Bernard Mourad
Kauf mich
s&p 12/2006
Alex Guyot ist die ultimative Ich-AG: Er verkauft sich selbst an der Börse und k...
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Bernard Mourad
Kauf mich
s&p 12/2006
Alex Guyot ist die ultimative Ich-AG: Er verkauft sich selbst an der Börse und kassiert dafür viel Geld. Doch sein Coup hat unabsehbare Folgen für ihn … Eine bitterböse Abrechnung mit dem gnadenlosen Geschäft der Aktien und Anteile. ISBN: 978-3-550-08643-4 Original: Les actifs corporels (2005) Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz Verlag: Ullstein Erscheinungsjahr: 2006
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Alex Guyot, aufstrebender Unternehmensberater, zwei internationale Diplome, allein stehend, hat eine einwandfreie Evaluation: Er ist gesund und leistungsfähig und bietet beste Aussichten auf künftigen Erfolg. So lässt er sich als erster Mensch an der Pariser Börse notieren. Jeder, der Geld hat, kann Anteile an seiner Person kaufen. Bald klettern die Guyot-Aktien in sagenhafte Höhen. Doch alles hat seinen Preis: Sein Aktionäre sind nur daran interessiert, dass ihr Kapital nicht schwindet. Als Alex nicht mehr so funktioniert wie geplant, gerät er schnell in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten. Eine Kapitalerhöhung kann ihn zunächst retten, aber nun gehört er sich selbst nur noch zur Hälfte. Eine feindliche Übernahme seiner Person ist nicht ausgeschlossen, und es gibt bereits eine Interessentin, die ihn um jeden Preis haben will.
Autor
Bernard Mourad ist im Libanon geboren, hat Politik und Wirtschaftswissenschaft studiert und arbeitet als Investmentbanker für eine große amerikanische Firma. Er ist 30 Jahre alt und lebt in London und Paris.
Für Stéphanie F. Für Oliver F.
1 Natürlich könnte man alles stoppen, »es dabei belassen«, wie Boyden sagte. Man könnte weiter auf die verdächtige Schuhspitze starren. Mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischen. Kurz entschlossen die Schließmuskeln zusammenziehen und sich wieder zu ihr legen. Man könnte sich immer noch an ihren warmen Körper schmiegen und in den morgendlichen Atemgerüchen versinken, von Zwieback und Schwedenrätseln, von Tischtennis und Fortpflanzung träumen. Die Entscheidung war offen: Man könnte auch verzichten. Man könnte sich an diesem Morgen ohne Gewalt und ohne Prozess zu lebenslänglichem Sterben verurteilen. Alexandre wusste, weil er es oft bei anderen beobachtet hatte: Man konnte sich durchaus mit der Aussicht auf allmähliche Verwesung zufrieden geben. Sich Tag für Tag im Schutze der Müdigkeit mit seinen eigenen Ausdünstungen arrangieren. Sich gewissermaßen von seinem Lebensinstinkt leiten lassen. Diesem animalischen Trieb rein animalischen Überlebens. Selbstmord, dachte er, als er die Spülung drückte. Ein unendlich langsam fortschreitender Selbstmord. Er warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel – trockene Lippen, violette Augenringe. »Durchhalten«, sagte Boyden. Durchhalten und »vorwärts gehen«. Man könnte den Blick auf mehr oder weniger verlockende Dinge richten. Sich unter der Last der mitgeschleppten Erinnerungen beugen. Mehr noch: Man könnte sich bewusst mit der platten Wiederholung der Lebenssequenzen abfinden. Den immer seltener werdenden und dann ganz verhallenden
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Schlägen des Metronoms. Dem allmählichen Fortschreiten der Kurzatmigkeit und zuletzt dem Atemstillstand. Man könnte sich, kurz gesagt, an diesem ockerfarbenen Oktobermorgen unter allgemeiner Gleichgültigkeit und ohne Angst vor Repressalien selbst verraten. Boyden würde nur kurz zusammenzucken, auf sein Magengeschwür verweisen und mit einem Seufzer erklären: »Sie sind frei, Alex. Es ist Ihre Entscheidung.« Aber Alexandre Guyot verließ die Toilette von Zimmer 223 mit dem festen Willen zu leben. Als hätten die Darmentleerung und der scharfe Pfefferminzgeschmack der Zahnpasta das Echo von Boydens Verheißungen verstärkt: »ein fantastisches Abenteuer«, »ein einzigartiges Experiment«. Auf einem niedrigen Tisch am Fußende des Bettes stand das Frühstück bereit. Frische Mangoscheiben glänzten im Halbdunkel; trotz Thermoskanne war der Kaffee nur noch lauwarm. Man musste sich irgendwie ernähren, also begann Guyot zu frühstücken, während er Claires schlafenden Körper betrachtete. Den regelmäßigen Rhythmus ihrer Atemzüge. Das Heben und Senken ihres Körpers, in dem sich ein gewisser Überdruss zu verraten schien. Er fand, sie schlief wie eine Idiotin – oder wie ein Kaninchen. Er würde sich ohnehin bald von ihr trennen müssen. Der Bruch war wohl die einzig vernünftige Option. Vielleicht sogar gleich an diesem Morgen. Genau, an diesem Morgen, natürlich! Denn von jetzt an drängte die Zeit, und Boyden hatte ihn gewarnt: Die Spielregeln würden strenger werden. Selbst abgekühlt war der Kaffee des Hotel Meurice noch trinkbar. Von wohltuend cremiger Konsistenz. Erstens Claire wecken, zweitens Claire verlassen, dachte Guyot, während er die Titelseite des Figaro Économie überflog. Sie verlassen, mit angemessen feuchten Augen und Stammeleien über die »zu 6
zaghafte Reform der besonderen Rentensysteme«, den »unerwarteten Auftragsrückgang für langlebige Güter« oder die »zunehmende Volatilität der Zinssätze«. Erst würde sie zuhören, etwas blass um die Nase, erstarrt in einem Ausdruck rührender Fassungslosigkeit. Dann würde ihr verstörter winziger Kortex krampfhaft versuchen, aus dem Stegreif irgendwelche Bezüge zwischen diesen bunt gemischten Schlagworten herzustellen. Voller Panik kleine morsche Brücken des Verstehens zu schlagen, einen Zusammenhang zu erkennen zwischen der Wirtschaftsflaute und der Trennung, »notwendig, Claire, unvermeidlich, Claire«. Und schließlich würde sie diesen neuen Sachverhalt akzeptieren, schätzte Alex, während er mechanisch in dem braunen Gebräu rührte. Wie Claire immer alles akzeptiert hatte. Wie Claire vom ersten Moment ihrer Begegnung an immer und souverän die Dürftigkeit des Gesprächs und die Grobheit der Umarmungen akzeptiert hatte. Wie sie die – nicht sehr raffinierten – Lügen, den dumpfen Verrat und offenkundigen Betrug akzeptiert hatte. Claires Fähigkeit zu akzeptieren, rief sich Guyot in Erinnerung. Diese bemerkenswerte Fähigkeit – von Anfang an –, Unmengen von Dreck einzuatmen, diesen ganzen Müll, diese Schlacke zu absorbieren, die er permanent hervorbrachte. Und ihre erstaunliche Begabung. Staub in ein Lebenselixier zu verwandeln. In Körpersäfte oder Blut oder sogar warme Getränke. Die Einheit namens Claire funktionierte also strukturell nach dem einfachen, bewährten Prinzip der Espressomaschine. Und an diesem »schönen Weltuntergangsmorgen«, wie Boyden manchmal sagte, wie er gleich sagen würde, schlief sie wirklich wie eine Idiotin – eine Idiotin oder ein Kaninchen. Ja, vorwärts gehen und »den Zeitplan einhalten«.
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Boyden hatte Recht, das musste man zugeben: Disziplin – unfehlbare Disziplin in jedem Moment – war eindeutig ein »Schlüssel zum Erfolg«. Und gerade jetzt verlangte diese Disziplin – um eine gewisse Kampfeslust zu stimulieren und eine archaische Form von Selbstvertrauen auszugraben –, dass man energisch eine Mango zermalmte, während man über die Zerstörungskraft der Kinnladen nachdachte. Die dunkle Anzugjacke anzog, während man – ein unerklärliches Vergnügen – die verschlungenen Bahnen der Regentropfen auf dem Doppelfenster verfolgte. Und schließlich bestand die Disziplin darin, dass man die leisen Geräusche einer schlafenden Frau ignorierte, ein paar Akten in die Tasche aus genietetem Leder steckte, auf die Uhr sah und hinnahm, dass sich angesichts des bevorstehenden Termins all die Tage voller Angst und Hoffnung zu einem widerspenstigen kleinen Knäuel in der Magengrube zusammenballten. Der Figaro gab sich geheimnisvoll: »Wer wird der Erste sein?« Ein nicht sehr originelles Icon füllte als Illustration dieser Frage die ganze Seite: der Schattenriss eines menschlichen Profils in einem dicken stilisierten Fragezeichen. Ein mäßiger, aber dennoch wirkungsvoller Aufhänger, dachte Guyot, während er die hellroten Blätter zusammenlegte. 7.56 Uhr. In vier Minuten würde ein Taxifahrer auf den Portier des Gebäudes in der Rue de Rivoli 228 zugehen und etwas murmeln wie »Für Monsieur Guyot«. Nur noch vier Minuten warten. Minuten, in denen man zum Beispiel ein letztes Mal die Hosentaschen durchsuchen oder sich einen Rest frisch gepressten Orangensaft eingießen oder auch einen – sachlichen und lächerlichen – Abschiedsbrief an diejenige schreiben könnte, die verlassen aufwachen würde.
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Man hätte also tatsächlich etwas Zeit für sich. Und man könnte an diesem Morgen noch völlig frei über sein Leben entscheiden, beschließen – warum nicht? –, in allen Ehren den falschen Weg einzuschlagen. Aber Alexandre Guyot, zweiunddreißig, ledig, wandte sich schon zur Tür. Im Schritt eines Soldatenmönchs: Beine steif, Arme gestreckt. Kurze, straffe Bewegungen. Mit der Sicherheit und der Ergebenheit jener, die bereits gegangen sind.
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2 »Ein schöner Weltuntergangsmorgen, finden Sie nicht, mein lieber Alex?« Maître Boyden verstand sich auf die Kunst des Empfangs. Die Kunst, seinen Gästen eine schmale, aber wohlbeleibte Gestalt zu präsentieren. Die Kunst, auf Befehl schalkhaft mit den Hängebacken zu zucken. Die Kunst vor allem, auf seine Besucher – Klienten oder Freunde – den Blick desjenigen zu richten, der mehr weiß, aber nichts sagen wird. Das Taxi hatte am Ende der Rue de Rivoli eine rote Ampel überfahren, war dann elegant über das regennasse Pflaster der Place de la Concorde gerauscht und nach einer engen Kurve unter dem großbürgerlichen Blätterdach den Cours Albert I. hinaufgerast. Auf der kurzen Fahrt hatte sich Guyot den Empfang durch den Anwalt ausgemalt. Er hatte schon im Voraus sein liebenswürdiges Gesicht im Türrahmen gesehen und den geschmeidig aristokratischen Händedruck an den Fingerspitzen gespürt. »Wahrhaftig, Maître, ein durchaus bemerkenswerter Morgen«, gab er mit einem Lächeln zurück. Maître Boyden in seiner abgeschirmten Höhle in der Rue JeanGoujon, abseits vom demonstrativen Luxus der Avenue d’Alma, war seit fast dreißig Jahren eine Kapazität auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts. Während Guyot ihm zu seinem Büro folgte, beobachtete er den steifen und gleichzeitig flinken Gang des Siebzigjährigen und dachte an dessen unerschöpfliche intellektuelle Neugier, sein furchterregendes analytisches Denkvermögen, jene geradezu teuflische Findigkeit, die ihm – ganz zu Recht – die Verehrung seiner Kollegen sowie ein kümmerliches Privatleben eingetragen hatten. Sein Schwanz, überlegte Alex, während er seinen Krawattenknoten zurechtrückte, der Schwanz 10
des brillanten und höchst geachteten Boyden – inzwischen wohl dauerhaft erschlafft – hatte sicher nie zu anderem als zum Urinieren gedient. Das ließen zumindest die gehässigsten Gerüchte der Pariser Intelligenzia vermuten. Seine Eminenz ließ sich in einen großen, honiggelben englischen Ledersessel sinken. Alex ging in eine Ecke des Raums, um seinen Regenmantel an den Kleiderhaken zu hängen. Wie jedes Mal bewunderte er die fein ziselierte Architektur der Kirche Notre-Dame de la Consolation hinter den getönten Scheiben. Das Glas war stellenweise so dicht beschlagen, dass er die Inschrift auf dem Giebel nur halb entziffern konnte: »Ne vous attristez pas …« – »Seid nicht traurig …« »Sind Sie heute früh aus London gekommen?«, fragte Boyden. »Nein, gestern Abend, mit dem letzten Flugzeug. Ich bin im Meurice abgestiegen.« »Ist Claire dabei?« »Ja, das heißt … Sie war dabei. Ich habe sie vor einer halben Stunde verlassen. Ich meine: Ich habe sie endgültig verlassen.« »Verstehe, verstehe«, nickte Boyden. »Und wie hat sie reagiert?« »Sie weiß es noch nicht. Ich wollte sie lieber schlafen lassen. Sagen wir, es ist eine … unilaterale Entscheidung.« »Jedenfalls eine sehr vernünftige Entscheidung, Alex. Eine wirklich ausgezeichnete Nachricht! Sie wissen ja, wie ich darüber denke …« »Ich weiß, Maître, Ihre Empfehlungen in dieser Hinsicht waren immer sehr klar.« »Und außerdem werden die nächsten Wochen voll gestopft mit Terminen und sehr anstrengend sein. Sie müssen durchhalten, Alex! Vorwärts gehen – ohne Kompromisse. Und vor allem: gewissenhaft den Terminplan einhalten …« 11
Vorhersehbarer Boyden, lächelte Guyot innerlich. Vorhersehbarer Boyden, der ihm zum x-ten Mal seine kompetente, wohl durchdachte Predigt über die »Erfordernisse des Prozesses« hielt. Nach so vielen Jahren nahezu väterlich auf ihn einredete. Ehe Boyden Alexandres Rechtsbeistand und Berater geworden war, ehe er die Rolle des geschwätzigen und überschwänglichen Orakels eingenommen hatte, war er kurz sein Lehrer gewesen. Ein paar Stunden Einführung ins Privatrecht vor acht Jahren hatten genügt, um sie zusammenzubringen. Der Tod von Alex’ Vater am Semesterende hatte ihren unverbrüchlichen Pakt besiegelt: Jean-Philippe Guyot – ein talentierter Autoschlosser aus einem bretonischen Dorf – hatte sich eines frühen Nachmittags mit Hilfe eines Wagenhebers und eines Keilriemens kurz entschlossen erhängt. Ein würdiger, sehr technischer Akt ohne übertriebene Inszenierung. Nach dem Autopsiebericht war der Mann mit leerem Magen gestorben. Vater und Sohn sollten an diesem Tag zusammen Mittag essen. Weil Alex etwas dazwischengekommen war, hatte er die Verabredung nicht einhalten können … Das war im Juni. In der ersten Hälfte. Ein untypischer Sommeranfang mit einer Affenhitze. Alexandre erinnerte sich weniger an den Schmerz über diesen Verlust als an die Spaziergänge, die er damals in Boydens Gesellschaft unternommen hatte. An die stundenlangen, unermüdlichen Wanderungen durch die Parks, bei denen er Trost in Boydens naivem Redestrom gefunden hatte, voller Bewunderung für dessen magische Fähigkeit, Gefühlen den Boden zu entziehen, indem er zwischen der Brutalität der Welt und der Gefühlsduselei der Menschen stets den züchtigen Schleier des Gesetzes ausbreitete – die schmerzlindernde Kraft der Paragraphen. 12
»Die Durchführungsbestimmungen werden heute Vormittag veröffentlicht. Wenn wir uns immer noch grundsätzlich einig sind und schnell handeln, müssten Sie der erste Kandidat sein.« Der Anwalt legte einen Packen bedruckter Seiten auf die samtbezogene Schreibtischplatte. Guyot musterte den Stapel mit fragend-ablehnender Miene. »Sie müssen nicht alles lesen«, beruhigte ihn Boyden. »Das habe ich schon für Sie erledigt. Keine großen Überraschungen, gemessen am Tenor des Gesetzes. Das Verfahren ist sogar einfacher, als ich erwartet hatte.« »Wie viel Zeit brauchen wir?« »Das lässt sich schwer sagen; es gibt natürlich keine Präzedenzfälle. Aber wenn wir alle Genehmigungen termingerecht erhalten, nehme ich an, dass wir vernünftigerweise mit einem Verfahren von zwei bis drei Wochen rechnen können.« Alexandre presste sein Gesicht an die Fensterscheibe und dachte über die Antwort des Anwalts nach, während er unter sich das gleichmäßige Wogen des leuchtend roten Laubs beobachtete. Dieser seltsam unentschlossene, wechselhafte Spätherbst verleitete zweifellos zur Trägheit. Und so konnte man bedenkenlos – das würde nicht einmal Boyden leugnen – den Rhythmus seiner Atmung an die der Bäume anpassen. Der alte Mann reichte ihm ein Blatt mit dem vornehmen Briefkopf der Kanzlei Boyden, Lamy, Neuville & Steg. Die gewundene Unterschrift des Anwalts – ein kunstvoller Bogen mit ausgeprägten Unterlängen – stand bereits auf dem Dokument. »Jetzt müssen Sie entscheiden«, sagte er und bot ihm seinen Füller an. »Und Sie wissen, dass ich Ihre Entscheidung respektieren werde, wie immer sie auch ausfallen mag. Wir haben in den letzten Wochen ausführlich darüber gesprochen. Und heute verfügen Sie über alle Voraussetzungen, um diese 13
Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die gelassen, unwiderruflich und begründet sein sollte. Vergessen Sie nicht, dass in diesem Stadium noch alles rückgängig gemacht werden kann. Wenn Sie wollen, können wir die Maschine problemlos stoppen und es dabei belassen.« Guyot griff nach dem Vertrag. »Es dabei belassen«, hatte Boyden gesagt … Er drückte das Blatt gegen die beschlagene Scheibe, ignorierte vorsätzlich den Text und bewunderte stattdessen im Gegenlicht die feine Körnung des Papiers. Und während er seinen eleganten, klaren Namenszug darunter setzte, konnte er die Inschrift auf dem Marmorgiebel der Kirche mit einem Mal vollständig erkennen: »Ne vous attristez pas comme ceux qui n’ont pas d’espérance.« – »Seid nicht traurig wie die anderen, die keine Hoffnung haben.« »Eine mutige Entscheidung, Alexandre«, lobte ihn Boyden und schob das Blatt in eine Mappe. »Eine mutige Entscheidung, die wir jetzt auch umsetzen müssen. Das ist ein echtes Abenteuer, ein einzigartiges Experiment. Nennen wir es ruhig beim Namen: ein historischer Moment!« »Das denke ich auch, Maître. Das denke ich auch«, murmelte Guyot vor sich hin, als spräche er ein Gebet. »Aber der Weg ist noch lang, und das Abenteuer fängt gerade erst an. Der Referatsleiter des Ministers erwartet unseren Anruf. Er hat mir bis spät in die Nacht zugesetzt, um unsere Pläne zu erfahren. Ich habe natürlich bis zu Ihrer endgültigen Entscheidung alle üblichen Vorbehalte geltend gemacht. Aber Sie wissen ja, wie diese Leute sind … Die Pressekonferenz beginnt pünktlich um zehn Uhr. Die Einladungen wurden gestern an mehr als zweihundert Journalisten aus dem In- und Ausland verschickt. Wie Sie sich vorstellen können, rechnet man mit unserer Anwesenheit. Die Ankündigung verpflichtet …« »Natürlich«, nickte Guyot. »Also?« 14
»Also wartet vor dem Haus ein Wagen auf uns, mein lieber Alex. Und Sie haben eine halbe Stunde Zeit, Stau eingeschlossen, um in ein paar Sätzen ein Resümee der glorreichsten Momente Ihres kurzen Daseins vorzubereiten.« Man könnte ein letztes Mal so tun, als sähe man die Wanduhr nicht. Einen Moment lang von ihrer digitalen Effizienz abstrahieren. Die leuchtend rote Anzeige der Stunden und Minuten unbeachtet lassen. Man könnte sogar, dachte Guyot im Stahlgehäuse des Fahrstuhls, so tun, als existierte der graue Mercedes, der draußen im Nieselregen wartete, letztendlich nur in der Vorstellung. Wie eine optische Täuschung.
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3 Das Ungetüm war schon von der Uferstraße aus zu sehen. Man hatte also genügend Zeit, über den erstaunlichen Transformationsprozess von Sand zu Kies, von Kies zu Beton und dann von Beton zu einem Ministerium zu meditieren. Die Architektur von Bercy, fand Alexandre, offenbarte eher Zynismus als Arroganz. Wahrscheinlich der ironische Streich einer beschwipsten Künstlergruppe. Ein besonders hintersinnig erdachtes und errichtetes Gebäude. Gereizt über den schleppenden Verkehrsfluss, schimpfte Boyden höflich auf Lastwagen, Autobusse, Fahrräder und Mopeds, die Vorliebe des Chauffeurs für Reggae-Rhythmen und das allen zugestandene – verfassungsgemäße und alberne – Recht auf uneingeschränkte Bewegungsfreiheit. Das Taxi setzte sie mit gut fünf Minuten Verspätung vor der Rue de Bercy 139 ab, nachdem es sich einen Weg zwischen Übertragungswagen und zivilen Polizeifahrzeugen gebahnt hatte. Eiligen Schrittes folgten sie den Hinweisschildern »Pressekonferenz«, zwischen denen zuvorkommende Hostessen in cremefarbenen Kostümen postiert waren. Am Eingang des Saals, der überfüllt zu sein schien, trat ihnen ein Zerberus mit Knopf im Ohr in den Weg: »Wer sind Sie?« »Maître Boyden und Alexandre Guyot – der Referatsleiter des Ministers erwartet uns, Monsieur Massard«, stieß Boyden atemlos hervor. »Von welcher Zeitung, sagten Sie?«, brummte der Wachhund und fuhr mit analphabetischem Zeigefinger seine Namensliste entlang.
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»Hören Sie, wir sind in Eile, wir sind keine Journalisten, sondern Gäste von Jacques Massard, dem Referatsleiter des …« »Maître! Mein lieber Maître! Da sind Sie ja endlich!« Massards bleiches Gesicht schoss wie ein aufgezogener Kobold hinter dem Schulterblatt des Rausschmeißers hervor. Der Referatsleiter schob den Mann mit dem Ellbogen beiseite. »Verzeihen Sie diese übermäßigen Sicherheitskontrollen, aber bekanntlich geht es in diesen Zeiten nicht anders.« »Kein Problem, Jacques, und bitte verzeihen Sie uns die leichte Verspätung. Ich darf Ihnen Alexandre Guyot vorstellen, von dem ich schon so viel erzählt habe …« »Sehr erfreut, Alexandre. Ich bin glücklich, wirklich glücklich, dass Sie kommen konnten. Glauben Sie mir, Ihre Anwesenheit heute Morgen ehrt uns sehr. Wir wissen das wohl zu schätzen. Ich spreche hier in meinem Namen und im Namen der Republik …« »Ganz meinerseits«, erwiderte Guyot formelhaft. »Aber wir wollen keine Zeit verlieren, folgen Sie mir! Der Auftritt des Ministers wird jeden Moment beginnen. Ich bringe Sie hinter die Bühne.« Gekonnt schob sich Massard zwischen Bäuchen und Rücken hindurch und öffnete in der Menge eine flüchtige Schneise, in die sich Boyden und Guyot stürzen konnten. Um sie herum scharrte, gackerte und pickte ein ganzer Hühnerhof von Journalisten. Massard drückte im Vorbeigehen unzählige Hände ohne identifizierbare Besitzer; Boyden nickte verschiedenen Bekannten zu … Als sie um die mächtige Rednerbühne herumgingen, fiel Alex das nüchterne Design des PlexiglasStehpults auf, aus dem ein zweiköpfiges Mikro mit flexiblen Armen ragte. Das Ganze erinnerte ihn an ein unsympathisches Insekt, eine Art Bremse, eine äußerst gereizte Bremse.
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Kaum hatten sie die gepolsterte Tür zu den Kulissen durchschritten, brach das Stimmengewirr ab: Hier herrschte gedämpfte, schallisolierte Diskretion. Der relativ große Raum war schwach erleuchtet von ein paar modernen, auf dem Teppichboden verteilten Stehlampen. Die vertrauliche, geradezu intime Atmosphäre verlieh dem Teint von Jacques Massard eine neue, ins Beige spielende Blässe. »Ich danke Ihnen beiden nochmals! Der Minister hat sich heute Morgen persönlich nach Neuigkeiten erkundigt. Ihre Anwesenheit wird seiner Rede die Würze, ja, den eigentlichen Sinn geben!«, versicherte er aufgeregt. »Das ehrt uns sehr, Jacques, das heißt, vor allem Alexandre«, entgegnete Boyden mit höflichem Lächeln. »Darf ich Ihnen einen Kaffee oder Tee anbieten?« »Danke, für mich nichts.« »Alexandre?« Während Guyot kurz die beiden Alternativen gegeneinander abwog, kam ein winziges menschliches Wesen – kurzbeinig, steif, mit offensichtlicher Schilddrüsenüberfunktion – ins Zimmer getrabt. Wie ein braver Hund, der den Gummisohlenschritt seines Herrn erkennt, stürzte ihm der Referatsleiter mit hüpfender Unterwürfigkeit entgegen: »Herr Minister, diese Pressekonferenz wird ein Riesenerfolg! Der Saal ist zum Brechen voll! Wir mussten sogar eine Gruppe thailändischer Journalisten abweisen!« »Umso besser, Massard, umso besser«, würgte der Zwerg seinen Überschwang ab. »Und was noch besser ist: Ich kann Ihnen sagen, dass Sie nicht allein auf der Bühne stehen werden«, fügte Massard hinzu und wies auf seine Gäste. »Gestatten Sie mir, Ihnen Alexandre Guyot und seinen Anwalt, Maître Boyden, vorzustellen.«
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»Angenehm, sehr angenehm.« Der Minister würdigte sie keines Blickes. »Massard, Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie weniger als eine Minute Zeit haben, um den Namen dieses jungen Mannes in meinen Telepromptertext aufzunehmen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, meine Herren …« Während der Winzling seinen Weg zur Bühne fortsetzte, brüllte sein schwitzender Handlanger bereits in sein Handy: »Schreiben Sie Alexandre Guyot, ja, G-U-Y-O-T, genau, in die eckigen Klammern am Ende des letzten Absatzes … ja, genau … richtig!« Boyden verzog sich in eine dunklere Ecke und winkte Guyot zu sich. »Sehen Sie sich das an, Alex, unsere gute alte Republik bekehrt sich zum Hightech!« Durch die nur von einer Seite durchsichtige Scheibe rechts von der Bühne konnte man den Saal beobachten und mit Hilfe von Kopfhörern, die wie Stethoskope aussahen, auch belauschen. Der in eine Akazienholzkonsole eingelassene ultraflache Monitor übertrug die Bilder von der riesigen Leinwand oberhalb der Bühne. Im Moment war nur das unscheinbare Logo des mächtigen Ministeriums darauf zu erkennen. Dann plötzlich tauchte riesig, hundertfach vergrößert das pixelige Gesicht des griesgrämigen Gnoms auf. »Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, Sie heute Morgen hier begrüßen zu dürfen. Ich tue dies mit umso größerer Freude, als ich über ein Thema sprechen werde, das mir – wie Sie wissen – besonders am Herzen liegt: den Neuen Individualmarkt. Sie erinnern sich, dass wir uns fast auf den Tag genau vor sechs Monaten im Rahmen unseres Wahlprogramms verpflichtet haben, gezielte und pragmatische Reformen durchzuführen. Reformen, um die Krise einzudämmen, die seit fast fünf Jahren in nie gekannter Stärke unser Land – wie auch den Rest des 19
freien Westens – heimsucht. Angesichts der unverminderten Massenarbeitslosigkeit, der Lähmung des Wachstums, der Schwäche unseres Bank- und Finanzsystems müssen wir feststellen, dass die traditionellen Triebkräfte unserer Wirtschaft heute wirkungslos sind und dass die kreativen Kräfte unserer Nation das Vertrauen in den Staat verloren haben. Diese harte, aber realistische Bilanz rechtfertigt unser Vorgehen. Nach zehn Jahren lascher Führung durch eine Koalition – die sich trotz ihrer Unfähigkeit und der Abstrafung durch die Wähler heute noch anmaßt, all unsere Bemühungen zu kritisieren!« Dunkelrote Flecken bedeckten seine Wangen. Alexandre, der ihn nicht aus den Augen ließ, beneidete ihn unwillkürlich um seine Leidenschaft. Um seine deklamatorische Inbrunst trotz der dürftigen Aussagen. Um den glühenden Hass, den er für die Oppositionsparteien zu empfinden schien … Der Minister griff nach einem Glas Mineralwasser, leerte es halb, räusperte sich geräuschvoll und fuhr dann etwas sachlicher fort: »Der Neue Individualmarkt – kurz NIM – fügt sich genau in die vom Präsidenten definierte und von der Regierung umgesetzte politische Achse ein. Er stützt sich auf einen philosophischen und gesellschaftlichen Anspruch, der von der breiten Mehrheit unserer Mitbürger getragen wird: das Individuum wieder zum Mittelpunkt unseres Wirtschafts- und Finanzsystems zu machen. Nicht als beliebig auszubeutende Arbeitskraft, nicht als billige Variable einer entfremdenden makroökonomischen Funktion, sondern als Grundeinheit von Produktion, Konsumption und Investition. Anders gesagt, meine Damen und Herren: Wir wollen dem Menschen den herausragenden Platz zurückgeben, der ihm von Rechts wegen zusteht, jenen Platz, den er eigentlich nie hätte verlieren dürfen: als grundlegender, elementarer und höchster Wert unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft. Und wir sind überzeugt, dass auf dem Fundament unseres veraltenden 20
Kapitalismus dringend eine neue, auf Menschlichkeit gegründete Marktwirtschaft entstehen muss. Dies allerdings wird nur unter einer Bedingung möglich sein: Wir müssen endlich unsere ideologischen Scheuklappen ablegen! Uns von den nebulösen Theorien verabschieden, die nur ein Vorwand sind für die allgemeine Passivität. Ja, um voranzukommen, müssen wir uns von diesen alten Mythen frei machen. Mit einem Handstreich Menschenrechtsheuchelei, religiösen Dogmatismus und die abgedroschenen Tabus der Soziologie hinwegfegen. Wir müssen den Männern und Frauen in unserem Land einen Wert zuerkennen, der kein Abglanz utopischer Hirngespinste ist. Einen Wert, der von den ebenso hochtrabenden wie nutzlosen archaischen Vorstellungen vom Menschen befreit ist. Einen Wert, der sich weder um die von der Kirche vergöttlichte Seele noch um den von der Bioethik geheiligten Körper kümmert. Denn ich frage Sie: Wer hat jemals wirklich von diesen schönen Prinzipien profitiert? Wen haben sie geschützt und wen haben sie reich gemacht? Wessen Leben wurde durch sie verbessert? Sie kennen die Antwort: Absolut niemand! Deshalb, liebe Landsleute, wollen wir, dass die Menschen endlich einen Status genießen, der in nichts dem nachsteht, den wir seit Urzeiten dem wichtigsten Produktionsmittel zubilligen – dem Kapital. Mit einem Wort: einen konkreten, berechenbaren und verhandelbaren Wert. Die Anerkennung eines solchen Wertes wird – davon sind wir überzeugt – für jeden von uns ein hervorragender Weg zu Freiheit und Verantwortung sein. Aus all diesen Gründen, meine Damen und Herren, hat die Regierung entschieden, ihre Versprechen zu erfüllen und ihre Entschlossenheit zu beweisen. Der Premier und ich selbst – in enger Zusammenarbeit mit den Abgeordneten der Mehrheitsfraktion – haben diese Debatte innerhalb der Europäischen Union initiiert und geführt. Unsere Anstrengungen mündeten in die Annahme der Direktive über die neuen Wirtschaftsregularien sowie die feierliche Aufnahme des universellen Rechts auf 21
Zugang zu den Kapitalmärkten in die Präambel unserer europäischen Verfassung. Und ich bin stolz, Ihnen mitteilen zu können, dass wir die Ersten sind, die diese neuen EU-Prinzipien in nationales Recht übernommen haben. Das Gesetz über die Individualgesellschaften wurde gestern Abend vom Präsidenten der Republik verkündet, und noch heute Vormittag werden die Durchführungsbestimmungen veröffentlicht. Wir wollten einen einfachen, klaren und wirkungsvollen Text. Ich verlese Ihnen nun den ersten und einzigen Artikel: ›Die Individualgesellschaft ist eine Handelsgesellschaft, deren Vermögen in einer natürlichen Person besteht. Ihr Kapital wird in handelsfähige Aktien aufgeteilt, die Bareinlagen, Sacheinlagen und Einlagen in Form von Leistungen entsprechen. Die Individualgesellschaft genießt den Status einer juristischen Person, die ab dem Zeitpunkt des Eintrags in das Handelsregister an die Stelle der natürlichen Person tritt, aus der sie besteht. Die Individualgesellschaft kann eine Zeichnungsaufforderung unterbreiten und Titel emittieren, die an der Effektenbörse gehandelt werden.‹« Maître Boyden in seiner Kulissenecke jubelte. Er hatte den Gesetzesartikel im Chor mit dem Minister aufgesagt. Mit halbgeschlossenen Augen und bebenden Wimpern – wahrer Dichterstolz. Tatsächlich hatte er ihn bis aufs Komma genau so entworfen. »Unser Kapitalismus hat den Unternehmen die Mittel zur Erreichung ihrer ehrgeizigen Ziele geliefert. Die Mittel, um dank liquider Börsenmärkte ihre Projekte und ihre Expansion zu finanzieren, jenseits eines weitgehend obsolet gewordenen Bankensystems mit seiner zaghaften Kreditpolitik und seinen skierotischen Entscheidungsprozessen. Es ist deshalb nur gerecht, heute den Werktätigen dieses Landes, jedem Einzelnen von uns, ebensolche Möglichkeiten der Entwicklung, Entfaltung und Wertschöpfung anzubieten. Aber was sind schon Worte, da wir Ihnen den unmittelbaren Beweis dafür präsentieren können, wie richtig diese Reformen 22
sind. Ich möchte Ihnen einen in jeder Hinsicht exemplarischen Menschen vorstellen. Sowohl aufgrund seiner vorzüglichen bisherigen Entwicklung als auch wegen des Pioniergeists, mit dem er heute einen ganz neuen Weg einschlagen wird. Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir Alexandre Guyot, dem ich jetzt das Wort übergebe.« Nun musste man Boydens intensiven Blick ertragen und die Angst hinter einer gelassenen Maske verbergen. Den Trost der Hand annehmen, die einem erst männlich-schwer, dann beinah zärtlich auf die Schulter klopfte. Dann musste man »vorwärts gehen«, ein paar Schritte tun, eine schwere Tür aufstoßen, noch mehr Schritte zurücklegen. Das Zittern der Beine und die Anzeichen von Apraxie bändigen, die einfache, pendelnde Schrittbewegung wieder beherrschen lernen, gegen die sich eigentlich nur renitente Kleinkinder sträuben; »durchhalten«, sagte Boyden immer wieder, »vorwärts gehen«. Dann musste man ohne Wimpernzucken den Übergang vom weichen Teppichboden zum rauen Synthetikbelag meistern. Nur leicht überrascht, fast befriedigt dreinschauen, wenn der Rachen plötzlich staubtrocken war. Schließlich musste man voller Schwung kommunizieren, seine Begeisterung vermitteln, der Welt – mit einer Art Gipsbaiser im Mund – seinen ganzen Stolz verkünden: »Vielen Dank, Herr Minister, und guten Tag Ihnen allen«, schnarrte er. »Ich heiße Alexandre Guyot, ich bin zweiunddreißig Jahre alt, habe ein Diplom an der renommierten Wirtschaftshochschule HEC abgelegt und einen MBA in Harvard gemacht. Ich arbeite seit fünf Jahren als Strategieconsultant im Londoner Büro von McKimen. Und ich bin soeben zum Leiter des Pariser Teams berufen worden, das sich auf die großen Handelsketten spezialisiert hat. Mein Einkommen nach Steuern betrug im letzten Jahr 90000 Pfund Sterling, ca. 135000 23
Euro. Eine Steigerung von mehr als 20 % gegenüber dem Vorjahr. Das neue, soeben vom Minister erläuterte Gesetz bietet mir eine fantastische Chance. Deshalb habe ich mich entschlossen, sie unverzüglich zu nutzen. Ich freue mich also, Ihnen mitteilen zu können, dass ich noch vor Monatsende an die Börse gehen werde.« Alex hatte beim Reden auf einen Punkt ganz hinten im Saal gestarrt: eine stählerne Sockelleiste, die im Halbkreis an der Wand entlangführte. Er begriff nicht sofort, woher die gewaltige Sintflut aus Lärm und Licht kam, die sich nun über die Bühne ergoss. Erstarrt im Blitzlichtgewitter und Geschrei der Journalisten, spürte er plötzlich die Anwesenheit einer Gestalt neben sich, einer nervösen Gestalt; dann so etwas wie kurze dicke Gummistöckchen, die sich in seine Hand krallten: »Lächeln Sie doch, Monsieur Guyot, lächeln Sie ihnen zu!« Während er den geforderten Gesichtsausdruck annahm, während er sich zwang, die feuchte Hand des Ministers zu drücken, dachte Alex über die verwirrende ästhetische Wirkung nach, die der Anblick ihrer beiden Körper nebeneinander haben musste. Die künstliche Steifheit ihrer Oberkörper und Arme. Das Ganze erinnerte ihn an das seltsame manieristische Gemälde, dessen Reproduktion das Esszimmer seiner Kindheit geziert hatte: eine Herzogin mit wächsernem Gesicht, die mit einer priesterlichen Geste ihre fassungslos dreinschauende jüngere Schwester in den bleichen Busen kniff. Das Blitzlichtgewitter wurde noch heftiger, die Hand des Ministers zappelte immer wilder in der seinen, und die Menge kläffte immer noch unverständliche Fragen … War daran zu denken, auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen? Oder sich einem plötzlichen Blutdruckabfall zu überlassen? Endlich ertönte Boydens Stimme wie durch dichten Nebel: »Hier entlang, Alex, gehen wir, mein Junge.« 24
Dann ein langer weiß gekalkter Betonflur mit Neonleuchten, die funkelnden Augen des Anwalts, seine gerührte Zufriedenheit (»Sie waren perfekt – direkt und überzeugend!«) und schließlich hinter dem Schild »Notausgang« das feuchte Weiß und die Kälte der Außenwelt. Ein paar Sekunden genoss Alex die Wohltat des eisigen, vom Wind aufgepeitschten Regens auf Stirn und Wangen. Als er in den grauen Mercedes stieg, kurz bevor er die schwere Tür hinter sich zuzog, hatte er noch einmal das sichere Gefühl, dass etwas platzte. Er hörte deutlich, aus tiefster Tiefe herauf, etwas, das wie die Vibrationen eines Reifens auf einer Landstraße klang.
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4 »Der Boulevard Haussmann erzeugt bei mir immer einen leichten Brechreiz, bei Ihnen nicht?« Hin und wieder versuchte Boyden, Alexandre abzulenken, indem er über die Fahrstrecke und ihre Auswirkungen auf seine Sekretionen redete – schließlich musste man sich irgendwie entspannen. In der Limousine verbreitete die Klimaanlage heiße, ungesunde Ausdünstungen. Der Alte hatte nicht Unrecht: Man konnte tatsächlich in Übelkeit versinken. Geradewegs auf die öde Reihe der sorgfältig verputzten Betonblocks hinter den getönten Scheiben kotzen. Aus dem Autoradio drangen eine seltsame Stimme und vertraute Worte: »Guten Tag Ihnen allen. Ich heiße Alexandre Guyot, ich bin zweiunddreißig Jahre alt …« Guyot dachte daran, wie schnell sich die Wellen im Äther verbreiteten. Er sah die langen Sinuswellen vor sich, die die feuchte Atmosphäre durcheilten und in die Sendemasten am Waldessaum eintauchten, in all die konischen Anschlussklemmen in der Mitte der Parabolschüsseln, in die unzähligen verrosteten Antennen, mit denen die Welt gespickt war. »Könnten Sie bitte entweder das Radio ausschalten oder Musik anmachen?«, stöhnte er. »Kein Problem«, beruhigte ihn der Fahrer. Das plötzliche Schweigen der Boxen verstärkte das Quietschen der Scheibenwischer. »Was ist los, Alex? Sie wirken nervös. Dabei sollten Sie stolz auf sich sein, mein Junge!« »Das bin ich auch, Maître … Es geht schon … Es ist nur …« »Was ist nur?« »Ich erkenne nur meine Stimme nicht wieder.« 26
Boyden hielt für einen Moment inne; jene paar Sekunden, die, wohl überlegt in der menschlichen Konversation platziert, den Anschein eines vagen Verständnisses und/oder einer gewissen Empathie erwecken. Zugleich kratzte er sich am Kopf, was den trügerischen Eindruck noch verstärkte. »Alex, mein lieber Alex … Ich weiß, das ist alles nicht selbstverständlich, aber Sie müssen sich daran gewöhnen. Die Medien werden Sie in den nächsten Tagen gnadenlos verfolgen, wahrscheinlich bis zu Ihrer Börsennotierung …« »Ich weiß, aber es ist noch …« »Merkwürdig, nicht wahr? Es ist merkwürdig und kann einen fürchterlich verunsichern. Ich verstehe Sie gut. Seit ein paar Minuten sind Sie eine Person des öffentlichen Lebens, eine Zielscheibe der Neugier. Und man wird Sie nicht in Ruhe lassen, Alex … Man wird Sie nie mehr in Ruhe lassen. Aber Sie müssen durchhalten – und vor allem: Immer auf der Hut sein! Davon hängt der Erfolg der Operation ab. Vergessen Sie nicht: Unternehmerische Kommunikation bedeutet Krieg, in jeder Sekunde …« »Sie haben Recht, Maître, ich werde auf der Hut sein«, sagte Alex folgsam. »Gut … Und seien Sie unbesorgt: Sie werden von Profis unterstützt. Die Kommunikationsagenturen werden sich darum prügeln, Sie zu beraten. Ich möchte sogar wetten, dass sie ihre Dienste gratis anbieten. Das ist eine fantastische Gelegenheit für diese Geier, sich hervorzutun.« »Zweifellos … Apropos Geier, wie hießen doch gleich die Banker, zu denen wir fahren?« Wilde Zuckungen schüttelten plötzlich Boydens Körper. Ein alberner Scherz konnte bei dem stets dozierenden Juristen vollkommen unerwartet ein heftiges Lachen auslösen, eine Art kristallenes Glucksen, das sogar seine Schlüsselbeine zum Vibrieren brachte. Ein kindlich-schelmisches Lachen, das Guyot 27
einmal mehr in seiner Annahme bestärkte, dass der Alte seine Unschuld noch nicht verloren hatte. »Haha, mein Freund … ich bin froh, dass Sie Ihren legendären Esprit wiedergefunden haben!«, stieß Boyden endlich hervor. »Wir treffen die Mitarbeiter von Xavier Blitzer, einem wirklich bemerkenswerten Burschen. Ich habe ihn durch seinen Vater Christopher kennen gelernt, einen Studienfreund aus Oxford. Wir hatten beide die französisch-britische Doppelstaatsbürgerschaft und eine wahre Leidenschaft für Finanzrecht. Leider ist Christopher vor etwas mehr als fünf Jahren von uns gegangen …« Während der Mercedes in den Hof eines vornehmen Hauses einbog, versuchte Alex sich selbst Mut zu machen. Als wacklige Argumentation diente ihm die Tatsache, dass dieser Banker, dem er sonst auf jeden Fall aus dem Weg gegangen wäre, den Vater verloren hatte wie er. »Ich bin Blitzer schon bei verschiedenen Transaktionen begegnet. Von den Bankern seiner Generation hat er jedenfalls die größte Erfahrung mit Fusionen, Übernahmen und Börseneinführungen. Vor zwei Jahren hat ihm die amerikanische Bank Golley Dean eine goldene Brücke gebaut, damit er die Leitung ihres Pariser Büros übernimmt.« »Ich vertraue Ihnen vollkommen bei der Auswahl der Dienstleister«, brummte Guyot und stieß die Autotür auf. Im Fahrstuhl, der sie in die zweite Etage brachte, mischte sich der Geruch von Bohnerwachs mit den Ausdünstungen ihrer feuchten Mäntel. Dann öffnete sich die Tür, und eine Sekretärin mit bravem Haarknoten empfing sie mit einem wohl akzentuierten »Wenn-Sie-mir-bitte-folgen-wollen«. 28
»Wenn-Sie-sich-bitte-einen-Moment-gedulden-wollen« – und man wollte gern –, konnte man zum Zeitvertreib die eintönigen Zierleisten betrachten oder sich die Höhe des Raums vor Augen führen … Der Mazarin-Saal wirkte wie die Kommandobrücke eines Admiralsschiffs. Während Guyot durch den Raum spazierte, zählte er mechanisch sechsunddreißig Stühle um den ovalen Tisch. Die Gewichtigkeit der hier abgehaltenen Sitzungen war mit Händen zu greifen. Die schwindelerregende Komplexität der Entscheidungsmöglichkeiten, die sich der versammelten Menschheit boten. Die drückende Verantwortung bei den Grundsatzentscheidungen, die nach erbitterten Diskussionen und trotz des hartnäckigen Fußschweißgeruchs spätabends doch getroffen werden mussten. Man hörte es fast: »Das meinen Sie ja wohl nicht im Ernst«, »In diesem Punkt sind wir unerbittlich« oder »Legen Sie mir nicht in den Mund, was ich nicht gesagt habe«. Dass sich solche Szenen nur in seiner Fantasie abspielten, war Guyot klar. Dieser Raum, der angesehene Besucher beeindrucken sollte, war vor allem ein beliebter Treffpunkt für die kleine Belegschaft von Golley Dean. Ein luxuriöser und zugleich nüchterner Speisesaal, wo die Angestellten nach getaner Arbeit aufgeräumt ihre erstattungsfähigen Mahlzeiten miteinander teilten. Alex malte sich aus, wie die jungen Finanzanalysten ungeduldig auf die Lieferung des Essens warteten. Und wie sie jubelten, in die Hände klatschten und mit den Füßen trampelten, wenn die unzähligen Plastiktüten eintrafen, die mit Sushi und Spießen, Pizza und Humus, Lasagne und Fleischpasteten voll gestopft waren und deren bei der Fahrt auf dem Gepäckständer eines Mopeds abgekühlter Saft sich mit den Styropormolekülen des Wärmebehälters zu verbinden begann. Sie waren ja ganz unter sich, wenn sie müde vor sich hin kauten. Wenn sie, an einer Ecke dieses riesigen Tisches zusammengedrängt, gemeinsam ihren Edel-Fastfood hinunterschluckten und die Schwärze ihrer Augenringe miteinander verglichen. 29
»Meine Herren, willkommen bei Golley Dean!« Xavier Blitzer hatte jede Bewegung seines gebräunten Körpers im Raum unter Kontrolle. Es sah aus, als glitte er ohne jede Reibung über den Teppichboden. Das ist einer dieser Typen, die sich stundenlang die Hände einseifen, bevor sie zum Pinkelbecken gehen, dachte Guyot. Ondulierte Haare, manikürte Finger und Mentholatem – ein Kerl, der bei den meisten Frauen einen starken Klammerreflex auslöst. Blitzers Schönheit grenzte offen gestanden ans Lächerliche. »Mein lieber Xavier, ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte Boyden lächelnd. »Das ist Alex …« »Ich glaube, Sie müssen ihn nicht mehr vorstellen. Maître. Sogar mein Tabakhändler hatte heute früh den Fernseher auf die Pressekonferenz geschaltet. Seit ungefähr zwei Stunden ist Monsieur Guyot ein echter Star – eine weltweite Berühmtheit!«, schleimte Blitzer und trat auf sie zu. Die Vertikalität des Bankers verwirrte Alexandre. Angesichts der perfekten Gerade, die vom Kinn bis zu den Schienbeinen durch Blitzers Körper zu laufen schien, angesichts der tadellosen Gerade des wahrscheinlich ziemlich verkrampften Abdomens unter der breit gestreiften Krawatte fühlte sich Guyot plötzlich hoffnungslos konkav. »Und im Namen von Golley Dean möchte ich Ihnen danken, dass Sie uns bei dieser historischen Transaktion Ihr Vertrauen schenken. Wir sind außerordentlich stolz, Ihnen zur Seite stehen zu dürfen.« »Maître Boyden schätzt Sie sehr«, wehrte Alexandre ab. Ein Moment der Unsicherheit folgte – Schweigen und Verlegenheit. Wie in einem schlechten Sketch tauchte der brave Haarknoten wieder auf: Mit kleinen Schritten durchquerte er das Zimmer, besorgt über ein Silbertablett gebeugt, das er auf einen Beistelltisch platzierte. »Möchte-jemand-Kaffee-oder-Tee?«, hauchte er in einem Atemzug. Plötzlich standen zwei Individuen 30
im Türrahmen, die zusammenzugehören schienen – steif, fahl, die Gesichter wie gepudert: vielleicht traurige Clowns oder ein Artistenduo … »Maître, Monsieur Guyot, darf ich Ihnen meine beiden Mitarbeiter vorstellen, die die Ehre und das Privileg genießen werden, an diesem Projekt zu arbeiten? … Matthieu Ploniac und Jocelyn Rivaret.« »Angenehm!«, blökten die beiden im Chor. Boyden und Guyot nickten leicht mit dem Kopf, während sie das beschlipste Binom distanziert musterten. »Matthieu wurde soeben zum Vizepräsidenten befördert. Er ist einer unser Top-Experten in der Wertermittlung und ein absoluter Spezialist in Sachen Börseneinführung. Jocelyn gehört erst seit sechs Monaten zu unserem Junioranalystenteam, hat aber schon an zwei Projekten mitgearbeitet.« »Angenehm«, wiederholte das Clownspärchen synchron, begeistert über die Lobeshymne seines Chefs. »Bestens«, unterbrach Boyden. »Nachdem die Vorstellung erledigt ist, könnten wir uns vielleicht an die Arbeit machen?« »Natürlich, nur zu«, summte Blitzer. »Ich werde Sie leider bis zum Nachmittag verlassen müssen, aber Matthieu und Jocelyn stehen ganz zu Ihrer Verfügung.« Xavier Blitzer entzog ihnen seine Sonnenbräune und ließ sie mit seinen beiden Gehilfen allein, die umständlich Platz nahmen. Der kleine Rivaret kniete schwerfällig nieder, um einen Anschluss für sein Notebook zu suchen. Puterrot vor Anstrengung, aber zufrieden kam er schließlich unter dem Tisch hervorgekrochen. Ploniac ließ die Verschlüsse einer gepolsterten Aktentasche knallen, der er mehrere sorgfältig broschierte PowerPoint-Präsentationen entnahm. Alex ließ sich in einen der
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bequemen Drehstühle fallen und zog einen Füllhalter aus der Innentasche – ohne dass er genau wusste, wozu. »Ich gehe schnell noch ein paar Kopien holen, dann bin ich ganz für Sie da«, entschuldigte sich Ploniac. »Sehr gut, dann nutze ich die Gelegenheit, um einen Anruf zu erledigen.« Boyden sprang auf und verließ den Raum. Alexandre fühlte sich auf einmal ganz entspannt. Er schlug die Beine übereinander und versuchte für einen Moment die hektische Aufregung des Morgens zu vergessen. Draußen hatte der Regen inzwischen nachgelassen, die Vorhänge waren in blasses, metallisches Licht getaucht. Er war allein mit diesem Mittzwanziger namens Jocelyn Rivaret. Seltsamer Knabe – wie er sich da am anderen Ende des Tisches über sein Notebook beugte, auf den Tasten herumklimperte und ihn ab und zu über den Bildschirm hinweg anstarrte. Nach ein paar Sekunden ließ sich seine zitternde Stimme vernehmen: »Wissen Sie, Monsieur Guyot, ich war auch an der HEC, wie Sie …«, strahlte er. »Fachbereich Finanzen!« »Aha. Sehr schön … Wirklich sehr schön …«, gratulierte ihm Alexandre völlig überrumpelt und verschränkte die Arme. Was konnte er noch sagen, Herrgott? Was konnte er noch zu diesem Bürschchen sagen? Das Surren des Computers übertönte allmählich die morbide Stille des abgebrochenen Gesprächs. Guyot bedauerte in Gedanken seinen Mangel an Umgänglichkeit, den er mit seiner abnehmenden Neugier in Verbindung brachte. Im Grunde erregte gar nichts mehr sein Interesse. Nein, nichts reizte ihn mehr. Aber er sollte sich bemühen, »den Menschen mit Aufmerksamkeit zu begegnen«. Dieser Grundsatz wurde einem in sämtlichen Führungskräfteseminaren beigebracht: Hinter jedem Dienstleister, hinter jedem Mitarbeiter konnte sich, wie es so schön hieß, eine wertvolle Persönlichkeit 32
verbergen. Wer also war Jocelyn Rivaret wirklich? Welche geheimnisvollen Qualitäten verbarg er hinter seinem banalen Äußeren? Alexandre zwang sich, Interesse aufzubringen, während er den zarten Körperbau und den olivblassen Teint musterte, die Symbiose, die der Mann mit seiner Maschine bildete. Und er musste zugeben, dass Rivaret eine seltsame Mischung darstellte. Ein kurioses Zwitterwesen: halb schmächtiges Kind, halb routinierter Verwaltungskader. Eine echte Absonderlichkeit, wie in einer physikalisch-chemischen Übergangsphase zwischen pickliger Pubertät und erdrückender Reife. So etwas wie eine lebenssprühende – wahlweise lüsterne – Oberschülerin, die vorzeitig in die Wechseljahre geraten ist. Wahrhaftig, dachte Alexandre und kniff sich ins Kinn, seit mehr als einem halben Jahrhundert hatte das französische Bildungssystem, unterstützt durch zügellose Endogamie, riesige Kontingente dieser höheren Gattung hervorgebracht, die Freilufthaltung und besonderen Schutz verdiente. Die großen Einrichtungen zur Ausbildung der so genannten Wissenschafts-, Wirtschafts- oder Verwaltungselite hatten abgestimmte Programme entwickelt, die ständig den wechselnden Bedürfnissen der Unternehmen und den fortwährend steigenden Anforderungen des Arbeitsmarktes für Führungskader angepasst wurden. Sobald also die Dressur abgeschlossen war, hatte ein junger Vertreter dieser Gattung beste Aussichten, einen sicheren Posten mit Aufstiegschancen zu bekommen, der meist von einem großen Dienstleistungsunternehmen angeboten wurde. Einem Unternehmen, in dem es ihm dann gestattet war, neben anderen freudig ausgeführten Tätigkeiten nach der Erzeugerin oder dem Erzeuger seines künftigen Nachwuchses Ausschau zu halten. Die so entstandenen Paare genossen dann die mit ihrer Stellung verbundenen Privilegien und trugen die entsprechenden Erkennungszeichen, vor allem die Uniform: Dank ihres unsicheren Geschmacks und ihrer mangelnden Originalität hatte sich 33
eine opportunistische Markenindustrie (Zara, Celio, Mario Dessuti …) entwickelt, die es der Gattung ermöglichte, sich annehmbar und undifferenziert einzukleiden. Trotz ihrer durch Makrozephalie zusammengequetschten Brustkörbe. Trotz ihrer strukturell schmalen, hängenden Schultern. Trotz der chronischen Anämie ihrer unteren Extremitäten, die den (verblüffenden) Eindruck einer angeborenen Kauerstellung erweckten – sozusagen eine versteifte, permanente Kniebeuge. Als Guyot sich aufrichtete, um die Gestalt des Bankerlehrlings besser begutachten zu können, dachte er unwillkürlich an eine Krake … oder einen Tintenfisch. Eigentlich, sagte er sich, entstammen wir beide derselben Gattung. Natürlich handelt es sich um dieselbe Gattung – nur mit ein paar Jahren Abstand. Zwei schief gewachsene, kranke Äste desselben Stammbaums … Alexandre betrachtete Rivaret wie einen kleinen, zurückgebliebenen Cousin, der an einem schweren Gebrechen leidet und froh ist über dessen Unheilbarkeit. Rivaret zwang sich zu einem albernen Lächeln, wie einem alten Onkel gegenüber, der eine verheißungsvolle Erbschaft, aber keine direkten Nachkommen hinterlassen wird. Wir sind von derselben Gattung, dachte Alex gerührt, ohne ihn aus den Augen zu lassen: Jocelyn Rivaret, mein kleines Kerlchen, du hast wie ich die besten Jahre deines Lebens mit binären Meditationen über die Nord-Süd-Problematik oder die Zukunft der Renten verbracht und dich dabei von Chips und Schokoriegeln ernährt. Wie ich hast du zu viel gelesen und zuviel Libido in deine Werke gesteckt. Wie ich und wie du haben drei Generationen dieser Gattung eine bescheuerte amerikanische Prosa verschlungen und auf dieser armseligen Grundlage grauenhafte berufliche Entscheidungen getroffen. Entscheidungen, über die sie heute gemeinsam klagen, den Blick ins Leere gerichtet, während sie Pillen schlucken und Houellebecq anbeten. Dabei sahst du dich durchaus, kleiner Rivaret, in der Haut eines »French Psycho«, hektisch und das 34
Haar voll Gel, stets bereit, zwischen zwei kaltblütigen Morden in La Défense verirrte Topmodels im Sturm auf den rechten Weg zu bringen. Aber die Wahrheit, lieber Jocelyn – »Jocelyn« nannten dich deine Chefs, wenn sie nach so vielen Jahren Studium und Entbehrungen mit schlaffer Hand deinen dicken Einstellungsvertrag unterschrieben, während deine Mutter »Jossinet« zu dir sagte und deine arme Frau dich eines Tages »Joss« rufen wird –, die Wahrheit sah ganz anders aus. Und du hast – du Armer! – nur ziemlich oft onaniert. Die Lektüre von ebenso populären wie albernen Handbüchern und der idiotische Kult um ein paar Literaten haben aus dir und deiner Gattung eine Gemeinschaft lächerlicher kleiner Helden gemacht, einen Trupp verbitterter Geschichtenerzähler, die durch die Gänge der Firmenzentralen irren und deren einziger Trost in dem vagen Bewusstsein liegt, eine Rolle zu spielen. Eine absurde und völlig untergeordnete Rolle in einer beschissenen Autofiktion, die von jammernden, wehleidigen, niedergeschlagenen Gestalten bevölkert wird. Eine Autofiktion, Jocelyn Rivaret, die kein Schwein interessiert. »Alles klar, wir können anfangen!« Ploniacs dynamische Rückkehr riss Alexandre aus seiner Träumerei. Ploniac verteilte verschiedene Dokumente, darunter eine fünfzigseitige PowerPoint-Präsentation mit dem nüchternen Titel »Alex Guyot I. G. – Vorbereitende Elemente zur Wertermittlung«. Guyot strich über die statisch aufgeladene Plastikhülle, als Boyden sichtlich erregt an seinen Platz zurückkehrte. »Meine Herren, entschuldigen Sie bitte! Wie Sie sich vorstellen können, wird meine Kanzlei mit Fragen in unserer Angelegenheit geradezu bestürmt. Presse, Fernsehen, politische Parteien, Makler … Alle stürzen sich auf uns! Ich musste sofort zwei Hilfskräfte einstellen, nur um die Anrufe entgegenzunehmen!«, begann er sich zu beklagen. 35
»Wir wollten gerade anfangen«, beruhigte ihn Ploniac und reichte ihm ein Exemplar der Präsentation. »Sehr gut, Matthieu, legen wir los. Ich weiß, dass Sie schon ein ordentliches Stück Analysearbeit geleistet haben – ganz sicher sehr sorgfältig. Aber statt jede Seite durchzugehen, würde ich Sie bitten, uns lieber … sozusagen ein Resümee zu geben. Eine Zusammenfassung Ihres Ansatzes und Ihrer Schlussfolgerungen.« »Kein Problem«, räusperte sich Ploniac. Die Verzweiflung in Rivarets Kaninchenblick war unübersehbar. Er hatte gerade seinen Computer an den Wandbildschirm angeschlossen, auf dem jetzt in einer Brühe von Flüssigkristallen die Titelseite der Präsentation sichtbar wurde – sein Werk, seine Daseinsberechtigung. In der letzten Nacht hatte er hundertmal die raffinierten Berechnungen überprüft und auch die winzigste Fußnote noch einmal redigiert. Er hatte sich nur ein halbes Stündchen Schlaf gegönnt: Soldatenruhe. Kopf auf dem Schreibtisch. Sein wohlverdienter Lohn – sein »Mehrwert für den Kunden«, hatten seine Vorgesetzten erklärt – hätte darin bestehen müssen, auf Tastendruck die Seiten auf dem Bildschirm vorbeidefilieren zu lassen. Aber das Verlangen des alten Boyden, der für die Ästhetik von Diagrammen offenbar unempfänglich war, durchkreuzte seinen Ehrgeiz, zum einflussreichen Berater aufzusteigen. »Wir haben uns dem Wert der aus Monsieur Guyot bestehenden Individualgesellschaft – einer Einheit, die wir Alex Guyot I. G. nennen werden – mit verschiedenen Methoden genähert«, begann Ploniac und verschränkte die Hände. »Zunächst mussten wir die traditionellen Ansätze ausschließen, die in diesem Fall nicht praktikabel waren. So ist zum Beispiel die Verwendung der Kurs-Gewinn-Verhältnisse vergleichbarer Unternehmen in diesem Stadium unmöglich und kann erst dann herangezogen werden, wenn andere Individuen mit ähnlichem Profil an der Börse notiert sind. Natürlich verstehen Sie auch, 36
dass der Rückgriff auf vorangegangene Transaktionen als Referenz für die Wertermittlung keinen Sinn macht …« »Es gibt eine Referenztransaktion!«, störte Rivaret seinen Redefluss, fest entschlossen, trotz allem einen Mehrwert für den Kunden darzustellen. »Ja, Jocelyn?«, forderte Ploniac ihn mit vernichtendem Blick auf. »Also … Anita, eine junge Frau aus Martinique, wurde am 26. April 1848 für 915 Francs verkauft. Am Vorabend der offiziellen Abschaffung der Sklaverei.« »Danke für die Information, Jocelyn, aber über das historische Interesse hinaus ist diese Anekdote nicht wirklich hilfreich«, guillotinierte ihn Ploniac. »Es gibt noch ein jüngeres Beispiel!«, versuchte sich der Kleine zu behaupten und blätterte hektisch in seinen Akten. »1987, eine sechzehnjährige, auf den Namen Louisa umgetaufte Eritreerin; von ihrer Familie für 1500 Dollar an einen libanesischen Diplomaten verkauft …« Es folgte eine kleine Pause, wie eine Gedenkminute für Rivaret. Ploniac verzichtete auf jeden Kommentar und setzte mit gerunzelten Brauen seine Demonstration fort: »Um also zusammenzufassen: Analoge Methoden sind de facto nicht anwendbar. Deshalb haben wir uns den so genannten Basismethoden der Wertermittlung zugewandt. Die erste besteht darin, Ihr neu bewertetes Nettovermögen zu berechnen. Einfach ausgedrückt: Aus der Summe des Gesamtvermögens abzüglich der Schulden ließe sich der Nettowert Ihres Vermögens ableiten …« »Der Wert meines Eigenkapitals«, säuselte Guyot und rief sich das umständliche Schema aus einem alten Finanzlehrbuch in Erinnerung.
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»Genau, der Wert Ihres Eigenkapitals«, bestätigte Ploniac. »Diese Methode stößt allerdings auf eine Reihe von Hindernissen. Lassen Sie mich erklären: Ihr Mobiliar, die von Ihrem Vater geerbte Wohnung in Levallois oder das Geld auf Ihrem Bankkonto sind Elemente, die keine besonderen Wertermittlungsprobleme aufwerfen. Wie aber soll man den Wert Ihrer Diplome oder der Berufserfahrung ansetzen? Den Preis Ihres Rufs oder Ihrer Moral? Wie soll man den finanziellen Wert Ihres Körpers und Ihrer Gesundheit messen?« »Hmm, okay, ich verstehe«, nickte Guyot. Er dachte flüchtig an die Kraft seiner Gliedmaßen, an die straffe Muskulatur, die er trotz des vorwiegend lethargischen Charakters seiner Alltagsaufgaben bewahrt hatte. Immerhin hatte er sich am Vorabend lange in Claires Unterleib bewegt und sogar einige recht anspruchsvolle Positionen eingenommen, die schon eine anständige körperliche Verfassung erforderten. »Kurzum«, resümierte Ploniac, »der Hauptnachteil dieser Methode liegt in ihrer strikt buchhalterischen Dimension. Sie stellt die bisherige Akkumulation von Reichtum dar, ist aber ebenso wenig imstande, Ihren künftigen Wert zu erfassen wie die ungreifbaren Elemente, die Sie ausmachen. Letztendlich besteht das einzige aussagekräftige Wertermittlungsverfahren – das wir demzufolge auch angewandt haben – in der Bewertung des Cash Flow, den Sie in Zukunft generieren können.« »Discounted Cash Flow!« Rivaret riss die Augen auf, als offenbarte er seine Leidenschaft für eine subversive Rockband. »Genau … ein DCF«, würgte Ploniac ihn ab. »Das Interessante an dieser Methode ist, dass sie auf der Projektion Ihres künftigen Cash Flow beruht, nach Szenarien, die wir entworfen und deren Wahrscheinlichkeit wir berechnet haben … Seien Sie so gut … Seite 26.« Guyot fiel auf, dass Ploniacs geschäftiger Ton etwas anderes verdeckte: In der Alliteration verriet sich seine Überheblichkeit. 38
»Wie wir auf der ersten Abbildung sehen«, fuhr der Banker in seiner Belehrung fort, »haben wir versucht, eine realistische Vorhersage Ihres künftigen Cash Flow zu erstellen. Dieser besteht ganz einfach aus den Einnahmen nach Steuern aus Ihrer Tätigkeit als Consultant, vermindert um Ihre Betriebskosten – Miete, Telefon, Gas, Strom, Lebensmittel, Kleidung, Freizeit – und Ihre Investitionen in langlebige Güter – Immobilien, Fahrzeuge, Möbel, Kunstwerke – oder berufliche Weiterbildung. Unsere Schätzungen beruhen auf den Informationen, die wir von Maître Boyden über Ihr Gehalt und Ihre Konsumgewohnheiten erhalten haben. Wir haben weiterhin als Referenz die Einkommensprofile einer Auswahl von Consultants aus achtzehn verschiedenen Firmen hinzugezogen.« »Benchmarking«, explodierte Rivaret unter seinem Grabstein. »Die gewonnenen Hypothesen erscheinen uns relativ vorsichtig«, zermalmte ihn Ploniac voller Überdruss. »Wir sind bei unserem Grundszenario von einem Einkommenszuwachs von ca. 15 % p. a. für die nächsten zehn Jahre ausgegangen. Wir nehmen weiterhin an, dass McKimen Sie nach Ablauf dieses Zeitraums zum Teilhaber befördern wird, was die BeinaheVerdoppelung der Zahl erklärt, die Sie an Ihrem einundvierzigsten Geburtstag feststellen. In der Folge wachsen Sie bis zu Ihrer Pensionierung in regelmäßigem Rhythmus um 5 bis 10 % p. a. Diese erfolgt mit fünfundfünfzig Jahren, die Rente liegt bei 80 % Ihrer zwanzig besten Jahre. Sie versterben schließlich mit dreiundneunzig, was der Lebenserwartung nicht rauchender Männer Ihrer Generation entspricht. Ihr Endwert zum Zeitpunkt Ihres Todes entspricht dem Liquidationswert Ihres gesamten Vermögens. Es versteht sich, dass die eingangs erwähnten Probleme der Bewertung Ihrer Diplome, Ihrer Moral oder Ihrer körperlichen Verfassung an diesem Endpunkt des Projektionshorizonts verschwinden: Der Preis all dieser Elemente ist dann zu vernachlässigen, da Sie sich zu diesem Zeitpunkt vollständig amortisiert haben. 39
Dieser künftige Cash Flow, den wir natürlich zusammen noch präzisieren können, steigt nach unserer Schätzung zwischen 15 und 20 % pro Jahr. Bei dieser Quote liegt – nach der Exklusivumfrage, die unsere Rechercheteams durchgeführt haben – die Rentabilitätserwartung der künftigen Aktionäre von Individualgesellschaften. Sie ist relativ hoch in Anbetracht der Karriererisiken sowie anderer Unwägbarkeiten bei einer I. G. – wie Krankheit, Unfall, Depression, vorzeitiges Ableben oder längere Arbeitslosigkeit. Der durch das Eintreten derartiger Ereignisse verursachte Wertverlust würde durch die sehr begrenzten Leistungen der Sozialversicherung nur partiell kompensiert werden …« Alexandre schielte zu Boyden, der rechts neben ihm saß und sich gewissenhaft Notizen zu Ploniacs Erklärungen machte. Er hatte bereits zwei Vorder- und Rückseiten mit spitzen, unleserlichen Ideogrammen gefüllt. »Wenn wir abschließend zu den zugrundeliegenden Hypothesen kommen, werden Sie feststellen, dass wir bewusst die Geldflüsse und Risiken im Zusammenhang mit Ehe, Lebenspartnerschaft und jeder Art von Fortpflanzung ausgeklammert haben. Die Bewertung erfolgt also – entsprechend Ihren mittelfristigen Absichten in dieser Hinsicht – auf der Grundlage einer Einheit ohne Partner und ohne Kinder.« »Eine Stand-alone-Bewertung«, agonisierte Rivaret. »Hmm«, beteiligte sich Boyden und rahmte sorgfältig den Satz ein, den er soeben aufgeschrieben hatte. Alexandre überließ sich seiner Ungeduld: Was trieben die da eigentlich? Musste Boyden diesen absurden Redefluss bis ins letzte unwichtige Detail festhalten? Kommentarlos den Raum zu verlassen würde sicher als kindischer, unverantwortlicher Akt aufgefasst – der Alte wäre garantiert sauer. Aber war es denn so abwegig, dass er das unwiderstehliche Bedürfnis empfand, irgendjemandem in die Fresse zu hauen? Wurde der 40
Dienstleister nicht auch dafür bezahlt, seinen Klienten vom Stress zu befreien? Plötzlich fiel ihm »kinetische Energie« ein, wohl eine Erinnerung an den Physikunterricht, und es gelang ihm in letzter Sekunde, seine ausgestreckte Hand zurückzuhalten, deren Masse und Geschwindigkeit – im Quadrat – womöglich eine dauerhafte Deformation von Ploniacs Kiefer verursacht hätte. »Und wenn wir jetzt zu Seite 30 gehen, stellen Sie fest, dass auf der Grundlage dieser Hypothesen der vorläufige Einführungswert der Alex Guyot I. G. in einer Spanne von 2,5 bis 3 Millionen Euro liegt.« »Equity Value!«, röchelte Rivaret unter allgemeiner Gleichgültigkeit. Als guter Banker lauerte Ploniac auf die Reaktion des Kunden bei der Erwähnung der Schlüsselzahlen: Boyden beschränkte sich darauf, sie zu notieren und zu unterstreichen, während sich Alex auf seinem Stuhl aufrichtete und ein Aufstoßen unterdrückte. Er schloss daraus, nicht ohne Stolz, dass die Schätzungen von Golley Dean wie immer vernünftig waren – absolut im Einklang mit den Erwartungen des Marktes. »Angesichts des zu erwartenden Ansturms der Investoren sind wir überzeugt, dass das Angebot selbst an der oberen Grenze der Preisspanne weit überzeichnet wird. Golley Dean ist deshalb bereit, einen Wert von 3 Millionen Euro zu garantieren.« »Okay, fair …«, schniefte Alex. »Und an welche Struktur denken Sie?«, schloss sich Boyden an und kniff die Augen zusammen. »Wir schlagen eine einfache Struktur vor. Seite 42 bitte.« Die Seiten ließen sich mühelos umblättern. Und man konnte sich von der eintönigen Stimme des Bankers wunderbar einlullen lassen. »Struktur« diskutieren, ganz in Ruhe … obendrein noch eine »einfache Struktur«, was für Kinder. Immerhin, dachte Alex, waren sie im Warmen und in guter 41
Gesellschaft. Nicht deprimiert, gut genährt – geschützt vor Witterungsunbilden und den Widrigkeiten der Außenwelt. »Ausgehend von diesen drei Millionen Euro, schlagen wir vor, die Alex Guyot I. G. in 100000 Aktien mit einem Einheitswert von 30 Euro aufzuteilen. Diese Aktien werden vom Unternehmen selbst gehalten, das, wie gesagt, heute ab Mitternacht juristisch mit Monsieur Guyot verschmelzen wird, wenn wir wie vorgesehen die Eintragung ins Handelsregister erhalten.« »Genau«, bestätigte Boyden. »Die Börseneinführung erfolgt dann in Form einer Kapitalerhöhung um etwa 1 Million Euro. Diese liquiden Mittel sollten der Alexandre Guyot I. G. die Möglichkeit geben, die nötigen Investitionen zur vollen Umsetzung des persönlichen Entwicklungsplans zu finanzieren. In erster Linie zum Kauf einer angemessenen Wohnung in der Nähe des Pariser Büros von McKimen: in der gegenwärtigen Baisse des Immobilienzyklus’ eine sehr sinnvolle Anlage und ein unverzichtbares Statussymbol jedes Senior Consultant. Ganz abgesehen davon, dass dann die Mietzahlungen, die gegenwärtig Ihre laufenden Kosten erhöhen, eingespart würden, was eine beträchtliche Verbesserung Ihrer Cash-Flow-Generierung zur Folge hätte. Der Erwerb eines zuverlässigen Wagens sowie die vorzeitige Rückzahlung des Kredits für Ihr MBA könnten in einer nächsten Phase geplant werden. Der Restbetrag müsste ausreichen, um die verschiedenen Beratungs- und Kommunikationskosten zu decken, die unmittelbar mit der Transaktion verbunden sind.« Am Rand von Alexandres Innenohr stand auf einem Talgpodest ein kleines Dorforchester – Pauken, Trompeten, Musiker mit rotgeäderten Wangen – und massakrierte die Titelmusik von Glücksrad. Er stellte sich die Güter bildlich vor. Konsumgüter, Investitionsgüter, eine Unmenge von Gütern auf einer Drehbühne, heftig liebkost von ultra-liberalen Hostessen. 42
»Am Ende der Operation werden Sie also ungefähr 33000 neue Aktien platziert haben, um Ihre Million zu bekommen. Von dem nunmehr auf 133000 Aktien aufgestockten Kapital halten Sie immer noch 100000, also 75 %. Das garantiert Ihnen die Verwaltungsautonomie, Sie bewahren sozusagen – wenn ich mir einen Scherz erlauben darf- Ihre Self-Control«, grinste Ploniac und rückte seine Brille zurecht. »Hmm, witzig«, log Boyden nachsichtig. »Alexandre, was halten Sie davon?« Die Frage stürzte Alex in ein Halbkoma. Er kniff die Augen zusammen, um eine optische Verzerrung zu erzeugen, die seine Umgebung erträglicher machen würde. Da ihm dies nicht gelang, kniff er sich mehrmals mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenspitze. Das Gefühl, das von der elastischen Haut ausgelöst wurde, war sanft und positiv – Quelle einer leichten Verbesserung. Aber irgendetwas hakte, sicher nur eine Kleinigkeit, die jedoch ausreichte, seine unmittelbare Wahrnehmung zu stören. Seine normale Beziehung zu Menschen und Dingen erschien ihm plötzlich von radikaler Absonderlichkeit. Er fand sich schließlich damit ab, sich blindlings ins Nachdenken stürzen zu müssen – ohne bestimmte Kriterien zu haben, was nun vernünftig war und was nicht. »Für mich ist es okay, Maître. An der Wertermittlung ist nichts Überraschendes. Struktur und Umfang der Aufstockung sind mir recht. Das passt mir alles sehr gut, wirklich …« »Natürlich sind alternative Szenarien denkbar; wenn Sie einen Blick auf den Anhang werfen, der von Seite …« »Ich habe gesagt, dass es mir passt!«, fauchte Guyot und versenkte seinen Blick in Ploniacs Augen. Gesellschaftliche Interaktionen, dachte Alex, während er sich konzentrierte, um nicht zu zwinkern; die Kräfteverhältnisse innerhalb menschlicher Gemeinschaften strukturieren sich gemeinhin um einen gewalttätigen Gründungsakt. Der auf 43
Ploniac gerichtete Blick, den er noch härter werden ließ, brennend und völlig starr, war wohl so eine strukturierende Geste. Denn nach dem Sieg könnte er als brutaler, rechtmäßiger Häuptling seinen Stamm in der ausgetrockneten Ebene um ein Buschfeuer versammeln. Boyden, Ploniac und Rivaret, die plumpen, primitiven Protagonisten dieser Felszeichnung, säßen nackt oder mit einem Fellschurz bekleidet im Halbkreis und lauschten andächtig, an kleinen, mit Torf vermischten Kieseln lutschend, seinen Plänen. Das Wort wäre ihnen verboten, ihre Mäuler verbunden; allenfalls dürften sie mit einer Sondergenehmigung ihrer Freude, dienen zu dürfen, in einem langen Urschrei Ausdruck verleihen – einem rauen Geheul, fast einem Aufstoßen. Es würde keine verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten geben, erst recht keine Haarspaltereien. Man würde keine Zeit mehr mit dem Abwägen von Alternativen verlieren. »Perfekt, wenn es Ihnen recht ist, das ist … perfekt«, gab Ploniac auf und senkte den Blick. »Na also, meine Lieben, ich finde es wunderbar, dass wir uns so schnell über diese grundlegenden Dinge geeinigt haben«, freute sich Boyden. »Dadurch gewinnen wir kostbare Zeit für die weiteren Lustbarkeiten. Ich schlage vor, den Rest des Tages für die Fertigstellung der Zahlen zu verwenden. Und wir müssen auch anfangen, das alles zu Papier zu bringen. Der Prospekt muss mindestens zehn Tage vor Börseneinführung bei der Finanzaufsichtsbehörde eingereicht werden. Wir wollen Alex in zwei Wochen notieren. Das heißt, meine Herren, dass uns vier Tage und vier Nächte bleiben, um dieses Dokument fertig zu stellen.« Boydens natürliche Emphase, seine Redeweise, als hätte jeder Satz juristisches Gewicht, ließen die Nasenflügel des kleinen Rivaret erbeben. Natürlich glaubt der Jüngere – gerade wegen seiner Jugend – immer, er habe noch viel zu lernen. Und sieht in jeder Fronarbeit, die man ihm auferlegt, eine Chance, sich auszuzeichnen – sich interessant zu machen. Guyot und Ploniac, 44
erfahrener im Umgang mit solchen Täuschungen, nahmen Boydens Feststellung als das, was sie war: ein Ultimatum. Der Rest des Tages wurde also damit verbracht, ein Modell von Alexandre Guyot zu erstellen. Die Art und die Höhe seiner künftigen Finanzflüsse zu präzisieren. Rivaret erhitzte sich, quantifizierte, budgetierte, informierte flink die Zellen seines Kalkulationsprogramms. Er begeisterte sich immer wieder an der Effizienz dieser oder jener Funktion, freute sich über den so erzielten Zeitgewinn und schlang unter Lobeshymnen auf das unübertreffliche Genie der Microsoft-Entwickler einen Sandwichbissen oder einen Schluck Wasser hinunter. Alexandre tigerte herum, umrundete hundertmal den Tisch, beantwortete Fragen zu seiner Vergangenheit, seinen Vorlieben, seinen Plänen, bestätigte ab und zu mit einem Nicken die Richtigkeit der Hypothesen. Er begann Ploniacs eiskalte Intelligenz zu schätzen. Inzwischen versuchte Boyden im Nebenzimmer, den Ansturm der Medien zu bewältigen. Er faxte, telefonierte, mailte ohne Pause, kam den Hindernissen und Fallen zuvor, die überall lauerten. Er hielt seine Truppe isoliert, geschützt vor dem weltweiten Grollen. Und im Lauf der Stunden nahm unter Rivarets abgekauten Fingernägeln ein ungekanntes, demütigeres und rationelleres Menschenwesen Gestalt an. Kein Seelenzustand, kein Wechselfall des Daseins widerstand dem Fluss der Berechnungen, dem unerbittlichen Bilanzausgleich. Die systematische Anwendung dieses normativen Bezugssystems verlieh der Beschreibung des Lebendigen eine nie da gewesene Strenge. Ein neues Alphabet, eine universelle Sprache. Offenbar konnten sich in Rechnungsbüchern literarische Qualitäten verbergen. Sie hatten ihre Syntax, ihre eigenen Kunstgriffe, ihre stilisierten Lügen … Ob verkleidet, geschminkt oder bereinigt, die Bilanz blieb korrekt. Und bei Bedarf bestätigten es kritische Wirtschaftsprüfer unter Eid: Ja, das Ganze bot ein »den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild« der Realität. Mit Zahlen gespickte Tabellen, wie ein verschlüsselter Roman oder die 45
überladene Partitur eines experimentellen Musikstücks. Eine recht artistische Art, durch subtiles Spiel mit dem Kontrapunkt und dem Ausgleichsmechanismus Ordnung in das Chaos zu bringen: Eingänge ziehen Ausgänge nach sich, Soll ruft nach Haben – Plus und Minus ergeben immer Null. Damit verfügte man über ein hilfreiches Werkzeug zur Transkription der Hoffnungen pro Werk, pro Kapitel, pro Kalenderjahr. Und gegen 23 Uhr wurde kollektiv beschlossen, dass die Datei alex.guyot_version_27.xls die Wahrheit eines Menschen enthielt. Nach ein paar freundlichen Schlägen auf den Rücken und den üblichen Sätzen der Selbstbeglückwünschung lehnten Boyden und Guyot schließlich, strahlend und erschöpft, bei der x-ten kalten Platte ab und beschlossen, sich zu verabschieden. Die beiden Banker dankten ihnen höflich und erwähnten aufgekratzt die »paar Arbeitsstunden«, die noch vor ihnen lagen. Auf der Treppe nach draußen sah Alexandre, während er ihm die Hand schüttelte, Dankbarkeit – echte Dankbarkeit – in Rivarets vor Müdigkeit verzerrten Augen aufleuchten. »Wo wollen Sie die Nacht verbringen?«, fragte Boyden, ehe er ins Auto stieg. »Im Hotel Meurice?«, schlug Guyot ohne Überzeugung vor. »Kommt nicht in Frage. Die Presse belagert das Foyer. Und außerdem … Was haben Sie mit Claire gemacht?« »Ich weiß nicht … Ich nehme an, sie ist noch da.« »Eben. Ein Grund mehr, nicht dorthin zurückzukehren. Sie haben diese Frau verlassen, Alexandre. Und ich erinnere Sie daran, dass wir Sie im Status ›allein stehend‹ notieren werden. Wir können uns solche Halbheiten, solche Zweideutigkeiten nicht mehr leisten; diese gequälten Beziehungen, die endlos vor sich hin dümpeln … Die Finanzaufsichtsbehörde kann man nicht mehr hinters Licht führen …« 46
»Okay, Maître, okay, begriffen. Was schlagen Sie vor?« »Ich werde Sie in einer meiner Wohnungen unterbringen. Ein nettes möbliertes Studio in der Avenue Montaigne. Die saudische Familie, die es zwei Monate im Jahr mietet, ist letzte Woche abgereist. Es wurde bereits sauber gemacht, und die Heizung ist auch noch an. Kommen Sie, ich setze Sie dort ab. Sie werden sich sehr wohl fühlen.«
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5 So ein Schlitzohr, dieser Boyden, murmelte Guyot, während die schwere Eichentür hinter ihm zuglitt. Das »nette möblierte Studio« war in Wirklichkeit ein Luxusapartment. Eine riesige Maisonettewohnung in dem eisigen, klaren Stil, der zuerst der Traum der New Yorker Yuppies gewesen war und sich dann in allen angesagten Kneipen des Globus verbreitet hatte. Boydens Immobilienvermögen war weiß Gott umwerfend. Die seit Jahrzehnten angehäuften Honorare waren sicher nicht in monetäre Investmentfonds geflossen: Die Pariser Gerüchteküche schrieb ihm ein gutes Dutzend solcher »netten möblierten Studios« zu, darunter ein Herrschaftshaus in der Nähe der Place des États-Unis. Nachdem die unvermeidliche Phase heftigen Neids vorbei war, begann Alexandre nach und nach, sich den Raum anzueignen. Begeistert von der Weitläufigkeit und der Verheißung der Chesterfield-Möbel, schlenderte er von Zimmer zu Zimmer, knipste Schalter an und aus, ließ aus dem Nichts Momentaufnahmen eines Luxuslebens auftauchen, Super-King-Size-Betten mit schmeichelnden Daunendecken, Marmorbäder, endlose Ankleidezimmer … Wie groß mochte das Apartment sein? Dreihundert Quadratmeter? Vierhundert? Er ging die Treppe hoch und wusste sofort, dass er sich dort oben einquartieren würde – ein schöner Raum ohne Zwischenwände, etwa hundert Quadratmeter groß. Ein LuxusLoft, ohne besonderen Geschmack, aber auch ohne Extravaganz eingerichtet: eine stahl- und holzgetäfelte amerikanische Hightech-Küche, ein Wohnbereich mit Ecksofa und Plasmabildschirm, an der gegenüberliegenden Wand ein Doppelbett – noch ein King-Size – mit einem Überwurf aus rotgoldenem, mit arabischen Schriftzeichen besticktem Stoff. 48
Aber vor allem bot die Terrasse hinter den schmalen Silberlamellen der elektrischen Jalousie einen Rundblick über Paris, der noch die schönsten Fotos der Fremdenverkehrsämter übertraf. Wahrscheinlich die Junggesellenklause des Erdölkönigs, schätzte Guyot und ließ seinen Mantel fallen. Ein günstiger Ort, um zwischen den milchweißen Brüsten einer ukrainischen Minderjährigen Suren und Fatwas zu vergessen und den heiligen Ruf aller Muezzins zu ersticken … Als er auf der verchromten Kühlschranktür sein verschwommenes Spiegelbild erblickte, war Alexandre überrascht, wie sehr er sich freute, allein zu sein. Die vier Fächer waren mit reichlich Smirnoff und Johnnie Walker gefüllt. Keine Spur von Nahrungsmitteln: »Eating is cheating«, amüsierte er sich – in islamischen Ländern verstand man zu leben. Er hatte Lust auf ein Glas von diesem eisigen Wodka, obwohl ihm Alkohol von jeher zuwider war. Das würde übrigens in einem Absatz seines Einführungsprospekts ausdrücklich erwähnt werden – auf keinen Fall vergessen! Sicher einer der Punkte, den die Investoren zu schätzen wissen würden: »Es sei darauf hingewiesen, dass Alexandre Guyot I. G. keine alkoholischen Getränke zu sich nimmt. Zum Zeitpunkt der gegenwärtigen Transaktion ist keine Änderung in seinen Vorlieben abzusehen.« Alexandres Gedanken schweiften ab, erfrischt vom Dunst aus dem Eisbehälter und hypnotisiert von den regelmäßig aufgereihten Flaschen und der bläulichen Transparenz der Flüssigkeiten, durch die das Neonlicht schimmerte. Eine ganze Weile stand er so vor dem Kühlschrank. Vor und zurück schwankend, wie ein Bäumchen im Wind. Abwechselnd Fußspitzen und Fersen die Aufgabe anvertrauend, seinen Körper zu tragen, einen gesunden und gleichgewichtigen Kontakt zum Boden zu halten. Er versuchte, wieder eine angemessene Distanz zwischen seinen inneren Bestandteilen herzustellen, jenen Partikeln vager und widersprüchlicher 49
Wünsche. Einen Anschein von Ordnung und Harmonie nach diesem erschöpfenden Tag, der bei ihm den bitteren Nachgeschmack eines ersten Behandlungstages hinterlassen hatte. Wahrscheinlich haben Krebskranke nach der ersten Chemotherapie dasselbe ambivalente Gefühl, dachte er – eine Mischung aus Angst, Hoffnung und Erschöpfung. Er entschied sich brav für ein Glas Wasser und ließ sich bäuchlings auf die Matratze fallen. Bei seinem uneleganten Hechtsprung flogen ein paar Fernbedienungen in die Luft. Er griff nach der kompaktesten und schaffte es trotz des Dämmerlichts, die dreieckige Play-Taste zu identifizieren. Er blieb mit dem Daumen auf dem Plastikknopf und schwenkte den Infrarotstrahl in verschiedene Richtungen. Irgendwo in der Dunkelheit hörte er ein ersticktes Geräusch. Ein mattes, mechanisches Klicken, wie wenn eine Handgranate abgezogen wird. Die Explosion folgte auf dem Fuße – grausam, endgültig: der herzzerreißende Schrei einer misshandelten Frau und im Hintergrund feindselige Trommelwirbel, fiebrige Darboukas, die ihn zusammenzucken ließen. Trotz seines beschleunigten Pulses fand er gleich die Stop-Taste, dann rollte er sich zusammen wie ein Fötus und genoss die wieder eingetretene Stille … Aber kaum hatte er sich einigermaßen beruhigt, griff er hastig nach der größten Fernbedienung, die aus demselben gebürsteten Metall war wie der Fernseher. Er drückte ungeduldig ein paar Mal auf die 1. Während das ultraflache Gerät mit trockenem Knistern zum Leben erwachte, stützte er sich auf den Ellbogen, dann setzte er sich an die Bettkante. Auf dem Bildschirm vollzog sich das Wunder des wiederholten Drückens auf die Programmtaste: Ein atemloses junges Mädchen verkündet »den Tod der Zellulitis« / ein rothaariges Kind verlangt ein Markenpüree/ein rotbrauner Cockerspaniel schlummert in muskulösen Armen / ein rothaariger Glatzkopf sagt mit erhobenem Zeigefinger »antibakteriell« und … 50
Zum Glück brachte LCI keine unanständigen Sendungen. Alexandre hörte auf zu zappen, als er in der linken unteren Bildschirmecke 23.58 Uhr las. Ein paar Nachrichten aus der Welt wären nicht schlecht, sagte er sich und fixierte die Minutenanzeige … Als sie von 58 auf 59 sprang, verspürte er das dringende Bedürfnis, sich ein konkretes Ziel zu setzen: die Sekunden zu zählen, eine nach der anderen, um den magischen Moment nicht zu verpassen, in dem die vier Nullen erscheinen würden. Er hatte erst etwa dreißig gezählt, als die Werbeunterbrechung sich empfahl. Eine kraftvolle Melodie ertönte: die Mitternachtsnachrichten. Aber Guyot hörte weder die übliche Einleitung noch die Zusammenfassung der Meldungen. Er war vollkommen auf seine Aufgabe – die wichtigste aller Aufgaben – konzentriert. Von ihrem Erfolg oder Misslingen hingen Ruhm oder Scheitern, Fluch oder Glück ab – für den Rest aller Zeiten. Seit seiner Kindheit hatte er die Angewohnheit, sich in solche lächerlichen Herausforderungen zu stürzen. Zwanghafte Talismane mit beruhigender Wirkung, sehr verbreitet bei Angstneurotikern und Manisch-Depressiven. Es war einfach und dankbar: Man durfte sich nur nicht ablenken lassen, musste vollkommen konzentriert bleiben, vor allem durfte man nicht zwinkern. Nur noch ein paar Sekunden durchhalten. Noch ein paar Sekunden … »… Sein Name ist Alexandre Guyot …«, sagte eine Frauenstimme, die er ganz sicher nicht kannte. Beim Hören dieser Worte verkrampfte sich sein leidgeprüfter Herzmuskel erneut. Er spürte im unteren Teil seiner Beine ein intensives Prickeln – als zerbröselten seine Knie und das Fleisch seiner Waden. Standhalten, sagte er sich – das ist ein Test, eine Falle. Nur nicht hinhören, nur nicht kapitulieren. Wie ein verantwortungsvoller Mensch handeln – und seine Verpflichtungen einhalten. Sich auf die vier Ziffern konzentrieren, noch ein paar Augenblicke …
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Seine Augäpfel waren völlig ausgetrocknet, als die Welt endlich in den folgenden Tag kippte. Ohne sich die Zeit zu nehmen, den Sieg seines allmächtigen Willens auszukosten, richtete er den Blick und seine geistigen Fähigkeiten auf den Monolog der Sprecherin: »Der zweiunddreißigjährige Pariser wird als erstes menschliches Wesen an der Börse notiert werden. Eine historische Wende, über die in Frankreich wie im Ausland viel geredet wird. Ein toller Tag, den Guillaume Fernet für uns miterlebt hat …« Es folgte die Reportage jenes Fernet, die Alexandre mit offenem Mund, in einem Zustand tiefer Erstarrung anschaute. Eine Sammlung scheußlicher Bilder von einem gewissen Guyot: schwitzend auf der Rednertribüne eines großen Vortragssaals /die Hand eines Ministers schüttelnd/mit fahlem Gesicht auf den Rücksitz einer Limousine rutschend … Dann eine Auswahl von Expertenkommentaren: Ein Wirtschaftsprofessor freute sich über die »Humanisierung des kapitalistischen Paradigmas«, wobei er wiederholt »Fortschritt« und »aber Vorsicht« sagte; ein beleibter Gewerkschaftler äußerte seine Skepsis und rief vorsorglich zu einer Großdemonstration auf; der Oppositionsführer geißelte aus Prinzip eine »verpfuschte und demagogische Reform« ; der Premierminister rühmte die Vorzüge dieses »neuen Gesellschaftsmodells« und spreizte die Finger wie in Erwartung einer Spende; ein ergrauter Diplomat versicherte in untadeligem Französisch und mit leichtem Südstaatenakzent, dass man in Washington »diese vielversprechende Entwicklung mit lebhaftem Interesse« verfolge … Alexandre fühlte sich verheerend, um nicht zu sagen fast tot, als die Journalistin zu einem finsteren Konflikt an den Grenzen Kasachstans überging … Ihm wurde klar, dass er aufstehen und sich bewegen musste. Dass er, wie ein Unfallopfer zu Beginn der Rehabilitation, die ersten wunderbaren Schritte versuchen musste, die das Bett von 52
der Terrasse trennten. Mit vor Angst verkrampftem Bauch und obwohl er ein militanter Nichtraucher war, musste er an einen Nikotinjunkie auf Entzug denken: Ihm schwante, welchen Frieden ihm eine Zigarette verschaffen könnte. All das war also real … Greifbar. Konkret. Nicht nur die Ausgeburt von Boydens fruchtbarer Fantasie. Nicht nur getippte Projektentwürfe, paraphierte Formulare. Die Konsequenzen konnten einen schwindeln machen, und sie waren schon sichtbar – ein Fernseher hatte ihn daran erinnern müssen. In der Tat war dieser turbulente Tag hinter einem von Boyden errichteten Deich abgelaufen. Einem Deich, der ihn künstlich vor sich selbst geschützt, das Rauschen seiner eigenen Verwandlung herausgefiltert und den Heidenlärm von Tausenden Alexandre Guyots erstickt hatte … »Real, sehr real«, wiederholte er wie einen traurigen Refrain, während er mechanisch auf die Glasfront zuging. Er zog an dem Aluminiumgriff und schob die Terrassentür auf: Alle Arten von Lichtern glitzerten über der vom Laserstrahl der alten Mutter Eiffel liebkosten Stadt. Ganz nah und weit weg, überall bevölkerten andere Menschenwesen andere Gebäude: All das erschien ihm plötzlich sehr beruhigend. Alex pumpte seine Lungen voll mit der nächtlichen Frische. Er fragte sich, ob er gerne kommunizieren würde. Schließlich schaltete er sein Handy ein, das seit dem Morgen ausgeschaltet war: »Sie haben … sieb … zehn … neue Nachrichten«, sang eine abgehackte Stimme. Stress stieg in ihm auf, den er sofort durch langes Ausatmen abzubauen versuchte. Neun Nachrichten hintereinander von Claire: zuerst eher dumme und sorglose Liebesworte, dann unruhige Liebesworte, dann nervöse, dann wütende, dann viele Beschimpfungen und viele Tränen. Er hatte Lust, sie anzurufen, trotz allem – Claire, arme Claire. Aber die Aussicht auf Boydens Vorwürfe – garniert 53
mit einer erschöpfenden Lektion über Finanzkommunikation – brachte ihn sofort wieder davon ab. Er musste Claire vergessen, ja, sie endgültig vergessen. Dann hörte er von Anfang bis Ende die Nachricht von Jeffrey K. Graham ab, dem charismatischen CEO von McKimen World. Die üblichen Versicherungen unbedingter Unterstützung, in denen Alex aus Gewohnheit und Überdruss zehnmal das Wort »great« und fünfmal »extremely« mitzählte. Nur die Nachricht seiner Mutter entlockte ihm ein leises Lächeln. Ihr völliger Rückzug aus der realen Welt – seit dem Tod des Alten – war so rührend wie beunruhigend. Radios, Zeitungen, Fernsehen und Kalender waren seitdem aus ihrer Zweizimmerwohnung in Boulogne verbannt. Und die menschliche Gemeinschaft existierte für sie nur noch ganz weit weg. Ungeübt im Umgang mit der Mailbox, fing sie erst lange nach dem Piepton mit unendlich zarter Stimme zu sprechen an, erzählte etwas von einem Cordsamtmantel, man solle nicht vergessen, ihn wieder abzuholen. Und wie ein schüchterner verliebter Teenager erwähnte sie fast am Ende noch rasch die Möglichkeit, vielleicht ein kleines Arbeitspäuschen zu finden, um bei einem Stück Kuchen ein wenig zu plaudern. Ganz zum Schluss konnte er, wie bei jedem zweiten Anruf, den Anfang des »Ich hab dich lieb« hören, das sie kurz vor dem Auflegen noch in den Hörer hauchte. Der Rest der Mailbox war voll gemüllt von mehr oder weniger treuen Freunden, ein paar Opportunisten und diversen Nervensägen. Alexandre identifizierte sie an ihren einleitenden Tiraden, bevor er sie kurzerhand löschte, ohne sich um das zu kümmern, was folgte: Nicolas (»Okay, also … Hallo, Alter, ich …«), Sabine (»Ist ja irre, was bei dir los ist, ich bin in Paris, um …«), James (»Where the fuck are you? I’ve seen you bastard on TV and …«), David (»Ich bin’s … also, ruf mich zurück … du hättest wenigstens …«), Olivier (»Soll ich dir sagen, was du bist, Alex? Du bist ein Vollidiot! Aber ein echter! Warum hast 54
du mir nicht gesagt, dass …«), Valérie (»Salut, ich bin’s … Valérie, also … ich ruf an, um dir zu gratulieren, weil … also, ehrlich gesagt, David hat mich angerufen und mir erzählt, dass du …«). Ein Windstoß zerzauste ihm das Haar. Plötzlich war ihm kalt, und außerdem fing es wieder an zu regnen. Schwere Tropfen zerplatzten um ihn herum auf den Terrakottafliesen und hinterließen kleine bräunliche Flecken. Wie blutige Spuren lautloser Kugeln. Ein paar Sekunden lang traf ihn keine einzige. Dann fiel ein eisiger Tropfen auf sein Ohrläppchen … Er musste sich in Sicherheit bringen und Schlaf finden. Er musste »vor-wärts-gehen« – hätte Boyden skandiert. Und da Guyot – weder traurig noch fröhlich – wieder hineinging, sah er den Zug pulvriger Wolken nicht, die sanft den Himmel zerpflügten. Es war, das stimmt, tiefe Nacht.
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6 »Was motiviert Sie eigentlich, Alexandre? Ich meine … Was treibt Sie dazu, eher hier zu sein als anderswo?« Alexandre hing in Boydens Sessel, hatte die Armlehnen umklammert und versuchte seinen Blick zu leeren. Ihn sorgfältig zu reinigen. Ihm jede bekannte, auch die primitivste Art von Menschlichkeit auszutreiben. Angesichts der unüberwindlichen Komplexität der Aufgabe besann er sich und entschied sich als Zwischenlösung zum Rückzug: Er tauchte einen Keks in seinen Nescafé und streifte ihn lange am Rand der Porzellantasse ab, dann fing er an, ganz langsam den trockenen Rand des Sandgebäcks abzulecken und starrte auf einen virtuellen Punkt hinter der Schulter seiner Gesprächspartnerin. Eine Haltung, die seiner Meinung nach ziemlich getreu seinen augenblicklichen Gemütszustand widerspiegelte. Seine »Motivation-eher-hier-alsanderswo-zu-sein« – zwischen Gleichgültigkeit und Niedergeschlagenheit. Seit drei Tagen beschäftigte sich Hélène Vidalet-Coudert, Psychiaterin und Psychoanalytikerin, jeden Morgen von 10 Uhr bis 12 Uhr kugelschreiberknabbernd damit, Alex’ Unbewusstes zu erforschen. Die altjüngferliche Vierzigerin ließ sich ohne weiteres in die gut bestückte Rubrik der hysterischen Mannweiber einordnen. Brillanter Kopf, Autorin zahlreicher Fachbücher und eines populärwissenschaftlichen Werks – Warum geht es mir schlecht? –, das sie zum Guru der Kader und Unternehmenschefs gemacht hatte; überdies hatte sie in der Monatszeitschrift Capital die Kolumne »Coaching«. Offensichtlich kompetent – außerordentlich kompetent. Und doch eine graue Maus wegen ihres schrecklich unansehnlichen Gesichts mit einem veritablen Krankenblick in der Mitte. Einem unbeständigen, vibrierenden Schielen, wie es Alexandre nur 56
einmal erlebt hatte, bei jener Schulkrankenschwester, die reihenweise unbehaarte Hoden abtastete. Der alte Boyden hatte sie wohl nicht zufällig ausgesucht … Hélène war damit betraut, Abschnitt 4.2.1a des Prospekts zu verfassen: »Allgemeine Informationen zur geistigen Gesundheit der Inividualgesellschaft«. Und auf ihre sibyllinischen Fragen hin hatte Guyot fügsam die Reise zu seinen kindlichen Träumereien angetreten. Von den erotischen Ergüssen bis zu den schuldbeladenen Marmeladetöpfen, die -jetzt, wo man daran dachte – viel zu nah bei dem großen Fleischmesser standen. Mehrmals hatte er auch den Herrn Papa wieder ausgraben müssen; in allen Einzelheiten von seiner besonderen Art erzählt, den Kleinen zu waschen, mit Bimsstein und kochendem Wasser. In kurzen Regressionssitzungen war es allerdings gelungen, die Verbrennung auszutreiben – endlich die heilsamen Urschreie herauszulassen. »Alexandre, hören Sie mir zu? Ich wiederhole meine Frage: Was treibt Sie, eher hier zu sein als anderswo?« »Hélène … Ich glaube … Ich glaube, ich bin hier, weil … Ich kann nicht mehr ohne Sie auskommen … Das ist es … Ich kann nicht mehr.« Am Tag zuvor hatte es nur zwei Stunden gedauert, bis der prosaischere Unterabschnitt abgeschlossen war, der Alex’ völlige körperliche Gesundheit bestätigte. Er war nüchtern im Hôpital Européen Georges Pompidou erschienen, das wegen seiner ultramodernen Ausstattung ausgesucht worden war. Die Unversehrtheit seines Körpers und seiner Substanzen (Blut, Urin, Sperma, Exkremente) war mit intelligenten, schweigsamen und schmerzlosen Apparaten geprüft worden. Während er in die Tomographenröhre glitt, hatte er sogar einen diffusen Stolz empfunden, eine aufrichtige Dankbarkeit für das westliche Entwicklungsmodell. Und endgültig von der Fortschrittsidee überzeugt war er, als eine Ärztin ihm eine kraftvolle Rektaluntersuchung zuteil werden ließ. 57
»Okay, Alex … Ich hab verstanden, wir hören auf«, sagte die Psychofrau mit resigniertem Lächeln. »Hélène, seien Sie mir nicht böse. Ich bin völlig k. o. In den letzten drei Tagen habe ich vielleicht zehn Stunden geschlafen, und außerdem … Wir haben doch alles abgeklopft, oder? Sie wissen fast mehr über Alexandre Guyot als ich. Haben Sie noch irgendwelche Zweifel? Glauben Sie, ich verstecke etwas vor Ihnen? Eine kleine Schizophrenie, pädophile Neigungen oder irgend so eine Schweinerei? Sie halten mich für ein bisschen bekloppt, ja, ist es das, Hélène?« »Absolut nicht!«, amüsierte sie sich und stand auf. »Ich glaube, Sie haben einen etwas verdrehten Humor und tatsächlich zu wenig geschlafen. Aber von diesen privaten Betrachtungen abgesehen, werde ich sofort einen netten Absatz schreiben, in dem zertifiziert wird, dass die Alex Guyot I. G. eine motivierte Gesellschaft mit glücklicher Kindheit und einem soliden emotionalen Gleichgewicht ist. Also ciao, Alexandre … Und alles Gute für das Weitere.« »Das Weitere«, dachte er, sich den Nacken reibend, als sie mit lautem Maultierschritt aus dem Zimmer eilte. »Das Weitere« verhieß noch lange Stunden Leiden und kleine Fertigmenüs. Die Kanzlei Boyden, Lamy, Neuville & Steg hatte sich seit 72 Stunden in eine wahre Kommandozentrale verwandelt. An die dreißig Leute arbeiteten unermüdlich, Tag und Nacht, das Telefon klingelte pausenlos. Das Archiv der Kanzlei war zum Data Room umgewandelt worden. Alle verfügbaren Informationen über Guyot waren dort in wildem Durcheinander zwischengelagert: • Geburtsurkunde und Familienbuch • Impfschein und Krankengeschichte • Zeugnisoriginale (einschließlich Schulabschlüsse) 58
• •
Kopien der Aufnahmeprüfungen und anderer Examen Kopien der Seminararbeiten, Referate und anderer universitärer Arbeiten • Kopien des Arbeitsvertrags mit Anlagen • Telefon-, Gas- und Stromrechnungen der letzten fünf Jahre • Kontoauszüge der letzten fünf Jahre • Einzahlungsquittungen und Steuerbescheide der letzten fünf Jahre • Mietverträge und Einzahlungsquittungen der letzten drei Jahre Dutzende von Kästen, voll gestopft mit Dokumenten. Nach Klärung einer interpretatorischen Zweideutigkeit in den Bestimmungen mussten zusätzlich noch die persönliche Korrespondenz und sämtliche Fotografien seit seinem achtzehnten Lebensjahr erfasst werden. Im angrenzenden Zimmer waren Anwälte, Banker, Buchprüfer, zwei Psychologen, ein aus Boston entsandter Profiler und eine Armee von Schreiberlingen mit Ringen unter den Augen in lebhafte Gespräche vertieft. Am Vorabend hatte sich noch ein Astrologe-Graphologe zu ihnen gesellt: Nachdem in Les Échos das Ergebnis einer Umfrage zu den Erwartungen der Investoren erschienen war, hatte Boyden entschieden, dem Prospekt ein Geburtshoroskop und ein graphologisches Gutachten anzufügen. Nach erbitterten Diskussionen hatte man schließlich darauf verzichtet, einen Wahrsager oder Magnetiseur hinzuzuziehen. Diese ganze kleine Gesellschaft war unermüdlich auf den Beinen. Prüfte, bestätigte, ordnete. Plagte sich ab – mit rührender Selbstverleugnung –, den gesamten Datenbestand noch einmal genau zu durchkämmen, »die relevanten Bereiche abzusichern«, nach jenen trüben, beunruhigenden Räumen zu 59
fahnden, aus denen manchmal jäh der Schatten eines Zweifels auftauchen konnte. Alexandre wurde ständig gebeten, Einzelheiten aus seinem Lebenslauf zu klären: die Dauer dieses oder jenes Praktikums, sein genauer Platz in der Tennisrangliste oder die Verdoppelung seiner Handyrechnung im Februar … Man rackerte sich ab, um die Risiken zu minimieren, die kleinste Unebenheit zu glätten, die störenden Auswüchse seiner Einmaligkeit wegzuschleifen. Aber Alex war zuversichtlich: Er wusste, er war sauber und glatt. »Fertig, Alex? Gehen wir zum ›Kom‹?« Boyden schäumte über vor Energie, ein unermüdlicher Löwe. Kaum hatte die Psychofrau das Büro verlassen, steckte er schon seinen pausbäckigen, roten Kopf herein und sah abwechselnd auf seine Armbanduhr und auf die Uhr an der Wand, als suchte er nach einer unwahrscheinlichen Gelegenheit, den Schiedsrichter zu spielen. »Okay, gehen wir zum ›Kom‹.« Alexandre streckte sich und ließ seine Fingerknöchel knacken. Der »Kommunikationstreff« von Estelle Dupuis – fünfundvierzig Minuten Presseschau und Erhellendes zur Medienstrategie – diente zur täglichen Entspannung vor dem Mittagessen. Das Briefing fand traditionell in kleiner Besetzung in Boydens Büro statt: Guyot, die Anwälte, manchmal noch die Banker. Als Erster kam Jocelyn Rivaret herein, wie gewöhnlich dunkelrot vor Aufregung. Alex deutete einen militärischen Gruß an. Dann folgte eine Prozession von sechs Leuten, angeführt von Boyden, die sich lärmend an dem runden Tisch niederließen, wo der futuristische Krake für die Telefonkonferenzen thronte. Sie erschien wie immer untadelig pünktlich, exakt um 12.15 Uhr. »Guten Tag, meine Herren«, sagte sie, während sie zum Tisch ging. 60
Es wurde augenblicklich still, wie in den besten Volksschulklassen. »Guten Tag, Mademoiselle«, hätten die Herren gerufen, wenn sie auch nur den Hauch eines Lauts hervorgebracht hätten. Wenn sie etwas anderes hätten tun können, als die Schockwelle, die mächtige Implosion zu ertragen, die ihre Ankunft stets auslöste. Estelle Dupuis war etwa dreißig. Aber das ist eine völlig belanglose Information. Denn das Wesentliche lag anderswo. Anderswo und überall: in ihrem geschmeidigen Gang, in der Festigkeit ihrer Schenkel, im millimetergenau richtigen Abstand dazwischen, in ihrer trotz der Enge des Oberteils entspannten Brust, in der klassischen Architektur ihres Raffaelschen Gesichts, in der königlich eleganten Haltung ihres Kopfs – von einem festen Haarknoten gekrönt, aus dem sich immer ein paar Strähnen lösten –, die ihr die Aura einer ehemaligen Primaballerina verlieh. Und was ihren gewölbten Hintern anging, aufreizend wie ein Ohrfeigengesicht, so gehörte er wohl zu den Dingen, die man unaussprechlich nennt. Estelle Dupuis – Seniormanagerin bei EuroPub Conseil – vereinte alles, was das Männergeschlecht an primitiven Fantasien gemein hat. Sie verkörperte gewissermaßen den universellen Stimulus. Den gemeinsamen Nenner von Säuglingsträumen und Greisenröcheln. »Entzückt, Sie zu sehen, Estelle!«, rettete Alex, der als Erster aus dem Limbus zurückkehrte, die Situation. »Gut … Also … Immer noch viel Resonanz in den Medien, viel Papier … Wie Sie sehen können!«, sagte sie und zog dicke Bündel zusammengehefteter Fotokopien aus der Tasche. Sie legte den Stapel vor Rivaret, der die effiziente Verteilung organisierte. Estelle blieb in einer köstlichen Haltung stehen – mit vorgeneigtem Oberkörper behutsam auf den Tischrand gestützt, der anmutig den Schwung ihrer Hüften kreuzte. Eine unerträgliche Folter für die Herde von Männchen: Ein komplizenhaftes Unwohlsein befiel die acht zerknitterten, todmüden Kerle, denen das Testosteron bis in die Kehle stieg. 61
Denn abgesehen von Boyden, bei dem dieses Problem strukturell war, hatte seit mindestens drei Tagen keiner von ihnen mehr anständigen Sex gehabt. Der Schlafmangel machte es auch nicht besser, er begünstigt bekanntlich unwillkürliche Versteifungen … Also schlug Guyot die Beine übereinander und versuchte sich den Hintern seiner Mutter vorzustellen: Schlaff. Ausgemergelt. Cellulitisverzerrt. Es galt, den glühenden Stock zu zähmen, der gegen seine Leiste drückte. Und sich endlich auf die Presseausschnitte zu konzentrieren. »Wie gestern: Gutes und weniger Gutes«, fuhr sie fort und spitzte die Lippen. »Aber alles in allem sind die Kommentare enthusiastisch. Oder im schlimmsten Fall von wohlwollender Neutralität. Tribune und Fig sind immer noch außer sich – keine Sorge. Und der Ton in Les Échos hat sich seit gestern deutlich verändert, ein gutes Vorzeichen … Die heutige gute Nachricht betrifft vor allem Le Monde: In dem Leitartikel, der heute Nachmittag erscheinen wird, hat sich der Wind zu unseren Gunsten gedreht … Eine Kopie davon finden Sie auf Seite 3 Ihres Packens … Ich glaube, die gestern im Parisien veröffentlichte Ipsos-Umfrage war ein echter Elektroschock für die Journalisten: Eine derartige Popularität der NIM-Reformen hatte niemand erwartet …« »… und eine solche Popularität von Alex!«, brüllte Boyden dazwischen. »Allerdings, Maître, allerdings … Das Interview gestern Abend um acht in TF1 hat ihn einem großen Publikum bekannt gemacht … Und Sie waren sehr überzeugend, Alexandre, das muss man Ihnen lassen. Nicht nur Claire Chazal ist Ihrem Charme erlegen! Ipsos zufolge halten 84 % der Franzosen Sie für ›mutig‹ und 72 % finden Sie ›sympathisch‹. Ihre besten 62
Ergebnisse liegen bei den Frauen, besonders bei den berufstätigen Städterinnen zwischen 25 und 45 Jahren. In diesem Segment ist Ihre Quote auf 92 % geklettert!« Estelle zitierte die guten Zahlen so genießerisch, als wollte sie vor ihren Freundinnen die Dicke einer Eichel anpreisen. Alexandre hatte sie »auf Seite 3 Ihres Packens« sagen hören und sich mechanisch ans Lesen gemacht. Der Chefredakteur von Le Monde hatte sich um 180 Grad gedreht. Vor zwei Tagen noch hatte er im dritten Programm gegen dieses »ungerechte und lückenhafte Gesetz« getobt. Wurden Journalisten immer noch bestochen? Oder hatte Estelle Dupuis’ Zauber ein weiteres Opfer gefordert? Wie auch immer, am Ende seines pompösen Leitartikels war zu lesen: »Seit einigen Jahren zählen auch wir uns zu den zahlreichen Verfechtern des bürgernahen Unternehmens. Heute sehen wir – trotz der früher geäußerten Vorbehalte gegen dieses Gesetz, das tatsächlich in weiten Teilen noch zu verbessern wäre –, dass es unerwartet in anderer Gestalt auf uns zukommt: als vergesellschafteter Bürger.« »Aber jetzt müssen wir Ihr Image wieder auf institutionalisiertere Art pflegen«, fuhr Estelle fort. »Also keine Interviews mehr, weder für Presse noch Fernsehen. Von jetzt an und bis zum Börsengang halten wir uns zurück. Wir teilen nur noch die Schlüsselziffern und rein sachliche Angaben zu Ihrer Biografie mit. In diesem Stadium sehe ich nämlich das Risiko, dass Sie zu schnell zum Star werden; ein schneller, aber kaum zu kontrollierender Ruhm könnte Ihrer Glaubwürdigkeit für den Markt sehr schaden … Pikante Enthüllungen Ihrer ExEroberungen auf der Titelseite von Voici beispielsweise wären katastrophal …« »Hey, so weit sind wir ja wohl noch nicht!«, erregte sich Alex mit ungläubigem Gesicht. »Ich meine es ernst, Alex, sogar sehr ernst«, fuhr sie ihm in die Parade. »Ich erspare Ihnen die Einzelheiten, aber … Sagen wir, ich musste schon ein, zwei Anrufe tätigen, um gewisse 63
Leute in ihre Schranken zu weisen … Sie kennen die Methoden dieser Typen nicht, die sind imstande …« »Okay, okay …« Alex hob die Handflächen. »Sie sind die Expertin, Estelle.« »Sehr gut!« Sie belohnte ihn mit einem kleinen Lächeln. »In Anbetracht der Dringlichkeit würde ich jetzt gerne zur Bestätigung des Marketingmaterials kommen.« Sie zog eine DVD aus ihrem perlenbestickten roten Handtäschchen. Einen Moment verharrte sie reglos – ein herrlicher Anblick –, da sie sich offenbar nicht mehr genau erinnerte, wo das Laufwerk stand. Die silberne Scheibe zwischen ihrem Daumen und Mittelfinger funkelte. »Wir haben alle Argumentationshilfen unter Berücksichtigung der gestrigen Kommentare noch einmal überarbeitet. Sowohl auf den Folien als auch im Videoclip«, fasste sie zusammen, während sie schließlich auf einen Glasschrank zuging. »Dann bleibt es also doch beim Clip?«, wunderte sich Ploniac und setzte die Brille auf. »Ja, Matthieu, wir bleiben beim Clip. Nicht im Hinblick auf eine Werbekampagne im Fernsehen natürlich; das wäre viel zu teuer und auch nicht sehr geeignet. Es soll nur ein kleiner Einführungsfilm für die Roadshow sein, den man vor der Präsentation der Folien zeigen kann. Da alle Fernsehsender weltweit über das Ereignis berichten werden, stellen wir den Journalisten damit fertige Bilder zur Verfügung, die sie in ihren Reportagen nur noch recyceln müssen … Verstehen Sie, was ich meine? Das verschafft uns eine massive, kostenlose Publicity, weil wir ihnen schlichtweg die Arbeit abgenommen haben. Und das ist ihnen mehr als recht, glauben Sie mir!« »Okay, ich verstehe«, begab sich Ploniac, dessen Brillengläser verschmiert waren, auf den Rückzug. »Hier also die neueste, gegenüber gestern leicht abgeänderte Version. Aber der Sinn der Botschaft bleibt derselbe, er basiert 64
auf der Dreifaltigkeit Vertrauen, Qualität, Wachstumspotenzial«, sagte sie und drückte auf den Knopf, um die Jalousien zu schließen. Während sich künstliche Nacht über Boydens Büro senkte, wurde der Wandbildschirm hell. Ein paar Sekunden war nichts weiter als ein blauer Fond zu sehen, dann ein gestörtes Bild in schlechter Qualität. Ein alter Super-8-Film – unscharf und verwackelt. Ein ein- oder zweijähriges Kind sitzt im Gras. Es trägt Jeanslatzhosen und Lederschühchen. Ein sonniger Tag, der Wind spielt in seinen feinen Haaren. Ein Vogel zwitschert im Hintergrund ein paar unbeschwerte Töne … Der Junge vergnügt sich damit, farbige Plastikteile aufeinander zu türmen: Würfel, große rote Würfel … Dann ertönt eine Frauenstimme, die versucht, seine Aufmerksamkeit auf die Kamera zu lenken: »Alex! Guck mal her! Guck zu mir, Schätzchen! … Alex!« Vergeblich. Das Kind bleibt konzentriert bei der Sache. Lässt sich nicht ablenken. Mit ernstem Gesicht und gerunzelten Brauen türmt es sorgfältig seine Würfel aufeinander … Unten auf dem Bildschirm erscheint in zwei Phasen ein Satz; eine Kette von weißen Buchstaben, fett und kursiv: Manch einer begreift sehr früh, dass es ausschließlich darauf ankommt, … … sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dann zerreißt plötzlich ein Schlagzeug die Ruhe der kleinen Idylle. Gefolgt vom durchdringenden Schrei Tina Turners: »Oooooh you’re simply the best! …« Im Rhythmus der Musik folgen Fotografien und Filmausschnitte: Alexandre mit Wollmütze vor dem Kindergarten/bei der Preisverleihung am Ende der 5. Klasse /in einem Kirchenschiff kniend bei der Erstkommunion/während der Abiturfeier in 65
einem anrüchigen Lokal in Montparnasse – »Better than all the rest …« /mit der hochgereckten Trophäe eines Badmintonturniers/inmitten eines Bergs von Büchern am Schreibtisch in seinem Zimmer/im Rollkragenpulli an seinem ersten Tag auf dem Campus der HEC/den Finger zum Gipfel eines New Yorker Wolkenkratzers ausgestreckt/in offizieller Pose vor dem Londoner Sitz von McKimen/bei der festlichen Übergabe der Abschlusszeugnisse – »Better than anyone …« – in den Gärten von Harvard/Alexandre am Telefon, mit den Füßen auf dem Schreibtisch/Alex, die Arme voller Akten, in der Flughafenhalle /Alex beim Essen in der Kantine, umgeben von strahlenden Kollegen – »Anyone I’ve ever met …« Alex beim Schreiben auf ein Flipchart während eines Kundengesprächs/Alex auf der Rednertribüne in Bercy, die Hand des Ministers schüttelnd … Dann eine sehr werbeträchtige Großaufnahme; ein Zoom auf sein kantiges Gesicht. Das Bild ist geschickt auf den willensstarken Blick und die vorspringenden, von glatter Haut überspannten Wangenknochen und den Kiefer zentriert, der zu einem Raubtierlächeln verzogen ist und das scharlachrote Zahnfleisch entblößt: »… Oooooh you’re the best!« Und während der letzte Gitarrenakkord vibrierend verklingt, erscheint in der Mitte des Bildschirms die Botschaft, von einer sanften, gut artikulierenden Frauenstimme vorgelesen: »Er weckt Vertrauen, steht für Qualität und verkörpert ein starkes Wachstumspotenzial – Alexandre Guyot: Sie alle können seine Aktionäre werden.« Jemand in der Dunkelheit sagte: »Wow!« Jemand hüstelte und sagte: »That’s it.« Jemand sagte: »Licht, bitte!«
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7 Hatte der Regen an jenem Donnerstag, dem 23. November, irgendwann aufgehört? Waren die Kalkfassaden in der Rue Cambon noch immer tropfnass wie nach einer Dusche? Und die Pflastersteine? Was war mit den Pflastersteinen? War das Wasser in ihr kompliziertes Netz von Gräben und Furchen eingedrungen? Bildeten sie jetzt ein effizientes, zu Flüssen, Nebenflüssen, Mäandern und Untiefen organisiertes System? Konnte Letzteres den Zusammenfluss der Ströme in den offenen Rinnsteinschlund sichern? Und was genau wären die Folgen einer weiträumigen Überschwemmung? »Nur noch dreißig Minuten!«, näselte ein Lautsprecher. Guyot ertappte sich dabei, wie er auf eine Unwetterkatastrophe hoffte. Oder auf sonst eine Überraschung der Natur. Er wünschte sich eine technische Panne, einen Stromausfall beispielsweise. Warum nicht ein Rechenfehler? Eine Dummheit, ein Schnitzer – das wäre wie ein Luftholen gewesen, ein Zeichen dafür, dass dieser Prozess irgendwo etwas Menschliches besaß … Doch alles war Tag für Tag unter striktester »Einhaltung des Terminplans« verlaufen. Keine achtundvierzig Stunden nach Hinterlegung des Prospektes bei der Finanzaufsichtsbehörde – 126 Seiten, den Anhang mit der detaillierten Auflistung von Alex’ Existenz und Erbe nicht mitgerechnet – hatte der Analyst von Golley Dean gerade zur rechten Zeit einen hymnischen Bericht verfasst: »Alex Guyot I. G.: Wer will cash-cash spielen?« Und nach einer beschleunigten Premarketing-Phase hatte man hüstelnd einen Aktienpreis zwischen 25 und 30 Euro pro Stück bestätigt. Das entsprach einem Wert von 2,5 bis 3 Millionen Euro für die Alexandre Guyot I. G.
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Die Roadshow war praktisch gleich danach organisiert worden: ein einziger Tag für das Treffen mit den Investoren, das sowohl Privatpersonen als auch institutionellen Anlegern offen stand. Für diesen Anlass hatte man zwei prunkvolle Salons im George V reserviert. Aber die Menge, die zu diesem Ereignis strömte, war so zahlreich, dass sie bald außer Kontrolle geriet: Trotz der logistischen Bemühungen und des Eingreifens des Polizeipräfekten zogen sich die Warteschlangen bis zum Barfly … Und so musste die Alex Guyot I. G. einer dicht gedrängten, spannungsgeladenen Zuhörerschaft gegenübertreten. Nach der Vorführung des Clips – ein absoluter Erfolg – hatte sie sich dem Publikum in etwa zwanzig Folien vorgestellt. Die I. G. strich ihre Wettbewerbsvorteile und ihre vernünftig kalkulierten Zielsetzungen heraus und beschrieb alle qualitativen und quantitativen Elemente, die sie zu einem erstklassigen Anlageobjekt machten. Danach war eine knappe Stunde für Fragen aus dem Auditorium vorgesehen: »Rechnen Sie damit, Ihre Ausgaben für die Freizeit innerhalb von drei Jahren zu erhöhen?« »In welchem Viertel planen Sie eine Wohnung zu erwerben?« »Was ist Ihr Hauptfehler?« »Und was Ihr größter Vorzug?« »Haben Sie schon einmal eine Niederlage erlebt?« »Sind Sie großzügig?« »Anständig?« »Glauben Sie an Gott?« »Wie werden Sie die Dividenden aufteilen?« … Guyot, von Müttern, Fondsverwaltern, Vorruheständlern, Börsianern angesprochen, war brillant, geistreich, bezauberte das Publikum. Er antwortete jedem Einzelnen genau und differenziert, mit zusammengebissenem Kiefer und oft 68
erhobenem Zeigefinger. Als virtuoser Redner wechselte er gekonnt zwischen überzeugender Ernsthaftigkeit und kleinen Einsprengseln ökumenischen Humors. Ja, kein Zweifel: Er hatte sich gut verkauft. »Zwanzig Minuten, noch zwanzig Minuten.« Alles verlief nach wie vor »über alle Erwartungen« gut, wie Boyden in diesen Tagen unaufhörlich wiederholte. (Er sagte es wahrscheinlich auch in diesem Augenblick, während er sich, die Daumen in die Seitentaschen seines Jacketts gehakt, als Gentleman vor einer Dame im schwarzen Kostüm verbeugte.) Und »über alle Erwartungen« gut hatte sich auch das Orderbuch gefüllt. Drei Tage lang hatten die Teams von Golley Dean die Kaufanweisungen der institutionellen Anleger gesammelt, während die französischen Online-Banken die Nachfrage der Privatleute bearbeiteten. Sämtliche Zeitungen gerieten über den »Appetit der Investoren« in Entzücken. Gewiss, man hatte Hunger: Alle waren scharf auf Aktien. Nach Meinung aller Beobachter war der Erfolg der Operation »absolut verblüffend« (ob Boyden wohl in diesem Augenblick daran dachte, da er sich als erfahrener Weltmann in der Menge verlor?). Der bescheidene Umfang des Angebots und der Neuheitseffekt hatten zu einer maßlosen Überzeichnung geführt. Bei 30 Euro pro Aktie – die Obergrenze der Preisspanne – belief sich die registrierte Nachfrage auf 138 Millionen Euro: 138-mal mehr, als im Angebot war. Die Höhe der Zahlen und ihre Unvorhersehbarkeit hatten sogar die Banker für einen Augenblick aus der Fassung gebracht – sehr anrührend. »Fünfzehn Minuten, fünfzehn!« Als alle Kauforders registriert waren und das Angebot geschlossen wurde, musste die Zuteilungsstrategie festgelegt werden. Eine heikle Aufgabe, die sie die ganze letzte Nacht beschäftigt hatte. Nach längerer Diskussion hatte man sich für einen Ansatz entschieden, den man für »gut und ausgewogen« 69
hielt. 50 % der einen Million Euro Kapitalaufstockung wurden für Privatanleger bestimmt, eine Auswahl von 150 Personen mit besonders großem Vertrauen in Alex’ Perspektiven – ein Vertrauen, das sich in einem Kauforder von mehr als 10000 Euro ausdrückte. Darunter waren etwa zwanzig vertraute Namen: alte Freunde, ein paar Vettern, zwei, drei nostalgische Exgeliebte … Und natürlich seine außerordentlich motivierte Mutter. Sie profitierte von der bevorzugten Zuteilung, die in den Bestimmungen vorgesehen war, sie erhielt also ihre gesamte Kauforder. Das heißt 102240 Euro, die sie von ihrem Sparbuch abgehoben hatte und die ihr die Kontrolle über 2,6% ihres Sohnes sicherten. Beim institutionellen Anteil wurden ein Dutzend Investmentfonds nach Ruf und Anlagehorizont ausgewählt. Einstimmig und ohne Ausnahme wurden langfristige Einlagen bevorzugt, was nur vernünftig war. Sehr spät, mitten in der Nacht, konnten sich Ploniac und Rivaret dann an der Berechnung der endgültigen Zuteilungen erfreuen. Obszöne, komplizierte Formeln mit Schwellen und Prorata. Und kurz vor Morgengrauen verkündete Boyden: »Alexandre, wir haben’s geschafft: Sie haben ein solides Aktionariat.« Zuletzt hatten sie dann wenig und schlecht geschlafen. »Nur noch zehn Minuten, wenn Sie bitte Platz nehmen würden … Vielen Dank!«, brüllte die Lautsprecherstimme. Es wurde also jemand dafür bezahlt, an das Vergehen der Zeit zu erinnern – das heimtückisch und grausam und absolut unausweichlich war, trotz Oliven-Ciabatta und Dom Pérignon. Eine metaphysische und unzulänglich bezahlte Aufgabe, meditierte Guyot und steckte sein zehntes Lachscanapé in den Mund. »… Geschäfte in der Umgebung. Und sehen Sie … deshalb ist meiner Tochter Holland Park lieber als South Kensington … 70
sehr viel lieber … Ihnen nicht auch, Alexandre? Apropos, wo haben Sie in London gewohnt?« Die Nennung seines Vornamens weckte ihn aus seiner Betäubung. Ihm wurde klar, dass er seit etwa zwanzig Minuten völlig geistesabwesend war – wie im Nebel. Zurück in der sinnlichen Welt, sah er sich einem Halbkreis lächelnder, entschieden zu alter Damen gegenüber, die Champagne rosé schlürften. Ihre angemalten Lippen stülpten sich schlaff über den Kelchrand und hinterließen dunkle, cremige Spuren auf dem Kristall. Ihre verbrauchten Brüste verbargen sich unter Farnkraut, Gemüsewirrwarr oder gewollt schlichten, bunten geometrischen Mustern. Edlen Stoffen mit klassischen Drucken. Guyot musterte die Fragerin: eine verschrumpelte alte Dame mit violett gefärbtem Haar. »Baker Street, ich habe in der Nähe der Baker Street gewohnt … Meine Damen, ich finde unsere Unterhaltung ganz reizend, aber ich glaube, es ist Zeit, in den Vorführraum zu gehen.« Er breitete die Arme aus, als wollte er sie um die Schultern fassen (er berührte sie nicht). Die kleine Gruppe alter Schachteln drehte sich folgsam um, und Alexandre glaubte so etwas wie ein Knarren zu hören. Gefügig mischten sie sich in die Ausläufer des ungeordneten Stroms von Nacken und Frisuren: eine Herde, die auf die Alm getrieben wurde. Stoßweise rückte man vom ländlichen Buffet zur Salle Eugène Fama vor. Und ehrlich gesagt, ging keiner mehr richtig gerade. Alexandre stellte sich auf die Zehenspitzen und rückte seine Brille zurecht. Er suchte Boyden und gab sich genau zehn Sekunden, um ihn in der Menge ausfindig zu machen. Zehn Sekunden, oder – so war die Spielregel – jede Menge Ärger würde ihm diesen Vormittag verderben. Schreckliche Missgeschicke, unvermeidliche Dramen … Er hatte bis sechs gezählt, als er ihn abseits der großen Wanderungsströme in einer 71
Ecke bemerkte. In lebhafter Unterhaltung mit Jean-Louis Soundso, dem alternden, aber allgemein verehrten Präsidenten von Euronext Paris. Alexandre überschlug die Möglichkeiten, wie er am schnellsten durch die Menge hindurch kommen und sich den Beratungen der beiden Männer anschließen konnte. Schließlich schlängelte er sich hinter dem Buffet an der Wand entlang und nahm im Krebsgang eine kurze Diagonale. In null Komma nichts hatte er die beiden erreicht und begrüßte sie mit einem Nicken. »Meine Herren …« »Da ist ja unser Held des Tages!«, freute sich Boyden. »Ah, Monsieur Guyot!«, sagte der andere und reichte ihm seine schlaffe Empfangschefhand. »Mein lieber Alex, Jean-Louis erklärt mir gerade das Besondere an dieser … wie soll ich sagen … dieser Zeremonie. Bei Euronext ist sie in der Regel dem Börsengang der ganz großen Unternehmen vorbehalten. Aber in Anbetracht der Bedeutung dieses Ereignisses haben die Herren hier liebenswürdigerweise eine Ausnahme gemacht …« »Wir sind Ihnen sehr dankbar dafür«, sagte Guyot und streifte Staub vom Revers seines Jacketts. »Keine Ursache, Alexandre … Es ist eine große Ehre für Euronext, die allererste Notierung einer Individualgesellschaft durchzuführen. Und ich hoffe, das Buffet war nach Ihrem Geschmack.« (Der abrupte Themenwechsel überraschte Alex.) »Das Buffet war ausgezeichnet … besonders der Lachs.« (Sein Speichel schmeckte immer noch nach Toastbrot und gesalzener Butter.) »Jedenfalls sind alle da«, bemerkte Boyden, nachdem er die Menge mit einem flüchtigen Blick gescannt hatte. »Wir hatten mit knapp hundert Leuten gerechnet. Und was haben wir jetzt? Mindestens hundertfünfzig, wenn nicht zweihundert Köpfe! Außerdem alles, was Rang und Namen hat!« 72
Alex betrachtete das glückliche Strahlen in Boydens Gesicht. Er trug das totalitäre Grinsen zur Schau, das die Väter frisch gebackener Ehemänner an sich haben. Ein Grinsen, in dem später auch die Gesichter dieser frisch gebackenen Ehemänner erstarren, wenn sie selbst Väter werden und sprachlos in den pastellfarbenen Gängen der Entbindungsstation herumlungern. Als sich – vielleicht aus Zufall – ihre Finger kurz streiften, hatte Alex das Gefühl einer merkwürdig ranzigen, sinnlichmännlichen Verbundenheit. Und ganz kurz öffnete sich ein Spalt im Sein: eine flüchtige Schneise, wie ein Lichtbrunnen. Das nötige Vertrauen mitten im Tunnel. Angst, Angst vor der Leere: eine Geburt, schon bald. »In fünf Minuten, fünf Minuten … Bitte begeben Sie sich an Ihre Plätze!« »Gehen wir, meine Freunde!«, forderte Jean-Louis Soundso sie auf. Der Salon Fama, der sich im Untergeschoss von Euronext in der Rue Cambon Nr. 39 befand, war ein nichtssagend moderner, als Kinosaal eingerichteter Raum. Etwa hundert geladene Gäste mit den entsprechenden Namensschildern saßen dort bereits eng zusammengedrängt. Ob Nachahmungstrieb, Haftneurose oder Massenpsychose, alle schauten sie auf die Tür, als Guyot und Boyden hereinkamen und mit langen Schritten zur ersten Sitzreihe gingen. Alexandre setzte sich rechts neben seine Mutter, die, unempfänglich für die vielfältigen Köstlichkeiten aus Blätterteig, schon seit über einer Stunde dort saß und in starrer Besorgnis den Countdown auf dem Bildschirm beobachtete. »Alles in Ordnung, Mama?« »Es geht … Es geht, mein Schatz. Ich habe … Ich hab nur das Gefühl, diesen Moment schon einmal erlebt zu haben …« »Das ist nicht sehr wahrscheinlich!« Er verzog das Gesicht zu einer übertrieben schalkhaften Grimasse. 73
Steifbeinig und leicht gebückt stand der Euronext-Präsident am Rand des Podiums und wartete in demonstrativer Gelassenheit darauf, dass endlich Ruhe einkehrte. Schließlich hustete er in ein Kleenex und ergriff das Mikrofon. »Guten Tag, meine Damen und Herren, seien Sie alle herzlich willkommen. Mein Name ist Jean-Louis Bellon. Und für die, die ich bei unserem kleinen Imbiss vorhin nicht persönlich begrüßen konnte: Ich bin der Präsident von Euronext Paris, seit bald fünfzehn Jahren …« »Bellon, Jean-Louis Bellon«, prägte sich Alex ein, indem er den Namen vor sich hin flüsterte. »Ich freue mich sehr, Sie heute hier empfangen zu dürfen, um diesem außergewöhnlichen Ereignis beizuwohnen. Einem Ereignis, das in die Geschichte eingehen wird: die erste Börsennotierung eines menschlichen Wesens – der Alexandre Guyot I. G. Eine Notierung, die exakt um 12 Uhr wirksam wird, das heißt, in ganz genau … etwas mehr als drei Minuten!«, sagte er und drehte sich zum Bildschirm um. Er drückte auf ein paar Knöpfe in der Konsole seines Pults. Auf dem Bildschirm erschienen ständig wechselnde, blinkende Zahlenkolonnen … »Also … Wenn Sie nichts dagegen haben, verfolgen wir diesen Countdown weiter, den Sie die ganze Zeit hier unten auf dem Bildschirm sehen können. Aber inzwischen würde ich Ihnen gerne erklären, wie die Vornotierungsphase in den Datenverarbeitungssystemen von Euronext funktioniert, sozusagen im ›Gehirn des Marktes‹«, fügte er zur Veranschaulichung hinzu und schlug seine altersfleckigen Hände zusammen. »Noch zwei Minuten«, flüsterte die Mutter wie hypnotisiert. Sie schien völlig gleichgültig gegen die gelehrten Erklärungen.
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»Vereinfacht dargestellt«, fuhr Bellon fort, »sehen Sie in der linken Kolonne in Echtzeit alle Kauforders in der Reihenfolge ihres Eingangs. Mit der Anzahl der nachgefragten Aktien und dem gewünschten Transaktionstyp: zum Festpreis, zum limitierten Preis, zu jedem Preis, usw. Die Verkaufsorders auf der rechten Seite sind nach demselben Prinzip organisiert. Es sind sehr wenige, wie Sie sehen … Diese Nachfrage, die weit über dem Angebot liegt, lässt einen Preisruck nach oben erwarten, und zwar sofort bei der Eröffnung … Derzeit vergleicht ein Optimierungsprogramm die Kauf- und Verkaufsabsichten, um einen theoretischen Preis zu berechnen, der im Minutenabstand aktualisiert wird. Von 12 Uhr an, das heißt in … aha, 56 Sekunden, wird diese Operation dann kontinuierlich vollzogen. Und Monsieur Alexandre Guyot wird von da an einen Preis haben – in jedem Moment.« Die Entwicklung der Kurse … Die Preisfestlegung der Titel, erinnerte sich Guyot, den bläulichen Umschlag eines entsprechenden Lehrbuchs vor Augen, ähnelte einem gleichermaßen mystischen wie rationalen Offenbarungsprozess. Tatsächlich basierte die moderne Finanzwirtschaft auf einer Hand voll optimistischer Dogmen, darunter die ehrwürdige Theorie vom »effizienten Markt«: Ein Markt gilt als effizient, wenn der Preis der Aktiva in jedem Augenblick die Gesamtheit der öffentlich zugänglichen Informationen widerspiegelt. Wenn dieser Preis sowohl die Konsequenzen der vergangenen Ereignisse wie die voraussehbaren künftigen Faktoren vollständig aufnimmt. Man spricht auch von »Märkten im Gleichgewicht« oder »vollkommenen Märkten« – Synonyme, in denen sich das Aufblühen der Theoretiker bezeugt. In effizienten Märken offenbart also der Preis ständig eine einzigartige Wahrheit, so vorläufig wie absolut, so flüchtig wie unanfechtbar. Der Preis, flüchtiger Konvergenzpunkt einer akzeptierten Vergangenheit und einer wahrscheinlichen Zukunft, gibt per constructionem eine augenblickliche Version 75
des Seins wieder. Das, worauf jede individuelle, in einem Moment t erfasste Existenz zurückzuführen ist: ein Gedächtnis und eine Erwartung. Mit Bündeln von widersprüchlichen Informationen bombardiert, unter den permanenten Schocks zufälliger Ereignisse reagiert der Preis ständig, passt sich an und gibt schließlich der ungreifbaren Gegenwart eine Form – einen offenbarten Zahlenwert. »So viel dazu … Ich lasse Sie jetzt in Ruhe die letzten dreißig Sekunden verfolgen …« Hinter dem Schleier der digitalen Kryptogramme konstituierte sich die Zahl. Verdichteter Sinn und unschätzbare Synthese, lesbarer und reicher als der genetische Code: Gedächtnis und Erwartung. Der heranreifende Preis – sein Preis, überzeugte sich Guyot – würde ihn viel über sich selbst, aber auch über die anderen lehren; Scharlatane würden sagen: über seine »Beziehung zu anderen«. Denselben Eindruck hatte er übrigens schon ein paar Jahre zuvor gehabt. Als er, hoch über Manhattan, während eines Sommerpraktikums einem indischen Trader bei seiner epileptischen Arbeit sekundiert hatte. In dem ganzen Chaos und Elektronikgeknister hatte ihn das Gefühl gepackt, die Entdeckung eines Prinzips in diesem ganzen System, ein entfesseltes Streben mitzuerleben. Diese Welt bemühte sich um ein Gleichgewicht, suchte tastend und fieberhaft nach einer Koinzidenz der Begierden. Und wenn das Gebrüll der Makler, die Orders und Gegenorders zu Ende, die Analysten erschöpft und der Markt geschlossen waren, gab es immer einen Endpreis, ob gut oder schlecht, einen gesättigten Ausgleich zwischen den verschiedenen Willen zur Macht. »Zehn, neun, acht, sieben …« Eine gerade, öde Straße, soweit das Auge reichte. Ein Geruch nach verbrannten Reifen. Keine Menschenseele am Horizont. 76
Glühender Asphalt unter einer bleiernen Sonne. Unter einer furchtbaren, niederschmetternden, bleiernen Sonne … Alexandre fragte sich, woher diese inneren Bilder kamen, als sich die Fingernägel seiner Mutter in seinen Unterarm bohrten. Je schneller die Ziffern auf dem Bildschirm blinkten, desto lauter wurde das Getöse der Menge hinter ihnen. Ein Countdown – vielmehr: jede Art von Zählung, die kurz genug war, um unterhaltsam zu bleiben – konnte die Menschenwesen in unsinnige Trancezustände versetzen. Dieses methodische Abzählen mit vorhersehbarem Ausgang, oft aus vollen Lungen im Chor praktiziert, faszinierte sie anscheinend ebenso sehr, wie es sie mit Angst erfüllte. Wie die spielerische Aufführung ihres erwarteten Todes. Wie das törichte Warten auf etwas anderes als ein böses Ende. Und trotz des schmerzhaften Drucks der mütterlichen Fingernägel beschloss Alexandre, sich wie alle anderen auch auf das bevorstehende Erscheinen der Reihe von Nullen zu konzentrieren. »Vier, drei, zwei, eins … Da haben wir’s: 93,3 Euro pro Aktie! Eine Kapitalisierung von 12,4 Millionen Euro! Das ist der offizielle Preis bei der ersten Notierung von Alexandre Guyot. Meine herzlichsten Glückwünsche!« Kurze Stille, dann brach der Jubel los. Beifall, Erleichterung und Zustimmung. In der Anarchie der Umarmungen und geschüttelten Hände flüsterte Boyden Alexandre zu: »Ich bin unglaublich stolz auf Sie.« Und er war es wirklich – bis zum Taumeln. Guyot beugte sich über seine Mutter, die mit breitem, reglosem Lächeln dasaß, als wäre es mit einem Klappmesser in eine Holzmaske geschnitzt. »Mama, hast du gesehen? Du hast deinen Einsatz schon verdreifacht!« In die Betrachtung des Wunders der Multiplikation versunken, war es der Mutter ganz warm im Bauch geworden, und die 77
Tränen hingen ihr zwischen den Wimpern. Dort, vor ihren Augen, vermehrte sich ihr Erspartes. Nach den wohlwollenden Gesetzen einer reformierten Chemie – eine unerhörte, wunderbare Parthenogenese. Und soweit er sich in seinem Sohnesgedächtnis zurückerinnern konnte, dachte Alexandre, hatte er sie niemals glücklicher gesehen.
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8 Dicke Kartoffelscheiben, in eine alte Bratpfanne mit heißem Öl geworfen – immer ein Festmahl. Dasselbe vertraute, erfreuliche Geräusch entstand, wenn die Tröpfchen auf den Marmorfliesen landeten. Bemerkte Guyot, während er sich in kreisenden Bewegungen mit einem Luffahandschuh die Achselhöhlen einseifte. Die morgendlichen Waschungen waren ganz angenehm. Die Reinigung des Körpers verlief problemlos. Auf seinem nassen Schädel trocknete das blaue Shampoo zwischen den verklebten Strähnen; die chemischen Wirkstoffe räumten mit den Schuppen auf … Und je sauberer er unter dem mal lauwarmen, mal eisigen Strahl wurde, desto mehr verbreitete sich in ihm eine gedämpfte Begeisterung – »Jetzt sind Sie dran«, hatte Boyden gesagt, »jetzt ist es Ihr Spiel.« Er hatte die erste Nacht in der luxuriösen Wohnung verbracht, die er sich von dem beim Börsengang aufgenommenen Kapital gekauft hatte. Die erste Nacht bei der Alexandre Guyot I. G. – das heißt in seiner Wohnung. Oder besser gesagt, in der Wohnung einer leicht modifizierten, teilbaren und weniger eindeutigen Version seiner selbst. Einer gewissermaßen teilweiseren, denn sie gehörte ihm von jetzt an nur noch zu 75 %. Ebenso wie diese »Dienstwohnung«, deren exklusive Nutzung und Nießbrauch allerdings ihm als einzigem Geschäftsführer zustand. Nach längeren Beratungen hatte er sich für diese großzügig bemessene Dreizimmerwohnung mit hübscher Terrasse im obersten Stockwerk eines modernen Gebäudes in der Rue de Bassano entschieden. Er trocknete sich flüchtig ab, ließ seinen Bademantel liegen und lief nackt und noch feucht auf dem Laminatboden herum. Die Fußbodenheizung, hatte er gemerkt, war sehr beruhigend für 79
seine Fußsohlen. Er setzte sich auf den Bettrand und schlüpfte in ein Paar anthrazitfarbene Fil-d’Écosse-Socken. Die Einrichtung um ihn herum war noch spärlich: nützliche, größtenteils weiße Möbel und eine diskrete Reihe von Schränken. Er stand auf, stellte sich vor den Spiegel und bückte sich mühsam, um seine Boxershorts anzuziehen. Sein Schwanz hing griesgrämig zwischen den Schenkeln. »Und nun an die Arbeit!«, hatte Boyden eine halbe Stunde zuvor ins Telefon gejubelt – sein Anruf war dem durchdringenden Alarm des Radioweckers um wenige Minuten zuvorgekommen. »Montag, 27. November: Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit« – die letzte Etappe seines minutiösen Terminplans. Kaum vier Tage waren seit seiner Notierung vergangen. Lediglich ein langes, verregnetes Wochenende, trauerte Alexandre, viel zu kurz, um sich vollständig zu erholen. Ein Wochenende, das er zudem nur zum Schlafen und Aktenstudium genutzt hatte. Aber Golley Dean zufolge (Ploniac hatte sich sehr klar ausgedrückt) würde man diese rasche Rückkehr zur Fron als ausgezeichnetes Signal bewerten. Der meritokratische Markt würde die Anstrengung zu schätzen wissen. Er entschied sich für ein weißes Hemd mit italienischem Kragen, eine leicht schimmernde karmesinrote Krawatte, einen dunkelblauen Anzug, der gestern aus der Reinigung zurückgekommen war, und seine treuen schwarzen Mokassins mit eckiger Spitze, die trotz leichter Abnutzungsspuren immer noch elegant waren – »Bleiben Sie schlicht«, hätte Boyden gesagt. Und er hätte Recht gehabt. Nachdem er den Rest seines kalten Kaffees getrunken hatte, verließ Alexandre die Wohnung, nicht ohne nervös seine Taschen abzutasten (Telefon, Schlüssel, Brieftasche, Magnetkarte). Als er im gepflasterten Hof des Gebäudes das schmiedeeiserne Tor aufzog, dachte er, dass die Nähe zum Büro 80
unstreitig ein Pluspunkt war. Tatsächlich lag der Pariser Sitz von McKimen zwei Kreuzungen weiter auf den Champs-Élysées. Der Wegfall der Transportkosten und des Verspätungsrisikos – aufgrund von Streiks, Unfällen oder Staus – trug unleugbar dazu bei, den Wert der Aktie zu stützen (auch in diesem Punkt war Ploniac sehr deutlich geworden). Alex ging eilig durch die morgendliche Kälte. An seinen Fingerspitzen schlenkerte sein Samsoniteköfferchen. An der Ecke Avenue George V versuchte er den Zeitungskiosk gegenüber dem Fouquet’s zu übersehen, wo sich auf dem Titel von Le Point riesenhaft sein Foto breit machte. Eine schlechte Aufnahme in ziemlich faden Farben, auf der er so durchtrieben wie ein Bilanzfälscher wirkte. Es gelang ihm auch, dem Blick der Passanten auszuweichen, die ihn erkannten, und er legte noch einen Schritt zu, bis er im Eingang von McKimen verschwinden konnte. Das schelmische Lächeln der Empfangsdame machte die elektronische Identifikation fast überflüssig: Er war offensichtlich bekannt und wurde erwartet. Trotzdem presste er seine Karte auf das Rauchglasrechteck und murmelte »Guten Tag« – das man genauso gut als »Scheiße« hätte verstehen können. Während der Fahrstuhl seinen Körper in den neunten Stock beförderte, lehnte er sich schwer gegen die Metallwand und schaute auf das merkwürdige Armband um sein Handgelenk: »8:25«. Gar nicht so einfach, sich an diese elektronische Handschelle zu gewöhnen. Und doch würde er es müssen: Vorschrift verpflichtet. Seit seiner Notierung am vorigen Donnerstag war er gezwungen, Tag und Nacht dieses hässliche Uhrgehäuse zu tragen, das seine koreanischen Hersteller bald reich machen würde: die Price Watch®. Ein Konzentrat modernster 81
Technologie, das in jedem Augenblick seinen Börsenkurs und sämtliche Informationen zu seiner Aktie anzeigte. Und all das in Echtzeit, dank der Satellitenverbindung zu den Servern von Reuters, Bloomberg und Euronext. Alexandre konnte sich auch zu diesem Zeitpunkt, dem so genannten »grauen Markt«, vor der Börsenöffnung um neun Uhr, über seinen Preis informieren: »97,2 Euro«. Leicht gesunken im Verhältnis zur Schließung am Freitag. Unten auf dem Zifferblatt blinkte ein Icon in Form eines roten Briefumschlags: »2 news«. Er drückte auf einen Knopf, und die Anzeige erschien: »Alex Guyot I. G.: Leichter Rückgang vor der Öffnung aufgrund von Gewinnmitnahmen.« Nicht wirklich beunruhigend. Ein ruhiger Morgen, tröstete er sich. Umso mehr, als die nächste Nachricht ein gutes Zeichen war: »Anlageempfehlung BNPParibas – Erste Empfehlung für Alex Guyot I. G. – Übergewichten – Solide Aussichten und eherne Moral – Kursziel: 135 Euro.« Aufgeheitert, motiviert und fest entschlossen, Berge von Akten abzuarbeiten, hatte er wieder seine Siegermiene aufgesetzt, als sich die Stahltüre auf einen vornehmen Open Space öffnete. Abteilung: Strategieberatung. Unterabteilungen: Vertriebsketten – Transport – Medien & Telekommunikation. Die Stille war unerwartet. Keine Menschenseele weit und breit, vollkommene Ödnis. Nur das klagende Summen der Rechner und der Klimaanlage. Ungläubig schlenderte Guyot zu seinem Corner Office und überlegte, wie er beim Pariser Team neue Pünktlichkeitsregeln durchsetzen könnte. Eine knappe EMail mit frischem angelsächsischen Titel (so etwas wie »Rules of Conduct«) würde vielleicht ausreichen, um die Truppe zu disziplinieren, dachte er, als er die Tür zu seinem Büro aufstieß. 82
»Üüüüüüüberraschung!« Eine Sekunde, nicht länger, konnten die Überwachungskameras die Intensität seines Schreckens festhalten. Doch als erfahrener Profi zeigte Alex der Schar bleicher, zu extatischem Grinsen verzerrter Gesichter jetzt sein gerührtestes Lächeln – ein Säuglingslächeln. Denn da waren sie alle: das ganze Team, vollständig versammelt. Ihre vor gespielter Freude rot angelaufenen identischen Gesichter sahen aus wie lauter kleine Hintern kurz vor einer Kolik. In Gedanken stellte er eine Liste der Versammlung auf: Laurent Terseur (HEC, Junior-Consultant), Jeanne Miramand (ECP, Politologin, Senior-Consultant, zu fett), Eric Wurtz (Polytechnikum, MBA Wharton, Vizepräsident), Hubert Duperret (Polytechnikum, Manager, notorischer Hahnrei), Anne de Pozzo-Ferri (DESS Dauphine, Praktikantin mit guten Beziehungen), Julien Morel (ESCP, Teilzeit-Consultant, immer noch befristet) … Und sogar noch viel mehr, insgesamt an die zwanzig. Die ganze Herde von Wiederkäuern drängte sich in seinem Büro. Alle mehr oder weniger gleich, mehr oder weniger unentbehrlich, sich mehr oder weniger ihrer Austauschbarkeit bewusst. »Üüüüberraschung, Alexandre!«, insistierte eine raue weibliche Stimme weiter hinten. Laurence Kellerman, Direktorin des Medien-Pools, HECAbsolventin, Politologin und Promotionsgenossin in Harvard – eine geistige Anorektikerin und zwanghafte Arbeiterin. Mit erhobenen Armen und zerzauster Frisur bahnte sie sich auf ihren langen, steifen X-Beinen mühsam den Weg zu ihm, um einen fettigen Lippenstiftfleck auf seiner Wange zu platzieren. In dunklem, bräunlichem Rot wie das Blut am Ende der Menstruation. »Welcome back to Paris, Alexandre!«, trompetete sie in sein Ohr und schüttelte ihn an den Schultern.
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»Wir sind so froh, dich wiederzuhaben! So stolz, dich wieder bei uns zu sehen! Und wir möchten dir alle zu deiner Notierung gratulieren! Bravo! Wirklich, bravo! Das ganze Team hat ständig an dich gedacht …« »Danke, Laurence, danke … Und Dank euch allen für diesen Empfang«, spielte Alex mit ausgebreiteten Armen den Schüchternen. »Echt, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich bin ganz gerührt, tief bewegt …« »Machst du Witze? Das ist ja wohl das Mindeste! Gut, und jetzt …«, sie drehte sich zu der Gruppe zerknirschter Mienen in ihrem Rücken um und klatschte laut in die Hände, »… können wir alle wieder an die Arbeit gehen!« Hastig gehorchte die Schar und verließ das Büro nahezu im Gänsemarsch. Laurence versenkte ihre schwarz umrandeten Augen in die von Alex und kniff ihn in den Arm: »Und wir – entweder wir essen zusammen, oder ich bring dich um!« »Okay, Laurence. Wir essen zusammen«, lächelte er. »Good boy! Ich hol dich gegen Viertel nach zwölf ab«, sagte sie im Gehen. Als er allein war, stellte Alex fest, dass sein Arbeitszimmer perfekt eingeräumt war. Alle Akten waren aus London transferiert worden, und eine Unzahl etikettierte Ordner prangte auf den Regalen: Project Sun, Project Harmony, Project Nature, Project Song … Alexandre taufte seine Projekte stets auf einheitsstiftende Code-Namen, um den Arbeitseifer seiner Mitarbeiter anzuspornen. Er setzte sich auf seinen Stuhl und drehte sich zur TelefonFax-Anlage, auf der ein rotes Blinken neue Nachrichten anzeigte. Er beschloss, sie vorläufig zu ignorieren, und rollte weiter zum Fenster, um den Blick auf die morgendliche Fauna unten auf den Champs-Élysées zu genießen. Ein merkwürdiger Treck verschiedenster Stämme. Ein heterogenes Gewimmel, in 84
dem die Zickzackfahrt der Führungskader die friedliche Ebbeund Flutbewegung zu stören schien, die das gemeine Volk vorzog. Die laufenden Vorgänge warteten geduldig in weichen Plastikhüllen vor ihm auf dem Schreibtisch: Project Life, Projed Peace, Project Heaven … Der Outlook-Posteingang zeigte 236 ungelesene Nachrichten an. Der Rückstand war enorm: Wo sollte er anfangen? Nach einem tiefen Atemzug und einem sich selbst zugeflüsterten »Okay« griff Guyot nach einer Akte und begann sie durchzublättern. Und während er mechanisch die Maus seines treuen Computers tätschelte, reaktivierte sich sein Consultant-Gehirn: Es absorbierte rohe Daten, analysierte mit Pfeilen markierte Matrikel, entzifferte bunte, aus Balken und Blasen zusammengesetzte Diagramme. Es bewertete, speicherte, synthetisierte und entwarf im Lauf der Lektüre Lösungen. Alexandre war überrascht, wie leicht er sich wieder an die Arbeit gewöhnte; wie ein Kolbenmotor, der zu keiner anderen Bewegung imstande ist. Er liebte seinen Job, das war’s; ja, er liebte ihn wirklich. Und offen gestanden, war es auch ein schöner Beruf. Ein dankbarer und gesellschaftlich nützlicher Beruf. Nicht nur nützlich, sondern obendrein sehr gut bezahlt, sagte er sich ein wenig später, als er aus seinem Büro stürzte. Ein großartiger Beruf, zu dessen Mekka McKimen geworden war, der unbestrittene Leader – die Nummer 1 weltweit. Ein glanzvoller Arbeitgeber, dachte er auf dem Weg zur Toilette, ein märchenhafter Arbeitgeber, der Traum eines jeden Hochschulabsolventen. Ja, es war bei weitem »die beste Schule«, schätzte er, als er durch das Labyrinth von Trennwänden eilte, hinter denen man die gebeugten Rücken der Junior-Consultants vermuten konnte: fleißig, durch Paravents voneinander getrennt, auf die Entwicklung von Kompetenzen und Lendenwirbelsäulenskoliose konzentriert. Ein guter Laden, sagte er sich, als er durch den 85
Korridor ging – ein sauguter Laden. Ein Laden, der es ihm ermöglichte, seine potente, pro Minute abgerechnete Intelligenz in den Dienst verzweifelter – und weit weniger cleverer – Mitmenschen zu stellen. Wie viele Organisationen hatte er so saniert, umstrukturiert, wieder auf die Beine gebracht? Er kniff die Pobacken zusammen und spannte den Beckenboden an, während er seinen Schritt noch einmal beschleunigte. Wie viel Tausende angespannter, ineffizienter Lohnabhängiger verdankten ihm heute ein besseres Leben, das durch vereinfachte Verfahren, einen unvermittelten Wechsel in die Provinz – weitab vom satten Zentrum – oder eine alles in allem wohlverdiente erholsame Arbeitslosigkeit verschönert war? Wie viele Generaldirektoren in verzweifelter Lage, ohne Charisma und gelähmt vor Angst vor der unersättlichen Grausamkeit ihrer asiatischen Konkurrenz, vor dem hartnäckigen Groll ihrer gewerkschaftlich organisierten Angestellten, vor den kastrierenden Herausforderungen einer globalisierten Wirtschaft mit porösen, für sämtliche Laster durchlässigen Grenzen, wie viele dieser Generaldirektoren hatte er vor der blinden Wut der Aktionäre gerettet? Durch fundierte Analysen. Durch gescheite Empfehlungen. »Und wer dankt mir?«, hätte er am liebsten gebrüllt, als er seinen zusammengekniffenen Hintern in die Zielgerade bewegte. Wer dankt mir? Für die ganze Hintergrundarbeit. Für all die glänzenden Ratschläge? »Wir sind Erbauer, Alexandre«, hatte Jeff K. Graham beim Einstellungsgespräch ganz im Ernst gesagt. Kurz nachdem Alexandre sich gerade noch zurückgehalten hatte, auf die Frage »Wie sehen Sie sich in zehn Jahren?« mit »glatzköpfig« zu antworten und stattdessen dem Generaldirektor mit forschem Blick verkündet hatte: »Ich sehe mich als Vizepräsident von 86
McKimen World, der der Firma dank solider Kundenbeziehungen – die ich aufbauen werde – beträchtliche Gewinne bringt.« »Wir sind scheißgute Erbauer«, hatte Graham, plötzlich ordinär, wiederholt und sich zu den Türmen und Kränen von Canary Wharf umgedreht, dem gefängnisähnlichen Geschäftsviertel im Südosten Londons. Seit diesem Tag war Guyot von seiner Berufung überzeugt. Denn schließlich handelte es sich darum, die Welt neu aufzubauen. Mechaniker in großem Maßstab, strategisch und finanziell. Die den ganzen Rohbau liefern -ja, das war’s: gute alte Zimmermannsarbeit. Wir sind die Zimmerleute, spornte er sich an, als er mit der Schulter die Klotür aufstieß. Genau das ist der Status, den das undankbare Volk uns nicht zuerkennen will. Während wir Zimmerleute uns Tag und Nacht abrackern, Balken abschleifen, Bolzen festschrauben, Stück für Stück das Gerüst errichten. Um ein robustes und flexibles System aufzubauen, das einen rationellen Umgang mit den Arbeitermassen und die gesicherte Ernte all der kleinen Cash-Häufchen ermöglicht, die dem Willen der Gerechten entspringen – dem Mut der Unternehmer. Ja, das sind wir von McKimen tatsächlich: mannhafte, beherzte Zimmerleute, auch zwischen den Beinen ordentlich ausgestattet. Zimmerleute, die eine Flasche Bier aufmachen, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, ihre schweißüberströmte und dreckstarrende Stirn abwischen und mit leicht eingeknickten Hüften und stolzgeschwellter Brust in die untergehende Sonne blicken – ohne zu blinzeln. Natürlich gab es Misslichkeiten. Natürlich musste man »Opfer« in Kauf nehmen. Das hatte Jeff Graham an jenem lang zurückliegenden Tag keineswegs verheimlicht, erinnerte er sich, während er die schmutzige Klobrille mit einer dreifachen Lage Toilettenpapier 87
abwischte. Ja, man konnte sich zuweilen elend, einsam und verlassen fühlen – wirklich ganz unten. Überfordert von Stress, Verantwortung und allen möglichen Sorgen. Es gab Momente, in denen einen schon mal der Blues überkam, räumte er ein, als er sich endlich auf dem Sitz niederließ. Momente der Niedergeschlagenheit angesichts schier unerfüllbarer Kundenwünsche, blödsinniger Arbeitszeiten und beruflichen Drucks. Denn die »McKimen-Kultur« ließ kein Mittelmaß zu: Häufig wurde evaluiert, ständig wurden die Leistungen gemessen. So dass nur diejenigen Anspruch auf schnelle Beförderung und großzügige Gratifikationen hatten, die die unerbittliche Regel »Up or out« überlebten, dank der die Firma jährlich ihr Kontingent an überflüssigen oder kranken Körpern auskotzen konnte. Und so gab es denn Momente, in denen man nicht mehr konnte. Momente – Jeff Graham hatte sich sehr deutlich ausgedrückt –, in denen man bloß noch sein »scheißnormales Leben, bloß noch seine Scheißfrau, seinen Scheißfernseher und seinen Scheißtopf Erdnussbutter« wiederhaben wollte. Aber glücklicherweise – und das war ein außerordentlich schätzenswerter Aspekt – war McKimen auch eine »menschliche Organisation«. (Daran dachte Guyot, als er die Schneidezähne in die Unterlippe bohrte, die Faust auf den Bauch presste und nicht anders konnte, als das unglaubliche Röcheln aus der Nachbarkabine zur Kenntnis zu nehmen.) »Eine menschliche Organisation«, die die Prinzipien der »interpersonalen Beziehungen«, des »multilateralen Managements« und des »Respekts-vor-jedem-Indviduum-gleichwelcher-Rasse« pflegte. Alles Garantien für eine freundliche Arbeitsatmosphäre und gegenseitige Hilfsbereitschaft in den Teams. So dass in den Momenten, wo man sich dicht am Abgrund fühlte – Alexandre presste immer noch –, die heilsame »McKimen-Kultur« die nötige Hilfe bot; man wurde gehört, wirklich gehört, es gab Dutzende von Ohren. Man konnte sich also ganz frei anvertrauen, seine Schwierigkeiten offen legen, bei einem Glas Bier oder Wein unter mitfühlenden Kollegen Bilanz 88
ziehen und sich guten Mutes, aufgeheitert und erholt wieder an die Arbeit machen – trotz der verlorenen Freunde und überdrüssigen Partner. Partner, die seit langem ein unabhängiges Leben führten, nicht mehr mit dem Essen, auch nicht mehr mit dem Ficken warteten. Ja, selbst in solchen Phasen der Müdigkeit und des Motivationsverlusts fühlte man sich bei McKimen immer fest umringt – geharnischt in Wohlwollen. Und im Grunde, schloss Guyot innerlich, als er endlich die Ausschweifungen des Vortags herauspresste, im Grunde und aus einer eher animalischen als anthropologischen Perspektive gesehen – aufgrund ihres mimetischen Verhaltens, ihrer säkularen Endogamie, ihrer Nahrungssuche auf denselben Weiden und der Furcht vor den gleichen Wilden –, im Grunde und mit dem gleichen Recht wie Pferde und andere Equiden, wie Sing- und Hühnervögel bildeten die Consultants von McKimen sicherlich eine Familie. Guyot wurde von einer Welle echter Solidarität und aufrichtiger Empathie für den Cousin ergriffen – diesen Duperret, Terseur, Catalat oder vielleicht Morel –, der in der angrenzenden Box nicht aufhörte zu sterben. Seine furchtbaren Qualen klangen wie die Agonie einer Kaffeemaschine: zuerst Motorengebrumm, denn die Bohnen mussten gemahlen werden, dann ein leises Plätschern, wie das Geräusch von Schritten in einer Pfütze und schließlich ein dunkler Lavastrom bis auf den Grund der Kloake. »11:47; 92,3 Euro«, las er auf seiner Uhr: Trunken von seinem eigenen Gestank, empfand er für einen Moment eine gewisse konfuse Selbstzufriedenheit. Bald war Essenszeit. Lässig wischte er sich den Hintern ab.
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9 Die Qualität der Kantine in der ersten Etage gewährte den Angestellten echte Ernährungsfreiheit. Sie bot eine breite Auswahl an kulinarischen Genüssen: leicht oder deftig, biologisch oder synthetisch, einheimische Kost oder Zusammenstellungen mit exotischem Akzent … Die ansehnliche, recht ungewöhnliche Vielfalt stieß auf breite Zustimmung bei den allgemein sehr geschätzten informellen Umfragen unter den Kadern des 8. Arrondissements, die immer scharf waren auf Vergleiche. »… und weißt du, wir sind an Kunden rangekommen, von denen wir vor zwei Jahren nie im Leben, ich meine, wirklich nie im Leben geträumt hätten …« Alexandre hörte Laurence Kellermans Analyse der Eroberung von Key-Account-Kunden zu. Unter strikt konjunkturellen Gesichtspunkten äußerte sie sich optimistisch über die Entwicklung des Business Cycle. McKimens Wettbewerbsposition auf dem französischen Markt war nach ihrer Auffassung mehr als günstig. Seit zehn Minuten erging sie sich bereits in ihrer Euphorie, während sie hin und wieder an einem Blatt Rucolasalat mit Parmesan knabberte.. »… und ich kann dir sagen, in diesem Jahr geht’s richtig ab … Wir können uns bald nicht mehr retten vor Kohle! Stell dir vor, ich hab fünf Projekte gleichzeitig am Hals … Fünf verdammte Projekte! Ich kann dir sagen, meine Gratifikation muss dementsprechend ausfallen! Aber richtig üppig … Hey, baby, show me the money!« Sie machte eine fordernde Handbewegung, eine gierige und ziemlich unelegante Geste, die sie sich wahrscheinlich aus einem Rap-Video abgeschaut hatte. Oder von diesen Gaunern im Trainingsanzug, die ihr manchmal, wenn sie spätabends aus 90
dem Büro kam, anboten, ihr »den Arsch ein bisschen aufzuheizen«. Laurence hatte sich sehr verändert, dachte Guyot, während er systematisch sein Thunfischsteak zerteilte. Sie war viel selbstsicherer geworden. Jedenfalls war sie seit der Zeit in Harvard ordentlich vorangekommen. Seit sie am allerersten Tag ziemlich albern mit frivolen Rattenschwänzen und Cordlatzhose aufgetaucht war … Dort waren sie teils aus Zufall, teils mangels Alternative Freunde geworden. Er mochte ihre Reife (sie war fünf Jahre älter als er) und ihre geistige Frische (sie kam aus der Plattenindustrie). Sie schätzte seine Diskretion und seinen dandyhaften Zynismus. Sie mochte auch sein Aussehen, das wusste er. Schon öfter hatten ihm beunruhigende Anzeichen gezeigt, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Anflüge eines unschuldigen kindlichen Verlangens mit fernen Heiratsabsichten. Aber er und Kellerman hatten nie gevögelt, beruhigte er sich, während er ein Stück Brot zerkrümelte. Nicht mal aus Zufall und nicht mal mangels Alternative. »Aber jetzt reden wir endlich von was anderem als von mir und dieser Scheißarbeit … What’s up, Alex? Was gibt’s Neues in deinem Leben? Und sag mir um Gottes willen nicht, ich soll in deinem Prospekt nachsehen! Wobei ich zugeben muss, dass ich ihn sehr aufmerksam gelesen habe«, neckte sie ihn. »Aber offen gestanden, finde ich den Abschnitt ›Relevante Beziehungen‹ etwas schwach, falls du verstehst, was ich meine. ›Zum Zeitpunkt des Börsengangs ist Alexandre Guyot allein stehend und hat keine relevante Beziehung …‹ Du merkst, dass ich den Text nicht nur gelesen, sondern auch behalten habe. So steht’s doch da, oder?« »Genau so, Laurence, Wort für Wort. Nichts hinzuzufügen«, lächelte er und wischte seinen Teller mit einem Stück Brot aus. »Come on! Allein stehend? Ein Typ, der so brillant und cute ist wie du? Davon glaub ich kein Wort. Was ist denn aus der 91
Kleinen geworden – hübsches Mädchen übrigens –, die du im letzten Jahr mit zur Christmas Party der Firma geschleppt hast? Wie hieß sie noch?« »Claire?« »That’s it! Claire, die kleine Claire … Megasüß … Ist es aus?« »Schon lange.« »Wirklich aus?« »Vorbei, dead«, erklärte er und wischte sich mit dem Serviettenzipfel den Mund. Kellerman schien gerührt und fast beruhigt von so viel aufrichtigem Ungebundensein. Sie aß ihren Salat nicht auf, sondern schob den Teller beiseite und machte sich an eine kleine Schüssel mit fettarmem Quark. »Und du?«, erkundigte er sich aus Höflichkeit. »Ich? Oh boy … Nothing, nada, nichts, null!«, stieß sie hervor und formte die Zahl mit Daumen und Zeigefinger. »Im Ernst?« »Nichts, sag ich dir, gähnendes Nichts. Aber ich geb die Hoffnung nicht auf. Ich hab mich sogar in diesem Dingsda eingetragen … ›Meetic‹. Weißt du, was das ist?« »Die Partnersite? Ja, hab davon gehört. Soll angeblich gut funktionieren. Und, hilft’s?« »Voll mit läufigen Kids, die die Möse ihrer Mama suchen … Und dann noch irgendwelche Bonzen, die auf dem letzten Loch pfeifen; Mittvierziger mit schlappen Schwänzen. Oft geschieden, oft Familienväter und oft ziemlich hässlich. Verrückte, Verlassene, Verletzte, Verschnittene. Also auf den ersten Blick nicht sehr verlockend, geb ich zu, but who knows? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und außerdem verrat ich dir was: Seit drei Jahren verbring ich den Valentinstag allein und zieh mir DVDs rein. Ich hab die Schnauze voll, ich hab’s satt. Ich hab
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mir geschworen, dass ich beim nächsten Mal nicht mehr allein sein werde!« Laurence sah gar nicht traurig aus. Nur pragmatisch. Ihr Gefühlsleben war der totale Reinfall, aber sie bemühte sich, das als vorübergehende Funktionsstörung zu betrachten. Sie war siebenunddreißig, und Alex wusste nur von einer ernsthaften Beziehung, die auch schon fünf Jahre her war: mit dem unaussprechlichen Pavel Vrpavsky. Ein junger Doktorand in Harvard, Amerikaner russischer Herkunft, der mit rollendem r eine begehrte Trimestervorlesung gehalten hatte: »Doing Business in Russia: A New Strategic Paradigma?« Laurence hatte sich bis über beide Ohren in ihren Lehrer verliebt und sich über sich selbst geärgert, dass sie, die libertäre Demokratin, in bürgerliche Klischees verfiel. Aber so war es halt: Liebe auf den ersten Blick, Offenbarung, Schicksal – Punkt. Und vor allem erwiderte Pavel ihre Zuneigung. Erwiderte sie hundertfach. Der Russe, ein hübscher Junge von fast zwei Metern, hatte sich buchstäblich an Laurence verloren. War verrückt nach ihr, blindlings verrückt nach allem, was sie verkörperte. Sogar verrückt nach dem, was die anderen Typen auf dem Campus zuerst einmal zögern oder endgültig zurückschrecken ließ. Denn er, Pavel, verstand Laurence. Ja, Pavel ertrug all ihre Extravaganzen und ging sogar so weit, genüsslich ihre behaarten Beine abzuschlecken, die sie nach einem Vortrag über den skandinavischen Feminismus sieben Monate lang nicht epiliert hatte. Er akzeptierte auch ihren anstrengenden Freundeskreis, eine Truppe von puertoricanischen Künstlern und Homosexuellen aus Yale, die abends und an den Wochenenden hartnäckig ihr Zimmer besetzt hielten. Laurence war überzeugt, dass Pavel sie so liebte, wie man nur in den Ländern der großen Kälte liebt, ohne Schnickschnack und ohne Einschränkungen. Über ein Jahr hatten sie so gemeinsam in ungetrübter Leidenschaft verlebt, gewürzt mit intensivem, lautstarkem Sex. 93
Laurence schlief oft an sein riesiges Glied geklammert ein, hatte ihm sogar einen gutturalen Kosenamen gegeben, der Pavel zufolge in seiner Sprache »Knüppel« bedeutete. Dann war der Russe im Frühsommer zu seinen Eltern in die Nähe von Sankt Petersburg gefahren, mit dem Versprechen, ihr nach seiner Rückkehr mehrere Kinder zu machen. Als ihn Laurence an diesem Tag, in der Flughafenhalle davongehen sah, vergoss sie – ein einmaliger Vorfall – echte Freudentränen. Anschließend kaufte sie sich Bücher, Kassetten, Wörterbücher und Tschapkas, fest entschlossen, sich seine schwierige Sprache zu Eigen zu machen. Und die Ankunft der Elitebabys vorzubereiten, die sie sich nur athletisch und dreisprachig vorstellen konnte. Aber Pavel Vrpavsky war nicht zurückgekommen. Hatte nie mehr von sich hören lassen. So war Laurence pragmatisch geworden. Und konnte ihre sentimentalen Geständnisse ohne Hass oder Vulgarität mit »Schwänzen« und »Mösen« würzen. Wie man eine Wunde ausbrennt. »So, und jetzt erzähl mir alles! Was ist das für ein Gefühl, notiert zu sein, Mister Alex Guyot I. G.?«, fing sie wieder an und ließ ihren Löffel über der Quarkschüssel kreisen. »Echt ein tolles Abenteuer, weißt du. Eine ganz besondere Erfahrung. Ich glaube, mir ist gar nicht so recht klar, was da abläuft, es sind ja auch erst fünf Tage … Aber grundsätzlich ist es top, auch wenn es gewisse Zwänge schafft. Mediendruck, keine Rückzugsmöglichkeit … oder das hier!« Er zeigte auf seine Uhr (»12:46; 93,2 Euro – Anlageempfehlung Société Générale – Übergewichten – Kursziel: 125 Euro«). »Weil … Weißt du, ich denke auch daran«, sagte sie und verschränkte die Arme, »also, um ehrlich zu sein, ich denke nur noch daran: Ich will vor Jahresende an die Börse. Und ich hätte 94
gerne deine Meinung dazu gehört … Was hältst du davon, ganz ehrlich?« »Laurence … Du hast ja wohl Zeitung gelesen, oder? Es gibt schon mehr als 200000 Anträge auf Börseneinführung für den nächsten Monat. Ein echter Run. Der absolute Goldrausch … Alle tun es! Und du hast so ziemlich die brillanteste Karriere, die ich kenne. Ich bin sicher, dass die Investoren dich lieben werden – das steht fest. By the way, wie viel willst du rausholen?« »Weiß noch nicht. Die Banker von Mortley & Pierce kümmern sich um meine Wertermittlung. Dann entscheide ich mich, je nach ihrer Schätzung. Idealerweise würde ich gerne mindestens eine halbe Million Cash rausholen. Damit könnte ich meinen Wohnungskredit auf einmal zurückzahlen, für den ich im Moment ganz schön bluten muss. Und mir eine halbjährige Fortbildung bei der INSEAD leisten – ein Finanz- und Buchhaltungsmodul. Das würde mir wirklich gut tun, weißt du: I suck so much in accounting! … Und dann vielleicht noch ein anderes Auto, aber das hat keine Priorität.« »Makes sense … Sehr guter Plan. Damit liegst du genau richtig. Anyway, ich bin sicher, dass du supergut bewertet wirst. Sieh zu, dass es bei der Operation keine zu starke Streuung gibt. Wirklich, an deiner Stelle würde ich nicht länger warten … Außerdem wär ich dann wenigstens nicht mehr der Einzige im Büro, der diese alberne Uhr trägt!« »Ich frage mich, ob sie ein Modell für Frauen haben«, stöhnte sie. »Ich seh mich noch nicht mit diesem scheußlichen Ding am Arm!« »Das kommt bestimmt. Ich wette, in sechs Monaten hat man die Wahl zwischen Dutzenden von Modellen. Sag mal, hast du schon einen Anwalt? Steuerberater? PR-Agentur?« »Hmm, nix, noch nicht. Bis jetzt habe ich nur Mortley & Pierce engagiert. Papa kennt die Leute ein bisschen. Und sie 95
haben mir gesagt, wenn ich will, kümmern sie sich darum, die anderen Dienstleister zu suchen.« »I see. Well … Es kann auf jeden Fall nichts schaden, wenn du die Typen triffst, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Ha, ich weiß, was wir machen: Du begleitest mich zum Closing Dinner in zwei Wochen. Das organisieren die Banker. So ein Riesenempfang, um den Erfolg meiner Einführung zu feiern. Eine ideale Gelegenheit für dich, die ganzen Leute kennen zu lernen. Wär das was?« »Deal! Great idea! Außerdem tut’s mir gut, mal neue Gesichter zu sehen.« »Okay … Perfekt. Gehen wir zurück?«, fragte er und warf einen Blick auf seine Uhr (»12: 59; 92,9 Euro«). »Yes, let’s go. Aber vorher will ich dir noch was sagen, Alex.« »Na los, raus damit.« »Hör zu … Ich bin wirklich sehr, sehr froh, dass du wieder in Paris bist. Es ist schwierig, so was zu sagen, in so einer verdammten Kantine, aber ich bin megahappy, dich wieder hier zu haben. Wir hatten uns ja in den letzten Jahren ein bisschen aus den Augen verloren, was?«, schnurrte sie und strich mit der Hand zärtlich über die Wölbung der Wasserflasche. »Ich auch, Laurence, ich bin auch sehr froh, dich wiederzuhaben«, versicherte er und beugte sich zu ihr. »Und dann … Ich glaube an dich, Alex, das weißt du …« »Das ist wirklich sehr nett!«, lächelte er leicht überrascht. »Und … Ich glaube so sehr an dich, … dass ich heute früh bei Boursorama für 15000 Euro Aktien gekauft habe«, stieß sie hastig hervor wie ein verlegenes kleines Mädchen, das möglichst schnell das Geständnis einer Missetat hinter sich bringen will. »Du bist mir nicht böse, oder? Ich fleh dich an, Alex, sag mir, dass du nicht böse bist!«
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Aufkommenden Zorn vortäuschend, starrte er sie grimmig an. Schließlich schenkte er ihr sein am wenigsten unaufrichtiges Werbelächeln. »Laurence, ehrlich, du kennst mich seit mehr als fünf Jahren und du bist eine meiner besten Freundinnen. Ich glaube, ich hätte mich eher über das Gegenteil geärgert.«
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10 »Bedaure, meine Herrschaften, geschlossene Gesellschaft. Kein öffentlicher Einlass. Das Restaurant ist völlig privatisiert.« Der dunkelhäutige Wächter hatte eine finstere Miene aufgesetzt und abwehrend die Arme ausgebreitet. »Äh … äh, Herr … Herr Rausschmeißer …«, erwiderte das schwankende, unsicher auf einem Bein balancierende, weil angeblich einen Flamingo imitierende Individuum vor ihm: »Sehn Sie meinen Kumpel da? … Mein Kumpel Alex, sehn Sie den? Ja, der, der ist auch ganz privatisiert … ganz und gar … und wir, Herr Rausschmeißer, was feiern wir heute … Jetzt begriffen? Klar?« Der Betrunkene, den Guyot im letzten Moment am Ellbogen festhielt, der Betrunkene, den er auf der kurzen Strecke vom Pershing Hall zum Man Ray schon dreimal aus den Schneehaufen entlang der Bordsteinkante gezogen hatte, dieser ergreifende Betrunkene hörte auf den Namen Nicolas Coeque. Wie »Cake«, pflegte er seit seiner Kindheit zu spezifizieren. Der vorzeitig in den Ruhestand versetzte Makler, Liebhaber von rassigen Pferden und kreolischen Prostituierten, Alleinerbe einer profitablen Fabrik in der Nähe von Brest, Absolvent der ESSEC und der Science-Po, war dreimal an der ENA zugelassen worden und dreimal im Mündlichen durchgerasselt. Seitdem spülte er seine gescheiterten Botschafterträume mit Unmengen Alkohol hinunter. Eher nebenbei war er auch »Guyots bester Freund«. Weil es halbwegs der Wahrheit entsprach, weil man halt einen »besten Freund« hatte und weil er irgendeinen Titel verdiente. Aber eigentlich hatte Nicolas Coeque, vierunddreißig, allein stehend, nach den üblichen Kriterien nicht die geringste Bedeutung.
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»Bitte verzeihen Sie meinem Freund. Ich bin Alexandre Guyot … Wir kommen zum Closing Dinner«, sagte Alex und zog die Einladungskarte aus der Innentasche seines Smokings. »Okay, alles in Ordnung, gehen Sie rein … Aber passen Sie ein bisschen auf, Ihr Mädel da ist ja wohl schon ziemlich hinüber.« »Ich weiß, danke … Machen Sie sich keine Sorgen, der wird sofort auf Perrier gesetzt«, lächelte Guyot und schob den an seiner Schulter hängenden Freund durch die Tür. Der Abstieg zu zweit auf der endlosen Treppe des Man Ray drohte ein Debakel zu werden. Guyot hätte es vorgezogen, etwas eleganter und diskreter Einzug zu halten. Kurz überlegte er, Coeque einfach abzuschütteln, ihn auf einer Stufe zurückzulassen, wo er gemütlich seinen Rausch würde ausschlafen können. Aber der Kerl sabberte, und Alex fühlte sich nicht ganz unschuldig an seinem Zustand. Schließlich war es sein Vorschlag gewesen, vor dem Essen einen Umweg über die Bar des Pershing zu machen. »Zum Entspannen«, hatte er erklärt, als müsste er sich rechtfertigen. Und Coeque, der alles sehr wörtlich nahm und keine halben Sachen machte, hatte sich in der Tat vollkommen entspannt, wie Alexandre spätestens in dem Moment festgestellt hatte, als er ihn unter den Achseln packen und mühsam weiterschleppen musste. Das Tempo, in dem der Freund seine sieben Wodka-Cola hintereinander geleert hatte, würde Alexandre noch lange in Erinnerung bleiben. Jedes Mal hatte er »Shot!« gebrüllt und das große Cocktailglas, das mindestens einen Viertelliter fasste, auf ex getrunken. Alex war brav geblieben, sich selbst und der Verpflichtung im Prospekt getreu: »No alcohol whatsoever«. Stattdessen hatte er zwei Mangonektar durch einen Strohhalm gesaugt und anschließend Litschi-Mark mit Sprite ausprobiert, eine widerliche Mischung, auf deren Erfindung der Barkeeper besonders stolz war. Wegen dieser Askese hatte ihn der immer großspuriger werdende Coeque mit endlosen Beschimpfungen 99
wie »kleiner Schwuler«, »dreckiger Schwuler« oder sogar »alte Tunte« belegt. Der Alkohol schien seine latente Homophobie und zugleich seine Manneskraft zu wecken (Regungen, die bei ihm offenbar aus derselben Hirnschicht stammten). Als sie endlich mehr schlecht als recht die Treppe hinter sich gebracht hatten, setzte Alexandre Coeque am Eingang zur Toilette auf einem breiten, mit Südfrüchten und Elefantengöttern verzierten Hinduthron ab. »Ich glaub, ich muss kotzen … Alex … Bleib hier, Alter, ich glaub, ich muss kotzen …« »Du bleibst hier und beruhigst dich, okay? Du beruhigst dich, verstanden?« Ohne die Antwort abzuwarten, die sowieso nie kommen würde, schlich sich Guyot rückwärts davon. Er sah noch, wie Coeques Kopf an die gepolsterte Lehne sank und sich seine aufgesprungenen Lippen an die Seide pressten, was zu einer fortschreitenden Verzerrung von Mund und Kiefer führte, die sich schließlich in einer tief betrübten Grimasse stabilisierte. Einen Flunsch, wie ihn normalerweise nur psychomotorisch Retardierte zogen. Während Alex seinen Kaschmirmantel an der Garderobe abgab, stellte er sich darauf ein, die nächsten paar Stunden einen sympathischen Kerl abzugeben. Schließlich war ihm dieser Abend als Fest zu seinen Ehren angekündigt worden. Auch wenn es diesem Haufen von Körperschaftsvertretern und bedeutenden Repräsentanten eines breiten Spektrums von Gruppeninteressen vor allem um die traumhafte Gelegenheit ging, ihre dicken Adressbücher zu aktualisieren und die Infrastruktur ihrer sakrosankten Netzwerke zu pflegen. Und sich natürlich, wenn möglich, gratis den Bauch voll zu schlagen.
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Etwa hundertfünfzig Personen, vielleicht auch zweihundert, schätzte er, als er sich über die zum Halbrund geschwungene Balustrade beugte. Im Restaurantsaal unter ihm, den er nach Belieben über eine der beiden Rokokotreppen erreichen konnte (er würde die rechte nehmen, das hatte er schon beschlossen), wimmelten die Gäste zwischen den runden, prächtig gedeckten Tischen herum und entlockten der riesigen Buddhastatue ein liebenswürdiges Lächeln. »Sie sind doch Alexandre Guyot, oder?«, fragte ihn ein scharfsinniges Mädchen. »Richtig.« »Angenehm, Peggy. Ich bin für die Special Events im Man Ray zuständig. Wir haben nur noch auf Sie gewartet.« »Tut mir leid, Peggy, ich bin spät dran, ich weiß …« »Überhaupt nicht. Perfektes Timing. Sie sind der Star des Abends!«, kicherte sie dümmlich. »Nur zu, da unten spielt die Musik!« Sie zeigte auf die glänzenden Stufen, als wäre im Hinblick auf den einzuschlagenden Weg noch ein Zweifel möglich. Als er mit elastischem Schritt in den riesigen Graben hinabstieg, wurde es plötzlich völlig dunkel im Saal und ein Lounge-Remix von Born to be wild unterbrach dröhnend das Geblök der Menge. »Meine Damen und Herren, auf ihn haben Sie gewartet« – aus den Lautsprechern ertönte die Stimme der bescheuerten Peggy – , »… und ich hoffe, dass Sie ihm einen triumphalen Empfang bereiten … Mister … ALEXANDRE … GUYOT!« Er ahnte, was jetzt kommen würde: Spots an, Applaus und Tina Turner aus allen Boxen. Leider erwies sich seine Ahnung als völlig richtig. Mit schwerem, wiegendem Gang setzte er seinen Abstieg fort und zwang sich, den Rhythmus der Musik aufzunehmen, während er unter dem allgemeinen Hurrageschrei insgeheim die Lächerlichkeit der Zeremonie verfluchte. 101
Unten wurde er herzlich empfangen: Boyden (steif in seinem Smoking aus dem vergangenen Jahrhundert), Ploniac (in Smalto-Klamotten, mit immer noch verschmierten Brillengläsern), Blitzer (dessen Sonnenbräune im Dezember offenbar noch intensiver wurde), Estelle Dupuis (leider im Hosenanzug), Hélène Vidalet-Coudert (leider im Kostüm) und der kleine Rivaret (erschöpft vor Glückseligkeit) … Und dazu die anderen, all die anderen, die Zuständigen, die Zufriedenen, die Zustimmenden … Lächelnde Menschen, die einfach nur sagen wollten: »Bravo, Alexandre, für diese hervorragende Operation.« Und dann gut essen, viel trinken, spät heimkehren wollten, sehr spät, mit gnadenlosen Schmerzen im Hinterkopf. Elektrisiert von dieser verlockenden Aussicht, nahm die ganze Gesellschaft rasch, aber strikt gemäß Tischordnung Platz. Nur eine kleine Gruppe blasierter Chefs – offenbar Businessbanker und Senior-Anwälte – führte an der Bar ihr Gespräch über einen schwierigen und lukrativen – natürlich streng vertraulichen – Vorgang zuende. Laurence Kellerman kam wie so oft zu spät. Das hatte sie ihm schon eine Stunde zuvor per SMS angekündigt. Wieder mal eine Sitzung, die einfach nicht enden wollte … Ihr Platz rechts neben Alexandre war deshalb noch leer, als die Blätterteigpasteten mit Kirschtomaten und Büffelmozzarella à la Man Ray serviert wurden. Ein kleines Häufchen mitten auf einem riesigen rechteckigen Teller, der ganz überdimensioniert wirkte. »Jetzt reicht’s aber!«, schimpfte der alte Boyden, als wollte er einen Krieg ausrufen. »Was?« »Mir reicht’s mit diesen lächerlichen Portionen!« Wütend peitschte er mit seiner Serviette den Tisch. »Was ist denn da los? Wo ich auch hingehe, überall dasselbe Zeug! Ehrlich, es steht mir bis oben. Das ist mein zehntes Caprese in dieser Woche! Gibt’s da vielleicht etwas, das ich 102
nicht mitbekommen habe? Leiden wir vielleicht an einer weltweiten Überproduktion von Cherry Tomatoes? Müssen wir unbedingt irgendwelche riesigen Vorräte abbauen? Und könnte mir mal jemand erklären, wo diese ganze verdammte Büffelmilch herkommt? Na? Pissen die Büffel neuerdings Milch, oder was?« Von seinem Champagneraperitif schon deutlich beschwipst, riss er wütend die Augen auf. »Ganz Ihrer Meinung«, nickte Blitzer und betrachtete eingehend seine geheimnisvoll gebräunten Fingernägel. »Ich hab gestern noch mit Ivanka darüber gesprochen …« »Ivanka?« »Ivanka Trump, eine gute Freundin von mir. Sie hat sich auch über die zunehmende Homogenisierung der Menüs in den Restaurants beklagt, die anspruchsvoll und ›in‹ sein wollen (er zeichnete die Anführungszeichen in die Luft). Besonders in Paris, meinte sie, viel mehr als in London oder Mailand. Komisch, wie?« »Ivanka Trump??« »Ich hasse diese verdammten Cherry Tomatoes! Ich habe Hunger! Ich will was Ordentliches! Ich will Landbrot! Ich will ein Stück Gänseleber …« »Klar, ihren Vater Donald kenn ich gut; war vor zwei, drei Jahren an einem Deal für ihn beteiligt …« »… und wenn man weiß, was dieser Loser in seiner lausigen kleinen Treuhandgesellschaft im Jahr verdient, fragt man sich, wie dieser Kerl … obendrein hässlich, fett und kahl – aber völlig kahl, ja, kein einziges Härchen mehr auf dem Schädel –, wie dieser Kerl ein Mädchen heiraten konnte, an dem echt alles dran ist. Verstehst du? Alles!« »Ivanka Trump???« »Der Markt ist angespannt, die Konkurrenz wird immer schlimmer … Da herrscht Krieg, verstehen Sie? Krieg!« 103
»Kahl, sage ich dir. Und er nimmt nicht mal Propecia!« »Oder ein Lendenstück, da würd’ ich auch nicht nein sagen. Ich will ein Steak! Oder ein anständiges Entrecôte …« Guyot vergnügte sich damit, Gesprächsfetzen aufzufangen. Am Tisch wurde nicht wirklich kommuniziert, dachte er. Eigentlich führte jeder vor den anderen ein Selbstgespräch, exhumierte unter dem wohlwollenden Patronat des teuren Alkohols seine Marotten. Beinahe im Takt wiegte Boyden den Kopf zum neuesten Beyoncé-Song. Zu seiner Unterstützung schnipste die Psychofrau freudlos mit den Fingern. All das wirkte etwa so realistisch wie eine Latino-Sitcom oder die Rekonstruktion eines Verbrechens aus Leidenschaft durch Perücken tragende Polizisten. Alex sah auf seine Price Watch: »21:18; Abschlusskurs: 105,9 Euro (+1,2%)«. Was trieb Laurence Kellerman nur so lange? Die Konjunktur war gut, Weihnachten rückte heran, begann er zu meditieren, um seine Ungeduld zu unterdrücken. Ja, die Fundamente waren recht solide, freute er sich, während er auf einer Tomate mit Plastikgeschmack herumkaute. Die BercyReformen hatten die Kauflust der Haushalte deutlich stimuliert. Und wie es hieß, waren sogar die Bedingungen für ein nachhaltiges Wachstum wieder vorhanden. Auch aus persönlicher Sicht stand alles zum Besten. In der vergangenen Woche hatte sein Kurs die magische Schwelle von 100 Euro überschritten. Eine entscheidende Schwelle, hatte Ploniac ohne weitere Ausführungen zur Macht der runden Zahlen erklärt. Seit seiner Notierung war die Aktie Guyot also um mehr als 13% gestiegen, und sein Wert überstieg jetzt 14 Millionen Euro. Die Analysten beweihräucherten ihn einstimmig und schlossen kategorisch jedes Überhitzungsrisiko aus. Ebenso einstimmig sahen sie für das kommende Jahr ein Wachstum seines Nettoeinkommens von 30 bis 40 % voraus. Die »Leistungsindikatoren« standen alle »auf grün«, wie der alte Boyden oft sagte, wobei er augenzwinkernd beide Daumen nach 104
oben streckte. Im Büro trugen Alexandres Talent und Entschlossenheit bereits Früchte: der gerechte Lohn für lange, anstrengende Arbeitsnächte. Alle Fachzeitschriften lobten die positiven Auswirkungen der »Guyot-Methode« auf die Pariser Tätigkeit von McKimen. Tatsächlich hatte er mehrere Aufträge von beträchtlichem Umfang an Land gezogen. Sie hingen mit der neuen Expansionswelle der französischen Vertriebsketten zusammen, die sich neuerdings zuhauf in Schwarzafrika und im Kaukasus niederließen. Nachts schlief er den tiefen, gelassenen Schlaf der Betäubten. Seine Aktionäre waren ihm treu, und er besaß das Vertrauen des Marktes. Gesund, dynamisch, leistungsstark, profitabel: Mehr denn je fühlte er sich nützlich. »Shit! I’m so fucking late! Es tut mir wirklich leid«, rief Laurence schuldbewusst und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Hey, relax … No worries, wir haben gerade erst angefangen … Wirklich alles in Ordnung? Du siehst völlig überdreht aus …« »Dieser Exocet-Kunde macht mich fertig! Die absolute Nervensäge, total pain in the ass. Die Hölle, kann ich dir sagen. Endlose Sitzungen, bescheuerte Fragen … Ich hätt’ beinah gekotzt vor Stress – ich mein’s wörtlich. Alex, for real gekotzt!« »Hmm, I see …« (Er versuchte wirklich, sich Laurence vorzustellen, wie sie sich übergab.) »Und ich erspar dir die Ausraster bei Project Invasion und Project Gunshot … Scheiße, die haben mich wirklich fertig gemacht. Ernsthaft. Alles an einem Tag, als hätten sie sich abgesprochen.« »Okay, okay, Laurence … jetzt entspannst du dich, zündest dir eine Kippe an, und ich stell dich meinen Freunden vor«, flüsterte er ihr mit Therapeutenstimme ins Ohr.
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»Shut the fuck up! Red nicht von Kippen, verdammte Scheiße!«, kreischte sie und rammte ihm den Ellbogen in die Seite. »Bist du krank, oder was? Was ist denn jetzt los?«, japste er. »Ich erinnere dich daran, falls du es vergessen haben solltest, dass ich in zwei Wochen an die Börse gehe. Du redest mit einer künftigen Individualgesellschaft, mein Schatz … Deren Prospekt heute Abend gedruckt wird, mit einem fett gedruckten hübschen Satz: ›Zum Zeitpunkt der Operation wird die Laurence Kellerman I. G. ein Nichtraucherunternehmen sein.‹« »Ach ja? Und warum tust du dir das an?« »Die Pinguine von Mortley & Pierce behaupten, dass das meinen Wert um 15 bis 20 % in die Höhe treibt. Und beweisen das mit Untersuchungen und Graphiken und Bankerchinesisch. Bitte sehr, ich hör brav auf … Ich glaub, es lohnt sich. I am worth it, letztendlich, oder nicht? Seit drei Tagen lauf ich auf dem Zahnfleisch und funktioniere nur noch mit Nikotinpflastern …« »Okay, verstanden. Anyway, es wird dir bestimmt nicht schaden. Aber auf Champagner verzichtest du noch nicht?« »Champaign is absolutely fine! Bestimmte Dinge sind nicht verhandelbar. Gießt du mir was ein, Darling?« Während er ihr lächelnd das Glas reichte, überkam Alex für einen Moment das Gefühl, zu viele Zähne im Mund zu haben. Laurence trug ein Pied-de-Poule-Kostüm von Gucci in der Mango-Version. Unter dem Tisch trampelte sie auf PradaPumps-Kopien herum, die sie Anfang Juni im Sonderangebot bei Zara gefunden hatte. Sehr nervös insgesamt. Eigentlich fast durchgedreht. »Bist du wirklich sicher, dass es dir gut geht, Laurence?« »Sure«, stieß sie hervor und goss den Moët & Chandon in einem Zug hinunter. 106
»Hör mal, wenn du Probleme hast …« »Listen, I am just fine«, unterbrach sie ihn. Ihr Blick war wie eine Ohrfeige. »Ich bin bloß ziemlich erledigt.« »Okay, wenn du’s sagst, it’s all right.« Obwohl sich das Diner ziemlich in die Länge zog, wirkten die meisten Gäste entspannt und zufrieden. Ihnen gefiel die minimalistische Gastronomie offenbar, und ab und zu verzogen sie anerkennend das Gesicht. Boyden hatte die Gesellschaft allerdings schon etwas früher verlassen. Nachdem man ihm bestätigt hatte, dass die Gefüllte Kirschtomate mit Ricotta à la Man Ray tatsächlich das war, was er hartnäckig »Hauptgericht« nannte. Die Pseudokonversation kam allmählich zum Erliegen, als sich das Ballett der Serviererinnen erneut in Bewegung setzte, um Kaffee anzubieten. Natürlich waren alle mehr oder weniger betrunken, nur Guyot setzte seine Vitaminorgie fort. Laurence hingegen hatte sich immer wieder Champagner nachgeschenkt, ohne ein Wort zu sagen. Nur einmal hatte sie den Mund aufgemacht, um Cristal rosé statt des Moët & Chandon zu verlangen, der, wie sie sagte, »allmählich reinhaute«. Nachdem sie eine unwiderrufliche Abfuhr des Weinkellners hatte einstecken müssen, zog sie sich endgültig in sich zurück und bemühte sich seit einiger Zeit unter den Blicken eines eher müden als nachsichtigen Publikums, mit einem Messer, einer Gabel und drei Weingläsern den Vorspann der Börseninfo auf LCI zu improvisieren. Während sie wie eine freche Göre albern die Zunge rausstreckte, wollte sie gerade ein weiteres Mal ihr Besteck auf die Kristallgläser donnern lassen. Die wenigen noch klar denkenden Personen am Tisch kniffen schon die Augen zusammen, zogen die Köpfe ein und erstarrten in der konventionellen – letztlich ziemlich unangemessenen –
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ängstlichen Haltung, in der man Stürze oder Zusammenstöße und den damit verbundenen Lärm vorausahnt. »Hörst du endlich mit dem Quatsch auf?«, schimpfte Alex und packte sie am Handgelenk. »…« (Sie war benommen, ihr Blick gelblich-glasig.) »Hörst du jetzt endlich auf, Scheiße noch mal? Du bist voll, Laurence, du bist völlig fertig«, fuhr er fort und verstärkte den Druck seiner Finger. »…« (Sie konnte nicht sprechen, ihre Unterlippe zitterte, gleich würde sie anfangen zu weinen.) Alexandre ließ den Blick über die Überlebenden seiner Tischrunde schweifen. Angesichts des geringen noch feststellbaren Bewusstseinsgrads hielt er es für unnötig, sich länger zur Schau zu stellen. »Komm«, befahl er und zog sie am Arm. »Nein …« »Scheiße, komm jetzt!« (Er zog sie mit Gewalt hoch.) Es gelang ihm, Kellerman zehn Meter hinter sich herzuschleifen, ehe sie, weit genug entfernt, an der Stützwand einer Treppe zusammenbrach. »Darf ich erfahren, weshalb du dich so voll laufen lässt?« (Er packte sie fest an den Schultern.) »…« »Darf ich es erfahren?« (Er schüttelte sie.) »…« (Sie starrte ihn an.) »Kannst du mir vielleicht antworten?« (Er schüttelte sie stärker.) »Ich will … Ich weiß nicht, warum … Ich will … Ich habe …« (Ihre Augen waren nass, gerötet, sie stank aus dem Mund, ihre Nase lief, sie schniefte.) »Was, zum Teufel, was denn?« (Er ließ sie los.) 108
»Ich bin siebenunddreißig, Alexandre!« (Sie unterdrückte ein Schluchzen.) »Na und, Laurence? So what?« »Siebenunddreißig, immerhin, Scheiße!« (Sie drückte den Zeigefinger unter die Nase, um den Strom zu bremsen; sie schniefte noch stärker.) »So what? Wen interessiert das, Laurence?« Er artikulierte die Frage im Stakkato. »Sieh dich doch an, verdammt, und sieh dich um … Verglichen mit den Mumien hier bist du doch noch ein Gör, Laurence!«, flötete er ohne große Überzeugung. »Bullshit …« (Sie lächelte ein bisschen.) »Gut, und was noch? Was macht dich so traurig? Erzähl!« »Weiß nicht … Ich glaube … Vielleicht … Vielleicht liebe ich dich?« (Sie murmelte ehrlich eine Frage.) »Was machst du?« »Ich liebe dich?« »Nein, ich glaub nicht, Laurence. Das glaube ich ganz und gar nicht«, lächelte er und nahm ihre Hände. »Okay, okay, Schwachsinn, you’re right, ich spinne …« »Komm schon, was ist los, Laurence? Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst.« Jeder Muskel in ihrem Gesicht begann plötzlich zu zittern, wie wenn in einem Topf das Wasser zu sieden beginnt. Dann verkrampften sie sich alle gleichzeitig in einer einzigen grauenhaften Zuckung. »Es juuuuckt!«, jammerte sie schließlich und ließ einen Strom mit Schminke vermischter Tränen fließen. »Was?« »Es juuuckt, zum Teufel … Da juckt’s«, schluchzte sie und zeigte auf ihren Unterleib. »Laurence, beruhige dich, was erzählst du da?« 109
»Es juckt, sag ich dir. Es juckt höllisch«, präzisierte sie, wieder halbwegs gefasst. (Sie trocknete sich die Augen.) »Ich kapier nichts, Laurence, beruhige dich, bitte … Beruhige dich und erklär’s mir … Was ›juckt‹? Hast du Gesundheitsprobleme? Bist du krank?« »Ja, ich bin krank«, schoss sie mit einem gewissen Stolz hervor. »Krebs! Vaginalkrebs!« »Was? Was???« (Er sah sie ungläubig an.) »Du hast …« »Ja, Alexandre, Vaginalkrebs. Und an mehreren anderen Stellen auch, wenn du’s genau wissen willst.« »Was??? Mein Gott, Scheiße … Gottverdammte Scheiße!« (Er war fix und fertig, er schwitzte.) »Ja, an vielen Stellen!«, kreischte sie und streckte die Arme zum Himmel. »Vaginalkrebs, Klitoriskrebs, Tumore im Arsch und in der Möse und Metastasen in den beiden kleinen Titten! Und das juckt, Alex, verstehst du? Das juckt unaufhörlich.« (Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn wie eine Verrückte.) »… du machst dich über mich lustig, Laurence?«, röchelte er nach mehrmaligem Hin und Her. »Nein«, erklärte sie mit plötzlich ruhiger, kristallklarer Stimme. »Ich will vögeln, Alexandre, ich will vögeln, das ist alles. Ich will, dass man’s mir besorgt, verstehst du das? Ich will mich aufspießen, durchbohren, fertig machen lassen. Wanna fuck! Wanna shag! Kapierst du? Du kapierst nicht? Willst du, dass ich dir eine gottverdammte Zeichnung mache?« »…« (Er spürte, wie die Wut in ihm hochstieg, und hätte ihr fast eine runtergehauen.) »Alexandre, mein Schatz … Mein letzter Sex ist mehr als drei Jahre her. Und ich habe dafür bezahlt. Findest du das vielleicht normal? Findest du das gesund für eine Frau?« (Ihr Blick füllte sich mit der Verzweiflung eines Dackels, der um seinen 110
Spaziergang bettelt.) »Jetzt, genau jetzt, heute Abend will ich, dass man mich liebt. Dass man mich umarmt, mich liebkost und dann … dann dass man mich vögelt, verdammt! Dass man mich vööögelt!«, quakte sie erneut und presste ihr Becken an seine Gürtelschnalle. Guyot machte eine Pause, in der er sich – im ersten Moment – die Haarplantage auf Laurence’ Schambein vorzustellen versuchte. Die genaue Anordnung der kurzen Haare, die sich in diesem Moment unter mehreren Schichten im Sonderangebot gekaufter Klamotten von rechts nach links, von hinten nach vorn im Rhythmus ihrer gewollt lasziven Hüftbewegungen wanden. Dann suchte er kurz nach Worten, wich zwei Schritte zurück, verzerrte das Gesicht zu einem angemessenen Grinsen und verkündete: »Laurence, meine kleine Laurence … Sieh die Dinge mal so, wie sie sind … Du bist ein intelligentes, ehrgeiziges Mädchen. Du hast einen tollen Job und eine verheißungsvolle Zukunft. In der Firma wirst du von allen respektiert und bewundert. Du hast eine sehr nette Familie und überall auf der Welt Freunde. Kurz, du hast ein tolles Leben, Laurence, ein tolles Leben! Es wäre doch wirklich schade, das alles kaputtzumachen, oder?« (Sie nickte.) »Das möchtest du dir doch nicht alles verderben, Laurence, oder?« (Sie schüttelte den Kopf.) »Wunderbar. Dann sind wir uns ja einig … Und jetzt hör mal zu, Laurence, hör mir gut zu … Du willst dich in weniger als zwei Wochen an der Börse notieren lassen. Deine Roadshow findet in drei Tagen statt, wenn mich nicht alles täuscht. Dann musst du professionelle Investoren davon überzeugen, dich auf mehr als zehn Millionen Euro zu bewerten. Du wirst ein Unternehmen, Laurence, eine juristische Person. Und heute Abend, hier in diesem Raum ist bestimmt die Hälfte der Pariser Börsianer versammelt und beobachtet dich. Ganz ehrlich, Laurence, wenn ich mich an ihre Stelle versetze, weißt du, was ich dann sehe? Ich sehe, dass du, Laurence Kellerman, jetzt, hier, an dieser 111
Wand, aussiehst wie Courtney Love, nur noch verdorbener, noch hässlicher, und vielleicht mit noch mehr Drogen voll gestopft.« »…« (Sie schluchzte, hickste, biss sich auf die Lippen.) »Und ich, Laurence, ich, der ich dich kenne … der ich dein Freund bin und nur dein Bestes will, ich gebe dir einen einzigen Rat: Schnapp dir deine Tasche und zisch ab!« »…« (Sie rührte sich nicht, schockiert, unschlüssig.) »Ich meine: Zisch auf der Stelle ab.« Mit einem überraschend schnellen Sprint – den er dennoch wie in Zeitlupe wahrnahm – raste Laurence zum Tisch, stopfte einen Schlüsselbund in ihre Tasche und verschwand wie ein Wirbelwind auf der lächerlichen Rokokotreppe. Alexandre atmete tief ein, plötzlich packte ihn die Müdigkeit – es war schon nach eins. Der DJ mixte unter der Wirkung wahrscheinlich illegaler Substanzen alte Hits von Barry White mit Walgesängen, Delfinpfiffen und allerhand tierischem oder menschlichem Magenknurren. Alex ging an seinen Tisch zurück, an dem nur noch Blitzer überlebt hatte. Vor einer Hand voll Speichelleckern gab er sich seiner Lieblingsbeschäftigung hin: über die Konkurrenz herzuziehen. »Meine Herren, verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Aber wenn Sie gestatten, werde ich mich verabschieden.« »Schon?!«, wunderten sich vier teigige Visagen. »Ich fange morgen sehr früh an zu arbeiten, und ich möchte meine Aktionäre nicht enttäuschen«, lächelte er zu Blitzer hinüber, von dem es hieß, dass er, obwohl es illegal war, unter dem Namen seiner aktuellen Geliebten ein Paket Guyot-Aktien gekauft hätte. Entzückt über seine eigene Frechheit machte Alexandre auf dem Absatz kehrt. Dann plante er in Gedanken den Rückweg …
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Vor der Garderobe lachte er allein und lange, als er Nicolas Coeque ausgestreckt auf dem Thron liegen sah. In derselben Haltung, in der er ihn vier Stunden zuvor zurückgelassen hatte – er schnarchte. »Und was machen wir mit ihm?«, wagte die Toilettenfrau verlegen zu fragen, womit sie ihr Territorium wie auch ihre Kompetenzen überschritt. »Seien Sie so nett, ihm ein Taxi zu rufen, Rue de la Pompe 16«, bat Guyot und schob ihr einen Fünfzigeuroschein zu. Beim Rausgehen fand er auch für den Türsteher noch ein freundliches Wort, der sich hüpfend darüber beklagte, dass »seine Eier zu Stalaktiten« gefroren seien. Das konnte er sich gut vorstellen. Ein richtiger Dezember. Es hatte zwar aufgehört zu schneien, doch eisige Windböen peitschten durch die Rue Marbeuf. Guyot schlug den Mantelkragen hoch und ging in Richtung Champs-Élysées. Müde, todmüde … Als er unter den immer noch erhellten Fenstern von McKimen vorbeikam, überlegte er kurz, hinaufzugehen und ein paar Akten mitzunehmen. Abteilungsberichte, die er im Bett überfliegen könnte. Ein bisschen Zeit gewonnen in der Hektik des nächsten Tages. Er besann sich, weil er dachte, dass er sich vielleicht lieber noch einen Orgasmus gönnen sollte. Als er an der Vuitton-Boutique vorbeiging, dachte er wieder an Laurence Kellerman. An ihr unflätiges, verheerendes Verlangen zu vögeln … Er hatte eigentlich keine Lust zu vögeln, auf jeden Fall nicht Laurence – zu hektisch und zu dürr. Er würde sich einen runterholen. Das war angenehm. Das war effektiv. Er würde wie ein sensibler Mann onanieren, geschickt in den engen Ring gleiten, der durch die delikate Zusammenführung von Daumen und Zeigefinger entstand. Er würde die Ungeschicklichkeit einer fremden Hand nachahmen. Die kleine, zögernde Hand einer verwirrten Jugendlichen …
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Er könnte sich auch von Claires Hintern inspirieren lassen. An ihren formbaren und so oft gekneteten Körper denken, den er noch genau vor Augen hatte … Oder an den von Estelle Dupuis, den er sich mühelos vorstellen konnte, gebogen, fest, entspannt, weiß wie Kreide … Geteilt von einem vielsagenden Scheitel, den sie auf sein Gesicht pressen würde. Er würde auch ein paar gefügige kleine Starlets herbeirufen, diensteifrig, bebrillt, in strengen Kostümen, künftige Sekretärinnen oder Praktikantinnen, in schwierigen Situationen, bei harten Kundenverhandlungen streng auf die Probe gestellt. Wenn sie dann mit ihrer krassen Inkompetenz konfrontiert waren, wenn sie sich schämten und verwirrt waren und nach einer Bestrafung verlangten, konnte er hemmungslos seine Stellung als Autoritätsperson ausnutzen. Guyot schätzte diese absurde Vermischung der Genres, das archetypische Reservoir von Office-Sex-Fantasien. Eigentlich ganz triviale Fantasien, vor allem bei Führungskräften sehr verbreitet. Die Quelle seiner sexuellen Erregung, das war ihm bewusst, lag oft in der Anstößigkeit. Und eben dies war nicht nur seine einzige Abnormität, sondern auch die einzige Form vage künstlerischer Regungen. In diesem Fall den Surrealisten entlehnt, obwohl er deren Werke und Vertreter seit langer Zeit vergessen hatte. Ehe er in die Rue de Bassano einbog, dachte er: Ich heiße Alexandre, ich bin zweiunddreißig, Harvard- und HEC-Absolvent. Ich bin Strategieconsultant bei McKimen. Ich bin allein stehend, Nichtraucher, meine Gesundheit ist ausgezeichnet. Meine geistige Verfassung ist robust und mein Wachstum exponentiell. Die Frauen schätzen mich; meine Sexualität ist intakt. Ich mag meinen Beruf und bin hervorragend darin – ich glaube nicht an das Schicksal. Ich glaube an meine Intelligenz und ich glaube nicht an Gott. Ich bin seit knapp drei Wochen an der Börse notiert. Und ich bin am heutigen Tag mehr als 14 Millionen Euro wert. 114
Er erschauerte in einer Mischung aus Kälte und Stolz … und dann in einer Regung der Angst, einer düsteren Vorahnung, als tief in seiner Tasche das Telefon klingelte, vibrierte, blinkte: »Boyden mobil«. Er blieb ein paar Meter vor dem Eingang zu seinem Haus stehen, zog nervös die Handschuhe aus, lehnte sich an ein Auto. Während er antwortete, schaute er zu, wie sich vor seinem Mund die Worte in blauen Dunst verwandelten. »Maître?« »Alexandre …« »Ja?« »Es geht um Claire …« »Claire? Wieso Claire?« »Alexandre … Claire ist tot. Suizidiert.«
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11 Wie sagt man’s? Wie sagt man’s, wenn man außerstande ist zu weinen? Außerstande, die kleinste Träne zu vergießen und erst recht zu schreien? Wie sagt man’s, wenn man sich behindert weiß, unfähig, zu nichts nütze? Wenn man keine Sprache beherrscht, keine bekannte Ausdrucksform? Wie sagt man’s, wenn man weder schreiben noch zeichnen, wenn man keinem Instrument Töne entlocken kann? Nicht einmal tanzen, einfach so, mit den Füßen stampfen oder halbwegs richtig singen oder pfeifen? Wie sagt man’s? Und wie sagt man’s einer Toten, einem Geist. Einer »Suizidierten« – wie Boyden gesagt hatte? Alexandre lief in einer schwarzen Mikrofaserunterhose im Wohnzimmer hin und her. Derselben Unterhose seit acht Tagen. Derselben seit jener Nacht. In jener Nacht, als er auf dem Bürgersteig der Rue de Bassano kniete, hatte er die Kraft aufgebracht, das Telefon zu umklammern und »Ich will sie sehen« zu stammeln, aber Boyden hatte »Nein« gesagt. Er hatte gebrüllt, »Ich will die Leiche sehen«, und Boyden hatte gesagt, »Kommt nicht infrage«. Dann hatte Alex gefleht, »Ich will wenigstens eine Trauerfeier, eine würdige Beisetzung«, und Boyden hatte gesagt: »Claire Revillon gibt es nicht mehr. Es hat sie nie gegeben. Sie liegt in einem Schubfach im Leichenschauhaus, und ich habe dafür gesorgt, dass sie vor Morgengrauen beerdigt wird. Claire existiert nicht, Alexandre. Und ich erinnere Sie für alle Fälle daran, dass sie nicht mal in Ihrem Prospekt erwähnt ist. 116
Niemand verstünde die Erregung, oder soll ich Verrücktheit sagen, die sich Ihrer zu bemächtigen scheint. Seien Sie vernünftig. Alex. Denken Sie an sich, denken Sie an Ihre Aktionäre. Nehmen Sie eine Valium und beruhigen Sie sich, Herrgott!« »Und ihre Familie, Boyden? Ihre Familie, ihre Freunde?« »Alex … ganz ruhig, fassen Sie sich! Claire Revillon war eine Nutte, eine Rumtreiberin. Und zwei lange Jahre, ich weiß nicht durch welches Wunder, welche Blindheit, waren Sie ihre einzige Familie. Und auch ihr einziger Freund.« »Sie hat mich geliebt, Boyden … Ich habe sie umgebracht, Boyden.« »Es reicht! Sie fantasieren. Gehn Sie ins Bett.« In jener Nacht onanierte er wie geplant – nur dass das Thema der Zeremonie leicht abgewandelt wurde. Er besorgte es sich in memoriam und dachte ausschließlich an Claire. Posthume Hommage des grausamen Geliebten, des überlebenden Henkers, für sie – die »Suizidierte«. Ruhm ihrem toten Hintern. Tot und blau angelaufen. Tot und völlig trocken, nun, da er nicht mehr in ihrem Blut schmorte. In diesem unreinen, gepanschten Gebräu, verdünnt mit dem kochend heißen Wasser einer Badewanne im Meurice, in der Mademoiselle Claire Revillon nicht mehr lag: tot, »suizidiert«, die schönen Augen weit aufgerissen zur dampfbeschlagenen Badezimmerdecke. Zwei Augen eines seltenen Fischs, eingefasst wie zwei Kugeln und für immer im Ausdruck einer Forelle erstarrt. Einer toten Forelle. In jener Nacht kam er nicht zum Orgasmus. Er konnte nicht. Stundenlang bemühten sich seine rastlosen Hände. Verdrehten, zogen, rieben seinen Schwanz – ein vergeblicher Versuch, sich von seiner Nervosität abzulenken. Als knetete er eine der Antistresskugeln, die McKimen lieferte, diese rauen, mit Sägemehl oder Sand gefüllten Stoffsäckchen. Am Ende verschwand die Erektion, und er gab auf. 117
Die Reaktion seines Körpers war moralisch und gesund. Es gab noch einen Rest Würde in ihm. In jener Nacht war er dann irgendwann aufgestanden, hatte in den Schränken gewühlt, mit rotem und weißem Plastik umhüllte Kupferdrähte entwirrt, komplizierte Anschlüsse gelegt und schließlich, schließlich: Claire war nicht »tot« – auch keine »Suizidierte«. Boyden hatte gelogen, und Claire war als Lebende aufgetaucht. Vollkommen sichtbar, hörbar, lächelnd, beweglich, aber doch irgendwie kleiner und flacher, manchmal sogar wie verloren im Rahmen des Plasmabildschirms. Wie verloren manchmal, und trotzdem rannte sie über künstliche Strände unter brennenden Halogensonnen, über saubere Strände mit riesigen Bauten, prunkvollen Hotels, von denen die Suizidierte nicht genug bekam. Ganz lebendig hüpfte sie dort herum, gleich an welchem Ort, Malediven, Thailand, Bali oder Sri Lanka, überall, wo die Welt gut zu ihren flachsblonden Haaren, ihrem rosigen Teint und ihren fluoreszierenden Bikinis passte, die sie immer eine Nummer zu klein kaufte. »Eine Nummer kleiner, bitte«, bat die Tote in den Anprobekabinen in Paris oder London oder auch in Mailand und streifte frivole Strings über ihre wundervollen Hüften. Ja, dachte er in jener Nacht. Ja, die Tote war zweifellos eine Nutte. Und Boyden hatte Recht: »eine Nutte und eine Rumtreiberin«. Käuflich, verhurt, stadtbekannt. Klar, warum es leugnen: Claire hatte keinen guten Ruf. Sie galt als ehrgeizig und versoffen, ungebildet und drogenabhängig, verlogen und untreu und frigide, und die meisten Behauptungen trafen leider zu. Aber Claire hatte ihn geliebt, verzweifelt geliebt, sagte er sich in jener Nacht – nackt im Schneidersitz, allein, stumpfsinnig, versteinert vor seinem Fernseher. Ja, Claire hatte ihn so sehr geliebt, dass sie sich geweigert hatte, den Bruch zu überleben; und es war viel mehr als ein Bruch: ein Zerreißen. Ein regelrechtes Zerreißen, dachte er in jener Nacht. Wild hatte er ihre Partnerschaft verstümmelt, feige und brutal. Brutal und feige und schlichtweg 118
unwürdig – abscheulich. Und in dieser Nacht war Claire Revillon, achtundzwanzig, ohne Berufsabschluss, in ihn verliebt, »gestorben«. Schlimmer noch: »suizidiert«. Aus der Ferne ermordet von einem grotesken, verächtlichen Individuum. »Ein Consultant«, hatte das Opfer noch gehaucht, ehe es starb. Eine seltene Art von Arschloch, mit fettem Gehalt, der – nackt im Schneidersitz, allein, stumpfsinnig, versteinert vor seinem Fernseher – nicht einmal von den zuständigen Behörden behelligt werden würde. Der von der idiotischen, unerhörten juristischen Lücke profitierte, die eine Anklage wegen »Mordes aus der Ferne und durch Zerreißen« ausschloss. Die seinen Status als Unschuldiger, untadeliger Unschuldiger schützte, obwohl es doch auf der ganzen Welt keinen schuldigeren Verbrecher geben konnte. Und er erinnerte sich in jener Nacht auch an den letzten Satz, den er zu Claire gesagt hatte. Die letzten Worte, die gedankenlos über seine niederträchtigen Lippen gekommen waren, als er sich unelegant auf das breite Bett im Meurice fallen ließ: »Gib mir mal die Fernbedienung.« Und die künftige Tote hatte, im Halbschlaf, sicher angetrunken und schon etwas weniger lebendig, gefragt: »Was?« Da hatte er lauter wiederholt: »Gib mir mal die Scheißfernbedienung.« Und wenn die letzten gehörten Worte irgendeine Bedeutung haben, und wenn das Gedächtnis der Toten ebenso funktioniert wie das der Lebenden, wenn also der Vortag vergessen war, dann waren es diese Worte, die für immer nachhallen würden, unter vielen Schichten Erde und Gewürm, im leeren Schädel der süßen Suizidierten: »Gib mir mal die Scheißfernbedienung.« Und dann endlich, ganz am Ende jener Nacht war der Tag angebrochen. Das weiße, pulvrige Licht des beginnenden Winters. Er hatte den Hörer abgenommen, auf die Jalousien gestarrt und eine höfliche Botschaft für die Personalabteilung 119
hinterlassen: »I will be working from home for the next few days.« Dann hatte er eine schwarze Mikrofaserunterhose angezogen. Und seitdem hatte die Welt aufgehört zu rauschen. Acht Tage später lief Alex im Wohnzimmer auf und ab, immer noch in denselben Boxershorts. Immer noch von derselben Frage gequält: Wie sagt man’s? Eine endlose Selbstkasteiung. Und es geschah nichts. Nie war irgendetwas geschehen. Seit jener Nacht, in der stickigen Luft einer Höhle, verschanzt hinter den halb geschlossenen Fensterläden, beschränkte sich sein Dasein auf eine Frage und auf die Leugnung einer Abwesenheit. Boyden hinterließ Nachrichten. Seine Mutter hinterließ Nachrichten. Laurence Kellerman und eine Schar von Kollegen hinterließen zahlreiche und drängende Nachrichten. Aber Alexandre rief nicht zurück. Hörte sie nicht einmal mehr ab. Der Hauptteil seiner Aktivität – und es war keine Aktivität mehr im produktivitätsorientierten Sinn der Formeln, sondern eher die verzweifelte Beschäftigung eines alten Witwers mit Leibrente – bestand darin zu schlafen und von Claire zu träumen, tot und/oder lebendig und/oder als Suizidierte. Und sich einen runterzuholen, so unbeteiligt, wie man ein Huhn rupft. In einer Plastiktüte von Franprix hatte er einige Packungen Valium, gemischt mit Vivinox, zerstoßen; mehrmals am Tag löste er ein paar Messerspitzen des kostbaren Pulvers in immer höher konzentrierten Wodka-Cola-light-Mischungen auf. Denn aus gegebenem Anlass hatte er sich zum Trinken bekehrt: Er hatte Coeque immer um die Vollkommenheit seiner Komas beneidet … 120
Und im Grunde war er wütend auf sich selbst, nicht ganz verschwinden zu können. Diesem widerlichen »Conatus« unterworfen zu bleiben. Ein Spinozascher Begriff, einst eher schlecht als recht von einem nicht sonderlich klugen Professor erklärt. Jetzt verstand er diesen Begriff in seiner ganzen Tragweite: Das Bestreben jedes Dings, sich im Sein zu behaupten. Conatus, klang das nicht schon wie eine völlig stumpfsinnige, obszöne Behauptung im Sein? Diese idiotische Kraft, die ihn hartnäckig am Leben hielt? Ein paar Tage würde er sich noch verstecken können. Die Weihnachtsferien standen kurz bevor, und er würde sie als Eremit verbringen. Zurückgezogen, eingeschlossen in seinem komfortablen Loch. Er würde weiter dreimal pro Woche rausgehen, immer gegen sechzehn Uhr, um sich mit Alkohol, Toastbrot und verschiedenen Käsesorten – mit Ausnahme von Weichkäse – einzudecken, die von nun an seine ausschließliche Diät bildeten. Eine Luxusenthaltsamkeit. Eine Buße ohne Erlösung. Wie sagt man’s?, grübelte er immer noch monomanisch, hässlich, bärtig, gebeugt – während er zum tausendsten Mal The Scientist von Coldplay hörte. Wie sagt man’s? Vor lauter Schweigen waren seine Lippen zusammengeklebt. Auf seiner Uhr stand: »23:42; 112,3 Euro«. Er war mehr als fünfzehn Millionen wert. Eins. Fünf. Und dann null, null, null. Und dann null, null, null, quälte er sich selbst. Er wandte sich schwankenden Schritts zum Schlafzimmer und warf im Vorbeigehen einen erschöpften Blick auf den Bildschirm. Den treuen Gefährten, den er gar nicht mehr
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ausschaltete: Claire von weitem, bis zu den Knien im Wasser, in einem glatten, blutroten Meer, winkte ihn zu sich. Dann brach er geräuschlos, wie ausgespuckt, auf dem Federbett zusammen. Er fiel in einen schweren Schlaf, völlig erschöpft, im Dunst von Sperma und Emmentaler.
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12 Anfang Januar wusste er, dass die Sache nicht mehr von selbst lief. Er saß am Schreibtisch, trank die x-te Tasse Nescafé, der nach Asche schmeckte, und überflog bestürzt die erste Seite eines Berichts der Société Générale. Eine an diesem Morgen veröffentlichte Brandschrift mit dem hinterhältigen Titel »Alexandre Guyot I. G. – Is He Really Worth It?« »Aus der Individualgesellschaft nahe stehenden Quellen haben wir erfahren, dass Alexandre Guyot seit dem 12. Dezember nicht mehr in seinem Büro bei McKimen war. Wir sind mehr als skeptisch bezüglich der Telearbeit, die vorgeschoben wurde, um seine Abwesenheit während der zehn Tage vor dem traditionellen Jahresendurlaub zu erklären. Auch wenn uns die Wiederaufnahme der Arbeit durch die I. G. zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts bestätigt wurde, sind wir doch besorgt über diese Unterbrechung, die mit mehr als drei Wochen wesentlich länger ist als bei vergleichbaren notierten Personen (s. Tabelle 1 unten). Sollen wir darin erste Anzeichen einer sinkenden Motivation sehen? Wir zeigen uns zwar im Hinblick auf diesen Wert, der weiterhin zu unseren Favoriten gehört, noch nicht ernsthaft alarmiert, korrigieren jedoch unsere Gewinnerwartung nach unten. Unsere Empfehlung wechselt von ›Übergewichten‹ auf ›Neutral‹ – mit einem reduzierten Kursziel von 110 Euro.« Dann folgte eine sehr bunte »Tabelle 1«, in der die Urlaubstage einer Auswahl notierter Consultants verglichen wurden. Darunter Laurence Kellerman, seit dem 20. Dezember gelistet und mit einem Wert von mehr als elf Millionen Euro angegeben. Sie tänzelte an der Spitze der Tabelle: gerade mal drei Urlaubstage. Für einen Moment sah er die Bohnenstange wirklich auf ihren Pfennigabsätzen herumhüpfen. 123
Er hob den Bericht hoch über den Papierkorb und ließ ihn auf ein Gemisch von Plastikbechern, zerknüllten Entwürfen und zerrissenem Packpapier fallen. Es war »11: 23; 105,6 Euro«. Ein Verlust von »3,5 %«: Neuigkeiten verbreiteten sich schnell. Und die Analystin der Société Générale – ein einflussreiches Affenweibchen, das die traditionelle »Taufe« im Tümpel der HEC durchgemacht hatte – war hartnäckig in ihrem Groll. Reichlich irritiert überprüfte er bei Boursorama die allgemeine Tendenz für seinesgleichen: Kellerman (+ 2,3 %), Pierret (+ 1,5 %), Villemin (+ 1,8 %), Tassel (+ 0,7 %), Rogue (+ 1,2 %), Julian (+ 0,3 %) … Der Consultantmarkt war deutlich in der Hausse. Und sogar bei den sonst eher kurzatmigen Wirtschaftsprüfern ging es bergauf. Die Schlussfolgerung drängte sich auf: Es ging gegen ihn persönlich. Eine ziemlich scheußliche Art, das Jahr anzufangen, dachte er, während er Outlook startete. Umso scheußlicher, als an diesem Nachmittag seine erste Verwaltungsratssitzung stattfand. Natürlich stand die Präsentation der Zwischenergebnisse auf der Tagesordnung … Im Chaos seines Posteingangsordners weckte eine Mail von Estelle Dupuis, Betreff: »Kleiner Tipp«, seine Aufmerksamkeit. Alexandre, ohne Ihnen irgendwelche Vorschriften machen zu wollen, erlaube ich mir, Sie darauf hinzuweisen, dass einige Analysten Ihren Urlaub recht negativ aufgenommen haben (s. Bericht Société Générale im Anhang). Es wäre vermutlich angebracht gewesen, Anfang Dezember ein Kommuniqué mit Ihren entsprechenden Plänen zu veröffentlichen. Denken Sie immer daran: Der Markt hasst Überraschungen. Sie können mich jederzeit anrufen, um Weiteres mit mir zu besprechen. Ich hoffe, Ihr Urlaub war erholsam, und wünsche Ihnen ein wunderbares Neues Jahr. Herzliche Grüße, Estelle
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Leicht gereizt über diesen Ratschlag, der eher nach Gardinenpredigt klang, ignorierte er etwa fünfzig hausinterne Mails und klickte auf die »Kurze Analyse« von Jocelyn Rivaret. Lieber Alexandre Guyot I. G., nach der jüngsten Veröffentlichung von Informationen, die Ihrer Bewertung abträglich sind (s. Bericht Société Générale im Anhang) haben wir uns erlaubt, eine kurze Analyse durchzuführen, anhand derer Sie – natürlich nur, wenn Sie es für notwendig erachten – mit guten Argumenten auf diese Angriffe reagieren können, die uns jeder rationalen Grundlage zu entbehren scheinen. Als weitere Anlage finden Sie eine Studie über den Urlaub vergleichbarer Consultants (Wirtschaftsprüfer eingeschlossen) in mehr als achtzehn westlichen Ländern. Auf Dreijahresbasis umgerechnet, unter Verwendung eines modifizierten logarithmischen Maßstabs für die Interpretation der linearen Korrelationen (ungeachtet der Nichtlinearität der Beziehung Urlaub – Betriebsjahre), gelangen wir zu folgender Schlussfolgerung: Sie haben nur fünf Tage Urlaub genommen. Sie können uns jederzeit anrufen, wenn Sie ausführlicher über die Methodologie und die Schlussfolgerungen aus dieser Analyse sprechen wollen. Bei dieser Gelegenheit wünschen wir Ihnen ein gutes, profitables Neues Jahr. Herzlich, Das Team von Golley Dean Immer dieses schwer verdauliche Bankerchinesisch … War diese Urlaubsgeschichte wirklich so entscheidend? Würde sich das Geschwafel über dieses Thema das ganze Jahr hinziehen? Wer steckte eigentlich hinter diesen perfiden Lecks? Konnte außer Boyden irgendjemand von Claires Selbstmord wissen? Apropos Claire, wie sah wohl ihre Leiche inzwischen aus? In welchen Etappen verlief der Verwesungsprozess? Hatte
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man je den genauen Ablauf erforscht? Und welchen Codenamen hatte man wohl für dieses Projekt gewählt? »Hey, darling, Happy New Year! Wie geht’s? Schöne Ferien gehabt? Ich hab dir zehnmal auf den AB gesprochen!« »Gutes Neues Jahr, Laurence.« Er war zusammengezuckt und schloss schnell das Explorer-Fenster, das Kellermans Börsenentwicklung darstellte. »Gut erholt? In Hochform? Bereit, wieder loszulegen?« »Absolut! Und Du?« »Hör mal, Schätzchen, trotz meiner drei Tage Urlaub schweb ich, offen gestanden, auf einer kleinen Wolke. Wir sind bei Project Fireball und Project Vulcano in der Realisierungsphase. Die Kunden sind völlig high – ein durchschlagender Erfolg. Und außerdem, halt dich fest«, (sie setzte sich auf den Rand seines Schreibtischs), »habe ich ihnen vier Follow-up-Aufträge verkauft – reiner Nepp! Kurz und gut, alles läuft bestens, can’t complain … Und ich kann dir sagen, seit meiner Notierung fühl ich mich viel wohler in meiner Haut. Auch motivierter, und weißt du was? Ich hab Blut geleckt. Ehrlich: Ich bin voll dabei! Die Erwartungen meiner Aktionäre, die Billigung des Marktes, das Urteil der Analysten … Das turnt mich alles total an! Hier, fühl mal, ich hab echt Gänsehaut davon! Und außerdem – so far – schnell auf Holz klopfen«, (sie pochte sich mit dem Fingerknöchel gegen die Stirn), »die Aktie geht ab, kann man wohl sagen!« »Ich hab’s gesehen, Laurence, ich hab’s gesehen. Sehr beeindruckend. Well done …« »Seit dem 20. Dezember um 26 % gestiegen!«, verkündete sie und zeigte auf ihre Price Watch (ein Damenmodell aus Leder und Gold, von Samsung und Dior entwickelt). »Übrigens hat Jeff Graham gesagt: ›Laurence, du bist ein Start-up. Ein verdammtes Start-up‹, hat er gesagt!«
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»Hast du kürzlich mit Graham gesprochen? Ein großes Privileg … Ich versuche seit einer Ewigkeit einen Call mit ihm zu organisieren, damit er ein paar Sachen beim Project Democracy entscheidet …« »Hör mal, das bleibt unter uns, aber …«, (sie beugte sich zu ihm), »er hat mich während der Feiertage aus seinem Chalet in Aspen angerufen. Der Kerl hat mir wärmstens zur Notierung gratuliert, total sympathisch. Wir haben bestimmt eine Viertelstunde geschwatzt. Ich war ziemlich überrascht, weißt du … superzufrieden, aber riesig überrascht. Und dann haut der Typ plötzlich raus, er hätte totales Vertrauen in mich, er fände die Qualität meiner Arbeit sehr beeindruckend und wäre überzeugt, dass ich ein enormes Entwicklungspotenzial habe. So überzeugt, dass er persönlich mehr als 5 % meiner Aktien gekauft hat!« »…« (Alexandre überfielen plötzlich starke Bauchschmerzen.) »Ist dir das klar, Alex? Jeffrey Graham, der CEO von McKimen World, ist mein größter Aktionär! Vor meinem eigenen Vater! Ist das nicht abgefahren?«, jubelte sie. »Das ist … das ist wirklich abgefahren, Laurence, total abgefahren.« »Gut, ich muss zurück, hab in genau drei Minuten einen Call mit ihm.« Kellerman trug ein Valentino-Kostüm in der … ValentinoVersion. Seit ihrer Notierung floss das Geld in Strömen. Sie hatte fröhlich mehr als achthunderttausend Euro kassiert und offensichtlich schon ihre abgenutzte, naphthalingetränkte Garderobe erneuert. Sicher, Laurence hatte von der geradezu hysterischen Pressekampagne einer als neofeministisch verschrienen Journalistenclique profitiert. Mit fünf weiteren polydiplomierten Weibchen, die im Dezember notiert wurden, zierte sie das Titelblatt von Elle und Figaro Madame unter so 127
geistreichen Überschriften wie: »Mädchen stehen hoch im Kurs«, »Die Frauen gehn auf den Markt«, »Weil sie’s wert sind«, und andere Kalauer, kochte Guyot, während er die Nummer von Maître Boyden wählte. »Boyden Lamy Neuville und Steg, guten Tag und gesundes Neues Jahr, wen möchten Sie sprechen?«, sang ein Mädchen, ohne Luft zu holen. »Geben Sie mir Boyden; hier ist Guyot.« »Aber natürlich, Monsieur Guyot, ich gebe Ihnen Maître Boyden und danke Ihnen, dass Sie sich ein paar Sekunden gedulden; ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und ein wunderbares Neues Jahr und beste Gesundheit für Sie und all Ihre Lieben«, entleerte sie ihre Lunge. Ein paar Sekunden konnte er der fröhlichen Attacke von Vivaldis Frühling lauschen. »Alexandre?« »Ja, Maître. Gutes Neues Jahr.« »Ihnen auch, Alex. Sehr erfreut, endlich von Ihnen zu hören. Ich will Ihnen nicht verheimlichen, dass ich etwas besorgt war.« »Ich weiß, Maître. Sagen wir, ich brauchte etwas Einsamkeit nach … nach dem, was Sie wissen. Aber jetzt geht’s mir wieder besser, glauben Sie mir. Sogar viel besser.« »Wunderbar, dann bin ich ja beruhigt.« »Ich habe eine kurze Frage, Maître.« »Nur zu.« »Ist es legal, wenn eine Individualgesellschaft eine Führungsperson der Firma, in der sie beschäftigt ist, zum Aktionär hat? Einfacher gesagt: wenn ihr Chef ihr Aktionär ist?« »Sehr interessante Frage … Wir hatten letzte Woche einen ähnlichen Fall und ein Urteil in erster Instanz. Es ist absolut legal, mein Freund. Unter bestimmten Einschränkungen, die Interessenskonflikte oder Insiderdelikte verhindern sollen.« 128
»Was für welche?« »Die wichtigste Einschränkung verbietet dem unmittelbaren Vorgesetzten, wenn er Aktionär geworden ist, sich direkt an der Festlegung des Gehalts für den notierten Mitarbeiter zu beteiligen oder vor den anderen Aktionären davon Kenntnis zu bekommen. Aber aufgepasst, das hindert ihn nicht daran, seine üblichen Aufgaben als Koordinator und Evaluator auszuüben.« »Ich verstehe … Ziemlich wacklige Konstruktion, finden Sie nicht?« »Etwas wacklig, das stimmt. Aber warum fragen Sie, Alexandre? Denken Sie an eine konkrete Situation?« »Kellerman, Laurence Kellerman. Erinnern Sie sich an sie, beim Closing Dinner? Die ausgeflippte Alkoholikerin.« »Natürlich.« »Nun, Jeffrey Graham hält 5 % von diesem Weibsstück.« »Und?« »Und das kotzt mich an, Boyden. Das kotzt mich an, weiter nichts. Es bringt mich um, dass der Big Boss nicht einen Euro seiner gigantischen Ersparnisse auf meinen Kopf gesetzt hat! Halten Sie das für ein gutes Zeichen?« »Alex, ich bitte Sie … Fangen Sie nicht mit diesem lächerlichen Spielchen an. Sie haben ein solides und beachtlich stabiles Aktionariat. Jeffrey Graham kann doch machen, was er will. Zudem könnten bei einem wie ihm hinter diesem Schritt durchaus fiskalische Gründe stecken, um die Absetzbarkeit von Investitionen in Frau-Gesellschaften zu nutzen. Noch so ein abwegiger Ausrutscher der Gleichstellungsgesetze – aber lassen wir das … Alexandre, mein Kleiner, fangen Sie sich! Sie sind ein Star in Ihrem Job! Ein Crack! Denken Sie immer daran: McKimen braucht Sie. Also vergessen Sie Ihren Streberehrgeiz und machen Sie sich wieder an die Arbeit. Apropos, haben Sie den kleinen Bericht der Société …« 129
»… Générale, ja ich weiß, Maître – stop, bitte. Ich habe meine Dosis für heute weg.« »Okay … Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie ihn nicht übersehen haben.« »Meinen Sie, dass ich heute Nachmittag beim Verwaltungsrat darüber reden muss?« »Warten Sie ab. Es wird sicher Fragen dazu geben. Halten Sie überzeugende Antworten bereit.« »Gut. Wir sehen uns dort um 14.30 Uhr?« »Natürlich. Und versuchen Sie sich inzwischen zu entspannen. Alles geht gut, Sie werden sehen.« Der Rest des Vormittags verging allerdings in angespannter Stimmung. Ärgerliche Anrufe und lapidare Mails bildeten ein effizientes psychologisches Unterdrückungssystem. Die Kontrolllampe des Telefons schien immer schneller zu blinken, als wollte sie die zunehmende Ungeduld der wartenden Nachrichten signalisieren. Der Posteingangsordner bei Outlook füllte sich rasend schnell, schwoll von Minute zu Minute erbarmungslos an, aufgebläht vom Hass jedes Absenders, und drohte zu platzen, mit fatalen Folgen. Wie betäubt ging Alexandre seiner Arbeit nach, bemüht, das sporadische Aufwallen obsessiver Attacken zu beherrschen … Da war er wieder, ausgerechnet jetzt: Claires exhumierter Körper. Strahlende, sinnliche Leiche, vor aller Augen. Mit über der Brust gekreuzten Armen lag sie auf dem Rücken in einem Sandkasten. Kleine Kinder spielten rundherum … dann ganz nah … dann auf … dann mit der Leiche … unbekümmert und quietschvergnügt … Steckten ihre Fingerchen in die brüchige Haut … Kämmten die lange strohblonde Mähne mit ihren schmutzigen Fingernägeln. Sollte er die Valiumdosis erhöhen? Oder unverzüglich die unbezahlbare Vidalet-Coudert konsultieren? Konnte man denn bei Kellermans Provokationen kalt bleiben? 130
Laurence Kellerman. Eine neue Obsession. Da kommt sie schon: nackt, dürr, knochig. Schiebt langsam ihren Einkaufswagen durch die Reihen von Franprix … Und er – winzig, monströs, mit dem Körper eines Säuglings in Windeln, aber mit seinem großen Erwachsenenkopf und Dreitagebart –, eingezwängt in den Klappsitz des Wagens, die dicken Beinchen durch die Metallstangen gesteckt: »Willst du Cornflakes, mein Liebling?«, fragt sie ihn vor dem CocapicRegal. »Magst du das zum Frühstück?«, erkundigt sie sich und lässt die Schachtel rasseln. Und er ruft mit seinem schwachen Stimmchen »Nein, nein, nein«. Aber Kellerman befiehlt: »Doch, Alexandre. Du isst! Das isst du jetzt jeden Morgen!« Und dann bricht sie in ein eisiges, sardonisches Lachen aus. Sollte er sich noch mal ein paar Tage Urlaub gönnen? Die Stadt verlassen? Raus, an die frische Luft? Warum nicht ein längerer Sanatoriumsaufenthalt? Denn da ist Laurence schon wieder, immer noch knochig, immer noch nackt, wie sie auf allen vieren über den cremeweißen Teppich in Grahams Büro kriecht … Und da ist auch der Big Boss, kniet hinter ihr, gedrungen und vollkommen kahl, besteigt seine Untergebene wie ein rasender Köter … Er zieht sie an den Haaren, nein, reißt sie ihr aus … Dünne gekräuselte Strähnen, an denen er schnüffelt wie eine Dogge. Er ist lächerlich, dämonisch, triefend vor Schweiß … Er klatscht ihr auf den Hintern und schreit: »Ich glaube an das Mädchen, ich glaube an dieses gottverdammte Mädchen …« Dann, ohne von ihr abzulassen, streckt er Guyot seinen zitternden Finger entgegen, untermalt die Geste mit dem zärtlichen Augenzwinkern eines Rockers und erklärt ihm in sanftem, väterlichem Ton: »Aber ich will auch in dir wachsen, Alexandre.« Sollte er wieder Felicium nehmen? Oder Deroxat? Warum nicht sogar Lithium oder Elektroschocks? 131
Konnte man in diesem Fall von einer nervösen Depression sprechen? Oder war er vielleicht Opfer einer jener – immer unheilbaren und unerklärlichen – Hirnschädigungen, die in französischen Fernsehfilmen oft des Rätsels Lösung waren? Wie ließen sich diese Qualen bloß lindern? Die Geister zum Schweigen bringen? Die Halluzinationen bezwingen? Und vor allem »Wie sagt man’s?«, begann Guyot wieder von vorn, wie ein abgesoffener alter Motor, wenn man vergeblich den Anlasser betätigt … Er fühlte sich, zu Recht, völlig ineffizient. Die meisten laufenden Vorgänge kamen kaum voran. Schlimmer: Sie blieben stecken. Und eine Begegnung mit den Kunden erschien ihm unvorstellbar: Was sollte er ihnen verkaufen? Was sollte er ihnen sagen? Er hatte nicht die geringste Idee. Mit den Füßen auf dem Schreibtisch, erklärte er sich für inkompetent. Nicht einmal imstande, sich auch nur einen Moment auf die – eigentlich anregende – Lektüre eines nur ein paar Seiten umfassenden Berichts zu konzentrieren, der für die großen Firmen bestimmt war und die durchschlagenden Erfahrungen von Tante-Emma-Läden beschrieb (»Arabs round the Corner: They Are Smarter than Ever«). Was war denn nur mit seinem legendären Arbeitsvermögen passiert? Seine fachliche Kompetenz vegetierte woanders vor sich hin, eingeschlossen in einer geheimnisvollen Zone seines Hirns. Und völlig gleichgültig gegenüber seiner Verlassenheit …
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Als die Mittagszeit herankam, mied er das Gewühl in der Kantine und drückte sich stattdessen an der Wand entlang zum Fastfood-Automaten. Für 1,50 Euro leistete er sich einen Bagel in Zellophan, der mit Pastrami, Cornichon und gepfeffertem Coleslaw voll gestopft war und den er schlapp und lustlos an seinem Schreibtisch verdrückte: kleine, schleimige Bissen, heruntergespült mit Cola Light. Dann, genau um »14: 15; 103,4 Euro« – ein Sturz um »5,5 %«, registrierte er –, stopfte er ein paar Blätter in eine Klarsichthülle und verließ unauffällig das Gebäude: Gleich würde die Verwaltungsratssitzung beginnen. Sie fand am Firmensitz statt – also bei ihm in der Rue de Bassano. In einem extra dafür vorgesehenen Raum neben dem Wohnzimmer. Unterwegs blieb er an einem Kiosk stehen und kaufte die Sonderausgabe von Le Monde, die über sechs Spalten »Das Jahr 1 einer neuen Ära« versprach. Er überflog den langweiligen Kommentar von Jacques Attali, der den Begriff »Marktindividualismus« – so der Schnarchtitel seines Buches bei Plon – bis auf den Kern zerpflückte. Weiter hinten diskutierten Bernard-Henry Lévy und Alain Minc als freie Geister über die Nachhaltigkeitsbedingungen des Neuen Individualmarktes: »Welche Regularien für welche Gouvernarien?« »Das sind die großen Fragarien«, schimpfte Alexandre in seinen Viskoseschal. Auf der nächsten Seite entwarf ein Artikel die Hagiographie von Hélène Vidalet-Coudert, die für ihr gerade erschienenes Handbuch »Stressfrei an die Börse: Einfache Methoden für ein ehrgeiziges Projekt« heilig gesprochen wurde. Und er glaubte zusammenzubrechen, als er auf der Mittelseite das Farbfoto von Kellerman und Graham – Arm in Arm – 133
entdeckte, mit der süßlichen Unterschrift: »Chef und Angestellte: Auf dem Weg zu einer neuen Interessenkonvergenz?« An der Ecke zur Avenue George V warf er das Käseblatt in den Müll. Dann packte ihn plötzlich ein zweifacher Krampf, der ihn bis zu seinem Hauseingang nicht mehr losließ: ein unbezwingbares Verlangen zu pinkeln und zu heulen. Aber keine Tränen. Immer noch nicht. Nur zwei kleine, ausgetrocknete Augen. In seiner Wohnung angekommen, raste er zur Toilette: Der kräftige Strahl erleichterte ihn und brannte gleichzeitig in der Harnröhre. Sein Blick fiel auf sein von der Kälte gerötetes Gesicht im Spiegel. Wirklich ein abstoßender Schädel – ein abstoßendes Krankengesicht. Plötzlich meinte er die Stimme seiner Mutter zu hören: »Alexandre, bist du da, mein Großer?« Er schlug sich an die Stirn wie ein wütender Mopedbesitzer, der seinem fahrunwilligen Gefährt einen Tritt verpasst. Du drehst durch, sagte er sich, du drehst total durch. Und wieder hörte er deutlich, direkt hinter der Tür: »Alex, bist du da, mein Lieber? Wir warten nur noch auf dich …« Beim Rauschen der Spülung riss er sich endlich von der Toilette los, und da stand sie, in Fleisch und Blut, die zarte kleine Mama. Jeden Tag ein Stückchen mehr geschrumpft, kam ihm vor, aber sie war es, sie selbst, im prächtigen Witwengewand. Er umarmte sie lange, drückte sie, ohne ein Wort zu sagen. Eine höchst seltene Regung, die seine Mutter in leichtes Erstaunen versetzte. Das Gesicht an ihre Schulter geschmiegt, hatte er Lust, die schlaffe Haut an ihrem Hals abzulecken. Diese hängende, leicht geäderte Haut, wie zartes, weiches, durchsichtiges, in den Regenbogenfarben schimmerndes Carpaccio. Und für ein paar Sekunden noch fühlte er sich geborgen. Beschützt vom 134
unbezwingbaren Hauch eines waldigen Parfums. Ein Männerparfum, das Parfum des Vaters, das sie weiterhin trug. Unveränderliches Ritual: ein paar Tropfen hinter jedes Ohr, eine Träne auf den Brustansatz, dann das Kreuzzeichen vor dem großen Spiegel. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, mein Liebling?«, fragte sie, als er sich endlich aufrichtete. »Du siehst ein bisschen …« »Müde«, unterbrach er sie. »Ich seh müde aus und bin’s auch. Also nicht weiter erstaunlich, stimmt’s?«, erklärte er großspurig. Die Mutter betrachtete ihn mit jenem undurchsichtigen, bohrenden Blick, den er wie früher mit Zaubersprüchen zu bannen versuchte. Wenn er als kleiner Junge unbedingt eine Schandtat verbergen wollte, stellte sie ihn auf die Probe, indem sie ihm befahl, sie anzusehen – »in die Augen«. Jahre später, und selbst als eingefleischter Kartesianer, war Alexandre immer noch von ihren hellseherischen Fähigkeiten überzeugt. Mit der Zeit hatte er gelernt, Leere in sich einziehen zu lassen. All seine Gedanken in einem schwarzen Loch im Gehirn verschwinden zu lassen, und diesen Mechanismus aktivierte er instinktiv bei jedem Versuch mütterlicher Telepathie. »Bist du sicher, dass sonst nichts ist?«, drängte sie. »Sicher. Mach dir keine Sorgen, Mama.« »Und um wen sollte ich mir sonst welche machen? Du bist alles, was ich habe!« »Ja, alles, was du hast, Mama. Buchstäblich …«, amüsierte er sich. »Du bist mir ein Komiker! Das warst du schon immer, ein echter Komiker … Schon als kleiner Junge. Ein Clown, ein Äffchen, sagte dein Vater immer.« In Traurigkeit versinkend, streichelte sie seine Wange. »Gehen wir?«, unterbrach er sie rasch. 135
»Ja, ja, mein Liebling. Alle sind schon da. Ich habe Marmorkuchen und Nussbiskuits mitgebracht. Und Tee und Kaffee habe ich auch gekocht. Komm, sie erwarten dich.« Als Alexandre den Raum betrat, war er schockiert über die Armee finsterer Mienen, die ihm, um den Resopaltisch versammelt, entgegenblickten. Sein Verwaltungsrat sah nicht eben zufrieden aus. Links bohrte Maître Boyden mit dem kleinen Finger in seiner Ohrmuschel. Innerhalb des Rates war er die »unabhängige Persönlichkeit, anerkannt für ihre Integrität und/oder Kompetenz«, wie es in den gewundenen Vorgaben der Durchführungsbestimmungen hieß. Dicht beieinander saßen rechts Michael Pitt, Vertreter der angelsächsischen Pensionsfonds, Hubert Ouaknine, Delegierter der französischen institutionellen Anleger, und der furchterregende Tarn N’Guyen, der gemeinsam mit Alexandres Mutter die Interessen der Privatanleger zu wahren hatte. »Guten Tag Ihnen allen und ein gutes Neues Jahr. Danke, dass Sie zu dieser ersten Verwaltungsratssitzung gekommen sind«, begrüßte sie Guyot und nahm auf einem Drehstuhl Platz. Das Ausbleiben jeglicher Reaktion der Verwaltungsratsmitglieder ließ ihn erstarren. Sogar Maître Boyden schien seinem Blick auszuweichen. Einen Moment fragte er sich, ob er noch ein einziges Wort hervorbringen würde. In seiner Kehle brannte die Säure des Pastrami. Der ganze Stress des Vormittags hatte seinen Körper beträchtlich geschwächt, er fühlte sich schlottrig und gebeugt, wie am Beginn einer ordentlichen Grippe. Mühsam sammelte er seine letzten Kräfte und fing an:
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»Gut, ich beginne also mit einem kurzen Leistungsbericht und fahre dann mit der Festlegung meiner Halbjahresziele fort. Seit dem 23. November, dem Datum meiner Notierung, habe ich bei McKimen greifbare und anerkannte Ergebnisse erzielt. Dank der optimierten Verwaltung meines Kundenportefeuilles ist es mir gelungen, in weniger als zwei Monaten drei neue Aufträge zu akquirieren. Überdies habe ich vorausschauend beschlossen, mich auf einige Großkunden zu konzentrieren, die traditionell in den Händen unserer Hauptkonkurrenten sind. Diese Bemühungen haben Früchte getragen, denn der Auftrag für die Internationalisierung von Hyper-Z ist schließlich an uns gegangen, auf Kosten von Bent & Co., obwohl Letztere dem Unternehmen sehr nahe stehen. Neben diesen glänzenden operationellen Ergebnissen kann ich berichten, dass sich meine Integration in das Pariser Team von McKimen ganz selbstverständlich und in einer außerordentlich kollegialen Atmosphäre vollzogen hat. Meine Moral schwankte in einer Spanne zwischen ›gut‹ und ›sehr gut‹, und ich hatte im Berichtszeitraum keinerlei medizinische Probleme. Ich will auch erwähnen, dass sich bis zum heutigen Tag keine relevante Beziehung angedeutet oder entwickelt hat. Was meine Perspektiven für dieses Jahr angeht, so wiederhole ich mein Gehaltsziel von …« »Monsieur Guyot?«, unterbrach ihn rücksichtslos eine Krankenwärterstimme. Tarn N’Guyen am anderen Ende des Tisches durchbohrte ihn mit einem Kamikaze-Blick. Ein erstaunlicher Blick: zusammengekniffene Schlitzaugen. N’Guyen hatte sein ganzes rundes, gelbsüchtiges Gesicht erstarren lassen, das nun in unsichtbaren Harz gegossen schien. Der pingelige Vietnamese, aufgewachsen in der erstickenden Hitze der Reisfelder, war als Vierzehnjähriger nach Frankreich emigriert. Damals, so wollte es die Legende, beschränkte sich sein sprachliches Gepäck auf die Worte »Reis« und »Passport«, 137
die er bis zur völligen Erschöpfung der Beamten ständig wiederholte. Schließlich war das hartnäckige Kind aufgenommen und ernährt worden. Nachdem er locker das naturwissenschaftliche Abitur geschafft hatte (mit einem »Gut«), hatte er sich mit Erfolg der industriellen Gastronomie zugewandt. Als geachteter Gründer der berühmten Feinkostkette Paradis du Nem hatte er die Geschäfte inzwischen seinen vier Söhnen überlassen. Seit nunmehr zehn Jahren widmete er sich ausschließlich der Finanzspekulation, bei der er vor allem die probabilistischen Varianten schätzte. Seine sprichwörtliche Beharrlichkeit und seine unverhüllte Begeisterung für die schikanösen Methoden der Inquisition hatten ihn zum Tribun der Kleinanleger gemacht, die er in einer Vielzahl von Verwaltungsräten mit Bravour vertrat. Immerhin regten sich seine Sehschlitze jetzt wieder. Wie winzige Vulven in orgiastischen Zuckungen. »Monsieur Guyot?«, wiederholte er. »Das ist alles sehr interessant, aber … Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« Alexandre erwartete eine süffisante Frage zu seinem ausgedehnten Urlaub. Die Antwort war bereit, die Argumentation geschliffen. »Selbstverständlich, Monsieur N’Guyen. Nur zu, ich bin hier, um Ihnen zu antworten.« »Sehr gut. Könnten Sie uns also sagen …« Er zog ein gefaltetes Magazin aus seinem Diplomatenkoffer und schwenkte es vor Alexandre wie ein Polizist, der ein Beweisstück vorlegt. »… wer Claire Revillon ist?« Das Schwarz-Weiß-Foto von dürftiger Qualität war aus der Vogelperspektive aufgenommen: das Standbild einer Überwachungskamera. Zwei Personen in einem Flur. Sie vornweg, eine 138
Haarsträhne zurückstreichend. Die unscharfen Konturen ihrer Gestalt in grauem Sfumato, ihr geisterhafter Körper in seiner Lumineszenz überrascht. Und dahinter er, voluminös und idiotisch. Ohne Begeisterung im Kielwasser der Anmut; er hielt den Kopf gesenkt, aber das Profil war leicht zu identifizieren. Alexandre erkannte die Dreizackverzierungen des Hotel Meurice an der Wand. Kochend heiß stieg ihm das Blut in Schläfen und Nacken. »Claire Revillon ist eine alte Bekannte«, brachte er aufs Geratewohl hervor. »Sie lügen, Guyot!«, fiel ihm N’Guyen brutal ins Wort. »Dieses Foto wurde im November aufgenommen … Madame«, wandte er sich an die Mutter, »ein solches Verhalten grenzt an Betrug. Ich bitte Sie, Ihren Sohn zur Vernunft zu bringen. Hunderte Aktionäre erwarten eine Erklärung von ihm.« Alexandre suchte Boydens Blick. Einen möglichen Halt. Vergeblich. Nichts zu machen. Der Alte blickte konzentriert auf den mausgrauen Lampenschirm. Dann wandte er sich zu seiner Erzeugerin um: blass wie Velinpapier. Sie schien die Aufforderung des Vietnamesen ziemlich schlecht aufzunehmen. Dann zitterte ihr Mund. Ihre Lippen öffneten sich. Sie ergriff das Wort in einer bleiernen Stille, wie sie den grausamsten Urteilen vorausgeht. »Alexandre, mein Sohn … In deinem eigenen Interesse – und in dem deiner Aktionäre … Ich flehe dich an, besinn dich und sag uns die Wahrheit!«
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13 Estelle Dupuis setzte eine zierliche, schildpattumrandete Brille auf, schlug ihre grazilen Beine übereinander und las laut vor: »Alexandre Guyot I. G. – Pressemitteilung Paris, den 7. Januar Die Alexandre Guyot I. G. weist darauf hin, dass der in ihrem Prospekt gebrauchte Terminus ›relevante Beziehungen‹ in der eingeschränkten Bedeutung zu verstehen ist, zu der die anzuwendenden Bestimmungen ermächtigen. Im Bemühen um Transparenz und als Reaktion auf die gestern in der Wochenzeitschrift Voici (Prisma-Presse-Gruppe, Nr. 1208) veröffentlichten Informationen erklärt Alex Guyot I. G., eine Beziehung zu Mademoiselle Claire Revillon unterhalten zu haben. Allerdings wurde diese Beziehung einige Wochen vor dem Börsengang endgültig abgebrochen. Der Tod von Mademoiselle Revillon am 12. Dezember letzten Jahres hatte keinerlei negative Auswirkungen auf Leistung und Moral von Alex Guyot I. G. Zum Zeitpunkt des Geschehens ist zwar ein kontrolliertes Gefühl der Traurigkeit aufgetreten, aber es sind keinerlei Veränderungen im psychischen Zustand und den operativen Zielen der Individualgesellschaft zu erwarten.« »Gut, wenn alle damit einverstanden sind, schicke ich sofort ein Fax an Reuters. Die Information wird morgen früh in den ersten Nachrichten gesendet.« Tarn N’Guyen erhob sich wortlos und verließ den Raum, dicht gefolgt von den Herren Pitt und Ouaknine, die sich ebenfalls zu keinem Gruß herabließen. Es war »22:46; 101,1 Euro«, ein Absturz um »7,6 %« bei Börsenschluss. Die Verwaltungsratsmitglieder hatten mehr als
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acht Stunden geschlossene Sitzung hinter sich. Ganz auf die Bewältigung der »Revillon-Krise« konzentriert. Nach Alexandres wirren Erklärungsansätzen war die Kommunikationsberaterin zu Hilfe gerufen worden. Estelle Dupuis war die einzige, die trotz der späten Stunde und der miserablen Stimmung noch das blühende Lächeln einer Karmeliterin zeigte. Ein paar Minuten zuvor hatte N’Guyen noch schroff und mit einem asiatischen Akzent, in dem die Nasallaute plötzlich sehr ausgeprägt waren, gesagt: »Betrachten Sie dies als erste und letzte Warnung.« Dann war er in einen Zustand meditativer Gleichgültigkeit versunken, wie auf der Suche nach irgendeiner langmütigen, gefiederten Gottheit. Wohl die Abwandlung eines obskuren Stammeskults, hatte Guyot vermutet, als er den Vietnamesen beobachtete. Jedenfalls hatte dieser bis zu seinem bitter enttäuschten Aufbruch nicht mehr die geringste Reaktion gezeigt. »Was für ein Tag, ach was für ein Tag!«, seufzte die Mutter und wischte die Kuchenbrösel zusammen. »Es hätte viel schlimmer kommen können«, besänftigte Boyden und streichelte seine Krawatte. »Ich habe Tarn N’Guyen schon um einiges verbissener erlebt.« »Und schließlich sind Sie um weniger als 10 % abgestürzt, Alexandre«, bestätigte Estelle. »Angesichts des Berichts der Société Générale heute Morgen und der Voici-Fotos am Nachmittag halten Sie sich sogar eigentlich noch ganz wacker …« Guyot schwebte seit ein paar Stunden in der illusionslosen Betrachtung seiner selbst – ein Blick in die Tiefe. Der Blick eines ruinierten Geists, der aus dem eigenen Körper vertrieben war und diesen von der Decke aus, notdürftig an den Kronleuchter geklammert, betrachtete. Wie auf einer jener
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Astralreisen, die Coeque an gewissen Abenden zu unternehmen behauptete, »wenn der Wodka gut ist und der Magen durchhält«. »Es bedeutet mir sehr viel, dass Sie alle so lange geblieben sind«, sagte er sorgfältig artikulierend. »Tomorrow is another day!«, trällerte die Mutter in einwandfreiem Handelsschulenglisch und griff mit spitzen Fingern nach ihrem abgewetzten pelzgefütterten Mantel. »Ja, Zeit für uns, Sie endlich in Ruhe zu lassen«, erklärte Boyden. »Ruhen Sie sich aus, Alexandre. Schlafen Sie mal richtig aus. Und machen Sie sich vor allem nicht verrückt. Der Markt hat ein kurzes Gedächtnis, Sie werden sehen. Ich bin sicher, das wird sich alles schnell wieder beruhigen.« Die beiden Weisen verabschiedeten sich. Von hinten sahen sie aus wie ein erschöpftes Liebespaar, das sich gegenseitig stützte. Guyot stellte sich einen Augenblick lang seine Mutter als lustige Witwe vor. Wie sie Boyden in unzweideutiger Absicht ein letztes Glas Wein anbot und dann dem Juristen rittlings die Unschuld raubte. Kurz überwältigte ihn ein Ekelgefühl – ein Rückfall in den Ödipus … Estelle Dupuis stand noch in der Tür. Eine schlanke, flammende, erschöpfte, statuenhafte Silhouette. »Ich werde auch gehen«, hauchte sie und schlüpfte in ein kurzes Astrachanjäckchen. »Danke für alles, Estelle, wirklich! Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Eine banale Geste der Dankbarkeit, die sie dennoch beide verwirrte. Ein paar Sekunden verharrten sie so, Auge in Auge, versteinert in ihrer seltsamen Haltung. Kosteten die Süße dieser unerwarteten Berührung aus. Begehren? Eigentlich nicht. Oder vielleicht … »Nichts zu danken, Alex. Das ist mein Job. Sie bezahlen mich schließlich dafür«, brach sie den Zauber. 142
Sie ging auf die Wohnungstür zu, und als er ihr folgte, während sie durch den Raum schritt, jedes Möbelstück streifend, überfiel Alexandre plötzlich die Lust auf sie – eine bestialische Lust. Ein gebieterisches und unvorhergesehenes Verlangen: dieses blonde, in seinem Pelz dahingleitende Etwas zu besitzen. Der letzte Koitus?, rechnete er im Geiste nach. Claire, die Leiche – vor fast zwei Monaten. Das Comeback seiner Libido erfüllte ihn mit einer Mischung aus Scham, Stolz und Ungläubigkeit. So ähnlich wie der Anblick eines sterbenden Großvaters, der im Morgengrauen seines letzten Lebenstags von einer Erektion überrascht wird. Doch diesen Trieb hielt man besser im Zaum: Gleich würde sie nur noch ein begehrenswerter Körper in einem geschlossenen Fahrstuhl sein … Im Treppenhaus drehte sich Estelle langsam noch einmal um: »Und wenn ich darf, ein letzter Rat, Alex.« »Ja?« »Gehen Sie ab morgen ein bisschen aus. Zeigen Sie sich. Und wenn möglich … Nun ja, wenn möglich mit Frauen. Der Markt braucht deutliche Signale. Die Pressemitteilung wird helfen, aber sie wird nicht ausreichen. Wir müssen einen positiven Buzz schaffen und die Investoren beruhigen. Ihnen einen selbstbewussten, dynamischen, verführerischen Guyot verkaufen … Und ihnen konkrete Beweise liefern, dass die Affäre Revillon Sie nicht ernsthaft getroffen hat. Dass Sie sich wohl fühlen in Ihrer Haut, dass Sie mit dem Kopf schon längst bei ganz anderen Dingen sind … Verstehen Sie?« »Vollkommen … Apropos, was haben Sie morgen Abend vor, Mademoiselle Dupuis?« Alex war selbst am meisten überrascht über seine plötzliche Kühnheit. Er bemerkte ein Zögern in dem Lächeln auf ihrem Katzengesichtchen. Etwas wie die zarte Knospe einer vagen Alternative. Die Hoffnung wurde größer, schwoll langsam an – 143
wie eine Blase. Und wie diese zerplatzte sie sinn- und geräuschlos: »Ich gehe mit meinem Verlobten essen. Wir feiern unseren zweiten Jahrestag.« Die Fahrstuhltür glitt auf, und Estelle trat in das Stahlgehäuse. Mit dem Rücken lehnte sie sich an den Spiegel und verschränkte die Arme – ätherisch wie eine Ikone. Fast unwirklich in ihrem flaumigen Weiß unter dem Neonlicht. »Tut mir leid, Alex«, sagte sie kaum hörbar. Ihr Mund verzog sich zu einem bedauernden Lächeln. Dann schloss sich die Tür hinter Estelle Dupuis. Eine anständige Frau, die nicht log … Eine Frau mit Charakter, die ihren Typ nicht betrog … Eine Frau, der er gefiel, so viel war sicher. Ein armseliger Trost, aber echte Männer spüren so was … Unter derart abgeschmackten Betrachtungen warf er seine gepanzerte Tür zu. Es war spät. Er war allein. Wo soupierte wohl dieses Miststück von Kellerman? Und mit wem? Zu wessen Ehren? In Gesellschaft welcher mächtigen Persönlichkeiten? Saß sie vielleicht beim Candle-Light-Dinner mit Jeffrey Graham? Feierte sie mit einer Schar von KeyAccount-Kunden? Was für einen Schwindel drehte sie ihnen wohl diesmal an? Und warum war Claire immer noch nicht zurück? Claire, dieser Schatz, dieses anbetungswürdige Kind … Was für Kuriositäten hatte sie beim Shopping noch aufgestöbert? Was war ihr letzter zwanghafter Kauf, ihre jüngste »Entdeckung«? Ein Badeanzug? Jeans? Ein neues, asymmetrisches Top? Nein, nicht möglich, schon wieder ein neues Twinset? Es war spät. 144
Er war allein. Und Claire verfaulte anderswo. Weit weg, sechs Fuß unter der Erde, geschützt vor der Wintersonne.
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14 Sie schenkt sich einen Bourbon ein. Wie in Dallas vor dem großen Krach. Langsam – beinah Tropfen für Tropfen. Sie steht sehr aufrecht und fixiert die Glastür mit dem missmutigen und inspirierten Gesichtsausdruck eines Dramatikers im Exil. Als bildete das Gebäude gegenüber einen glaubwürdigen Horizont. Als könnte es mit seinen vorhangverschleierten Dachfenstern tatsächlich die Seele erheben. Als wäre es ein annehmbares Bühnenbild für dieses improvisierte kleine Lustspiel, das sie sich romantisch wünscht. Unbedingt romantisch. Denn so hat Laurence Kellerman es beschlossen. Ein Schulterzucken und das Kleid fällt zu Boden, enthüllt ihren nackten Körper: eine lange Titanstange mit ein paar Beulen – Wellblech. Auf der Matratze, schon nackt und mit gespreizten Beinen, den schlaffen Schwanz in der Hand, taxiert Guyot die Architektur: absolut nicht sein Geschmack. Laurence dreht sich um. Sie hat siebenunddreißig Jahre hinter sich. Sie ist Consultant, besitzt Diplome, ist qualifiziert: Sie will vögeln. Ihre Brüste sind kümmerlich, asthenisch, von farblosen kleinen Warzen gekrönt. Flach und wie gebügelt – zwei klägliche Waschlappen. Auf ihrer Scham wuchert ein dickes, verfilztes Polster. Eine braune Flamme mit rötlichem Glanz, die sich vom Rektum bis zum Bauchnabel zieht. Sie entfernt ihr Schamhaar nicht, das ist ziemlich abstoßend, wie eine Slipeinlage aus Fuchspelz, aber das kümmert sie nicht: Sie steht zu sich. 146
Denn im Lauf ihres Studiums und ihrer kometenhaften Karriere hat sie ein vollendetes Selbstvertrauen entwickelt. Ein Selbstvertrauen, das sie von allen ästhetischen Dogmen und den üblichen Vorschriften der Leibeswartung befreit. Ein Selbstvertrauen, das sie all den lächerlichen Moden trotzen lässt, die irgendwelche Kosmetikgurus – für Tussis, Ungebildete, Schwache und Beeinflussbare – in den Rang von Hygienevorschriften erhoben haben, während sie tatsächlich bloß alberne Koketterie, Verfälschungspraktiken sind. Also fühlt sich Laurence wohl, wie sie ist. Im Einklang mit ihrer Anatomie: mager/windschief/dicht behaart. Und sie hat das Recht zu fordern, dass ein Mann sie von innen bewegt. Ihre Knöchelchen krachen lässt, die sichtbar sind, vorspringend, spitz oder rund, bebend unter der Haut, gespannt wie das Fell einer Trommel. Einer Haut, die nur noch von Rhythmus und Percussions träumt. Sie steht da – mit lüsternem Blick – und wartet. Wie ist es bloß so weit gekommen?, fragt sich Alexandre. Ausgestreckt auf der Steppdecke, ein Kissen im Nacken. Versteinerter Zuschauer des schmählichen Striptease. Mit einer Hand versucht er weiter seine daniederliegende, von der amazonenhaften Weiblichkeit seiner Kollegin anämisch gemachte Männlichkeit zu stimulieren. Wie ist es bloß so weit gekommen? Kellerman hatte ihn ins Avenue zum Essen eingeladen, gleich nachdem morgens die Presseerklärung zu Claire erschienen war. Laurence hatte erklärt, dieser Selbstmord hätte sie »erschüttert«, obwohl sie der Toten höchstens zweimal begegnet war. Gegen Mittag hatte Guyot schon über 5 % verloren und von neuem – aber diesmal nach unten – die Ploniac so teure 100Euro-Schwelle überquert. Der Markt mochte eindeutig weder Überraschungen noch Presseerklärungen zur falschen Zeit … Im 147
Grunde war der Markt ein hypersensibles Wesen, schnell verstört bei der winzigsten Veränderung seiner unwandelbaren Gewohnheiten, seines Alltagstrotts, seiner Erwartungen. Wahrscheinlich konnte man diesen Markt schon verrückt machen, indem man eine Vase ein Stück verschob oder den angestammten Platz der Butter in der Kühlschranktür veränderte … Nach Laurence waren noch ein paar andere Kollegen in Alex’ Büro aufmarschiert. Mit gesenkter Stirn und dümmlich von einem Fuß auf den anderen tretend. Mit grauen Gesichtern, grauen Krawatten und sepiagrauen Zähnen: »Unser Beileid.« Sonntagabendstimmung – man roch förmlich die Kohlsuppe, den Gemüseeintopf. Alexandre wurde klar, wie Recht Estelle gehabt hatte: Die Presseerklärung reichte hinten und vorne nicht aus, um ihn zu rehabilitieren. Alle glaubten, er trauere um Claire, dabei war er nur ein bisschen verrückt. Ganz sicher ein bisschen verrückt. Und ein kleines bisschen von Gespenstern verfolgt. Am späten Nachmittag, direkt nach Börsenschluss zeigte seine Price Watch »92,2 Euro«. Absturz um »8,8 %«. Die Schlussfolgerung war klar: Der Markt schluckte die Geschichte nicht. So hatte er am frühen Abend schließlich die Einladung von Kellerman (+ 3,8 % an diesem Tag) angenommen. Estelle Dupuis’ Empfehlungen waren sicherlich berechtigt: auszugehen, sich in guter Gesellschaft zu zeigen, sich ausschließlich mit Winner-Typen zu umgeben. Das würde die Investoren schon beruhigen. Und für dieses Rekonvaleszenz- und Selbstvermarktungsessen war Laurence – hatte er zumindest gedacht – die perfekte Tischgenossin: ausgezeichnet bewertet, ein außerordentlich passender Umgang. Lächeln, eine gute Figur machen … Fast ein Arbeitstreffen. 148
»Iss mich!« In gebieterischer Haltung kommt sie auf ihn zu, schlaksig, das Brustbein vorgestreckt, die knochigen Hüften vorgeschoben. Alexandre, schweißgebadet, fragt sich voller Schrecken: Wie ist es bloß so weit gekommen? Er ändert den Griff um seinen schlappen Schwanz, wie ein abgeschlagener Rennfahrer, der all seine Hoffnungen auf den nächsthöheren Gang setzt. Als sie gegen 21.30 Uhr die Avenue François Ier hinuntergingen, hatten Alexandre zwei Beobachtungen beunruhigt: zum einen Laurences aufreizendes Verhalten (tiefschwarz umrandete Augen, schrilles Lachen, D&GAbendkleid im leuchtenden Rot einer zum Todesstoß einladenden Muleta), zum anderen eine Gruppe von Paparazzi an der Kreuzung zur Rue Marignan. Alexandre packte die Angst. Wenn sie so eingehakt durch die Nacht schlenderten, könnten sie durchaus den Eindruck erwecken, sie hätten sich zusammengetan. Und das ging weit über die lächelnde Geselligkeit hinaus, die er für sein gesellschaftliches Comeback zur Schau stellen wollte. Obwohl ihm die Rüpelhaftigkeit dieser Geste wohl bewusst war, wählte er Coeques Nummer und bat ihn – ohne Laurence auch nur zu fragen –, sobald wie möglich zu ihnen zu stoßen. Als sie ihn diesen ungehobelten Vorschlag machen hörte, hatte Laurence zunächst ungläubig ihren Schritt verlangsamt, dann war sie schneller gegangen und ein paar Meter vor ihm hergelaufen. Zu Recht gekränkt … Aber Guyot bedauerte nichts: Die zweideutige Situation musste schnellstens geklärt werden, mittels einer klassischen Triangulation, auch »der lachende Dritte« genannt. »Du wirst mich fressen, du wirst dich satt essen«, befiehlt sie und kommt immer näher. 149
Nicolas Coeque war gegen 22 Uhr bei ihnen im ersten Stock des Restaurants eingetroffen. Hatte mit gierigem Blick »keinen Hunger« gebrummt und sich direkt auf die Flasche Brouilly gestürzt. Laurence, die von Herzen schmollte, ließ sich in ordentlichem Tempo voll laufen. Dann hatte sich Coeque, dank seiner ausreichend angeregten Leber in Fahrt gekommen, in nebulöse geopolitische Betrachtungen gestürzt: Chinas unabwendbare Vorherrschaft, die Pflicht, im Pulverfass Kaukasus einzugreifen, die skandalöse Gleichgültigkeit der Mächtigen gegenüber dem Süden Afrikas … Um sie herum stellte die Fauna der Stammgäste ihre wohlhabende Genealogie zur Schau. Eine uralte, perfekt geschmierte Nahrungskette: botoxgeliftete Megären mit (aus Geschäftsgründen) verstorbenen oder (aus Geschäftsgründen) abwesenden Gatten behielten mütterlich ihren operativ verschönerten Nachwuchs im Auge, der – an die Bar gelehnt oder manchmal (wenn Geburtstage und/oder der Friedhof näher rückten) auch an ihrem Tisch – aus den Augenwinkeln auf die Ankunft potentieller Erzeuger lauerte, die vorzugsweise aus der Horde der Sänger/Schauspieler/ Moderatoren-Produzenten ausgewählt wurden. Und dann gab es natürlich noch die großen Tischrunden von Führungskadern – höheren Führungskadern. Männchen und Weibchen, die meisten von ihnen börsennotiert. Gruppen von geschulten, lächelnden, herausgeputzten, vom Echo ihres eigenen Scharfsinns entzückten Schwätzern. Kaum war der Serramschinken mit Melone nach Art des Hauses serviert, hatte sich Coeque auf das verminte Gelände des Islam und des Neoterrorismus gewagt. Nach einer nie gehörten Auslegung des Korans, auf deren Grundlage er – zwischen zwei Attacken von gastroösophagealem Reflux – wieder einmal behaupten konnte, die »zyklische Zeit« der gemeinen Sarazenen stehe in radikalem Gegensatz zur »linearen Zeit« der fortschrittlichen christlich-jüdischen Kultur, war Coeque auf 150
seine subjektive Wahrnehmung – »selbst erlebt«, wie er sagte – der tragischen Ereignisse vom 11. September 2001 zu sprechen gekommen. Damit nahmen seine nebulösen Darlegungen eine sehr schlechte Wendung. Denn sein »Erlebnis« war von den vier damals konsultierten Therapeuten einstimmig als »traumatisch« qualifiziert worden: Walters & May, sein damaliger Arbeitgeber, eine prosperierende Maklerfirma im 58. Stock des Südturms, die sich auf Kreditderivate spezialisiert hatte, war mitten ins Herz getroffen worden. Zweihundertvierzehn Angestellte waren umgekommen. Sie waren alle auf ihrem Posten gewesen – ein FrühaufsteherJob eben. In den Geschäftsräumen der Londoner Filiale, wo Nicolas Coeque seinerzeit residierte, herrschte vor den riesigen Bildschirmen, auf denen sich die unglaublichen Bilder in Endlosschleife wiederholten, eine verheerende Trostlosigkeit unter den Angestellten. Feierlich versammelten sie sich in dem zur Kapelle umgewandelten Speisesaal, um gemeinsam inbrünstig zu weinen. Gleichgültig welcher Religion, beteten sie in allen möglichen Sprachen für das Seelenheil der im Kampf gefallenen Trader. Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe hatte ein anteilnehmender Manager allen, die es wünschten, gestattet, sich den Tag frei zu nehmen. So viel Fürsorglichkeit hatte Coeque tief erschüttert. Endlich eine echte Firma, eine Firma mit menschlichem Antlitz, in ihren Dramen zusammengeschweißt wie eine Bruderschaft. Mehr als eine Kultur: ein mitfühlendes Unternehmen. Achtundvierzig Stunden später war Coeque kurz und bündig entlassen worden – in einer dreizeiligen E-Mail. Rausgeschmissen »wie der letzte Dreck«, um den geläufigen Ausdruck zu gebrauchen. In weniger als einer Viertelstunde war sein Büro geräumt, gesäubert und desinfiziert; bereit, den nächsten krawattentragenden Märtyrer aufzunehmen. 151
Dieser Stiefel auf den Hoden seines Egos, die ob der jähen Enttäuschung seiner hochfliegenden Ambitionen schon blau angelaufen waren, hatte ihn endgültig in die Pfütze von Alkohol und Soda geworfen. Deshalb konnte sein Gerede an diesem Abend nur eine schlechte Wendung nehmen … »Das ist gut!«, ruft Laurence und zeigt auf ihre überwucherte Vulva. Wie war es so weit gekommen? Wie? Dann hatte Coeque mit offenem Hemd und kreisendem Zeigefinger angefangen, die Gäste zu belästigen, die nichts anderes wollten, als in Frieden abzustumpfen. Und das letzte Kapitel seines Orakels – nicht ohne Poesie – lautete etwa so: »An diesem schöne Septembernachmittag, an dem die beiden Türme eingestürzt sind, hätte ich besser noch mal Fritten bestellt, Laurence.« (Beharrlich wandte er sich speziell an sie.) »Es wär auch besser gewesen, wenn ich mir im Speisesaal den Bauch voll geschlagen und den Rabatt für den nicht verkauften Braten ausgenutzt hätte. Denn der sonst immer überlaufene Rotisserie-Stand war an diesem Tag völlig verlassen. Weil an diesem Tag, Laurence, irgendwo im Südturm meine Kollegen schmorten – buchstäblich geröstet wurden. Während im selben Augenblick in London, in einem schön klimatisierten Büro, irgendeine dauergewellte lesbische Tussi in der Personalabteilung mein Todesurteil unterzeichnete. Auch mich zu schmoren beschloss. Hopp hopp: Ab auf den Rost! Wie die Kollegen in Manhattan! Gleichheit! Bloß kein Neid! Weißt du, Laurence, ich hätte mich an diesem Tag auch besser im Pub besaufen sollen, wie die anderen Ratten. Ich hätte diesen unerwarteten, von Al-Qaida dekretierten Urlaub genauso ausnutzen sollen. Mir eine schöne Zeit machen sollen, statt zu 152
beten wie ein Idiot – bescheuert solidarisch. Nicht, dass mir das Leid der Familien egal wär, Laurence. Überhaupt nicht, im Gegenteil. Aber ich lass ihnen ihren Schmerz. Er gehört ihnen, Laurence. Mögen die Ihren in Frieden schmoren. Und mögen sie selbst unbeschwert weinen, ohne dass sich irgendwer einmischt. Weil die Wahrheit, Laurence, die Wahrheit, die keiner hören will, ist doch, dass sich keiner einen Dreck um die Tausende Opfer im World Trade Center geschert hat oder heute noch schert! In Wahrheit hat doch jeder an diesem Tag – und an allen folgenden – so viel gegessen, wie er Lust hatte. Und die ganze Menschheit hat sich, mal ganz offen gesagt, noch nie so wenig gelangweilt.« (Er trank seinen Rotwein aus und stellte das Glas klirrend auf den Tisch). »Aber ich, Laurence, ich sag dir Folgendes: Die, die nicht geschmort wurden oder einen von den Geschmorten näher gekannt haben, sollen gefälligst still sein. Ein für alle Mal still sein. Die, die nicht einen von diesen geliebten Freibankfleischklumpen aufgezogen, geliebt, verhätschelt, gevögelt haben, sollen so anständig sein, ihre dreckigen Schnauzen zu halten. Sie sollen uns verschonen mit ihren bekümmerten Gesichtern, ihren aufdringlichen Flurnachbarmienen, ihrem Entsetzen über den Schlamassel mit dem verkohlten Fleisch. ›Ja, gute Frau, der Schmorbraten ist ja ganz verbrannt. Ja, wirklich, das ist sehr ärgerlich!‹ Aber was geht mich das an, Laurence? Na? Was geht mich das an? Die sollen gefälligst alle gleichgültig sein – wie sich’s gehört. Aufhören, um Opfer zu weinen, die sie nicht kennen. Opfer, die selbst – inzwischen, wie gesagt, gründlich geschmort – wahrscheinlich überhaupt nicht scharf darauf sind, dass völlig Unbekannte an sie denken. Nicht mal Augenzeugen: bloß Journalisten, elende Schreiberlinge. Die kollektiv schmollen, dass sie nicht an Ort und Stelle waren, um wie die anderen geschmort zu werden und dabei ein paar inspirierte Sätze aufzuschreiben, mit denen sie – endlich! – ›das Unsagbare 153
sagen‹ können. Aber wen interessiert das, Laurence, ob sie uns ›das Unsagbare sagen‹ oder nicht sagen können? Ob sie uns ›das Nichterzählbare erzählen‹ können oder nicht? Na? Wen interessiert das? Also, ich sag’s dir, Laurence: Die Empathiker vom Dienst sollen uns mit ihren Jeremiaden verschonen. Denn Empathie gibt’s nicht, hat’s nie gegeben. Es haben sich bloß Millionen von Menschen, die niedergeschmettert vor ihren Fernsehern hockten, davon überzeugt, dass sie selbst knapp dem Tod entronnen sind: ›Wenn ich dran denke, dass wir gerade erst über ein Weekend in New York geredet haben!‹ Weinerliche Ehefrauen haben sich vorgestellt, dass ihre übereifrigen Macker (›er, der so gern früh zur Arbeit geht!‹) beinah auch in ihren kümmerlichen Labors geschmort hätten. Und alle haben um die von ihren Arbeitgebern gebauten Bürotürmchen gezittert (›Diese Dreckskerle können sich genauso gut an unserem Firmensitz vergreifen!‹) Ich sag dir eins, Laurence: ›Nine Eleven‹ hat Schwung in das flaue Drehbuch unserer kleinen Existenzen gebracht! Ich sag dir eins: ›Nine Eleven‹ hat dem versauerten, verfetteten, unbefriedigten Volk geholfen, seine finstere Lage zu re-la-ti-vie-ren: ›Unglücklich, aber nicht verschmort!‹ Nur eins noch: ›Nine Eleven‹ hat den Planeten in der – übrigens völlig absurden – Gewissheit bestärkt, in einem New Yorker Bürogebäude geschmort zu werden sei ein schlimmeres Schicksal als sich ein Leben lang bei der Arbeit abzurackern, Essen zu kochen, Geschirr zu spülen, sauber zu machen, die Rasselbande in Fontainebleau spazieren zu führen und auf den Weihnachtsmann und vielleicht eine Beförderung zu warten. Aber ich sag dir, ich sag’s dir noch mal, Laurence: Um die Opfer des 11. September 2001 hat sich kein Mensch geschert und schert sich immer noch keiner. Das kann ich umso eher 154
sagen, als ich selbst einer davon bin. Verkohlt, karamelisiert, aber noch nicht ganz verblichen. Und ich garantier dir, Laurence, dass sich keiner einen Dreck drum schert. Also mir – und vielen anderen – hat’s im Grunde leid getan, dass im folgenden Jahr zum selben Datum nichts Spektakuläres passiert ist. Ein nettes verlängertes Weekend wär doch drin gewesen …« Am Ende hatte Coeque noch einmal zusammenfassend mit der Zunge geschnalzt. Und Laurence Kellerman war mit aufgelöstem Gesicht und grüngrauem Teint zur Toilette gestürzt und hatte sich dabei einen Absatz abgebrochen. Denn der besoffene Freund wusste eines nicht: Joseph Kellerman, Laurence’ Onkel väterlicherseits, Exekutivdirektor von Kantum Fingerton, war bei dem Drama tatsächlich verschmort, zusammen mit seinen beiden Söhnen. Ihren lustigen Cousins Scott-Adam und Kevin, die bei ihrem Vater ein Praktikum machten und am selben Bratspieß steckten. Von Alex über seine morbide Taktlosigkeit aufgeklärt, zog Coeque es vor zu verschwinden. Mit einer letzten Empfehlung hatte er sich verabschiedet: »Deine Laurence ist heiß, so viel ist sicher. Wenn du mich fragst: Du solltest sie flachlegen!« »Du wirst meine große Muschikatze gut füttern …« Ihr Ton wird drohend. Ihre Kniescheiben streifen den Rand der Matratze. Wie zum Teufel ist es so weit gekommen? Nach zwanzig Minuten Warten hatte Alexandre seine guten Manieren zum Teufel geschickt und war in die Damentoilette gegangen. Dort kniete Laurence in ihrem zerknitterten Prinzessinnenkleid, den Kopf halb im Emaillebecken, das sie mit halb zerkauten Melonenstückchen und Schinkenkügelchen 155
gesprenkelt hatte. Kellerman hatte nicht gelogen: Sie konnte wirklich kotzen vor Stress. Vor Stress und Kummer – for real kotzen. Dieses anstößige Bild – sie zu seinen Füßen, elend, in ihrer eigenen Kotze, und er aufrecht, riesig, nüchtern und makellos – machte sie in seinen Augen plötzlich viel begehrenswerter. Eine schlüpfrige, mächtig erotische Anstößigkeit. In diesem Moment hatte er gewusst, dass er sie zu einem letzten Glas Wein zu sich nach Hause einladen würde. »Du wirst mich schön überall lecken, ja?«, befiehlt sie und kauert sich mit gespreizten Schenkeln, wie eine Ente, auf die Bultex-Matratze. Here we are, stellt Guyot fest und verzichtet darauf, eine überzeugende Erklärung zu finden. Vor ihm kommt das feindliche Gebüsch in kleinen Sprüngen näher und näher. »Streck dich aus, Baby. Ich komm auf deinen schönen Mund.« Mechanisch folgsam legt er sich flach auf den Rücken. Plötzlich schwingt sich Kellerman ungeduldig auf ihn, umklammert mit den Schenkeln seinen gelähmten Oberkörper und bringt ihre schwächlichen Knie in seinen Achselhöhlen unter. Über seinem Gesicht, einige Zentimeter über seiner Nase tanzt das behaarte Monster – verkümmert und runzlig. Aus dieser Nähe ahnt er das dunkelrote Fleisch zwischen den Haarbüscheln. Die großen hängenden Lippen, fleischig und gezackt wie ein Truthahnkamm. Die kleinen, stärker verjüngt, körnig – man ahnt die qualvolle Reizung – sind zusammengezogen wie der beleidigte Flunsch einer alten Jungfer. Das Ganze verströmt Schwefelgeruch.
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Eine Erinnerung blitzt in ihm auf … An einen brennenden, vulkanischen, aufgeschlitzten Felsen – geschichtet wie Blätterteig. Santorin. Eine Reise mit Claire vor zwei Jahren. Die Kraft, die er auf dem Gipfel der steilen Felsen verspürte. Die abgestuften Lehmtöne in der Nachmittagssonne. Claire streckt sich, kämmt sich, lächelt und … Und plötzlich, mit einem Röcheln, stürzt Laurence auf seinen Mund nieder. Ihre Vulva erstickt ihn, versperrt seine Atemwege. Verbreitet Muff und Pestgestank. Stärkemehlgeruch – womöglich Tapioka. Ohne weiter über die Konsequenzen seines Tuns nachzudenken, streckt Alexandre die Zunge heraus und fängt an sie zu lecken – wacker, wie ein ausgehungerter Köter, der seinen Fressnapf ausschleckt. Das Futter ist kochend heiß, aber entsetzlich trocken: kein bisschen Saft. Laurence wird nicht feucht. Zugegeben, er kriegt ihn auch nicht hoch. Aber man hat ja seinen Ehrgeiz, also schlabbert er eifrig weiter – wir werden schon sehen, was passiert: lutscht die Klitoris, knabbert an den elastischen Schleimhäuten, leckt jede Falte mit seiner rauen Zunge, wühlt mit seinem Maul im glühenden Dschungel … Und schon wird die Atmosphäre feuchter im Gestrüpp. Der Geschmack wandelt sich allmählich. Das Fleisch sondert jetzt eine saure, schleimige Substanz ab – saftige Alginsäure. Wie fruchtbare Gülle, die aus dem Dunghaufen sickert. »Kneif mich in den Arsch, Baby!« Er gehorcht resigniert. Während er sich weiter mit der rechten Hand stimuliert, macht er die linke frei und knetet ohne Schwung die harte Spitze ihres Steißbeins. Sie bäumt sich auf – befriedigt. Er erstickt allmählich in den Fängen ihres klebrigen Fleisches. Sie umklammert sein Gesicht mit ihren Schenkeln, dann reißt sie an seinen Haaren – seine Muskeln verkrampfen sich. Von unten gesehen erscheinen ihm ihre Brüste noch erbärmlicher.
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Und die Erektion kommt nicht. Das Blut weigert sich einfach hereinzuströmen. Sie bewegt ihren Arsch mit noch mehr Schwung, leidenschaftlich, hechelnd. Der entfesselten Macht ihrer Gonaden ausgeliefert. Und je stärker sie sich auf diese Weise bewegt, desto mehr verringert sich die Wahrscheinlichkeit irgendeiner Turgeszenz. Alexandre spürt es – er weiß es aus Erfahrung. Jetzt ist er nur noch ein Gefolterter, der unter Zwang an ihr herumkaut. Voll gestopft mit diesem widerlich stinkenden Ragout. Und je stärker sich die Schamhaare an seinen Gaumen pressen, desto eindeutiger fühlt er sich wie ein ausgehungerter Tapir, der mit seinem kurzen Rüssel ganze Kolonien roter Ameisen einsaugt. Oder ein Dachs, überlegt er, der nach dem Gewitter auf der Suche nach Wurzelknollen die nasse Erde durchwühlt … Und fatalerweise geschieht es: Ohne den Druck ihres Geschlechts auf Alex’ entzündeten Mund zu mindern, schleudert sie plötzlich einen Arm nach hinten und beginnt mit ihren scharfen Nägeln seine Rippen zu zerkratzen. Dann setzen die Finger ihren Weg, ihre blinde Suche fort. Sie geht noch stärker ins Hohlkreuz, um die Reichweite ihrer Hand zu erhöhen: Sie will das Tier fangen, den Joystick berühren. Aber Alexandres Schwanz ist immer noch nicht steif. Verharrt in seiner Schlaffheit, scheint sogar noch weiter zu schrumpfen. Wütend schüttelt er den widerspenstigen Schlauch, der zwischen seinen Eiern hängt wie ein Krebsgeschwür im letzten Stadium. Jetzt drückt sie mit der flachen Hand auf Guyots Becken. Zeige- und Mittelfinger werden als Aufklärer vorausgeschickt, suchen tastend nach dem runden Ansatz eines Knüppels. Eines Knüppels, den sie sich dick, pulsierend, prall gefüllt vorstellt. Gekrönt von einer glänzenden, pilzförmigen, fuchsiaroten Eichel mit einer Mündung, drohend wie ein chinesisches 158
Augenzwinkern. Den Schwanz eines hochpotenten Consultants. Aber schon bald treffen ihre feuchten Finger auf andere feuchte Finger. Die von Alexandre nämlich, knorrig, hart wie Klammern. Fieberhaft um seine wurmartige Schande verkrampft. Grob stößt er ihre Hand weg und unterbricht die Zungenschläge. Sie hebt das Becken ein wenig und schimpft das beschämte Kleine-Jungen-Gesicht zwischen ihren Knien aus. »He, Baby, was ist los?« »Ich kann nicht, Laurence, tut mir leid«, flüstert er und rutscht zwischen ihren Schienbeinen hervor. »Aber warum? Warum?«, fragt sie entsetzt. »Ich weiß es nicht, keine Ahnung, okay?« »Du denkst noch an Claire, stimmt’s?« »Bitte, Laurence, nur das nicht … Erspar mir die Küchenpsychologie«, brummt er und lehnt sich an das Kopfteil des Betts. Sie verharrt einige Sekunden, die spitzen Knie in die Matratze gebohrt. Zitternd, mit dem bleibenden Gefühl seiner Zunge zwischen ihren gespreizten Schenkeln. Dann steht sie auf, schenkt ihm einen zärtlichen, mitleidigen Blick. Er wendet die Augen ab, rollt sich mit angezogenen Knien zusammen. Sie zieht ihren Slip an und steigt zögernd in das Kleid, das wie eine kleine Blutpfütze auf dem Boden liegt. »Ich mach dich nicht an, Alex, stimmt’s? Ich bring dich nicht in Fahrt?«, fragt sie mit Kleinmädchenstimme. »…« »Stimmt’s? Du kannst mir wenigstens sagen, ob es das ist …« »Ich hab dir gesagt, dass es mir total leid tut, Laurence. Und damit basta. Ich habe nichts hinzuzufügen, es war einfach …« 159
»Einfach was?« »Einfach ein Fehler. Eine schlechte Idee.« Sie zieht das Kleid an und schlüpft in die Schuhe. Sie schnieft ziemlich oft, aber es ist nicht sicher, dass sie weint. Plötzlich beginnt sie zu glucksen, zu kichern, in hysterisches Lachen auszubrechen. »Was ist denn, Laurence? Findest du das jetzt komisch?« (Sie ringt nach Atem.) »Nur … ein Fehler, ja?« (Das gleiche Lachen.) »Ja, Laurence, ich glaube, dass wir nicht besonders … kompatibel sind«, sagt er etwas bissiger. »Okay, okay, ich hab verstanden. No worries!«, sagt sie gewollt munter und kämmt sich vor dem Spiegel. Sie hebt ihre Handtasche auf, kommt zum Bett zurück, dann beugt sie sich über Alex wie eine Mutter über ihren kranken Sohn. Sie streicht ihm übers Haar und flüstert zärtlich: »Jedenfalls mach ich mir keine Gedanken, Alex. Gar keine. Ich weiß, dass …« »Was weißt du, Laurence?«, fragt er scharf und stößt ihre Hand zurück. »Ich weiß, dass du es bist – das ist alles. Ich weiß, dass wir uns irgendwann doch finden werden.« »Was soll das heißen …?« (»… du Miststück« – er würde gerne »du Miststück« hinzufügen oder irgendeinen anderen Ausdruck mit kathartischer Wirkung.) »Das heißt, dass man so was eben manchmal spürt. Man weiß es und Schluss. Alles kommt einem einfach … logisch vor.« »Ich glaube nicht, Laurence, ich glaube nicht, dass …« »Psst, Baby«, beruhigt sie ihn und legt den Zeigefinger auf den Mund. »Never say never. Du musst dich gar nicht aufregen … 160
Okay, ich gehe. Jetzt musst du erst mal schlafen. Ich glaube, du bist völlig mit den Nerven runter. Du brauchst eine Atempause.«
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15 Am nächsten Morgen war er mit diesem Wort im Kopf aufgewacht: »Atempause«. Nach einer guten Nacht ohne Schlafstörungen. Und ohne von Claire zu träumen. Er war viel früher als sonst im Büro. Etwas benommen wegen seines gestrigen Versagens, aber froh, dass er einen nackten, lebendigen Körper hatte anschauen können. Der Umgang mit Claires Leiche hatte wohl seine Grenzen. Und Laurence Kellerman in ihrer skelettartigen, makabren Magerkeit hatte einen sanften Übergang von der Welt der Toten in die der Sterbenden ermöglicht. Zudem war er im Nachhinein direkt zufrieden, dass er sie nicht hatte vögeln können. Es lief also, um es mal so zu sagen, alles relativ gut. Der Markt blieb stabil – liquide –, und gegen Mittag verzeichnete Alexandre sogar einen Anstieg um »+1,1 %«. Bis gegen 13 Uhr ein Anruf von Boyden kam. »Sofort in mein Büro«, hatte er befohlen. Jetzt, in der Rue Jean-Goujon, im abhörsichersten Versammlungsraum, sind die Jalousien geschlossen. Und als Guyot eintritt, sind schon alle da, am hellen Tag in Neonlicht getaucht. Bleiche Gesichter, verdunkelte Blicke: sämtliche Mitglieder seines Verwaltungsrats. Und obendrein das Paar Blitzer/Ploniac, mit ziemlich angespannten Mienen. Alexandre, beunruhigt über diese Vollversammlung, drückt einen Kuss auf die Wange seiner Mutter und nimmt auf einem Stuhl am Ende des Tisches Platz.
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»Es ist zwar stets ein Vergnügen, Sie alle versammelt zu sehen, aber …« Seine Price Watch schrillt. Ein kurzer, durchdringender Alarm, Hinweis auf eine heftige Kursbewegung – »14: 09; 68,4 Euro« ; ein Sturz um »25,8 %«. Keine weitere Nachricht. Alexandre wird schwindlig, er hebt den Kopf: Niemand am Tisch wirkt überrascht. Die Price Watch schrillt noch einmal: »14:10; 42,3 Euro; – 54,1 %«. Immer noch keine Nachricht. Seine Kehle zieht sich zusammen. Sein Magen verkrampft sich. Zu seiner Linken: N’Guyen, mit düsterem Teint, lässt seine Fingerknöchel knacken … Noch ein Schrillen: »14: 11; 28 Euro; – 69,5 %«. Sein Herzrhythmus jagt davon. Seine Hände sind schweißnass. Er schaut zu seiner Mutter. Den Ausdruck kennt er gut: verbissener Mund, zusammengekniffene Lippen – wie immer, wenn sie ihre Tränen zurückhalten muss. Die Uhr hört nicht auf zu schrillen: »14: 12; 18,3 Euro; – 80,2 %«. Endlich blinkt das Nachrichten-Icon. Er drückt fieberhaft auf den Knopf und entziffert die winzigen Buchstaben: »Alex Guyot I. G. – DRINGEND: Gerüchte über manipulierte BücherLiquiditätskrise wahrscheinlich.« Er ist wie betäubt. Seine Beine fühlen sich an wie abgetrennt. Er findet gerade noch die Kraft, den Blick zu heben, sich an Boydens Nickelbrillenblick zu klammern und wie ein Idiot zu stammeln: »Scheiße, kann mir mal bitte jemand sagen, was hier los ist?« Mit verschlossenem, strengem Gesicht richtet sich der Alte auf und legt einen Stapel zerknitterter Dokumente auf den Tisch. »Das ist los, Alexandre.« Guyot wirft einen Blick auf die Blätter: fotokopierte Rechnungen auf seinen Namen. Er wird ungeduldig: »Was sind das für Zettel? Und was ist das Problem?« 163
»Alex, erkennen Sie die Unterschrift auf diesen Dokumenten?« Er beugt sich über die ersten Seiten. Sieht ganz nach seiner Unterschrift aus. Aber warum stellt Boyden ihm dann diese Frage? Und warum vor allem hätte er sich einen Nerzmantel kaufen sollen? Einen Haute-Couture-Pelz für 36 700 Euro? Und warum einen Harry-Winston-Ring für 158000 Euro? Und wie kommt er zu Schulden beim Hotel Meurice in Höhe von 38 712 Euro? … Kalter Schweiß läuft ihm über den Rücken. Seine Lider werden schwer, sein Gesichtsfeld trübt sich. »Claire?«, stammelt er. »Bingo!«, schreit der Alte zornrot. »Bingo! Claire Revillon! Dieses vertrauenswürdige Mädchen konnte also in aller Freiheit an Ihre Konten! Wirklich fantastisch! Glückwunsch, Alex! Und Sie haben ihr selbst beigebracht, Ihre Unterschrift nachzumachen. Sie selbst haben ihr diesen Kredit in allen Boutiquen der Avenue Montaigne verschafft. Bei Chanel, Dior, Gucci, Céline … Die ganze Avenue war per du mit diesem Weibsstück! Sie kaufte ein, unterschrieb, und am Ende des Monats haben Sie ihre kleinen Launen dezent geregelt, nicht wahr? Nun gut, Sie sollen wissen, dass sie auch nach Ihrem Bruch auf nichts verzichtet hat. Sie hat ihre reizenden Gewohnheiten um keinen Deut geändert. Und man kann sagen, dass sie gut gestopft gestorben ist, diese Gans, und Sie hübsch in der Kreide zurückgelassen hat …« »Boyden, ich erlaube Ihnen nicht …« »So, Sie erlauben mir nicht? Aber das erlauben Sie, was?«, brüllte Boyden und zeigte auf das Bündel Rechnungen. »Meinen Sie, Ihre Aktionäre werden das erlauben, Alexandre? Glauben Sie, dass sie unter operativen Gesichtspunkten Ihrer plötzlichen Diversifizierung in Haute-Couture-Kleider zustimmen? Oder Ihrer strategischen Investition in sündhaft teure Tierfelle? Meinen Sie wirklich, dass sie begeistert sind über alle diese 164
Diademe und Diamanten? Über die Suite im Meurice oder Diners bei Ducasse? – Soll ich mit meiner Aufzählung fortfahren?« »Okay, okay, Maître … Wie viel ist es?« »Sind Sie bereit, es zu hören?« Die Gesichter am Tisch verschließen sich. Eine morbide Reihe kohlschwarzer Schlünde. In der dioxidgesättigten Luft schwebende Lemuren. »Nur zu«, sagt Guyot mit zusammengekniffenen Lidern. »726000 Euro.« Seine Backenzähne verbeißen sich ins nasse Fleisch seiner Wangen. Ein Dolch durchbohrt ihn vom Kopf bis zum Steißbein, reißt ihn mit einem einzigen Schnitt von den Lenden bis zum Nacken auf. »Und wenn ich sage, 726000 Euro, dann sind die Kosten für die zu erwartenden juristischen Verfahren noch nicht darin enthalten. Alexandre, Ihnen brauche ich ja wohl nichts über Buchführungsprinzipien und Gesellschaftsrecht zu erzählen! Es geht hier um einen enormen nicht deklarierten Passivposten. Um riesige Verpflichtungen, die in Ihrer Bilanz hätten auftauchen müssen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: Laut Gesetz sind diese Summen innerhalb von fünfzehn Tagen zu zahlen. Mit anderen Worten: Wir reden hier von einem beträchtlichen Loch in Ihrer Buchführung. Ein echter Finanzskandal! Der Markt befürchtet gegenwärtig eine Liquiditätskrise, die zum Bankrott führen könnte. Das ist der Grund, warum Ihr Kurs so abstürzt: Seit 14.05 Uhr verkauft jeder Depp seine GuyotAktien. Zu diesem Zeitpunkt ist die Information nämlich auf die Website von La Tribune gelangt … Wir müssen nun sehr schnell reagieren.« »Und was tun wir?«, fragt Guyot. »Na, zahlen, Alexandre! Wir bezahlen Ihren Schwachsinn.« 165
Der Blick, mit dem Boyden ihn fixiert, ist von nie da gewesener Intensität – ein Blick der Liebe und des Abscheus. Der Blick seines Vaters, wenn er abends spät und erschöpft nach Hause kam und sich wortlos vor seinen Suppenteller setzte. »Bei alledem haben Sie noch Glück«, fährt der Alte nun etwas freundlicher fort. »Denn die Menschen an diesem Tisch glauben noch an Sie. Und sind bereit, Ihnen in dieser schwierigen Situation beizustehen.« »Und was konkret raten Sie mir?« Mit einer Handbewegung fordert Boyden den Banker auf, das Wort zu ergreifen: »Blitzer, wenn Sie so freundlich wären …« Xavier Blitzer erhebt sich. Ein wahrer Melanin-Gott. Untadelig in seinem faltenlosen Anzug. Einen Augenblick lang mustert er seine Zuhörer, rückt einen Manschettenknopf zurecht. Dann äußert er in dem unbeteiligten Ton eines Pokerspielers: »Kapitalerhöhung!« Damit setzt er sich wieder und schlägt seine muskulösen Schenkel übereinander. Eine kurze Pause, bis Ploniac begreift, dass sein Boss sein Arbeitspensum für diesen Tag erledigt hat. Er entschließt sich also, den Stab zu übernehmen: »In der Tat, wie Xavier gerade sehr richtig gesagt hat, halten wir eine Kapitalerhöhung für die einzig mögliche Lösung, um die Krise schnell zu bewältigen. Sie verfügen de facto nicht über die notwendigen flüssigen Mittel, um die Zahlung von über 700000 Euro zu leisten. Der Versuch, Ihre Wohnung zu verkaufen, um diese Schulden zu begleichen, würde eine massive Wertübertragung von Ihren Aktionären auf Ihre Gläubiger darstellen – unter finanziellen Gesichtspunkten also völlig inakzeptabel. Abgesehen davon erscheint uns beim gegenwärtigen Stand der Dinge die Möglichkeit einer Verschuldung völlig ausgeschlossen: Sie werden in diesem Sturm keine seriösen Kreditgeber finden. Angesichts dieser 166
Zwänge schlagen wir vor, innerhalb kürzester Frist eine Kapitalerhöhung um 730000 Euro durchzuführen. Wie Maître Boyden gesagt hat, ist um diesen Tisch der harte Kern Ihrer Verbündeten versammelt. Einige Ihrer privaten Großaktionäre sind bereits von Monsieur N’Guyen kontaktiert worden. Und wir können auf sie zählen: Sie sind zu einem Nachschuss bereit. Auf Seiten der institutionellen Anleger hoffen wir, einige Spekulationsfonds anzuziehen; die meisten Hedge-Fonds sind ganz scharf auf solche Situationen. Aus all diesen Gründen glaubt Golley Dean die Operation erfolgreich durchführen zu können – zumal wir überzeugt sind, dass Sie sehr schnell wieder Ihren eigentlichen Wert erreichen werden, wenn die Krise erst einmal bewältigt ist.« Noch unter Schock versucht Alexandre, sich auf die von Ploniac beschriebenen Mechanismen zu konzentrieren. Ihre Funktionen und Folgen zu erfassen. Aber dort neben dem Fenster steht Claire – in ziemlich fortgeschrittenem Verwesungszustand. Sie verhöhnt ihn, indem sie den kostspieligen Nerz über ihren Eingeweiden öffnet und schließt wie eine aus dem Gebüsch gesprungene Exhibitionistin. »Alex, haben Sie noch irgendwelche Fragen?«, holt ihn Boyden zurück in die Realität. »Entschuldigung, ich habe nachgedacht … Sie können fortfahren, Matthieu. Bis hierher ist es einigermaßen klar.« »Okay. Was das Strukturelle angeht, so glauben wir, dass sich Ihr Kurs in Erwartung eines Sanierungsplans kurzfristig bei circa 10 Euro stabilisieren wird …« Guyot wirft einen Blick auf seine Price Watch. Das Verkaufsfieber scheint sich tatsächlich beruhigt zu haben: »14: 37; 11,1 Euro; – 88,0 %«. Plötzlich wird ihm klar, dass er nur noch 1,5 Millionen Euro wert ist. Sehr dicht am Boden nach diesem fulminanten Absturz. Vermindert, verkürzt – entmannt. Schweißflecken bilden sich unter seinen Achseln, seine Kehle 167
brennt, als ihm die Tragweite dieser Feststellung dämmert. »… und wir schätzen, dass als Anreiz für die Investoren, sich an dieser … sagen wir heiklen Operation zu beteiligen, ein Abschlag von 20 % nötig sein wird. Wenn wir also mit einer Kapitalerhöhung zum Preis von etwa 8 Euro pro Aktie rechnen, erhalten wir ein Aktionariat, das ich als … atypisch bezeichnen würde. Um nicht zu sagen, nie da gewesen.« »Das heißt?«, beunruhigt sich Guyot und trocknet sich die Stirn. »Das heißt, dass Sie nach der breiten Streuung durch diese Transaktion nur noch 45 % der Alex Guyot I. G. halten werden … statt der 75 %, die Ihnen momentan gehören.« Eine bedrückende Stille lastet im Raum. Einige zermürbende Sekunden lang. Jeder lauert auf Alexandres Reaktion, der die Fäuste auf dem Tisch geballt hat und sich fragt, ob er Ploniacs letzte Sätze richtig verstanden hat. Oder ob ihn der Wahnsinn vollends überwältigt hat. Boyden am anderen Ende des Tischs hüstelt, legt die Stirn in Falten und erklärt ohne Umschweife: »Im Klartext, Alexandre: Sie verlieren die Kontrolle. Sie werden gewissermaßen Minderheitsaktionär Ihrer selbst. Was bedeutet, dass gewisse Entscheidungen gegen Ihren Willen getroffen werden können – sobald mehr als 50 % der Stimmberechtigten mobilisiert werden.« »Aber Maître …«, erwidert Alex ungläubig. »Und noch etwas«, unterbricht ihn Boyden. »Sie bleiben natürlich operativer Geschäftsführer der Alex Guyot I. G., aber wir im Verwaltungsrat glauben alle, dass die Situation die Ernennung eines Sanierungsbeauftragten notwendig macht.« »Ein Sanierungsbeauftragter?« »Ja, ein Sanierungsbeauftragter. Nichts wirklich Böses. Nur ein Überwachungsorgan. Sie werden gewiss verstehen, dass wir dem Markt hinsichtlich Ihrer Aktivitäten Sicherheiten 168
verschaffen müssen. Nach einem Fehltritt solchen Ausmaßes können Sie sich keinen einzigen Patzer mehr leisten. Wir haben schon unter uns darüber diskutiert: Monsieur Tarn N’Guyen wird diese Aufgabe hervorragend erfüllen. Er wird zu weitgehenden Kontrollen ermächtigt, vor allem dazu, Ihre Konten zu prüfen, Ihre Kreditkarte zu sperren, beratend seine Meinung zu all Ihren Ausgaben abzugeben, Sie unangemeldet in Ihrer Wohnung oder an Ihrem Arbeitsplatz zu besuchen …« »Machen Sie sich über mich lustig, Boyden?« »Absolut nicht, Alexandre«, sagt der Jurist ruhig. »Ich glaube, wir alle an diesem Tisch erfüllen unsere Pflicht als Verwaltungsratsmitglieder. Seien Sie gewiss, dass wir nur zu Ihrem Besten und zum Wohl Ihrer Aktionäre handeln.« »Und wenn ich ablehne?« »Technisch können Sie das. Im Augenblick besitzen Sie noch die Mehrheit. Aber in diesem Fall wäre natürlich keine Rede mehr von Kapitalerhöhung. Es wäre Ihnen also nicht möglich, Ihre Gläubiger zu befriedigen. Sie würden Konkurs gehen, was ein Berufsverbot für die nächsten fünfzehn Jahre nach sich zöge. Wahrscheinlich würde Ihnen Ihre Rechtspersönlichkeit entzogen – kein Pass, keinen Personalausweis mehr. Sie wären nur noch eine zweifelhafte Forderung in den Bilanzen der Versicherungsgesellschaften. Zudem müssten Sie möglicherweise eine drei- bis achtjährige Gefängnisstrafe absitzen. Sie müssen sich entscheiden.« Guyot fixiert Boyden. Boyden fixiert Guyot. Der Alte wirkt auf ihn wie ein wütender Maikäfer. Er wendet den Blick seiner erschöpften, betrübten Mutter zu. Sie betupft ihre Mundwinkel mit einem Papiertaschentuch und starrt mit leeren, feuchten Augen an die Decke. Dann ein Blick zu Claire,
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die reglos an der Wand lehnt. Ein körperloses Nymphchen im Pied-de-Poule-Kostüm von Chanel. In diesem Moment begreift Alexandre, dass er eigentlich keine Wahl mehr hat: »Minderheit«, hatte Boyden gesagt … Ekelhaftes Wort. Aber er wird sich an diesen neuen Status gewöhnen müssen. »Minderheit«, denkt er noch einmal. Einfach in der Minderheit. Aber im Grunde ist das nichts Neues. Schon immer hat er gewusst: In den verborgensten Winkeln seines Bewusstseins versteckt sitzt jemand anderes am Steuer.
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16 »Wir leben vielleicht in komischen Zeiten!« Die affektierte Pute am Nebentisch, die Süßstofftabletten in ihren Tee warf und Les Échos las, hatte völlig Recht: Es waren wahrhaftig komische Zeiten. Dachte Guyot gegen »8:30; 10,80 Euro«, als er bei dem gelassenen Kellner des Fouquet’s ein American Breakfast bestellte. Er saß im Hinterzimmer und verdaute, hinter einer dunklen Brille verborgen, seine gestrige Streuung, indem er die Presse durchging. Die Banker hatten nur zwei Wochen gebraucht, um die ganze Operation durchzuführen. Profiarbeit – eine ordentliche Kapitalerhöhung. Und die Analysten, die ihn anfangs in der Luft zerrissen hatten, waren bei diesem Anlass in ihren Äußerungen vorsichtiger, manche sogar fast optimistisch geworden. Allerdings war sein Kurs stark genug gefallen, dass selbst die Megäre von der Société Générale großzügig titelte: »At Current Cheap Price, There is Some Upside Potenzial.« Es hatte also auch seine Vorteile, ganz am Boden zu sein. Anscheinend war Ruhm die Abfindung für die Gefallenen. Und Estelle Dupuis hatte gute Arbeit geleistet. Das bezeugte die Artikelüberschrift auf Seite 8 von Les Échos: »Alex Guoyot I. G.: eine erfolgreiche Sanierung.« Ein diskreter Kommentar, knapp eine Spalte lang, der erklärte, dass das Schlimmste verhindert worden sei. Und ein lächelndes Foto von Tarn N’Guyen, der als der »neue starke Mann« und »Schutzengel der Aktionäre« vorgestellt wurde. Die Journalistin verglich die Operation – ziemlich dumm im Übrigen – mit der, die einst France Télécom wieder flott gemacht hatte. Nicht sehr rühmlich, bedauerte Guyot und schlug die nächste Seite auf. 171
Aber zumindest ging die Nachricht in der Masse unter … Tatsächlich waren die Veränderungen massiv. Eine globale Revolution, angeführt von den Märkten. Eine neue Phase in der Menschheitsgeschichte. Gerade zwei Monate waren seit Alex’ Börseneinführung vergangen. Gerade mal zwei Monate. Zwei Monate der Besessenheit. Die erst den Westen und dann die ganze Welt zutiefst erschüttert hatten. Nach der Durchsetzung in Frankreich verbreiteten sich die NIM-Reformen rasch in allen EU-Ländern: Überall schossen die Individualgesellschaften wie Pilze aus dem Boden. Die Financial Times enthielt an diesem Morgen besonders Erbauliches zu diesem Thema, die gerade veröffentlichten Januarstatistiken: Frankreich: 400000 börsennotierte Individuen Deutschland: 350000 Großbritannien: 300000 Italien: 125000. Im Dezember hatten sich auch die Vereinigten Staaten dazu bekehrt, und die Begeisterung dort war fast hysterisch: Schon 3313000 amerikanische Bürger waren notiert. Den rasantesten Start hatten allerdings die Japaner hingelegt: 1860000 Notierungen in der ersten Woche. Gerade hatte China ähnliche Rahmengesetze verabschiedet. Russland und Indien würden folgen. Die ganze Welt würde folgen. Denn in den Völkern herrschte breite Zustimmung zu dieser Form von Neokapitalismus, den die Gurus in Harvard vor kurzem »Personalismus« getauft hatten. Und überall riefen die Entwicklungen nichts als Begeisterung hervor.
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Einige Gewerkschaften, vor allem in Frankreich, hatten anfangs zu einer allgemeinen Mobilisierung aufgerufen: »Gegen eine Reform, die wieder einmal vor allem den besitzenden Klassen nützt«. Aber am Abend vor der Demonstration hatte Golley Dean die Notierung eines Drehers aus Lille angekündigt – zu einem Preis von über 800000 Euro. Am nächsten Tag waren ganze sechzehn Leute bei der Demonstration erschienen. Die anderen hatten sich in die Abfassung ihrer Prospekte gestürzt. Ja, der Personalismus war ein gutes, ein gerechtes System. Und das »universelle Recht auf Zugang zu den Märkten« gehörte nicht zu den unfruchtbaren hehren Prinzipien. Alle gesellschaftlichen Klassen fühlten sich direkt angesprochen. Alle Arbeiter waren potenzielle Nutznießer. Die höheren Angestellten hatten zwar eine Vorreiterrolle gespielt, aber die anderen Berufsgruppen holten rasch auf. Anwälte, Ärzte, Notare wurden an der Börse eingeführt. Arbeiter, Bauern, Sekretärinnen notiert. Und all die tüchtigen kleinen Handlanger des Dienstleistungssektors. Seit kurzem auch einfache und höhere Staatsbedienstete, die aufgrund ihres schwachen Wachstums und ihrer sicheren Stellung wie Obligationen gehandelt wurden: für Pensionskassen wegen ihres defensiven Profils immer attraktive Titel, für den Fall einer Rezession. Auch die Kapital-Risiko-Gesellschaften kamen auf ihre Kosten, wenn sie in vielversprechende Studenten oder debütierende Künstler investierten: Sänger, Schauspieler, Maler oder Schriftsteller, kleine Ballettratten oder angehende Moderatoren. Selbst Arbeitslose konnten einen gewissen Optionswert geltend machen, da sie mit jedem Einstellungsgespräch Spekulationen auslösten. Auch die Politikerkaste blieb nicht zurück. Wie der italienische Ministerpräsident bereitete sich auch der französische Wirtschafts- und Finanzminister, Begründer des großartigen Reformwerks, auf seine eigene Notierung vor, um 173
die Mittel für den nächsten Präsidentschaftswahlkampf aufzubringen. Überall entstanden individuelle Projekte. Ungehemmt wurden kreative Energien freigesetzt. Schließlich war wieder alles möglich und finanzierbar. Risiko verwandelte sich in eine Tugend. Und Gewinn in Askese. Der Markt bot jedem eine neue Flexibilität. Die Mittel, um – unabhängig von der Herkunft – zu einer hoch entwickelten Art von Wohlstand zu gelangen. Ein neues menschliches Paradigma war geboren. »Dürfte ich noch um etwas Milch für meinen Tee bitten?« Während er die netzbestrumpften Waden seiner Nachbarin musterte, griff Alexandre nach dem dicken Ergänzungsband des Voici: ein Wälzer von beinah tausend Seiten. Denn auch die Medienindustrie hatte sich anpassen müssen (dachte er, als er dem Kellner mit einem Augenzwinkern für seinen dritten Kaffee dankte). Die Vordenker der Branche hatten die These von einer »Medien-Finanz-Konvergenz« entwickelt. Ein Phänomen, das die weniger komplexbehafteten angelsächsischen Hochschullehrer unumwunden »Entertainment Finance« nannten (wörtlich übersetzt: »Unterhaltungsfinanz«, doch Le Monde versteifte sich darauf, es »Psychospielfinanz« zu nennen). Die People-Magazine hatten bei dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle gespielt. Die Wochenzeitschrift Voici hatte als Erste eine neue Rubrik eingerichtet: »Notierten-Notizen«. Darin wurden Gerüchte und Skandale, Kurzmeldungen und Reportagen über Individualgesellschaften kolportiert. Skrupellos und garniert mit unscharfen Fotos, enthüllte das Blatt die Geheimnisse, die schamlosen Lügen und Hinterlisten der Notierten. Breitete ihre Launen und Familiengeschichten, das Ende ihrer Depressionen und ihre amourösen Abenteuer in allen Einzelheiten aus. 174
Angefangen hatte es, erinnerte sich Guyot, mit einer bescheidenen Doppelseite. Deren erster, bedauernswerter Held er selbst – und Claire – gewesen war … Die Begeisterung der Leser und der Notierungsboom hatte rasch zur Explosion der Verkaufszahlen und der für diese einträglichen Neuigkeiten bestimmten Seitenzahlen geführt. So beschloss man die »Notierten-Notizen« in ein selbstständiges Sonderheft umzuwandeln. »NN« hatte sich in wenigen Tagen schnell zur neuen Bibel der Finanzleute entwickelt. »Kellner, bitte! Bitte! Ja, nur ein Glas Wasser.« Alexandre gab die Suche nach den in dieser Woche besprochenen Individualgesellschaften im – viel zu voll gestopften und daher unübersichtlichen – alphabetischen Register auf und schaute in die Liste nach Berufstypen: Unter »Treuhand/Beratung« waren 854 Individuen aufgeführt. Systematisch suchte er nach den Namen seiner Freunde, Bekannten und vergleichbarer Consultants ein lieb gewordenes Montagmorgenritual –, bevor er sich den entsprechenden Seiten im Redaktionsteil zuwandte … Nichts besonders Aufregendes in der vergangenen Woche: Marc Plantin, ein alter Kumpel von der HEC, der bei Bent & Co. arbeitete, war zum stellvertretenden Direktor befördert worden – und stand im Verdacht, seine neue Sekretärin sexuell zu belästigen … Julie Ramos, eine erfolglose Exfreundin im Treuhandbereich, »pfiff« anonymen Kollegen zufolge »auf dem letzten Loch«. Tatsächlich sah sie auf dem miserablen, auf einer Caféterrasse aufgenommenen Foto alles andere als gut aus … Auch bei den McKimen-Kollegen gab es keine umwerfenden Neuigkeiten: eine illustrierte Bestätigung für Duperrets Hörner (unanständige Fotos seiner jungen Gemahlin – das hatte jeder geahnt). Trotzdem war, wie dem Paar Nahestehende sagten, »nicht an Scheidung gedacht« … Und Jeanne Miramand, fetter denn je, hatte angeblich endlich einen zehn Jahre jüngeren Boyfriend mit Immigrantenhintergrund 175
aufgegabelt, eine Eroberung, die ihre erfreulich stabile Verfassung erklärte … Bosheit des Zufalls oder der alphabetischen Reihenfolge – Guyot und Kellerman standen nebeneinander auf derselben Seite. Eine perfide Anordnung, die ihr unterschiedliches Los noch unterstrich. Auf der linken Seite sie: »KellerMan: Super Woman!« Auf der rechten er: »Alexandre: bald Guyotiniert?« Abgesehen von den anzüglichen Wortspielen, auf die die Voici -Journalisten nach wie vor versessen waren, ging Alexandre vor allem die »Meinung des Psychologen« auf die Nerven, ein knapper Kommentar am Ende jedes Geschichtchens: »Obwohl er in letzter Sekunde vor dem drohenden Bankrott gerettet wurde, sehen wir kaum, was den Exliebling der Investoren aus seiner psycho-finanziellen Neurasthenie herausholen könnte. Die Motivation ist nicht mehr da. Das Vertrauen des Marktes auch nicht.« Bei Laurence dagegen: »Der Honeymoon mit den Investoren dauert an. Und das zu Recht: Was für ein Fischzug, was für ein Talent! Bei McKimen verstärken sich die Gerüchte von einer Beförderung. Was soll man der schönen Alleinkämpferin also noch wünschen? Vielleicht die emotionale Blüte, die sie sucht und wahrhaftig verdient.« Alles nicht sehr verheißungsvoll, grollte Alexandre und leerte seine Tasse. Das trug wirklich nicht dazu bei, seine Stimmung zu heben. Dieses Schundblatt war eine unumgängliche Referenz geworden. Unumgänglich und respektierlich. Sogar die Manager in La Défense konnten es jetzt seelenruhig kaufen – ohne zusätzlich für die Tribune blechen zu müssen, zwischen deren Seiten sie es früher versteckt hatten. »Hallo, noch einen Kaffee bitte!« Aber die gedruckte Presse war nicht das einzige Medium im Wandel: Auch die audiovisuelle Landschaft hatte sich von 176
Grund auf verändert. Öffentliche wie private Sender quollen über vor I. G.-Talkshows. Jeder konnte dort seine Leistungen, seine Persönlichkeit und hochfliegenden Ambitionen zur Geltung bringen. Seine Verkaufsargumente testen und unter dem wohlwollenden Blick eines gesponserten Life Coach an seinem »Existenz-Projekt« feilen. Der Kabelsender Listed TV strahlte nonstop ein- bis zweiminütige Clips aus. Kurze Sequenzen, in denen sich die Notierungskandidaten an die Investoren ranschmeißen konnten und die schon notierten Individuen feierlich ihre Ergebnisse präsentierten. Durch schlichten Druck auf eine Fernbedienungstaste konnten Aktien der Individualgesellschaften ge- und verkauft werden. Man konnte nach Lust und Laune beschließen, einem x-Beliebigen sein Vertrauen zu schenken – und völlig grundlos seine Meinung wieder ändern und sich für einen anderen begeistern. So war das Leben eines jeden zur Sache aller geworden. Ohne die Möglichkeit zu lügen. Ohne Nachsicht für Bluffer. Und überall gab es nur noch kommentierte Existenzen. Entblätterte Seelen, nackt und bloß, zur Schau gestellt. Eine transparente Menschheit, begierig darauf, sich selbst darzustellen. Eine Vielzahl von Schicksalen, die auf Finanzierung warteten. »Noch einen Earl Grey, bitte!«, bestellte die Blonde. »8:46; 10,9 Euro«. Ein ziemlich entspannter Morgen, beruhigte sich Guyot. Der Duft des Kaffees … Das Parfum der Sekretärinnen … Bald, leider, der Gestank des Büros. Auch auf dem Arbeitsmarkt wurden die Karten neu gemischt (dachte er jetzt, als er die Stellenangebote im Figaro überflog). Hauptgrund, so die Experten, war die unerhörte Veränderung des Bankensystems. Angesichts der schwindenden Nachfrage nach Krediten für Privatleute – die sich jetzt direkt über den Markt finanzierten –, hatten sich die Finanzinstitute auf 177
Maklertätigkeiten umgestellt und ihre Abteilungen für Individualgesellschaften aufgebläht. Seither füllten sich die Trading Floors mit Psychologen und Psychotherapeuten. Mit Soziologen aller Richtungen, die oft nicht einmal ein ordentliches Diplom hatten. Und ihre Gehälter stiegen ins Astronomische – eine Wahnsinnszunahme, rein zufällig auch eine Wiedergutmachung für Heerscharen von Studenten, die einst als »nicht vermittelbar« galten. Für die Absolventen früher »aussichtsloser« Studiengänge war es endlich vorbei mit Dauerarbeitslosigkeit und Ungewissheit: Jetzt hatten sie teil am Hochamt des Kapitals, wurden die neuen Priester der Wertschöpfung. Selbst Vidalet-Coudert fuhr jetzt einen Porsche, seit BNP-Paribas ihr den Schwerpunkt Human Capital Markets anvertraut hatte. Sie supervidierte ein etwa zwanzigköpfiges Team von Trader-Psychologen, die sich auf ein bestimmtes Geschlecht, eine Berufssparte oder eine ethnische Untergruppe spezialisiert hatten. »Noch einen Kaffee!«, bestellte Guyot, ohne von seiner Zeitung aufzusehen. Denn je weiter sich die Wertermittlungstechniken entwickelten, desto feiner wurden die Segmentierungen der Analysten: Jeder Menschentyp entsprach einem Cash-FlowProfil, und jedem Cash-Flow-Profil entsprach ein Preis. In Anlehnung an das Finanzwesen und die Mathematik wurden Psychologie und Soziologie zu harten Wissenschaften. Jetzt konnte man die sozialen Unterschiede quantifizieren. Die Frustrationsquanten exakt messen. Die kompliziertesten Instrumentarien wurden zu diesem Zweck entwickelt. Multikriterielle Koordinatensysteme, synthetische Indices: • der VIP 3000 (Valuable Incorporated Persons; ein Index der dreitausend bestbewerteten Franzosen) • der Workforce Index (Arbeiterindex) 178
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der Youngster Index (I. G. unter dreißig) der Single Woman Tracker (unverheiratete Frauen) der MAD Index (Men After Divorce) der BSL Index (Bisexuelle, Schwule und Lesben) der DINK Index (Double Income No Kids) der Muslim 200 (die crème de la crème der muslimischen Franzosen)
Und viele andere Indikatoren, die übergreifende Analysen ermöglichten. Und schließlich, sagte sich Alexandre und setzte seine Ray Ban ab, waren die »Wertsysteme« eindeutiger geworden. Die gesellschaftlichen Spielregeln waren klarer formuliert. Die menschlichen Gesellschaften hatten – vom Finanzsystem zur Transparenz gezwungen – ihren Zynismus unter Schmerzen abgelegt. Und an die Stelle der beschönigenden Heuchelei des politischen Diskurses war die unveränderliche Wahrheit der Zahl getreten. Diskriminierungen, Ungleichheiten, Rassismus, Sexismus … Der Zustand der Gesellschaft wurde von jetzt an durch einfaches Abhorchen des Marktes diagnostiziert. Ja, Frauen wurden weit unter dem Wert vergleichbarer Männer gehandelt (der bekannte »Frauenabschlag«, in der Größenordnung von 30 %). Ja, im Fall einer Sterilisation durch Tubenligatur oder Ovarektomie konnte dieser Abschlag auf 15 % sinken. Ja, Farbige in leitenden Stellungen unterlagen, bei gleichen Qualifikationen, einem »Minoritätenabschlag«. Ja, geschiedene Männer waren besser notiert als verheiratete (»Verfügbarkeitsprämie«).
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Ja, bei den Frauen war das umgekehrte Phänomen festzustellen (»Frustrationsabschlag«). Ja, kinderreiche Familien wiesen Ineffizienzrisiken auf (»Konglomeratsabschlag«). Ja, junge Leute wurden strukturell überbewertet (»Zeitprämie«). Ja, die Menschen hatten nicht alle denselben Wert. Und davon konnten sich die empörten Intellektuellen bei Boursorama überzeugen. »Die Rechnung, bitte!« Auf der Titelseite von Les Échos zog der Minister Bilanz: »Unser Wirtschaftssystem hat seine Kraft wiedergewonnen. Ein junges, starkes Herz aus Fleisch und Blut. Das Herz einer Nation, das dank der Energie der Männer und Frauen dieses Landes in schönem Gleichklang schlägt. Der NIM ist entwickelt worden, um dem Verdienst dieser Männer und Frauen gerecht zu werden. Auch, um sie zu größerer Moral anzuspornen. Noch nie hat die ›Wert(papier)börse‹ ihren Namen mit so viel Berechtigung getragen.« Guyot stand auf und ließ zehn Euro auf den Tisch klimpern. Er dachte an die wachsenden europäischen Finanzen. Irgendwo in Frankfurt prägte die Zentralbank schon neues Geld. Denn per Referendum war beschlossen worden, auf Scheine und Münzen die Devise der vereinten Unions-Republiken zu prägen: Freiheit Rentabilität Transparenz Es war »5: 57; 11,4 Euro«. Er faltete die Zeitungen zusammen. Es war Zeit, arbeiten zu gehen.
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17 Um ganz ehrlich zu sein – und manchmal muss man das –, hatte sich die Atmosphäre im Büro radikal verschlechtert. Seit dem Skandal mit den »echten falschen Rechnungen« war Guyots Aura dahin, das war nicht zu leugnen. Ebenso wie sein Ansehen. Selbst im Blick ganz neuer Praktikantinnen lag nicht mehr die geringste Spur von Respekt, nicht einmal Höflichkeit. Ganz zu schweigen natürlich von einem Hauch Bewunderung. Nein. Die Stimmung war mehr von Getuschel und verstohlenen Ellbogenstößen geprägt als von der offenen Kollegialität, die früher geherrscht hatte. Wie so oft in solchen Situationen zirkulierten zahlreiche Witze. Denn die Firma – das wurde allzu leicht vergessen – war ein Ort der Geselligkeit, wo man zusammen lachen wollte, ja, lachen musste. Vor allem bei harten Schlägen. Alexandres Verdruss hatte die Spaßvögel zur Suche nach immer frecheren Spitznamen angeregt. Sein Niedergang hatte den Künstler, die Stimmungskanone in jedem einzelnen Mitarbeiter geweckt. »Um wie viel Uhr kommt Enron?«, hatte vor ein paar Tagen ein Junior gefragt, ohne Guyots Ankunft im Versammlungsraum zu bemerken. Er wusste, dass man ihn auch Moulinex oder Worldcom nannte. Das war wohl alles wahnsinnig komisch. Selbst in streng beruflicher Hinsicht war die schlechte Stimmung mit Händen zu greifen. Seit zwei Wochen wurden alle seine Termine systematisch abgesagt. Wichtige Projekte an andere Abteilungen übertragen. Und die Erklärungen wurden immer schwammiger: »Entsprechend dem neuen Schema der 181
geografischen Abdeckung …«, »Wegen der Matrikelumverteilung der Key Accounts …«, »Durch die Neuentwicklung multiprojektiver Ansätze und in dem Bemühen, das erworbene Know-how weiterzugeben …« Seine demotivierten Mitarbeiter taten nicht einmal mehr so, als würden sie sich für ihn ins Zeug legen, und lauerten ganz unverhohlen auf freie Stellen in anderen Teams. Ehrlich gesagt, interessierten seine Ansichten und seine Projekte einfach niemanden mehr. Und seit zwei Wochen flehte er jeden Tag aufs Neue die Sekretärin von Jeff Graham an, zehn Minuten im Terminplan des Chefs für ihn zu finden. Um Entscheidungen zum Project Democracy zu diskutieren – für die Vertriebsketten zur Eroberung des Kaukasus. Das war das einzige noch halbwegs relevante Projekt in seinen Händen. Aber seit zwei Wochen hatte die bekümmerte Antwort des brünetten Pferdeweibs jeden Tag erneut gelautet: »Sorry, Alex … But he’s fully booked for the whole day.« Also schlug Alexandre an diesem Tag – wie an allen anderen auch – die Zeit tot. Eine unbestimmte Zeit: lange, zähe Minuten. Umgeben von der Gleichgültigkeit der Kollegen und dem Surren der Maschinen. Bis zur rettenden Mittagszeit, eine flüchtige Erlösung, wenn er sich endlich in Coeques Gesellschaft davonmachen konnte. Das war zur täglichen Gewohnheit geworden, geradezu ein Akt der Hygiene: zwei Stunden bitterer Klagen und bösen Gelästers. Zwei Stunden, die sie Seite an Seite schlaff an ihrem Stammplatz im Café Paris hingen, wie die beiden ätzenden Alten aus der leider verschwundenen Muppet Show. Zwei Stunden, in denen sie verdrossen die Hektik vor dem Fenster kommentierten, die chaotische, wütende, völlig unsinnige Hetze dieser neuropathischen Angestellten, die ihnen so ähnlich waren.
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Diese Pause war zum Ritual geworden, seit Coeque wieder »durchgestartet« war. Der Säufer hatte doch tatsächlich einen Job als Portfolioverwalter in einem weißrussischen HedgeFonds von zweifelhaftem Ruf ergattert. Zurück auf dem Arbeitsmarkt und von allen Drogen entgiftet, machte ihm das Leben wieder Spaß. Und er dachte sogar daran, warum nicht?, sich notieren zu lassen. Guyot war gerührt über seine unverbrüchliche Treue: In seinem neuen Amt hatte Nicolas’ erste Investition in einer substantiellen Beteiligung (etwas mehr als 80000 Euro) an der Kapitalerhöhung bestanden, die ihn vor dem Ruin gerettet hatte. Er fühlte sich ihm verpflichtet. Er blieb ein echter Freund. Denn alle anderen Bekannten, die anfänglich in ihn investiert hatten, hatten ihre Beteiligungen schon lange abgestoßen. Aber konnte man ihnen das übel nehmen, wenn man so tief abgestürzt war? Wenn man das Meisterstück vollbracht hatte, 90 % des eigenen Werts zu zerstören? Konnte man es ihnen übel nehmen, wenn man sie derart enttäuscht hatte? Wenn man so erbärmlich damit gescheitert war, irgendwelchen Profit zu generieren … Auch an diesem Tag also aßen und lästerten Alexandre und Nicolas gemeinsam. Wie immer mussten sie gegen 14 Uhr zurück in ihren Büros sein. Guyot schwänzte den unerträglichen Midday break, der die aktivsten Seniors am Kaffeeautomaten versammelte, und beschloss, eine Stunde zu füllen, indem er seine Nerven bei Boursorama strapazierte. Mit 12,1 Euro pro Aktie war sein Kurs zwar wieder leicht gestiegen. Aber sein Gesamtkapital belief sich auf kaum 2,7 Millionen. Ein unwürdiger Wert, befand er nicht ohne Bitterkeit. Nicht mal der Preis eines kleinen Buchhalters, der höchstens eine Handelsschule in der Provinz abgeschlossen hatte.
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Auch im Verhältnis zu seinem Einkommen war er ausgesprochen preiswert. Er stand beim Achtzehnfachen seines ENS (Einkommens nach Steuern). Im Vergleich zum durchschnittlich Fünfunddreißigfachen für entsprechende Consultants. Und vor allem zum Fünfzigfachen für Laurence Kellerman, die gar nicht mehr aufhörte, die Diva des Marktes zu spielen. Auch Graham war unerschöpflich in den Elogen auf seinen neuen Schützling. Die letzte Nummer von Aware, der Quartalszeitschrift für interne Kommunikation, widmete ihr eine unverschämt hymnische Doppelseite. Es kursierten sogar Gerüchte über eine Liaison mit dem Big Boss. Aber Laurence, das gab Guyot zu, verdankte ihren Erfolg einzig ihrem Talent. Ihrem Gefühl für die Kunden und ihrem Arbeitsvermögen. Das musste man anerkennen: Sie war extrem leistungsfähig. Und ihre stratosphärische Wertsteigerung war völlig verdient. Seit ihrem katastrophalen Begattungsversuch war sie entsetzlich aufdringlich. Eine Belästigung, die Alexandre ernsthaft zu nerven begann … Aber auch wenn er sie sich vom Leib hielt, bemühte er sich doch immer, das Tierchen halbwegs zu schonen. Schließlich war sie eine der wenigen Verbündeten, die ihm in der Firma blieben. Und auch in den schlimmsten Momenten der Katastrophe hatte Laurence ihre Guyot-Aktien nie abgestoßen. Das zeugte immerhin von einer gewissen Klasse, dachte er gerührt – als ein winziges Lebenszeichen sein OutlookProgramm aus dem Schlaf riss: Von: Laurence Kellerman I. G. An: Alexandre Guyot I. G. Betreff: Abendessen? Darling, ich weiß, dass du ganz andere Sorgen hast, deshalb frage ich dich zum letzten Mal. Bist du bereit, uns eine zweite Chance zu geben? 184
Ich bin felsenfest überzeugt, dass es sich lohnen würde … Ich habe heute Abend einen Tisch in der Cantine du Faubourg reserviert. Let me know what you think. LKIG Alex ließ kurz die Finger über der Tastatur tanzen. Dann ließ er die Gelenke knacken. Plötzlich packte ihn der Überdruss. Ein mit Wut und Erbitterung gemischter Überdruss. Er holte tief Luft: Die Maskerade hatte lange genug gedauert. Von: Alexandre Guyot I. G. An: Laurence Kellerman I. G. Betreff: Re: Abendessen? Laurence, deine Freundschaft ist mir wichtig, und ich will sie nicht verlieren. Aber ich glaube, ich war sehr deutlich, was die Fortsetzung unseres »Experiments« angeht. Ich bleibe dabei, dass es ein Fehler war, für den ich natürlich die volle Verantwortung übernehme. Deshalb sehe ich weder den Sinn noch das Ziel der »zweiten Chance«, um die du mich bittest. Ich empfinde für dich nur aufrichtige, zärtliche Freundschaft. Das ist schon sehr selten und kostbar. Bitte, belassen wir es dabei. AGIG P. S.: Tut mir leid mit heute Abend. Ich bin sicher, dass dich Duperret mit größtem Vergnügen begleiten würde. Er las die Mail nicht mehr durch, klickte auf »Senden« und fühlte sich erleichtert. Je hartnäckiger Kellerman war, desto mehr stieß sie ihn ab. So sehr, dass der Chocapic-Albtraum erst kürzlich wieder seine Nächte gestört hatte … Während er sich noch vorstellte, wie sie nackt durch die Gänge von Franprix lief, landete Laurence’ Antwort in seiner Eingangsbox.
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Von: Laurence Kellerman I. G. An: Alexandre Guyot 1. G. Betreff: Re: Re: Abendessen? Okay, fine. Du wirst der Verlierer sein. Glaub mir, du wirst es bereuen. LKIG Superwoman war also verärgert. Vielleicht waren seine Formulierungen etwas zu heftig gewesen. Aber zumindest konnte er hoffen, dass die Botschaft endlich angekommen war. Er las noch einmal den letzten Satz der lapidaren Mail: »Glaub mir, du wirst es bereuen.« Die Formulierung amüsierte ihn. Dieser Anflug von Stolz klang ja fast wie eine Drohung.
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18 Es war schon nach dreiundzwanzig Uhr, als es klingelte. Im Halbschlaf öffnete Alexandre die Wohnungstür. Er schreckte zurück: Vor ihm stand die leibhaftige Verkörperung des beliebten Smiley: ;-) Tarn N’Guyen – Kopf vorgestreckt, Augen zusammengekniffen, Lächeln missglückt – verkündete in seinem Singsang das Thema seines Besuchs: »Kleine Kontrollvisite!« Die dritte in dieser Woche. Der Vietnamese nahm seine Rolle als Sanierungsbeauftragter wirklich sehr ernst. Allzeit bereit im Dienste des Kleinaktionärs. Zwei Tage zuvor war er im Büro aufgetaucht und hatte Alexandre beim Herumsurfen in Yahoo überrascht! Ungewöhnlich. Nach seiner Arbeit und den Fortschritten bei seinen Projekten befragt, hatte Guyot eine jener schönen Phrasen gestammelt, mit denen er sich oft aus der Affäre zog. Er hatte Sätze ohne Bedeutung und mit mäandernder Syntax formuliert und mehrfach Begriffe wie »positiv«, »Kunde«, »Rationalisierung« oder »Konsolidierungskreis« eingesetzt – eine bewährte Methode. N’Guyen hatte nicht mit der Wimper gezuckt und jeden Punkt in ein kleinkariertes Schulheft eingetragen. Nach zehn Minuten hatte er sich überaus höflich verabschiedet. »Monsieur N’Guyen, was für eine nette Überraschung!« Alexandres Ironie löste jenes asiatische Kichern aus, hinter dem man im Abendland gemeinste Hinterlist vermutet. Pfeifend trat »der Herr Sanierungsbeauftragte« über die Türschwelle und spazierte entspannt durch die Wohnung, ohne seinen dunklen
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Parka auszuziehen, der allerdings eher wie ein Messgewand wirkte. Inspektion von Wohnzimmer, Bad, Küche, Öffnung des Kühlschranks, Blick ins Schlafzimmer: Sein kleiner Rundgang dauerte gut fünfzehn Minuten. »Was suchen Sie eigentlich?«, erkundigte sich Alexandre. »Nichts. Überhaupt nichts«, antwortete N’Guyen, ohne im Schreiben seiner Notizen innezuhalten. »Ich vergewissere mich nur, dass alles in Ordnung ist. Dass Sie sich nach den Normen verhalten: Arbeitszeiten, Körperhygiene, Sauberkeit am Gesellschaftssitz, Ernährung … Verstehen Sie?« »Ich verstehe«, grinste Guyot gähnend. »Gut, ich glaube, ich bin fertig. Ich lasse Sie jetzt allein. Es ist schon spät. Bis zum nächsten Mal, Monsieur Guyot!« Mit schleifenden Trippelschritten verzog sich der Vietnamese. Alexandre sah auf seine Price Watch: »23:46, 14,60 Euro«. Eine Nachricht. Nichts Besonderes: »Veröffentlichung einer Anlegerinformation des Crédit Lyonnais.« Ohne nachzudenken ging er ins Schlafzimmer, ließ sich auf einen Hocker fallen und schaltete seinen Laptop ein. Schließlich musste er über die neuesten Hirngespinste der Analysten informiert sein … Während er darauf wartete, dass der Computer hochgefahren wurde, fragte er sich, wie sehr er N’Guyen und seine sadistische Freude an diesem lächerlichen Schnüffeln verabscheute. Er fragte sich auch, wie sehr er jeden einzelnen seiner Kollegen hasste und wie sehr ihm vor allem der unerreichbare Graham zuwider war. Wie sehr ihn auch Laurence ärgerte, die überhebliche, supermotivierte Laurence. Wie sehr ihm selbst Boyden in letzter Zeit auf die Nerven ging, der ihn öfter denn je belehrte. Und sogar seine Mutter, die völlig verblödet war und 188
pausenlos über ihre zusammengeschmolzenen Ersparnisse jammerte. Ganz zu schweigen von Claire, immer stärker verfault, die es sich weiterhin gut gehen ließ – stets auf seine Kosten. Und dann dieser Börsenkurs, der in den tiefsten Abgründen des Marktes stagnierte. Offenbar außerstande, einen zweiten Anlauf zu nehmen … Der Internet Explorer öffnete sich spuckend, und Guyot klickte auf den Link »Investext«. Eine Kompilation von Anlageempfehlungen. »Crédit Lyonnais – Alex Guyot I. G.: What the Hell are We Waiting For?« Er schluckte ein paar Mal, um den Schock zu verkraften. Er hatte sich zwar allmählich an die Sarkasmen der Experten gewöhnt, aber trotzdem war sein Streberstolz bei jedem ihrer ordinären Kommentare verletzt. »Der Kurs scheint dauerhaft in einem Tunnel zwischen 10 und 15 Euro festzustecken. In Anbetracht der relativen Illiquidität des Titels ist immer noch eine technische Kurserholung denkbar. Wir sehen allerdings keine Quelle für eine endogene Verbesserung der operativen Perspektiven von Guyot. Die Jahreseinkünfte drohen sehr enttäuschend zu werden, vor allem im Vergleich zum Durchschnitt der Consultants. Aus seiner Umgebung wird die Stimmung als ›verdrossen‹ beschrieben, der erhoffte Aufbruch bleibt aus. In diesem Kontext wissen wir wirklich nicht mehr, was von Alexandre Guyot I. G. zu erwarten ist. Deshalb bleiben wir mit unserer Empfehlung auf Neutral.« Konnte man wirklich von »Verdrossenheit« sprechen?, fragte er sich mit ausgetrockneten Augen, während er hypnotisiert auf den flimmernden Monitor starrte. Bitterkeit fuhr ihm wie ein Messer in den Kehlkopf. Er beruhigte sich, als er am unteren Bildschirmrand 23:59 las. 189
Durchatmen. Ganz ruhig. Sich ein paar Sekunden konzentrieren. Wie immer würde der Kindheitszauber die Bosheit der Welt bannen … Aber in dem Moment, wo die vierfache Null auftauchte, begann sein Handy zu jaulen – eine hysterische Melodie. Er schob zwei Finger in die Tasche seiner hautengen Jeans und zog das nervöse Gerät mit Mühe hervor: »Boyden mobil«. Ein heftiges Ziehen lähmte seinen Nackenansatz. Als würden ihm Nägel in die Halswirbel getrieben. »Ja, Maître?«, sagte er angespannt. »Hotel Ritz. Salon Psyché. Sofort.« »Wie … aber … um diese Zeit?« »Sofort, Alexandre. Wir sind alle schon unterwegs.« »Aber was ist denn los, Himmel Herrgott noch mal?« »Nicht am Telefon.« »Scheiße, Boyden, ich hab die Schnauze voll!«, explodierte er. »Mehr als voll von Ihren Treffs mitten in der Nacht und der ständigen Heimlichtuerei. Ich rühre mich nicht vom Fleck, ehe Sie nicht ausgepackt haben!« »Feindlich.« »Wie – ›feindlich‹?« »Kellerman. Sie wird bei Eröffnung des Marktes ein feindliches Übernahmeangebot für Sie abgeben. Wir haben acht Stunden Zeit, um zu reagieren.«
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19 Dieser Punkt war wohl kaum strittig: Blitzer sah im Sweatshirt wesentlich debiler aus als im Hemd. Auch alle anderen wirkten viel dramatischer als sonst. In ihrer Casual-Kleidung oder »wie aus dem Bett gefallen«, passten sie überhaupt nicht zur kostbaren Täfelung des Privatsalons mit seinen kapriziösen Zierleisten, der künstlich verstärkten Maserung und den Lüstern über dem Aubusson-Wandteppich, der die füllige Gestalt der Psyche verherrlichte. Um den Tisch war die übliche ehrwürdige Runde der Krisensitzungen versammelt. Dazu eine weitere Person, deren unsichtbare Anwesenheit sämtliche Wirbelsäulen krümmte: Laurence Kellerman I. G. »Hat dieses Miststück überhaupt das Recht dazu?«, begann Alexandre mit Grabesstimme. Sein Gesicht war eingefallen vor Müdigkeit und gelb vor Hass. »Bis zum Beweis des Gegenteils hat sie durchaus das Recht dazu«, sagte Boyden. »Allerdings besteht hier eine gewisse juristische Lücke. Die Verordnungen sehen diesen Fall nicht direkt vor. Da sich die Gesetzgebung aber eng an das allgemeine Gesellschaftsrecht anlehnt, wäre meine erste Schlussfolgerung: Was nicht verboten ist, ist erlaubt.« »Wer hat ihr bloß diesen hinterfotzigen Schachzug eingeredet?« »Wahrscheinlich sie selbst, Alex. Mit Unterstützung hervorragender Spezialisten. Euclide Clark, amerikanischer Star des Börsenrechts und gewiefter Experte für Übernahmen, hat mich persönlich kurz vor Mitternacht angerufen, um mir ihre
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Absicht anzukündigen. Kellerman wird von diesem Raubtier beraten, außerdem von den Bankern von Mortley and Pierce …« »Erbärmliche Typen«, rekelte sich Blitzer, wobei er die überraschende Botschaft bloßlegte, die sein Sweatshirt verkündete: »Natural Born Banker«. »Von mir aus erbärmlich, aber so eine Operation verlangt, wie mir scheint, auch keine herausragende Intelligenz«, wies ihn Boyden mit scharfem Blick zurecht. Ploniac und Rivaret, die neben ihrem Boss saßen, versuchten ihr Kichern herunterzuschlucken. Das Paar gab sich seiner Lieblingsbeschäftigung hin: Folien sortieren und Zahlen in ihre Taschenrechner eintippen. Ständig eingebildeten Fehlern auf der Spur … An der anderen Tischseite saß Estelle Dupuis, so frisch, als käme sie gerade aus der Thalassotherapie. Als ihr Blick den von Guyot kreuzte, bemühte sie sich um ein beruhigendes Lächeln. Beruhigendes oder Hurenlächeln, da war er sich nicht mehr ganz sicher … Rechts von Estelle, an den Tisch geklammert und seltsam mit dem Kopf wackelnd, saß seine Mutter. Sie kam ihm vor wie ein aufgeputzter Pudel, der von seinem Top-ModelFrauchen zum Casting mitgeschleppt wird. In einen weißen Schal gehüllt, altmodisch und zusammengesunken, atmete sie nur noch so viel Sauerstoff ein, dass es zum Schluchzen reichte … Dann Tarn N’Guyen, aufmerksam, seelenruhig. Lauernder Jäger hinter gesenkten, fast geschlossenen Lidern. Und die Dingsbumsvertreter Pitt und Ouaknine, Schulter an Schulter, die misstrauisch und ungeduldig auf eine akzeptable, besser gesagt: lukrative Lösung warteten. Es war schon nach zwei Uhr morgens. Die Müdigkeit machte Alexandre geradezu paranoid. Er spürte, dass er keiner der verdammten Seelen am Tisch trauen konnte.
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»Okay«, fing er noch einmal an. »Wissen möchte ich erstens: Was habe ich zu erwarten, und zweitens: Wie holt ihr mich aus dieser Scheiße wieder raus?« Wie zwei Küken, die das Futter riechen, wurden Ploniac und Rivaret plötzlich lebendig. Gleich würden sie ihren kleinen Auftritt starten können. »Matthieu, Jocelyn«, forderte Blitzer sie auf und strich sich über den Unterleib. »Okay«, räusperte sich Ploniac. »Fassen wir zusammen: Laurence Kellerman wird ihren Übernahmeantrag Punkt 9.00 Uhr stellen. Direkt nach einer von Listed TV übertragenen Pressekonferenz. Nach unseren Informationen wird sie sich um 8.30 Uhr äußern.« »Wozu diese Pressekonferenz?«, ängstigte sich Guyot. »Um zu überzeugen, Alexandre. Um die Kleinanleger und die Institutionen davon zu überzeugen, dass ein von Laurence geführtes Gemeinschaftsunternehmen Kellerman-Guyot ein attraktiveres Profil aufweist als jede Individualgesellschaft einzeln. ›1+1=3‹: Zauber der Finanzen und Synergien. Oder Zauber der Zweisamkeit, wenn Sie es lieber so sehen wollen …« Alexandre fiel ein finsteres Seminar ein, das er vor Jahren in Boston besucht hatte. Ein feiner Cocktail zum Thema Unternehmenszusammenschlüsse: »Do M&A Transactions Really Create Value?« Ein frankokanadisches Forscherteam hatte die Ergebnisse seiner exzellenten Arbeit vorgestellt. Diese belegten, dass die meisten Fusionen in den letzten dreißig Jahren sehr massiv Werte zerstört hatten. Guyot hatte sich gemerkt, dass »Synergien« nicht mehr als ein schönes Märchen waren. Wie die Gerechtigkeit Gottes oder die Treue von Eheleuten: Niemand hatte einen Beweis dafür, es wimmelte nur so von Gegenbeispielen, aber dennoch und immer wieder glaubte man daran. Verrannte sich kollektiv in eine verhängnisvolle Religion, einen albernen Glauben an ein trügerisches Axiom: »Bei sonst 193
gleich bleibenden Bedingungen ist die Vereinigung, in welcher Form auch immer, dem Zustand der Einsamkeit grundsätzlich überlegen.« »Angesichts Ihrer geringen Wertschöpfung und Ihrer Situation als Minderheitsaktionär«, fuhr Ploniac fort, »sind Sie eine ideale Beute für ein so leistungsstarkes Unternehmen wie Kellerman. Ihr Einkommen wird im Verhältnis von 1:15 bewertet, das von Laurence 1: 60. Sie sind drei Millionen Euro wert, Kellerman zwölf. Sie haben keine Wachstumsperspektive, während ihre …« »Okay, okay«, unterbrach ihn Alexandre, gereizt über diesen niederschmetternd ausführlichen Vergleich. »Ich will kein Leistungsverzeichnis von Ihnen, sondern Lösungen!« Ploniac wurde sein mangelndes Taktgefühl bewusst, er versuchte sich zu fassen. Seinen Mont Blanc zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her drehend, sprach er in einem etwas pädagogischeren Ton weiter. »Was ich Ihnen zu sagen versuche, Alex, ist, dass sie keine Schwierigkeiten haben wird, Ihre Aktionäre zu überzeugen. Vor allem, da Ihr Börsenkurs seit einer ganzen Weile dahinvegetiert … Haben Sie den letzten Bericht des Crédit Lyonnais gelesen?« Er wedelte mit dem Wisch in der Luft. »Ja, danke, ich habe ihn gesehen«, fegte Alexandre ihn beiseite. »Könnten Sie ihn bitte rumgeben?«, erwachte N’Guyen aus seinem Dämmerzustand und hob seinen gedrungenen Finger. Langsam wanderte das Blatt um den Tisch. Jeder warf einen besorgten Blick auf den mörderischen Absatz, dann nickte er dem Nachbarn zu und biss sich auf die Lippen. Guyot fühlte sich wie ein unheilbarer Krebsfall, dessen vernichtende Diagnose die gesamte Familie niederschmettert. »Okay«, fuhr Ploniac fort. »Höchstwahrscheinlich wird es ein ganz klassischer Übernahmeantrag sein. Genauer gesagt, eine 194
Aufforderung zum Aktientausch. Eine Fusion Kellerman-Guyot durch Aktientausch. Das Prinzip ist ziemlich einfach: Kellerman und ihre Banker werden Ihren Aktionären den Ankauf ihrer Guyot-I. G.-Aktien zu einem Preis von 25 bis 30 % über dem letzten Börsenkurs anbieten. Laurence wird sie mit KellermanI. G.-Aktien bezahlen: etwa eine ausgegebene Aktie für vier erworbene Guyot-Titel. Wenn die Operation erfolgreich ist, besitzen Ihre gegenwärtigen Aktionäre 20 % der kombinierten Einheit Kellerman-Guyot. Und Sie persönlich halten dann ungefähr 9 % dieser Verbindung, die von Laurence kontrolliert und gelenkt wird.« »Vielen Dank für diese entzückenden Perspektiven!«, erstickte Alexandre seine Ausführungen. »Aber ich verlange eine gottverdammte Lösung von euch!« »Beruhigen Sie sich, Alex«, mahnte Boyden. »Matthieu beantwortet nur Ihre erste Frage: Was haben Sie zu erwarten? Golley Dean hat natürlich auch über den zweiten Punkt nachgedacht. Fahren Sie fort, Matthieu.« Aufmunternd nickte er ihm zu. »Gut … Es sind mehrere Verfahren denkbar, um Kellermans Plan zu durchkreuzen. Zunächst der ›Weiße Ritter‹ …« »Ein White Knight!«, platzte Rivaret heraus. »Genau, ein White Knight!«, dämpfte ihn Ploniac und bedachte den hyperaktiven Burschen, dessen anglophile Zuckungen ihn immer wieder überraschten, mit einem langen Blick. »Also eine andere Individualgesellschaft – eine FrauGesellschaft natürlich –, die ein Gegenangebot abgeben könnte, um Sie aus Kellermans Krallen zu retten.« »Wir können Ihnen drei vorschlagen!«, jubelte Rivaret und verteilte seine Schaubilder mit der Fingerfertigkeit eines Croupiers. Guyot brauchte einen Moment, um zu begreifen, was hier vor sich ging. Er hielt ein paar farbige Seiten in der Hand, die das 195
»Unternehmensprofil« von drei börsennotierten jungen Frauen darstellten. Eher nüchtern, alle drei mit der gleichen viereckigen Frisur und gleichermaßen erschreckend hässlich. Ihre SchwarzWeiß-Fotos von vorn und im Profil erinnerten ihn an amerikanische Verbrecher, die ihre anthropometrische Schiefertafel hochhielten. »Ganz genau …«, fuhr Ploniac fort. »Wir haben diese drei allein stehenden Kandidatinnen nach ihrer Einkommensstruktur, ihrer psychosozialen Kompatibilität und nach möglichen Synergien mit Monsieur Guyot ausgewählt. Na los, Jocelyn!« »Beginnen wir mit Virginie Galouzeau I. G.«, begeisterte sich der Kleine und zappelte auf seinem Stuhl herum wie von Nesselsucht gequält. »Virginie ist neunundzwanzig, Science-PoDiplom, seit sieben Jahren Organisationsberaterin bei Triton. Sehr stabil, ordentliches Wachstum, Tubenligatur – bewertet auf ca. 5 Millionen Euro. Wie Sie der Grafik am Ende der Seite entnehmen können, würde durch eine Kombination mit Guyot I. G. eine solide Einheit mit attraktivem, nachhaltigem und selbstfinanziertem Wachstum entstehen. Dabei handelt es sich eindeutig um unsere bevorzugte Option … Alternativ haben wir Julie Langlois, zweiunddreißig, ESSEC Business School, seit sechs Jahren Wirtschaftsprüferin bei Prick. Nicht sterilisiert, im letzten Jahr leicht depressiv, aber jetzt scheint alles wieder in Ordnung zu sein. Sie ist glatte 4 Millionen wert … Und schließlich Leila Mahmoudi, dreißig, eine kleine Perle der Immigration: marokkanischer Abstammung, Absolventin der École Polytechnique, seit fünf Jahren Spezialistin für Cost Cutting bei Van Allen. Sehr starkes Wachstum und ligaturiert. Da geht es auf 8 Millionen hoch! Einziger Haken: Sie hat kürzlich erklärt, dass sie absoluten Wert auf ihre Unabhängigkeit legt. Also wenig Aussichten, dass sie uns zu Hilfe kommt …« Alexandre versuchte gar nicht erst, seinen maßlosen Ärger im Zaum zu halten – er war sich nur noch nicht ganz im Klaren, 196
wie er ihn äußern sollte. Seine Absätze bearbeiteten den Teppich in martialischem Rhythmus. Schließlich sprang er auf und schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch: »Wie ich mich dabei fühle, geht euch am Arsch vorbei, was? Glaubt ihr wirklich, dass ich schon so tief gesunken bin? Dass ich bereit bin, mich einfach so für ein paar Cent von der erstbesten Mieze aufkaufen zu lassen, die auf einen Schwanz oder auf Synergien scharf ist?« »Alex, ich habe es Ihnen schon mal gesagt, beruhigen Sie sich!«, brüllte Boyden gebieterisch. »Nein, ich beruhige mich nicht, Maître! Und ich werde mich auch nicht beruhigen, solange Sie es nicht begreifen! Ich will weder fusionieren noch mich von irgendwem aufkaufen lassen … Ist das klar? Weder von Kellerman noch von der Bande alter Jungfern, die Ihre Zuhälter in irgendeiner Gosse aufgetrieben haben! Ich will allein stehend bleiben, verstanden? Ich will meine Unabhängigkeit behalten, begreift ihr das nicht?« Alexandre genoss die Wirkung seines Ausbruchs auf der rechten Tischseite. Aber der Angriff kam von links – eine pfeifende, zögerliche Stimme. Eine nur allzu vertraute Rhinopharyngitis: seine Mutter. »Glaubst du nicht, es wird allmählich Zeit?« »Was?«, fuhr er herum, weigerte sich zu verstehen. »Glaubst du nicht, Liebling, es wird Zeit, dass du jemanden findest? Unabhängigkeit kann ja was sehr Schönes sein, aber mit zweiunddreißig könntest du doch …« »Mama, ich hoffe doch, das soll ein Scherz sein!«, unterbrach er sie. »Überhaupt nicht«, versetzte sie mit plötzlich fester Stimme und blätterte mit dem Zeigefinger in Rivarets Präsentation. »Die kleine Leila finde ich zum Beispiel sehr niedlich, so anmutig … ein bisschen dick vielleicht, aber anmutig. Du solltest nicht so 197
nach dem Aussehen gehen. Vertrau meiner Erfahrung, das Eheleben ist nicht …« »Schnauze, Mama!«, brüllte er und hielt sich die Ohren zu. »Ich flehe dich an, halt sofort die Schnauze!« Ein paar Sekunden lang erstarrten alle Anwesenden in der Betrachtung der Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Mutter und Sohn. Jeder fand darin wohl seinen Teil Dissonanz wieder. Alte, in verstaubten Ecken vergrabene Erinnerungen. Dann presste Madame Guyot würdevoll die Lippen zusammen, zog den Pashminaschal auf ihren Schultern zurecht und antwortete mit fester Stimme: »Nein, Alexandre, diesmal halte ich nicht ›die Schnauze‹, wie du sagst. Ich bin deine Mutter, deine Aktionärin und Mitglied deines Verwaltungsrats. Ich habe zwanzig Jahre meines Lebens in deine Erziehung investiert und meine ganzen Ersparnisse in deine verdammte Individualgesellschaft. Und deswegen halte ich sie diesmal nicht, meine ›Schnauze‹ …« »Okay, ich schlage vor, wir entspannen uns wieder«, entschärfte N’Guyen, den alle für eingeschlafen hielten, die Situation. »Warum lassen wir unsere Freunde von Golley Dean nicht die möglichen Optionen zu Ende vortragen?« »Hervorragende Idee«, stieß Guyot hervor und setzte sich wieder. Er ließ seine aufmüpfige Mutter nicht aus den Augen, aber sie ertrug seinen Shogun-Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Gut«, sagte Ploniac. »Neben dem ›weißen Ritter‹ besteht eine weitere klassische Verteidigungstaktik darin, ein Element zu finden, das die Fusion für den Betreiber des Angebots unmöglich macht.« »Poison Pill«, röchelte Rivaret. »Korrekt. Jocelyn. Der angelsächsische Begriff erklärt sich selbst: Es ist so etwas wie eine Giftpille, die man in die Beute 198
steckt, um das Raubtier abzuschrecken. Diese ›Pille‹ wäre natürlich in unserem Fall psychologischer Art …« »Oder medizinischer! Wenn Sie zum Beispiel an einer schweren Krankheit leiden würden. Mucoviscidose, Lungenkrebs oder sogar Aids …«, ergänzte Rivaret. »Danke, Jocelyn. Aber ich schlage vor, dass wir uns an den Fall von Monsieur Guyot halten, der bis auf weiteres völlig gesund ist.« »Und worin würde diese ›Giftpille‹ bestehen«, fragte Alexandre besorgt. »Nun ja, zum Beispiel … Ich weiß nicht … Darf ich Ihnen eine indiskrete Frage stellen?« »Nur zu!« »Sind Sie zufällig homosexuell?« »Nie im Leben!«, jaulte die Mutter auf und schlug mit ihrer kleinen schwieligen Hand in die Luft. »Nur ruhig, Madame«, redete Ploniac in dem allgemeinen Gekicher auf sie ein. »Ruhig. Ich wollte nur den Ansatz erläutern. Zeigen, dass wenn Ihr Sohn – nur als Beispiel – seine Homosexualität offenbaren würde, der Markt ganz sicher nicht mehr an die Machbarkeit einer Fusion mit Kellerman glauben würde …« »Aber Alex ist nicht schwul«, unterbrach Estelle Dupuis den skrupellosen Taktiker. »Er ist nicht schwul, und wir werden eine solche Lüge nicht am Markt verbreiten«, erklärte sie. »Das habe ich auch nie vorgeschlagen, Estelle!«, machte sich Ploniac auf den Rückzug. »Natürlich nicht. Noch einmal, ich habe nur ein Beispiel gegeben …« »Und haben Sie außer meinem fiktiven Comingout auf der Titelseite von Les Échos noch einen Plan B, Ploniac?«, spottete Guyot.
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»Nun … die andere Möglichkeit einer ›Giftpille‹ wäre die Ankündigung einer bereits bestehenden relevanten Beziehung … Im Klartext, wenn es schon jemanden in Ihrem Leben gibt, wenn Sie verliebt sind und es eine ernste Geschichte ist …« »Aber wenn ich Ihnen doch sage, dass es niemanden gibt! Ein echter Wilder!«, schimpfte die Mutter. In dem Moment trafen sich ihre Blicke. Da saß sie, allmächtig – ihm gegenüber. Geschenk des Zufalls, redete sich Guyot ein. Estelle Dupuis: Könnte nicht die gütige Halbgöttin ihn retten? Schließlich könnte er diese Frau durchaus lieben, und er liebte sie schon, kam ihm vor. Zumindest begehrte er sie, und das war eine hinreichende Bedingung für die Liebe, so wie er sie verstand. Warum konnten sie beide dann nicht ein bisschen so tun als ob? Vereint für die gute Sache, gegen Kellerman und gegen den Markt? Im Grunde wäre das nur halb gelogen. Obendrein im Dienste eines echten Widerstandsaktes … Alex begann von einer heldenhaften und romantischen Rettung zu träumen. Estelle Dupuis, seine engelsgleiche Schönheit – eine Giftpille mit Minze- und Vanille-Geschmack … Ländliche Aromen, von denen Kellerman ganz sicher übel werden würde. Estelle erkannte instinktiv die Notsignale, die Alex in ihre Richtung aussandte. Verwirrt senkte sie den Kopf, bedeutete ihm zweimal mit einer zitternden Kopfbewegung »Nein« und legte die rechte Hand auf den Tisch. Alexandre unterdrückte einen Aufschrei, als er die Schweinerei entdeckte: An ihrem Ringfinger glänzte spöttisch ein Solitär. »Monsieur Guyot, bestätigen Sie das? Niemand in Ihrem Leben? Nicht mal der Anfang einer Geschichte?«, fragte Ploniac. »Nein … absolut niemand.«
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Auf Estelles Lippen konnte er noch ein »Tut mir leid« lesen. Und trotz des Mähdreschers, der ihm die Eingeweide zerpflügte, genoss er die Erotik ihrer feuchten Mundwinkel. Die feinen Fältchen, die auf beiden Seiten ihres Mundes die Verpackung eines Törtchens mit roten Früchten anzudeuten schienen. »Ich habe es Ihnen gesagt! Ein Allein-auf-der-Welt, ein Asoziabler, ein Menschenfeind! Wie sein Vater!«, wetterte Madame Guyot. »Okay, es reicht!« Alex kümmerte sich nicht mehr um sie. »Was schlagen Sie sonst noch vor?«, schleuderte er Ploniac mit gepresster Stimme entgegen. »Na ja, also … Nichts …«, sagte der und streckte ihm die leeren Hände entgegen. »Wie – ›nichts‹?« »Monsieur Guyot«, seufzte Ploniac, »wenn wir die Situation zusammenfassen: Sie wollen nicht mit Laurence Kellerman I. G. fusionieren. Sie wollen sich auch nicht mit einer jungen Frau zusammenschließen, die als ›weißer Ritter‹ auftreten könnte. Und Sie haben keinerlei ›Giftpille‹. In Anbetracht dieser Tatsachen erlaube ich mir als Banker, Ihnen zu sagen: ›nichts‹. Auch unsere Kreativität hat ihre Grenzen. Es bleibt uns meiner Meinung nach nichts anderes übrig, als das Angebot von Kellerman abzuwarten. Und unsere Kommunikation so gut wie möglich zu organisieren, um Ihre Aktionäre zu einer Ablehnung zu bewegen. Estelle, stimmen Sie mir zu?« »Genauso ist es. Zwei Punkte sind hervorzuheben«, erwiderte die Prinzessin und verschränkte die Hände unter dem Kinn. »Als Erstes können Sie unmittelbar nach Kellermans Ankündigung eine Presseerklärung verbreiten. Darin erläutern Sie, warum Sie Ihre Unabhängigkeit bewahren wollen, sowie alle psychosozialen Divergenzen, die das Scheitern der Fusion befördern könnten. Zweitens: Eine formelle Empfehlung Ihres Verwaltungsrats an die Aktionäre, das Angebot abzulehnen, wäre ein 201
wertvoller Trumpf. Aber dafür muss man natürlich die Details des Übernahmeangebots abwarten …« Guyot ließ prüfend seinen Blick über die Runde der angesprochenen Personen wandern: seinen Verwaltungsrat. Boyden würde auf seiner Seite sein, egal, was das ruchlose Angebot beinhaltete. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sich seine Mutter seinem Willen widersetzen würde. N’Guyens Absichten waren schon viel ungewisser, und Pitt und Ouaknine würden sich garantiert dem Meistbietenden verkaufen … »Aber ich muss Sie dennoch warnen, Alex«, fügte Estelle in resigniertem Ton hinzu. »Alle Erwägungen vom Typ ›charakterliche Inkompatibilität‹ werden gegen die Argumente der Gegenseite kaum ins Gewicht fallen. Die meisten Aktionäre, ist zu befürchten, werden sich von Kellermans Angebot verführen lassen …« »Wirklich? Und wie hoch ist Ihrer Meinung nach die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Szenario eintritt?« »Ich glaube, das kann Ihnen Matthieu besser beantworten …« Ploniac zog eine Tabelle mit zwei Spalten aus seinem Ordner. In der ersten Spalte standen Dutzende von Namen, in der zweiten Prozentangaben mit zwei Nachkommastellen – das Aktionärsregister. »Seit der Kapitalerhöhung ist Ihr Aktionariat extrem zerstückelt. Darunter vor allem opportunistische Hedge-Fonds, die nicht zögern werden, einen ordentlichen Mehrwert zu realisieren. Auf der Seite der Kleinanleger haben die ›Sympathisanten‹, die Sie womöglich unterstützt hätten, Freunde oder Kollegen, ihre Anteile schon vor Ewigkeiten abgestoßen. Abgesehen von Laurence Kellerman, Ironie des Schicksals …« »Das weiß ich alles schon. Also?«, stieß Guyot hervor.
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»Also halten Sie zwar 45 % der Alex Guyot I. G., aber es ist sehr wahrscheinlich, dass das Angebot von den übrigen Aktionären angenommen wird. Es würde genügen, dass Kellerman die Schwelle von 50 % erreicht, um die operative Kontrolle zu übernehmen … und die Fusion durchzusetzen.« »Es kommt nicht in Frage, dass Kellerman irgendetwas durchsetzt!«, empörte sich Guyot. »Ich bin ein freier Mann und habe vor, es zu bleiben! Lieber ziehe ich mich von der Börse zurück, als mich dem Diktat dieser Verrückten zu unterwerfen!« »Aber Alexandre … Sie können sich nicht von der Börse zurückziehen«, korrigierte ihn Boyden. »Was heißt, ich kann nicht? Es ist doch immerhin noch mein gottverdammtes Leben, oder etwa nicht?« »Alex … ein Rückzug von der Börse erfordert eine außerordentliche Vollversammlung Ihrer Aktionäre. Und eine qualifizierte Mehrheit – Sie brauchen 75% der Stimmen. Sie können diese Entscheidung nicht alleine treffen. Das Delisting ist ein sehr schwieriges Verfahren, das wissen Sie doch …« »Bis auf zwei Fälle!«, brüllte Rivaret, der die Verordnungen bis ins Letzte auswendig kannte. »Klein a): Ableben; klein b): der automatische Ausschluss von Unternehmen, deren Wert unter die Schwelle von 100000 Euro fällt.« »Vielen Dank, Jocelyn«, lächelte Boyden ihm zu. »Aber noch einmal: Versuchen wir uns auf realistische Hypothesen zu beschränken.« Alexandre fühlte sich erdrückt. Zerquetscht von jedem Millibar Atmosphärendruck. Er bemühte sich, trotzdem in regelmäßigen Intervallen, in kleinen, bitteren Zügen die verpestete Luft einzuatmen. »Okay«, folgerte er mit schwacher, zerfranster Stimme. »Okay … Da es keine befriedigende technische Lösung gibt, können wir, glaube ich, nur noch ein gutes Folder für die Verteidigung 203
vorbereiten. Und darauf warten, dass Kellerman endlich ihre Ankündigung macht. Ich nehme an, dass ich meinen Verwaltungsrat nicht darum bitten kann, das Angebot abzulehnen, ehe er die Bedingungen geprüft hat …« »Das ist richtig«, bemerkte N’Guyen. »Ich würde lieber abwarten.« »Wir auch!«, nickten Pitt und Ouaknine, die bereits ein gutes Geschäft witterten. Die riesige Pendeluhr des Ritz zeigte vier Uhr früh. Das Nachtpersonal war einberufen worden: Sandwiches, Häppchen, Mineralwasser, Kaffee … Jeder machte sich nervös in einer Zimmerecke zu schaffen. Boyden und Madame Guyot gingen Seite an Seite auf und ab, die Hände im Rücken verschränkt, die Köpfe gesenkt, und brummelten düstere Vermutungen. Estelle Dupuis und Ploniac, die den vor seinem Laptop sitzenden Rivaret einrahmten, diktierten ihm eifrig, aber ohne große Überzeugung die wenigen Verteidigungslinien. N’Guyen, Pitt und Ouaknine gaben dem kalten Buffet die Ehre oder zogen sich zu hinterhältigen Geheimtreffen zurück … Blitzer hingegen schlummerte friedlich im Solarium des Hotels, dessen nächtliche Öffnung er mit einem großzügigen Trinkgeld erwirkt hatte. Alexandre wanderte von Gruppe zu Gruppe, auf der Suche nach Trost und Zuspruch, die er aber in keiner der kreidigen Mienen seiner Truppen fand. Um seine Nerven zu beruhigen, konzentrierte er sich in regelmäßigen Abständen auf ein Stuhlbein oder eine Türklinke: Sein Blick konnte minutenlang auf dem Motiv eines Zierstreifens erstarren. Eine Weile kämpften dann Müdigkeit und Angst miteinander … Aber schon die kleinste Bewegung Estelles riss ihn wieder aus seiner Betäubung. Ein eleganter Hüftschwung. Ihre geschmeidigen Finger, die sich um einen Stift legten … Er mochte es besonders, wie sie beim 204
Nachdenken mit großen Schritten im Raum umherging, die Arme über der Brust verschränkt. Schon sieben Uhr. Obstsaft, Gebäck, feine Konfitüre … Frischer Kaffee, immer wieder, immer noch. Literweise in hohen Inox-Thermoskannen. Rivaret schaltete den Fernseher in der Ecke an und suchte Listed TV. Dann warteten sie schweigend, frühstückten ohne Hunger … Zwischen den Schlagzeilen, die alle Viertelstunde gesendet wurden, wiederholte der Kanal die Börsenankündigungen vom Vortag: »Guten Tag. ich heiße Sandrine Marnet. ich bin achtunddreißig, geschieden und habe keine Kinder. Ich bin seit fast vierzehn Jahren Hilfskindergärtnerin und möchte gern an die Börse gehen, zur Finanzierung von …«, »Guten Abend Ihnen allen, ich bin Patrick Fouks, siebenundzwanzig, Nichtraucher und ledig. Friseur-Visagist, zurzeit in Paris; ich würde gern Mittel beschaffen, um …«, »Hallo, ich bin Seb, also Sébastien Vaneau. Ich bin vierundzwanzig, hab’s Abi und ein Psycho-Diplom. Durch die Börseneinführung könnte ich …« Hinter den dicken Vorhängen begann ein beschissener Tag. Koffein und Stress hatten Alex’ Magen in einen Salzsäurekessel verwandelt. Diese letzten Minuten des Wartens machten nichts besser. Und dann plötzlich, direkt nach einer Werbeunterbrechung, erschien sie unter der Einblendung »Breaking News« auf dem Bildschirm: lang und hochmütig hinter ihrem Stehpult. Weißes Hemd mit breitem Kragen unter einem Hosenanzug. Er hatte gesehen, wie sie ihn am Vortag bei Yamamoto gekauft hatte. Lächelnd. So breit lächelnd … Er hatte nicht gewusst, dass sich ihre Mundwinkel so weit auseinander ziehen konnten. »Guten Morgen allerseits und herzlich willkommen zu dieser Pressekonferenz … Ich bin glücklich und stolz, Ihnen meine Absicht mitzuteilen, heute Morgen ein öffentliches Umtausch205
angebot für Alexandre Guyot I. G. abzugeben. Ich bin felsenfest überzeugt, dass diese Transaktion, wenngleich unaufgefordert, unter operativen und finanziellen Gesichtspunkten absolut gerechtfertigt ist. Angesichts der sehr ähnlichen Geschäftsaktivitäten von Kellerman und Guyot birgt eine Fusion unserer Unternehmen ein beträchtliches Einsparpotenzial durch die sofortige Vergemeinschaftung diverser Fixkosten. Vor allem der Kosten des Gesellschaftssitzes und der allgemeinen Verwaltungskosten. Die Kombination Kellerman-Guyot ermöglicht überdies – das ist sehr wichtig – die Aktivierung steuerlicher Synergieeffekte, von denen Paar-Gesellschaften profitieren. Und nicht zuletzt der Psycho-Management-Effekt: Ich bin überzeugt, die Motivation und die Produktivität Guyots binnen kurzem erhöhen zu können, indem ich ihn mit meiner Dynamik anstecke und meine Steuerungsmethoden auf ihn übertrage. Strenge Methoden, deren Wirksamkeit, daran möchte ich erinnern, bereits erwiesen ist …« »Miststück!«, fluchte Guyot. »Du bist wirklich die Königin des großen Volkes der Schlampen und schlecht Gefickten dieses Planeten von …« »Psst!«, befahl N’Guyen. »Können wir vielleicht in Ruhe zuhören?« »Deshalb biete ich voller Zuversicht und Begeisterung allen Aktionären an, sich an diesem ehrgeizigen Projekt zu beteiligen. Einem Projekt, das im Erfolgsfall zum Leader-Paar im Bereich der Beratung werden wird. Ich fordere Sie deshalb auf, mit Ihren Anteilen auf dieses Angebot einzugehen, das ab 9.00 Uhr gelten wird und genau um 16.00 Uhr endet. Um den schnellen Erfolg dieser Transaktion zu gewährleisten, haben wir beschlossen, eine sehr attraktive Tauschquote 206
anzubieten: Wir geben eine Kellerman-Aktie für drei GuyotAktien aus. Das ist eine Prämie von mehr als 70 % auf den gestrigen Schlusskurs.« »Was???«, würgte Ploniac und spuckte seinen Espresso aus. »Wir sind tot«, stieß Rivaret hervor, jeden Anstand vergessend. »Pssst!«, zischten die anderen. »Diese großzügige Prämie zeugt von unserem Glauben in diese Operation und ihr beträchtliches Wertschöpfungspotenzial. Ich möchte zum Abschluss unterstreichen, dass mein Verwaltungsrat einstimmig hinter diesem Angebot steht. Vor allem genießt es die volle Unterstützung meines Referenzaktionärs Jeffrey K. Graham – CEO von McKimen World und Arbeitgeber von Guyot. Das war’s. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag – und vergessen Sie nicht: Sie haben bis 16.00 Uhr Zeit zum Umtausch Ihrer Aktien!« Alex hatte schon vor einer ganzen Weile aufgehört zu atmen. Als er sich nun nach den Anwesenden umsah, begriff er schnell, dass jeder Widerstand zwecklos sein würde. Tief in den Augen von Pitt und Ouaknine leuchtete die fette Prämie, die Laurence angeboten hatte, wie eine Tropenfrucht. Diese ganz neue Gattung von Prämie, die Rivaret unverzüglich in eine von seinem wunderbaren Kalkulationsprogramm formatierte Tabelle eintrug: »Prämie für Übernahme aus Liebe: 70 %«. Guyot begriff, dass er allein war. Allein gegen den Markt. Allein gegen Laurence Kellerman und ihre furchterregende finanzielle Schlagkraft.
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Wer konnte schon so ein Angebot ablehnen? Warum sollte man auf einen so ansehnlichen Kursgewinn verzichten? Wer würde die unwiderlegbare Logik dieser Transaktion bestreiten, die überdies von seinem eigenen Arbeitgeber unterstützt wurde? Kurzum: Auf wen konnte er noch zählen? Er überlegte einen Moment, die Hände zwischen die Schenkel gepresst, dann stieß er mit gebrochener Stimme hervor: »Ploniac, können Sie mir den genauen Prozentsatz meines Aktienanteils nennen?« »44,53 %«, kam der fixe Rivaret seinem Vorgesetzten zuvor, ohne auch nur einen Blick in die Unterlagen geworfen zu haben. »Und meine Mutter?« »Unter 2 %«, reagierte Ploniac. »Ich habe nach dem genauen Prozentsatz gefragt«, fauchte Alexandre. »1,52 %«, trompetete Rivaret. »Okay … Jetzt sagen Sie mir, wie viel der Hedge-Fonds Vassileev Capital hält.« »Einfach! Sie haben 80000 Euro in die Kapitalerhöhung investiert, also 4,45 %«, triumphierte der Hänfling. Guyots Augen leuchteten auf. Die Funktion »Summe« in der linken Hemisphäre seines Gehirns zeigte 50,5 % an. Er griff nach seinem Handy, während er seine Mutter anstieß: »Mama, ich gehe natürlich davon aus, dass ich auf dich zählen kann … Du denkst doch hoffentlich nicht daran, dieses Angebot anzunehmen?« Die Mutter saß mit hängenden Schultern rechts neben Boyden. Erschöpft von der durchwachten Nacht, weißer als ihr Schal, kratzte sie etwas Schorf von der Spitze ihres Zeigefingers. Ja, diese Frage stellte sie sich tatsächlich. Nein, die Antwort war wirklich nicht selbstverständlich. 208
Ja, ihr moralisches Gewissen war abgestumpft. Ja, die Prämie war ziemlich verlockend. Ja, sie war ganz einfach käuflich geworden. Das lag alles an dieser Börsennotierung, die hatte auch sie verändert. Sie träumte in diesen Tagen sogar, dass durch ihre Adern flüssig gemachte Ersparnisse flossen. Dick und purpurrot – mehrwertgesättigt. Was sie dann doch nachgeben ließ, waren weder Liebe noch Scham. Nur die Angst vor ihrem Sohn und das Schweigen der Gäste, das sie mit Schuldgefühlen erfüllte. »Natürlich nicht, mein Schatz. Wie könnte ich dich im Stich lassen?« Ohne sich die Mühe zu machen, ihr zu danken, tippte er mit dem Daumen eine zehnstellige Nummer in sein Handy. Sein Kehlkopf unter der straffen Haut des Halses zuckte. Sein Gesicht war in einem qualvollen Ausdruck erstarrt. Nur das Beben seiner Wimpern verriet die aufkeimende Hoffnung … Am anderen Ende der Leitung klingelte es einmal. Dann ertönte die raue Stimme eines Nikotinsüchtigen: »Hallo, Kumpel …« »Nicolas, hör zu, es ist dringend, ich brauch dich …«, hechelte er. »Alex …« »Nein, sei still, hör zu. Über mir hängt ein feindliches Übernahmeangebot von Kellerman. Ein Hackebeil, Kumpel – in einer Viertelstunde geht’s los. Diese Hyäne von einem Weib bietet eine Prämie von mehr als 70 %. Alle werden es annehmen, das steht fest. Alle Aktionäre, checkst du das?«, jaulte er. »Alex, ich …« »Schnauze, Nicolas, Schnauze, lass mich ausreden … Ich sage, dass alle das Angebot annehmen werden, außer meiner 209
Mutter – und mir natürlich. Aber das reicht nicht gegen Kellerman: Wir brauchen die Mehrheit. Und die erreichen wir nur, wenn deine Leute bei Vassileev bereit sind, nicht zu verkaufen, ihre Aktien zu behalten. Dafür verspreche ich dir, dass …« »Kumpel, ich …« »Lass mich ausreden, verdammte Scheiße, lass mich ausreden!«, heulte er fast ins Telefon. »Wenn ihr eure Aktien behaltet, verspreche ich euch, dass ich mich erhole, ich verspreche euch, zu ackern wie ein Pferd, ich mach richtig Dampf, Tag und Nacht, ihr kriegt die dreifache Dividende, ihr …« »Alex, Scheiße, hör mir jetzt zu, verdammt noch mal!«, brüllte Coeque. Alexandre verstummte. Er wischte den schaumigen Speicheltropfen ab, der aus seinem Mundwinkel geronnen war. Dann trübte sich sein Blick, als Coeque kleinlaut, wie er ihn sonst nicht kannte, fortfuhr: »Alex, ich bin hier nur der letzte Dreck – der kleinste Hansel, verstehst du? Solche Sachen werden eine Etage höher entschieden … Scheiße, Kumpel, es macht mich fertig, dass ich dir das sagen muss, aber … Vassileev hat sich schon entschieden: Sie nehmen das Angebot an.« Langsam, ganz langsam begann die Welt um Guyot zu kreiseln. Warf ihn nach rechts und nach links, wie auf einem Schiff bei hohem Wellengang. Dann drehte sich alles um ihn, immer schneller. Ein Mahlstrom von Gesichtern: seine Mutter, Boyden, Ploniac, Claire, Rivaret, Estelle, Pitt, N’Guyen, Ouaknine, Claire (Claire?) … Alle gefangen in dieser riesigen Zentrifuge, deren Drehachse er plötzlich war. 210
Seine Price Watch piepste: »9: 00, 25,30 Euro«. Um »73,5 %« gestiegen; »vorübergehende Aussetzung vom Handel«. Die Operation hatte begonnen. Die Aktien wechselten die Besitzer. Kleine Fragmente seiner selbst, die seine Aktionäre verscherbelten – einige aus Überdruss, andere aus Profitinteresse – und die Laurence geschickt mit ihren langen Fingern einsammelte, sorgsam bemüht, ihr French Manicure nicht zu ruinieren. Am unteren Rand las er: »14. Februar«. Das Datum verwirrte ihn. Seine Hände wurden eiskalt. In dem Moment sah er ein seltsames Licht: wie das grelle Aufleuchten eines Blitzes. In seinem Organismus vollzog sich eines jener chemischen Wunder, die Gefolterten an einem bestimmten Punkt die Fortsetzung ihrer Qualen ersparen. Und während sich sein Körper langsam dem Kollaps ergab, ging ein ironisches Lächeln über sein Gesicht. Selbst um den hohen Preis, dachte er, während er mit einer Bewegung zusammensank, die ihm unendlich langsam vorkam, selbst um den Preis der Erniedrigung eines Menschen, zugegeben von geringem Wert, bekam Laurence Kellerman das, was sie immer gewollt hatte. Sie löste das Versprechen ein, das sie sich selbst gegeben und das sie ihm ausdrücklich mitgeteilt hatte: Nein, diesen Valentinstag würde sie nicht als Alleinstehende verbringen.
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20 »Man gewöhnt sich an alles«, pflegte sein Vater zu sagen und sich die Schenkel zu reiben. »Man gewöhnt sich an alles«, hatte er mechanisch auf jede Frage Dritter nach seiner augenblicklichen Stimmung geantwortet. »Dritter«, weil der Vater nie wirklich allein war. Das hatten die Ärzte der Mutter mitgeteilt, die sich wegen seiner Selbstgespräche Sorgen machte: In ihm wohnten zwei sehr gesprächige Wesen, die sich in weitschweifigen Streitereien ständig gegenseitig zermürbten. Alexandre hatte sich immer gefragt, welches von beiden am letzten Tag die Kraft gefunden hatte, das andere aufzuhängen. Nun machte er sich die väterliche Weisheit zu Eigen. Er verstand sie jetzt besser, und ehrlich gesagt, passte sie ihm: Ja, tatsächlich, man gewöhnte sich an alles. Mühsam aus tiefem Schlaf erwacht, versuchte Alexandre, sich ganz davon zu überzeugen, während er in alte Tennisshorts und orthopädische Birkenstocks schlüpfte. Ja, Papa hatte verdammt Recht gehabt. Bei sonst gleich bleibenden Bedingungen prägten und durchdrangen zwei beliebige Einheiten sich gegenseitig und bildeten am Ende einen homogenen Klumpen, eine solide, wasserdichte Struktur. Ein unvermeidlicher Prozess, der nur ein paar Monate brauchte. So war es: Ein paar Monate genügten, und man gewöhnte sich an alles. An alles, ohne Ausnahme – selbst an die Gegend um die Porte de Vanves …
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Es war Laurence, die den neuen Geschäftssitz von KellermanGuyot I. G. festgelegt hatte, weil ein drastisches Cost Cutting notwendig sei. Ihr Vater hatte ihr diese einfache Dreizimmerwohnung bei der Métro-Station Porte de Vanves geschenkt, hoch oben im zwölften Stock einer dieser alphanumerisch in Blocks und Treppenaufgänge unterteilten Stadtrandsiedlungen, die auf immer und ewig zwischen dem inneren und dem äußeren Stadtgürtel eingezwängt waren. So nah bei Paris und so himmelweit entfernt wie ein Segelschiff, das bei absoluter Windstille eine Meile vor dem Ufer festsitzt … Aber Laurence zufolge völlig ausreichend. Die Nebenkosten waren gering, die Reinigung inbegriffen, mehr brauchte man nicht: Treibjagd auf alles Überflüssige. Die Wohnung in der Rue de Bassano war zu einem guten Preis verkauft worden, dank dem man den – über solche Segnungen verdutzten – Aktionären eine üppige »Superdividende« hatte auszahlen könne. Der Markt hatte applaudiert. Kellerman leistete an der Spitze der kombinierten Einheit gute Arbeit, das konnte man wohl sagen. Sie schien in dem Führungsstil, den sie gern als »charismatisch-autoritär« bezeichnete, geradezu aufzublühen. Und auf gewisse Art, erinnerte sich Alex, hatte sie ihren Stil vom ersten Tag ihres Mandats an durchgesetzt. Als sie an diesem verfluchten 14. Februar abends bei ihm aufgekreuzt war: geschminkt, verführerisch, unsinnige Liebesworte schluchzend und doch triumphierend und tatsächlich »autoritär«. Denn bevor sie ihn gezwungen hatte, mit ihr essen zu gehen, um ihren Sieg gebührend zu feiern, hatte sie verlangt, dass alles aufgeräumt würde, »und zwar gründlich«. Guyot hatte sich nachsichtig gefügt, aber hinter zusammengebissenen Zähnen hatte er sie insgeheim verflucht. Und seit diesem Abend entschied Laurence alles. Laurence befahl – Kellerman dirigierte. Als Generaldirektorin des doppelköpfigen Monstrums saß sie 213
am Ruder: Und sie hielt es mit eiserner, teflonbehandschuhter Hand. Von Jeff Graham mitgerissen – der sich regelmäßig damit brüstete, »ein verdammt mustergültiges Consultant-Paar, reine Produkte der McKimen-Schule« im Portfolio zu haben –, widmete sich Laurence mit Leib und Seele der Aufgabe, die Aktionäre zufrieden zu stellen. Und entwickelte eine so phänomenale Energie, wie sie lediglich durch Wut, Angst oder Frustration erzeugt wird – und erst recht durch die Summe dieser Faktoren. Aber eigentlich, analysierte Alexandre, während er die Shorts zuknöpfte, reproduzierte Laurence den Investoren gegenüber nur ein nicht seltenes und verheerendes altes Muster, das schon die Beziehung zu ihren Eltern, ihren Liebhabern und ihren Arbeitgebern beherrscht hatte: die krankhafte Servilität des verlassenen Kindes. Wie die kleinen Streber, die man sofort daran erkennt, dass sie allein in der ersten Reihe sitzen und ihre Neurosen lindern, indem sie tausendmal ihre guten Noten nachrechnen. Zu denen hatte Laurence gehört. Und sie hatte sich nie geändert. Das wissen alle klugen Eltern: Schon in der Grundschule ist alles gelaufen. Der Markt war sehr geeignet für diesen Persönlichkeitstyp. Für diese auf der Basis kindlicher Phobien strukturierten Psychen. Denn solche Angstvorstellungen garantierten die buchstäbliche Befolgung der Grundrezepte des Qualitätsmanagements: »Sag, was du tust, tu, was du sagst, arbeite gut, lüge nie, achte auf jeden Cent, und mach ja keine Dummheiten, sonst macht es peng, und dein Share Price ist hin!« Laurence hatte im Neuen Individualmarkt ein transparentes und gerechtes Gratifikationssystem gefunden. Gute Noten zu Tausenden. Gerechtere, wahrhaftigere. Liebe und Liebesbeweise, die ihre Price Watch ihr anzeigte. Sicher hatte es seine Vorteile, mit einer voll erblühten Frau 214
zusammenzuleben, die vollkommen von ihren Investoren erfüllt war. Gab Alexandre zu, als er im Zickzack durch den dunklen Flur mit der Vichytapete ging. Denn schon nach knapp zwei Monaten hatte Laurence darauf verzichtet, von ihm geliebt und/oder begehrt zu werden. Das war ihr jetzt egal, solange er nur geradeaus ging: Das war das Wesentliche. Vor allem hatte sie dafür gesorgt, dass er umgehend wieder aufs Leistungsgleis kam: Sein Tagespensum war von morgens bis abends festgelegt. Mit martialischer Genauigkeit durchgeplant und optimiert. Laurence’ Grobheit – ähnlich der von prahlerischen Offizieren gegenüber den Rekruten – äußerte sich schon am frühen Morgen. Genau um 6.30 Uhr schüttelte sie Alexandre und rezitierte lautstark erbauliche Sprichwörter über den Frühaufstehern verheißenen Ruhm. Bei Widerstand ergänzt durch scheußliche Anekdoten und schreckliche Fabeln von brutal vor die Tür gesetzten Kollegen. Durchaus »brauchbaren Typen«, die seitdem arbeitslos waren … Nach einer qualvollen Bauch-Beine-Po-Gymnastik (20 Minuten), an der er natürlich teilzunehmen hatte (abwechselnd musste man die Fesseln oder das Becken des Partners festhalten), war die kalte Dusche gefordert: 10 Minuten für ihn, 15 Minuten für sie. Um genau 7.15 Uhr energetisches Frühstück (25 Minuten): frischer Zitrussaft, frische Milch, frische Eier, frisches Obst, verschiedene Körner (ja!), Roggenbrotscheiben. Man kaute schweigend seinen Brei und saugte sich mit exaltierten Zitaten voll, Fragmenten, die sie an eine Korktafel zwischen fotografische Zeugnisse ihrer glücklichen Kindheit gepinnt hatte: »If you can dream it, you can do it.« (Walt Disney), »Life is not a spectator’s sport.« (Reebok), »Nimm deine Chance wahr, packe dein Glück und geh auf dein Risiko zu. Wenn sie es bei dir sehen, werden sie sich daran gewöhnen.« (René Char), »If you don’t understand, just fucking pretend.« (Jeff Graham). 215
Man ging erquickt daraus hervor und war dann, den leistungsstarken Laptop über die Schulter gehängt, bereit für einen ordentlichen Arbeitstag. In den für die Fahrt veranschlagten 30 bis 40 Minuten lenkte Laurence nervös den sparsamen Diesel-Micra und hörte in Diskolautstärke Börsenfunk. Und gegen 8.15 Uhr traf man informiert und motiviert endlich am Sitz von McKimen ein. Laurence hatte bei der Personalabteilung erreicht, dass sie das Büro teilten. Sie müsse schließlich »den Guyot überwachen«. Und den ganzen Tag zusammen produzierten sie Schaubilder. Sie aus Berufung, er aus Angst vor Repressalien: Seine Arbeit wurde von Kellerman täglich »verfolgt und geprüft«. In der Mittagspause – aus Sorge um die Effizienz auf 20 Minuten begrenzt – ließ sie Fertigmenüs aus Salat, Joghurt und Mineralwasser kommen und schlang ihre Portion herunter, während sie durch Boursorama surfte. Und so erholten sie sich zusammen und unermüdlich produzierten sie Schaubilder. Ohne ein Wort miteinander zu reden. Und gegen zwanzig, einundzwanzig oder vielleicht zweiundzwanzig Uhr, oder vielmehr: wenn Laurence Kellerman es für gut befand, streckte sie sich mit einem Stoßseufzer und rief strahlend: »Wow, heute hab ich mal wieder ordentlich rangeklotzt!« Und das bedeutete, dass man heimgehen konnte. Ident die folgenden Tage. Et cetera. Ad libitum. So war der Tagesablauf. Man gewöhnte sich an alles. Und tatsächlich, die Monate vergingen, erinnerte sich Guyot und ließ sich in einen weißen Skaisessel fallen. Durch die Glastür ihm gegenüber sah man die wolkenerdrückte Hauptstadt. Ja, die Monate vergingen, ziemlich schnell …
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Die Abende und die Wochenenden waren schon komplizierter. Doch irgendwann fiel Alexandres Schweigen nicht mehr auf. Denn er beschränkte sich mühelos auf die allernotwendigste Kommunikation und verharrte die meiste Zeit in einem schützenden Autismus, den nur Eindringlinge von außen durchbrechen konnten. Daraus folgte die gebieterische Notwendigkeit eines intensiven Gesellschaftslebens. So dass er und Laurence nie eine Einladung ausschlugen. Und sogar so weit gingen, darum zu betteln, um für Augenblicke diesem Kerker zu entrinnen, den jeder von ihnen beiden gewissermaßen Stein für Stein um sich errichtet hatte. Und es traf sich sehr gut: Börsennotierte Paare schlugen sich gern den Bauch voll. Bei allen gab es nur gedämpftes Gemüse und stilles Wasser; Alkohol und Fett waren verpönt. Es war also nicht grundsätzlich unangenehm, »in Gesellschaften« zu leben, wie diese guten Leute gerne witzelten. Solange man darauf achtete, nur mit Paaren annähernd gleichen Werts zu verkehren. So hütete sich die Kellerman-Guyot I. G., deren Wert sich bei etwa 15 Millionen Euro stabilisiert hatte, mit Einheiten zu verkehren, die nicht derselben Vermögensklasse angehörten. Und in ihren Unterhaltungen hatte das »Wie viel sind Sie wert?« – das eine ehrliche, genaue, bezifferbare, nachprüfbare Antwort verlangte – glücklicherweise das »Wie geht es Ihnen?« abgelöst. Historisch gesehen, war diese Frage ohnehin bloß eine Quelle der Lügen und der gesellschaftlichen Heuchelei: endemische Plagen, die den maroden – immer kleineren und zunehmend geächteten – Kreis der nicht notierten Individuen nach wie vor heimsuchten. Also wirklich, ja, wirklich, man gewöhnte sich an alles: Samstag Abendessen bei den Nurtet-Farrin I. G., am Sonntag Brunch bei den Vallet-Boussac I. G., am nächsten Freitag 217
Abendessen zuhause mit den Nurtet-Farrin I. G., den CatallatPasquier I. G. und den Doriot-Martinez I. G. Am folgenden Samstag den Jahrestag der Fusion der Jeantet-Clavignac I. G. nicht vergessen … Diese häufig stattfindenden Essen boten den notierten Paaren reelle Möglichkeiten, sich glücklich zu fühlen. Objektiv glücklich – durch einfachen Vergleich. Denn schließlich hing bei sonst gleich bleibenden Bedingungen ihr Glück – auf der Basis ständiger Wertermittlung – lediglich von den Misslichkeiten ab, über die man sich beim letzten Dinner unterhalten hatte. Ja, wenn man Medikamenteneinflüsse außer Acht ließ, war das Wohlbefinden jedes Einzelnen eine Größe, die proportional zu den Sorgen wuchs, die man bei den anderen feststellte. Die Männer redeten über Geschäft und Wachstumsperspektiven. Die Frauen tauschten Buchungstricks und Bewertungsbögen aus und studierten die neueste NN-Ausgabe mit spitzzüngigen Kommentaren über Bekannte, Feinde oder Verbündete, Paare oder Alleinstehende, über die sie sich lustig machten oder die sie beneideten. Und so verging die Zeit, von Samstag zu Samstag, von Sonntag zu Sonntag, und ehe man sich’s versah, war es Herbst … Bei diesen festlichen Gelegenheiten, sobald er unter Dritten war, setzte Guyot alles daran, sich außerordentlich gesellig, charmant und liebenswürdig zu zeigen, kurz sich in den honigsüßen, unwiderstehlichen Gatten zu verwandeln, mit dem alle ehrgeizigen Frauen gerne eine Paar-Gesellschaft gebildet hätten. Und Woche für Woche verfeinerte er das Feuerwerk im Dienst seiner wundervollen Hinterlist. Deren Ziel war einfach: Indem er wieder vollkommen stumm und formlos wurde, sobald der letzte Gast gegangen war, erinnerte er Laurence an den Kern des Problems: Nein, er liebte sie nicht. Nein, sie würde nie Zugang zu dem geistsprühenden, reizenden Wesen finden, das er sie kurz hatte erahnen lassen. 218
Diesem Wesen, das in ihm noch lebendig war, sich ihr jedoch nie öffnen würde. Gewiss, er war nicht der einzige Mann, dem dieses Missgeschick widerfahren war. Seit der Übernahme durch Kellerman und der Anerkennung ihrer Rechtsgültigkeit unterlag das Gefühlsleben der Notierten einem besessenen Rhythmus von Fusion & Akquisition. Feindliche oder freundliche Übernahmeangebote, Übertragungen und Splittings, Schachtelbeteiligungen oder Zerschlagungen … Auf Euronext zeichnete sich eine neue Liberalisierung der Sitten ab. Keine Heiraten, Lebenspartnerschaften, Scheidungen oder Ehebrüche mehr: nur noch finanzielle Transaktionen, in reinster liberaler Tradition. jedenfalls verabscheute Guyot Kellerman zutiefst. Diese Frau, die zu seiner Hälfte geworden war, weil er nur ein Viertel so viel wert war wie sie. Verabscheute sie insgesamt und in jedem Detail. Fanatischer, unabänderlicher Abscheu – nicht verhandelbar. Er verabscheute sie noch mehr seit der Nacht der Vergewaltigung, dachte er, während er das verzerrte Bild seines Gesichts in dem schmutzigen Kompottlöffel musterte. Denn unter juristischen Gesichtspunkten hatte es sich zweifellos um eine Vergewaltigung gehandelt. Nach einem Dinner mit den Jeantet-Clavignac I. G. (oder vielleicht waren es auch die Nurtet-Farrin I. G.) hatte Laurence sich mit Beischlafgelüsten zu Bett begeben. Denen er, wie immer, keinerlei Beachtung geschenkt hatte, weshalb er sich damit begnügte, im Tennis Magazine zu blättern und sich friedlich am Hodensack herumzufummeln. Aber während sie sich sonst mit seinem sexuellen Appetitmangel abfand, war sie an diesem Abend merkwürdigerweise explodiert: »Dass du seit unserer Fusion noch kein einziges Mal mit mir geschlafen hast, geht ja noch. Aber ich warne dich, Alexandre: Ich habe nicht vor, meine Eierstöcke vergammeln zu lassen!« 219
Mit Bedauern hatte Alexandre seine Lektüre eines Artikels über die großartige Karriere von Mats Wilander unterbrochen und sich auf den Ellbogen gestützt, um ihr Furiengesicht zu betrachten: ein Topf Hormone auf dem Siedepunkt. Der Auslöser war nicht schwer zu erraten. Die Nurtet-Farrin I. G. (wenn es nicht die Jeantet-Clavignac I. G. waren) hatten einen guten Teil des gemeinsamen Abendessens damit zugebracht, die Vorzüge von Filialgründungen zu rühmen. Schon seit drei Jahren hatten sie eine Filiale – Vorname: Chantal –, und die zweite war sozusagen »in der Mache«. Guyot waren solche finsteren Seelenzustände völlig egal, und er hatte ohne die geringste Freundlichkeit erwidert: »Kommt nicht in Frage, Laurence. Darf ich dich mal wieder daran erinnern, dass du bei mir keinerlei Erektion auslöst? Wenn nicht sogar eine extreme Schrumpfung …« »Ich garantiere dir, dass du einen Ständer kriegst!«, schrie sie aufstampfend wie eine rasende Hexe auf der Suche nach einem guten Besen. »Würde mich wundern«, ignorierte er sie. »Tadalafil! Du wirst einen Ständer kriegen, Herzchen, das garantier ich dir!« »Tadalawas?« »Tadalafil, das Cialis-Molekül. Dasselbe Prinzip wie Viagra, aber doppelt so stark! Für Superimpotente …« »Na und?« »Und du hast vierzig Milligramm davon intus, mein lieber Schatz. Vermischt mit deinem Tiramisu!« Unterdessen hatte sich Laurence aufs Bett gestürzt und entschlossen seinen Schwanz gepackt. Wie eine Besessene schlug sie mit ihren ungeschickten, eiskalten Fingern seine Eichel gegen ihre Handfläche, etwa so wie man einen Fisch am Spülbeckenrand erschlägt. An diese allmonatlich wiederkehren220
den Krisen gewöhnt und im festen Vertrauen auf seine standhafte Schlappheit hatte Alex sie machen lassen und seine Lektüre dort wieder aufgenommen, wo er sie unterbrochen hatte: Roland Garros 1983; die Niederlage gegen Noah. Aber nach ein paar Minuten – in denen Laurence, platt auf dem Bauch liegend, es mühsam mit Blasen versuchte und ihn mit sanfter, dann fester, dann wieder sanfter (und immer rauer) Zunge leckte, wobei sie ihr Hinterteil auf und ab bewegte wie ein Mutterschwein beim Säugen – passierte es gegen seinen Willen: Er stand. Ja. Er stand mächtig. Eine unbeherrschbare Schwellung. Von verblüffender Festigkeit. Erobererblut, spritzig und brennend, kräftig durch das Spongiosagewebe pulsierend. Triumph des Tadalafil: Also war alles nur Chemie. Völlig geschockt hatte Alexandre seinen Schwanz betrachtet, der hart, lang und dick geworden war. Wie eine angeborene Fehlbildung oder eine Art Prothese. Diesen Moment der Verblüffung hatte Laurence für ihren Überfall genutzt: Unvermittelt setzte sie sich auf sein priapisches Glied, und sie musste sich kaum zehn Sekunden lang bewegen, bis er – ohne das geringste Stöhnen – einige scharfe Spritzer Samenflüssigkeit abgab. Darauf warf sie sich trunken vor Macht in die Brust und zugleich den Kopf mit einem Ruck nach hinten. Eine herrlich vulgäre Bewegung, wenn starke Frauen sie ausführen, die aber bei ihr lediglich ein lautes Knacken der Wirbelsäule auslöste. Mit Gorgonenaugen hatte sie Alexandre angestarrt und einen jener bildhaften und gemeinschaftsstiftenden Slogans gekreischt, die bei McKimen ihren Teamleader-Ruf ausmachten: »Es ist drin, es ist drin: Der Wurm ist in der Frucht!« Dann war sie eingeschlafen, die Beine umsichtig nach oben gegen die Wand gestemmt. Und an diesem Abend, wie an allen anderen auch, hatte er ihr ins Ohr geflüstert: 221
»Laurence, gib mir mal die Fernbedienung. Gib mir die Scheißfernbedienung!« Er war nach wie vor überzeugt, dass es dieser Satz war, der Claire umgebracht hatte. Konnte eine so schreckliche Waffe nicht ein zweites Mal töten? Und dann waren die Stunden, Tage, Monate vergangen: Man gewöhnte sich an alles. Selbst daran, sein Leben mit einer furchtlosen Vergewaltigerin zu teilen. Einer Vergewaltigerin, die sich obendrein noch eingekapselt hatte und es sich in ihrer Schwangerschaft bequem machte. Man gewöhnte sich an alles, das war die einzige Wahrheit auf Erden. Das einzig gültige Prinzip der populären Metaphysik. Der Vater hatte Recht – er hatte ja so Recht gehabt … Solchen Gedanken hing Guyot nach, während er durchs Fenster den traditionellen Stau auf der Umgehungsstraße betrachtete: Tausende von menschlichen Wesen, in ihre Blechkisten eingesperrt, bohrten in der Nase und dachten ans Abendessen … Wahrscheinlich mussten sie noch Schnitzel panieren, Kutteln vorkochen und Kartoffelpüree anrühren. Wie jeden Abend dösten sie in der Langeweile der Staus vor sich hin, von Zeit zu Zeit von ihren lauen Blähungen erwärmt. Kurze, verkrampfte Fürze, schätzte Alexandre und legte die Stirn an die beschlagene Scheibe. Die Fürze gestresster Eltern, die sie bald, umgeben von ihrem kichernden, undankbaren Nachwuchs, in Salven in das abgeschabte Acryl ihrer Bettsofas fahren lassen konnten … In dem Moment hörte er aus der Küche das Quietschen von Turnschuhen auf dem Linoleum. Langsam drehte er sich um, und da stand Laurence – leichenblass. In türkisem Pulli und 222
Steghosen. Blutarm wie immer. Männlicher denn je. Aber mit dieser scheußlichen Schwellung in der Körpermitte. Man gewöhnt sich an alles, dachte er noch einmal und musterte sie ärgerlich … Ihre Stimme, die vor lauter Hupen kaum zu hören war, zitterte: »Alexandre, ich glaube … Ich glaub, die Fruchtblase ist geplatzt.«
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21 Der November ist ein Monat der Schwäche und des Todes. Die an Allerseelen gerade noch gefeierten Leichname spazieren gerne darin herum; sie nutzen das günstige Klima – verwest wie sie selbst – und den erfreulichen Rückstrom der Saisontouristen. Guyot war denn auch nicht überrascht, Claire und seinem Vater zu begegnen, die Hand in Hand durch die Krankenhausflure wandelten. Neugierig umherschweiften, als entdeckten sie die Welt. Die eine elegant in ihren tiefroten Pelz blutend, der andere seinen blut- und ölverschmierten Wagenheber hinter sich herziehend … Diese Halluzinationen, davon war er fest überzeugt, konnten nicht nur der Müdigkeit angelastet werden. Denn als er gegen zwei Uhr morgens aus kurzem Schlaf erwachte, waren die beiden immer noch da, standen ihm zur Seite, in dem halbdunklen Zimmer über das Ding gebeugt. Laurence hatte sich also den November ausgesucht, um es mit dem Werfen zu versuchen. Dachte Alexandre, der unbequem auf einem Hocker saß, den gequälten Schädel an die verputzte Wand gelehnt, und sich die verklebten Augen rieb. Ausgerechnet den 23. November hatte sie erwischt: Hut ab, Laurence! Ein angeborener Sinn für glückliche Zusammentreffen und Kostenersparnis. Sie würden also jedes Jahr mit ein und demselben Kuchen seine Börseneinführung und die Geburt des Kümmerlings feiern. »Kümmerling« – sicher keine sehr zivilisierte Bezeichnung für die rühmliche Nachkommenschaft. Dennoch war sie angemessen: Die befruchtende Vergewaltigung hatte lediglich sieben Monate zuvor stattgefunden. Gegen Abend hatte sich das Wartezimmer der Entbindungsstation nach und nach gefüllt: die Mutter (hinfällig), Boyden (nervös), Estelle Dupuis (schwanger und demnächst notiert), die 224
Banker (ohne Blitzer), Jeff Graham (auf der Durchreise in Paris), N’Guyen (nörgelig) und dann Claire und Papa, die zwischen den Lebenden hin- und herspazierten. Eine Versammlung unscharfer Gesichter, umgeben vom blassen Grün der Wandfarbe. Merkwürdig schillernd im Neonlicht. Sehr bald hatten die Schwestern angekündigt, dass die Geburt kompliziert würde: »Das Baby liegt nicht gut«, hatten sie geflüstert. Dazu einen Terminus technicus, den Alexandre nicht behalten hatte, aber dessen Klang bei ihm das Bild eines wütenden Fötus heraufbeschwor, der die Eingeweide seiner Erzeugerin zerriss. Kurz vor Mitternacht hatte der Geburtshelfer schließlich verkündet: »Es ist ein Junge. Dem Kind geht es gut, aber der Zustand der Mutter ist kritisch. Die inneren Blutungen sind noch nicht völlig gestoppt – man muss abwarten. Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend. Ich sorge dafür, dass die Nachricht an Reuters geht.« Die medizinische Transparenz war gesetzlich vorgeschrieben. Aber der Markt hatte die Nachricht schon längst vorweggenommen: Tatsächlich zirkulierte das Gerücht bereits seit 22 Uhr. So dass Alexandre auf seiner Price Watch hatte lesen können: »DRINGEND: Kellerman-Guyot I. G: Erhebliche Komplikationen im Zusammenhang mit Filialgründung; Lebensfähigkeit der Muttergesellschaft steht in Frage.« Von diesem Moment an hatten sich die nachbörslichen Verkaufsorders massiv gehäuft, die bei der Börsenöffnung am nächsten Morgen ausgeführt werden sollten. Nach Ploniacs Analysen würde der Kurs tief stürzen – um ungefähr 80 %: »Bis zur Stabilisierung von Kellermans Gesundheitszustand.« Hinsichtlich der Fortpflanzung blieben Analysten und Investoren ganz allgemein sehr misstrauisch. Sie wurde von der Finanzwelt überwiegend als teure und riskante Diversifizierung betrachtet, oft ohne klares strategisches Konzept betrieben und 225
meist von bloßem Expansionsverlangen motiviert. Die Skepsis verstärkte sich noch, wenn die Produktivität der Mutter darunter litt, was die Familien-Gesellschaft zunehmender Volatilität aussetzte. Der Arzt hatte hinzugefügt: »Monsieur Guyot, Sie können Ihren Sohn jetzt sehen.« Und deshalb saß er um zwei Uhr morgens immer noch da im Halbdunkel. Konfrontiert mit dem Ding. Dem winzigen Säugetier. Diese neue Einheit erschien ihm vollkommen unnütz – fremd. Ein Bündel schrumpliger Haut mit weichen Knochen, wenigen Haaren und schon, wie er fand, einem kleinen Kaderkopf. Er betrachtete es aus der Nähe, um die Einzelheiten zu sehen: das zerknitterte Affengesichtchen, den mageren durchscheinenden Körper, der ausgestreckt auf dem Bauch lag, die an den Oberkörper gedrückten Arme, die in blutroten kleinen, zur Decke gekehrten Handflächen ausliefen. Er dachte flüchtig an eine gestrandete Schildkröte. Und dann plötzlich atmete das Ding lauter. Ein lang gezogenes Pfeifen, hauptsächlich durch die Nase. Der Rücken hob sich in schnellerem Rhythmus – ein Dutzend Bewegungen und dann auf einmal: nichts mehr. Vollkommenes Schweigen. Reglosigkeit. Alexandre hielt seinen Zeigefinger vor die Mundöffnung: kein Hauch. Von der gut geölten Maschinerie des bedingten Reflexes getrieben, stürzte er zur Klingel für das Pflegepersonal. Dann besann er sich plötzlich – und unterließ den Druck auf den 226
Plastikknopf. Er spürte undeutlich, dass sich die Lage zu seinen Gunsten wenden konnte … Es ging ihm wie einer in einem Glas gefangenen Fliege: Dieses bewundernswerte Insekt sieht, auch wenn es hundertmal gegen die unsichtbare Wand taumelt, selbst wenn ein sadistischer Bengel ihm mehrere Beine ausgerissen hat, beharrlich in jedem Sprung im Glas eine Hoffnung auf Freiheit. Ja, das widerwärtige kleine Tierchen da vor ihm erstickte. Zog sich diskret aus der Welt zurück, unter den zustimmenden Blicken Claires und seines Vaters. Zwei talentierten Selbstmördern. Zwei auserlesenen Paten. Was schließlich war alltäglicher? Warum zum Teufel Hilfe holen? Immerhin starben Tag für Tag viele solcher Schreihälse aus ungeklärten Gründen. Unverständliche Tode ohne Verantwortliche und Schuldige: Baby schläft wie jeden Abend plappernd ein, Papa-Mama gehen gelassen aus dem Kinderzimmer. Und morgens wacht man auf, und statt des unaussprechlichen Wunders vom Tag zuvor findet man als einzigen Erben ein Bündel bläuliches Fleisch, das nach Milch und Exkrementen stinkt. Plötzlicher Kindstod. Sein Consultant-Gehirn vermaß die Wirklichkeit neu. Zeichnete raffinierte Baumdiagramme, um sich die Möglichkeiten zu verdeutlichen. Ja: vielleicht gab es einen Sprung im Glas … Aber er musste sichergehen. Und unverzüglich handeln. Fieberhaft wählte er eine Nummer auf dem Handy, während er noch einmal die Atemnot des Neugeborenen überprüfte: Das Ding fing an sich blau zu verfärben und verbreitete seine Spucke auf der Matratze … »Ja, hallo?« »Nicolas, ich bin’s …«
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»Hey, Alter!«, antwortete Coeques verschlafene Stimme. »Ich hab das mit Laurence erfahren. Keine Zeit gehabt vorbeizuschauen. Hab dir ’ne Nachricht hinterlassen. Tut mir leid, Alter, wie geht’s ihr denn nach dem …« »Nico, was passiert, wenn Laurence nicht durchkommt?« »Aber was redest du denn da? Man soll so was nicht be …« »Nico, ich muss es wissen, bitte – es ist dringend.« »Okay, Alex«, seufzte Coeque. »Ich nehm an, du weißt schon von den massiven Verkaufsorders heute Abend. Morgen früh gibt’s einen krassen Absturz. Der Markt wartet auf bessere Nachrichten über Laurence’ Gesundheit …« »Ich weiß, Nico, aber antworte mir auf meine Frage: Wenn sie krepiert, wie reagieren die Investoren?« »Du bist echt komisch, Alter … Ich weiß nicht recht, warum du mich das alles fragst, aber … Okay … Wenn das je passiert, schmierst du ab, Alexandre, dann schmierst du echt ab … Dein Wert würde auf ein oder zwei Millionen Euro fallen, höchstens. Ein paar langfristige Fonds könnten auf allein stehende Väter setzen; wenn der Kleine sich dann gut macht, kann ein hübscher Optionspreis rauskommen, aber wenn nicht …« »Gut, und wenn ich dir sage, dass es nur noch mich gibt. Mich ganz allein. Was sagst du dazu?« »Wie – ›ganz allein‹, Alex? Vergiss nicht, dass du grad ein Kind bekommen hast …« »Und wenn auch mein Kind krepiert?« »Was? Dort – sofort?« »Ja, hier – sofort.« »Alex, was ist los? Ist das Baby krank oder was? Bist du sicher, dass …« »Scheiße, Nico, beeil dich! Bilanz! Was passiert, wenn Laurence und der Kleine krepieren?«, brüllte Guyot. 228
»Okay, Alter … Okay … Ich will ganz offen sein … Ganz allein bist du keinen Pfifferling wert. Laurence war’s, die dir wieder auf die Beine geholfen hat …« »Okay, geschenkt. ›Keinen Pfifferling‹ heißt bei dir wie viel?« »Alex … In diesem Fall, das wär die Katastrophe, kapiert? Du wärst nur noch Peanuts wert, du … du …« »… ich würde aus der Notierung fallen?« »Ja, Alex … Ja, Alter … tut mir leid, dir das zu sagen, aber das wäre das sichere Delisting.« Die letzten Worte Coeques öffneten augenblicklich mehrere verstopfte Ventile in seinem Gefäßsystem. Sein Herzrhythmus wurde ausgeglichener: Er atmete besser. Es kam ihm so vor, als hätte er seit Monaten nicht mehr geatmet. Ein Sprung im Glas … »Sag mal, Nicolas, habt ihr noch ein paar Kellerman-GuyotAktien in deinem Mafiafonds?« »Ja, ein paar wenige …« »Dann geb ich dir einen guten Tipp, Alter … Einen Insidertipp aus massivem Gold. Bloß weil du mein bester Kumpel bist …« »Was spinnst du denn da, Alex? Bist du voll, oder was? Soll ich kommen …« »Hör zu, Nico. Hör gut zu, mein Freund. Verkauf. Verkauf alles. Denn es wird ernsthaft crashen …« Er legte auf, wischte sich die Stirn und legte Daumen und Zeigefinger um den flaumigen Hals des Säuglings. Die Schlagadern pulsierten noch – sehr schwach. Er lächelte Claire und seinem Vater zu, die nebeneinander auf der Fensterbank saßen. Dann plötzlich – ohne noch eine Sekunde zu zaudern – schloss sich seine Hand.
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Mit all seinen Kräften, mit all seiner Wut drückte er den weichen kleinen Hals zu. Mit all seinen Kräften, mit all seiner Wut drückte er meinen weichen kleinen Hals zu. Denn genau in diesem Augenblick erschütterte ein merkwürdiger Krampf, eine heftige Kontraktion – ich weiß bis heute nicht, aus welchem Grund – meinen Thorax. Wie eine Defibrillation. Kalte Luft drang in meinen Mund, wirbelte durch die Luftröhre und sammelte meine Angst und meine Wut, bevor sie sich hinauskatapultierten. Und ich habe ganz laut geschrieen. Denn ich wollte nicht sterben. Schauen Sie. Bewundern Sie. Es ist viel später, lange danach. Im Wohnzimmer hoch über der Porte de Vanves. Die Möbel sind identisch. Der Blick ist derselbe. Nichts hat sich verändert, nichts wird sich jemals verändern. Ich halte diese Stabilität für einen unschätzbaren Vorteil: Volatilität verabscheue ich mehr als alles andere. Essen, trinken, schlafen, urinieren, schlafen, trinken, defäkieren, urinieren, essen, schlafen, defäkieren, trinken … Ich bin überzeugt, dass die unerklärliche Wiederholung der Dinge ein zuverlässiger Indikator ihrer Notwendigkeit ist. Ich habe mein eigenes Zimmer und ein bequemes Bett. Ich werde großzügig ernährt, mit gesunder und ausgewogener Kost. Kurz – um Ihre Zeit nicht zu strapazieren, die, wie ich weiß, kostbar ist –, ich will Ihnen einfach sagen, dass ich sehr gut 230
erzogen bin. Von gut unterrichteten und sehr sachkundigen Eltern. Sie werden sicher wissen, dass beide Consultants sind. Eine beneidenswerte Lage: stabile und hohe Einkünfte.
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22 Mein Vater ist dieser farblose Typ, der gerade in Adidas-Shorts und klappernden Holzlatschen ins Wohnzimmer kommt. Das ist sein Abendanzug, er macht es sich gern bequem. Auch Mama ist da – die Dame im Bademantel. Ihr Gesundheitszustand hat sich sehr gebessert. Seit ein paar Monaten kann sie wieder laufen, und ihre Äußerungen sind jetzt relativ verständlich. Ich muss gestehen, dass Papa eine unerschöpfliche Quelle des Entzückens ist. Wenn Mama nicht da ist, spielen wir oft Versteck mit Claire und Opa, wobei wir jedes Möbelstück in der Wohnung umdrehen … Oder er erzählt mir wahre oder erfundene Geschichten über sein früheres Leben – vor der Neuen Welt. Und manchmal unterbricht er sich und flüstert mir zu: »Weißt du, Kleiner, ich erkenne meine Stimme nicht.« Ehrlich, Tag für Tag teilen wir vieles miteinander. Außer seinen Bonbons, die ganz anders sind als meine und die er mich einfach nicht probieren lassen will: »Später«, sagt er, »wenn du groß bist«. Na gut. Ich beklage mich nicht. Ich respektiere seinen Willen. Überhaupt bin ich – habe ich Ihnen das schon gesagt? – mit einem starken Bedürfnis nach jeder Form von Autorität ausgestattet. Unterwerfung ist bei mir wie eine zweite Natur. Natürlich kommt es vor, dass ich mich an seine Finger auf meiner Kehle erinnere. Dann brennt meine Haut im Nacken und am Halsansatz. Ich glaube, ich habe Angst, dass er irgendwann noch einmal damit anfängt. Vor allem wenn er spät und erschöpft nach Hause kommt und sich wortlos vor seinen
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Suppenteller setzt. Liebe und Abscheu: Das sehe ich dann in seinen Augen. Aber ich will Sie beruhigen: Wir sind eine glückliche Familie. Und ich erlaube mir zu insistieren: Es steht wirklich alles zum Besten. Beim Abendessen gibt es immer ein Gedeck vor einem leeren Stuhl: Papas Gast. Und manchmal befiehlt er meiner Mama: »Leg deinem Schwiegervater auf, und zwar nicht zu knapp.« Da sie sich meist weigert, ihm zu gehorchen, tut er es selbst. Und während mein unsichtbarer Opa sich am Tagesgericht erfreut, weint Papa, bittet um Verzeihung und fleht um Erbarmen wegen des verpassten Essens. Erklärt zum x-ten Mal das verhängnisvolle Missgeschick – dass ihm damals auf der Landstraße ein Reifen geplatzt war. Es war, sagt er immer wieder, »unter einer bleiernen Sonne«. Unter »einer entsetzlichen, niederschmetternden, bleiernen Sonne«. An anderen Abenden lädt Papa Claire zu uns ein. Dann macht er sich schön, feuchtet sich die Haare an und geht Rosen kaufen. Leider kann ich Ihnen den Inhalt dieser Unterhaltungen nicht mitteilen: Er zündet nur einige Kerzen an und schnüffelt an den Blüten, dann lässt er seine Pupillen ganz austrocknen, weil er so lange in die Flammen starrt. An diesen Abenden essen Mama und ich lieber in der Küche – Papa sieht darin kein großes Unglück. War ich deutlich genug? Muss ich Ihnen noch mehr sagen? Zugegeben: Besuch haben wir nur selten. Omi zum Beispiel setzt längst keinen Fuß mehr in unsere Wohnung: Papa sagt, sie sei ärgerlich wegen einer schlechten Geldanlage. Und der alte 233
Anwalt meines Vaters ist vor sechs Monaten an einem geplatzten Aneurysma gestorben. Ich mochte diesen Boyden nicht besonders – aber er kam oft. Wenig Durchgangsverkehr also schlussendlich. Aber glücklicherweise gibt’s Onkel Jeff, der uns ein- bis zweimal in der Woche nette Besuche abstattet. Ich erlaube mir, Ihre Aufmerksamkeit auf folgenden Punkt zu lenken: Auch wenn ich ihn »Onkel« nenne, handelt es sich nicht um meinen Onkel – er ist nur mein Pate. Sobald er sein Kommen ankündigt, räumt Mama die Wohnung gründlich auf, zieht ein schönes Kleid an und läuft los, gutes Brot kaufen. Wenn Onkel Jeff da ist, kneift er mich gerne mit seinen dicken heißen Fingern in die Wange, und ich – wie soll ich sagen? –, ich finde das ziemlich befriedigend. Ich habe viel Zuneigung für diesen Mann, auch wenn ich den Grund dafür nicht kenne. Und trotzdem streiten sich meine Eltern jedes Mal, wenn er die Wohnung verlässt, ziemlich heftig. Mir scheint, zwischen ihnen besteht eine unüberbrückbare Meinungsverschiedenheit. Mama sagt: »Jeff hat uns gerettet.« Papa sagt: »Graham hat uns aufgekauft.« Ich werde mich hüten, zu diesem komplexen Thema ein Urteil abzugeben. Alles, was ich aufrichtig bestätigen kann – durch objektive Beobachtung sich wiederholender Tatsachen –, ist, dass meine Eltern hart arbeiten. Sehr hart, für Onkel Jeff. Gut, das ist ungefähr alles, was ich weiß. Sie werden mir diesbezüglich keine weiteren Aussagen entlocken. Wie dem auch sei, heute Abend ist alles gut. Die Stimmung ist entspannt: Es ist mein Geburtstag. 234
Heute bin ich ein Jahr alt geworden, und trotz meiner Jugend nehme ich mit Leichtigkeit das in meiner Umgebung gebrauchte Vokabular an. Und ich drücke mich schon, wie Sie haben feststellen können, in einer wunderbar ausgefeilten Sprache aus. Nehmen Sie zur Kenntnis: Ich wünsche aus ganzem Herzen, dass sie Ihnen zusagt. Im Moment, kein Zweifel. Im Wohnzimmer herrscht tatsächlich Jubel Mama filmt, mit der Kamera in der Hand kommt sie näher – hören Sie, wie sie mich ruft: »Arthur … Guck mal her! Guck zu mir, Schätzchen! … Arthur!« Aber, Sie müssen wissen, ich habe keine Zeit zu verlieren. Selbst meinen ersten Kriegsschrei habe ich vor der Zeit ausgestoßen. Schon jetzt glaube ich an exzessive Margen und Quantitäten. Und ich habe sehr viel Besseres zu tun, als für diesen Schmarren zu posieren. »Schätzchen … Guck her! … Arthur … Arthur!« Denn ich bin mit einer vornehmen Aufgabe betraut. Die keinerlei Ablenkung duldet. Nicht die mindeste Verspätung erträgt. Alles hat, ehrlich gesagt, mit einem netten kleinen Spiel angefangen. Hat sich dann bei mir zu einer chronischen Marotte entwickelt. Und schließlich nach und nach zu einer Obsession. Wenn Sie wollen, können wir es eine Berufung nennen. Ich kann Ihnen in wenigen Sätzen gar nicht sagen, wie sehr ich mich für diese Aufgabe qualifiziert fühle. Doch urteilen Sie selbst … 235
Schauen Sie. Bewundern Sie. Sehen Sie, mit welcher Anmut und Sorgfalt ich diese Würfel aufeinander türme.
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