M o n t y
R o b e r t s
DER MIT DEN
PFERDEN SPRICHT
Ins Deutsche übertragen von Till R. Lohmeyer, Ulrike Maier und ...
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M o n t y
R o b e r t s
DER MIT DEN
PFERDEN SPRICHT
Ins Deutsche übertragen von Till R. Lohmeyer, Ulrike Maier und Christel Rost
Gustav
Lübbe
Verlag
WIDMUNG Ich wüsste nicht, wem anders als E Q U U S , D E M F L U C H T T I E R , ich dieses Buch widmen sollte. Meiner Meinung nach müssen wir Menschen dieser Tierart Abbitte leisten für all das, was sie seit Jahrtausenden durch unser Unverständnis zu erdulden hat. Seit langem ist Equus mein Lehrer, mein Freund und mein Ernährer. EIN DANK AN MEINE LEHRER
Während Equus mein größter Lehrer war, haben Marguerite Parsons, Schwester Agnes Patricia, Bill Dorrance, Don Dodge und Dr. Bob Miller in großem Maße dazu beigetragen, jenes Umfeld zu schaffen, in dem ich lernen konnte. EIN WORT AN MEINE LESER
Pferde sind zwar gutmütige Tiere, können aber durch falsche Behandlung und aus Angst bösartig werden. Lassen Sie deshalb bitte stets Vorsicht walten, wenn Sie das Temperament eines Pferdes nicht genau kennen. Flag Is Up Farms, Kalifornien Monty Roberts
PROLOG
Dieses Buch handelt davon, wie ich lernte, den Pferden zuzuhören und mit ihnen über den natürlichen Graben hinweg, der unsere beiden Arten voneinander trennt, zu kommunizieren. Auf den Gedanken, meine Entdeckungen zu Papier zu bringen, kam ich an einem Dezemberabend im Jahr 1988 nach einem besonderen Schlüsselerlebnis. Ich war damals dreiundfünfzig Jahre alt. John Bowles, ein Freund und Nachbar, rief mich an jenem Abend an. Sein Südstaatenakzent war unüberhörbar. »Monty?« »Ja.« »Stell dir vor, Monty, die Queen will dich kennen lernen.« Er erklärte mir, Ihre Majestät die Königin von England wolle sehen, wie ich mit Pferden arbeite, um die von mir propagierte Methode der Kommunikation mit den Tieren aus erster Hand zu erfahren und so besser beurteilen zu können. Nun ist John Bowles ein Mann, der durchaus Sinn für derbe Scherze hat. Ich dachte mir also mein Teil und fragte ihn, wie ausgerechnet er, der biedere John Bowles, dazu käme, mir Botschaften von Ihrer Majestät zu überbringen. John erwiderte, dass einer seiner englischen Freunde, ein gewisser Sir John Miller, ehemaliger Equerry der Queen sei, also eine Art königlicher Stallmeister. Und dem habe die Monarchin den Auftrag erteilt, mich ausfindig zu machen. Ihre Majestät habe in den Fachzeitschriften The Blood Horse und Florida Horse ausführliche Berichte über mich und meine Arbeit gelesen und sei daraufhin neugierig geworden. John Bowles sagte, die Aufgabe, einen Menschen zu finden, den er seit fünfzehn Jahren kenne und der keine zehn Kilometer von ihm entfernt wohne, sei kinderleicht gewesen. Wenig später besuchte mich Sir John Miller auf meiner Pferdefarm in Kalifornien, um zu sehen, was ich bieten konnte. Nachdem ich ihm meine Arbeit an verschiedenen Beispielen demonstriert hatte, wurde er sehr lebhaft. Auf dem Weg zurück ins Haus und beim anschließenden Mittagessen nannte er mir eine Reihe von Terminen. Es waren die Reisepläne Ihrer Majestät. In Balmoral würde sie sich soundso lange aufhalten - und so weiter. Ich begann mich allmählich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass er versuchte, irgendwo im königlichen Kalender auch noch einen Termin für mich zu finden. 9
Und so war es dann auch. Er teilte mir mit, dass Ihre Majestät mich für April 1989 nach England einladen wolle. Ich sollte eine Woche lang auf Windsor Castle ihr Gast sein. Im für ihn typischen Tonfall der britischen Oberschicht fragte er: »Ob sich wohl eine Vorführung wie jene vorhin für Ihre Majestät in den Mews arrangieren lässt?« Was, zum Teufel, waren die Mews? Obwohl ich keine Ahnung hatte, sagte ich zu: Ja, das ließe sich schon irgendwie einrichten. Zum Schluss meinte Sir John Miller, wenn die Queen von meiner Arbeit überzeugt sei, werde sie für mich eine Tour durch verschiedene Städte Großbritanniens organisieren lassen. Vor allem lege sie großen Wert darauf, dass Newmarket und Gleneagles in Schottland auf dem Tourneeplan stünden. Zwei Wochen später erhielt ich ein förmliches Einladungsschreiben aus dem Buckingham-Palast. Jetzt war es also klar: Ich würde die Königin von England besuchen! Aus verschiedenen Gründen, auf die im Laufe dieses Buches noch näher eingegangen wird, hatte ich meine Arbeit den größten Teil meines Lebens über geheim halten müssen. Von jungen Jahren an war ich immer, wenn ich mich einmal dazu aufraffte, anderen Leuten zu zeigen, was ich konnte und in Erfahrung gebracht hatte, verprügelt, beschimpft und als Betrüger bezichtigt worden. Und doch hielt ich an meiner oppositionellen Meinung fest, deren Hauptaussage darin bestand: Was ich erreicht habe, ist sicher das Ergebnis langer Beobachtungen von Pferden in freier Wildbahn; es ist aber auch etwas in seinem Wesen ganz Einfaches, etwas, das sich aus dem Gebrauch des gesunden Menschenverstandes ergibt. Klar, es spielt auch eine gewisse Magie mit hinein - die Magie einer bislang unentdeckten Sprache, einer primitiven, präzisen und leicht erlernbaren Sprache, deren Beherrschung eine neue Art der Verständigung zwischen Mensch und Pferd eröffnet. Mit Hokuspokus hat das nichts zu tun, und ich bin bei weitem auch nicht der einzige, der sich darauf versteht. Erst kürzlich erlebte ich, wie mein Hufschmied innerhalb weniger Minuten ganz ähnliche Ergebnisse erzielte. Die Möglichkeit, Ihre Majestät die Königin von England von der Glaubwürdigkeit und Bedeutung meiner Arbeit zu überzeugen und dadurch meinen Methoden zu größtmöglicher Publizität zu verhelfen, erschien mir als Krönung meines Lebenswerks. 10
Am 5. April 1989 traf ich auf dem Londoner Flughafen Heathrow ein und wurde von Sir John Miller empfangen. Wir fuhren sofort nach Schloss Windsor, eine Strecke von vielleicht zwanzig Kilometern. Vor dem Schloss parkten einige Fahrzeuge, die eher Sherman-Panzern als Personenkraftwagen ähnelten. Sir John erklärte mir, dass die Queen mit dem russischen Präsidenten Michail Gorbatschow und seiner Frau Raissa zu Mittag esse und dass die Gäste ihre eigenen Fahrzeuge mitgebracht hätten. Das Interieur von Schloss Windsor war eine Offenbarung. Hinter den hohen Türen und in den Korridoren, die ich nun durchschritt, waren seit Hunderten von Jahren bedeutende Staatsgeschäfte ausgehandelt worden. Und die hier ansässige Familie - die königliche Familie — hatte bereits über hundert Jahre vor der Gründung des Staates, aus dem ich stamme, zu den führenden Rennstallbesitzern gehört. Seien wir ehrlich: Für einen kalifornischen Burschen vom Lande, der viele Jahre hart mit Pferden gearbeitet hatte, war dieser Besuch der Höhepunkt seiner Karriere. Sir John begleitete mich zu einer Weide vor dem Schloss, auf der fünfzehn Pferde aller Farben, Formen und Größen grasten. Auf einer abgegrenzten Koppel stand außerdem noch eine junge Vollblutstute, so dass es insgesamt sechzehn Tiere waren. Keines dieser Pferde war eingeritten (oder auch: zugeritten, gestartet). Alle waren roh, aber an einen Halfter gewöhnt. Dies waren die Tiere, mit denen ich während der Vorführungen in der kommenden Woche würde kommunizieren müssen. Dann zeigte Sir John mir die auf der einen Seite an das Schloss anschließenden Ställe — die königlichen Marställe oder Mews. Als nächstes besichtigten wir die Reitschule. Mit seinen gotischen Fenstern und der hohen, gewölbten Decke erinnerte das Gebäude an eine Kapelle. An einem Ende war ein mit Glas und Holz verkleideter Balkon angebracht. Wie ich erfuhr, handelte es sich um den schalldichten Beobachtungsstand der königlichen Familie. In der Mitte der Reitschule befand sich ein mit Maschendraht eingefasster Longierring von etwa fünfzehn Metern Durchmesser, den die London Equipment Company auf meine und Sir Johns Bestellung hin geliefert und aufgebaut hatte. 11
Es war eine beeindruckende Anlage, aber bis dato hatte ich meine Techniken noch nie in einer Maschendrahtumzäunung demonstriert. Daher konnte ich auch nicht sagen, wie die Pferde darauf reagierten. Sie würden durch die Maschen sehen können und sich daher nicht so sehr auf das, was ich tat, konzentrieren. Es gab allerdings keine Alternative. Ich musste mich darauf verlassen, dass der Draht als Barriere ausreichte und sich die Ablenkung in Grenzen hielt. Sir John eröffnete mir, dass die Queen zu meinen Vorführungen in der kommenden Woche zweihundert Gäste eingeladen habe. Sie selbst könne lediglich am Montagmorgen eine Stunde lang dabeisein; anderweitige Verpflichtungen ließen ihr nicht mehr Zeit. Wahrscheinlich werde sie sich jedoch abends Videofilme vom Tagesgeschehen ansehen. Nach unserem Rundgang gingen Sir John und ich wieder zum Schloss zurück. Der Besuch von Michail und Raissa Gorbatschow neigte sich dem Ende zu, und so gerieten wir mitten in die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen, die mit dem Aufbruch der Gäste vom Mittagstisch einsetzten. Überall sah ich russische Leibwächter und britische Sicherheitsbeamte umhereilen, und auf den Wallen der Schlossanlage patrouillierten Männer mit Maschinenpistolen. Dabei kam es zu einer Unstimmigkeit zwischen den Russen und den Engländern, worauf ein höherer britischer Offizier auf mich und Sir John zulief und rief: »Bei Gott, wir haben sie auf der Krim gestoppt, und wir werden sie auch auf Schloss Windsor stoppen!« Der Mann war ganz schön nachtragend. Kurz darauf kamen die Gorbatschows aus dem Schloss und fuhren wenig später inmitten einer großen Fahrzeugeskorte dicht an uns vorbei. Mein Aufenthalt in England fing in jeder Hinsicht spannend an. Am nächsten Tag waren wir um neun Uhr morgens wieder auf Schloss Windsor. Es war ein Sonntag, und ich sollte die Pferde an den Longierring gewöhnen. Aus langer Erfahrung weiß ich, dass meine Vorführungen immer dann am besten funktionieren, wenn das Pferd nicht allzu sehr von seiner Umgebung abgelenkt ist. Stellen Sie sich ein grünes, untrainiertes Pferd vor, das direkt von der Weide kommt und vielleicht noch nie zuvor in seinem Leben mit einem Menschen 12
zu tun hatte. Ein solches Tier unter den Augen von Hunderten von Zuschauern in einen Longierring von etwa fünfzehn Metern Durchmesser zu geleiten, ist schon ein großer Schritt, der ohne Zweifel hohe Anforderungen an die Konzentrationsfähigkeit des Pferdes stellt. Ich kann meine Techniken auch unter solchen Umständen demonstrieren, brauche dazu aber einfach zehn Prozent mehr Zeit, da ich ständig damit rechnen muss, dass das Pferd zwischendurch den »Feind« jenseits des Zauns taxiert. Wie dem auch sei, als ich den Stall betrat, schlug mir seitens der dort arbeitenden Betreuer — es waren überwiegend Mädchen - sofort eine gewisse Kälte und Distanziertheit entgegen. Unverkennbar war vor allem, dass der oberste Pferdepfleger fürchtete, ich wolle ihm auf die Zehen treten. Ich bat einige Male um Hilfe, als es darum ging, die Pferde in den Ring zu bringen, damit sie sich daran gewöhnten. Ich wollte jedes Tier einzeln fangen und hineinführen, und da es sich um mehr oder weniger wilde Pferde handelte, wäre mir ein wenig Unterstützung schon lieb gewesen. Ich lief also von einem zum anderen, um Hilfe zu finden, als mir auf einmal eine Dame in prächtigen Reitkleidern auffiel, die aus der Reithalle kam, auf Sir John zuging und ihn ansprach. Mit Sir John vollzog sich augenblicklich eine bemerkenswerte Veränderung: Er wurde urplötzlich ein anderer Mensch. Seine Haltung änderte sich ebenso wie der Tonfall seiner Stimme. Er sprach mit der Queen. Schon seit Tagen hatte ich mir Gedanken über die richtige Anrede gemacht — für den Fall, dass ich ihr tatsächlich persönlich begegnen sollte. Ich dachte an »Eure Königliche Hoheit« und »Eure Majestät«, ohne die Unterschiede zwischen den beiden Begriffen zu kennen. Ich wusste nicht, ob ich mich verneigen sollte oder ob ein Händedruck angebracht war. Ich muss allerdings auch sagen, dass von einer persönlichen Begegnung mit ihr bislang nichts Offizielles verlautet war. Und nun kam sie auf mich zu! Ich war auf die Begegnung nicht vorbereitet und hatte mich auch nicht nach den korrekten Umgangsformen erkundigt. Fern der Heimat und als Gast eines fremden Landes lag mir sehr daran, nicht ins Fettnäpfchen zu treten. Die Königin machte es mir leicht. Sie reichte mir die Hand, und ich schlug ein, sagte »Eure Majestät« - und ließ es dabei bewenden. 13
Mein Verhalten schien niemandem zu missfallen; das kam erst später... »Kommen Sie, Mr. Roberts«, sagte die Königin schnell und nahm mir meine Befangenheit, »zeigen Sie mir mal diesen Löwenkäfig in der Mitte der Reithalle, und erklären Sie mir, was es damit auf sich hat.« Gemeinsam gingen wir in die Reithalle und sahen uns den Longierring näher an. »Sieht ganz so aus, als müsse man da einen Raubtierdompteur hineinschicken«, sagte sie, und ich stimmte ihr zu, obgleich mir die Ähnlichkeit mit einer Manege bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht aufgefallen war. Ich schilderte ihr kurz, was ich am nächsten Morgen vorhatte. Über ihr Interesse an meiner Arbeit und die Tatsache, dass sie soviel wie möglich im voraus wissen wollte, freute ich mich sehr. Und dann war sie wieder fort. Ich hatte das Gefühl, dass mir der Einstieg gelungen war. Das Verhältnis zwischen uns war relativ ungezwungen. Die Königin machte auf mich den Eindruck einer sehr direkten Frau, die wusste, was sie wollte, und sich entsprechend durchsetzen konnte. Am Sonntagmittag trafen meine Frau Pat, mein Sohn Marty und mein Mitarbeiter Sean McCarthy in England ein und kamen auf schnellstem Wege nach Windsor Castle. Mit Pat bin ich seit mehr als vierzig Jahren verheiratet, und Sean McCarthy ist seit neun Jahren mein Erster Zureiter. In dieser Zeit war er für gut eintausendvierhundert Pferde der erste Reiter gewesen. Ich empfand es als sehr angenehm, dass Verstärkung kam - Menschen, die auf meiner Seite standen. Gemeinsam mit Sean überprüfte ich die Ausrüstung im Longierring. Dann nahm ich ihn mit hinaus auf die Weide und zeigte ihm die Tiere. Die Unterschiedlichkeit der Pferde überraschte ihn. Zwei oder drei waren wohl überwiegend Vollblüter. Die auf einer abgetrennten Koppel stehende Jährlingsstute war ein reines Vollblut. Zwei sehr große Shirehorse-Schecken sollten später als Trommelpferde in der zeremoniellen Abteilung der königlichen Ställe dienen. Außerdem gab es verschiedene Warmblutkreuzungen, ein paar andere auffallend große Pferde sowie einige kleinere bis hinunter zu den Haflingern und Fjell-Ponys. 14
Ich war trotz allem recht zuversichtlich, dass keines der Tiere mich umbringen würde. Nachdem wir alle Vorbereitungen getroffen hatten, verbrachten wir den Abend in Shotover House, dem Heim von Sir John in der Nähe von Oxford, das sich seit über hundert Jahren in Familienbesitz befindet. In Gesellschaft von Major Dick Hearn — dem langjährigen Rennpferdtrainer Ihrer Majestät - und seiner Frau Sheila genossen wir ein vorzügliches Dinner. Es wurde ein langer Abend, der mir sehr dabei half, mein Nervenkostüm für den kommenden Tag zu stabilisieren. Am nächsten Morgen um neun sollten wir der Queen, Prinz Philip und der Königinmutter in der Reithalle vorgestellt werden. Die Atmosphäre beim Eintreffen der königlichen Familie war diesmal eine andere. Es war ein offizielles Ereignis. Die Dame im Reitkostüm, mit der ich mich am Tag zuvor unterhalten hatte, war jetzt die Königin von England, die einen Termin wahrnahm. Sie und ihre Begleitung waren von zahlreichen Sicherheitsbeamten umgeben, und es herrschten die Regeln des Protokolls. Sir John Miller stellte uns einander vor, als hätte die Begegnung am Vortag nie stattgefunden. Und als hätten wir nicht schon zwei Tage lang immer wieder darüber gesprochen, verkündete man uns, dass die Königsfamilie unserer Vorführung von dem verglasten Balkon aus folgen würde. Die Veranstaltung begann, ein Eigenleben zu entwickeln. Ich war nervös, das muss ich zugeben. Normalerweise bin ich ein ausgeglichener, entspannter Mensch - eine Grundvoraussetzung für meine Arbeit. Zu meiner Beunruhigung spürte ich, dass mein Pulsschlag sich erhöhte und meine Konzentration nachließ. In Begleitung von Pat und Marty begab sich die königliche Familie in ihre Loge und nahm Platz. Die Vorführung konnte beginnen. Meine erste Aufgabe bestand darin, die junge Vollblutstute einzureiten. Sie war das persönliche Eigentum der Königinmutter, weshalb die alte Dame mein Tun mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen würde. Beim Betreten des Longierrings war mir plötzlich klar, dass ich, gelänge es mir nicht, mich zu entspannen, auch nicht in der gewohnten Weise mit dem Pferd würde kommunizieren können. Das Tier wäre dann nicht empfänglich für meine Signale. Es war nicht von der 15
Hand zu weisen, dass mir möglicherweise der peinlichste Tag meines Lebens bevorstand. Als ich das Tor hinter mir schloss, sah ich mich schon vollends blamiert. Ein Gefühl schieren Entsetzens durchfuhr mich. Dann wurde die junge Stute hereingeführt und losgelassen. Es war ein scheues Tier mit vor Furcht weit aufgerissenen Augen, das mehr Angst hatte als ich und meine Hilfe brauchte; dieses »unfertige« Wesen war von mir abhängig. Als mir dies bewusst wurde, legte sich meine Nervosität sofort, und ich begann mit der Arbeit. Es dauerte nur ein, zwei Minuten, bis ich spürte, dass alles seinen gewohnten Lauf nahm. Die junge Stute gab mir die erwarteten Signale, und binnen kürzester Zeit konnte die Vorführung beginnen. Ich möchte hier nicht in allen Einzelheiten auf meine Kommunikation mit den Tieren eingehen, weil ich darauf später noch ausführlich zurückkommen werde. Ziel dieses Buches ist es, den Leser nachempfinden zu lassen, wie ich allmählich die Pferdesprache begreifen lernte; und ich hoffe, dass er am Ende die faktischen Grundlagen ebenso gut beherrscht wie ich und weiß, worauf er besonders achten muss. An dieser Stelle genügt es zu sagen, dass sich diese junge, unberührte Stute an jenem Vormittag genauso benahm, wie ich es vorausgesagt hatte. Nach sieben Minuten gemeinsamer Arbeit folgte sie mir ohne Führstrick und ohne Halfter durch den Ring. Wenn ich mich umdrehte und die Richtung wechselte, tat sie das gleiche, die Nüstern nur etwa dreißig bis siebzig Zentimeter von meiner Schulter entfernt. Sie folgte mir überallhin. In ihrer Not vertraute sie mir. Ich gab ihr Sicherheit. Die königliche Familie sah von ihren Logenplätzen aus zu. Nach einer Viertelstunde stand dieses übernervöse junge Vollblut, das in seinem bisherigen Leben kaum von eines Menschen Hand berührt worden war, unverrückbar wie ein Felsen da und ließ sich von mir erstmals satteln. Ich hatte ihm noch keinerlei Zaumzeug angelegt. Nach nur fünfundzwanzig Minuten hatte es brav Zügel und Gebiss angenommen, und Sean saß auf seinem Rücken und ritt durch den Ring. Es sah so aus, als hätte die junge Stute nur auf diesen Moment gewartet. Nach einer Weile saß Sean ab, und das Pferd wurde weggeführt. 16
Nachdem ich den Longierring verlassen hatte, sah ich, dass die Queen, Prinz Philip und die Königinmutter sich von ihren Sitzen erhoben, vom Balkon herunterkamen und auf mich zusteuerten - Pat und Marty im Gefolge. Auch die Leibwächter regten sich und begleiteten sie. Die Queen schritt als erste durch die Tür, die zur Balkontreppe führte. Freundlich lächelnd reichte sie mir die Hand und sagte: »Das war wunderschön.« Sie fügte hinzu, meine Darbietung und die Reaktion des jungen Pferds hätten sie sehr verblüfft. Ich könne auf meine Leistung stolz sein. Mir wurde schlagartig klar, wie lange ich auf ein so positives Urteil gewartet hatte. Mein Longierring daheim war mit festen Wänden umgeben und ließ sich von keinem Logenplatz aus einsehen - eben deshalb, damit man mich nicht bei der Arbeit beobachtete und mir danach seine Ungläubigkeit bekundete. Nun erlebte ich die Umkehr alles bisher Dagewesenen. Kurz nach der Queen kam auch Prinz Philip durch die Tür. Auch er schüttelte mir die Hand und fragte, ob ich vielleicht den jungen Männern helfen könne, die im Laufe der Woche mehrere Fjell-Ponys zureiten würden. Über die Reaktion der Queen und Prinz Philips war ich natürlich hocherfreut, doch ich muss gestehen, dass mich besonders interessierte, welchen Eindruck meine Vorführung auf die Königinmutter gemacht hatte. Wenige Minuten später war auch sie bei mir. Ihre Wertschätzung überwältigte mich schier und ging weit über das hinaus, was ich mir erhofft hatte. Tränen standen in ihren Augen. Mit ruhiger, fester Stimme sagte sie: »Das war mit das Schönste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.« Die Leistung ihrer jungen Stute und das Erleben dessen, was an Kommunikation zwischen Mensch und Pferd möglich ist, bewegten sie sichtlich. Ihre emotionale Reaktion ließ mich sekundenlang vergessen, wer sie war und wo wir uns befanden. Spontan umarmte ich sie und drückte sie sanft an mich - ganz einfach, weil mir diese Geste im Augenblick die einzig richtige zu sein schien. Die überraschten Leibwächter erstarrten und traten im nächsten Moment auf mich zu. Mir wurde bewusst, dass niemandem eine so intime Berührung eines Mitglieds der königlichen Familie 17
gestattet war. Sofort ließ ich meine Arme sinken und trat einen Schritt zurück. Die Königinmutter indessen schien in keiner Weise gekränkt zu sein. Noch immer mit sehr leiser Stimme sagte sie, sie hoffe, ich würde meine Arbeit fortsetzen und zur Entwicklung einer anderen, respektvolleren Beziehung zwischen Mensch und Pferd beitragen. Bis an mein Lebensende werde ich mich mit Freude an die Begegnung mit der Königinmutter und ihren Zuspruch erinnern. Mein Aufenthalt auf Schloss Windsor war damit noch nicht beendet, doch ich möchte den Bericht vorerst einmal unterbrechen. Zu erzählen gibt es noch einiges: So wurde noch am Nachmittag des besagten Montags versucht, meine Leistungen zu sabotieren. Darauf werde ich an geeigneter Stelle zurückkommen. Dass ich meine Erfahrungen und Methoden über die Kommunikation mit Pferden niederschreibe, geht auf einen Vorschlag Ihrer Majestät zurück, und es ist auch weitgehend ihrem Einfluss zuzuschreiben, dass ich mich an die zeitraubende und schwierige Aufgabe herangewagt habe, mich an frühere Phasen meines Lebens zu erinnern - zu hinterfragen, wie sich meine große Liebe zu den Pferden entwickelt und mich schließlich dazu bewegt hat, einen Versuch zu unternehmen, die Barriere, die uns Menschen von den Pferden trennt, zu überwinden.
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EINE JUGEND UNTER PFERDEN
Am 14. Mai 1935, mitten in der Weltwirtschaftskrise, kam ich in der kalifornischen Kleinstadt Saunas zur Welt. Viele der klassischen Romane John Steinbecks spielen in dieser Gegend, und es kann gut sein, dass zu den Vorbildern für seine Figuren auch meine Vorfahren gehörten, die in vieler Hinsicht typisch waren für die Ein- und Zuwanderer in jenem Garten Eden Kaliforniens. Das erste, worauf meine Blicke gefallen sein dürften, als man mich aus dem Haus hinaustrug, waren zweitausenddreihundert Morgen hervorragendes Ackerland in der so genannten »Salatschüssel Amerikas« - fruchtbarer Boden, gesegnet mit einem gemäßigten Klima. Dennoch handelte es sich nicht unbedingt um ein landwirtschaftliches Ambiente, sondern eher um Stadtrandmilieu, also durchaus bebautes Gebiet, wenn auch mit einem kleinen Unterschied: Alle Gebäude und Anlagen in der Umgebung hatten etwas mit Pferden zu tun, angefangen bei den Ställen und Boxen über einen Vorführplatz mit Tribüne bis hin zu Koppeln und Zuchtställen. Es war eine den Pferden gewidmete Einrichtung. Dort arbeiteten meine Eltern. Schon vor meinem ersten Geburtstag nahm mich meine Mutter mit in den Sattel. Ich saß vor ihr - und dies nicht nur ein- oder zweimal so zum Spaß, wie es bei anderen Kleinkindern geschehen mag, sondern stundenlang, wenn Mutter Reitunterricht gab. Die vor- und zurückzuckenden Pferdeohren, der Pferdehals unmittelbar vor mir, die im Rhythmus des Pferdeschritts wippende Mähne - all dies war mir schon bald genauso vertraut wie der Anblick und die Stimme eines Menschen. Ich war knapp zwei Jahre alt, als ich bereits den größten Teil des Tages auf dem Pferderücken verbrachte. Ja, ich besaß inzwischen sogar schon mein erstes eigenes Pferd. Ich befand mich sicherlich in einer einmaligen Lage: Wer sonst kann von sich sagen, dass er auf den Salinas Rodeo Competition Grounds, dem Rodeogelände von Salinas, aufgewachsen ist? Das Rodeogelände verdankte seine Entstehung einem gewissen Mr. Sherwood, der bei seinem Tod der Stadt Salinas zweitausenddreihundert Morgen Land vererbte - allerdings nur unter der Bedingung, dass das Grundstück ausschließlich für Aktivitäten genutzt würde, die irgend etwas mit Pferden zu tun hätten. Die Vermögensverwalter und die Stadt Salinas fragten meinen 21
Vater, ob er die Leitung des Geländes übernehmen wolle. Er war einverstanden, und kurz danach begannen die Bauarbeiten. Man errichtete über achthundert Pferdeboxen und eine Wettkampfarena, deren Haupttribüne zwanzigtausend Sitzplätze fasst. Die Anlage besteht noch heute. Zusätzlich zu seinem Amt als Manager unterhielt mein Vater auf dem Gelände auch eine eigene Reitschule. Tag für Tag klapperte meine Mutter mit einem großen Kombiwagen die örtlichen Schulen ab, brachte die Schüler zu den Reitstunden und fuhr sie danach wieder nach Hause. In den Grund- und Oberschulen von Salinas gehörte Reiten zum Sportunterricht; die Schüler waren offiziell in der Reitschule meines Vaters eingeschrieben. Darüber hinaus bildete mein Vater Pferde für Privatleute aus. Er hatte außerdem Pensionspferde, und er vermietete das Gelände an verschiedene andere Pferdetrainer, so dass auch sie, ganz im Sinne des Testaments von Mr. Sherwood, auf dem Wettkampfplatz ihren Beruf ausüben konnten. Meine Eltern waren also die Manager von Mr. Sherwoods Geschenk an die Stadt Salinas - und sie waren Geschäftsleute mit einem eigenen Unternehmen. Mein erstes Pferd war, als ich es bekam, siebzehn Jahre alt und hieß Ginger. Es war ein ausgebildetes Westernpferd (reined cowhorse) von der Uhl Ranch, das in seiner besten Zeit bei Western-Riding-Turnieren recht gute Leistungen gebracht hatte. Auf seine alten Tage sollte es nun mein Babysitter sein. Vom Temperament her war Ginger dafür genau der Richtige: diszipliniert und zuverlässig. Deshalb wurde er zu meinem Lehrpferd bestimmt. Er hatte jahrelange Erfahrungen in allen Cowboyübungen und kannte sie in- und auswendig. Wenn dieses Kind auf seinem Rücken sich einbildete, es ginge alles noch besser, war ihm das ziemlich gleichgültig. Ginger zeigte sich sehr geduldig mit dem Dreijährigen, der da auf seinem Widerrist auf und ab hüpfte und Arme und Beine wie Windmühlenflügel in alle Richtungen drehte. Nein, Ginger genoss keinen ehrwürdigen, friedlichen Ruhestand, aber ich glaube doch, dass er eine Menge Spaß mit mir hatte. In meinen Augen konnte er ohnehin nichts falsch machen. Er war mein Spielgefährte. Mein Vater bemerkte schon bald, dass meine reiterlichen Fähigkeiten überdurchschnittlich waren. Ich konnte ein Pferd im Schritt 22
gehen lassen, konnte traben, konnte galoppieren. Ohne große Mühe lernte ich fliegende Wechsel und Achterfiguren. Mir selbst kam dieses Leistungsniveau ganz normal vor, doch ich kann mich noch daran erinnern, dass manche Leute sagten: »Der Junge da ist gerade mal drei Jahre alt!« Mein Vater wollte sich meine Fähigkeiten zunutze machen. Ich war noch nicht einmal alt genug für den Kindergarten, da wurde mir bereits gesagt, dass ich mehr üben und noch mehr Zeit im Sattel verbringen müsse als ohnehin schon. Mein Vater kaprizierte sich auf mich und nicht auf meinen Bruder, weil Larry, der jüngere von uns beiden, aufgrund eines Geburtsfehlers in den ersten Jahren seines Lebens etwas schwächlicher als ich war. Um Larry musste man sich kümmern - mich konnte man bis an die Leistungsgrenze treiben. Mein Vater meldete mich regelmäßig zu Veranstaltungen, so dass kaum ein Wochenende verging, an dem ich nicht irgendeinen Wettkampf zu bestreiten hatte. Ich besitze noch einen verwackelten alten Film aus jener Zeit, auf dem Larry und ich bei einem Juniorenturnier zu sehen sind. Ich war damals vier Jahre alt. Der körnige, flackernde Film zeigt uns beide, wie wir unsere Pferde im Kreis reiten, sie herumdrehen, sie zum Stehen bringen und hin und her jagen. Wir sehen aus wie Miniaturausgaben jener Cowboys, die uns dies alles beigebracht hatten. Und alles läuft mit der unheimlichen Stille ab, die für die Filme jener Zeit so typisch ist. Wenn ich mir Ginger und mich so ansehe und beobachte, wie ich sein Maul herumriss und ihn misshandelte — es geschah ja nur aus Unwissenheit -, überkommt mich große Traurigkeit, und ich hoffe nur, dass er damals begriff, dass ich noch ein kleines Kind war, das nicht wusste, was es tat. Es war das Salinas Junior Stockhorse Turnier, und die meisten Kinder waren älter als ich. Aber ich hatte Ginger an meiner Seite, der besser als alle anderen Beteiligten wusste, wie man bei solchen Veranstaltungen hohe Wertungen erzielte; er hatte ja jahrelang gegen eine weit stärkere Konkurrenz an Wettbewerben dieser Art teilgenommen. Heute bin ich davon überzeugt, dass er aus eigenem Antrieb beschloss, den Siegerpreis mit nach Hause zu nehmen - und das tat er dann auch. Ich gewann das Turnier. Nach unserem unerwarteten Sieg stand meine Familie plötzlich 23
im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Die Publicity wirkte auf meine Eltern wie ein Rausch. Von einem Tag zum anderen liefen ihre Geschäfte besser. Mr. und Mrs. Roberts waren ganz offensichtlich die besten Lehrer, denn sie hatten einen vierjährigen Sohn, der bereits einen Pokal gewonnen hatte. Mein Vater fühlte sich durch dieses Ereignis in seiner Überzeugung bestätigt, dass ich das Kind war, das dereinst den Namen Roberts in der Welt der Pferdeturniere bekannt machen würde. Ich muss hier einen Augenblick innehalten und kurz auf meinen Vater eingehen, denn er war eine sehr wichtige Figur in meinem Leben. Ich will damit nicht sagen, dass andere Angehörige weniger wichtig waren - nur ist meine Familie nicht Thema dieses Buches. Meine Frau und meine Kinder, unsere siebenundvierzig Pflegekinder, mein Bruder Larry und meine Mutter kommen auf den folgenden Seiten nur am Rande vor; eigentlich müsste ich über sie ein eigenes Buch schreiben. Thema dieses Buches ist mein Verhältnis zu Pferden - meine Lebensarbeit. Dennoch ist dieser Bericht für mich auch eine sehr persönliche, emotionale Erfahrung. Wenn ich mir die Freiheit nehme, von meiner Familie lediglich meinen Vater etwas genauer zu beschreiben, so geschieht dies deshalb, weil alles, was ich in meinem Leben erreicht habe, seinen Ursprung darin hat, dass er mich schon sehr früh und sehr intensiv mit Pferden in Kontakt brachte. Wenn man andererseits sagen kann, dass sich mein Berufsleben in eine bestimmte Richtung entwickelt hat, so war es eine Richtung, die von meinem Vater wegführte. Die Vehemenz, mit der ich diese Zielrichtung verfolgte, war eine unmittelbare Konsequenz meiner offenen Rebellion gegen meinen Vater und seine Methoden. Mein Vater war ein hochgewachsener Mann von schlankem, muskulösem Körperbau und markanten, wie gemeißelt erscheinenden Zügen unter hellbraunem Haupthaar. Wenn die Umstände es zuließen, sah er gepflegt und ordentlich aus. Wenn er sich in der Stadt mit Freunden und Kollegen traf, konnte er, denke ich, ein durchaus liebenswürdiger, zuvorkommender Mann sein. Mich hingegen betrachtete er von Anfang an mit kaltem, kritischem Blick. Er war unversöhnlich und überprüfte peinlich genau 24
alles, was ich tat, und immer wieder kam es vor, dass er mich dann der Lächerlichkeit preisgab. Seine Methoden im Umgang mit Pferden waren konventionell, würde ich sagen — und damit meine ich grausam. Die übliche Methode, nach der Pferde damals zugeritten wurden, ist auch heute noch durchaus verbreitet. In einer Fernsehsendung aus dem Jahr 1989 zum zwanzigjährigen Geburtstag der Weltraumfahrt hieß es, dass der Weltraum die große Herausforderung unserer Zeit sei. Früher sei dies der Wilde Westen gewesen, die frontier, die Grenze, im Westen des nordamerikanischen Kontinents. Einiges, so die Aussage der Sendung, habe sich seither nicht geändert. Und als Beispiel wurde unter anderem das Zureiten der Pferde angeführt. Mein Vater hatte zu diesem Zweck einen eigenen Korral errichten lassen, zu dessen innerer Begrenzung in gleichmäßigen Abständen voneinander sechs kräftige Pfosten eingelassen waren. Dadurch war es ihm möglich, sechs Pferde gleichzeitig einzureiten. Als erstes zog er ihnen Halfter über. Dafür wurden sie bei Bedarf in einen Laufgang getrieben, damit man nahe genug an sie herankommen konnte. Als nächstes befestigte er kräftige Stricke an ihren Halftern und band jedes Tier an, wobei er den Strick in zirka 1,90 Meter Höhe um den Pfosten wickelte und das Ende an dem Zaun festmachte. Auf diese Weise hatte er schließlich sechs Pferde im Abstand von jeweils etwa zehn Metern im Korral festgezurrt. Danach waren die Tiere schon völlig verängstigt. Mein Vater stellte sich nun in die Mitte des Korrals und nahm eine schwere Plane oder einen beschwerten Sack zur Hand, an dem ein Seil befestigt war. Einem Pferd nach dem anderen schlug er den Sack auf den Rücken und um die Beine. Wenn der Sack auf ihre Hinterhand fiel und sich um ihre Hinterbeine wickelte, gerieten die Pferde in Panik. Sie verdrehten die Augen und schlugen aus, bäumten sich auf und zerrten an ihrem Zaumzeug, als ginge es um ihr Leben - was in ihren Augen ja auch tatsächlich der Fall war. Wer konnte ihnen schon klarmachen, dass dies nicht der Anfang vom Ende war? Furcht liegt in ihrer Natur, und sie waren außer sich vor Furcht. Sie warfen sich vor und zurück, versuchten nach allen Seiten auszubrechen, kämpften um ihr Leben. Ihre Hälse 25
und Köpfe schwollen an, und häufig zogen sie sich Verletzungen zu. Es war ein grauenhafter Anblick - und ist es auch heute noch. Die hier geschilderte Tortur, die als »Aussacken« bezeichnet wird, dauerte etwa vier Tage. Zweck der Übung war es, die Willenskraft des Pferdes zu brechen und seine Gegenwehr im Keim zu ersticken. Der nächste Schritt bestand darin, die Beine hochzubinden, und zwar meist das linke Hinterbein zuerst. Man schlang ein Seil um die hintere Fessel, zog es straff und band es am Halfter des Pferdes fest. Das künstlich verkrüppelte Pferd musste nun eine weitere Runde des Aussackens überstehen, wodurch seine Widerstandskraft weiter abnahm. Die Tiere kämpften tapfer in ihrer bemitleidenswerten Lage. Auf drei Beinen trugen sie ihre schwere Last. Manchmal wieherten sie vor Schmerz, denn der Zug auf den Haltern muss mörderisch gewesen sein. Alle vier Beine wurden reihum hochgebunden. Das Aussacken ging immer schneller, da den Pferden zusehends der Lebenswille genommen wurde. Als nächstes band man ihnen wieder ein Hinterbein hoch und schnallte ihnen einen Sattel auf. Der Widerstand der Pferde erwachte von neuem, diesmal gegen den Sattelgurt, doch zusätzliches Aussacken zermürbte sie. Einige Tiere wehrten sich stundenlang, andere gaben schneller auf und verfielen in einen Zustand der Orientierungslosigkeit, warteten teilnahmslos auf die nächsten Schmerzen. Inzwischen waren acht bis zehn Tage vergangen. Wo der Strick die Haut durchgescheuert hatte, waren die Fesseln blutverschmiert. Das Fell war stellenweise durch die starke Reibung versengt. Wunden und bisweilen ernsthafte Beinverletzungen waren an der Tagesordnung. Und das Verhältnis zwischen den Tieren und ihren menschlichen Beherrschern war nun klar umrissen: Sie arbeiteten aus Angst, nicht aus eigenem Willen. Die Leistungsbereitschaft eines Pferdes zu zerstören ist schlicht weg eine unverzeihliche Dummheit, gehört sie doch zu seinen wichtigsten Eigenschaften. Wird sie dagegen gehegt und gepflegt, kann sie sich zum zuverlässigsten und wertvollsten Faktor im Arbeitsleben eines Pferdes entwickeln. Bei allen Pferden, die mir im Laufe meines Lebens ans Herz gewachsen sind, habe ich am meisten ihren unendlichen Willen geschätzt, sich für mich einzusetzen. Die sechs Pferde wurden nun, eines nach dem anderen, losgebun26
den und mit einer Hackamore versehen, einer aus Rohleder geflochtenen Zäumung ohne Gebiss. Wenn mein Vater die Pferde zum ersten Mal ritt, wurde ihnen wieder ein Hinterbein hochgebunden, damit sie nicht bocken konnten. Er saß auf und saß ab, trat sie in den Bauch, versuchte sie auf jede erdenkliche Weise zur Gegenwehr zu reizen. Wenn sie sich bewegten, bekamen sie die Peitsche übergezogen. Sobald er davon überzeugt war, dass er ein Pferd »gebrochen« hatte, löste er die Stricke und ritt das Tier im Longierring im Kreis. Diejenigen Pferde, die noch nicht geritten werden konnten, verbrachten den größten Teil des Tages mit hochgebundenen Beinen. Das gesamte Verfahren dauerte für die sechs Pferde mindestens drei Wochen. Gestatten Sie mir nun, aus tiefer innerer Überzeugung eine Behauptung aufzustellen: Wenn Sie mir heute diese sechs Pferde anvertrauen würden, so würde ich sie Ihnen, ohne jeden Strick und ohne den Tieren auch nur eine Sekunde lang Schmerzen oder Unbehagen zu bereiten, einreiten. Eine Peitsche käme bei mir nicht einmal in die Nähe eines Pferdes. Ich würde bis zu einem gewissen Grad meine Stimme einsetzen, mich im wesentlichen jedoch auf meine Körpersprache verlassen. Sie bekämen auf diese Weise ein leistungsbereites Pferd, das sich den Rest seines Arbeitslebens voll für Sie einsetzen würde. Und um dies zu erreichen, brauchte ich für alle sechs Pferde keine drei Wochen, sondern lediglich drei Stunden. Mein Vater stand neben einem Fremden und winkte mich zu sich. »Monty, das ist Mr. Don Page.« Vor mir stand riesengroß Don Page und streckte mir die Hand entgegen. »Schön, dich kennen zu lernen, Monty.« »Guten Tag, Sir.« Man schrieb das Jahr 1940. Ich war fünf Jahre alt. Mein Bruder Larry und ich nahmen an einem Wettkampf bei den Pickwick Riding Stables in Burbank, Kalifornien, teil. In jener Region sind auch viele bekannte Hollywood-Studios angesiedelt, darunter MGM, Paramount und Warner Brothers. Mein Vater fuhr fort: »Mr. Page arbeitet für eine Filmgesellschaft, Monty.« Beide sahen mich erwartungsvoll an, und ich harrte der Dinge, die 27
da kommen mochten. Mr. Page ging in die Knie, so dass er ungefähr auf meiner Höhe war, und klärte mich auf: »Pferdefilme sind zur Zeit sehr beliebt, weißt du. Hast du schon mal welche gesehen?« »Ich hab' Filme gesehen mit Pferden drin, ja.« Es stimmte. Landauf, landab gab es in den Kinozelten die unterschiedlichsten Filme zu sehen, in denen immer ein Pferd und ein Junge oder ein Pferd und ein Mädchen vorkamen. »Weißt du, dass Mary O'Hara, die Frau, die Mein Freund Flicka geschrieben hat, für MGM als Drehbuchautorin arbeitet?« fragte Don Page. Nein, das wusste ich nicht. Aber ich war ja auch erst fünf. »So, wie es aussieht, sind die Menschen ganz versessen auf hübsche Geschichten mit Kindern und Pferden und dergleichen. Sie helfen ihnen, die Not zu vergessen, die Wirtschaftskrise, den Krieg da drüben in Europa und so weiter. Wir haben bloß nicht genug Kinder, die für uns reiten können.« Ich sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und begriff allmählich, worauf er hinauswollte. Sicher lief das auf ein Angebot hinaus. Ich war natürlich bereit, sofort zuzugreifen. »Wir haben im Studio echte Schwierigkeiten, junge Reiter aufzutreiben. Dein Papa hat mir erzählt, dass du ganz gut reitest. Was meinst du - willst du nicht mal mitkommen und uns zeigen, was du kannst?« Mr. Page schlug vor, wir sollten uns einen Tag freinehmen und zu einem nahe gelegenen Trainingsgelände für die berittenen Stuntmen des Studios kommen. Mein Vater sagte zu, und wir richteten uns darauf ein, »vorsingen« zu müssen. Als wir zum vereinbarten Zeitpunkt auf dem Gelände eintrafen, begrüßte uns eine Reihe von Leuten, die bereits darauf warteten, mich und meine Reitkünste zu begutachten. Was das für Leute waren, weiß ich nicht, aber es dürfte sich um Studiomitarbeiter gehandelt haben, die für die Besetzung und den Einsatz der Stunts zuständig waren. Auf jeden Fall musste ich zunächst einmal eine Fülle von »Hallos« über mich ergehen lassen und zahlreiche Hände schütteln. Sie hatten ein ruhiges, berechenbares Pferd für mich ausgesucht, das offenbar an diese Art Volksvergnügung gewöhnt war. Es war ein brauner Wallach, der in jenen Tagen, als es die Filmindustrie mit den Sicherheitsvorkehrungen für Tiere noch nicht so genau nahm, den vergleichsweise niedrigen Status eines Studiopferdes innehatte. 28
Einer der Herren rief mir zu: »Okay, Monty, jetzt zeig uns mal einen schönen Galopp von links nach rechts!« Ich zeigte ihn. »Und jetzt andersrum zurück, wenn's geht.« Ich brachte das schwierige Manöver erfolgreich zu Ende. »Und jetzt ein Stopp mit Absitzen, geht das?« In seiner Frage lag diesmal ein gewisser Zweifel. Ich hatte keine Probleme. Solche Dinge beherrschte ich schließlich schon seit fast zwei Jahren. Mein Vater und die Beobachter der Filmgesellschaft tuschelten miteinander. Derjenige, der mir die Aufgaben zugerufen hatte, kam zu mir herüber. Er sah mich an und fragte in ernstem Ton: »Siehst du die Sandgrube da hinten?« Ich folgte seinem Fingerzeig und fand, was er meinte. »Könntest du jetzt - wenn es dir nichts ausmacht - über die Grube reiten und dort... und dort einfach reinfallen? Während das Pferd weiterläuft?« Ich jagte den Filmwallach im Galopp über die Sandgrube und tauchte rechtsseitig ab. Der spontan aufbrandende Applaus ging sicher auf die Initiative meines Vaters zurück, der die vielen neuen Autos auf dem Parkplatz vor dem Gelände gesehen hatte. Ich stand auf und klopfte mir den Sand aus der Kleidung. Irgendwer hatte den Wallach eingefangen und brachte ihn zurück. Jetzt kamen die Filmleute langsam auf den Geschmack und verlangten die verschiedensten Tricks von mir. »Kannst du auch über die Hinterhand runterfallen?« - »Kannst du an uns vorbeigaloppieren und auf der anderen Seite runterhängen, so dass wir dich nicht sehen können?« Wie die meisten anderen Kinder auch hatten mein Bruder und ich am Samstagmorgen oft Filme angesehen. Später probierten wir dann zu Hause aus, was die Stuntmen uns vorgemacht hatten. Wir besaßen sogar einen Tricksattel mit den entsprechenden Spezialgriffen; mein Vater hatte ihn uns aus einem alten Sattelgeschäft mitgebracht. Ich war fix und fertig, als wir das Studiogelände verließen. Aber ich hatte den Einstieg ins Filmgeschäft geschafft. In den folgenden Jahren übernahm ich zahlreiche Rollen. Einmal doubelte ich Roddy McDowall. Das Filmteam baute gerade eine riesige Kamera auf, wie sie in jenen Tagen gebräuchlich war, und richtete das Weitwinkelobjektiv auf den Paddock. Dann ver29
sammelten wir uns, um uns unsere Instruktionen anzuhören. Der Regisseur erklärte mir, was ich zu tun hätte: »Okay, Monty. Du fängst also hier im Paddock das Pferd mit dem Lasso ein. Das nette kleine Mädchen sitzt da drüben auf dem Zaun und sieht dir zu. Hast du das kapiert?« »Alles klar.« »Das Pferd reißt dich von den Füßen, aber du lässt nicht los, sondern hältst dich auf Teufel komm raus am Lasso fest.« »Okay.« Er runzelte besorgt die Stirn. »Und vergiß ja nicht, dass dich das Pferd 'ne ganze Weile über die Koppel schleifen muss. Wir brauchen diese Bilder unbedingt.« »Nein, nein, ich halte das Lasso fest, bis Sie mir sagen, dass ich es loslassen kann.« Das gab ihm sichtlich Auftrieb. »Na prächtig! Und wir schneiden die Szene dann zusammen. Roddy McDowall bringt die Kleine her und zieht danach wieder mit ihr ab.« »Verstehe.« »So, und jetzt ab in die Garderobe. Da wirst du mit den gleichen Klamotten ausstaffiert, wie Roddy sie trägt.« Diese Forderung war leicht zu erfüllen, wenn auch mein Vater kopfschüttelnd hinter der Kamera auf und ab lief, den Produzenten immer wieder die Gefährlichkeit des Unternehmens vor Augen hielt und verlangte, dass die Risiken, die sein Sohn auf sich nahm, bei der Bezahlung berücksichtigt werden sollten. Ich fing das Pferd mit dem Lasso ein und stemmte meine Hacken in die Erde, damit es so aussah, als zöge es mich mit sich fort. Ich biß - buchstäblich - ins Gras und wurde, wie geplant, vom Pferd über den Boden geschleift. Auf einmal gab es ein Geräusch, als ginge etwas in Stücke. Es war etwas geschehen, das niemand vorhergesehen hatte: Die Hose, die mir die Kostümbildnerin gegeben hatte, bestand aus einem dünnen, kreppartigen Material, das der rauhen Behandlung nicht gewachsen war. Die gesamte Rückseite war herausgerissen. Als ich mich aufrappelte, wäre ich am liebsten vor Scham in den Boden versunken. Da stand ich nun ohne Hose, und es gab niemanden, der mich auf die Schnelle aus dieser misslichen Lage hätte befreien können. 30
Doch was noch schlimmer war: Es gab keine Ersatzhose. Man hatte das gute Stück exakt nach dem Vorbild der Hose Roddy McDowalls hergestellt. Eine zweite Dublette existierte nicht. Das Malheur mit der Hose versetzte die Filmcrew in helle Aufregung, und es gab ein ziemliches Tohuwabohu. Schließlich einigte man sich darauf, dass sie die Szene, in der mich das Pferd durch den Dreck zog, unbedingt noch ein paar Mal filmen mussten. Ich musste also weitermachen - diesmal allerdings in meinen eigenen Jeans. Was die Einheitlichkeit der Aufnahmen betraf, so wollten sie sich irgendwie behelfen. Später sahen wir uns den fertigen Film an. An der entsprechenden Stelle trat Roddy McDowall zunächst in schmutzig-weißen Hosen auf, fing Sekunden später in Jeans ein ziemlich wild aussehendes Pferd ein, nur um im nächsten Augenblick wieder seine hellen Hosen zu tragen. Von diesem Tag an war uns allen klar, dass man nicht ohne weiteres alles glauben kann, was einem im Kino so vorgesetzt wird. Im Laufe der Jahre doubelte ich zahlreiche Kinderstars: In Kleines Mädchen, großes Herz war ich Elizabeth Taylor. Ich war auch Mickey Rooney, Charlton Heston, Tab Hunter und viele andere. Keine schlechte Karriere für einen Jungen, der gerade erst in die Schule kam. Alle Entscheidungen im Zusammenhang mit der Filmerei traf mein Vater. Er verhandelte mit den Studios und unterzeichnete die Verträge. Er war nicht verpflichtet, sich mit mir zu beraten oder mir mitzuteilen, wieviel ich verdiente, denn der Einsatz von Minderjährigen in der Filmproduktion war damals gesetzlich noch nicht geregelt. Eine Ausbildung war nicht vorgesehen, und es gab weder einen Mindestlohn noch Sicherheitsbestimmungen. Heutzutage hat ein sechsjähriger Filmschauspieler einen Agenten, einen Anwalt und ein Treuhandkonto, und die Eltern sind im Umgang mit ihrem Kind an bestimmte ethische Normen gebunden. Als sich meine Drehtermine häuften, gratulierte mir Vater des Öfteren zu meinen finanziellen Erfolgen. Er sagte mir, dass er das Geld in meinem Namen investiere, so dass es für mich bereitläge, wenn ich alt und vernünftig genug sei, darüber selbst zu verfügen. Wenn ich einen neuen Sattel oder dergleichen brauchte und ihn um einen Vorschuss bat, schüttelte er den Kopf und sagte in strengem Ton: »Monty, ich habe dir doch gesagt, dass ich das Geld für dich aufbewahre.« 31
Er stand zu seinem Wort, das muss ich zugeben: Ich habe niemals auch nur einen Cent von meinen Einkünften zu Gesicht bekommen. Waren die Pferde oder die Menschen in der Überzahl? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß auch nicht mehr, wer von beiden den meisten Lärm machte. Ich musste immer Ausschau nach meinem Vater halten, weil ich fürchtete, im Gedränge verloren zu gehen. Schrille, laute Rufe — das hektische Verkaufsgeplapper des Auktionators - drangen an mein Ohr. Pferde aller Art wurden in den Ring getrieben und in allen Gangarten gezeigt. Die Aufregung und Spannung der Auktion war für einen Siebenjährigen unglaublich beeindruckend. Wir drängelten uns zu einem mehr oder weniger guten Stehplatz am Ring vor und beobachteten die ersten Pferde, ohne dass sich mein Vater sonderlich für sie interessiert hätte. Dann wurde eine nervöse Fuchsstute in den Ring gelassen, die laut Auktionsprogramm acht Jahre alt sein sollte. Sie spielte sich auf, reckte die Nüstern in die Luft, ärgerte sich sichtlich über das Halfter und stupste den Mann, der sie führte, in den Rücken, als wäre sie nur zwei Jahre alt. Es handelte sich eindeutig um ein problematisches Pferd, für das sich niemand interessierte. Ausgenommen mein Vater: Er hatte genau auf ein solches Tier gewartet. Er hob die Hand und erwarb es für einen Spottpreis. Er unterzeichnete den Ankaufszettel und legte mir die Hand auf die Schulter. »An die Arbeit, Monty«, sagte er. »Komm mit!« Jetzt geht's schon wieder los, dachte ich bei mir. Im Eilschritt erreichten wir die Boxen hinter dem Vorführring und suchten die Fuchsstute, die mein Vater soeben erstanden hatte. Unterwegs nahm er noch Longe, Sattel, Zaumzeug und Peitsche mit. Nachdem wir die junge Stute gefunden hatten und uns mit ihr in sicherer Entfernung befanden, legte Vater ihr Sattel und Zaumzeug an und nahm sie an die Longe. Er ließ das Tier etwa zehn Minuten lang mal links, mal rechts herum im Kreis laufen, brachte es dann zum Stehen und nahm die Longe ab. »Überfüttert und zu wenig gefordert«, lautete sein Urteil, das gleichzeitig als Erklärung für die Ursache des unwilligen Verhaltens der jungen Stute herhalten musste. »Reite sie hart, ungefähr eine Stunde lang, dann lass sie im Schritt gehen und abkühlen. Lass sie jede Viertelstunde ein paar Schritte rückwärts gehen. Wenn du fertig bist, 32
putzt du sie. In drei Stunden bringen wir sie wieder in den Ring und ziehen die übliche Vorstellung ab.« Mit diesen Instruktionen ließ er mich allein. Ich sah ihm nach, wie er zum Verkaufsplatz zurückschlenderte, um weitere Geschäfte zu tätigen. Die nächsten drei Stunden war ich mit der Fuchsstute allein. Mein Vater überließ mir immer jene Pferde, deren Schwierigkeiten seiner Ansicht nach daher rührten, dass sie von jugendlichen Reitern falsch behandelt worden waren. Mit diesen »von Kindern verdorbenen« Pferden konnte ich seiner Meinung nach am besten umgehen. Denn wenn ich diese Tiere einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, fiel ihnen, wie er glaubte, die Gewöhnung an normale Reiter leichter. Ich nahm mir also die Fuchsstute vor und befolgte meines Vaters Anweisungen. Doch weder in diesem noch in allen anderen Fällen dieser Art ließ ich es mir nehmen, mir mein eigenes Urteil über die möglichen Ursachen für die Verhaltensstörungen des Tiers zu bilden. Knapp drei Stunden später kehrte mein Vater zurück. »Nun leg mal los!« forderte er mich auf. Im Schritt, im Trab und im Galopp ritt ich das Pferd im Kreis. Dann saß ich ab, duckte mich und ging unter dem Bauch der Stute hindurch. Dies wiederholte ich mehrere Male. »Okay«, sagte mein Vater. »Gehen wir.« In der Auktionsarena verfolgten mich die aufmerksamen Blicke potentieller Käufer. Ich führte ein, wie es schien, gut eingerittenes, gutmütiges Pferd vor und zeigte diverse Übungen, die ihren Eindruck nicht verfehlten. Zum Schluss stieg ich ab und »unterquerte« das Tier in beiden Richtungen. Ich spürte, wie sich die Käufer um die Arena drängten. Sie waren zutiefst beeindruckt. Die Stimme des Auktionators wurde immer schneller und noch einen Ton schriller. Die Gebote erreichten das Doppelte, ja das Dreifache der Summe, für die mein Vater das Tier zuvor erstanden hatte. Wenn ich heute daran zurückdenke, glaube ich, dass der Auktionator von dem Vorgehen meines Vaters gewusst haben muss. Natürlich war nichts Illegales dabei. Nur war die Methode meines Vaters sicher auch nicht optimal, um die Probleme bestimmter Pferde effektiv zu beheben. Man konnte sie damit vorübergehend übertünchen, mehr nicht. Was mich persönlich betrifft, so gewann ich allein schon durch die Vielzahl der Pferde, die ich auf diese Art und Weise zu reiten 33
bekam, eine Erfahrung, die ihresgleichen suchte. Mit der Zeit entwickelte ich die Fähigkeit, kritische Pferde und ihre Probleme schnell und präzise zu erkennen, sie gleichsam zu »lesen«. In all den Jahren, in denen ich für meinen Vater tätig war, bemühte ich mich, durch genaues Beobachten ihres Verhaltens und ihrer Reaktionen herauszufinden, was die Pferde störte oder beunruhigte. Ich entwickelte ein »inneres Ohr«. Ich glaubte, dass die Pferde mir etwas sagten. Vor allem aber machte ich die Erfahrung, dass es in den allermeisten Fällen völlig fehl am Platz war, auf das zu hören, was die Leute, die mit dem betreffenden Pferd zu tun hatten, von sich gaben. Nicht etwa, dass sie gelogen hätten - sie hörten einfach nicht zu. Diese Erkenntnis wurde im Laufe der Zeit zum Grundstein meines Denkens und gewann durch die ständige Bestätigung, die sie bei meiner Arbeit mit Pferden erfuhr, nach und nach fast sprichwörtlichen Charakter: »Ein guter Trainer kann hören, was ein Pferd zu ihm sagt. Ein großer Trainer versteht sogar sein Flüstern.« Die harte Sonne Kaliforniens brannte auf den ausgedörrten Boden. Mein Vater und ich waren in jenem Korral, in dem er die Pferde einritt. Ein tiefschwarzer Schatten folgte all seinen Bewegungen wie ein Geist, vor dem es kein Entrinnen gab. Vater lehnte sich an einen der sechs Pfähle, an die er immer die jungen Pferde festband. Er war fast so groß und schlank wie der Pfosten. Er rollte ein Lasso zusammen, um es akkurat an den Pfahl zu hängen - bereit für das nächste arme Tier, das bald an ihm zappeln würde wie ein Fisch an der Angel. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass du lernst, wie man ein Pferd zureitet«, sagte er. Ich war sieben Jahre alt. Ich irre mich nicht in der Zeit, weil wenig später einschneidende Ereignisse eintraten, die mein Leben von Grund auf veränderten. Was ich damals noch nicht wissen konnte: Es war unser letzter Sommer auf dem Rodeogelände. Ich sagte nichts, als mein Vater mir diesen Vorschlag machte. Ich wollte mit diesem Aussacken nichts zu tun haben, denn ich kannte das Festbinden, das Prügeln sowie die Verletzungen, zu denen all das führte. Die sechs Pfähle waren für mich unbarmherzige Posten, die diese furchtbare Prozedur überwachten. 34
»Eigentlich müsstest du das meiste schon schaffen, obwohl du noch ein Kind bist«, fügte Vater hinzu. Wir schlenderten zu einem nahe gelegenen Korral. Vater kniff im Gegenlicht die Augen zusammen und deutete auf zwei junge Pferde. »Die zwei dahinten.« Ich beobachtete die Tiere eine Zeitlang; sie wirkten gutmütig, und ich hatte einen recht guten Eindruck von ihnen. Dann kletterten wir über den Zaun und gingen auf die beiden Pferde zu. Sie bewegten sich und wichen langsam zurück, reagierten aber auf unsere Stimmen. Es lag auf der Hand, dass mit ihnen bereits gearbeitet worden war. »Wir werden uns die beiden zusammen vorknöpfen müssen, okay?« Nein, wollte ich antworten, nein, ich will mit diesem Fesseln und Aussacken nichts zu tun haben. Die Methode war mir so zuwider, dass ich, wenn irgend möglich, zeitlebens nichts von ihr wissen wollte. Da ich nichts sagte, fuhr mein Vater fort: »Ich sag' dir Bescheid, wenn ich mal Zeit habe, dir beizubringen, wie man's macht.« »Gibst du mir noch ein paar Tage Zeit?« fragte ich. Er merkte offenbar gar nicht, wie sehr mir die Sache gegen den Strich ging. Dass man den Willen eines Pferdes brechen musste, wenn man es zureiten wollte, war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Er kannte es nicht anders. »Ein paar Tage Zeit?« fragte er zurück. »Wozu?« »Vielleicht kann ich die Pferde erst noch etwas besser kennenlernen, weißt du.« »Kennenlernen?« fragte er verblüfft. »Ja, vielleicht.« »Na gut, meinetwegen. Aber sieh zu, dass du keinen Blödsinn machst. Und keine Experimente, verstanden? Ein Pferd ist eine gefährliche Maschine, das darfst du nie vergessen. Die Gäule müssen deine Handschrift spüren, und zwar richtig. Sonst trifft's am Ende dich.« Ich brachte die Pferde in einen Longierring weit draußen und versuchte einfach, sie besser kennen zu lernen. Von Gefahr konnte keine Rede sein, da in der Nähe auch andere Leute mit ihren Pferden arbeiteten und mich im Auge behielten. Ich tat nichts weiter, als ihnen zu folgen und sie durch gutes Zureden dazu zu bewegen, mich näher an sie heranzulassen. Im Grunde 35
war mir gar nicht klar, was ich damit beabsichtigte. Doch am dritten Tag stellte ich überrascht fest, dass eines der Pferde anfing, mir zu folgen. Wo immer ich hinging — der Wallach folgte mir auf dem Fuße. Zu meiner großen Verwunderung ließ er sogar zu, dass ich ihm, auf den Zehenspitzen stehend, einen Sattel auf den Rücken legte. Es gab keine logische Begründung dafür — es geschah ganz einfach. Ich war hellauf begeistert von dem, was mir da geglückt war. Auf dem schnellsten Weg rannte ich nach Hause, um meinem Vater Bescheid zu sagen. Er solle sofort kommen und sich das Pferd ansehen. Vater kam zwar mit hinaus, erinnerte mich auf dem keine zweihundert Meter weiten Weg zum Longierring aber daran, dass er mich vor Unfug und Experimenten gewarnt hatte. Seine Stimmung konnte ich nicht recht einschätzen. Vielleicht war er lediglich schlechter Laune, weil ihm die Unterbrechung für nichts und wieder nichts ungelegen kam? Vielleicht witterte er auch schon meinen Ungehorsam und war deswegen böse auf mich. Als wir bei den Pferden ankamen, sagte er kein Wort. Er fragte mich nicht, was um alles in der Welt ich im Schilde führte und ihm zeigen wollte. Er begab sich lediglich auf den leicht erhöhten Beobachtungsplatz am Zaun und harrte der Dinge, die da kommen würden. Zuversichtlich brachte ich den Wallach in den Longierring und ging gemeinsam mit ihm auf und ab - ein seltsamer Tanz, bei dem keiner der beiden Partner den nächsten Schritt des anderen kannte. Zum Schluss stand ich neben dem Tier, langte so hoch ich konnte und ließ mit ruhigen, vorsichtigen Bewegungen den Sattel auf seinen Rücken gleiten. Es war ein Erlebnis voller Magie. Als ich mich nach meinem Vater umsah, starrte er mich mit offenem Mund an. Ich war mir nicht sicher, wie ich seinen Blick zu deuten hatte, hoffte jedoch, dass Verblüffung und Stolz über die Leistung, die ich in nur drei Tagen vollbracht hatte, überwogen. Langsam und noch immer mit jenem Blick in den Augen, der alles bedeuten konnte, erhob er sich. Seine ersten Worte waren: »Was habe ich da bloß in die Welt gesetzt?« Er sprang von der Beobachtungsplattform, und ich sah plötzlich die meterlange Stallkette in seiner Hand. Er stürmte auf mich zu und packte mich am Arm. »Was habe ich da bloß in die Welt gesetzt?« wiederholte er. Ich 36
glaube, er war damals absolut überzeugt, dass sein Sohn etwas Schlimmes, grundlegend Schlechtes getan hatte. Er hob die Kette und ließ sie mit brutaler Härte auf meinen Hintern und meine Oberschenkel niedersausen. Der Schmerz und der Schock durchführen mich von Kopf bis Fuß, und das Blut wich aus meinem Gehirn, so dass ich fast ohnmächtig wurde. Etwas schien in mir zu zerbrechen. Ich erinnere mich noch heute an den harten Griff, mit dem seine Linke meinen Oberarm umklammerte, so dass kein Entrinnen möglich war. Mit der Rechten schwang er die Kette und drosch auf mich ein. Minutenlang hagelten die Schläge auf mich herab. Verzweifelt wand ich mich in seinem Griff hin und her. Am Ende war ich nur noch ein Häuflein Elend. Mein Vater hatte mich genauso behandelt wie die Pferde, die er so lange prügelte, bis sie sich ihm unterwarfen. Und ich empfand genauso wie die Tiere empfand die gleiche Wut und die gleichen Versagensgefühle. Heute kann ich sagen, dass sich mein Hass zeit meines Lebens nicht gelegt hat. Das Verhalten meines Vaters war ein Musterbeispiel dafür, wie man sich Respekt und Loyalität seines Kindes verscherzt. Das einzige, was er bei mir erreichte, waren Angst und ein widerwilliger Gehorsam. Für mich bedeutete diese Mischung aus Schmerzen und Enttäuschung noch etwas anderes: Nie wieder, das schwor ich mir, wollte ich meinem Vater meine neue Methode zeigen, Pferde einzureiten. Ich zog ihn tatsächlich nie wieder ins Vertrauen. Und nur noch einmal, vierundvierzig Jahre später, lud ich ihn zu einer Vorführung im Longierring ein. Damals - 1986 - war er achtundsiebzig Jahre alt. Kurz darauf starb er. Später in jenem Jahr - 1942 - stand auf einmal ein Fremder vor den Toren des Rodeogeländes von Salinas. Der stämmige Mann, der sein Kommen nicht angekündigt hatte, war kleiner als mein Vater und hatte den gedrungenen, athletischen Körperbau eines Rugbyspielers. Gekleidet in Jackett und Schlips und mit einer Aktentasche in der Hand, war er alles andere als ein normaler Gast. Nachdem mein Vater und meine Mutter ihn begrüßt hatten, standen sie lange mit ihm zusammen und diskutierten. Mein Bruder und ich sahen zu, begriffen aber nicht, worum es 37
ging. Wir sahen, wie mein Vater des öfteren die Hand hob und mal in diese, mal in jene Richtung deutete. Als die drei Erwachsenen losgingen, folgten wir ihnen unauffällig und lugten um die Scheunenecken, um sie ja nicht aus den Augen zu verlieren. Wir fanden bald heraus, dass dieser Fremde Stellen auf dem Gelände sehen wollte, die nicht zum normalen Besuchsprogramm gehörten. Mit unseren sechs beziehungsweise sieben Jahren hatten Larry und ich schon eine ziemlich genaue Vorstellung von den Zielen und Absichten der Besucher. Je länger wir hinter unseren Eltern und dem Mann her spionierten, desto klarer wurde uns, dass da etwas höchst Eigenartiges im Busch war. Ab und zu schritt der Fremde die Wände eines Stalls ab und notierte sich die Maße. Er prüfte auch den Zaun, der das gesamte Gelände umschloss. Immer wieder deuteten die Erwachsenen hierhin und dorthin, und alles wurde schriftlich festgehalten. Einen Monat später traf ein Brief ein. Vater las ihn uns vor: »... bestätigen hiermit, dass das Rodeogelände von Salinas requiriert und von der Regierung der Vereinigten Staaten als Internierungslager für Amerikaner japanischer Herkunft genutzt wird.« Wir waren wie vor den Kopf geschlagen. Was war ein »Internierungslager«? Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Jahr zuvor war Amerika in den Krieg eingetreten; aber ich begriff nicht, was das bedeutete. Abwechselnd klärten uns unsere Eltern auf: Zwischen Amerika und Japan herrsche Krieg. Deshalb seien japanische Einwanderer und deren Familien als Feinde zu betrachten und müßten für die Dauer des Krieges interniert werden. Nur — diese Menschen waren ja unsere Freunde und Nachbarn. Einige von ihnen lebten schon, solange wir denken konnten, in unserer Nähe. Larry und ich verstanden noch immer nicht, was eigentlich los war. Unseren Eltern blieb nichts anderes übrig, als uns immer wieder von neuem und mit immer anderen Worten zu erklären, dass, solange dieser Krieg andauerte, nichts mehr so sein würde wie früher. Die japanischstämmigen Amerikaner unserer Region würden auf das Rodeogelände gebracht werden. »Wo sollen die denn alle wohnen?« fragten wir begriffsstutzig. »Die Regierung hat vor, sie in den Ställen unterzubringen.« »In den Ställen? Und was geschieht mit den Pferden?« 38
Vater schwieg, vertiefte sich noch einmal in den Brief und las uns dann vor: »Die sanitären Anlagen und die Gemeinschaftsräume werden in eigens zu errichtenden Gebäuden untergebracht werden.« Ich bin sicher, dass Mr. Sherwood von einer solchen Wendung der Ereignisse nichts geahnt hat, als er seinerzeit der Stadt Salinas das Gelände überließ. Natürlich begriffen Larry und ich nun, dass nicht nur unsere japanisch-amerikanischen Nachbarn von den Veränderungen betroffen waren, sondern auch wir selbst. Wir fragten unsere Eltern Löcher in den Bauch. Vater faltete den Brief zusammen und erklärte uns die Lage. Wir hatten die Wahl zwischen zwei Übeln: Wir konnten bleiben, mussten in diesem Fall aber die Reitschule und die Pferdeausbildung so gut wie einstellen. Oder wir mussten umziehen. Es war eine traumatische Erfahrung - nicht nur für mich und meinen jüngeren Bruder Larry, sondern auch für unsere Eltern. Wollten wir weiterhin in unserem angestammten Haus wohnen, so würde sich unser Leben in sehr beengten Verhältnissen und hinter einem Stacheldrahtverhau abspielen, als wären wir selbst Gefangene. Und ob wir nun blieben oder fortzogen — in jedem Fall würden wir die meisten unserer Pferde verkaufen müssen. Dass Larry und ich nicht begriffen, warum unser Land mit Japan Krieg führte, vergrößerte unsere Verwirrung noch. Wir gingen in die Grundschule und hatten viele Klassenkameraden japanischer Herkunft. Mit einigen von ihnen waren wir befreundet; sie wohnten in der Nähe, und ihre Eltern waren erfolgreiche Farmer. Und nun sollten sie auf einmal eingesperrt werden - und dies ausgerechnet auf dem Gelände, das wir, obwohl es offiziell Eigentum der Gemeinde Salinas war, als unser angestammtes Zuhause betrachteten. Ich erinnere mich, dass eine endlose Debatte einsetzte. Alle Argumente wurden wieder und wieder hin- und hergewendet, und die Stimmung in der Familie sank von einem Tag auf den anderen. Dabei hatten wir in Wirklichkeit gar keine Alternative. Wir entschlossen uns zum Umzug. Mir war, als sei mein Leben zu Ende. Ich konnte nicht mehr schlafen und weinte nächtelang. Meine Trauer und Verzweiflung hatten überwiegend egoistische Gründe, wie es bei kleinen Kindern oft vor39
kommt. Ich hielt mich bereits für einen Reitweltmeister und sah meine Zukunft im Pferdesport. Und jetzt auf einmal sollten alle unsere Pferde mitsamt der Ausrüstung verkauft werden. Wir beobachteten mit Entsetzen, wie eine endlose Kette von Fahrzeugen die Tore zum Rodeogelände passierte. Ohne Verzögerung wurde der beschlossene Umbau der Anlagen in die Tat umgesetzt. Lastwagen brachten Baumaterialien, mit denen die Pferdeställe in äußerst primitive Notquartiere umgewandelt wurden. Provisorische sanitäre Einrichtungen wurden aus dem Boden gestampft. Andere Laster transportierten unseren Hausrat, unsere Anlagen und unsere Pferde ab. Ein Transporter nach dem anderen brachte seine Fracht zum Pferdemetzger. Larry und ich waren außer uns vor Empörung. Wir standen am Tor und sahen den Lastwagen nach, bis sie auf Nimmerwiedersehen in den Staubwolken verschwanden. Um bei uns Verständnis für diese Vorgänge zu wecken, erzählte man uns, Pferdefleisch sei ein kriegswichtiges Gut. Rund um den Globus lebten US-Soldaten, die nicht viel älter waren als wir, unter zum Teil erbärmlichen Bedingungen. Der Kampf gegen die Tyrannen könne nur erfolgreich bestanden werden, wenn diese jungen Soldaten so gesund und wohlgenährt wie möglich blieben. Das Pferdefleisch, das wir ihnen lieferten, würde ihnen das Überleben und unserem Land das Siegen leichter machen. Mit der Wahrheit hatte das natürlich nichts zu tun. Tatsache war vielmehr, dass es keinen Ort gab, an dem wir die Pferde hätten unterbringen können. Niemand konnte sich noch Pferde leisten. Das Benzin war rationiert, und das Geld reichte nicht einmal für die Transportkosten. Auch Ginger zählte zu den Pferden, die abtransportiert und geschlachtet wurden. Unser neues Domizil war ein kleines Haus im Zentrum von Salinas; davor verlief ein betonierter Bordstein. Es war das einzige Haus mit einer Hausnummer, in dem ich gelebt habe: 347 Church Street. Es stammte aus den zwanziger Jahren, hatte eine mit Schindeln verkleidete Fassade und verfügte über drei Schlafzimmer und eine Art Hochparterre. Man betrat das Haus über eine große, überdachte Veranda. Im Garten hinter dem Haus stand ein großer Magnolienbaum, gegen dessen Pollen ich, wie sich bald herausstellen sollte, 40
allergisch war. Es war ein Grundstück mitten in der Stadt; rundherum gab es Nachbarn. Ich kannte so etwas nicht und lehnte die neue Umgebung von Anfang an ab. Meine Mutter versuchte mich zu trösten. Sie nahm unseren großen Globus, trug ihn in mein Zimmer und forderte mich auf, ihr zu zeigen, wo Japan liege. Nach einigem Suchen fand ich es. Und dann bat sie mich, Amerika zu suchen. »Da!« »So, Monty, nun sieh dir einmal diese beiden Länder an. Japan ist ein Sammelsurium aus lauter kleinen Inseln. Die Vereinigten Staaten dagegen sind eine große Landmasse, nicht wahr? Wenn du die beiden Länder vergleichst, dann verstehst du, warum der Krieg in ein paar Monaten vorüber sein wird. Und dann können wir auch wieder aufs Rodeogelände ziehen.« Das tröstete mich, doch gab es auch zahlreiche Indizien, die dagegen sprachen, so dass ich allmählich an den Worten meiner Mutter zu zweifeln begann. Wenn der Krieg ohnehin bald vorüber sein würde warum klebten sich dann die Leute Aufkleber mit den Worten Ist diese Fahrt wirklich notwendig? auf die Autoscheiben? Hinzu kam, dass mein Vater als Polizist arbeiten sollte. Er war vierunddreißig Jahre alt und wurde daher nicht mehr zur Armee eingezogen. Der Mangel an jungen Männern und der Umstand, dass er früher als Förster gearbeitet hatte, machten ihn jedoch zum idealen Anwärter auf einen Posten in der Polizeidienststelle von Salinas. Mit der Bekanntgabe seiner Einstellung wurde mir immer klarer, dass die Veränderungen in unserem Leben von Dauer sein würden und mit einer Rückkehr auf das Rodeogelände nicht mehr zu rechnen war. Ein Ereignis allerdings lenkte mein Leben auf jenen Weg zurück, der mir wohl vorbestimmt war: Es gelang meinem Vater, ein kleines landwirtschaftlich nutzbares Grundstück am Stadtrand zu pachten. Es handelte sich nur um ein paar Morgen Land mit einem Stall darauf und war nicht vergleichbar mit dem Gelände, auf dem wir zuvor gelebt hatten. Aber es ermöglichte uns immerhin, zehn bis fünfzehn Trainingspferde aufzunehmen. Zunächst machten wir mit einem Wasserschlauch das Grundstück gründlich sauber. Dann errichteten wir Zäune und teilten das Gelände auf, reparierten Gatter und schrubbten Betonböden, bis sie 41
nur so schimmerten. Zentimeter um Zentimeter suchten wir das Grundstück nach Nägeln und Stacheldrahtresten ab, die die Hufe der Pferde hätten verletzen können. Wir brachten die Wasserleitungen in Ordnung, setzten die Gattertore wieder in ihre Scharniere und errichteten einen Futterbehälter. Es gab eine Menge zu tun, bis das Gelände für die Pferdehaltung geeignet war. Auch Vorratsräume für Heu und Stroh legten wir an. Schon bald stieg mir wieder der glückverheißende Geruch nach Pferden in die Nase. Obwohl mein Vater ein grausamer, furchterregender Mann war, erfüllte er mir meinen sehnlichsten Wunsch: Er gab mir die Chance auf eine Zukunft mit Pferden zurück. Meine unmittelbare Zukunft war aufs engste mit einem kleinen braunen Pferd namens Brownie verknüpft, das zu den ersten Neuankömmlingen in der Anlage an der Villa Street gehörte. Brownie war ein Wallach mit einem Stockmaß von 1,52 Meter. Seine Mutter war eine Mustangstute. Sein Vater, ein Vollblut, gehörte zu den staatlichen »Remonten«. Im Rahmen eines Zuchtprojekts der amerikanischen Kavallerie wurden Vollbluthengste freilaufenden Mustangherden zugesellt. Die Rancher bekamen Abschußprämien für Mustanghengste, damit die Stuten für die Vollbluthengste frei wurden. Hinter dem Projekt steckte die Absicht, eine Rasse zu züchten, die den Anforderungen der Kavallerie entsprach. Diese hatte später das Recht, sich die jungen Hengste zu fangen. Die Rancher durften als zusätzliches Entgelt für ihre Mitarbeit an dem Projekt die Stutfohlen behalten. Wie der Name bereits andeutete, hatte Brownie durchgängig mittelbraunes Fell, wenn man von einer etwa zwanzig Zentimeter langen, in weicherem Rehbraun getönten Stelle über seinem Maul und einem winzigen weißen Punkt zwischen den Augen absah, der ihm ein charakteristisches, konzentriertes Aussehen verlieh. Er hatte gutgebaute Beine mit steinharten Hufen - ein Erbe seiner Mustangvorfahren. Dass Brownie mir gehören würde, war mir bereits bei seiner Ankunft völlig klar. Ich wollte eine vertrauensvolle Beziehung zu ihm aufbauen. »Okay«, sagte Vater, »reiten wir ihn zu.« Meine Begeisterung verflog. Wie konnte ich der beste Freund dieses Tiers werden, wenn sein zaghaftes Vertrauen zu den Menschen auf 42
so eklatante Weise mißbraucht wurde? Die Angst vor meinem Vater war jedoch so groß, dass ich nichts dagegen zu unternehmen wagte. Ich beobachtete ihn bei den Vorbereitungen zum Aussacken. Während Brownie im Stall stand und wartete, wühlte mein Vater in einem Haufen alter Gemüsekisten herum, die zum Verbrennen aussortiert worden waren. Bald hatte er gefunden, was er suchte: einen großen Streifen schweres, kreppartiges Papier, das man vermutlich zum Abdecken der Kistenböden und zum Schutz des Gemüses verwendet hatte. Er drehte es zusammen und band es an das Ende eines Seils. Brownie wurde aus dem Stall geholt und an den einzigen Pfosten gebunden, der so tief in die Erde getrieben war, dass er der Schinderei nicht nachgab. Geduldig stand er da, während Vater mit dem aufgerollten, an das Papier gebundenen Seil in der Hand um ihn herumgingDann warf mein Vater die Papierrolle hoch, und Brownie sprang zur Seite, als ginge es um sein Leben - was nach seinem Pferdeverstand ja auch tatsächlich der Fall war. Sein Kopf fuhr herum, wurde aber von der Leine jäh zurückgerissen. Und dies war erst der Anfang. Als ich sah, wie sich Brownies Augen weiteten und sich die Augäpfel in angstvoller Erwartung verdrehten, erfüllten mich Abscheu und Mitleid. Ich fluchte innerlich und hätte das Tier am liebsten auf der Stelle losgebunden. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich das, was ihm angetan wurde, wiedergutmachen könnte, doch ich wusste keinen Rat. Das Aussacken ging weiter - und meine vergebliche Suche nach einem Ausweg für das Pferd ebenso. Am Ende fühlte ich mich hundeelend und zutiefst angewidert von der Prozedur, war aber nicht in der Lage, irgend etwas dagegen zu unternehmen. Es war ja nicht nur die Methode meines Vaters. Alle machten es so - und noch heute ist diese Praxis in vielen Teilen der Welt gang und gäbe. Wie sich diese Tortur auf Brownie auswirkte, sollte sich erst im Laufe der Jahre zeigen. Doch eines vorweg: Er litt zeitlebens an einer Papierphobie. Alles, was sich wie knisterndes Papier anhörte, versetzte ihn in Panik und ließ ihn für sich selbst und andere zu einer Gefahr werden. Er scheute dann und ging durch, und niemand konnte ihm beibringen, dass es doch nur Papier war, vor dem er keine Angst zu haben brauchte. Ich konnte ihm wegen dieses Schwach43
punktes in seinem Charakter nie böse sein. Für mich lag die Schuld bei uns: Wir hatten uns in krimineller Weise an ihm vergangen. Als mein Vater Polizist wurde, wurde unser Auto zum Streifenwagen. Infolge des Krieges war es allgemein ziemlich schwierig geworden, an einen fahrbaren Untersatz zu kommen. Bei seinem Dienstantritt wurde Vater daher mitgeteilt, er bekomme ein höheres Gehalt, wenn er das Familiengefährt für die Polizeiarbeit zur Verfügung stelle. Mit der Zeit wurden zahlreiche Privatwagen von Polizisten übernommen und mit Warnlichtern, Sirenen und Funkgeräten ausgerüstet. Außerdem wurden besondere Suchscheinwerfer und Beleuchtungssysteme installiert, damit die Wagen auch bei Verdunklung benutzt werden konnten. An der amerikanischen Westküste waren feindliche Angriffe nicht auszuschließen; deshalb waren Verdunklungen an der Tagesordnung. Unser Auto war ein ungewöhnliches Gefährt. Wir hatten noch auf dem Rodeogelände gelebt, als mein Vater eines Tages nach Hause kam und sagte, dass wir ein größeres Fahrzeug benötigten, um die wachsende Zahl der Reitschüler bewältigen zu können, die abgeholt werden mussten. Die Mullers in Salinas, die eine Leichenhalle besaßen, hätten genau den richtigen Wagen für uns. Es war nicht direkt ein Leichenwagen, sondern die Limousine, mit der die engsten Angehörigen eines Verstorbenen dem Leichenzug folgten - ein riesiger 1932er Cadillac mit gewaltigen Trittbrettern und allen erdenklichen Extras. Ein Wagen, wie ein Al Capone ihn fahren würde. Der Innenraum bot wesentlich mehr Reitschülern Platz als jeder Neuwagen, den wir für dieses Geld bekommen hätten. Wie viele Automobile jener Zeit hatte der Cadillac anstelle des traditionellen Kofferraums eine große Metalltruhe nach Art einer militärischen Feldkiste auf dem Heck. Die Reitschüler brauchten jedoch nicht lange, um das zunächst blitzsaubere Fahrzeug in eine Art Stall auf Rädern zu verwandeln. Bei unserem Umzug in die Stadt im Jahr 1942 nahmen wir den Cadillac mit, der daraufhin in einen Polizeiwagen umgerüstet wurde. Ich kann mich an Fahrten erinnern, bei denen mein Vater per Funk zu seinen Einsatzorten beordert wurde oder einen Verkehrssünder auf frischer Tat ertappte. Das Rotlicht ging an, die Sirene heulte auf, und wir rasten los, »um den Verdächtigen dingfest zu machen«. Vater 44
führte seine Dienstmarke stets bei sich, und im Handschuhfach lagen immer ein Block mit Strafzetteln sowie ein Paar Handschellen und meistens - auch eine Pistole bereit. An einem Frühlingsabend des Jahres 1943 - wir waren den ganzen Tag geritten und hatten uns auf dem Grundstück am Stadtrand um die Pferde gekümmert - befanden wir uns bei Einbruch der Dunkelheit auf der Heimfahrt, als uns kurz vor der City per Funk die Meldung von einem bewaffneten Raubüberfall auf den Golden Dragon in der Soledad Street in Chinatown erreichte. Mein Vater nahm das Handmikrofon und antwortete: »Ich bin in der Nähe des Tatorts und kümmere mich drum.« Der Mann in der Zentrale fragte: »Sind Sie bewaffnet?« - »Ja«, bestätigte mein Vater. Ein heilloser Schrecken durchfuhr mich. Schon oft war ich mit ihm zu Einsätzen gefahren, doch dass er sich mit der Pistole verteidigen musste, war bisher noch nicht vorgekommen. Die Tachonadel des Cadillac schnellte auf einhundert Stundenkilometer hoch. Vater schaltete das Warnlicht und die Sirene an. Der Wagen schlingerte von einer Seite zur anderen. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit rasten wir nach Chinatown. Im Lichtkegel der Scheinwerfer tauchten Menschen auf, die erschrocken zur Seite sprangen. »Runter mit dir, auf den Boden!« brüllte mein Vater mich an. Meine Knie wurden butterweich, als ich den Ernst der Lage begriff. Schnell glitt ich vom Sitz, kauerte mich im Fußraum unter dem Armaturenbrett zusammen und wartete. Mir stand ein Erlebnis bevor, das mich von Grund auf verändern sollte und das ich in der Folgezeit in den dunkelsten Winkel meines Gedächtnisses verbannte. Dort aber ist es kristallklar erhalten geblieben, als wäre es erst gestern geschehen. Vor der Niederschrift meiner Lebensgeschichte habe ich mich gefragt, ob ich diesen Vorfall überhaupt erwähnen soll. Einige Familienmitglieder rieten mir, auf die Schilderung zu verzichten. Es gibt jedoch kaum ein Geschehen in meinem Leben, das mich und meinen Umgang mit Pferden so stark geprägt hat wie jenes Ereignis im Jahr 1943 — und dies, obwohl dabei kein einziges Pferd eine Rolle spielte. Man könnte sogar sagen, dass ich 1943, im Alter von acht Jahren, geboren wurde und vor jenem Tag ein gänzlich anderer Mensch gewesen war. 45
Wenn ich die Geschichte jetzt erzähle, möchte ich betonen, dass ich damit nicht versuchen will, meinen Vater schlechtzumachen. Er wuchs in der harten und manchmal grausamen Welt der amerikanischen Pionierzeit auf und war ein Produkt seiner Erziehung und Lebenserfahrung. Uns trennte nur eine einzige Generation - doch wenn ich mir überlege, was in jenen Jahrzehnten zu Beginn unseres Jahrhunderts in Amerika alles geschehen ist, kommt es mir vor, als wären es hundert Jahre. Die fast tägliche Konfrontation mit dem Naturgesetz »Töten oder getötet werden« war für meinen Vater in seiner Jugend die Realität. Mit den Jahren wurde er milder. Als meine Frau und meine Kinder ihn kennenlernten, war er nicht mehr der gleiche kalte und strenge Mann meiner Kindheit. Das Kämpferische war aus seinem Wesen verschwunden. Mir liegt auch viel daran, die Schwierigkeiten meines Vaters mit der Rassenfrage zu erwähnen. Er war zur Hälfte Cherokee und hatte in seiner Jugend am eigenen Leib erfahren, was Rassendiskriminierung heißt. Dennoch ärgerte er sich darüber, dass der Zweite Weltkrieg so viele Schwarze in unsere bis dahin überwiegend weiße Gemeinde gebracht hatte. Zwanzig Autominuten von Salinas entfernt lag der Stützpunkt Fort Ord, wo viele schwarze Soldaten stationiert waren. Möglicherweise ist etwas dran an der Behauptung, dass Menschen, die selbst Opfer rassischer Vorurteile waren, unter den entsprechenden Umständen die ersten sind, die andere Menschen auf die gleiche Weise diskriminieren. Ich will das Geschehene damit nicht entschuldigen, doch kann ich mir so das Verhalten meines Vaters noch am ehesten erklären. Ich habe öfter von ihm gelernt, wie ich nicht sein wollte, als umgekehrt. Auf der rasenden Fahrt zum Tatort hörte ich Vaters zweiten Befehl: »Gib mir die Pistole und die Handschellen!« Ich langte nach oben und öffnete das Handschuhfach. Die Handschellen fand ich gleich - doch die Pistole war nicht da. Hektisch fingerte ich durch Straßenkarten, Stifte und allerlei Unrat - keine Pistole. Fluchend trieb mich mein Vater zur Eile an. Als klar war, dass sich die Waffe nicht dort befand, wo sie hingehörte, meinte er: »Verdammt, ich war mir doch ganz sicher, dass ich sie mitgenommen hatte!« Die Handschellen hatte er bereits in seiner Hosentasche verstaut. 46
Schlitternd kam der Cadillac ein paar Häuser vor dem Golden Dragon zum Stehen. Im selben Augenblick sprang Vater auch schon hinaus, schrie mich an: »Bleib im Wagen! Und zwar auf dem Bodenl« und knallte die Tür zu. Da lag ich nun zusammengekauert unter dem Armaturenbrett. Die rot-gelb-grüne Beleuchtung des Golden Dragon tauchte den Wagen in ein unheimliches, flackerndes Licht. Es war entsetzlich eng, und ein übler Geruch nach Pferden, Schmutz, Schweiß und feuchter Wolle hing in der Luft. Ich rang mit der Versuchung, mich aufzusetzen - teils, um dem Gestank zu entkommen, vor allem aber, weil ich unbedingt sehen wollte, was geschah. Ich streckte meine Beine aus und kroch vorsichtig auf den Beifahrersitz. Meinen Augen, nun auf gleicher Höhe mit dem unteren Rand des Seitenfensters, bot sich ein freier Blick auf den etwa zwanzig Meter entfernten Eingang der Bar. Viele Menschen säumten die Straße. Einige von ihnen sprachen mit meinem Vater und deuteten auf das Restaurant. Andere tuschelten miteinander, und alle waren sehr aufgeregt. Mein Vater war auf dem Weg in die Bar. Obwohl mich die Angst fast lahmte, spürte ich, wie meine Hand nach dem Griff tastete und vorsichtig die Wagentür öffnete. Ich kroch vorwärts. Alle konzentrierten sich auf das Geschehen im Vorraum der Bar, so dass niemandem der achtjährige Junge auffiel, der sich auf allen vieren dem Objekt ihrer Aufmerksamkeit näherte. Schließlich erreichte ich, seitwärts kriechend wie ein Krebs, die Tür. Alle Stimmen schienen auf einmal verstummt zu sein, und das einzige Geräusch, das ich noch hörte, war das Pochen meines eigenen Herzens. Ich spähte in die Bar. Nur etwa anderthalb Meter vor mir stand, mit dem Rücken zu mir, mein Vater. Der Wirt und das Personal hatten sich in die Ecken geflüchtet. Ein hochgewachsener, schwerer Mann schwarzer Hautfarbe war der einzige Mensch, der sich bewegte. Er drehte sich um, richtete ein Messer so groß wie ein kleines Schwert auf den Barkeeper und brüllte: »Das Geld auf den Tresen!« Der völlig verängstigte Mann zog Banknoten aus der Registrierkasse. Einige Münzen rutschten ebenfalls mit heraus und fielen klimpernd zu Boden. 47
Der Räuber hatte seinen Mantel auf der Bar ausgebreitet und darauf bereits zahlreiche Uhren, Ringe, Armbänder und Brieftaschen angehäuft - offenbar die Habseligkeiten der Gäste und des Personals. Ihm fehlte nur noch das Geld aus der Kasse - dann würde er den Mantel zusammenraffen und sich aus dem Staub machen. In diesem Augenblick zeigte mein Vater seine Dienstmarke. »Polizei!« rief er. »Bleiben Sie stehen, lassen Sie das Messer fallen, und legen Sie Ihre Hände auf den Tresen!« Eine Sekunde lang schien die Zeit stehenzubleiben. Dann drehte sich der Schwarze um und sah meinen Vater an. Doch anstatt sich zu ergeben, richtete er sein Messer nun auf ihn. Insgeheim flehte ich meinen Vater an, er möge nachgeben. Aber der hielt sich nicht daran. Statt dessen ging er auf den Mann und das Messer zu. Unbewaffnet, wie er war, riskierte er sein Leben - oder nahm zumindest eine schwere Verletzung in Kauf. Er war ungeheuer tapfer — doch mich packte schieres Entsetzen, denn ich fürchtete, in wenigen Sekunden keinen Vater mehr zu haben. Während mir diese Gedanken durch den Kopf schössen, sagte mein Vater, der den Mann inzwischen fast erreicht hatte: »Tun Sie sich das nicht an, Mann. Legen Sie das Messer auf den Tresen, drehen Sie sich um, und nehmen Sie die Hände hoch! Geben Sie auf!« Sie standen jetzt Auge in Auge, nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Und genau in dem Moment, als ich schon dachte, der Schwarze würde sich ergeben, kam sein Angriff. Die Hand mit dem Messer, das auf die Rippen meines Vaters gerichtet war, stieß zu. Doch dessen Hand schnellte vor wie eine Kobra und packte ihn an der Faust. Mit einer raschen Bewegung riß er den Arm des Angreifers zurück. Das Messer landete kreiselnd auf dem Boden. Der Druck auf den verdrehten Arm ließ den Mann straucheln, er krachte mit dem Hinterkopf auf die Kante des hölzernen Tresens, sackte zusammen und schlug auf der Fußleiste aus Messing ein zweites Mal auf. Der Räuber lag bewegungslos am Boden, nur noch ein Häuflein Elend. Es war vorbei. Eine Welle der Erleichterung überkam mich. Mein Vater lebte und hatte ohne Waffeneinsatz einen bewaffneten Räuber überwältigt. Aus dem hilflosen, unbewaffneten Polizisten war plötzlich ein Held geworden. 48
Mein Vater stand neben dem bewußtlosen Schwarzen. Ich sah, wie er sich zu voller Länge aufrichtete, alle Kräfte sammelte, einen Augenblick zögerte und dann mit seinem gesamten Körpergewicht von annähernd zwei Zentnern zu einem furchtbaren Fußtritt gegen den Oberkörper des Räubers ausholte und diesem mit absoluter Sicherheit ein paar Rippen brach. Jetzt wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte. Mein Vater hatte einen bereits am Boden liegenden, wehrlosen Menschen mißhandelt und ihn vielleicht sogar getötet. Er legte dem Räuber Handschellen an. Den Anwesenden in der Bar und den Zuschauern draußen vor dem Eingang war jetzt klar, dass sich die Situation schlagartig geändert hatte. Sie waren keine verschüchterten Opfer mehr, sondern standen auf der Siegerseite. Mein Vater hob das Messer an der Klingenspitze auf und gab es dem Barkeeper mit der Aufforderung, es für ihn mit hinauszutragen. Dann packte er den Schwarzen, der schlaff und schwer wie ein Futtersack war, an den Handschellen und zerrte ihn zum Ausgang. Als ich ihn auf mich zukommen sah, fiel mir siedendheiß ein, dass ich mich dort, wo ich mich befand, eigentlich gar nicht aufhalten durfte. Ich drehte mich um, rannte zum Wagen, riß die Fahrertür auf und zog sie anschließend hinter mir wieder zu. Im selben Augenblick tauchte mein Vater im Eingang der Bar auf, umgeben von einer Traube aus lauter Gaffern. Er zog den Oberkörper des Mannes hoch — und ließ die Handschellen los. Der Hinterkopf des bewußtlosen Räubers knallte auf den Gehweg. Vater kam zum Wagen und öffnete die Beifahrertür. Er nahm dem Barkeeper das Messer ab und legte es vorsichtig auf den Sitz neben mir. Dann ging er zur Rückseite des Cadillac, öffnete die große, schrankkofferartige Kiste, entnahm ihr ein paar leere Getreidesäcke und breitete diese auf dem Boden vor den Rücksitzen aus, damit keine Blutflecken den Innenraum verschmierten. Dann riß er die Türen weit auf, hievte den Schwarzen auf die Säcke und nahm wieder hinter dem Steuer Platz. Weil das Messer auf dem Beifahrersitz lag, schmiegte ich mich eng an meinen Vater, damit ich es ja nicht berührte. Er befahl mir, das Messer zu nehmen und ins Handschuhfach zu legen. Dass es dort überhaupt hineinpaßte, verrät einiges über die Größe des Handschuhfachs eines 1932er Cadillac. Wir fuhren gerade los, als ich den Mann röcheln hörte. Meinen 49
Vater kümmerte das nicht. »Der markiert nur«, sagte er, und: »Der erholt sich schon wieder.« Inzwischen waren mehrere andere Streifenwagen aufgetaucht und begleiteten uns auf dem Weg zur Polizeiwache. Sie fuhren teils vor uns, teils hinter uns her, und ihre Sirenen heulten im Einklang mit der unseren. Auch mir war zum Heulen zumute. Über Funk gab Vater den Ablauf der Ereignisse durch. Seine Schilderung, wie er den angreifenden Räuber entwaffnet und festgenommen hatte, klang prahlerisch. Ich drehte mich um und sah beklommen nach, ob der Mann noch atmete. Ja, er tat es — noch. Hoffentlich sind wir schnell auf der Wache, dachte ich bei mir. Da ist er in Sicherheit... Am Ziel eingetroffen, zerrte mein Vater den Mann aus dem Wagen auf den Bürgersteig. Um festzustellen, ob der Verletzte noch Widerstand leistete, zog er ihn an den Schultern hoch und ließ ihn fallen. Krachend schlug sein Kopf auf dem Zementboden auf. Die Polizisten, die aus der Wache kamen und aus den Begleitfahrzeugen stiegen, lachten und johlten. Mein Vater packte den Mann wieder an den Handschellen, hob Kopf und Oberkörper des Mannes an und schleifte den Körper die Betontreppe hinauf, die zum Eingang der Wache führte. Dabei ging er rückwärts ein paar Stufen hoch, zog den Mann hinterher, nahm die nächsten Stufen und wiederholte das ganze. Niemand bemühte sich um eine Bahre, niemand ging meinem Vater zur Hand. Es war seine Trophäe. Er hatte seine Beute zur Strecke gebracht - und jetzt führte er sie seinen Kameraden vor. Sie folgten ihm grölend - und achteten sorgfältig darauf, dass sie nicht in die Blutspur traten, die mein Vater und sein Opfer hinterließen. Oben in der Wache stand der Schreibtisch des diensthabenden Sergeanten. Mein Vater ließ den Schwarzen auf den Zementboden fallen. »In seiner Tasche war ein Führerschein«, sagte er. »Hier ist der Name. Nehmen Sie die Personalien auf, und lassen Sie jemanden kommen, der ihm die Fingerabdrücke abnimmt.« Ein Aufnahmebogen wurde in die Schreibmaschine gespannt, und kurz darauf füllten die Informationen aus dem Führerschein, vom Stakkato der Anschläge begleitet, die leeren Stellen des Formulars. Man zündete sich Zigaretten an. Die Männer lachten, als die Ge50
schichte von der Festnahme immer wieder von neuem zum besten gegeben wurde. Mit jedem Erzählen wurde sie brutaler und dramatischer, als sie ohnehin schon gewesen war. Ich bat Vater, irgend etwas zu tun, um dem Sterbenden zu helfen. Er aber sah nur verächtlich auf mich herab und fauchte mich an: »Geh zurück in den Wagen, und halt den Mund! Der Kerl spielt doch bloß Theater. Dem fehlt nichts.« Der Schwarze kam in diesem Augenblick wieder zu Bewußtsein und rappelte sich auf. Ohne dass ihn jemand daran gehindert hätte, torkelte er wie ein verwundetes Tier auf die Tür zu. »In den Wagen mit dir, Monty!« wiederholte mein Vater, ehe er sich dem Räuber zuwandte und ihm folgte. Der war noch nicht weit gekommen. Kurz vor der ersten Treppenstufe stolperte er und stürzte kopfüber hinunter. Sein Kopf schlug gegen einen Baum, und wieder lag er reglos am Boden. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und begann hemmungslos zu weinen. »In den Wagen!« brüllte mein Vater. Als ginge es um mein Leben, rannte ich zum Cadillac und vergrub schluchzend mein Gesicht in den Polstern. Bald darauf hörte ich, wie die Tür aufging und mit Vehemenz wieder zugeschlagen wurde. Kratzend fuhr der Schlüssel ins Zündschloß. Wir fuhren nach Hause. Vier Tage nach dem Überfall auf den Golden Dragon fragte ich meinen Vater, wie es denn inzwischen dem Mann gehe, den er dort festgenommen hatte. »Ach der?« sagte er. »Der ist gestorben.« Irgendwie musste er gemerkt haben, wie sehr mich diese Auskunft schockierte, denn er ließ sich sofort eine Erklärung einfallen. »Übrigens nicht an seinen Verletzungen, sondern an Lungenentzündung. Der Bursche hat sich nachts nicht richtig zugedeckt. Da hat er eine Lungenentzündung bekommen und ist gestorben.« Ich glaubte es ihm - und achtete fortan darauf, Nacht für Nacht meine Bettdecke bis zum Kinn hochzuziehen. Erst viele Jahre später erfuhr ich die Wahrheit: Man hatte den Schwarzen mit gebrochenen Rippen, durchbohrter Lunge und einem Schädelbruch liegen gelassen, bis er tot war. In Psychologieseminaren erfuhr ich später, dass Kidnapper und Kinderschänder vor den Augen ihrer Opfer kleine Tiere töten, um sie zu traumatisieren und ihnen solche Angst einzujagen, dass sie jegliche Kraft zum Widerstand verlieren. 51
Heute ist mir klar, dass ich in diesem Sinne ein Opfer der Aggressivität meines Vaters wurde. Damals begriff ich das alles nicht. Ich wusste lediglich, dass ich furchtbare Angst vor ihm hatte. Von jenem Vorfall an bis weit in meine Erwachsenenjahre hinein blieb ich auf der Hut vor ihm und achtete darauf, dass sich mein Leben seinem Einfluß mehr und mehr entzog. Es gibt noch ein Postskriptum zu jener Geschichte. Zwei Monate später bat mich mein Vater eines Abends, ihn zu begleiten. »Wir gehen zum Boxkampf«, sagte er. »Und ich möchte dir dort einen ganz besonderen Mann vorstellen.« Wir fuhren zur Halle der Nationalgarde, vor der sich, als wir eintrafen, bereits die Massen drängten. Wir betraten das Gebäude von der Rückseite her, durchquerten mehrere kleinere Zimmer und erreichten schließlich einen bestimmten Raum, in dem ein riesiger dunkelhäutiger Mann auf einem Tisch saß. Mein Herz raste. Seit dem Überfall hatte ich keinen Schwarzen mehr gesehen. Mein Vater zog mich näher heran und sagte: »Komm her, Monty. Das ist Joe Louis, der Weltmeister im Schwergewicht.« Joe Louis begrüßte meinen Vater: »Hallo, Marvin!« »Hallo«, erwiderte Vater und fügte hinzu: »Darf ich dir meinen Sohn Monty vorstellen?« Ich weigerte mich, näher zu kommen. Der Boxchampion sagte: »Nun komm schon, ich tu dir nichts.« Ich gab ihm die Hand, konnte ihm aber nicht in die Augen sehen. In der Hoffnung, meine Schüchternheit zu überwinden, deutete Joe Louis auf seine Schulter und sagte: »He, kleiner Mann, schlag zu! Trau dich nur!« Ich war einfach nicht imstande, auf dieses Spielchen einzugehen. Schließlich nahm er meine Hand, faltete sie zu einer Faust, klopfte damit gegen seine Schulter und tat so, als tue ihm das ungeheuer weh. »Na, also!« sagte er. »Jetzt kannst du von dir behaupten, den Weltmeister k. o. geschlagen zu haben.« Ein Fotograf, der in der Nähe seinen Apparat aufgestellt hatte, rief uns zu, er wäre jetzt schußbereit. Mein Vater legte den Arm um Joe Louis - das Bildmotiv stand.
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Es gibt eine Pferderasse, die ursprünglich unter dem Namen »Copper Bottom« und wenig später auch als »Steel Dust« bekannt war. Diese merkwürdigen Bezeichnungen für eine damals - in den Dreißigern — kleine, spezielle Rasse rührten daher, dass man sie einfach nach den beiden wichtigsten Deckhengsten benannt hatte. Es waren gedrungene, leicht handhabbare Tiere mit gut entwikkelten Beinen und ruhigem, lernwilligem Wesen. Diese ziemlich kleinen Pferde hätte man vom Bau her als muskulösen, »bulligen« Typ mit außergewöhnlich wohlgeformter Hinterhand und tiefer Brust bezeichnen können. Sie wurden besonders für die Arbeit auf den Rinderfarmen herangezogen und waren dank ihrer enormen Beschleunigung für die Arbeit mit dem Lasso und die Aussonderung von einzelnen Rindern aus einer Herde geeignet. Während der Woche wurden diese Pferde also auf der Ranch eingesetzt. An den Wochenenden nahmen sie an Rodeos, an Lassowettbewerben und am Stierringkampf (steer wrestling) teil. Danach bekamen sie ein paar Minuten Zeit zum Ausruhen, und dann ging es weiter: Sie tauschten ihre Westernsättel gegen die kleinen Rennsättel der Jockeys und wurden in wilden Rennen über die holprigen Bahnen in der Umgebung der Rodeogelände gejagt. In Rennen über kürzere Strecken — sie gingen meist nur über knapp eine Viertelmeile - waren sie praktisch unschlagbar. Wie eine Gewehrkugel schössen sie aus den Startboxen. Tatsächlich war es so, dass viele von ihnen während des Rennens das Atmen vergaßen. Erst wenn sie hinter der Ziellinie allmählich zur Ruhe kamen, merkten sie, dass ihnen frische Luft in den Lungen fehlte. Sie sind das Pferde-Äquivalent von Dragsterrennen. Wegen der Viertelmeilendistanz (quarter of a mile) wurde die Rasse später unter der Bezeichnung Quarterhorse bekannt. Mein Vater fand die neue Wettkampfart - den »Pferdesprint« sehr attraktiv, und mir gefiel das aufregende Drumherum. Natürlich saßen in den Sätteln die kleinsten Jungen mit dem geringsten Gewicht. Für die Teilnahme bekam ich fünf, für einen Sieg zehn Dollar. Die »Shorthorse«- oder »Quarterhorse-Rennen« fanden in kleineren kalifornischen Städten statt — Salinas, King City, Fresno, Victorville, Stockton. Es ging meist um einen Jackpot. Die Halter zahlten eine bestimmte Summe ein - und der Sieger bekam alles. 53
Größere Summen waren dagegen beim Wetten im Spiel. Daran beteiligten sich sowohl die Pferdebesitzer als auch die Zuschauer. Für diese Leidenschaft gab es keine Regeln, und kein Verband sanktionierte sie. Das heizte die Stimmung an und sorgte für jene elektrisierende Atmosphäre, die für den echten Wetter Lebenselixier ist. Es gab weder Zulassungsbeschränkungen für die Reiter, noch kümmerte man sich besonders um deren Sicherheit. Bei vielen Rennen trug ich nicht einmal einen Schutzhelm. Einer der wichtigsten und einflußreichsten Besitzer jenes neuen Pferdetyps war Frank Vessels, und sein Trainer war ein Mann namens Farrell Jones. Einmal sah ich Jones draußen auf Vessels' Bahn bei der Arbeit zu. Was ich hier als »Bahn« bezeichne, war nicht viel mehr als ein von aufgestapelten Heuballen begrenzter Geländestreifen. Mr. Vessels besaß eine ganze Menge Pferde und benötigte daher entsprechend viel Heu. Die Ballen stapelte er als Sitzgelegenheiten für die Zuschauer längs der holprigen Bahn. Farrell Jones hatte sich an jenem Tag ein junges Quarterhorse vorgenommen. Es lief hinter der Startbox im Kreis herum und beäugte sie mit einer Skepsis, als handle es sich um den aufgesperrten Rachen eines Krokodils. Auch die dahinterliegende Bahn schien dem Tier große Angst einzujagen, als sei sie nur zum Zweck der Einschüchterung errichtet worden und als warteten die würfelförmigen Heuballen geradezu darauf, ihm in die Flanken zu fallen. Obendrein drohte der Boden sich unter den Hufen des Tiers zu öffnen, und selbst der Himmel wirkte furchterregend. In Begleitung des jungen Tiers befand sich eine ältere Stallgefährtin, die mit den Praktiken dieser derben Sportart vertraut war und so manch alte Veteranengeschichte erzählen konnte: Wie sie beim letzten Atemzug des ohnehin nur ein paar Sekunden währenden Rennens noch das führende Pferd abgefangen hatte, und dergleichen mehr... »Auf geht's!« sagte Farrell. »Führen wir ihn in die Startbox!« Die allgemein übliche Trainingsmethode, mit der die Quarterhorses dazu gebracht wurden, wie ein geölter Blitz aus den Startboxen zu schießen, bestand darin, dass man die jungen Pferde in der Box einschloß und mit der Peitsche bearbeitete, bis sie außer Rand und Band gerieten. Wenn die Startklappe schließlich aufsprang, waren sie heil54
froh, der Tortur zu entkommen. Man ging davon aus, dass das Pferd in Zukunft jedesmal, wenn es in der Box stand, mit einer Wiederholung dieser Prozedur rechnete. Von seiner Angst und seinem instinktiven Fluchtverhalten erhoffte man sich eine optimale Leistung im Rennen. Nicht selten versuchte man sogar, diesen Effekt mit Hilfe von Elektroschocks zu erreichen. Ich sah nun, wie Farrell Jones das junge Pferd am Zügel durch die Startbox führte. Er schloß weder die vordere noch die hintere Klappe, sondern führte das Tier lediglich von hinten in die Box hinein und vorne wieder heraus. Die ältere Stute blieb in unmittelbarer Nähe. Dieser Vorgang wurde dann mehrfach wiederholt. Mit der Zeit wurde uns Zuschauern von der ständig wiederholten Kreisbewegung regelrecht schwindlig, und ich denke mir, dass es selbst dem Pferd langweilig wurde. Schließlich führte Farrell Jones das junge Quarterhorse wieder in die Startbox, deren Vorderklappe er diesmal jedoch geschlossen hatte. Damit es sich wohl fühlte, bekam das Pferd einen Eimer mit einem Maulvoll Futter vorgesetzt. Die Stute war in der Nähe und durch die Zwischenräume zwischen den Seitenplanken gut sichtbar. Meine Kameraden und ich hingen dort herum und fragten uns, ob wir gerade eine Trainingsstunde für ein rohes, untrainiertes Pferd miterlebt hatten, das irgendwann einen ordentlichen Blitzstart im Quarterhorse-Rennen hinlegen sollte, oder ob die Box sein neuer Stall war. Nachdem sich das Pferd an den Aufenthalt in der geschlossenen Startbox gewöhnt hatte, wurden die Klappen wieder geöffnet. Aber es wurde nicht herausgeführt - o nein, das wäre zuviel auf einmal gewesen. Farrell Jones ließ ihm Zeit. Das Pferd sollte selbst entscheiden, wann es die Box verlassen wollte. Es war richtig aufregend, als es sich endlich dazu entschloß. Farrell Jones' Trainingsprinzip bestand darin, das Pferd ohne jeden Druck auszubilden. Als nächstes erkannte ich einen weiteren Grund für die Anwesenheit der Stallgefährtin. Als das junge Pferd in der Startbox eingeschlossen war, wurde seine ältere Kameradin draußen die Rennbahn entlanggeführt. Dann wurde die Startklappe geöffnet. Ohne jedes zusätzliche Druckmittel stakste das Pferd hinaus und folgte der älteren Freundin auf die Rennbahn. 55
Ein Weilchen darauf wurde das Führpferd zu einem schnelleren Gang angehalten und durfte sich etwas weiter von den Startboxen entfernen. Nun fiel das junge Pferd in einen leichten Trab, damit es seine Freundin einholen konnte. Binnen weniger Stunden hatte Farrell Jones erreicht, dass das Pferd die Startbox betrat, ohne die geringsten Schwierigkeiten zu machen. In gespannter Erwartung drückte es die Nüstern gegen die vordere Klappe und hatte nichts anderes mehr im Sinn, als so schnell wie möglich loszugaloppieren und aus eigenem freiem Willen das Führpferd einzuholen. Dieses wurde immer etwas zurückgehalten, damit das junge Pferd es überholen und das Rennen »gewinnen« konnte. Es machte ihm Spaß. Farrell Jones' Methode beeindruckte mich zutiefst, und nun wollte ich alles ganz genau erfahren. Wie er darauf gekommen sei, fragte ich ihn. Jones sog an dem Priem, den er hinter seinen Backenzahn geschoben hatte: »Weißt du, ich hab' mir 'ne ganze Menge von diesen Rennen angesehen, und zwar ziemlich genau. Du paßt eben besser auf, wenn du weißt, dass da vielleicht 'ne Stange Geld in deine Tasche reitet, sofern du nur die richtigen Entscheidungen triffst. Und dabei ist mir eines aufgefallen: Diese überdrehten Pferde sind gar nicht die ersten, die aus den Startboxen kommen. Die sind so unruhig, zappeln hin und her, treten auf der Stelle, denken dauernd daran, welcher Pferdeschinder jetzt schon wieder hinter ihnen steht, dass sie manchmal gar nicht rechtzeitig mitbekommen, wenn die Klappe aufgeht. Nein, es sind gerade die entspanntesten Tiere, die die richtigen fliegenden Starts hinlegen.« Farrell Jones' Ausführung bewies mir, dass die grausame Behandlung - das Auspeitschen der Pferde in der Startbox, um sie in Angst zu versetzen und den Fluchttrieb auszulösen - nicht nur unnötig war, sondern regelrecht kontraproduktiv: Diese Tiere kamen langsamer aus der Box. Sein Beispiel war mir eine Lektion, die mein künftiges Denken prägen sollte: Man darf einem Pferd niemals befehlen »Du mußt«, sondern muß es dazu bewegen, seine Leistungen freiwillig zu erbringen: »Ich möchte gerne, dass du ...« Gehen wir noch einen Schritt weiter. Das Pferd zu bitten ist auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Viel klüger ist es, das Tier so weit zu bringen, dass es von sich aus die Leistung bringen will. 56
Pferde wollen rennen; das ist ihnen angeboren. Durch die richtige Ausbildung können wir sie so beeinflußen, dass sie im Rennen ihr gesamtes Potential ausreizen. Ein Rennen kann ihnen genausoviel Spaß machen wie uns, die wir ihnen dabei zusehen. Meine berufliche Tätigkeit konzentrierte sich später größtenteils auf das Vollblutrenngeschäft. Bis auf den heutigen Tag bin ich felsenfest davon überzeugt, dass die Peitsche verboten werden sollte. Sie ist überflüssig, wenn man beim Training den ausgeprägten Bewegungstrieb des guten Rennpferds nutzt. Auf meinem eigenen Gelände dulde ich überhaupt keine Peitschen oder Gerten. Von meinem achten bis zu meinem zwölften Lebensjahr nahm ich an ungefähr zweihundert Kurzstreckenrennen teil. Bei den meisten davon handelte es sich um Quarterhorse-Rennen. Obwohl ich ein- oder zweimal vom Pferd fiel, blieb ich von ernsthaften Unfällen verschont. 1945 gründete Frank Vessels die Quarter Racing Association und baute eine richtige Rennbahn, die mit der anfänglichen Holperpiste zwischen gestapelten Heuballen nichts mehr zu tun hatte. Schon bald gelang es ihm, die Kurzstreckenrennen aus dem engen Umfeld ihrer ländlichen Ursprünge zu befreien. Es dauerte nicht lange, und der einstige »Ranchsport« fiel in die gleiche Kategorie wie die traditionellen Galopprennen für Vollblüter. Die American Quarter Horse Association entstand 1946, als ein Inspektorenteam durch die Vereinigten Staaten reiste und die Pferde mit den entsprechenden körperlichen Voraussetzungen in das Zuchtregister aufnahm. 1949 ritt ich in King City, Kalifornien, mein letztes Rennen. Es war ein einfaches Landstädtchen, aber dort lebten zwei Pferdezüchter, die für die Quarterhorse-Rennen sehr wichtig werden sollten: Gyle Norris und die Brüder McKensie. Die Brüder McKensie besaßen eine Spitzenstute namens Lady Lee; ich hatte das Glück, sie mehrere Male reiten zu dürfen. Außerdem gehörte ihnen der Quarterhorse-Hengst Dee Dee, der 1946 der Champion unter den älteren Hengsten seiner Rasse war. Ab 1949 schaffte ich es nicht mehr, mein Gewicht unter der Neunundfünfzig-Kilogramm-Marke zu halten — ganz im Gegensatz zu Tucker Slender, einem hochgewachsenen, dünnen Mann, der drei oder vier Jahre älter als ich und ein erheblich besserer Jockey war. Später avancierte er zum Starter auf vielen bekannten Rennbahnen 57
im südlichen Kalifornien - eine Position, die er in Santa Anita und Del Mar noch heute innehat. Farrell Jones wurde mehrmals als bester Trainer von Vollblütern der Vereinigten Staaten ausgezeichnet. Seine Methoden und sein Einfallsreichtum sind mir seit jener ersten Lektion immer wieder sehr zugute gekommen. Sein Sohn Gary ist heute einer der Spitzentrainer des Landes. Was damit begonnen hatte, dass wir, an den Hals eines bestimmten Pferdetyps geklammert, über abenteuerliche Provinzpisten jagten, sollte sich also zu einer regelrechten Industrie der QuarterhorseRennen entwickeln. Für mich war es ein Studium an der Startbox. Ich war neun Jahre alt, als mein Onkel Ray mir eine alte Geschichte von unseren Cherokee-Ahnen erzählte. Mein Großvater kam 1870 in Wales auf die Welt. Meine Liebe zu Pferden habe ich möglicherweise von ihm, denn er bearbeitete seine Farm mit ihnen, beteiligte sich an Fuchsjagden und ritt auch sonst in seiner Freizeit gern. Earl Roberts - so sein Name - wanderte im Alter von siebzehn Jahren nach Amerika aus. Schon bald lockte ihn der Ruf des Westens, denn der Straßenbau in der Sierra Nevada verhieß geregelte Arbeit. Die spanische Bezeichnung Sierra Nevada bedeutet soviel wie »schneebedeckte Berge« - ein eher bescheidener Name für die gewaltige natürliche Barriere an der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada, die an Höhe und Ausdehnung lediglich von den Rocky Mountains übertroffen wird. Als mein Großvater Earl über die Sierra Nevada gen Westen zog, konnten die Bautrupps nur sechs Monate im Jahr arbeiten. Den Rest des Jahres waren die Pässe geschlossen. Was es bedeutete, die Sierra Nevada allein mit Menschenkraft und Tieren passierbar zu machen, übersteigt meine Vorstellungskraft. Es war Earls Aufgabe, für den Nachschub an Arbeitspferden zu sorgen. Auch die Bereitstellung von Reitpferden für die Vorarbeiter, die die Arbeit der Bautrupps koordinierten, fiel in sein Ressort. Bei den Arbeitern handelte es sich zum großen Teil um Einwanderer wie meinen Großvater, doch gehörten auch Cherokee-Indianer dazu. Sie waren von der Bundesregierung aus ihrem Reservat im Mittleren Westen nach Nevada gebracht worden. Unter den Cherokee befand sich die Frau, die später meine Groß58
mutter werden sollte, ein junge Indianerin von knapp zwanzig Jahren. Man hatte sie nach dem Arbeitsvermittler, der sie und ihre Familie nach Nevada gebracht hatte, Sweeney genannt und dabei einfach seinen Nachnamen zu ihrem Vornamen bestimmt. Zu ihren wenigen Habseligkeiten gehörten Dokumente, aus denen hervorging, dass sie eine reinrassige Cherokee war und deshalb über bestimmte Rechte verfügte, die der Urbevölkerung vorbehalten waren. Earl hielt bei der Familie um Sweeneys Hand an und heiratete sie. In rascher Folge gebar sie ihm neun Kinder, von denen fünf am Leben blieben, darunter mein Vater und Onkel Ray. Ihr Jüngster war elf Jahre alt, als Sweeney zu dem Schluss kam, ihr Ehevertrag mit Earl sei nun erfüllt. Als die Familie eines Morgens aus den Betten kroch, war sie verschwunden. Monatelang wurde sie gesucht, und am Ende fand man heraus, dass sie von Tulare aus in das Cherokee-Reservat zurückgewandert war - eine Strecke von fast tausend Kilometern. Kurz darauf erkrankte der elfjährige Ray an Lungenentzündung. Earl beschloß, den Jungen zu seiner Mutter ins Reservat zu bringen. Ray wurde vom Stamm adoptiert und großgezogen. Er profitierte davon, dass er sowohl die Lebensweise der Indianer als auch die der Weißen kennenlernte. Onkel Ray erzählte mir, wie die Cherokee Wildpferde fingen. In den großen Ebenen des Mittleren Westens ergab sich zunächst einmal das Problem, dass man überhaupt auf Lassodistanz an die Tiere herankam. Die Cherokee lösten es auf höchst bemerkenswerte Weise. Anstatt die Herde in ein enges Tal zu treiben oder entsprechende Fallen zu konstruieren - was in jener Landschaft schwer genug gewesen wäre -, bedienten sie sich einer wesentlich wirksameren Methode: Am Anfang zogen sie einfach hinter der Herde her. Sie trieben die Pferde nicht vorwärts, sondern folgten ihnen ruhigen Schritts und veranlaßten sie somit zum Weiterziehen. Diese Phase nahm ein, zwei Tage in Anspruch. Wenn der geeignete Zeitpunkt gekommen war, drehten die Cherokee um und marschierten in der Gegenrichtung davon. Und jedesmal taten es die Pferde ihnen nach: Sie drehten sich um und folgten den Indianern. Es war eine Art Jo-Jo-Effekt. Die Cherokee führten die Pferde dann einfach in zwei bis fünf Morgen große Korrals. 59
Bei der Jagd auf Hirsche, Antilopen und Bisons, von deren Fleisch sie sich ernährten, wandten die Cherokee eine ähnliche Taktik an. Der Jo-Jo-Effekt wirkte auch hier. Für einen Cherokee, der mit Pfeil und Bogen jagte, durfte die Entfernung zur Beute nicht viel mehr als zwölf bis fünfzehn Meter betragen. Also drängte man die Tiere eine Zeitlang in eine bestimmte Richtung und kehrte dann um. Die Tiere drehten ebenfalls um und folgten den Menschen. Hatte sich diese Hin- und Herbewegung einige Male wiederholt, so verringerte sich der Abstand so sehr, dass die Tiere zur leichten Beute wurden. Es dauerte lange, bis ich die Ursache für jene merkwürdige Angewohnheit der Pferde, sich umzudrehen und auf Tuchfühlung mit ihren Verfolgern zu gehen, verstehen lernte, und ich begriff sie erst, als ich die Gelegenheit bekam, Pferde in freier Wildbahn zu beobachten. Dieses Phänomen nannte ich »Vorstoß und Rückzug« (advance and retreat). Es bildete später die Grundlage für meine Methodik im Umgang mit Pferden. Für den neunjährigen Jungen, dem Onkel Ray diese Geschichte erzählte, blieb das alles natürlich ein Rätsel. Ich hielt es für wahr, begriff aber nicht, warum es sich so verhielt. Die Jahre des Zweiten Weltkrieges waren, wie alle Kriege, vom Tod bestimmt - und in der kleinen Welt des acht- bis elfjährigen Monty Roberts sah es nach dem Umzug zunächst so aus, als müsse er all seine Träume begraben. Ich hatte erlebt, wie meine japanischstämmigen Klassenkameraden zusammengetrieben und in einem Gefangenenlager interniert wurden, das an meinem bisherigen Wohnort errichtet worden war. Ich hatte den Tod jenes Schwarzen durch die Hand meines Vaters miterlebt und dadurch die Achtung vor Vater verloren. Fortan suchte ich meinen eigenen Weg im Leben. Doch andererseits ermöglichte mein Vater mir das, was ich mir am meisten wünschte: ein Leben mit Pferden. Schließlich war der Krieg vorüber, und alle Leute versuchten, so schnell wie möglich wieder zu einem normalen Leben zurückzukehren. Für meinen Vater bedeutete dies, Vorbereitungen für die Rückkehr auf das Rodeogelände und in seinen früheren Beruf zu treffen. Außerdem meldete er mich praktisch zu allen Reitturnieren an, von 60
denen er Wind bekam. Überall im Land ging es jetzt wieder los. Das entsprach zwar ganz meinen eigenen Wünschen, war aber eine einzige Hetzerei. Unsere Rückkehr aufs Rodeogelände war ein wahres Volksfest. Die internierten Japaner waren fort, doch das Gelände befand sich in einem entsetzlichen Zustand. Die Arbeiter hatten beim Abriß der Wohnquartiere sämtliche Nägel und Krampen einfach liegen lassen: ein großes Verletzungsrisiko für die Pferdehufe. Folglich mussten wir wochenlang Magnete über den Boden ziehen. Auch die Ställe mussten instand gesetzt werden. Wir installierten wieder Futterraufen, reparierten Böden und flickten Dächer. Die gesamte Familie meiner Mutter kam angereist und half mit. Der hintere Aufbau des Cadillac wurde abgesägt, so dass er sich in einen Pick-up verwandelte und wir mit ihm endlose Fuhren Abfall zum Müllplatz karren konnten. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem die neuen Sättel eintrafen - zwanzig oder dreißig Stück - und in einem Schwung in den Hof gekippt wurden. Ich riß die Verpackungen auf, holte die Sättel heraus und montierte das entsprechende Zubehör; die Reitstunden konnten am nächsten Tag beginnen. Die Kosten für die Ausrüstung - gar nicht zu reden von denen für die Pferde - waren die Ursache, dass wir für den Wiedereinstieg ins alte Geschäft erhebliche Schulden machten. Von nun an tagte des öfteren der Familienrat am Eßtisch in unserem alten Haus. Wir beschlossen, dass Vater seine Stelle bei der Polizei behalten sollte. Er war zum Lieutenant befördert worden, und sein Gehalt würde zum Abbau unserer Schulden beitragen. Wenn wir geschäftlichen Erfolg haben wollten, mussten wir uns weitgehend auf uns selbst verlassen. Mehr als eine bezahlte Hilfskraft war nicht drin. Das war Wendell Gillott, der schon früher für uns gearbeitet hatte und inzwischen aus Hawaii zurückgekehrt war. Ein guter Mann - nicht gerade mit einem Spitzen-IQ ausgestattet, aber ein Pferdenarr, stets gut gelaunt und ein harter Arbeiter. Meinem Bruder Larry und mir wurde mitgeteilt, dass unsere schulische Ausbildung auf das absolute Minimum zurückgeschraubt werden müsse, damit wir Wendell zur Hand gehen konnten. Wir waren also wieder daheim, mussten aber vom ersten Tag an schwer schuften. 61
Wendell trat morgens um halb fünf seinen Dienst an und begann sofort mit der Fütterung sämtlicher sechzig Pferde, die jetzt in unseren Ställen standen. Ich rollte mich ebenfalls schon vor fünf aus dem Bett und schlüpfte in die Arbeitsklamotten, die dort, wo ich sie am Abend zuvor fallen gelassen hatte, auf dem Boden lagen. Ich hatte es stets eilig - schließlich musste ich noch vor dem Frühstück zweiundzwanzig Boxen ausmisten. Auch Larry kroch um diese Zeit aus den Federn. Er musste zehn Boxen ausmisten - weniger als ich, weil er jünger und wegen seiner früheren Erkrankung auch schwächer war. Mir blieb kaum Zeit, Wendell einen Gruß zuzurufen, schon begann die Schufterei. Ich musste jede der zweiundzwanzig Boxen gründlich säubern, die Einstreu zusammenrechen und erneuern und ab in die nächste Box. Während der Arbeit stoppte ich die Zeit: Mein Ziel war es, nicht mehr als dreieinhalb Minuten pro Box zu benötigen, so dass die gesamte Aktion in weniger als anderthalb Stunden erledigt war. Es war wie beim Rennen. Wenn ich die Mistgabel zum Schluss wieder an die Stallwand warf, riß ich die Arme hoch wie die Kälberfänger beim Rodeo, die - wenn das Kalb mit zusammengebundenen Beinen flach auf dem Boden liegt - mit dieser Geste die Uhr anhalten. Zwischen halb sieben und sieben gab es Frühstück. Beim Essen hörten Larry und ich uns an, welche Pferde uns Vater für den Tag zuteilte, welche wir reiten und was wir sonst mit ihnen tun sollten. Nach dem Frühstück säuberte Wendell die restlichen dreißig Boxen, während Larry und ich zum Reiten gingen. Zwischen sieben und neun Uhr ritt ich etwa sechs Pferde, absolvierte mit ihnen diverse Übungsprogramme und andere anstehende Aufgaben. Danach trotteten wir zurück, duschten, zogen uns um und machten uns fertig für die Schule, die um halb zehn begann. Nachmittags um halb zwei kamen wir nach Hause und saßen sofort wieder im Sattel. leder von uns trainierte fünf bis sechs Pferde, so dass ich gegen halb vier bereits vier Stunden im Sattel hinter mir hatte. Danach begannen die Reitstunden. Wir alle - mein Vater, meine Mutter, mein Bruder Larry und ich — gaben Reitunterricht. Die Gruppen umfaßten jeweils zwischen sechs und zwölf Schülerinnen und Schüler, Anfänger ebenso wie Fortgeschrittene. Manche hatten 62
furchtbare Angst vor Pferden, andere meinten, sie wüßten alles besser, wieder andere waren aufmerksam bei der Sache. Wir zogen die Stunden durch und gaben unser Bestes. Um halb sechs brachte meine Mutter die Kinder nach Hause. Larry, Wendell und ich räumten auf, führten die Pferde zurück, fütterten sie und reinigten Sättel und Zaumzeuge. Für halb sieben bereitete meine Mutter das Abendbrot vor, und ich half ihr dabei. Mein Interesse am Kochen geht auf jene Tage zurück. Nach dem Abendbrot hatten wir noch etwas Zeit für die Schulaufgaben. Obwohl ich nur etwa zehn Prozent der üblichen Zeit die Schulbank drückte, erwartete mein Vater, dass ich stets die besten Noten nach Hause brachte. Von welcher Seite man es auch betrachtete — er war ein sehr strenger Lehrmeister. Die Leistungskraft eines Kindes in diesem Alter ist dehnbar. Vater forderte mich bis an meine Grenzen. Ebensosehr bemühte sich aber wohl auch Miss Parsons um mich und meine Ausbildung. Sie brachte mich immerhin dazu, dass ich mich freiwillig den Prüfungen unterzog. Dank ihrer Freundlichkeit und ihres Einfühlungsvermögens bekam ich trotz meiner langen Abwesenheiten immer wieder die besten Noten. Mein Leben war mit einem Cartoon vergleichbar: Vor meiner Nase baumelte eine Karotte, hinter mir drohte die Peitsche. Der Krieg war zu Ende — und überall gab es ausgemustertes Militärgerät zu kaufen. Unter den Farmern der Region war es auf einmal sehr populär, in fast neuen Militärjeeps und Panzerspähwagen durch die Gegend zu preschen. Die Fahrzeuge waren spottbillig. Vermutlich wurde auch mit überzähligen Waffen herumgeballert. Mein Vater beteiligte sich ebenfalls an diesem Run auf militärische Ausschußware - allerdings auf seine Weise: Er pachtete einen Eisenbahnwaggon der ehemaligen US-Kavallerie. Plötzlich stand er in seiner ganzen Größe vor uns: unser eigenes Schienenfahrzeug! Die Pachtsumme für mehrere Jahre war minimal. Der ursprünglich zur Beförderung von Offizierspferden konstruierte Waggon verfügte über Transportboxen für fünfzehn Pferde. Zwar gab es insgesamt weniger Reitturniere als vor dem Krieg, und obendrein wurden sie nicht so wirkungsvoll angekündigt wie 63
früher. Doch mit Hilfe dieses Waggons waren wir imstande, auch zu den entferntesten Veranstaltungsorten zu reisen. Außerdem war in der Nachkriegszeit mit einer neuerlichen Zunahme der Turniere zu rechnen, und mein Vater wollte das Beste aus der Rückkehr zur Normalität herausholen. Der Eisenbahnwaggon sollte künftig kreuz und quer durch Amerika rollen und überall den Ambitionen meines Vaters und meinen eigenen dienen. Vater ließ den Waggon umbauen: Sechs Boxen wurden herausgenommen, und der dadurch gewonnene Platz wurde für eine Schlafkabine, einen Futterspeicher für Getreide und einen größeren Wassertank genutzt. Darüber hinaus wurde eine winzige Küche mit einer Herdplatte und einer Ecke zum Kaffeekochen eingerichtet. Für mich wurde der Eisenbahnwaggon in den folgenden zehn Jahren auf meinen langen Reisen in den Sommermonaten zu einer Art Zuhause in der Fremde. Vater und ich prüften die angekündigten Termine für die Turniere überall im Land. Wir suchten uns diejenigen aus, die wir für die besten hielten und die für uns erreichbar waren. Die ausgearbeiteten Reisepläne brachten wir zum Büro der Southern Pacific und buchten unsere Fahrten. Man teilte uns die verschiedenen Abholzeiten und Rangiergleisnummern mit, wobei wir beispielsweise als Wagen 21 auf Rangiergleis 56 eingeplant waren. Pünktlich zur vereinbarten Abholzeit zog uns dann eine Rangierlok vom Neben- zum Hauptgleis, der Zug rollte zurück, wir wurden angekoppelt - und los ging's. Vater blieb meistens zu Hause, um seinen Pflichten als Polizist, Pferdetrainer und Manager nachzukommen. Auf meinen Reisen begleiteten mich neben Brownie, meinem Liebling, bis zu acht andere Pferde, ein Stallknecht und Miss Marguerite Parsons. Marguerite Parsons war in meinem damaligen Leben eine Person von zentraler Bedeutung. Seit meinem zweiten oder dritten Lebensjahr war sie unser Kindermädchen, und nun wurde sie meine Lehrerin. Immer adrett und wie aus dem Ei gepellt und dabei unerschütterlich wie ein Fels, las sie mir Geschichten vor und machte das Lernen zum reinen Vergnügen. Auch sonst brachte sie mir eine Menge bei. Sie kannte mich besser als meine Eltern und hatte Verständnis für meine Probleme. Sie zeigte mir nicht nur, wie man mit anderen Menschen umgeht, sondern ermutigte mich auch immer wieder, Pausen einzulegen und mich zu 64
erholen. Sie versuchte mir verständlich zu machen, dass sich ein Mensch, der von Kindesbeinen an so einseitig darauf fixiert ist, als Reiter und Pferdeexperte Karriere zu machen, ein wenig mäßigen muß, wenn er nicht frühzeitig ausgebrannt sein will. Marguerite war damals erst an die zwanzig Jahre alt. Dennoch sagte und tat sie nach meiner festen Überzeugung immer das Richtige. Sie blieb bis 1949 bei uns. In der Schlafkabine des Eisenbahnwaggons nächtigte Miss Parsons auf der anderen Seite eines Vorhangs. Jedesmal, wenn wir uns abends zum Schlafen zurückzogen, hörte ich von dort ein eigenartiges Geräusch, an das ich mich noch heute erinnern kann. Vergeblich zerbrach ich mir den Kopf über seine Ursache. Es war eine Art Wispern oder Flüstern. Von den Pferden konnte es nicht kommen, deren Geräusche kannte ich. Es musste von Miss Parsons stammen. Aber was konnte es sein? Des Rätsels Lösung erfuhr ich erst Jahre später: Es war das Rascheln weiblicher Unterkleidung. Bis mir jedoch dieses Licht aufging, blieb das Geräusch eine von vielen geheimnisvollen Eigenschaften, die Miss Parsons auszeichneten. Eine der ersten Fahrten im Eisenbahnwaggon führte uns zu einer Pferdeshow in Pomona, Südkalifornien. Schon die Vorbereitungen waren höchst aufregend. Die Sättel und Zaumzeuge wurden auf Hochglanz gebracht, sortiert und in Kästen verstaut, für die sich an der Waggonwand Einbauregale befanden. Die Kästen sollten problemlos in Lastwagen umgeladen werden können, um das Risiko einer Beschädigung oder Verschmutzung des Inhalts während des Transports vom Waggon zum Turnierplatz möglichst niedrig zu halten. Der mitreisende Stallknecht war Wendell Gillott. Gemeinsam führten wir die Pferde in ihre Waggonboxen und luden das Gepäck ein. Dann warteten wir auf die Lokomotive der Southern Pacific, die uns zum vereinbarten Zeitpunkt abholte. »Rampe hoch! Rampe hoch!« rief Miss Parsons, kaum dass wir selbst eingestiegen waren. Sie machte sich Sorgen wegen der Mäuse, von denen es auf den Nebengleisen geradezu wimmelte; denn von der Ladung der Getreidezüge sickerte immer etwas durch. Entsprechend üppig war das Nahrungsangebot für die Nager. Miss Parsons haßte Mäuse. Unterwegs war sie stets auf der Hut vor ihnen und verfolgte eine radikale Ausrottungsstrategie, 65
Auf die Minute pünktlich zog uns die Rangierlok aufs Hauptgleis. Ein sanfter Stoß — und das Einschnappen der Kupplungen verriet uns, dass wir nun als einer unter vielen Waggons an der großen Lok hingen, die am Anfang des Zuges bereits hörbar unter Dampf stand. Die Southern Pacific brachte uns zunächst durch San Luis Obispo, Santa Barbara und Ventura ins Becken von Los Angeles. Die Fahrt durch die Berge verfolgten wir durch die mit schwerem Maschendraht gesicherten Fenster. Sie war beeindruckend. Immer wieder tauchte der Zug in dunkle Tunnel ein und dampfte wieder daraus hervor. Die folgende Strecke entlang der Küste war ganz anders und von stiller Schönheit geprägt. Der langsame Rhythmus der südwärts rollenden Räder lullte uns ein. Miss Parsons war eine Perfektionistin. Überall im Waggon hingen ihre Regeln und Vorschriften aus, und wir waren gehalten, diese auch täglich zu lesen. Sie bereitete meine Hausaufgaben vor und ließ mich an einem winzigen Schreibtisch die Schularbeiten machen. Meistens wartete sie damit, bis der Zug irgendwo mal wieder einen längeren Aufenthalt hatte, damit wir vom Lesen und Schreiben während der Fahrt nicht seekrank wurden. Normalerweise erledigte ich meine Hausaufgaben nachts, wenn der Zug irgendwo stand. Am folgenden Tag korrigierte Miss Parsons sie dann und arbeitete neue Aufgaben aus. Wenn sie nicht gerade den Waggon auf der Jagd nach Mäusen durchstöberte, plagte Miss Parsons ein anderes Ungemach: Sie führte einen ständigen Kreuzzug gegen den Staub. Kaum hatte sie irgendeine Oberfläche gewischt, da schien sich - offenbar nur, um sie zu ärgern - vor ihren Augen bereits die nächste Schicht aufzubauen. Nach der Tunnelstrecke und der langsamen Fahrt entlang der Küste erreichten wir Los Angeles - für mich ein Erlebnis, das mir völlig neue Horizonte öffnete. Ungeheuer viele Autos und Gebäude drängten sich da auf engstem Raum zusammen. Ich kam mir vor wie in einem fremden Land. Vor allem beeindruckte mich, dass hier so viele Menschen lebten. Schließlich erreichten wir Pomona, unser Ziel. Der Wettbewerb dort gehörte zur gehobenen Klasse, und es herrschte ein enormer Konkurrenzdruck. Mir schlotterten buchstäblich die Knie vor Aufregung. Es gab Turniere, bei denen ich mit einiger Zuversicht davon 66
ausgehen konnte, am Ende den Sieg davonzutragen, doch davon konnte in diesem Fall nicht die Rede sein. Eine weitere Besonderheit der Veranstaltung bestand darin, dass der Besitzer des Geländes - Mr. Kellogg von der Corn-Flakes-Familie auf eigene Kosten ein Stichgleis hatte verlegen lassen, weil er einen direkten Anschluß an das Streckennetz der Southern Pacific haben wollte. Wir brauchten also nicht erst auf ein Abstellgleis zu fahren und Pferde, Ausrüstung und uns selbst auf einen Zubringer verladen, sondern ruckelten über das Stichgleis geradewegs zum Ort des Geschehens. Wir ließen die Rampe herunter - und unmittelbar vor uns lag, wie bestellt, die Hauptarena. Die anderen Wettbewerbsteilnehmer blieben wie angewurzelt stehen und glotzten uns verblüfft an: Da fährt dieses Kind mit seinem eigenen Zug an der Arena vor ... Sie selbst hatten ihre Pferde in kilometerweit entfernten Ställen unterbringen müssen. Dies verschaffte mir einen psychologischen Vorteil: Ich hatte von Anfang an die Poleposition erobert. Als die Rampe fiel, lag die gesamte Szenerie vor meinen Augen ein Stadion mit zweitausend Sitzplätzen; die anderen Wettkampfteilnehmer ritten mit optimaler Ausstattung auf teuren Pferden auf und ab. Ich wusste, dass es sich um eine hochkarätige Veranstaltung handelte und dass Brownie, wenn er tatsächlich einen Spitzenplatz belegen wollte, meine ganze Hilfe benötigen würde. Brownie spürte selbst, was an diesem Tag auf dem Spiel stand. Eine innere Erregung hatte von ihm Besitz ergriffen, und er war genauso motiviert wie ich. Seiner Abstammung wegen - halb Vollblut, halb Mustang — waren seine Nerven ohnehin stets angespannt. Als ich Brownie hinausführte und dann zurückkehrte, um Wendeil bei den anderen Pferden zu helfen, versammelte sich eine Schar von Kindern um den Waggon. Wir hatten also ein kleines Publikum. Sie blieben da und beobachteten uns ohne jede Gemütsregung, als ich Brownie aufwärmte und ihn in allen Gangarten ritt, einem Sportler vergleichbar, der vor dem Start seine Bänder und Sehnen aufwärmt, den Kreislauf in Schwung bringt und nach der langen, bewegungsarmen Anreise zum Wettkampfort seine Batterien auflädt. Ich hatte das Gefühl, die Kinder betrachteten uns als die »andere Mannschaft«, den »Gegner«. Während ich noch darüber nachdachte, erregte ein Pferd meine Aufmerksamkeit, das auf einem etwas weiter 67
entfernten Reitplatz aus vollem Galopp zum Sliding Stop kam. Von den Hinterbeinen aufgewirbelt, die die Wucht des schlitternden, abbremsenden Tiers zu tragen hatten, stieg eine Staubwolke unter seinem Bauch auf. Ich war beeindruckt und erfreut, aber zugleich auch deprimiert, weil mir der Gedanke durch den Kopf schoß: Das ist bestimmt der Sieger in meiner Juniorenklasse. Ich ritt hinüber und erkannte zu meiner Erleichterung, dass es sich um einen Erwachsenen handelte, der in der offenen Klasse starten würde. Beim Näherkommen erkannte ich Clyde Kennedy auf Rango, dem südkalifornischen Cowhorse-Champion. Jetzt war mir klar, warum ich schon aus der Entfernung so beeindruckt gewesen war. Ich wollte ihn kennenlernen. Nach dem Aufwärmen brachte ich Brownie bis zum Beginn des Junior-Stockhorse-Wettbewerbs in den Waggon zurück. Etwas beklommen angesichts der professionellen Atmosphäre, hatte ich große Zweifel daran, ob wir hier gut abschneiden würden. Der Eisenbahnwaggon und der Umstand, dass wir unmittelbar auf dem Gelände untergebracht waren, rückten jeden unserer Fehler ins Rampenlicht. Ich zitterte vor Aufregung. Als unsere Klasse aufgerufen wurde, führte Wendell Brownie zu mir. Ich sah das Pferd auf mich zukommen, bemerkte den weißen Fleck, der wie ein drittes Auge auf seiner Stirn prangte, und seine gewohnt ruhige Art. In diesem Augenblick wurde mir schlagartig klar, dass ich das beste Pferd von allen hatte. Schließlich saß ich im Sattel, spürte unter der Hand die niedrige Pulsfrequenz an Brownies Hals und versuchte, die erkennbare Leistungsbereitschaft des Tiers auf mich zu übertragen und auf diese Weise meine Nerven zu beruhigen. Ich hatte an Brownie gezweifelt, aber jetzt war ich darüber hinweg. Wir kamen uns wie Profis vor. Wir waren hier am Start und würden unsere Arbeit tun. Wir betraten die Arena. Achterfiguren waren Brownies Achillesferse, doch klappten die fliegenden Wechsel diesmal ungewöhnlich gut. Irgendwie lief es, und ich wusste, dass Clyde Kennedy unter den Zuschauern war. Ich hatte einen neuen Helden gefunden und wollte ihn beeindrucken. Dann waren die Stopps an der Reihe. Die ersten beiden gelangen Brownie ziemlich gut, doch blieb jede Zuschauerreaktion aus. An den dritten erinnere ich mich noch heute ganz genau, denn als wir in die Mitte des Rings galoppierten, feuerte ich Brownie mit einem 68
»Whoah!« an, und er legte einen spektakulären, zehn Meter langen Sliding Stop hin. Wir standen in einer Staubwolke, und das Publikum brüllte auf wie beim Football, wenn das entscheidende Tor gefallen ist. In diesem Moment wusste ich, dass wir gute Arbeit geleistet hatten, obwohl das Rückwärtsrichten und die Offsets erst noch kamen. Am Ausgang wartete Clyde Kennedy. Er gratulierte Brownie zu seiner Leistung und fragte mich, ob ich einen Trainer hätte. Ich verneinte und fügte hinzu, dass ich ihn zuvor auf Rango gesehen hätte und gerne bei ihm Stunden nehmen würde. Clyde begleitete mich zum Eisenbahnwaggon und inspizierte ihn mit großem Interesse. Am Abend trafen sich Miss Parsons, Clyde Kennedy und ich in der Cafeteria der Bahnarbeiter, die ein Stück gleisaufwärts lag, zum gemeinsamen Essen. Bei Tisch erfuhr ich zum erstenmal von der Rivalität zwischen Clyde und dem Lokalmatador von Pomona, Jimmy Williams. In den nächsten ein, zwei Tagen sollte dieser Konkurrenzkampf entschieden werden. Clyde stellte immer neue Fragen über den Eisenbahnwaggon. Miss Parsons erklärte ihm stolz, welch strengen finanziellen Beschränkungen wir unterworfen waren. Süßigkeiten und Softdrinks für den jungen Monty Roberts? Kein Gedanke daran, Sir! Wenn der Junge Glück hat, hat er ab und zu mal die Zeit, sich ein paar Lederreste aus der Kiste zu holen, um seine Ausrüstung zu flicken. Ansonsten hat er alle Hände voll damit zu tun, Coca-Cola-Flaschen einzusammeln, um das Pfand zu kassieren. Amüsiert schüttelte Clyde Kennedy den Kopf. In jener Nacht tat ich kein Auge zu. Ich lag in meiner Koje und hörte die Kinder draußen vor dem Waggon hin und her rennen und miteinander tuscheln. Sie waren neugierig auf Brownie, der inzwischen schon eine Art Star geworden war. Am folgenden Abend, dessen war ich mir sicher, würde ein großer Besucherstrom kommen und ihn sehen wollen. Ich hörte die Kinder schon fragen: »Darf ich Brownie eine Mohrrübe geben?« oder: »Darf ich seine Nüstern streicheln?« An der Außenwand des Waggons hing eine ganze Reihe Rosetten, Sporen, Gürtelschnallen und andere Preise. Brownie wurde mit seinem Ruhm spielend fertig; es war, als halte er es nur für recht und billig, dass man ihn derart feierte. Nicht, dass er ein arrogantes Pferd gewesen wäre; er hatte lediglich ein solides Selbstbewußtsein, das sich - außer durch Papier - kaum erschüttern ließ. 69
Am letzten Tag des Turniers wurde auch der Zweikampf zwischen Jimmy Williams und Clyde Kennedy entschieden. Vor zweitausend Zuschauern kämpften sie um den ersten Platz in der offenen Klasse. Jimmy war gut - sein Pferd Red Hawk schaffte die Hinterhandwendung auf einer Dollarmünze. Beim Cutting, dem Aussondern eines Rindes aus einer Herde, war es flink und wendig wie ein Hund, und bei den Stopps wirbelten Staubfontänen auf, die meilenweit sichtbar waren wie die Rauchsignale der Cherokee. Den beiden kam natürlich auch zugute, dass das Publikum auf ihrer Seite war. Doch Clyde Kennedy auf Rango war großartig. Obwohl er im Grunde nur von mir, Miss Parsons und Wendell Applaus bekam, vollführte Rango die Achterfiguren mit echtem Stil. Die fliegenden Wechsel gelangen mühelos, als wäre er beidhändig und als sei es ihm gleichgültig, mit welchem Huf er führte. Bei seinen Pirouetten konnte einem schwindlig werden; er hielt Kopf und Hals gerade und gestattete den Vorderbeinen bei der Links- und Rechtswendung keinerlei Fehltritt. Seine Stopps kannte ich ja schon, weshalb es mich nicht überraschte, dass er in seiner Klasse den Sieg davontrug. Trotzdem war alles ungemein spannend, und unser Applaus glich die Zurückhaltung der anderen Zuschauer aus, die aus ihrer Enttäuschung über die Niederlage von Jimmy Williams keinen Hehl machten. Nach dem Turnier verfrachteten Wendell, Miss Parsons und ich unsere Pferde und uns selbst wieder in den Waggon und warteten auf die Lok, die uns zur Hauptstrecke zog. Nächster Halt: Tucson, Arizona, über acht Stunden entfernt. Ich sah mein künftiges Leben vor mir: Es kam mir so zielgerichtet und unkompliziert vor wie das Bahngleis. Erst kürzlich bekam ich die Gelegenheit, das Rodeogelände von Pomona wiederzusehen. Da stand ich, ein sechzigjähriger Veteran der Arena, des Rodeos und des Rennens, mitten auf diesem wilden, grasüberwachsenen Gelände und sagte zu meiner Frau Pat: »Moment, hier war ich doch schon mal!« »Wie bitte?« »Komm, ich zeig's dir!« Ich bahnte mir einen Weg durchs Unterholz. Nach einer kurzen Strecke talaufwärts sagte ich zu Pat: »Ich wette, dass hier oben ein einzelnes, aufgelassenes Bahngleis verläuft.« Sie sah mich an wie einen Geistesgestörten, folgte mir aber trotzdem. 70
Ein wenig abseits von unserem Pfad scharrte ich mit den Füßen Gras und Erde fort. »Hier ist es!« rief ich. Wir blickten auf die Schiene. »Siehst du? Ein Eisenbahngleis. Hier bin ich als Kind entlanggefahren.« Wir gingen über die Trasse zurück zum ehemaligen Turniergelände. Ich zeigte Pat, wo die - inzwischen längst demontierte - Zuschauertribüne gewesen war. Der zentrale Turnierplatz dagegen war noch erkennbar. Die Abgrenzungen waren von Gras und Unkraut überwuchert. Man erkannte lediglich noch das Oval. Die Erinnerung an jenen Tag vor einem halben Jahrhundert war auf einmal kristallklar. Noch einmal kostete ich den Triumph und die Aufregung aus. Da der Schauplatz des Geschehens allmählich von der Natur zurückerobert wurde, lebte das Ereignis nur noch in der Erinnerung der Beteiligten weiter. Es war abzusehen, dass in einigen Jahren sämtliche Spuren verschwunden sein würden. Da standen wir nun, ein seit vierzig Jahren verheiratetes Paar, dessen Kinder längst erwachsen waren. Unser Leben hatte sich alles andere als geradlinig entwickelt. Nun genossen wir die Reife unserer Jahre und waren stolz auf unsere Erinnerungen. Mein Bruder Larry und ich sammelten bei allen Reitturnieren leere Coca-Cola-Flaschen ein, brachten sie zum Waggon und kassierten später das Pfand. Eines Tages glaubte ich eine Chance zu sehen, die Flaschen zu uns kommen zu lassen - und wie! Auf dem Turnierplatz in Salinas war 1947 das erste Rodeo nach dem Krieg angesagt. Ein Großereignis stand bevor - vielleicht die dritt- oder viertgrößte Pferdesportveranstaltung im ganzen Land. Sie sollte vier Tage dauern. Das Rodeo sollte vor der Haupttribüne stattfinden, die fünfundzwanzigtausend Zuschauer faßte. Es war ein riesiges Bauwerk mit Betonwänden auf der Rückseite sowie auf beiden Flanken. Vom höchsten Punkt an der Rückwand ausgehend, erstreckte sich die hölzerne Bestuhlung, Reihe um Reihe niedriger angesetzt, der etwa dreißig Meter entfernten Arena entgegen. Aufgrund dieser Konstruktion gab es unter den Sitzen einen großen, dreieckigen Raum, zu dem das Publikum keinen Zutritt hatte. Die riesigen Stahltüren in der Rückwand blieben stets geschlossen. Kurz vor dem Rodeo suchte ich Dr. Leach auf und machte ihm 71
einen Vorschlag. Doc Leach, ein kleiner Mann mit Brille und einem nicht ganz einfachen Sinn für Humor, war nicht nur unser Zahnarzt, sondern auch der Präsident jener Körperschaft, die alle paar Jahre per Wahl beauftragt wurde, sich um das Turniergelände zu kümmern und die Veranstaltungen zu organisieren. Doc Leach war auch sonst recht nützlich für uns Roberts-Brüder. Oft versprach er uns einen Dollar, wenn wir uns um seine Pferde kümmerten, und gab uns zwei, wenn er sah, dass wir den Job einwandfrei erledigt hatten. Es war schon zu einer Art Spielchen geworden, wie weit wir bei ihm in diesem Perfektionswettbewerb gehen konnten. Diesmal jedoch hatte ich eine ganz besondere Idee, die ich mit Doc Leach besprechen wollte. Ich stellte ihm in seiner Eigenschaft als Präsident des Trägervereins die Frage: »Wer macht eigentlich nach dem Rodeo unter der Tribüne sauber, Doc?« Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. »Wir haben eine Putzkolonne engagiert, aber über den Platz unter den Sitzen haben wir nicht gesprochen.« Bemüht, meiner Stimme nichts anmerken zu lassen, bot ich ihm unsere Dienste an: »Wir können das übernehmen, Larry und ich. Wir machen da unten sauber. Wir wollen dafür nur die paar Münzen und den anderen Kram, der sich da unten noch findet.« Doc Leach war sich nicht sicher. »Da werdet ihr doch ewig brauchen, bis ihr fertig seid, oder?« »Ich verspreche Ihnen, dass mein Bruder und ich alles wegräumen und zum Schluss den Boden harken werden. Kein Papier, keine Glasscherbe bleibt übrig.« Er sah mich skeptisch an und schien sich über das Angebot zu wundern. Für die paar Münzen, die da vielleicht hinuntergefallen waren, wollten die beiden Jungs so viel Arbeit auf sich nehmen? Am Ende war er jedoch einverstanden. »Meinetwegen. Tut, was ihr nicht lassen könnt. Von mir aus geht das in Ordnung.« Was Doc Leach nicht wissen durfte, war, dass es uns auch hier um das Pfand für die Coca-Cola-Flaschen ging, die durch die Zwischenräume zwischen den Sitzreihen hinunterfielen oder hinuntergeworfen wurden. Das Pfandsystem war ihm ohnehin kein Begriff, denn vor dem Zweiten Weltkrieg hatte es noch gar nicht existiert. Mit Sicherheit war Doc Leach nicht der Mann, der Coca-Cola in seiner 72
Küche stehen hatte - solch neumodisches Zeug kam ihm nicht ins Haus. Am Tag nach dem Rodeo bekamen wir zunächst einmal einen Schuß vor den Bug. Es war durchaus denkbar, dass sich unsere Hoffnungen nicht erfüllen würden. Wir hatten die Stahltüren noch nicht geöffnet und konnten daher über den Umfang unserer Beute nichts sagen. Aber ich hatte unterdessen meinen Vater gebeten, mich mit einem Vertreter der Coca-Cola Bottling Company bekannt zu machen, denn wir brauchten ja eine Menge Getränkekisten und mehrere Lastwagen zum Abtransport der Flaschen. Ich stellte mir eine große Aufräumaktion vor, bei der Larry und ich das Kommando übernahmen. Der zuständige Mann von Coca-Cola war ein Mr. Carlson. Er dämpfte unsere Erwartungen mit der Bemerkung, dass die Leute allmählich das Pfandsystem akzeptierten. Er hege große Zweifel, dass sich im Müll unter den Sitzen viele Flaschen befänden. Die meisten Zuschauer hätten für die leeren Flaschen sicher Beutel und Tüten mitgebracht, um das Pfand selber zu kassieren. Er prophezeite uns sehr harte Arbeit für sehr wenig Geld. Als mein Bruder und ich schließlich die Türen öffneten, erwartete uns ein erstaunlicher Anblick. Der gesamte Raum unter der Tribüne war knöcheltief mit Abfall übersät. Durch die Zwischenräume der Latten drangen gefilterte Sonnenstrahlen in das Dunkel und zeichneten breite Streifen aus Licht und Schatten auf den Boden. Wir wagten uns in das Papiermeer vor, suchten aufgeregt die erste Flasche und hielten sie, als wir sie gefunden hatten, in einen Lichtstrahl. Sie war nicht zerbrochen. Tatsache war, dass wir zunächst überhaupt keine zerbrochene Flasche finden konnten. Wir atmeten auf. Larry und ich brauchten zweieinhalb Monate, um den Augiasstall unter der Tribüne auszumisten! Wir mussten überwiegend nachts arbeiten, weil uns tagsüber der strenge Stundenplan, den Vater uns auferlegt hatte, keine Zeit ließ. Wir brachten eine Hilfsbeleuchtung an, um wenigstens richtig sehen zu können. Am Ende hatten wir über achtzigtausend Coca-Cola-Flaschen eingesammelt, und es bedurfte tatsächlich, genau wie ich es vorausgesehen hatte, eines Lastwagenkonvois, um sie alle abzutransportieren. Auf jede während der vier Turniertage verkaufte Eintrittskarte kam eine heile Flasche. 73
Unter dem Strich verdiente jeder von uns achthundert Dollar — was zu jener Zeit ein kleines Vermögen darstellte. Nur etwa tausend Flaschen waren beim Fall in die Tiefe zu Bruch gegangen - was für die Qualität des Glases spricht, das Coca-Cola damals verwendete, denn die hinterste Sitzreihe lag ungefähr in der Höhe eines vierten Stockwerks. Doc Leach schrieb in der Lokalzeitung einen Artikel über unsere Aktion. Heiteren Sinns bekannte er sich zu seinem Irrtum und bezeichnete uns als verwegene Jungunternehmer, die einen alten Kerl wie ihn an der Nase herumgeführt hätten. Dem Trägerverein war ein erklecklicher Profit entgangen. Leach bewunderte die Raffinesse, mit der die Roberts-Brüder vor dem Rodeo die Bedingungen ausgehandelt hätten, und stand zu seinem Wort. Ich glaube, er hat herzlich über unseren Streich gelacht. Allerdings beging er diesen Fehler nicht noch einmal. In den folgenden Jahren war die Reinigung des Raums unter der Tribüne stets ein fester Punkt der Vereinbarung mit der Putzkolonne. Wie es der Zufall wollte, wurde Mr. Carlson, der Coca-Cola-Vertreter, später ebenfalls Pferdehalter, und ich bildete einige seiner Tiere aus. Außerdem trat ich in einigen Werbefilmen für Coca-Cola auf. Wenn ich heute an dieses Ereignis denke, stellt sich rasch wieder jenes Erfolgsgefühl ein, das ich damals empfand. Schließlich waren Larry und ich gerade zehn beziehungsweise elf Jahre alt, als wir dank der Arglosigkeit von Doc Leach eine ganze Menge Geld verdienten. Wilde Pferde für das Wildpferdrennen zu finden, das beim Rodeo von Salinas eine große Rolle spielte, bereitete Doc Leach im Jahr 1947 erhebliche Schwierigkeiten. Normalerweise war das anders. Er hätte bei den betreffenden Leuten angerufen und gesagt: »Los, Jungs, ich brauche hier in Salinas bis zum ersten Juli hundertfünfzig Mustangs.« Und die hätte er auch bekommen. Nun war allerdings die Zahl der Mustangs, da während des Krieges viel Pferdefleisch verzehrt worden war, erheblich zurückgegangen. Insgesamt war der Bestand in Nordkalifornien, Nevada und im Süden Oregons um zwei Drittel geschrumpft, und Herden gab es fast nur noch in Nevada. 74
Der telefonische Rundruf von Doc Leach stieß also 1947 weitgehend auf taube Ohren. »Was für Mustangs?« fragten die Rancher. »Kommen Sie her, und sehen Sie selbst nach, ob Sie noch welche finden.« Die Salinas Rodeo Association musste also für den Wettbewerb des Jahres zusammenkratzen, was sie finden konnte — und das waren ziemlich zahme Wildpferde, wie sich herausstellen sollte. Ein kleines Häufchen von Pferden, die allesamt zu alt für den Job waren oder zumindest nicht jenen sportlich-athletischen Widerstand leisten konnten, der für alle Rodeofans einfach unerläßlich ist. Ein Jahr später, 1948, sah ich eine Chance, Doc Leach einen Dienst zu erweisen, der den Ruf des Wildpferdrennens retten sollte - und gleichzeitig das Leben von hundert oder mehr Pferden. Ich wusste, dass die Mustangs in früheren Jahren, wenn das Rodeo vorüber war und man sie nicht mehr brauchte, nach Crow's Landing gebracht wurden, wo man sie schlachtete und zu Hundefutter verarbeitete. Es kam also darauf an, ihren Wert so zu steigern, dass ... Der Erfolg unserer Aktion mit den Coca-Cola-Flaschen hatte mich mutig gemacht. Also schlug ich Doc Leach folgendes vor: »Was würden Sie davon halten, wenn mein Bruder und ich die Mustangs in Nevada organisierten?« Doc Leach' Augenbrauen wölbten sich hoch über die Brillenränder. »Wie wollt ihr denn da hinkommen? Zu Fuß?« »Nein. Wir haben auf Turnieren dort viele Freundschaften geschlossen. Ich weiß zum Beispiel, dass die Campbell Ranch uns unterstützen würde. Wir können unsere eigenen Pferde mitnehmen. Tony Vargas fährt den Laster, er hat den Führerschein, Sir. Vielleicht können wir auch den ganzen Job für Sie erledigen.« Ich sah, wie Doc Leach hin und her überlegte, und fügte hinzu: »Ich weiß, dass wir das schaffen, Larry und ich.« »Schön für euch.« »Wir würden zusammen mit ein paar Hilfskräften von der Campbell Ranch in die Hügel reiten. Ich gehe jede Wette ein, dass wir hundertfünfzig Stück zusammenbekommen.« »Stück was? Hühner oder Pferde?« »Starke, gesunde Mustangs, Sir.« Wie bereits erwähnt, hatte Doc Leach einen feinen Sinn für Humor. Was mir trotzdem nicht gefiel, war, dass er uns nicht richtig 75
ernst nahm. Bei den Coca-Cola-Flaschen hatten wir schließlich am Ende die Nase vorn gehabt. »Wenn wir die Tiere beisammen haben, lassen wir sie von Irvin Bray nach Saunas transportieren«, fuhr ich fort. »Bis zum Beginn des Rodeos würden Larry und ich uns auf dem Gelände um sie kümmern. Sie werden pünktlich auf die Minute an Ort und Stelle sein — und wir zwei, Larry und ich, sind dabei und achten darauf, dass sie auch gesund und munter sind.« Doc Leach schob seine Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen und blinzelte mehrmals. Ich sah, dass er sich mein Angebot durch den Kopf gehen ließ. Nach einer Weile fragte er: »Und was springt für euch zwei dabei heraus?« »Wir haben uns gedacht, Sir, dass wir nach dem Rodeo die Mustangs zureiten und sie später dann vielleicht auf einer Auktion versteigern könnten. Sie wären dann mehr wert als bloße Krähenköder.« »Krähenköder« war ein Euphemismus für Tiere, die ins Schlachthaus nach Crow's Landing geschickt wurden. Ich erklärte Dr. Leach, dass dieses Jahr meiner Meinung nach keine Schlachtpferde anfallen würden. »Mit Sicherheit wird eine ganze Reihe von den Pferden von meinem Bruder oder mir in den Auktionsring geritten. Da wird so mancher zu einem guten Reitpferd kommen, Sir.« Leach hatte sich noch immer nicht entschieden. »Vielleicht springt am Ende sogar ein Profit für die Rodeo Association heraus«, fuhr ich fort. »Jedenfalls mehr als der Schlachterlös.« Seit er beim Cola-Flaschen-Geschäft den kürzeren gezogen hatte, war Doc Leach ein wenig auf der Hut vor den Roberts-Brüdern. Er zerbrach sich den Kopf darüber, ob auch der neue Vorschlag Aspekte enthielt, die auf den ersten Blick nicht erkennbar waren. Als er partout nichts finden konnte, erklärte er sich einverstanden. »Okay, das klingt fair. Wir werden uns auf jeden Fall mal ansehen, was ihr zustande bringt. Schlimmer als letztes Jahr kann es kaum werden.« Wir bedankten uns und versicherten ihm, dass wir sein Vertrauen in unseren Plan nicht enttäuschen würden. Doc Leach nickte und bot uns an, Irvin Bray anzurufen und mit ihm einen Transportvertrag für die Rückfahrt abzuschließen. 76
Zum Schluss einigten wir uns darauf, dass die Nettoeinkünfte aus allen Verkäufen, die wir arrangieren konnten, je zur Hälfte zwischen der Association auf der einen und meinem Bruder und mir auf der anderen Seite aufgeteilt werden sollten. Also reisten Larry und ich, zwei Jungen im Alter von zwölf und dreizehn Jahren, nach Nevada, um einhundertfünfzig Mustangs zu fangen. Es sollte sich für mich als die große Chance meines Lebens erweisen: Ich konnte zum erstenmal Pferde in ihren natürlichen Familienverbänden und in freier Wildbahn beobachten. In den folgenden drei Jahren reiste ich regelmäßig in die Bergwüste jenseits der Sierra Nevada und verbrachte dort jeweils mehrere Wochen in unmittelbarer Nähe der wilden Mustangherden. Die Gegend nördlich von Battle Mountain wird Federal Land genannt, weil sie dem staatlichen Bureau of Land Management (BLM) gehört. Es ist ein weites, menschenleeres Gebiet. Die Erfahrungen aus meinen Aufenthalten dort bildeten die Grundlage für das Erlernen einer neuen Sprache, einer stillen Sprache, die ich später »Equus« nannte. Ich lernte die Grundbegriffe, die es mir ermöglichten, die Prinzipien meines Lebenswerks genau und überzeugend zu definieren. Im Juni 1948 war es dann soweit: Dick Gillott, Tony Vargas, mein Bruder und ich verfrachteten unsere Pferde und unsere Ausrüstung in den Lastwagen und fuhren los. Auf kurvenreicher Strecke ging es zunächst durch die Vorgebirge und dann hinauf in die Sierra Nevada, auf Straßen, die einst unsere Vorfahren in die strenge, harte Landschaft geschnitten hatten. Jenseits von Battle Mountain lag die Bergwüste - und unser Ziel, die Campbell Ranch. Die Luft war dünner — das war das erste, was mir auffiel, als ich die Tür des Lasters öffnete. Ich kletterte aus der Kabine und wusste bereits, dass diese Landschaft völlig anders war als alles, was ich bis dahin gesehen und erlebt hatte. Der Horizont lehnte sich rundum gegen einen Himmel, der hier so weit und umfassend war, dass er all meine Vorstellungen übertraf. Ich kam mir vor wie auf einem anderen Planeten. Am frühen Morgen war der Boden seidig und kühl, wenn man ihn berührte, und mittags versengte er einem die Haut. Es war eine mit hartem Gras und Gebüsch bewachsene Mondlandschaft, durchzogen mit tiefen, von verkrüppelten Bäumen über77
wucherten Schluchten oder kleinen Canyons, den sogenannten barrancas. Die Bergwüste ... Irgendwo in dieser riesigen Naturwildnis befanden sich die Pferde, die wir suchten. Auf der Campbell Ranch waren mehrere indianische Hilfskräfte beschäftigt, die den Auftrag erhielten, uns zur Hand zu gehen. Ich rechnete eigentlich damit, dass sie uns den gleichen Trick empfehlen würden, den mir vier Jahre zuvor mein Onkel Ray gezeigt hatte. Seine Vorfahren vom Volk der Cherokee hatten, wie erwähnt, die Mustangs in die entgegengesetzte Richtung gedrängt, bevor sie sie schließlich in die Falle lockten. Die Pferde neigten dazu, auf die Abdrängung mit Gegendruck zu reagieren. Doch meine Vermutung erwies sich als falsch. Die Indianer erklärten uns ihre eigene Methode: Ungefähr fünfundachtzig Kilometer von der Ranch entfernt hatten sie einen etwa vierhundert Meter langen Korral errichtet. Dieser sollte am Ausgang einer Barranca liegen, die oft von den Mustangs aufgesucht wurde. Von oben sah das aus wie ein Schlüsselloch: zwei Seiten umschlossen einen schmalen Zwischenraum, hinter dem sich eine kreisförmige Erweiterung befand. Die Pfosten des Korrals und die Umzäunung selbst wurden so gut mit Gestrüpp getarnt, dass sie praktisch unsichtbar waren. Nach einem zweitägigen Ritt erreichten wir die behelfsmäßige Konstruktion. Die Indianer führten uns um sie herum und erklärten uns, wie die Mustangs nun in den keilförmigen Eingang der Schlucht, durch sie hindurch und schließlich in die kreisförmige Umfriedung getrieben werden sollten. Dort würden sie innehalten und erkennen, dass sie umkehren mussten. In diesem Augenblick würden dann Reiter aus den Kulissen treten und das Tor an der schmälsten Stelle des »Schlüssellochs« schließen. Aber wo waren die Pferde? Bei oberflächlicher Betrachtung des Geländes waren sie nicht zu sehen — obwohl sich vor unseren Augen ein großer Teil der Erdoberfläche auszubreiten schien, eine mit Rissen und Spalten durchzogene Hochebene im Sonnenglast. Die Indianer deuteten hierhin und dorthin - die Aufenthaltsorte wilder Pferdeherden lassen sich nicht so ohne weiteres vorhersagen. Am Ende waren sie ganz froh, Larry und mich allein mit der Suche beginnen zu lassen; sie hätten zu tun, sagten sie. Wenn wir dicht 78
genug an den Pferden dran waren, wollten sie aber wiederkommen und uns auf der letzten Etappe helfen. Mir standen für unser Unternehmen zwei Reit- und zwei Packpferde zur Verfügung. Mein Hauptpferd war natürlich Brownie, das zweite Reitpferd war Sergeant, die Packpferde hießen Burgundy und Oriel. Das Gelände war ziemlich schwierig, und vor allem in den Barrancas war das Reiten alles andere als ungefährlich. Über große Strekken musste ich Brownie am Zügel führen, denn er bedeutete mir zu viel, als dass ich bereit gewesen wäre, ihn gewichtsmäßig zu überlasten oder ihm anderweitig zuviel zuzumuten. Nach gründlicher Vorbereitung schnallten Larry und ich unseren Packpferden die Vorräte auf und waren abmarschbereit. Ich spürte Vorfreude auf eines der größten Abenteuer meines Lebens. Als Brownie seine ersten Schritte in dieses zerklüftete, durstige Land tat, überfiel mich eine merkwürdige Vorahnung. Wir betraten jetzt das Land seiner Herkunft: Seine Mutter war ein Mustang gewesen, und ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass mir etwas Wichtiges gezeigt werden sollte. Brownie war ein ruhiges, gutmütiges Pferd - wenn man einmal von seinem gestörten Verhältnis zu Papier absah -, doch die Zielstrebigkeit, mit der er mich in das Land trug, in dem seine Wurzeln lagen, deutete daraufhin, dass er etwas wusste, was mir nicht bekannt war und was ich bald kennenlernen sollte. Im Morgengrauen brachen Larry und ich von unserem Lager auf. Wir traten schnell die Überreste unseres Feuers aus und schoben mit den Stiefeln lose Erde darüber. Der Eifer, mit dem wir dies taten, machte uns Spaß, wenn vielleicht auch nur, weil uns dabei in der kühlen, dünnen Luft ein wenig wärmer wurde. Wir trugen die gleiche Kleidung wie am Tag zuvor. Als wir die Pferde bestiegen und unsere Apfelsinen schälten — Mutter bestand darauf, dass wir täglich Orangen zu uns nahmen -, ging wie eine goldene Scheibe die Sonne auf. Anfangs wäßrig-verschwommen, brannte sie im weiteren Verlauf des Vormittags mit immer stärkerer Kraft auf uns herab. Dass nicht alles so lief, wie wir uns das vorgestellt hatten, wurde mir in dem Moment klar, in dem wir die erste Herde erspähten. Sie umfaßte ungefähr fünfzig Tiere. Brownie war der erste, der ihre Witterung aufnahm. Wir durchquerten gerade eine Barranca, deren Böschungen mit ungewöhnlich großen Steinen übersät waren. Verkrüppelte Bäume nutzten die 79
geschützte Lage und versuchten dem Boden ein wenig Wasser abzuringen. Auch wenn man sich beim Abstieg und auf dem Grund der Canyons an die von Sturzbächen ausgeschwemmten Flutrinnen halten konnte, blieb das Reiten gefährlich. Brownie verlagerte sein Gewicht auf die Hinterhand, um die Belastung beim Bergabgehen ein wenig abzumildern. Als er plötzlich stehenblieb und sich auf etwas konzentrierte, das ich weder hören noch sehen konnte, verrieten mir seine Passivität und der Umstand, dass er offensichtlich in die Richtung strebte, in die seine Ohren deuteten, dass er eine Herde Geschwister gewittert hatte — Mustangs aus Nevadas Norden. Als wir die Wildpferde schließlich einholten - sie hatten unsere Gegenwart längst bemerkt und entfernten sich bereits -, offenbarte sich plötzlich ein schmerzlicher Gegensatz zwischen Larrys und meinen Absichten. Larry wollte so weitermachen wie bisher und die Pferde in Richtung Ranch treiben, und dafür gab es durchaus plausible Gründe. Da uns ein Rückweg von fast neunzig Kilometern bevorstand, mussten wir uns beeilen, wenn wir unseren Terminplan einhalten wollten. Doch anders als mein Bruder wollte ich erst einmal haltmachen und mir die Pferde in Ruhe anschauen. Ich fand es faszinierend, sie im Familienverband beobachten zu können. Der Leithengst umkreiste die Herde, hob den Schweif, trat immer wieder aus der Herde heraus, stieg und wieherte, beunruhigt durch unsere Anwesenheit. Am liebsten hätte ich mich zurückgezogen und aus dem Hintergrund beobachtet, was sich beobachten ließ, ohne als Störenfried in Erscheinung zu treten. Fast wünschte ich, selbst ein Pferd zu sein, so sehr identifizierte ich mich mit den Tieren. Diese Pferde waren nicht nur Brownies Geschwister - sie waren auch meine eigenen, vielleicht ebenso wie Larry. Ich wollte sie verstehen, denn ich war mir in diesem Augenblick völlig im klaren darüber, dass ich längst noch nicht soviel wusste, wie ich mir immer einbildete. Ergebnis des unausgesprochenen Interessenkonflikts zwischen Larry und mir war ein unausgesprochener Kompromiß: Larry scheuchte mich voran, während ich ihn zu bremsen versuchte. Keiner von uns setzte sich durch. Wir waren ja noch Kinder, und mein plötzlicher Wunsch nach größerer Behutsamkeit und einer Änderung 80
unserer Pläne blieb weitgehend unerwähnt. Wir taten also das, was wir uns vorgenommen hatten. Die Herde hatte sich inzwischen wieder etwas weiter entfernt, so dass gut anderthalb Kilometer zwischen uns lagen, und ich bemerkte nur, was mir bereits bekannt war: Das schrille Wiehern beunruhigter Stuten war Ausdruck ihres Unmuts. Es klingt anders als das normale Wiehern eines Pferdes, das die Aufmerksamkeit seiner Artgenossen zu erregen sucht. Wer schon einmal beim Füttern der Pferde im Stall dabei war, kennt auch das bezeichnende Wiehern, mit dem ein Pferd zur Fütterungszeit seinen Betreuer ruft. Wir setzten also der Herde nach und trieben sie dadurch voran. Wir hörten, wie die Fohlen wieherten, um auf sich aufmerksam zu machen und die anderen Tiere zu identifizieren; das typische Verhalten von Jungtieren aller Art. Jeder, der mit Pferden zu tun hat, kennt diese Signale. Nach vorne gerichtete Ohren verraten Interesse an Dingen, die sich irgendwo vor dem Pferd abspielen. Nach vorne gerichtete Ohren bei hoch erhobenem Kopf bedeuten das gleiche, nur dass das Objekt weiter entfernt ist. Nach vorne gerichtete Ohren mit gesenktem Kopf deuten darauf hin, dass sich der Gegenstand des Interesses unmittelbar vor dem Tier in Bodennähe befindet. »Gespaltene« Ohren bei normaler Kopfhaltung, wobei das eine Ohr nach vorne, das andere nach hinten weist, zeigen, dass sich das Interesse des Pferdes auf den vor ihm liegenden Bereich konzentriert, dabei aber auch auf den Rückraum nicht vernachlässigt. Die Ohren verrieten uns also jeweils, was gerade die Aufmerksamkeit der Herde erregte. Waren die Ohren entspannt und »hingen« und hatten die Pferde womöglich ein Hinterbein entlastet, konnten Larry und ich davon ausgehen, dass sie uns nicht bemerkten; in diesem Moment waren sie nicht um ihre Sicherheit besorgt. Legt ein Pferd seine Ohren an, so ist es wütend. Einmal beobachteten wir einen Hengst in dieser Haltung. Er brachte seine Hinterbeine in eine Position, die es ihm ermöglichte, gegen ein anderes Tier oder gegen einen Menschen vorzugehen. Wir erkannten, dass er wütend, aggressiv und gefährlich war. Ein- oder zweimal sahen wir auch, wie der Hengst die Ohren zurücklegte und seine Nüstern, so weit er konnte, gerade nach vorn streckte. Er hatte seinen Kopf bis knapp unter die Widerristhöhe gesenkt, so dass Hals und Kopf von der Schulter an wie ein Pfeil aus81
sahen, dessen Spitze von den Nüstern gebildet wurde. Der Blick des Hengstes war stählern, und er bewegte sich vorwärts, als wolle er sich an etwas heranpirschen. Unsere Beobachtung verriet uns, dass er ein sehr ausgeprägtes Hengstverhalten besaß. Diesen Bewegungsablauf zeigen ausschließlich ausgewachsene Hengste, und zwar nur solche, die das Potential zur Führung ihres Familienverbands entwickelt haben. Als Larry und ich diese erste Gruppe Mustangs umkreisten, von den anderen trennten und sie dazu brachten, in der Gegenrichtung — und damit auf die Falle in der Barranca zu - weiterzulaufen, erkannte ich, dass das Blickfeld eines Pferdes nahezu dreihundertsechzig Grad beträgt. Lediglich einen kleinen Ausschnitt direkt hinter sich und einen noch kleineren unmittelbar vor sich kann es nicht überblicken. Als wir hinter der Herde her ritten und sahen, wie der Leithengst während unserer Bemühungen, die Pferde in die gewünschte Richtung zu drängen, seine Defensivtaktik beibehielt, bekamen wir einen guten Eindruck von dem enormen Blickfeld, über das die Tiere verfügten, wo immer sie sich aufhielten. Bald konnten wir uns davon überzeugen, dass der Hengst, wenn er in seiner Rolle als Beschützer die Stuten zusammentrieb und dabei mit dem Schweif schlug, nicht zufrieden war. Es war etwas anderes, als wenn er lästige Insekten vertreiben wollte. Er war unglücklich. Diese Reaktion war uns bereits bekannt: Wenn man als Trainer sein Pferd mit Sporen oder Peitsche zu stark unter Druck setzt, kann das Schweifschlagen zur Gewohnheit werden. Bei Turnieren im Westen der USA kann man wichtige Punkte verlieren, wenn das Pferd während der Prüfung mit dem Schweif schlägt. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis, die mir bei diesem ersten Ausflug nach Nevada bestätigt und damit unauslöschlich meinem Bewußtsein eingeprägt wurde, war die, dass es zwei verschiedene Typen von Lebewesen gibt: das Tier mit Kampfinstinkt, also das »Kampftier«, und das Tier mit Fluchtinstinkt, das »Fluchttier«. Man kann nicht oft genug betonen, dass Pferde zu den Fluchttieren gehören. Ich wusste das wohl schon vorher, doch erst jetzt, angesichts der Distanz, die Larry und mich fast ständig von den Pferden trennte, begriff ich, wie es wirklich ist. Es klingt so selbstverständlich, doch man muß sich immer wieder daran erinnern: Ein Pferd wird jede sich bietende Gelegenheit nut82
zen, um einem mitzuteilen »Ich möchte nicht in deiner Nähe sein. Ich gehe jetzt. Ich will weg. Wenn ich hier bleibe, droht Gefahr; ich spüre es. Ich bin auf der Flucht!« Das Fluchttier hat lediglich zwei Wünsche: sich fortzupflanzen und zu überleben. Furcht ist das Werkzeug, welches ihm das Überleben ermöglicht. Dies muß man stets berücksichtigen, wenn man mit einem Pferd zu tun hat, sonst kommt es unweigerlich zu Mißverständnissen. Der Mensch dagegen ist ein Kampftier. Seine Domäne ist die Jagd und die Beherrschung anderer Lebewesen, sei es, um sie zu verzehren, sei es, um sie sich anderweitig dienstbar zu machen. Während das Pferd im Spektrum der Fluchttiere eine exponierte Stellung einnimmt, besetzt der Mensch im entgegengesetzten Spektrum der Kampftiere eine vergleichbare Position. Wenn der Mensch also das Vertrauen eines Pferdes gewinnen und seine Kooperationsbereitschaft wecken will, muß er dem Tier - und das Tier ihm - auf halbem Wege entgegenkommen. Die Verantwortung für die Überwindung dieser Hürde liegt allerdings ausschließlich beim Menschen, und er wird nur dann Erfolg haben, wenn er sich das Vertrauen des Pferdes verdient und niemals dessen Eigenschaft als Fluchttier mißbraucht. Wenn ich aus jener Reise nach Nevada eine wichtige Lehre gezogen habe, dann die, dass mein Bestreben, das Verhalten der Wildpferde zu verstehen, erheblich mehr Zeit benötigte, als ursprünglich gedacht. Der erste Schritt war getan: Ich wusste, was ich wollte. Das Ärgerliche war nur, dass ich es unter den gegebenen Umständen nicht erreichen konnte. Statt dessen trieben wir die Pferde gruppenweise in das Gehege in der Barranca, ließen den gemieteten Laster kommen und sie über die holprigen Fahrwege abtransportieren. Weder wurden geeignete Tiere ausgewählt, noch wurden sie nach Alter oder Geschlecht getrennt. Wir verluden Stuten mit Fohlen bei Fuß und ältere Tiere zusammen mit jüngeren Hengstfohlen, die für unsere Zwecke besser geeignet waren. Kurzum, es fehlte uns an Erfahrung. Doch immerhin: Ich wusste, was ich beim nächsten Mal anders machen wollte. Mit einem Lastwagenkonvoi, der einhundertfünfzig unruhige, 83
ausschlagende Mustangs mit sich führte, kehrten Dick, Tony, Larry und ich zum Competition Ground in Salinas zurück. Wir ließen die Rückwände der Anhänger herunter, und schon fegten die Pferde über die Rampe in ihr neues Zuhause - einen eingezäunten Korral, der von unbekannten Scheunen, Ställen und anderen Gebäuden sowie einer Arena umgeben war, in der sie in einem knappen Monat am Wild Horse Race teilnehmen sollten. Sie schnaubten und rannten an der Umzäunung entlang, völlig verwirrt durch ihre neuen Lebensumstände. Welch ein Unterschied zu Nevada! Ich stürmte sofort ins Haus und berichtete meinen Eltern stolz von unserem Erfolg. Vor allem aber wollte ich ihnen sagen, was ich mir für das nächste Jahr vorgenommen hatte. »Weißt du, Ma, nächstes Jahr nehme ich mir mehr Zeit. Dann kann ich sie ganz natürlich erleben. Sie werden gar nicht merken, dass ich in der Nähe bin.« Meine Mutter hatte Verständnis für mich und hörte mir aufmerksam zu. »Was wirst du denn dabei für Entdeckungen machen?« »Das weiß ich noch nicht. Aber irgendwas werde ich bestimmt herausfinden. Wie sie sich untereinander verständigen, zum Beispiel. In der Familie. Das hoffe ich wenigstens.« »Na, ich hoffe, es wird dir gelingen.« Mein Vater war alles andere als begeistert. »Du wirst herausfinden, dass die Nächte dort kalt und die Tage glutheiß sind, und das war's dann auch schon. Ja, und du wirst dahinterkommen, dass diese Mustangs mit dir und deinen Flausen im Kopf herzlich wenig zu tun haben wollen.« Nach seiner Überzeugung verstanden Pferde nur eines, und das war Furcht. Wer ihnen nicht brutal zeigte, wer der Herr war, dem würden sie übel mitspielen. Und eines stand für ihn fest: Wir - und damit meinte er die Menschheit allgemein - würden diese einhundertfünfzig Mustangs brutal rannehmen müssen. Schließlich waren sie für das Salinas Wild Horse Race vorgesehen. Ich weiß nicht, wie viele Zuschauer zu diesem Teil des Rodeos kamen, doch gehörte das Rennen zu den beliebtesten Attraktionen der Veranstaltung, weshalb die Haupttribüne so ziemlich randvoll war mit Leuten, die jederzeit bereit waren, vor Begeisterung zu schreien, zu johlen und mit den Füßen zu stampfen. Larry und ich befanden uns 84
mitten in der Menge, die sich am Zaun drängte. Jetzt sollten wir bald erfahren, wie es unseren Pferden ergehen würde. In der Mitte der Arena warteten in bestimmten Abständen voneinander mehrere Teams zu je drei Mann, allesamt im klassischen Cowboyoutfit. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ohne Blessuren davonkommen würden, war bei ihnen genauso gering wie bei den Pferden. Man sah ihnen ihre Nervosität an: Sie konnten einfach nicht stillstehen. Aufgeregt warteten sie auf das Wildpferd, das ihnen zugeteilt wurde. Jede Mannschaft hatte einen Westernsattel griffbereit in der Nähe liegen. Kaum waren die Herren des Organisationskomitees in die Arena eingeritten - jeder zog am Ende eines ans Sattelhorn gebundenen Führstricks einen wilden Mustang buchstäblich hinter sich her -, begannen die Zuschauer zu jubeln und zu schreien. Den Mustangs folgten weitere Reiter, die sie zusätzlich von hinten antrieben. Unsere Mustangs buckelten, rannten, duckten sich und zerrten an ihren Lassos. Die Menge kreischte und tobte. Der Anblick der wilden Pferde, die in die Arena geschleppt wurden, versetzte sie in Ekstase. Die Männer vom Komitee übergaben nun jeweils einen Führstrick dem ersten Mann im Team, dem anchor (Anker). Er ist das jeweils größte und schwerste Mitglied der dreiköpfigen Mannschaft. Die Anchors stemmten die Hacken in den Boden und versuchten, die rund acht Zentner schweren wilden Tiere so gut wie möglich an Ort und Stelle zu halten. Der zweite Mann im Team, der mugger (Räuber), hat wahrscheinlich den gefährlichsten Job. Handbreite um Handbreite hangelten sich die Muggers am Führstrick voran, mal nach links, mal nach rechts gewandt, je nachdem, nach welcher Seite der betreffende Mustang gerade zerrte oder ausbrach. So schnell sie konnten, mussten sie die Pferde um den Hals packen, sie praktisch in den Schwitzkasten nehmen, und in die Oberlippe kneifen. Der Schmerz musste so stark sein, dass die Tiere gar nicht mehr darauf achteten, ob da vielleicht jemand war, der ihnen einen Sattel aufschnallen wollte. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als der Kampf begann. Einige Männer wurden vom Seil geschleudert, ehe sie überhaupt die Pferde erreichten; andere hatten mehr Glück und versuchten, die Tiere niederzuringen wie bei einer Rauferei im Saloon. 85
Als nächstes war der dritte Mann im Team gefordert - der rider (Reiter). Mit dem Sattel auf den Armen flitzte er heran und versuchte, ihn dem Pferd überzuwerfen und die Gurte festzuschnallen. Man kann sich den Lärm und das Tohuwabohu vorstellen. Meine Nerven waren allein vom Zusehen bis zum Zerreißen gespannt. Einige Männer waren bereits verletzt, humpelten aus der Arena und wurden sofort durch andere ersetzt. Ein Mann wurde bewußtlos unter den Hufen eines Pferdes hervorgezogen und musste vom Platz getragen werden. Inzwischen war es einigen Reitern gelungen, die Sattelgurte festzuzurren. Sie sprangen auf die Pferde und versuchten, sich im Sattel zu halten, bis ihnen das Seil zugereicht wurde, ihr einziges Hilfsmittel zur Lenkung des Pferdes. Es war der reinste Hexenkessel. Überall waren scheuende oder durchgehende Pferde, manche mit Reitern, manche ohne. Die Reiter, denen es gelungen war aufzusitzen, versuchten unter Einsatz sämtlicher Schikanen, einmal um den Halbmeilenkurs zu galoppieren. Sie brüllten ihre Pferde an, gaben ihnen die Sporen und rissen am Seil, um sie in die richtige Richtung zu zwingen. Ich war mit Leib und Seele dabei - nicht anders als andere Dreizehnjährige, die die Rodeokultur gleichsam mit der Muttermilch in sich aufgesogen haben. Doch in meine Begeisterung mischte sich tiefe Betroffenheit über die Brutalität und Grausamkeit der Veranstaltung. Es gab ein paar furchtbare Stürze, bei denen ich jeweils mitlitt, als wäre ich selbst der Betroffene. Ein Pferd brach sich - wie ich erst im nachhinein erfuhr - den Kiefer. Und jedesmal, wenn sich ein Pferd am Boden wand, schrie hinter mir eine aufgeputschte Stimme: »Krähenköder! Krähenköder!« Ich wusste natürlich, was das bedeutete: Die verletzten Tiere endeten samt und sonders in der Konservenfabrik in Crow's Landing. Als einige Reiter es tatsächlich schafften, sich im Sattel zu halten, und auf den Rücken ihrer Mustangs über die Rennbahn fegten, verdoppelte sich das frenetische Geschrei und Gejohle der Zuschauer. Die Köpfe geduckt, die Ohren flach zurückgelegt, rannten die Pferde, als ginge es um ihr Leben. Nach einmaliger Umrundung des Halbmeilenkurses streckte der Sieger die Hand in die Luft und blieb noch so lange im Sattel, bis sich das Pferd so weit beruhigt hatte, dass er abspringen konnte. Stehend nahm er die Huldigungen des Publi86
kums entgegen, und seine Miene strahlte vor Begeisterung und Siegestrunkenheit. Bis heute fordert das Wild Horse Race Jahr für Jahr Todesopfer unter den beteiligten Pferden. Ich bin der Meinung, dass es abgeschafft werden sollte. Es waren also weniger als einhundertfünfzig Mustangs, die uns nach dem Ende der Veranstaltung zur Verfügung standen. Wir brachten sie auf die Koppeln, wo sie sich nach der traumatischen Erfahrung erholen konnten und zweifellos heilfroh darüber waren. Die Erholungsphase war allerdings nur von kurzer Dauer. Schon im Oktober sollten sie versteigert werden. Mir und meinem Bruder oblag es, im August und September, also innerhalb von nur sechzig Tagen, so viele wie möglich einzureiten. Für alle, bei denen uns das nicht gelang, hieß es: Endstation Crow's Landing, egal, ob sie verletzt waren oder nicht. Die wirtschaftliche Logik unseres Abkommens mit Doc Leach bestand darin, dass wir versuchten, die lebenden Pferde wertvoller zu machen als die toten. Mit meinem Bruder vereinbarte ich, dass ich mich um ungefähr zwei Drittel der Tiere kümmern würde und er um den Rest. Meine Hauptsorge bestand darin, meine neuen Ideen vor meinem Vater geheimzuhalten. Ich wollte mit den Kommunikationstechniken, die mich so fesselten, weiterexperimentieren und eine Methode entwickeln, die mehr auf den Respekt des Pferdes vor den Menschen und auf seine Kooperationsbereitschaft baute als auf seine rigorose Unterdrückung einschließlich der damit verbundenen grausamen Strafen. Nicht nur wegen des Termindrucks, unter dem wir standen, wollte ich mich auf meine Methode konzentrieren. Tief im Inneren spürte ich, dass ich da auf etwas Neues gestoßen war, das die Einstellung der Menschen zu den Pferden verändern konnte. Es gelang mir tatsächlich, meine Experimente mit der neuen Methode zu verheimlichen, weil das Gelände, auf dem ich mit den Pferden arbeitete, auf zwei Seiten von Stallgebäuden abgegrenzt und daher für meinen Vater nicht einsehbar war. Zu einer wirklich entscheidenden Verbesserung meiner Technik sollte es zwar erst im folgenden Jahr, nach meiner zweiten NevadaExpedition, kommen. Doch schon jetzt hielt ich mein Verfahren für 87
etwas grundlegend anderes als das herkömmliche »Brechen« der Pferde*, ein Wort, das einen gewalttätigen, herrschsüchtigen Beigeschmack hat und eine Schädigung des betroffenen Tiers mit einschließt. Ich nannte meine Methode von nun an das »Starten« eines Pferdes. Mein Ziel war der üblichen Aussackmethode diametral entgegengesetzt, die nur dazu diente, das Pferd in Angst und Schrecken zu versetzen. Ich wollte genau das Gegenteil erreichen, nämlich eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen. Beim Aussacken wurden die Pferde mit Stricken an Kopf und Beinen festgebunden. Damit wollte ich nichts zu tun haben. Ein entscheidender Augenblick für mich war, als ich feststellte, dass ich ein Pferd longieren konnte, ohne eine Leine an seinem Kopf festzumachen. Das Aussacken bedeutete körperliche Züchtigung; also kamen Peitschen bei mir nicht in Sichtweite, und ich würde nie die Hand oder einen Fuß gegen ein Pferd erheben. Kurzum: Anstatt den jungen Pferden Befehle zu erteilen - »Ihr müßt!« -, wollte ich ihnen die Frage stellen: »Wollt ihr?« Wohin mich diese Gedanken in bezug auf meine »Starttechniken« führten, möchte ich an dieser Stelle nicht näher ausführen, weil ich in Kürze ohnehin noch genauer darauf eingehen werde. Es geschah nach einer für mich sehr verblüffenden, neuen Entwicklung, von der ich sofort, als ich sie erkannte, wusste, dass sie mein Leben - und hoffentlich auch das vieler Pferde - verändern würde. Fürs erste genügt folgendes: Ich wusste, dass man Pferde zureiten konnte, indem man ihr Vertrauen und ihre Kooperationsbereitschaft gewann. Daran hatte ich von Anfang an nicht die geringsten Zweifel. Meine Technik war noch zufallsbestimmt und unausgereift, aber ich schaffte es trotzdem. Nach dem »Start« wählte ich vier oder fünf meiner besten Reitschüler aus, damit sie die Pferde ritten. Auf diese Weise gelang es mir, etwa achtzig meiner hundert Mustangs auf ein gutes Niveau zu bringen. Die Schüler waren mit Eifer dabei, und gemeinsam lernten wir * Der Autor bezieht sich hier auf den englischen Begriff to break a horse oder to break in a horse, das im Deutschen mit »Zureiten« nur unzureichend wiedergegeben wird. (Anm. d. Übers.)
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sehr viel über jedes einzelne Pferd. Am Ende hatte ich das Gefühl, eine echte Leistung vollbracht zu haben. Am Tag der Auktion ritten wir unsere einhundertzehn Pferde durch den Ring — ich achtzig, mein Bruder dreißig. Insgesamt erbrachte die Versteigerung einen Erlös von knapp sechstausend Dollar. Doc Leach war mit diesem Ergebnis sehr zufrieden. Nicht nur, dass er seine Investitionen in Höhe von fünftausend Dollar wieder hereinbekommen hatte - es war sogar ein kleiner Profit dabei herausgesprungen. Da die Beschaffung der Pferde normalerweise ein klares Verlustgeschäft war, bedeutete das Ergebnis sogar ein großes Plus für ihn. Mein Bruder und ich waren, finanziell gesehen, weniger glücklich. Unser Anteil am Profit belief sich auf zweihundertfünfzig Dollar pro Kopf für zwei Monate Arbeit. Selbst damals war das kein Lohn, mit dem man sich vor seinen Kameraden brüsten konnte. Es war nicht viel mehr als ein freundliches Dankeschön. Doc Leach war sicher der Meinung, dass er jetzt zurückbekommen hatte, was ihm ohnehin zustand. Darauf würde ich ihm gerne entgegnen, dass ich aufgrund der Erkenntnisse und Erfahrungen, die ich in jenen Monaten hatte sammeln können, am Ende doch der Gewinner war. »Larry, hättest du was dagegen, in diesem Jahr nicht mitzufahren?« Ich sah, wie er darüber nachdachte. Er war mein jüngerer Bruder, und wir unternahmen viele Dinge gemeinsam. Gut möglich, dass er nicht damit einverstanden war, wenn ich mich plötzlich selbständig machte. Dafür, dass ich mit meiner Bitte, das Einfangen der Mustangs diesmal mir zu überlassen, trotzdem Erfolg hatte, gab es einen einfachen Grund, den ich schon vorher kannte: Er hatte keine Lust dazu. Er blinzelte mir zu. »Okay.« Der nächste Mensch, mit dem ich reden musste, war Doc Leach. Als Mitglied des Ausschusses, der für den Betrieb des Rodeogeländes zuständig war, tauchte er des öfteren bei uns auf. Ich musste ihn also nur abpassen. »Doc?« »Was kann ich für dich tun, mein Sohn?« 89
»Ich habe eine Idee. Ich weiß, wie wir das Wild Horse Race in diesem Jahr verbessern können.« »Na, dann raus mit der Sprache. Letztes Mal hat es ja auch ganz ordentlich geklappt.« »Wie war's, wenn wir diesmal nicht so viele Mustangs holen würden?« »Und das soll eine Verbesserung sein?« »Also folgendes«, erklärte ich. »Mir ist aufgefallen, dass Sie beim letzten Mal gar nicht alle hundertfünfzig Pferde eingesetzt haben. Sie haben nur etwa zwei Drittel von ihnen ausgesucht.« »So ist es.« »Und der Rest stand daneben und sah zu.« »Worauf willst du hinaus?« »Ich will darauf hinaus, dass wir die besten zwei Drittel eigentlich schon oben in Nevada aussuchen könnten anstatt erst hier unten in Salinas. Wenn wir statt hundertfünfzig nur hundert Pferde transportieren müssen, sinken die Kosten.« Doc Leach blickte an mir herab. »Und wer bestimmt die Auswahl der besten hundert - du?« »Jawohl, Sir. Auf die fohlenführenden Stuten und die älteren Tiere können wir gleich verzichten.« Doc Leach lächelte und sagte: »Da ist was dran, das muß ich zugeben.« Ich schlug ihm vor, fünfhundert Pferde zusammenzutreiben und die besten hundert halbwüchsigen Hengste und Stuten (sofern letztere nicht trächtig waren) auszusuchen. Unter »halbwüchsigen Mustangs« sind Tiere im Alter von drei bis fünf Jahren zu verstehen, da Ernährung und Milieu den Reifeprozeß verlangsamen. Die Transportkosten ließen sich auf diese Weise um gut ein Drittel senken. Und dann ging es wieder nach Nevada! Ich fuhr dieses Mal ohne Larry und drei Wochen vor meinen Helfern und den Lastwagen los. Ich war vierzehn Jahre alt und hatte den Führerschein, war aber noch nicht berechtigt, einen beladenen Pferdetransporter zu fahren. Brownie, Sergeant, Oriel und ich ließen uns daher von der Transportfirma zur Campbell Ranch bringen. Drei Wochen lang würde ich dort oben bleiben — ganz allein mit meinen Pferden. Das gab mir die Zeit, langsam vorzugehen und die 90
Mustangs zu beobachten, ohne ihnen in irgendeiner Weise in die Quere zu kommen. Auf der Campbell Ranch wusste man ungefähr, in welchem Gebiet sich die Familienverbände aufhielten. Die Gruppen waren zum Teil weit verstreut, manchmal lagen fünfzehn oder mehr Kilometer zwischen ihnen. Ich beabsichtigte, jede Gruppe einzeln und sehr langsam zur Falle in der Barranca zu bringen. Unterwegs wollte ich sie beobachten. Einmal mehr war ich froh darüber, auch bei diesem einmaligen Erlebnis Brownie als Reitpferd dabei zu haben. Wir ritten über das hochgelegene Wüstengelände, und ich tätschelte seinen Hals. Oriel und Sergeant gingen hinter uns. Außerdem hatte ich einen Hund, drei Feldstecher, eine Pistole und ein Gewehr dabei. »Diesmal, Brownie, wollen wir uns ganz genau ansehen, wie es läuft, nicht wahr?« Als wir den ersten Horizont erreicht hatten, drehte ich mich im Sattel um. Dann ritten wir den jenseitigen Hang der Anhöhe hinunter, und hinter uns verschwanden die letzten Gebäude der Campbell Ranch aus der Sicht. Wir waren allein. Es war herrlich, wieder über dieses weite, offene Land mit seinen felsigen Barrancas, in denen Baumwoll- und Zitterpappeln wuchsen, reiten zu können. Ich wusste, dass ich vor allem auf Klapperschlangen achten musste. Außerdem gab es bis fast zwei Meter breite Bodenspalten im Gelände, die kaum zu erkennen und für Pferde besonders tükkisch waren. Wie im Jahr zuvor war es tagsüber heiß und nachts sehr kalt. Manchmal goß es auch eine Stunde lang in Strömen. Riesige Kumuluswolken kündigten Gewitter an. Um den ersten Familienverband der Mustangs zu finden, musste ich wissen, wo sie sich am besten ernähren konnten. Sie bevorzugten Grammagras, Trespe und Raigräser, nahmen in der Not aber auch mit Wüstensträuchern vorlieb. Als ich meine erste Gruppe entdeckte, beschloß ich, mich so eng wie möglich an die Tiere anzuschließen. Entweder musste ich es so einrichten, dass sie in mir keine Bedrohung sahen - was bedeutete, dass ich über anderthalb Kilometer Distanz halten musste -, oder ich musste ohne ihr Wissen näher an sie herankommen. Als ich mich bis auf anderthalb Kilometer genähert hatte, nahmen 91
sie bereits meine Witterung auf und begannen sofort, sich abzusetzen. Für mich waren sie nicht viel mehr als kleine Punkte auf der Hochebene - und doch entfernten sie sich schon. Ich ließ Oriel, mein braunes Packpferd, zurück. Es hatte sich gezeigt, dass es ziemlich ungeschickt war und oft über Steine stolperte; es hallte dann immer über weite Strecken, was ihm ziemlich gleichgültig zu sein schien. Seine Ohren waren stets auf Halbmast, also weder nach vorne noch nach hinten gerichtet. Entweder war Oriel ein tiefschürfender Denker oder ein bißchen dumm - vielleicht auch beides. Ich fesselte ihm locker die Vorderbeine und ließ, damit er Gesellschaft hatte, auch Sergeant zurück. Dann setzte ich meinen Weg zu Fuß fort. Brownie führte ich am Zügel mit. Die Wildpferde sahen uns näher kommen. Dass wir uns bis auf vierhundert Meter nähern konnten, war schon eine Leistung. Wir nutzten die Barrancas als Deckung, blieben im Windschatten und versuchten, keinen unnötigen Lärm zu machen. Da ich die Zeit hatte, langsam vorzugehen und über das, was wir erlebten, nachzudenken, fiel mir auf, wie übersensibel die Herde auf unsere Gegenwart reagierte. Brownie brauchte bloß an einen Stein zu stoßen - schon zuckten die Ohren der Mustangs in unsere Richtung. Näher als vierhundert Meter an die Herde heranzukommen war unmöglich. Es gab keine Deckung mehr, und obwohl der Wind aus ihrer Richtung kam, gestatteten uns die Pferde keine weitere Annäherung. Eine Zeitlang war das ganz in Ordnung. Brownie und ich hielten neben einer Baumwollpappel. Ich zählte die Mustangs und versuchte, mir individuelle Merkmale einzuprägen, um die einzelnen Tiere unterscheiden zu können. Meine Ferngläser waren in dieser Situation unglaublich wichtig. Wenn ich heute sehe, wie junge Leute sich ihre Virtual-Reality-Helme aufsetzen und sich von der anderen Welt, die sie betreten, verzaubern lassen, erinnert mich das an jenes Gefühl, das sich meiner bemächtigte, als ich die Mustangherde mit dem Fernglas beobachtete. Auf einmal waren sie fast in Reichweite. Ich konnte jede Bewegung bis in die Einzelheiten verfolgen. Ich war mitten unter ihnen. Besonders eine graubraune Stute, die einen dunklen Streifen auf dem Rücken und Zebrastreifen über den Knien hatte, fiel mir auf. Sie 92
war älter als die meisten anderen und hatte einen schwereren Bauch, der auf zahlreiche Schwangerschaften hindeutete. Offensichtlich gab sie in der Herde den Ton an. Sie war es, die den Befehl zum Weiterzug gab. Sie ging voran, die anderen folgten; sie blieb stehen, die anderen taten es ihr nach. Sie war, wie es schien, die klügste, und die anderen wussten es. Es handelte sich um die Leitstute. Niemand hatte mir bis dahin gesagt, dass Wildpferdherden von einer Leitstute angeführt werden, und ich vermute, dass auch heute noch viele Leute glauben, der Hengst gebe den Ton an. Doch das stimmt nicht ganz. Der Deck- oder Leithengst - manchmal auch Alpha-Hengst genannt - umkreist zwar die Herde und verteidigt sie gegen Angreifer. Seine Motivation besteht darin, alles und jeden daran zu hindern, ihm seinen Harem zu stehlen. Die täglichen Führungsaufgaben innerhalb der Gruppe lagen jedoch bei der graubraunen Stute; dies war völlig unverkennbar. Als nächstes beobachtete ich eine außergewöhnliche Folge von Ereignissen. Ein kleiner brauner Jährlingshengst - ich schätzte sein Alter auf etwa zwanzig Monate - benahm sich schlecht. Er hatte einen auffallend starken Kötenbehang um seine Fesseln und auf der Rückseite seiner Beine, und seine Mähne hing deutlich über die Halslinie herunter. Mitten in der Gruppe rempelte er ein Stutfohlen an und trat es. Das Stutfohlen wieherte auf und humpelte davon, während der Halbwüchsige den Eindruck erweckte, dass er mit sich selbst sehr zufrieden war. Er wog nur ungefähr fünf Zentner, war sich aber der Tatsache sehr bewußt, dass er ein Paar Hoden besaß. Und schon beging er die nächste Untat. Ein kleines Fohlen kam zu ihm und gab ihm mit einem schnalzenden, saugenden Laut zu verstehen, dass es ihn nicht bedrohen wolle, sondern eben nur ein junges Füllen sei, das sich bereitwillig unterordne. Doch damit hatte es sich bei dem Halbwüchsigen verrechnet; der stürzte sich regelrecht auf den jüngeren Vetter und biß ihm ein Stück Fleisch aus dem Hintern. Er war ein echter Terrorist; wenn er nicht ausschlug, biß er zu. Und unmittelbar nach der Attacke spielte er den Unschuldigen und tat so, als sei nichts geschehen. Es sah ganz so aus, als lege er es darauf an, nicht entlarvt zu werden. Bei jeder seiner Übeltaten kam ihm die graubraune Stute - die Matriarchin — ein Stückchen näher. Allmählich wurde mir klar, dass 93
sie wissen wollte, ob er so weitermachte. Obwohl sie sich nichts anmerken ließ, hatte sie ihren ursprünglichen Platz verlassen und rückte immer näher an ihn heran. Nachdem sie etwa vier solche Vorfälle beobachtet hatte, entschloß sie sich zum Handeln. Sie war inzwischen keine zwanzig Meter entfernt, doch der kleine Braune konnte es einfach nicht lassen. Er stürzte sich auf eine ausgewachsene Stute und biß sie kräftig in den Nacken. Jetzt zögerte die graubraune Stute nicht mehr. Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sie sich in eine Furie. Sie legte die Ohren zurück, rannte auf den Halbwüchsigen zu und warf ihn um, und als der versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, stieß sie ihn gleich noch einmal zu Boden. Die anderen Tiere der Herde zeigten nicht das geringste Interesse an dieser Züchtigung. Es war, als bekämen sie nichts davon mit. Am Ende der Strafaktion vertrieb die graubraune Stute den jungen Hengst aus der Herde. Sie jagte ihn knapp dreihundert Meter weit fort und ließ ihn dort allein zurück. Was, zum Teufel, soll denn das bedeuten? fragte ich mich verblüfft. Die graubraune Stute bezog am Rand der Herde Stellung, um dafür zu sorgen, dass er der Herde tatsächlich auch fernblieb. Immer wieder sah sie ihn an, Auge in Auge, so dass der Ausgestoßene nicht wagte zurückzukehren. Der Halbwüchsige hatte furchtbare Angst davor, allein gelassen zu werden. Für ein Fluchttier bedeutet das die Todesstrafe. Wer von der Herde getrennt ist, fällt über kurz oder lang Raubtieren zum Opfer. Den Kopf dicht über dem Boden, stakste der junge Braune vor und zurück - eine unbequeme Fortbewegungsart, deren er sich gleich mehrmals befleißigte. Es wirkte auf mich wie eine Geste des Gehorsams, vergleichbar mit einer Verneigung beim Menschen. Der kleine Braune versuchte schließlich, die Herde zu umrunden, um sich ihr von der anderen Seite zu nähern. Doch die graubraune Stute hatte seinen Kreis mit vollzogen, rannte drohend auf ihn zu und vertrieb ihn erneut. Als der alte Abstand von nicht ganz dreihundert Metern wieder hergestellt war, drehte sie ab und kehrte auf ihren Wachposten am Rand der Herde zurück. Dort stellte sie sich dem jungen Braunen gegenüber und ließ ihn nicht eine Sekunde lang aus den Augen. 94
Da stand er nun. Mir fiel auf, dass Maul und Zunge, obwohl er nichts gefressen hatte, ständig kauende oder leckende Bewegungen vollführten. Ich musste daran denken, wie das Fohlen zuvor geschnappt und geschnalzt hatte. Es war eine unverkennbare Demutsgeste gewesen, als wolle es sagen: »Von mir droht dir keine Gefahr.« War das, was ich jetzt sah, die entsprechende Reaktion eines halbwüchsigen Pferdes? Sagte dieser kleine Braune seiner Matriarchin das gleiche? Inzwischen waren einige Stunden vergangen, und es wurde rasch dunkel. Wo ist der Mond? dachte ich. Ob ich noch mitbekommen werde, wie die Sache ausgeht? Ich ergriff Brownies Zügel und ritt zurück zu der Stelle, wo Sergeant und Oriel warteten. Ich hatte vor, mir einen Beobachtungsposten für die Nacht zu suchen, um zu sehen, wie der Streit zwischen der graubraunen Stute und dem halbwüchsigen Braunen endete. Als ich zurückkam, hatte Oriel gerade die Nüstern in einen Busch gesteckt. Plötzlich hob er ruckartig den Kopf. Sein ganzer Körper war angespannt vor Überraschung. Eine Wolke aus Bienen umschwärmte seinen Kopf. Oriel steckte in der Klemme. Er trat ein paar Schritte zurück, dann einige Schritte zur Seite. Er hielt seinen Kopf gesenkt und riß ihn dann jäh wieder hoch. Es half nicht. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund, nur um danach verblüfft feststellen zu müssen, dass die Bienen noch immer da waren. Das war nun wirklich unerklärlich — und Oriel wurde allmählich ratlos. Das einzige, was ihm noch einfiel, war, den Kopf immer wieder heftig zu heben und zu senken - wie ein texanischer »nickender Esel«. Dahinter stand offensichtlich die Überlegung: Wenn ich das lange genug mache, wird es den Bienen langweilig, und sie fliegen davon. Brownie, Sergeant und ich blieben auf Distanz, bis die Bienen tatsächlich fort waren. Oriel schien das Erlebnis nicht über Gebühr durcheinandergebracht zu haben. Das Leben steckte eben voller Rätsel. Überraschend schnell, als begehre sie Rast nach einem harten Arbeitstag, sank die Sonne am westlichen Himmelsbogen. Ich suchte mir einen Lagerplatz und versorgte Brownie, Sergeant und Oriel eilends mit Futter. Beim Anblick der Silhouetten von Brownie und Oriel, die dicht 95
hintereinander standen und zweifellos über die Ereignisse des vergangenen Tages konferierten, geriet ich wieder ins Grübeln: Wo Brownie wohl herkam? Wer war seine Leitstute gewesen? Wie hatte er sich innerhalb des Familienverbands verhalten? Das Mondlicht tauchte die Landschaft in andere Farben. Da es von einem immens weiten Himmel reflektiert wurde, hatte ich den Eindruck, dass noch viel Licht vorhanden war. Ich nahm meinen Feldstecher zur Hand und fand schnell heraus, dass ich noch immer ziemlich weit sehen konnte. Was ich damals nicht wusste, war, dass meine Fähigkeit, unter nächtlichen Bedingungen recht gut sehen zu können, durch eine fast totale Farbenblindheit begünstigt wurde. Diese Sehstörung ist ziemlich selten und hat nicht viel zu tun mit dem häufigeren Verwechseln von Farben beziehungsweise dem Unvermögen, sie deutlich voneinander zu unterscheiden. Als Kind hat mir nie jemand geglaubt, dass ich alles nur in Schwarz und Weiß sah. Dass sich mein Sehvermögen stark von dem normalsichtiger Menschen unterscheidet, habe ich erst später erfahren. Professor Oliver Sacks beschreibt in seinem Buch Die Insel der Farbenblinden das Schicksal eines Malers, der nach einem Autounfall plötzlich total farbenblind geworden war: »Er konnte menschliche Gestalten auf eine Entfernung von fast einem Kilometer erkennen ... Seine Sehkraft war viel starker geworden - adlergleich.« Vor allem nachts konnte der Maler offenbar viel besser sehen als normalsichtige Menschen. Er erkannte auf einmal Nummernschilder von Autos, die vier Häuserblocks entfernt waren. Im übrigen litt der Künstler derart unter dem Verlust seiner Farbwahrnehmung, dass er zum reinen Nachtmenschen wurde. Ich drehte an den beiden Okularringen meines Feldstechers, bis die Scharfeinstellung stimmte, und fand meine Herde alsbald wieder. Ich wollte unbedingt wissen, wie die Geschichte weiterging. Was ich zu sehen bekam, überraschte mich zutiefst: Die graubraune Stute putzte den kleinen Braunen. Sie schabte ihm mit den Zähnen strichweise über Hals und Hinterhand und bemutterte ihn geradezu. Sie hatte ihn wieder in die Herde aufgenommen, blieb bei ihm und widmete sich ihm mit großer Aufmerksamkeit. Sie bearbeitete seine Schweifrübe, seine Hüften und seinen Widerrist. Nach dem Fegefeuer folgte also - der Himmel. Sie umhätschelte den Braunen geradezu. 96
1 Monty auf Boots 2 Der vierjährige Monty auf Ginger, mit dem er im Juni 1939 das Salinas Junior Stockhorse Turnier in der Altersgruppe bis sechzehn gewinnt 3 Monty mit dem Wallach Brownie im Jahr 1949 - bereit für einen Einsatz mit dem Lasso
4 Montys Vater in Polizeiuniform (rechts) mit Joe Louis, Weltmeister im Schwergewicht (Mitte). 5 Monty im Dreß seiner Football-Mannschaft.
6 Der jüngere Bruder Larry (links) und Montys Vater (rechts).
7 Ray Hackworth auf Shiny Pants.
8 Bill Dorrance.
9-10 Zureiten eines Pferdes nach der AussackMethode von Montys Vater: Die Willenskraft eines Tiers wird gebrochen, indem das Pferd, mit Seilen gefesselt, zur Unterwerfung gezwungen wird. 11-13 In einem Longierring führt Monty das JOINUP mit einem jungen, untrainierten Pferd vor: Eine leichte Longe wird nach dem Tier geworfen, das daraufhin instinktiv die Flucht ergreift. Wenn
es merkt, dass keine unmittelbare Gefahr droht, legt sich die Panik wieder. Vermeiden Sie direkten Blickkontakt mit dem Pferd. Gehen Sie mehrmals zu ihm, beruhigen Sie es, und entfernen Sie sich wieder. Es bleibt dem Pferd überlassen, Ihnen zu folgen oder nicht. Reiben Sie dem Pferd gründlich die Stirn zwischen den Augen. Hat das Pferd Vertrauen zu Ihnen gefaßt, läßt es sich satteln, . Zaumzeug anlegen und reiten.
14 Mit sechzehn gewinnt Monty den Stockhorse-Meisterschaftswettbewerb im Cow Palace von San Francisco. 15 Im Jahr 1955 erringt Monty die Hackamore Championship Trophy, die ihm von seiner späteren Frau Pat überreicht wird.
16 Der erfolgreiche Monty auf My Blue Heaven. 17 Mit Fiddle D'Or gelangt Monty an die Spitze des HackamoreMeisterschaftswettbewerbs von Sacramento.
18 Am 16 Juni 1956 heiraten Monty und Pat
Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass sich die Beobachtung der Pferde vor allem nachts lohnte. Mustangs furchten Raubtierattacken hauptsachlich in der Morgen- und Abenddämmerung. Nachts sind sie eher in der Lage, ein wenig zu entspannen, und die Kommunikation untereinander ist intensiver. Sie im Mondschein zu beobachten, wurde mir bald zur Gewohnheit; zum Schlafen kam ich dann meistens zwischen 1.30 Uhr und 5.30 Uhr morgens. Ich machte mir viele Gedanken über das, was ich an diesem Tag gesehen hatte, und begann, eine neue Sprache zu lernen — »Equus«, wie ich sie inzwischen nenne. Jene ersten Wochen allein in der Bergwüste von Nevada reichten natürlich noch nicht aus, um diese stille Sprache in ihrem gesamten Umfang zu begreifen. Doch ich sollte auch in den nächsten beiden Jahren hier für das Rodeo in Salinas Mustangs zusammentreiben. Wie die Leitstute junge, halbstarke Pferde disziplinierte, war sicher die wichtigste Einzelbeobachtung, die mir damals gelang. Sie hatte es mit einer regelrechten Jugendbande zu tun, und wie sie sich dieser Aufgabe entledigte, war äußerst lehrreich zu beobachten. Dauernd war etwas anderes los. In ihrer jugendlichen Energie ließen sich die jungen Pferde zu immer neuen Streichen hinreißen und machten aufgrund ihrer Unerfahrenheit immer wieder Fehler, genauso wie der Nachwuchs anderer Lebewesen. Die Aufgabe der graubraunen Stute bestand darin, sie unter Kontrolle zu halten. Ich ließ mir in den folgenden drei Wochen keine ihrer Bewegungen entgehen. Den hellbraunen Halbstarken wusste sie zu bekehren, das stand außer Zweifel. Dennoch nahm er sich - wie ein trotziges Kind - gleich nach seiner Wiederaufnahme in die Herde die nächsten Frechheiten heraus. Er wollte die herrschende Disziplin auf die Probe stellen und verlorenen Boden gutmachen. Also fing er einen Streit mit einem Altersgenossen an oder belästigte die Stutfohlen. In allen Fallen war die graubraune Stute sofort zur Stelle und bestrafte ihn erneut. »Dein Benehmen mißfällt mir«, gab sie ihm zu verstehen. »Mach, dass du fortkommst!« Er sündigte noch einige Male, und jedesmal vertrieb sie ihn und ließ ihn erst nach längerer Zeit zurückkehren. War es dann aber soweit, so begrüßte sie ihn mit großer Zuwendung. Beim dritten Rauswurf nahm er die Verbannung praktisch als gegeben hm und entfernte sich mürrisch, aber schicksalsergeben freiwillig von der Herde. 105
Als der kleine Trotzkopf dann zurückkehrte, klebte er wie Leim an der Herde und erwies sich fortan als positive Nervensäge: Er war auf einmal über alle Maßen nett und kooperativ, lief von einem zum anderen und fragte jeden: »Soll ich dein Fell pflegen?« Wobei die Betreffenden nichts anderes im Sinn hatten, als ungestört fressen zu können. Vier Tage hatte sich die graubraune Stute primär der Erziehung des kleinen Bösewichts gewidmet - und es hatte sich ausgezahlt. Ich verfolgte aufmerksam, wie die Stute mit diesem und anderen halbwüchsigen Pferden umging, und entwickelte dadurch mit der Zeit ein Gefühl für ihre Sprache. Die sich allmählich herausschälende Erkenntnis, dass die Signale, die zwischen ihr und den jungen Pferden hin und her gingen, einer genauen Abfolge entsprachen, war sehr aufregend. Es war tatsächlich eine Sprache - vorhersagbar, erkennbar und wirkungsvoll. Die wichtigste Eigenschaft war jedoch, dass es eine stumme Sprache war. Es lohnt sich, diesen Aspekt etwas genauer zu betrachten, weil man eine Sprache, die sich anderer Medien bedient als die unsere, nur allzuleicht unterschätzt. Erst viel später sollte ich erfahren, dass die häufigste Kommunikationsform auf diesem Planeten stumm ist: Im ewigen Dunkel der Tiefsee verständigen sich die Tiere mit Hilfe der Bioluminiszenz, eines komplizierten Systems aus Lichtsignalen, mit denen sie Geschlechtspartner anziehen, Räuber abwehren, Beute anlocken und alle anderen überlebenswichtigen Botschaften übermitteln. Körpersprache ist keineswegs auf Menschen und Pferde beschränkt; sie ist vielmehr die meistbenutzte Form der Kommunikation zwischen Landlebewesen. Von meinem etwa vierhundert Meter von der Herde entfernten Beobachtungsposten aus konnte ich feststellen, dass die graubraune Stute den Fohlen und Jährlingen ständig etwas beibrachte, ohne dass es dazu eines einzigen Lauts bedurft hätte. Das Sicherungssystem des Leithengstes, der gleichzeitig potentielle Geschlechtspartnerinnen suchte, setzte eindeutig Ruhe voraus. Die Mustangs durchlebten Phasen des Glücks und des Streits, führten und berieten einander - und all dies geschah lautlos. Ich sollte bald herausfinden, dass dabei nichts dem Zufall überlassen blieb. Jede noch so geringfügige Bewegung eines Pferdes hatte ihren Grund. Nichts war belanglos, nichts blieb unbeachtet. Auf dem Bauch liegend, ständig einen meiner drei Feldstecher vor 106
die Augen gepreßt, beobachtete ich die Pferde stundenlang und bemühte mich nach Kräften, alles zu erkennen, was das Mondlicht hergab. Und so entschlüsselte sich mir mit der Zeit das Vokabular der Tiere. Zuerst entdeckte ich zwei Schlüsselmerkmale der Sprache »Equus«: die Stellung des Körpers und die Richtung, in die er sich fortbewegt. Die Körperhaltung im Verhältnis zur Längs- und Querachse der Wirbelsäule ist die Quintessenz des Vokabulars. Sie ist das Vokabular. Die graubraune Stute nahm eine Art Kampfstellung ein, indem sie die Wirbelsäule streckte und den Kopf direkt auf den widerborstigen Braunen hin richtete, der sich in zwei- bis dreihundert Metern Entfernung herumdrückte und an der Haltung der Stute genau erkennen konnte, wann er sich wieder der Herde anschließen durfte. Sah die Stute den jungen Braunen frontal an, so war dies nicht der Fall. Wandte sie ihm dagegen einen Teil ihrer Längsachse zu, konnte er auf eine baldige Wiederaufnahme in die Herde hoffen. Vor diesem Akt der Vergebung wollte die Stute allerdings Zeichen der Reue sehen. Die entsprechenden Signale des Braunen - sein Bitten um Entschuldigung — dienten mir bei der Entwicklung meiner Dressurmethode später als Grundlage. Wenn der kleine Braune in seiner isolierten Position mit dem Maul dicht über dem Boden hin und her strich, so bedeutete dies, dass er um eine Neuverhandlung seines Falles nachsuchte. Er sagte: »Ich will jetzt gehorchen und bin bereit zuzuhören.« Wenn er ihr die Längsachse seines Körpers zeigte, so bedeutete diese Preisgabe seiner verwundbaren Flanke eine Bitte um Vergebung. Auch der Blickkontakt zwischen den beiden sprach Bände. Wenn die Stute den jungen Braunen verbannt hatte, sah sie ihm stets in die Augen, und dies manchmal unangenehm lange. Wich ihr Blick ein wenig ab, so konnte er damit rechnen, wieder in die Herde aufgenommen zu werden. Im Laufe der Zeit erkannte ich, dass die Pferde Blicke äußerst feinfühlig interpretierten. Selbst als ich jener Mustangherde längst vertraut war, konnte ich ein Pferd zur Änderung seiner Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit veranlassen, indem ich den Blick von einem Körperteil auf einen anderen richtete. Dies funktionierte sogar aus recht großer Entfernung. 107
Wenn der junge Braune in seine Verbannung trottete, blähte er die Nüstern auf und vollführte mit ihnen eine kreiselnde Bewegung, die soviel besagte wie: »Ich habe das nicht mit Absicht getan. Tut mir leid. Ich wollte das nicht, es ist einfach passiert, und außerdem war der andere schuld.« Die graubraune Stute entschied dann, ob sie ihm Glauben schenken wollte oder nicht. Ich sah, wie sie überlegte. Manchmal glaubte sie ihm, manchmal nicht. Die Leck- und Kaubewegungen des Mauls, die ich beobachtet hatte, waren ein Ausdruck der Reue. Er sagte zu der Stute: »Schau her, ich bin Pflanzenfresser. Ich bedrohe dich nicht. Ich fresse hier drüben.« Aus der Beobachtung dieser absolut regelmäßigen und vorhersehbaren Signale zwischen dem Halbwüchsigen und der Leitstute wurde mir klar, dass das Verhaltensschema innerhalb der Gruppe für den JoJo-Effekt verantwortlich war, den mir mein Onkel Ray beschrieben hatte. Wenn du das junge Pferd von dir wegdrängst, wird es instinktiv zu dir zurückkehren wollen. - Die graubraune Stute ging auf das junge Pferd zu, dann zog sie sich zurück. Ich weiß noch genau, wie es war, als ich auf diese Querverbindung zwischen der Art und Weise, wie die Stute ungebärdige Pferde disziplinierte, und der Geschichte von Onkel Ray stieß: Alle Synapsen in meinem Gehirn schienen gleichzeitig in Aktion zu treten, um mir zu sagen, dass ich gefunden hatte, was ich suchte. Und plötzlich stand der Begriff in meinem Kopf: advance and retreat — »Vorstoß und Rückzug«. Mit der Dauer der Beobachtung wuchs meine Einsicht in die Präzision dieser Sprache. Nichts geschah zufällig. Es handelte sich um exakte Botschaften, um vollständige Begriffe und Sätze, die stets das gleiche bedeuteten und immer die gleiche Wirkung zeitigten. Sie wiederholten sich immer wieder. Vielleicht, dachte ich, konnte ich dieses lautlose Kommunikationssystem, so wie ich es bei der Leitstute gesehen hatte, selbst übernehmen. Und wenn dies gelang, dann ließ sich damit vielleicht die Kluft zwischen dem »Kampftier« Mensch und dem »Fluchttier« Pferd überbrücken. Mit dem Erlernen ihrer Sprache, ihres Kommunikationssystems ließ sich auch eine starke Vertrauensbindung schaffen. 108
Es war der Schlüssel zu einer die Artgrenzen überschreitenden Kommunikation. Das Prinzip »Vorstoß und Rückzug« bot offenbar auch eine psychologische Erklärung auf die Frage, warum Pferde »Gegendruck«Tiere sind. Legt man einem Pferd einen Finger auf die Schulter oder an die Flanke und übt auf die betreffende Stelle Druck aus, so reagiert das Tier nicht nachgiebig, sondern indem es sein Gewicht dagegenstemmt. Wer dieses Phänomen versteht, hat schon die Hälfte der Strecke auf dem Weg zum erfolgreichen Pferdetrainer hinter sich. Mein »Equus«-Wortschatz sollte sich im Laufe der Jahre noch erheblich erweitern. Doch auch die ausgefeilteren Definitionen, die später bei der Entwicklung meiner Methodik eine große Rolle spielten, waren in ihren Grundzügen bereits in dem übergeordneten Prinzip »Vorstoß und Rückzug« enthalten. Tagelang zogen Brownie und ich durch die Bergwüste, und ich nahm all diese Neuigkeiten in mich auf. Gleichzeitig wuchs meine Überzeugung, dass ich meinem Pferd Abbitte leisten musste für ein schweres Leid, das wir ihm angetan hatten. Jenes widerwärtige Aussacken, welches dazu geführt hatte, dass Brownie beim Knistern von Papier jedesmal in Panik geriet, war ein schuldhaftes Versagen des Menschen - unser Versagen. Irgend jemand musste sich bei ihm entschuldigen und die Sache wieder in Ordnung bringen. Wir hatten seine Eigenschaft als Fluchttier mißbraucht, und dies, was noch schlimmer war, ohne dass die Notwendigkeit dazu bestand. Oriel und Sergeant trotteten brav hinter uns her und erfüllten ihre Pflichten als Pack- und Sattelpferde recht ordentlich. Oriel jedoch sorgte unbeabsichtigt immer wieder für Abwechslung. Er war ein gutmütiges Pferd, das allerdings sehr anfällig für kleine Unfälle war. Er geriet immer wieder in Schwierigkeiten, doch jedesmal wirkte es irgendwie komisch. Einmal - ich weiß nicht genau, wie es geschehen war, aber es konnte nur ihm passieren — rammte er sich einen sechzig Zentimeter langen Holzsplitter durch Nüstern und Gaumendach. Es sah sehr schmerzhaft aus - alles andere als komisch, wie ich zugeben muß. Aber wir hatten es hier eben mit Oriel zu tun. Er war sehr reumütig, tat sich furchtbar leid und ließ mich den großen Splitter herausziehen - ein grausiges Geschäft. Am Ende hatte er ein daumengroßes, stark blutendes Loch in der Nase. 109
Ich nahm mein rotes Halstuch ab und stopfte es in die Wunde, um die Blutung zum Stillstand zu bringen - und da stand Oriel nun mit dem Zipfel eines roten Halstuchs, der ihm aus der Nase hing, und jedesmal, wenn er Wasser trank, saugte sich das Tuch voll und tropfte an der Spitze der mitten in seinem Gesicht flatternden Fahne ab. Er bot einen kläglichen Anblick, und doch mussten wir über ihn lachen. Dann erlebte ich einen Kampf zwischen zwei rivalisierenden Hengsten mit. In jenem Jahr gab es nur wenig Wasser. Fasziniert beobachtete ich die eifrigen Bemühungen der Leitstuten, ihren Familien genügend Wasser und Nahrung zu verschaffen. An einem bestimmten Wasserloch standen die diversen Familienverbände Schlange wie Flugzeuge in der Warteschleife. Sie waren zum Abstandhalten gezwungen, weil die Hengste ein zu enges Beieinandersein nicht duldeten. Ihre Revierinstinkte gerieten in Konflikt mit dem Willen der Leitstuten, denen daran gelegen war, näher an das Wasserloch heranzukommen. Dies führte zu einer spannungsgeladenen Atmosphäre. Unter den Wartenden befand sich auch eine Gruppe von Junggesellen — junge Hengste, die ihre Familienverbände bereits verlassen hatten und nun gemeinsam herumvagabundierten. Sie rauften miteinander und übten für den Tag, an dem sie versuchen würden, sich das Anrecht auf eine eigene Herde zu erkämpfen. Und dann geschah das Unvermeidliche: Einer der Junggesellen geriet mit dem Leithengst eines anderen an der Tränke wartenden Familienverbands in Streit. Obwohl die beiden furchtbar »kreischten« und »schrien«, nahmen die Stuten keine Notiz von den Vorgängen im Umfeld ihrer Herden. Dabei ging es in diesem Kampf um alles - es würde kein Patt geben, sondern einen Sieger und einen Verlierer. Die beiden Hengste stiegen hoch, traten und bissen. Der Kampf dauerte fünf, sechs Stunden, bis tief in die Nacht hinein, und ich ließ mir nichts entgehen, obwohl mir fast die Augen zufielen. Mehrmals humpelte der Junggeselle vom Kampfplatz, so dass man den Eindruck hatte, der Leithengst habe die Auseinandersetzung gewonnen. Doch so leicht gab der Herausforderer nicht auf. Obwohl er wegen einer blutenden Bißwunde lahmte und das betroffene Bein praktisch nur noch mitschleppte, riskierte er eine neue Attacke. Nach der letzten Konfrontation stand fest, dass er den Kampf nicht 110
überleben würde. Ich wusste, dass es mit ihm zu Ende ging und sich in Kürze die Raubtiere über ihn hermachen und ein, zwei Tage von ihm ernähren würden. Überdies war unverkennbar, dass der Junggeselle genau wusste, wie es um ihn stand. Der besiegte Hengst flüchtet sich am Ende oft in eine Art Selbstmord, indem er bewußt Gebiete aufsucht, in denen sich die Raubkatzen aufhalten, und sich ihnen praktisch selbst ausliefert. In dem hier geschilderten Fall bot auch der Sieger einen traurigen Anblick. Auch er wirkte zerschlagen und lahmte ebenfalls. In den folgenden Tagen bewegte er sich wie ein Hundertjähriger. Wäre er in dieser Verfassung auf einen weiteren Herausforderer gestoßen, so hätte dieser ihm zweifellos den Rest gegeben. Aber er erholte sich und kam bald wieder zu Kräften. Brownie und ich brauchten etwa drei Wochen, um die verschiedenen Familienverbände zusammenzutreiben. Hatten wir eine Familie bis auf etwa acht Kilometer an die Falle in der Barranca herangeführt, kamen uns die Farmarbeiter zu Hilfe. Ein halbes Dutzend von ihnen schwärmte aus, umkreiste die Mustangs und trieb sie in das Gehege. Sie berichteten mir dann auch, wo die zweite Gruppe zuletzt gesichtet worden war, und fuhren Brownie, Oriel, Sergeant und mich so nah, wie es die Feld- und Buschpfade erlaubten, an die Stelle heran. Es konnte sich um Entfernungen von fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer handeln, mitunter auch mehr. Dort ließen sie uns dann allein. Auf der Rückfahrt markierten sie die Strecke zum Gehege alle ein, zwei Kilometer mit Luzerne, was mir die Richtungsvorgabe für den nächsten Familienverband erleichterte. Auch die Pferde, die sich bereits im Korral befanden, wurden mit Luzerne gefüttert. Trotz meines jugendlichen Alters war ich mir der Bedeutung meiner Erkenntnisse durchaus bewußt. Ich freute mich schon darauf, meiner Mutter und meinem Bruder von meinen neuen Entdeckungen erzählen zu können, und war ganz außer mir vor Begeisterung. Ich spürte, dass ich eine besondere Affinität zu Pferden besaß, und wusste, dass ich, wenn es mir gelang, ihre stille Sprache zu erlernen, mit großen Fortschritten rechnen konnte. Schon nach wenigen Wochen sollte ich die Gelegenheit bekommen, meine Theorien in die Praxis umzusetzen - schließlich kam auf 111
mich die Aufgabe zu, ungefähr hundert junge Pferde, auf deren Spuren ich mich gegenwärtig noch befand, einzureiten. Ungeduldig wartete ich auf die Stunde der Wahrheit. Ich war überzeugt, dass es mir gelingen würde, mit diesen wilden Tieren zu einem gegenseitigen Einvernehmen zu kommen und damit die Beziehung zwischen Mensch und Pferd zu verändern. Ich sah eine Chance zur Verwirklichung meiner ehrgeizigen Pläne. Bei alldem konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Brownie das magische Moment war. Seinetwegen hatte ich all diese Dinge erforschen wollen. Er hatte mich in dieses Bergland gebracht, das seine Heimat war. Er trug mich auf seinem Rücken, und ich hatte das Glück, dass ich die Botschaft verstanden hatte. Am Ende der dritten Woche hatten wir an die fünfhundert Mustangs eingefangen. Wir verzichteten auf die säugenden Stuten, die Deckhengste und die älteren Tiere und suchten uns die zwei- und dreijährigen Hengste sowie die jungen Stuten aus, die nicht trächtig waren, bis wir annähernd hundert Pferde beisammen hatten. Diese verluden wir auf die Lastwagen und transportierten sie wie im Vorjahr nach Salinas. Das Wildpferdrennen beim Rodeo nahm in diesem Jahr einen wesentlich günstigeren Verlauf. Die Pferde waren ihrer Aufgabe gewachsen, und es gab daher erheblich weniger Verletzungen bei den Tieren. Ich sah mir das Spektakel wieder von der Tribüne aus an, hatte jedoch keinerlei Spaß mehr daran. Statt dessen schwor ich mir, so schnell wie irgend möglich nach Mitteln und Wegen zu suchen, um mit den Tieren zu kommunizieren. Wie es aussah, hatten wir an ihnen eine ganze Menge wiedergutzumachen. Nach dem Rennen wurden die Mustangs auf dem Rodeogelände wie im Jahr zuvor meiner Obhut unterstellt. Mein Job war es nun, innerhalb der nächsten zwei Monate so viele Mustangs wie möglich einzureiten und auf die Auktion im September vorzubereiten. Das war nur wenig mehr Zeit, als mein Vater mit seinen konventionellen Methoden für gerade mal ein halbes Dutzend Pferde benötigt hätte. Man kann sich also vorstellen, dass ich gezwungen war, schnell zu lernen. Es war der ideale Test für meine neuen Erkenntnisse über die Möglichkeiten, eine natürliche Verbindung mit einem Wildpferd einzugehen; über die Chance, die Barriere zu überspringen, die das Kampftier als Objekt der Angst vom Fluchttier trennt, und mich auf 112
die andere Seite zu stellen; über das Verfahren, mich in die Rolle der Leitstute zu versetzen und die Sprache der wilden Pferde zu sprechen. All dies musste ich versuchen, während ich gleichzeitig gezwungen war, mit einem Auge immer auf der Hut vor meinem Vater zu sein. Ich wollte nicht, dass er sich einmischte. Dennoch sehnte ich mich insgeheim immer noch danach, von ihm akzeptiert und anerkannt zu werden. Indessen war meine Entdeckung so aufregend, dass in mir allmählich der Glaube wuchs, ich könne meinen Vater vielleicht doch noch von meiner Sicht der Dinge überzeugen. Ich hatte ein Phänomen entdeckt, das ich als JOIN-UP (»Sich anschließen«) bezeichnete. Nachts lag ich in meinem Bett und konnte kaum schlafen, so felsenfest war ich davon überzeugt, auf etwas gestoßen zu sein, das unseren gesamten Umgang mit den Pferden von Grund auf verändern würde. Ich spürte, dass ich auf dem richtigen Weg war und dass all meine Anstrengungen der Mühe wert waren. Als ich es trotz des enormen Drucks geschafft hatte, so viele Pferde in so kurzer Zeit einzureiten, war ich dermaßen begeistert und meiner Sache so sicher, dass ich fest davon überzeugt war, dass sich Vater von meinem Erfolg mitreißen lassen würde. Er war ein zu erfahrener Pferdekenner, um die Wahrheit zu verkennen. Doch nach dem, was ich bisher mit ihm erlebt hatte, wollte ich ihn nicht persönlich einweihen. Ich entschied mich statt dessen für Ray Hackworth, im festen Glauben, dass es ihm gelingen würde, meinen Vater zu überzeugen, denn dieser hielt große Stücke auf Ray. Ray Hackworth, der Pächter verschiedener Einrichtungen auf dem Rodeogelände, war ein bekannter Trainer und Gentleman; ein Mann mit leiser Stimme, dabei aber streng auf Disziplin bedacht. Ich bat ihn mitzukommen und sich einmal anzusehen, was ich inzwischen konnte. Ich hätte ein neues Phänomen entdeckt, sagte ich zu ihm; es hätte - anders könnte ich es nicht erklären - mit der Sprache der Pferde zu tun. Ja, es wäre die Wahrheit; ich könnte die natürliche Barriere zwischen Pferd und Mensch, zwischen Fluchttier und Kampftier, überwinden. Ray erinnerte mich daran, dass mein Vater mich schon seit Jahren vor der potentiellen Gefährlichkeit meiner Ideen gewarnt und immer wieder von mir gefordert habe, ich solle mich an die herkömmlichen Methoden halten. Ich ließ jedoch nicht locker und wiederholte meine 113
Bitte, er, Ray, möge doch einmal mitkommen und mir bei der Arbeit zusehen. Ich war mir sicher, ihn so beeindrucken zu können, dass er ein gutes Wort für mich einlegen würde, bevor ich meinen Vater zu einer eigenen Vorführung bat. Nach einigem Hin und Her ließ Ray sich breitschlagen. Als wir am Longierring ankamen, ging Ray die Rampe zur Zuschauerplattform hinauf und lehnte sich an die Brüstung. »Okay«, sagte er und schob sich den Hut in den Nacken. »Dann zeig mal, was du kannst!« Ich stand mit einem jungen Hengst, der vor gar nicht langer Zeit das Trauma des Wildpferdrennens in Salinas durchlitten hatte, in der Ringmitte. Er trug weder Halfter noch Führstrick, noch sonst irgend etwas, das seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätte. Das Tor zum Longierring war geschlossen. Wir waren allein. Das, was nun folgte, hatte ich bereits hundertmal durchexerziert. Ich wusste daher, was zu tun war, und hatte Vertrauen in meine Methode entwickelt. Ich wartete ein paar Augenblicke, um dem namenlosen, absolut wilden Mustang Gelegenheit zu geben, sich an den Ring zu gewöhnen. Das Tier war zu nervös, mir auch nur einen Schritt entgegenzukommen. Dennoch galt seine Aufmerksamkeit mir: Ich war in diesem Moment die größte Bedrohung, der es sich ausgesetzt sah. »Ich werde jetzt versuchen, die gleiche Sprache zu sprechen wie die Leitstute in seinem Familienverband«, sagte ich zu Ray Hackworth auf der Zuschauerplattform. Ray schwieg, was ich dahingehend auslegte, dass es wohl am besten sei, wenn ich weitermachte; schließlich ging es mir darum, ihm meine Arbeit zu erläutern. Er hatte offenbar nicht vor, mich zu unterbrechen oder irgendwelche Fragen zu stellen. »Und diese Sprache ist eine lautlose Sprache, eine Körpersprache«, fuhr ich fort. »Zuerst werde ich ihn bitten, sich von mir zu entfernen, zu fliehen - und zwar nur deshalb, weil ich ihn danach bitten werde, zurückzukommen und sich mir anzuschließen.« Dann bewegte ich mich ziemlich unvermittelt und ging auf das Pferd zu. Ich pflanzte mich vor ihm auf und sah ihm direkt in die Augen. Der junge Hengst drehte sich sofort um und galoppierte an der Umzäunung entlang, wobei er sich so nah an der Wand hielt und so weit entfernt von mir — wie irgend möglich. 114
Ich setzte dem jungen Pferd nach - genauso wie ich es bei der Leitstute im Gelände beobachtet hatte, die den Halbwüchsigen aus der Herde verbannt hatte - und trieb es weiter zur Flucht an. Ich zeigte ihm stets meine Vorderfront und achtete darauf, den Blickkontakt nicht zu unterbrechen. Für den Betrachter musste es so aussehen, als führte ich ihn an der Longe - wenn auch ohne Leine. Um Ray Hackworth mein Anliegen verständlicher zu machen, erklärte ich jeden meiner Schritte: »Ich sage ihm in seiner eigenen Sprache: >Los, geh fort, flieh! Ich möchte, dass du dich nicht nur ein kurzes Stück entfernst. Geh weiter fort! Momentan bin ich der Herr im Haus - bis wir so weit sind, dass wir eine Partnerschaft bilden können. Du siehst, ich spreche deine Sprache.Ich bin ein Pflanzenfresser, ein Weidetier. Ich simuliere diese Freßbewegungen, weil ich darüber nachdenke, ob man dir trauen kann oder nicht. Kannst du mir die Entscheidung ein wenig erleichtern? Bitte!Nehmt mich wieder auf. Ich will zurück. Ich will nicht mehr fliehen.Meine Lebensziele