die Zeitbedingtheit gehen mit dieser thematischen Ausrichtung ineinander über. Das zeitenthobene Universale kann jedenfalls nur in seiner zeittypischen Prägung untersucht werden. Zweitens vertreten die Autoren des zeittypischen Diskurses immer und zu jedem Augenblick den Anspruch, die Tiefe und Allgemeingültigkeit seines zeitenthobenen Diskurses zu haben und damit ein Universaldiskurs zu sein. Einen Einblick in einen solchen Diskurs gewährt das Kapitel zum Religionsdiskurs, in dem, ausgehend von der Grundfrage nach dem Menschen und seinem Verhältnis zu Gott, das germanische Christentum als allgemeingültige Antwort propagiert wird. Diese Antwort, die in unterschiedlicher Ausprägung von Chamberlain, dem Bayreuther Kreis, von Lagarde sowie von vielen Völkischen vertreten wurde, greift zwar auf Expertenwissen zurück, löst dieses aber gleichzeitig so ins Allgemeine auf, dass ihre Rezeption sowohl das Heil für jedermann verspricht als auch zur Basis für einen kleinen Kreis von diskursiv einschlägigen Sektenmitgliedern werden kann. Auf einer dritten Ebene lassen sich diejenigen Diskurse ansiedeln, die weder thematische noch zeitliche Kontinuität aufweisen, aber dennoch wie Gestaltwandler vielfach wiederkehren. Auch sie hängen indirekt mit den anthropologischen Grundfragen zusammen, sonst könnten sie nicht über Jahrhunderte hinweg immer wieder in den Vordergrund gesellschaftlicher Auseinandersetzungen treten. Der hier gemeinte dritte Diskurstyp ist deshalb nicht auf der Ebene der Universaldiskurse anzusiedeln, sondern eher als variantenreiche Verästelung der sich ewig wandelnden Frage nach dem Menschen im Verhältnis zu anderen Menschen zu begreifen. Der Variantenreichtum spiegelt nicht nur den konkreten Bezug zu zeitbedingten Situationen, sondern auch kommunikative Vermeidungsstrategien, aufgrund deren die ungelösten bzw. unlösbaren Fragen nicht gestellt werden, dafür aber Pseudolösungen herhalten müssen. Man könnte solche Diskurse als latent vorhandene gesellschaftspolitische Wiedergängerdiskurse bezeichnen, die je nach Zeit und Ort ihres Erscheinens in unterschiedlichen Verkleidungen und Gestalten auftreten. Ein solcher Gestaltwandler ist der antijüdische Diskurs, der seit der Begründung des Christentums als Identifikations- und Abgrenzungsdiskurs der Christen gegenüber dem "wahren Volk Gottes", dem Volk Israel, geführt wurde. War seit frühchristlichen Zeiten der religiöse Antijudaismus in seinen verschiedenen Varianten, mal mit den Topoi des Christus- und Christenmordes, mal dem des göttlichen Konkurrenzvolkes, dem des Wuchers und der wirtschaftli-
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chen Übervorteilung besetzt, wurde er zum xenophobisch rassistischen Antisemitismus. Der Judendiskurs wandelte sich im 19. Jh. zu einem biologistisch-rassistischen Diskurs, der andere Grundannahmen voraussetzte und dabei jeweils zeittypische spezifische Erwartungen seiner Trägergruppen bediente. Der Wiedergänger ist zwar nicht zu allen Zeiten aktiv, gräbt sich aber so in das kollektive Unterbewusstsein ein, dass er je nach Bedarf abgerufen werden kann. Widergängerdiskurse können von den oben genannten kommunikativ einflussreichen Einzelpersonen bzw. Trägergruppen unter bestimmten zeitabhängigen Bedingungen ganz bewusst und erfolgreich aus dem kommunikativen Untergrund herausgeholt und für bestimmte, jeweils zeitgenössische Zwecke instrumentalisiert werden. Ein weiteres Beispiel bildet der identifikatorische Nationalitätsdiskurs von Deutschen und Franzosen, der zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Gewichtungen und Bewertungen erfahren hat (vom Brudervolk bis hin zum Erzfeind) und der ebenfalls im 19. Jahrhundert einen seiner kommunikationsgeschichtlichen Höhe- bzw. Tiefpunkte erreichte. Auf damit einhergehende Grundfragen, ob man vor dem 17. bzw. je nach Perspektive dem 19. Jahrhundert überhaupt schon von einem Nationalitätsdiskurs sprechen kann, oder ob man besser auf die allgemeinere Ebene eines Nachbarschaftsdiskurses übergeht, sei hier nicht eingegangen, aber explizit hingewiesen. Antisemitismus- und Nationalitätsdiskurs können also als kommunikative Wiedergänger charakterisiert werden, während andere Diskurse kurzfristig sind und in ihrer Ausarbeitung nur Episode bleiben. Dazu zählt der letzte Diskurstyp, der Spezialdiskurs. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass er von wenigen vertreten wird, eine relativ geringe kommunikative Reichweite hat, sich auf ein außerhalb des Alltagsbewusstseins liegendes Einzelthema beschränkt und in seinen jeweiligen Inhalten engstens zeitgebunden ist. Als Beispiel eines solchen episodenhaften und ausgesprochen zeittypischen Diskurstyps kann man den Künstlerdiskurs anführen, da dieser vor allem im Hinblick auf die Rezeptionsreichweite engen Beschränkungen unterliegt. Es handelt sich bei ihm um einen Diskurs, der von einem kleinen Kreis von Künstlern, Philosophen und Intellektuellen geführt wurde, die eine im Alltag kaum wahrgenommene Expertenphilosophie betrieben haben. Dieser Spezialdiskurs kann aber trotz seiner Rezeptionsbeschränkung auf Dauer sehr wirksam sein, zum einen, wenn er durch eine interessierte Öffentlichkeit vom Expertenwissen zum Alltagswissen erklärt wird und in "mund"gerechter Form zur Alltagsrezeption absinkt und zum anderen vor allem dann, wenn er sich mit den beiden schon genannten Diskurstypen, dem Universaldiskurs und dem Widergängerdiskurs strukturell und inhaltlich verbindet, bzw. von den Diskursteilnehmern verbunden wird. Der Rassediskurs war anfangs ein typischer
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Spezialdiskurs, der zunächst von einem kleinen Kreis von Gelehrten- und Experten kommuniziert und schließlich von Halbgelehrten und Laien aufgegriffen wurde, um mit ihm neue Antworten auf die allgemeinen Fragen der Menschheit, die in den Universaldiskursen gestellt wurden, zu liefern. Durch einen tiefen Griff ins kollektive Gedächtnis der Gesellschaft wurde er mit bestimmten Wiedergängerdiskursen (Antijudaismus) verbunden, ohne dass dabei die spezifischen Merkmale der einzelnen Diskurstypen verloren gingen, so die Allgemeingültigkeit im Universaldiskurs, die Überzeitlichkeit und das kollektive Erfahrungswissen im Widergängerdiskurs und das spezifische Expertenwissen im Spezialdiskurs. Es ist genau diese besondere Vernetzung der drei Diskurstypen, die auf dem Hintergrund der anthropologischen Leitfragen das ausgehende 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Und es ist dieses Diskursgebräu von Mensch-Künstler-Rasse-Diskurs, das zum hochexplosiven Zündstoff für das 20. Jh. werden sollte. 1. 3. Der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott, zur Natur, zu Kultur und Gesellschaft Wie schon angedeutet wurde, kann eine Darstellung von Menschenbildern nur dann adäquat sein, wenn sie mit den korrespondierenden Gottesbilddarstellungen verbunden wird. Das Wesen 'Gott' wird als Spiegel, Ergänzung oder gar Gegenstück zum Wesen Mensch gesehen, und in den Vorstellungen über das Göttliche spiegeln sich immer auch die Sehnsüchte und Ängste der jeweiligen menschlichen Betrachter. Dies gilt auch und gerade für den hier untersuchten Autor, dessen Schriften stilistisch wie inhaltlich an christliche, insbesondere erbauungsliterarische Texttraditionen angelehnt sind und der diese Traditionen außerdem für eigene religiöse Weltanschauungstheorien nutzbar macht. Zentral für Chamberlains Ausführungen über Religion und Christentum, Kultur und Naturwissenschaft ist ein Verständnis von Weltanschauung, das die traditionellen Bereiche 'Religion' und 'Philosophie' in enge Verbindung zu den Hochwertdisziplinen des 19. Jahrhunderts, Kunst, Kultur, Wissenschaft, und zwar sowohl Geistes- wie Naturwissenschaft, bringt (vgl. Gl 877 ff.; 880; 1045). Trotz seiner vorsichtigen Kritik ist das 19. Jahrhundert für Chamberlain die Epoche, in der es zur Symbiose der drei anthropologischen Größen Gott, Natur und Kultur kommt. Es ist auch die Zeit, in der sich die darauf bezogenen Wissenschaften innerhalb des Laiendiskurses, aber auch bei manchem Wissenschaftler, so ineinander verschränken, dass ihre inhaltlichen und theoretischen Grenzen verschwimmen und damit gezielt oder unterschwellig weltanschaulich unter verschiedenen Aspekten instrumentalisiert werden können. Die damit
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angedeutete und angestrebte Harmonisierung von Natur und Geisteswissenschaft, darunter der Theologie, spiegelt ein Wunschbild, das die allgemeine Verunsicherung der zeitgenössischen Laien aufzuheben versprach, eine Verunsicherung, die sich daraus ergab, dass die Einzelwissenschaften mit jeder neuen Erkenntnis mehr Fragen aufwarfen, als sie beantworteten, und dass vor allem die Naturwissenschaften Erkenntnisse lieferten, die die vertrauten traditionellen Antworten zusätzlich fragwürdig werden ließen.13 Sigmund Freud erklärt diesen Verunsicherungszustand mit den drei narzisstischen Kränkungen, die die Eigenliebe der Menschheit durch wissenschaftliche Forschung erfahren habe, der kosmologischen, der biologischen und letztlich der psychoanalytischen Kränkung.14 Die erste Kränkung erfuhr der Mensch, als er durch das kopernikanische Weltbild kosmologisch aus dem Mittelpunkt des bekannten Weltsystems hinauskatapultiert wurde, die zweite, als er durch Darwins Evolutionstheorie auch innerhalb seines eigenen Planeten die Vorherrschaft über die Tiere verlor, indem er in deren Entwicklungsreihe gestellt und damit seiner Einzigartigkeit beraubt wurde. Schließlich kam mit Freud selbst noch die Vertreibung aus dem eigenen Verstand bzw. Bewusstsein hinzu; doch diese letzte narzisstische Kränkung war schon lange vor Freud mit Schopenhauer eingeläutet worden. Sie entfaltete ihre Wirkung zwar erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Psychoanalyse und ihren Folgen, ihre Vorboten zeigten sich aber bereits zu Chamberlains Zeiten, was nicht nur dessen Schopenhauer-Rezeption zeigt (vgl. s. v. Wille). Die von Chamberlain in all seinen Schriften vollzogene harmonisierende Verschränkung15 naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Diskurse muss als Reaktion dieser Kränkungen betrachtet werden und sollte der Heilung jener offenen Wunden dienen. Chamberlains Weltanschauung ist entsprechend der Versuch, eine säkularisierte Heilslehre auf christlichem Untergrund zu konzipieren. Das Christliche wird dabei seiner eigentlichen Theologie entkleidet und zum Kulturgut beschränkt. An Stelle des christlichen Heils tritt das germanische, dessen Botschaft keineswegs das universale für alle Menschen gleichermaßen Gültige ist, sondern die nationale Identifikation und die rassische Ausschließlichkeit. Weltanschauung als ein in schöpferischer Gestaltung alle Widersprüche überdachender Konsens erfordert, damit sie ihre Heilswirkung entfalten kann, ein Gegenbild; dieses wird als das Böse, Zerstörerische, zusammengefasst als Chaos konzipiert:
_____________ 13 14 15
Vgl. dazu z.B. Rabinow, Was ist Anthropologie? 2004, 160f. Vgl. Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse 1994, 190. Vgl. Faye, Theorie der Erzählung 1977, 102.
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Gl 879: wo aber Gesetz herrscht, da ist nicht Chaos. Nein, das Chaos ist im Menschenkopf – nirgends anders – zu Hause gewesen, bis es eben durch "Anschauung" zu deutlich sichtbarer, hell beleuchteter Gestalt geformt wurde; und diese schöpferische Gestaltung ist das, was wir als WELTANSCHAUUNG zu bezeichnen haben. Wenn Professor Virchow und Andere rühmen, unsere Zeit "brauche keine Philosophie", denn sie sei "das Zeitalter der Wissenschaft", so preisen sie ganz einfach die allmähliche Rückkehr aus Gestaltung zu Chaos. Doch straft sie die Geschichte der Wissenschaft Lügen; denn nie war Wissenschaft anschaulicher als im 19. Jahrhundert und das kann immer nur unter Anlehnung an eine umfassende Weltanschauung (also an Philosophie) stattfinden; ja, man trieb die Verwechslung der Gebiete so weit, dass Männer wie Ernst Haeckel förmliche Religionsgründer wurden, dass Darwin immerfort mit einem Fuss in unverfälschter Empirie, mit dem anderen in haarsträubend kühnen philosophischen Voraussetzungen breitbeinig fortschreitet, und dass neun Zehntel der lebenden Naturforscher so fest an Atome und Äther glauben, wie ein Maler aus dem Trecento an die kleine nackte Seele, die dem Mund des Gestorbenen entfliegt. Ohne alle Weltanschauung wäre der Mensch ohne jegliche Kultur, eine grosse zweifüssige Ameise.
Auch in diesem Zitat fällt wieder die inhaltliche und fachsprachliche Verwischung einzelner Disziplinen ins Auge. Diese sprachliche Amalgamierung ist symptomatisch für den beschriebenen Versuch, das Gegensätzliche miteinander zu verbinden, das Zerrissene zu heilen. Mit der Sprache suggeriert Chamberlain, den Bruch zwischen den auseinander fallenden Bereichen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft heilen zu können, indem er von einem an Atome glaubenden Naturforscher spricht, zunächst das Chaos als Folge der Grenzverwischung postuliert, letztere dann aber selbst weitertreibt, indem er die Weltanschauung als übergreifende, alles umfassende Instanz über Wissenschaft und Religion stellt. Diese Instanz habe ordnenden Charakter, sei im Ernstfall mit dem Gesetz gleichzusetzen, dessen Verlust oder Nichtanerkennung zum Chaos, konkret zur Dehumanisierung führt. Nicht zufällig verweist Chamberlain auch in diesem Zusammenhang wieder auf die Ameise. Bei seiner pseudoetymologischen Erläuterung des Wortes Weltanschauung assoziiert er das Wort Anschauung mit Sehkraft und Denkkraft als Potentialen des Betrachters und nutzt diese dazu, das für ihn entscheidende Kriterium des Menschseins, das Künstlerische, als das geradezu metaphorisch Ausschlaggebende in die Weltanschauungserklärung einzuführen: Gl 877: weil dem so ist, kommt es für den verhältnismässigen Wert einer Weltanschauung mehr auf die Sehkraft als auf die abstrakte Denkkraft an, mehr auf die Richtigkeit der Perspektive, auf die Lebhaftigkeit des Bildes, auf dessen KÜNSTLERISCHE Eigenschaften (…), als auf die Menge des Geschauten. Der Unterschied zwischen dem Angeschauten und dem Gewussten gleicht dem zwischen Rembrandt‘s "Landschaft mit den drei Bäumen" und einer von dem selben Standpunkt aufgenommenen Photographie. Hiermit ist aber die Weisheit, die in dem Worte Weltanschauung liegt, noch nicht erschöpft; denn die Sanskritwurzel
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des Wortes "schauen" bedeutet "dichten": wie das Beispiel mit Rembrandt zeigt, ist das Schauen, weit entfernt ein passives Aufnehmen von Eindrücken zu sein, die aktivste Bethätigung der Persönlichkeit; in der Anschauung ist Jeder notgedrungen Dichter, sonst "schaut" er gar nichts, sondern spiegelt mechanisch das Gesehene wieder wie ein Tier.
Seine Persönlichkeits- und Menschheitsmarker funktionieren: das Tier, die Ameise, das Künstlerische, die Kunst; alles ist in seinen Darstellungen vermeintlich wissenschaftlich oder empirisch bewiesen, philosophisch schon immer gedacht worden. Weltanschauung und Religion werden inhaltlich zwar nicht vollkommen in eins gesetzt, er beschreibt sie jedoch als zwei Richtungen des Gemütes, zwei Stimmungen (Gl 819). Weltanschauung ist für ihn letztlich Sittenlehre (ebd.), ist Philosophie, ist Kultur (1049); sie ist verwandt mit Kunst, aber ist auch Wissenschaft, so dass Wissenschaft und Religion zusammen unsere Weltanschauung ausmachen (Gl 1045). Chamberlains alle beglückende und alles in sich harmonisierende Weltanschauung setzt sich also aus folgenden Determinanten zusammen: 1. aus der germanischen Religion auf der Basis des Christentums, 2. aus einer speziellen Naturwissenschaft bzw. Naturdeterminierung, die die Welt aus darwinistischen und sozialdarwinistischen Theorien erklärt und 3. aus der absoluten Kulturabhängigkeit des Menschen und deren Übersteigerung durch eine germanozentrische Kunst- und Bildungsreligion. Alle drei Legitimationskonstanten werden von ihm je nach Themenbezug einzeln für die menschliche Sinngebung bzw. Sinnerklärung eingesetzt, sie bleiben insgesamt aber immer der einen übergeordneten, aus allen Bestandteilen synkretistisch zusammengesetzten Weltanschauung untergeordnet. Die Vielfalt der diskursiven Angebote, die Chamberlain seinen Lesern macht, bedient deren Interessen also nicht nur auf vielfältige Weise, sondern verbindet sie zu einer einfachen Welterklärung. Dass es dabei im Detail zu erheblichen Widersprüchen kommt, ist zwar für das Einzelbeispiel relevant, erscheint im großen "Gesamtkunstwerk" jedoch belanglos.
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1. 4. Die neue Weltanschauung in ihren diskursiven Traditionen Was bedeutete nun die Wissenschaft diesen Menschen an der Schwelle der Neuzeit? Den künstlerischen Experimentatoren von der Art Lionardos und den musikalischen Neuerern bedeutete sie den Weg zur wahren Kunst, und das hieß für sie zugleich: zur wahren Natur. Die Kunst sollte zum Rang einer Wissenschaft, und das hieß zugleich und vor allem: der Künstler zum Rang eines Doktors, sozial und dem Sinne seines Lebens nach, erhoben werden. Das ist der Ehrgeiz, der z.B. auch Lionardos Malerbuch zugrunde liegt. Und heute? »Die Wissenschaft als der Weg zur Natur« – das würde der Jugend klingen wie eine Blasphemie. Nein, umgekehrt: Erlösung vom Intellektualismus der Wissenschaft, um zur eigenen Natur und damit zur Natur überhaupt zurückzukommen! Als Weg zur Kunst vollends? Max Weber16
In einer krisengeschüttelten Zeit17, in der die Sinnfragen besonders intensiv gestellt werden, die traditionellen und die modernen Antwortversuche jedoch zu monokausal erscheinen und die allgemeine Unsicherheit durch ihre Gegensätzlichkeit und ihren Ausschließlichkeitsanspruch noch verstärken, scheint das Bestechende an solchen Schriften wie denjenigen Chamberlains darin zu liegen, die vorhandenen Gegensätze aufzuheben und symbiotisch in einem übergeordneten Konstrukt zusammenzufassen. Der so entstandene Wurf wird aber nicht als Vorschlag vorgetragen, wie sich einander widersprechende wissenschaftliche Ansätze miteinander vereinbaren lassen könnten, sondern als Verkündung höherer Wahrheit. Gott, Natur und Kultur sind dann nicht mehr bloße Bezugsgegenstände von Einzelwissenschaften mit unterschiedlichen und sich teils ausschließenden Erklärungsebenen, sondern in sich analog gestaltete Fakten, harmonisch ineinander greifende Bestandteile einer ebenso natürlichen wie religiös begründeten Ganzheit. Die Texte Chamberlains treten mit dem Anspruch auf, diese Ganzheit zu beschreiben und damit die neue und definitive Heils- und Erklärungslehre zu sein, die Inhalte religiösen Wissens, naturwissenschaftliche Fakten und kulturelle Gestaltungsanliegen miteinander verbindet. Negativ ausgedrückt bedeutet dies, dass genau diese nahezu krakenhafte Allumfassung die vermeintliche Heilstheorie so ausgesprochen gefährlich macht. Bezogen auf einen durchschnittlichen Rezipienten der Zeit bliebe ein biologischer Rassismus, der nicht auf der Basis christlicher Lehrinhalte argumentiert bzw. der nicht in die traditionellen religiösen Redeweisen eingebettet ist, wohl ebenso auf einen kleinen Kreis von Rezipienten beschränkt wie ein solcher, der sich außerhalb der europäischen Kulturtradi_____________ 16 17
Max Weber, Wissenschaft als Beruf 1994, 11f. Vgl. dazu: Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, 1995, 744ff.; Gay, Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler 2003, 177ff.; 195ff; Konersmann, Aspekte der Kulturphilosophie 2004, 9ff.
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tion stellen würde. Ein Durchschnittsmensch des ausgehenden 19. Jahrhunderts will nicht vor die Wahl gestellt werden zwischen einem biologischen Rassismus bzw. einem alle christlichen Werte ausklammernden Antisemitismus einerseits und seiner traditionellen transzendenzorientierten Religion andererseits; er würde wahrscheinlich schon aus guter bildungsbürgerlicher Tradition die Religion vorziehen. Bietet man ihm jedoch einen Rassismus an, der den christlichen Gott nicht ausschließt, sondern diesen sogar über wissenschaftliche und fachtextliche bis literaturnahe Gestaltungen, die an seine eigene Sprachbildung anschließen, rassisch überhöht, ohne dabei bildungsbürgerliche Traditionen wie die der Aufklärung durch rhematisch klare Aussagen zu verletzen, dann hat er eine Chance auf Affirmation. Die neuen Heilslehren, seien es der Darwinismus, der Nihilismus oder die Bildungsreligion, dürfen das Christentum als Grundpfeiler europäischer Geistesgeschichte nicht offen ersetzen wollen, sondern dürfen es, um akzeptiert zu werden, unter Beibehaltung der dogmatisch zentralen Terminologie (Erlösung, Sünde, Jesus, Heil usw.) und unter Nutzung prestigehaltiger Textsorten höchstens modifizieren, verändern, ergänzen, erweitern, neu interpretieren. Dass dabei ein Konstrukt zustande kommt, das jedem Christentum der kirchlichen Traditionen Hohn spricht, liegt auf der Hand. Dass es dennoch von seinen Lesern angenommen wurde, ist ebenso der Virtuosität geschuldet, mit der Chamberlain die Register der deutschen Bildungssprache, damit ihre korrumpierende Potenz zu bedienen wusste, wie den Rezeptionsdispositionen und der Korruptionsbereitschaft seiner Leser (Stichwort: kommunikative Kollaboration; S. 408ff.). Chamberlains Schriften sind, wie schon beschrieben wurde, unter dem Aspekt ihrer Textsortenzugehörigkeit eine Art säkularer Erbauungsliteratur. Er greift – wie der Baumeister auf sein Steinmaterial – auf alles im Sinne seiner Heilsstiftung Nutzbare, das seine Zeit und die Tradition zu bieten hatten, zurück, modifiziert es nach seinen Wünschen, symbiotisiert es und verkündet es dann unter den gewohnten Ausdrücken als neues Christentum. Sein Rezeptionserfolg spiegelt dabei sowohl das Bedürfnis seiner Zeitgenossen nach neuen Lösungsvorschlägen als auch deren allerdings nur verbales Festhalten an den Dogmen des Christentums und an den traditionellen bildungsbürgerlichen Überzeugungen; er beweist wohl auch die Erbauungstexten üblicherweise zugeschriebene Wirkung: Sie begründen Glauben bzw. stärken einen vorhandenen Glauben und wiegen dessen Träger in der Sicherheit, ein Glied innerhalb einer umfassenden Ordnung zu sein. Diese Bindungen können nicht einfach mit Adjektiven wie konservativ erklärt werden, sie liegen gleichsam tiefer. Bewahren und Festhalten als Teil eines gesellschaftlichen Habitus ist eben immer auch
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existentielle Reaktion auf eine als bedrohlich empfundene, die Sicherheit aufhebende Bewegung. Spätestens seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ist nicht nur in Deutschland ein außergewöhnliches Maß an Unsicherheit gegenüber den letzten Fragen des Menschen oder, wie es in mittelalterlicher Terminologie ausgedrückt wird, den letzten Dingen, beobachtbar. Die Säkularisation, die das Alte Reich mit der Französischen Revolution erfasst hatte, die ideologisch durch die Aufklärung vorbereitet war und institutionell durch die napoleonischen Gesetze (Säkularisierungen von Klöstern usw.) fortgeführt wurde, die sich aber auch in den Neuordnungen Bismarcks während des Kulturkampfes (z. B. Einführung der staatlichen Eheschließungen) zeigte, führten zur allgemeinen Orientierungslosigkeit in Bezug auf die letzten Fragen des Menschen, die innertheologisch überdies durch die Liberalisierung des Protestantismus verstärkt wurde. Zu den vier letzten Dingen gehören neben dem Sterben, dem Paradies, dem Fegefeuer, der Hölle konsequenterweise die Fragen nach dem Menschen und nach Gott, wobei die bisherige Festlegung auf den religiösen Diskurs ins Wanken geriet. Es war nunmehr nicht mehr selbstverständlich, die gestellten Fragen mit dem Inhaltscodes der religiösen Diskurse zu beantworten. Zusätzlich desorientierend zu den innerreligiösen Verunsicherungen wirken die aufkommenden Alternativen, die im 19. Jh. das Stellen der Sinnfragen entweder weiter relativieren oder noch verstärken. Chamberlains Leitmotive sind das bildungsbürgerlich-konservative bzw. -reaktionäre Gegenstück zur linksintellektuellen Reaktion auf den Untergang liberaler Lebensentwürfe des 19. Jahrhunderts. In gewisser Weise könnte man sie sogar als die Vorwegnahme einer konservativen Reaktion auf die Diskurse späterer 'linker' Intellektueller wie Gramsci, Brecht, Benjamin, Marcuse,18 Bloch u. a. betrachten. Während diese in ganz unterschiedlicher Weise um eine sinnvolle und praktikable Einbettung von Kultur und Kunst in eine von Technik und Massengesellschaft geprägte Zeit rangen und dabei mehr oder minder erfolgreich gegen den Liberalismus als Wirtschaftsform agitierten, benutzt Chamberlain die bürgerlichen Ideale des Liberalismus, nämlich den Anspruch auf Eigentum und Besitz, auf Bildung und Kulturhoheit, um diesem den Todesstoß zu verabreichen. Der Liberalismus ist für Chamberlain ebenso sehr Gegner wie für Moeller van den Bruck, aber statt politischer Agitation setzt er ihm das höchste Gut des Bourgeois selbst entgegen, das ihn neben dem Kapi_____________ 18
In einem Beleg spricht Chamberlain den von Marcuse so umworbenen Mittelstand direkt an: (Kriegsaufsätze I / Freiheit 21) "Und ist es nicht seine Bildung, welche nicht den deutschen Mittelstand über jeden ausländischen erhebt? Jene Bildung, die ihm von der Nation mit unnachsichtiger Strenge auferlegt wird, und dank welcher der Einzelne dann eine frei urteilende Persönlichkeit wird?"
460 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
tal bisher gesellschaftlich über alle anderen Gruppen und Stände erhoben hat, nämlich Bildung und Kultur. Indem er diese zur neuen Religion erhebt, den Bürger zu ihrem Priester weiht, verbal dabei die Türen für alle Nichtbürgerlichen dadurch offen lässt, dass er Kultur zur deutschen Kultur stilisiert, an der jeder Deutsche ungeachtet seines Standes oder seiner sozialen Schicht teilhaben kann, wirft er 'die Masse', 'den Arbeiter' als Gegenstand des Klassenkampfes aus dem Zentrum der gesellschaftsideologischen Auseinandersetzung hinaus; er rückt sie gleichsam an die Peripherie und lässt sie als geschichtlich überholt erscheinen. Chamberlain artikuliert mit seiner Kulturreligion in vielen seiner Schriften schon vor dem berühmten Satz Kaiser Wilhelms II. Ich kenne keine Parteien mehr19 die Sehnsucht nach dem Einheitsgedanken, die im Bildungsbürgertum ohnehin seit Generationen Wurzeln geschlagen hatte, die aber auch im revolutionären Proletariat Anklang fand, obwohl es durch die Revolutionierung bereits eine eigene Gemeinschaftsbildung hatte. Sofern man gemeinsam am Altar der deutschen Kultur, der natürlich ein arischer sein musste, opferte, war man Teil einer alles bisher Dagewesene durch seine kulturreligiöse Begründung relativierenden, das Neue dagegen als überhöht erscheinen lassenden Gemeinschaft. Während die Linksintellektuellen die sozialrevolutionäre Kollektivierung anstrebten, in der Kultur und Kunst der Masse, verstanden als quer zu den Völkern liegendes, internationales, damit keineswegs deutsches Proletariat, dienen sollten, suchte Chamberlain nach dem kultur- und bildungsständisch gegliederten Kollektiv, das den gemeinsamen Staat aller Deutschen als moralischen Kulturträger innerhalb einer göttlichen Ordnung über sich forderte und das als große Gemeinschaft zum Diener einer deutschen Kultur wird. Widersprüche der Art, dass dabei dasjenige, was als Kultur definiert wird, so elitär ist, dass es gar nicht kollektivierbar sein kann, werden nicht ausgesprochen. Da auch die Kultur nur einem größeren Ganzen dient, muss der Mensch sich ihr völlig unterordnen, wie dies auch seiner biologischen Natur als Mängelwesen entspricht: PI 31: Damit nicht genug, ist der Mensch infolge seiner Schwäche, seiner Entblößung, seiner Instinktarmut, ein Tier, das unfähig ist, in der Einsamkeit zu bestehen; die Vergesellschaftung ist eine Bedingung seines Daseins auf Erden; und Vergesellschaftung bedeutet immer gegenseitige Verpflichtung.
Kultur und Vergesellschaftung sind damit Notwendigkeiten zum Überleben. Das Mängelwesen 'Mensch', schwach, entblößt, instinktarm, nicht überlebensfähig, eher tierisch als menschlich, hat als Teil eines sozialistischen Kollektivs keinerlei Zukunft, es kann aber zum Titanen werden, die Grenzen zur Göttlichkeit übersteigen, wenn es sich künstlerisch, kreativ, _____________ 19
Thronrede Kaiser Wilhelms 1914. In: Politische Reden II, 664.
461 Der Diskursbegriff
schöpferisch der bereits biologisch begründeten Pflicht der Vergesellschaftung unterwirft. Diese Pflicht bezieht sich selbstverständlich nicht nur auf den freien Schöpfer, sondern auch auf den Erfinder von Recht, den Werkmann, den Schmied seines Glückes (bezeichnenderweise genitivus objectivus / effectivus); immer wieder wird in einem einzigen Satz durch Beispielnennungen der Skopus des Bürgertums aufgerufen. Gl 188: Nicht einzig in der Kunst ist der Mensch ein freier Schöpfer, auch im Recht bewährt er sich als herrlicher Erfinder, als unvergleichlich geschickter, besonnener Werkmann, als seines Glückes Schmied.
Das Mängelwesen kann aber auch defizitär bleiben, ein Tier gar, oder es kann durch unglückliche Zustände eine zusätzliche moralische Verschlechterung erfahren. Das Ineinanderweben von Kultur, Gott und Natur, das Chamberlains charakteristisches Diskursmerkmal ist, kann an der Gradierung des Menschen zwischen Mängelwesen und Prometheus20 dargestellt werden. Das Tierische ist gekennzeichnet durch das kulturell Defizitäre, das Menschliche als von Gott gegebene, in und durch Rasse qualifizierte schöpferische Kulturalität.
_____________ 20
Vgl. dazu auch Gobineau, II, 195.
462 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
2. Der religiöse Diskurs 2. 1. Die Reformation der Reformation – auf der Suche nach einer neuen Religion Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß »Weltanschauungen« niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren. Max Weber21
In den vorangegangenen Kapiteln wurden Religion und Weltanschauung gleichsam als verrechenbare Münzen behandelt, ähnlich auch Weltreligionen wie Christentum, Judentum und Buddhismus, altiranische "arische" Lehren Zarathustras und Manis, Größen wie Kulturreligion oder Bildungsreligion. Die scheinbare Beliebigkeit, mit der Religiosität zum Ausdruck gebracht wird, kann auch als Symptom einer Epoche verstanden werden, zu der F. Schößler im Rückgriff auf Luhmann schreibt: "Anders als vormoderne Gesellschaften, die von der natürlichen Perfektion des Menschen, von der Vererbung der Sünden und der Wirksamkeit der Erziehung ausgehen […], verfügt die moderne Gesellschaft über kein einheitliches Selbstbeschreibungssystem oder umfassendes Erklärungsmuster wie beispielsweise das religiöse und produziert deshalb unendliche Variationen ihrer Selbstbeschreibung, die keinerlei Anspruch auf Richtigkeit und Ausschließlichkeit erheben können – ein Relativismus, der auch für Protestbewegungen gilt […]." Die Kulturkritik zwischen den beiden Jahrhundertmitten, also zwischen 1850 und 1950, die in vielerlei Variation zu finden ist, vertreten durch Nietzsche, Schopenhauer und Wagner, aber auch durch Paul de Lagarde, Julius Langbehn, später Oswald Spengler und Arthur Möller van den Bruck, ist oft nicht trennbar von einer überkonfessionellen Kirchenkritik, die entweder zum Wunsch nach einer Reformation oder ganz zum Bruch mit der gängigen kirchlichen Praxis führt, wobei es keinen Unterschied macht, ob diese protestantisch oder katholisch ist. Doch besonders in den kulturell progressiveren protestantischen Kreisen hatte sich das Gefühl von Orientierungs- und Perspektivlosigkeit, von Angst und Unsicherheit, gar von Nervosität22 verbreitet. Säkularisation, _____________ 21 22
Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Weber-WL 154. Vgl. Radkau 1998.
463 Der religiöse Diskurs
theologische Liberalisierung und Kulturkampf hatten prinzipiell Gültiges radikal in Frage gestellt.23 Die sich immer rasanter entwickelnden Errungenschaften der Technik, der Medizin oder der Biologie machten wissenschaftlich erklärbar, was vormals noch im Reich der Wunder verblieben war, so dass das emotionale Ergriffensein nunmehr durch rationales Verstehen einer immer komplizierter werdenden naturwissenschaftlichen Praxis ersetzt werden musste. Die "Entzauberung der Welt",24 wie Max Weber diesen Prozess nennt, hinterließ Spuren oder besser gesagt, Bedürfnisse, die mit der Religion, so wie sie, jedoch ihrer bisherigen Erklärungskraft entkleidet, den Menschen offenbart wurde, nicht mehr befriedigt werden konnten.25 Der andauernde Versuch vor allem auch des liberalen Protestantismus, Religion zu rationalisieren, führte nahezu zwangsläufig zu einer Vielzahl mystischer, mystizierender oder halbheidnischer Gegenbewegungen, sei es zur Art des ästhetischen Katholizismus des George-Kreises, zu den einzelnen Verästelungen der Lebensreformbewegung, z. B. zu deren Sonnenkult, zu allen möglichen Wunderheilern,26 zu Wagnerianismus und Kunstreligion oder aber damit verbunden zum germanischen Christentum, wie es uns bei Chamberlain entgegentritt. Nietzsches Gott-ist-tot-Postulat27 wurde eben gerade nicht zur Grablegung von Religion und Glauben, wie viele ihm vorwarfen, sondern entwickelte bzw. verstärkte eine neue Art und Weise der Gott- und der Sinnsuche, die schon seit der Aufklärungszeit latent zunahm. Bildungsreligion und Kunsterlösung waren die Heilsbegriffe der Bürgerlichen, Sozialismus und Kommunismus diejenigen der Arbeiter. So begannen nicht nur die politischen Ansichten die Gesellschaft in immer kleinere und sich fremder werdende Gruppen zu spalten, auch der Glaube wurde zum Kennzeichen von Inklusion und Exklusion. Standen sich vormals nur Katholiken, Protestanten und Juden gegenüber, gab es nun eine Vielzahl vollkommen unterschiedlicher Gruppierungen (Lebensreformer, speziell Sonnenanbeter28, Vegetarier, Nudisten, dann Kunst- und Kulturgläubige, Bildungsgläubige, Monisten29, Reformkatholiken, neudeutsche Heiden30, Agnostiker, Pantheisten, Theosophen, darunter speziell Anthroposophen wie _____________ 23 24 25 26 27 28 29 30
Vgl. dazu Mommsen, Bürgerliche Kultur 1994, 82f. Weber, Wissenschaft als Beruf. In: Weber-WL 613. Vgl. dazu Bollenbeck, Weltanschauungsbedarf und Weltanschauungsangebote um 1900. In: Die Lebensreform 2001, 203; Gay, a. a. O. 207ff; 212ff. Vgl. dazu: Linse, Geisterseher und Wunderwirker 1996. Vgl. dazu: Mommsen, a. a. O. 92. Als interessantestes Beispiel sei hier nur auf das Lichtgebet des Fidus hingewiesen. Der Monistenbund wurde 1906 von Ernst Haeckel und dem späteren Nobelpreisträger der Chemie Wilhelm Ostwald begründet. Vgl. dazu Mommsen, a. a. O. 94. Vgl. dazu Clara Ebert, Neudeutsches Heidentum. In: Die Lebenskunst 3, 1908, 401-403.
464 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Rudolf Steiner, Ariosophen wie Lanz von Liebenfels,31 aber auch buddhistische Missionsbewegungen usw.), bei denen man nicht einmal mehr sicher war, ob sie überhaupt noch an einen wie auch immer verstandenen Gott glaubten. Die Gesellschaft der Deutschen brach in dem Moment religiös und weltanschaulich auseinander, in dem sie scheinbar politisch geeint war. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Konzepte, die von sich behaupteten, national vereinheitlichend und gesellschaftlich stabilisierend wirken zu können, und die darüber hinaus auch ganz individuelle Orientierungen versprachen, von vielen Zeitgenossen angenommen wurden. Es sind besonders die völkischen Kreise, in denen ein religiöses Vakuum empfunden und schließlich zu eigenen nationalchauvinistischen Orientierungen genutzt wurde. Puschner 2000, 1: Die Religion führt in das Zentrum der völkischen Weltanschauung wie auch der Bewegung. Religion und vor allem Religiosität bildeten die entscheidenden Antriebskräfte für völkisches Denken und Handeln; sie sind die Voraussetzungen für völkischen Radikalismus. Die völkische Weltanschauung trägt insofern Züge einer politischen Religion, wie die spezifische völkische Semantik veranschaulicht. Anders jedoch als der Nationalsozialismus wo die Weltanschauung Religionsersatz war, kreierten die Völkischen tatsächlich verschiedene sogenannte arteigene, d. h. rassespezifische und auf völkischer Germanenideologie fußende Religionen.
Das Gesagte gilt im Falle des germanischen Christentums Chamberlains32 umso mehr, als er im Unterschied z. B. zu Nietzsches erdverbundener Metaphysik, die ebenso ohne Heilsgewissheit auskam wie Eugen Diederichs kultur- und bildungsbürgerliche Diesseitsreligion,33 nationale und rassische Ewigkeit versprach. Chamberlain war anders als die oft skandalisierten Lebensreformsekten, denen beizutreten mitunter sehr viel Mut verlangte, außerdem im bildungsbürgerlichen Sinne salonfähig. Sein auf dem "Nationalheiligtum" Wagner aufbauendes Konzept der Selbsterlösung hatte dogmatisch gesehen zwar nichts mit dem Christentum gemein, war bei allen Verfälschungen nach außen hin aber doch bewusst innerhalb des bestehenden Christentums angesiedelt und verlangte von seinen Rezipienten – eine gewisse Korruptionsbereitschaft vorausgesetzt – keinen direkten Bruch mit der Tradition. Diese Konstruktion wird von Chamberlain als "zweite Reformation" vorgestellt, als Vollendung der geschichtli_____________ 31
32 33
Ariosophie ist eine rassistische Variante der Theosophie. Adolf Lanz (1874-1954), besser bekannt unter seinem Pseudonym Jörg Lanz von Liebenfels, scheint auch von einem seiner österreichischen Zeitgenossen gelesen worden zu sein, dem späteren Vegetarier Hitler. Vgl. dazu auch: Breuer, Grundpositionen 2001, 88; Field 1981, 223. Eugen Diederichs (1767-1930), Verleger aus Jena, publizierte 1908 einen aufwendig illustrierten Verlagskatalog unter dem Titel "Wege der deutschen Kultur", in dem er nach einer Reformation der Reformation verlangte. Vgl. dazu: Ulbricht, Die Reformation des 20. Jahrhunderts. In: Die Lebensreform 2001, 187.
465 Der religiöse Diskurs
chen Leistung Luthers, bleibt dem argumentativen Schein nach also dem Protestantismus verhaftet. Ganz konservativ-traditionell erklärt Chamberlain, dass seine Vorstellung von christlicher Religion nichts anderes sei als die Befreiung der Wahrheit aus den Fängen des Bösen. Nichtreflektierende Leser konnten so in dem Glauben verbleiben, sie seien orthodox protestantisch. Doch leitete der Evangelist of Race (so Field 1981: Buchtitel) das Altbewährte in solche Fahrwasser, die alle Bedürfnisse rationaler, naturwissenschaftlicher Erklärungen, insbesondere der lebensbejahenden Erbauung, Selbstidentifikation, der Abgrenzung, der Ressentiments und der Selbsterhöhung, vor allem der aktiven Selbsterlösung und des gleichzeitigen Wunsches nach dem sich Auf-Gott-Verlassenkönnen befriedigten. Was Chamberlain erstrebte, war eine nationalrassistische Reformation der Reformation. 2. 2. Das Germanische Christentum – eine besondere Form des Antisemitismus Der Sprache nach ist der Name Mensch wohl ein besonderer, aber der Wahrheit nach der Name aller Namen. Dem Menschen gebührt das Prädikat polyônymos. Was der Mensch auch immer nennt und ausspricht - immer spricht er sein eigenes Wesen aus. Die Sprache ist daher das Kriterium, wie hoch oder wie niedrig der Grad der Bildung der Menschheit. Der Name Gottes ist nur der Name dessen, was dem Menschen für die höchste Kraft, das höchste Wesen, d.h. für das höchste Gefühl, den höchsten Gedanken gilt. Ludwig Feuerbach34
Im Mittelpunkt der von Chamberlain gepredigten weltanschaulichen Theologie steht die Gestalt Christi. Der Sohn Gottes und Begründer des Christentums ist für ihn Ausgangspunkt und Endpunkt seines germanischen Christentums. Doch diese Weltanschauung widerspricht in allen grundsätzlichen Fragestellungen der von Christus gestifteten Religion, was sich schon im charakterisierenden Adjektiv germanisch offenbart. Während sich Christus nicht an irgendeine Gruppierung, heiße sie nun Rasse oder Volk oder Nation, sondern an alle Menschen gleichermaßen richtet, ist Chamberlains Version des Christentums bereits im Grundsatz rassistisch, was sich an der Beschreibung der religionsgründenden Personen Jesus Christus und Paulus festmachen lässt. Jesus (vgl. VII. 1) sei, so Chamberlain, arischer Abstammung (Gl 54 u. ö.), und seine religiöse Botschaft unjüdisch (MuG 297).35 Dies gelte ebenso für den Apostel Paulus36 (MuG _____________ 34 35
Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie. Feuerbach-KPS 76. Hier steht Chamberlain ganz in der Tradition Wagners. Vgl. Wagner 10, 232: "Bleibt es mehr als zweifelhaft, ob Jesus selbst von jüdischem Stamme gewesen sei, da die Bewohner von Galiläa eben ihrer unächten Herkunft wegen von den Juden verachtet waren, so mögen wir dieß, wie alles die geschichtliche Erscheinung des Erlösers Betreffende, hier gern
466 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
178f.) und dessen Erlösungslehre, die als altarisches Gut aus ihrem jüdischen Kontext isoliert (MuG 179f.) worden sei. In Christus feiert Chamberlain den ersten Helden, und von dessen Heilstat behauptet er, sie könne nur von den Indogermanen verstanden werden (Gl 894 s. u.). Das Prinzip 'Christus' ist für Chamberlain Leben, Licht, Tätigkeit und heitere, unbefangene, vertrauensinnige Bejahung (AW 87). Ihm gegenüber wird das Bild von Pessimismus und Verneinung37 (Gl 236), von Materialismus (MuG 61; 125) und Sünde (MuG 297) entworfen, Kennzeichnungen, die immer wieder für das auf diese Weise diffamierte Judentum gebraucht werden.38 So steht das Wort Verneinung für eine Polemik, die Nietzsche mit Chamberlain und der Lebensphilosophie verbindet. Lebensbejahung auf der Ebene einer neuen Lebens- und Existenzphilosophie ist der Gegenpol, der auch mit dem Wort Bejahung immer wider thematisiert wird. GL 676: Doch ist die zweite insofern von grösserer Tragweite, als die Erlösung durch Erkenntnis, wie Indien zeigt, im letzten Grunde eine Verneinung pure et simple bedeutet, somit kein positives, schaffendes Prinzip mehr abgiebt, indes die Erlösung durch den Glauben das menschliche Wesen in seinen dunkelsten Wurzeln erfasst und ihm eine bestimmte Richtung, eine kräftige Bejahung abtrotzt: Ein‘ feste Burg ist unser Gott! Der jüdischen Religion sind beide Auffassungen gleich fremd.
Chamberlain verfasst, wie schon beschrieben wurde, keine theologischen Abhandlungen, sondern Erbauungstexte auf Kosten des Judentums, keine frommen Betrachtungen über den Menschen in seiner Unvollkommenheit, Sterblichkeit oder existentiellen Verlorenheit, keine Meditationen über eine imitatio dei oder gar eine Passionsnachfolge Christi, sondern Erörterungen über ein germanisches Christentum, das auf der Vorstellung eines machtvollen Gottmenschen Christus, nicht auf der eines leidenden und demütigen Christus beruht. Die christliche Botschaft wird auf eine bestimmte, sich über 'Rasse' definierende Nation (oder Nationengruppe) bezogen, alle nicht Dazugehörigen werden exkludiert. Der für das Neue Testament geradezu konstitutive universalistische Auftrag, "alle" (Mt 28, _____________
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dem Historiker überlassen, der seinerseits ja wiederum erklärt mit einem »sündenlosen Jesus nichts anfangen zu können.« Uns wird es da gegen genügen, den Verderb der christlichen Religion von der Herbeiziehung des Judenthums zur Ausbildung ihrer Dogmen herzuleiten." Gl 691: "Ob Paulus ein rassenreiner Jude war, bleibt, trotz aller Beteuerungen, sehr zweifelhaft; ich meine doch, das Zwitterwesen dieses merkwürdigen Mannes dürfte zum Teil in seinem Blute begründet liegen. Beweise liegen nicht vor. Wir wissen nur das Eine, dass er nicht in Judäa oder Phönizien, sondern ausserhalb des semitischen Umkreises, in Cilicien, geboren ward, und zwar in der von einer dorischen Kolonie gegründeten, durchaus hellenischen Stadt Tarsus. […] so erscheint die Vermutung durchaus nicht unzulässig, dass Paulus zwar einen Juden aus dem Stamme Benjamin zum Vater […], dagegen aber eine hellenische, zum Judentum übergetretene Mutter gehabt hat." Vgl. AW 86; PI 45. Vgl. dazu z.B. MuG 251.
467 Der religiöse Diskurs
19) Völker zu lehren und "alle" zu taufen, sie damit als vor Gott gleich zu sehen, geht verloren. Die Botschaft Christi dient ihm im Gegenteil dazu, nur den Germanen als besonderen von Gott erwählten Menschentyp zu installieren und diese neue Erwähltheit in psychopathologischer Weise gegenüber dem im Sinne des Alten Testamentes auserwählten Volk der Juden zu verteidigen. Dass Chamberlain hier die geschichtsideologischen Rollenverhältnisse umkehrt, braucht kaum erwähnt zu werden. Israel galt durch seine ausgeprägte Erinnerungskultur des Bewahrens und Gedenkens als "Prototyp der Nation".39 Dies hatte in einer um den Begriff der Nation ringenden Gesellschaft wie der deutschsprachigen Vorbildcharakter, es rief Neid hervor, reizte aber gleichzeitig zur Nachahmung und verband sich mit strikter, natürlich auf biologische "Vorgegebenheiten" zurückgeführter Abgrenzung bzw. in anderer Perspektive: mit Inklusion.40 Die damit angedeutete Bildung von Kontrasten und Zusammenhängen vollzieht Chamberlain regelmäßig in Form von schon beschriebener Hell- / DunkelMetaphorik sowie durch die Schaffung einer Opposition von christlichem Optimismus und christlichem Konstruktivismus auf der einen Seite und jüdischem Pessimismus und jüdischer Destruktion auf der anderen. Erwartungsgemäß steht das Schöpferische als Unterscheidungskriterium bzw. als Schlüsselbegriff wieder im Vordergrund. Der erbauungsliterarische Charakter der Texte Chamberlains beruht auf der beständigen Vermittlung eines Glaubens an die Zugehörigkeit des durch Rasse, historische Kontinuität, kulturelles Schöpfertum und Zukunft ausgezeichneten germanischen Gottmenschen; die gleichermaßen festzustellenden psychopathologischen Züge in diesen Texten bestehen im fanatischen Versuch des weltanschaulich Verunsicherten, gegen einen zum Dämon gewordenen bzw. gemachten, alles zersetzenden Feind zu kämpfen, um dadurch eine heilvolle Zukunft zu erzwingen. Christus, gleichzeitig Mensch und Gott, ist in dieser Glaubenskonstruktion der erste und wichtigste abendländische Gottmensch,41 der perfectus homo (MuG 87), er bündelt in sich gleichzeitig alle Vorstellungen und Wünsche vom ewigen Leben des Menschen und der ewigen Schöpferkraft Gottes. Er ist das Vorbild für alles Gottmenschentum, wie es Chamberlain in seiner germanischen Weltanschauung auch für den neu zu schaffenden Arier vorschwebt. Immer wieder finden sich Parallelen zu diesem neuen Menschentyp (vgl. Gl 242), den Christus durch die mit ihm vollzogene Ablösung vom Judentum möglich gemacht haben soll. In einer ge_____________ 39 40 41
Jan, Assmann, Das kulturelle Gedächtnis 1997, 30. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 221: "Hinter allen 'ethnischen' Gegensätzen steht ganz naturgemäß irgendwie der Gedanke des 'auserwählten Volks'." Vgl. Worte Christi 46f.
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zielten Abgrenzung zu den traditionellen Kirchen, die aber als Weiterführung dargestellt wird und damit an die "wahre" Tradition anschließbar ist, beschreibt Chamberlain das teleologische Werk der christlichen Menschwerdung jedoch als noch nicht vollendet, sondern auf halbem Wege stecken geblieben. Gl 246: Christus dagegen bedeutet den Morgen eines neuen Tages; er gewann der alten Menschheit eine neue Jugend ab, und so wurde er auch der Gott der jungen, lebensfrischen Indoeuropäer, und unter dem Zeichen seines Kreuzes richtete sich auf den Trümmern der alten Welt eine neue Kultur langsam auf, an der wir noch lange zu arbeiten haben, soll sie einmal in einer fernen Zukunft den Namen "christlich" verdienen.
Jung und lebensfrisch zwar, aber vermeintlich noch immer von jüdischem Gedankengut (MuG 110 f.; 125) durchsetzt, muss die von Christus ausschließlich für den Indoeuropäer gestiftete Religion noch von altem jüdischem Gedankengut gereinigt und in die geordneten Bahnen einer christlich germanischen Weltanschauung geführt werden. Dazu reicht der theologische Sinnzusammenhang allein nicht aus. Zwar ermöglicht Christus den neuen Adam durch seine religiöse Heilstat, – der neue Adam ist eine Bezeichnung, die Paulus wie später Luther in einem vollkommen anderen Zusammenhang gebraucht42 –, doch während der neue Adam des Protestantismus als nicht von dieser Welt und theologisch durch die Rechtfertigung gekennzeichnet ist, wird der neue Mensch in Chamberlains Vorstellung weltimmanent und vor allem biologisch, letztlich rassisch begründet. Das von Chamberlain proklamierte Christentum basiert auf der Vorstellung, dass sich die Prädestination eines Menschen schon in seiner Rassenzugehörigkeit offenbart. Diese wiederum determiniert dann nicht nur seine Fähigkeit der Gotteserkenntnis, sondern letztlich auch seine weithin sichtbare Gottesebenbildlichkeit. Wird diese biologische Zugehörigkeit bedroht, ist folglich nicht nur die Immanenz gefährdet, sondern auch die Transzendenz. Die Gefährdung durch Vermischung mit anderen Rassen, vorzugsweise durch den biblischen Gegenspieler, das auserwählte Volk der Juden, beschränkt sich dann nicht mehr nur auf Glaubensfragen und traditionelle Religionszwistigkeiten, sondern mündet ein in eine Drohkulisse des alles vermischenden Völkerchaosgedankens. Gl 894: In Jesus Christus hatte das absolute religiöse Genie die Welt betreten: Keiner war so geschaffen, diese göttliche Stimme zu vernehmen, wie der Germane; die grössten Verbreiter des Evangeliums durch Europa sind alle Germanen, und das ganze germanische Volk greift gleich, wie schon das Beispiel der rauhen Goten zeigt zu den Worten des Evangeliums, jedem blöden Aberglauben (die Geschichte der Arianer bezeugt es) abhold. Und trotzdem schwindet das Evangelium bald und verstummt die grosse Stimme; denn die Kinder des Chaos wollen
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Vgl. dazu MuG 204ff.
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von dem blutigen stellvertretenden Opfer nicht lassen, […]; dazu gesellt sich allerhand kabbalistischer Zauber und stoffliche Metamorphose aus dem späten unsauberen Syro-Ägypten: und das alles, durch jüdische Chronik ausstaffiert und ergänzt, ist nunmehr die "Religion" der Germanen!
Im Sinne des altindischen Kastenwesens wird die Vermischung als Verunreinigung angesehen, deren Folgen nicht nur den reziproken Verlust der Menschlichkeit, sondern auch der Göttlichkeit impliziert. Kehren wir noch einmal zurück zum Menschenbild, nun aus theologischer Perspektive. In seinem letzten Werk Mensch und Gott werden der Mensch (MuG 13ff.; 19) und Gott (MuG 20ff) von Chamberlain als Gedankengestalten beschrieben, die sich gegenseitig bedingen (MuG 22). So ist die Idee Gottes das Gegenstück zu der Idee des Menschen (MuG 31). Entsprechend wird der Glaube zur zwangsläufigen Denknotwendigkeit (ebd.) für diesen. Ähnlich wie bei Feuerbach, nur keineswegs rational begründet, sondern in eine völlig irrationale Rassentheologie einführend, folgert Chamberlain daraus drei Gottesbegriffe (MuG 29): den persönlichhistorischen Judengott, den mythologisch-mystischen dreieinheitlichen Gott des Weltalls und die dem Menschen notwendige und insofern angeborene Gedankengestalt Gott. Die beiden ersten Gottesbilder lehnt er ab, – das erste, weil er darin den jüdisch materialistischen Gott sieht: ein alter Jude […] zornmütig und rachsüchtig […] der einfachsten sittlichen Begriffe ermangelnd: jeden Betrug, jeden Raub- und Mordzug billigt er, sobald dieser seinem auserwählten Völkchen oder einem seiner besonderen Lieblinge zugute kommt (MuG 30), – das zweite, den christlich-abendländischen Gott, dessen Vorstellung einer heiligen Dreieinigkeit (Trimurti) altarisches Gut [ist] (MuG 30), weil dieser, trotz seiner klaren Trennung vom jüdischen Gott, durch kirchliche Dogmen zersetzt wurde und weil er nicht den ergänzenden Gegensatz zu der Idee des Menschen, sondern zu der der Natur darstellt (ebd.).
Der dritte Gottesbegriff ist für ihn der entscheidende. Er entspricht keiner Theologie, ist nur abstrakt greifbar, ein Gott, den man mit all dem irrationalen Gedankengut füllen kann, das Menschen sich denken können. Nur er kann das wahre Spiegelbild zum Menschen sein. MuG 31: Diese dritte in Wahrheit die allererste Gottesvorstellung ist die eigentlich reinmenschliche, und gerade wegen ihrer Reinmenschlichkeit, die reingöttliche; hier hat der Mensch weniger Eigenwillen hineingelegt, hier hat er nicht Gott zum politischen deus ex machina mißbraucht, wie der Hebräer, noch wie die Kirchenväter eine großartige Gottesintuition durch unendliches Spintisieren zugleich menschenmäßig eingeschränkt und dem Menschenherzen ferngerückt. Bezeichnend für diese Gedankengestalt ist gerade ihre Unbegreiflichkeit: der Mensch sucht ein höheres Wesen, das seinen Verstand überragt; verstünde er es, so wäre es nicht das, was er sucht, und dessen er so notwendig bedarf.
Nicht nur in der Christusgestalt findet eine Annäherung zwischen Gott und dem Menschen statt. Der Mensch wird göttlich und Gott menschlich.
470 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Ein wichtiges Attribut dieses vermenschlichten Gottes ist das Adjektiv rein. Denn der dritte Gott ist der vom ersten, dem "Juden"gott religiös, aber auch rassisch nicht verunreinigte. Man erkennt ihn an einer mit dem Verstand nicht zu erreichenden Unbegreiflichkeit, daran, dass er das Unergründliche / Unfassliche (ebd.) darstellt, dass er nur als das unverfälschte, reine, ursprüngliche Gottesgefühl in des Herzens Tiefen wahrgenommen werden kann. Es geht auch hier um die angeborenen Instinkte (MuG 33), die allein das Göttliche erfassen können, nicht um Bibel oder Schriftreligion, um Einsicht oder Dogma. Die Instinkte sind naturgegeben und werden durch Evolution und Zuchtwahl herausgebildet. Die ideologische Verschränkung von Theologie und Darwinismus und damit von Gotteserkenntnis und Rassenzugehörigkeit kann aus diesem Beleg noch einmal pointiert abgelesen werden. Neben den biologistischen und pseudorationalen Argumenten werden auch die mittelalterlichen Mystiker zur metaphorischen und narrativen Untermalung herangezogen. Die oben zitierten Formeln vom Ursprünglichen, Unergründlichen oder Unfasslichen gehören in das Wortbildungssystem der Mystiker, so dass sich eine funktionalisierte Mystik und ein falsch verstandener Meister Eckart (MuG 34) wie ein roter Faden durch Chamberlains neue arische Theologie ziehen, die deswegen ebenso gut als arische Mystik bezeichnet werden könnte. Rationalismus und Vernunft (vgl. MuG 34) werden dagegen zu Stigmawörtern in einer einzig auf Erbauung (umgekehrt: Judendiskriminierung) ausgerichteten arischen Theologie.43 Dem Erheben und Erbauen auf der einen Seite entspricht das Unterdrücken alles Jüdischen auf der anderen. Sehr häufig kommt es in Chamberlains Texten zu exkludierenden Kennzeichnungen des jüdischen Gottes, oder wie er heranblassend sagt: des Wüstengottes oder Judengottes, mit dem der "arische" Christus nichts zu tun habe (MuG 109) und der von diesem nie als Vater bezeichnet werden würde. Die daraus folgende Metaphorik ist eindeutig. Genau dieser Judengott habe das wahre Bild der Gottheit vergiftet.44 Er sei schuld am Beziehungsverlust, gar an der Entfremdung zwischen Mensch und Gott. Der universale "Sündenbock" für das als gescheitert angesehene Christentum ist gefunden.
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Vgl. dazu auch: Habermas 1996, 15: "[Die] historische Vernunftskepsis gehört dem neunzehnten Jahrhundert an, und erst in unserem Jahrhundert haben die Intellektuellen den großen Verrat begangen." Vgl. dazu auch: GL 479: "heute noch, wie vor 3000 Jahren, ist Jahve nicht der Gott des kosmischen Weltalls, sondern der Gott der Juden; er hat nur die übrigen Götter umgebracht, vertilgt, wie er auch die übrigen Völker noch vertilgen wird, mit Ausnahme derer, die den Juden als Sklaven dienen sollen."
471 Der religiöse Diskurs
MuG 35: Ich glaube an keine Möglichkeit eines alle Kreise erfassenden mächtigen und anhaltenden Wiederaufblühens religiösen Lebens, bis nicht dieser Gott – der nicht gewusst, sondern geglaubt wird – von neuem allgemeiner Besitz der Menschenseelen wird. Dazu müßte aber der Wüstengott aus unserer Erziehung verbannt werden; er vergiftet uns von Kindesbeinen an unsere Vorstellung von und unsere Beziehung zu der Gottheit.
Nicht nur, dass Christus, wie schon oben s. v. Persönlichkeit dargestellt worden ist, kein Sohn eines Juden sein kann, seine nichtjüdische Abstammung wird in folgenreichen Argumentationsketten begründet. Christi Sohnschaft (MuG 109) muss zusätzlich rassisch einwandfrei sein, da in der Theologie der Gotteskindschaft, wie sie allgemein von allen christlichen Kirchen gelehrt wird, alle Menschen einbezogen sind. Chamberlain sucht gezielt den Ausschluss der Hebräer aus dieser Gemeinschaft der Gotteskinder. Dazu nutzt er bekannte Parolen des religiösen Antisemitismus, in dem die Juden als Christusmörder verfolgt wurden und verbindet sie mit einer durch Pseudotheologie legitimierten Rassetheorie. MuG 117: Von Geburt war Jesus Galiläer und als solcher von Hause aus im jüdischen Glauben aufgewachsen; sein Gegensatz zum Judentum führt ihn ans Kreuz!
Religiöser und rassischer Antisemitismus gehen offensichtlich Hand in Hand. Eine besonders deutliche, verschiedene Register des Christentums missbrauchende Variante dieser Verbindung kommt in der Formulierung von der blutsbrüderschaftlichen Verwandtschaft zwischen Mensch und Gott (MuG 43f.) zum Ausdruck. Speziell das Wort Blut scheint Chamberlain zu ausufernden semantischen Vernetzungen angeregt zu haben. Während die Blutsmetapher im religiösen Ritus das Opfer Christi ins Bewusstsein bringen soll, indem auf das äußerlich vergossene Blut Christi, repräsentiert durch den Wein beim Abendmahl, verwiesen wird, nutzt Chamberlain die Bildlichkeit gezielt dazu, die Rassenfrage zu assoziieren. Eine religiöse Blutsgemeinschaft würde durch das religiöse und von den Menschen auch verkostete Opfer gestiftet, sei es archaisch durch das Tieropfer auf der Schlachtbank, sei es durch das von Gott nicht gewollte Menschenopfer Isaaks durch Abraham im Alten Bund, sei es schließlich durch das vollzogene Opfer Christi im Neuen Bund. Durch den gemeinsamen Verzehr des Opfermahls der im Neuen Bund begründeten Christengemeinschaft käme es in der unkonventionellen Argumentation Chamberlains zu einer neu gestifteten Blutsverwandtschaft, nämlich zwischen denjenigen, die das Blut Christi in Form des Abendmahles trinken, und Christus selbst. Was diese Blutsbrüderschaft mit Christus alles impliziert, kann hier nur angedeutet werden. An dieser Stelle schließt sich jedenfalls der Kreis zum postulierten germanischen Christentum wieder. Denn es wird deutlich, dass die Blutsgemeinschaft als eine rassische Überdachung
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aller Christen gedacht wird, die auf diese Weise nicht nur zu einer Glaubens – bzw. Gedächtnisgemeinschaft, sondern vor allem zu einer ähnlich 'blutsmäßig' verbundenen Rassegemeinschaft werden soll, wie er sie den Juden unterstellt. GL 772: so empfinde ich lebhaft, dass ein einziger göttlicher Sturmwind genügen würde, um das verhängnisvolle Gaukelspiel angeerbter Wahnvorstellungen aus der Steinzeit hinwegzufegen, die Verblendungen des verfallenen Mestizenimperiums wie Nebelhüllen zu zerstreuen und uns Germanen alle – gerade in der Religion und durch die Religion – in Blutbrüderschaft zu einen.
An der folgenden Beschreibung Abälards kann man außerdem sehen, wie 'einfach' die rituelle Aufnahme eines Nichtgermanen in die Blutsgemeinschaft vollzogen wird. Chamberlain möchte Abälard in die Gemeinschaft der Germanen einreihen; und er tut dies mit den rituellen Worten der Eucharistie, die die Gemeinschaft mit Christus beschwören: Der Bretone wird mit dem Beschwörungsakt Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem teutonischen Blut ins Germanentum einverleibt. Die Formel ist nicht nur sakralsprachlich, sie öffnet durch das Adjektiv teutonisch zugleich den nationalistisch rassebezogenen Rahmen. GL 557: Im Herzen der Bretagne wird jener bahnbrechende Geist Petrus Abaielardus geboren, […]. Ein typischer Kelte in der düsteren Leidenschaftlichkeit seines Wesens, ein neuer Tristan in seinem Liebesleben, ist er doch Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem teutonischen Blut; er ist ein Germane.
Es ist kaum zu übersehen, dass für Chamberlain diese neue religionsbegründete Rasse in außergewöhnlicher Weise auserwählt und legitimiert ist, nämlich durch Gott selbst. Diesen Sohn Christus wirkt als Blut übertragende Mittlerperson zwischen Gott und den Menschen und steht in direkterem Kontakt zu denjenigen, die mit ihm verwandt sind, eben seinen Blutsbrüdern. Die Blutsbrüderschaft macht aus der Sohnschaft des Einen die Sohnschaft auch der 'Blutsbrüder', was die Überwindung der Kreatürlichkeit impliziert und die Aufwertung in Richtung auf den gottähnlichen Kreator. Chamberlains Ausführungen handeln entsprechend durchgängig von der unstillbare[n] Sehnsucht […] nach gottverwandtem Menschentum (MuG 50), von der Frage nach dem Gottmenschen, dem Gottwerden, dem Einswerden mit der Gottheit, kurz von der Vergottung (MuG 60/61 u. ö.). Vergottung (MuG 61) erfolgt durch göttliche Speisung, oder wie Chamberlain es auch nennt, durch Gottspeisung (MuG 63), also durch die Sakramente, die im übrigen von ihm als uralter Brauch der arischen Völker (MuG 62) über jeden Zweifel möglicher alttestamentlicher und damit jüdischer Herkunft erhoben werden.
473 Der religiöse Diskurs
2. 3. Paul de Lagarde, ein Kritiker der zeitgenössischen Theologie und Vorläufer Chamberlains Zu Niblum will ich begraben sein / am Saum zwischen Marsch und Geest. / […] Zu Niblum will ich mich rasten aus / von aller Gegenwart. / Und schreibt mir dort auf mein steinern Haus / nur den Namen und: "Lest Lagarde!" / Ja, nur die zwei Dinge klein und groß: / Diese Bitte und dann meinen Namen bloß. / Nur den Namen und "Lest Lagarde!" 45
Christian Morgenstern
Die Affinität Chamberlains zum zeitgenössischen Protestantismus ist durchgängig spürbar; sie resultiert erstens daraus, dass dieser traditionell christozentrisch ist und Christus als Gott und Menschen in den Mittelpunkt stellt, zweitens, dass der Reformator Luther als Begründer der evangelischen Kirche in den Augen Chamberlains einer der bedeutendsten Deutschen war,46 und drittens, dass der Protestantismus aufgrund seiner räumlichen Konzentration auf deutschsprachige Gebiete als die "deutsche" Religion schlechthin bezeichnet werden konnte. Chamberlains germanisches Christentum ist nicht nur vom Rassegedanken bestimmt, es ist infolge des Rassegedankens auch national ausgerichtet, was wiederum besonders in der Feindschaft gegenüber dem als ultramontan gekennzeichneten universalen Katholizismus zum Ausdruck kommt, eine Rückkoppelung auch an die bismarckisch-preußische Kulturkampftradition. Chamberlains nationalistisches Religionsverständnis ist aber auch in vielen Teilen an den Orientalisten Paul de Lagarde47 angelehnt, dessen kulturkritische und religionsphilosophische, eine Nationalreligion ausrufende Schriften er in den Grundlagen mehrfach zitiert (z. B. Gl 1056). Lagardes48 Gedankenführung erfuhr vor allem in protestantischen Theologenkreisen eine große Resonanz. So hat Ernst Troeltsch den zweiten Band seiner Gesammelten Schriften sogar dem Gedächtnis von Paul de Lagarde gewidmet,49 in dem er einen "der anregendsten und bedeutendsten, wenn _____________ 45
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Christian Morgenstern, Stufen, Autobiographische Notiz 1977, 11. Dort schreibt er noch: "Das Jahr 1901 sah mich über den 'Deutschen Schriften' Paul de Lagardes. Er erschien mir – Wagner war mir damals durch Nietzsche entfremdet – als der zweite maßgebliche Deutsche der letzten Jahrzehnte […]." Vgl. dazu Jacob Grimm, Mythologie 1997 (Vorwort XXXVIII): "Es war nicht zufall, sondern nothwendig, dass die reformation gerade in Deutschland aufgieng, das ihr längst ungespalten gehört hätte, würde nicht auswärts dawider angeschürt. Nicht zu übersehn ist, wie empfänglich derselbe boden germanischen glaubens in Skandinavien und England für die protestantische ansicht bleibt. Wie günstig ihr ein großer theil Frankreichs war, in dem deutsches blut haftete. gleich sprache und mythus ist auch in der glaubensneigung unter den völkern etwas unvertilgbares." Vgl. dazu auch Stern 2005, Sieg 2007, dort besonders 312-316. Vgl. dazu: Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, 1995, 747f. Troeltsch, Zur religiösen Lage 1913.
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auch zugleich eine[n] der seltsamsten theologischen Denker" erkannte.50 Mit dem Verweis auf Troeltsch, einem noch heute bekannten und angesehenen Theologen seiner Zeit, soll deutlich gemacht werden, dass die von Lagarde vorgebrachte Kulturkritik auch in den Kreisen Anklang gefunden hat, die eher als liberal zu gelten haben.51 Man könnte Lagarde daher mit Fritz Stern in seiner Pathologie der Kulturkritik als einen Propheten52 bezeichnen, der "einen Weg zur nationalen Wiedergeburt" habe aufzeigen wollen, nachdem er zuvor das zeitgenössische Verhängnis eines allgemeinen Sprach- und Sittenverfalls detailliert beschrieben und den "Niedergang des deutschen Geisteslebens und den Verfall seines Ethos verkündet" habe.53 Lagardes erklärtes Ziel ist eine nationale Wiedergeburt, die den deutschen Menschen und das "deutsche Volkstum" aus den Fängen der jede Moral untergrabenden Modernität54 entreißen sollte. Dies setze aber zunächst eine nationale Religion55 voraus, in der das Evangelium Jesu,56 allerdings frei von der jüdischen Geißel (s. u.),57 aufgrund seiner germanischen Naturanlage (a. a. O. 130) zu einer lebendigen, das ganze Volk durchdringenden Kraft werden müsse. Lagarde, Die Religion der Zukunft. Schriften für Deutschland 144: wir wollen die Anerkennung, Erziehung, Verklärung unserer eigenen Natur, wir wollen aber
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Ebd. 19f. Lagarde hatte auch auf viele andere Persönlichkeiten große Wirkung, dazu zählt nicht zuletzt Ferdinand Tönnies, der 1887 sein berühmtes Buch "Gemeinschaft und Gesellschaft" publizierte. Laut Fritz Stern seien Lagardes Nationenbegriff und Tönnies Gemeinschaft nahezu identisch. Tönnies habe sich darüber hinaus ganz offen dazu bekannt, dass Lagarde ihn stark beeinflusst hätte. Vgl. Stern 2005, 83 (Fußnote), aber auch ebd. 116ff. Zum Einfluss auf Thomas Mann, Richard Wagner, Franz Mehring, Adolf Bartels, Heinrich Class, Alfred Rosenberg usw. ebd. 116-122. Stern 52: "Als Prophet wollte er sein Volk lehren, seine Feinde zu besiegen und seine frühere Größe zurückzugewinnen. Überheblich verkündete und glaubte Lagarde selbst der Prophet zu sein, der Deutschlands Wiedergeburt vorbereiten würde. Und er wollte nicht nur ein Prophet Gottes sein – er hielt sich für den Propheten des Deutschtums, des noch unverdorbenen Volkstums, und als solcher wurde er auch gefeiert". Stern, a. a. O. 1f. Die Gleichsetzung des Jüdischen mit der Modernität war eine wichtige Komponente des Lagardeschen Antisemitismus. Vgl. Stern, a. a. O. 91: "Zum Ekel vor der Moderne kommt die Abscheu vor dem Liberalismus." Vgl. dazu Lagarde, Schriften für Deutschland, Die graue Internationale. 1933, 146ff. Lagarde, Schriften für Deutschland 1933, 56ff.; 72f. Lagarde, Schriften für Deutschland 1933, 130. Lagarde unterstellt der Person Jesus, dass sie antijudaistisch zu sei: "Es war gewiß begreiflich, dass ein mit dem Instinkte des Ewigen begabter Mann vor den ihn umgebenden Juden als Masse nichts anderes als Abscheu empfand". Vgl. dazu auch: Lagarde, Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik. In: Deutsche Schriften 1903, 25f.: "Jeder Jude ist ein Beweis für die Unkräftigkeit unseres nationalen Lebens und die Wertlosigkeit dessen, was wir christliche Religion nennen".
475 Der religiöse Diskurs
nicht von einem russischen Kutscher an einer französischen Leine gefahren, und mit einer jüdischen Geißel geschlagen werden.
In der Offenbarung und in der Wegbereitung einer solchen nationalen, das heißt deutschen Religion sah er seine weltgeschichtliche Aufgabe. Nationale Religion konnte für ihn 58
Lagarde, Nationale Religion 72: wesentlich unprotestantisch, - nicht eine ausgebesserte alte sein […], wenn Deutschland ein neues Land sein soll, die - wesentlich unkatholisch - nur für Deutschland da sein kann, wenn sie die Seele Deutschlands zu sein bestimmt ist, die – wesentlich nicht liberal – nicht sich nach dem Zeitgeiste, sondern den Zeitgeist nach sich bilden wird, wenn sie ist, was zu sein sie die Aufgabe hat, Heimatluft in der Fremde, Gewähr ewigen Lebens in der Zeit, unzerstörbare Gemeinschaft der Kinder Gottes mitten im Hasse und der Eitelkeit, ein Leben auf Du und Du mit dem allmächtigen Schöpfer und Erlöser, Königsherrlichkeit und Herrschermacht gegenüber allem, was nicht göttlichen Geschlechtes ist. Nicht human sollen wir sein, sondern Kinder Gottes: nicht liberal, sondern frei: nicht konservativ, sondern deutsch: […] das Göttliche in jedem von uns leibhaftig lebend […].
Das in den beiden letzten Zitaten von Lagarde vorgestellte Menschenbild zeigt deutliche Parallelen zu Chamberlain. Besonders auffällig in ihrer Ähnlichkeit ist die religiöse Überhöhung des Menschen innerhalb einer nur noch dem äußeren Rahmen nach christlichen Religion. Lagarde schreibt im vorletzten Zitat sakralsprachlich auf die Erhöhung von Heiligen anspielend von der Verklärung des Deutschen. Im letzten Zitat ist aber bereits von de Gottesebenbürtigkeit des Deutschen die Rede, wenn er ein Leben auf Du und Du mit dem allmächtigen Schöpfer führen wird. Die Gotteskindschaft und die Gottesebenbildlichkeit, die die Phrase, was nicht göttlichen Geschlechtes ist, impliziert, wird hier von Lagarde sofort auf den relevanten Punkt gebracht. Ewiges Leben in der Zeit kann nur erträglich sein, wenn es Königsherrlichkeit und Herrschermacht bedeutet. Und genau das verspricht Lagarde seinen Deutschen. Sie werden wie in Chamberlains Utopie schon im Diesseits zu Göttern erhoben, die über alles Nichtgöttliche herrschen sollen. Lagardes Germanophilie ähnelt nicht nur in der religiösen Überhöhung derjenigen Chamberlains: Lagarde, Deutschs Vaterland 186: Das deutsche Volk wird Parlamente, Landtag, Liberalismus, Fortschritt und ein paar Hände Krönchen mit Freuden fahren lassen, wenn ihm die Gewissheit wird, dass ihm endlich einmal sein Kleid auf den Leib zugeschnitten werden soll. Alle Germanen sind, nicht trotzdem, sondern weil sie Freunde der Freiheit sind, Aristokraten im besten Sinne des Worts.
Und ähnlich wie bei Chamberlain, der im Römischen Reich den Ursprung des Völkerchaos ansiedelt und auch dessen vermeintlich größte Errungenschaft, die Staatsorganisation, nur so weit als Kulturleistung anerkennt, _____________ 58
A. a. O.
476 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
wie sie seinen Vorstellungen entspricht, sieht auch Lagarde das römische Element in der deutschen Kultur, die Staatsbildung, durchaus kritisch. Rom ist für ihn der Antipode59 zum Germanentum, der Staat, sofern er jedenfalls durch Stimmviehgetriebe öffentlicher Versammlungen gekennzeichnet sei, das Hemmnis für ein Herrschaftskonzept mit völlig anderem Charakter. Diesen anderen Charakter fasst Lagarde mit stilistisch teils mehrfach wiederholten Ausdrücken wie frei, selbständig, Stamm, Bund, Männer, national, einen, binden: Von selbständigen Persönlichkeiten, Männern, ausgehend, die sich frei zu ebenfalls selbständigen Gruppierungen, Stämmen, Bünden genannt, zusammenschließen, entsteht schließlich ein freier Bund, den eine nationale Religion eint und bindet. Da dieser Vorgang, der sich übrigens in modifizierter Form auch bei A. Moeller van den Bruck findet, mit Naturgegebenheiten wie Tau, Baum, Gras, Blume assoziiert, mit der Tätigkeit von Kinderseelen verglichen und mehrfach als nationale, deutsche Aufgabe beschrieben wird, erscheint er als etwas ebenso Volkstümliches wie Ursprüngliches und Religiöses.60 Lagarde 180: Die Sektenkirchen sind das notwendige Heilmittel gegen das erschlaffende, uns zum Untergange hindrängende Stimmviehgetriebe unsrer öffentlichen Versammlungen: sie sind solange nötig, als nicht Deutschland ein freier Bund selbständiger Stämme, und seine Stämme nicht ein Bund selbständiger Männer geworden, und als nicht eine nationale Religion alle Deutschen eint und bindet. Nehmet jeden Schein weltlicher Hilfe von der Religion hinweg, aber rührt nicht an sie, wann sie da ist, lasset sie gewähren: sie allein kann uns helfen. Kinderseelen schütten nach dem deutschen Glauben den Tau nachts auf den Baum, Gras und Blume: Kinderseelen werden den Tau auch unserm Volke herbeitragen.
Wahres Ziel ist der Kampf für einen neuen Glauben, eine neue Glaubensgemeinschaft, eine Welt mit festen Werten und ohne "Zweifel, eine neue nationale Religion, die alle Deutschen einen sollte."61 Lagardes Kritik richtet sich vor allem gegen den liberalen modernen Protestantismus,62 gegen die Verknüpfung von Staat und Kirche, gegen Werteverfall und nicht zuletzt gegen Liberalismus und Modernismus als religionszersetzende Geisteshaltungen. In der von ihm propagierten deutschen Religion, einer Art germanisch-christlichen Glaubens, sieht er das einzige noch verbliebene Heilmittel gegen die "gesellschaftliche Fragmentierung"63 und den endgültigen Untergang deutschen Volkstums. Dieser Untergang werde von den Feinden der Deutschen, der jüdischen Nation, betrieben. Die Beschreibung der jüdischen "Nation in der Nation" wird, typisch für die _____________ 59 60 61 62 63
Vgl. dazu von See 1994, 286f. Lagarde, a. a. O. 181f. Stern 1963, 3. Vgl. dazu: Sieg 2007, 57f.; 61. So Sieg 2007, 292.
477 Der religiöse Diskurs
Lagardesche Art der Stilistik, metaphorisch bewertet: "ein fremder Körper im Lebe erzeugt Eiterung."64 Dass Juden in seiner Menschenbildkonstruktion zu den Nichtgöttlichen gehören, ist oben schon angedeutet worden. Aber für Lagarde bedeutet Nichtgöttlichkeit in diesem Kontext keineswegs Menschlichkeit. Lagarde ist bekannt dafür, dass er das Vorbild abgab für viele sprachliche Dehumanisierungen, die er mit Vorliebe gegenüber den Juden anwendet. So stigmatisiert er die Juden regelmäßig65 z. B. als Homunculi,66 Trichine und Bazillen oder als Träger der Verwesung.67 Lagarde 2, 209: 68 Es gehört ein Herz von der Härte einer Krokodilhaut dazu, um mit den armen, ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden, und – was dasselbe ist – um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen und zu verachten, die – aus Humanität! – diesen Juden das Wort reden, oder die zu feige sind, dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichine und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.
Bei allem hetzerischen Judenhass, der bei Lagarde sehr ausgeprägt zum Vorschein tritt, muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass seine Schlüssel für die "Judenfrage" nicht mit demjenigen Chamberlains korreliert: "Wir werden das Judentum ganz gewiß nicht durch irgend welche Verfolgung, sondern nur dadurch überwinden, dass wir so lebendig wie möglich deutsch und evangelisch sind. Fort muß jenes ganz und gar, aber durch unser Leben, nicht durch die Hände des Büttels."69 Sein "Lösungsvorschlag" ist zum einen die "Verpflanzung der polnischen und österreichischen Juden nach Palästina."70 Zum anderen geht Lagarde, der anders als Chamberlain nicht ausdrücklich dem Rasseprinzip nachfolgt, letztlich immer noch von der Assimilierbarkeit einzelner jüdischer Menschen durch die deutsche Kultur aus.71 Lagarde, Deutsches Vaterland 198: Schon jetzt steht fest, daß alle Juden, welche mit Ernst machendem Leben der Indogermanen in Berührung kommen, demselben unterliegen. Bisher ist noch kein Jude, der griechische Philosophie, deutsche Geschichte, deutsche Musik von Herzen studiert hat, Jude geblieben, und keiner der so dem Judentume Entfremdeten darf behaupten, daß ihm nicht alle wirklich deutsche (sic!) Herzen freudig und dauernd warm entgegengeschlagen hätten.
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Lagarde, Deutsche Schriften 1903, 25. Vgl. dazu auch: Sieg 2007, 60f. Lagarde, Schriften für das deutsche Volk 1, 1933, 371. Lagarde, Deutsche Schriften 1903, 25. Lagarde, Schriften für das deutsche Volk 2, 1933, 239. Lagarde, Schriften für Deutschland 1933, 182. Lagarde, a. a. O. 25; vgl. auch 190. Lagarde, a. a. O. 198.
478 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Richard Wagner hat genau diese Ansicht übernommen und sie mit seinen Einflüssen von Seiten Gobineaus zu einer Art Kulturantisemitismus verbunden. Dessen Schwiegersohn Chamberlain radikalisiert alle drei Vorläufer zu einer eigenen Form des Kulturrassismus. Doch diese Aussagen über bestimmte radikalere Rezipienten soll keineswegs relativieren, wie sehr Lagarde in seinen Schriften, ähnlich wirksam übrigens wie Chamberlain, jeder Form von Antisemitismus Vorschub geleistet hat. Vor allem seine dehumanisierende Metaphorik hat bis in neonazistische Kreise der Gegenwart Schule gemacht.72 Lagardes Ideen sind zeitgenössisch vor allem von den späteren "Deutschen Christen" übernommen worden, die sie zum Teil in der Vermischung mit Chamberlain'schen Zusätzen zu einer realen Glaubensgemeinschaft umzusetzen begannen. Chamberlains Thesen, dass die Person Jesus ein Arier gewesen sei,73 dass nur eine nationale Religion,74 ein germanisch"christlicher" Glaube die Rettung des deutschen Volkes ermöglichen könne, was u. a. durch die Richtigstellung falscher, durch den Juden Paulus75 in die wahre Religion eingeführter Glaubenslehren geschehen müsse, setzen also in erheblichem Maße fort, was Lagarde vorgedacht hat. Babel und Bibel, Vorw. zur 4. Aufl. der Gl 41: Für uns Laien ist es aber ausserdem von Wert, dass wir Lagarde als Menschen gut kennen und uns somit ein Urteil über ihn zutrauen dürfen. Denn für uns gehören seit lange seine Deutschen Schriften zu den teuersten Büchern und gilt namentlich seine unerschrockene Aufdeckung der Minderwertigkeit der semitischen religiösen Instinkte und ihrer schädlichen Wirkung auf die christliche Religion, als eine That, die Bewunderung und Dank verdient. Lagarde […] wollte das ganze Alte Testament aus der christlichen Religionslehre ausgeschieden wissen; denn, sagt er: »an dessen Einfluss ist das Evangelium, so weit dies möglich, zu Grunde gegangen«.
Beide Autoren wurden vom zeitgenössischen Bürgertum begeistert rezipiert.76 Und beide glaubten an Ausnahmepersönlichkeiten. Sowohl Chamberlain als auch Lagarde warteten auf die Führergestalt: "Nur Eines Mannes großer, fester, reiner Wille kann uns helfen."77 Was beide jedoch deutlich voneinander unterscheidet, ist ihre Art des Antisemitismus und ihre Bewertung von Kultur. Chamberlains Antisemitismus basierte auf einem biologischen Rassebegriff, der bei Lagarde nicht in derselben Weise ausgeprägt war. Für ihn war Kultur immer nur Mittel
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Vgl. dazu Pörksen 2000, 187f. Vgl. dazu Stern 2963, 68. Vgl. auch Lagarde, a. a. O. 56. Vgl. Lagarde, a. a. O. 44ff.; 46; 50. Vgl. dazu Sieg 2007, 13-21; 293; 304; 308ff. Lagarde, a. a. O. 145; vgl. auch ebd. 25.
479 Der religiöse Diskurs
zum Zweck; wenn sie Selbstzweck wird, ist sie für ihn sogar Götzendienst (ebd. 96). Insgesamt ist die deutsche Religion,78 wie sie Lagarde im Visier hat, anders zu beurteilen als Chamberlains rassistische Heilsutopie. Der Satz Lagardes: Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte, den auch Chamberlain affirmativ anführt, ist als Ausdruck einer auf die individuelle Entwicklung des Menschen hinzielenden These zu betrachten,79 die dem programmatischen rassebedingten Kollektivismus Chamberlains fundamental zuwiderläuft. Während sich das Individuum bei Lagarde noch ändern kann, – sogar ein Jude könnte nach diesem Prinzip sein Judentum ablegen und dem Gemüt nach Deutscher werden, – so ist dies bei einem dezidiert rassistischen Verständnis nicht möglich. Chamberlain hat dies erkannt, will aber dem auch von Wagner hoch verehrten Vorläufer nicht zu sehr widersprechen. Immerhin bezieht sich Wagner ja häufig dezidiert auf Lagarde, vor allem wenn er die Selbstvernichtung des Jüdischen als einzige Möglichkeit der Juden zur Kultur ansieht und konkret wenn er über Börne schreibt (in Vom Judentum in der Musik): "Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu sein. Börne hatte dieß erfüllt".80 Diesen Hintergrund sollte man kennen, um Chamberlains Entgegnung auf Lagarde einordnen zu können. So lautet die Fortsetzung seines Kommentars: Gl 574: Die Bedeutung dieses physischen Momentes lässt sich leichter an grossen Volkserscheinungen als am Individuum nachweisen, denn es kann vorkommen, dass ein ungewöhnlich begabter Einzelner sich eine fremde Kultur aneignet und dann, gerade in Folge seiner innerlich abweichenden Eigenart, Neues und Erspriessliches zu Stande bringt; dagegen wird der besondere Wert der Rasse klar, sobald es sich um Gesamtleistungen handelt, was ich dem deutschen Leser gleich zu Herzen führe, wenn ich ihm in den Worten eines anerkannten Fachmannes mitteile, dass "die bevorzugten grossen Staatsmänner und Heerführer der Gründungszeit des neuen Reiches meist von DER REINSTEN GERMANISCHEN ABSTAMMUNG SIND," genau ebenso wie "die wetterfesten Seefahrer der Nordseeküste und die kühnen Gemsenjäger der Alpen". Das sind Thatsachen, über die man viel und lange nachdenken sollte. […] Sie lehren auch einsehen, in welchem genau bedingten Sinne das bekannte Wort jenes echt germanischen Mannes, Paul de Lagarde, Geltung beanspruchen darf: "Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte." Beim Einzelnen, ja, da mag das Gemüt das Geblüt beherrschen, hier siegt die Idee, doch bei einer grossen Menge nicht. Und um die Bedeutung des Physischen, sowie die Beschränkung, die es mit sich führt, zu ermessen, bedenke man ferner, dass das, was man "die germanische Idee" nennen kann, ein unendlich zartgebauter, reichgegliederter Organismus ist.
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Z. B. Lagarde, a. a. O. 140. Vgl. dazu Lagarde a. a. O. 86ff. Wagner, Vom Judentum in der Musik, SuD 5, 85.
480 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Insgesamt geht es Chamberlain, der im Unterschied zu Lagarde81 Luther sehr verehrt, nicht um eine negativ-akademische Kritik am Protestantismus, sondern – in seinem Sinne konstruktiv – um eine umfassende germanische Weltanschauung (Gl 1060; 1066f.; 1068; AW 84 u. ö.), die Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie schöpferisch miteinander und vor allem mit seiner Rassentheorie verbindet. Bäuerliche Volkstümlichkeit mit einer Rückbesinnung auf Ackerbau, Viehzucht und einfachen Handel,82 wie sie Lagarde immer wieder einfordert, sind dem auf Bildungsgrößen und Künstlertum orientierten Schwiegersohn Wagners unwichtig. Chamberlains Heilige bzw. "Gottmenschen" heißen im Unterschied zu denjenigen Lagardes Schiller, Goethe, Wagner und Kant. Gl 1048: Und doch hatte gerade Kant gelehrt: "Religion zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst." Sobald er aber auf Christus hinweist und sagt: "seht, hier habt ihr eine vollständige Religion! hier erblickt ihr das ewige Beispiel"! da besteht der Einwurf nicht mehr; denn dann ist Kant gleichsam ein zweiter Johannes, "der vor dem Herrn hergeht und seinen Weg bereitet". Dahin - zu einem geläuterten Christentum - drängte die neue germanische Weltanschauung alle grössten Geister am Schlusse des 18. Jahrhunderts.83
2. 4. Ernst Bergmanns 25 Thesen der Deutschreligion Einer der radikalsten Nachfolger Chamberlains84 und Lagardes war wohl Ernst Bergmann (geb. 1881, gest. 1945 durch Selbstmord).85 Der Leipziger Professor, der seit den 20er Jahren Mitglied der NSDAP war, publizierte neben dem in der Überschrift genannten Katechismus Die 25 Thesen der Deutschreligion (2. Aufl. 1934) unter anderem auch Die Deutsche Nationalkirche86 und Deutschland, das Bildungsland der neuen Menschheit. Eine nationalsozialistische Kulturphilosophie. Schon in den aufgeführten Titeln werden die ideologischen Traditionen zu Chamberlain sichtbar, erstens das Prinzip einer deutschen Nationalkirche, zweitens der Kulturchauvinismus, vor allem aber drittens die Utopie eines neuen Menschen. Hinzu kommen der _____________ 81 82 83 84 85
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Vgl. dazu: Lagarde, a. a. O. 37; 192. Vgl. dazu u. a. Lagarde, a. a. O. 22f.; 26. Vgl. dazu auch Gl 1050. Vgl. dazu auch Fenske 2005; dort besonders 168ff.; Puschner, Zeitenblicke 2000; Bärsch 2002; Hesemann 2004. Bergmann studierte Germanistik und Philosophie in Leipzig, war einige Zeit in Berlin als Dramaturg und Regisseur tätig und wurde schließlich1916 Professor in Leipzig. Er war der Herausgeber der Zeitschrift Deutsches Werden. Vgl. dazu: Fenske 2005, 168; Klee, Personenlexikon 2005, 41. Ernst Bergmann, Die 25 Thesen der Deutschreligion. Breslau 1934; ders., Die Deutsche Nationalkirche. Breslau 1933; ders., Deutschland, das Bildungsland der neuen Menschheit. Eine nationalsozialistische Kulturphilosophie. Breslau 1933.
481 Der religiöse Diskurs
beiden gemeinsame radikale Antisemitismus, ein die Germanen zum Kulturvolk stilisierender Rassismus und vor allem die Idee des Gottmenschen. In der Bergmannschen Radikalisierung erkennt man Chamberlains rote Fäden. Sie werden von diesem nur noch konsequent zusammengeführt, radikal zu Ende gedacht und zum Ausgangspunkt eines neuen Glaubens erklärt. Dass Bergmanns Schriften deswegen auf dem katholischen Index stehen, verwundert nicht. Bergmann will eine artgerechte Religion (Thesen 6), eine moderne Naturreligion vom Geistkind Gott, das im Schoße der Allmutter ruht (Thesen 42). Seine Vorgehensweise entspricht nahezu mustergültig den Traditionen des antisemitischen und kulturpessimistischen Diskurses. Er bedient die Verfallstopoi, die antisemitische Feindbildkonstruktion, den antijudaistischtheologischen Schulddiskurs und entfaltet eine Heilslehre auf der Basis einer christlich-germanisch-naturreligiösen Synthese. Diese 'artgemäße' Religion soll gesund und natürlich sein, eine Religion ohne Krankheits- und Entartungserscheinungen (Thesen 12), eine Religion der Tat und des Willens, der Leistung und der Vervollkommnung (ebd.). Thesen 12: Sie ist eine kräftige und wahrheitsmutige Sitten- und Wirklichkeitsreligion, die alles Morsche und Brüchige im Volksleben wie die Philosophie und Theologie als tödliches Gift ausscheidet und zur Erbgesundheit im körperlichen wie im seelisch-geistigen Leben zurückkehrt.
Diese "Deutschreligion" sei eine positive Religion mit moralischem Optimismus, eine deutsch-nordische Ethik (Thesen 51), die nicht nur dem gesunden, starken kulturschöpferischen, kämpferischen und vor allem dem heldischen (Thesen 12) germanisch-deutschen Volk entspräche, sondern die auch in die Lage versetzte, die Probleme des Diesseits kühn und unerschrocken anzugehen. Eine solche tatkräftige Diesseitsorientierung stehe entsprechend, – man beachte auch hier die Parallelen zu Chamberlain, – ganz im Gegensatz zum jenseitsorientierten Christentum mit seinem Schlechtigkeitsglauben / Pessimismus, seinen Synagogenphantasien der Erbsünde und der Sündenverfallenheit, die zur Demoralisierung / Entsittlichung des Menschen geführt hätten (ebd.). Thesen 56: Insbesondere ist durch die Verseuchung des germanischen Menschen mit dem Geist der Sündenvergebungs= und Rechtfertigungslehre die sittliche Höherentwicklung des Menschen aufgehalten worden. Wäre Germanien, das Führerland der nordischen Menschheit geblieben, das sittliche Antlitz der Menschheit von heute würde anders aussehen.
Das Christentum ist für Bergmann eine jüdisch-christliche Fremdreligion (ebd. 21) orientalischen Geistes (ebd. 7), eine fremde Irrlehre (28), die die germanischdeutsche Seele um die Reinheit, Eigenart, Größe und Geschlossenheit (ebd. 8) gebracht, die Volksmoral zerstört (ebd. 54) und an der germanischen Seele gesündigt (ebd. 21) hat. Sie ist eine ungesunde und unnatürliche Endzeitreligion, eine Religion der Müdigkeit und des Leidens, der Weltflucht und des Erlösungsverlangens
482 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
(ebd. 12). Vor allem der Glaube an einen außerweltlichen oder Jenseitsgott sei nicht indogermanischen, sondern semitischen Ursprungs (ebd. 26). Was er dennoch will, – insofern bleibt Bergmann nicht nur dem 'Christentum' verbunden, sondern vor allem in der ideologischen und textgeschichtlichen Nachfolge Chamberlains, – ist ein Christus ohne Leid (ebd. 81), ein Heiland, der vor dem Manne steht als hohes und göttliches Vorbild männlich-heroischer Tugenden (81) und eine Kirche, wie er sagt, die im Dorfe bleibt (ebd. 23), also nicht mehr dem internationalen Christentum verpflichtet ist, sondern zur Deutschkirche wird. Bergmann erstellt eine Reihe germanisch und christlich-jüdischer Dichotomien: Germanische Volkswohlethik (ebd. 57), Gemeinschaft (58), Leistung (60), Selbstheiligung (60) und Verwirklichungsethik (37) auf der einen Seite, jüdisch-christliche Eigenheilsethik (57), Individualismusstreben (58), gnadenpassive Lastenabnahme (60), Passivmachung (60) und nichtarische Entartungsethik (37), asketisch-christliche Verfallsethik (40) oder Verkümmerungsethik (60) auf der anderen. Das germanisch-deutsche Volk ist in seinen wie in Gobineaus und Chamberlains Augen das Führervolk der nordischen Menschheit, die berufen war, die moderne Kultur zu schaffen, oder auf Fichte rekurrierend das Bildungsvolk der neuen Menschheit (ebd. 7). Es ist entsprechend auch dasjenige Volk, in dem sich Göttlichkeit offenbart. Thesen 18: Insbesondere wissen wir Deutschreligiösen, dass sich der göttliche Sinn der Welt niemals tiefer und reiner der schauenden Erkenntnis des Menschen offenbart hat als im Gottesreichtum der nordischen Seele und in der unergründlichen Tiefe des germanischen Geistes.
Abgesehen von der schauenden Erkenntnis, die bei Bergmann ebenso wie bei Chamberlain nur der erste Schritt hin zum eigentlichen Ziel, der Gottwerdung des Menschen ist, wird im Zitat vor allem durch den Ausdruck Gottesreichtum der nordischen Seele deutlich, dass Gott eine dem Menschen inhärente Größe ist. So fordert Bergmann, dass man Gott im Menschen suchen müsse, da dieser der Ort Gottes in der Welt ist (34, 47), der Ort der Gottesgeburt (37), in der Gott werden und wachsen muss (35). Der menschenartige Gott und der gottartige Mensch (36) sind nahezu zwangsläufige Pointierungen und Radikalisierungen der von Chamberlain vorgedachten germanischen Weltanschauung. In ihr war dem arischen Menschen seine eigene Vergöttlichung zur Aufgabe gemacht worden. Bergmann greift dies auf und holt das göttliche Prinzip dabei noch radikaler ins Diesseits hinein. Thesen 36: Wir haben den rechten Weg, den Menschen zu bessern und zu veredeln, gefunden in der Verwirklichungslehre Gottes im Menschen oder in der Menschengotteslehre (Anthropotheologie). Diese Lehre versteckt Gott nicht hinter der Welt. Sie verlegt das Edle und Vollkommene nicht in möglichst weite
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Ferne vom Menschen, wie das die Jenseitsgotteslehre tat. Sie fordert vom Menschen das Gottsein oder Gottwerden und lässt nicht den Menschen in Gott stürzen, sondern Gott in den Menschen.
Auch die beiden anderen Personen der Trinität werden von ihm auf die gleiche Ebene mit dem Menschen gehoben bzw. erniedrigt, die Gotteskindschaft wird zur radikalen Bruderschaft mit Christus und dem Heiligen Geist verklärt: fühlen [wir], daß wir selbst der Heilige Geist sind […] und erfahren wir die Andacht und Weihe, die dieser Gedanke über unser ganzes Wesen breitet (ebd. 47). Hinsichtlich des christlichen Gottessohnes schreibt er sogar: Wir wollen nicht länger an Christus nur glauben, nein: wir wollen endlich Christus sein und als ein Christus handeln (ebd. 67; ähnlich 81). Mit diesem Appell wird die Frage aufgeworfen, was das konkret heißen soll: als ein Christus handeln. Bergmanns Antwort führt Gobineau, Chamberlain und Hitler zusammen. Sie ist nimmt vorweg, was die Nationalsozialisten in der konkreten Wirklichkeit des Dritten Reiches auch realisiert haben. Thesen 65: Wenn wir Heiland sein wollen […], dann müssen wir vor allem dafür sorgen, dass keine kranken und erlösungsbedürftigen Menschen mehr geboren werden. Wir erreichen dies, indem wir in unserem Volk nur erbgesunden Menschen die Fortpflanzung gestatten, alle Erbminderwertigen aber an der Fortpflanzung hindern. Es muß dann einmal der Tag kommen, wo Bethel und Bethesda verödet liegen, weil alle Kranken und Entarteten ausgestorben sind […].
Bergmanns Heilsweg sind Euthanasie und Eugenik. Mit ihnen will er dem durch das jüdische Christentum angeblich verursachten Verfall entgegentreten. In der vorgeburtlichen Menschenfürsorge, so der von ihm verwendete Euphemismus für Sterilisation und Mord, an anderer Stelle wird er deutlicher und nennt dasselbe Ausmerze des Erbminderwertigen und Bestenauslese der Erbtüchtigen (41), sieht er eine Erlösung zum Leben (64). Thesen 66: Die vorgeburtliche Menschenfürsorge, wie sie in der modernen Eugenik und Erbgesundheitslehre gefordert wird, ist also der einzig richtige Weg zur Befreiung des Menschen von trügerischen Erlösungs= und Unsterblichkeitsreligionen, die den Menschen bis heute nicht besser und glücklicher gemacht haben, die vielmehr gerade den Sieg der Eugenik bisher verhindert und die drohende Hospitalisierung des Menschengeschlechts befördert haben.
Der ewige Kreislauf des Menschengeschlechts, das Widergeborenwerden in einer sich immer weiter entwickelnden Rasse bedeutet für ihn Unsterblichkeit, ein Gedanke, den er wieder mit Chamberlain teilt. Beide haben die Vorstellung, sie könnten mit eugenischen Möglichkeiten einen neuen Menschentyp schaffen. Erlösung ist dann nicht das individuelle Erlöstwerden durch einen außerhalb des Menschen gedachten Gott, das der sittliche[n] Höherentwicklung des Menschen (ebd. 56) im Kollektiv im Wege stehe, sondern die Erschaffung des Ariers, den auch Bergmann als Lichtmenschen darstellt. Der Jenseitsgottesglaube der jüdischen Jahwereligion, der den Menschen herabwürdigt und bemakelt war für ihn
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Thesen 38: der Anfang vom Ende aller Ethik. Im Zeitalter des Jenseitsgottesglaubens ist der Mensch gefallen und schlecht geworden. Mit dem hohen Menschenglauben der Deutschreligion könnte er wieder auferstehn. Wenn es nicht zu spät ist. Aber vielleicht beginnt mit dem Dritten Reich im verjüngten Deutschland eine neue Gotteszeit des Menschen auf Erden. Ist dieser große Gedanke nicht einen Glauben wert?
Die Anthropotheologie, die Menschengotteslehre Bergmanns, will die Einheit der Körperseele (ebd. 40) wieder herstellen, das universale Christentum durch einen nationalistischen Glauben ersetzen und ein Lichtheldentum (81) schaffen, das sich traut, an Gottes Stelle zu treten (68f.). Denn so Bergmann (63): Nicht nur Tiere und Pflanzen kann man züchten, sondern auch Gottmenschen. Es ist nicht nötig, weitere Details dieser Menschengotteslehre zu besprechen. Zu einer Religion ist sie nie geworden. Sie spiegelt jedoch in aller Deutlichkeit, wie radikal man Chamberlain übersetzen konnte, wenn man nur in einer radikalen Zeit lebt. 2. 5. Chamberlains Ethik Zum Menschenbild gehört immer auch die Frage nach den zugrunde liegenden Leitorientierungen menschlichen Handelns innerhalb einer Gesellschaft. In Chamberlains Fall kann diese Frage unter anderem mit dem Hinweis auf das völkisch-germanische Christentum beantwortet werden, das in eine bildungschauvinistische deutsche Überkultur eingebettet ist. Politisch betrachtet handelt es sich hierbei um eine Ethik, die in komplexer Weise jedes verantwortungsbewusste politische Handeln zum Nichthandeln verkehrt. Greifen wir hier auf die bekannte Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik durch Max Weber und deren Weiterung, wie sie in der Schicksalsethik von Karl Mannheim vorliegt, zurück. Ihre Übertragung auf Chamberlains Ethik führt vor Augen, welche Folgen eine solche Umkehrung für den gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozess haben kann und muss. Ich zitiere die Weiterung Mannheims: Karl Mannheim, Ideologie und Utopie [1929/85], 165f.: Im Geschichtlichen spiegelt sich dies darin wider, daß der Mensch anfangs das Sozial-Weltliche genauso als Schicksal, d. h. als unbeherrschbar erlebt, wie wir wohl immer die naturhaften Grenztatsachen (das Faktum des Geborenwerdens und des Todes) erleben werden. Zu dieser Art des Welterlebens gehört eine Ethik, die man »Schicksalsethik« nennen könnte. Sie besteht im wesentlichen in dem Gebot, höheren, undurchschaubaren Mächten zu gehorchen.
Das völkisch-germanische Christentum determiniert jedes Einzelschicksal der durch Rasse und Blut untrennbar miteinander verbundenen Schicksalsgemeinschaft in der Weise, dass schon mit der Geburt und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe eine Art völkischer Prädestination
485 Der religiöse Diskurs
vorgegeben ist. Zum Heil kann demnach nur der gelangen, der dieser Gemeinschaft von vorneherein angehört, und genau diese fundamentale Bedingung ist zu keiner Zeit revidierbar, da sie von einer höheren Gewalt entschieden und dem Einzelnen mit in die Wiege gelegt worden ist. Höhere Mächte wiederum sind es auch, die das jeweilige Schicksal des Individuums im Detail bestimmen. Die Zugehörigkeit zum auserwählten Kreis der zum Heil Prädestinierten verlangt einerseits die prinzipielle und aktive affirmative Akzeptierung dieses Höheren einschließlich aller damit verbundenen Vorentscheidungen und andererseits eine Unterordnung unter die gottgewollte Ordo bzw. das so festgelegte System, ohne das die Welt ins Chaos abzugleiten droht. Jedes dem entgegengerichtete individuelle Eingreifen könnte fatale Folgen haben und kann nicht geduldet werden. Alles Handeln wird in einem solchen System zum Erfüllen des Vorherbestimmten, wird zum Vollzug eines höheren Willens. Man mag sich von ihm emanzipieren, was als Möglichkeit ausdrücklich anerkannt wird. Wenn man es aber tatsächlich tut, dann sollte man sich im klaren darüber sein, so Mannheim, dass man neue Kausalreihen in die Welt setzt, dass man den beruhigenden Glauben an undeterminierte Entscheidungen aufgibt und sich eine Verantwortung auflädt, die die Handlungsirrelevanz der bloßen Gesinnung zugunsten gesellschaftlicher Verantwortung für den Sozialprozeß und die sich daraus ergebenden Regresspflichten stellt. Dies erfordert ein hohes Maß an Souveränität. Mannheim, Forts.: Der Durchbruch dieser an Schicksal orientierten Ethik vollzieht sich zuerst in der Gesinnungsethik, wo der Mensch zumindest sein Selbst dem Schicksalhaften im gesellschaftlichen Ablauf gegenüberstellt. Er reserviert sich seine Freiheit einmal im Sinne der Möglichkeit, durch die Tat neue Kausalreihen in die Welt zu setzen (wenn er auch auf die Beherrschbarkeit der Konsequenzen verzichtet), und zweitens durch den Glauben an die Undeterminiertheit seiner Entscheidungen. Eine dritte Stufe in dieser Entwicklung scheint unsere Gegenwart zu bedeuten: Der Sozialzusammenhang als »Welt« ist nicht mehr völlig undurchsichtig, schicksalhaft, sondern manche Zusammenhänge sind potentiell voraussehbar. Auf dieser Stufe taucht die Verantwortungsethik auf. Sie enthält einmal die Forderung, nicht nur der Gesinnung entsprechend zu handeln, sondern auch die möglichen, jeweils berechenbaren Konsequenzen in die Deliberation einzubeziehen, und zweitens […] die Gesinnung selbst einer bereinigenden Selbstprüfung zu unterwerfen, um die blind und nur zwangsläufig wirkenden Determinanten auszuschalten. Max Weber hat dieser bestimmten Art von Politik die erste durchschlagende Formulierung gegeben. In seinem Wissen und Forschen spiegelt sich dieses Stadium der Politik und Ethik wider, wo das blind Schicksalhafte am Sozialprozeß zumindest partial im Verschwinden begriffen ist und das Wissen des Wißbaren für den Handelnden zur Verpflichtung wird.
Das von Mannheim zweifellos als Aufklärung über Handlungsmöglichkeiten und -verantwortlichkeiten Gemeinte kann aber auch, die entsprechende Ideologie vorausgesetzt, als Warnung und gar als falsches Bewusstsein
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verstanden werden. Wo nämlich die Schicksalsethik das ideologische Bekenntnis bestimmt und dem Menschen die Verantwortlichkeit für sich und seine Umwelt, besonders aber für sich als Individuum und für andere Individuen, auf ein Minimum reduziert oder gar aufhebt, dort ist der kleine Schritt von einer relativen Apathie, positiv ausgedrückt, von einem erbaulichen Aufgehobensein in den natürlichen und göttlichen Vorgegebenheiten, hin zur maximalen Unterordnung unter alles als schicksalsmächtig Dargestellte, sei es das Göttliche oder die Natur in all ihren vielfältigen Ausprägungen, schnell vollzogen. Die Gesinnung ist dann nicht mehr überprüfbar bzw. stellt keine Aufgabe mehr dar, wie es von Weber und Mannheim postuliert wird, sondern sie wird der eigenen Befugnis entzogen. Und mit diesem Verlust der Gesinnung kann auch jede soziale Verantwortlichkeit negiert werden. Möglich wird dies besonders dann, wenn die reale Welt dadurch ihre Lesbarkeit87 verliert, dass der Mensch sich ihrer nicht mehr wirklich sicher sein kann und sich ihr damit auch nicht mehr wirklich beobachtend gegenüberstellt. Mitten in den Wirren einer durch Kulturkritik und soziale Frage ins Wanken geratenen Welt werden genau solche Sinnutopien errichtet, in denen das Schicksalsprinzip von religiös-göttlichen und natur-göttlichen Mächten zugespitzt und übertragen werden kann auf vergötterte Übermenschen wie Kaiser und Führer oder andere als übernatürlich konstruierte Größen, wie den Arier und den Germanen, die Bildungsreligion, die Extreme der Lebensphilosophie und andere Heilskulte. Das Prinzip der Verantwortungsethik gewinnt aufgrund der Infragestellung der Gesinnungsethik dann völlig andere Orientierungen. Es kann umschlagen, und zwar von einer Ethik, in deren Mittelpunkt die von historischen Menschen in einer gegebenen politisch-wirtschaftlich-sozialen Situation regresspflichtig zu treffenden Entscheidungen stehen, zu einer Ethik, deren Handlungspflichten sich aus vor jeder sozialen Handlung liegenden, als ontische Gegebenheiten aufgefassten Ideologemen ergeben. Die Spannweite zwischen dem einen und dem anderen ist groß; im heutigen Sinne kann sich Ethik zur Unethik wandeln, diese aber als eigentliche Ethik propagieren und bei entsprechender Rezeptionsbereitschaft gesellschaftlicher Schichten auf Akzeptanz hoffen. 'Ethik' ist im vorliegenden, auf Sprache bezogenen Zusammenhang neu zu definieren: Unter Ethik verstehe ich die Gesamtheit der durch ein überzeitliches und übersoziales Wertpotential begründeten handlungsanleitenden Maximen einer Gesellschaft bzw. einer der gesellschaftsinternen Kommunikationsgemeinschaften. Ethiken können religiös, naturwissenschaftlich, logisch, sozial begründet sein, müssen es aber nicht. Ihre Ein_____________ 87
Zum Terminus "Lesbarkeit": Blumenberg 1983.
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haltung kann nicht unbedingt juristisch sanktioniert, aber durch gesellschaftliche Ächtung erzwungen werden. Ethiken sind, da ihre Wertpotentiale offen gelegt und begründet werden müssen, im Unterschied zu Mentalitäten häufig textlich ausformuliert und daher für den Sprachwissenschaftler in besonderer Weise greifbar. Betrachten wir den kommunikationsethischen Ansatz von P. Grice und ergänzen ihn durch die Habermas'sche Diskursethik, dann haben wir ein Ideal, das eine Gesellschaft voraussetzt, die im Kern demokratisch verfasst sein muss, damit sie funktionieren kann. Die bildungsbürgerliche Gesellschaft, in der Chamberlain schriftstellerte und Hitler möglich wurde, wird mit diesem Ideal nicht operieren, da ihr der Wunsch nach kommunikativem Austausch, nach politischem Aushandeln, letztlich nach aktiver Verantwortungsethik fehlt. Sie sucht nach der übergeordneten Größe, nach der Person, der Institution oder der Macht, die ihre Handlungen motiviert und leitet. Zwar weiß man, was Humanismus ist, man gibt sich von der Gesinnung her moralisch, ja sogar sittlich, sieht darin sogar einen aktiven Anteil an der Weltgeschichte, aber man ist davon überzeugt, dass nur noch die Anderen missioniert werden müssen, während man mit Goethe, Kant und Schiller selbst schon längst auf dem Höhepunkt der Moral angekommen ist. Die eigene Gesellschaft tatsächlich im Sinne dieser Ethikideale umzugestalten oder nach ihnen in die Weltgeschichte einzugreifen, gehört nicht mehr ins handlungsanleitende Potential der säkularisierten Ethik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, immerhin des Zeitalters des Imperialismus, des Groß- oder gar Weltmachtstrebens mehrerer europäischer Staaten und des Wirtschaftsliberalismus. Dafür hat man die große Persönlichkeit, die staatstragende Bürokratie und natürlich den Staat selbst, aber vor allem das dahinter stehende allmächtige Schicksal, das im Aufgriff von Goethes Prometheus zum Überherrn über die Götter stilisiert wird. Schicksalsethik oder gar Schicksalsglaube sind die Determinativkomposita, die als ethische Grundlagen den Bogen spannen oder die Brücke bilden zwischen dem hier besprochenen Chamberlain und seinem politischen Nachfolger Hitler. Die viel beschworene deutsche Schicksalsgemeinschaft in all ihren polemischen, realtragischen und defätistischen Folgen war schon zu Zeiten Bismarcks und Chamberlains als hinter allem stehende Ethik vorhanden, sicher mit verschiedenen Graden der Deutlichkeit, teils dumpf und gebrochen, teils aber ausformuliert und begrifflich auf den Punkt gebracht, sicher in ihren Handlungskonsequenzen auch unterschiedlich bewusst, oft aber auch explizit vertreten, und sie wurde in Hitlers Vorsehung schließlich zur Handlungspflicht instrumentalisiert. Die von Chamberlain vorgenommene Menschenbildinszenierung basiert auf einem handlungs- und verantwortungsverweigernden Gemeinschaftsideal, das keinen Raum lässt für das aktive Eingreifen Einzelner in
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bereits vorhandene Kausalketten bzw. in dasjenige, was von Chamberlain als Ordo und harmonische Welt konstruiert worden ist. Und hier zeigt sich ein wichtiges Rezeptionsmotiv für die Chamberlain'schen Schriften. Chamberlain präsupponiert sogar mit seiner Leitidee vom Völkerchaos eine dahinter stehende Welt der Ordnung. In ihr hat der Mensch seinen festen Platz und fest umrissene Aufgaben. Orientierungslosigkeit gibt es ebenso wenig wie existentielle Lebensangst oder alltagsnotwendige Verantwortungsübernahme. Einmal auf einen Platz gesetzt, bleibt der Mensch, wo und was er ist. Sozialer und gesellschaftlicher Niedergang wird damit ebenso ausgeschlossen wie Verantwortungsübernahme und psychologische oder politische Überforderung. Diese heile Welt gilt es nun im göttlichen Auftrag wieder herzustellen, indem man das über die Jahrhunderte hinweg entstandene Chaos in Ordnung zurückverwandelt, auch dies nur als Erfüllung vorgefasster Pläne, nicht als Durchführung von Menschen gedachter Ideen. Genau dies bei seinen Lesern zu suggerieren, d. h. also den Anschein der allgemeingültigen Wahrheit und damit der übermenschlichen Legitimation seiner Schriften zu erwecken, ist die "große" Leistung Chamberlains, die aber nicht ohne die prinzipielle Bereitschaft seiner Leser möglich gewesen wäre, sich der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung zu verweigern. Eine solche Haltung hat selbst wiederum vielerlei Motive; eines davon ist die kulturchauvinistische Bildungsreligion des deutschen Bildungsbürgers, der den eigentlichen Leserkreis Chamberlains ausmacht.
3. Der biologistische Menschenbilddiskurs: Der Darwinismus Gib nach dem löblichen Verlangen, / Von vorn die Schöpfung anzufangen! / Zu raschem Wirken sei bereit! / Da regst du dich nach ewigen Normen, / Durch tausend, abertausend Formen, / Und bis zum Menschen hast du Zeit. Goethe, Faust II. 2, 8321 (Walpurgisnachtszene).
Der naturwissenschaftliche Zugang zu den anthropologischen Grundfragen: Was ist der Mensch?88 Wo kommt er her? Wo geht er hin? ist durchaus keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, wie man bereits an den einschlägigen Schriften von Bonnet,89 Leibniz, Kant,90 Herder91, Goethe92
_____________ 88 89 90 91 92
Vgl. dazu auch: Elsner 2003, 9-45. K. Bonnet, Betrachtungen über die Natur. 3. Aufl. Leipzig 1774. Kant, Kritik der Urteilskraft. Hamburg 1968. Ch. G., Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 1784-1791. Vgl. Faust, II. 2, 8321; siehe Zitat oben.
489 Der biologistische Menschenbilddiskurs
oder Cuvier93 und vieler anderer erkennt. Er findet in der Zeit der großen medizinischen und biologischen Entdeckungen aber einen seiner Höhepunkte. Auch die Evolutionsforschung, die zu Recht mit dem Namen Charles Darwins verbunden wird, geht auf lange schon schwelende Diskussionen unter den Gelehrten zurück und ist ein Produkt verschiedenster Einzelforschungen, von denen hier nur auf die Arbeiten von Alexander von Humboldt,94 T. R. Malthus,95 Jean Baptiste Chevalier de Lamarck und Carl von Linné,96 vor allem aber auf Beiträge von Zeitgenossen und Freunden Darwins wie Charles Lyell97 verwiesen werden soll. Doch die wissenschaftsgeschichtlichen Traditionen der Evolutionstheorie, etwa die Idee vom genealogischen Zusammenhang verschiedener _____________ 93
94
95 96
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Für Chamberlain gehörte besonders George Cuvier zu seinen Lieblingsautoren (Lebenswege 262): "Ein Buch namentlich schwebt mir vor, das […] zu den unvergänglich schönen Büchern gehört im Sinne derjenigen, die als echte Bücher erdacht und ausgeführt sind […], ich meine Cuvier's Abhandlung über die Umwälzungen der Erdoberfläche und über die Veränderungen, die sie im Tierreich veranlaßt haben. […] Für mich, der ich an der Hand Lyell's das Studium der Geologie antrat und lange dem Einfluß Darwin'scher Annahmen ausgesetzt blieb, bedeutete die Auffassung Cuvier's zunächst eine arge Zumutung; später kam dazu die jahrelange Vertiefung in Goethe, bis ich dessen große Lehre von der "Ruhe" in mich aufgenommen hatte: Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt!" Lebenswege 269: "haben sich die Deutschen […] auf diesem Gebiete wenig ausgezeichnet, so daß auch die Engländer ihnen darin entschieden überlegen sind - ich brauche nur Lyell, Faraday, Erasmus und Charles Darwin, Huxley zu nennen-‚ so besitzen sie doch in Alexander von Humboldt eine sehr bedeutende, in ihrer Art einzige Ausnahme und in Goethe das Muster einer dergestalt vollendeten Darstellung von Naturgegenständen, daß es nichts gibt, was mit ihr verglichen werden könnte. Bei Beiden ist nun die Betonung der Bedeutung der Sprache in ihren Naturschriften bezeichnend: hierin offenbart sich das Bestreben, das Studium der Natur zu einem Element der allgemeinen Menschenkultur zu erheben.” T. R. Malthus, An essay on the principle of population or, a view of its past and present effects on human happiness 1826. Carl von Linné, Oeconomia naturae quam praeside D. D. Car. Linnaeo publico esamini submissit, Isacus J. Biberg Upsaliae 1749. / Politia naturae quam […] proposuit, H. Chr. Wilcke. Upsaliae 1760. Linné geht von der Unveränderlichkeit der Arten aus und seine Einteilung der lebendigen Organismen in Klassen, Ordnungen, Geschlechter und Arten hat Schule gemacht. Der Mensch ist in Linnés hierarchisch gegliederter Ordnung die erste Art des ersten Geschlechts. Linné überträgt vom Menschen ausgehend den Staats- und vor allem den feudalen Ständegedanken auf seine gesamte Naturbetrachtung. Die auf Gott zurückgeführte und damit unveränderliche Ordnung impliziert Herrscher und Diener mit jeweils unterschiedlichen Pflichten. So bekommen selbst die Bäume eine höhere Stellung zugesprochen als die Moose und Gräser. Analoges gilt für die Gliederung der Menschen. Linnés Wirkung auf Gobineau und andere Rassetheoretiker ist unverkennbar. Dies gilt vor allem in Bezug auf die schon bei ihm vorherrschende Charakterisierung des homo sapiens europaeus als blond und blauäugig. Das Buch des Geologen Charles Lyell, "Principles of geology", hatte den aufschlussreichen Untertitel: "An inquiry how far the former changes of the earth's surface are referable to causes now in operation". Darwin trug es während seiner fünfjährigen Reise auf der Beagle bei sich und fand darin wichtige Argumente gegen die bislang vorherrschende theologisch begründete Schöpfungstheorie. Denn schon für Lyell ging der Prozess der "Schöpfung" weiter.
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Organismen und der von Darwin dazu gelieferten Erklärungen, besonders die Selektionstheorie, sind hier nicht das Thema, sondern deren diskursive Folgen, vor allem außerhalb des Fachgelehrtenpublikums. Denn mit der Evolutionstheorie waren die bewährten einfachen Antworten auf die oben genannten anthropologischen Grundfragen nicht nur auf den Prüfstand geraten, sondern im Sinne Freuds zur narzisstischen Kränkung des Menschen geworden. Die Frage nach der Abstammung der Menschen ist die nach dem Woher des Menschen. Glaubte man bisher an den einmaligen direkten und vor allem exklusiven Schöpfungsakt durch Gott, so wurde diese Exklusivität nunmehr demontiert, der Mensch hatte seinen Platz als Krönung der göttlichen Schöpfung verloren. Diese zweite narzisstische Kränkung, die erste war die kosmologische, die dritte die psychoanalytische (s. o.), belastete umso schwerer, als mit der Frage nach dem evolutionären Woher auch die als noch demütigender empfundene Frage nach den Verwandtschaftsverhältnissen verbunden war. Während die Einreihung des Menschen in die biologische Gesamtentwicklung eine Herausforderung an den theologischen Schöpfungsgedanken darstellte, war die damit einhergehende Familienvernetzung mit der Tierwelt vor allem unter psychologischen Gesichtspunkten niederschmetternd. Besonders die Affentheorie in ihrer dem Persönlichkeitskult diametral entgegenstehenden Propagierung wurde für viele Zeitgenossen zum direkten Angriff auf die Würde des Menschen. In der naturwissenschaftlich geprägten Erkenntniswelt des 19. Jahrhunderts wurde also die biologische Sonderstellung des Menschen komplett aufgehoben und selbst die theologische schien auf der Prämisse der biologischen kaum mehr haltbar zu sein. Was für die evolutionsgeschichtliche Vergangenheit gilt, muss umso folgenreicher für eine neue Ausrichtung der Zukunft sein, die von nun an erheblichen Raum für Spekulationen, aber auch für biologische Gestaltungsmöglichkeiten zulässt. Der Mensch war nun nicht mehr das eigentliche Ziel der Geschichte, sondern bloß ein Stadium in einem langsam, aber kontinuierlich fortschreitenden Prozess, der mit scheinbar zufälligen Variationen und einem erbitterten Kampf ums Dasein einhergeht, sich also nicht qualitativ von anderen Stadien unterscheidet. Gott und die theologische wie teleologische Sinngebung werden dabei ebenso in Zweifel gezogen wie die eigene personale Identität. Was für die einen eine plausible Erklärung frei von jeglichem Aberglauben bieten mochte, war für die anderen die kulturgeschichtliche, da mit demütigenden Tierparallelisierungen einhergehende Ernüchterung. Für Schriftsteller wie Chamberlain aber sollten diese naturwissenschaftlichen Erkenntnisse grundlegende Basispfeiler für zukunftsweisende Erbaulichkeit werden, da sie dort anknüpften, wo die Sinnfragen neu gestellt werden mussten. Auf der Basis von Selektion und Züchtung ermög-
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lichten ihre Antworten neue Bestimmungen der Herkunft des Menschen, neue Deutungen seiner Gegenwart und schließlich vor allem neue Zukunftsentwürfe, zusammengefasst: eine zugleich vergangenheits- wie gegenwarts- und zukunftsbezogene Ideologie. Mit ihr wusste man wieder, wo man herkam, wie man sich durchgesetzt hatte, wozu man fähig war und wie man die Zukunft gestalten könnte. Diese neue Form der Handlungsmöglichkeit des Menschen, verstanden als aktive Einfügung in den biologischen Prozess wie als Möglichkeit seiner Beschleunigung und seiner Richtungsbestimmung, gewann für viele Zeitgenossen immer mehr an Überzeugungskraft und passte zudem zu den national orientierten politischen Handlungszielen der Zeit. Der Darwinismus gehörte zu den zeitgenössischen Hauptdiskursen, die demnach nicht nur bei Biologen wie Chamberlain viel Interesse fanden. Besonders aus den Briefen und der Autobiographie Lebenswege kann man herauslesen, dass Chamberlain die Reaktionen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Rezipienten über den Darwinismus98 sehr genau verfolgt hat, um mit den eigenen Schriften ebenfalls Teil dieses Diskurses zu werden. Der evolutionsbiologische Diskurs des 19. Jahrhunderts spiegelt sich entsprechend in allen Texten Chamberlains, allerdings nicht in der Weise, dass Darwins Aussagen so, wie dieser sie bei akademischer Betrachtung beabsichtigt haben mag, rezipiert worden wären, und nicht einmal so, wie der Diskurs in fachwissenschaftlichen Kreisen geführt wurde. Chamberlain greift Darwins Gedankengut vielmehr ähnlich selektiv auf, wie er es mit allen anderen Autoritäten getan hat, verändert es in seinem Sinne und setzt es so modifiziert für seine Zwecke ein.99 Unterstützung erhält er darin durch eine sich schnell entwickelnde besondere evolutionsbiologische Interpretationsausrichtung, den Sozialdarwinismus.100 Dabei wird selbst das Soziale und Gesellschaftliche unter den biologischen Evolutionsgedanken gestellt, was einen gewichtigen Unterschied zu Darwins Vorgaben zum Ausdruck bringt. Chamberlain gehört bereits zu denjenigen, die das Darwinsche "Survival of the fittest" vom Überleben des Angepasstesten zum Überleben des Stärkeren machen. GL 328: Soweit unser Blick zurückreicht, sehen wir Menschen, sehen, dass sie grundverschieden in ihrer Anlage sind, und sehen, dass Einige kräftigere Wachstumskeime zeigen, als andere. Nur Eines kann man, ohne den Boden historischer Beobachtung zu verlassen, behaupten: hohe Vortrefflichkeit tritt nur durch die Veranlassung besonderer Umstände nach und nach in die Erscheinung, sie wächst durch erzwungene Bethätigung; andere Umstände können sie gänzlich verkümmern lassen. Der Kampf, an dem ein von Hause aus schwaches Men-
_____________ 98 Z. B. ebd. 94; 115. 99 Vgl. dazu auch Weikart 2006, 124. 100 Zum Sozialdarwinismus: Becker, Wege ins Dritte Reich 1990, 379ff.
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schenmaterial zu Grunde geht, stählt das starke; ausserdem stärkt der Kampf ums Leben dieses Starke durch Ausscheidung der schwächeren Elemente. Die Kindheit grosser Rassen sehen wir stets von Krieg umtobt, selbst die der metaphysischen Inder.
Darwin hat das Selektionsprinzip des Lebenskampfes nicht auf menschliche Gesellschaften übertragen, doch die von ihm vorgegebene Sprache, seine Metaphorik und Stichwörter lieferten seinen selbsternannten Erben, darunter Ernst Haeckel,101 dem Autor der Welträtsel,102 den Ausgangspunkt für ihre Theorien. Allein die Kampfmetapher (struggle) gehörte durch ihn zum priorisierten Wortschatz der Sozialdarwinisten, ebenso das in der Nazizeit grausame Karriere machende Selektion (selection). Und so scheint es im bereits vorgetragenen Kontext nur konsequent, dass auch der Biologe Chamberlain die Vorlagen Darwins z. B. über die socialen Instincte103 aufnimmt und zu gesellschaftlichen, gar zu germanischen Instinkten modifiziert (Gl 184; 401; 914). Seinen Hauptanknüpfungspunkt an Darwin meint er jedoch in der Bestätigung seiner Rassentheorie zu sehen. Br I, 83f. an Ernst von Wolzogen: Ohne allen Zweifel gründet sich meine Auffassung - nicht bloß jetzt nachträglich als Stütze Wagnerscher Ideen, sondern von vornherein - auf Darwin. [..]. Doch das alles nur nebenbei, und damit Sie begreifen, welch ein enormes Gewicht ich auf des großen Darwins positives - nicht hypothetisches - Lebenswerk lege. Und dieses positive, rein empirische, nie mehr wegzuleugnende Werk ist der Beweis von der Bedeutung von Rasse im ganzen Bereich lebender Wesen. […] Wenn Sie nun, verehrter Freund, die leidige Hypotheserei beiseite lassen, einschließlich aller der staatsanwältlichen Argumente, die aus Embryologie und Paläontologie geschöpft werden, […], und wenn Sie nun Darwins gesamtes Werk noch einmal auf das durchgehen, was er positiv gesehen, positiv gesammelt, positiv dargetan hat, so werden Sie sehen, daß das Unumstößliche an seinen Ergebnissen der Nachweis von der Bedeutung der Rasse ist.
Wieder ist es der Rassegedanke, den Chamberlain auf den ganzen Bereich lebender Wesen, damit auch auf Kultur, Sozialität, Politik, überträgt und diese damit dem menschlichen Zugriff enthebt. Er legitimiert eine solche Übertragung damit, dass er sie einem höheren Gesetz, einer höheren, übernatürlich legitimierten Ordnung unterstellt, die keinerlei Widerspruch zulässt. Die Betonung dieser Regressverweigerung ist umso wichtiger, als Chamberlain sich mit seiner Berufung auf den Darwinismus auf ein Konstrukt stützt, dessen Wissenschaftlichkeit außerhalb jeden Zweifels stand
_____________ 101 Chamberlain lehnte Haeckels Theorien ab. Vgl. Gl 94; 879; Leopold von Schroeder 65. 102 Die Welträtsel erschienen 1899 zum ersten Mal, wurden bereits im ersten Jahr 100 000 Mal verkauft und schnell in 24 Sprachen übersetzt, darunter Chinesisch und Japanisch. Allein in Deutschland erreichten sie bis 1933 eine Auflage von 410 000 verkauften Exemplaren. Vgl. Field 1981, 292. 103 Darwin, Die Abstammung des Menschen. 1875, 106ff.
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und das damit einen hohen Legitimationswert hat.104 Wenn er Darwin seinen Rassegedanken unterschieben kann, was er im obigen Zitat tut, kann er von sich und seinen eigenen Rasseideen sagen, sie seien auf der Höhe der Wissenschaftlichkeit seiner Zeit. Kritisiert er Darwin, stellt er sich sogar noch über ihn. Diese Übertragung der Darwinschen Vorlage auf die eigenen antisemitischen Beweisführungen beruht in erheblichem Maße auf metaphorischem Sprachgebrauch. Sie verbindet rein aggregativ das Biologische mit dem Religiösen, Darwins Evolutionstheorie mit Rassegedanken und Antisemitismus. Es ist eine Scheinargumentation, die von der Bildlichkeit lebt und die Sachzusammenhänge ausblendet und verfälscht. Gl 259/60: Wir sind gewohnt, das jüdische Volk als das religiöse Volk par excellence zu betrachten: in Wahrheit ist es ein (im Verhältnis zu den indoeuropäischen Rassen) religiös durchaus verkümmertes. In dieser Beziehung hat bei den Juden das stattgefunden, was Darwin "arrest of development" nennt, eine Verkümmerung der Anlagen, ein Absterben in der Knospe. Übrigens, waren alle Zweige des semitischen Stammes, sonst in mancher Beziehung reich begabt, von jeher erstaunlich arm an religiösem Instinkt; es ist das jene "Hartherzigkeit", über welche die bedeutenderen Männer unter ihnen stets klagen. Wie anders der Arier! Schon nach dem Zeugnis der ältesten Urkunden (die weit über alle jüdischen zurückreichen) sehen wir ihn beschäftigt, einem dunkeln Drange zu folgen, der ihn antreibt, im eigenen Herzen zu forschen. Dieser Mensch ist lustig, lebenstoll, ehrgeizig, leichtsinnig, er trinkt und er spielt, er jagt und er raubt; plötzlich aber besinnt er sich: das grosse Rätsel des Daseins nimmt ihn ganz gefangen, nicht jedoch als ein rein rationalistisches Problem – woher ist diese Welt? woher stamme ich? – worauf eine rein logische (und darum unzureichende) Antwort zu geben wäre, sondern als ein unmittelbares, zwingendes Lebensbedürfnis.
Dem Lebensbedürfnis stehen die Verkümmerung der Anlagen (vgl. auch Gl 328) und das Absterben in der Knospe gegenüber. Lebensphilosophische Gedanken werden auf der Basis evolutionstheoretischer Annahmen mit rassebiologischen verbunden und dazu genutzt, Zweige eines angenommenen Stammes, des semitischen, in die Nähe von Unfruchtbarkeit, Instinktarmut und damit in eine Defizienz zu rücken, die geradezu entwicklungshemmend wirkt, ein evolutionstheoretisch bedrohliches Postulat, das die Fortpflanzung der Art in Frage stellt. Das große Rätsel des Daseins ist für Chamberlain, Schopenhauer wie für Darwin die Arterhaltung. Für Chamberlain ist sie besonders dem jungen Arier eigen und äußert sich in einem unmittelbar zwingenden Lebensbedürfnis. Wieder baut er Gegensätze auf: Das Alte und das Neue, das Semitisch-Jüdische, das für den Untergang steht und evolutionstheoretisch am Ende angekommen ist, und das Arische als _____________ 104 Damit ist nichts über die Adäquatheit der Theorie im Detail gesagt. Ohne in einen Kreationismus verfallen zu müssen, kann man Darwins Theorien durchaus auch heute noch sinnvoll anzweifeln. Vgl. dazu: Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit 2007.
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Inbegriff der jungen Völker, die wie die Kinder Garanten einer lebendigen Zukunft sind. Die jungen Völker werden schließlich zum sinnbildlichen Inbegriff der Zukunft und ziehen als Schlagwort in die nationalkonservative Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts105 ein. Mit dem zuletzt Formulierten ist deutlich geworden, dass Chamberlain Darwins Theorien modifiziert und an seine Zwecke angepasst hat. Eine solche Funktionalisierung ist jedoch nur dann möglich, wenn der Ausgangstext schon prinzipielle Anknüpfungsstellen zulässt. Die oben angesprochene Metaphorik gehört zu diesen sprachlichen Möglichkeiten. Es sind aber auch Darwins Schlagwörter selbst bzw. die mit ihnen neu gesetzten Kollokationen, die zu Synapsen zwischen Darwinismus und Rassismus werden konnten. Ein Beispiel für diese Art der Glaubwürdigmachung eigener Interpretationen Darwinscher Texte soll im Folgenden an den Äußerungen Darwins zur Entwicklung der moralischen Eigenschaften des Menschen (s. Beleg unten) kurz umrissen werden. Ein wichtiges Motiv für das allgemeine Interesse lag, wie schon angedeutet, darin begründet, dass der evolutionsbiologistische Ansatz Charles Darwins von den Zeitgenossen sofort als diametral entgegengesetzt zu den religiösen Antworten verstanden wurde. Darwins Theorie negiert den einmaligen und alles sofort fertig stellenden Schöpfungsakt Gottes und setzt ihm einen evolutionären Prozess entgegen, bei dem der Mensch nicht das Produkt göttlichen Willens, sondern dasjenige eines langwierigen natürlichen Auswahlprozesses ist, der sich ausgehend von einer niedrigeren Stufe der Existenz durch Variation und natürliche Zuchtwahl vollzieht.106 Diese Zuchtwahl sei ein Auswahlprinzip der Natur und entspreche den objektiven Überlebensbedingungen der Arten, und es entziehe sich durch seine geologischen und biologischen Zeitmaße von Jahrmillionen der direkten Beobachtung durch den Menschen. Die genannten Ausdrücke Selektion, natürliche Zuchtwahl, Kampf107 um die Existenz, Auslese sind leicht in rassistische Kontexte überführbar und gehören entsprechend zu _____________ 105 Neben O. Spenglers, Untergang des Abendlandes, das bekannteste zeitgenössische Buch zum Thema ist: Arthur Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker 1933. (zuerst 1919). 106 Vgl. dazu: Darwin, Abstammung des Menschen 52 u. ö. Vgl. auch eine Briefstelle Darwins an Prof. Asa Gray (Brief vom 5. September 1857): "Es ist wunderbar, was durch Befolgung des Grundsatzes der Zuchtwahl vom Menschen erreicht werden kann, d. h. durch das Auslesen gewisser Individuen mit irgend einer gewünschten Eigenschaft, das Züchten von ihnen und wieder Auslesen u.s.f. […] Zuchtwahl ist in Europa nur seit dem letzten halben Jahrhundert methodisch befolgt worden; […]. Seit sehr langer Zeit muss auch eine Art unbewusster Zuchtwahl bestanden haben, nämlich in der Weise, dass, ohne irgend an ihre Nachkommen zu denken, diejenigen Individuen erhalten wurden, welche jeder Menschenrasse unter ihren besonderen Verhältnissen am nützlichsten waren. Das »Ausjäten«, wie die Gärtner das Zerstören der vom Typus abweichenden Varietäten nennen, ist eine Art von Zuchtwahl." Zitiert nach: Darwin, Über die Entstehung der Arten 1884, 17. 107 Darwin, Abstammung des Menschen 204 u. ö.
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den immer wiederkehrenden Ideologiewörtern in Chamberlains Schriften. Doch während die Darwinsche Terminologie in ihrer deutschen Übertragung allgemein bekannt ist, gehören seine Formulierungen über die socialen Instincte zu den weniger prominenten, für Autoren wie Chamberlain aber besonders prägenden Vorlagen, da sie alltagsrelevant und geschichtlich begreifbarer scheinen. Darwin schreibt: 108
Darwin, Abstammung 691: Die Entwickelung der moralischen Eigenschaften ist ein noch interessanteres Problem. Ihre Grundlage findet sie in den socialen Instincten, wobei wir unter diesem Ausdrucke die Familienanhänglichkeit mit einschließen. […] Ein moralisches Wesen ist ein solches, welches im Stande ist, über seine früheren Handlungen und deren Motive nachzudenken […]; und die Tatsache, daß der Mensch das einzige Wesen ist, welches man mit Sicherheit so bezeichnen kann, bildet den größten von allen Unterschieden zwischen ihm und den niederen Tieren. Ich habe aber im vierten Capitel zu zeigen versucht, daß das moralische Gefühl erstens eine Folge der ausdauernden Natur und beständigen Gegenwart der socialen Instincte ist; zweitens daß es eine Folge der Würdigung, der Billigung und Mißbilligung seitens seiner Genossen ist, und drittens, daß es eine Folge des Umstandes ist, daß seine geistigen Fähigkeiten in hohem Grade thätig [sind].
Die Verbindung von social und Instinct ist bereits auf den ersten Blick widersprüchlich, da das Adjektiv einer gesellschaftsbezogenen typisch menschlichen Kategorie angehört und das Substantiv Instinct auf eine der menschlichen Kontrolle entzogene, Menschen wie Tieren gemeinsame biologische Größe referiert. Doch in Darwins Zitat wird das Soziale in eine Reihe mit biologischen und angeborenen Eigenschaften des Menschen gestellt und somit zumindest partiell zu einer naturbedingten Größe gemacht.109 Der Mensch als zoon politicon ist in dieser Betrachtungsweise nicht das Produkt der Gesellschaft, in der er lebt, sondern er unterliegt nicht nur in seiner Körperlichkeit einem Ausleseprozess, der durch das vorsoziale Erlernen und Erkennen aus Erfahrungen geprägt ist. Der Ausdruck socialer Instinct impliziert damit nicht nur, dass der Mensch letztlich in einen großen Stammbaum von Tieren gehört, über die er durch seine natürliche Begabung zur Sozialität hinausgewachsen ist, er impliziert auch die Fähigkeit des Menschen zur in seinem Sinne verstandenen moralischen Evolution, und zwar als Bedingung der Möglichkeit von Kultur. _____________ 108 Ähnlich a. a. O. 108. 109 Vgl. dazu auch: Darwin, Arten 1884, 281 und 318: "Endlich mag es wohl keine auf dem Wege der Logik erreichte Folgerung sein, es entspricht aber meiner Vorstellungsart weit besser, solche Instincte, wie die des jungen Kuckucks, der seine Nährbrüder aus dem Neste stösst, wie die der Ameisen, welche Sclaven machen, oder die der Ichneumoniden, welche ihre Eier in lebende Raupen legen, nicht als eigenthümliche oder anerschaffene Instincte, sondern nur als unbedeutende Folgezustände eines allgemeinen Gesetzes zu betrachten, welches zum Fortschritt aller organischen Wesen führt, nämlich: Vermehrung und Abänderung, die Stärksten siegen und die Schwächsten unterliegen."
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Der eigentliche Morallehrer ist neben dem Mitmenschen dann die dem Menschen mitgegebene Natur, das Instinktive. Dieses wird entsprechend zu derjenigen Größe, die alle anthropologischen Fragen zu beantworten hat, seien sie körperlicher oder sittlich moralischer Art. Damit wird der Instinkt zum eigentlichen Antrieb des Lebens, - eine bei vielen Psychologen auch heute noch übliche Grundthese –, die den Menschen und die Gesellschaft aus ihrer sozialen Verantwortung entlässt. Darwin postuliert in seiner Theorie, wobei er wohl nicht ahnte und vor allem nicht intendierte, was von rassentheoretischer Seite schließlich alles daraus legitimiert würde, die Letztbegründung menschlichen Daseins aus der Arterhaltung, die sich durch beständigen Kampf vollzieht, aus der Natur, deren ewigem Werden und Vergehen, ihrer Vielfältigkeit und Dynamik. In unserem Kontext ist die Hauptfrage, wie Darwin das menschliche Wesen, das er wieder zum Tier gemacht hat, in einem zweiten Schritt wieder vom Tier unterscheidet. Seine Antwort lautet, dass der Mensch eben ein moralisches Tier sei. Er ist aber nur moralisch in dem auch für andere Lebewesen gültigen Sinne, dadurch dass er aus seinen Fehlern lernen kann. Er steht deswegen in einer auch anderen Lebewesen möglichen Reziprozität zu seinen Mitmenschen und ist, wie schon ausgeführt, vor allem im Besitz der "sozialen Instinkte". Schon in diesen wenigen Ausführungen wird deutlich, dass Darwin selbst die Vorlage geliefert hat, mit der Sozialdarwinisten und Rassisten ihre Theorien verbinden konnten: die Biologisierung der Moral, der Sozialität und die Unterordnung alles Lebens unter bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die außerhalb des göttlichen, vor allem aber des direkten menschlichen Zugriffs gestellt werden. Der einzig verbliebene Handlungsrahmen betraf die Züchtung über Generationen hinweg, nicht die soziale Für- oder Vorsorge. Darwin, Abstammung 699: Der Mensch prüft mit scrupulöser Sorgfalt den Charakter und den Stammbaum seiner Pferde, Rinder und Hunde, ehe er sie paart. Wenn er aber zu seiner eigenen Heirat kommt, nimmt er sich selten oder niemals solche Mühe. […] Doch könnte er durch Wahl nicht bloß für die körperliche Constitution und das Äußere seiner Nachkommen, sondern auch für ihre intelectuellen und moralischen Eigenschaften etwas thun. Beide Geschlechter sollten sich der Heirath enthalten, wenn sie in irgendwelchem ausgesprochenen Grade an Körper oder Geist untergeordnet wären […]. Alle sollten sich des Heirathens enthalten, welche ihren Kindern die größte Armuth nicht ersparen können, denn Armuth ist nicht bloß ein großes Übel, sondern führt auch zu ihrer eigenen Vergrößerung.
Die Publikation der Darwinschen Evolutionstheorie wurde zu einem der größten Skandale des Jahrhunderts; nicht nur die Kirchen feindeten die neue Lehre als atheistisch und religionszerstörend an, auch einfache Menschen fühlten sich existentiell betroffen. Doch sie hatte bald auch Anhänger und Fortsetzer, die einen, die Darwins Theorien zu einer neuen
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naturwissenschaftlichen Heilslehre erhoben, die anderen, die die Evolutionstheorie zu einer neuen Art des biologischen Rassismus brauchten. Für die letztere Gruppe war besonders das siebte Kapitel seines Abstammungsbuches mit der Überschrift "Über die Rassen des Menschen" wegweisend. Hier denkt Darwin nicht nur über die Bildung und das Aussterben von Rassen110 nach, sondern er stellt ganz nebenbei die Gemeinschaft von Europäern und Hindus in einem gemeinsamen arischen Stamm fest, der sich von einem semitischen Stamm der Juden abgrenzt.111 Der Darwinismus und seine wissenschaftsgeschichtlichen Folgeströmungen bildeten sich auf diese Weise zur ernstzunehmenden Alternative für Religion und Gottbegründung heraus. Von Darwin übernimmt Chamberlain neben der bereits vorgestellten Instinkthaftigkeit112 des Menschen im sozialen Bereich auch die Hauptthesen der Evolution,113 der Auslese,114 der Zuchtwahl,115 des Überlebenskampfes, außerdem auch die Naturbedingtheit der moralischen Veranlagungen (s. o.), letztlich das Prinzip der natürlichen Evolution auch innerhalb der charakterlichen Ausstattung des Menschen und damit die Möglichkeit, nicht nur körperlich stärkere Menschen zu "züchten", sondern auch Einfluss auf ihre geistige und seelische Beschaffenheit nehmen zu können. In allen Schriften Chamberlains lassen sich Beispiele für die zu Darwin erläuterte Verbindung von Sozialität und Naturdeterminierung finden, so z.B. in Formulierungen wie: bewusste Züchtung des Willens (Wille 10). Selbst politische Größen wie die Staatsbildung werden in den Bereich des Triebhaften116 transformiert, gelten so als naturbedingt und werden damit in einem höheren Sinne legitimiert. Kategorielle Inkompatibilitäten wie Natur und Kultur oder Natur und Gesellschaft werden in diesem Zusammenhang aufgehoben.117 PI 51: der Mensch ist nicht Ameise, vielmehr hält seinem staatenbildenden Trieb ein anderer Trieb das Gleichgewicht: der Trieb, sein Glück in sich und in dem kleinen vom Ich belebten Kreis zu finden.
Besonders die wichtigen Domänen Kunst und Religion werden von Chamberlain zu naturabhängigen Größen, die auf Trieben bzw. Erfahrungen im darwinistischen Sinne basieren. _____________ 110 111 112 113 114 115 116 117
Darwin, Abstammung 185ff.; 215ff.; 222. Ebd. 214. Vgl. Wille 10. Vgl. Gl 852. Vgl. Gl 329; 335. Br I, 83f. Vgl. dazu Chamberlains Gebrauch von Wille. Vgl. auch Chamberlain, Kant 639, wo er von darwinistischer Sittlichkeit schreibt oder in Gl 1109: "Wenn der starke naturalistische Trieb unsere Dichtkunst nicht von der Musik losgerissen hätte, hätten wir nie einen Shakespeare erlebt." Vgl. außerdem Gl 1113.
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Gl 1056: Und noch bleibt das Verhältnis zwischen Kunst und Religion zu nennen. […] Religion ist bei allen Indogermanen […] immer schöpferisch in dem künstlerischen Sinne des Wortes und darum kunstverwandt. Unsere Religion war nie Geschichte, nie chronistische Erklärung, sondern immer eigene innere Erfahrung und Deutung dieser Erfahrung, sowie der umgebenden (und somit auch erfahrenen) Natur durch freie Neugestaltung; andrerseits ging unsere gesamte Kunst aus religiösen Mythen hervor. Da wir aber heute es nicht mehr vermögen, dem naiven Trieb der schöpferischen Mythengestaltung zu folgen, so wird unser Mythus aus dem Werk der höchsten und tiefsten Besonnenheit hervorgehen müssen.
Kunst und Religion gehen laut dieser Textstelle zurück auf den naiven Trieb der schöpferischen Mythengestaltung. Sie sind in diesem Sinne Folgen einer anthropologischen Notwendigkeit. Mit solchen gemeinsamen Voraussetzungen ist es auch nicht verwunderlich, wenn Natur, Kultur und Religion in dieser mythischen Vermischung die Basis für das neue Christentum bilden, das Chamberlain in den Grundlagen als indoeuropäische mythische Religion (GL 668) bezeichnet. Religion und Kunst sind darin biologistisch konsequent der Natur untergeordnet, was auch die Rassebedingtheit dieser Größen unterstreicht. Gl 1115: Nichts fanden wir für unsere germanische Kultur bezeichnender, als das Hand-in-Handgehen des Triebes zur Entdeckung und des Triebes zur Gestaltung. Entgegen den Lehren unserer Geschichtsschreiber behaupten wir, nie hat Kunst und nie hat Wissenschaft bei uns gerastet; täten sie es, so wären wir keine Germanen mehr. Ja, wir sehen, dass sich beide bei uns gewissermassen bedingen: die Quelle unserer Erfindungsgabe, aller unserer Genialität, sogar der ganzen Originalität unserer Zivilisation, ist die Natur.
Ohne Darwins Untersuchungen wären Chamberlains Mutmaßungen nicht möglich gewesen. Das ist eine Tatsache, der selbst Chamberlain seinen Tribut schuldet, auch wenn er Darwins Thesen als handgreiflich unhaltbares System (Gl 29) bezeichnet und ihm mangelnde Übertragbarkeit auf das Gesamtkunstwerk 'Leben' unterstellt (Kant 532). Was ihm in allen Diskussionen über Darwins System fehlen musste, war die Teleologie (Kant 569), das Warum des Werdens und Vergehens, das Wozu des Lebens, aber auch die Reflexion der Kultur. Ihn stört darüber hinaus die Überbetonung rein naturwissenschaftlicher und vor allem theoretischer Ansätze, die seinem Postulat der reinen Anschauung nicht entsprechen können118. Chamberlain, Kant, 571f.: Welche Gefahr unserer gesamten Kultur vonseiten der Naturwissenschaft droht, sobald wir sie – wie heute – einseitig überschätzen und die notwendige Beschränkung ihrer Geltung nicht bedenken, das konnten Sie damals zugleich einsehen; […].
Bezeichnenderweise greift er auf der sprachlichen Ebene die Darwinschen Prämissen an, die er ja selbst immer wieder für seine Argumente heran_____________ 118 Vgl. dazu: Field 1981, 297-301.
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zieht. Im Kapitel über Platons Ideenlehre und im Rückgriff auf Kant desavouiert er erstens Darwins Terminologie als Idee, macht damit zweitens ihre biologisch-empirische Basis fragwürdig und stärkt drittens vor allem seine eigene Philosophie, seine Naturwissenschaft und Lebenspraxis überschauende und verbindende Position. Chamberlain, Kant 579: Nun hätte jeder philosophische Forscher seit jeher – auch Newton – Darwin belehren können, dass empirische, exakte Wissenschaft über URSPRÜNGE von Naturerscheinungen niemals etwas ausmacht; schon der ehrwürdige Roger Bacon im 13. Jahrhundert, der Weckrufer germanischer Wissenschaft, spricht die denkwürdigen Worte: causas non oportet investigare. Wäre Darwin – der unvergleichliche Beobachter empirischer Einzelheiten, der verehrungswürdige Mensch – auch nur ein klein wenig Denker gewesen, so hätte er einsehen müssen, dass »Art« überhaupt keine unmittelbare Naturerscheinung ist, sondern eine sehr langsam gewordene Idee, deren eigentlicher »Ursprung« im Menschenkopf liegt und nirgends anders, da sie eine jener Hypothesen bedeutet – »Stufe und Sprungbrett«, wie Plato sich ausdrückt – die der Mensch aufstellt, um mit der Natur in Fühlung zu treten, um sie besser »sehen«. und infolgedessen auch besser »denken« zu können
Er, Chamberlain, behauptet sogar zu diesem Thema, besser als Darwin sehen und denken zu können; besser heißt: sozialdarwinistisch und rassistisch. Es führt zwar kein direkter Weg vom englischen Naturwissenschaftler Darwin zum deutschtümelnden Rassenideologen Chamberlain, doch dieser profitierte entschieden von Darwins Untersuchungsergebnissen, von seinen Theorien über die Entstehung der Arten, vor allem aber von der daran anschließenden gesamteuropäischen Diskussion.
4. Joseph Arthur Graf de Gobineau Adolf Bartels 549: Überhaupt begannen nun Volkstum und Rasse als die stärksten und am sichersten erkennbaren historischen Entwicklungsmächte eine immer größere Rolle in der Wissenschaft und Weltanschauung zu spielen, man begann endlich zu begreifen, dass Blut ein besonderer Saft sei, und die Lehren des alten Humanismus und Kosmopolitismus wollten auch in ihren modernen Maskierungen nirgends recht verfangen, so eifrig sie uns namentlich das Judentum auch immer noch an den Mann zu bringen suchte. Die großen Werke des normannischen Grafen Gobineau […] und später die des Engländers Houston Stewart Chamberlain […] erlangten in Deutschland eine große Verbreitung und gewannen wohl die Mehrzahl der Gebildeten für die Rassentheorie, deren vollständige und sichere Durchführung der Wissenschaft ja freilich noch große Aufgaben stellt, und deren Anwendung auf die komplizierten modernen Verhältnisse ja so ganz leicht nicht ist, die aber doch immerhin ein festeres Fundament für die Ge-
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schichtsauffassung und Geschichtsschreibung bildet als die bloße Ideenentwicklung.119
Es ist kein Zufall, dass Gobineau und Chamberlain von Bartels nahezu im selben Atemzug genannt werden. Diskursgeschichtlich sind sie so eng miteinander verknüpft, dass Gobineau neben Darwin geradezu die zweite Voraussetzung für Chamberlain darstellt, auch wenn dieser diesmal eine solch enge Verbindung explizit abstreitet (Br I, 178f.). Beide vertreten eine anthropologisch bestimmte Geschichtsauffassung, bei der die Rassen Segen und Unheil der Menschheit bedeuten.120 Der französische Diplomat Joseph Arthur Comte de Gobineau (18161882), der bezeichnenderweise durch die Werkübersetzung und eine zweibändige Gobineau-Biographie (publiziert 1913) des Bayreuther Bibliothekars Ludwig Schemann in Deutschland bekannt wurde, hielt sich selbst für einen Nachkommen der normannischen Wikinger.121 Gobineaus besondere Rolle in der Geschichte bestand vor allem darin, das Wort Arier dem Antisemitismus verfügbar gemacht zu haben.122 Sein wichtigstes Werk L'essai sur l'inégalité des races humaines123 (dt.: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen), das er zwischen 1853 und 1855 verfasst hat, wurde von Schemann ins Deutsche übersetzt und 1900 veröffentlicht. Es erfuhr in Deutschland, nicht zuletzt aufgrund dieser Übersetzung, weit mehr Beachtung als in Frankreich oder anderen europäischen Ländern.124 Graf Gobineau, der häufig im Hause Richard Wagners125 verkehrt hatte, wurde zum führenden Rassetheoretiker, und sein auf rassistischer Basis konstruiertes Welterklärungsmodell fand seine Anhänger in denselben Kreisen wie Chamberlain, für den Gobineau wichtigste ideologische Fundamente ge-
_____________ 119 Adolf Bartels, Geschichte der deutschen Literatur 1941, 549. 120 Über antisemitische Geschichtsbilder vgl. den gleichnamigen Band, hrsg. von Bergmann / Sieg 2008. 121 Klaus von See 1994, 144. 122 Von See 1994, 222, Römer 1985, 21. Von See weist übrigens darauf hin, dass Friedrich Nietzsche die Begriffe "Rasse" und "arisch" "wie manches andere", z. B. "Herrenmensch" von Gobineau übernommen habe. Vgl. von See 1994, 289; 290. 123 Joseph Arthur, Comte de Gobineau, Essai sur l'inégalité des races humaines 1853-55; deutsch von L. Schemann, Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen 1898/1901. Zu Gobineau vgl. auch: Werner Conze, s.v. Rasse. In: GG 5, 161. 124 Nicht alle Rezipienten waren begeistert. Es gab auch Widerspruch. So verfasste z.B. der Hallenser Soziologie-Professor Friedrich Hertz (1878-1964) eine Art "Anti-Gobineau", die 1924 publizierte "Wissenschaftlichen Rassenkunde". Vgl. dazu: Römer 1985, 21f., 30. 125 Dazu Römer 1985, 31: "Wagner schenkte Gobineau ein Exemplar seiner "Gesammelten Schriften und Dichtungen" mit den Versen: "Das wäre ein Bund, Normanne und Sachse: Was da noch gesund, dass das blühe und wachse." Es wird berichtet, Wagner habe beim Vorspielen aus dem "Siegfried" ausgerufen: "Das ist Rassenmusik, das ist was für Gobineau!" Und Gobineau soll "in Wagner den Vollender des Germanentums" gesehen haben.
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legt hat. Oder um es noch deutlicher zu machen: Ohne die Vorlage des Franzosen wären seine Ausführungen nicht denkbar. Folgende auf das oben genannte Hauptwerk Gobineaus zurückgehende Prämissen gehörten nach der Publikation der Schemannschen Übersetzungen zum Repertoire der Völkischen:126 – Die Rasse sei der Dreh- und Angelpunkt jeglicher Kulturtätigkeit und Zivilisation. – Es könne keine Gleichheit zwischen den Rassen geben und damit natürlich insgesamt auch keine Gleichheit der Menschen, wie sie seit der Aufklärung und der Französischen Revolution propagiert wird. – Unter Gleichgesonnenen umstrittener, aber nicht minder grundlegend war, dass es "reine" Urrassen gegeben habe, deren kontinuierliche Vermischung untereinander zum Untergang von Rassen, Völkern und schließlich der Zivilisation geführt habe bzw. noch führen werde.127 Grad und Wert der Civilisation werden zum äußeren Ausdruck für den Grad der Vermischung (I, 283) und damit auch zum Zeitmesser für das nahende Ende, denn, so Gobineau (I, 31f.), die Völker "sterben, weil sie zum Bestehen der Gefahren des Lebens nicht mehr dieselbe Kraft haben, wie ihre Vorfahren, mit einem Wort, weil sie degeneriert sind." Und so lautet Gobineaus "bedrohlicher" Schlusssatz seines vierbändiges Werkes: Gobineau IV, 323: Die betrübende Voraussicht ist nicht der Tod, es ist die Gewissheit, daß wir ihn nur entwürdigt erreichen werden; und vielleicht könnte selbst diese unseren Nachfahren vorbehaltene Schmach uns gleichgültig lassen, wenn wir nicht mit einem geheimen Schauder empfänden, daß die räuberische Hand des Geschickes schon auf uns gelegt ist.
Der Weg von der ursprünglichen Reinheit bis hin zum angekündigten Untergang, die Zeiten der Degeneration (III, 413), in denen die allmähliche Zerbröckelung der Racen (III, 406), die die natürliche Gesundheit des socialen Cörpers zerstört habe, wird von ihm gekennzeichnet als Racenanarchie (III, 414), Wirrwar (I, 284), Racenwirrwarr (IV, 119/146), Racenzersetzung (IV, 217), Unordnung (I, 284), Verwirrung (I, 284), Menschenchaos (II, 5/6). Wichtigstes Schlüsselwort dieser Verfallskulisse, die wie bei Chamberlain besonders _____________ 126 Puschner 2001a, 75: "Von Gobineau abgeleiteter Grundsatz: "Jedes Volk muß rassenhaft bestimmt sein und bleiben, die Rasse ergibt das nationale Ferment". 127 Gobineau I, XVI: "daß die Racenfrage alle anderen Probleme der Geschichte beherrscht, den Schlüssel dazu birgt, und dass die Ungleichheit der Racen, deren Zusammentreffen eine Nation bildet, die ganze Kette der Völkergeschichte genügend erklären kann" (I, XVI). […] "daß Alles, was es an menschlichen Schöpfungen, Wissenschaft, Kunst, Civilisation, Großes, Edles, Fruchtbares auf Erden gibt, den Beobachter auf einen einzigen Punkt zurückführt, nur einem und dem nämlichen Keim entsprossen, nur aus einem einzigen Gedanken erwachsen ist, nur einer einzigen Familie angehört, deren verschiedene Zweige in allen gesitteten Gegenden des Erdballs geherrscht haben" (I, XXII).
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auf einer Unordnung und Chaos ausdrückenden Metaphorik beruht, ist degenerieren samt den zugehörigen Wortbildungen, darunter immer wieder Degeneration Gobineau I, 44: Hat dagegen dieses Volk, wie die Griechen, wie die Römer des byzantinischen Reiches, seine Racenkraft und deren Folgewirkungen gänzlich erschöpft, so wird der Augenblick seiner Niederlage der seines Todes sein: es hat die Zeit, die der Himmel ihm im Voraus bestimmt hatte, verbraucht, denn es hat vollständig die Race, also das Wesen gewechselt und ist folglich degeneriert.
Die Völker leiden im Anschluss an die Degeneration bei Gobineau nicht nur an tödlichen Wunden (I, 29), an Verlust an Lebenskraft (II, 19), sondern sind ohne Rettung dem Tode geweiht (s. o.), da der einzelne Mensch nicht mehr das "nämliche Blut in seinen Adern hat, dessen Werth fortwährende Verwischungen allmählich eingeschränkt haben. […] kurz, weil der Mensch des Verfalls, derjenige, den wir den degenerierten Menschen nennen, ein unter ethnographischen Gesichtspunkten von dem Helden der großen Epochen verschiedenes Subjekt ist" (I, 31f). Diesem degenerierten Menschen, der unweigerlich dem Verfall zum Opfer fallen wird, stellt Gobineau eine Größe entgegen, die als glorifiziertes Gegenbild die Tragödie des Untergehenden betont, den Arier. Mit ihm ist der "reinrassige Weiße" aus dem Norden gemeint, der gottähnliche Züge hat und der als die letzte Rettungsmöglichkeit der Menschheit propagiert wird. Nach diesem Kurzdurchgang durch Gobineaus Hauptthesen sollen drei, besonders von ihm geprägte Diskurse näher beleuchtet werden, zum einen der Rassediskurs als Zentrum seiner Ausführungen, dann der Menschenbilddiskurs, der sich in einer gleichermaßen ausgeprägten Dehumanisierung auf der einen Seite und einer Vergöttlichung auf der anderen teilt, und schließlich der Verfallsdiskurs, der nicht nur tragende Elemente des Kulturpessimismus vorführt, sondern die Zivilisation und die Geschichte in eine von höherer Gewalt gewollte Teleologie des Untergangs einfügt. 4. 1. Rasse bei Gobineau Gobineau teilt die Menschheit in drei ursprüngliche Ausgangsrassen und eine aus diesen hervorgegangene buntscheckige Mischlingsrasse (I, 282) ein. Die weiße oder arische Race, so Gobineau, sei den beiden anderen Rassen, der schwarzen und der gelben, körperlich wie geistig überlegen und deshalb zur Herrschaft berufen. Nur sie besitze kulturschöpferische Fähigkeiten, und nur mit ihr könne ein Volk eine Zivilisation errichten (I, 286), was soviel bedeutet, dass nur diejenigen Völker, die dieser Rasse zugehören bzw. in ausreichendem Maße mit ihr vermischt sind, überhaupt als zivilisationsfähig betrachtet werden. Jede Veränderung in den rassischen
503 Joseph Arthur Graf de Gobineau
Bestandteilen muss folgerichtig auch Veränderungen im Wert der Zivilisation mit sich bringen. I, 133: daß das Urbildungsmerkmal jeder Zivilisation mit dem hervorstechendsten Zuge des Geistes der herrschenden Race völlig übereinstimmt, dass die Civilisation in dem Maaße ausartet, sich verändert, sich umwandelt, wie diese Race selbst derartigen Wirkungen unterliegt; dass sich der von einer inzwischen verschwundenen Race gegebene Anstoß doch in der Civilisation während einer mehr oder minder langen Dauer fortsetzt und daß folglich die in einer Gesellschaft eingeführte Art von Ordnung das ist, was die besonderen Anlagen und den Höhengrad der Völker am besten anzeigt; es ist der starke Spiegel, aus dem ihnen ihre Individualität zurückstrahlen kann.
Schon in der bloßen Formulierung Individualität der Völker wird eine besondere Nuancierung des Inhaltes und der Existenzform des Wortes bzw. seiner Bezugsgröße 'Volk' vollzogen, und zwar insofern, als die Charakterisierung mittels individuell einen bedeutungsverändernden Tropus (am ehesten eine Metapher) darstellt, der eine Qualität des Einzelmenschen auf das Volk überträgt und ihm eine ähnliche, nämlich natürlich-reale Existenzform zuschreibt, wie sie zwar für das Individuum nicht sinnvoll bestritten werden kann, durchaus aber für ein Kollektivum wie Volk. Da Gleiches für die Rasse gilt, können Volk und Rasse unter diesem Aspekt synonym verwendet werden. Beide werden damit aus der Sozialität und der Geschichtlichkeit herausgenommen und zum Produkt der jeweiligen Racenmischung als eines im Kern biologischen Vorgangs.128 Auch wenn Gobineau Kultur und Kunst zunächst als positive Folgen der Vermischung der weißen mit der schwarzen Rasse ansieht, ist für ihn längst entschieden, dass alle vermeintlichen und kurzfristigen Vorteile, die sich durch die Vermischung ergeben haben, gemeint ist natürlich ausschließlich eine solche, in der das weiße Element dominiert, nur den Untergang beschleunigen. Für ihn ist erwiesen, dass die weiße Dominanz nicht von Dauer sein kann, sondern insgesamt im Rückzug begriffen ist.129 Die Lehre von der Degeneration durch Blutmischung, die zur sozialen Nivellierung und damit zur Pöbelherrschaft führen müsse, passte gut zur zeitgenössischen Bildungsreligion und dem damit einhergehenden Kulturpessimismus. Gobineaus Rassebegriff weist deutliche Parallelen zu demjenigen Chamberlains auf. Ähnlich wie bei Chamberlain gehören Rasse (und die jeweiligen Wortbildungen, z. B. die Racenkraft), Nation, Volk, Stamm, Seele, _____________ 128 Gobineau IV, 301: "Nicht der Wille eines Monarchen oder seiner Unterthanen verändert das Wesen einer Gesellschaft, wohl aber, kraft der gleichen Gesetze, eine spätere Racenmischung." 129 Gobineau IV, 318: "[der] Bestand an arischem Blute, der in unseren Ländern noch vorhanden ist und allein das Gebäude unserer Gesellschaft noch stützt, steuert mit jedem Tage mehr dem Endziele seiner Aussaugung zu."
504 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Kraft, Menschenart, -typ, Individualität, Blut uvm. zu den Wortfeldern, die um den Begriff 'Rasse' kreisen. Auch für Gobineau ist Race ein Kollektivum für eine bestimmte Gruppe von Menschen oder Tieren, die durch ein biologistisches Kriterium, nämlich dasjenige der Blutsverwandtschaft bzw. der Abstammung, konstituiert wird und durch dessen Gebrauch es überhaupt erst möglich wird, Menschen und Tiere jeglicher Vorkommensform voneinander zu unterscheiden und zu hierarchisieren. Infolge der Analogsetzungen einerseits biologischer und andererseits moralischer und charakterlicher Merkmale bedeutet Rasse deshalb auch: >Gruppe von Menschen, die qualitativ, nämlich als kulturell höher- oder geringerwertig von anderen solcher Gruppen zu unterscheiden istVolksseele, Volkscharaktereine den einzelnen Zugehörigen einer bestimmten Gruppe und der Gesamtgruppe von Gott verliehene, demnach gottähnliche Trieb- und Schöpferkraft, >eine Art rassebedingtes Über-Ich, das im Rassezugehörigen Handelnde, rassisch bedingte Triebkraft des Individuums und seiner Gruppe