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Timothy Tatcher, den kleinen Jour nalisten, der sich bereits in seinem Buch „Für Tote Eintritt verboten“ als ein großer Detektiv ausgewiesen hat, hat es nach Hollywood ver schlagen, in die Welt der Traumfa briken und der schönen Frauen. Un scheinbar wie er ist, muß er erleben, daß sich mehrere Schön heiten heftig in ihn verlieben. Doch da er es nicht allen recht machen kann, nimmt sich eine nach der an deren als Kettenreaktion darauf das Leben, jede mit einem Zettel in der Hand, der unzweideutig besagt, daß es seinetwegen geschehe. Die mysteriöse Selbstmordwelle macht Timothy zur Nummer Eins in Hollywood. An seine Fersen heftet sich Lefty, der Mann eines ebenso mysteriösen Instituts für Persön lichkeitsbildung. Für beide kommen turbulente Tage, bis Timothy den Mörder aus dem Schrank kitzelt. „Verbrecher werden nicht immer durch einen Kinnhaken zur Strecke gebracht“, kommentiert lakonisch Inspektor Hinnes.
Scanned and Corrected by
Pegasus37
Dieses eBook ist nicht für den Verkauf be stimmt.
Timothy Tatcher
Hollywood
gegen mich
Eulenspiegel Verlag Berlin
Titel der Originalausgabe: Hollywood protiv mene Aus dem Serbokroatischen von Barbara Sparing
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1972 Eulenspiegel Verlag, Berlin Lizenz-Nr.: 540/48/72 • ES 8 C Lektor: Horst Roatsch Einbandentwurf: Hans Ticha Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin 4,-
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Auf dem Podium wiegte sich eine dicke Tante bei nahe im Takt der Musik, die ein Jazzquintett pro duzierte. Leider kreischte sie. Sonst wäre es hier angenehm gewesen, um so mehr, da überall schöne Frauen saßen. „Der Herr wünschen?“ Ich drehte mich um und nickte dem Kellner in steifem weißem Vorhemd zu. „Der Herr wünschen?“ drängte das Vorhemd. „Hm.“ Ich überlegte, obwohl wenig Hoffnung bestand, daß mir etwas Vornehmes einfiel. „Ha ben Sie irgendwelche französischen Getränke?“ fragte ich schließlich. „Champagner? Likör? Oder…?“ Ich wartete, was diesem „oder“ folgen sollte, denn darin lag vielleicht meine Rettung. Für Champagner war meine Tasche nicht tief, für Li kör mein Magen nicht gut genug. Aber der Mensch war verstummt. Ich sah ihn an und stellte fest, daß er mich ansah. Ich senkte als erster den Blick, und er nutzte sofort die Situation aus. „Sie sind neu hier?“ fragte er. „Wissen Sie…“ Sollte ich gestehen, daß ich vor ganzen zwei Stunden in Hollywood angekommen war, oder den Filmveteranen spielen, der nach einer Weltreise hierher zurückgekehrt ist?
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Er gestattete mir nicht, eine dieser Möglichkei ten zu wählen. Er ging zum Angriff über. „Vielleicht möchten Sie eine Spezialität des Hauses?“ Ich hob vornehm die Brauen. „Des Hauses? Meinen Sie…?“ „Ich meine nicht nur, ich weiß!“ flüsterte der Kellner mit dem großen Mund dicht an meinem rechten Ohr, das er dabei ein wenig besprühte. Ich rückte ab und legte die Hand aufs Ohr. „Die Spezialitäten unseres Hauses sind berühmt. Nicht nur hier!“ „Na dann…“ Er zwinkerte mit dem linken Auge, verzog sein fettiges Gesicht zu einem Grinsen und ging. Wahrscheinlich war er glücklich, daß sich am Ende ein Getränk für den neuen Gast gefunden hatte. Aber in diesem Augenblick war er nicht der einzi ge Glückliche im Lokal. Ich war es auch, denn ich hatte ein Problem gelöst, das unerwartet aufge taucht war – was man in den Nachtlokalen der Filmmetropole trinkt. Auch die Leute an den ande ren Tischen waren glücklich. Sie erraten es schon: Die dicke Tante hatte endlich den Mund zuge macht. Sie verneigte sich ein- oder zweimal, lä chelte verführerisch einem Greis zu, der mit den Fingern nach dem Zigarettenmädchen schnippte, dann verschwand sie hinter dem dunkelbraunen Vorhang. Sie nahm auch das kleine silbrige Mikro phon mit, das sie während der ganzen Zeit ihres Auftritts an die Zähne gehalten hatte, als wollte sie es abbeißen, was sie aber nicht getan hatte. 7
Ich dachte, die Tante würde das Mikrophon als Erinnerung an den Tag, da man ihr erlaubt hatte, vor normalen Menschen zu brüllen, mit nach Hau se nehmen, aber ich irrte mich. Der Vorhang öff nete sich, das Mikrophon blitzte wieder im Scheinwerferlicht auf und zusammen mit ihm auch der Kopf eines kleinen untersetzten Mannes, der auf einmal da war. Im Takt tänzelte er bis zur Mitte des Podiums und schickte von hier aus allen Gästen sein Lächeln Nr. 5. (wenn wir das freund lichste mit Nr. 1 bezeichnen wollen). „Da habt ihr den alten Morley wieder“, sagte er ins Mikrophon und legte Lächeln Nr. 4 auf sein Gesicht. „Den alten Morley, der dafür sorgt, daß es euch hier gefällt und ihr eure Frauen vergeßt, die zu Hause hocken und glauben, ihr habt eine geschäftliche Verabredung.“ Lächeln Nr. 3. „Ihr braucht mir nichts vorzumachen, nein!“ rief Morley mit kehliger Stimme ins Mikrophon. „Ich kenne eure Geheimnisse und behalte sie für mich. Wenn ich schon eins an Luella Parson verkaufe, glaubt mir, ich bekomme einen guten Preis da für!“ Lächeln Nr. 2. Morley war offenbar ent schlossen, bis ans Ende zu gehen. „Bitte sehr!“ flüsterte der Kellner und stellte ein schlankes Glas mit einer dunklen Flüssigkeit auf mein Tischchen. „Stammt aus Havanna!“ sagte er vertraulich. Diesmal traf sein Speichel meinen Hals.
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Ich nickte und wartete, was Morley sich jetzt ausdenken würde. „Und jetzt’’, rief er in das Mikrophon, das ei gentlich gar nicht notwendig war, „jetzt folgt das, was euch heute nacht den Schlaf rauben wird.“ Im Lokal wurde es still. Alle waren interessiert, nur die Musiker sahen ausdruckslos vor sich hin, immun gegen die Überredungskünste des braven Morley. Aber zu ihnen hatte der glatzköpfige Con férencier auch nicht gesprochen. Morley verzog gerade die Lippen zum Lächeln Nr. 1, als ich mechanisch das Glas hob und mir die Flüssigkeit in die Kehle schüttete. Im selben Sekundenbruchteil bedauerte ich, nicht vorher nachgesehen zu haben, was das Glas enthielt: ob es frische Glut war oder ein Konzentrat aller Gifte aus den Tiefen des kubanischen Dschungels. Je denfalls begann ich entsetzlich zu husten und sprang auf, beide Hände am Hals. Die Beleuchter verstanden etwas von ihrem Me tier. Sie kreuzten die Lichtstrahlen auf meinem rotangelaufenen Gesicht, und das ganze Lokal starrte mich an. Morley winkte mir freundlich zu. „Da sehen Sie!“ sagte er zu den anderen, jetzt schon mit dem Lächeln Nr. 1 im Gesicht. „Da se hen Sie, was es heißt, ungeduldig auf Giekies Auf tritt zu warten! Der Gentleman kann nicht einmal meine geistreiche Konversation ertragen, denn er reißt sich darum, die schönste und temperament vollste Frau Hollywoods zu sehen. Und er hat auch recht, ich versichere es. Deshalb zuerst Beifall für den Gentleman!“ 9
Noch immer mit grinsendem Mund wandte er sich zu mir, hob die Hände und begann zu klat schen. Das Publikum zögerte zuerst, dann folgte es der Aufforderung. Alle Hände wurden in Betrieb gesetzt, und alle Augen folgten dem Scheinwerfer. Mir war heiß, und ich war verlegen. „Danke, danke, nicht nötig“, murmelte ich mir in den Bart, während meine Brillengläser von der Hitze beschlugen, die irgendwo vom großen Zeh herkam. Ich erhob mich wieder, verneigte mich ein paarmal nach allen Seiten, dann setzte ich mich und spielte bescheiden lächelnd mit den Re sten des schlanken Glases, das ich wer weiß wann zerdrückt hatte. „Und jetzt Beifall für unsere Giekie!“ hörte ich den sympathischen Morley rufen. Und wirklich, es erfolgte wieder Applaus, vielleicht sogar ein biß chen stärker als der, der eben mir gegolten hatte. Sobald mein Organismus die Spezialität des Hauses „Zum Einäugigen Bill“ ganz bewältigt hat te, sah ich zum Podium. Und sogleich war mir klar, daß ich den Blick nicht mehr wenden würde. In der Journalistensprache würde man sagen, daß Giekie auf dem Podium tanzte, aber hier hat das Journalistenlexikon keinen Zutritt. Ich würde ihn auch keinem Dichter erlauben, wenn er nicht eine Bestätigung von Harvard beibringen könnte, daß er mindestens 30 000 Wörter beherrscht. Erst von so einem Wortschatz aus könnte man an die Beschreibung Giekies herangehen. Demnach möge Ihnen klar sein, daß es mir nicht gelingen wird, diese Frau zu schildern. Ich 10
sage nur, daß sie wunderbar ist, daß sie einen phantastischen Körper hat, daß man – glückli cherweise – diesen phantastischen Körper in sei ner ganzen Schönheit sieht, denn die zwei Silber dollars auf den Brüsten und das Stückchen Silber etwas tiefer verbergen insgesamt 0,003 Prozent der Oberfläche – und daß ihre Haut dunkel ist. Und Sie sollten nun versuchen, aus dieser kargen Beschreibung das übrige zu erraten, um sich Gie kie vorstellen zu können. Wie dem auch sei, Giekie tanzte, das Publikum stierte sie an, die Musiker spielten jetzt mit über professioneller Hingabe, und die Erde hörte auf, sich zu drehen. Ich verfluchte mein Pech, daß ich hinten im Saal saß, obwohl es mir noch vor ein paar Minuten lieb gewesen war, daß ich keinen Tisch an exponierterer Stelle gefunden hatte. Durch einen nebligen Rauchvorhang sieht man solche – verzeihen Sie – Sensationen nicht gut. Ich spürte eine Hand auf der Schulter. „Ja?“ fragte ich nervös, voller Angst, eine Se kunde Genuß zu verlieren. Im Halbdunkel schim merte ein blasses Gesicht. „Mr. McMaster?“ fragte der Weißgesichtige halblaut. „Nein!“ fertigte ich ihn ab. „Sie sind nicht Jimmy McMaster? Aus Cleve land?“ „Nein, ich bin Tatcher.“ „Wie? Verzeihung, ich habe nicht verstanden.“ Der Fremde legte sein Ohr fast an meinen Mund. 11
„Timothy Tatcher! T-A-T-C-H-E-R!“ zischte ich wütend. „Entschuldigung, Mr. Tatcher, es war ein Irr tum!“ murmelte der Unbekannte. Ich glaubte, er sei gleich darauf gegangen, aber ich war nicht sicher, denn ich richtete den Blick sofort wieder zur Bühne auf Giekie. Und sie tanzte noch eine ganze Ewigkeit, noch zwei bis drei Sekunden. Als sie hinter dem Vorhang verschwunden war, wurde es wieder hell im Saal. Beifall, Pfiffe und Gemurmel brandeten in Wellen gegen den schwe ren Vorhang an und kehrten zurück, ohne Erfolg. Die Tänzerin kam nicht wieder. Als auf dem Podi um erneut Morley erschien, teilte die ganze hier durch hundert Personen vertretene Nation meine Erbitterung. Ich war wütend, als ich mich wieder an meinen Tisch setzte und beim Kellner etwas zu trinken bestellte. „Noch einen?“ fragte er mit freundschaftlichem Zwinkern. „Noch einen“, antwortete ich, wobei ich meine geröteten Handflächen betrachtete. Der Kellner brachte das Getränk, und ich goß es hinter. Ich war zornig auf Morley, der dem Publi kum erklärte, daß Giekie sich prinzipiell nie ein zweites Mal zeigte, sosehr man ihr auch applau dierte; darum spürte ich das Getränk fast nicht. „Noch einen!“ sagte ich, als ich das Glas absetz te. Der Kellner grinste.“ Ich hab’s Ihnen gesagt…“ 12
„Noch einen“, unterbrach ich ihn heftig. Ich mag es nicht, wenn das Personal versucht, mit den Gästen intim zu werden. Seine Aufgabe ist nur… Oh! Erst jetzt fühlte ich das Feuer in der Kehle, im Magen, im ganzen Körper. Es hatte höflich ge wartet, bis ich meine Wut auf Morley und dann auf den Kellner abreagiert hatte, und war erst dann ausgebrochen. Es war zu spät, etwas zu tun, wenigstens hier im Lokal, wo keine Feuerlöschbri gaden mit ihren Apparaturen existierten. Ich mußte also hinausgehen, Rettung in einem Bassin suchen. Ich flog zum Ausgang, die Hand am Hals. Trotzdem ging ich nicht hinaus. Es war nicht mei ne Schuld, denn ich bemühte mich mit aller Kraft, durch die Tür zu kommen, aber ich wurde durch einen finster dreinblickenden Hünen mit niedriger Stirn und platter Nase daran gehindert. „Was ist los?“ fragte er, als wir uns genau auf der Schwelle begegneten. „Ich… will hinaus… Wasser!“ ächzte ich. „Ich will hinein!“ antwortete er und lachte, als wäre das ein guter Witz. Vielleicht hatte ich die Tiefe seiner Worte nicht begriffen, jedenfalls versuchte ich schweigend an ihm vorbeizukommen. Aber das gelang mir nicht, denn der Mann war reichlich breit, und hinter ihm drängten sich noch drei bis vier andere. Aber da sich die Feuersbrunst in meinem Innern ausbreitete, als wäre sie von Nero persönlich entfacht worden, war ich gezwun 13
gen, alle Kräfte zu mobilisieren, um die Hindernis se zu überwinden. Ein paar Sekunden verharrte mein Körper am Ort, dann gewann er auf einmal Tempo. Leider nicht vorwärts, sondern zurück. Dieser Witzbold nämlich hatte mich am Revers gepackt und ge schubst. Ich flog los wie Gordon Cooper in einer „Faith 7“ und landete auf dem Tisch eines Pär chens, das mich dort anscheinend nicht erwartet hatte. „Mein Whisky“, rief der Mann schmerzerfüllt. „Meine Mayonnaise“, kreischte die Frau hung rig. Wo der Whisky war, wußte ich nicht, während ich die Mayonnaise auf meiner Hose ertastete, als ich mich von dem Tisch hochrappelte und mir in stinktiv mit der Hand an die Hinterseite griff. Ich verzog das Gesicht, als ich die gelbe Masse er blickte, die an meinen Fingern klebte, und dann ging ich zum Angriff über. Ich senkte den Kopf und stürmte auf den Bauch meines Gegners los. „Sieh an!“ Das war die Stimme des Barbaren mit der nied rigen Stirn. Und es war alles, was er sagte. Er breitete die Arme aus, blieb stehen und fing mich mit dem Bauch ab. Dann lachte er dumm, schritt über mich hinweg und ging weiter. Seine drei oder vier Begleiter machten einen vorsichtigen Bogen um mich, während ich auf dem finsteren Boden meine Brille suchte und dumpfen Schmerz im Kopf fühlte, wie ihn vielleicht die Stiere empfin 14
den, wenn sie statt des Toreadoren die harte Ein fassung der Arena treffen. Aus der Ferne drang Morleys Stimme zu mir. „Hallo, hallo, was für eine Sensation! In unse ren Reihen befindet sich…“ Unter dem Tisch jenes Pärchens ertastete ich etwas. Es war meine Brille. Ich setzte sie sofort auf. „… befindet sich der große Budd Stark, der künftige Weltmeister!“ Applaus erstickte Morleys Worte. Ich erhob mich und erblickte mitten im Saal meinen Gegner von der Ausgangstür, der dümmlich im Schein werferlicht grinste. Timothy, such dir deine Gesellschaft besser aus! sagte ich zu mir selbst und sah mich nach einem Tisch um. Hier konstatierte ich erfreut, daß das Feuer von selbst erloschen war. Also hatte es doch geholfen, obwohl ich Ihnen eine solche Kur nicht empfehle. Morley war anscheinend in seinem Element. Dieser stumpfsinnige Boxer wirkte anre gend auf ihn. „Budd Stark, der morgen, spätestens übermor gen Weltmeister sein wird, ist zu uns gekommen, um sich zu amüsieren!“ brüllte der Glatzkopf ins Mikrophon. „Und wir“, fuhr er fort, „wir werden ihn unterhalten, so wahr wir in Hollywood sind.“ Nachdem ich in meinem Bericht über das Äuße re Giekies nicht erschöpfend war, brauche ich kein Wort auf Morleys Conférence zu verschwenden. Der Mann wird dafür bezahlt und ist nicht daran schuld, daß er die Themen überall suchen muß, 15
sogar im Boxring. Deshalb versuchte er auch, die Anwesenheit des beschränkten Gorillas in diesem Lokal auszunutzen, denn jemand anders hatte er nicht zur Hand. Morley war sicherlich niemals in Prenticeville gewesen,∗ ebensowenig kannte er Timothy Tatcher, der dort eine Persönlichkeit von Bedeutung ist. Und da er nicht eingeweiht war und nicht wußte, wer da im Saal saß, kann man ihm nicht verübeln, daß er so viel über einen plattnasigen Einfaltspinsel redete wie diesen Budd Stark oder wie auch immer mein Bekannter von der Tür hieß. Wie dem auch sei, ich hörte Morleys Worten nicht mehr zu. Ich sah auch nicht zur Bühne, son dern wandte alle Aufmerksamkeit den Nachbarti schen zu. An dem linken war eine hübsche Blon dine, rechts von mir zwei Brünette, etwas weiter eine Rothaarige, die noch dazu schöne, ziemlich entblößte Schultern hatte. Das waren jetzt die Di strikte, die mein Blick eifrig aufsuchte. Zuweilen geschah es, daß eine der angeführten Damen mir einen Blick gönnte, aber im Saal war es offenbar zu verqualmt, so daß die Schönheiten mein Aus sehen nicht ganz zur Kenntnis nehmen konnten und nach zwei bis drei Zehntelsekunden den Blick abwandten oder – überzeugt, daß nichts Besseres in der Nähe war – ihren Partnern am Tisch in die Augen sahen. Ich aber lächelte dabei überlegen ∗
Der Autor spielt hier auf die Heldentaten Timothy Tat chers an, die der Roman „Für Tote Eintritt verboten“ schildert (Eulenspiegel Verlag, Berlin 1967)
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und dachte, was los wäre, wenn der Saal eine bessere Ventilation hätte. Ab und zu warf ich einen Blick zur Bühne, wo die Auftritte in dieser Reihenfolge stattfanden: Morley, ein Zauberer mit einem Zylinder, der Starfotos aus der Zeit vor Pearl Harbour enthielt, Morley, zwei langbeinige Tänzerinnen (Zwillings schwestern), Morley, eine orientalische Schönheit mit Ansatz zur Fettsucht, Morley und zwei franzö sische Stripperinnen, die dabei zweideutige Lieder mit Cowboyakzent sangen. Alles sehr kläglich. Dann erschien wieder Morley, jetzt schon ziem lich verschwitzt, aber in voller Kondition. Mit ei nem großen weißen Taschentuch wischte er sich die Glatze und legte wieder das Lächeln Nr. 1 auf sein Gesicht. Scharfsinnige Menschen konnten so fort schlußfolgern, daß der Conférencier ein neues Thema gefunden hatte. Und sie irrten sich nicht. „He, he, he!“ brüllte der Glatzkopf ins Mikro phon und wies mit der freien Hand auf die Ein gangstür. „Wen sehen meine Augen!“ Wir alle drehten uns um und stellten fest, daß noch eine Gruppe Besucher das überfüllte Lokal betrat. Vor ihr schafften die Kellner, der Chef des Etablissements und drei Zigarettenverkäuferinnen Platz, und zwei Fotoreporter verknipsten Filme, als bekämen sie sie umsonst. Mitten in der Grup pe schritt eine üppige Person weiblichen Ge schlechts. „He, he, he!“ kreischte Morley. „Die große Maud ist angekommen! Maud, der Fernseh star, Maud, die Frau, in die hundert Millionen Amerikaner verliebt sind, während der Rest gera 17
de dabei ist, ihretwegen den Kopf zu verlieren! Maud Winters!“ Das also war Maud Winters? Ich hatte sie schon im Fernsehen gesehen, aber niemals lebend, niemals so aus der Nähe. Denn sie ging mit ihrer Begleitung in zwei Schritt Ent fernung an meinem Tisch vorüber, nebelte mich mit ihrem Parfüm ein und streifte mich fast mit der Hüfte, die auf einen reservierten Tisch zuwog te. „Sei gegrüßt, schöne Maud!“ seufzte der kahl köpfige Conférencier und schickte der berühmten Dame Kußhändchen. Sie aber schwamm weiter wie die „United States“ in den Hafen von New York, während zahlreiche größere und kleinere Schlepper in ehrfürchtigem Abstand von dem Ozeanriesen, den sie zum Dock geleiteten, ihre Sirenen ertönen ließen. Der berühmte Star trug eine dunkle Brille, was seine bleiche Haut noch betonte. Das kostbare, in der Taille enge Kleid ermöglichte ihren Brüsten, allen Reichtum zu zeigen, unter der ständigen Ge fahr, daß die peripheren Teile über den Rand des purpurfarbenen Ausschnitts quollen. Das lange, frei über den Rücken fallende Haar erinnerte an den Niagara, nur daß die Warnschilder fehlten: „Fotografieren verboten!“ und „Befahren mit Fäs sern verboten.“ Die Anwesenheit der berühmten Persönlichkei ten verwirrte mich. Wie unsympathisch er auch war, Budd Stark war prominent. Sein Name tauchte in den Zeitungen wenigstens so oft auf wie der von John Kennedy, und am Tag vor einem 18
Kampf und am Tag nach einem neuen Sieg sogar noch häufiger. Und was soll ich über Maud sagen? Besser nichts. Sie wissen ja selbst. Plötzlich bekam ich gute Laune. Ich blinzelte sogar der Blonden zu, die in meiner Nähe saß, worauf sie ihrem Begleiter etwas sagte und er sich nach mir umdrehte. Ich zwinkerte auch ihm zu, und alles verlief ohne böse Folgen. Morley erzähl te indessen eine Anekdote, über die am Ende niemand lachte außer mir, obwohl ich die Pointe nicht mitbekommen hatte. Aber unwichtig, Haupt sache, wir waren alle da – Maud, Budd, Morley, ich und die anderen. Ja, und Giekie, die war nicht so leicht zu vergessen. Der Rest des Programms war glänzend. Wieder kam der Zauberer, diesmal mit Fotos von heutigen Stars, und die zwei wun derbaren tanzenden Zwillingsschwestern mit den perfekten langen Beinen und die rundliche indi sche Tänzerin, die beiden Cowgirls, die zweideuti ge Lieder mit leicht französischem Akzent sangen, und der ewig unvermeidliche sympathische Morley mit seinem Mikrophon und der hübschen glänzen den Stirn. Auch jetzt befand er sich auf der Bühne, die sich vor- und rückwärts bewegte. Ich dachte, daß mit den Grundmauern des Gebäudes etwas nicht in Ordnung war. Dann verwarf ich diesen Gedan ken und beobachtete ein Weilchen aufmerksam das Naturphänomen, wobei ich mich am Tisch festklammerte. Aber auch der Tisch war keine si chere Stütze mehr für wissenschaftliche Experi mente, denn jene acht Gläser kippten um, in de 19
nen mir Mickey – so hieß der Kellner, ein netter Junge aus Bronx – die Spezialitäten aus Havanna serviert hatte. Aber zu einer Katastrophe kam es doch nicht, und das erheiterte mich. Deshalb winkte ich Mickey heran und zeigte ihm die Glä serreste auf meinem Tisch. „Noch etwas?“ fragte er, und ich nickte nur. Wir verstanden uns ausgezeichnet. Also, wie ich schon erwähnte, befand sich Mor ley gerade auf der Bühne, dieser Teufelskerl war kaum von dort zu vertreiben. Aber wennschon, der Glatzkopf war mir sympathisch, alle waren mir sympathisch, sogar Budd Stark, dieser zuckersüße kleine Bursche, der angeblich gut boxen konnte, und Giekie war mir am allersympathischsten. In sie war ich, soweit ich mich erinnere, verliebt. „Prost, Morley!“ rief ich dem Glatzkopf zu, als mir Mickey eine neue Portion der Spezialität ge bracht hatte. „Hallo!“ antwortete er und winkte mir zu, und mir war, als hätte er das schon einmal getan. Morley balancierte weiter auf der Bühne, die gefährlich schwankte, und erzählte etwas. Ich hörte nicht mehr zu, denn so war es angenehmer, und ich lachte alle drei Minuten, was ungefähr mit seinen Witzen zusammentraf. Dann sah ich Budd Stark aufstehen, auf die Bühne klettern und Mor ley die Hand drücken. In Ordnung, dachte ich, Budd ist nicht so übel. Vielleicht ein bißchen aus gelassen, aber das werden wir ihm nicht verar gen.
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Dann stellte ich fest, daß auch Maud aufstand. Oder waren es vielleicht zwei Mauds, Zwillinge, die sich erhoben? Ich spannte alle Aufmerksam keit an, legte die Hand über die Augen, kniff die Lider zusammen und beäugte die Lage. Es war eine Maud. Sie wiegte die Hüften und ging auf die Bühne zu. Auch sie sagte etwas zu Morley, ich weiß nicht, was, denn es war vermutlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie gaben sich die Hand, und mir war, als wollte Morley sie küssen. Sie wehrte sich und wölbte ihren Busen so, daß der arme Glatzkopf nicht an sie herankonnte. Dann lachte sie, nahm seinen Kopf in beide Hände und küßte ihm die Glatze. Sehr gut, sehr gut! Das Publikum johlte; ich stieg auf den Stuhl, setzte mich auf die Lehne und begann auf dem Sitz zu trampeln. Es war lustig! Dann sagte Morley wieder etwas ins Mikrophon. Ich hörte nicht, was, aber ich sah, daß er sich im Saal umschaute. Offensichtlich suchte er jemand. Ich stellte nicht fest, wen, zum Teil deshalb, weil ich nicht hörte, was er sagte, andererseits weil mein Stuhl umkippte und ich auf dem Boden lan dete. Auch da unten war es nicht übel, denn ich hatte eine bessere Übersicht über die Beine meiner hübschen Nachbarinnen, und ich beobachtete, daß ein grauhaariger Bock eine Minderjährige zwickte, deren Mutter so ernst tat, daß man vor Lachen platzen konnte. Auch hier war es nicht übel, wiederhole ich, nur verdarb mir ein Mensch den Genuß. Er packte mich an den Armen und 21
hob mich hoch, und ich küßte ihn, aber nicht aus Dankbarkeit, sondern nur so. Bei dieser Gelegen heit merkte ich, daß es jener Bleichgesichtige war, der mich für McManus oder McMillan oder irgend einen anderen Mc gehalten hatte, während ich ei gentlich… wer war ich eigentlich? „Mr. Tatcher!“ sagte das Bleichgesicht und ver suchte, sich aus meiner Umarmung zu winden. Er hatte recht, ich bin Tatcher, sogar Timothy Tatcher, und wenn mich jemand ruft, kann er mich… „Mr. Tatcher!“ rief jemand am anderen Ende des Saales. Es war Morley, der gute alte Morley, ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, aber er ist Conférencier in irgendeinem Lokal, und die Gäste dieses Lokals sind gewisse feine Leute und ich, natürlich. „Mr. Tatcher, kommen Sie!“ rief Morley, ganz rot im Gesicht, obwohl er kein Krebs war und nie mand ihn gekocht hatte. „Er bittet Sie auf die Bühne!“ flüsterte das Bleichgesicht. Er schubste mich in diese Richtung, und ich glaube, er machte es geschickt, denn ich näherte mich wirklich der Bühne, obwohl ich nicht wußte, wie. Der Bühne, auf der sich Maud Winters, Budd Stark und mein langjähriger Freund Morley, der mit der Glatze, befanden. Ich erreichte das Podium, und hier verlor ich ein wenig Gleichgewicht, denn das Podium lag in grö ßerer Höhe vom Meeresspiegel als der Boden des Saales. Ich glaube, ich bin sogar gestolpert. Je 22
denfalls begann jemand hinter mir zu lachen. Würdevoll drehte ich mich um und erblickte einen Dicken mit drei Unterkinnen. Sein Zeigefinger wies auf meine Hose. Der Dicke erstickte fast vor Lachen, und sein Gebiß wackelte gefährlich, als würde es jeden Augenblick herausfallen. „Der hat sich… der hat sich…!“ kicherte der Dik ke. Er erinnerte mich, daß irgendwo auf meiner Ho se ein wenig Mayonnaise sein mußte, wer weiß, warum. Ich fuhr mit dem Finger über den Hosen boden, sammelte dort reichlich gelbliche Masse und schmierte es dem Dicken über Stirn und Na se. Der Mann verstand den Witz nicht und wurde plötzlich traurig, aber ich stieg auf die Bühne, fiel Maud in die Arme und versank zwischen ihren Brüsten.
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Wäre es nach mir gegangen, hätte ich jahrelang in dieser Lage verharren können. Aber der verteu felte Morley schien in Maud verliebt zu sein und unternahm alles, um uns zu trennen. Dieses „al les“ bestand aus einem Griff nach meinem Kragen und kräftigem Zerren. Ich befand mich wieder an einer Brust, aber nicht mehr an der von Maud, sondern an der des glatzköpfigen Conférenciers, was ein wesentlicher Unterschied ist. Ich war von diesem Umzug nicht begeistert und protestierte zornig mit Armen und Beinen. Auch das Publikum war auf meiner Seite, aber Morley war beharrlich, und dagegen konnte man nichts tun. „Meine Damen und Herren“, sagte Morley ins Mikrophon, während ich ihm schicksalsergeben am Hals hing und ihm den Mund zum Kuß darbot, „meine Damen und Herren, ich stelle Ihnen die dritte Persönlichkeit des Abends vor. Nach der fa belhaften Maud Winters, dem Star des Fernseh schirms, und nach Budd Stark, dem Star des Box rings, hier also Timothy Tatcher, den Neuling in unserem Lokal. Ein dreifaches Hurra für Timothy Tatcher!“ „Hurra, hurra, hurra!“ rief ich und noch zwei oder drei mit mir, inklusive Morley. Dann nahm Morley wieder das Wort. „Liebe Gäste, Sie kennen unseren Brauch. Je den Abend stellen wir Ihnen drei Persönlichkeiten 24
vor: zwei bekannte und eine unbekannte. Zwei, die sich schon auf dem Gipfel des Ruhms befin den, und eine, die mit der Absicht in unsere Stadt gekommen ist, diesen Gipfel zu erstürmen. Nach Maud und Budd stelle ich Ihnen jetzt also Timothy vor!“ Ich sah ihn voller Zärtlichkeit an. Seine Rede gefiel mir, und ich küßte ihn wieder, was ihn vo rübergehend aus dem Takt brachte. „Hallo, Timothy!“ sagte er etwas säuerlich, als wäre ihm mein Kuß unangenehm. „Hallo, Glatzkopf!“ antwortete ich artig. Das Publikum lachte. „Timothy“, fuhr Morley fort, „gestatte mir eine Frage!“ Ich streichelte ihm die Glatze. „Dir ist alles gestattet“, antwortete ich. Den Gästen gefiel auch das, und ich zwinkerte ihnen zu. „Also, du bist zum erstenmal in Hollywood?“ „Zum ersten- und letztenmal“, sagte ich. Im Ohr, meinem rechten, rauschte etwas, und ich versuchte mit dem Zeigefinger das Geräusch zu vertreiben. „Wie?“ fragte Morley entrüstet. „Gefällt dir un sere Stadt etwa nicht? Warum solltest du zum letztenmal in Hollywood sein?“ „Weil ich mich nicht mehr wegrühre. Hier ist es schön, und hier bleibe ich. Also besteht nicht die Chance, daß ich jemals wieder in dieser Stadt an komme“, antwortete ich ernst. Applaus. 25
Ich grinste eine hübsche Blondine an, die ir gendwo ganz rechts saß. Sie antwortete mit ei nem Lächeln, und ich winkte ihr sofort zu. Morley verhinderte weitere Kontakte. „Timothy“, erkundigte sich der Glatzkopf wei ter,“ hast du die Absicht, berühmt zu werden?“ Ich nickte und versuchte dann erneut Kontakt mit der Blonden auf der rechten Seite aufzuneh men. „Wann?“ bohrte Morley. „Jetzt!“ antwortete ich, ohne nachzudenken. „Wie?“ Ich wandte den Blick von der Blondine – ziem lich ungern – und sah ihn aufmerksam an. „Wie?“ fragte ich. Jetzt war Morley derjenige, der nickte. Ich ließ den Blick durch den Saal wandern. Alle waren still und erwarteten meine Antwort. Wartet nur, dachte ich. Wartet. Ihr werdet was erleben. Ich drehte mich um und zwinkerte Maud zu. Sie lächelte, und ihr Busen wogte. Ich zwinkerte Budd zu, und in dieser Sekunde kam mir die geniale Idee, wie man im Handumdrehen berühmt wer den kann. Zuerst sah ich nach, ob die Fotoreporter mit ih ren Blitzlichtern faulenzten. Sie faulenzten nicht. Sie standen vor der Bühne und knipsten alles, was des Knipsens wert oder unwert war. Mit einer kurzen Geste wies ich sie an, sich bereit zu hal ten, und dann sah ich Morley an. „Also, Timothy, die Frage lautete: Wie?“ sagte er. 26
Ich kniff die Augen ein wenig zusammen, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Es ging nicht. So im Dunkeln schwankte alles noch mehr, aber für den Ruhm braucht man Stabilität. Ich öffnete also weit die Augen, grinste noch einen Augen blick, dann ging ich entschlossenen Schrittes auf Budd Stark zu. In der völligen Stille, die den Saal beherrschte, unter dem Aufleuchten der Blitzlich ter packte ich die Spitze seiner platten Nase mit Zeigefinger und Daumen und drehte kräftig dar an. Es war die Nase des künftigen Weltmeisters im Halbschwergewicht. „Uuuuuuuuuu!“ hallte es durch den Saal. Zuerst bemerkte ich den verblüfften Blick des Boxers. Dann hörte ich sein Gebrüll, und erst dann wurde mir bewußt, was ich getan hatte. Zum Glück beschleunigte der Selbsterhaltungs trieb meine nächste Bewegung, und ich befand mich in Sekundenschnelle hinter Maud Winters und lugte über ihre linke Hüfte. Zugleich stellte ich fest, daß ich nüchtern geworden war, hun dertprozentig nüchtern. Budd stürmte auf mich los, aber zum Glück verhedderte er sich in Morleys Mikrophonkabel. Er stolperte und begann zu schwanken. Zu seinem Glück fing ihn Maud auf und hielt ihn fest. Das rettete sein Ansehen im Publikum, denn nach dem Ding mit der Nase hätte ein Sturz auf der Bühne ihn sicherlich die Sympathien der Boxliebhaber gekostet. Ich aber, es sei mir verziehen, wünschte ihm von ganzem Herzen diesen Sturz und dazu noch ein Loch im Kopf, damit er nie wieder auf 27
stehen könnte. Das war, so räsonierte ich hinter Maud versteckt, die einzige Chance für mich, den morgigen Tag zu erleben. In der Umarmung der Schauspielerin gefangen, konnte sich Budd Stark nicht befreien. Ich ent deckte inzwischen an einer Tür hinter den Kulis sen ein Schild mit der Aufschrift: „Notausgang“. Da mischte sich Morley ein, um die Situation zu retten. Mit einer Hand zerrte er Stark aus Mauds Ar men, mit der anderen hob er das Mikrophon an den Mund. „Geehrtes Publikum, liebe Gäste! Sie haben ge sehen, wie sich unser neuer Bekannter, der Freund Timothy, amüsiert. Sein Sinn für gesunden Volkshumor hat uns nett unterhalten. Außerdem ist unser großer Budd, der künftige Boxweltmei ster, von sanfter Natur, und deshalb ist der Scherz noch mehr gelungen. Unser Champion könnte außerhalb des Ringes keiner Fliege etwas zuleide tun, geschweige, daß er seine kräftigen Fäuste gebraucht. Nicht wahr, Budd?“ „Laß mich los, ich will ihn zermalmen!“ sagte der sanfte Budd zähneknirschend und ballte die Fäuste. „Bravo, Budd, so liebe ich dich!“ fuhr Morley fort. „Du bist ein wahres Lamm, und das gereicht dir zur Ehre. Auch du hast Sinn für Humor. Darum freut uns dieses Lächeln, das dein edles Antlitz verschönt!“ Morley war ein Mordskerl.
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„Nun lächle noch einmal, diesmal für das Publi kum!“ redete er dem Gorilla im Abendanzug zu, ohne seinen Unterarm eine Sekunde loszulassen. „Na los! Du weißt, daß das Publikum dich gerade so gern hat.“ Ich schloß die Augen und wartete auf den Ap plaus. Als ich sie wieder öffnete, sah ich zu mei ner Überraschung auf Budds Gesicht ein Lächeln, wie es höchstwahrscheinlich Jack the Ripper auf setzte, wenn er eines seiner Opfer in Teile zerleg te. Diese Grimasse sagte, daß ich gerettet war, wenigstens für die nächsten fünfzehn Minuten. Jetzt klatschte auch Maud, entzückt über den Sinneswandel des Boxers. Schließlich klatschte ich ebenfalls, obwohl ich keinen Grund hatte. Das nutzte Morley geschickt aus wie ein Domp teur, der den gefährlichsten Punkt abwartet, wenn die Löwen am gereiztesten sind, und ihnen dann zum Entsetzen des Publikums den Kopf in den Ra chen legt. Er forderte mich mit einer Kopfbewe gung zum Nähertreten auf und flüsterte dem Bo xer etwas zu. Dann verkündete er dem Publikum: „Und jetzt ein Kuß der beiden unzertrennlichen Freunde! Herr Kapellmeister, einen Tusch!“ Die Musiker spielten einen Tusch, die Fotore porter zückten ihre Apparate, und ich verließ mein Versteck wie Marie Antoinette, als sie zur Guilloti ne ging. Eigentlich wollte ich gar nicht, aber Morleys Finger hypnotisierte mich. Ich näherte mich Schritt für Schritt der Bühnenmitte, begleitet vom Applaus des Publikums und leisen Ermunterungen 29
Mauds. Dort empfingen mich der Glatzkopf und Budd Stark, der beleidigte Champion, der mich, ich schwöre es, am liebsten gevierteilt hätte. Trotzdem ging ich und kam glücklich an. Mor leys Hand, das Feuer der Blitzlichter und der stumpfe Blick des Boxers empfingen mich, der of fensichtlich nicht begriff, was in den letzten fünf Minuten passiert war. Morley führte uns zueinander, faßte mich mit der linken Hand und legte Budd die Rechte um den Hals, forderte die Musiker auf, lauter zu spie len und verkündete mit Grabesstimme: „Fünf, vier, drei, zwei, eins!“ Und dann stieß er uns ge geneinander. Instinktiv drückte ich die Augen zu und öffnete den Mund, wie ein junges Mädchen beim ersten Rendezvous. Ich spürte den Atem des Boxers, sein spitzes Kinn an der Stirn und schließ lich den feuchten Kuß des Mannes, der mich eben noch umbringen wollte. Gerührt über diese Wand lung küßte ich seinen Adamsapfel. Ich hörte ihn knurren: „Dich krieg ich noch mal in die Fäuste, du Ekel!“ Morley hielt uns noch immer umfaßt, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, dem künftigen Weltmeister zu antworten. Unbe merkt hob ich den Fuß, setzte die Ferse auf seine Zehen, trat mit aller Kraft zu und drehte den Fuß. Ich berechnete alles auf Sekundenbruchteile: ge rade als ich den Fuß wieder hob, trennte uns Mor ley, überzeugt, daß durch diese Küsse der Friede auf lange Jahre besiegelt war. Die Flüche des Bo xers wurden vom Applaus des Publikums und den kräftigen Akkorden der Musik unterdrückt. 30
„Na bitte“, triumphierte Morley, „so etwas nen ne ich Freundschaft!“ Er hob uns beiden die Arme in die Höhe wie ein Ringrichter, der den Sieg verkündet. Die Fotore porter knipsten unermüdlich, das Publikum grölte begeistert. Und mein Freund und ich schickten einander zum Teufel, sehr, sehr aufrichtig. Auch Maud spürte, daß sie sich an dem Spektakel be teiligen mußte. Sie kam auf uns drei zu, schob Morley weg und nahm seinen Platz in der Mitte ein. Mit einer Hand umarmte sie Budd, mit der anderen mich, ihn um die Mitte, mich um die Schultern, und rief in den Saal: „Bravo, boys!“ Dann küßte sie zuerst den Boxer und danach mich. Als ich an die Reihe kam, wollte ich die Gele genheit nutzen. Ich hob mich auf Zehenspitzen, faßte sie mit beiden Armen um den Hals und reichte ihr meine gierigen Lippen mit dem festen Entschluß, dieser berühmten Diva zu zeigen, wie man bei uns in Wyoming küßt. „Geh aus dem Weg, Idiot!“ flüsterte sie wütend, dann wand sie sich graziös aus meiner Umar mung, nahm meine Hände vom Hals und berührte meine Wange mit den Lippen. „Charmanter Junge!“ sagte sie laut und strei chelte mir die Wange. Ich zuckte verwirrt die Schultern. Bei uns in Prenticeville küßt man anders. Ich muß die Ge pflogenheiten Hollywoods studieren, dachte ich. Morley kommentierte das Geschehen: „Ich glaube, liebe Gäste, daß wir einem wirklich histo 31
rischen Ereignis beigewohnt haben. Drei Stars, zwei schon berühmt, einer soeben geboren, ste hen auf unserem Podium, umarmt, glücklich, er füllt von freundschaftlichsten Empfindungen. Kön nen wir uns ein schöneres Schauspiel für den Abschluß unseres Abendprogramms vorstellen? Sicherlich nicht, obwohl ich überzeugt bin, daß der alte Morley auch morgen etwas bringen wird! Und jetzt allen gute Nacht. Die Stars sind zu ei nem intimen Empfang in unseren Räumen einge laden.“ Noch trennte uns der dunkelbraune Vorhang nicht ganz vom Publikum, als Budd Stark sich be reits auf mich stürzte. Zum Glück befand sich Maud zwischen uns, und sie war schon ärgerlich genug wegen meiner Umarmung vor den Fotore portern. Mit der linken Hand schob sie Budd weg, mit der Rechten gab sie ihm eins auf die Nase, wie er es im Ring sicherlich niemals erlebt hatte. All das begleitete sie mit einem so kräftigen Fluch, wie ihn die kollektiven Bemühungen von zwölf iri schen Matrosen nicht zustande gebracht hätten. „Du verdirbst mir die Frisur, Idiot!“ sagte sie zu dem bestürzten Boxer, der unter der Wirkung der Ereignisse erstarrte. Dann teilte sich der Vorhang wieder, und wir al le verneigten uns glückstrahlend vor dem Publi kum, das noch einmal seine Lieblinge sehen woll te. Morley verbeugte sich mit einem Lächeln von Ohr zur Ohr, schickte Kußhändchen und zischte: „Verdammte Hunde, macht euch in eure stinken den Betten, und stört uns nicht länger!“ 32
Das Publikum rief nach Maud, Budd, mir, nach allen. Ich war wahrhaftig erregt, glücklich, stolz. Der Vorhang verbarg uns wieder, und ich war aufrichtig traurig, unglücklich, erschrocken. An uns gingen die schwitzenden Musiker vor über und verstauten unterwegs ihre Instrumente. Ich schlüpfte zwischen den Saxophonisten und den dicken Bassisten und versuchte, in ihrer Mitte unversehrt die Bühne zu verlassen. Ohne Erfolg. Im Hintergrund löste sich etwas von einer gold farbenen Kulisse. Dieses Etwas rauchte eine Zi garre und sagte: „Folgen Sie mir bitte!“ Ich folgte der Stimme und stellte fest, daß vor mir ein Fettwanst von nicht mehr als viereinhalb Fuß Körpergröße her ging. Als er sich im Gehen umwandte und nachsah, wer ihm folgte, stellte ich fest, daß er ein Glasauge hatte. Wir alle folgten ihm. Nur die Musiker bogen in den ersten Gang links ein, während wir eine schmale Treppe betraten, die zu einer Tür mit der Aufschrift „Privat“ führte. Das waren, wie ich bald erfahren sollte, die Räume des Lokalbesitzers Bill Wyatt, des Fettwanstes, der vor mir herging und an seiner dicken Zigarre lutschte. Die Räume waren sehr vornehm eingerichtet, mit vielen Sesseln, Diwanen und Kissen auf den kostbaren Teppichen mit Orientmuster. Aus dem Raum, den wir betreten hatten, gelangte man in ein kleineres Zimmer, in dem ein Büfett voller Speisen und Getränke dominierte. Die Kellner, die eben noch die Gäste im Lokal bedient hatten, wa 33
ren schon hier, und schlanke Mädchen in sehr kurzen Röckchen empfingen uns mit einem Lä cheln und Tabletts voller Zigarren und Zigaretten. Wir waren nicht die ersten. Fünf bis sechs Män ner in eleganter Abendgarderobe und zwei bis drei Frauen in teuren Kleidern waren schon da, in Ge spräche vertieft. In der Ecke stand ein Flügel, ein jugendlicher Musiker saß daran und improvisierte. In einem tiefen Sessel ruhte Giekie. Jetzt trug sie ein silbernes Kleid, hauteng natürlich. Als ich sie erblickte, vergaß ich den Boxer, Mor ley, die Lebensgefahr, alles. Das Leben war wie der schön, und ich spürte plötzlich das Bedürfnis, mich zu betrinken. Von neuem. „Eine Spezialität des Hauses?“ flüsterte mir je mand ins Ohr. Ich drehte mich überrascht um und sah Mickey, der sich verbeugte und mir ein silber nes Tablett reichte, auf dem ein schlankes Glas mit dunkler Flüssigkeit stand. „Aber gern.“ Ich griff nach dem Glas und leerte es auf einen Zug. Das Getränk tat mir nach all diesen Aufre gungen verdammt gut. Und dann wandte ich mich zu Giekie. Jemand faßte mich am Ärmel. Es war Morley, jetzt ohne freundliches Lächeln im Gesicht. Sein Blick war stahlgrau und die Stimme scharf. „Keine Dummheiten hier!“ sagte er. „Wir sind nicht mehr auf der Bühne, merk dir das, Timo thy!“
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Ich versuchte ihm zu erklären, wenn schon je mand Lust auf Dummheiten hatte, daß nicht ich das war, sondern dieser gewalttätige Boxer. „Ich hab ihn auch gewarnt! Der Chef duldet keinen Streit und keine Schlägerei in seinen Pri vaträumen, und Budd hat das genau kapiert. Es ist in deinem Interesse, Timothy, daß du es auch kapierst.“ Morley wußte selbst nicht, was für eine ange nehme Nachricht er mir brachte. Also es drohte keine Gefahr von diesem blöden Boxer? Hurra. Dann sprach mich ein fremder Mann an und fragte, warum zum Teufel ich nach Hollywood ge kommen war. Ich antwortete, das sei ein Ge schäftsgeheimnis, worauf er mich ansah, wie man gewöhnlich Kälber vor dem Schlachten ansieht. Dann näherte sich ein anderer unbekannter Mann und fragte, was ich von der kleinen Brünetten hielte, die Zigaretten anbot. Ich wußte nichts zu antworten, denn in diesen Räumen befanden sich insgesamt drei kleine Brünette, die Zigaretten an boten, und mir war nicht klar, um welche es sich handelte. Für alle Fälle sagte ich, ich teile seine Meinung, und da kicherte er und schlug mir auf die Schulter. Dann kam der dritte fremde Mann und fragte mich diskret, ob ich ein automatisches Klappmesser besäße, denn er habe seines verges sen, er brauche es aber notwendig, weil er nach diesem Empfang eine geschäftliche Unterredung mit einem Mexikaner habe. Ich antwortete ihm, ein Messer hätte ich, ich brauchte es aber selbst,
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denn auch ich hätte im Verlauf des Abends eine geschäftliche Unterredung mit einem Mexikaner. „Mit Pedro?“ fragte er überrascht. „Mit Rodrigo!“ beruhigte ich ihn. Die ganze Zeit über versuchte ich mich dem Sessel zu nähern, in dem Giekie saß. Aber ich konnte nicht zu ihr gelangen. Ich weiß nicht, ob meine Gesprächspartner daran schuld waren, die Länge von Bills Apartment oder jene Gläser, de rentwegen ich keinen geraden Weg zurücklegte, sondern eine Art komplizierter Kurvenstrecke. Als ich nach all diesen Gesprächen meine Lage und die Entfernung von dem ersehnten Objekt ein schätzte, wurde mir klar, daß ich weiter weg war als in dem Augenblick des Absprungs ins Aben teuer. Aber dafür war ich betrunkener. Nach der Grundlage aus dem Lokal taten die paar Gläschen das Ihrige schneller, als ich erwartet hatte. Auf einmal wurden mir die Knie weich, und ich schleppte mich vorsichtig zum ersten Diwan. Ich sah mich um, ob jemandem mein Zustand aufge fallen war, aber kaum einer beachtete mich. Ich war müde und beschloß, ein wenig zu schlum mern. Der Diwan, auf dem ich schon fest saß, war wie geschaffen dafür. Weich und nachgiebig, for derte er geradezu heraus. Giekie würde sich ein wenig gedulden, während ich mich ausruhte und die Beine ausstreckte, und dann würden wir in unserer Liebe fortfahren. Das letzte, was ich noch in aufrechter Lage zu Gesicht bekam, war Maud Winters im Gespräch 36
mit einer Person, die ich schon irgendwo gesehen hatte. Dann streckte ich mich aus, legte den Kopf an jemandes Brust. Ich war überrascht, daß schon jemand hier lag. Aber als ich mich überzeugte, daß es Budd Stark war, der künftige Weltmeister im Halbschwergewicht und stockbesoffen, beru higte ich mich. Ich strich den Stoff auf seinem Brustkorb glatt, legte meine Wange darauf und schloß die Augen. Ein Weilchen drehte sich der Diwan noch, dann hörte er auf.
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Ich erwachte plötzlich; jemand zog mich an der Hand. Ich öffnete nicht sofort die Augen, denn ich spürte scharfen Schmerz in der Stirngegend, aber ich konnte deutlich Stimmen unterscheiden. „Der schläft wie ein Toter.“ „Schmeißen wir ihn aus dem Bett.“ „Das sind die Nerven!“ „Soll ich ihm kaltes Wasser übern Kopf gießen?“ Dieses letzte zwang mich, die Augen zu öffnen, aber langsam, fast verstohlen. Durch die halbver klebten Wimpern sah ich über mir ein paar unbe kannte Gesichter. Ich hätte schwören können, keines davon je im Leben gesehen zu haben. Also gab es keinen Grund für sie, sich an mir mit kal tem Wasser zu rächen. Ich öffnete weit die Augen und stellte fest, daß sich wirklich eine große Anzahl Köpfe über mich neigte und mich mit der Aufmerksamkeit von Rembrandts Anatomen betrachtete. „Er hat die Augen auf.“ „Na endlich!“ „Timothy, komm zu dir!“. „Mach schnell, wir haben keine Zeit zu verlie ren!“ Ich schloß die Augen wieder, um festzustellen, ob es sich nicht vielleicht um einen Traum handel te. Aber nein. Mit geschlossenen Augen sah ich Giekie. Und mit geöffneten sah ich über mir einen
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ganzen Haufen unbekannter Schnauzen. Traum und Wirklichkeit waren verschieden. „Los!“ „Auf!“ Jetzt erst wurde ich gewahr, daß ich nicht mehr in den luxuriösen Privaträumen des „Einäugigen Bill“ war, sondern in meinem Hotelzimmer, das ich drei Minuten nach Verlassen des Autobusses in Hollywood gemietet hatte. Schmutzige Tapeten, ein Fenster mit Nylongardine, ein Nachttisch mit zerknüllten Illustrierten, einer Wasserflasche und einem Glas Whisky. Ja, ich war wieder in meinem Hotelzimmer, und das hatte ich nicht erwartet. Ohne mich um die Anwesenden zu kümmern, drehte ich mich um, weil ich nachsehen wollte, ob sich unter meinem Kopf Budd Starks Brustkorb befand. Er befand sich nicht dort. Nur ein Kissen, das ziemlich grau war. „Timothy, was sagst du?“ Eine Piepsstimme riß mich aus meinen Gedanken. „Wo ist Budd?“ fragte ich. „Budd?“ Jemand lachte. „Er fragt nach Budd?“ Ich verzog das Gesicht. „Was wollt ihr hier? Laßt mich in Ruhe! Ich will schlafen und noch mal schlafen.“ Die Jungs rutschten auf ihren Plätzen hin und her. Einige deuteten ein Lächeln an, die anderen zückten ihre Kameras oder Notizbücher. „Was sagst du zu Maud?“ fragte endlich einer.
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Ich bemerkte, daß mich alle mit fieberhafter Aufmerksamkeit anstarrten. „Maud?“ gähnte ich, ohne mir die Hand vor den Mund zu halten. Übrigens habe ich eine sehr klei ne Hand. „Ja, Maud!“ bestätigte der zweite von links, wo bei er mich ansah, als wäre ich ein Marsbewohner, der in Hollywood seinen Jahresurlaub verbringt. Ich gähnte wieder. „Maud ist nicht übel, aber sie ist nicht meine Kragenweite. Giekie ist besser!“ Die Jungs notierten eifrig meine Worte, und die Kameras klickten. „Was wollt ihr, Boys?“ fragte ich. „Ein paar Worte, Timothy!“ sagte der Älteste von ihnen. „Das kannst du uns nicht verwehren!“ „Natürlich nicht!“ antwortete ich. „Aber warum seid ihr nicht zum Bus gekommen?“ „Zu welchem Bus?“ „Zu dem, mit dem ich in eurer lausigen Stadt eingetroffen bin! Da hätten wir uns unterhalten können, solange wir Lust hatten.“ Die Jungen sahen sich an, als hätte sie meine Antwort überrascht, als hätten sie so etwas nicht erwartet. „Timothy, gestern warst du für uns nicht so in teressant. Wenigstens nicht, als du aus dem Bus gestiegen bist. Jetzt sieht es anders aus.“ Ich nickte dem Ältesten zu, der so vernünftig mit mir sprach, schloß die Augen und dachte lä chelnd ein Weilchen an die Nase von Budd Stark, an meinen Auftritt auf der Bühne des „Einäugigen 40
Bill“, an Morley, an Maud. Ja, auch an Maud, die die einmalige Gelegenheit verpaßt hatte zu pro bieren, wie Männer meines Schlags küssen. „Ja, jetzt sieht es anders aus!“ wiederholte ich und lächelte wieder. Zum Teufel, es sah wirklich anders aus! Jetzt war ich eine Person, über die man sprach. Wie hatte der gute alte Morley gesagt? „Ein Star, der soeben geboren wurde?“ Ja, er hatte recht. Timo thy Tatcher, ein Star, der soeben geboren war! Ich dehnte mich zufrieden, gähnte noch einmal, und dann nickte ich diesen sympathischen jungen Burschen zwischen siebzehn und siebenundsech zig zu. „Fragt, was euch interessiert!“ sagte ich. Chet, so hieß der Älteste, wie ich später erfuhr, meldete sich zuerst. „Sag uns etwas über dich, Timothy!“ „Über mich? Was soll ich über mich erzählen?“ „Alles. Woher du kommst. Was du bist. Warum du hergekommen bist. Und… Über die Dinge von heute nacht reden wir später.“ Ich räusperte mich, denn mir stand eine große Arbeit bevor. Über sich selbst erzählen, das ist keine so einfache Sache. Besonders wenn man von vorn anfangen soll. Trotzdem fing ich an. Und zwar ganz von vorn, vom Tag der Geburt. Zwanzig Minuten dauerte der Bericht über mei ne früheste Kindheit, die ersten Schritte, darüber, wie ich an dem Tag, als Onkel Brett das neue Pferd kaufte (Familienüberlieferung), Schokolade 41
auf dem Hemd meines Vaters verschmierte, über das erste einsilbige Wort, das erste zweisilbige Wort, das erste Schimpfwort. Dann widmete ich mich ausführlich der Epoche vom fünften Lebens jahr bis zu jenem Morgen, als ich Tante Mary Ann den Unterrock in Brand setzte. Die Epoche bis zum siebenten Lebensjahr überflog ich, aber ich hielt mich länger bei dem langjährigen Krieg auf, der zwischen mir und meinem Freund Jonathan auf der einen Seite und der Lehrerin Miss Marble auf der anderen Seite geführt wurde. Gerade woll te ich, bequem auf die Ellenbogen gestützt, um ringt von einem Haufen Journalisten und Fotore portern, den berühmten Überfall auf die Speisekammer von Tante Polly (haben Sie be merkt, daß ich viele Tanten besitze? – Ich habe es auch festgestellt, schon viel früher) und seinen Ausgang schildern, als mich auf einmal Chet un terbrach. „Timothy, verzeih, aber diese Einzelheiten könnten wir für später aufsparen. Weißt du, wir haben es etwas eilig, es geht um die dritte Aus gabe, und… Du verstehst?“ Wie sollte ich nicht verstehen, als alter Zei tungshase! „Frage!“ sagte ich zu Chet. Es begann ein Gespräch, das später als Muster eines klassischen Interviews in alle Lehrbücher der Journalistik einging. „Wie lange bist du hier?“ fragte Chet. „Hier im Bett?“ „Nein. Hier in der Stadt.“ 42
Ich sah nach der Uhr. „Das hängt davon ab, ob es jetzt sieben Uhr morgens oder sieben Uhr abends ist!“ antwortete ich, noch immer mit dem Blick auf den Zeigern. „Abends!“ präzisierte Chet. „Tja, dann sind etwas mehr als fünfundzwanzig Stunden vergangen, seit Hollywood die Ehre hat…“, lachte ich. Auch Chet lachte. Auch alle anderen lachten.
„Eine rasche Karriere!“ sagte Chet.
Ich hob die Schultern.
„Bist du nicht selbst überrascht, wie schnell es
gegangen ist?’’ fragte Chet. Ich hob wieder die Schultern. „Hast du Maud jemals vor dem Programm von gestern abend beim ‚Einäugigen Bill’ gesehen?“ „Maud?“ Ich dachte nach, als fiele es mir schwer, sogleich auf die Frage zu antworten. Ja, eigentlich hatte ich, wenn man den Tag berücksichtigt, an dem ich sie zum erstenmal im Fernsehen gesehen hatte. Aber persönliche Bekanntschaft, hm… „Also?“ drängte Chet.
Alle sahen mich sehr aufmerksam an.
„Ich glaube, wir haben uns gestern abend zum
erstenmal gesehen“, antwortete ich schließlich. „Und gleich…?“ Chet drehte sich mit vorwurfsvollem Blick zu dem Grünschnabel um, der sich unbeherrscht in das Gespräch gemischt hatte.
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„Wie viele Worte habt ihr gewechselt? Während des ganzen Abends?“ fuhrt Chet mit seinen Fra gen fort. „Mein Alter, die Frage ist schwer zu beantwor ten“, lachte ich. „Sieben, zehn, oder waren es vielleicht fünfzehn? Ich hab’ nicht gezählt, glaube mir, und ich habe auch keine Tonbandaufnahme gemacht. Hätte ich gewußt, daß es euch interes sieren würde…“ „Hat er etwa mit ein paar Worten…?“ entfuhr es wieder einem Neuling. Chet tadelte ihn nicht. „Nicht mehr?“ fragte er, wobei er etwas in sein Notizbuch eintrug. Jetzt interessierte auch mich diese Einzelheit: Wie viele Worte hatten Maud und ich gesprochen? Ich erinnerte mich, daß sie mir nur zugenickt hat te, als ich auf die Bühne geklettert war. Also null. Später hatte sie mich ermutigt, als ich an die Brust des Boxers mußte, um den Kuß entgegen zunehmen, und das bestand insgesamt aus ei nem, mehrmals wiederholten Wort. Oder eigent lich zweien: „Los, Trottel!“ hatte sie gesagt. Und schließlich, als ich sie umarmte, um ihr zu zeigen, wie wir küssen, hatte sie gezischt: „Geh aus dem Weg, Idiot!“, was fünf Worte ausmachte. Mit den anderen beiden zusammen sieben. Wenn wir die Wiederholungen dazurechnen, höchstens drei zehn. Ja, dreizehn Worte, das war die Antwort auf ihre Frage. Ich unterbrach die stumme Rechnung, das Zäh len an den Fingern, das Schweigen.
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„Ich weiß es genau!“ sagte ich Chet und den anderen. „Wenn euch diese Kleinigkeit wirklich interessiert, kann ich es euch haargenau sagen. Es waren zusammen dreizehn Worte, keines mehr!“ „Dreizehn?“ sagte einstimmig der Chor der Hol lywooder Presse. „So wenig?“ fügte ein kleiner Tenor hinzu. „Dreizehn. Eine Unglückszahl!“ ergänzte ein Dachs. „Ihr wolltet es genau…!“ sagte ich. „Du hast sie auch geküßt, da oben auf der Büh ne!“ begann Chet ein neues Kapitel. „Ja. Ganz flüchtig.“ „Wie flüchtig?“ „Nur so. Damit die Leute was zu sehen hatten!“ „Nur wegen der Leute?“ Ich lächelte zurückhaltend. „Boys, ihr seid zu indiskret.“ Chet ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Das war euer einziger Kuß?“ Ich erweiterte mein Lächeln. „Na?“ Ich ging zum Gegenangriff über. „Mein Alter, meinst du nicht, daß das zur Intim sphäre gehört?“ fragte ich ihn. „Ich meine es nicht nur, sondern ich bin sicher“, antwortete der Alte ernst. „Aber gerade das inter essiert uns ja.“ Dieser Mangel an Takt überraschte mich. Die Journalisten aus Hollywood nahmen nicht viel Rücksicht. 45
„Sag uns, habt ihr euch schon früher geküßt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Auch nicht nach dem Programm, bei Bill?“ Ich lächelte. „Ich weiß nicht“, antwortete ich. Chet plusterte sich auf. „Wieso nicht?“ „Ich weiß es einfach nicht. Ich erinnere mich nicht!“ „Wenn mich ein so berühmter Star geküßt hät te, würde ich mich bis zu meinem Tod daran erin nern!“ Ich sah zu dem Grünschnabel hinüber, der das seinem Altersgenossen so laut zugeflüstert hatte, daß alle es hören konnten. „Ich erinnere mich nicht“, sagte ich. „Ich schwöre, daß ich mich nicht erinnere!“ Und wirklich, wer hätte sich an irgend etwas er innert nach diesen Spezialitäten des Hauses, mit denen mich Mickey betrunken gemacht hatte? Ich erinnerte mich weder, wie ich Bills Räume, jenen Diwan und das bequeme Kissen namens Budd Stark verlassen hatte, noch wie ich wieder in mein Hotel gelangt war, und wie sollte ich mich dann erinnern können, ob Maud und ich etwas… Das Gespräch begann mich zu ermüden, und das gab ich Chet zu verstehen. Er versprach, so fort das Zimmer zu verlassen, nur sollte ich noch etwas über Maud sagen. „Ist denn Maud so wichtig?“ fuhr ich auf. „Vor bei und vergessen! Und fertig! Wir werden doch
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nicht bis zum Jüngsten Tag über sie reden! Gibt es keine anderen Frauen auf dieser Welt?“ Die Stille, die im Zimmer eintrat, kann man nur mit der im luftleeren Raum vergleichen. Nach zweieinhalb Minuten raffte sich endlich ein Fotoreporter auf und bat um meine Erlaubnis, mich beim Aufstehen zu fotografieren. Ich tat ihm den Gefallen, denn ich sah selbst ein, daß es Zeit war aufzustehen. Er knipste mich auf dem Bett sitzend, mit bloßen Füßen auf dem Boden, die Ze hen gespreizt. Dann bat der zweite Fotoreporter um Erlaubnis für ein exklusives Foto. Der dritte knipste mich beim Hosenanziehen, der vierte beim Krawattenknüpfen. Dann fiel es einem ein, daß er mich nicht aufs Bild gebannt hatte, wäh rend ich schlief, und so war ich gezwungen, wie der den Pyjama anzuziehen und mich ins Bett zu legen. Danach kam eine Aufnahme mit einer alten Nummer des „Confidential“ in der Hand, dann ei ne am Bett mit nostalgischem Blick, dann mit ei nem Foto von Maud Winters, das mir jemand in die Hand gedrückt hatte. Wenn ich Ihnen dazu noch verrate, daß die ganze Zeit über Chet mich geradezu bestürmte, ihm meine Beziehungen zu Maud zu gestehen, indem er flüsternd fragte: „Hast du mit ihr geschlafen?“, dann wissen Sie, daß dieser Nachmittag für mich sehr anstrengend war. Und all das nach so einer durchzechten Nacht. Zum Glück kam Lefty. Er war sicherlich sechs Fuß groß, aber mager wie ein Gerippe. Er spreizte die langen Beine, um 47
die die Hosenbeine schlotterten, stopfte die Hände in die Taschen und grinste höhnisch. Die Jacke hing an ihm wie an einem Kleiderständer, und den Hut hatte er in den Nacken geschoben. „Was ist hier los?“ fragte der Fremde mit sehr wenig Herzlichkeit in der Stimme. Man konnte so gar sagen, daß er ein wenig zornig war. „Laß uns doch, Lefty“, sagte ein Fotoreporter, der gerade wieder seine Kamera auf mich richte te. „Wir sind gleich fertig.“ „Nichts da!“ brüllte das Gerippe namens Lefty. „Haut ab! Alle!“ Chet näherte sich dem Langen mit finsterem Gesicht. „Du hast kein Recht, uns zu verjagen. Die Char ta der Vereinten Nationen schützt uns.“ Lefty lachte ihm verächtlich in die Nase. „Ich habe das Recht. Und was die Vereinten Na tionen angeht, die sind kein medizinischer Fach mann, um dich zusammenzuflicken, wenn ich dich in den Fingern gehabt habe…“ Chet blickte noch ein Weilchen zu Leftys Höhe auf, dann senkte er den Kopf. „Gehen wir, Boys“, sagte er traurig zu seinen jüngeren Kollegen. „Hier ist kein Platz mehr für uns.“ „Timothy übernehme ich, merkt euch das!“ sag te Lefty und schloß die Tür hinter dem letzten Re porter. Als ich den seltsamen Ankömmling wieder an sah, waren wir allein im Zimmer. Der Lange
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schaute mich ein Weilchen aufmerksam an, dann fletschte er die Zähne und hob die Schultern. „Du bist also dieser Timothy!“ sagte er mehr für sich. Dann trat er zu mir. Ich gebe zu, ich bekam es mit der Angst. Ich stolperte rückwärts zum Bett, setzte mich und packte das Kissen. „War die Polizei schon hier?“ Ich sah ihn mit großen Augen an. Die Polizei? Was hatte sie mit mir zu tun? „Hörst du, was ich frage?“ sagte Lefty finster. „War die Polente schon da?“ Ich schüttelte noch immer verständnislos den Kopf. Er bemerkte es, setzte sich neben mich aufs Bett und betrachtete mich wieder schweigend. Dann hob sich seine Faust zu meiner Nase, ver harrte aber glücklicherweise fünf Fingerbreit da vor. Ich zuckte zusammen. Er hob seinen langen Arm, näherte den Zeigefinger meinem rechten Auge und hob das Lid. Er grinste. „Anscheinend bist du normal!“ sagte er. Dann untersuchte er mein Gesicht, befahl mir, aufzustehen, mich um die eigene Achse zu dre hen, die Faust zu ballen. Er betastete auch meine Muskeln. „Hm, ein Recke bist du nicht gerade. Ich ver stehe wirklich nicht…“ Auf diese Worte von ihm sprang ich hoch. „Sie verstehen nicht? Ich verstehe nicht. Ich verstehe überhaupt nichts.“
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Sein Blick folgte mir aufmerksam, während ich mit hastigen Schritten das Zimmer durchmaß. „Was verstehst du nicht, mein Junge?“ fragte er langsam und steckte sich zugleich eine Zigarette in den Mundwinkel. Er zündete ein Streichholz an der Sohle seines Schuhs an, der eine Kopie der Arche Noah war, und fuhr fort: „Was ist dir nicht klar? Sag’s deinem Lefty! Er übernimmt sowieso ab jetzt die Sorge um dich.“ Und ich sagte ihm: „Wozu Sorge? Kann ich mich nicht um mich selbst kümmern? Warum soll te die Polizei hier gewesen sein? Hab’ ich vielleicht einen umgebracht? Und schließlich, ist meine ge strige Begegnung mit Maud auf der Bühne vom ,Einäugigen Bill’ wirklich so eine Sensation, daß mich eine ganze Horde Journalisten aus dem Bett holt, um…“ Ein breites Lächeln erschien auf Leftys mage rem Gesicht. Er nickte zwei- bis dreimal und sag te: „Also du begreifst nichts?“ Mit einer langsamen Bewegung zog er eine zer knüllte Zeitung aus der Jackentasche, schlug sie auf und warf sie aufs Bett. Ich sah in die Zeitung, und mir wurde schwarz vor Augen. Ich sah noch einmal hinein, noch fünfmal, noch zehnmal und las einmal, fünfmal, zehnmal die Schlagzeilen, die über die ganze erste Seite lie fen: BERÜHMTE SCHAUSPIELERIN BEGING SELBST MORD.
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WER IST TIMOTHY TATCHER, UM DESSENT WILLEN SICH MAUD WINTERS VERGIFTETE? FATALE LIEBE DAUERTE NUR EINE NACHT! „Maud! Ich…! Tot?“ flüsterte ich. „Also du hast nichts gewußt?“ fragte mich Lefty. Ich wandte den Blick zum Bett und las noch einmal auf der Titelseite die riesige Überschrift: BERÜHMTE SCHAUSPIELERIN BEGING SELBST MORD. Und darunter prangte mein Name in fetten Lettern. Ich in der Zeitung? Mein Name? O Gott, jetzt erst ging mir ein Licht auf. Die Schreiberlinge waren hier gewesen, um mich über Maud auszuhören! Und Maud hatte sich umgebracht, hatte Selbstmord verübt, und zwar meinetwegen. WER IST TIMOTHY TATCHER, UM DESSENTWILLEN SICH MAUD WINTERS VERGIF TETE? Dieser Timothy bin ich, und sie hatten mich an der Nase herumgeführt, um mehr Informatio nen zu bekommen… „Ich habe… ich habe den Journalisten von Maud erzählt!“ gestand ich. Lefty lachte, und dieses La chen gefiel mir gar nicht. „Meinst du, das überrascht mich?“ antwortete er. „Ob du wolltest oder nicht, gestern nacht bist du für die Presse interessant geworden.“ „Nach der Vorstellung im Lokal?“ „Nachdem man bei der toten Maud den Zettel gefunden hatte.“ „Was für einen Zettel?“ Ich runzelte die Stirn und sah Lefty fragend an.
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„Auch das weißt du nicht? Warum habe ich dir dann die Zeitung vor die Nase gehalten?“ Der Lange wurde ärgerlich. Er legte die erste Seite der Zeitung zusammen und gab sie mir zurück, wobei er auf eine Textstelle wies. „Hier! Lies, Dummkopf.“ Dort stand folgendes: „Auf ein gewöhnliches Stück Papier, das wahrscheinlich aus einem Ka lender stammte, hatte die Schauspielerin mit ner vöser Handschrift ihre letzten Worte geschrieben: TIMOTHY LIEBT MICH NICHT! DAS LEBEN HAT KEINEN SINN MEHR!“ Ich las diesen Passus noch hundertvierzehnmal, und dann sah ich Lefty an. „Welcher Timothy?“ fragte ich dumpf. „In ihrem Leben hat es nie einen Timothy ge geben“, sagte Lefty hart, „bis gestern abend, als du auftauchtest. Und nachdem…“ „Und nachdem…?“ fragte ich atemlos. „Nachdem sie dich kennengelernt und geküßt hatte; nahm sie sich das Leben!“ schloß der Lan ge. Und dann fuhr er leiser fort: „Obwohl ich das jetzt, wo ich dich gesehen habe, wirklich nicht verstehe.“ Ich achtete nicht auf diesen Nachsatz, denn ich war in Gedanken versunken. Eine so berühmte Schauspielerin, eine Frau, die alles hatte, der Liebling von Millionen hatte also glücklich bis zu dem fatalen Tag gelebt, an dem sie mich kennenlernte. Und dann war die Liebe wie ein Blitz aus heiterem Himmel über sie ge kommen. Sie hatte sich verliebt, hoffnungslos 52
verliebt in einen Mann, der ihr nicht viel Aufmerk samkeit schenkte, in einen Mann, der vor ihren Augen den künftigen Boxweltmeister der Lächer lichkeit preisgegeben hatte, der sie flüchtig ge küßt hatte… Hm, wirklich eine Tragödie für so eine Frau. Ich seufzte. Sie tat mir leid. Hätte sie doch eine Andeutung gemacht! Hätte sie mir ihre Liebe gestanden. Ich hätte sie, glaube ich, erhört. Sie war nicht häßlich, im Gegenteil, sie war wunderbar, hinreißend, wunderschön, und ich hätte sicherlich… Oh, wenn ich mich an die langweiligen verregneten Herbstabende in Wyo ming erinnerte, als ich vor dem Bildschirm seufz te, verliebt ihre Gestalt anstarrte, die so weiblich die Szene beherrschte. Ich kannte, damals kannte ich jedes Detail ihres Körpers, jede Ausbuchtung und jede Vertiefung an diesem göttlich geformten Leib, jene… oh, ich kannte alles. Und jetzt, kein Jahr später… brachte sie sich um. Sie brachte sich um, denn sie war unglücklich verliebt, und zwar in mich. Und ich hatte ihre Liebe nicht erwidert. Gräßlich. Hätte sie nur ein Wort gesagt… So grau sam hätte ich gar nicht sein können. „Gehen wir“, erklärte Lefty. Ich sah ihn scharf an. „Was wollen Sie eigentlich hier?“ fragte ich ihn arrogant. „Hier? Hier nichts!“ antwortete er. „Es ist auch Zeit, daß wir aus diesem stinkenden Hotel ver schwinden, bevor der Tanz losgeht.“
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„Welcher Tanz? Ich mag jetzt nicht tanzen!“ sagte ich. „Eine Frau hat sich meinetwegen um gebracht, und ich…“ „Junger Mann’’, sagte er langsam und zog an seiner werweißwievielten Zigarette, „ich glaube, du kapierst noch immer nicht, was los ist.“ Ich fuhr auf.
„Wieso kapiere ich nicht! Ich weiß, daß…“
„Du kapierst nichts“, sagte Lefty.
„Ich kapiere…!“
„Du kapierst nichts.“
„Ich kapiere nichts!“ gab ich endlich zu, lehnte
den Kopf an seinen Arm und begann zu schluch zen. „Das ist klüger“, sagte er nachdenklich und streichelte mir das Haar. Dann schwieg er ein Weilchen, und dann sprach er ein Weilchen. Etwa dies: „Daß du nach Hollywood gekommen bist, das weißt du“, begann er. Ich nickte.
„Daß du hier Karriere machen willst, das weiß
ich“, fuhr Lefty fort. Ich nickte. „Daß du gestern abend Maud kennengelernt hast, das wissen alle.“ Ich nickte. „Daß sie sich in dich verliebt hat, das weißt du?“ fragte er. Ich nickte. „Dummheiten“, brummte er. „Aber nehmen wir an, es ist so. Sie verliebte sich also, verübte
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Selbstmord, schrieb diesen dummen Zettel, das wissen sogar die Journalisten.“ Ich nickte. „Weißt du, daß du jetzt die Situation nützen mußt?“ fragte er. Ich nickte zum Zeichen der Bestätigung. Dann aber begann ich heftig den Kopf zu schütteln zum Zeichen der Verneinung. Letzteres bekräftigte ich auch mir Worten. „Nein, ich weiß es nicht. Wie meinen Sie das? Nützen? Was nützen?“ Lefty erklärte: „Gleich, als ich reinkam, habe ich gesehen, daß du ein hundertprozentiger Idiot bist. Aber wir müssen uns damit abfinden. Was nützen? Das Interesse, das plötzlich in dieser lau sigen Stadt für Timothy Tatcher erwacht ist. Das!“ Ich verstand noch immer nicht. Zum Glück war Lefty ein geduldiger Mensch. „Maud Winters hat sich umgebracht, und sie war jemand, verstehst du? Die Presse schreibt darüber, sie erwähnt den Abschiedsbrief, sie druckt deinen Namen. Das Publikum will wissen, wer dieser verdammte Timothy Tatcher ist, es will alles über ihn wissen. Verstehst du?“ „Ich verstehe. Nur…“ „Hier gibt es kein ,nur’. Wir sagten, daß das Pu blikum alles über Tatcher wissen will, also Tatcher ist für Hollywood eine interessante Persönlichkeit geworden. Die Journalisten haben sich bereits für ihn interessiert, nun werden sich die Fernsehge sellschaften für ihn interessieren, die Filmmagna ten, die Geschäftsleute.“ 55
„Und die Polizei? Sie haben vorhin die Polizei erwähnt?“ „Die auch, aber das interessiert uns augenblick lich nicht. Uns interessieren die anderen. Die, von denen wir Nutzen haben können. Kapiert?“ Ich hatte nicht alles begriffen, aber ich wagte es nicht zuzugeben. „Und jetzt?“ fragte ich vorsichtig. „Und jetzt?“ Lefty lachte zum erstenmal nach langer Zeit. „Jetzt tritt das IPB in Aktion.“ „IPB? Was ist das?“ Er sah mich von oben herab an, was ihm nicht schwerfiel, wenn man die Körpergröße in Betracht zieht, seine und meine. „Nicht mal das weißt du? Du bist wirklich be scheuert. IPB heißt Institut für Persönlichkeitsbil dung.“ „Und was will jetzt dieses IPB?“ Lefty lachte wieder. Offenbar amüsierte er sich gut in meiner Gesellschaft, und das war mir ange nehm. „Das Institut für Persönlichkeitsbildung wird dir helfen, das Interesse Hollywoods für Timothy Tat cher auszunutzen. Es wird dir helfen, in dieser Stadt Karriere zu machen.“ „Und warum…?“ „Das Institut? Das ist seine Aufgabe. Es be schäftigt sich schon jahrelang damit. Es hat schon viele junge Männer und Mädchen lanciert, die heute berühmt sind. Wenn ich dir nur ein paar Namen sagen würde, du würdest staunen, auf
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welche Weise manche unserer Stars Karriere ge macht haben.“ „Und warum will das Institut für Persönlich keitsbildung, oder wie das Ding heißt, gerade mir helfen? Und woher weiß es, wo ich bin, wer ich bin…?“ Lefty seufzte. „Wir verlieren Zeit, mein Junge, und wir haben nicht viel davon. Ich sag’ dir eins: du bist für das IPB interessant, und das IPB wird eine bestimmte Summe in diese Sache investieren…“ Ich unterbrach seine Ausführungen. „Aber ich habe nicht genug Geld, um sie zu rückzuzahlen…“ Lefty sah mich verächtlich an. „Wer redet denn von Zurückzahlen?“ „Aber… woher wissen Sie, daß dieses Institut…“ Der Lange richtete sich zu seiner vollen Höhe auf, und die war wirklich imposant. „Ich bin das IPB!“ antwortete er mir von dort. „Ich bin der Generaldirektor des Instituts für Per sönlichkeitsbildung, ich bin der Vorsitzende des Verwaltungsrates, der Finanz- und Rechtsberater, die Sekretärin, die Stenotypistin. Ich bin alles in diesem Institut, mein Lieber. Das Institut für Per sönlichkeitsbildung, das bin ich.“ Im Zimmer herrschte einige Sekunden Stille, die des Effekts seiner Worte würdig war. Ich war beeindruckt, ich gebe es zu. Auf einmal wandelte sich Lefty. Er zog mich vom Bett, ging im Zimmer umher, durchwühlte noch einmal rasch den
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Schrank, leerte meinen Koffer und warf alles in die Ecke. „Fertig?“ fragte er mich. „Fertig, was?“ fragte ich ihn. „Bist du angezogen, können wir gehen?“ erklär te er seine Frage. „Lefty!“ sagte ich. „Bitte?“ „Lefty, wie heißt du weiter?“ Er dachte einen Augenblick nach, dann antwor tete er:“Lefty, ich heiße Lefty. Das ist alles. So wenigstens nennen mich alle hier. Auch für dich bin ich nur Lefty!“ „O.K., Lefty“, sagte ich. „Ich bin fertig, nur meine Sachen muß ich noch packen.“ „Das da?“ fragte er und zeigte in die Ecke. „Ja“ „Das kann hierbleiben. Du willst doch nicht et wa in den Klamotten Hollywood erobern?“ Langsam gewöhnte ich mich schon daran, ohne Nachdenken die Meinung des Generaldirektors des Instituts für Persönlichkeitsbildung zu teilen. „Dann bin ich fertig.“ „Das Zimmer ist bezahlt?“ Ich sagte ihm, daß ich nach meiner Ankunft für drei Tage bezahlt hatte. Da ich insgesamt eine Nacht hier geschlafen hatte, würde ich zum Por tier gehen und verlangen… Lefty winkte ab. „Laß nur. Du mußt dich daran gewöhnen, mit Geld um dich zu werfen. Gehen wir.“
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Wir gingen die Treppe hinunter und verließen das Hotel. Ich drehte mich um; es war wirklich nicht repräsentativ, besonders für jemand, der gekommen war, um in dieser Stadt Karriere zu machen. „Wohin zuerst?“ fragte ich den Langen. „Ins Hotel.“ „Aber wir sind doch gerade…“ Er warf mir einen kurzen Blick zu und wieder holte: „Ins Hotel. Nicht in einen Hühnerstall, son dern in ein Hotel. Ins ,Ambassador’.“ Lefty näherte sich einer schwarzen Luxuslimou sine „außer Serie“, die in einiger Entfernung vom Hühnerstall parkte. Mit lässiger Bewegung zog er die Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür, stieg ein und forderte auch mich auf, das zu tun. Wenn mich irgend etwas am Institut für Persön lichkeitsbildung beeindruckte, dann war es auf alle Fälle dieses Auto. In so einem Wagen war ich nie gefahren, ich gebe es zu. Ich sah den Generaldirektor des IPB achtungs voll an. „Deiner?“ fragte ich ihn aus Höflichkeit. „Nein“, antwortete er. „Deiner.“ Vor Überraschung rutschte ich von dem wei chen Sitz. „Wwwwwie?“ stotterte ich. „Ich habe ihn für dich gemietet, vorhin. Ich hof fe, er gefällt dir.“ Ich kletterte wieder auf den Sitz und seufzte. Ich weiß nicht, warum, aber in diesem Augenblick fiel mir die Polizei ein. Seltsam. 59
„Er gefällt mir“, hörte ich meine eigene Stimme. „Also fahren wir“, sagte Lefty. Der schwarze Cadillac „außer Serie“ fuhr lautlos an. Wir machten uns auf, Hollywood zu erobern.
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Hand aufs Herz, so ein Leben gefällt mir. Ich möchte den Gedanken noch weiterentwickeln und behaupten, daß ich für so etwas wahrscheinlich auch geboren bin. Schon sechs Tage wohnten wir im „Ambassa dor“, Lefty hatte das luxuriöseste Appartement gemietet, und ich hatte keinen Einspruch erho ben. Er füllte die Schränke mit Garderobe, um die mich selbst der Duke of Windsor beneidet hätte. Auch damit war ich einverstanden. Er lehrte mich, wie man mit berühmten Persönlichkeiten spricht und wie mit Geschäftsleuten, und dafür war ich ihm dankbar. Er bereitete mir die Erklärungen für die Journalisten vor, was mir die Gespräche mit ihnen nur erleichterte. Er traf eine Reihe geschäft licher Arrangements – ich machte Reklame für verschiedene Produkte –, die uns ziemliche Sum men einbrachten, auf alle Fälle größere, als ich jemals im Leben eingenommen oder im Traum erblickt hatte. Mit einem Wort, er war großartig. Wenn wir nicht im Hotel waren, besuchten wir verschiedene Lokale. Lefty machte einen genauen Plan, und wir hielten uns wirklich daran. In kurzer Zeit lernte ich die bekanntesten Hollywooder Lo kale kennen und sah dort die bekanntesten Per sönlichkeiten der Stadt. Marlon Brando stieß mich einmal mit dem Ellenbogen an, und ich sagte „Hallo!“, worauf er nicht reagierte. Aber Sie wis sen ja, wie Marlon ist. Als wir das „Ciro’s“ besuch 61
ten, sah ich Shirley MacLaine, und einmal raste ein Auto an uns vorüber, in dem Frank Sinatra mit seiner Clique saß. Sie hatten uns offenbar nicht gesehen, denn sie fuhren weiter. Es gab auch an dere Stars, denen wir hier und dort begegneten, aber warum soll ich Sie mit diesen Dingen lang weilen. Ich gewöhnte mich im großen und ganzen an Hollywood und stellte fest, daß diese Stadt ihres Rufs nicht würdig war. Sie ist weder schön noch lebendig. Nur nachts, aber auch das nicht immer. Oder nicht an jedem Ort. Ich hörte von gewissen Lokalen, daß man dort alles mögliche erleben könnte, aber sie standen noch nicht in Leftys stra tegischem Plan, also suchten wir sie noch nicht auf. Ich mischte mich nicht sehr in seine Angele genheiten. Ich wußte, was er beabsichtigte, ich wußte, daß er es gut machen würde, und ich wuß te, daß es für mich am klügsten war, mich seiner Führung anzuvertrauen. Und er war am zufrieden sten, wenn ich ihn nicht nach Geschäften fragte. Wir sprachen oft mit Journalisten, nahmen an Banketten und festlichen Premieren teil, für die Lefty stets zwei Karten hatte, wir tranken in Nachtlokalen, besuchten Empfänge oder ruhten uns im Hotel aus, blätterten die Zeitungen durch, in denen noch immer der Name der unglücklichen Maud Winters ausgeschlachtet wurde, und dazu meiner. Dafür sorgte Lefty. Eines Morgens be suchte mich auch die Polizei in Gestalt von In spektor Burton Hinnes. Er war ein Mann, der den 62
klassischen Beschreibungen in Kriminalromanen alle Ehre machte. Groß, kräftig, aber nicht mit grauen, sondern mit veilchenblauen Augen. Als er mir gemeldet wurde, zuckte ich zusam men, denn ich habe nicht gern mit der Polizei zu tun. Lefty war nicht da, er verabredete irgendwo Werbespots, also war ich schutzlos, auf Gnade und Ungnade der Neugier des Polizisten ausgelie fert. Zum Glück war es kein unangenehmes Ver hör. Inspektor Hinnes entschuldigte sich sofort wegen seines Besuchs und betonte, es sei nur ei ne höfliche oder so ähnliche Vernehmung, die die Polizei aus Routinegründen durchführen müsse, obwohl jedem klar war, daß Maud Winters ihrer Karriere selbst ein Ende gesetzt hatte. Das Un glück war nur, daß sie in ihrem Abschiedsbrief den Namen der Person genannt hatte, derentwegen sie sich das Leben nahm, und es war die Pflicht der Polizei, betonte der Inspektor, auch mit dieser Person zu sprechen. Und da diese Person gerade ich war, so war es… usw. Ich erzählte dem Inspektor alles über Maud. Al les, was ich wußte. Wie wir uns auf der Bühne kennengelernt hatten, wie es zu dem Kuß ge kommen war. Der Inspektor hörte aufmerksam zu, warf gele gentlich eine kurze Frage ein, schrieb etwas in sein Notizbuch, dann hörte er wieder zu und nick te. Er war höflich, das muß ich zugeben, und wenn alle Inspektoren so wären, dann wäre es gar nicht übel, kriminell zu werden, dachte ich in einem Augenblick. 63
„Sie waren auch auf dem Empfang bei Bill Wy att?“ fragte mich der Inspektor. Natürlich war ich dort, und das sagte ich ihm auch. Ich beschrieb ihm, wie es dort war, daß ich mich eigentlich für Giekie interessiert hatte… „Also nicht für Maud?“ warf der Inspektor ein. Ich zuckte die Schultern und lächelte. „Giekie gefällt jedem, der sie sieht“, antwortete ich. „Bestimmt auch Ihnen, Inspektor.“ Der Inspektor tat, als hätte er das nicht gehört, und fuhr fort, mich über Bills Empfang auszufra gen. Es interessierte ihn, wer alles dort gewesen war, wer mit wem gesprochen hatte, mit wem Maud am häufigsten zusammen war. Ich sagte ihm, daß ich außer Bill, Mickey – dem Kellner aus Bronx –, Giekie, Morley und den Zigarettenver käuferinnen niemand kannte. Ja, auch Budd Stark, aber den kannte die ganze Welt. „Sie hatten eine Auseinandersetzung mit Budd?“ fragte der Inspektor. „Na ja, eine Bagatelle“, antwortete ich. „Ich hatte ihm einen Nasengriff gezeigt, wissen Sie, und er war mir sehr dankbar, obwohl er ihn, fürchte ich, nicht im Endkampf um die Weltmei sterschaft verwerten kann. Ja, Budd ist ein groß artiger Junge“, sagte ich am Ende, fast überzeugt von meinen Worten. Der Inspektor fragte mich dann noch einmal, mit wem sich Maud auf jenem Empfang am mei sten unterhalten hatte, aber das konnte ich ihm nicht sagen. Ich erinnerte mich, daß ich sie, kurz bevor ich den Kopf auf den Brustkorb Budd Starks 64
legte, in Gesellschaft mit einer Person gesehen hatte, die mir von irgendwoher bekannt vorkam, aber das sagte ich dem Inspektor nicht, denn es war eigentlich auch nicht wichtig. Auf solchen Empfängen redet jeder mit jedem, sofern er sich nicht vorzeitig betrinkt. Der liebenswürdige Inspektor stellte noch ein paar Fragen, dann entschuldigte er sich für die Störung, verabschiedete sich und ging. Ich sah ihm voller Sympathie nach und dachte, es sei wirklich schade, daß wir uns nicht öfter treffen würden. Etwas später kam auch Lefty zurück. Ich er zählte ihm, wer bei mir gewesen war, und er machte ein finsteres Gesicht. „Hoffentlich hast du ihm keine Dummheiten er zählt“, sagte er. „Nein“, sagte ich fröhlich. „Wir haben uns sogar sehr angenehm über alles mögliche unterhalten.“ „Worüber?“ „Über alles mögliche“, wiederholte ich. „Über Maud, über Bill, über Budd Stark, über Giekie…“ „Was hattet ihr über Giekie zu reden?“ fragte Lefty. „Tja, was eben zwei erfahrene Männer über ei ne schöne Frau zu reden haben“, antwortete ich. „Ich habe ihm gesagt, daß mir Giekie gefällt, und er hat…“ „Idiot!“ unterbrach mich Lefty auf seine übliche Art. „Du quasselst über irgendeine drittklassige Tänzerin, daß sie dir gefällt, und das in dem Mo
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ment, wo ich dich den schönsten Frauen Holly woods in die Arme führen will.“ Ich sah ihn neugierig an. „Heute abend gehen wir zu einem Empfang.“ Ich nickte. Ich hatte mich schon daran ge wöhnt, zu Empfängen zu gehen, darum erstaunte mich diese Einführung. „Es ist ein wichtiger Empfang, und paß auf, wie du dich benimmst. Die Elite Hollywoods wird da sein, die Creme dieser lausigen Stadt, alle, die etwas darstellen.“ „Und wir beide?“ fragte ich. „Und wir beide“, antwortete Lefty endlich be sänftigt. „Die Einladungen habe ich in der Ta sche.“ Mir war nicht klar, wie er immer zu den Einla dungen kam, aber ich erkundigte mich nicht da nach. Das Institut für Persönlichkeitsbildung muß te wohl so renommiert sein, daß man ihm Einladungen schickte. „In Ordnung, Lefty“, sagte ich. „Wir gehen.“ „Zum Teufel, natürlich gehen wir!“ erregte sich der Lange. „Und paß auf, wie du dich benimmst. Paß auf, daß du nicht alles einreißt, was ich in diesen Tagen mühsam aufgebaut habe.“ Ich nick te und versprach mir selbst, wirklich aufzupassen. Und nicht zuviel zu trinken. Aber jetzt erst fiel mir ein, daß mir Lefty nicht gesagt hatte, wohin wir eigentlich gehen würden. Zu wessen Empfang? Ich frage ihn. „Zu Herbie Paff.“ Ich schluckte. 66
„Zu Herbie Paff? Zu so einem hohen Tier?“ Lefty sah mich zufrieden an. Er grinste. „Ein hohes? Das höchste!“ Am selben Abend gingen wir zum Empfang von Herbie Paff. Ich war glücklich, daß ich auch da sein würde, wo sich die Creme der Filmmetropole aufhielt. Die Villa Herbie Paffs befand sich am Sunset. Es war eigentlich ein echtes schottisches Schloß, wie Lefty sagte, das der allmächtige Paff Ziegel für Ziegel aus Europa geholt hatte, um es hier in Hol lywood wiederzuerrichten. Unter uns gesagt, mußte Herbie bei dieser Übersiedlung etwas ver pfuscht haben oder den Schotten die letzte Rate für das Schloß schuldig geblieben sein, da er es so wohlweislich hinter Grün und tropischen Pflanzen am Ende des Boulevards verborgen hatte. Wie dem auch sei, Herbie hatte aus Europa wirklich eine Menge von diesem Gestein geholt und eine reichlich große Festung hingestellt. Ich konnte zwar nicht feststellen, wie viele Räume er darin hatte, aber für einen Rundgang durch das ganze Haus hätte ich mindestens vier bis fünf Ta gesmärsche gebraucht. Ich weiß nicht, was für Leute diese Schotten sind, ich meine den europäi schen Teil dieser Sippe, aber ich bin sicher, daß sie nicht gesellig sind. Denn wenn in diesem Schloß auch ein ganzer Stamm unterkommen konnte, jedes Zimmer hätte höchstens von einem Schotten oder einer Schottin bewohnt werden können, was für Leute wie mich, die geselliges Leben lieben, sehr schlecht ist. Aber ich mischte 67
mich nicht in Herbie Paffs Angelegenheiten, und mir war im Grunde egal, wo er wohnte. An diesem Abend, wie ich zugeben muß, war so ein Schloß gerade groß genug, um alle Gäste des Empfangs aufzunehmen. Pressemeldungen zufolge versammelten sich an diesem Abend mehr als tausend Menschen bei Herbie. Ich habe einige Zeit bei der Zeitung gear beitet und weiß, daß man nicht alles wörtlich nehmen darf, was dort gedruckt wird, aber nach meiner Berechnung werden es etwa 780 Mann gewesen sein. Also dreihundert können Sie mit Sicherheit annehmen. Die meisten waren Schauspieler und Schauspie lerinnen. Und zwar die bekannten, deren Namen einzeln in den Filmvorspannen genannt werden. Dann einige Dutzend Schauspieler und Schauspie lerinnen, die erst berühmt werden sollten. Dann viele Produzenten, Geschäftsleute, Finanziers, und bei jedem seine Geliebte. Wenn wir dem noch ei nige hervorragende Persönlichkeiten aus der Un terwelt hinzufügen, etwa zehn Spitzensportler, etwa zwanzig Leute, die aus unerklärlichen Grün den selbst beim besten Willen bei solchen Soireen nicht fehlen können, eine gute Portion Journali sten und diesen und jenen exotischen Gast von anderen Kontinenten – dann wäre die Liste kom plett. Natürlich waren noch Lefty und ich da. Und das Personal, aber das ist für die Gesellschafts nachrichten nicht von Belang. Als Lefty und ich uns dem Schloß näherten, er wartete ich im Grunde meiner Seele – und nicht 68
nur im Grunde, sondern auch ziemlich an der Oberfläche –, daß die Ankunft von Timothy Tat cher besonderen Glanz in Paffs Heim bringen und die dortigen Bewohner beeindrucken würde. Dar an hatte ich mich in diesen paar Tagen gewöhnt, seit ich mit Lefty die Hollywooder Kneipen unsi cher machte. Überall hatte ich starken Eindruck hinterlassen, allein durch die Erwähnung meines Namens. Denn der Rummel um Maud Winters hat te sich noch nicht gelegt, und jeder war von Neu gier gekitzelt, aus der Nähe den Fisch zu be schnuppern, dessentwegen die berühmte Diva Hand an sich gelegt hatte. In Herbies Schloß war dem nicht so. Bisweilen war ich gezwungen, mei nen Namen sogar dreimal zu wiederholen, damit sich der nächste Nachbar für mich interessierte und vorerst aufhörte, sein Glas zu leeren. Wenn auch das nicht half, räusperte sich Lefty ge räuschvoll, schlug den Betreffenden mit seiner langen Hand auf die Schulter und zeigte auf mich, bis jener schließlich doch nickte und zu verstehen gab, daß er wußte, um wen es sich handelte. Lefty war darin unermüdlich, aber viel Erfolg hatten wir nicht. Offensichtlich waren wir in ein Nest der Snobiety geraten, unter Leute, denen im Augenblick irgendwelche Banalitäten aus dem ei genen Leben wichtiger waren als die Gelegenheit, so eine bedeutende Persönlichkeit kennenzuler nen. Langsam verloren wir den Optimismus, dafür aber nahm der Rausch zu. Wenigstens bei mir. Lefty trank auch, vielleicht mehr als ich, aber man 69
merkte es ihm nicht an, denn er verteilte den Al kohol gleichmäßig in seinem langen Körper, so daß nur ein kleiner Rest an die neuralgischen Punkte gelangte. Mit mir war die Sache anders. Jedesmal, wenn ich jemand vorgestellt wurde – und das passierte sechs bis sieben Mal in fünfzehn Minuten – trank ich ein Glas. Wie ich nach zwei Stunden Gastspiel in Schottland aussah, können Sie sich vorstellen. Zu meinem Unglück lief ich gerade zu diesem Zeitpunkt Herbie Paff über den Weg. Eigentlich lief er mir über den Weg, und Lefty wollte die Gelegenheit nicht verpassen. Er packte mich am Kragen und lüftete mich ein wenig, um meine Standfestigkeit wiederherzustellen, und so hielt er mich buchstäblich dem allmächtigen Ma gnaten unter die Nase. „Chef, das ist Timothy Tatcher“, sagte Lefty, in dem er auf mich wies. Der kleine, glatzköpfige Alte, der besser als Vo gelscheuche auf den Feldern Tennessees gedient hätte, sah mich mit scharfem Blick aus halbge schlossenen Lidern ohne eine einzige Wimper an. Das fiel mir sofort an ihm auf, dieses Fehlen von Wimpern, von Augenbrauen, von Haar. Er war glatt wie das Ei des Kolumbus, obwohl er nicht daraus Kapital schlug, sondern aus der Produktion von TV-Filmen, wie mir mitgeteilt wurde. „Ich bin Timothy“, sagte ich, wobei ich seine Hand ergriff, die er vergessen hatte, mir zu rei chen. „Lefty hat auch meinen Familiennamen ge nannt, aber ich glaube, das war nicht nötig. Ich 70
bin Timothy, dessentwegen sich die hiesigen Schauspielerinnen das Leben nehmen.“ Er entriß mir seine Hand – seine war kalt und unangenehm feucht – und sah mich mit seinem widerlichen Blick an. „Ich hoffe, daß die nächste auch Ihnen den Garaus macht“, sagte er und ging weg. Danach hob mich Lefty so an, daß ich nicht mehr mit den Füßen den Boden berührte, sondern in der Luft pendelte. Das war keine eben bequeme Lage, und ich protestierte laut und zappelte mit Armen und Beinen. Einem uniformierten Lakaien schlug ich ein Tablett mit Getränken aus der Hand, und einer Dame blieb ich in der Schleppe des weißen Spitzenkleides hängen. „Entschuldigen Sie, Mrs. Paff“, sagte Lefty ha stig, wobei er vergaß, daß ich immer noch zwi schen Himmel und Erde schwebte. Sie drehte sich um, vermutlich wütend über den Zwischenfall, aber als sie mich erblickte, überzog ein Lächeln ihr Gesicht. Diese Frau war wirklich schön. Schwarzes Haar, schwarze Augen, volle sinnliche Lippen. Kurz, mein Typ. „Hallo!“ Ich winkte ihr aus meiner luftigen Höhe zu. Sie lächelte noch süßer und zeigte wunderbare weiße Zähne. Wäre sie nicht die Gattin dieses Geldsacks gewesen, ich hätte ihr sofort vorge schlagen, Reklame für „Durban’s Zahnpasta“ zu machen, weiß Gott, das hätte ich getan. „Hallo!“ antwortete sie. 71
Lefty erfaßte mit dem Gespür des Großwildjä gers sofort, daß die Situation günstig war, und setzte mich wieder ab. „Das ist Timothy Tatcher“, sagte er der schwarzhaarigen Schönen. „Für Sie nur Timothy, Madam“, sagte ich galant und verneigte mich im Stil eines Höflings von Louis dem Werweißwievielten. In dieser Stellung stieg mir der Alkohol zu Kopf, und ich verlor für einen Augenblick das Gleichge wicht. Zu allem Unglück hielt mich Lefty nicht mehr fest, und ich stolperte. Ich faßte nach dem, was mir am nächsten war. Es war eine weiße schmale Hand mit langen schlanken ringge schmückten Fingern. Ich klammerte mich krampf haft an diese Hand und stellte dann zufrieden fest, daß sie Mrs. Paff gehörte. Ich küßte sie – die Hand – und richtete mich mit ihrer Hilfe auf. „Sie sind in Europa erzogen worden?“ fragte mich die Schönheit, als sich unsere Blicke wieder begegneten. „Sogar noch weiter weg, Madam“, sagte ich und sah sie verliebt an. Dann fuhr ich fort: „Und Sie, leben Sie wirklich mit diesem öligen Fisch zusam men, der auf den Namen Herbie hört?“ Ich spürte einen Rippenstoß und wußte gleich, daß das Lefty war. Aber ich ließ mich nicht beir ren. Auch Mrs. Paff nicht, nebenbei gesagt. Sie lächelte wieder. „Ihre Ausdrucksweise ist sehr interessant, Mr. Tatcher“, entgegnete sie. „Damit haben Sie auch Maud Winters erobert, nicht wahr?“ 72
„In gewissem Maße“, antwortete ich. „Natürlich gab es auch andere…“ Die schwarzhaarige Schönheit unterbrach mich mit ihrer angenehmen Stimme. „Entschuldigen Sie“, sagte sie und reichte mir die Hand, „ich sehe gerade, daß die Fürstin Popoff kommt. Ich muß sie begrüßen.“ Sie nickte, während ich mich verneigte, diesmal von Leftys Hand festgehalten. Als ich mich aufrichtete, war meine Schöne ver schwunden. Statt ihrer schwarzen Augen erblickte ich jetzt die Rose im Knopfloch des Generaldirek tors des Instituts für Persönlichkeitsbildung. „Idiot, vertrottelter!“ ertönte es aus der Höhe. Ich bückte auf zu ihm und zwinkerte. „Eine süße Biene“, sagte ich. „Ich würde mich nicht wundern, wenn sie auch…“ Ich verstand nicht ganz, was Lefty daraufhin murmelte, ich erriet nur aus der Dauer seiner Lip penbewegungen, daß er sich nicht mit einem ein zigen Fluch begnügte. Aber in der Stimmung, in der ich mich befand, war es mir im Grunde gleichgültig. Jetzt brauchte ich jemand, mit dem ich meine Stimmung teilen konnte. Und ich fand ihn. „Morley, alter Junge!“ rief ich, als ich in einer Ecke des Saales Nr. sechzehn (oder sechsund dreißig) den kahlen Kopf des Conférenciers aus dem „Einäugigen Bill“ erblickte. „Komm her und laß dich küssen.“ Er sah nach allen Seiten, um festzustellen, wer ihn da rief, und ich rannte ihm entgegen, um ihn 73
von seinen Sorgen zu befreien. Einige Gäste liefen mir in den Weg, aber ich ließ mich nicht beirren. Den einen schob ich weg, den anderen stieß ich beiseite, und schon war ich bei Morley. „Morley, laß dich küssen!“ rief ich ehrlich begei stert von der überraschenden Begegnung. Erst jetzt sah mich Morley. Er hob die Brauen und produzierte das Lächeln Nr. 1 für außeror dentliche Gelegenheiten. „Ich hatte schon gefürchtet, dich hier nicht zu treffen“, sagte er und breitete die Arme aus. Wir umarmten uns wie gute alte Freunde. Ich küßte ihn, und das gefiel ihm. „Ich suche dich schon eine ganze Stunde“, sag te Morley, indem er mir den Arm tätschelte. Mit der anderen Hand winkte er einen Lakai heran. „Diese Begegnung müssen wir begießen“, fügte er hinzu. Verständlich, daß ich seinem Vorschlag zu stimmte und das Tablett voller Gläser, das sich uns näherte, stürmisch begrüßte. Noch mehr freu te ich mich, als ich in dem livrierten Diener den lieben alten Mickey erkannte – jenen Kellner aus dem „Einäugigen Bill“ – Sie erinnern sich? –, der sich am Abend meines ersten Triumphs so sorg lich um mich gekümmert hatte. „Mickey, alter Saufaus“, rief ich begeistert und umarmte ihn mitsamt allen Gläsern auf dem Ta blett. Aber Mickey lächelte nur, zwinkerte mir mit einem Auge zu und bemühte sich, Gleichgewicht zu bewahren.
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Ich freue mich, ich freue mich immer, wenn ich irgendwo unter fremden Menschen treuen Freun den begegne. Das sagte ich Morley, wiederholte es Mickey, überzeugte schließlich davon auch Lef ty, der sich unserer Gruppe anschloß. Deshalb leerten wir noch einige Gläser, wir drei. Mickey konnte leider nicht, denn seine beiden Hände wa ren mit dem Tablett beschäftigt. Aber er ver sprach mir, sobald er in die Küche käme, auch ei nige Gläser auf mein Wohl in sich hineinzuschütten. Als Mickey uns verlassen hatte, tranken wir drei noch einige Zeit von dem Tablett, das ein anderer livrierter Lakai hielt. „Ich hätte nicht erwartet, dich hier zu treffen, alter Freund“, sagte ich zu Morley. „Und ich habe nicht gewußt, daß Mickey hier sein würde. Hat er unseren teuren Bill verlassen?“ Morley stierte in den Saal, vermutlich auf der Suche nach etwas Weiblichem, aber er hörte auf merksam zu. „Das Lokal wird umgebaut, weißt du“, sagte er. „Der alte Paff hat Bill gebeten, ihm Personal zu leihen, und so sind viele von unseren Leuten hier.“ „Bist du auch im Dienst?“ wunderte ich mich. Morley lachte. „Nein. Ich bin Gast. Entschuldige einen Mo ment“, sagte er dann, klopfte mir auf die Schul ter, trennte sich von unserer Gruppe und ver schwand in der Menge.
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Etwas später sah ich ihn in Gesellschaft eines auffällig blassen Mannes. Einen Augenblick schien mir, als betrachte mich dieses Bleichgesicht mit ernstem langem Blick, aber ich täuschte mich. Ei ne kleine Gruppe Menschen versperrte ihm die Sicht. Und dann unterhielt ich mich mit Chet. Der alte Journalist war auch auf dem Empfang. Diesmal war er besser gelaunt als damals, wo ihn Lefty aus dem Hotelzimmer jagte. Er schlug Lefty auf die Schulter und fragte: „Wie geht das Ge schäft mit Timothy?“ Lefty hob die Schultern. „Du weißt, daß es nicht einfach ist“, antwortete er. „Aber es läuft, es läuft.“ „Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn zur Ab wechslung jetzt Timothy jemand umbringt. Oder wenn jemand auf ihn schießt!“ schlug der Journa list vor. Ich mag solche Witze nicht, und das sagte ich Chet. Er gab zu, übertrieben zu haben, aber in guter Absicht. Chet fügte hinzu, daß es in letzter Zeit nicht genügend Stoff für die Presse gäbe und daß so ein Leckerbissen willkommen wäre. „Deine Maud war der letzte“, schloß er. „Ihr müßt nicht immer von mir Stoff erwarten“, sagte ich, und damit war unser Gespräch für die sen Abend beendet. Wir trennten uns nicht im Bösen, aber auch nicht wie gute Freunde. Danach gingen Lefty und ich in einen anderen Saal hinüber. Wir kehrten mit der Geschwindigkeit eines Hur rikans in den ersten zurück. 76
Sobald wir die Tür erreicht hatten, erblickte ich in einer Gruppe hübscher Mädchen krauses schwarzes Haar, das tief in eine Stirn fiel. Da war auch die platte Nase und etwas darunter der im posante Brustkorb, der mir eine Woche zuvor als Kissen gedient hatte. Ich wollte mich bei Budd Stark für diesen freundschaftlichen Dienst bedanken und steuerte auf ihn und seine Damen zu. „Hallo, Budd!“ rief ich und breitete die Arme aus. Budd hob den Kopf und erblickte mich. Plötzlich begannen seine Augen Funken zu sprühen (früher hatte ich nicht geglaubt, daß dieses poetische Bild der Wirklichkeit entsprechen könnte, aber jetzt überzeugte ich mich davon). Er schob zwei hüb sche Mädchen beiseite und ging mir entgegen. Eine Faust ballte er so kräftig, daß sie fast erbleichte, und mit Daumen und Zeigefinger der anderen begann er seine Nase zu streichen, als wäre sie nicht ohnehin schon platt genug. Im Bruchteil einer Sekunde wurde mir bewußt, daß ihn diese unbewußte Bewegung vielleicht an unsere Begegnung beim „Einäugigen Bill“ erinner te, und ich wechselte die Richtung, wobei ich Lefty hinter mir herzog. Wie ich sagte, kehrten wir mit der Geschwin digkeit eines Hurrikans in den ersten Saal zurück. Die nächsten drei Säle durchquerten wir im Tem po eines Tornados. Das Haltemanöver führten wir in einem Korridor durch. Lefty schaute mich stumm an. Jetzt erst begriff ich, daß ihm der Grund dieser Flucht unklar war. 77
„Budd!“ erklärte ich atemlos. „Budd Stark. Der Gorilla aus dem Ring, dem ich die Nase umge dreht habe.“ Lefty nickte verständnisinnig. Dann setzte er sich auf ein Taburett an der Wand. Ich setzte mich neben ihn. Beide starrten wir ein Weilchen ins Leere, erst dann stellten wir fest, daß sich dort ein Bild befand. Es hing an der gegenüberliegen den Wand, war mit einem kostbaren Rahmen ver sehen und stellte entweder einen Heuhaufen auf dem Zirkuszelt von „Barnum & Bailey“ dar oder eine am Ufer des Roten Meeres kniende Madonna. Eine Frau, deren Alter weiter vorgerückt war, als sie zugeben wollte, stand vor dem Bild und betrachtete es durch ein Lorgnon. „Ach!“ sagte sie. „Uf f!“ schnaubte ich die Müdigkeit nach dem 100-m-Lauf bei den Panamerikanischen Spielen aus mir heraus. Die Dame drehte sich zu uns um. Ihre Hand hob die Gläser an die Augen, und sie überzeugte sich, daß sie nicht allein war. „Wunderbar!“ rief sie. „Ein echter Kandinsky!“ Lefty nickte. Ich nickte auch. „Hundertfünfundvierzigtausend Dollar!“ fuhr die Dame fort. „Der Rahmen?“ fragte ich mit dem Blick auf den kostbaren Goldrahmen. Wieder waren wir allein. Lefty erhob sich, streckte die Arme durch die ganze Länge des Flurs und gähnte.
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„Ich geh’ zurück. Ich habe Durst und außerdem noch was zu tun.“ Ich beneidete ihn. „Sag mir wenigstens Bescheid, wenn die Luft rein ist“, rief ich ihm nach und widmete mich ganz der Betrachtung des kostbaren Rahmens. Ich weiß nicht, wie lange ich allein blieb, zehn Minuten oder zehn Stunden. Jedenfalls dauerte es lange, und ich schlief ein. Eine fröhliche Stimme und eine Hand, die mich vom Sitz riß, rüttelten mich wach. Es war Morley. Seine Glatze strahlte, in seiner Hand blitzte etwas, wovon ich erst später fest stellte, daß es ein Glas war. „Wo bist du denn, Timothy?“ fragte Morley freundschaftlich lachend. „Ich such’ dich überall.“ Es tat mir leid, daß mein Freund mich so lange in der schottischen Festung suchen mußte. Ich versuchte mich zu rechtfertigen. „Ich habe über Memoiren nachgedacht“, sagte ich, obwohl es nicht stimmte. Aber irgendeine Entschuldigung mußte ich finden, und diese er schien mir in diesem Augenblick am geeignetsten. Morley nahm sie als solche. Dann nahm er auch mich und führte mich unter Menschen und Kell ner. Die letzteren begrüßte ich aus vollem Herzen, denn im Flur hatte ich Durst bekommen. Morley und ich unterhielten uns bei einem gu ten Tropfen reichlich eine halbe Stunde, und ich kam wieder zu Kräften. „Entschuldige einen Augenblick“, sagte ich, als ich in der Menge das schwarze Haar von Mrs. Paff 79
erblickte. Ich drückte ihm mein Glas in die freie Hand und ließ ihn stehen. Man muß jede Gelegen heit ausnutzen, sagte Christoph Kolumbus und entdeckte Amerika. Ich mischte mich unter die Leute und machte mich auf die Pirsch nach der Dame des Hauses. Es war nicht einfach, denn viele Leute rannten hier durcheinander. Zweimal war ich überzeugt, Mrs. Paff gewonnen zu haben. Einmal sah sie mich sogar und lächelte, aber irgendein tanzendes Paar schob sich zwi schen uns, bevor sie mein Zeichen zum Stehen bleiben bemerkte. Das zweite Mal näherte ich mich ihr auf viereinhalb Yards, aber ohne Resul tat. Ich konnte zu ihr gehen, zugegeben, aber ich tat es nicht. Neben ihr war ihr Gatte Herbie Paff, und an diesem Abend hatte ich keinerlei Bedürf nis, zweimal mit ihm zu konversieren. Ich werde abwarten, sagte ich mir, sie sind ja nicht auf der Hochzeitsreise, um ewig zusammen zu sein. Ich blieb also an meinem Platz und lauerte dar auf, daß Herbie sich entfernte. Gesellschaft leiste te mir eine mittelalterliche Dame, die den Rocky Mountains ähnelte, nur daß ihre Gipfel nicht schnee-, sondern juwelenbedeckt waren. „Hallo, Boy!“ sagte sie und drückte mir ein Glas in die Hand. Ein volles natürlich. Ich schlug es nicht ab, denn ich brauchte jetzt Alkohol. Zu mei nem Pech faßte das Mrs. Rocky Mountains als Auf forderung zum Klatschen auf. Und dann erzählte sie mir in fünf- bis sechstausend Worten, wer der 80
letzte Liebhaber dieser Blondine im blauen Kleid war, wieviel Dollar das Kollier jener langen Dürren in der linken Ecke gekostet hatte, die sich gerade das Hinterteil kratzte, überzeugt, daß es niemand merkte. Meine Gesprächspartnerin sagte mir auch alles über einen dicklichen Herrn, der volltrunken an der Wand lehnte, und fügte hinzu, daß er mit öffentlichen Häusern mehr als dreieinhalb Millio nen Dollar verdient hatte, und von dem jungen Burschen neben uns erzählte sie, daß seine Frau Jahr für Jahr vom 1. Januar bis zum 31. Dezem ber in Las Vegas spielte, während seine Geliebte im „Weißen Bock“ Chortänzerin war. Dann begann sie über die Dame des Hauses herzuziehen. Erst da spitzte ich die Ohren. „Wer hätte das gedacht“, plapperte meine In formantin, „daß Orchid vor drei Jahren eine ge wöhnliche Garderobenfrau in dem Lokal bei der Busstation war.“ „Wer?“ fragte ich und verwandelte den Monolog in einen Dialog. „Orchid!“ sagte Rocky. „Mrs. Paff?“ fragte ich vorsichtig. „Von welcher Orchid rede ich denn die ganze Zeit, wenn nicht von ihr?“ Dann trug sie mir den Lebensroman der schö nen Brünetten vor, während ich sah, wie diese ein Sektglas hob und einer Gruppe von Gästen zupro stete, die sich ihr und ihrem Mann näherte. Herbie Paff hatte anscheinend nur darauf gewartet, um zu verschwinden.
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Auch ich hatte darauf gewartet. Ich hüstelte, rückte meinen maßgeschneiderten Abendsakko zurecht, setzte die Brille gerade und glättete eine Haarsträne, die wieder abstand, dann ging ich auf Orchid Paff zu, die ehemalige Garderobenfrau und jetzige Gattin des Schloßbesitzers. Nat Cole glitt langsam über die Tasten, die Tän zer gingen zum Büfett mit den Erfrischungen, und mir ward der Weg zu der schönen Dame offen. Ich ging direkt auf sie los. Als ich die halbe Strecke zurückgelegt hatte, bog ich nach links ab und ging durch die Tür in den nächsten Saal, wo Orchid nicht war. Sie ließ ich im Gespräch mit der Gesell schaft zurück, in der sich auch der Mann befand, der nach allgemeiner Meinung in kurzer Zeit den Weltmeistertitel im Halbschwergewicht erringen würde. Ich war wütend. Das Glück ließ mich wirklich im Stich, jenes Glück, das mir ansonsten seit dem Augenblick, als ich das Lokal „Zum Einäugigen Bill“ betreten hatte, so geneigt gewesen war. Im dritten Saal traf ich Mickey, und er stärkte mich mit etwas Trinkbarem. Zugleich nahm ein junger, hünenhafter Neger ein Glas Juice von sei nem Tablett. Kaum hatte ich seinen kräftigen Körperbau in Augenschein genommen, kam mir eine Idee. „Mein Junge“, sagte ich zu dem Neger, „willst du dir zwanzig Dollar verdienen?“ Der Bursche sah mich überrascht an und zeigte sein weißes Gebiß.
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Ich führte ihn beiseite. Mickey sah uns mit einer Miene nach, die ich etwas später begreifen sollte, die mir aber in diesem Augenblick rätselhaft war. Ich führte also den schwarzen Burschen durch zwei Säle und sagte ihm an der Tür zum dritten, in dem sich Orchid befand: „Siehst du den Dummkopf dort?“ Der Neger blickte in die Richtung, die ihm mein Finger wies. „Welchen?“ fragte er. „Den mit dem schwarzen Haar. Den plattnasi gen Gorilla, der sich mit der Dame im weißen Spitzenkleid unterhält, es aber nicht wert ist, ihr die Schuhe zu putzen.“ Der Neger begriff anscheinend, wen ich meinte. Er lachte mit Baßstimme und bleckte die Zähne. „Den da?“ fragte er für alle Fälle und zeigte auf Budd Stark. „Den da“, sagte ich. „Hier hast du zehn Dollar im voraus, den Rest kriegst du, wenn du ihm die Nase eingeschlagen hast. Geh zu ihm, bitte ihn in den Gang – da ist einer, wo ein Kandinsky und solches Zeug hängt – und schlag ihm die Nase ein. Wenn du fertig bist, komm dir die restlichen zehn Dollar holen.“ „Zwanzig Dollar?“ sagte der Neger kopfschüt telnd. „Zuwenig.“ „Zuwenig?“ Ich wunderte mich über die Unbescheidenheit der heutigen Jugend. In meiner Zeit hatten wir für zwanzig Dollar…
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„Zuwenig“, nickte der dunkelhäutige Junge. „In einem Monat krieg’ ich Budd Stark sowieso in die Fäuste, aber nicht für zwanzig Dollar, sondern für hundertfünfzigtausend plus ein Prozent der Ein nahmen.“ Ich sah ihn verblüfft an. Aber er nickte nur und ging zu einem Lakaien, um sich noch ein Glas Juice zu holen. Ich stand da wie Lots Weib, bis mich Lefty am Ärmel zupfte. „Wo bist du, zum Teufel?“ brummte er. „Ich such’ dich eine Ewigkeit.“ Ich ließ mich von ihm in den Wintergarten zie hen, wo irgendeine Dixieland-Band spielte. Hier tranken wir noch ein paar Glas Whisky mit Soda. Achtzehn Minuten später wurde Mirian Shea ge funden.
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Sie lag neben dem ovalen Swimmingpool hinter dem schottischen Schloß. Der Kopf und ein Arm hingen ins Wasser, während der Körper auf dem Beton lag. Das üppige rote Haar wiegte sich träge auf dem dunklen Wasser, in dem sich die hohen Fenster von Paffs Villa spiegelten. Unter dem Kör per war eine Blutlache. Niemand hatte einen Schuß gehört. Niemand hatte bemerkt, daß sie das Schloß verlassen hatte und in die Nacht hinausgeirrt war. Der Wind wieg te noch immer die Kronen der schlanken Bäume, und Menschen umringten die Leiche, wechselten flüsternd nur ein paar Sätze. Der Kontrast zwi schen dem geräuschvollen Fest und diesem stummen jungen Körper hatte ihnen die Sprache verschlagen. „Aber wie?“ „Haben Sie vielleicht gesehen…?“ „Noch vor zehn Minuten hat sie im blauen Saal getanzt.“ „Womit?“ Lefty und ich langten beim Bassin an, als sich eine dichte Mauer Neugieriger um die Leiche ge bildet hatte. Zwei Polizisten und irgendein kurz sichtiges Männchen, vermutlich ein Arzt, knieten bei dem Mädchen und unterhielten sich halblaut. Wir drängten uns in die erste Reihe, vor allem dank dem grausigen Anblick, der Frauen mit
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schwachen Nerven von dem Platz vor uns ver trieb. „Ein Herzschuß!“ murmelte jemand. „Furchtbar!“ fügte eine Frau hinzu und ließ uns tief seufzend an ihren Platz treten. „So jung und so hübsch!“ Dann wies jemand auf ihre krampfhaft geballte linke Faust. Der größere Polizist versuchte, ihr die Faust zu öffnen. Es ging nicht. Das tote Mädchen hütete sicher sein Geheimnis. Aber Finger um Fin ger bog ihr der Polizist die Hand auf, aus der ein zerknüllter Zettel auf den Beton fiel. „Sieh an!“ Der andere Polizist war schneller und hob den Zettel auf. Er versuchte, den Text darauf zu lesen, was ihm aber nicht gelang. Es war zu dunkel. Er hielt den Zettel in den Lichtschein, der aus dem Schloß fiel, und konnte erst dann den Inhalt zur Kenntnis nehmen. Ich verstand ihn nicht, denn er las es halblaut vor, und eine Frau neben mir schluchzte. Ich sah das tote Mädchen an und versuchte, mich zu erin nern, ob ich sie je zuvor gesehen hatte. Nein, stellte ich mit Bestimmtheit fest. Weder auf dem Empfang noch irgendwann vorher. Eigentlich schade, sie ist hübsch, dachte ich, als ich ihr Ge sicht auf dem Knie des kurzsichtigen Mannes, vermutlich des Arztes, betrachtete. „Sie ist schön“, sagte ich. „Sie war schön“, kor rigierte ich mich sogleich und schaute Lefty an. Jetzt erst merkte ich, daß Lefty mich anstarrte, wahrscheinlich schon längere Zeit. 86
„Was wi…“ Ich brach ab und schaute mich verwirrt um. Ich stand nicht mehr im dichten Kreis der Neu gierigen. Niemand drängte mich mehr oder stütz te sich auf meine Schultern, um auf Zehenspitzen besser zu sehen. Neben mir war außer Lefty nie mand mehr, jedenfalls nicht in unmittelbarer Nä he. Wir beide standen isoliert, entfernt von den anderen. Aber noch ein paar Sekunden vorher, ich schwöre es, waren wir inmitten dieses Haufens aufgeregter Leute gewesen, der Gäste von Paffs Empfang, die wie wir auf die Nachricht, daß man am Bassin ein totes Mädchen gefunden hatte, aus dem Haus gestürzt waren. Ich sah Lefty an, dann drehte ich mich wieder um. Wir waren allein. Eine unsichtbare Mauer, viel leicht ein, zwei Yards breit, trennte uns von den anderen. Und diese anderen, alle, wirklich alle, schauten uns an. Sie sahen mich an. Auch Lefty sah mich an. Ich versuchte zu lächeln, aber es ging nicht. Es war nur ein Zähnefletschen, von dem ich, obwohl ich es nicht sah, sicher war, daß es sehr kläglich wirkte. Ich fühlte, daß ich etwas sagen mußte, aber mir wollten einfach nicht die passenden Wor te einfallen. „Hallo!“ versuchte ich das Schweigen zu bre chen.
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Und erst in diesem Moment drangen mir die Worte ins Bewußtsein, die vor einigen Minuten der Polizist von dem Zettel abgelesen hatte. „Ohne Timothy – lieber in den Tod.“ Der Polizist hatte es mit leiser Stimme gesagt, das habe ich bereits erwähnt, und ich hatte es nicht verstanden. Jetzt, als er schwieg, dröhnten mir diese Worte in den Ohren, als kämen sie aus einem Megaphon. OHNE TIMOTHY – LIEBER IN DEN TOD. Und die Leute sahen mich stumm an, wandten keinen Blick von mir. Ich schüttelte mich. Jetzt war klar, daß auch dieses Mädchen… Fast unbewußt, wie ein Automat, ging ich auf die Polizisten, den Arzt, das Mädchen zu. Die Blik ke der Menge folgten mir stumm, und zwei oder drei, die mir im Weg standen, wichen wortlos bei seite. Ich langte bei dem Polizisten an, dem kleineren, und streckte die Hand aus. Er sah mir erst in die Augen und drückte mir dann schweigend den Zet tel in die Hand. Ich überflog das Papierchen, aber ich sah nichts. Meine Brillengläser waren beschla gen. In der Stille, die nur vom Rauschen der Baumkronen sanft unterbrochen wurde, nahm ich die Brille ab und putzte sie mit meinem weißen Tüchlein. Dann hob ich das Papier wieder an die Augen und las: „Ohne Timothy – lieber in den Tod.“ Der Polizist, der kleinere, hatte richtig vorgele sen. Genau das stand auf dem Papier, das der Po 88
lizist, der größere, dem toten Mädchen abgenom men hatte. Ich nickte, lächelte süßsauer und wandte den Blick dem Publikum zu. „Der Bursche hat gut vorgelesen!“ sagte ich, denn ich war überzeugt, etwas sagen zu müssen. „Gut. Da gibt es nichts, unsere Polizei kann lesen und schreiben.“ Ich lachte. Aber ich versichere Ihnen, es war nicht angenehm, dieses hohle Lachen in der Stille zu hören, die hier herrschte. Es machte mich be reits nervös, daß keiner redete. Waren diese Leu te stumm? Oder schwachsinnig? Oder beides? Lefty kam zu mir, und ich war ihm dankbar da für. Er legte mir den Arm um die Schultern, und mir war, als hätte er mir einen warmen Mantel umgehängt. „Gehen wir etwas trinken, Timothy!“ sagte er laut. „Du bist nicht daran schuld, daß sich die Mädchen in dich verlieben.“ Natürlich war ich das nicht. Ich hatte Maud Winters nicht darum gebeten, sich so wahnsinnig nach einem einzigen Kuß in mich zu verlieben, ich hatte auch dieser… „Wie heißt sie?“ fragte ich. Lefty wandte sich zu den Polizisten um. „Wie heißt sie?“ gab er die Frage weiter. Der größere Polizist sah den kleineren an. „Miriam Shea“, antwortete letzterer. „So sagte wenigstens jemand hier.“ „Miriam!“ bestätigte einer. „Shea!“ fügte ein anderer hinzu. „Miriam Shea!“ rundete ein dritter ab. 89
„Schauspielerin!“
„Sie hat erst in zwei Filmen gespielt.“
„Und kleine Rollen!“
„Aber sie war schön!“
„Und sie war die Freundin von…“
Die letzte Information brach plötzlich ab. Als
hätte ihr Urheber in letzter Sekunde begriffen, daß es nicht fair war, über ein Mädchen herzuzie hen, das noch vor ein paar Minuten getanzt hatte und jetzt tot war. „Also sie ist nicht erschossen worden?“
„Nein.“
„Sie hat sich selbst umgebracht.“
„Du hast doch gehört, daß sie unglücklich ver
liebt war.“ „In den da!“ „In den da!“ „IN DEN DA!“ „Platz!“ sagte Lefty und streckte den freien Arm vor. Eine Gruppe Menschen wich auseinander und machte uns den Durchgang frei, aber er war zu schmal für uns beide. Während die Leute noch eben instinktiv vor mir zurückgewichen waren, schienen sie jetzt möglichst dicht an Timothy Tat cher heranzuwollen, den Mann, dessentwegen sich schöne Mädchen umbrachten. „Timothy“, rief mir ein Mädchen zu, „warum hast du ihr keine Chance gegeben?“ Ich zuckte die Schultern. „Hat sie dir nicht gefallen?“ fragte ein junger Mann. 90
„In Hollywood gibt es viele hübsche Mädchen“, antwortete ich. Ein dickes, sommersprossiges Mädchen mit starken Brillengläsern senkte errötend den Blick. Trotzdem gelang es ihr, mich in den rechten Arm zu kneifen. Ein junger Bursche streckte über sie die Hand aus, die einen Zettel hielt. „Bitte, Timothy!“ sagte er. „Noch eine letzte Botschaft?“ staunte ich und griff zögernd nach dem Papier. „Ein Autogramm!“ erklärte der Junge. Ich gab ihm meine Unterschrift und machte damit die Fortsetzung von Herbie Paffs Empfang unmöglich. Vergebens forderte Morley von der Treppe her die Gäste auf, ins Schloß zurückzukeh ren, denn das Vergnügen sei noch in vollem Gan ge, vergebens setzte er dafür sein verführerisch stes Lächeln auf und gebrauchte die anziehendsten Worte. Die Männer und Frauen, die das Gebäude verlassen hatten, um die tote Miriam Shea zu sehen, kümmerten sich nicht darum. Ih nen war jetzt am wichtigsten, wo und wie sie zu einem Stück Papier gelangten, auf dem ihnen der Eroberer schöner Mädchen sein Autogramm nie derschrieb. Und da das Papierangebot nicht der Nachfrage entsprach, war ich gezwungen, auf weißen Manschetten, Damenledertaschen, Bank noten von 100 und 500 Dollar, Scheckbüchern zu unterschreiben. Eine schöne Dame drängte sich mit Mühe zu mir vor und sagte: „Geben Sie mir auch ein Auto gramm!“ 91
„Wo?“ fragte ich und sah ihr in die feurigen schwarzen Augen. „Hier!“ sagte sie und zeigte auf ihr Dekolleté. Ich zögerte ein Weilchen. Ich wußte nicht, wo ich unterschreiben sollte: auf dem Rand des sil berfarbenen Kleides oder auf ihrer Brust. Um nichts falsch zu machen, schrieb ich meinen Vor namen auf das Kleid und wartete dann, das sie ausatmete, um mit dem Nachnamen fortzufahren. Aber die Menge drängte das Mädchen aus meinem Gesichtskreis. „Wir machen später weiter!“ rief ich ihr nach. „O.K.“, antwortete sie aus der Menge. „Wie heißt du?“ schickte ich ihr eine Frage nach. „Jeremiah Milton Piss!“ antwortete mit Baß stimme ein korpulenter Schnurrbartträger, der eben neben mir stand. Da fiel es jemand ein, mir das weiße Tüchlein aus der Brusttasche zu ziehen. „Zur Erinnerung!“ sagte er und verschwand. Mit dem Tuch. Ein anderer wünschte gleich darauf, mich im Gedächtnis zu behalten, indem er den Hemdenknopf von mir mit nach Hause nahm und ihn wahrscheinlich auf den Kamin legte, wo er ihn an den langen Winterabenden betrachtete und seufzte. Etwa so: „O Gott, was waren das für Zei ten!“ Einem dritten gefiel meine Krawatte, wenig stens ihr unteres Ende, und er trennte es mit ei nem scharfen Schnitt seiner kleinen Schere ab. Ein vierter bemühte sich eifrig, mir den linken Schuh auszuziehen. Das konnte ich nicht zulas 92
sen. Ich stieß ihn mit dem so ersehnten Schuh vor die Brust, und er fiel um. Überrascht, gelang es ihm nicht einmal zu schreien. Die anderen Souve nirsammler gingen wie eine Walze über ihn hin weg. „Lefty!“ rief ich wie von Sinnen. „Timothy!“ Seine Stimme durchdrang den Lärm, der im Schloßpark Herbie Paffs ausgebrochen war. Das gab mir die Kraft, mich aus dem Ring meiner Ver ehrer zu befreien. Aber die Kraft hielt nicht lange vor. Ich verbrauchte sie so rasch, daß ich schon an bedingungslose Kapitulation zu denken be gann. Auf einmal erblickte ich über mir eine knochige Hand. Es war die Hand meines Lefty, ich hätte sie auch auf einer Weltausstellung von Händen aller Nationen und Rassen wiedererkannt. Lang, schmal, mit Fingern wie etwas dickere Reisstäb chen, erschien sie mir in diesem Augenblick als das Kostbarste auf der Welt. Und die Hand kreiste über unseren Köpfen wie ein Hubschrauber, der über einem Schlachtfeld dahinfliegt, um aus dem Zentrum des Kampfes den Hauptstrategen aufzu nehmen, den ein Bankett für die siegreiche Armee erwartet. Ich hüpfte vor Freude hoch und nutzte das so fort aus, um mit beiden Händen Leftys Faust zu packen. Seine Finger umklammerten die meinigen so fest, als wären sie mit einem Superleim ver klebt. „Fertig?“ hörte ich ihn fragen. 93
„Zieh!“ rief ich. Und Lefty begann zu ziehen. Seine Hand zog an meinen Händen, ich setzte mich in Richtung des Hauses in Bewegung, und langsam folgte mir die riesige Traube Andenkenjäger. Wie ein Bienen schwarm, der sich um die Königin versammelt hat, zogen die Verehrer und ich zum Bienenkorb, das heißt, zu Herbies Schloß. Oben auf der Trep pe, zu der uns der unverwüstliche Lefty geführt hatte, erwarteten uns Morley und noch ein paar clevere Leute. Sie jagten kaltblütig die jungen Burschen und Mädchen weg und ermöglichten es mir, den Festsaal zu betreten – mit einer halben Krawatte, ohne sechs Hemdenknöpfe und ohne den linken Schuh. Im Park beim Swimmingpool blieben nur die zwei Polizisten, der kurzsichtige Mann, vermutlich Arzt, und das Mädchen namens Miriam Shea zu rück. Als ich den Saal betrat, nahm ich die Brille ab, die mir an einem Bügel vom linken Ohr hing, stell te fest, daß beide Gläser intakt waren, putzte sie, und nachdem ich sie aufgesetzt hatte, konnte ich wieder sehen. Ich schritt auf dem glatten Parkett aus und merkte sogleich, daß mir etwas fehlte. „Was ist, Timothy?“ fragte Morley besorgt. Mit einer Kinnbewegung machte ich ihn auf die Mängel an meiner Garderobe aufmerksam. Er nickte mitfühlend und begriff das Problem sogleich. „Mickey!“ rief er beiseite. 94
Mickey aus Bronx tauchte unverzüglich auf. „Whisky? Manhattan? Sekt?“ fragte er mit einer Verbeugung. „Einen linken Schuh, schwarz, flache Spitze!“ bestellte Morley. „Größe vierzig, höchstens vierzigeinhalb!“ er gänzte ich. „Schnell, schneller, so schnell wie möglich!“ schloß Lefty. Mickey verbeugte sich und prüfte dabei die Si tuation an meinem linken Fuß. Ich hob den gro ßen Zeh und senkte ihn, mehrere Male, damit ihm das Problem klarer wurde. „Sie werden bedient!“ sagte Mickey und ver schwand. In Erwartung seiner Rückkehr stellten wir uns an die Wand des Saals, während etwa fünfzig Ver treter der goldenen Jugend im Hinterhalt auf die Gelegenheit lauerten, sich auf mich zu stürzen. Etwas später kam ein Lakai an, aber nicht Mi ckey. „Mr. Tatcher“, sagte er, während wir den Alko holvorrat auf dem Tablett alle machten. „Mrs. Paff bittet Sie, auf ein Glas Champagner zu ihr zu kommen.“ Ich verschluckte mich an dem Alkohol, den ich mir gerade in die Kehle geschüttet hatte. Mrs. Paff? Orchid? Ich setzte hastig mein Glas ab und rannte fort. Nach drei Schritten blieb ich stehen, stand wie ein Storch, den linken Fuß hinter der Wade des rechten Beins verborgen, und warf dem Lakaien lässig hin: „Sagen Sie Mrs. Paff, daß ich 95
komme, sobald ich mein Gespräch mit meinen Freunden beendet habe. Und grüßen Sie sie von mir.“ Der Lakai verneigte sich und ging. Und wir drei warteten weiter auf Mickey mit der Bestellung. Er kam bald darauf und servierte auf einem Ta blett einen schönen Schuh von schwarzer Farbe. Einen linken. Zuerst schätzte ich ihn mit einem Blick ab. Er paßte. Dann zog ich hinter dem Wandschirm, den Morley, Lefty und Mickey bilde ten, den Schuh an. Es ging, obwohl nicht gerade leicht. Ich machte ein paar Schritte und stellte fest, daß der Schuh mich ein wenig an der Stelle drückte, wo ich ein Hühnerauge hatte. Aber es war nicht tragisch, und ich nickte Mickey zu. „Bravo, mein Junge. Wie hast du das geschafft? Warst du in einem Laden?“ Der Junge senkte bescheiden den Blick. „Ich habe allen betrunkenen Männern die Schu he ausgezogen, bis ich das fand, was der Herr wollte.“ „Und der Besitzer?“ Mickey hob die Schultern. „Ich hab’ ihm dafür eine Flasche französischen Champagner gegeben. Er war zufrieden. Er hat mir sogar auch den rechten angeboten, natürlich nur, wenn ich noch eine Flasche bringe.“ Ich tätschelte Mickey, und Lefty drückte ihm etwas in die Hand, die offenbar unter dem Tablett darauf wartete. Endlich wurde Mrs. Paff die Ehre zuteil, daß ich zu ihr kam. Als ich eintraf, war sie in Gesellschaft 96
eines Senators, wenn der Typ nicht eigentlich ein Mädchenhändler war. Sie lächelte, als sie mich erblickte. „Das ist unsere zweite Begegnung, Mr. Tat cher“, sagte sie mit sichtlicher Befriedigung. „Für Sie bin ich Timothy!“ sagte ich. Der Sena tor oder Händler begriff, daß er überflüssig war. „Timothy“, sagte Orchid, „was höre ich da?“ Ich lauschte, aufmerksam lauschte ich. „Nat King Cole!“ erklärte ich ihr. „Ach, nicht das!“ lachte sie, faßte mich unter und preßte meinen Arm an sich. „Ich höre, daß wieder irgendwelche Mädchen nach Ihnen ver rückt sind.“ „Ja?“
Ich hob die Brauen zum Zeichen des Erstau
nens. „Und daß sie sich umbringen.“ Ich verzog das Gesicht. „Ich mag darüber nicht sprechen“, sagte ich. „Schmeichelt es Ihnen denn nicht?“ fragte sie. „Macht es Ihnen denn keine Sorgen, daß bei Ih ren Gesellschaften geschossen wird? Daß in Ihrem Swimmingpool tote Mädchen gefunden werden?“ Sie sah mich mit einem langen Blick an. „Eine gute Hausfrau darf nie zugeben, daß sie sich über etwas aufregt. Sie muß durch ihr Ver halten zeigen, daß das Fest weitergeht. Was soll ten sonst meine lieben Gäste anfangen?“ Diese Frau hatte jedenfalls eiserne Nerven. Und wunderbare Augen, das hatte ich schon vorher bemerkt. 97
Wir sahen uns einige Jahrhunderte lang an. „Orchid!“ Das war nicht meine Stimme: Ich besitze weder ein so widerwärtig stahlhartes Organ, noch würde ich dieses herrliche Geschöpf in solchem Ton an reden. „Oh, Herbie!“ sagte Orchid, nachdem es ihr ge lungen war, den Blick von mir loszureißen und festzustellen, daß ihr sehr geehrter Gatte neben ihr stand. „Gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen Mann vorstelle“, sagte sie, ohne die Hand von meinem Arm zu nehmen. Ich sah den kahlen, absolut haarlosen Kopf an und verbeugte mich stumm. Er starrte mich mit seinen Fischaugen an. Auch er sagte nichts. „Herbie, das ist Timothy Tatcher!“ sagte Orchid in der Absicht, den lautleeren Raum zu füllen. „Freut mich sehr“, quetschte Mr. Paff schließlich aus seiner Kehle. Er reichte mir die Hand. Ich er griff sie nach kurzem, sehr kurzem Zögern. „Wir hatten schon das Vergnügen“, sagte ich. Orchid war überrascht. „Ja?“ Ihr Gatte kniff seine wimpernlosen Lider ein wenig zusammen. „Vielleicht irren Sie sich?“ sagte er. „Nein“, antwortete ich. „Ich vergesse es nicht, wenn jemand es ablehnt, mir die Hand zu geben, schon gar nicht, wenn seitdem nur ein paar Stun den vergangen sind.“
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Herbie Paff klapperte mit den Lidern, während seine Frau ihn zweifelnd anschaute. „Entschuldigen Sie, wenn so etwas passiert ist“, knurrte der Fernsehmagnat. „Vielleicht war ich in Eile, so daß….“ Ich lachte überlegen. „Wahrscheinlich!“ sagte ich und spürte zugleich einen leichten Druck auf dem Arm. „Herbie“, sagte Orchid, „weißt du, daß Miriam sich umgebracht hat?“ „Umgebracht?“ echote Herbie Paff. Sein Gesicht zuckte. „Umgebracht. Mit einem Revolver. Er wurde im Swimmingpool gefunden“, informierte ihn seine Frau. „In unserem Swimmingpool?“ „In unserem. Die Waffe ist ins Wasser gefallen, nachdem sie sich ins Herz geschossen hatte.“ Der Glatzkopf zuckte mit den Schultern. „Die Ärmste“, bemerkte er. Für Orchid war das Thema noch nicht erschöpft. „Und weißt du, warum sie sich umgebracht hat?“ Wieder zuckte es in seinem Gesicht. Die Fisch augen musterten das schöne Antlitz von Orchid Paff. „Warum sie sich umgebracht hat?“ wiederholte Herbie. „Nein, das ist mir nicht bekannt.“ „Sie war unglücklich verliebt“, sagte seine Frau. „Sie? Ich glaube nicht, daß sie…“ Orchid nickte überzeugt.
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„Ja, ja!“ sagte sie lebhaft. „Sie war unglücklich verliebt, und zwar in Mr. Tatcher, in ihn hier.“ Herbie Paff sah mich kalt an und griff dann nach einer Zigarre. „Hier ist es stickig“, sagte ich und spielte mit meiner Krawatte. Dann fiel mir ein, daß sie be schnitten war, und ich ließ sie los, als wäre sie elektrisch geladen. „Und die Musik spielt“, fuhr ich fort. „Gestatten Sie, daß ich Ihre Frau aufforde re?“ Herbie Paff nickte. „Amüsiert euch nur, amüsiert euch“, sagte er. Seine Frau lächelte mir zu und führte mich in den nächsten Saal. Wir tanzten eng aneinandergeschmiegt vier Runden. Ich flüsterte ihr alles mögliche ins Ohr, aber sie lachte nur leise, ihre Wange an meiner. Ich sah niemand anders, so glücklich war ich. Nur einmal erblickte ich die dumme, halbgeöffnete Schnauze von Budd Stark, dem offenbar etwas nicht klar war. Ja, ich sah auch die juwelenbe deckte Mrs. Rocky Mountains, die mit ihrem Glas auf uns zeigte und Luella Parson etwas Vertrauli ches zuflüsterte. Na wennschon, dachte ich und drückte Orchid noch fester an mich. Sie wehrte sich keineswegs dagegen. Als dieser Tanz beendet war, löste sich Orchid aus meinen Armen, hielt einen Augenblick meine Hände fest und flüsterte: „Und nun ist es genug. Für heute.“
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Zwei Stunden später kehrten Lefty und ich in meinem schwarzen Cadillac „außer Serie“ von dem Empfang zurück. Ich sang aus voller Kehle und dachte an Orchid. Mir war, als fragte Lefty etwas, aber ich achtete nicht darauf. Ich sang „Glücklich ist der Tag, wenn Dunkelheit das Tal bedeckt“ und begleitete mich mit Getrommel auf der Fensterscheibe. Lefty gab es auf, mich unter brechen zu wollen. Er fuhr schweigend zum Hotel, bestieg schweigend den Lift, betrat schweigend das Appartement, begann sich schweigend auszu ziehen. Erst als ich anfing, den „Manhattan“ zu schlürfen, den ich mir als Schlaftrunk gemixt hat te, trat er zu mir, legte mir die Hände auf die Schultern, drückte mich in einen Sessel und sagte mit ernster Stimme: „Nun gib schon zu, Junge, daß du Miriam Shea umgebracht hast.“
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Ich versuchte, mich zu rühren. Es ging nicht. Ein Strick schnitt mir ins Fleisch, und jeder Versuch, ihn zu lockern, ließ mich aufschreien. Aber auch das war unmöglich. Ich hatte einen schmutzigen Lappen von keineswegs aromatischem Geschmack im Mund. Ich konnte mich nur ruhig verhalten und stöhnen oder mich ruhig verhalten, ohne zu stöh nen. Ich wählte das letztere und versuchte zu re konstruieren, wie es geschehen war, daß ich das Luxusappartement im „Ambassador“ mit dieser Mansardenstube vertauscht hatte. Es war ungefähr so verlaufen: Zuerst hatte mich Lefty verdächtigt, der Mörder Miriam Sheas zu sein. Ich wußte nicht, wie er überhaupt darauf gekommen war, und hielt ihm das vor, aber er hörte nicht auf meine Worte. „Miriam ist ermordet worden, du hast sie um gebracht.“ Er war im Grunde lächerlich. Im gestreiften Py jama, die bloßen Füße in chinesischen Seidenpan toffeln und die mageren Arme im Rücken ver schränkt, marschierte er aufgeregt von Wand zu Wand. Drei Schritte dahin, drei Schritte dorthin, drei Schritte nach rechts, drei Schritte nach links. Und wieder von vorn, immer mit demselben Re frain auf den Lippen: „Du hast sie umgebracht. Du hast sie umgebracht.“ Schließlich wurde mir das über, und ich fragte Lefty, woher er diese absurde Idee nahm. 102
„Absurd?“ fragte er und lachte ein so eisiges Lachen, daß ich die schwarz-rot karierte schotti sche Decke umnehmen mußte. „Das nennst du eine absurde Idee?“ Ich nickte, um ihm zu zeigen, daß ich seine Idee tatsächlich so einschätzte. Da näherte er sich mir auf einen Fuß Distanz und blies mir eine Rauchwolke ins Gesicht. „Und die Idee, daß sich diese Gänse deinetwe gen umbringen, kommt dir nicht absurd vor?“ „Das habe ich weder behauptet“, sagte ich zu Lefty, „noch ist es meine Idee, daß sich die Mäd chen meinetwegen umbringen. Und gerade du warst der erste, der mir gesagt hat, daß sich Maud Winters umgebracht hat, nachdem sie zu der Überzeugung gekommen war, daß ihre Liebe zu mir hoffnungslos war. Stimmt doch?“ „Stimmt, wenn du darunter verstehst, daß ich dir als erster die Zeitung mit dieser Meldung ge bracht habe“, kapitulierte Lefty. „Aber…“ „Ich erkenne kein ,aber’ an“, unterbrach ich ihn resolut. „So war es mit Maud Winters. Aber was die arme Miriam angeht…“ Lefty stützte sich auf seine Golfschläger und grinste unverschämt. „Was die arme Miriam angeht?“ wiederholte er. „Du hast dich wohl selbst überzeugen können, daß ich mit ihrem Tod absolut nichts zu tun habe, daß ich sie zum erstenmal im Leben dort am Swimmingpool gesehen habe, als ich mit dir aus Paffs Schloß kam…“ „Zum erstenmal im Leben?“ 103
„Ich schwöre es dir!“ sagte ich feierlich.
Der Lange sah mich zweifelnd an, aber die Au
torität der drei erhobenen Finger überwog doch. „Und niemals vorher?“ „Ich schwöre es.“ „Auch nicht im Vorbeigehen?“ Ich senkte die Hand. „Im Vorübergehen? Vielleicht, aber so, daß ich sie nicht bemerkte. Oder sie mir nicht gemerkt habe. Für mich ist sie eine völlig fremde Person.“ „Schwörst du?“ Ich hob wieder die Hand und streckte drei Fin ger aus. „Ich schwöre!“ Lefty begann wieder zu marschieren. „Sie war ein sehr hübsches Mädchen“, sagte er. Ich nickte. „Sehr hübsch“, gab ich zu. „Auch Maud war ein sehr hübsches Mädchen“, sagte Lefty und blieb vor dem Fenster stehen. „Sehr hübsch“, bestätigte ich auch dies. „Beide waren jung und schön“, haarspaltete Lefty. „Beide.“ „Und beide konnten nicht bloß einen, zwei, fünf Liebhaber bekommen, sondern ein Dutzend.“ „Das konnten sie.“ Er verließ das Fenster und kam zu mir, faßte mich an den Schultern und rüttelte mich heftig. „Warum hast du die arme Miriam ermordet?“ brüllte er.
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Ich begriff, daß er den Verstand verloren hatte, und versuchte aufzustehen, aber seine Hände hielten mich fest. „Warum? Warum?“ schrie er und besprühte meine Brillengläser mit Speichel. „Lefty, komm zu dir!“ rief ich verzweifelt. Erst da beruhigte er sich. Er ließ mich los, wischte sich die schweißnasse Stirn und seufzte. „Erzähle!“ hauchte er müde. „Was soll ich dir erzählen?“ fragte ich, über rascht von dieser Wendung. „Ein Märchen zum Einschlafen? Oder soll ich dir ein Schlaflied sin gen?“ Er knurrte mich an, daß ich erschrak. „Erzähl mir, wie du die Sache gedeichselt hast? Wann? Wie hast du sie in den Park gelockt? Wie hast du ihr den Herzschuß verpaßt? Wie bist du unbeobachtet in die Villa zurückgeschlichen? Wie konntest du so ruhig und gelassen wieder in den Park gehen und dich wundern, als in ihrer Hand dieser verdammte Zettel gefunden wurde?“ Ich spürte, daß mir der Schweiß ausbrach. Die ser Mensch war tatsächlich überzeugt, daß ich das hübsche Mädchen ermordet hatte, dem ich nie zuvor begegnet war. „Lefty, ich schwöre dir, daß ich sie nicht getötet habe. Weder sie noch Maud. Ich schwöre es!“ Wieder hob ich drei Finger in die Höhe. „Wie bist du überhaupt auf diese absurde Idee gekom men?“ fragte ich ihn. „Wie?“
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Der Generaldirektor des Instituts für Persön lichkeitsbildung rührte sich. Er stand auf, ging in sein Schlafzimmer und kehrte kurz darauf mit einem Gegenstand zurück, der mich seinen Umrissen nach im ersten Augen blick an einen Tennisschläger erinnerte. Er hielt mir den Gegenstand unter die Nase, und da erst sah ich, daß es ein Spiegel war. Ein etwas verwirrter Timothy Tatcher blickte mich daraus an. „So!“ rief Lefty. Ich streckte die Hand aus und versuchte, den Spiegel beiseite zu schieben, damit ich Lefty in die Augen sehen konnte. Aber er ließ es nicht zu, und ich mußte meinem Doppelgänger weiterhin Auge in Auge gegenübersitzen. „So, ja, so!“ rief Lefty. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden daß mir sein Toilettenspiegel bis zum Anbruch des Morgens Gesellschaft leistete. „Das verstehe ich nicht“, flüsterte ich mißge launt. „Das ist die Antwort auf deine Frage, warum ich dich verdächtige, der Mörder zu sein“, sagte Lefty langsam und deutlich. „Das? Die Antwort?“ Lefty setzte sich auf die Lehne meines Sessels. Mir kam es so vor, als kündige sich ein langes Ge spräch an. „Dieser Spiegel“, begann Lefty, „beweist eines: Daß sich kein Mädchen in eine Person verlieben kann, die so aussieht wie du. SIE KÖNNEN NICHT! 106
Wärst du Millionär, Filmproduzent, irgendeine be rühmte Persönlichkeit, dann könnten sie vielleicht, aber da du… du bist… ein Niemand und nichts, entfällt diese Möglichkeit. Klar?“ „Nein!“ antwortete ich. „Wenn also jedem normalen Menschen klar ist, daß ein hübsches Mädchen wie Miriam keinen Grund und keine Lust hat, sich in dich zu verlie ben, entfällt die Möglichkeit, daß sie sich deinet wegen das Leben nimmt. Klar?“ „Nein!“, antwortete ich. „Wenn wir soweit klar sind“, fuhr Lefty fort, „kann ich meine zweite Vermutung darlegen. Du hast ein bißchen Publicity geschluckt, nachdem diese dämliche Maud hingeschrieben hatte, daß sie sich deinetwegen umbringt. Was mit ihr los war – ob sie zuviel getrunken hatte und sich einen Witz machen wollte, oder ob sie übergeschnappt war –, das ist jetzt nebensächlich. Du hattest also einen Weg gesehen, eine berühmte Persönlichkeit zu werden, zumal ein so renommiertes Büro wie das IPB dich unter seine Fittiche genommen hat te. Aber heute abend auf dem Empfang bei Herbie Paff stellst du auf einmal fest, daß du trotz der letzten Botschaft von Maud Winters für die Creme von Hollywood noch immer ein kleiner Fisch bist und daß dein Aufstieg nicht so schnell geht, wie du dir das in deiner krankhaften Phantasie vorge stellt hast. Du überzeugst dich davon auf Schritt und Tritt bei Herbie, erleidest Demütigungen, wirst rot vor Ohnmacht. Aber mit Hilfe des Alko
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hols kommt dir die Idee, von der du glaubst, daß sie alles lösen wird. Gib mir einen Schluck!“ Lefty nahm mir das Glas aus der Hand, schlürf te ein wenig von dem „Manhattan“, gab mir das Glas zurück und fuhr fort: „Mit Hilfe des Alkohols, krankhaft erpicht auf Ruhm und schwindelnden Erfolg, kombinierst du, daß der Selbstmord einer zweiten Schönheit deine Popularität stärken könn te. Ein Selbstmord, bei dem wiederum die letzte Botschaft davon sprach, daß das Mädchen wegen nicht erwiderter Liebe in den Tod ging. Selbstver ständlich wegen ihrer Liebe zu dir. Und du ver wirklichst deinen teuflischen Plan. Du schreibst die letzte Botschaft auf ein Stückchen Papier. Und dann gehst du in den Park und wartest. Auf wen? Auf das Opfer. Du weißt in diesem Augenblick noch gar nicht, wer dein Opfer sein wird. Für dich ist nur wichtig, daß es eine Frau ist, nach Mög lichkeit jung, schön und berühmt. Aufgeregt um klammerst du den kleinen Revolver und hoffst, daß jemand in den Park kommt. Du hast Glück. Ein hübsches Mädchen kommt, von dem du weder weißt, wer sie ist noch wie sie heißt. Aber lange brauchtest du nicht zu warten…“ Der Erzähler griff wieder nach meinem Glas und nahm einen Schluck. „Miriam kam. Warum? Das wird niemand je he rausfinden. Vielleicht hatte sie ein Rendezvous, vielleicht wollte sie nach dem Tanz frische Luft schnappen oder den Alkohol auslüften, wer weiß. Jedenfalls kam sie, du nähertest dich, sagtest ihr vielleicht auch etwas, sie war in deiner Reichwei 108
te… der Revolver… ein Schuß… der Zettel… den Kopf ins Wasser… du gingst… hmmm… mmm…“ Weiter hörte ich nichts. „Verdammter Idiot!“ hörte ich wieder Leftys Stimme und spürte seine Fäuste auf den Schul tern. „Du schläfst! Verdammter Mörder! Wach auf, oder ich…“ Ich erwachte, überrascht von seinem Geschrei, rieb mir die Augen, rückte die Brille gerade und erblickte Leftys Gesicht dicht über meinem. Vor Wut war es ganz entstellt. „Hab’ ich geschlafen?“ fragte ich mit der nöti gen Dosis Gewissensbisse. „Verzeih, Lefty, aber du hast so schön erzählt… so leise, monoton… und ich bin so müde, weißt du… verzeih mir bitte, ver zeih!“ Lefty schaute mich entsetzt an. Und ich gähnte, obwohl ich gar nicht wollte. Verschämt legte ich die Hand auf den Mund und unterdrückte den Schluß des Gähnens durch eine energische Kiefer bewegung. „Wo warst du stehengeblieben?’’ fragte ich, um den Eindruck zu verbessern. „Das letzte, was ich gehört habe, war vom Swimmingpool, du hast auch einen Revolver erwähnt… Wenn es dir nicht zuviel ist, wiederhole es bitte… Es war sehr inter essant.“ Als ich nach diesen Worten wieder gähnte, kochte Lefty anscheinend über. „Idiot, Idiot, verdammter Idiot!“ schrie er in un serem Appartement herum und dachte dabei, wie mir schien, an mich. „Daß du nicht der Mörder 109
bist, das seh’ ich selbst, denn du bist dazu gar nicht fähig, so ein Jammerlappen bist du, aber erkläre mir, warum, erklär mir, warum diese däm lichen Gänse sich in dich verliebt und sich umge bracht haben. Das erklär mir, ich beschwöre dich!“ Ich unterdrückte einen neuen Gähnanfall – ich wollte den Freund nicht verärgern –, griff nach dem ovalen Spiegel, den ich neben mir entdeckte und betrachtete mich. Ich strich mir das zerzauste Haar glatt und fuhr mir über die Brauen. „Gern, lieber Lefty!“ versprach ich ihm. „Das werde ich tun, aber bitte morgen. Jetzt bin ich wirklich müde.“ Lefty schaute mich mit einem Ausdruck an, der mich erschreckte. Aber es geschah nichts mehr. „Gute Nacht’’, sagte er mit seltsam leiser Stimme. An der Tür blieb er stehen, drehte sich zu mir um und sagte: „Entschuldige, daß ich dich für den Mörder gehalten habe. Ich nehme alles zurück. Aber du mußt wissen: das heißt nicht, daß nicht jemand anders die arme Miriam umgebracht hat.“ Ich wünschte ihm eine gute Nacht und zog mich aus. Kurz darauf schlief ich bereits den Schlaf des Gerechten. Am nächsten Morgen kam Inspektor Hinnes an. Er überraschte mich noch im Bett, aber das störte weder ihn noch mich. Wir begrüßten uns sehr herzlich, wie alte Freunde, und ich fragte ihn, wie es ihm ginge. Er antwortete, es ginge ihm sehr gut, und er hoffe dasselbe von mir. Ich bestätigte 110
es, und er war ungewöhnlich glücklich, das zu hö ren. Wir redeten ein bißchen übers Wetter, ich frag te ihn, was er von dem neuen Film Elia Kazans hielt, und er sagte mir seine Meinung. Sie war im großen und ganzen mit meiner identisch, was ich ihm auch sagte. Wir lachten, als wir das feststell ten. Inspektor Hinnes – nennen Sie mich Burton, sagte er mir –, Inspektor Burton, eigentlich nur Burton, trug einen sehr schönen grauen Anzug. Er paßte ihm wie angegossen, und er gab mir die Adresse seines Schneiders. Ich notierte diese wichtige Angabe und steckte den Zettel in die Py jamatasche. Dann sprachen wir ein wenig über die Rennen, und er machte mich auf einige Klasse pferde aufmerksam, denn ich kannte die Situation auf den hiesigen Rennbahnen nicht. Burton fragte mich dann, ob ich am vergange nen Abend auf dem Empfang von Herbie Paff ge wesen war, und ich bejahte. Dann sprachen wir etwa zehn Minuten über das Aussehen von Orchid Paff. Auch hier deckten sich unsere Ansichten so ziemlich. Danach fragte mich Burton so nebenbei, ob ich vom Tod Miriam Sheas wüßte. „Ich habe es gehört“, sagte ich. „Wirklich traurig“, konstatierte Burton, und ich schloß mich seiner Einschätzung an. „Sie war sehr hübsch“, fügte Burton hinzu und strich sich über seinen sehr sorgfältig gepflegten schmalen Schnurrbart. Ich sagte, das sei auch meine Meinung, worauf der Inspektor bemerkte, 111
daß eine sehr seltsame Epoche angebrochen wä re, in der sich junge hübsche Mädchen das Leben nahmen. „Vielleicht geht das auf die Wirkung der Strah lungen zurück“, mutmaßte Burton. „Vielleicht“, sagte auch ich. „Es ist interessant“, fuhr mein Gesprächspart ner fort, „daß auch dieses Mädchen sich Ihretwe gen umgebracht hat, Mr. Tatcher.“ „Timothy“, warf ich ein und lächelte liebens würdig. „Ja, Timothy!“ sagte er und lächelte auch. „Sehr interessant.“ „Was?“ fragte ich, denn ich hatte den Ge sprächsfaden verloren. „Ich sagte, es ist interessant, daß sich auch dieses Mädchen Ihretwegen umgebracht hat, Ti mothy“, wiederholte der Inspektor. Ich stimmte zu. „Ja, wirklich interessant.“ „Sie haben sie vorher gekannt?“ fragte Burton. „Wen?“ fragte ich höflich interessiert. „Na, diese Miriam. Miriam Shea. Das Mädchen, das sich Ihretwegen umgebracht hat!“ erklärte mir Inspektor Hinnes. „Miriam? Nein, ich habe sie nicht gekannt“, antwortete ich. „Auch nicht von weitem? Ich meine so, vom Sehen?“ erkundigte sich der Inspektor. Ich schüttelte den Kopf. „Auch nicht vom Sehen!“ „Und auf dem Empfang?“ 112
Ich sah ihn fragend an, denn ich wußte nicht, was er wollte. Er wirkte ein wenig verwirrt. „Timothy, vielleicht ist es Ihnen peinlich, daß…“ „Ich verstehe nicht“, sagte ich. „Timothy, vielleicht ist es Ihnen peinlich, daß wir über dieses Mädchen sprechen… das…“ Ich versicherte ihm, daß ich keinen Grund hat te, peinlich berührt zu sein, wenn wir über diese Miriam sprachen, und der Inspektor fragte mich darauf, ob ich auf dem Empfang vielleicht mit Mi riam getanzt, ihr den Hof gemacht, sie geküßt hatte und so weiter, wie das so auf solchen Emp fängen zu gehen pflegt. Da kam Lefty ins Zimmer, bereits angezogen, rasiert, zum Ausgehen fertig. Er begrüßte den In spektor – ich sah, daß sie sich kannten – und fragte ihn, was ihn zu uns beziehungsweise zu mir führte. Der Inspektor antwortete, er sei nur so vorbeigekommen, er müsse ohnehin in die Ge gend und hätte seinen Freund besucht, um ein paar Worte zu schwatzen; ja, das sagte er, und dann erklärte ich Burton, daß ich Miriam auf dem Empfang nicht gesehen, geschweige denn mit ihr getanzt, sie geküßt oder dies und jenes getan hatte und so weiter, wie es auf solchen Empfän gen so zu gehen pflegt. „Sind Sie etwa hier, um wegen Miriam zu schnüffeln?“ fuhr Lefty den Inspektor an. Mir gefiel der Ton nicht, in dem er das sagte. Aber der Inspektor spürte wahrscheinlich den Sta chel in Leftys Worten nicht, oder er wollte ihn
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nicht spüren und antwortete dem Langen auf sei ne bekannte höfliche Art. „Wir sprechen auch über Miriams Tod, Lefty“, sagte er. „Und wir finden es beide sehr interes sant, daß ein Mädchen, das erst auf dem Emp fang, so von weitem, unseren Timothy bemerkt hat, ich sage, es ist sehr interessant, daß sie…“ Lefty unterbrach ihn, diesmal wirklich ungezo gen. „Sie wundern sich, daß sie sich in Timothy ver liebt hat? Warum wundert Sie das? Wegen seiner riesigen roten Ohren? Oder weil er guckt wie ein kurzsichtiges Kalb? Oder wegen seiner Pickel auf der Nase? Mann, Sie wissen wohl nicht, was au genblicklich bei den Bienen im Kurs ist?“ Burton und ich sahen uns stumm an. Mir war es etwas unangenehm. „Sie werden sehen, Inspektor“, fuhr Lefty im selben Ton fort. „Sie werden sehen, wenn Timothy auf dem Bildschirm erscheint. Es wird Selbstmor de en masse geben. Unser dreckiges Dorf hier wird neue Selbstmörderfriedhöfe erschließen müssen, wenn die Epidemie erst ausbricht.“ Lefty grinste und wandte sich zur Tür. Von dort nickte er uns zu, den Hut im Nacken. „Auf Wiedersehen, Brüder!“ sagte er und ver schwand. Wir atmeten auf, als er weg war. Fassen Sie das nicht so auf, daß ich Lefty nicht mag, daß ich ihn nicht schätze und solche Sachen. Im Gegenteil. Aber er ist manchmal grob, er kann sich seiner Umgebung nicht anpassen, und dann 114
kommt es zu peinlichen Situationen. Wie diese jetzt. Zum Glück war Burton wirklich ein ein sichtsvoller Mann, und er half mir taktvoll, über diesen unliebsamen Zwischenfall hinwegzugehen. „Sie werden im Fernsehen auftreten?“ fragte er mich nach kurzer Pause. „Hm…“, begann ich und wußte nicht, wie ich den Satz beenden sollte. „Das ist wohl noch geheim“, lächelte der In spektor. „Ich verstehe, ich verstehe vollkommen.“ Ich lächelte auch, und ich glaube, das war klug von meiner Seite. So war auch dieser Teil des Ge sprächs beendet. Burton kehrte zwar zum Selbstmord Miriams zurück, aber sehr vorsichtig. Ich erzählte ihm al les aufrichtig, und er bestätigte, daß es wirklich unangenehm sei, wenn sich unbekannte Mädchen nur deshalb umbrachten, weil ich eine attraktive Persönlichkeit war. Ich stimmte seinen Worten zu. Nach einigen weiteren Sätzen über die schöne Mi riam begann er mich auszufragen, welche Be kannten ich auf dem Empfang gesehen hatte. Na türlich erwähnte ich zuerst Orchid und dann Herbie und die anderen Herausragenden und machte ihn darauf aufmerksam, daß er eine ge naue Liste in den Gesellschaftsnachrichten der heutigen Presse finden würde. Er sagte, er habe die Chronik schon gelesen, ihn interessiere aber – nur so –, welche Bekannten ich dort getroffen hatte, d.h. wen ich auf dem Empfang kannte, mit Rücksicht darauf, daß ich mich erst kurze Zeit in Hollywood aufhielt. Ich verstand seine Frage und 115
nannte ihm Morley, Luella Parson und einige be rühmte Schauspieler, die ich eigentlich vom Bild schirm kannte (das gab ich nicht zu). Dann zählte ich Budd Stark und sogar den Kellner Mickey auf, worauf Burton lachte und bemerkte, daß ich sehr kurze Zeit hier sei, aber bereits alle Kellner in der Stadt kenne. Nicht alle, sagte ich, nur Mickey, und ganz zufällig. Burton fragte mich dann, ob gewisse Leute da gewesen wären, die ich nicht kannte. Einige Na men, die er anführte, hatte ich schon gehört, an dere nicht. Ich antwortete, darüber könnte ich keine genaue Auskunft geben, worauf er sagte, das sei ihm im Grunde auch gar nicht wichtig, er frage nur so en passant, er freue sich jedoch, daß ich auf dem Empfang einen angenehmen Abend verbracht hatte, bis auf die Sache mit Miriam. Ich erklärte ihm, daß Miriams Selbstmord in der Tat eine unangenehme Sache war, daß ich mich aber trotzdem bei dem alten Herbie und seiner schönen Frau wohl gefühlt hatte und daß es nicht schlecht wäre, sich öfter so zu amüsieren. Burton gab sei ner Überzeugung Ausdruck, daß sich das be stimmt realisieren ließe. Er sei sicher, sagte er, daß eine so interessante und charmante Persön lichkeit wie ich noch eine Reihe Einladungen zu wunderbaren amüsanten Empfängen erhalten würde. „Nur“, fügte er hinzu und drohte mir scherzend mit dem kleinen Finger, „sehen Sie zu, daß wir nicht von jedem Empfang, an dem Sie teilneh
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men, die Leiche eines hübschen Mädchens ab transportieren müssen.“ Ich sagte, was mich anginge, ich würde mich jedenfalls darum bemühen, daß so etwas nicht vorkäme, aber… „Sie sehen doch selbst“, sagte ich zu Burton, „daß es nicht meine Schuld ist.“ „Ich sehe, ich sehe“, sagte der Inspektor und erhob sich vom Sessel. Er verabschiedete sich sehr vornehm und ließ mich allein. Nachdem Inspektor Burton Hinnes gegangen war, bestellte ich das Frühstück. Es wurde von einem hübschen Mädchen gebracht, das ich zuvor nicht bemerkt hatte. „Bist du neu hier?“ fragte ich, während ich vol ler Interesse die dreieckigen Umrisse ihres Hö schens betrachtete, die sich auf ihrem Kleid ab zeichneten, sobald sich das Mädchen bückte, und sie bückte sich oft. „Ja, Mr. Tatcher“, antwortete sie und lächelte mich fröhlich an. „Wie heißt du?“ fragte ich aus lauter Langewei le. „Jacqueline“, antwortete sie und bückte sich dicht neben mir, um etwas vom Teppich aufzuhe ben. Meine Hand bewegte sich mechanisch in ih rer Richtung, aber ich erinnerte mich an das Ende von Miriam Shea und verzichtete. Ich rieb mir die Hände und sagte: „Gut, also Jacqueline.“ Sie lächelte wieder, bot mir an, sie zu rufen, wann immer ich etwas brauchte, bückte sich, um meine Strümpfe aufzuheben, legte sie auf den 117
Sessel und lächelte noch einmal. Sie hatte lange Beine, was durchaus nicht übel war. „Mr. Tatcher“, sagte sie in der Tür, „wenn Sie dem Gedränge unbemerkt entwischen wollen, be nutzen Sie den Hinterausgang des Hotels.“ Sie lächelte ein weiteres Mal, und da sie keinen Grund mehr fand, sich zu bücken, ging sie. Ich frühstückte, rasierte mich, duschte und zog mich an. Eingedenk ihres Rates, wollte ich den Hinter ausgang benutzen. Aber ich ging überhaupt nicht aus. Schon in der Tür stieß ich mit zwei kleinen Jungen zusammen. Ich dachte, irgendwo in der Nähe fände eine Murmelmeisterschaft statt, aber ich irrte mich. Die Jungen wollten zu mir. „Mr. Tatcher?“ sagte einer von ihnen mit Fistel stimme. „Ja“, antwortete ich demokratisch und streichel te dem dicken Kleinen das zerzauste Haar. „Was möchtest du?“ „Mr. Tatcher“, gesellte sich der andere dazu, „wir möchten… äh…“ Ich versuchte ihnen zu helfen. „Ein Autogramm?“ fragte ich und lächelte lie benswürdig. Beide trugen Blue jeans und alte verwaschene Pullover. Der Dickliche sah den Mageren an, und beide seufzten. „Na? Ich hab’s nämlich eilig…“ „Och“, seufzte der dickliche Junge und schürzte die zitternden Lippen. Ich hatte schon Angst, daß
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er zu weinen begann. „Wenn Sie wirklich eilig ir gendwohin müssen, dann…“ „Können wir ein andermal kommen?“ fragte sein Altersgenosse. Keiner von ihnen war älter als zwölf. Höchstens dreizehn. Es waren sympathische Lausejungen, und ich fühlte die Verpflichtung, ihnen zu helfen. „Ihr habt mir nicht gesagt, worum es sich han delt“, sagte ich. „Vielleicht können wir unsere Plä ne irgendwie unter einen Hut bringen.“ Die Jungen sahen sich wieder an. Sie waren of fensichtlich beruhigt. „Wir sind Vertreter des ,Timothy-Tatcher-FanClubs’, sagte der Dickliche. „Ich bin der Vorsitzen de, und Fy der Kassierer. Wir möchten Sie bitten, uns…“ „Uns in den Räumen des Clubs zu besuchen“, mischte sich Fy ein. „Wenn Sie Zeit haben“, fügte er hinzu. Ich lachte. „Wie heißt du?“ fragte ich den Dicken und strei chelte ihm wieder das Haar. „Ich bin Hunk.“ „Und wo sind eure Räume, Hunk?“ fragte ich. „Ganz in der Nähe“, antwortete er. „Auf halbem Weg nach Culver City“, präzisierte der Kassierer. „Das ist aber nicht so nah“, konstatierte ich. „Wir haben ein Auto!“ fielen mir die Jungen ins Wort. „O.K., Boys“, sagte ich, „gehen wir.“
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„Wirklich?“ fragte der Kassierer des „TimothyTatcher-Fan-Clubs“. „Wirklich“, sagte ich. „Großartig“, kommentierte der Vorsitzende des „Timothy-Tatcher-Fan-Clubs“. Ich vergaß meine Absicht, den Laden aufzusu chen, wo ich gestern eine schöne violette Krawat te mit Goldblümchen gesehen hatte. Wir drei stürmten die Treppe hinunter und kamen bald in der Halle an. Da waren viele Leute. Einer von ih nen war Chet. „Zurück!“ flüsterte ich den Jungen zu, und wir verzogen uns zur Treppe. Hunks und Fys Augen blitzten. „Polizei?“ fragten sie atemlos, als wir uns in si cherer Entfernung von der Halle befanden. „Noch schlimmer, Presse!“ antwortete ich, „Nehmen wir den Hinterausgang.“ Wir gingen hinaus und um das Hotel herum. Nicht weit vom Portal entdeckte ich einen „Ford“, der – das merkte ich sofort – den Jungen gehörte. Er war älter als sie beide zusammen. Hunk setzte sich ans Lenkrad, dann drehte er sich zu mir um. „Bitte, Mr. Tatcher“, sagte er und öffnete die Tür, die bei dieser Gelegenheit fast aus den An geln ging. Vorsichtig stieg ich in das Fahrzeug. Fy setzte sich neben mich, blaß vor Aufregung. Wahrschein lich hatte der Arme nicht zu hoffen gewagt, daß er jemals im Leben neben so einer berühmten Per sönlichkeit sitzen würde. 120
„In fünfzehn Minuten sind wir da“, sagte Hunk in möglichst lässigem Ton. Diese fünfzehn Minuten verbrachten wir immer noch in der Nähe des Hotels. Der launische Oldti mer hüstelte nur, aber der Motor wollte nicht an springen. Die Jungen waren schamrot, und ich bedauerte sie. Dann stieg Fy aus und näherte sich mit einer riesigen Kurbel der Front des Wagens. Noch hüpften wir ein paarmal, dann setzte sich der Ford doch in Bewegung. Und das zur Ab wechslung schneller, als seine Besitzer erwartet hatten, so daß Fy im Dauerlauf in den Wagen springen mußte. „Ausgezeichnet“, sagte ich mit heiterer Stimme, um die jungen Männer zu ermutigen. Sie sahen mich voller Dankbarkeit an. Wir fuhren länger als fünfzehn Minuten. Wir plauderten, und es war angenehm. Aber nach ei ner halben Stunde Fahrt fragte ich Fy, wie weit es noch bis zu ihrem Klub sei. „Was fragt er?“ meldete sich Hunk. „Er wird ungeduldig“, sagte Fy ganz bleich. Ich sah erstaunt von einem zum anderen. „Bring ihn zum Schweigen“, sagte wieder Hunks Fistelstimme. Ich riß die Augen auf und spürte dann etwas Hartes zwischen den Rippen. Es war ein Revolver lauf. Hunk beschleunigte die Fahrt. So etwa war ich in diese Mansardenstube ge langt. Nicht aus eigenem Willen, wie Sie Gelegen heit hatten, sich zu überzeugen.
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„Wir sind da!“ sagte Hunk, als wir die Stube betraten. Er wich meinem Blick aus. „Wir sind da!“ wiederholte Fy. Auch er wagte nicht, mir in die Augen zu sehen. Er starrte mei nen Bauch an, auf den ungefähr auch sein Schießeisen zielte. Ich protestierte. Vergebens. Ich versuchte, dem Jungen den Revolver wegzunehmen. Ebenfalls er folglos. Er gab mir mit dem Knauf eins über den Schädel, und ich sackte zusammen. „Man müßte ihn fesseln“, sagte der Vorsitzende des „Timothy-Tatcher-Fan-Clubs“. Und er fesselte mich mit Hilfe des Kassierers desselben Klubs. Sie knebelten mich auch noch, und dann verließen sie die Stube, nicht ohne die Tür hinter sich zu verschließen. Schon lange lag ich hier. So lange, daß mir alle Knochen weh ta ten. Das schlimmste war, daß mir der verdammte dreckige Lappen nicht erlaubte, zu schreien. Und ich hätte so gern gerufen, gebrüllt, Hilfe herbeige schrien.
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Trotzdem erbarmten sie sich. Schon wollte ich verzweifeln, als sich die Tür öffnete und sie ein traten. „Er ist doch da“, konstatierte Hunk, zog ein Klappmesser aus der Tasche und begann lässig damit zu spielen; die Schneide sprang jedesmal drohend hervor, wenn er den Knopf drückte. Und Fy zückte seinen Revolver und zielte damit auf meinen Bauch. „Was soll das, Kinder?“ fragte ich, so laut ich konnte, aber sie hörten mich wegen des Knebels nicht. Trotzdem begriffen sie auf Grund meiner Anstrengung, etwas zu sagen, auf Grund der Gri massen, die ich zog und wahrscheinlich auch des Blutes, das mir zu Kopf stieg, daß ich etwas woll te. Hunk sah Fy an, und der zuckte die Schultern. „Vielleicht erstickt er“, sagte Fy. „Idiot!“ zischte Hunk durch die Zähne. „Das las sen wir nicht zu.“ „Vielleicht erstickt er auch nicht“, fuhr Fy fort. „Vielleicht gehört er zu denen, die dauernd einen roten Kopf kriegen. Meiner Alten passiert das jede halbe Stunde; das hat gar nichts zu sagen. Wahr scheinlich ist es bei dem genauso!“ Hunk kratzte sich mit der freien Hand den Dschungel auf seinem Kopf, mit der anderen öff nete und schloß er mechanisch das Klappmesser. Er sah mich an und schüttelte zweifelnd den Kopf.
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„Ich glaube“, sagte Hunk, „der fühlt sich hier nicht sehr wohl. Sag mal“, rief er, „fühlst du dich wohl?“ Durch Grimassen versuchte ich ihm zu verste hen zu geben, daß mir die Hände weh taten. Und daß mich der Knebel störte. Und daß ich fortge hen wollte. Und daß ich zum Teufel wissen wollte, warum ich hier war, gefesselt, ohnmächtig in je der Beziehung. „Mir scheint, der ist taubstumm!“ stellte Hunk mitleidig fest. „Nein“, widersprach Fy. „Ich habe ihn reden ge hört. Im Auto und vorher.“ „Hm“, schloß Hunk weise. „Ich frage ihn freund lich, aber er sagt keinen Mucks.“ Fy sah mich konzentriert an. Endlich erstrahlte sein Gesicht. Fy hatte eine Idee, Fy würde sie auch vortra gen. „Nehmen wir ihm den Knebel ab. Vielleicht wird er dann…“ Hunk, der hier offenbar die höhere Charge dar stellte, sah ihn vorwurfsvoll an. „Und wenn er um Hilfe schreit, daß man ihn bis nach Los Angeles hört?“ Es tat mir leid, als ich sah, wie sich Fys strah lendes Gesicht in Enttäuschung verwandelte. Trotzdem bestand Hoffnung. Er gab ihr auch Aus druck. Schüchtern, aber er tat es. „Vielleicht macht er das nicht. Wenn wir ihn warnen?“ „Er wird brüllen.“ 124
„Wir werden ihm freundlich erklären, daß er nicht darf. Ich verpasse ihm einen Schuß in den Arm, damit er sieht, daß wir keinen Spaß machen und daß er, wenn er brüllt, den Rest in die Kehle kriegt.“ „Nein“, erklärte Hunk entschieden. „Das ist kein guter Gedanke. Übrigens würde man auch den Schuß hören. Wir müssen anders vorgehen.“ „Mit dem Messer?“ „Du bist doch zu dumm“, sagte Hunk zu seinem Geschäftsfreund. „Du würdest ihn erstechen oder erschießen, und was dann?“ „Dann würde er nicht brüllen, das ist wenig stens klar.“ Hunk faßte sich mit einer Hand an den Kopf. Er hätte es auch mit der anderen getan, wenn er nicht Angst vor dem Messer gehabt hätte. „Und warum haben wir ihn hergebracht?“ Fy sah ihn mit dem Ausdruck eines Hundes an, der Prügel gerade in dem Augenblick bekommt, wo er seinem Herrn helfen möchte. „Du wolltest…“, stotterte er, „auch du wolltest, daß wir ihn unschädlich machen, damit er nicht… damit er nicht brüllt.“ Hunk hörte ihm nicht mehr zu. Er widmete sich voll und ganz mir. „Fühlst du dich wohl?’’ Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich fühlte mich nicht wohl. Hunk wunderte sich anscheinend über meine Antwort. „Warum?“ fragte er. „Was fehlt dir?“ 125
Ich stöhnte, lief rot an, zuckte mit dem ganzen Körper, um seine Aufmerksamkeit auf meine er starrten, fest auf dem Rücken gefesselten Hände zu lenken. „Mensch“, sagte Hunk, der in Haltung und Stimme um zehn Jahre älter zu erscheinen such te, „du weißt, daß wir dich brauchen, ja?“ Ich zuckte mit den Schultern. Nein, ich wußte nichts. Hunk fuhr fort: „Du weißt, daß Hunk fort muß. Mit Jessie. Auch diese Rotznase möchte mit. Demnach…“Er wandte mir den Rücken und ließ mich in noch größerer Ungewißheit zurück. „Na?“ Er stellte die Frage, ohne sich umzuwenden. Ich zuckte wieder die Schultern, was er aber nicht sehen konnte. „Na?“ Seine Stimme war lauter. „Na?“ schrie Hunk. Als er sich wieder umdrehte, war ich über rascht. Nach einer solchen Steigerung der Laut stärke hatte ich ein zorniges Gesicht erwartet, nicht aber dieses Lächeln und diesen warmen Blick. Sogar das Messer war verschwunden, wahr scheinlich in der Tiefe der Tasche seiner schwar zen Niethose. Hunk klopfte mir auf die Schulter. „Du brauchst dich nicht aufzuregen“, sagte er freundschaftlich. „Absolut nicht. Alles wird in Ord nung kommen.“ Und dann gab er Fy ein Zeichen. Sie verließen wortlos den kleinen Raum, verschlossen die Tür
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hinter sich und ließen mich allein, ratlos und ver lassen zurück. Sie kamen etwa eine Stunde später zurück. Hunk brachte eine Tüte mit Sandwiches. Fy hielt den Revolver in der Hand. „Hunger?“ fragte Hunk besorgt. Ich nickte, ob wohl ich bis zu diesem Augenblick die Leere im Magen gar nicht gespürt hatte. Ich dachte, es könnte vielleicht in dem Augenblick etwas ge schehen, da sie mir die Sandwiches gaben. Aber die Jungen hatten das vorausgesehen und ihre Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Hunk stand vor mir und hielt das Sandwichpaket in der Hand, Fy stand hinter mir. „Wenn du eine Bewegung machst, kriegst du von Fy eins über den Kürbis, daß du dein Leben lang dran denkst?“ informierte mich Hunk. Hinter mir hörte ich Gemurmel als Bekräftigung dieses Versprechens. „Wenn du einen Laut von dir gibst, passiert dasselbe!“ fuhr Hunk fort. „Was soll ich machen?“ fragte Fy, der eine prä zise Ausdrucksweise bevorzugte. „Du gibst ihm eins über den Kürbis, daß er sein Leben lang dran denkt!“ sagte Hunk. Fy murmelte etwas, was bedeutete, daß er die sen Worten zustimmte. „Hast du kapiert?“ fragte mich Hunk. „Ja, zum Teufel!“ antwortete Fy hinter mir. „Idiot, wer hat denn dich gefragt!“ fuhr Hunk ihn an. „Ich frag’ den da, ob er kapiert hat.“
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Fy klopfte mir mit dem Revolverknauf auf den Scheitel. „Hast du kapiert? Dich fragt er!“ fuhr er seiner seits mich an, und ich bestätigte durch ein Nicken, denn ich wünschte mir, daß er mich möglichst wenig mit diesem Knauf streichelte. Dann wollte mir Hunk die Sandwiches geben, aber er stellte fest, daß ich anscheinend so lange nicht kauen konnte, wie ich mit dem Lappen geknebelt war. Er legte das Päckchen auf den Boden und trat näher. Er löste das Band, das um meinen Kopf gelegt war und den Knebel festhielt. Dann zog er mit ei ner energischen Bewegung den Knebel heraus. Ich weiß nicht, ob Sie jemals des Genusses zu teil wurden, daß Ihnen jemand einen so ekelhaf ten Gegenstand aus dem Mund zieht, der sich stundenlang dort befunden hat. Wahrscheinlich nicht. Deshalb können Sie auch nicht in vollem Maße einschätzen, was ich empfand, als Hunk mich von dem Knebel befreite. Sie können mir aber aufs Wort glauben: Es ist wunderbar. Aber ich konnte mir den Luxus nicht leisten, lange zu genießen. Sobald mein Mund befreit war, sobald meine Zunge sich bewegen konnte, nützte ich sofort die einmalige Gelegenheit. Ich über schüttete Hunk mit Fragen: „Was soll das heißen, Kinder? Was ist das für ein dummer Scherz? War um bin ich hier? Was wollt ihr von mir? Wie lange soll diese Komödie noch dauern…“ Erst jetzt reagierte Fy. Er hatte wirklich lang same Reflexe. Oder hatte ich meine Fragengarbe zu schnell abgefeuert? Wie dem auch sei, in die 128
sem Augenblick spürte ich einen heftigen Schlag mit einem harten Gegenstand auf dem Scheitel. Ich schrie laut, aber daraufhin kriegte ich noch eins übergezogen. Da begriff ich, daß es am be sten war, zu schweigen. „Idiot!“ rief Hunk mir zu und stopfte mir den Lappen wieder in den Mund. „Idiot!“ schrie er auch Fy an. „Was ist?“ meldete sich dieser. „Ich hab’s ihm doch besorgt.“ „Aber wann?“ tobte Hunk. „Nachdem er sämtli che Polizisten der Welt geweckt hatte.“ „Ist doch egal, jetzt ist er wenigstens still“, traute sich Fy. Hunk lachte das grausame Lachen eines Zwölfjährigen. „Natürlich“, sagte er, „mit dem Knebel im Mund.“ Fy glaubte das offenbar nicht und drehte mei nen Kopf zu sich, um es nachzuprüfen. Ich röchel te. „Paß auf, du brichst ihm ja das Genick!“ Fy drehte meinen Kopf in natürliche Lage, und dann erklärte mir Hunk, daß es für mich das beste sei, zu schweigen und zu essen. „Sonst…“, sagte er, und ich verstand, was das hieß. Um keine Zeit zu verlieren, fütterten mich die Jungen, ohne daß ich einen Ton von mir gab oder einen Fluchtversuch unternahm. Nachdem mir der gründliche Hunk den letzten Krümel in den Ra chen gestopft hatte, verschloß er mir wieder mit dem Knebel den Mund, schlang mir das Band um den Kopf, und dann lächelte er zufrieden. 129
„So, das wäre auch erledigt“, sagte er. „Unser Timothy hat keinen Hunger mehr.“ Fy verließ seinen Wachposten und trat vor mich. Mit lässiger Bewegung steckte er den Re volver in die Hose und schlug mich freundschaft lich auf die Schulter. „Dir geht es nicht schlecht“, stellte er fest. „Ich wär’ glücklich, wenn sich jemand so um mich kümmern würde, wie wir uns um dich kümmern.“ Hunk sah ihn verächtlich an. „Warum soll sich jemand um dich kümmern, du Laus? Du bist nicht soviel wert wie Timothy. Und du wirst uns auch nicht die Reise bezahlen.“ Fy grinste, Hunk desgleichen, und zwei Drittel der Anwesenden amüsierten sich köstlich. Nur das restliche Drittel war traurig, in Schweigen gehüllt. Die Jungen bemerkten das. „Sei nicht so betrübt!“ sagte Hunk zu mir. Er zog das Messer und fing an, damit zu spielen, wahrscheinlich in dem Glauben, daß er mir auf diese Weise Optimismus einflößen konnte. „Du bleibst nicht lange hier. Noch ein paar Tage, und du wirst wieder in deinem schwarzen Auto ange ben. Wenn…“, hier hielt er inne; sein Gesicht wur de ernst, und die Schneide sprang hervor, sie blitzte unheilverkündend. Auch Fy wurde ernst. „Glaubst du, daß…?“ „Ich glaube gar nichts“, fuhr Hunk auf. Es blieb ein Weilchen still. „Hunk“, sagte danach Fy. „Was meinst du…“ „Was?“ 130
„Was meinst du, wieviel…?“ Hunk hob die Schultern. Mit der Messerspitze versuchte er, sich den Daumennagel zu reinigen. Er versuchte nur. „Na, dreihundert… mindestens dreihundert!“ Fy war nicht überzeugt, nach seiner Stimme zu urteilen. „Du meinst, so viel…?“ Hunk schloß mit einer heftigen Bewegung das Messer. „Zum Teufel, so viel werden wir fordern! Wenn sie es nicht geben, ihre Sache. Wir wissen, was wir zu tun haben!“ Er drückte auf den Knopf, und die Schneide sprang hervor. „Zweihundertfünfzig, keinen Cent weniger!“ knurrte Hunk. „Und wenn sie das auch nicht rausrücken?“ er kundigte sich Fy. „Dann bringen wir ihn um“, sagte Hunk. „Wer?“ fragte Fy. „Du. Ich. Beide. Ganz egal“, antwortete Hunk. „Ich würde ihn auch für hundertfünfzig herge ben“, sagte Fy nachdenklich. „Sogar für hundert tausend. Ehrenwort, das würde ich.“ „Verdammter Gierhals!“ kläffte Hunk. „Du wür dest ihn auch für fünfzig hergeben! Für zwanzig tausend!“ Fy schaute durch die Wand des Raums und nickte. „Ja. Mir ist das auch genug. Oh, Hunk“, sagte er träumerisch, „wärst du nicht glücklich, wenn du 131
jetzt zwanzig Tausender in der Tasche hättest? Du wärst es, bei Gott. Du brauchtest nicht hier Zeit zu verlieren, sondern würdest durch die Stadt bummeln und Bonbons lutschen. Ich würde, du hast recht. Auch für zwanzig.“ „Dummkopf!“ Hunk geriet in Rage. Fy teilte seine Meinung nicht. „Warum bin ich ein Dummkopf?“ „Du darfst den Preis nicht drücken, das ist ge gen die Regeln eines guten Business“, sagte Hunk. „Zweihundertfünfzig, und keinen Cent we niger!“ „Ach, zwanzig wären genug!“ seufzte Fy hart näckig. „Zwanzig, aber auf die Hand, nicht nur so… zweihundertfünfzig, aber wo? Sag mir, wo sind die zweihundertfünfzigtausend?“ Hunk lachte schneidend. „Sie werden es rausrücken. Du wirst es sehen. Sie werden noch glücklich sein, daß sie so glatt davonkommen, hahaha! Wir müssen nur Geduld haben. Und Nerven.“ Sie verstummten. Beide versenkten sich offen bar in schwere geschäftliche Probleme. Und mich ärgerte es, daß sie sich nicht mehr unterhielten. Zumal sie diesen interessanten Dialog über den Verkauf von wer weiß was begonnen hatten. Es war fesselnd, diesen Wettstreit zwischen dem har ten Geschäftsmann Hunk und dem weichen Träu mer Fy zu verfolgen, die vor meinen Augen… aber was? He, Leute! He! He! Was habt ihr da? Wor über…? Was verkauft ihr da? WAS?
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Mein Gott, jetzt erst kam mir der Gedanke, daß diese beiden Minderjährigen über mich gespro chen hatten. Daß der Preis, den sie derart in die Höhe trieben und senkten, eigentlich für mich be stimmt war, für Timothy Tatcher, der hier in Stricke gewickelt saß und friedlich zuhörte, wie sie… O Gott, o Gott, es war zum Verrücktwerden. Der Schweiß begann mir über Gesicht, Stirn, Brust zu rinnen. Ich bäumte mich auf, zuckte mit Armen und Beinen, wand mich, um gegen eine derartige Feilscherei zu protestieren, gegen ein solches Verhalten, gegen diesen illegalen Handel. Das ist nicht erlaubt! Ich lasse es nicht zu! Ich…! Die Jungen sahen mich zuerst erstaunt an. Fys Stirn runzelte sich sogar ein wenig, offenbar weil ich durch mein unerwartetes Benehmen seine Träume von den 20 000 Dollar (in der Tasche) ge stört hatte. Aber ich kümmerte mich nicht darum und fuhr fort, mich auf dem Stuhl zu winden, zu stöhnen, Grimassen zu schneiden. Dann zogen sie die Waffen und drohten mir damit. Ich hörte auch daraufhin nicht auf. „Der will was, offenbar!“ mutmaßte Hunk. „Vielleicht… äh… muß er mal?“ fragte Fy schüchtern. Hunk packte mich an der Brust. Fy hielt den Sessel fest. „Mußt du…?“ fragte Hunk. Ich schüttelte den Kopf und wand mich weiter. „Hast du Hunger? War es nicht genug?“ Ich schüttelte den Kopf. „Durst?“ 133
Ich schüttelte den Kopf.
Fy begriff als erster.
„Vielleicht will er uns was sagen.“
Hunk sah mich zweifelnd an. Ich begann, heftig
zu nicken. „Willst du singen?“ fragte Hunk. Wieder nickte ich. Die funkelnde Messerschneide richtete sich auf meine Brust. „Bitte keine Dummheiten!“ sagte Hunk. Ich nickte. „Und kein Geschrei!“ fuhr Hunk mit seinen Hin weisen fort. Als er mein Versprechen hatte, zwin kerte Hunk Fy zu, der im Handumdrehen hinter meinen Rücken sprang und mit dem Revolver meine Wirbelsäule betastete. Dann wurde mir der Lappen aus dem Mund genommen. Die Erfahrung von einer halben Stunde zuvor nützte mir bei dieser Gelegenheit. Ich rief weder noch rasselte ich eine Serie Fragen herunter. Ich holte tief Luft, und dann fragte ich Hunk mit äu ßerster Präzision: „Ich bin gekidnappt?“ Er bestätigte es stumm.
„Und ihr hofft, für mich etwas zu bekommen?“
Hunk zischte unter überlegenem Lächeln:
“Zweihundertfünfzigtausend, keinen Cent weni ger.“ Ich sah ihn neugierig an. „Von wem?“ Hunk verzog das Gesicht. „Was heißt, von wem?“ fragte er. Ich lächelte. 134
„Von wem gedenkt ihr dieses Geld zu bekom men? Wer soll euch für mich so viel Geld geben, daß…“ „Wer?“ Hunk lachte. „Na sie…“
„Wer?“ bohrte ich.
Fy mischte sich ein.
„Wer wird uns den Kies geben, Hunk?“
„Was quasselst du dazwischen?“ fuhr Hunk ihn
an. „Man weiß, wer zahlen wird. Die, für die Tat cher interessant ist, die werden es auch ausspuk ken, selbstverständlich.“ „Hm!“ machte Fy.
„Hm!“ unterstützte ich ihn.
„Was soll das?“ sagte Hunk fast weinend. „Was
heißt hier ,hm’? Euch ist doch wohl klar, daß sich immer jemand findet, der für einen Menschen, dessentwegen sich die schönsten Frauen Holly woods umbringen, gutes Geld bezahlt. Das wenig stens ist klar!“ „Mir nicht!“ bemerkte ich. „Mir ist es auch nicht besonders klar, Hunk“, sagte Fy und trat zu seinem Freund. Den Revolver hatte er im Gürtel stecken, offenbar war er sich seiner Pflichten nicht bewußt. „Fy, du bist der größte Idiot, den ich im Leben gesehen habe“, sagte Hunk. „Wir haben die Sache so großartig geplant, und du quatschst jetzt ir gendwelchen Blödsinn, den ich… Übrigens“, sagte er, „es wäre besser, du zögst das Schießeisen. Oder meinst du vielleicht, daß der da…“ Fy erschrak. Er zog den Revolver und zielte auf mich, aber er sah weiter Hunk an. 135
„Hunk“, sagte Fy, „wem schicken wir den Brief?“ „Was für einen Brief?“ fragte Hunk. „Den Brief, in dem wir den Kies fordern!“ präzi sierte Fy. „Den Brief!“ Hunk warf mir einen verstohlenen Blick zu und antwortete dann seinem Partner: „Das haben wir doch schon besprochen: dem Produzenten!“ „Welchem Produzenten?“ fragte Fy. „Tatsächlich, welchem Produzenten?“ interes sierte auch ich mich. „Seinem“, antwortete Hunk und wies mit der Schulter auf mich. Fy sah mich an. „Wer ist dein Produzent?“ fragte er mich. „Meiner? Ich hab’ keinen.“ „Wieso hast du keinen?“ „Ich hab’ keinen.“ Fy drückte mir den Revolver in den Bauch. „Du filmst nicht? Du hast keinen Vertrag unter schrieben?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wieso?“ fragte Hunk außer sich. „Nein“, sagte ich. „Noch nicht… Eigentlich habe ich…“ Fy und Hunk sprangen auf wie gebrannt. „Was hast du eigentlich…?“ Ich sah sie mitleidig an. „Lefty wollte heute das Terrain sondieren“, sag te ich. „Welcher Lefty?“ fragte Fy.
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„Mein Sekretär. Er wollte heute morgen das Terrain sondieren und mich nachher anrufen. Aber ich bin…“ Fy sah Hunk an. Hunk verzog das Gesicht.
„Soll Lefty bezahlen!“ sagte er kurz.
Ich lachte lauter, als mir erlaubt war. Die Mes
serschneide und der Revolverlauf machten mich darauf aufmerksam. „Schrei nicht!“ sagte Hunk. „Sonst…“ „Entschuldige, Kleiner… ich konnte nicht an ders“, entschuldigte ich mich. „Lefty soll bezah len? Womit? Mit den fünf Dollar, die er in der Ta sche hat?“ „Bezahl du!“ sagte Hunk.
Ich hob die Schultern.
„Ihr könnt mich gern durchsuchen“, schlug ich
vor. „Seht euch meine Sachen im Hotel an, schnüffelt, wo ihr wollt…“ „Du hast nichts?“ meldete sich Fy. „Nein.“ Fy sah wieder Hunk an. „Er hat nichts“, sagte er. „Auch dieser Lefty hat nichts. Und den Vertrag…“ „… hab’ ich noch nicht unterschrieben“, beende te ich seinen Gedanken. „Also?“ Fy sah noch immer Hunk an. Das „Gehirn“ der Bande schwitzte. Die gefaltete Stirn sprach von der intellektuellen Anstrengung, die verschwendet wurde, um die Situation zu klären. Aber es kam zu keiner Klärung.
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„Es scheint…“, begann Hunk langsam mit trä nenerstickter Stimme, begleitet von Fys und mei nen Blicken, „es scheint, daß wir zu früh an die Sache herangegangen sind. Es war gut geplant, aber ein bißchen, ein bißchen zu früh durchge führt“, sagte er und senkte den Kopf. Fy sah jetzt mich an. „Erwartest du, daß du irgendwelche verdamm ten Verträge unterschreibst?“ fragte er. „Lefty garantiert es mir“, antwortete ich. „Au ßerdem wird jetzt so viel über mich geschrieben, daß… Sicher werde ich unterschreiben.“ „Fest?“ Ich lachte, und das sagte ihm genug. Fy wandte den Blick zum Vorsitzenden des „Timothy-Tatcher-Fan-Clubs“. „Zu früh, du Idiot! Zu früh!“ Hunk nickte und wagte nicht, seinen Kompa gnon anzusehen. „Ich wollte noch vor dem Karneval nach Süd amerika“, sagte er, als wolle er sich rechtfertigen. Aber es war keine richtige Rechtfertigung, we nigstens nicht für Fy. Der trat zu seinem Freund, nahm ihm das Messer ab, drückte den Knopf, so daß die Schneide heraussprang und begann, mir die Stricke zu durchschneiden. „Was machst du da?“ fragte Hunk außer sich. „Zu früh! Zu früh!“ sagte Fy zu sich selbst. Als ich endlich befreit war, versuchte ich aufzu stehen, aber es ging nicht. Arme und Beine, der ganze Körper, alles war starr und tat weh. Trotz
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dem richtete ich mich mit Fys Hilfe auf. Hunk sah mit stumpfem Blick zu. Beide taten mir leid. „Also, Kinder?“ fragte ich mitfühlend. Fy sah Hunk an, und der winkte ab. „Es tut mir leid“, sagte ich und klopfte Hunk auf die Schulter. „Vielleicht bei einer anderen Gele genheit!“ „Vielleicht’’, antwortete Fy, aber ich entnahm seiner Stimme, daß er die Lust verloren hatte, künftig solche Geschäfte anzufangen, besonders wenn sie unter Hunks Leitung organisiert waren. Ich ließ sie schweigend zurück, stieg die Holz treppe hinab und fand mich auf einer Straße, wo hier und da ein paar Häuschen standen. Fünfzehn Minuten später nahm mich ein Lastwagen in Rich tung Hollywood mit.
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In der Nähe eines eleganten Motels ließ ich mich absetzen. Es war modern eingerichtet, lauter Glas und Metall. Ich trat ein, um etwas zu essen und die beiden Kidnapper zu vergessen. Ich ging zur Theke, wo mich der fragende Blick eines jungen Keepers empfing. „Hamburgers!“ sagte ich mürrisch und stützte die Ellenbogen auf die Theke. „Und Bier!“ Der Keeper nickte, drehte sich um und rief et was in das Fenster, das in die Küche führte. Dann griff er nach einer Flasche Bier und öffnete sie. Seine Augen blinzelten lustig, als er mir die Fla sche und ein Glas hinschob. Ich goß mir das Glas voll, trank es aber nicht aus. Ich starrte den weißen Schaum an, der zö gerte, ob er über den Rand laufen sollte. Er tat es nicht. Inzwischen kamen auch die heißen Ham burgers. Ich beobachtete im Spiegel gegenüber die Au tos, die am Motel vorüberrasten, trank vom Bier und kaute die Hamburgers mit Brötchen. Von hier hatte ich auch den Eingang im Blickfeld. Die Musik aus der Jukebox war zum Glück nicht allzu laut. Zwei bis drei junge Leute begnügten sich mit sen timentalen Melodien, und ich war ihnen dankbar. Ich bestellte noch eine Portion Hamburgers; jetzt erst spürte ich, was es für Hunger macht, wenn man gekidnappt wird.
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Auf der Schwelle der Eingangstür erblickte ich drei Frauen: zwei waren zu mager, die dritte da gegen machte es durch üppigen Speck wieder wett. Insgesamt zählten sie 1500 Monate, gleich mäßig verteilt. Sie waren auffällig gekleidet, grell farbig und unangenehm anzuschauen. Ich wandte den Blick ab, aber ich konnte sie nicht völlig igno rieren. Sie setzten sich an einen Tisch genau hin ter mir, und ohne es zu wollen, hörte ich ihr Ge spräch mit. Sie bestellten Essen und begannen eine Diskus sion über einen Film. Dann gingen sie zu dem Kleid einer gewissen Pearl über, um sich später bei den Verlobungen einer gewissen Mabel und eines gewissen schielenden Billy aufzuhalten. Mit einer Hand nahm ich mein Glas, mit der anderen den Teller mit den Hamburgers und zog um. Langsam, fast unbemerkt, wich ich ans andere Ende der Theke zurück und bestellte dort noch eine Flasche Bier bei dem jungen Keeper. Die Flasche kam, und ich genoß in weiter Ent fernung von den geschwätzigen Frauen. Ich hob das Glas und betrachtete mit Vergnügen die gelbe Flüssigkeit. Dann hörte ich auf meiner linken Seite das Gespräch zweier Männer. „Er quatscht zuviel!“ sagte ein Bariton. „Keine Sorge, Steve! Ich kümmere mich dar um!“ sagte ein Baß. Ich hob das Glas zum Mund. „Nur daß es nicht zu spät ist!“ sagte der Bari ton.
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„Ich bringe Morley zum Schweigen, keine Angst!“ sagte der Baß. Das Bier blieb mir im Hals stecken. „Hm, er ist kein Unschuldsengel. Sieh dich vor!“ sagte der Bariton. „Ist er der erste, mit dem ich zu tun habe?“ sagte der Baß. Ich kriegte einen Hustenanfall. Das Bier war mir in die falsche Kehle geraten, und ich dachte, ich müßte meine sämtlichen Eingeweide heraushu sten. Ich lief rot an, Schweiß brach mir aus, ich umklammerte krampfhaft die Theke. Eine Hand klopfte mir kräftig den Rücken, so daß ich fast umfiel. Ein zweiter Schlag folgte, ein dritter, ein vierter. „Ist es jetzt besser?“ fragte mich eine Baß stimme. Ich nickte kraftlos, und der Baß versetzte mir noch ein paar Schläge auf den Rücken. Danach hörte der Husten auf, und ich atmete tief auf. Meine Augen standen voller Tränen. Ich nahm die Brille ab, wischte mit dem Taschentuch die Tränen ab und putzte die Gläser, und als ich sie endlich wieder aufsetzte, sah ich endlich den Mann, der mir geholfen hatte. Er stand neben mir, hielt eine Hand noch immer bereit, sie auf meinem Rücken landen zu lassen, und in der anderen hatte er ein Glas Whisky. Er war kräftig, von grobem Äußeren, sein Blick unter den struppigen Brauen stumpf. „Na, mein Junge?“ wiederholte er. „Dddd-danke!“ sagte ich und sah ihn ängstlich an. Hinter seinem Rücken entdeckte ich einen 142
mageren langen Burschen mit tief in die Stirn ge zogenem Hut, der uns gleichgültig musterte, die Ellenbogen auf die Theke gestützt. Der Keeper kam und sah mich diensteifrig an. „Einen Whisky!“ sagte ich und sah den Mann an, der sich um mich gekümmert hatte. „So ist es, mein Junge!“ sagte er. „Am Bier kann man ersticken. Am Whisky sicherlich nicht. Der kann nur bewirken, daß Sie im Straßengraben enden.“ Der Mann war fest von der Witzigkeit seiner Worte überzeugt, und er begleitete sie mit dröh nendem Gelächter. Ich sah ihn an, lächelte ge quält und dachte an meinen guten Freund Morley. Ich packte das Whiskyglas und schüttete es mir mit geschlossenen Augen gewaltsam in die Kehle. „Laß ihn, Hannibal!“ sagte der Lange, der vor hin Steve genannt worden war. Hannibal klopfte mich noch einmal, diesmal auf die Schulter, und drehte sich gutgelaunt zu sei nem Freund um. Sicherlich war er zufrieden, ei nem Nächsten geholfen zu haben. Wie zufrieden wird er erst sein, wenn er seinen Nächsten um bringt, dachte ich und schüttelte mich ein biß chen. Ich lief nicht fort. Im Gegenteil, ich rückte an meinen Nachbarn zur Linken heran, um noch et was über ihre finsteren Pläne zu erfahren. Aber sie sprachen jetzt leiser. Ich hörte nur ein paar mal Morleys Namen; mir war, als erwähnten sie auch das Lokal „Zum Einäugigen Bill“, sie spra chen auch von einem Boß, aber ich verstand 143
nichts. Nur daß es sich wirklich um meinen Freund handelte, das von vorhin, und nicht um irgendei nen hergelaufenen Morley aus den Vereinigten Staaten. „Hannibal!“ rief jemand vom anderen Ende des Lokals. Ich sah mich zur gleichen Zeit um wie mein Nachbar und erblickte zwei Männer, die die Treppe herabkamen, die wahrscheinlich zur Re zeption des Motels oder zu den Mietpavillons führ te. Der erste, der Hannibal gerufen hatte, lächelte, als er sich der Theke näherte. Er war ein elegan ter kleiner Dicker, gut gekleidet, gut rasiert, gut gelaunt. Ihm folgte ein Mann der gleichen Größe, aber völlig entgegengesetzter Stimmung. In dem bleichen, unbewegten Gesicht herrschte äußerster Ernst. Na, den kenne ich ja, stellte ich fest, selbst überrascht. Es war der Bleichgesichtige, der mich im Lokal „Zum Einäugigen Bill“ angesprochen und gefragt hatte, ob ich McMaster sei. Ja, das hatte er mich gefragt, ich erinnerte mich genau. Und ich hatte ihn noch einmal gesehen, darauf hätte ich wetten können. Ja natürlich, auf dem Empfang bei Herbie Paff, kurz bevor sich die unglückliche Miri am… Ich begann zu zittern, als ich daran dachte. Der kleine Dicke lächelte immer noch. „Gehen wir, Hannibal!“ sagte er, als er die The ke erreicht hatte. „Ja, sofort!“ murmelte dieser gehorsam und leerte sein Glas. Steve folgte seinem Beispiel, ob wohl ihn niemand zum Gehen aufgefordert hatte.
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„Trinken wir auch einen?“ wandte sich der Dicke an das Bleichgesicht. Der hob die Schultern, ohne eine Sekunde seine traurige Miene zu verziehen. „Eine Runde, mein Junge! Whisky!“ piepste der Dicke dem Keeper zu. Dann fügte er hinzu, als müsse er sich vor seinem finsteren Freund recht fertigen: „Dieser Paff hat uns wieder nur mit Sekt und solchem Zeug traktiert. Aber man möchte doch was Anständiges, nicht wahr?“ Der Bleiche nickte, und der Dicke, noch immer ein Lächeln im Gesicht, sah sich das Lokal und seine Gäste an. Er behielt sein Lächeln auch, als sein Blick über die drei geschwätzigen Frauen in den schreiend bunten Kleidern glitt. Aber als er schließlich zu meinem Gesicht gelangte, veränder te sich der Dicke völlig. Er lief rot an, seine Wan gen blähten sich, und der Mund vereinigte sich mit den Ohren. Mit blitzenden Augen rief er: „Tat cher, alter Freund, Sie auch hier?“ Ich sah ihn verblüfft an. Dann schaute ich den Bleichgesichtigen, Steve und Hannibal an. Nur der Bleichgesichtige zeigte keinerlei Überraschung. Hannibal und Steve nahmen einen Ausdruck an, der in der Literatur bekannt ist als der der alten Kuh vor dem neuen Tor. Inzwischen umarmte mich der Dicke schon und schmatzte mich mit seinen feuchten Lippen ab. „Timothy, wie lange haben wir uns nicht gese hen?“ „Entschuldigen Sie, ich erinnere mich nicht…“, murmelte ich.
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Der Dicke riß die Augen auf, aber er behielt das Aussehen eines zufriedenen Schweinchens. „Du erinnerst dich nicht?’’ rief er. „Und bei Bill? Als wir über die kleine Schwarze sprachen, die Zi garetten verkaufte, das weißt du nicht mehr? An dem Abend, als du, hihihi!, als du das Ding mit Budd Stark angestellt hast, hihihi!“ Er brach in Gelächter aus, schwenkte die Arme und stampfte mit einem Fuß. Mir ging ein Licht auf. Natürlich, ich erinnerte mich an das Gespräch über die kleine schwarze Zigarettenverkäuferin, aber ich erinnerte mich nicht, mit wem ich es geführt hatte. Also er war das gewesen. Ich lächelte. „Also du erinnerst dich an deinen Sparks?“ Er umarmte mich wieder und küßte mich auf beide Wangen. Hannibal sah dem Ganzen ehr fürchtig zu. Der Bleichgesichtige blickte durch uns hindurch, wahrscheinlich suchte er nach einem traurigen Thema, um auch angesichts solcher Glücksäußerungen keinen normalen menschlichen Gesichtsausdruck zu zeigen. So plötzlich er mich umarmt hatte, so plötzlich ließ mich Sparks wieder los. „Hannibal, du hast mir nicht gesagt, daß mein Timothy hier ist!“ sagte der Dicke. „Warum nicht?“ Sein fleischiges Gesicht versuchte vergebens, streng auszusehen. „Ich, entschuldigen Sie… aber ich kenne den Herrn nicht“, stotterte der Mann, der es ansonsten
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liebte, anständige Leute zum Schweigen zu brin gen. „Nein? Du kennst den berühmten Timothy Tat cher nicht?“ wunderte sich Sparks. „Und Sie?“ wandte er sich an das Bleichgesicht. Der murmel te nur etwas. „Wir kennen uns nicht“, sagte ich. „Ja?“ freute sich der Dicke. „Ich hatte noch nicht das Vergnügen!“ sagte der Bleichgesichtige mit einer Stimme, als wohne er seinem eigenen Leichenbegängnis bei. „Komplizieren wir die Dinge nicht!“ Sparks strahlte vor Heiterkeit. „Das ist Timothy Tatcher! Und das ist Gregory McMaster.“ Ich sah den Bleichen an. „Als Sie bei Bill zu mir kamen, fragten Sie mich, ob ich McMaster bin. Haben Sie etwa gedacht, ich bin Ihr Bruder?“ Der Bleiche murmelte wieder etwas. Zu seinem Glück kam der Whisky, und wir stießen an. McMa sters Glas bekam ich, denn er lehnte Alkohol ab. „Es freut mich, daß wir uns getroffen haben“, sprühte mir Sparks ins Ohr. „Es tat mir leid… das bei Paff…“ „Was bei Paff?“ Ich rückte aus seiner Reichweite. „Na das. Ich wollte auch dort ein bißchen mit Ihnen plaudern, aber es ist mir einfach nicht ge lungen. Immer sind Sie mir ausgewichen“, be klagte sich der Dicke unter lustigem Lachen. Ich erinnerte mich nicht, ihn dort gesehen zu haben. Aber da er es behauptete, war er vielleicht 147
da. Bei einer solchen Menge Gäste war es schwer, alle zu sehen. „Und dann kam die Sache mit meiner Miriam…“, fuhr der Dicke fort. „Mit Ihrer Miriam?“ Der Dicke nickte lächelnd. Mit dem feisten Zei gefinger schrieb er rasch ein Wort in das Wasser, das in Ringen auf der Theke stand. Dieses Wort konnte „Miriam“ heißen. „Ja, mit meiner. Haben Sie nicht gewußt, daß sie meine Verlobte war? In zehn Tagen hätten wir heiraten sollen.“ „Entschuldigen Sie, das habe ich nicht gewußt.“ Der Dicke legte mir den Arm um den Hals. „Macht nichts“, ermutigte er mich. „Ich weiß, daß Sie nichts gewußt haben. Hätten Sie das ge wußt, hätten Sie sie bestimmt nicht so verrückt gemacht, daß sie sich ein paar Tage vor der Hoch zeit mit Ihrem guten Freund umbringt. Aber macht nichts.“ Er lachte piepsend. Ich tat es ihm nicht nach. Vielleicht, weil mir nicht zum Lachen zumute war, wenn von der toten Miriam die Rede war, und vielleicht auch deshalb, weil Budd Stark an der Seite von Giekie das Lokal betrat. Es mag Ihnen unlogisch erscheinen, daß ich mich verfinsterte, als ich die beiden kommen sah. Sie kennen meine Meinung über Giekie, über ihre Schönheit, ihren Körper und diese Sachen, und sicherlich erwarten Sie von mir, daß ich vor Ver gnügen kreischte, weil sie auf einmal da war, in Reichweite meiner Flirtabsichten. Ich aber, o Iro nie!, schaute nach links und rechts in der verzwei 148
felten Anstrengung, dieser Begegnung auszuwei chen. Ja, an all dem war Budd Stark schuld und seine ungesunde Neigung, sich an mir zu rächen. Ich hatte schon damals auf der Bühne beim „Einäugi gen Bill“ seine krankhaften Ambitionen kennenge lernt, mir den Schädel einzuschlagen als eine Art Entschädigung für die Operation mit der Nase. Das hatte ich auch auf dem Empfang bei Herbie Paff bemerkt. Und jetzt, als ich seinen Blick auf fing, wurde mir klar, daß es für ihn kein größeres Vergnügen gab, als eine gewisse Person, die in der Damenwelt unter dem Namen Timothy Tat cher bekannt war, sorgsam und systematisch zu liquidieren. Obwohl er total betrunken war, begriff er so fort, daß sich eine wunderbare Gelegenheit für die Exekution bot. Auf Giekie gestützt, schwamm er im Zickzack wie ein Zerstörer, der einem Torpedo der feindlichen Flotte ausweicht, durch das Lokal und näherte sich unserer Gruppe immer mehr. Seine Augen glänzten unheilverkündend. Er grin ste. Sparks, der ewig lächelnde Sparks, hatte wirk lich selbst kurz vor dem Eintreffen der Apokalypse noch Sinn für Humor. Als er die Gesellschaft sah, die auf uns zukam, kicherte der Dicke vor Ver gnügen. Er hob beide Hände, holte tief Luft und piepste: „Sehen Sie, wer hier bei uns ist! Unser lieber Timothy! Timothy Tatcher.“ Das war ein neuer Impuls für den schwarzhaa rigen Boxer, sein Tempo zu beschleunigen. Er 149
stieß sogar Giekie weg, die über einen Tisch hech tete, der ihr im Weg stand. „Mr. Tatcher!“ „Mr. Timothy“ „Mr. Timothy Tatcher!“ Wie hypnotisiert starrte ich die Faust des künf tigen Boxweltmeisters an, die sich in Erwartung der Begegnung mit mir öffnete und schloß, und ich achtete nicht auf das Gerede. Ich wollte flüch ten, aber ich wußte nicht, wohin. Hinter mir war die Theke, links Sparks, rechts Hannibal. „Ich bitte Sie, Mr. Timothy!“ „Warte, Cynthia, ich war die erste.“ „Für mich, für mich, für mich, Mr. Tatcher!“ Ich wußte nicht, ob es dem Boxer, auch bevor er einen Schlag einsteckte, in den Ohren zwit scherte oder erst nachher. Mir schien, daß dieses Phänomen auch vorher eintreten konnte, was wis senschaftlich nicht einfach zu beweisen war. Denn mir zwitscherte es in den Ohren, nicht gerade lieblich, sondern scharf und atonal, aber es zwit scherte. Und die Faust, die mir zugedacht war, befand sich noch immer gute fünf bis sechs Meter von mir entfernt. Eine Hand berührte meine Wange, ich möchte sagen, fast zärtlich. Eine Hand fand sich auf mei ner Schulter, ob Sie glauben oder nicht, freund schaftlich. Ein Notizbuch erschien vor meiner Na se, keineswegs gefährlich. „Mr. Tatcher, Ihr Autogramm!“ „Für mich, Mr. Timothy!“ „Alice, dräng nicht so, ich bin dran.“ 150
Drei Krähen, drei Frauen, drei engelsgleiche Wesen bildeten eine Bastion zwischen dem Boxer und mir. Ich hatte es nicht sofort begriffen, ob wohl ich sie jetzt ansah, die drei Jungfern, de rentwegen ich eine halbe Stunde zuvor von einem Ende der Theke ans andere umgesiedelt war, aber ich bemerkte, daß der blutrünstige Boxer zwei felnd stehenblieb. Sein stumpfer, alkoholgetränk ter Geist begriff, daß etwas zwischen seiner Faust und dem Objekt seiner Rache stand. Auch ich be griff es und schaute die drei ältlichen hübschen Wesen mit viel Liebe an. War das etwa die Rettung? Ich nützte die Chan ce. Oder ich versuchte, sie zu nutzen. „Meine lieben Damen“, sagte ich zärtlich. Das Zittern in meiner Stimme konnte man zum größe ren Teil dem Bewußtsein zuschreiben, daß sich Budd Stark in der Nähe befand, und nicht der Er regung vor dieser Offensive des zarten Ge schlechts. Aber jetzt war das nicht wichtig, es war nicht wesentlich, die Sache vor den Verehrerinnen zu analysieren, die mir Papiere und Stifte vor die Nase hielten. Mir schien sogar, daß dieses Zittern in der Stimme gut zustatten kam, denn die späten Mädchen waren hingerissen. „Oh, wie süß Sie sind!“ sagte eine, vielleicht war es Alice. „Wir hatten Sie schon vorhin erkannt!“ fügte die zweite hinzu, nennen wir sie Cynthia. „Wir haben nicht gewagt, Sie zu stören!“ schloß die dritte, deren Namen ich nicht ahnen konnte.
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Ich unterschrieb das erste Papier und schaute verstohlen zu dem Boxer hinüber. Er stand noch immer und wartete wahrscheinlich darauf, daß die Autogrammjägerinnen verschwanden. Aber ich gedachte ihm das nicht zu gönnen. „Sie heißen Alice?“ fragte ich die erste. Sie war wirklich häßlich. „Ich bin Alice!“ zwitscherte die zweite, noch häßlichere. “Ich bin Valencia“, korrigierte mich die erste. „Dann sind Sie bestimmt Cynthia!“ sagte ich zu der dritten, garantiert der häßlichsten. Sie errötete vor Glück. „Wie haben Sie das erraten?“ flüsterte sie und senkte schamhaft den Blick. „Kennen Sie mich vielleicht von irgendwoher?“ Ich nickte. Ich sagte, ich erinnerte mich genau, denn ich hätte sie vor zwei Tagen in der Stadt ge troffen. Sie trug, präzisierte ich, ein rotes Kostüm und ein entzückendes silberfarbenes Hütchen. Cynthia murmelte, daß sie zwar vor zwei Tagen nicht in Hollywood gewesen sei, sondern bei ihrer kranken Tante in Palm Springs, und daß sie weder ein rotes Kostüm noch ein silberfarbenes Hütchen besäße, aber daß auch sie sich an die Begegnung erinnere, die genau vor elf Tagen stattgefunden hatte, am Freitag um 16.34 Uhr Ortszeit. „Also ich hatte recht!“ rief ich begeistert und rechnete in Gedanken aus, daß ich mich an die sem Tag zu dieser Zeit etwa 467 Meilen von Hol lywood entfernt befunden hatte. „Und ich?“ fragte Valencia. 152
„Erinnern Sie sich auch an mich?“ interessierte sich Alice. „Sie erinnern sich an sie, an all diese Bestien?“ flüsterte mir der entsetzte Sparks ins Ohr, dem jetzt zum erstenmal seit den letzten zwanzig Jah ren das Lächeln vom Gesicht verschwunden war. Ich nickte allen zu, den Mädchen und Sparks. Und man könnte sagen, auch Budd, der noch im mer wartete und betrunken schwankte. Giekie war wieder neben ihm und hielt ihn fest, damit er nicht in Erwartung seines Augenblicks umkippte. Ich bekam gute Laune. Umgeben von diesen sympathischen Vertreterinnen des schönen Ge schlechts, fühlte ich mich sicherer, stärker, den Fäusten von irgend jemand gewachsener. Und sie nährten meine Stimmung, indem sie mir zärtliche Worte sagten. „Sie sind so süß!“ „Ich bin verrückt nach Männern wie Sie!“ „Sieh doch, Liebste, dieses reizende Pickelchen auf Timothys Nase!“ Es war wunderbar, was Sparks nicht begreifen konnte. Er zuckte nur die Schultern und verließ mich wortlos, zusammen mit Hannibal und Steve. Sie wählten eine weniger verkehrsdichte Ecke des Lokals und bestellten dort Erfrischungen. Meine schutzlosen Flanken verteidigten Cynthia und Ali ce, der Feind fand auch jetzt keinen Durchbruch. Ich plauderte weiter mit den Mädchen und be tete dabei zu allen Göttern, daß es nicht ihnen, sondern Budd Stark zu langweilig wurde. Und nach allem zu schließen, entwickelte sich die Sa 153
che auch so. Die drei Mädchen von je 42 Jahren im Durchschnitt hätten sich auch bis Mitternacht so unterhalten, wahrscheinlich noch länger. Und Budd wurde es zu langweilig, noch bevor ich das erwartete. Er reagierte nur anders, als ich geplant hatte. Er ließ Giekie stehen und schwankte auf uns zu. Mit einer Hand fing er eine Fliege aus der Luft, und mit der anderen packte er Valencia. Er zog sie beiseite, um den Zugang zu mir frei zu ma chen. „Hau ab, du Gans!“ sagte er grob. Es tat mir leid um das Mädchen. Sie flog mit der Geschwindigkeit eines „Explorer“ hinter den nächsten Stuhl. Aber auch dort blieb sie nicht lan ge. „Mein Herr, Sie haben keine Manieren!“ sagte Valencia zu dem Boxer. Dann gab sie ihm eins mit der leeren Flasche über den Schädel, die sie hin ter sich ertastet hatte. Er erstarrte, hielt auf halbem Weg inne, wahr scheinlich mehr überrascht als betäubt. Nicht dar an gewöhnt, daß ältere Mädchen auf ihn einschlu gen, kratzte sich Budd Stark verlegen den Kopf an der Stelle, wo ihn die Flasche getroffen hatte. Und dann vergaß er diesen Zwischenfall und setzte seinen Weg fort. „Endlich hab’ ich dich!’’ flüsterte er und fletsch te grausam die Zähne. Ich sank hinter der Theke ganz in mich zusam men, aber weiter konnte ich nicht. Ich schloß die Augen und erwartete die Katastrophe. 154
„Was wollen Sie?“ hörte ich eine kreischende Stimme. Der Schlag erfolgte noch nicht. „Mr. Tatcher ist in unserer Gesellschaft!“ er scholl es resolut. Noch immer nichts. Die Sekunden dehnten sich wie Stunden. Und wieder nichts. Und dann öffnete ich die Au gen. Vor mir standen Cynthia und Alice. Sie drehten mir den Rücken, aber nicht aus Mangel an gutem Ton. Sie sprachen mit Budd Stark und sahen ihm ins Gesicht. „Verschwindet!“ knurrte er und streckte die Hände aus, um das wahr zu machen. Cynthia packte seine Hand, hob sie an die Lip pen und biß kräftig zu. Der Boxer brüllte auf und sprudelte dann hun dert Flüche hervor. „Pfui!“ sagte Cynthia, zog seinen Finger aus dem Mund und spuckte widerwillig aus. „Dieser Einfaltspinsel hat keinerlei Manieren“, sagte Alice, ergriff das Glas mit Sodawasser, das hinter ihr auf der Theke stand und schüttete dem Angreifer die Flüssigkeit ins Gesicht. „Ihr Bestien, haut ab, oder…“, drohte der Boxer jetzt schon am Rand seiner Geduld. Aber es wäre besser gewesen, er hätte ge schwiegen. Denn Valencia hatte inzwischen einen Metallstuhl erhoben und warf ihn ihm auf den Kopf.
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Der betrunkene Boxer schaute sich entsetzt um. Etwas war ihm nicht klar. Wahrscheinlich herrschte in seinem Hirn der Gedanke, daß der Augenblick der Abrechnung mit Timothy Tatcher gekommen war, und jetzt mußte er mit drei be leidigten Weibchen kämpfen. Auch ich war an einen solchen Anblick nicht gewöhnt. „Zum Ausgang, dort ist er!“ sagte ich aufgeregt zu Cynthia und Alice und schubste sie in der Rich tung fort. Cynthia drehte sich um und antwortete mit einem Ausdruck, den ich nie vergessen wer de: „Nein. Wir verlassen Sie nicht.“ „Will er Sie verprügeln?“ fragte Alice. Ich bestätigte es traurig. Budd versuchte weiter, Wasser auf seine Müh len zu lenken. „Tatcher!“ brüllte er. „Versteck dich nicht hinter Weiberröcken. Komm her, damit ich dich vierteile!“ Von der Seite mischte sich Sparks ein. „Budd, was machst du da?“ „Nichts“, antwortete der. „Ich unterhalte mich.“ „Dann ist es gut“, sagte Sparks, schrieb wieder mit dem Zeigefinger auf die Theke und bestellte für sich und seine Gesellschaft noch eine Runde Whisky. Auch Giekie gesellte sich zu ihnen, lehnte sich an die Theke und döste. Anscheinend hatte auch sie einen gehoben. Der Bleichgesichtige war aus dem Lokal verschwunden. Budd schwankte auf unsicheren Beinen und suchte eine Möglichkeit, die weibliche Phalanx zu 156
durchdringen. Sie spürten es und schlossen ihre Reihen enger. Und ich zitterte hinter ihnen, denn ich wußte, daß auch ihr Widerstand einmal ein Ende haben mußte. Das übrige Publikum im Lokal stand beiseite und verfolgte interessiert das Geschehen. Unter ihnen waren auch solche, die durch Rufe die Kämpfer zur Offensive anstachelten. Dem Boxer wurde das Warten zuviel. Vielleicht trieb ihn auch die Bemerkung einer Frau aus dem Publikum, die ihn Schlappschwanz nannte, zur At tacke. Ein Faustkämpfer, der auf den Weltmeister titel spekuliert, darf kein Schlappschwanz sein. Deshalb stürmte Budd wieder an. Sein Ziel war natürlich ich, aber er mußte erst durch die Brustwehr aus Frauenkörpern. Und das war nicht einfach. Eine nämlich hatte ihn am Haar gepackt, die zweite kratzte ihm die Haut von den Wangen, die dritte ergriff sein Bein und biß ihn durch den Stoff in die Wade. Ein roter Streifen lief über seine Wange. Sein Bein knickte unwillkürlich ein. Die Last, die ihm am Haar hing, störte sein Gleichgewicht, das durch den Alkohol ernsthaft beeinträchtigt war. Er versuchte, den Ballast abzuschütteln. Cyn thia ließ mit einem Schrei sein Haar los und fiel. Valencia bekam einen Schlag in den Bauch und klappte zusammen. Nur Alice hielt sich noch, und zwar mit den Zähnen, die den Stoff durchbohrt hatten und mit der Kraft einer Bulldogge das Fleisch gepackt hielten. Budd bückte sich und hob 157
die Hand, um sie mit einem Hieb zu zerquetschen wie einen Moskito. Das konnte ich nicht zulassen. Ich stieß mich mit Händen und Füßen von der Theke ab und sprang ihm gegen die Brust. Es war ein Überraschungsschlag, und der Mann fiel um. Ich hatte die Brille verloren und konnte den weiteren Kampf nicht genau verfolgen. Mir schien, als säße ich auf meinem Todfeind, und ich hob mich ein wenig an und fiel noch einmal aus der Höhe mit dem Hinterteil auf seinen Brustkorb. Aber sein Brustkorb war nicht gerade stark. Er war irgendwie weich und ähnelte mehr zwei Halb kugeln, dazu noch in rosa Nylon gekleidet. Mein Opfer heulte im Koloratursopran auf, den ein Be rufsboxer im Halbschwergewicht kaum zu produ zieren imstande gewesen wäre. Offensichtlich handelte es sich um einen Irrtum. Davon überzeugte ich mich in dem Augenblick, als mich eine Faust packte und in die Höhe hob. Hier oben sah ich auf einmal aus nächster Nähe das grinsende Gesicht meines Feindes Nr. 1. Es war in entgegengesetzter Richtung als da, wo ich es erwarten konnte. „Endlich!“ zischte Budd durch die Zähne. Aus dem Nebel tauchten noch zwei Finger auf, die wahrscheinlich seiner anderen Hand gehörten. Langsam näherten sie sich meiner Nase. „Hahaha!“ wieherte der Boxer. „Kennst du das: Auge um Auge, Nase um Nase?“ Die zwei Finger faßten nach meiner Nase. Ich versuchte mich loszumachen, aber ohne Erfolg. Seine Hand hielt meinen Kopf fest. Die Finger glit 158
ten langsam, man möchte sagen feinschmecke risch, über meine Nase, bis sie die günstigste La ge einnahmen. Jetzt! „Aua!“ brüllte Budd und ließ meine Nase, mein Gesicht, mich los. Ich fiel zu Boden und glaubte, daß es noch Wunder auf dieser Welt gab. Dann richtete ich mich auf, stützte mich auf eine Hand, um aufzu stehen und ertastete einen Gegenstand. Es war meine Brille. Ich atmete auf und setzte die Brille auf die Na se. Der Boxer war verschwunden. An der Stelle, wo er sich etwa befunden haben mußte, war ein Knäuel aus Frauenkörpern, Kleidern, Unterröcken, Strümpfen, Höschen, Schuhen. Es gab viele Far ben, viel Nylon, viele Körperteile, die man anson sten bei Frauen wie Cynthia und Co. kaum sehen kann. Diesmal zeigten die geehrten Damen das, sogar noch mehr. In dem Gewühl, das sich mitten im Lokal abspielte, strampelten Beine nach allen Sei ten, Haare wehten wie Kriegsstandarten, Gewebe, die aus billigen Ausverkäufen stammten, platzten und zertrennten sich schneller und leichter, als es die Garantie des Produzenten vorsah. Zuweilen tauchte auch ein gerötetes Gesicht auf, das dann wieder in dem Knäuel unterging, um mit den Zäh nen gegnerisches Fleisch zu packen. Ich weiß nicht, ob die tapferen Mädchen auch einander bissen. Wenn, dann ertrugen sie es stoisch, überzeugt, daß es im Krieg Opfer geben 159
muß und daß jede Offensive Opfer auch unter den eigenen Reihen fordert. Aber das Bewußtsein, daß der Gegner noch mehr litt, gab ihnen die Kraft, schweigend alle Unbill zu tragen und mit noch größerem Feuer den Vernichtungskrieg fortzuset zen. Budd Stark sah ich nicht, aber ich vermutete, wo er sich befand. Bisweilen wurde eine Hand oder ein Fuß von ihm sichtbar. Aber selten. Die wütenden Weibchen stürmten mit neuem Enthu siasmus an, um durch einen Biß den Körperteil des Aggressors zu liquidieren, der es gewagt hat te, ihren Liebling zu prügeln – und die Hand oder der Fuß verschwand wieder. Ich drehte mich um und sah Giekie über der Theke hängen. Sie schlief. Hannibal und Steve stierten betrunken vor sich hin, während Sparks selig lächelte und gefährlich schwankte. „Budd?“ fragte er trunken. Er bekam keine Antwort. „Budd, was machst du?“ drängte Sparks. „Er unterhält sich!“ antwortete ich an Budds Stelle, und Sparks begnügte sich mit dem Wech sel. Er winkte dem Keeper und bestellte eine neue Runde Whisky. Unter den Gästen schloß ein Armenier Wetten ab. Er tippte auf den Boxer, aber in Anbetracht der Situation auf dem Kampfplatz nahm niemand an. In einem Augenblick setzte sich das Knäuel in Bewegung. Wie eine Eruption brach aus dem Hau fen Frauenfleisch ein finsterer Jüngling mit zer 160
zaustem schwarzem Haar. Es gelang ihm aufzu stehen, und jetzt wankte er los, umgeben von den häßlichen Bacchantinnen, die sich auf dem Boden wälzten. „Timothy, wo bist du?“ brüllte er und drehte sich betäubt um die eigene Achse. Seine Augen waren blutunterlaufen, und Blut lief ihm auch von der Stirn, von den Wangen, vom Hals. Frauenfingernägel sind wirklich eine gefährliche Waffe. „Timothy, du Feigling, melde dich!“ provozierte der Boxer und starrte vor sich hin. Der Alkohol, den er in so großen Mengen ge nossen hatte, mußte sich im Verlauf des Kampfes in seinem ganzen Körper verlaufen und zum größ ten Teil eine Zuflucht im Kopf gefunden haben. Das brachte mich auf eine geniale Idee. Bevor mich Budd finden konnte, schlich ich auf allen vie ren hinter die Theke, schaute mit der oberen Ge sichtshälfte hervor und rief: „Hier bin ich, Budd!“ Der Boxer drehte sich in Richtung dieser Stim me mit der Geschwindigkeit eines Tigers, der das Opfer gewittert hat. Nach dieser blitzschnellen Bewegung geriet er noch mehr ins Schwanken. Er stolperte und trat auf Alice, die soeben aufstand. „Ungezogener Trottel!“ rief Alice. Budd stieß sie weg, und das arme Mädchen fiel wieder, der Bo xer aber wandte sich in die Richtung, von wo ich gerufen hatte. Aber ich war schon am anderen Ende der Theke. „Budd, wo bist du?“ fragte ich von dort.
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Der Boxer röchelte wütend und drehte sich zu mir. Er suchte mich mit dem Blick, aber er konnte mich natürlich nicht finden. Ich war wieder dort, von wo ich zum erstenmal gerufen hatte. Hier wartete ich, bis der Boxer am anderen Ende der Theke angelangt war. Dort stieß er gegen Hanni bal und Steve, die nicht reagierten. Nur Sparks meldete sich. „Budd, gehst du spazieren?“ fragte der Dicke den Boxer. Der Boxer äußerte einen Fluch, den der Dicke mit hübschem Lächeln quittierte. „Geh nur spazieren!“ sagte er zufrieden und griff nach dem Glas. Jetzt meldete ich mich wieder. „Komm, Budd!“ rief ich. Vom anderen Thekenende kamen wieder Schimpfworte. Ich lachte befriedigt. Dieses Spiel machte mir Spaß. Aber ich wurde ernst, als neben mir plötzlich Cynthia auftauchte. „Liebster, endlich sind wir allein!“ sagte sie und legte mir die Arme um den Hals. Ich schaute mich um. Nein, niemand sah zu. Die Theke verbarg uns. Der einzige Zeuge, der junge Keeper, war damit beschäftigt, Whisky in die Gläser von Sparks und seinen Freunden zu gießen. „Oh!“ sagte ich, und ich weiß nicht, ob ich et was Klügeres hätte sagen können. Cynthias Lippen legten sich auf meine. Ich konnte nicht ausweichen. Übrigens hatte die Frau tapfer gekämpft. Ich ließ es zu, daß sie mich küß 162
te, dann nahm ich sanft ihre Arme von meinem Hals. „Es könnte jemand kommen!“ „Ich könnte für dich sterben!“ flüsterte das Mädchen und sah mich zärtlich an. Nein, nur das nicht. Ich spürte die Delikatesse der Situation und bedauerte sofort, daß ich ihrer Zärtlichkeit gegenüber so schwach gewesen war. Ich schob sie beiseite und eilte auf allen vieren die Theke entlang. Panik hatte mich ergriffen. Ret tung, Rettung! rief etwas in mir. In der panischen Flucht bemerkte ich nicht, daß mich am Ende der Theke etwas erwartete. Zwei Hände, die mich kräftig packten, machten mich darauf aufmerksam, daß ich in die Falle gegangen war. „Du hast mich doch gekriegt, Budd!“ hauchte ich. „Ja, mein Lieber!“ gellte es mir in den Ohren. Es war nicht Budd Stark. Es war noch schlim mer: Valencia. Ganz erhitzt vom eben beendeten Kampf, zer zaust, mit zerrissenem Kleid, das ihre knochige Schulter freigab, mit blitzenden Augen und im ganzen Gesicht verschmierter Schminke. „Küß mich!“ flüsterte sie und schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie nur noch das hintere Ende meines Körpers sehen. Ich hatte mich nämlich in entgegengesetzter Richtung ver flüchtigt. Aber das rettete mich nicht. Denn dort erwartete mich bereits Cynthia, in Feuer geraten durch den Kuß, zum Sterben bereit. 163
Oh, Schicksal, warum bist du so grausam. Mit der Geschwindigkeit eines Luchses warf ich mich über die Theke. „Budd, rette mich!“ rief ich. Budd rettete mich nicht. Er kletterte gerade in entgegengesetzter Richtung über die Theke, einen halben Meter von mir entfernt, und warf sich in den schmalen Raum zwischen dem Regal mit den Flaschen und dem Tresen. Wahrscheinlich hatte sein stumpfes Hirn jetzt erst begriffen, daß ich ihn an der Nase herumgeführt hatte. Ich hörte ihn fallen, ich hörte, wie zwei oder drei Flaschen zersprangen, und hörte, daß zwei Frauen kreischten, die sich des Mannes bemäch tigt hatten. „Hilfe!“ ertönte es jenseits der Barrikade. „Budd, was ist?“ meldete sich Sparks mit nasa ler Stimme. „Hilfe, die küssen mich!“ kam ein verzweifelter Schrei, und dann wurde alles still. Ich erhob mich auf die Beine und sah mich um. Giekie schlief noch fest, Hannibal und Steve eben falls. Der dicke Sparks lächelte und war bereit, sich ihnen anzuschließen. „Schnell, wir gehen!“ hörte ich dicht neben mir eine Stimme. Eine Hand zog mich kräftig fort, und dem Impuls folgend, durchbrach ich den Zu schauerkordon, flog auf die Straße hinaus und blieb vor einem kleinen roten Sportwagen, Modell 1950, stehen. „Steig ein, ehe sie uns fassen!“
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Ich setzte mich in das Auto. Der Motor begann zu brummen, und wir fuhren los. Wir? Erst jetzt sah ich mir den Fahrer an. Unter blutender Nase lächelte mir Alice zu. „Liebling!“ flüsterte sie. „Endlich sind wir allein!“ Ich seufzte und schloß die Augen. Aber ich sprang nicht aus dem fahrenden Wagen. Ich woll te möglichst weit weg von diesem verdammten Motel.
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Der Aufprall war heftig. Ich hüpfte vom Sitz und schlug mit dem Gesicht gegen die Windschutz scheibe. Meine Nase weitete sich, und Glassplitter drangen mir ins Hirn. Im Mund spürte ich warme Feuchtigkeit, sicherlich Blut. Aus der Nase floß etwas, vermutlich ebenfalls Blut. In der Brust spürte ich dann einen Stoß, von einem Balken oder etwas Ähnlichem. Die Schnauze eines riesi gen Lastwagens hielt in ein paar Daumen Entfer nung von mir. Zum Glück war meine Brille heil geblieben. Viel leicht ein bißchen verbogen, aber die Gläser hat ten den Angriff des Zehntonners überstanden. Das ermöglichte mir auch, die allgemeine Situati on zu beaugenscheinigen. Sie war nicht gerade glänzend. Von dem hüb schen roten Auto meiner – nennen wir sie so – Alice waren nur der hintere Teil plus Sitzbank üb riggeblieben. Der vordere Teil war verloren, und ich glaube nicht, daß das Mädchen ihn je wieder finden wird. Dem gegnerischen Lager war nichts passiert, was natürlich ungerecht war. Noch un gerechter war, daß der Lastwagenfahrer den Kopf aus dem Seitenfenster streckte und uns mit Flü chen überschüttete. „Blöde Anfänger, könnt ihr nicht mal so ‘ne Streichholzschachtel fahren? Wer überholt denn einen Autobus, ohne auf den Gegenverkehr zu
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achten? Am liebsten würde ich euch die Knochen zerschlagen!“ Der Rest waren ziemlich talentiert ausgewählte Schimpfworte. Ich sah Alice an, um mich zu überzeugen, wie sie auf das Verhalten dieses Grobians reagierte. Sie reagierte nicht. Sie lag weiß wie Grönland und ohne ein Lebenszeichen auf ihrem Sitz. Aus ihrem Mund rann ein dünnes Blutfädchen, und auf ihrem Kopf klaffte eine große Wunde. Groß? Ich nehme an, aber ich bin nicht sicher, denn die Verletzung war von Blut bedeckt. Jedenfalls floß viel Blut. „Alice!“ rief ich und schüttelte das Mädchen. Sie antwortete nicht. „Alice!“ rief ich lauter und rüttelte sie heftiger. Sie rührte sich nicht. „Was hat sie?“ fragte der Fahrer, der aus dem Lastwagen gestiegen war und auf unser Auto zu kam. „Sie muß eingeschlafen sein“, antwortete ich trocken. „Sicher war es ihr langweilig, und da…“ „Sie sind total verrückt!“ sagte der Mann heiser. Und blaß, denn neben uns hielt ein Polizist mit seinem Motorrad. Die Maschine lief noch, aber schon begann er Fragen zu stellen. „Was ist geschehen?“ fragte er mich. „Sie ist schuld!“ kam mir der Lastwagenfahrer zuvor. „Sie hat mit der Kiste da einen Autobus überholt und nicht mit mir gerechnet. Und jetzt… da sehen Sie, wo mein Lkw ist und wo ihr Wagen ist. Sie ist schuld!“ wiederholte er.
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Der Polizist sah sich die Lage an und nickte. Ihm war die Sache klar. Sie wäre jedem Laien klargewesen. Ich sah den Polizisten an, ich sah Alice an. Das arme Mädchen. Ich wischte mir die Stirn ab und bemerkte, daß meine Hand blutverschmiert war. Ich hielt mir das Taschentuch an die Stirn. Der Polizist stieg vom Motorrad und ging auf das verunglückte Mädchen zu. Er packte sie unter den Armen und versuchte sie aus dem Wagen zu ziehen. „Tot?“ fragte er mich. Ich hob die Schultern. Er drehte ihr den Kopf nach rechts und links und ging mit den Fingern über die Kopfwunde. Dann wollte er sie vom Sitz heben. „Timothy!“ Ich sah mir das Mädchen, ihr bleiches Gesicht, die blutlosen Lippen genauer an. „Timothy!“ flüsterten diese Lippen. Dann hoben sich zwei Arme langsam und umklammerten den Hals des Polizisten, die Finger verschlangen sich in seinem Nacken. Der Polizist sah entsetzt, was da vor sich ging, aber es gab keine Rettung für ihn. „Timothy!“ murmelte Alice zum dritten Mal, zog den Kopf des Polizisten dicht vor ihren Mund. Und sie küßte den Mann, der in Ausübung seiner Pflicht hier war. „Ich bin Ben“, sagte der Polizist verlegen und sah verstohlen die Leute an, die sich um uns ver sammelt hatten. 168
„Eine ganz gewöhnliche Gans!“ sagte der Fahrer statt eines Fluchs und kehrte in sein Lastauto zu rück. Ich schaute mich vorsichtig um. Mehrere Autos hatten zu beiden Seiten der Straße angehalten. Einige Fahrer stiegen aus, um zu sehen, was hier passierte, andere schauten aus ihren Wagen zu. Auch Kinder waren da, einige Fußgänger und Be wohner der nächsten Häuser. Ein Taxi hielt an, und ich winkte dem Fahrer. Er öffnete mir die Tür, und ich flog in das Auto, als wäre es ein Ehebett. „Schnell!“ rief ich, und der Fahrer brummte et was. Wir rasten los wie eine „X-15“. Durch das Heckfenster sah ich, wie die Gruppe auf der Stra ße sich entfernte. „Wohin?“ fragte der Fahrer. „Hotel ,Ambassador’“, sagte ich und machte es mir auf dem Sitz bequem. Bis zum Hotel dachte ich über Alice und ihre beiden Freundinnen nach. Ich nickte dem Portier und lächelte dem Liftboy zu. Beide betrachteten interessiert die Wunde auf meiner Stirn, aber als wohlerzogene Hotelange stellte ließen sie kein Erstaunen erkennen. Ich eilte über den dicken Teppich und stand endlich vor der Tür unseres Appartements. Ich trat ein. Im Wohnzimmer war es dunkel. In dem Augenblick, als auf der Straße die Neonreklame eingeschaltet wurde, erblickte ich am Fenster die schwarzen Umrisse einer Person, die sich nicht rührte. Ich zuckte zusammen. Meine Hand griff mechanisch zum Schalter. 169
„Mach kein Licht!“ hörte ich eine hohle Stimme. Meine Hand verhielt kurz vor dem Schalter. Ich hörte auf zu atmen. Wenigstens vorübergehend. „Komm her!“ Ich ging zum Fenster. Weil die Reklamebuch staben auf der Straße aufflammten und erloschen, konnte ich nicht feststellen, ob mir von dort ein Revolverlauf drohte. Der Mann rührte sich auch nicht, als ich auf zwei Schritt heran war. Ich über legte: Sollte ich ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzen oder ihm den Kopf in die Magengegend stoßen? Ich wählte das letztere, aber auch das verwarf ich, nachdem ich merkte, daß vor mir Lef ty stand und aus dem Fenster sah. „Lefty!“ sagte ich laut. Er zischte nervös und winkte ab. Ich näherte mich auf Zehenspitzen, blieb neben ihm stehen und sah zum Fenster hinaus. „Lefty“, flüsterte ich, „was beobachtest du?“ Er schwieg, die Stirn gegen das Glas gelehnt. Ich gesellte mich dazu, und nun starrten wir beide aus dem Fenster, mit dem Unterschied nur, daß er etwas beobachtete, ich dagegen nicht. Bezie hungsweise, ich sah Autos, ein paar Fußgänger, Gebäude, nur wußte ich nicht, was es wert war, mit so viel Aufmerksamkeit und solchen Sicher heitsvorkehrungen beobachtet zu werden. „Oh!“ Lefty stieß drei Flüche aus und rückte vom Fen ster ab. Ich sah neugierig ihn an, dann das Fen ster, dann wieder ihn. Auch jetzt war mir nicht klar, worum es ging. 170
Der Generaldirektor des IPB ging ans andere Ende des Zimmers und betätigte den Lichtschal ter. Kräftiges Licht bestrahlte den Raum und schlug mir in die Augen. Ich legte die Hand über die Brille und gewöhnte mich allmählich an die Helligkeit. „Lefty, was hast du da beobachtet?“
Der Lange zuckte die Schultern.
„Ist etwas geschehen?“
Er zuckte wieder die Schultern.
„Lefty, was hast du draußen beobachtet?“ frag
te ich bittend. „Nichts!“ antwortete er. Dann stützte er die Hände in seine kümmerlichen Hüften. „Und du?“ „Was ich?“ „Wo bist du den ganzen Tag?“ Jetzt war ich an der Reihe, mit den Schultern zu zucken. „Was hast du da?“ „Wo?“ fragte ich und betastete die Wunde. „Das, das“, bestätigte Lefty. „Hast du dich ge prügelt?“ „Nein.“ „Hat man dich verprügelt?“ fuhr Lefty fort. „Auch das nicht“, antwortete ich. Ich ging an den Tisch mit den Getränken und goß mir ein Glas Sodawasser ein. „Hör mal, mein Junge“, sagte Lefty ernst, „du bist den ganzen Tag verschwunden. Warum? Wo hast du dich rumgetrieben? Was hast du ge macht?“
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Ich trank das Soda aus und füllte das Glas wie der bis zum Rand. „Durst hast du auch?“ fragte Lefty ironisch. „Was hat das zu bedeuten, daß dir das Sodawas ser so gut schmeckt?“ Ich trank das zweite Glas leer und atmete zu frieden auf. „Es ist wirklich gut!“ sagte ich. „Willst du auch?“ Er winkte ab und verzog verächtlich den Mund. Er bediente sich selbst, aber nicht mit Soda, son dern mit Whisky. „Setz dich“, sagte er. Ich setzte mich. „Also, Timothy“, sagte er mit merklich resi gnierter Stimme, „jetzt sag mir, wie du den Tag verbracht hast. Wo warst du, während ich vergeb lich auf dich gewartet habe und wegen deiner Ab wesenheit die Unterzeichnung des Vertrages für eine Filmrolle absagen mußte?“ „Im Film?“ Ich sprang auf und tanzte einen tollen Twist. Ich kam nicht zu Ende, denn Lefty ergriff mich aus sitzender Stellung mit seinem langen Bein und drückte mich in den Sessel. „Wirklich im Film?“ fragte ich aus dem Sessel und schickte ihm ein paar Kußhände. „Hast du nicht gehört, daß ich nichts unter schrieben habe?“ antwortete Lefty grob. „Ich hät te es tun können, wenn du dabeigewesen wärst, aber da du lieber herumbummelst, Zeit für Dummheiten verschwendest, dich mit wer weiß
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was beschäftigst und so weiter, da ist es klar, daß ich es nicht getan habe…“ „Aber du wirst!“ In meiner Behauptung war eine starke Nuance Hoffnung. „Wo warst du?“ fragte Lefty, ohne meinen Aus ruf zu beachten. „Heute?“ Seine Augen schossen Blitze. „Heute“, sagte er in adäquatem Ton. Ich legte den Kopf auf die Sessellehne und be gann zu erzählen. So wie eine brave Tochter ih rem lieben Mütterlein erzählt: Wo sie überall war und was sie alles erlebt hat in den fünf Minuten zwischen dem Ende des Gottesdienstes und der Ankunft zu Hause. „Ich wollte mir in der Stadt eine Krawatte kau fen. Ich habe eine violette mit Goldblümchen in dem Geschäft in der Nähe des Blumenladens ge sehen, weißt du…“ „Weiter…“, drängte Lefty nervös. „Überspring die Kleinigkeiten und beschreibe nur die wichtigen Ereignisse.“ Ich breitete hilflos die Arme aus. „Aber wenn ich die Kleinigkeiten auslasse“, sag te ich, „weiß ich nicht, was übrigbleiben soll. Die Krawatte habe ich nicht gekauft, also ein wichti ges Ereignis entfällt. Mit Jacqueline hatte ich nichts.“ „Das Zimmermädchen?“ informierte sich der Lange.
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„Das Zimmermädchen“, bestätigte ich. Er gab mir ein Zeichen, fortzufahren. „Mit dem Zimmermädchen hatte ich nichts“, fuhr ich in meinen Darlegungen fort, „also wieder nichts Wichtiges. Im Zimmer habe ich in der Dun kelheit dich angetroffen und keinen Revolverhel den, also entfällt auch das. Das ist alles. Nichts von Bedeutung.“ Lefty holte tief Luft. Dann stieß er sie wieder aus. „Erzähl’ die Kleinigkeiten!“ sagte er. „Das interessiert dich auch?“ fragte ich über rascht. „Ja“, sagte er. Was konnte ich anderes tun als ihm gehorchen. Wenn er so darauf bestand. „Also“, begann ich, „zuerst wurde ich gekid nappt.“ „Was?“ Lefty sprang auf. „Ich wurde gekidnappt“, wiederholte ich. „Wie? Was? Wo? Wer?“ „Ich bohrte mit dem Zeigefinger im linken Ohr. „Ich wurde gekidnappt. Von Kidnappern. Sie brachten mich nach draußen, in die Natur, dort machten sie ein Haus ausfindig, in diesem Haus fanden sie eine Stube, und dort hielten sie mich fest. Sie fesselten mich an Armen und Beinen, knebelten mich…“ „Phantasiere nicht!“ knurrte Lefty. „So wahr ich hier sitze, ich phantasiere nicht!“ antwortete ich und zeigte ihm meine Hände. „Sieh mal, da sind noch Spuren von den Stricken!“ 174
Man sah nichts mehr. Ich hob die Hosenbeine und zeigte die Beine. Auch da sah man nichts mehr! Lefty sah mich zweifelnd an. Zum Glück fiel mir ein, daß ich den ekelhaften Lappen einge steckt hatte, mit dem ich geknebelt gewesen war. So, als Andenken. Ich zog ihn hervor und wedelte triumphierend damit vor Leftys Nase herum. „Da ist der Knebel!“ rief ich. „Glaubst du jetzt?“ „Erzähl’ weiter“, sagte Lefty. Ich sah ihn aufmerksam an und glaubte in sei nen Augen ein Aufblitzen des Zweifels zu erken nen. Wenn er nicht glaubt, dachte ich, warum soll ich weitererzählen? Ich erhob mich aus dem Ses sel und räkelte mich gähnend. „Ich geh’ schlafen“, sagte ich zu Lefty. Er drückte mich wieder in den Sessel. „Erzähl’ weiter“, sagte er. „Du glaubst mir ja doch nicht!“ beklagte ich mich. „Erzähl’ weiter!“ Ich setzte mich bequem zurecht. „Dann hab’ ich die Jungen verlassen und bin in die Stadt gefahren. Unterwegs habe ich…“ „He, he, stop!“ sagte Lefty nervös. „Du sagtest, du bist gekidnappt worden, du hast von Stricken geredet, mit denen du gefesselt warst, du hast mir einen Lappen gezeigt… Wie hast du sie verlas sen? Nur so?“ „So“, antwortete ich. „Ich habe sie überzeugt, daß es besser wäre, mich laufenzulassen, und sie haben mich befreit.“ „Du hast sie überzeugt?“ 175
„Ja, überzeugt. Glaubst du, ich denke mir das aus?“ „Keine Spur!“ sagte Lefty wenig überzeugt. „Er zähl’ weiter!“ „Dann kam ich in ein Motel“, fuhr ich nicht ganz beruhigt fort, „und traf ein paar Bekannte. Wir haben ein bißchen geplaudert, und dann kam Budd Stark…“ „Budd? Der Boxer?“ unterbrach mich Lefty. „Ja, der“, nickte ich und fuhr fort: „Budd kam, und ich habe ihn zusammengeschlagen.“ „Was hast du ihn?“ „Zusammengeschlagen“, erklärte ich. „Wen? Budd Stark?“ „Ich rede von ihm, von niemand anders!“ sagte ich wütend über seine Unaufmerksamkeit. „In Ordnung“, nickte Lefty. „Was hast du da nach gemacht? Gibt es noch ein paar Kleinigkei ten?“ „Nein“, sagte ich. „Oder eigentlich doch: Ich habe einen Autounfall erlebt, in dem wahrschein lich eine Frau umgekommen ist, die…“ „… sterblich in dich verliebt war!“ beendete Lef ty meinen Satz. „Nicht wahr?“ Ich bestätigte es. „Woher weißt du das? Gab es schon eine Son derausgabe?“ „Nein“, sagte Lefty finster. „Ich habe es ange nommen.“ „Bis ins Grab verliebt“, wiederholte ich. „Nur weiß ich nicht, ob sie tot ist oder nicht. Ich muß es in Erfahrung bringen.“ 176
Lefty stand auf. Er sah mich einige Zeit an, dann schüttelte er den Kopf. „Das machen wir morgen“, sagte er. „Jetzt schlaf dich aus. Und keine weiteren Ausflüge, kei ne Abenteuer. Verstehst du?“ „Verstehe!“ antwortete ich. „Dann gute Nacht!“ Er ging zur Tür. „Lefty!“ rief ich. Er drehte sich um, die Hand auf der Klinke. „Du glaubst mir also nicht?“ Er antwortete nicht, wenigstens nicht direkt. „Gute Nacht!“ sagte er. „Und trink keinen Alko hol mehr!“ Ich zog mich aus und legte mich ins Bett. Die ser Tag war wirklich interessant, dachte ich, und lehnte die Wange ans Kissen. Ein Glück, daß er zu Ende ist. Aber er war nicht zu Ende. Zumindest nicht für mich. Ich war wohl gerade eingeschlafen, ich weiß nicht genau, aber mir war, als sei es nicht länger als fünf Minuten her, seit ich zu Bett gegangen war, als mich plötzlich das Klingeln des Telefons weckte. Sie wissen selbst, wie unangenehm es ist, wenn einen das laute Schrillen aus dem ersten Schlaf reißt. Ich fluchte, während ich nach dem Hörer griff. „Hallo“, knurrte ich. „Timothy?“
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Ich wurde munter. Aus dem Hörer kam eine melodiöse Frauenstimme. Ich packte den Hörer fester. „Ja, hier Timothy. Wer ist dort?“ „Timothy, schlafen Sie noch nicht?“ „Nein, nein. Wer ist dort?“ „Hier ist Orchid. Erinnern Sie sich an mich?“ Oh, zum Teufel, wer hätte sich nicht an Orchid Paff erinnert. „Natürlich erinnere ich mich, Orchid. Gerade habe ich an Sie gedacht, als…“ Ihre Stimme unterbrach mich. Mir schien, als zittere sie ein bißchen. „Timothy, Sie müssen mir helfen. Es geht um Leben und Tod.“ „Um meins?“ fragte ich erschrocken. „Was?“ „Um mein Leben?“ erklärte ich. „Nein.“ Ich atmete auf. „Es geht um mich!“ hörte ich. „Was?“ Ich sprang im Bett hoch, verzog das Gesicht und zerdrückte fast den Hörer. „Wer will Sie umbringen? Worum geht es? Schnell, sagen Sie mir alles.“ „Timothy!“ „Was?“ „Kommen Sie sofort.“ „Ich? Jetzt?“ Ich sah zur Tür. „Ich dürfte nicht…äh… ich…“
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„Timothy, es geht um mein Leben!“ flüsterte Orchid. „Ich bin schon da, ich eile!“ sagte ich ent schlossen und legte auf. Im Handumdrehen hatte ich die Hose an, schlüpfte in Strümpfe und Schuhe, als mir klar wurde, daß ich eigentlich nicht wußte, wohin ich gehen mußte. Ärgerlich und hilflos kratzte ich mir den Schädel. Was jetzt? Das Telefon klingelte wieder. Mit einer Hand packte ich den Hörer und hielt mit der anderen die Hose fest, die mir auf die Knie zu rutschen drohte. „Hallo!“ schrie ich in den Hörer. „Timothy!“ antwortete meine Orchid. „Ich bin da. Beziehungsweise, ich bin schon un terwegs. Nur…“ „Wissen Sie, wohin?“ fragte Mrs. Paff. Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, gab ich beschämt zu und zog die Hose hoch, die auf die Knöchel gerutscht war. „Kommen Sie in unsere Villa!“ flüsterte Orchid. „Sie wissen, wo es ist, Sie waren auf dem Emp fang.“ Ich nickte. „Hallo, hören Sie mich?“ „Ich höre, natürlich höre ich“, antwortete ich schnell. „Also ich soll zu Ihnen kommen und…“ „Kommen Sie zum Haupteingang herein. Ich warte hinter der Villa auf Sie, am Swimmingpool, Sie wissen.“
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Ich erinnerte mich an den Swimmingpool, an die Leiche von Miriam Shea und schüttelte mich vor Kälte. „Ich komme“, flüsterte ich. „Ich ziehe mich warm an…“ „Was?“ fragte Orchid. „Ich renne!“ antwortete ich. Ihre Stimme streichelte meine Ohrmuschel. „Kommen Sie, Timothy, ich warte auf Sie. Sie sind meine einzige Hoffnung. Die einzige Ret tung.“ „ Sofort!“ sagte ich resolut und legte auf. Ich zog mir die Hose hoch und ein Hemd an. Welche Krawatte? Ich zögerte. „Timothy?“
Ich sah zum Telefon.
„Timothy!“
Es war Leftys Stimme, und sie kam aus dem
Nebenzimmer, seinem Schlafraum. „Was ist?“ rief ich. „Wer hat angerufen?“ fragte Lefty. „Ach“, sagte ich, „irgendwelche kleinen Mäd chen möchten Fotos mit Autogramm von mir.“ „Mitten in der Nacht?“ „Du siehst ja“, sagte ich. „Gute Nacht, Lefty!“ „Gute Nacht“, antwortete er verschlafen. Ich wartete ein paar Minuten, bis ich sicher war, daß er schlief. Dann zog ich mich fertig an und schlich lautlos aus dem Zimmer.
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10 „Wissen Sie, wo Herbie Paff wohnt?“ Der Fahrer nickte. „Am Sunset!“ fügte ich völlig überflüssig hinzu. Das Taxi raste schon in vollem Tempo darauf zu. Und ich zog eine Fünfdollarnote aus der Ta sche, um keine Zeit zu verlieren, wenn wir am Ziel waren. Die Straßen waren leer, nur die Nachtlokale lebten hinter geschlossenen Türen, über denen die Leuchtreklamen strahlten. Ich bangte, ob ich rechtzeitig ankam. Das Taxi flog in den Sunset, und ich faßte nach der Klinke. Ein paar Minuten später stand das Au to wie festgeschmiedet, und ich stieß an die Leh ne der Vordersitze. „Wir sind da!“ sagte der Fahrer. Ich warf ihm das Geld in den Schoß und stürzte aus dem Wagen. „Soll ich warten?“ fragte der Fahrer durch die halbgeöffnete Tür. Mit nervöser Handbewegung gab ich ihm zu verstehen, daß er fahren sollte. Nein, ich brauchte ihn nicht mehr. Der Wagen wendete und kehrte zurück. Und ich stand vor dem Zaun, der die Straße von Paffs Villa trennte. Jetzt, nachdem ich in solchem Tempo hergekommen war, rührte ich mich ein Weilchen überhaupt nicht. Das Problem war die Art des Ein tretens. Orchid hatte gesagt, ich sollte den Haupt eingang benutzen. Vielleicht war Herbie nicht zu 181
Hause. Wenn ja, durfte der künftige Hahnrei nicht wissen, daß ich angekommen war. Sie hatte von Gefahr gesprochen, die ihr drohte, also… Ich verwarf die Idee, den Haupteingang zu be nutzen. Wenn jemand lauerte, dann konzentrierte er bestimmt alle Aufmerksamkeit auf das breite Eisentor aus zahllosen Lanzen mit scharfen Spit zen. Um ihn zu täuschen, wollte ich über den Zaun steigen. So würde niemand sehen, daß ich kam, und ich brauchte keine unangenehmen Fra gen zu befürchten. Ich ging am Zaun entlang und suchte die dun kelste Stelle, die ich etwa 100 Yards vom Eingang entfernt fand. Da ich niemand bemerkte, spuckte ich in die Hände und packte die Mauer. Sie war aus Stein, oben mit verkürzten Lanzen versehen, wie sie das Eingangstor bildeten. Hinter der Mauer war eine Hecke. Für eine nicht trainierte Person wäre das Über steigen einer solchen Mauer ein Problem gewesen. Ich stieg elegant auf den Steinteil und zog mich mit den Händen hoch, bis ich die Spitzen der Lan zen erreichte. Jetzt mußte ich zuerst ein Bein über die Lanzen heben, um den Körper und das andere Bein folgen zu lassen. Ich tat es mit einer legeren Bewegung und stieß mich ab, um über die Hecke in den Garten zu springen. Schlipp! Ich fiel ins weiche Gras und betastete sofort die Hinterseite meiner Hose an der Stelle, wo mich etwas brannte. Ja, dort fehlte ein Stückchen Stoff. Ich sah es an einer Lanzenspitze flattern und un 182
terdrückte einen Fluch. Jetzt war nicht die Zeit, mich umzuziehen. Ich begnügte mich damit, den Flicken vom Zaun zu nehmen und einzustecken. Ich würde Jacqueline bitten, die Sache in Ordnung zu bringen, sie tat es sicher gern. Ich sah mir das Gebäude im schottischen Stil an. Wie still und tot es jetzt wirkte. Keine Ähnlich keit mehr mit dem Schloß jenes Tages, als ich es zum erstenmal betreten hatte. Ich lächelte. Da mals kannte ich Orchid Paff noch gar nicht, aber heute nacht… Da kamen mir Sorgen. Vielleicht ging es doch nicht um ein Stelldichein, wie ich mir einbildete. Um es zu klären: Ihren Hilferuf hatte ich als Aus rede aufgefaßt, mich nachts zu sich zu holen. Lo gisch, nicht wahr? Wie sonst konnte eine Dame, eine Frau aus der Elite Hollywoods, ihre Träume wahrmachen und einen Mann einladen, den sie vergötterte, wenn sie nicht diesen etwas abge nutzten, aber doch effektvollen Trick gebrauchte. Aber jetzt, als ich mich vor diesem stummen Pa last befand, geriet die Sicherheit, mit der ich ihren Ruf interpretierte, etwas ins Wanken. Mir fehlten das offene Fenster und die weiße Hand, die dem schönen Eroberer eine Blüte zuwarf. Keine Hand zeigte sich an keinem Fenster, keine Rose fiel mir vor die Füße. Ich erinnerte mich, daß der Ort des Stelldich eins der Swimmingpool hinter dem Haus war. Demnach bestand auch keine Möglichkeit, daß Or chid mich am Fenster erwartete.
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Ich zog die Krawatte gerade und glättete die widerspenstige Haarsträhne. Dann drückte ich energisch das Loch in der Hose zu, in der Hoff nung, daß meine weiße Unterhose nicht das Idyll stören würde, das der Vollmond der kalifornischen Nacht zauberte. Ich wählte eine rasche Melodie und ging um das Haus herum auf den Swimming pool zu. Wie ich schon bei einer früheren Gelegenheit festgestellt hatte, war Paffs Haus, Ziegel um Zie gel aus Schottland übergesiedelt, sehr groß. Ich weiß nicht, ob ich damals betont habe, daß es von Einbuchtungen und Ausbuchtungen wimmelte, von Mauern, die vorragten, und Ecken, die sich in der Dunkelheit verloren. Ich hielt mich an die Richtung, die vor ein paar Jahrhunderten ein an onymer schottischer Architekt vorgezeichnet hat te, und eilte dicht am Haus entlang. In der nächt lichen Stille hörte man meine Schritte, obwohl ich so leise wie möglich aufzutreten suchte. Vielleicht waren meine neuen Schuhe daran schuld, die zu sehr knarrten. Oder schien es mir nur so, wie es allen Verführern nach den 2000 Jahren scheint, in denen sie zu ihrer Geliebten schleichen? Es kann sein. Ich hörte auch mein Herz klopfen, und das ist sonst wirklich kein Geräusch, das Strafen für nächtliche Ruhestörung unterliegt. Schon hatte ich sechs Ausbuchtungen und sechs Vertiefungen hinter mir und noch immer nicht die Fläche hinter dem Schloß erreicht, wo sich der Swimmingpool befand. Dann blieb ich ziemlich unvorsichtig, wie ich gestehen muß, an 184
der siebenten Ausbuchtung mitten im Mondlicht stehen und bückte mich, um durch einen Druck der Faust oder wer weiß wie auf die Schuhe ein zuwirken, daß sie zu knarren aufhörten. Ich bück te mich und betastete den Schuh an der Stelle, wo er am stärksten zu knarren schien. Etwas raschelte neben mir. Oder fiel zu Boden. In noch gebückter Stellung hob ich den Kopf und erblickte einen Menschen, der aus der Finsternis hinter der Ausbuchtung hervorstürmte. Er mußte stärker als nötig mit der Hand ausgeholt und das Gleichgewicht verloren haben. Das Mondlicht ent deckte mir, daß sich in seiner Hand ein Revolver befand, und zwar der Lauf zwischen den ver krampften Fingern und der Griff in einer Lage, die geeignet war, jemand den Kopf einzuschlagen. Mir fiel ein, daß der Unbekannte vielleicht mich umbringen wollte, und ich stieß ihm den Fuß in den ungeschützten Kiefer. Er jaulte auf und sack te vor meinen Füßen zusammen. Ich beugte mich herab, um zu sehen, wer es war, obwohl ich nicht erwartete, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Ich hatte mich geirrt. Es war Steve, der Bursche, der zusammen mit Hannibal über die Liquidierung meines Freundes Morley diskutiert hatte. Ich wunderte mich. Ich hatte ihm nichts zuleid getan, und es gab keinen Grund für ihn, mich so heim tückisch zu empfangen. Außerdem schlich ich nicht zu einem Rendezvous mit Steves Frau, son dern mit der Ehegefährtin Herbie Paffs, und es war nicht taktvoll, daß sich der Bursche in fremde intime Angelegenheiten mischte. 185
Ich nahm ihm den Revolver ab und gab ihm eins mit dem Griff über den Schädel, nicht aus Bosheit, sondern um seinen Schlaf zu verlängern. Dann steckte ich die Waffe ein. Vielleicht konnte ich sie einmal gebrauchen. Nein, ich würde sie nicht brauchen, beschloß ich. Aber trotzdem war es besser, sie dem bösar tigen Burschen abzunehmen, denn er konnte viel leicht hinter der Ausbuchtung auf jemand anders warten und ihm eins über den Schädel geben. Da fiel mir ein, daß Steve vielleicht gar nicht auf mich gewartet hatte, sondern auf jemand anders, nur daß er diesmal kein Glück gehabt hatte. Ich schritt über ihn hinweg und ging weiter. Ich dach te noch eine halbe Minute an ihn und bedauerte, daß er für seine Arbeit keinen verkehrsreicheren Ort, etwa im Stadtzentrum, gefunden hatte, son dern hier in der dumpfen Stille von Herbies Palast. Nach einer weiteren Ausbuchtung, die ich für die vorletzte hielt, breitete sich Dunkelheit vor mir aus. Ich fühlte mehr als ich sah, daß ich mich hin ter dem Schloß befand, kurz vor dem Swimming pool. Ich steckte den Revolver in die Innentasche meiner Jacke und sah mich um. Es war nichts zu sehen. Der Mond hatte sich hinter dem schottischen Schloß versteckt, und ei ne weitere Lichtquelle gab es hier nicht. Ich nahm meine Brille ab und putzte sie nervös. „Timothy!“ Ein grausiger Schrei zerriß die Stille. Es war ei ne Frauenstimme, in der Angst, Schmerz, Sehn sucht zitterten. Orchids Stimme! 186
Rasch setzte ich meine Brille auf und starrte in die Finsternis. Etwas Weißes schwankte an der Stelle, wo der Swimmingpool hätte sein müssen. „Or…!“ Meine Stimme erstarb, unterbrochen von einer bläulichen Flamme und einem dumpfen Knall. Das Weiße geriet ins Wanken. Man hörte ein Klat schen, als wenn ein Körper ins Wasser fällt. Und dann wurde alles still. „Orchid!“ rief ich und rannte auf den Swim mingpool zu. Auf einmal war die Dunkelheit verschwunden. Ein Dutzend Lichter entflammten auf der Schloß treppe, im Gebüsch, in den Fenstern. Ich blieb stehen und rieb mir die geblendeten Augen. Vom Swimmingpool trennten mich noch zwan zig Schritte. Ich legte sie zurück wie in einem Lei chenzug. Dann sah ich, am Rand des Swimming pools stehend, im Wasser einen Körper in einem wunderbaren weißen Kleid und schwarzes Haar, das sich auf den Wellen wiegte. Ich sah das Ge sicht nicht, aber ich erkannte das Kleid wieder, das ich vor ein paar Tagen beim Tanzen im Arm gehalten hatte. Das Kleid der wunderbaren Or chid! „Ja, Mr. Tatcher, auch sie ist tot!“ Ein Schauder überlief mich. Ich drehte mich um und starrte stumm den Schloßbesitzer Herbie Paff an. Er stand auf der vorletzten Stufe, die Hände tief in die Jackentaschen gebohrt, und sah mich mit seinen Fischaugen an, ohne mit den Lidern zu 187
blinzeln. Er wiederholte mit hohler Stimme: „Auch sie!“ Wieder sah ich in das Bassin und stellte fest, daß das nasse Kleid die Fähigkeit verloren hatte, den Körper an der Oberfläche zu halten. Das Was ser würde in ein paar Augenblicken meine Orchid verschlingen. Mir tat die Stille weh, die eintrat. Ich fühlte das Bedürfnis, zu schreien, zu weinen, zu töten, zu zerreißen. „Mörder!“ Ich rannte auf Paff zu und zückte den Revolver. Aber sein Verhalten, seine Reglosigkeit und Ruhe, der kalte Blick und das Gesicht, in dem kein Mus kel zuckte, bremsten mich, ehe ich meine Absicht verwirklichen konnte. „Ich?“ Paff schnitt eine Grimasse. „Ja, du!“ „Beruhigen Sie sich, Mr. Tatcher!“ sagte mir der Mann der Person, die auf den Grund des Swim mingpools sank. „Sie hat sich selbst umgebracht!“ Ich war entsetzt. „Selbst?“ „Selbst!“ nickte Paff. „Ihretwegen.“ Ich schnappte mit offenem Mund nach Luft. Meinetwegen? War der verrückt? War ihm nicht klar, daß vor ein, zwei Minuten seine Frau auf grausame Weise ermordet worden war? Dieser Tod konnte wirklich nicht zu den Selbstmorden gezählt werden, das stand fest. Ich sagte ihm das. Ich sagte ihm auch, ich wüßte garantiert, daß Orchid leben wollte, daß sie 188
die Gefahr geahnt und mich deshalb mitten in der Nacht gebeten hatte, sie zu schützen, daß Or chid… Mr. Paff rührte sich endlich und faßte mich un ter. „Kommen Sie“, sagte er. „Ein bißchen Kognak könnte Ihnen nicht schaden.“ Ich stieß seine Hand weg und wandte mich zum Swimmingpool. Ich konnte nicht zulassen, daß sie im Wasser liegen blieb. Man mußte sie bergen, nachsehen, ob sie vielleicht noch atmete, ob es Hoffnung gab. Der Körper der unglücklichen Frau befand sich jetzt am Rand des Bassins. Aus dem Kleid tropfte Wasser, in dem die Lichter von der Treppe blitz ten. Zwei Männer in dunklen Anzügen, die ich bis her überhaupt nicht bemerkt hatte, beugten sich über Orchid. Einer winkte Herbie Paff zu. „Tot!“ rief er. Paffs Hand drückte meinen Arm. Seine Auffor derung, zu gehen, war jetzt energischer. „Gehen wir!“ sagte er abwesend. „Wir beide brauchen jetzt einen Schluck.“ Wie ein Kind ließ ich mich führen. Ich wunderte mich nicht mehr, als ich hinter mir die Schritte noch einer Person hörte, die wohl bis jetzt die Dunkelheit verborgen hatte. Der Krösus führte mich in den Salon. Der Mann, der zusammen mit uns eintrat, öffnete die Tür der Hausbar, nahm eine Flasche und drei größere Glä ser heraus. Er füllte sie und brachte zuerst Herbie 189
und mir je eins und kehrte dann zurück, um sei nes zu holen. „Trinken Sie!“ sagte Paff und sah mich mit sei nen leeren Augen an. „Orchid ist ermordet worden, ich schwöre es!“ rief ich. „Trinken Sie!“ wiederholte Paff und hob das Glas. Ich goß die Flüssigkeit in die Kehle und sah mich unbewußt nach der Flasche um. Der Dritte verstand. Er füllte mir das Glas, und ich leerte es wieder auf einen Zug. „Das ist klug“, konstatierte der Witwer und setzte sein leeres Glas ab. Ich sah, wie er sich in einen tiefen Sessel fallen ließ und mit langsamer Bewegung eine dicke Zi garre aus der Tasche zog. Mit derselben Ge schwindigkeit entnahm er der anderen Tasche ein kleines vergoldetes Federmesser und schnitt sorg fältig das Zigarrenende ab. Als er sie an die Lip pen führte, hielt ihm der schweigsame Mann schon das Feuerzeug hin. „Danke, Pit!“ nickte der Schloßeigentümer und stieß eine Rauchwolke aus. Dann wandte er sich an mich. „Ich verstehe Sie, Tatcher“, sagte er. „Sie sind entsetzt. Der Tod meiner Orchid schmerzt Sie. Sie sind durch die neue Tragödie aus der Fassung ge bracht, und das ist begreiflich.“ Ich bestätigte, daß ich aus der Fassung ge bracht, daß ich entsetzt war, daß mich der Tod seiner Gattin schmerzte, daß… 190
Er unterbrach mich mit einer Bewegung seiner Zigarre. „Damit wir uns klar sind: Auch mich schmerzt er. Auch ich bin entsetzt über diese Tragödie…“ Finster sah ich in sein empfindungsloses Ge sicht. „… aber ich kann es verbergen. Hier in Holly wood muß man seine Gefühle geheimhalten“, fuhr er fort. „Merken Sie sich das, junger Mann, und wundern Sie sich weder noch klagen Sie mich an, weil ich gefühllos den Tod meiner Frau hinnehme. Ich habe sie geliebt, nur sie wußte, wie ich sie ge liebt habe. Hätte ich sie nicht geliebt, hätte ich nicht aus ihr, der kleinen Garderobiere, eine der reichsten Frauen dieser Stadt gemacht. Aber Her bie Paff ist es nicht gestattet, der Welt seine Ge fühle zu zeigen.“ Er versank in Gedanken und starrte in den Rauch seiner Zigarre. Dann drehte er sich zu mir um. „Tatcher“, sagte er, „Orchid hat sich Ihretwegen umgebracht. Ich sprang aus dem Sessel. „Das ist nicht wahr.„ Herbie nickte. „Ihretwegen hat sie sich umgebracht, Tatcher!“ Sein Spiel ging mir auf die Nerven. „Hören Sie, Sie“, nahm ich das Wort, „Sie kön nen mir hier erzählen, was Sie wollen und wie lange Sie wollen, daß Sie sie geliebt haben, was kümmert’s mich! Aber eines versichere ich Ihnen:
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Orchid hat sich nicht meinetwegen umgebracht. Sie hatte nämlich gar keinen Grund.“ Der Rauch seiner Zigarre bildete regelmäßige Ringe, die langsam zur Decke hin verschwanden. „Sie hatte, und wie sie hatte. Sie war in Sie verliebt.“ „In Ordnung“, stimmte ich zu. „Sie war in mich verliebt, na und? Ist das ein Grund, sich umzu bringen? Nein, sie hatte keinen Grund, Selbst mord zu begehen!“ „Sie war in Sie verliebt!“ „Und?“ „Und? Auch Maud Winters war in Sie verliebt. Und Miriam Shea war in Sie verliebt. Und? Beide haben Selbstmord verübt.“ „Was bedeutet das? Warum vergleichen Sie sie mit Orchid?“ „Warum?“ Paff lächelte eisig. „Das müßten Sie mir erklären, und nicht ich Ihnen.“ Ich hielt es nicht mehr aus. Wenn er die Wahr heit hören wollte, bitte! „Hören Sie, Sie marinierter Fisch!“ schrie ich den mächtigsten Produzenten Hollywoods an. „Wenn die beiden Grund hatten, sich umzubrin gen, Ihre Frau hatte keinen. Sie waren unglücklich in mich verliebt, sie hatten keine Chancen, mich zu erobern, und deshalb haben sie sich umge bracht. Aber Orchid? Sie wußte doch, daß ich sie mochte, sie hatte mein Interesse genau gespürt. Sie hat heute nacht, hören Sie, Sie eiskalter Bur sche, auf mich gewartet, und sie wußte, daß ich
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kommen würde. Ich habe ihr gesagt, daß ich sie heute nacht besuchen werde. Ich, ich, ich!“ Ich geriet durch meinen Monolog außer Atem, stand vor seinem Sessel und schnappte nach Luft, während mir auf Stirn, Hals und Wangen der Schweiß ausbrach. Pit begriff, daß es am klügsten war, das ent standene Schweigen durch Füllen der Gläser zu unterbrechen. Von draußen hörte man Lärm. Der schottische Palast war anscheinend lebendig ge worden, und seine Bewohner, die bisher geschla fen hatten, begannen eilig durch die Zimmer zu laufen, nachdem sie von der neuen Tragödie er fahren hatten, zu der es hier gekommen war. Nur zu uns in den Salon kam niemand. Ich setzte mich wieder, ergriff mein Glas und wartete darauf, endlich die Reaktion von Orchids Gatten zu sehen. Sie erfolgte nicht, zumindest nicht so, wie ich geglaubt hatte. „Junger Mann“, sagte Herbie Paff schließlich und sah mich aufmerksam an, „ich kenne Sie nicht sehr gut. Ich habe etwas von Ihnen gehört, nicht viel. Mich interessieren Hollywoods Klatsch geschichten nicht, also von der Seite her interes sieren Sie mich nicht. Jetzt tauschen wir zum er stenmal länger unsere Gedanken aus. Und…“, er rückte im Sessel hin und her, „ich werde Ihnen mal was sagen!“ Ich erwartete dieses Was mit fiebriger Unge duld, bereit zum Gegenangriff. „Sie sind plötzlich berühmt geworden“, fuhr Paff fort, „und das ist Ihnen anscheinend in den Kopf 193
gestiegen. Ich weiß nicht, ob Sie verrückt sind oder nicht, aber nach Ihren Worten bin ich über zeugt, daß Ihr Verstand nicht der gesündeste ist!“ Ich sprang auf, um zu widersprechen, aber er brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Vor kurzem haben Sie mir einige Lügen er zählt. Oder, milde gesagt, ein paar Unwahrheiten. Das von der Einladung durch meine Orchid. Von Ihrer Verabredung, sie hier zu besuchen, von den gegenseitigen Sympathien, die zwischen Ihnen beiden bestanden!“ „Aber ich schwöre Ihnen…“ Herbie sah einem Rauchring nach, der zur Dek ke schwebte. „Jemand anders an Ihrer Stelle würde wahr scheinlich damit prahlen, daß ihm eine Frau gleichgültig ist, die ihm nachläuft. Sie sind ins an dere Extrem verfallen. Sie tun, als wären Sie für meine Frau entflammt gewesen, aber es ist nicht wahr. Sie denken sich eine Verabredung aus, die nicht existiert hat. Und auf Grund davon schließen Sie, daß sie keinen Grund hatte, sich das Leben zu nehmen. Aber hier irren Sie!“ „Aber…?“ Der Magnat fuhr ohne Rücksicht auf meinen Protest fort. „Um es Ihnen klarer zu machen: Ich habe Or chid geliebt und jeden ihrer Schritte beobachtet. Wenn Sie wollen, kann ich Sie informieren, wo sie sich die letzten drei Jahre aufgehalten hat, und zwar Tag für Tag, Stunde für Stunde. Mit wem sie 194
sich unterhalten hat, was sie gesagt hat, alles. Wort für Wort! Da, in meinem Safe liegen die ent sprechenden Tonbänder. Jedes Wort, wiederhole ich. Und noch etwas: Heute abend hat sie mit mir und dem Ehepaar Botton Karten gespielt. Und als sie gegangen waren, haben wir zusammen hier gesessen, in diesem Salon, sie übrigens in dem Sessel, den Sie jetzt einnehmen. Wir haben uns unterhalten.“ Ich schaute mich um. Pit nickte stumm. Ich strich mit der Hand über meine Sessellehne. „Ja, genau dort. Sie trug das weiße Kleid, das Sie eben gesehen haben. Schlecht gelaunt, unter Alkoholeinfluß. Und sie hat es mir gestanden. Al les!“ „Was hat sie Ihnen gestanden?“ „Alles. Daß sie in Sie verliebt war, daß Sie sie nicht lieben. Daß sie es nicht ertragen könne!“ „Das ist eine Lüge!“ rief ich. „Pit“, wandte sich Paff an seinen Mann, „bring mir die Tonbandaufzeichnung des Gesprächs von heute abend. Schnell!“ Ich glaubte zuerst meinen Augen nicht, als ein Tonbandgerät auf dem Tisch erschien und als Pit die Schachtel mit dem Band brachte, und danach meinen Ohren, als ich die Stimmen von Orchid und Herbie hörte, ihr Gespräch über mich, ihr Ge ständnis. „… ich liebe ihn, Herbie, ich liebe ihn!… Ich kann mir nicht helfen, obwohl er mich durch seine ab weisende Haltung verletzt… Ich weiß nicht…“
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Ich konnte nicht weiter zuhören, hielt mir die Ohren mit beiden Händen zu und bat Herbie Paff und Pit, mit der Tortur aufzuhören. „Eine halbe Stunde nach diesem Gespräch hörte ich einen Schuß und den Fall eines Körpers in den Swimmingpool“, sagte Paff, als der Apparat fort gebracht worden war. „Ich wußte nicht, daß sie das beabsichtigte. Ich konnte sie nicht daran hin dern, glauben Sie mir.“ Seine Stimme erstickte. Die Stimme dieses ge fühllosen Menschen, der niemals seine Empfin dungen zeigte, brach, verlor die Kraft, diese trau rige Beichte zu beenden. Ich sah ihn gerührt an. Dann erhob ich mich und reichte ihm die Hand. „Tut mir leid, Mr. Paff“, sagte ich. Wir schüttelten uns die Hand. Der Magnat war wieder Herr seiner selbst. „Danke, Timothy!“ sagte er. „Und… wenn Sie mal Zeit finden, kommen Sie in meinem Büro vorbei. Wir könnten irgendeinen Vertrag abschlie ßen.“ Ich verneigte mich vor Herbie Paff, nickte Pit stumm zu und verließ den Salon. Auf dem Gang traf ich ein paar fremde Leute, Männer und Frau en, aber ich sprach mit keinem. Ich bog nach links ein, weil ich annahm, daß dort der Ausgang war. Aber ich erstarrte, als ich in einer Ecke den dicken Jonathan Sparks sah, der sich mit dem Bleichge sicht, Mr. McMaster, unterhielt. Die konnte ich ge rade gebrauchen, zum Teufel.
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Ich stürzte in entgegengesetzter Richtung, durchquerte einen Gang und geriet in einen klei nen Raum, wo sich ein Mädchen den Strumpf be festigte, aber trotzdem verließ ich diesen Raum, wandte mich nach rechts, dann eine Treppe hin auf, durch zwei symmetrische Zimmer und ge langte wieder in einen Gang. „Links oder rechts?“ fragte ich mich halblaut. Von links waren Stimmen zu hören. Ich rannte nach rechts und befand mich auf einmal auf der Treppe, vor der der Swimmingpool im Licht aus dem Palast schimmerte. Mir wurde schwarz vor Augen. Am Swimmingpool war niemand mehr. Ich rieb mir kräftig die Stirn und raste die Treppe hinun ter, wobei ich den Kopf von dem Ort abwandte, wo sich Orchid befunden hatte, als ich sie das letztemal sah. Die arme Orchid. Ich ging auf dem Hauptweg ums Haus herum und überlegte. Wer hat sich den geschmacklosen Scherz er laubt, mich in das Haus der Frau zu holen, die mich liebte und nicht wußte, daß auch ich sie lieb te? Wer? Ich stieß auf einen Menschen, der um das Schloß schlich. Es war nicht Steve, wie ich sogleich feststellte, und er war nicht bewaffnet. Er war auch nicht gefährlich, zumindest für mich. „Timothy!“ sagte der Mensch. „Oh, Morley!“ atmete ich auf. „Du bist das!“ „Ich bin’s“, antwortete mein Freund. „Was machst du hier?“ 197
„Nichts“, sagte ich. „Ich geh’ grade weg.“ Morley setzte sein Lächeln Nr. 3 auf. „Und ich komme gerade!“ sagte er. Ich packte ihn resolut am Arm und zog ihn hin ter mir her. „Laß das!“ sagte ich. „Komm mit.“ Morley war überrascht. „Komm“, drängte ich. „Ich erzähl’ dir alles! Du wirst etwas Schreckliches zu hören bekommen. Außerdem gibt es hier Leute, die dir nichts Gutes wünschen!“ Mein Freund sah mich erstaunt an, dann folgte er mir. Wir gingen zum Haupteingang, in dessen Nähe mein schwarzer „außer Serie“ stand. Ich stieg ein und setzte mich ans Lenkrad. Morley nahm neben mir Platz. Er hob die Handschuhe auf, die auf seinem Sitz lagen, und hielt sie mir unter die Nase. „Deine?“ Ich schüttelte den Kopf und schaltete den Motor ein. Kurz darauf jagten wir bereits den Sunset hinab. Morley begann mich über die Gründe der seltsamen Art meines Weggangs aus Paffs Villa auszufragen, aber ich antwortete ihm kurz, wir würden bei mir im Hotel über alles sprechen. Ich fühlte das unüberwindliche Bedürfnis, Lefty zu se hen. Bei ihm war ich sicherer, das fühlte ich. Niemals war mir ein Hotellift so langsam vorge kommen wie in dieser Nacht. Endlich erreichten wir den zweiten Stock, wo sich mein und Leftys Appartement befanden. Fast im Laufschritt öffnete ich die Tür und flog durch das gemeinsame Zim 198
mer in den Schlafraum meines Beschützers. Ich machte Licht und blieb verblüfft stehen. Lefty war nicht da. Sein Bett war nicht ge macht, es verriet, daß der Besitzer nur einen Teil der Nacht darin verbracht hatte. Ich fand ihn auch nicht im Bad. Da kehrte ich zu Morley zurück, der im Wohnzimmer in einem Sessel saß und mir neugierig zusah. „Er ist nicht da!“ sagte ich, obwohl das auch Morley klar sein mußte. „Komm in mein Zimmer, wir trinken etwas und unterhalten uns, bis Lefty zurückkommt.“ Ich hoffte im Grunde meines Herzens, daß ich ihn vielleicht in meinem Schlafzimmer finden wür de, aber ich irrte mich. Lefty war verschwunden. Statt seiner befand sich hier eine junge schöne Dame. Sie lag auf dem kostbaren Teppich dicht an der Tür, so daß ich über ihren Körper stolperte, als ich eintrat. Mit weitaufgerissenen Augen sah ich den Blut fleck auf ihrer Brust an.
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Ein Eisbeutel lag auf meinem Kopf. Ich saß im Bett, gegen fünf bis sechs Kissen gestützt, und starrte vor mich hin. Mir tat der Kopf weh, und der Mund war ganz trocken. Die Sonne stand schon hoch und bestrahlte die Stadt. Im Zimmer war sonst niemand. Die Polizi sten waren gegangen und hatten Mabel Morris mitgenommen. Der Arzt, der das Mädchen unter sucht hatte, war ein Weilchen bei mir geblieben, und es war in erster Linie ihm zu verdanken, daß man mich relativ schnell zu mir brachte. Auch Morley war gegangen. Er hatte sich mit Burton Hinnes im Nebenzimmer ein Weilchen unterhal ten. Leider hatte ich von hier kein Wort verstehen können, vielleicht deshalb, weil Chet und die übri ge Pressemafia mehr von mir wissen wollten, als ich wußte. Und als sie wieder ins Zimmer kamen, benahmen sich sowohl Morley als auch Burton ir gendwie seltsam. Im Gespräch mit mir war In spektor Hinnes nicht mehr so liebenswürdig wie früher, und er fragte auch nicht mehr mit der ihm eigenen hübschen Vornehmheit nach meiner Mei nung über die Premiere des neuen Billy-WilderFilms. Ich fragte ihn mehrmals, woher diese Än derung kam, aber er vermied es geschickt, mir zu antworten, er blieb vielmehr bei seinen Fragen, die im rein dienstlichen Polizeijargon formuliert waren. Morley war freundlicher, aber in seinem Blick lag ein seltsames Blitzen, das mich auf den 200
Gedanken brachte, auch unsere Freundschaft sei irgendwie beeinträchtigt. Trotzdem klopfte er mir auf die Schulter und zwinkerte mir zu, als er sich verabschiedete. Lefty war noch immer nicht da, und das machte mir Sorgen. Lefty war der Mensch, der mich beru higen konnte, vielleicht der einzige, und gerade er war jetzt abwesend. Vielleicht war auch ihm etwas zugestoßen? Es klopfte an die Tür. „Darf ich?“ In der halbgeöffneten Tür erschien der hübsche Kopf des Zimmermädchens. Ein schön geformtes Bein in einem Schuh mit sehr hohem Absatz betrat das Zimmer und fesselte meinen Blick. „Was gibt’s, Jacqueline?“ „Brauchen Sie etwas, Mr. Tatcher? Und wie geht es Ihnen?“ „Gut, Jacqueline! Besser.“ „Brauchen Sie mich?“ fragte das Mädchen und lächelte kokett. „Leider bin ich jetzt… hm! Vielleicht einen Fruchtsaft.“ „Wirklich einen Fruchtsaft?“ staunte sie. „Ja“, bestätigte ich und griff nach dem Eisbeu tel, der einen Fluchtversuch von meinem Kopf un ternahm. „Sofort, Mr. Tatcher!“ lächelte Jacqueline und verschwand. Fahren wir fort. Ich glaube, ich bin bei Lefty stehengeblieben.
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Ja, so ist es. Also, wie ich schon sagte, Lefty fehlte mir. Gerade jetzt war er nicht da, wo ich das unbeschreibliche Bedürfnis hatte, mit einer vertrauten Person Gedankenaustausch zu pflegen. Ich hätte es auch mit Morley tun können, aber er war gegangen. Inspektor Burton Hinnes wäre si cherlich auch die geeignete Person gewesen, aber er… er hatte begonnen, sich mir gegenüber selt sam zu verhalten, das sagte ich schon. Und mit ihm war ich eigentlich auch nicht so intim, daß ich ihm entdecken konnte, welche Ideen mir durch den Kopf gingen. Und sie gingen, ich schwöre es. Etwas war nicht in Ordnung. Das mit diesen Selbstmorden der Mädchen. In Ordnung: Maud Winters hatte sich meinetwegen umgebracht. Auch Miriam Shea hatte sich meinetwegen umge bracht, ich stimme zu. Aber daß auch Mabel Mor ris sich umgebracht hatte, weil sie in mich verliebt war, das wollte mir nicht in den Kopf. Ich hatte sie tatsächlich nie im Leben gesehen und ihr noch weniger Gelegenheit gegeben, sich in mich zu verlieben. Inspektor Burton Hinnes hatte mir selbst gesagt, man habe anhand des Busfahr scheins in ihrer Handtasche festgestellt, daß das Mädchen am selben Abend in Hollywood einge troffen war, und man habe auch den Taxifahrer ausfindig gemacht, der sie zum Hotel gebracht hatte. Er behauptete, daß er sie an der Busstation aufgenommen hatte. Also war diese Mabel direkt vom Bus hierher ins Hotel gekommen, hatte mein Zimmer betreten und hier nichts Gescheiteres an 202
zufangen gewußt, als sich das Leben zu nehmen. Anscheinend war sie nie zuvor in Hollywood ge wesen, zumindest nicht in der Zeit, seit ich hier war. Sie sehen selbst, daß die Unglückliche wirk lich keine Gelegenheit hatte, mich kennenzulernen und noch weniger einen Grund, sich meinetwegen umzubringen. Der Tod von Mabel Morris tat mir weh. Sie war in der Tat ein sehr schönes Mädchen, und schöne Mädchen haben ohnehin eine starke Wirkung auf mich. Außerdem war sie schon die dritte in der Serie, und das gab mir zu denken. Die dritte? Lie ber Himmel, die vierte! Da war noch Orchid, die durfte ich nicht vergessen. Auch das mit Orchid verstand ich absolut nicht. Ich hörte noch immer ihre Stimme, die mich tele fonisch aufforderte, zu ihr zu kommen. Sie hatte mich beschworen, mich zu beeilen, denn es ginge um Leben und Tod. Jetzt noch hallte mir dieser schmerzliche Ruf der schönen Frau in den Ohren, in die ich (außer Giekie) verliebt war. Und ich hät te schwören, ja sogar wetten mögen, daß es ihre Stimme gewesen war, obwohl mir Herbie hatte beweisen wollen, daß sie zur selben Zeit mit ihm und ihren Gästen Karten gespielt hatte. Hieß das, daß mich jemand anders angerufen und versucht hatte, mich mitten in der Nacht in den Garten von Paffs Villa zu locken? Wer? Und warum? Jetzt fiel mir ein, daß mich dort in der Finsternis hinter einer Ausbuchtung ein Schlag mit dem Re volverknauf erwartet hatte. Es war Steve, der vor 203
Sehnsucht brannte, mich unschädlich zu machen. Er wollte mich nicht ermorden, das war klar, denn er war bestimmt nicht so ungebildet, um nicht zu wissen, wozu ein Revolver dient und wie man ihn in einzelnen Fällen gebraucht. Demnach hatte mich jemand in Paffs Park gelockt, und die Moti ve, die ihn dazu trieben, waren bestimmt nicht die edelsten. Daß ich dem Schlag ausgewichen war, verdankte ich einem Zufall, eigentlich dem knar renden Schuh. Und dank diesem Schuh hatte ich auch dem Selbstmord von Orchid Paff beige wohnt, die sich am Rand des Swimmingpools we gen des Mannes das Leben nahm, der in Wirklich keit in ihre Arme eilte. Ironie! Vier! Vier schöne. Frauen, vier Selbstmörderin nen. Und alle meinetwegen. Trotzdem war hier etwas nicht in Ordnung. Ich sah mich im Spiegel an, demselben, den mir einmal Lefty unter die Nase gehalten hatte, als er mir beweisen wollte, daß sich schöne Mäd chen meinetwegen nicht umbringen konnten. Wirklich, wenn ich objektiv heranging und da von abstrahierte, daß es sich um mich persönlich handelte, kam es mir zweifelhaft vor, daß sich ein schönes Mädchen, schon gar eine, die alles hatte – Ruhm, Geld, einen Mann oder Liebhaber –, sterblich in dieses Gesicht verlieben konnte. Gut, ich dachte mir den Eisbeutel weg, der selbst Gre gory Peck ein dummes Aussehen verliehen hätte, aber auch ohne ihn und mit besser frisiertem Haar wirkte das, was mich aus dem Spiegel anschaute, keineswegs wie ein Magnet für Frauenherzen. 204
Vielleicht eher wie ein Reklamefoto: wie jemand vor der Anwendung der modernsten Methode für die Aneignung von Allgemeinbildung aussieht. Und das war sicherlich nicht das, wovon junge Mädchen träumten, und noch weniger das, worein sich reife Frauen verliebten. „Darf ich?“ Wieder war Jacqueline im Zimmer. Sie brachte ein Glas Fruchtsaft, und ich staunte, daß bei die sem Hüftschwenken die Flüssigkeit nicht aus dem Glas lief. Jacqueline trat ans Bett und beugte sich nieder, um mir den Saft zu reichen, wobei sie mir 84 Prozent ihrer Brüste zeigte. „Geht es?“ fragte sie lächelnd. Meine Hand zitterte, und ich verschüttete ein bißchen Saft auf die Bettdecke. Das Mädchen lä chelte und nahm mir das Glas ab. Sie setzte sich neben mich aufs Bett, faßte mich um den Hals und näherte meinen Kopf dem Glas. „So ist es leichter!“ flüsterte sie, und ich bestä tigte es durch ein seltsames Geräusch, das meiner zusammengepreßten Kehle entfuhr. Die Hand, aus der sie mir das Glas genommen hatte, blieb unbe schäftigt, und ich legte sie vorsichtig auf ihr Knie. „Sehen Sie, wie schön es jetzt geht!“ lachte Jacqueline. Wirklich glitt meine Hand schön über ihren Schenkel. Ich kann mich einfach nicht von der schlechten Angewohnheit des raschen Austrinkens befreien. Auch jetzt verfluchte ich mich, als ich durch die beschlagenen Brillengläser den Boden des Glases erblickte. 205
„Alle!“ stellte Jacqueline fest. Ich bestätigte kläglich. Das Mädchen war nämlich bereits aufge standen und sah mich fröhlich an. „Mehr!“ sagte ich und schaute ihre linke Hüfte an. „Sofort!“ versprach sie und ging auf die Tür zu. Das Dreieck des Höschens zeichnete sich jetzt hübsch ab. Ich starrte noch eine Zeitlang die Tür an, die sich hinter Jacqueline geschlossen hatte, pfiff zu frieden und hörte dann auf, weil mir einfiel, daß ich noch vieles durchdenken mußte. Ich hob wie der den Spiegel vors Gesicht und sah mich er staunt an. So logisch mir eben noch erschienen war, daß sich kein Mensch in so eine kurzsichtige Schnauze verlieben konnte, so zufrieden strahlten meine Augen jetzt. Jacqueline war eben doch ein großartiges Mädchen. Und gescheit. Ich mußte sie einmal nachts rufen und um ein Glas Obstsaft bit ten. Oder Alkohol. Ja, eine Flasche Champagner für uns beide. Ich glaubte nicht, daß sie mir wi derstehen konnte, wenn sie ein bißchen getrun ken hatte. Haha, Timothy, als könnte dir die Sa che jetzt nicht gelingen. Die Kleine frißt schon aus der Hand, das ist klar, haha. Aber… hm, mir schien, als ginge es hier um den Ruhm. Und ums Geld, denn das Mädchen setzte sicherlich voraus, daß jemand, der in so einem Appartement lebte, Geld wie Heu hatte. Und ich… Ich schüttelte traurig den Kopf und machte mich wieder an die Ausarbeitung der Alternative,
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daß sich normale Mädchen unter normalen Um ständen in mich nicht verlieben können. Wenn es so war, dann verbarg sich hinter all dem etwas. Lefty hatte mir seinerzeit eine Andeu tung gemacht, und dieser Wurm nagte zeitweilig an mir, obwohl ich es Ihnen bisher noch nicht ge standen habe. Sie erinnern sich an die Nacht, als wir nach dem Selbstmord von Miriam Shea aus Paffs Schloß zurückkehrten? Hier, in diesem Zim mer, hatte Lefty mich verdächtigt, Miriam ermor det zu haben. Hm, natürlich hatte ich nicht, das ist auch Ihnen klar. Aber damals, und besonders jetzt nach den neuen Leichen in meiner Nähe, ge riet das Wort Mord sehr oft in meine Gedanken und störte ihren Gang. Es betraf nicht den Tod von Maud Winters. Ich glaube nicht, daß jemand Miriam ermordet hatte, oder genauer ausgedrückt, ich lasse eine solche Möglichkeit höchstens mit 1:8 zu. Aber was Or chid betraf und noch mehr diese Mabel? Im Spiegel erschienen auf dem Gesicht Timothy Tatchers die charakteristischen Falten um den Mund. Die Augen zusammengekniffen, die Nase gekraust, offenbar war der Mann zu einem Schluß gekommen. Aber wenn jemand schöne Frauen aus eigenen Motiven ermordete und sie in meine Nähe legte, um die Spuren zu verwischen? Die Polizei und die Öffentlichkeit hatten sich schon daran gewöhnt, daß sich unbekannte Mädchen wegen Timothy Tatcher das Leben nahmen. Warum sollte ich nicht – so überlegte wohl der Mörder – meine Ar 207
beit erledigen und dann Timothy Tatcher mein Opfer ins Zimmer schieben? Eine sehr einfache Sache, denn Timothy Tatcher ist nicht ständig im Hotel. Und sauber, denn Polizei und Presse wür den automatisch auch dieses Opfer zu den Selbstmörderinnen zählen, die unglücklich in die sen Verführer verliebt waren. Die Idee war wirk lich nicht schlecht. Zum Teufel, sie war ausge zeichnet. Ich sprang im Bett hoch und schlug mit der Faust auf die Decke. Ich schrie leise auf, denn ich hatte das eigene Knie getroffen, aber das ver nebelte meine Schlußfolgerungen nicht. Also konnte man künftig noch viele neue Leichen in meiner Nähe erwarten. Die Tür öffnete sich langsam. Niemand hatte geklopft. Niemand trat ein. Ich spürte, daß sich mein Haar sträubte. Dann erschien ein Bein. Ein weibliches. Danach erblickte ich einen im Ellenbo gen seltsam verkrampften Arm. Schließlich er schien Jacqueline, ein Tablett mit mehreren Glä sern Fruchtsaft in den Händen. „Darf ich?“ fragte sie fröhlich. Ich atmete tief auf, nickte wütend, worauf sie ihre ohnehin großen Augen noch aufriß. „Setzen Sie das hier ab!“ sagte ich. „Und lassen Sie mich allein.“ Jacqueline schürzte beleidigt die vollen Lippen. Ziemlich geräuschvoll setzte sie das Tablett auf den Nachttisch neben das Telefon. Aus jedem Glas liefen ein paar Tropfen Saft, aber sie ent schuldigte sich nicht. Sie sah mich schief an und warf stolz das Haar zurück. 208
Das Telefon klingelte. Ich griff nach dem Hörer und stieß dabei gegen Jacquelines Hand. Eine hal be Stunde früher hätte ich die Gelegenheit ausge nützt. Jetzt zuckte ich zurück, und Jacqueline heb den Hörer ab. „Sie werden verlangt!“ sagte sie sachlich.
„Ich? Von wem?“
Ich gab ihr ein Zeichen, daß ich nicht wünschte,
den Hörer zu übernehmen. „Irgendein Hunk“, sagte das Zimmermädchen. „Ich glaube, er hat Hunk gesagt.“ „Hunk? Ah, Hunk! Geben Sie her!“ „Was ist, Hunk?“ meldete ich mich. „Sind Sie es, Mr. Tatcher?“ klang es aus dem Hörer. „Ja.“ „Hier Hunk.“ „Ja. Was ist, mein Junge? Wie gehen die Ge schäfte?“ „Schlecht, Mr. Tatcher“, antwortete Hunk. „Und Südamerika?“ erkundigte ich mich inter essiert. „Ach!“ Ich lächelte. Ich wußte, daß Hunk resigniert mit der Hand abwinkte, in der sich noch das Klapp messer befand. Und neben ihm stand sicherlich Fy und nickte traurig. „Mr. Tatcher!“ begann Hunk wieder.
„Was gibt’s?“
„Haben Sie… äh…“
„Was soll ich haben?“
„Haben Sie einen Vertrag unterschrieben?“
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Ich schüttelte den Kopf und sah Jacqueline an, die sich nicht gerührt hatte. Jetzt erst entfernte sie sich vom Bett, wobei ihr hübsches Gesicht eine Grimasse schnitt. „Nein“, sagte ich zu Hunk. „Nicht?“ „Nein.“ „Also, es lohnt sich für uns noch nicht…?“ Ich lachte, denn ich hatte begriffen, was der Junge meinte. „Vorerst nicht“, sagte ich. „Hm“, machte Hunk traurig. „Es ist etwas in Aussicht“, versuchte ich ihn aufzumuntern. „Wirklich?“ Seine Stimme verriet Hoffnung. Vielleicht blitzte in seinen Gedanken eine Vision von Rio de Janeiro auf. Oder von Buenos Aires, wer weiß. „Herbie Paff hat mir was versprochen. Und Lefty arbeitet auch an der Sache.“ „Lefty?“ Der Junge war enttäuscht. „Ja, er auch.“ „Dann wird nichts daraus, Mr. Tatcher“, versi cherte mir Hunk. „Aber wennschon. Wir melden uns wieder. Ich hab’ schon ein paarmal angeru fen. Ich rufe wieder an, und Sie werden so nett sein, uns zu informieren, Fy und mich. Tun Sie das?“ „Auf jeden Fall, Hunk. Aber, sag mir…“ „Was möchten Sie wissen, Mr. Tatcher?“ „Warum glaubst du, daß Lefty…? Daß nichts daraus wird…?“ 210
Hunks Stimme war voller Zorn. „Mir scheint, und Fy ebenfalls, daß er Sie an der Nase herumführt, dieser Lefty. Das ist ein komi scher Typ, glauben Sie mir. Es würde mich nicht wundern, wenn er jemand um die Ecke brächte, nur um die Piepen einzustecken. Nicht für seine Klienten, ich versichere es Ihnen. Aber das ist nur unsere Meinung, Mr. Tatcher, und Sie…“ „Ja, ja, Hunk!“ „Auf Wiedersehen, Mr. Tatcher, und geben Sie uns Bescheid, wenn Sie den Vertrag unterschrei ben. Einen möglichst fetten, damit wir auch diese Formalität erledigen können…“ „Auf alle Fälle, Hunk. Dann sprechen wir über die Einzelheiten. Auf Wiedersehen. Und grüße Fy.“ „Auf Wiedersehen, Mr. Tatcher.“ Das war Fys Stimme. Ich legte lächelnd auf. Die lieben Kleinen. Jacqueline war zufrieden, als sie endlich ein Lä cheln auf meinem Gesicht sah. „Eine gute Nachricht?“ fragte sie. Ich lachte und bestätigte es. „Ein Vertrag? Ein Produzent?“ Sie war neugierig, diese Jacqueline. „Nein“, antwortete ich. „Kidnapper.“ Sie riß die Augen auf. Aber sie beruhigte sich, als ich ihr das Hinterteil tätschelte. „Und jetzt ‘raus!“ sagte ich. Sie verzog das Gesicht, aber sie ging. Von der Tür schickte sie mir ein verführerisches Lächeln zu.
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Die Kinder hatten mir gute Laune gemacht. Es war rührend, mit wieviel Sorgfalt sie ihre erste Tat vorbereiteten. Hunk und Fy! Unsere Jugend ist wunderbar. Die Nation kann stolz sein, das kann sie wirklich. Seltsam, sie hatten eine schlechte Meinung von Lefty. Vielleicht, weil er mir immer noch keinen guten Vertrag beschafft hatte? Komischer Typ, hatten sie gesagt. Der auch einen um die Ecke bringen würde, um die Piepen einzustecken… Ha ha, goldige Jungen! Um die Ecke bringen? Ich wurde ernst. Lefty ein Mörder? Aber nein, das waren Dummheiten. Ich würde doch nicht glauben, was sich zwei Jungen ausgedacht hatten, die kaum den kurzen Hosen entwachsen waren! Aber… Das Mißgeschick ist, daß in mir immer ein Wurm des Zweifels nagt. Übrigens störte mich nichts, jetzt in Ruhe auch diese Möglichkeit zu überlegen. Objektiv und kaltblütig. Ich stand auf und ging im Pyjama und barfuß zum Tisch, wo ich ein Stück Papier fand. Aus der Jackentasche nahm ich einen Füllfederhalter und kehrte so bewaffnet ins Bett zurück. Das Papier legte ich auf den Spiegel und be gann so zu schreiben: 1. Lefty ist nach dem Tod von Maud Winters aufgetaucht. Bis dahin hat er nichts von mir gewußt. 2. Er hat mich unter seine Fittiche genommen. Warum? 212
3. Um mich zu plazieren und um selbst Geld zu verdienen. (Piepen, hatten die Jungen ge sagt.) 4. Er hat mich aufs Paffs Empfang mitgenom men, wo das mit Miriam Shea passierte. 5. Als M. sich umbrachte, war Lefty nicht bei mir. 6. Er kam zu mir, als M. bereits tot war (das wußte man zu dem Zeitpunkt noch nicht). 7. Er hat mich beschuldigt, der Mörder zu sein (interessant). 8. Im Fall von Orchid hat er ein Alibi. Er lag im Bett, als ich wegging. 9. Der Fall Mabel Morris? Da hat er kein Alibi. Im Gegenteil, er war hier. Grauenhaft! 10. Hat er das Mädchen in meinem Namen emp fangen? Was hat er mit ihr gemacht? 11. Als ich Mabel Morris fand, war er nicht da. Er war verschwunden!! 12. Auch jetzt ist er nicht da. Verdächtig!!! Ich setzte noch ein Ausrufezeichen hinter „ver dächtig“ und betrachtete entsetzt das Resultat meiner Analyse. Was hatte ich gemacht? Lefty war ja… Wirklich unglaublich! Ich hatte das als ein ver gnügliches Spiel begonnen und von vornherein jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß Lefty… hm… der Mörder sein könnte, aber jetzt… Ich las die zwölf Punkte noch einmal, noch zweimal, noch zehnmal Wort für Wort durch. Dann legte ich das Papier beiseite und streckte mich im Bett aus. Ich dachte, ich würde es schaf 213
fen, durch intensives Starren auf einen Punkt an der Decke mich zu beruhigen und kaltblütig die entstandene Situation zu analysieren. Es ging nicht. Der Gedanke, daß mein Beschützer der Lie ferant meiner angeblichen Opfer war, hatte mich gepackt wie ein Alptraum. Ich sprang aus dem Bett und ging ans Fenster, öffnete es und atmete mit tiefen Zügen die frische Luft ein. Ein paar Mi nuten blieb ich am Fenster stehen. Es tat mir gut. Auf einmal spürte ich einen Luftzug. Und die Gar dinen am Fenster gerieten in Bewegung und ver suchten, auf die Straße zu flüchten. „Und jetzt werden wir beide abrechnen!“ sagte jemand hinter mir. Ich drehte mich um. In der Tür stand nicht Lef ty. Es war Budd Stark mit mehreren Pflastern auf der Stirn und Schrammen im Gesicht. Er schritt langsam auf mich zu, grinste und ballte die Fäu ste. Ich sah auf die Straße, dann Budd an, und da nach entschloß ich mich. Ich kletterte auf das Fensterbrett und stieß mich ab. „Es ist besser so!“ dachte ich, während ich stürzte.
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Mir sind diese Dinge nicht so geläufig, aber ich glaube, der Nobelpreis wird nach falschen Kriteri en verliehen. Dichter, Mathematiker und die, die sich mit Physik und Chemie herumplagen, be kommen ihn. Noch niemals bisher, soweit ich weiß, ist der Nobelpreis der Person verliehen wor den, die die Leinenmarkisen über Hoteleingängen erfunden hat. So eine Markise aus festem Stoff rettete mir das Leben. Mein Sprung aus dem zweiten Stock hätte nach allen Regeln böse für mich enden müssen. Es wä re im Grunde ewig schade, denn erstens wäre dann der Roman auf dieser Seite zu Ende, und zweitens hätte niemand erfahren, ob hinter dem Tod von Mabel Morris etwas Schmutziges steckte, und mir schien, daß es da steckte. Deshalb glaube ich, daß auch Sie den gespannten gestreiften Ge weben Anerkennung zollen und als öffentliche Meinung auf die alten Männer einwirken werden, die den Nobelpreis verteilen, damit im nächsten Jahr nicht wieder der Erfinder der erwähnten Mar kisen vergessen wird. Das Tuch, auf das ich fiel, war fest gespannt. Ich sprang ein wenig in die Höhe und tauchte wieder in die rotgelben Streifen, dann klatschte ich wie ein nasser Lappen auf das Pflaster. Der Aufprall auf den Asphalt war nicht heftig, vergli chen mit dem Aufprall auf das gespannte Tuch. 215
Aber beides war eigentlich ein rechter Genuß im Vergleich mit einem direkten Sturz auf den As phalt aus der Höhe des zweiten Stockwerkes, so wenigstens, wie ich mir die Sache vorstelle. Alles in allem fiel es zum besten aus. „Oh!“ schrie eine Dame mit einem Blumen strauß am Hut auf, als sie vor ihren vollen Bein chen einen seltsamen Körper erblickte, der aus heiterem Himmel gefallen war. „Der Mann hat sich umgebracht!“ konstatierte ihr Begleiter und blieb stehen. „Nein!“ antwortete ich von unten. Ich streckte zuerst Arme und Beine und stellte fest, daß sie unversehrt waren. Dann rückte ich die Brille zu recht und strich mir die Frisur glatt. Danach erhob ich mich, zwar unter Schmerzen in Kopf und Kör per, aber ich erhob mich. Es war so wunderbar, auf dem harten Asphalt auszuschreiten. Ich schwankte ein wenig, und ei nem Uneingeweihten hätte es so vorkommen können, als tanzte ich einen langsamen Twist. Aber ich bewegte mich, das war die Hauptsache. Um mich versammelte sich eine Gruppe Teena ger. „Freundchen“, sagte der größte, „du weißt wohl nicht, daß es im Hotel einen Lift gibt?“ „Er muß ein Astronaut sein“, fügte ein anderer hinzu. „Er ist es so gewöhnt.“ „Oder ihr Mann ist gekommen!“ kicherte ein dritter.
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„Timothy!“ rief ein vierter; aber nicht aus dieser Gruppe, sondern aus einem Auto, das unweit meines Landeplatzes parkte. Ich drehte mich zu dem Auto um und entdeckte darin Jonathan Sparks. Er lachte natürlich. Ich segelte auf seinen luxuriösen „Chevrolet“ zu. „Ich bin’s!“ nickte ich. „Woher kommen Sie? Vom Himmel? Und dazu im Pyjama?’’ Seine Augen funkelten vor Vergnügen, und die Zigarre tanzte zwischen seinen Zähnen. Er war entzückt, mich zu sehen. „So etwas Ähnliches!“ antwortete ich. Ich sah den Hotelportier, der sich erkundigte, wer die Markise beschädigt hatte. Einer der Teenager zeigte auf mich. Dem Ort des Geschehens näherte sich auch ein Polizist. „Darf ich?“ fragte ich Sparks und öffnete die Tür. „Mehr noch!“ sagte er. „Ich bin enthusiasmiert.“ „Dann fahren wir!“ sagte ich trocken. Endlich setzte Jonathan Sparks seinen Wagen in Gang. „Ich habe hier auf einen Freund gewartet. Er hatte etwas im Hotel zu tun. Aber egal, er weiß, wo er mich findet“, erklärte er mir, während er versuchte, sich dem Verkehrsgewimmel anzu schließen. „Nehmen Sie den Mantel um. Er liegt da hinten.“ Ich zog den durchsichtigen Regenmantel über den Pyjama. Einen Augenblick glaubte ich, der 217
Dicke habe vielleicht auf Budd Stark gewartet, aber ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Schon gar nach seinen folgenden Worten: „Sie kennen McMaster?“ . Ja, ich kannte McMaster. Das war der bleiche Mann, der immer in meiner Nähe auftauchte, wenn… He, das stimmte ja! Er war irgendwo in meiner Nähe, wenn immer mir etwas Unange nehmes passierte. Natürlich sagte ich das nicht laut. Es waren meine Gedanken. Dies aber gab ich der Öffent lichkeit preis: „Ich glaube, ich habe ihn irgendwo kennengelernt.“ Der Dicke brach wieder in Lachen aus. „Oh, ich habe Sie doch bekannt gemacht. In dem Motel, erinnern Sie sich? Dort, wo…“ Er sprach nicht zu Ende. Und ich nickte zur Be stätigung des Unausgesprochenen. Ich bemerkte, daß wir das Stadtzentrum verlie ßen. „Wohin fahren wir?“ fragte ich Sparks. Er überholte einen alten „Buick“ und beschleu nigte das Tempo. „Zu Freunden“, sagte er dann. „Ihren Freunden?“ „Auch Ihren. Gemeinsamen Freunden!“ antwor tete er und begann zu wiehern. Wir hielten in einer schmutzigen Straße und parkten hinter einem Lastwagen, aus dem Kisten abgeladen wurden. In der Luft hing ein starker Kaffeegeruch. Ein kleiner Junge zeichnete mit Kreide einen großen Indianer auf den Asphalt, der 218
mehr Federn auf dem Kopf hatte als alle Sioux einer ganzen Generation. Aus einem Haus erklang ein südamerikanischer Mambo. Einer Person wie Jonathan Sparks fiel es weiß Gott nicht leicht, aus dem Auto zu klettern. Ich stand am Rand des Trottoirs und beobachtete in teressiert jede einzelne Phase dieser Operation. Der Dicke schnaufte, stöhnte, lief rot an, um schließlich aus dem Wagen zu fallen, der hoch ging, nachdem er von der Last befreit war. „Da bin ich!“ sagte Sparks und lachte. Ich schaute mich um und entdeckte kein Zei chen, das darauf hinwies, daß ich einen Ort er reicht hatte, wo mich Bekannte erwarteten. In diesem Stadtteil war ich noch nie gewesen. Zum Unterschied von mir fühlte sich Sparks hier wie zu Hause. Heiter ging er auf einen Hof zu, der nicht um den Titel des saubersten Winkels der Stadt wetteiferte. Ich folgte ihm. Wir kamen an einer alten Frau vorüber, die Ta bak kaute und vor sich hin spuckte. Sie kümmerte sich nicht um uns. Sparks stieß eine leere Bier büchse beiseite, und ihr Geschepper auf der Trep pe, die zu einer Souterrainwohnung führte, rief einen neuen Lachanfall bei ihm hervor. Ich folgte ihm in einen finsteren schmutzigen Flur und dann über hölzerne Stufen zum Oberge schoß. Hier öffnete er eine schwere Holztür. Wir betraten einen weiteren Flur, aber der schien nicht zu diesem Milieu zu gehören. Er war sauber, ordentlich, mit einem dicken Teppich ausgelegt, der die Schritte dämpfte. 219
„Wo sind wir hier?“ fragte ich den Rücken des Dicken. Sparks begnügte sich mit einem Kichern, und das sagte mir nichts. Ich mußte mich mit dieser Antwort abfinden. Der Flur hatte die Form des Buchstaben L. An seinem Ende befand sich noch eine Tür, mit einem runden Fenster in Augenhöhe. Sparks blieb vor der Tür stehen. Er wartete, bis ich heran war, und dann klopfte er mit seinem fetten Zeigefinger, der wie alle anderen mit Rin gen geschmückt war, viermal an die Tür. Seine im Speck versunkenen Äuglein blitzten fröhlich. Die Tür wurde nicht sofort geöffnet. Der Mensch auf der anderen Seite mußte erst die Ankömmlin ge durch das Guckfenster gemustert haben. Als wir eintraten, begrüßte ein Hüne mit platter Nase und Stirnnarbe Sparks wie einen alten Bekannten. „Tag, Mr. Sparks!“ sagte er und nickte. „Hallo, Joe!“ nickte der dicke Jonathan zurück. Und mit einer Kopfbewegung zu mir fügte er hin zu: „Mein Freund.“ „In Ordnung, Mr. Sparks“, sagte der Hüne, und ich begrüßte ihn, indem ich den rechten Zeigefin ger an die Stirn legte. Auch dieser Flur war ordentlich gepflegt. Fen ster gab es hier nicht; diskretes indirektes Licht wies uns den Weg. Die dritte Tür öffnete Sparks persönlich. Ich betrat hinter ihm den Raum, der jetzt an der Rei he war, und erkannte ihn sofort. In diesem inti men Zimmer hatten die selige Maud, Budd Stark 220
und ich den Erfolg der Vorstellung gefeiert. Hier befand sich jetzt auch der Besitzer des Nachtlo kals, in dem meine Hollywooder Karriere ihren An fang genommen hatte. Das Männchen mit dem Glasauge saß in einem tiefen Sessel und lutschte an einer dicken Zigarre. „He, Sparks, wen bringst du uns da?“ fragte Bill. „Sieh doch selbst!“ antwortete Jonathan ki chernd. Er sah sich um, und als er einen leeren Sessel entdeckte, plumpste er mit einem Seufzer der Erleichterung hinein. „Ich bin müde wie ein Hund!“ sagte er und blin zelte Bill zufrieden zu. „Es ist höchste Zeit, daß ich mich setze.“ Der Lokalbesitzer schaute mich und meinen Aufzug an, und ich schaute die blaue Couch an beziehungsweise das Wesen, das dort hingegos sen lag. „Tatcher, wie geht’s?“ hörte ich Bill mit dem Glasauge brummen. „Sind Sie zum Schlafen her gekommen?“ „Ausgezeichnete Idee!“ antwortete ich und stierte Giekie an, die sich auf der Couch ausge streckt hatte und, ohne jemanden zu beachten, ihre spitzen Fingernägel feilte. Für mich existierte weder der Einäugige Bill noch der dicke Sparks. Ich nahm den Mantel ab und ging wie ein Schlaf wandler auf die Couch zu. „Gestatten Sie!“ stammelte ich und zeigte auf den freien Platz zu ihren Füßen.
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Giekie hob den Blick von einem Nagel und sah mich gleichgültig an. Sie zog ihre perfekt model lierten Beine an und schenkte ihre Aufmerksam keit wieder der Nagelfeile. „Ich bin Tatcher“, fuhr ich fort. „Erinnern Sie sich an mich?“ Der dicke Sparks schlug ein Gelächter auf, das wir nur als idiotisch katalogisieren könnten. „Ist doch klar, daß sie sich erinnert!“ rief er, als der letzte Kicherer verklungen war. „Welche Frau erinnert sich nicht an Sie?“ Ich sah Giekie an, um ihre Reaktion zu beo bachten. Sie reagierte nicht. Ihre Feile begann den Mittelfingernagel der linken Hand zu bearbei ten. Auch Bill fühlte, daß er etwas auf dem Feld des Scharfsinns unternehmen mußte. „Sehen Sie sie nicht so an, Tatcher!“ sagte er. „Das Mädchen könnte sich umbringen aus unheil barer Liebe zu Ihnen, und ich brauche sie noch. Ich habe mit ihr einen Vertrag bis zum Ende der Saison.“ Ich verzog das Gesicht. Solche Scherze mag ich nicht, besonders vor Frauen, die mir gefallen. „Beachten Sie sie nicht, Giekie!“ flüsterte ich dem Mädchen zu. Sie hob die Wimpern und sah mich kalt an. „Ich beachte niemand!“ antwortete sie. „Auch Sie nicht.“ Ihre Stimme war heiser, und das gefiel mir. Der Sinn ihrer Erklärung weniger. Aber vielleicht war das ihre Art des Umgangs, überlegte ich. Ich 222
rückte auf der Couch ein Stück weiter und legte die Hand dicht neben ihr Fußgelenk. Vorsichtig schaute ich mich um. Erst jetzt bemerkte ich auch Hannibal, der halb versteckt im Fenstervorsprung stand. Er schaute auf die Straße und drehte allen den Rücken zu. Bill streckte die Beine aus und rief: „Mickey!“ Eine Tür, nicht die, durch die wir gekommen waren, öffnete sich, und mein alter Bekannter aus Bronx trat ein. Er grinste, als er mich sah, und wandte sich dann an seinen Herrn: „Sie wün schen?“ „Mickey, wir haben einen Gast. Wir müssen ihn bewirten“, sagte Bill. „Weißt du vielleicht, womit?“ Mickey sah mich an, und sein Mund bewirkte, daß sich sein eines Ohr nicht mehr so entfernt vom anderen vorkam. Er nickte in meiner Rich tung und sagte: „Ich weiß, Boss.“ „Dann bring es ihm auch!“ sagte Bill zufrieden. „Und uns bring noch eine Flasche Whisky.“ „Ja, Boss“, sagte Mickey und ging. „Ist gleich da!“ meldete Hannibal vom Fenster. „Wer ist gleich da?“ erkundigte sich Sparks. „Kim Novak?“ Bill hielt das für komisch, und nun lachten sie im Duett. Hannibal sah noch ein Weilchen aus dem Fen ster und drehte sich dann zur Tür um, durch die wir hereingekommen waren, wobei er die Hand unter die Jacke steckte, an die Stelle, wo Gang ster ihre Revolver zu tragen pflegen. Er zog nichts hervor. Obwohl die beiden lachten, fühlte ich, daß 223
die Atmosphäre nicht gerade Humor atmete. Mei ne Hand griff nach Giekies Bein. Das war auch durch Nervosität zu erklären. Das Mädchen faßte es anders auf. Mit der Schuhspitze am anderen Bein machte sie mich darauf aufmerksam, daß meine Rippen schon durch den Sprung vom zweiten Stock in Mitleiden schaft gezogen waren. „Aua!“ rief ich und legte mir sogleich die Hand vor den Mund. „Ist etwas geschehen?“ fragte der Einäugige Bill, der für einen Augenblick im Lachen innehielt. Sparks gelang es nicht einmal, als Morley das Zimmer betrat. „Seid mir alle gegrüßt!“ sagte mein glatzköpfi ger Freund. „Sei gegrüßt!“ antwortete ich in meinem Na men. Ich stellte fest, daß ich es auch im Namen der anderen getan hatte. Sparks lachte nicht mehr, aber seine Augen blitzten noch, und zwei Grübchen auf seinen Wangen zeugten davon, daß ihn die gute Laune nicht verlassen hatte. Er schaute Morley an und wartete vermutlich auf eine Gelegenheit, wieder in Lachen auszubrechen. Der Blick, mit dem Bill den Angekommenen ansah, konnte aufmerksam ge nannt werden. Und Hannibal hielt die Hände an der Hosennaht, als habe er den Revolver in den Pupillen verborgen und nicht im Futteral unter dem Arm. Es war etwas Drohendes in seiner Hal tung. Nur Giekie kümmerte sich nicht um Morley. Sie feilte jetzt den Ringfinger der linken Hand. 224
Auch Morley war überrascht von der Atmosphä re, die er hier antraf. Auf seinem Gesicht, wo sich gewöhnlich die Lächeln von Nr. 5 bis Nr. 1 ab wechselten, konnte man jetzt Vorsicht erkennen. Und dann erblickte er mich. „Du, Timothy?“ staunte er. „Bist du nicht…?“ Seine Frage hing unbeendet in der Luft. „Nein“, antwortete Hannibal an meiner Stelle. „Wunderst du dich darüber?“ Ich sah Hannibal an und bemerkte, daß er die Fäuste ballte. Ich sah Morley an und bemerkte, daß er ver blüfft war. Ich sah Bill und dann Sparks an und bemerkte, daß sie sich amüsierten. „Hihihi, Morley!“ kicherte Sparks. „Du tust, als sähst du Gespenster!“ „Ich?“ fragte der Conférencier nervös. „Ich freue mich nur, meinen Freund Timothy wiederzu sehen. Nicht wahr, Timothy?“ „So ist es, Morley!“ unterstützte ich ihn. „Auch ich freue mich…“ Jonathan Sparks begann zu ersticken. Vor La chen natürlich. „Und wie… hihihi… und wie sich erst Hannibal freut… hihihi…. daß er die Gelegen heit hat… hihihi…“ „… mich zu sehen?“ fragte ich überrascht. Die Pointe war mir nicht klar. Sparks schüttelte kraftlos den Kopf. Er konnte vor Lachen nicht sprechen. Das einzige, was er noch konnte, war, daß er mit dem Finger auf Mor ley zielte und dann abwechselnd auf Hannibal und den kahlköpfigen Conférencier zeigte. 225
Mickey trat ein. „Da ist der Whisky!“ sagte er und stellte zwei volle Flaschen auf das Tischchen, wo sich eine leere befand. „Und die Spezialität für Mr. Tat cher.“ Er trat zu mir und hielt mir das Tablett vor. Der Geruch, der aus dem Glas aufstieg, verriet mir, daß es sich um die Spezialität des Hauses „Zum Einäugigen Bill“ handelte. „Möchten Sie, Giekie?“ fragte ich meine Nach barin auf der Couch. Bei dieser Gelegenheit legte ich ihr die Hand auf rein freundschaftlicher Basis auf die Hüfte. Sie durchbohrte mich mit finsterem Blick, und ich zog die Hand zurück. „Ein bißchen Alkohol?“ fragte ich mit säuerli chem Lächeln. „Das heitert auf!“ Mickey füllte allen die Gläser. Für Morley nahm er ein sauberes aus dem Schränkchen in der Ecke des Zimmers. Hannibal lehnte das Getränk ab, vielleicht wollte er beide Hände frei haben. Ich sah Giekie an und lauerte auf ein Zeichen von Geduld in ihrem Gesicht. Ich konzentrierte mich darauf und hörte vielleicht auch deshalb nicht, wie es zu dem Streit im Zimmer kam. Ich bemerkte es, als ein Glas zu Boden fiel. Zuerst versuchte ich herauszubekommen, wes sen Glas das war. Sparks’ Glas war neben ihm, auf der Sessellehne. Bill hielt seins in der Hand und hob es an die Lippen, aber er trank nicht. Er beobachtete Hannibal und Morley, die wie Kampf hähne einander gegenüberstanden.
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„Noch ein Wort, und ich zerschlag’ dir die Schnauze!“ rief Morley feuerrot vor Wut. Zu sei nen Füßen funkelten Glasscherben. „Es wäre besser, du hieltest den Mund. Du quasselst sowieso zuviel!“ ereiferte sich Hannibal. „Ich? Wer bist du denn, daß du mir vor schreibst, wieviel und was ich reden darf?“ Hannibal lachte, und das klang widerwärtig. Er schaute sich nach Unterstützung um. Bill und Sparks schwiegen und sahen die Schreihälse mit deutlichem Interesse an. Morley erblickte in ihrem Schweigen seinen Sieg. Er stieß den Revolverschützen beiseite und lachte verächtlich. Dann drehte er ihm den Rük ken und ging auf das Schränkchen zu, um sich ein neues Glas zu holen. Das war sein Fehler. Hannibal griff mit der Hand ins Innere seiner Jacke. Sein Gesicht trug eine Maske der Grau samkeit. Ich konnte nicht zulassen, daß so ein Typ mei nen Freund in den Rücken schoß. Wenn schon der Hausherr und der dicke Sparks nicht intervenier ten, mußte ich in Aktion treten. Mein Glas traf den Revolverhelden in dem Au genblick ins Gesicht, als er das Schießeisen aus dem Futteral zog. Hannibal brüllte überrascht auf. Morley drehte sich um, denn er spürte, daß hinter ihm etwas vor sich ging. Als er sah, daß Hannibal einen Revolver in der Hand hielt, sprang er zu ihm und traf ihn mit der Faust am Kinn. Der Revolver held geriet ins Schwanken, aber er fiel nicht. Mit dem Unterarm wischte er sich das Gesicht ab und 227
starrte die Waffe an, die auf dem roten Teppich lag. Dann bückte er sich, um sie aufzuheben. Mor ley zögerte nicht. Er trat auf den Revolver und sah Hannibal drohend an. Ich sprang von der Couch; Giekie hatte ich ver gessen. „Ihr werdet doch nicht zulassen…?“ fragte ich erregt Bill und Sparks. „Was?“ wunderte sich der dicke Sparks über meine Frage. „Was werden wir nicht zulassen?“ Auch Bill lachte über mich. Ich taumelte, denn etwas hatte mich getroffen, und fand mich im Speck von Jonathan Sparks wieder, wohin mich der Torpedomensch befördert hatte, der in Künstlerkreisen unter dem Namen Morley bekannt war. Und gegen meinen Rücken hatte ihn Hannibal mit einem Stoß seiner beharr ten Hand geschleudert. Das Glas fiel von der Leh ne, der Dicke kriegte keine Luft mehr. Auch Bill sprang auf. Er zog mich aus Sparks’ Speck und half mir, auf die Beine zu kommen. Dann bot er Sparks sein Glas an. „Hier, bis Mickey uns ein neues bringt!“ sagte er höflich. Der Dicke nahm das Glas und trank es leer. „Er ist sehr gut!“ sagte er autoritativ. Hannibal hatte soeben den Fuß gehoben, um damit das Äußere das glatzköpfigen Conférenciers zu verändern. Morley sah seinen Gegner hilflos von unten an und versuchte vergebens, sich aus der unangenehmen Situation zu befreien. Ich half ihm und bohrte meinen Zeigefinger in das rechte 228
Auge des Rasenden. Hannibal brüllte vor Schmerz auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Wenn Sie noch eine Scheibe Zitrone dazuge ben, dann hat er erst das richtige Aroma!“ sagte Bill. Sparks bat ihn, eine Scheibe Zitrone zu besor gen, und Bill rief nach Mickey und teilte ihm den Wunsch des Dicken mit. Der Kellner gönnte weder Hannibal einen Blick, der blind durchs Zimmer wankte, noch Morley, der sich aus seiner keines wegs salonfähigen Haltung aufrappelte. Er ging ein Stückchen Zitronenschale holen, vermutlich überzeugt, daß die Herren über die neueste Affäre von Lana Turner konversierten. Und ich? Ich suchte nach einem Versteck, in das ich schlüpfen konnte, falls Hannibal auf die törichte Idee kam, auch mich zu verprügeln. Zum Glück kam er nicht darauf. Er brummte wie ein Grizzly und ging blinzelnd wieder auf mei nen Freund los. Morley war schon auf den Beinen und benutzte wieder Hannibals Kinn als Parkplatz für seine Faust. Er brachte ihn zum Wanken, aber auch diesmal nicht zu Fall. Da ich etwa die weitere Entwicklung der Situation vorausberechnen konn te, half ich auch jetzt dem Glatzkopf. Ich packte den Hals der vollen Whiskyflasche und schleuderte sie gegen den Kopf seines Feindes. „Oh, unser Whisky!“ hörte ich Sparks besorgt rufen. „Ich habe noch ein paar Flaschen auf Lager!“ beruhigte ihn Bill.
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Hannibal begriff offenbar erst jetzt, daß er ge gen zwei Feinde kämpfte. Er zischte etwas Unan ständiges und sah mich rasend vor Wut an. Zu gleich spürte ich heftige Darmkrämpfe. „Timothy, hau ab!“ hörte ich Morleys Stimme. Hilflos schüttelte ich den Kopf. Jetzt war ich nicht imstande, zu fliehen. Ich ergab mich in mein Schicksal und erwartete Hannibals Faust. Aber sie kam nicht. Glauben Sie nicht, daß dieser Men schenfresser im letzten Augenblick beschlossen hatte, mich zu verschonen. Keine Rede. Aber auch er mußte einen Moment warten, weil Mickey ein trat und einen Teller mit Zitronenschalenstück chen brachte. Da die Sendung den Autoritäten zugedacht war, geriet während der Zeit der ganze Verkehr ins Stocken. Erst als Mickey wieder verschwunden war, trat Hannibal zur allgemeinen Offensive an. Er schritt auf mich zu und hob dabei abwechselnd die linke und die rechte Hand, als überlege er, mit welcher er mir den Garaus machen sollte. Aber meine Krämpfe hatten aufgehört, und ich war jetzt be weglich. Mit einem Sprung war ich auf der Couch und kletterte über Giekie hinweg, die soeben den Nagel des kleinen Fingers zu feilen begann. Ich stieg über die Couch, wobei ich mit den Armen balancierte, und sprang auf der anderen Seite hinunter. Hannibal wollte denselben Weg ein schlagen, rechnete aber nicht damit, daß so ein Gedränge Giekie beunruhigen könnte. „Du Aas!“ keifte sie. „Siehst du nicht, daß ich beschäftigt bin?“ 230
Sie stieß ihn weg, und Hannibal stolperte. Sein Fall wurde durch einen Gegenschlag gedämpft, den ihm der flinke Morley versetzte, aber das machte den Revolverhelden noch kampfuntaugli cher. „So ist er wirklich gut“, sagte Sparks zungen schnalzend und lachte zufrieden. In seinem Glas schwamm ein Stück Zitronenschale. Der Einäugi ge Bill nickte. Morley faßte mich an der Hand. „Wo ist der Revolver?“ fragte er. Er keuchte, und seine Krawatte war tiefer gerutscht, als sie durfte. Ich wußte nicht, wo der Revolver war. Ich schaute Hannibal an, der ein Auge geöffnet hatte, während das andere unter einer Geschwulst ver schwunden war, die sichtlich wuchs. In seinem gesunden Auge lag eine seltsame Zufriedenheit, die mir das Haar in die Höhe trieb. Ich begriff, wo der Revolver war. Hannibal war mit der Brust darauf gefallen und hatte den Stahl unter sich gefühlt. Seine Hand tastete nach dem Schießeisen, während ein bezauberndes Lächeln, freilich in den Grenzen seiner Möglichkeiten, über sein Gesicht ging. Er hatte schwere Schläge ein gesteckt, aber jetzt wußte er, daß der Sieg sein war. Unter seinem Körper lugte der bläuliche Lauf vor. Seine Mündung richtete sich zuerst auf mich, dann auf Morley, als überlege Hannibal, in welcher Reihenfolge er uns abknallen sollte.
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„Was macht ihr, Kinder?“ fragte Sparks plötz lich. Ein Schuß antwortete ihm. Ich kannte das Re sultat von Hannibals Zielübungen nicht, und ich bemühte mich nicht sehr, es zu erfahren. Ich stellte einzig fest, daß ich nicht getroffen war und daß es kein Problem war, in einem Sprung am Fenster zu sein, es zu öffnen und aus dem Zim mer zu flüchten, wenn man ein entsprechendes Stimulans hatte. Daß ich mit beiden Beinen in ei ne Holztruhe geriet und ihren Deckel durchbrach, störte mich nicht sehr. Ich zog mir die Truhe bis zur Gürtellinie hinauf und rannte damit durch den Hof auf die Straße. Aus dem Gebäude hörte ich noch zwei Schüsse. Das veranlaßte mich, die Richtung zu ändern und in den Hof auf der anderen Straßenseite zu lau fen. Überzeugt, daß mich die Patronen aus Hanni bals Revolver auch um die Ecke finden konnten, rannte ich an einer Frau vorüber, die Wäsche auf hängte, und drang in eine Küche ein, wo Kaffee geröstet wurde. Aus der Nähe klangen Melodien in südamerika nischen Rhythmen. Die Frau ließ die Wäsche stehen und rannte mir hinterher, wahrscheinlich weil sie die Gründe mei nes Besuchs nicht verstand. Sie starrte mich an, meinen Pyjama, die Holzkiste, die ich mit beiden Händen in Gürtelhöhe festhielt wie eine Tänzerin ihre Röckchen, und fragte mich: „Am Kopf haben Sie nichts?“
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Ich begriff ihre Frage nicht, und sie hatte offen bar nicht die Absicht, sie zu erklären. Ich atmete tief auf. Hinter mir öffnete sich eine Tür. „Was ist das jetzt wieder, Elizabeth?“ Ich drehte mich nach der Stimme um und er blickte einen mittelgroßen Mann, dessen Schnurr bart vom Tabak gelb war, während sein Haar ver gebens danach trachtete, den Schädel zu bedecken. Der Mann sah finster aus. Mit nervösen Fingern befestigte er die Hosenträger, die abge tragene Militärhosen hielten, deren beste Tage wahrscheinlich in Okinawa gewesen waren. „Wer ist der da?“ „Ich habe ihn nie im Leben gesehen!“ stotterte die Frau, von seiner Frage überrumpelt. Ich wollte mich vorstellen und den Grund mei nes überraschenden Besuchs angeben, aber das Ehepaar hörte mir nicht zu. „Du wirst doch nicht behaupten wollen, daß er nicht zu dir gekommen ist!“ ereiferte sich der Gelbbart, sichtlich zufrieden, weil er einen Anlaß gefunden hatte, seine Frau zu schikanieren. „Er ist nicht zu mir gekommen!“ keifte die Frau. „Vielleicht zu mir?“ Der eifersüchtige Mann ki cherte genüßlich. „Entschuldigen Sie…“, mischte ich mich in ihren Dialog, „ich bin… zufällig hierher… Wissen Sie, ich…“ „Zufällig?“ Der Mann amüsierte sich tatsächlich köstlich. „Und zufällig im Pyjama, damit du dich nicht lange beim Ausziehen aufzuhalten brauchst. Hopp hierher, und hopp ins Bett!“ 233
„Geoffrey, wie kannst du nur…“ „Wie ich kann? Ich kann, selbstverständlich kann ich. Ich kenne dich, du Schlampe. Hab’ ich dich nicht neunzehnhundertsechsunddreißig mit Hai erwischt? He?“ Ich begriff, daß ich überflüssig war. Ich stürzte aus der Küche, wobei ich meine Kiste festhielt, und flog auf die Straße, die jetzt still war. Ich rannte noch etwa fünfhundert Yards bis zur ersten Ecke, und dort erblickte ich ein langsam fahren des Taxi. Ich hielt es mit einer Handbewegung an. „He, Liebhaber, wohin so eilig?“ rief mir ein Bursche zu, der an einer Hauswand lehnte. Ich sagte dem Fahrer, wohin ich wollte, und das Auto jagte in vollem Tempo los.
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Heute hatte ich Gelegenheit, mich gründlich aus zuschlafen. Ich war müde, übernächtigt und ge reizt nach den Ereignissen, in die ich geraten war. Sie werden selbst zugeben, daß es einem norma len Menschen genügt, vier tote Frauen am Hals zu haben, eine Entführung durchzumachen, einige Duelle mit dem künftigen Weltmeister im Halb schwergewicht, einen Autounfall, eine Schlägerei mit einem rechten Revolverhelden und noch ein Dutzend weitere Schwierigkeiten, und das alles innerhalb weniger Tage. Und daß ein solcher Mensch vor allem ein Bett und Ruhe braucht. Trotzdem konnte ich nicht schlafen, so lange ich wollte. Nein, und zwar aus demselben Grund, aus dem auch die englische Königin nicht über ihr Pri vatleben verfügen kann: wegen meiner Verpflich tungen. Am Morgen hatte ich Reklameaufnahmen im Fernsehen. Aufrichtig gesagt, ich hatte sie völlig vergessen, und Lefty war nicht da, um mich daran zu erinnern. Demnach bestanden schöne Perspek tiven, was das Schlafen anlangte. Aber wenn ich es vergessen hatte, die aus dem Studio hatten nicht, zu schweigen von dem Reklameagenten der Firma, für die ich arbeiten mußte. Sie drangen in mein Zimmer ein, warfen mich aus dem Bett, zwangen mich, mich anzuziehen und in einem sol chen Tempo und ohne die geringste Möglichkeit zu entschlüpfen, mit ihnen zu gehen, daß ich 235
ernsthaft glaubte, es wäre wieder ein Kidnapping im Gange, nur auf reiferer Basis als in der Inter pretation des Duos Hunk – Fy. Die Leute, die mich holen kamen, waren irgendwelche Trappisten oder wie diese Schweiger heißen, die fettes Geld mit der Herstellung von Käse verdienen, der angeblich nur deshalb gut ist, weil er in der Stille gemacht wird. Sie sagten kein einziges überflüssiges Wort, bis wir ins Studio kamen. Aber ihr Schweigen machte der Regisseur der Sendung überreich wett; er empfing uns mit einem solchen Wort schatz, daß selbst Homer ihn beneidet hätte. Er schläferte mich mit seinem Geschwafel fast ein, so daß man mich unter die Dusche führte, damit ich erwachte. Dann zog man mir einen grausigen roten Smoking mit einem riesigen flammenden Herzen am Revers an und übergab mich einem Männchen mit Schlappohren, der mich in meine Pflichten einweisen sollte. Meine Aufgabe war eigentlich ziemlich ange nehm. Ich hatte Reklame für den Lippenstift „Amor“ zu machen. Fassen Sie es nicht falsch auf: Nicht ich mußte mir die Lippen anmalen, sondern zehn hübsche Mädchen, die bereits im Studio wa ren, vorschriftlich ausgezogen an der unteren Grenze der öffentlichen Moral, und sich mit den Burschen stritten, die um sie herumstrichen. Mei ne Aufgabe war also der Versuch, die Schminke von ihren Lippen zu entfernen. Auf natürlichste Weise, durch Küsse.
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Wenn mich die Dusche nicht wach gemacht hat te, so gelang es dem Schlappohr mit seinen In struktionen. „Du mußt deine Sache ordentlich machen, sonst wird nichts aus dem Kies!“ sagte er, und ich stimmte ihm zu. „Mr. Lefty hat eine Sonderklausel unterschrie ben, daß im Falle schlechter Arbeitsleistung das Honorar gekürzt wird!“ fuhr er fort, und ich hätte Lefty wegen der Unterzeichnung dieser Klausel am liebsten umarmt. „Der Kuß darf weder kurz noch oberflächlich sein“, instruierte mich das Männchen weiter. „Er muß leidenschaftlich, voller Empfindungen, in haltsreich sein!“ Ich nickte und verließ den schlappohrigen Leh rer. Wie ein Automat schritt ich auf die Mädchen zu, ohne rechts und links etwas zu sehen. Die Hinweise und der Text der Sonderklausel hallten mir in den Ohren, und ich machte mich daran, or dentliche Arbeit zu leisten. „He, halt!“ brüllte mir das Männchen nach. „Die Probe fängt noch nicht an.“ Zwei Kolosse hielten mich an, die sicherlich in der Titelrolle des Films „Goliath“ alternierten. Nach einer halben Stunde beim Maskenbildner, vor den Spiegeln des Kostümschneiders – er ver tauschte mir das rote Herz am Revers gegen eine blaue Orchidee – und bei dem Männchen mit den Schlappohren wurde ich zur Aufnahme gebeten. Ich machte mich auf in die Mitte des Studios, übersprang 1000 Drähte und Kabel, umging 100 237
Scheinwerfer, schlüpfte zwischen 10 Kameras hindurch, alles, um zu einem hübschen Mädchen zu gelangen, das unter einem Angelmikrophon stand und die Reste der Kleidung ordnete, die sich zufällig noch an ihr befanden. Ich näherte mich ihr wortlos, umarmte und küßte sie. Zuerst wehrte sie sich, von der Seite angegriffen, ohne zu wis sen, von wem, aber als sie mich erkannte, mur melte sie etwas – soviel man schon reden kann während eines richtigen Kusses –, umschlang mit beiden Armen meinen Hals, schmiegte ihren Kör per an den meinen und zahlte mir mit gleicher Münze heim. Ich weiß nicht, ob es aus Gründen der Eifersucht war, aber die Männer um uns be gannen zu rufen, die Arme zu schwenken, zu pro testieren, einer pfiff böse, auf Lausbubenart zwei schmutzige Finger im Mund, bis schließlich die beiden Goliaths herbeigerufen wurden, um uns zu trennen. „Verdammte Abschleckerei!“ tobte der blonde Regisseur mit der dunklen Brille. „Was ist los mit Ihnen?“ „Mir wurde gesagt, daß ich vor der Aufnahme meine Rolle probieren muß, und das habe ich ge tan!“ sagte ich kühl. „Ich ebenfalls!“ sagte das Mädchen und ver suchte mir näher zu kommen. Ich zwinkerte ihr zu, und sie antwortete mir, indem sie mit den vol len Lippen den Laut O formte. „Und wer hat Ihnen das Zeichen gegeben?“ fuhr der Mann mit der schwarzen Brille fort.
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„Brauchen wir etwa ein Zeichen, Kleines?“ frag te ich das Mädchen, worauf es fröhlich den Kopf schüttelte. Tja, das Leben war wieder schön. Ich konnte den Blick hinter den schwarzen Glä sern nicht sehen; ich glaube, er war eines Intel lektuellen nicht würdig. Auch die anderen wurden nervös. Lärm erfüllte das Studio. „Genug!“ rief einer. Es war wohl ein einflußreicher Typ, denn der Haufen beruhigte sich. „Bin ich jetzt an der Reihe?“ fragte ein zweites hübsches Mädchen voller Hoffnung den Regisseur. „Zum Teufel noch mal!“ antwortete er. Dann wandte er sich an seinen vierten Assistenten: „Ich weiß nicht, was sie an diesem verkrüppelten Affen finden!“ Der vierte Assistent hob die Schultern und dachte weiter an das morgige Baseball-Match. So wenigstens sah er aus. „Hallo, Timothy!“ sprach mich jemand an. Ich drehte mich um und sah kein drittes hüb sches Mädchen, sondern Burton Hinnes. Was, verdammt noch mal, hatte er im Studio zu su chen, während wir ernsthaft arbeiteten? Das fragte ihn auch der Regisseur, aber nach ein paar Worten, die Hinnes ihm zuflüsterte, be ruhigte er sich und schaute mich überrascht an. Hinnes kam zu mir und tätschelte mir freund schaftlich die Schultern. „Sie arbeiten?“
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„Mit Volldampf!“ antwortete ich und fuhr mir mit der Zungenspitze über die Oberlippe. „Und Sie? Was führt Sie hierher?“ Burton Hinnes lächelte und sah mich rätselhaft an. „Ich war gerade in der Gegend und wollte mal hereinschauen“, sagte er. „Ich habe zum Glück Zeit. Vielleicht ist das eine gute Möglichkeit, sie totzuschlagen.“ „Hier?“ staunte ich. „Hier!“ bestätigte er. „Es ist eine Schande, ich wohne schon mehrere Jahre in Hollywood und war noch nie bei Filmaufnahmen, wenigsten nicht, wenn ein Star wie Sie dabei war.“ Ich sah ihm in die Augen, um mich zu überzeu gen, ob sich hinter diesen Worten etwas verbarg. Ich konnte nichts feststellen. Burton Hinnes lä chelte arglos und flatterte mit den Augenlidern. „An die Arbeit!“ meldete sich das Scriptgirl. „An die Arbeit!“ „An die Arbeit!“ Der Ruf hallte durch das Studio wie ein Echo. „Die Probe fängt an!“ fuhr das Scriptgirl fort. „Die Probe fängt an!“ „Die Probe fängt an!“ „Tut mir leid“, sagte ich zum Inspektor, „ich muß an die Arbeit. Also entfällt die Gelegenheit, noch einmal gemütlich mit Ihnen zu plaudern.“ „Gehen Sie nur“, antwortete er mir heiter. „Ich bleibe hier sitzen, der Regisseur hat es gestattet. Wenn es sich ergibt, wechseln wir ein paar Worte, nicht wahr?“ 240
„Mr. Tatcher!“ begann das Scriptgirl eine neue Serie. „Mr. Tatcher!“ „Mr. Tatcher!“ Außerhalb des Lichtkreises, den der Scheinwer fer bildete, stand das Mädchen, das ich geküßt hatte. Irgendeine bucklige Frau schminkte ihr die Lippen, aber das Mädchen winkte mir trotzdem zu. Ich antwortete und ging zum Regisseur. „Wissen Sie, was Sie tun müssen?“ fragte er mich mißtrauisch. „Sie haben sich überzeugt!“ Dieser Mensch gefiel mir nicht. Offensichtlich war er sich nicht bewußt, mit wem er es zu tun hatte. Er funkelte mich an und sah dann fragend zu dem Männchen mit den Schlappohren hinüber. Der grinste. „Ich hab’s ihm erklärt“, sagte er. „Wieviel er kapiert hat, weiß ich allerdings nicht.“ Der Regisseur murmelte etwas. „Mr. Tatcher wird von uns bezahlt“, mischte sich ein würdiger Mann in gestreiftem Anzug ein. „Sie ebenfalls“, wandte er sich an den Regisseur. „Daß sich sein Auftreten im Programm für uns auszahlt, davon sind wir überzeugt. Ob wir auch mit Ihnen zufrieden sein werden, das wird sich erst zeigen.“ Der Regisseur murmelte wieder etwas. „Mr. Tatcher“, wandte er sich nach den Worten des Vertreters der Lippenstiftfirma mit viel wei cherer Stimme an mich, „Ihre Aufgabe ist folgen de: Wenn Sie das Zeichen bekommen, gehen Sie 241
auf das Mädchen zu, sagen: ,Hallo, Kleines!’, und wenn Sie sicher sind, daß sie schon Feuer gefan gen hat, nehmen Sie sie in die Arme und küssen sie. Nach dem Kuß gehen Sie wie instinktiv mit dem Finger über Ihre Lippen, um festzustellen, ob noch Lippenstiftspuren daran sind. Sie werden feststellen, daß keine dran sind. Dann ziehen Sie ein weißes Taschentuch, wischen sich gründlich den Mund und nähern dann das ausgebreitete Tuch der Kamera – ich zeig’ Ihnen noch, welcher – und sagen: ,Keine Spur! Mit dem Lippenstift »Amor« bin selbst i c h zufrieden!’ Und Sie zwin kern in die Kamera. Das ist alles. Haben Sie be griffen?“ Ich lächelte höhnisch. „Es geht los!“ „Es geht los“, wiederholte das Scriptgirl. „Es geht los… geht los… geht los…“, kam das Echo. Ein eleganter Dicker mit ausgesprochen idioti schem Lächeln trat vor die Kamera und las eine Litanei über die Eigenschaften des Lippenstiftes „Amor“ herunter. Der Gentleman im gestreiften Anzug hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Seine Lippen unter dem dünnen gestutzten Schnurrbärtchen bewegten sich stumm. Sicher kontrollierte er, ob der Conférencier ein Wort aus ließ. Die bucklige Frau legte die letzten Schichten „Amor“ auf die Lippen einer schönen Kreolin, die nervös die Hände rang. Das Mädchen schaute noch einmal in den Spiegel und seufzte tief. 242
Als der Sprecher ihren Namen erwähnte, zuckte sie zusammen und tänzelte in den Lichtkreis. Hier vollführte sie einige gelungene Verrenkungen. Dann erwähnte der Sprecher auch meinen Na men. Jemand gab mir einen Rippenstoß. Das Blitzen des Scheinwerfers störte mich, und ich verzog das Gesicht. Trotzdem trat ich zu dem Mädchen und sagte: „Hallo, Kleines!“ Dann warte te ich, bis sie „Feuer gefangen“ hatte, um sie in die Arme zu nehmen. Sie hatte eher „Feuer ge fangen“, als ich es erwartete. Ich umarmte sie und drückte die Lippen auf ihren halbgeöffneten Mund. Wir küßten uns mit viel Elan. „Pfui! Was ist das für ein Sauzeug!“ fluchte ich und spuckte dicht neben dem blankgeputzten Schuh des Sprechers aus. Zwei, drei Leute pruste ten los. Ich hatte einen faden Geschmack im Mund. Je mand brachte einen Spiegel und hielt ihn mir vor die Nase. Ich hatte einen roten Fleck auf dem Mund. „Was ist das?“ fragte ich den Regisseur, der die Szene unterbrochen hatte und zu mir kam. „Der Lippenstift, für den Sie Reklame machen!“ antwortete er trocken. Ich suchte nach dem eleganten Herrn im ge streiften Anzug. Er breitete hilflos die Arme aus. „Ich weiß nicht, wie das kommt… ,Amor’ ist sonst so ein guter Lippenstift!“ stotterte er. „Deshalb zahlen Sie auch so viel, damit Sie ihn den Leuten andrehen!“ zischte meine Partnerin wütend. 243
„Wir wiederholen die Szene!“ sagte der Regis seur gebieterisch. „Ich lehne ab!“ sagte ich. Der elegante Herr wurde unruhig. „Aber, Mr. Tatcher, Sie haben den Vertrag un terschrieben“, sagte er. Meine Partnerin musterte mich verstohlen. „Ich lehne die Proben mit ,Amor’ ab!“ fuhr ich fort. „Haben Sie denn keinen anderen Lippenstift? Einen, der besser schmeckt?“ Das Mädchen, mit dem ich mich geküßt hatte, schlug vor, den Lippenstift zu nehmen, den sie privat gebrauchte. Dagegen äußerte sich der Ver treter der Firma, aber der Regisseur beruhigte ihn mit der Erklärung, daß der Sprecher für „Amor“ Reklame machen würde, so daß die Zuschauer nichts bemerkten. „Sonst…!“ schloß der Regisseur drohend. „Sonst…?“ fragte der Vertreter der Firma. „Sonst kriegen wir die Sendung nicht hin!“ er gänzte der Regisseur seinen Gedanken. Alle be stätigten, daß er recht hatte. Auch der elegante Vertreter der Firma. „Schwerarbeit!“ sagte Burton Hinnes teilnahms voll, der sich meinem Stuhl genähert hatte. Ich nickte. „Gestern hatten Sie es einfacher!“ konstatierte der Inspektor. „Gestern? Wie meinen Sie das?“ Ich war überrascht. „Gestern bei Bill“, erklärte Hinnes. „Oder etwa nicht?“ 244
Etwas gefiel mir nicht an dem Ton, in dem er diese Frage stellte. Ich wurde vorsichtig und verriet mich durch keine Erklärung. Aber er war hartnäckig. „Haben Sie Morley heute morgen gesehen?“ fragte er. Ich verneinte. Ich war ja direkt aus dem Bett hierhergeeilt. „Und Sie wissen nicht, wo er ist?“ fragte Burton Hinnes. „Warum interessiert Sie das?“ antwortete ich mit einer Gegenfrage. Inspektor Hinnes lächelte hübsch. „Ich trage immer Sorge um meine Freunde“, sagte er. „Und Sie?“ „Mr. Tatcher!“ rief das Scriptgirl, und ich war ihr dankbar. Ich ging auf die Gruppe der Mitwirken den zu und spürte im Rücken das Lächeln des In spektors. Jetzt gelang die Probe großartig. Der Lippenstift war verdaulich, und das Mädchen hatte Feuer ge fangen. Ich küßte sie öfter, als das Szenarium vorschrieb, aber ich hatte nicht die Absicht, des halb eine höhere Gage zu fordern. „Großartig!“ flüsterte mir der Regisseur zu, als ich die paar Worte Werbetext für „Amor“ gesagt hatte. „Wir können anfangen!“ fuhr er fort. „Ich sehe, daß Sie ein erfahrener Schauspieler sind. Proben sind nicht mehr nötig.“
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„Wissen Sie, mit wessen Revolver sich Orchid Paff erschossen hat?“ flüsterte mir Burton Hinnes zu, sobald sich die erste Gelegenheit ergab. Ich fuhr zusammen. Nach der Vision einer Kuß orgie mit zehn hübschen Mädchen, die es kaum erwarten konnten, kam der mit einem Revolver an, mit dem jemand getötet worden war. Brrr…! Mir kam eine Idee. „Warum schreibt die Presse nicht über diesen Selbstmord?“ fragte ich den Inspektor Auge in Auge. Er lächelte wie gewöhnlich. „Sie schreibt über Mabel Morris!“ antwortete er. Ich fragte nervös zurück: „Und über Orchid?“ Burton Hinnes hob die Schultern. „Paff hat die Presse in der Hand. Er stopft den Reportern den Mund, damit sie nicht über den Selbstmord seiner Frau berichten, die in Sie ver liebt war.“ „Mr. Tatcher!“ rief das Scriptgirl. Ich ging mit dem Gedanken an Orchid zur Ar beit. Zum Glück vergaß ich die arme Frau rasch. Das Szenarium des Werbespots für den Lippenstift „Amor“ half mir dabei. Nach der schwarzhaarigen Kreolin mußte ich ei ne blonde Göttin in durchsichtigem Tüll küssen. Sie küßte mit viel Feuer, so daß ich am Ende des Kusses keine Luft mehr kriegte. Und dann kam eine rothaarige Irin, die dabei auch noch biß. Zum Glück hatte der Conférencier laut Szenari um jetzt eine längere Tirade. Ich schwankte zu meinem Sessel und drückte mir das Taschentuch 246
an die Lippein. Burton Hinnes sah mich mitleidig an. „Ich sehe, daß es schwer ist, ein Star zu sein“, sagte er. Ich seufzte. „Glauben Sie, daß sich auch eines dieser Mäd chen das Leben nehmen wird?“ fragte er mich. Ich sprang in meinem Sessel hoch. „Warum sollte sie?“ „Sie wird sich in Timothy Tatcher verlieben, das ist verständlich“, spann der Inspektor seine Theo rie weiter. „Und dann wird sie sich – bumm! – er schießen. Und…“ „Und?“ Ich sah ihn entsetzt an. „Und der Öffentlichkeit einen Zettel hinterlas sen, daß sie sich aus unglücklicher Liebe umge bracht hat. Ihretwegen.“ „Aber das… das ist unmöglich“, sagte ich. Der Inspektor wunderte sich: „Warum sollte es unmöglich sein? War es nicht auch bei den anderen so? Bei Maud? Miriam? Or chid? Mabel?“ „Dummheiten!“ antwortete ich. „Die habe ich nicht geküßt.“ Ich spürte, daß mich der Inspektor aufmerksam anschaute. „Nicht?“ „Mr. Tatcher!“ Ich eilte los, um mit den Aufnahmen fortzufah ren. Ich geriet gerade in dem Augenblick in die Szene, als sich dort ein kleines Frauchen wiegte, aber was für ein Frauchen! Sofort vergaß ich den 247
Inspektor und machte mich an die Arbeit. Die Kleine konnte erst küssen! Nach ihr erschien eine Mexikanerin, dann eine hochgewachsene Skandinavierin, derentwegen ich auf einen Holzschemel steigen mußte, und die Kameramänner bekamen den Hinweis, darauf zu achten, daß der Schemel nicht ins Bild geriet. Dann übernahm der Conférencier das Steuer. Nichts Böses ahnend, kehrte ich zu dem In spektor zurück. „Sie machen das mit viel Erfahrung!“ zollte er meiner Kunst Anerkennung. „Küssen Sie gern?“ Diese dumme Frage eines doch offenbar intelli genten Menschen überraschte mich. „Ja, natürlich!“ antwortete ich. „Hm, ich auch“, flüsterte der Inspektor. „Ich könnte zu keiner schönen Frau nein sagen, wenn sie mich küssen wollte. Zu keiner einzigen.“ Während er das sagte, geriet er ganz in Eksta se. Er schaute die übrigen vier Mädchen an, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, und sein Gesicht strahlte vor Begeisterung. „Und Sie?“ fragte er mich. „Was ich?“ „Könnten Sie einer schönen Frau nein sagen?“ Ich lächelte. „Selbstverständlich nicht!“ antwortete ich und stand auf. Das Scriptgirl hatte wieder gerufen. Jetzt mußte die Sache zu Ende gebracht wer den. Ich küßte mich noch mit den vier schönen Mädchen, und zwar wild, dann faßten sich alle zehn an den Händen und begannen zu tanzen. Ich 248
verneigte mich ein wenig und wartete, während sie die Beine warfen, wie es ihnen der Choreo graph vorschrieb, dann ging ich zu jeder, küßte jede noch einmal, diesmal kürzer, und danach re zitierten wir alle zusammen den Refrain: „Mit ,Amor’ küssen, das ist eine Lust, eine Lust, mit ,Amor’ küssen, daß ist der wahre Genuß!“ Und der Werbespot war zu Ende. Ich sackte hundemüde in meinen Sessel. Ich schwitzte, und meine Lippen brannten. „Uff!“ machte ich. „Hihihi!“ Jemand lachte hinter mir. Ich drehte mich um. Es war nicht der Inspektor, obwohl er auch dort stand. Der dicke Jonathan Sparks ki cherte. „Ich beneide Sie, Timothy!“ lispelte Sparks. „Sie, Inspektor, sicherlich auch?“ „Ich habe es unserem Timothy schon gestan den!“ antwortete dieser, vielleicht auch wider Wil len. Er schaute dabei den Mädchen nach, die in die Garderobe gingen. Die Mexikanerin zwinkerte mir im Vorübergehen zu. „Ich weiß nicht, was ich für so ein Mädchen ge ben würde!“ seufzte Sparks, kniff die Äuglein zu sammen und schürzte die dicken Lippen in Rich tung der Kreolin. Das Mädchen kam auf uns zu, aber sie war nicht fröhlich. Sorge lag in ihrem Blick. „Was ist. Kleines?“ fragte ich mitfühlend. Sie zuckte die Schultern und ging mit ihren langen nervösen Beinen an uns vorüber. Auch Inspektor Burton Hinnes sagte etwas und faßte sie an der 249
Hand. Aber die Kreolin schrie leise auf, riß sich los und rannte beinahe auf die Garderobe zu. Ich sah den Inspektor vorwurfsvoll an. Sein Be nehmen erstaunte mich. „Sie sind eben nicht Timothy!“ lachte Sparks. „Abgeblitzt!“ Der Inspektor schüttelte den Kopf. Dann bedeu tete er mir, Sparks zu verlassen, der die Kolonne von vier Mädchen anstierte, die letzten in der Rei henfolge der soeben aufgezeichneten Sendung. „Interessant, alle Mädchen, die sich Ihretwegen umgebracht haben, hatten einen Abschiedsbrief in der Hand.“ „Was ist daran interessant?“ fragte ich den In spektor. Statt einer Antwort streckte er die Hand aus. Im Studio herrschte Halbdunkel, so daß ich mich bücken mußte, um zu sehen, was Hinnes in der Hand hielt. „Was ist das?“ fragte ich. Er hob die Hand an meine Augen, und ich er blickte einen mehrmals zusammengefalteten Zet tel. Fragend schaute ich ihn an. „Das habe ich der hübschen Schwarzen aus der Hand genommen, mit der Sie sich zuerst geküßt haben. Die so nachdenklich und traurig bei uns vorüberkam.“ Mir brach der Schweiß auf der Stirn aus. Hatte etwa auch die Kreolin die Absicht…? Ich packte den Zettel und faltete ihn mit nervö sen Bewegungen auseinander. Als ich ihn an die
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Augen hob, um den Text zu lesen, fühlte ich, wie meine Hände zitterten. „Dolores, gib mir das Abendkleid zurück! Ich will ausgehen. Betty.“ Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr meiner Lunge. „Will sie sich umbringen?“ fragte der Inspektor. Ich reichte ihm den Zettel, wandte mich ab und ging zu Sparks, der noch immer die Tür anglotzte, hinter der die Mädchen verschwunden waren. Er wischte sich die schwitzende Stirn. „Tatcher, Sie müssen mir ein Rendezvous mit den Mädchen organisieren!“ sagte er, wobei er mich am Arm packte. „Mit welcher?“ „Ganz egal. Beziehungsweise mit allen, nach einander!“ seufzte Sparks, und das wirkte sehr komisch. Ich prustete los. Sparks fiel ein. Aus der Ferne sah uns Inspektor Burton Hinnes mit leerem Blick an. „Wohin?“ fragte mich Sparks, als ich, wieder in meinen eigenen Anzug gekleidet, aus der Garde robe kam. „Hm!“ überlegte ich. „Eigentlich müßte ich zu Mr. Paff, aber…“ „Zu Herbie?“ wunderte sich Sparks. „Was haben Sie mit dem Fisch zu tun?“ Ich lachte, denn ich hatte selbst Paff einmal mit einem Fisch verglichen. „Wir sollten einen Vertrag abschließen, er und ich, also…“ sagte ich. 251
„Ich bringe Sie in sein Büro!“ sagte Sparks, und wir gingen zu seiner Limousine. „Sie wissen, daß ich Herbies rechte Hand bin, nicht wahr?“ fragte mich der lachende Dicke, als der Wagen sich in Bewegung setzte. „So?“ staunte ich. „Das habe ich nicht gewußt“; worauf Jonathan lachte. „Ich habe oft darüber nachgedacht, womit Sie sich eigentlich beschäfti gen…“ „Womit?“ Der Dicke amüsierte sich königlich. „Mit allem möglichen!“ sagte er. „Ich bin Ge schäftsmann. Von der Sorte, die überall ihre Nase hineinsteckt, hihihi.“ Ich warf einen verstohlenen Blick auf die kleine Stupsnase und dachte, daß es damit nicht weit her sein konnte. „Was ist mit Morley?“ fragte ich. Der Dicke kicherte. „Mit unserem lieben Morley?“ fragte er schließ lich. „Was soll schon sein?“ „Ist ihm etwas passiert? Als ich nämlich von Bill wegging, konnte ich in der Eile nicht mehr sehen, ob er…“ „Nichts ist mit ihm“, antwortete Sparks. „Er hätte fast den unglücklichen Hannibal erschossen, aber der hat ihn nicht angezeigt, also ist mit ihm alles in Ordnung, mit Morley.“ „Morley Hannibal?“ wunderte ich mich. „Nicht umgekehrt?“ Der Dicke schüttelte seinen großen Kopf.
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„Nein. Er hat sich den Revolver geschnappt und piff, paff, puff fast Hannibal umgebracht!“ Ich schwieg und sagte kein Wort mehr, bis un ser Wagen vor einem modernen, fast völlig aus Glas bestehenden Hochhaus hielt. „Hier arbeitet Papa Paff!“ lachte Sparks und führte dann die qualvolle Operation des Ausstei gens durch. „Mr. Paff ist beschäftigt“, sagte mir eine blonde Sekretärin von ziemlich geschlechtslosem Ausse hen. „Mr. Sparks, Sie werden erwartet!“ wandte sie sich an meinen Begleiter. „Ja?“ fragte er lächelnd. „Von wem?“ „Von allen, Mr. Sparks!“ antwortete die Sekre tärin. Dann erklärte sie mir, daß bei Mr. Paff eine wichtige Sitzung anberaumt sei und niemand stö ren dürfe. Nur Mr. Sparks könne hinein, und das sei logisch, sagte sie am Ende. „Soll ich warten?“ fragte ich für alle Fälle. „Lieber nicht“, antwortete sie. „Es wird sicher lich länger dauern…“ „Ich bin Timothy Tatcher“, legte ich meinen letzten Trumpf auf den Tisch. Die Sekretärin schüttelte mit unbewegter Miene ihre Locken. „Tut mir leid, Mr. Tatcher“, sagte sie. Und fügte hinzu: „Ich habe Sie erkannt, Mr. Tatcher, aber… bedauerlicherweise…“ Ich drehte mich beleidigt um und wollte schon hinausgehen, als sich eine schwere gepolsterte Tür öffnete und ein Mensch aus Paffs Büro geflo
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gen kam. Er war krebsrot im Gesicht und fluchte das Blaue vom Himmel herunter. „Gloria, ich komme nicht mehr zurück. Ich bin nicht da“, sagte er und flog weiter zum Lift. „In Ordnung, Mr. Paff!’’ antwortete die Sekretä rin mit kaltem Gesichtsausdruck. Durch die halbgeöffnete Tür war Gelächter zu hören. Jemand kam an die Tür, um sie von innen zu schließen. Es war ein Mann mit auffällig bleichem Gesicht. Mr. McMaster. „Mr. Paff ist nicht da, wie Sie Gelegenheit hat ten zu sehen“, sagte die blonde Sekretärin.
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Erst am Nachmittag, als ich mich in meinem Ap partement auf dem Bett ausruhte, stellte ich fest, daß ich beleidigt war. Es war eine Beleidigung für Timothy Tatcher, aus dem Mund irgendeiner ge schlechtslosen Sekretärin hören zu müssen, daß der Mann, den er suchte – in diesem Fall Herbie Paff, aber das ist unwichtig –, niemand empfing und daß einen Augenblick später dieser selbe Mann aus seinem Büro geflogen kam, ohne darauf zu achten, wer im Vorzimmer war. Deshalb be schloß ich, Herbie Paff in seiner Privatwohnung aufzusuchen und ihm meine Meinung über all das zu sagen. Ich duschte und rasierte mich sorgfältig, zog einen eleganten dunkelblauen Anzug an und such te lange nach der passenden Krawatte, bis ich mich schließlich für eine silbergraue entschied, die am besten zu meinen Augen paßte. Ich bürstete mir das Haar und schaffte es mit Hilfe von Brillan tine, sogar den Strähn zu bändigen, der sonst immer absteht. „Sie sehen großartig aus!“ Im Spiegel erblickte ich die lächelnde Jacque line. Sie war bestimmt ins Zimmer geschlichen, denn ich hatte die Tür nicht gehört. „Gefalle ich dir?“ Ich drehte mich um und zwinkerte ihr zu. Sie aber sprang herbei, legte mir die Arme um den
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Hals und die halbgeöffneten Lippen auf den Mund. Die Kleine küßte gut, kann ich Ihnen sagen. Als ich das Gleichgewicht zu verlieren begann, packte ich ihre Finger und löste sie von meinem Hals. Dann schob ich auch sie ein Stückchen weg und zog mir die Krawatte wieder fest. „Entschuldigen Sie, ich konnte mich nicht be herrschen!“ sagte sie. Ich verzieh ihr, denn mir war klar, was eine be rühmte Persönlichkeit für ein kleines Zimmermäd chen darstellte. Dann bat ich sie, mir den Anzug noch einmal auszubürsten, und sie tat es mit viel Sorgfalt. „Wen wollen Sie heute erobern?“ fragte sie, als ich einen letzten Blick in den Spiegel warf. „Einen alten Knacker!“ lachte ich. Jacqueline legte drei Fingerchen an ihren geöff neten Mund. „Wirklich“?“ stotterte sie. Ich tätschelte sie ziemlich unterhalb der Schul ter. „Alles in Ordnung, Jacqueline“, tröstete ich sie. „Ich habe eine geschäftliche Unterredung.“ Kurz darauf raste ich den Sunset entlang, der tagsüber nicht so romantisch wirkt wie nachts. Meine schwarze Limousine arbeitete wie eine Uhr, leise und genau. Würde ich wieder einem Selbstmord beiwoh nen? Oder erwartete mich bereits jemandes kalte Leiche? Ich grinste und knurrte etwas vor mich hin. Mir war nicht ganz wohl.
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Ich hielt an. Hier, rechts hinter dem Lanzen zaun, den ich in jener Nacht überklettert hatte, erhob sich die Villa, in der Herbie Paff wohnte. Ich verzog das Gesicht. Wenn man zu einer geschäft lichen Unterredung geht, ist es nicht empfehlens wert, an Leichen zu denken. Ich lenkte den Wagen durch das geöffnete Tor in den Garten. Unter demselben hohen Baum, wo er auch in jener Nacht gestanden hatte, wollte ich ihn parken, aber es ging nicht. Zuerst stieß ich mit dem Heck gegen die niedrige Raseneinfas sung. Dann setzte ich wieder nach vorn und zer brach einen Gartenzwerg. Ich wurde nervös. Wie der stieß ich zurück. Etwas zersplitterte, etwas heulte auf, etwas zermalmten die Reifen. „Zum Teufel!“ knurrte ich. „Wie habe ich denn damals…?“ Dann fiel mir ein, daß ich damals den Wagen nicht in Paffs Garten geparkt hatte. Ich war nur damit in die Stadt gefahren. Hm, hier war etwas unklar. Ich war mit meinem Auto zurückgekehrt, also mußte ich es auch auf der Herfahrt benutzt haben. Aber das hatte ich nicht. Ganz sicher, jetzt erinnerte ich mich. Ich hatte ein Taxi genommen. Aber wie hatte ich dann…? Ich umklammerte mit beiden Händen das Lenk rad und dachte angestrengt nach. Wenn ich ein Taxi genommen hatte, war ich also nicht mit dem eigenen Wagen gekommen. Wenn ich nicht mit dem eigenen Wagen gekommen war, hatte ich nicht damit zurückkehren können, außer… Außer was? Das war’s! Außer daß in der Zwischenzeit 257
jemand anders das Auto hergefahren und abge stellt hatte. Es war ein Mysterium. Wer kam schon auf die Idee, zum Hotel zu ge hen, den Wagen zu nehmen und herzufahren, all das nachts, während ich Zäune überkletterte und mich um das Haus zum Swimmingpool schlich, wo… Oh! Ich fuhr zusammen. Ein Mann, vielleicht der Gärtner, war an mein Automobil getreten und musterte kritisch, was ich alles vernichtet hatte. Ich stieg aus und sagte ihm, er möge den Schaden berechnen, die Sum me auf einen Zettel schreiben und ihn auf den Sitz legen. Der Mann sagte, das würde Herbie Paff begleichen, der an größere Schäden in seinem Garten gewöhnt sei. Ich entfernte mich eilig. Ein bleiches Zimmermädchen zwischen 30 und 60 Jahren öffnete mir. Ich sagte, ich wolle zu Herbie Paff, aber sie antwortete, Mr. Paff empfin ge um diese Zeit niemand. Darauf erklärte ich barsch, Mr. Paff habe mich gerade für diese Zeit bestellt, und ich wundere mich sehr über ihre Worte. Das Mädchen begann sich zu entschuldi gen, daß das sonst eine ständige Regel sei, Be suchsverbot um diese Tageszeit, aber wenn Mr. Paff mich herbestellt habe, werde sie mich natür lich hineinführen. Ich gestattete, daß sie mich hineinführte, und überlegte, während wir Flure und Zimmer durchquerten, was ich Paff sagen sollte, der sicherlich über meine Frechheit sehr verärgert war. 258
„Nur einen Augenblick“, sagte das Zimmermäd chen und ließ mich vor der Tür eines Zimmers stehen. „Niemand! Ich habe gesagt, niemand!“ erklang es aus dem Zimmer, das das Mädchen betreten hatte. Das Mädchen kam puterrot heraus. Gerade wollte sie mir die Situation erklären, die mir ei gentlich klar war, als ich sie beiseite stieß und durch die halboffene Tür eintrat. Es war der Sa lon, in dem mir Herbie Paff in jener Nacht das Ge heimnis des Selbstmordes seiner Frau entschleiert hatte. Paff saß auch jetzt in einem Sessel. In der Hand hielt er ein Glas mit Whisky, und neben ihm auf einem Tischchen stand die Flasche. Er war allein. Und rot im Gesicht, was man von diesem fisch ähnlichen Menschen nicht erwartet hätte. Als er mich erkannte, hob er den Teil seiner Haut, wo normale Menschen die Brauen haben. „Sie, Tatcher? Wie können Sie es wagen?“ Jetzt wußte ich, was notwendig war: den Un verschämten spielen. Ich winkte ihm zu. „Hallo, Herbie!“ warf ich leger hin. Ich ließ mich in einen leeren Sessel fallen und legte beide Beine über die Lehne. „Geben Sie mir eine Zigarre!“ Der Mann, der zu den Mächtigsten in Hollywood gehörte, geriet außer Fassung. „Was?… Wie…? Sie?“ Ich betrachtete nonchalant die Nägel meiner linken Hand, und nicht zufrieden mit dem des
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kleinen Fingers, hob ich die Hand an den Mund und biß das überflüssige Stück ab. Herbie Paff wühlte verwirrt in der silbernen Zi garrendose. Endlich wählte er eine für sich und eine für mich aus und reichte mir die letztere. „Danke!“ sagte ich und steckte die Zigarre in den Mund. Er hielt mir das Feuerzeug hin, aber mir fiel ein, daß ich als eingeschworener Nichtrau cher mit dieser Zigarre die anfänglichen Erfolge zunichte machen konnte, und ich steckte sie lie ber in die Brusttasche. „Zuerst das Geschäft, dann das Vergnügen!“ sagte ich zu Paff, der mich noch immer ansah, als begriffe er nichts. „Was wollen Sie eigentlich von mir, Tatcher?“ sagte er mit scheinbar ruhiger Stimme und ver suchte seine innere Erregung zu vertuschen. „Wir haben uns über einen Vertrag unterhalten, hier, neulich nacht“, sagte ich und lehnte mich tiefer zurück. Mein Blick irrte über die Decke. Paff erhob sich halb von seinem Platz. „Tatcher“, sagte er, und seine Stimme bebte jetzt vor Wut, „ich habe ein Büro in der Stadt, und wenn Sie unbedingt wollen, können wir dort über diesen verdammten Vertrag sprechen. Aber hier…“ „Aber hier?“ fragte ich mit träger Stimme und schaute arglos in seine leeren Augen. „Hier hat niemand das Recht, einzutreten. Nicht um diese Zeit! Nicht einmal Sie. Das heißt, am wenigsten Sie.“ Ich versuchte es mit noch einem Bluff. 260
„Hören Sie, Paff“, sagte ich, so ruhig ich konn te, „ich habe keine Zeit, Ihre Büros abzuklappern. Ich bin hergekommen, denn ich bin der Ansicht, daß ich ein paar Worte mit Ihnen zu wechseln ha be. Wenn Sie nicht wünschen, in Ordnung…“ Paff runzelte die Stirn. „Was wollen Sie damit sagen?“ fragte er vor sichtig. Ich gestattete mir ein kurzes Lachen. „Das wissen Sie sehr gut, Paff!“ sagte ich. „Ich beabsichtige nicht, hier darzulegen…“ Das Ende des Satzes, wenn es überhaupt exi stierte, wäre vermutlich irgendwo an der Decke von Paffs Salon verschwunden. „Was darzulegen?“ Er wurde sehr nervös. Ich spürte, daß ich ihn in der Hand hatte, obwohl mir nicht klar war, wes halb. „Was darzulegen?“ wiederholte er lauter. Ich antwortete nicht, und das war am effekt vollsten. Ich legte lediglich die Beine von der rechten Lehne auf die linke und schaute ihm in die Augen. Ich grinste ihn an. „In Ordnung, Tatcher! Wir können über den Vertrag reden.“ Herbie Paff stand auf und begann im Salon auf und ab zu gehen. „Wir schließen diesen verdammten Vertrag ab, ja. Nur lassen Sie mich heute in Ruhe. Gehen Sie zum Teufel, Tatcher!“ Er stand vor meinem Sessel, beide Fäuste in den Taschen. 261
Ich schüttelte langsam den Kopf. „Sie müssen, Tatcher! Bei allem auf der Welt, gehen Sie, und ich verspreche Ihnen, daß wir morgen einen Vertrag unter Bedingungen ab schließen, von denen Sie nicht zu träumen wa gen!“ Ich schüttelte weiterhin den Kopf, obwohl ich nicht wußte, ob es klug war, das Spiel in die Län ge zu ziehen. „Wieviel verlangen Sie?“
Die Frage überraschte mich. Ich sah Herbie Paff
an, der sich über meinen Sessel beugte. „Was?“ „Wieviel Sie verlangen?“ fragte der Magnat. Noch einmal versuchte ich mein Glück. Ich lach te ihm ins Gesicht und stieß ihn leicht vor die Brust. „Sie machen Witze, Paff! Sie sind ja wie Sparks, der auch immer zum Scherzen aufgelegt ist.“ Das wirkte wie ein kalter Schauer. Sein Gesicht wurde zuerst rot, dann bleich und schließlich wie der rot. Ich hatte schon Angst, der Schlag würde ihn treffen. „’raus!“
Ich sah ihn ungläubig an.
„’raus!“
Seine Hand wies autoritativ zur Tür.
Ich versuchte die verlorenen Positionen wieder
zugewinnen. „Wieviel bieten Sie mir?“ fragte ich, aber meine Stimme war nicht so ruhig, wie ich es mir ge wünscht hätte. 262
„’raus hier!“ brüllte Herbie Paff. „Oder…“ „Was oder?“ fragte ich hochmütig. Als ich auf stand, war ich dennoch größer als er. Zum Teufel, wahrscheinlich war ich auch kräftiger als diese ausgequetschte Zitrone. Paff sprang weg und trat dann rasch an den Schreibtisch. Er öffnete eine Schublade und griff mit der Hand hinein. „’raus hier, habe ich gesagt!“ „Und wenn ich nicht will?“ Es war meine letzte Karte. Aber der Bluff ge lang nicht mehr. Auf meine Brust zielte der Lauf eines kleinen Revolvers. Man hätte ihn für einen Damenrevolver halten können, so winzig war er. „Ich bringe Sie um, Tatcher! Bei Gott, ich brin ge Sie um, und es wird mir nicht leid tun!“ Der Revolver zeichnete drohend ein paar kleine Achten. Ich blickte dem Magnaten in die Augen und sah, daß er tatsächlich eines Mordes fähig war. „’raus!“ Ich ließ nicht zu, daß er es noch einmal wieder holte. Mit der Geschwindigkeit eines Hurrikans verließ ich den Salon und rannte durch den Flur wie eine männliche Ausgabe von Wilma Rudolph. Ich bog um die erste Ecke, denn ich spürte in stinktiv, daß dies die beste Art war, einer Kugel zu entgehen, wenn Paff sie mir nachschickte. Dann bog ich noch einmal nach links ab und zweimal nach rechts. Ich stieg auch irgendeine Treppe 263
hinauf, rannte durch einen größeren Saal, in dem das Zimmermädchen den Staubsauger hinter sich herzog, dann gelangte ich in einen runden Saal von blauer Farbe. Erst hier blieb ich stehen und wischte mir die schweißnasse Stirn. Die silbergraue Krawatte hing auf meiner Schulter, und ich rückte sie an ihren Platz zurück. Auch mein Haar war in Unordnung. Der verdammte Paff, er war tatsächlich imstan de, einen Menschen umzubringen. Hätte ich ihm noch eine Weile Trotz geboten, hätte ich jetzt be stimmt zuviel Blei im Körper, als Ersatz für das geflossene Blut. Aber auch ich war ein Idiot, wirk lich. Statt die Gelegenheit zu nutzen, die sich mir bot, war ich zu weit gegangen, und jetzt hatte ich, hm, den Teufel hatte ich. Nichts hatte ich, und vielleicht lief mir der Alte mit der Waffe in der Hand nach! Hinter mir raschelte etwas, und ich drehte mich hastig um. Ich sah niemand. Mir schien, als flattere das Ende eines blauen Frauenkleides hinter einer Tür, die sich sofort schloß. Ich rannte auf die Tür zu, öffnete sie und schaute in einen weiteren Raum, aber ohne Resultat. Ich war allein, und ringsum herrschte Stille. Nur aus weiter Ferne war das Brummen des Staubsaugers zu hören. In der Hoffnung, irgendwie hier entschlüpfen zu können, ging ich weiter. Ich durchquerte einen langen, gewundenen Korridor mit Bildern in rei chen Goldrahmen. Dann zwei Räume, und blieb plötzlich stehen. Eine Tür schloß sich langsam, 264
gerade als ich den Blick darauf richtete. Ich wollte hingehen und sie öffnen, aber ein schmerzlicher Druck im Magen trieb mich weiter. Als ich das En de des Saals erreicht hatte, drehte ich mich plötz lich um und schaute noch einmal diese Tür an. Ich hatte mich nicht geirrt: Die Tür war wieder einen Spalt geöffnet und schloß sich sofort, als ich mich umdrehte. Mir fiel es nicht mehr ein, hinzugehen und nachzusehen, wer mich da beobachtete. Im Ge genteil, ich gelangte zu dem Schluß, daß es am besten war, den Ort zu verlassen, wo ich mich unbehaglich fühlte. Ich wählte die entgegenge setzte Richtung und rannte eine Wendeltreppe hinauf. Sie hatte viele Stufen, und ich geriet ziem lich außer Atem, bis ich die letzte erreicht hatte. Ich blieb stehen, um zu verschnaufen, und da hörte ich zum erstenmal einen Schrei. Ich zog das Taschentuch, um mir die Stirn zu wischen, und da hörte ich zum zweiten Mal einen Schrei. Dann be ruhigte ich mich, hielt den Atem an, und hörte den dritten, vierten und fünften Schrei. Jemand schrie. Ich verfluchte die Stunde, wo ich beschlossen hatte, diesen verfluchten schottischen Palast zu betreten. Aber dann waren am Fuß der Treppe Stimmen zu hören, und jemand begann hinaufzu steigen. Ich durfte nicht zögern. Ein paarmal drehte ich mich um die eigene Achse. In dem runden Raum war niemand. Die drei Türen waren geschlossen. Einen anderen Ausgang gab es nicht.
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Die Schritte des Näherkommens waren immer lauter. Ich ging zur ersten Tür und rüttelte an der Klinke. Es war abgeschlossen. Ich flog mit aller Kraft gegen die zweite, um die einzuschlagen, wenn sie verschlossen war. Sie war nicht ver schlossen. Ich fiel in einen kleinen halbdunklen Raum und riß alles vor mir nieder. Das letzte, was ich mitnahm, war ein männliches Wesen. Es lebte, was ich an der Reaktion feststellte, als es zu Bo den stürzte. Es fluchte, und zwar im Wortschatz der Matrosen. „Timothy!“ Ich sah mich um und entdeckte auf einem Stuhl Lefty. „Lefty!“ rief ich außer mir vor Freude. „Endlich hab’ ich dich gefunden!“ Lefty sah mich mit einem Ausdruck der Überra schung auf seinem mageren Gesicht an. Sein An zug hing in Fetzen von ihm. Er war an den Stuhl gefesselt, die Arme auf dem Rücken. Über seine Wange floß Blut. „Paß auf!“ schrie Lefty. Ich sprang zur Seite. Ein Stuhl ging an der Stel le, wo ich eben noch gestanden hatte, zu Bruch. Der Ungezogene, der mir den Schädel hatte zer trümmern wollen, begann wieder Flüche aneinan derzureihen. Ich stieß ihn gegen das Schienbein, was ihn verblüffte. Er hob den Kopf, zu seinem großen Pech, denn hier befand sich gerade mein Knie, das ihn an der Nase traf. Und das tut weh, nehme ich an. 266
Der Mann stürzte mir kopfüber vor die Füße. Ich bedauerte, so grob gewesen zu sein. „Das ist ja Steve!“ rief ich, als ich den schlaffen Kopf des Angreifers hob. „Er hat mit mir wirklich kein Glück.“ „Idiot, befrei mich, und quatsch nicht herum!“ brüllte Lefty. Ich hörte nicht auf ihn. „Wer hat dich gefesselt? Und warum hat dich der Lümmel verprügelt?“ Ich schaute Lefty an, und mir gingen Gedanken durch den Kopf, die sich auf die Nebenbemerkung der beiden Jungen, Hunk und Fy, gründeten. Was, wenn Lefty wirklich Mabel Morris umgebracht hat te? „Timothy, ich leg’ dich um, wenn du mir nicht sofort diese verdammten Stricke abnimmst! Schon zwei Tage halten sie mich hier fest. Ich werde noch verrückt.“ Lefty hatte Schaum vor dem Mund. Er tat mir leid. Ich ging um ihn herum und betrachtete mir die Knoten. Für meine Pfadfindererfahrungen waren sie zu fachmännisch geknüpft. „Daraus wird nichts!“ sagte ich zu Lefty, als ich vor ihn zurückgekehrt war. „Was?“ Seine Stimme erreichte das hohe C, aber leider war keiner aus der „Met“ da, um darauf aufmerk sam zu werden. „Ich kann dich nicht losmachen“, antwortete ich. 267
„Warum?“ Lefty sah mich an, als hätte ich mindestens 80 Prozent seiner Familie abgeschlachtet. „Ich kann nicht“, sagte ich. „Ich kann die Strik ke nicht lösen. Sie haben mich aus den Pfadfin dern herausgeschmissen, bevor ich den Kursus über Knotenknüpfen absolviert hatte. Wegen ei nes Mädchens. Ich glaube, sie hieß Mag.“ „Timothy“, rief Lefty, „du sollst verflucht sein… Der da hat ein Messer!“ Das veränderte die Situation. Ich griff dem ohnmächtigen Steve in die Taschen und förderte aus der einen tatsächlich ein Messer zutage, das dem Hunks ähnlich sah. Auch zum Aufklappen. Ich drückte, und die Schneide sprang heraus. Ich klappte das Messer zusammen und drückte wie der. Die Schneide sprang unter diskretem Schnappen heraus. Es war amüsant. Ich klappte das Messer wieder zusammen, und… „Timothy!“ Ich ging zu ihm und drückte den Knopf am Messer. Die Schneide sprang genau vor seinen Lenden heraus. „Lefty“, sagte ich, „hast du Mabel ermordet?“ „Wen?“ „Mabel“, wiederholte ich. „Mabel Morris.“ „Wer ist das?“ In Leftys Augen spiegelte sich Kretinismus oder Begriffsstutzigkeit, eines von beiden bestimmt. „Ein Mädchen, das mich im Hotel gesucht hat. In der Nacht, als ich Orchid Paff besuchen wollte. Erinnerst du dich?“ 268
„In der Nacht?“ Lefty schüttelte den Kopf. „Was ist mit ihr?“ „Sie ist ermordet worden. Ich hab’ sie in mei nem Zimmer gefunden, bereits tot. Sie hatte ei nen Zettel in der Hand, auf dem stand…“ „Daß sie sich deinetwegen das Leben genom men hat?“ Lefty blickte mir in die Brille. „Timothy, ich habe genug von deinen Dumm heiten. Mach mich los, und…“ „Du hast sie nicht umgebracht?“ „Nein, zum Teufel. Natürlich nicht.“ Ich durchschnitt die Stricke, und sie fielen von Lefty. Der Lange erhob sich vom Stuhl und tau melte. „Lieber Gott, so lange gefesselt zu sein, das ist…“ „Wie lange?“ erkundigte ich mich. „Seit dieser verdammten Nacht, wo mir die ver rückte Idee kam, dich auf deinem geheimnisvollen Ausflug zu verfolgen!“ „Du hast mich verfolgt?“ Lefty reckte erst die Arme, dann die Beine. „Sieh mal, der kommt zu sich!“ sagte er mit dem Blick auf Steve, der sich wirklich am Boden zu rühren begann. „Wo ist sein Revolver?“ fragte Lefty und ant wortete sogleich: „Da!“ Er bückte sich und hob den Revolver auf, der Steve bei meinem Eintreten aus der Hand gefallen war. Er drehte ihn herum und schlug den Mann
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mit dem Griff auf den Scheitel. „Das ist für den Anfang!“ murmelte Lefty „Als Vergeltung!“ Steve heulte auf und wurde wieder still. Der Lange drehte sich zu mir um und spielte mit dem Revolver in Richtung meines Magens. „Und jetzt werden wir beide uns aussprechen!“ sagte er trocken. Ich sah ihn entsetzt an. „Lefty“, hauchte ich, „verlier nicht aus dem Ge dächtnis, daß ich dich aus den Händen dieses Jammerlappens befreit habe!“ „Ich vergesse nichts!“ antwortete Lefty. „Gib mir das Messer.“ Ich sah überrascht das Messer in meiner Hand an. Diese Waffe konnte mir ja bei der Diskussion mit Lefty nützlich sein. Jetzt war es natürlich zu spät. Ich reichte ihm das Messer, Lefty hielt mit einer Hand den Revolver außerhalb meiner Reich weite am Körper, mit der anderen griff er nach dem Messer. Er hatte an alles gedacht, der ver flixte Lange! „Fessele ihn!“ sagte er. „Wen?“ „Idiot! Ihn!“ Ich begriff, daß er Steve meinte, bückte mich und hob die Stricke auf. Dann drehte ich Steve auf den Rücken. Verwirrt sah ich mal die Stricke, mal den Mann an. „Auf den Stuhl. So wie er mich gefesselt hatte!“ Es war eine ziemlich mühselige Arbeit, einen Brocken wie Steve auf den Stuhl zu hieven, der bösartig wegrutschte und umkippte, sobald es mir 270
gelungen war, den Räuber entsprechend anzuhe ben. Lefty sah meinen Versuchen wortlos zu. „Wer ist diese Mabel?“ fragte er nach längerem Schweigen. Ich hob die Schultern. Jetzt war mir weiß Gott egal, wer diese Mabel war, da mir Steve wieder entglitt und Leftys Revolver im Halbdunkel schimmerte. „Na?“ „Wie lange warst du hier?“ fragte ich ihn. Anscheinend tat ich ihm leid. Er faßte mit einer Hand Steve an und half mir, ihn auf den Stuhl zu setzen. „Ich hab’s dir gesagt.“ Steve neigte sich nach rechts, und ich mußte rasch intervenieren, um ihn auf dem Stuhl festzu halten. „Und du weißt nichts?“ Ich nahm die Stricke und sah sie hilflos an. „Nichts Interessantes. Fessele ihn erst um den Bauch. Gab es denn etwas, was sich zu wissen lohnt?“ Ich wickelte den Strick um den Bauch des Gangsters. Lefty hielt ihn inzwischen fest, bereit einzugreifen, wenn er eine Flucht von dem Sitz versuchte. „Diese Mabel, die ich schon erwähnt habe, ist ermordet worden. Wo soll ich diesen Strick an bringen?“ „Unter den Armen. Diese Mabel hast du schon erwähnt. Jetzt um den Brustkorb. So. Und das ist alles?“
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„Auch Orchid hat sich umgebracht. Und jetzt? Um den Hals?“ „Da würdest du ihn erdrosseln, aber ich möchte mich noch mit ihm unterhalten. Orchid, sagst du?“ „Ja, meinetwegen. Ich glaube, jetzt ist es O.K. Ich bin ja gar nicht so schlecht im Knotenknüpfen. Sie hat sich unglücklich in mich verliebt und sich das Leben genommen. Sie ist in den Swimming pool gefallen wie Miriam. Gut so?“ „Idiot!“ Ich sah mir noch einmal den Knoten an, den ich eben geknüpft hatte, und wunderte mich über Leftys Unmut. Der Knoten war durchaus nicht schlecht. Ich schaute den Langen an und stellte fest, daß er mich mit einer seltsamen Glut in den Augen musterte. „Lefty, ich…“ Ich blickte mich nach seinem Revolver um. Er war noch immer in Leftys Hand. Aber das regte mich nicht so sehr auf – der Mensch gewöhnt sich an alles –, wie mich die Tatsache überraschte, daß sich die Tür hinter Lefty zu öffnen begann. Ich stockte, die Worte erstarben mir auf den Lippen. Lefty merkte etwas. „Was ist?“ „Hände hoch, meine Herren!“ Ich sah, daß sich Lefty plötzlich aufrichtete, als hätte er einen Rippenstoß erhalten. Vielleicht hat te er auch. Hinter ihm stand Hannibal, der Mann, der meine Sympathien nicht genoß.
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„Los schon, Hände hoch, langes Leiden!“ fuhr er Lefty an. „Und du, Schielauge, mach meinen Freund los. Aber schnell.“ Lefty hob die Hände fast zur Decke und ließ den Revolver fallen. Hannibal stieß den Langen zur Wand. „Hier kannst du dich beschäftigen. Zähl’ die Blümchen an der Tapete da oben. Und du?“ Er fuchtelte mit dem Revolver in meiner Rich tung. Sein Gesicht verzerrte sich böse. Ich mu sterte ihn, aber ich konnte keine Spur von Morleys Geschoß entdecken. „Mach ihn los! Und bring ihn zu sich.“ Ich runzelte die Stirn. Nach so viel Anstren gung, einen echten Pfadfinderknoten zu knüpfen, sollte ich jetzt wegen der Laune eines Nichtsnut zes mein Meisterwerk zerstören? Ich schaute Hannibal an und begann mit viel Energie die Stricke zu lösen. „Mit dir habe ich noch ein paar Rechnungen zu begleichen“, sagte Hannibal. Ich schaute Lefty an. „Mit mir?“ fragte der. „Nicht mit dir. Dich hat Steve auf dem Zahn. Mit dieser Rotznase!“ Ich arbeitete schneller, und bald darauf glitt Steve zu Boden. „Och!“ machte er. „Paß auf, Dummkopf!“ brüllte Hannibal. „Ich gestatte nicht, daß man mit meinen Freunden so umgeht!“ „Pardon“, sagte ich zu Steve. „Wo bin ich?“ fragte Steve geistvoll. 273
„Ich bin in letzter Sekunde gekommen“, sagte Hannibal zu ihm. „Diese Hundesöhne wollten dich gerade liquidieren.“ Steve machte jetzt erst die Augen auf. Er dreh te sich um und erblickte Lefty, der wie ein Ge kreuzigter an der Wand stand. Er stürzte zu ihm und gab ihm einen Tritt ins Hinterteil. „Du…!“ Lefty stöhnte. „So heftig brauchte es nicht zusein“, wagte ich zu bemerken. „Du bist still!“ fuhr Hannibal mich an. „Du kriegst dein Teil auch noch.“ „Ich glaube nicht“, mischte sich ein Fünfter ein! „Hände hoch, Hannibal. Und vorher weg mit der Kanone!“ Wir alle drehten uns um, bis auf Hannibal, der im Rücken etwas hatte, das ihn hinderte, eine sol che Bewegung zu machen. An der Tür stand Mi ckey, der Kellner aus dem „Einäugigen Bill“. Er lächelte und hielt die Hand in Höhe von Hannibals Rücken. „Mickey?“ entfuhr es mir. „Ja, Mr. Tatcher.“ Mickey verneigte sich, ohne die Hand mit dem Revolver zu senken. „Anschei nend bin ich nicht zu spät gekommen.“ „Nein, mein Junge!“ sagte Lefty, der zufrieden seine Wand verließ und sich bückte, um den Re volver aufzuheben, der Hannibal aus der Hand ge fallen war. Ich fühlte mich viel besser gelaunt als zuvor. 274
„Vielleicht wäre es angebracht, die beiden Ta gediebe zu fesseln“, bemerkte Mickey. „Ich glau be, die Atmosphäre in diesem Raum wäre dann besser.“ Offensichtlich beabsichtigte er das nicht persön lich zu tun, denn er war mit dem Revolver und Hannibals Rücken beschäftigt. Ich schaute Lefty an, und er schaute mich an. Einige Zeit schauten wir, dann bückte ich mich und hob die Stricke auf. „Komm her!“ Ich winkte Steve. Steve sah Mi ckey an und dann Lefty. Beide nickten. „Vielleicht machen wir einen Fehler, wenn wir sie nicht gleich durchlöchern“, sagte Lefty düster. Mickey lächelte, aber er stimmte nicht dafür. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich an die Arbeit zu machen. Fünfzehn Minuten später waren beide ver schnürt. Lefty vertrieb sich die Zeit, indem er Ste ve ohrfeigte, während Mickey dauernd nach der Uhr sah. Dann betrat ein fremder Mann das Zim mer. Mir unbekannt, aber Mickey, Hannibal und Ste ve kannten ihn offensichtlich. Er betrat das Zim mer auf ziemlich unangenehme Weise, mit einem Revolver in der Hand. Er bohrte ihn Mickey in den Rücken und rief zugleich Lefty zu, er möge die Waffe wegwerfen. Der Lange war so in das Ge spräch mit seinem legendären Gegner vertieft, daß er sich nicht einmal umdrehte und den Revol ver ohne Umstände fallen ließ. „Bravo, Lewis!“ sagte Steve, sobald ich ihn auf Befehl des Eindringlings losgebunden hatte. Er 275
versetzte Lefty einen kräftigen Fausthieb in die Magengegend. Lefty röchelte und klappte zusam men wie ein Rasiermesser. Lewis, Hannibal und Steve einigten sich, daß es das beste sei, uns zu fesseln. Das taten sie auch, das heißt, sie fesselten Mickey und Lefty, während ich beiseite stehen und warten mußte, denn die Stricke reichten nicht. Steve ging, um neue zu holen, während Hannibal und Lewis plauderten und uns mit ihren Revolvern bedrohten. Der nächste Neuankömmling war Morley. Auch er hatte zum Glück einen Revolver bei sich, was uns wieder Übermacht gab. Aber nicht für lange, denn Steve kam zurück und gab Morley mit dem Strick eins über den Schädel. Der wankte und ver lor bei dieser Gelegenheit den Revolver. Ein paar Sekunden war die Situation ungewiß, aber Hanni bal und Steve erwiesen sich als die schnelleren und geschickteren Kämpfer. In ihren Händen tauchten Revolver auf, und wir drehten uns mit dem Gesicht zur Wand und warteten, daß wir an die Reihe kamen, gefesselt zu werden. Auch das war bald erledigt. Schließlich kam auch Burton Hinnes. Er trug wie gewöhnlich einen sehr gut geschnittenen Anzug mit goldgelber Krawatte und roter Rose im Knopf loch. In seiner Begleitung waren zwei Polizisten, also brauchte er den Revolver nicht zu ziehen. Der Inspektor stand etwas abseits und lächelte uns liebenswürdig an, während einer der Polizi sten die Anwesenden unter Aufsicht seines mit
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zwei Schießeisen bewaffneten Kollegen von ihren Revolvern befreite. „Oh, Inspektor, das haben Sie gut gemacht!“ rief ich. „Sie kommen gerade zur rechten Zeit.“ Inspektor Hinnes verbeugte sich bescheiden. Ich war gerührt und wollte ihm auf irgendeine Weise helfen. „Gestatten Sie, daß ich sie fessele?“ sagte ich zu Hinnes. „Ich habe ziemliche Praxis im Knoten knüpfen.“ Die Tür ging auf. Für einen Augenblick zeigte sich darin das bleiche Gesicht jenes McMaster. Ich erstarrte, denn ich befürchtete neue Veränderun gen. Er blickte sich stumm in der Runde um und verschwand, indem er leise die Tür hinter sich schloß. „Niemand braucht gefesselt zu werden“, ant wortete der Inspektor auf mein Angebot. Ich war überrascht, und ich glaube, die anderen auch. Und zwar alle. „Was, sind Sie nicht gekommen, um…?“ „Ich bin in die Villa von Herbie Paff gekommen, um den Mörder von Maud Winters, Miriam Shea und Mabel Morris zu verhaften!“ sagte der Inspek tor. „Den Mörder? Also haben sie wirklich nicht…“ Der Inspektor antwortete mit einem Lächeln und leichtem Kopfschütteln. „Und… und… Orchid? Ist sie auch…?“
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Lefty durchbohrte mich mit seinem Blick und sagte: „Idiot! Dußliger, lächerlicher, eingebildeter Idiot!“ In diesem Augenblick hörten wir einen Schrei.
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Zunächst den alten Schotten ein Vorwurf: Sie hat ten zu schmale Türen gebaut. Das rächte sich jetzt, als wir aus dem Zimmer stürzen wollten. Wir alle blieben in der Tür stecken. Endlich be gann es zu sickern. Als erster drängte der Inspek tor hinaus, nach ihm Mickey, dann ein Polizist und ich, denn meine Hände umklammerten krampfhaft das Lederkoppel, das der Polizist trug. Ich weiß nicht, wie es hinter mir weiterging, denn ich stürzte, ohne mich umzublicken, die Treppe hin unter, um festzustellen, wer da schrie, wo er schrie und warum er schrie. Die Stimme war voller Entsetzen und kam von unten. Außer dem Schrei, der die Diskussion in unserem Zimmer unterbrochen hatte, hörten wir noch vier oder fünf Hilferufe. Es waren hohe Töne, scharf, und sie endeten in einem heiseren Rö cheln, als würde der Urheber in seinem Tun be hindert. Die Treppe war zu heftig gewunden, die Stufen an der Innenwand waren ungewöhnlich schmal, und das war wahrscheinlich die Ursache für den Sturz meines Polizisten. Er zog mich hinter sich her, und wir glitten wie große Schneebatzen über die letzten Stufen. Ich spürte keinen Schmerz bei der Berührung mit dem Holzfußboden. Mich störte einzig, daß mir die Brille von der Nase gerutscht war, so daß ich nicht sehen konnte, wohin der In spektor und Mickey verschwunden waren und wer 279
alles auf mir herumtrampelte, nachdem ich am Fuß der Treppe liegengeblieben war. Aber ich glaube, ich mache keinen Fehler, wenn ich anfüh re, daß – wenn nicht vollzählig, so doch teilweise – alle Anwesenden auf mich traten. Endlich verebbte der Hurrikan, und es gelang mir, aufzustehen. Der größte Teil der Oberfläche meines Körpers schmerzte, und ich hatte sicher lich auch innere Verletzungen. Aber es war mir, allem Anschein nach, dennoch besser ergangen als meinem Polizisten, denn er erhob sich gar nicht mehr. Ich weiß nicht, ob er wirklich so ernsthaft verletzt oder ob nur seine Arbeitszeit um war und er liegenblieb, um sich auszuruhen, denn die Hollywooder Polizei bezahlte ihm bestimmt keine Überstunden. Dann setzte ich die Brille auf, schaute mich um, und wieder war alles trübe. Ich nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Tüchlein aus der oberen Rocktasche. Hier wollte ich den Satz so beenden: „meines eleganten dunkelblauen Anzugs“, aber das wäre eine Desinformation gewesen. Nach dem Sturz über die Treppe und der Wandalenhorde, die über mich dahingegangen war, sah mein An zug nicht mehr elegant und auch nicht mehr dun kelblau aus. Jetzt endlich sah ich. Aber eigentlich gab es nichts anzuschauen, ausgenommen zwei Bilder und irgendeine Truhe in einer Ecke der Halle. Ja, und der Polizist, der weiterhin am Fuß der Treppe lag. Vielleicht war das Interessanteste eine Tür, obwohl sie auch kein besonderes Kleinod schotti 280
scher Architektur war. Die Tür war geöffnet, sie als einzige war geöffnet, also war sie auch inter essant, denn sicherlich waren meine Bekannten hindurchgegangen. Ich rannte durch diese Tür, auch durch die nächste und stieß dann auf eine große Gruppe Menschen. Ich sah ihre Rücken, ich sah, daß die in den hinteren Reihen sich auf die Zehen erho ben, um zu erfahren, was da in der Mitte los war. Auch ich erhob mich auf Zehenspitzen. Reiner Formalismus. Ich sah schlechthin nichts, vielleicht weil vor mir Hannibal stand, und dem reichte ich auch auf Zehenspitzen, nur bis zur Schulter. Ich ging um die Gruppe herum und versuchte mich von der anderen Seite durchzuarbeiten. Ohne Er folg. Wieder erhob ich mich auf Zehenspitzen, aber das einzige, was ich sah, war die linke Schul ter meines Bekannten Mickey aus Bronx. „Mach mal ein bißchen Platz“, sagte ich und schubste ihn. „Selbstverständlich“, antwortete Mickey und blieb, wo er stand, ohne Rücksicht auf mich. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich des Stuhles zu bedienen, den ich in einer Ecke des Saals erblickte. Ich trug ihn zu der Gruppe und kletterte hinauf. Inmitten der Menge, die Hände am eigenen Hals, lag Orchid. Die Frau Herbie Paffs, die sich aus unglücklicher Liebe das Leben genommen hatte. Ihr Kopf lag auf dem Knie meines Freundes Morley. Sie atmete tief, zitterte von Zeit zu Zeit und strich sich nervös über den weißen Hals, als
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massiere sie ihn. Sie gab noch Lebenszeichen von sich. Sie sprach sogar. „Dorthin ist er gelaufen!“ Ihre Augen irrten zur Tür hin, verharrten aber auf dem gestärkten Vorhemd des kahlen Morley. Ich traute meinen Augen nicht. Ich blinzelte und sah dann wieder hin. Es war wirklich Orchid, lebend, wenn auch vielleicht nicht die Gesündeste. Ich spürte jemandes Blick. Es war Lefty, der auch diese Gelegenheit nützte, um beleidigend zu sein. „Erkennst du sie wieder, Dämlack?“ „Aber…!“ Ich beendete den Satz nicht, denn ich verlor das Gleichgewicht, wahrscheinlich durch diese Entdeckung ins Wanken geraten. Ich fiel vom Stuhl Inspektor Hinnes in die Arme, der sich plötzlich von der Gruppe gelöst hatte und losge rannt war. Er hielt mich auf, stellte mich auf die Füße und setzte seinen Weg fort. Dem Gesetz der Trägheit folgend, lief ich ihm nach. Jemand folgte uns. Ich weiß nicht, in welchen Situationen Aristote les, Spinoza und Kant am erfolgreichsten nachge dacht haben. Ich gelangte zu den tiefsten Gedan ken gerade jetzt, als ich Inspektor Burton im Cross-country folgte. Zuerst konstatierte ich, daß sich Orchid Paff nicht meinetwegen umgebracht hatte und nicht ermordet worden war. Dann wur de mir klar, daß vor kurzem jemand versucht hat te, sie zu töten, und daß es keiner aus unserer Gruppe gewesen war. Ich folgte dem Faden mei
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ner Gedanken und kam so auch darauf, daß der Inspektor und ich dem Mörder nachliefen. Wir faßten ihn schon im dritten Raum. Auf dem roten Teppich wand sich Herbie Paff mit einem Revolver in der Hand. Es war derselbe kleine Sa lonrevolver, der vor einiger Zeit auf mich gezielt hatte mit der festen Absicht seines Besitzers, das ganze Magazin in meinen Körper zu leeren. Im Handumdrehen hatte der Inspektor dem Produzenten den Revolver abgenommen, und dann brachte er ihn durch einen kräftigen Schul tergriff dazu, sich zu beruhigen. Die Fischaugen Herbie Paffs traten aus den Höhlen und sahen den Vertreter der Gerechtigkeit mit panischer Angst an. „Du hast ausgespielt!’’ zischte ich durch die Zähne und packte Paffs Beine, um ihm jede Be wegung unmöglich zu machen. „Er ist verwundet!“ rief Burton Hinnes. Paff starrte den Mund des Polizeiinspektors an, als erwarte er von dort sein Urteil. Wenn dieser etwas äußerte, begann Paff zu zittern, was ich an seinen dünnen Beinchen spürte. Burton Hinnes drehte ihn ohne Gnade auf den Bauch. Auf seinem Rücken war ein Blutfleck, so groß wie ein zer drückter Apfel. Nein, das stimmt nicht, er war wie eine Grape fruit, jetzt schon wie eine Melone. Begreifen Sie? Der Fleck breitete sich aus. „Schnell etwas zum Verbinden!“ Die Stimme des Inspektors klang ziemlich ge bieterisch, und ich spürte, daß ich seinem Befehl 283
gehorchen mußte. Das hätte zwar auch der Poli zist tun können, der sich uns angeschlossen hatte, aber er tat, als habe er die Worte des Inspektors nicht gehört. Ich ließ Paffs Beine los und überflog mit dem Blick die Gegenstände in meiner Umge bung. Die Vorhänge am Fenster waren sehr stoffreich, aber von schwarzer Farbe mit Goldstickerei, und das war, wie es mir schien, für Wunden nicht ge eignet. Auch von der kardinalsroten Couch hatte es keinen Sinn, den Stoff abzutrennen. Ein Mörder ist das nicht wert. An der Wand hing ein kostbarer Gobelin, aber auch der gefiel mir nicht. Ich be schloß, mein Hemd zu opfern. Da fiel mein Blick auf einen Einbauschrank mit Schiebetür. Dort mußte sich finden, was wir brauchten. Herbie Paff war bereits bis zur Gürtel linie nackt, als ich die Tür öffnete. Ich hatte einen Haufen Kleider vor mir und griff mit der Hand hin ein, um eines vom Bügel zu ziehen. Dabei stieß ich gegen etwas Weiches. „Hihihi!“ Jemand lachte im Inneren des Schrankes. Ich griff noch einmal in den Schrank und versank wieder in diesem Weichen. Wieder kicherte jemand, und aus den Frauen kleidern fuhr ein scharfes Messer und schnitt mir die Ärmel auf. Das brachte mich in Rage. Ich packte die Hand mit dem Messer und zog daran. Die Kleider gerieten in Wallung. Aus dem Schrank kullerte der dicke Körper von Jonathan Sparks. „Bravo, Tatcher!“ 284
Das hatte nicht Sparks gesagt, denn er war mir vor die Füße gefallen. Die Anerkennung kam von Burton Hinnes, der Paff verlassen hatte und neben mir aufgetaucht war. Er öffnete Sparks die Hand, deren Gelenk ich fest umklammerte. Das Messer fiel auf den roten Teppich. „Aua!“ sagte Sparks und hörte auf zu lachen. „Spitzbube!“ meldete sich Paff. Sparks war erstaunt. „Du lebst? Ist doch nicht möglich! Das ist eine Überraschung. Hihihi, ich möchte wetten, daß dann auch Orchid am Leben ist!“ „Und Sie würden die Wette gewinnen“, sagte Hinnes. „Die Zahl Ihrer Opfer, Sparks, hat sich auf drei reduziert.“ Ich sah Sparks mit weitaufgerissenen Augen an. Die Zahl seiner Opfer! Seiner! Sparks’ Hände waren schon in Handschellen. Dafür hatte der Polizist gesorgt, während Hinnes die Taschen des Dicken untersuchte. Ich drehte mich um. Bei Paff hatte sich schon eine Gruppe meiner Bekannten versammelt. Auch Orchid war da. Bleich und schwach kniete sie ne ben ihrem halbnackten Gatten und streichelte ihm zärtlich die Hand. Paff lag wieder auf dem Rücken, und um seinen Brustkorb war ein Hemd gewickelt. Lefty trennte sich von der Gruppe. „Haben Sie ihn gefaßt, Inspektor?“ fragte er Hinnes. „Ich?“ Er schüttelte den Kopf. „Timothy! Unser Freund Timothy hat ihn erwischt.“
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Lefty sah mich verblüfft an. Anscheinend war ihm etwas unklar, sowohl ihm als auch vielen an deren der Anwesenden. Orchid sah mich nur kurz an und senkte gleich wieder den Blick. Hannibal paßte die Situation of fenbar nicht. Er versuchte fortzugehen, aber sein ehemaliger Verbündeter Steve hinderte ihn daran, indem er ihn mit einem sauberen Crochet zu Bo den warf. „Das ist wirklich ein gelungener Scherz, Tat cher!“ lachte der schwitzende Sparks. „Daß ich gerade Ihnen in die Hände geraten mußte. Aber Sie hätten mich nicht geschnappt, wenn es Ihnen nicht eingefallen wäre, mich zu kitzeln.“ Hinnes zog einen Zettel aus Sparks’ Tasche. Er überflog ihn, dann hielt er ihn mir vor die Nase. „Ich habe alles satt. Vor allem die Frauen. Ti mothy.“ Ich verstand den Text nicht und drehte mich mit einem Ausdruck des Zweifels zu Burton um. „Ich… begreife das nicht.“ Hinnes lachte, Sparks ebenfalls. „Sie sollten das nächste Opfer sein!“ sagte der Inspektor, und der Dicke bestätigte es durch ein Wackeln seines dreifachen Unterkinns. „Ihr letzter Gruß war schon vorbereitet.“ Sparks schrieb mit dem Zeigefinger noch einen Namen in die Luft. Meinen. „Wer hätte das gedacht, daß dieses fette Schwein drei Frauen umbringen konnte!“ sagte Lefty zwei Stunden später in unserem Apparte ment. 286
„Es wären noch mehr Opfer geworden, wenn ihm nicht im letzten Augenblick die Hand gezittert hätte“, sagte Inspektor Burton Hinnes nachdenk lich. Ich goß uns dreien Whisky ein. Wir tranken ihn schweigend. „Wahrscheinlich ist ihm das Gedränge im Hof dazwischengekommen, und er mußte sich beeilen. Aber ein Mensch von seiner Tonnage sollte nicht hasten!“ schloß der Inspektor. „Was haben ihm nur diese drei Frauen getan?“ seufzte ich in der Erinnerung an die wunderbare Büste von Maud Winters, an den schönen Kopf von Miriam Shea und die schlanken Beine von Mabel Morris. Hinnes setzte das Glas ab und lehnte sich im Sessel zurück. „Schuld an allem sind die geschäft lichen Ambitionen von Orchid Paff“, sagte er. „Wä ren die nicht gewesen, wäre Sparks nie zum drei fachen Mörder geworden. Vielleicht“, korrigierte sich Burton Hinnes. „Orchid?“ staunte ich. „Warum sollte sie schuld sein? Sie haben sie doch nicht verhaftet. Außer Hannibal und natürlich Sparks kenne ich niemand, den Sie noch ins Gefängnis geschickt haben.“ „Sie haben falsch verstanden, Timothy“, seufzte der Inspektor. „Orchid hat Sparks nicht überredet, die Verbrechen zu begehen. So etwas wäre ihr nie in den Sinn gekommen!“ Auch Lefty meldete sich zu Wort.
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„Das begreife ich jetzt nicht mehr, Inspektor!“, sagte er. Hinnes zündete sich eine Zigarette an und erklärte es uns. „Orchid stammt aus einer armen Familie“, er zählte Hinnes. „Sie ist auf der Straße aufgewach sen. Sie war auch in einem Erziehungsheim und hat dort geschworen, nie wieder in die Armut zu rückzukehren. Als sie das Heim verließ, kam sie nach Hollywood, wie alle hübschen Mädchen, die hier Erfolg haben wollen. Sie wurde Garderobiere in einem Lokal. Dort entdeckte sie Paff. Er ver suchte sie als Schauspielerin zu lancieren, aber das gelang ihm nicht. Orchid hatte kein Talent. Paff verliebte sich und heiratete sie. Das Mädchen hatte ihren Traum verwirklicht – Reichtum.“ Der Inspektor trank einen Schluck Whisky und fuhr fort: „Wenn jemand vom Reichtum gekostet hat, wird sein Appetit noch größer. Orchid hatte bei dem verliebten Paff alles, was ihr Herz be gehrte – aber es begehrte noch mehr. Sie ließ sich auf geschäftliche Transaktionen ein. Ihr Bera ter war der dicke Jonathan Sparks, ein großer Verehrer schöner Frauen, der auf diese Weise Po sitionen im Herzen Orchids gewinnen wollte. An sonsten war Sparks mit Paff geschäftlich liiert. Man könnte sagen, daß er in vielen Dingen seine rechte Hand war. Mit der Zeit vollführte Orchid einige erfolgreiche Aktionen. Sie begann sogar dem eigenen Mann Konkurrenz zu machen, der nicht wußte, wer in vielen Unternehmungen sein Gegner war. Orchid verbiß sich bis zum Hals in die Arbeit, was Sparks, 288
einem Mann mit großem Ehrgeiz, willkommen war. Jetzt nutzte auch er die Gelegenheit und stellte seinem Kompagnon Herbie Paff ein Bein, wo immer er konnte. Die bekannte Schauspielerin Maud Winters er fuhr durch Zufall davon. Auf dem Empfang beim Einäugigen Bill sagte sie Sparks in betrunkenem Zustand, was sie wußte, und legte ihm ihre Ab sicht dar, es Paff zu stecken, wenn dieser ihr als Gegenleistung die Hauptrolle in dem großen histo rischen Film-Spektakel gab, das er plante. Sparks wurde von Panik ergriffen. Er hatte seinen letzten Cent in ein Baugeschäft investiert, von dem Paff nichts wissen durfte. Mehr noch, er hatte auch einen Teil von Paffs Kapital investiert, natürlich mit Orchids Hilfe. Wenn Maud schwatzte, war er, Sparks, ruiniert. Da beschloß er, sie umzubrin gen.“ „Dort bei Bill?“ fragte ich. „Ja. Nach dem Empfang begleitete er sie nach Hause. Dort schüttete er ihr unbemerkt ein paar Tropfen Gift in das Glas Milch, das sie vor dem Schlafengehen zu trinken pflegte. Er verabschie dete sich von ihr, bevor Maud das Gift nahm. Heimlich kehrte er zurück, und als er sie tot fand, beseitigte er alle Spuren, damit es so aussah, als hätte Maud Selbstmord begangen. Damit es über zeugender wirkte, schrieb er ,ihren’ letzten Brief, in dem Maud behauptete, sie töte sich aus un glücklicher Liebe. Er ahmte ihre Handschrift nach und hatte Erfolg damit. Sein Hobby, das Imitieren fremder Handschriften, kam ihm diesmal zupaß.“ 289
„Hm“, murmelte ich. „Wie war ihm gerade mein Name eingefallen, den er in ihren letzten Gruß setzte?“ „Sparks war ein Spaßvogel. Er hatte Sie dort auf der Bühne gesehen, über Ihr Duell mit Budd Stark gelacht. Und, wie er mir vorhin gestanden hat, er hielt es für einen gelungenen Scherz, der Öffentlichkeit vorzumachen, daß sich die berühm te Schauspielerin in einen lächerlichen und unbe holfenen Provinzler verliebt hatte, den keiner kannte und der ihm Mayonnaise ins Gesicht ge schmiert hatte.“ „Also alles wegen der Mayonnaise“, bemerkte ich. „Wie dem auch sei“, fuhr Burton Hinnes fort, „der Trick gelang. Die Presse blies den Fall auf, und die Öffentlichkeit war überzeugt, daß Maud sich in Sie verliebt hatte. Glauben Sie mir, Jona than Sparks genoß das tatsächlich!“ Lefty grinste. Ich sah ihn schief an und enthielt mich eines Kommentars. Wenn jemand der Be hauptung aufgesessen war, daß sich die berühmte Schauspielerin in einen Provinzler verliebt hatte, dann war es bestimmt er. „Ein Mord zieht den zweiten nach sich“, fuhr Hinnes fort. „Es kam die Nacht im Schloß von Herbie Paff. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß Miriam Shea Sparks’ Geliebte war. Der Dicke hatte zufällig herausbekommen, daß sie auch mit Paff intime Beziehungen unterhielt. Er folgte ihr, als sie in den Park ging. Miriam hatte dort ein Rendezvous mit dem alten Paff, und da sie glaub 290
te, er käme, sprach sie Herbies Namen unvorsich tig aus. Sparks geriet in Rage. Er hatte begriffen, daß Miriam ihn betrog, und fürchtete zugleich, daß sie seine geschäftlichen Geheimnisse preis gab, die er ihr anvertraut hatte. Es kam zum Streit zwischen ihnen. Miriam warf ihm Orchid vor und drohte, sie würde Paff alles sagen. Damit un terschrieb sie ihr Todesurteil. Sparks tötete sie im Affekt und inszenierte dann den Selbstmord. Der Lärm und die Musik im Schloß verhalfen ihm dazu, daß alles unbemerkt blieb. Draußen in der Dun kelheit schrieb er den zweiten Zettel; die Hand schrift, die er nachahmte, war ihm ja wohlbe kannt. Und zum zweiten Mal bezeichnete er Sie, Tatcher, als den indirekten Schuldigen, diesmal am Tod seiner Miriam.“ Burton Hinnes fuhr fort: „Bleibt noch der Tod von Mabel Morris. Dieses unglückliche Mädchen hatte im vergangenen Jahr den lüsternen Dick wanst kennengelernt. Er versprach ihr, sie beim Film unterzubringen, und sie war dafür seine Ge liebte geworden. Aber als sie schwanger wurde, schickte Sparks sie kurzerhand nach Kentucky, woher sie stammte, und stattete sie mit einer ge wissen Geldsumme aus. Dieser Tage war sie zu rückgekommen, um ihm zu sagen, daß das Kind gestorben und sie gänzlich mittellos war. Sie ver langte von ihm, daß er sein Versprechen einlöste und ihr eine Rolle verschaffte. Sparks überließ sie Hannibal, um das Mädchen loszuwerden. Aber dieser sein Leibwächter kann leider mit Menschen nicht anders umgehen als mit 291
einem Revolver. Er tötete die Kleine und meldete es seinem Chef. Der war gerade mit einem ande ren Spaß beschäftigt. Er befahl Hannibal, Mabel in dieses Hotel zu bringen. Er diktierte auch den Text, den Hannibals Freundin auf ein Stück Papier schreiben sollte, damit dieser Tod später der Epi demie der Selbstmorde wegen des Herzensbre chers Timothy Tatcher zugeschrieben wurde. Lei der gingen wir ihm diesmal wirklich auf den Leim, denn wir versäumten, uns die Originalhandschrift von Mabel zu beschaffen, wodurch wir die Fäl schung festgestellt hätten. Denn Hannibals Maud versuchte gar nicht, in der Schrift des Mädchens zu schreiben. Sie hatte nicht wie der Dicke geübt, fremde Handschriften nachzuahmen.“ „Heißt das, daß Mabel nicht das Opfer von Jo nathan Sparks ist?“ fragte ich. „So ist es, zumindest nicht direkt sein Opfer. Sie hat Hannibal auf dem Gewissen, aber das heißt nicht, daß Sparks nicht an diesem Tod schuld ist.“ Inspektor Burton Hinnes zündete sich noch eine Zigarette an. Er wartete, bis die Rauchringe zur Decke entschwebt waren, und sprach dann wei ter: „Ich habe vorhin erwähnt, daß Sparks sich mit einem weiteren Spaß beschäftigte, als Hanni bal Mabel übernahm. Und der Spaß war wirklich teuflisch ausgedacht, Sie werden sich davon über zeugen.“ „Das mit Orchid?“ fragte Lefty. Der Inspektor nickte.
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„Was war das mit Orchid? Ehrlich gesagt, ich begreife etwas nicht. Ich habe Orchid am Swim mingpool gesehen, tot, und heute…“ „Und heute hast du sie gesund und munter ge sehen“, unterbrach mich Lefty. „Komisch, was? Tot, aber sie ist nie ermordet worden.“ Der Inspektor lächelte. „Es war wirklich ein seltsames Spiel. Hören Sie gut zu! Sparks hatte von Orchid erfahren, daß Sie, Tatcher, Paff über die Maßen unsympathisch waren. Sie steigerte diese Aversion noch, indem sie Sympathien Ihnen gegenüber heuchelte.“ „Heuchelte?“ „Ja, das hat sie geheuchelt“, bestätigte Hinnes. „Aber als Paff ihr einmal deshalb eine Szene machte, schlug sie ihm vor, den grausigen Scherz auf Ihre Kosten zu machen.“ Lefty lachte laut auf, erhob sich aus dem Sessel und spazierte in meinem Schlafzimmer auf und ab. Ich blieb neben dem Inspektor sitzen und hör te mit offenem Mund zu. „Die Idee kam natürlich von Sparks. Sie be stand aus folgendem: Orchid sollte Sie einladen und in ihr Schloß locken. Dort hatte der Selbst mord inszeniert zu werden, wofür ein junges Zimmermädchen und das Kleid ihrer Herrin dien te, die Finsternis, die Atmosphäre am Swimming pool, die Überzeugung, daß es sich bereits um die zweite Leiche in diesem Park handelte. Und natür lich der legendäre Abschiedsbrief mit Ihrem Na men.“
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Ich rieb mir die Nase, aber ich sagte nichts. Lefty stand hinter mir. Auch er schwieg und war tete auf die Fortsetzung der Geschichte. „Vielleicht klingt es seltsam, daß der mächtige Herbie Paff bei diesem stupiden Spiel mitmachte, daß er zustimmte, selbst den trauernden Witwer zu mimen, um diese Lüge zu unterstützen. Aber so seltsam es klingt, es war so. Sie waren Paff unermeßlich unsympathisch…“ „Er war eifersüchtig!“ Lefty mischte sich ein: „Kapier doch, sie hatte geheuchelt!“ Der Inspektor hüstelte. „Sie waren ihm unsympathisch, das ist das er ste. Und das zweite – komische –, es machte ihm Spaß, auch einmal zu schauspielern. Verstehen Sie?“ „Nein“, antwortete ich. Ich verstand wirklich nicht. Der Inspektor erklärte es mir. „Auch Paff war seinerzeit mit der Absicht nach Hollywood gekommen, als Schauspieler Karriere zu machen. Es war ihm nicht gelungen. Aber als Produzent hatte er Erfolg. Und wie. Aber die alte Schwäche für das Schauspielen und die unver wirklichten künstlerischen Ambitionen entflamm ten wieder, als Orchid ihm das Spiel vorschlug. Wie Orchid sagt, fing der Alte Feuer, weil er dach te, daß sich endlich eine Gelegenheit bot, sein schauspielerisches Talent zu beweisen. Nicht für das Publikum, sondern zum eigenen Vergnügen.
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Und das war es, wonach er jahrelang gedürstet hatte. Das Spiel wurde erdacht und tadellos ausge führt. Sie kamen in der Nacht, und Sie traten nicht durch den Haupteingang ein, sondern Sie gingen ums Haus herum. Da befand sich Steve, der allen Ungebetenen den Zugang unmöglich machen sollte. Zum Glück wichen Sie ihm aus und gelangten hinter dem Gebäude in den Park. Die Vorhut – Orchid selbst – entdeckte Sie von einem der dunklen Fenster aus. Sie gab das Zeichen. Das Zimmermädchen in ihrem weißen Kleid feuer te aus einem Theaterrevolver einen Schuß auf die eigene Brust ab und simulierte den Sturz ins Was ser. Orchid hatte kurz zuvor aufgeschrien. Sie ha ben das gesehen und geglaubt, es handele sich um Orchid.“ „Ich habe…!“ „Nun erzähl’ bloß nicht, daß du alles gewußt hast!“ stichelte Lefty. „Dann bekam der Beleuchter ein Zeichen, und die Scheinwerfer richteten sich auf den großen Mimen Herbie Paff, der die Bühne betrat.“ „Und?“ fragte ich atemlos. „Das andere wissen Sie“, antwortete Burton. „Sie gingen auf den Leim, Orchid hielt sich eine Weile vor Ihnen versteckt, und Ihr Freund…“ Lefty murmelte einen Fluch und kratzte sich den Schädel. „…mußte es ausbaden, denn er hatte das Pech, Orchid lebend gesehen zu haben,“ „Du?“ 295
Ich drehte mich zu Lefty um und sah ihn über rascht an. „Warum hast du mir nicht gesagt…? Du hättest mich darauf aufmerksam machen können, daß…“ Lefty runzelte die Stirn. „Sei bloß still, Timothy. Wie hätte ich mich mel den können, wenn ich da oben unterm Dach hock te und dieser Steve mir jede halbe Stunde eine Tracht Prügel versetzte, damit es mir nicht zu langweilig wurde!“ „Wie bist du dahin geraten?“ „Wie?“ Lefty sah mich ärgerlich an. „Weil ich ein Idiot war, der sich Sorgen um dich machte. Ich habe gehört, wie Orchid dich anrief. Ich bin dir im Auto bis zum Sunset gefolgt…“ „In unserem?“ „Ja“, bestätigte Lefty und lüftete damit noch ei nen Schleier von diesem Mysterium, „aber ich stieß mit Orchid zusammen, die zum Swimming pool rannte, um ihrem Double nach dem ,Selbstmord’ zu helfen. Von da an wohnte ich in der Mansarde“, schloß Lefty säuerlich. Einen Augenblick herrschte Stille im Zimmer. Ich dachte über das Gehörte nach, die beiden an deren tranken Whisky. „Aber…“, begann ich. Der Inspektor blickte mich über sein Glas an. „Ja?“ fragte er freundlich. Ich hob die Schultern. „Die heutige Abrechnung ist mir nicht klar“, sagte ich.
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„Ja, noch das!“ nickte Burton Hinnes. „Die Sa che verschärfte sich in den Beziehungen zwischen den beiden Partnern Paff und Sparks. Heute mor gen hat Herbie Paff bei einer Besprechung in sei nem Büro erfahren, daß der unbekannte Konkur rent, der ihm das Geschäft mit freien Baugrund stücken vor der Stadt vor der Nase weggeschnappt hatte, sein Kompagnon Jonathan Sparks war. Der gab das auch unumwunden zu, wobei er wie gewöhnlich kicherte. Das war ein Tief schlag für Paff. Er stürzte aus dem Büro und rann te nach Hause, um von Orchid eine Erklärung zu fordern. Sie war verblüfft, begriff, daß sie zu weit gegangen war und daß der Wohlstand, den sie bisher bei Paff genossen hatte, bedroht war. Als auch noch Sparks mit Hannibal eintraf, um Orchid über das Geschäft zu unterrichten, kam es zum Bruch. Orchid bekam einen Nervenzusammen bruch. Sparks begriff, daß sie wußte, wer der Mörder von Maud Winters und Miriam Shea war, und fürchtete, sie würde es Paff sagen. Er ver suchte sie zu erwürgen, aber als er Herbie Paffs Schritte hörte, ließ er von ihr ab und versteckte sich. Herbie bückte sich zu Orchid, und sie sagte ihm, wer sie überfallen hatte. Bevor sich Paff um drehen konnte, hatte ihn Sparks mit dem Messer in den Rücken gestochen und war geflüchtet. Paff folgte ihm mit dem Revolver in der Hand, aber er kam nicht weit. Dann trafen wir ein, und Sie, Ti mothy, holten Sparks aus dem Schrank.“ „Indem ich ihn kitzelte!“ sagte ich nachdenklich.
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Der Inspektor zuckte die Schultern und lächel te. „Verbrecher werden nicht immer durch einen Kinnhaken zur Strecke gebracht!“ Lefty lachte höhnisch. „Und das ist alles?“ fragte ich. „Das ist alles!“ sagte Inspektor Hinnes. Nachdem wir die Flasche geleert hatten, verab schiedete sich Hinnes. „Auf Wiedersehen, Tatcher!“ sagte er, wobei er mir herzlich die Hand schüttelte. „Wir sehen uns bald!“ „Auf Wiedersehen, Inspektor!“ sagte ich. Der Inspektor war bereits hinausgegangen, als ich ihm auf den Flur nachlief. „Und McMaster, Inspektor?“ fragte ich. „Wer ist das?“ „Dieser Bleichgesichtige. Er ist überall aufge taucht, hat mich verfolgt, aber nie etwas gesagt. Wer ist das? Hat er auch etwas verbrochen?“ Der Inspektor schnitt eine Grimasse. „Ich weiß es nicht, glauben Sie mir, ich weiß es nicht. Ihr McMaster ist für mich eine unbekannte Größe.“ Ich kehrte verwirrt ins Zimmer zurück. Lefty war nicht dort. Er war auch nicht im Wohnzimmer. Ich fand ihn in seinem Schlafzimmer. Dort packte er seine Sa chen. „Was ist, Lefty?“ fragte ich. „Nichts“, antwortete er kühl. „Es reicht.“ „Es reicht?“ 298
Er nickte und schaute mich aus seiner Höhe an. „Ja. Unsere Wege trennen sich, ist das klar? Ich habe genug von dir und deinen Leichen, die du überall hinterläßt.“ „Hm“, sagte ich zu Lefty. „Mir reicht es auch. Aber die Rechnungen? Das Hotel? Das Auto?“ Lefty stopfte weiter seine Sachen in den Koffer. „Das überlaß dem IPB. Ich krieg’ das schon ir gendwie beim Verwaltungsrat durch und beim Generaldirektor hin, daß er den Scheck unter schreibt“, sagte er mit ernstem Gesicht. „Dann leb wohl, Lefty“, sagte ich zu dem Lan gen. „Leb wohl, Timothy!“ antwortete er. Wir schüttelten uns die Hände. „Das Hotel ist bis zum Ende der Woche be zahlt“, warf er mir über die Schulter zu, als ich sein Zimmer verließ. Ich kehrte in schlechter Stimmung in mein Schlafzimmer zurück. Ich brauchte etwas, was mich aufheiterte, dachte ich. Ich mag keine Ab schiedsszenen und… eigentlich brauchte ich je mand. Ich drückte auf den Knopf, um Jacqueline zu rufen. Bevor sie erschien, rückte ich meine Kra watte zurecht und betrachtete mich beim Käm men im Spiegel. Die Tür ging auf, und ein Zimmermädchen trat ein, das bestenfalls Jacquelines Oma sein konnte. „Sie wünschen?“ fragte sie mit schriller Stimme.
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„Ich… äh… nichts. Ich habe aus Versehen die Klingel betätigt“, wand ich mich heraus. „Aber… hat Jacqueline heute keinen Dienst?“ Die Alte verzog das Gesicht. „Der Fratz hat sich in den sechsten Stock ver setzen lassen. Da ist Perry Como abgestiegen, und sie hat, wissen Sie, eine Schwäche für Per sönlichkeiten.“ Die Alte ging brummend hinaus, und ich trat ans Fenster und sah auf die Straße, wobei ich mich an den Augenblick erinnerte, in dem ich hier heruntergesprungen war. „Tatcher!“ sagte jemand hinter mir. Ich drehte mich um. Es war Budd Stark. Er nä herte sich mir wie damals, mit einem Lächeln im Gesicht und geballten Fäusten. „Sie?“ Er nickte, und dann holte er aus. „Rühren Sie sich nicht!“ sagte streng die Kran kenschwester und legte mir eine dick verbundene Hand auf den Bauch. Ich wollte mich trotzdem bewegen, aber ich konnte nicht. Mein Kopf war wie ein Ball. Wegen der vielen Mullschichten konnte ich fast nicht atmen und noch weniger se hen. „Ein gewisser Hunk oder Munk hat angerufen und gefragt, ob…“ „Sagen Sie Hunk, daß sich leider noch keine Gelegenheit ergeben hat. Oder besser gesagt, auch die letzte Gelegenheit ist im Eimer. Und grü ßen Sie ihn. Auch Fy!“ „Wen?“ fragte die Schwester. 300
„Fy!“ rief ich, denn sie hörte schwer. Sie nickte, ging zur Tür und blieb dann stehen. „Ja“, sagte sie, „da ist auch ein junges Mäd chen, das etwas von Ihnen will.“ „Wer? Wie heißt sie?“ Die Krankenschwester zuckte die Schultern. „In dem Zustand, in dem Sie hier eingeliefert wurden, kann es Ihnen ganz egal sein, wie sie heißt und wie sie aussieht.“ „Lassen Sie sie herein!“ rief ich ihr nach. „We nigstens für eine Sekunde.“ Einen Augenblick später betrat das junge Mäd chen mit perfektem Busen mein Krankenzimmer. Von der Tür aus lächelte sie mich an. „Kommen Sie näher!“ forderte ich sie auf. „Sie möchten etwas von mir?“ Sie nickte und zeigte zwei Reihen weißer Zäh ne. Ihr Busen hob sich auffällig. In diesem Au genblick erinnerte ich mich, wer sie war und wo ich ihr begegnet war. „Wie heißen Sie?“ fragte ich nervös. „Sie haben mir versprochen… Ich habe in der Zeitung gelesen, daß Sie… diesen Sparks!“ „Wie heißen Sie, schnell!“ wiederholte ich. „So fort, ehe uns wieder jemand trennt!“ „Ken!“ flüsterte das Mädchen. „Kommen Sie her, ich gebe Ihnen mein Auto gramm da, wo Sie wollten!“ sagte ich. Sie kam und bot mir ihre Brüste an. Ich hob die Hände, und dann lachten wir beide. Mit verbunde ner Hand wäre es schwer möglich gewesen. „Ken, wir werden es später nachholen. In…“ 301
Ich verstummte, denn hinter dem Rücken des Mädchens ging die Tür auf. Ein auffällig bleicher Kopf zeigte sich in dem Spalt. „Entschuldigen Sie“, sagte McMaster, feierlich in seinem schwarzen Anzug, „liegt hier vielleicht Mr. Wolselley? Mr. Wolselley aus Cincinnati?“ Das Bleichgesicht hielt einen Riesenblumen strauß in der Hand. „Nein“, antwortete Ken an meiner Stelle, „hier gibt es keinen Wolselley aus Cincinnati, auch aus keiner anderen Stadt.“ Ich hielt den Atem an, bis McMasters Kopf aus meinem Gesichtskreis verschwunden war. Dann holte ich Luft. „Ken“, sagte ich, „ich…“
Sie nickte. Und wurde traurig.
„Ich reise ab. Morgen!“ sagte sie.
„Wohin?“
„Nach New York“, seufzte das Mädchen. „Zu
Verwandten.“ „Nach New York?“ rief ich erfreut. „Dahin will ich auch, sobald man mir diese Lappen abge nommen hat! Also werden wir uns sehen!“ Ken nickte und klapperte mit den Lidern. „Sicherlich werden wir uns treffen, Timothy“, sagte sie. „New York ist ja nicht so groß.“ Ich nickte und stöhnte. Trotzdem war es schön mit Ken gewesen.
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