HELGA STÖTZER
Hier spricht Berlin
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen erzählt Fotos:...
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HELGA STÖTZER
Hier spricht Berlin
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen erzählt Fotos: Zentralbild (ADN). Faksimile: Staatliches Rundfunkkomitee der DDR, Abt. Rundfunkgeschichte
1. - 70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1972 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 ES-Nr. 14 E Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Harri Förster Vorauskorrektor: Ingeborg Kern Korrektor: Gertrud Meindl Hersteller: Ingeburg Zoschke Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
«Volltreffer!» schreit der Junge und reißt begeistert die Arme hoch, so, als stünde er wieder in der Pause auf einer der hintersten Schulbänke, wenn nach wohlgezieltem Wurf der nasse Schwamm inmitten langer Zahlenkolonnen von Geschichtsdaten an der Wandtafel gelandet war. «Volltreffer!» will er noch einmal rufen, aber da haben die Flugzeuge neben der Maschine, die mit schwarzer Rauchfahne abtrudelt, schon die Bomben ausgeklinkt, um die Geschütze der Flakbatterie zum Schweigen zu bringen. Ein Splitter fährt ihm in den Hals. Er taumelt hilflos, stürzt. Langsam verrinnt das Leben des Flakoberhelfers Peter Öser. Seinen Kameraden Horst Baumert packt das Grauen, lahmt das Entsetzen! Er steht, starrt, preisgegeben dem ringsum dröhnend berstenden Tod. Doch es ist eine lebendige, warme Hand, die er jetzt im Nacken fühlt, die ihn zu Boden reißt und in die schützende Erde des Wallgevierts drückt. So nahe ist der andere ihm, daß er außer dem eigenen flatternden Puls dessen kräftige Herzschläge spürt. Die Angst des Jungen löst sich in kindlichem Weinen. Als das Getöse verebbt und er sich aufrichtet, sieht er in zwei dunkelbraune Augen. «Danke», will er sagen, und zugleich steigt ihm Schamröte ins blasse Gesicht. Nicht einen Namen der fünf sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Stellung aufschütten müssen, kennt er.
Plötzlich wird ihm die Geringschätzung bewußt, mit der er bislang die «Iwans» wahrgenommen und über sie gesprochen hat. Er schämt sich. «Danke, du», sagt er leise. Kaum nimmt er das laute Fluchen wahr, mit dem der Zugführer hinter dem Geschütz hervorgekrochen kommt. Wie auf ein Ding zeigt er auf den Toten, herrscht gleich darauf die Kriegsgefangenen an, daß sie Horst Baumerts ehemaligen Schulkameraden fortschaffen sollen. Aus dem Knäuel der Gedanken, die den Jungen bestürmen, schält sich einer klar heraus: Er muß fort von diesem Geschütz, noch in der nächsten Nacht! Er flieht in das Zentrum Berlins und wird nie die Stunden vergessen, nicht die Tage und Nächte, die ihnen folgen, bis er in der Prenzlauer Straße das Haus erreicht, in dem er geboren wurde. Dieses Haus, vor dem er am 28. April steht, ist heil geblieben. Schief hängt die schwere Tür der hohen Mietskaserne in den Angeln, zersplittert sind die Fenster. Wie rohes Fleisch leuchten die Backsteine, dort, wo der schmutziggraue Putz heruntergerissen wurde, im flackernden Licht der brennenden Stadt, die widerhallt vom Lärm des Kampfes. Lautlos tastet sich Horst die drei Treppen empor. Oben aber schlägt er, als die Klingel keinen Laut von sich gibt, mit beiden Fäusten gegen das Holz. Doch es ist nicht die Mutter, die öffnet, sondern Tante Milda. Rasch und ängstlich zieht sie ihn hinein. Nach Rahnsdorf sei die Mutter mit der kleinen Jutta gefahren. «Seitdem,..» Tante Milda zuckt hilflos die Schultern. «Hast du denn Urlaub?» fragt sie und hat doch längst begriffen. So, wie der Junge in der Uniform hängt, ist das eine deutlichere Antwort als sein mürrisch-
müdes «Ach, nein!» Die Frau hat Mitleid mit dem Jungen. Aber da ist der Blockwart, eine Treppe tiefer, und im Radio hat man erst mittags wieder gesagt, daß der Endsieg doch noch käme. Leise und unsicher meint sie: «Mein Gott, wenn das dein Vater wüßte, so ein tapferer Mann, und du...!» Unter dem bösen, gar nicht mehr kindlichen Lachen des Siebzehnjährigen fährt die Frau zusammen, schweigt. Jammernd ringt sie die Hände, als er mit fiebrig glänzenden Augen in die gute Stube stürzt, das schwarzumrandete Foto des Vaters und das Hitlerbild von der Wand reißt und auf den Boden pfeffert. «Alle habt ihr gelogen, alle lügt ihr!» Seine Stimme ist rauh vor wirrer Wut und unterdrückten Tränen. Mit einer wilden Bewegung fegt er den Volksempfänger von der Anrichte. Doch das Klirren und Poltern bleibt aus; der alte Ledersessel hat das Radio aufgefangen. Fieber schüttelt den Jungen. Er ist krank, auch vor Enttäuschung. So, wie die Ruinen krachend zusammenstürzen, bricht für ihn eine ganze Welt ein. Denn er sieht nichts, an was er wieder glauben könnte. Wenn er die graublauen Augen aufschlägt, ist da nur Tante Mildas verhärmtes Gesicht, mit dem scheuen Blick, der sich gleichsam ständig vergewissert, ob man auch ja nicht aus Versehen gegen den Strom schwimme. Freilich'ist ihre Furcht berechtigt. Blockwart Schulz steht in dem Ruf, «Vaterlandsverräter» sofort an die SS auszuliefern. Am 2. Mai, Berlin hat kapituliert, hängt Tante Milda ein vergilbtes Christusbild an den Platz, wo das «Führer»-Bild gehangen hat. Gott allein mag wissen, wie es weitergehen soll, nachdem endlich die Waffen schweigen. Und am 8. Mai kapituliert das faschistische Deutschland.
Der Junge aber sitzt am Morgen des 13. in seinen viel zu kurzen Sonntagshosen im Sessel und hat den Radioapparat auf den Knien. Die Röhren haben den Fall überstanden, nur ein paar Drähte sind locker. Er kennt sich aus in diesen Dingen. Bereits als Zehnjähriger hockte er in Meister Fiedlers Werkstatt und stahl mit den Augen, was er konnte. Mit dreizehn brachten ihm seine geschickten Hände, denen defekte Klingeln und Schalter nur Kleinkram waren, manche Mark Taschengeld ein. Aber die Eltern entschieden, daß der Junge doch lieber studieren sollte, zumindest Abitur mit anschließender Beamtenlaufbahn. Tante Milda ist froh, daß der Junge sich beschäftigt. Fast wie früher bastelt er mit einem Eifer, daß er beinahe den Teller spelziger Suppe übersieht, den ihm die Tante zum Abendbrot hinschiebt. Es ist kurz vor zwanzig Uhr, als er sich mit dem Einschalten des Geräts lediglich die Bestätigung seines Arbeitserfolgs erhofft. Mehr als ein Knurren oder Quietschen erwartet er nicht aus dem Lautsprecher zu hören, weil der Skalenzeiger auf dem Berliner Sender steht. Da geschieht das Unerwartete, kaum Faßbare: Er hört eine Stimme in klarer, deutscher Sprache - «Hier spricht Berlin! Hier spricht Berlin! Auf Wellenlänge dreihundertsechsundfünfzig Meter gleich achthunderteinundvierzig Kilohertz. Wir beginnen unsere Sendung um zwanzig Uhr mitteleuropäischer Zeit.» Berlin, denkt der Junge, denken Tausende, die diese Stimme erreicht. Sender Berlin? Was für eine Sendung? Was für Menschen sind das? Rauch dunkelt den Morgenhimmel des 13. Mai 1945 über Berlin. Wund liegt das große Steinmeer, von dem
man im Land ringsum flüstert, es sei kein Leben mehr in ihm. Qualm' quillt aus dem Turm des Roten Rathauses. Krachend bricht Gebälk auseinander, und manchmal rutscht ein noch schwelender Balken durch die Fensterhöhlen der Ruine, stürzt hinunter auf die Straße. Wenn der Fahrer des Wagens, der in der schmalen Rinne zwischen den Trümmerbergen der aufgerissenen Rathausstraße dahinfährt, nicht sofort die Gefahr erkennt und das Steuer scharf nach rechts herumreißt, wird er nie nach Tegel kommen. Er nicht und nicht die drei anderen im Auto. Wie lang, wie schwer der Weg bis hierher, wie nah stets der Tod. Aus Rauch und Qualm formen sich für einen der Männer rasch wechselnde Bilder der Vergangenheit... «Matti! Matti! Du sollst doch auf dem Schulweg nicht trödeln! Die Gänse warten aufs Futter!» Das jüngste ihrer neun Kinder auf dem Arm, steht die Kleinbäuerin wartend, fährt vorwurfsvoll und liebevoll zugleich dem Jungen durch den schwarzen Haarschopf. Hart und verarbeitet sind ihre Hände. Saftgrün liegen die fränkischen Wiesen am Main, weißbetupft von der unentwegt schnatternden Gänseschar, die der Junge nach der Schule zu hüten hat. «Unser Matthäus besucht jetzt das Gymnasium. Hernach studiert er. Unser Matthäus wird Pfarrer.» Stolz sind seine Eltern. «Rechtschaffene, fromme Leute sind die Kleins», sagt man im Dorf. Später sprechen die Dörfler von den Kleins: «Der Matthäus hat nun sein Examen. Die älteren Geschwister haben ihn unterstützt, denn der Hof wirft nicht viel ab. In den Ferien hat er immer fleißig
mitgeholfen. Ein guter Pfarrer wird das, er hat den rechten Glauben, der kommt ihm aus dem Herzen. Gute Augen hat er, zuhören kann er, gescheit ist er.» Ein paar Jahre später. «Der Krieg ist eine Prüfung Gottes», sagt der Vikar Matthäus Klein und wird Soldat. «Wir müssen demütig die Strafe Gottes ertragen», sagt der evangelische Divisionspfarrer zu den anderen Soldaten. Auch er leidet. Er spricht Trost, aber er haßt nicht jene, die seine Gegner sein sollen. Nach zwei Jahren Krieg kommt er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. «Schuldig bist du, denn du hast diesen faschistischen Krieg hingenommen, den wenige wollen, um sich zu bereichern. Schlechte Menschen, kein Gott!» So sagt der sowjetische Offizier. «Lies das, denke nach. Hilf das Morden beenden!» Er gibt ihm ein paar Bücher. Das geschieht in dem Jahr, da Truman den zynischen Satz von sich gibt: «Wenn wir sehen, daß Deutschland gewinnt, so sollten wir Rußland helfen. Und wenn Rußland gewinnt, so sollten wir Deutschland helfen. Sollen sie auf diese Weise sich gegenseitig soviel als möglich töten!» Matthäus Klein liest, hört zu, denkt nach, kämpft oft verzweifelt um jedes Stück dessen, das er doch für die «reine Wahrheit» gehalten hat. Er verliert seinen Glauben an das Unabänderliche und gewinnt dafür den an die für die gerechte Sache kämpf enden Menschen, daß sie vermögen, aus eigener Kraft miteinander in Frieden zu leben. Das Brot der Erkenntnis wird ihm oft bitter, denn er ist nicht von leichtfertiger Art. Viele Male prüft er jeden neuen Gedanken, ehe er einen alten verwirft. Zwölf Monate vergehen, ehe er das erste
antifaschistische Flugblatt schreibt, zwölf weitere, bis er die Antifaschule besucht. Sowjetische und deutsche Genossen lehren ihn zu lernen, sich für die Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus einzusetzen. An der Seite von Willi Bredel, Gustav von Wangenheim und Fritz Erpenbeck arbeitet er als Mitglied der Redaktionskommission des Senders «Freies Deutschland». Als Angehöriger des Nationalkomitees «Freies Deutschland» zählt er zu seinen Waffen Papier, Bleistift und Mikrofon. Seine Kanzeln sind die Schützenlöcher und Laufgräben in der vordersten Frontlinie. Eintausendzweihundertmal tragen die Frontlautsprecher auf dem Weg nach Berlin seine Worte zu den deutschen Soldaten, aufrufend, das Morden zu beenden, Leben zu erhalten. Mögen die Aufgaben, die hinter Matthäus Klein liegen, noch so schwer und gefahrvoll gewesen sein - eines jedoch scheint ihm am 13. Mai 1945 noch schwieriger: zu den Überlebenden der befreiten Stadt Berlin zu sprechen, Worte zu finden, aufmunternde Worte, das Leben wieder zu meistern. Die ganze vorangegangene Nacht haben sie zusammengesessen und beratschlagt, wie sie am wirksamsten die Menschen aufrichten könnten, haben Nachrichten aufgefangen, Meldungen geschrieben. Und nun? Plötzlich bricht der Wagen aus, holpert über Gemäuerbrocken und schießt mit einem gewaltigen Satz wieder geradeaus auf die Fahrbahn. Hinter dem Fahrzeug schlagen Balken auf, übersäen das Dach des Geländewagens mit Staub und Funken. Aber der Wagen ist schon Meter weit davon, der Fahrer hat ihn in der Gewalt. Die Männer atmen auf.
Matthäus Klein, der kleine, schmächtige Mann neben dem Fahrer, wendet sich wieder dem Gegenwärtigen zu, dem Bild grausamer Zerstörung, das sich nun auch Unter den Linden seinen wachen Augen bietet. Das Auto biegt rechts in die Friedrichstraße ein, rollt, Bombentrichtern ausweichend, der Chausseestraße zu, erreicht die Müllerstraße. Artur Mannbar, der hinter Klein im Wagen sitzt, wendet den Blick ab. Die klaffenden Wunden, die hier der Krieg dem Wedding geschlagen hat, erschüttern den Genossen. Ihn fröstelt in der schwarzen Zuchthauskluft mit den schmutziggelben Biesen. Müde wirkt er nach der durcharbeiteten Nacht. Wenn jetzt wenigstens einer der anderen etwas sagte, denkt er. Aber der Fahrer und Matthäus Klein konzentrieren sich auf die Fahrstrecke, und der schwarzhaarige Erwin Wilke zupft nervös an seiner Jacke herum. Nein, so grausam hat es sich Artur nicht vorgestellt. Er vergräbt das magere Gesicht in den Händen. Auch er denkt an Vergangenes... — Fünf Jahre KZ, Untersuchungshaft und Zuchthaus. Er kennt die Faschisten! Als kommunistischer Journalist hat er auch Wissen und Phantasie genug, wie es weitergehen wird. Doch es gab Augenblicke, in denen er nahe daran war aufzugeben. Es gab Augenblicke, in denen nur noch das Urteil des «Volksgerichtshofes» zu zählen schien: Lebenslänglich! Und er war erst fünfundzwanzig! Nur ein Jahr älter als er war Paul Öckert, einer jener Genossen, die ihn nicht vergaßen, die vom ersten Moment seiner Einlieferung an von ihm wußten, sich um ihn sorgten, mit ihm fühlten. Immerhin bekam ein Gefangener für die Arbeit eines Tages nur fünfzehn Pfennige. Lange mußte man sparen, um dafür ein Stück
Pferdewurst oder ein paar rote Rüben kaufen zu können. Und er hatte Hunger, den die Wassersuppe nie zu stillen vermochte. Dennoch sparte Paul diese fünfzehn Pfennige für Artur. Und dann kam die Stunde, da dieser nicht mehr in Einzelhaft schmachten mußte, mit zur Zuchthausarbeit in den Websaal getrieben wurde. Endlich nicht mehr allein! Natürlich war ihm die pausenlose Arbeit am klappernden Webstuhl ungewohnt - aber er war unter Genossen! Er erinnert sich an diesen Webstuhl, an den ersten Tag nach der Einzelhaft: Er richtete sich etwas auf, um den schmerzenden Rücken zu strecken. Erwischte sich über die Augen, weil er etwas sah, das von oben herab auf ihn zu kam. Er sah den kleinen Korb, roch die Wurst, die rote Rübe. Dann hielt er den Korb in den Händen. Aber er folgte mit den Augen dem Bindfaden, der am Henkel befestigt war. Und staunend sah er, daß dieser Bindfaden oben in einem Fenster des Postengangs, das einen Spalt geöffnet war, endete. Und er sah ein bekanntes Gesicht, das ihm zulachte. Ja, es war Paul, Paul Öckert. Später erfuhr er, daß die Genossen Paul auf die Wachbühne geschickt hatten, «etwas zu erledigen». Artur weinte damals vor Freude. Er war glücklich, solche Freunde zu haben. Diese Solidarität stärkte seinen Mut, gab ihm Zuversicht und stählte seinen Kampfeswillen. Diese proletarische Solidarität trug dazu bei, daß die politischen Häftlinge mit ungebrochener Kraft der faschistischen Barbarei im Zuchthaus Brandenburg begegnen konnten. Und noch weiter zurück gehen seine Gedanken. Er hört seine Mutter sagen: «So, wie Vater den Kopf trägt, mußt du dein ganzes Leben den Kopf hoch tragen im Kampf
gegen die Kapitalisten.» Ja, lange ist es her, da seine Mutter den Sechsjährigen fest an der Hand nahm, als zwei berittene Polizisten den Vater an schweren Ketten durch das Dorf schleiften. Es war schrecklich, aber Artur war sehr stolz auf seinen Vater, der für Gerechtigkeit kämpfte und litt. Deshalb schafften ihn die Polizisten in das Gefängnis ... Paul Öckert, der Junge aus dem Nachbardorf, sein späterer Kampfgefährte in der Kommunistischen Partei - der Genosse weckt Erinnerungen in Artur Mannbar, Bilder aus seiner Kindheit. Gern erinnert er sich an seine Eltern, die ihn im Sinne der Revolution erzogen haben. Zur Gemeindevertretung des siebentausend Einwohner zählenden Heimatortes gehörten sie; hatten das uneingeschränkte Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung. Und das macht ihn noch heute froh. «Karl sein Bub» nannten ihn die Nachbarn. Früh nahmen ihn die Eltern mit zu Versammlungen. Er half Plakate kleben, Losungen malen. Das war ganz selbstverständlich. Und er denkt an das feste Zusammengehörigkeitsgefühl der Kumpel und ihrer Familien im Kampf gegen die Ausbeuter. Mit Öckerts hatte es aber für die Kinder noch eine andere Bewandtnis. Mutter Öckert konnte nämlich gut backen, und im Herbst gab es bei ihr den «besten Pflaumenkuchen der Welt». Gut ist es, solche Erinnerungen zu haben, gut, solche Genossen neben sich zu wissen. Auf ihre Solidarität hat er sich immer verlassen können wie sie sich auch auf die seine. Und dann kam die Stunde der Befreiung. Am 27. April fuhr kettenrasselnd ein sowjetischer Panzer in den Zuchthaushof. Und Artur Mannbar war einer jener Genossen, die Stunden vorher die Macht in diesem Zuchthaus übernommen hatten.
Und dann marschierten sie nach Berlin und sahen die zerstörte Stadt. «Ruht euch aus», baten die sowjetischen Genossen. «Nein», antwortete Artur Mannbar. Ein Fahrrad wurde beschafft, eine Möglichkeit, von Spandau nach Lichtenberg zu gelangen, um Kontakt mit führenden Genossen der Partei aufzunehmen. Und heute legte ihm der ältere Genosse, als sie schon im Wagen saßen, kameradschaftlich den Arm um die Schulter. «Kleiner, Rundfunk muß gemacht werden.» Artur Mannbar erschrak. Er hatte an Zeitung gedacht. Davon versteht er etwas. Gleich nach der Lehre im Betriebsbüro einer Metallfirma hatte er als Expedient im Verlag der kommunistischen «Arbeiterzeitung» in Saarbrücken angefangen, war Lokalredakteur geworden, hatte als Parlamentsberichterstatter von den Rechten Prügel bezogen und 1933 von einem Redakteur der «Jungen Garde» gelernt, die Zeitung illegal herauszugeben und nach Deutschland zu schmuggeln. 1935 hatte er geholfen, die «Arbeiterzeitung», ein illegales Organ der KPD, herauszubringen. Ja, vom Zeitungmachen versteht er etwas! Aber doch nichts vom Rundfunk, das ist doch völlig neu für ihn! «Alles, was wir jetzt machen, ist neu.» Der ältere Genosse spürte die flatternden Gedanken des Jungen. «Du schaffst das schon!» «Wir werden das schon schaffen.» Matthäus Klein wandte sich um, unterstrich seine Worte mit einem aufmunternden Lächeln. Die stählernen Sendemaste in Tegel recken sich, den Männern im Wagen schon sichtbar, in den blauen Frühlingshimmel.
«Na, denn man 'ran!» spöttelt Erwin Wilke. Aber Kleins Gesicht bleibt ausgeglichen freundlich. Er ahnt, wie dem Techniker zumute ist, daß er Angst hat, Angst vor diesem Sender, vor den unbekannten technischen Apparaturen. «Ihr seid zwei. Was sag' ich - Erpenbeck, Mahle und die anderen Genossen warten auf euch! Eine ganze Handvoll seid ihr, habt euch beraten, alles abgesprochen, aufgeschrieben. Natürlich, die Hauptsache steht euch auch noch bevor, seh' ich ja ein. Aber Menschenskind, ich war noch nie in solch einem Sender. Noch nie, versteht ihr! Und was hilft mir meine grobe Ahnung, wenn ich nicht mal weiß, ob die Geräte noch funktionieren? Niemand weiß das, wieviel da eventuell kaputt ist!» Richtig wütend ist Erwin Wilke und am meisten auf sich selbst, weil er ohne Zögern «Ja» gesagt hat, als der sowjetische General ihn hat rufen lassen: «Dawai, Genosse Ingenieur! Sender Tegel in Betrieb nehmen. Du bist der einzige, der das kann. Deutsche Genossen müssen zu deutschen Menschen sprechen, sagen, daß neues Leben beginnt. Also, dawai Genosse Ingenieur!» Verdammt, warum hat er nur «Ja» gesagt? Warum nicht: «Entschuldige, Genosse, tut mir leid, Genosse General, aber ich kann das nicht! Ja, Genosse, ich bin Ingenieur, aber für Maschinenbau. Weil mein Vater, der wegen seiner Zugehörigkeit zur KPD meist arbeitslose Maschinensetzer, wollte, daß es mir einmal besser gehen sollte, und sich meine Oberrealschule und die zweieinhalb Jahre Ingenieurstudium vom Munde absparte. Ich habe dann bei Borsig Dampfkessel konstruiert und keine Sendeanlagen. Ich habe mich auch 1935 noch
nicht groß für Politik interessiert, sondern nur für die technische Seite von Munition und Waffen. Deshalb absolvierte ich auch die Feuerwerkerschule. Das änderte sich erst, als ich 1942 in Stalingrad als Artilleriehauptmann in Gefangenschaft kam. Jawohl, ich wurde im Waldlager sozusagen ein anderer Mensch, aber noch lange kein Rundfunktechniker. Und so schnell ging das mit dem