Herz – entscheide dich
Anne Mather
Romana 1344 - 24-1/00
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
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Herz – entscheide dich
Anne Mather
Romana 1344 - 24-1/00
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
1. KAPITEL
Der Brief aus England kam nur einen Monat nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters. Samantha befand sich noch in dem Zustand dumpfer Benommenheit, der von ihr Besitz ergriffen hatte, seit sie die Nachricht erhalten hatte, dass ihr Vater auf der Fahrt von Mailand nach Bologna mit dem Auto tödlich verunglückt war. John Kingsley war auf der Stelle tot gewesen. Samantha war untröstlich. Fast ihr ganzes Leben hatte sie mit ihrem Vater in Perruzio, einem kleinen italienischen Fischerdorf, gelebt. Sie waren sich so nahe gewesen, dass sie sich jetzt völlig allein gelassen fühlte. Nicht einmal die alte Matilde, die, seit Samantha denken konnte, Haushälterin ihres Vaters in dem alten, gemieteten Landhaus gewesen war, konnte diese Leere ausgleichen. Samantha hatte das Gefühl, nie wieder lachen zu können. John - wie sie ihren Vater immer genannt hatte - war zur Eröffnung seiner ersten Skulpturenausstellung in Mailand gewesen. Lange Jahre war sein Talent unentdeckt geblieben, bis ein zufällig durchreisender Kunstmäzen, beeindruckt von seinen Plastiken, eine Ausstellung in Mailand für ihn arrangiert hatte. Dort war John zwei Wochen gewesen und hatte Samantha von seinem Erfolg geschrieben und von den Aufträgen, die er sich erhoffte. Als der Unfall geschah, war er auf dem Weg nach Hause gewesen, und für Samantha war es bittere Ironie, dass ihn der Tod ereilte, als endlich alles, wofür er sein ganzes Leben gearbeitet hatte, Wirklichkeit werden sollte. An der Beerdigung in Perruzio hatte die ganze Dorfgemeinschaft teilgenommen. Alle waren überaus freundlich und mitfühlend, aber Samantha konnte ihre Anteilnahme kaum ertragen. Sie wollte mit ihrer Trauer und ihrem Schmerz nur allein sein. Nach dem Tod ihres Vaters stand sie fast mittellos da. Das alte Landhaus war nur gemietet, und obwohl die Ausstellung in Mailand den Anfang zukünftiger Erfolge markiert hatte, hatte John bis zu seinem Tod nur selten eine seiner Skulpturen verkauft und den bescheidenen Lebensunterhalt für sich und seine Tochter durch kleine Auftrags arbeiten für die Touristikbranche bestritten. Zwar musste Samantha nicht sofort aus dem Landhaus ausziehen, doch in naher Zukunft würde sie etwas unternehmen müssen. Nur besaß sie außer der üblichen Schulbildung so gut wie keinerlei Qualifikationen, denn in einem kleinen Fischerdorf wie Perruzio genügte es, wenn ein Mädchen kochen und den Haushalt versorgen konnte. Wie aber sollte sie damit in der modernen Gesellschaft einen Job finden? Und nun war dieser Brief aus England gekommen, aus jenem Land, das sie nie wirklich als ihr Geburtsland akzeptiert hatte. Sie lebte seit ihrem vierten Lebensjahr in Italien und sprach Italienisch wie eine Einheimische. Für sie war Italien ihre Heimat, obwohl ihr Vater zu Hause immer Englisch mit ihr gesprochen hatte. John hatte ihr erzählt, dass ihre Mutter gestorben sei, als sie, Samantha, noch ein Baby gewesen war, und dass sie keine anderen Verwandten in England habe. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte er England verlassen, um in Italien Zeit und Inspiration für seine künstlerische Arbeit zu finden. Sie hatten nie viel Geld besessen, aber in dem Fischerdorf brauchte man auch nicht viel zum Leben. Fisch gab es im Überfluss, Brot backte Matilde selbst, und Gemüse lieferte der kleine Garten auf den Klippen. Samantha war mit ihrem Leben immer zufrieden gewesen. Unschlüssig drehte sie den Brief in den Händen, bevor sie ihn öffnete. Der Briefbogen aus feinstem Papier trug in winzigen Goldlettern den Kopf: „Daven House, Daven, Wiltshire". Neugierig ließ Samantha den Blick zum Ende des Briefes schweifen. Er war schlicht mit „Lucia Davenport" unterzeichnet. Name und Adresse sagten ihr nichts. Gespannt machte sie sich daran, den Brief zu lesen. Meine liebe Samantha,
nachdem ich vor wenigen Tagen vom tragischen Tod meines Schwiegersohns erfahren musste, habe ich alle Vorbereitungen für Deine Rückkehr nach England getroffen. Du musst natürlich hierher zurückkommen. Wir sind Deine Familie und wollen Dich hier haben. Ich bin Deine Großmutter, und da Barbara sich immer noch weigert, sich wie eine richtige Mutter zu benehmen, werde ich Dich über die Tatsachen in Kenntnis setzen. Was immer Dein Vater Dir auch erzählt haben mag, Deine Mutter ist höchst lebendig. Ich vermute, dass Du dies nicht weißt. Alles Weitere werde ich Dir erklären, wenn wir uns treffen. Ich bin eine alte Frau, Liebes, und es wäre mir eine große Freude, wenn Du kommen und mit mir in Daven leben würdest. Ein junger Mensch wie Du würde wieder etwas Schwung in mein eintöniges Leben bringen, und ich würde dafür sorgen, dass Du genügend Abwechslung und Unterhaltung findest. Samantha ließ sich in einen Sessel sinken und blickte fassungslos auf den Brief. Konnte es wahr sein? Oder war es nur ein grausamer Scherz? Mit zittrigen Fingern drehte sie das Blatt um und las weiter: Als die Anwälte Deines Vaters sich mit mir in Verbindung setzten, wie Dein Vater sie angewiesen hatte, sollte ihm etwas zustoßen, habe ich sofort alles Nötige für Deine Reise nach London veranlasst. Ich werde persönlich nach London kommen, um Dich dort zu treffen, wenn Du mich Datum und Zeit Deiner Ankunft wissen lässt. Bitte denk nicht zu viel darüber nach, bis wir uns treffen. Du kannst das alles unmöglich verstehen, bis Du nicht sämtliche Zusammenhänge kennst. Sei aber gewiss, dass wir Dich hier willkommen heißen werden. In Liebe Lucia Davenport Langsam und sorgfältig schob Samantha den Brief in den Umschlag zurück und blickte benommen vor sich hin. War es möglich? Hatte sie all die Jahre mit einer Lüge gelebt? Lebte ihre Mutter wirklich noch? Und wenn, warum hatte sie sich nie bei ihr gemeldet? Andererseits, wer sollte sich einen so grausamen Scherz mit ihr erlauben? Es musste wahr sein. Samantha versuchte, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen. Mit einem Mal war ihr leeres Leben wieder ausgefüllt ... voll von Fremden, die behaupteten, ihre Verwandten zu sein. Eine Großmutter ... eine Mutter! Hatte sie vielleicht sogar Brüder oder Schwestern? Hunderte von Fragen bestürmten sie, und sie hatte keine Antworten. Die Wahrheit würde sie nur herausfinden, wenn sie nach London reiste, wie ihre „Großmutter" vorschlug. Der Gedanke, sich von allem zu entwurzeln, was ihr lieb und teuer war, erschreckte sie. Was war zum Beispiel mit Matilde? Sicher, die alte Haushälterin hatte eine Schwester in Ravenna, nicht weit von Peruzzio, aber war es fair, Matilde nach all den Jahren einfach so davonzuschicken? Und was, wenn sie, Samantha, diese fremden Verwandten gar nicht mochte? Schließlich hatten sie sich bislang auch nicht um sie gekümmert. Warum hatte John ihr das all die Jahre verschwiegen? Sie und ihr Vater hatten doch sonst keine Geheimnisse voreinander gehabt! Samantha fröstelte, obwohl es bereits ziemlich warm war. Sie stand auf und trat auf die Terrasse hinaus, von wo man einen herrlichen Blick auf den weißen Strand hatte, an dem sich beständig die sanften Wellen der Adria brachen. Die Landschaft hier war atemberaubend schön. Sollte sie das alles wirklich verlassen, um ins kalte graue England zurückzukehren, wo die Sonne niemals schien und man nicht ohne Regenschirm ausgehen konnte? John hatte ihr jedenfalls stets ein ziemlich düsteres Bild von ihrem Geburtsland gemalt ... aber nach allem, was er ihr offensichtlich verschwiegen hatte, fragte Samantha sich jetzt, ob London wirklich so schlimm war, wie er es dargestellt hatte.
Wenn er dort vor etwas geflohen war, was er gehasst hatte, hatte er das Land vielleicht mit ganz anderen Augen gesehen, als sie es tun würde. Zunächst einmal konnte Samantha noch mit niemandem darüber reden, nicht einmal mit Matilde. Die Sache war zu plötzlich gekommen und zu schwierig zu erklären. Samantha ging wieder ins Haus und in ihr Schlafzimmer. Dort zog sie sich Jeans und Sweatshirt aus und einen Bikini an und band sich das lange, seidige blonde Haar zu einem Pferdeschwanz hoch. Sie verließ das Haus über die Veranda und kletterte die Klippen zum Strand hinunter. Begierig tauchte sie in das herrlich erfrischende Wasser und schwamm mit kräftigen Zügen durch die sanften Wellen des Meeres. Hier, im Wasser, konnte sie wenigstens für kurze Zeit den Konsequenzen des schicksalhaften Briefs entfliehen. Schon bald würde sie zurückgehen, Matilde alles erzählen und die erfahrene Haushälterin um Rat bitten müssen. Doch zunächst einmal wollte sie noch für einen Moment die Sonne und das Wohlgefühl im Wasser genießen. Ihr war nicht bewusst, dass zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters die lähmende Melancholie von ihr abgefallen war. Samantha war eine gute Schwimmerin und bald weit hinausgeschwommen. Als sie sich zurückwandte, erkannte sie am Strand die ihr vertraute, stämmige Gestalt eines jungen Fischers, der ihr zuwinkte, und sie winkte zurück. Schon bald hatte sie wieder flaches Gewässer erreicht und watete an den Strand. Benito Angelis Augen leuchteten begehrlich, als Samantha auf ihn zukam. Sie war so schön, diese Engländerin mit ihrem blonden Haar, das jetzt in nassen Locken ihre Schultern umschmeichelte. Ihre grünen Augen lächelten freundlich, als sie vor ihm stehen blieb und ihn auf Augenhöhe anblickte. „Es geht dir wieder besser?" fragte er auf Italienisch. „Ja, danke, Benito", antwortete sie, zog sich das Band aus dem Haar und streckte sich genüsslich auf dem warmen Sand aus. Benito kniete neben ihr nieder. „Du solltest allein nicht so weit hinausschwimmen." „Ich weiß." Sie seufzte und versuchte, ein schuldbewusstes Gesicht zu machen. Benito sah sie erstaunt an. Seit dem Tod ihres Vaters hatte Samantha nicht mehr so zwanglos mit ihm geplaudert. Heute war sie irgendwie anders. Sie schien seine Gedanken zu lesen. „Ehrlich gesagt, Benito, bin ich ein wenig durcheinander. Ich habe heute Morgen einen Brief aus England erhalten." „Aus England?" fragte er aufhorchend. „Kennst du dort jemand?" „Anscheinend." Samantha drehte sich auf den Bauch und genoss die Sonne. „Jemand, der deinen Vater gekannt hat?" „Ja ... wobei ,gekannt' wohl eine Untertreibung ist." Sie schüttelte verwirrt den Kopf. „Und? Erzähl schon ... von wem ist der Brief?" Benito streckte sich neben ihr aus und ließ die Fingerspitzen zärtlich über ihren Rücken gleiten. Doch Samantha war nicht in der Stimmung zum Schmusen. Sie wich zur Seite und setzte sich auf. „Nicht", sagte sie gereizt. „Das ist eine ziemlich ernste Sache für mich. Der Brief ist von meiner Großmutter. Begreifst du jetzt?" Benito wurde sofort wieder ernst. „Von deiner Großmutter? Aber dein Vater sagte doch, du hättest keine Verwandten mehr!" „Ich weiß." Samantha zog die Knie unters Kinn und umfasste ihre Beine. „Wie es aussieht, habe ich aber welche. Und zwar nicht nur eine Großmutter ... meine Mutter lebt auch noch!" „Mädre de Dio!" „Ja, ich bin genauso überrascht. Und jetzt stehe ich vor einem ziemlich großen Problem, verstehst du? Meine Großmutter will, dass ich nach England zurückkehre." „Nein!" stieß Benito aus. „Du wirst doch nicht gehen?" Sie seufzte. „Ich habe mich noch nicht entschieden."
Benito beugte sich zu ihr hinüber. „Und was ist mit uns, cara? Du weißt, was ich für dich fühle. Ich dachte ... ich habe gehofft, dass wir jetzt bald ..." Samantha nickte. „Ich weiß." Benito und sie waren zusammen aufgewachsen und immer unzertrennlich gewesen. Benito hatte ihr das Schwimmen und das Fischen beigebracht. John hatte nie etwas gegen diese enge Freundschaft einzuwenden gehabt, obwohl er vermutlich auch etwas blind dafür gewesen war, was da vor seinen Augen passierte. Aber hier in diesem italienischen Fischerdorf galt es als die natürlichste Sache von der Welt, dass Kinder, die zusammen aufwuchsen, irgendwann heirateten, und Benito hatte aus seinen Gefühlen nie ein Geheimnis gemacht. Benitos Familie rechnete bereits fest mit dieser Heirat. Schon war die Rede von einem kleinen Fischerhaus, das im Dorf bald frei werden und den Bedürfnissen des jungen Paares entsprechen würde, denn Benito sollte natürlich im Schoß seiner Familie bleiben. Auch Samantha mochte seine Familie sehr, liebte vor allem die Kinder, Benitos Nichten und Neffen, dennoch scheute sie vor einer baldigen Heirat zurück. Im Nu würde sie dann eine eigene Familie haben und nie wieder die Chance bekommen, das Dorf zu verlassen. Wollte sie das wirklich? Immer wieder hatte sie sich diese Frage gestellt und keine zufrieden stellende Antwort gefunden. Doch welche Alternativen hatte sie bislang gehabt? Nach Johns Tod war das Problem nur noch drückender geworden. Und nun dieser Brief, der ihr völlig neue Horizonte eröffnete! Und obwohl der Gedanke sie ängstigte, Perruzio und alles, was ihr vertraut war, zu verlassen, spürte Samantha, dass dies die einzigartige Chance für sie war, etwas von der Welt zu sehen. Aber wie sollte sie das Benito erklären? Er würde es nie verstehen. Benito war zufrieden mit seinem Leben in Perruzio. Er gehörte zu seiner Familie ... so wie sie, Samantha, möglicherweise zu ihrer. Benito hatte es immer als selbstverständlich betrachtet, dass sie ihn heiraten würde, weshalb ihn diese neue Samantha ziemlich aus der Fassung brachte. „Warum haben sie dich nie besucht?" fragte er schroff. „Warum hat dein Vater behauptet, deine Mutter sei tot?" „Ich weiß es nicht", gestand Samantha. „Vielleicht waren sie für ihn ja so gut wie tot. Aber meine Großmutter ist von den Anwälten meines Vaters benachrichtigt worden. John muss also gewollt haben, dass ich die Wahrheit erfahre, sollte ihm etwas zustoßen." „Aber was ist mit mir?" Benito stand auf. „Dein Vater wusste doch sicher über uns Bescheid, oder?" „Ja ... und nein", antwortete sie befangen. „Benito, ich glaube nicht, dass mein Vater dachte, wir wären mehr als nur Freunde." Er wandte sich ab. „Und du hast ihn in dem Glauben gelassen?" Samantha sprang ebenfalls auf. „Natürlich nicht. Ich habe ihm gesagt, dass wir uns sehr gern haben." „Sehr gern haben?" Benito breitete die Hände aus. „Ich bete dich an!" Sie presste die Lippen zusammen. „Ich weiß, ich weiß." „Aber du lässt zu, dass diese neuen Verwandten dich mir wegnehmen!" rief er wütend. Samantha hielt sich die Ohren zu. „Hör auf! Ich weiß es doch noch gar nicht!" Sie drehte sich um und lief die Klippen hinauf zum Haus. Benito folgte ihr und hatte sie bald eingeholt. „Hier ist dein Zuhause, carissima", sagte er beschwörend. „Es ist das einzige Zuhause, das ich bislang kennen gelernt habe", erwiderte sie liebevoll. „Aber ich kann mich noch nicht entscheiden. Versuch mich zu verstehen, Benito. Wie würde es dir gehen, wenn du plötzlich erfahren würdest, dass deine Mutter noch lebt, obwohl du sie all die Jahre für tot gehalten hast? Ich bin jetzt einundzwanzig und habe nie erfahren, was es bedeutet, eine Mutter zu haben. Natürlich bin ich neugierig, sie kennen zu lernen. Und sei es
nur, um herauszufinden, was das für eine Frau ist, die ihr Kind so im Stich gelassen hat. Siebzehn Jahre lang hat sie sich überhaupt nicht um mich gekümmert!" Samantha blickte Benito flehentlich an. Wie er so neben ihr stand in Jeans und offenem Hemd, war er ihr so lieb und vertraut ... warum ließ sie es zu, dass dieser Brief sie entzweite? Wenn sie den unseligen Brief nur nie erhalten hätte! Es wäre so einfach gewesen, Benito zu heiraten, eine Familie mit ihm zu gründen und friedlich hier in Perruzio zu leben, wie seine Familie es immer getan hatte. Beschwichtigend hakte sie sich bei ihm ein. „Bitte, Darling, dräng mich nicht", bat sie leise. Er sah sie traurig an. Dann zog er sie in seine Arme und küsste sie zärtlich. „Samantha", sagte er sanft, „ich werde dir Zeit lassen." Gemeinsam kletterten Samantha und Benito den Klippenpfad hinauf. Als sie oben ankamen, bemerkten sie überrascht, dass vor dem Haus eine schwarze Limousine parkte. Samantha sah Benito fragend an, doch der zuckte die Schultern. „Kommst du noch auf einen Kaffee mit hinein?" fragte sie. Er lächelte. „Ich sollte es wohl besser tun. Wir müssen doch herausfinden, wer dein Besuch ist." Matilde kam ihnen bereits in der Diele entgegen, das ergraute Haar wie stets zu einem schlichten Knoten frisiert. „Sie haben Besuch", sagte sie leise, wobei sie auf die Wohnzimmertür deutete. „Aus Mailand." Samantha schüttelte verblüfft den Kopf. Dies war wirklich ein außergewöhnlicher Tag. Erst der Brief, der ihre ganze Welt auf den Kopf stellte, und nun ein geheimnisvoller Besuch! Benito wartete in der Diele, während Samantha rasch nach oben ging, um sich etwas anzuziehen. Wenige Minuten später war sie schon wieder da. Sie hatte sich das lange Haar fast trocken frottiert und trug ein einfaches gelbes Baumwollkleid. „Na, sehe ich gut aus?" flüsterte sie Benito zu, und er nickte. Für ihn war sie immer wunderschön. Allein ihr Anblick ließ sein Herz schneller schlagen. Ja, sie musste ihn bald heiraten ... er konnte nicht länger warten! Er begehrte sie leidenschaftlich. Mit ihrem hellen Teint und dem weißblonden Haar war sie so ganz anders als die dunkelhaarigen Mädchen der Gegend. Er hatte schon viel zu lange gewartet. Wenn sie bereits mit ihm verheiratet gewesen wäre, als der Brief heute Morgen angekommen war, hätte sie ihn nicht so vertrösten können. Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer, wo zwei ältere Herren saßen und Kaffee tranken, den Matilde ihnen serviert hatte. Beim Eintreten der jungen Leute erhoben sie sich höflich, und der eine der beiden ging auf Samantha zu. „Miss Kingsley?" fragte er auf Englisch mit starkem Akzent. „Ja", antwortete Samantha und schüttelte freundlich die dargebotene Hand. Da die beiden Herren aus Mailand kamen, nahm sie an, dass ihr Besuch vielleicht mit der Ausstellung ihres Vaters zusammenhing. „Mein Name ist Arturo Cioni", fuhr der Mann fort, „und dies ist mein Bruder Giovanni. Wir sind die Anwälte Ihres Vaters." Er zögerte. „Sprechen Sie Italienisch, Miss Kingsley?" Sie nickte lächelnd. „Ja. Sprechen Sie ruhig Ihre Muttersprache." „Bene." Arturo Cioni wechselte dankbar ins Italienische. „Wir haben eine Nachricht von Ihrer Großmutter in England erhalten. Soweit ich informiert bin, hat sie Ihnen auch geschrieben, richtig?" „Ja. Der Brief ist heute Morgen angekommen. Ich muss gestehen, ich hatte keine Ahnung, dass ich noch Verwandte habe. Mein Vater hat mir nichts von ihnen erzählt." „Ja, ich weiß. Aber Ihre Großmutter hat uns nun angewiesen, Ihren Flug nach England vorzubereiten. Hat sie das in dem Brief an Sie angekündigt?" „Ja. Ehrlich gesagt, habe ich mich noch nicht von der Überraschung erholt." „Das ist sehr verständlich", mischte sich jetzt Giovanni Cioni ein. „Ich habe Ihrem Vater immer geraten, er solle Sie mit den Tatsachen vertraut machen. Aber ich glaube, es fiel ihm
sehr schwer, Ihnen nach all der Zeit die Wahrheit zu sagen ... er hatte wohl auch etwas Angst davor." „Angst? Wieso?" „Nun, Sie bedeuteten ihm alles. Wenn Sie gewusst hätten, dass Sie noch eine Mutter in England haben, hätten Sie vielleicht sofort zu ihr reisen und sie kennen lernen wollen. Ihr Vater befürchtete wohl, es könnte Ihnen dann bei Ihrer Mutter besser gefallen." „Wie hat er nur so etwas denken können? Er wusste doch, wie gern ich hier lebte. Ich hätte ihn nie verlassen", sagte Samantha bedrückt. „Bitte, machen Sie sich keine unnötigen Gedanken. Ihr Vater ist als glücklicher Mann gestorben. Er hat es Ihnen nie gesagt und konnte damit Ihr Leben nach seinen Vorstellungen für Sie einrichten. Mehr hat er nie gewollt." „Wenn Sie meinen ..." sagte Samantha zweifelnd. „Kommen wir nun zu den Einzelheiten", ergriff Arturo Cioni wieder das Wort. „Ihre Großmutter möchte, dass Sie so bald wie möglich von Mailand nach London fliegen. Ihre Angelegenheiten hier werden sich schnell regeln lassen. Wenn Sie Rat brauchen, stehen wir Ihnen gern zur Verfügung. Das Landhaus ist sowieso zu groß für Sie. Haben Sie schon Pläne für die Zukunft?" „Eigentlich nicht ..." Samantha sank blass in einen Sessel. Urplötzlich schien ihr all das Neue, das auf sie zukam, überwältigend. Benito, der sich im Haus gut auskannte, ging zu einem kleinen Schrank und goss sich einen Brandy ein. Dann trug er das Glas zu Samantha. „Trink", sagte er fürsorglich. Folgsam nippte sie an dem hochprozentigen Drink und spürte dankbar, wie er sie von innen erwärmte. „Verzeihen Sie mir!" rief Arturo besorgt aus. „Das alles muss ein ziemlicher Schock für Sie gewesen sein. Ich hätte Sie nicht derart damit überfallen dürfen. Aber Ihre Großmutter hat so sehr gedrängt, dass wir bestrebt waren, ihrer Bitte so schnell wie möglich nachzukommen." „Schon gut, ich verstehe das." Samantha trank den letzten Schluck Brandy. „Und ... mein Vater hat wirklich gedacht, ich sollte nach England zurückkehren, falls er stirbt, obwohl er selbst nie dahin zurückgekehrt ist?" „Die Zeit ändert vieles", mischte sich Giovanni erneut ein. „Und Ihrem Vater war auch klar, dass Ihr gemeinsames Leben hier nicht ewig so weitergehen konnte. Eines Tages hätte er Ihnen die Wahrheit sagen und Sie hätten selbst entscheiden müssen. Haben Sie denn andere Zukunftspläne? Vielleicht einen Job in Aussicht?" „Wir sind verlobt", erklärte Benito nachdrücklich. „Ist das nicht Job genug? Ist ihre Zukunft in meinen Händen nicht sicher? Warum sollten sich irgendwelche Fremde um sie kümmern?" „Benito, bitte!" Samantha seufzte. „Wir sind nicht verlobt. Noch nicht. Ich brauche etwas Zeit." Arturo zuckte die Schultern. „Sollten Sie sich entschließen, in diesem Land zu bleiben, signorina, werde ich Ihre Großmutter natürlich dahingehend informieren. Sie selbst brauchen sich in keiner Weise mit ihr in Verbindung zu setzen, wenn Sie das nicht wünschen. Es liegt ganz bei Ihnen. Sie sind volljährig und können frei entscheiden." Samantha atmete tief ein. „Ich bin natürlich neugierig. Wissen Sie, warum mein Vater und meine Mutter sich getrennt haben?" „Sie haben sich scheiden lassen, mehr können wir Ihnen auch nicht sagen", antwortete Giovanni. „Zwar hat Ihr Vater sich uns anvertraut, aber die ganze Geschichte kennen wir nicht. Sie müssen es selbst herausfinden." „Ich verstehe." Samantha stellte das leere Brandyglas weg und sah Benito nachdenklich an. Er wirkte ernst und sehr wütend. Seufzend wandte sie sich wieder an die Anwälte. „Es ist fast Mittag. Bleiben Sie zum Essen?"
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, signorina", antwortete Giovanni lächelnd. „Wir nehmen die Einladung gern an." „Schön. Danach gebe ich Ihnen meine Antwort", sagte Samantha fest. Samantha überließ die Gäste Benitos Obhut und ging zu Matilde in die Küche. Während sie der Haushälterin bei der Zubereitung des Essens half, erzählte sie ihr, was geschehen war. Matilde unterbrach sie nicht ein einziges Mal. Schließlich sah sie Samantha fragend an. „Sie werden nach England gehen?" Es klang mehr wie eine Feststellung, und Samantha blickte überrascht auf. „Meinen Sie, ich sollte es tun?" Die Haushälterin zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht, Samantha. Aber wenn Sie es nicht tun, werden Sie sich für den Rest Ihres Lebens fragen, ob Sie es nicht hätten tun sollen. Was bleibt Ihnen hier? Die Heirat mit Benito. Nach einigen Jahren werden Sie vielleicht feststellen, dass Ihnen dieses Leben nicht genügt, und dann wird es keinen Ausweg mehr geben. Die Leute hier sind streng katholisch. Da wird eine Ehe für ein ganzes Leben geschlossen. Sie sollten sich sehr sicher sein, bevor Sie sich dafür entscheiden." „Ach Matilde, Sie stellen es wie eine trostlose Aussicht dar!" „Ist es das nicht? Wenn man jung ist und noch das ganze Leben vor sich hat, ist dann nicht jegliche Alltagsroutine trostlos? Wären Sie wirklich zufrieden mit einem halben Dutzend Bambini, die Ihnen Tag und Nacht keine Ruhe lassen? Benito ist ein guter Mann, und in diesem Dorf lässt sich gut leben. Aber Benito ist Italiener, vergessen Sie das nie. Egal, wie gut Sie unsere Sprache sprechen und in der Dorfgemeinschaft aufgenommen worden sind, Sie bleiben doch eine Engländerin. Sie wissen, dass ich Recht habe, Samantha. Ihr Verstand hat die Entscheidung längst getroffen, nur ihr Herz schwankt noch. Sie wollen das Beste aus beiden Welten. Für eine Zeit würde es Ihnen gefallen, verheiratet zu sein, aber das ist nicht der Sinn der Ehe. Eine Ehe bedeutet, sich für den Rest Ihres Lebens einem anderen Menschen anzuvertrauen. Vergessen Sie das nicht - egal, wohin Sie gehen oder wen Sie einmal heiraten." Samantha sah die Haushälterin nachdenklich an. „Sie haben wie immer Recht, Matilde. Aber was ist mit Ihnen, wenn ich gehe?" Matilde lächelte. „Ich werde langsam alt. Es macht mir nichts aus, mich zur Ruhe zu setzen. Meine Schwester ist Witwe und lebt allein in Ravenna. Sie wird sich über meine Gesellschaft freuen. Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken, Samantha. Kümmern Sie sich um sich. Sehen Sie zu, dass Sie bekommen, was Sie sich wünschen, und es festhalten. Geben Sie sich nie mit dem Zweitbesten zufrieden." „Gut." Samantha atmete tief ein. „Dann werde ich es den Cionis sagen. Und vielen Dank für Ihr Verständnis, Matilde. Ich werde Sie vermissen." „Falls Sie zurückkommen, finden Sie mich bei meiner Schwester in Ravenna. Dann werden wir weitersehen. Machen Sie sich keine Sorgen. Seien Sie stark und ehrlich, dann werden Sie überleben. Sie sind jetzt kein Kind mehr, sondern eine junge Frau. Handeln Sie danach, und seien Sie selbstständig." Als Samantha ging, um die Cionis und Benito zum Essen zu holen, fand sie Benito allein auf der Veranda. Er sah so geknickt aus, dass sie sofort ein schlechtes Gewissen bekam. „Du wirst gehen, nicht wahr?" fragte er vorwurfsvoll. „Ich muss es tun, Benito." Sie sah ihn beschwörend an. „Würdest du wirklich wollen, dass ich dich heirate und mich dann den Rest meines Lebens frage, ob ich auch das Richtige getan habe?" „Natürlich nicht. Aber bevor dieser Brief angekommen ist, gab es für dich keine Zweifel." „Da hatte ich aber auch keine Alternative", gab sie zu bedenken. „Bitte, Benito, versuch mich zu verstehen. Ich habe seit meinem vierten Lebensjahr dieses Land nicht ein einziges Mal verlassen. " „Ich habe hier mein ganzes Leben gelebt." „Aber du bist Italiener, Benito. Ich bin Engländerin." „Darüber hast du dir vorher nie Gedanken gemacht." „Ach Benito ... versuch
doch, mich zu verstehen. Ich halte sehr viel von dir, aber diese Reise wird mir helfen, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken. Wenn ich dich liebe, komme ich zurück, das weißt du. Und wenn du mich liebst, musst du auch wissen, dass die Liebe nicht stirbt, nur weil man für eine Zeit lang getrennt ist." Benito wusste, dass sie Recht hatte, dennoch hatte er Angst vor dieser Trennung. Zwar verstand er, dass Samantha ihn nicht verletzen wollte, aber würde er sie je wieder sehen, wenn sie ging? „Wenn du entschlossen bist, zu gehen, kann ich dich sowieso nicht daran hindern", sagte er kühl. „Doch, das könntest du", widersprach sie verzweifelt. „Wenn du mich vor die Wahl stellen würdest, würde ich vermutlich nicht wagen, deinen Heiratsantrag abzulehnen." Er seufzte. „Nein, es wäre nicht gut von mir, dich so zu zwingen. Du bist eine freie Frau, Samantha. Aber bitte komm zu mir zurück." „O Benito! Wenn du mich so ansiehst, wünschte ich, ich hätte diesen Brief nie bekommen!" Benito zog sie in seine Arme und barg das Gesicht in ihrem Haar. „Ich wünschte es mir auch! Und jetzt geh, und teile den Cionis deine Entscheidung mit." Samantha löste sich widerstrebend von ihm. „Ja. Und dann werde ich bald das Geheimnis um meine Mutter gelüftet haben. Ich hoffe nur, sie ist nicht so schlimm, wie es den Anschein hat."
2. KAPITEL
Patrick Mallory stieg in das Flugzeug, das ihn von Mailand nach London zurückbringen würde. Wie stets, wenn er wieder einmal eine Zeit in Italien verbracht hatte, bedauerte er, das Land zu verlassen. Italien war die Heimat seiner Mutter, und er hatte gerade vier idyllische Wochen in ihrer Villa am Ufer des Lago di Como verbracht und sich nur in der Sonne entspannt. Sein Leben in London war zeitweise ziemlich hektisch und nervenaufreibend. Dieser Urlaub war ein Geschenk des Himmels gewesen. Lange hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt. Er war sonnengebräunt und fit und bereit, seine Pflichten in England wieder auf sich zu nehmen. Patrick war ein großer, attraktiver Mann mit tiefschwarzem Haar und einem dunklen Teint, was er seinem halb italienischen Erbe zu verdanken hatte. Seine Augen waren goldbraun, und sein markantes Gesicht strahlte einen unwiderstehlichen, jungenhaften Charme aus. Er war sich seiner Wirkung auf das andere Geschlecht durchaus bewusst und hatte in den sechsunddreißig Jahren seines Lebens viele Frauen kennen gelernt - doch bislang hatte ihn keine besonders beeindruckt. Er fuhr sich durch das kurze Haar und lächelte der jungen Stewardess gewinnend zu. Errötend führte sie ihn zu seinem Platz. Patrick stellte seinen Aktenkoffer neben sich und streckte entspannt die Beine aus. Jetzt, da er so gut wie auf dem Weg war, dachte er schon an das, was ihn in London erwartete. Da war zum Beispiel sein neues Stück, das er in manchen Passagen vielleicht noch umschreiben musste, bevor er es auf die Bühne bringen konnte. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken zu der Frau, über die er schon während seines Urlaubs viel nachgedacht hatte. Auch sie würde ihn in London erwarten. War es nicht allmählich Zeit für ihn, eine Familie zu gründen? Das Junggesellenleben war ja ganz gut und schön, aber letztlich mit einem richtigen Heim nicht zu vergleichen. Seine Mutter hatte sich ganz ähnlich geäußert. Sie wollte, dass er endlich Kinder in die Welt setzte. Seine Schwester war schon seit mehr als achtzehn Jahren verheiratet und hatte sechs Kinder. Natürlich war Gina zehn Jahre älter als er, aber so langsam wurde es auch für ihn Zeit, darüber nachzudenken. Als Patrick beiläufig aus dem Fenster blickte, fiel ihm ein junges Paar am Flugsteig zu seiner Maschine auf. Der junge Mann schien ziemlich aufgebracht und versuchte - eher erfolglos - das Mädchen an sich zu drücken und zu küssen. Als es ihm schließlich doch gelang, riss das Mädchen sich sofort von ihm los und eilte übers Rollfeld auf das Flugzeug zu. Patrick beobachtete diese gefühlsträchtige Abschiedsszene einigermaßen amüsiert. Das Mädchen sah wie eine Engländerin aus. Vielleicht eine Ferienromanze, die etwas außer Kontrolle geraten war? Warum neigten die jungen Leute so oft dazu, sich in heftige Gefühle hineinzusteigern? Patrick konnte sich nicht erinnern, je so gewesen zu sein. Vielleicht hatte er Glück gehabt, oder er zählte einfach nicht zu den Menschen, die zu tiefen Gefühlen neigten. Von einer Frau hatte er sich jedenfalls noch nie zum Narren machen lassen. Und über das Stadium jugendlicher Schwärmereien war er längst hinaus. Wenn er einmal heiraten sollte, dann würde seine Entscheidung von praktischen Überlegungen und nicht von Gefühlen bestimmt sein. Kurz darauf führte die Stewardess das Mädchen den Mittelgang entlang und wies ihm den Platz neben Patrick zu. Er betrachtete die junge Frau interessiert. Aus der Nähe war sie bemerkenswert attraktiv mit glattem weißblondem Haar, das ihr wie ein seidiger Vorhang über die Schultern fiel. Sie schien so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkte, wie aufmerksam sie beobachtet wurde. Bewundernd ließ Patrick den Blick über ihr Gesicht gleiten: lange dunkle Wimpern, eine süße Stupsnase und ein makelloser, sanft gebräunter Teint. Kleid und Schuhe waren schlicht und nichts sagend, aber entsprechend gekleidet würde sie zweifellos betörend aussehen.
Plötzlich schaute sie auf. Patrick hielt dem Blick ihrer klaren grünen Augen für einen Moment stand, dann wandte er sich ab. Das Mädchen senkte errötend den Kopf. Wenige Minuten später wurden die Passagiere gebeten, sich anzuschnallen, und das Flugzeug begann aufs Rollfeld zu rollen. Patrick sicherte mit geübter Hand seinen Gurt, doch das Mädchen schien sich nicht auszukennen und kam mit dem Mechanismus nicht zurecht. Ohne zu überlegen, nahm Patrick ihr die Gurte aus der Hand und fügte sie zusammen. „Danke", sagte sie leise und lächelte ihn scheu an. Patrick erwiderte ihr Lächeln und lehnte sich zurück. Das Flugzeug gewann rasch an Geschwindigkeit, und Patrick bemerkte, wie das Mädchen neben ihm die Armlehnen umklammerte. Es hatte offensichtlich Angst. Und obwohl er sich normalerweise nicht um ängstliche Mitreisende kümmerte, empfand er plötzlich Mitgefühl. „Entspannen Sie sich", sagte er locker. „Wir sind schon fast in der Luft. Ist dies Ihr erster Flug?" Sie nickte. „Soweit ich weiß. Ich fürchte, ich bin ein ziemlicher Feigling." „Das sind wir alle hin und wieder. Und so ein Start kann einem schon Angst einjagen, wenn man es nicht gewohnt ist." Er blickte auf. „Da, sehen Sie? Schon vorbei. Sie können Ihren Gurt jetzt wieder lösen." „Gott sei Dank." Sie öffnete den Gurt und lehnte sich erleichtert zurück. Patrick folgte ihrem Beispiel, wobei er sich amüsiert fragte, wieso er sich derart für dieses Mädchen interessierte. Auf seinen zahlreichen Flügen ließ er sich nur selten auf ein Gespräch ein, weil ihn der Austausch von Höflichkeitsfloskeln langweilte. Überdies war er ziemlich prominent, weshalb die meisten Leute ihn nur deshalb ansprachen, weil sie sich einen Vorteil davon erhofften. Doch dieses Mädchen war anders. Es schien ihn gar nicht zu erkennen, und seine schlichte Kleidung ließ nicht darauf schließen, dass es in irgendeiner Weise mit dem Theater zu tun hätte. Patrick betrachtete seine junge Nachbarin forschend. „Darf ich fragen, wie Sie heißen?" „Samantha Kingsley", antwortete sie arglos. „Und Sie?" Er zögerte. Jetzt kam es darauf an. Selbst wenn sie ihn nicht erkannt hatte, konnte sein Name ihr bekannt sein. „Patrick Mallory", sagte er widerstrebend. Keine Reaktion. Offensichtlich sagte sein Name ihr nichts. Patrick atmete dankbar auf. Es war angenehm, einmal jemand kennen zu lernen, für den man ein absolut unbeschriebenes Blatt war. „Wollen Sie nach London?" erkundigte er sich. „Nun, zunächst ja. Aber mein eigentliches Ziel ist Wiltshire. Ist das in der Nähe von London?" „Jedenfalls in erreichbarer Entfernung", erwiderte Patrick amüsiert. „Sie kennen sich in England nicht gut aus, oder? Und ich dachte, Sie wären Engländerin." „Das bin ich auch, oder zumindest bin ich in England geboren. Aber ich habe seit meinem vierten Lebensjahr in Italien gelebt." „Ich verstehe. Und Sie haben England nie besucht?" „Nein. Mein Vater wollte es nicht." Sie verstummte, und Patrick spürte, dass dahinter mehr steckte, als sie ihm sagen wollte. Seine Neugier war geweckt. „Und Ihr Vater? Begleitet er Sie nicht auf dieser Reise?" „Nein. Mein Vater ist tot. Er kam vor über einem Monat bei einem Unfall ums Leben." „Das tut mir Leid." Patrick machte ein nachdenkliches Gesicht. „Kingsley ... John Kingsley? Ihr Vater war doch nicht etwa John Kingsley?" Samantha sah ihn erstaunt an. „Doch, ja. Haben Sie ihn gekannt?" „Nicht wirklich. Ich habe ihn auf seiner Ausstellung in Mailand getroffen. Eine wunderbare Ausstellung. Das muss kurz vor seinem ..." Sie seufzte. „Ja. Ich habe den Schock immer noch nicht ganz überwunden. Haben seine Skulpturen Ihnen gefallen?"
„O ja, sehr sogar. Jetzt sind Sie also eine Waise?" „Nicht direkt..." Sie verstummte befangen. Patrick spürte, dass sie nicht darüber reden wollte, und wechselte taktvoll das Thema. Sie unterhielten sich über Bücher, Kunst und Musik, und Patrick fand ihre unverfälschten Ansichten erfrischend und alles andere als langweilig. „Was machen Sie denn beruflich?" fragte Samantha dann irgendwann. „Ich bin Schriftsteller", antwortete er ganz allgemein. „Oh! Und was schreiben Sie?" fragte Samantha interessiert. Patrick zuckte die Schultern. Er wollte nicht mit ihr über seine Arbeit reden und war froh, als in diesem Moment die Stewardess bei ihnen erschien und sie fragte, ob sie einen Drink wollten. „Einen Tomatensaft, bitte", sagte Samantha scheu, aber die Stewardess hatte nur Augen für Patrick Mallory. Sie wusste ganz genau, wer er war und welchen Einfluss er in der Theaterwelt hatte. Zudem war er ein überaus attraktiver Mann. „Was darf ich Ihnen bringen, Mr. Mallory?" fragte sie mit einem überschwänglichen Lächeln. Patricks Augen blitzten amüsiert. „Einen Scotch, und bringen Sie dieser jungen Dame einen Sherry anstatt des Tomatensafts." Samantha sah ihn überrascht an, und die Stewardess zog sich sichtlich widerstrebend zurück. „Sie haben doch nichts dagegen, oder?" erkundigte sich Patrick. „Nein, das ist schon in Ordnung." Samantha schüttelte nachdenklich den Kopf. „Warum hat die Stewardess sich so seltsam benommen?" Er lächelte. „Seltsam?" „Ja, Sie wissen schon. Die Stewardess ... na ja ..." Samantha errötete. Patrick blickte sie eindringlich an. „Wenn Sie etwas mehr Erfahrung haben, werden Sie solche Fragen nicht mehr stellen." „Ach ja?" Er lachte amüsiert. „Da sind schon unsere Drinks. Zum Wohl!" „Zum Wohl!" erwiderte Samantha leise und nippte an ihrem Sherry. Kurz danach wurde das Mittagessen serviert. Samantha blickte aus dem Fenster auf die dichte weiße Wolkendecke und fragte sich, was am Fliegen so besonders sein sollte. Es gab absolut nichts zu sehen, und so unterschied sich dieser Flug kaum von einer Busfahrt zu Hause. Zu Hause! Samantha seufzte. Sie musste sich abgewöhnen, von Italien als ihrem Zuhause zu denken. Bald würde sie auf Daven House in Wiltshire zu Hause sein. Es gab kein Zurück mehr. Wenn sie nach Italien zurückging, dann, um Benito zu heiraten. Aber mit zunehmender Entfernung spürte sie jetzt schon, wie das Band zwischen ihnen schwächer wurde. Nach dem Essen nahm Patrick einige Unterlagen aus seinem Aktenkoffer und vertiefte sich darin. Samantha war mit ihren Gedanken allein. Was würde in den nächsten Stunden auf sie zukommen? Je näher die Ankunft in London rückte, desto nervöser wurde sie. Hin und wieder ließ sie den Blick verstohlen zu ihrem Sitznachbarn schweifen. Er war zweifellos ein attraktiver Mann, wobei seine teure Kleidung und sein selbstsicheres Auftreten Weltgewandtheit und Erfahrung verrieten. Dabei sah er noch recht jung aus - Samantha schätzte ihn auf um die dreißig. Sie fragte sich, ob er wohl Engländer war. Sein Name ließ es vermuten, aber sein schwarzes Haar und der dunkle Teint deuteten eher auf eine südländische Abstammung. Seine faszinierenden goldbraunen Augen erinnerten Samantha an die Augen eines Panthers. Ob er wohl auch so gefährlich wie diese Raubkatze war? Auf jeden Fall war er sehr charmant und unterhaltsam, und sie konnte sich gut vorstellen, dass die Frauen auf ihn flogen. Sie, Samantha, behandelte er eher wie ein großes Schulmädchen, was sie ziemlich irritierte. Eigentlich war sie sich schon recht erwachsen
vorgekommen, und dennoch fühlte sie sich in Gegenwart dieses Mannes unbeholfen. Patrick Mallory ließ sich aber auch kaum mit den Männern aus dem Dorf vergleichen. Er war Schriftsteller, und sie fragte sich natürlich, was er wohl schrieb. Aber er schien nicht gewillt, darüber zu reden. Doch die Stewardess kannte ihn zweifellos, und er hatte auch erwartet, dass sie, Samantha, seinen Namen erkennen würde. Sie dachte an Benito. Er hatte darauf bestanden, sie zum Flughafen zu bringen und ihr natürlich die erwartete Szene gemacht. Nach seiner anfänglichen Einsicht hatte er ihr wegen ihrer Entscheidung doch wieder zunehmend Vorhaltungen gemacht, was vermutlich auf den Einfluss seiner Familie zurückging. Benitos Familie hatte ihre Absicht, nach England zu gehen, sehr ungnädig aufgenommen. Seine Mutter war sogar sehr deutlich geworden. Sie solle sich nicht wundern, wenn Benito während ihrer Abwesenheit eine andere finden würde. Viele Mädchen aus dem Dorf würden sich darum reißen, seine Frau zu werden. Und so weiter. Samantha war schließlich froh gewesen wegzukommen und in dem Gefühl gegangen, wohl kaum noch einmal zurückzukehren. Das war auch ein Grund für ihre Ängste. Sie hatte die Brücken hinter sich abgebrochen. Das alte Landhaus war an ein Paar aus Ravenna vermietet worden, Matilde war zu ihrer Schwester gezogen. Momentan fühlte Samantha sich wie im Übergang zwischen zwei Welten. In Italien gab es nichts mehr für sie, und was erwartete sie in England? „So nachdenklich?" Patricks Frage schreckte sie auf. Sie lächelte - etwas wehmütig, wie er fand. „Ja. Sind Sie mit Ihrer Arbeit fertig?" Er zuckte die Schultern. „Ich werde wohl nie wirklich fertig sein", antwortete er rätselhaft. Sie schwieg einen Moment und fragte dann: „Wie lange noch? Bis wir landen, meine ich." Patrick sah auf die Uhr. „Nur noch eine Viertelstunde. Werden Sie abgeholt?" „Ja, von meiner Großmutter." „Und fahren Sie dann direkt nach Wiltshire weiter?" „Ich weiß es nicht. Meine Großmutter wohnt augenblicklich im ,Savoy', und ich bin mir nicht sicher, welche Pläne sie hat." „Im ,Savoy'?" Patrick war beeindruckt. Dieses schlicht gekleidete junge Ding sah eigentlich nicht wie jemand aus, der üblicherweise im „Savoy" wohnte. „Nun, ich hoffe, dass Ihnen London gefällt." „Gefällt es Ihnen?" Er zögerte mit der Antwort. „Es lässt sich dort gut arbeiten. Wenn ich die Zeit habe, suche ich mir lieber einen ruhigeren Ort." Samantha seufzte. „Oje! Ich hoffe, es wird mir dort gefallen." „Ist das so wichtig?" Sie faltete nervös die Hände. „Furchtbar wichtig." Patrick hätte gern noch weiter gefragt, doch er bezwang seine Neugier. Als Schriftsteller war er von Natur aus an Menschen interessiert, und dieses Mädchen mit seinem noch unverdorbenen Wesen faszinierte ihn geradezu. Es war ihr zu wünschen, dass sie keine Erfahrungen machen würde, die ihre natürliche Lebensfreude dämpfen würden. Um halb eins landete das Flugzeug in London. Samantha nahm ihren leichten Trenchcoat und ging auf ziemlich wackligen Beinen zum Ausgang der Maschine. Patrick folgte ihr und bemerkte amüsiert, wie sie zurückschreckte, als ihr am Ausgang ein kühler Wind entgegenblies. Es war ein trüber Septembertag, und Samantha zog sich fröstelnd den Mantel über. Patrick lächelte auf sie herab. Obwohl sie nicht klein war, überragte er sie mit seinen ein Meter neunzig um fast einen ganzen Kopf. „Warten Sie, bis Sie erst einen englischen Winter erleben", sagte er spöttisch.
Sie blickte zu ihm auf. Er schien ihr plötzlich wie das letzte Bindeglied zu ihrem vertrauten Leben. „Mein Vater hat immer gesagt, dass hier ein unwirtliches Klima herrscht", erwiderte sie bedrückt. Und plötzlich regte sich in Patrick ein Verantwortungsgefühl für dieses Mädchen. Er begriff es selber nicht. Samantha war weder klein, noch heftete sie sich wie eine Klette an ihn, doch sie besaß eine Sanftheit, die sie vermutlich in der lauten Hektik Londons bald verlieren würde. Gemeinsam betraten sie das Flughafengebäude. Doch an der Pass- und Zollkontrolle verlor Samantha Patrick aus den Augen. In einem Anfall von Panik blickte sie sich suchend um, als sich ihr plötzlich eine Hand auf die Schulter legte. Sie fuhr herum und stellte fest, dass Patrick hinter ihr stand. „Ich ... ich dachte schon, Sie wären fort", flüsterte sie erleichtert. Er betrachtete sie ernst. „Und?" Verlegen wich sie seinem Blick auf. „Nichts." „Kommen Sie." Er fasste sie sacht am Arm und führte sie zum Ausgang. Ein Mann in Chauffeuruniform beobachtete sie dabei so auffällig, dass Patrick Samantha fragte: „Meinen Sie, der gehört zu Ihrer Großmutter?" „Keine Ahnung. Soll ich ihn fragen?" „Warten Sie hier", wies Patrick sie lächelnd an. „Ich werde ihn fragen." Kurz darauf kehrte er mit dem Chauffeur zu ihr zurück. „Ihre Kutsche steht bereit", sagte er belustigt. „Alles in Ordnung?" „Wie? O ja, danke." Sie sah ihn an. „Und vielen Dank für Ihre Freundlichkeit." „Keine Ursache", wehrte er ab. „Machen Sie sich keine Sorgen. Alles ist bestens geregelt." Samantha rang sich ein Lächeln ab und folgte dann dem Chauffeur durch die große Flughafenhalle und hinaus auf die Straße. Dort stand ein großer alter Rolls-Royce bereit, und Barnes, der sich Samantha als Chauffeur und Faktotum ihrer Großmutter vorgestellt hatte, hielt ihr den hinteren Wagenschlag auf, bevor er ihr Gepäck im Kofferraum verstaute. Samantha kam sich auf dem Rücksitz der riesigen Limousine ziemlich verlassen vor. Sie war etwas enttäuscht, dass ihre Großmutter nicht persönlich gekommen war, um sie abzuholen. So hatte sie nur den förmlichen Barnes als Gesellschaft und vermisste das Gefühl, wirklich willkommen geheißen zu werden. Vor dem Rolls-Royce parkte ein eleganter dunkelblauer Jaguar. Und plötzlich sah Samantha Patrick Mallory mit einer Blondine am Arm aus dem Flughafengebäude kommen. Samantha hatte noch nie eine so schöne Frau gesehen. Ihr Haar war kurz und lockig, und ein feiner cremefarbener Kaschmirmantel umschmeichelte ihre Figur. Sie war klein und zierlich ... und das genaue Gegenteil von Samantha. Samantha fühlte sich elend. Es tat weh, Patrick Mallory in Begleitung einer Frau zu sehen - obwohl es natürlich zu erwarten gewesen war. Er war ein weltgewandter, attraktiver Mann, um den sich die Frauen sicher rissen. In diesem Moment setzte Barnes sich ans Steuer und fuhr los. Samantha lehnte sich seufzend zurück. Wahrscheinlich hatte Patrick Mallory sie längst vergessen. Barnes ließ die gläserne Trennscheibe herunter. „Hatten Sie eine gute Reise, Miss?" „Ja, danke", antwortete sie scheu. Danach fuhren sie schweigend und schnell ihrem Ziel entgegen. Unter einem grauen, wolkenverhangenen Himmel herrschte auf den Straßen nach London ein unglaublicher Verkehr, und alle schienen es sehr eilig zu haben. Und als sie erst die Weltstadt erreichten, staunte Samantha über das Gewühl und geschäftige Treiben in den Straßen der Innenstadt. Das war natürlich eine ganz andere Welt als das Fischerdorf in Italien. Trotzdem fühlte sie sich nicht wirklich fremd. Immerhin war dies ihr Geburtsland, sie war Engländerin, auch wenn sie sich mehr wie eine Italienerin fühlte.
Als der Rolls-Royce in den Hof des „Savoy" einbog und anhielt, wurde Samantha erneut von Panik befallen. Mit zittrigen Knien stieg sie aus, als Barnes ihr den Wagenschlag öffnete. Der Chauffeur begleitete sie ins Foyer des Hotels und meldete sie an der Rezeption an. „Würden Sie dafür sorgen, dass Miss Kingsley in die Suite von Lady Davenport geführt wird?" wandte er sich an die Dame am Empfang. Samantha machte große Augen. Lady Davenport. Ihre Großmutter war eine Lady? Ihre Beklemmung wuchs. Einer der Hotelpagen nahm ihren Koffer und bat sie, ihm zum Lift zu folgen. Neugierige Blicke folgten ihnen, und Samantha wurde sich bewusst, wie ihr schlichter Trenchcoat und die einfachen flachen Pumps an diesem eleganten Ort wirken mussten. Der Lift hielt im zweiten Stock an, und Samantha wurde den Flur entlang zur Suite ihrer Großmutter geführt. Der Page wartete, bis ein Dienstmädchen die Tür öffnete, und überließ Samantha dann seiner Obhut. Allmählich fühlte sie sich wie ein Päckchen, das von einem zum anderen weitergereicht wurde. Anscheinend hatte sie nun jedoch ihren Bestimmungsort erreicht. Das Dienstmädchen nahm ihr den Mantel ab und sagte freundlich: „Nehmen Sie bitte Platz. Lady Davenport wird sofort bei Ihnen sein." „Danke." Samantha setzte sich auf eine Couch und blickte sich in dem großen, luxuriös ausgestatteten Salon der Suite um, während das Dienstmädchen Lady Davenport ihre Ankunft meldete. Nur wenige Minuten später ging die Tür wieder auf. Samantha drehte sich um und stand mit zittrigen Knien auf, als eine alte Dame am Stock das Zimmer betrat. Sie wirkte sehr klein und gebrechlich, aber das graue Haar war gepflegt frisiert, sie trug ein elegantes graues Seidenkostüm, und ihre klaren blauen Augen blickten hellwach. Samantha stand da und wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte. Lady Davenport sah sie freundlich an, und ihr sanftes Lächeln vertrieb einige von Samanthas Ängsten. „Samantha, Liebes! Endlich bist du hier!" „Grandma ..." sagte Samantha langsam. „Es ... klingt so fremd. Ich wusste nicht, dass ich noch Verwandte habe." Die alte Dame kam auf sie zu und blieb vor ihr stehen. „Du darfst mich küssen, Liebes." Samantha beugte sich herab und küsste sie auf die Wange. Und plötzlich fiel alle Anspannung von ihr ab, und sie drückte die alte Dame mit Tränen in den Augen an sich. „Das ist schon viel besser." Auch Lady Davenports Augen schimmerten feucht. „Setzen wir uns doch, Liebes." Sie nahmen nebeneinander auf der Couch Platz, und Lady Davenport betrachtete ihre Enkelin nachdenklich. „Du kommst mehr auf John als auf Barbara. O Samantha, du hast keine Ahnung, wie sehr ich mich darauf gefreut habe, dich wieder zu sehen!" „Aber warum ...?" „Gleich, Liebes", unterbrach ihre Großmutter sie sanft. „Lass uns zuerst einen Tee trinken, dann können wir reden." Das Dienstmädchen rollte einen Teewagen herein, und während Lady Davenport und Samantha ihren Tee tranken, studierten sie sich eine Weile gegenseitig. Schließlich lehnte Lady Davenport sich seufzend zurück. „So! Fühlst du dich etwas erfrischt?" „Ja, danke", erwiderte Samantha. „Ich hätte dich gern persönlich am Flughafen abgeholt, aber mit meiner Gesundheit steht es leider nicht mehr zum Besten, und mein Arzt besteht darauf, dass ich mich nach dem Mittagessen immer hinlege. Hat Barnes dich gleich gefunden?" Samantha lächelte. Sie dachte unwillkürlich an Patrick Mallory. „Ja, es war kein Problem." „Gut." Lady Davenport verstummte. Offensichtlich fiel es ihr schwer, einen geeigneten Anfang zu finden. Samantha war jedoch froh, dass ihre Großmutter eine so reizende alte Dame war. Aber wo war ihre Mutter?
„Nun, ich sollte wohl damit beginnen, indem ich dir über meine Tochter erzähle", sagte Lady Davenport zögernd. „Meine Mutter?" „Ja, deine Mutter. Barbara." Lady Davenport seufzte. „Sie ist mein einziges Kind und wurde geboren, als Harold und ich schon nicht mehr glaubten, dass wir überhaupt noch Kinder haben würden. So haben wir sie leider sehr verwöhnt. Sie war es gewohnt, immer zu bekommen, was sie wollte. Als sie deinen Vater kennen lernte, war sie achtzehn und noch viel zu jung, um zu wissen, was richtig für sie war. Aber sie wollte ihn, und zwei Monate später waren die beiden verheiratet. John war damals ein junger Marineoffizier und sah sehr attraktiv aus in seiner Uniform - du weißt ja, wie das ist. Barbara glaubte, es sei die große Liebe." Lady Davenport drehte nervös an dem funkelnden Ring an ihrem Ringfinger. „Kurz nach der Heirat fuhr John natürlich wieder zur See, und in den ersten beiden Jahren ihrer Ehe hatten die beiden nur wenig Zeit miteinander. Barbara hatte als Jungschauspielerin an einem Londoner Theater begonnen, und es war bald abzusehen, dass sie eine viel versprechende Karriere vor sich haben würde. Deshalb war sie wütend, als sie feststellte, dass sie schwanger war. Sie musste ihre Karriere unterbrechen und zu uns nach Wiltshire zurückkommen. Nach deiner Geburt konnte sie es gar nicht erwarten, so schnell wie möglich wieder nach London zurückzukehren." Die alte Dame sah ihre Enkelin entschuldigend an. „Ach Liebes, es tut mir Leid, aber du warst für sie nur ein Klotz am Bein." Samantha bezwang die aufsteigenden Tränen. „Erzähl bitte weiter", bat sie heiser. „Als du gerade ein Jahr alt warst, wurde John ins Marinehauptquartier nach London versetzt. Er kehrte also von seiner letzten großen Fahrt zurück und stellte fest, dass du bei mir in Daven lebtest und Barbara in London ihrer Karriere nachging. Mir machte das nichts aus. Du warst ein wundervolles Kind, und ich war überglücklich, dich bei mir zu haben. Aber John sah das natürlich anders. Er meinte, dass Barbara sich selbst um dich kümmern sollte. Deshalb nahm er dich mit und suchte für seine Familie eine Wohnung in London. Für eine Weile erlag Barbara dem Zauber ihrer alten Liebe. Sie nahm nur noch kleine Rollen an, lebte mit John und kümmerte sich um dich." Lady Davenport seufzte. „Ich war mir so sicher, dass jetzt alles gut gehen würde. Barbara schien so glücklich, seit John wieder zu Hause war ... Entschuldige, Liebes, aber ich muss ganz offen zu dir sein. John fand schließlich heraus, dass sie eine Affäre mit einem Filmproduzenten hatte, der ihr vermutlich eine große Rolle versprochen hatte. Er war im Übrigen ebenfalls verheiratet." Samantha fühlte sich schrecklich. War das die Mutter, die sie so unbedingt kennen lernen wollte? „Zu dem Zeitpunkt warst du fast vier Jahre alt. John sprach danach kein Wort mehr mit Barbara. Ohne unser Wissen schied er aus der Marine aus, verkaufte alles, was er besaß, nahm seine gesamten Ersparnisse von der Bank und verschwand mit dir. Später ließ er uns über seine Anwälte aus Mailand mitteilen, dass. er jetzt in Italien lebe und uns seine genaue Adresse nicht nennen wolle. Barbara schien das egal zu sein, und ohne sie konnte ich nichts unternehmen. Sie machte jetzt die ersehnte Karriere, bekam immer größere Rollen und wurde im Lauf der Jahre berühmt. Heute kann sie sich ihre Rollen aussuchen - sie ist wirklich eine bemerkenswert gute Schauspielerin." „Wie konnte sie so etwas tun?" rief Samantha aus. „Barbara ist eigenwillig und zielstrebig. Es war immer ihr Ziel, Erfolg zu haben, und sie hat dieses Ziel erreicht. Sie liebt die Männer, und die Männer liegen ihr zu Füßen. In vieler Hinsicht ist sie wie ein verwöhntes Kind - und sie weigert sich, älter zu werden. Der ewige Peter Pan." „Aber sie kann doch nicht mehr ganz so jung sein. Ich bin ja schon einundzwanzig." „Ja, sie wird bald vierzig, aber das sieht ihr keiner an." „Du liebst sie immer noch?" fragte Samantha erstaunt.
„Ja, natürlich. Sie ist meine Tochter, mein einziges Kind. Harold, dein Großvater, starb, als sie erst sieben Jahre alt war. Ich mache mir wirklich Vorwürfe, dass sie so egoistisch ist. Ich habe ihr nie etwas abschlagen können." „Und ... es gab eine Scheidung?" „Ja. Johns Anwälte brachten das glatt und ohne Aufsehen über die Bühne. Es war alles schon vergessen, bevor Barbara berühmt wurde. Heute weiß keiner mehr etwas davon." Samantha schwieg einen Moment. „Ich fürchte, ich habe noch nie etwas von ihr gehört. Wie nennt sie sich? Barbara Davenport oder Barbara Kingsley?" „Weder noch. Sie heißt mit vollem Namen Barbara Harriet Davenport, und ihr Künstlername ist einfach Barbara Harriet." „Auch das sagt mir nichts." „Nun, du hast in diesem italienischen Fischerdorf ziemlich behütet gelebt, und John wird dafür gesorgt haben, dass du möglichst nichts von ihr erfahren hast." Alles in allem gefiel es Samantha gar nicht, was sie über ihre Mutter gehört hatte. Barbara schien eine furchtbar selbstsüchtige Frau zu sein. „Sie hat nie wieder geheiratet?" Ihre Großmutter schüttelte den Kopf. „Nein. Sie hatte nie wieder den Wunsch, sich ganz an einen Mann zu binden. Jedenfalls bislang nicht - aber ich glaube, inzwischen denkt sie etwas anders. Es gibt da einen Mann ... Doch das hat Zeit." Lady Davenport nahm Samanthas Hand. „Es ist da noch etwas, das du wissen musst." Samantha blickte ahnungsvoll auf. „Was denn noch?" fragte sie vorsichtig. „Nun, wie ich schon sagte, ist Barbara heute eine sehr berühmte Schauspielerin, und als solche muss sie für ihr Publikum möglichst lange jung und attraktiv erscheinen." Samantha begriff nicht ganz, worauf ihre Großmutter hinauswollte. „Will sie mich vielleicht nicht als ihre Tochter anerkennen?" Lady Davenport lächelte. „Du hast bereits gelernt, misstrauisch zu sein. Das tut mir Leid." Sie seufzte. „Nein, sie will dich anerkennen, aber du bist einundzwanzig, Liebes. Wenn das bekannt würde, könnte sich jeder leicht ausrechnen, dass sie um einiges älter ist, als sie behauptet." „Ach, du meine Güte!" „Samantha, Liebes, versuch es zu verstehen. Barbara sieht sehr jung aus. Man schätzt sie höchstens auf zwei- oder dreiunddreißig." „Schön. Und was schlägt sie mir also vor?" „Sie möchte, dass du einwilligst, in der Öffentlichkeit als Teenager zu gelten ... Sagen wir, sechzehn oder siebzehn Jahre alt?" „Kommt nicht infrage!" wehrte Samantha empört ab. Lady Davenport lehnte sich seufzend zurück. „Ich habe ihr gesagt, dass du da nicht mitspielen würdest." „Warum sollte ich auch? Ich schulde ihr nichts, so wie sie sich all die Jahre verhalten hat!" „Ich gebe dir Recht, Liebes, aber nur unter dieser Bedingung lässt sie zu, dass du zu mir kommst. Du weißt ja noch nicht alles. Du wirst bei mir in Daven leben und nur gelegentlich nach London kommen. Nur dann musst du als Teenager auftreten, zu Hause in Daven kannst du ganz du selbst sein. Es ist ein sehr ruhiges Dorf, und niemand dort muss deine wahre Identität erfahren, wenn du es nicht willst." Sie nahm beschwörend Samanthas Hand. „Verlange ich wirklich zu viel? Ich bin eine alte, einsame Frau, Liebes, und es wäre mir eine große Freude, dich bei mir zu haben. Was bindet dich an Italien, das du nicht aufgeben kannst?" Samantha musste zugeben, dass es nur noch sehr wenig gab, was sie an Italien band. Mit dieser Entwicklung der Ereignisse hatte sie einfach nicht gerechnet. Aber nachdem sie nun mehr über diese egoistische Frau erfahren hatte, war dieser Vorschlag eigentlich gar nicht so verwunderlich. Liebevoll sah sie ihre Großmutter an. Auch wenn Lady Davenport in der
Erziehung ihrer Tochter versagt haben mochte, sie war eine reizende, liebenswerte alte Dame. Samantha fühlte sich ihr schon nach so kurzer Zeit verbunden und wünschte sich fast, sie hätte gar keine Mutter mehr gehabt, die die Sache nur unnötig verkomplizierte. „Und wenn ich mich dennoch weigere? Könnten wir nicht friedlich in Daven leben und Barbaras egoistische Tricks einfach vergessen?" „Ich fürchte, nein. Harold hat das Haus in Daven Barbara vererbt. Zwar hat er mir genügend hinterlassen, damit ich gut leben kann, aber das Haupterbe ist an deine Mutter gegangen. Sie könnte mir das Leben ziemlich zur Hölle machen, wenn ich mich ihren Wünschen widersetze. Wie ich schon sagte, Barbara ist sehr zielstrebig. Wenn man sich ihr nicht in den Weg stellt, kann sie charmant und zauberhaft sein. Ich bin zu alt, um mich mit ihr anzulegen - und das weiß sie genau." Samantha war ehrlich entsetzt. „Das ist ja schrecklich!" rief sie voller Sorge um ihre Großmutter aus. „Nun ja, es hat keinen Sinn, es dir zu verschweigen." „Aber wenn sie keine einundzwanzig Jahre alte Tochter haben will, warum will sie mich dann überhaupt als ihre Tochter anerkennen? Sie könnte mich doch auch als eine Cousine oder eine junge Freundin ausgeben." Lady Davenport zuckte die Schultern. „Das ist Barbaras Sache. Ich weiß nur, dass sie dich zwar als Tochter vorstellen will ... aber eben als Teenager. Also, bist du einverstanden oder nicht?" Samantha stand auf und ging aufgebracht im Zimmer auf und ab. Die Sache war ganz einfach: Entweder sie willigte in Barbaras Plan ein, oder sie konnte ihre Koffer packen und wieder gehen. Wenn ihr England vertrauter gewesen wäre, hätte sie vermutlich genau das getan. Aber augenblicklich fühlte sie sich noch mehr in Italien beheimatet. Nur, was erwartete sie dort? Eine Heirat mit Benito kam für sie inzwischen nicht mehr infrage. Sie hatte begriffen, dass es nicht Liebe war, was sie für ihn empfand, sondern Freundschaft und Zuneigung, weil sie miteinander aufgewachsen waren. Und dann gab es auch noch ihre Großmutter zu bedenken. Samantha konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie hier gebraucht wurde. Lady Davenport war alt und gebrechlich. Hatte sie, Samantha, das Recht, die alte Dame zu enttäuschen und im Stich zu lassen - egal, wie egoistisch sich ihre Mutter in der Vergangenheit verhalten hatte? War es nicht ein Akt der Nächstenliebe, in Barbaras Pläne einzuwilligen und dann einen Zeitpunkt abzuwarten, da Lady Davenport nicht mehr verletzt werden konnte, um die Bombe hochgehen zu lassen? Sie wandte sich ihrer Großmutter zu, die sie hoffnungsvoll beobachtete. „Du bist jung", sagte die alte Dame. „Könntest du mir nicht einige Monate oder höchstens einige Jahre deines Lebens schenken?" Samantha seufzte. „Falls ich einwillige, meinst du denn, ich könnte wie sechzehn aussehen?" Lady Davenport lächelte. „Kein Problem. Du siehst jetzt kaum älter aus, weil du dort in dem Fischerdorf so behütet gelebt hast. Die Teenager hier in London führen ein recht wildes Leben - vielleicht macht es dir sogar Spaß. Eins kann ich dir jedenfalls versprechen: Du wirst dich nicht langweilen." Samantha fragte sich, was ihr Vater wohl davon gehalten hätte. Immerhin hatte er sie praktisch zu ihrer Mutter zurückgeschickt. Sicherlich hätte er niemals zugestimmt, denn er hatte stets jegliche Art von Täuschung abgelehnt. Andererseits, hatte er sie, Samantha, nicht auch getäuscht, indem er sie in dem Glauben gelassen hatte, ihre Mutter wäre tot? „Also gut", sagte Samantha. „Ich willige ein, jedenfalls fürs Erste. Ich kann für nichts garantieren, bis ich diese Maskerade nicht ausprobiert habe." „Ach Liebes, ich bin so froh und so dankbar." In den Augen ihrer Großmutter schimmerten Tränen, und Samantha freute sich, dass sie wenigstens einen Menschen glücklich gemacht hatte.
„Nun zu den Details", fuhr Lady Davenport fort. „Ich fürchte, Barbara hat bereits verlautbaren lassen, dass sie vor siebzehn Jahren mit siebzehn heimlich geheiratet hat. Die Tochter, die aus dieser kurzen Ehe hervorgegangen ist, habe sie geheim gehalten, damit sie in Ruhe aufwachsen konnte." „Was soll das heißen?" fragte Samantha ungläubig. „Wie konnte sie so etwas verlautbaren lassen? Sie wusste doch noch gar nicht, ob ich einverstanden sein würde." Lady Davenport räusperte sich verlegen. „Barbara hat deine Einwilligung wohl vorausgesetzt. Keiner schlägt ihr etwas ab." Samantha schüttelte den Kopf. „Ich bin nur eine Marionette in ihrem Spiel." „Bitte, Samantha, nimm's, wie es ist. Du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich dir." Samantha war nicht überzeugt. Die ganze Sache gefiel ihr nicht, und sie fragte sich, was wohl wirklich dahinter steckte. Nach allem, was sie inzwischen über ihre Mutter erfahren hatte, tat Barbara nichts ohne guten Grund. „Und wann fahren wir nach Daven?" „Nun, wir werden leider noch mindestens eine Woche hier bleiben müssen", gestand Lady Davenport. „Barbara möchte dich ihren Freunden vorstellen und hat dazu Partys, Abendessen und so weiter geplant. Aber keine Sorge, wenn wir erst in Daven sind, werden wir so bald nicht nach London zurückkommen." „Ich verstehe." Bedrückt malte Samantha sich die bevorstehende Woche aus: Partys, Abendessen, und sie sollte wieder sechzehn sein!
3. KAPITEL
Am nächsten Morgen wachte Samantha in einem riesigen, luxuriösen Bett auf. Verwirrt fragte sie sich, wo sie wohl sei - dann kehrte die Erinnerung schlagartig zurück. Sie war in England, wohnte mit ihrer Großmutter im „Savoy" in London und sollte heute zum ersten Mal seit siebzehn Jahren ihre Mutter wieder sehen. Bei diesem Gedanken barg sie das Gesicht im Kissen. Sie freute sich heute noch weniger darauf als gestern. Den vorangegangenen Abend hatte sie allein mit ihrer Großmutter verbracht. Wie Lady Davenport sagte, hatte Barbara einen wichtigen Termin und würde erst am nächsten Tag kommen, um ihre Tochter zu sehen. Samantha fragte sich allmählich, ob ihre Mutter denn überhaupt kein Interesse an ihr hatte. Für diesen Morgen hatte Lady Davenport den Kauf einer neuen Garderobe für Samantha und einen Besuch beim Friseur geplant. Vor allem den Friseurbesuch fand Samantha unnötig. Sie war es gewöhnt, sich ihr Haar selbst zu waschen und zu föhnen. Doch Lady Davenport hatte lächelnd darauf bestanden. „Du musst dich jetzt an den Gedanken gewöhnen, Liebes, dass du eine relativ vermögende junge Frau bist. Und als solche föhnst du dir deine Haare nicht selber. Du wirst regelmäßig zum Friseur gehen, denn du darfst in der Öffentlichkeit niemals unordentlich oder ungepflegt auftreten." Nach dieser Belehrung ihrer Großmutter hatte Samantha sich jeden weiteren Widerspruch verkniffen. Jetzt stand sie auf und blickte auf die Uhr. Es war schon halb neun - zu Hause hätte sie längst am Frühstückstisch gesessen. „Zu Hause!" Sie seufzte. Würde sie sich je daran gewöhnen, England ihr Zuhause zu nennen? Samantha war geduscht und angezogen, als das Dienstmädchen anklopfte und das Frühstückstablett hereintrug. „O Miss, Sie sind schon auf!" „Ja." Samantha machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Ist das schlimm?" Das Dienstmädchen lächelte. „Aber nein, Miss. Ich war nur überrascht. Ich dachte, Sie wären noch müde nach der Reise." „Nein, nein. Das ist ja ein gewaltiges Frühstück!" „Oh, es ist doch nur Müsli, Eier mit Speck und Toast!" Samantha lächelte. „In Italien begnügt man sich mit Brötchen und Butter. Mein ..." Mein Vater, hatte sie sagen wollen, brachte es aber nicht heraus. „Nun, greifen Sie zu", ermunterte das Dienstmädchen sie freundlich. „Lady Davenport lässt Ihnen ausrichten, dass sie um zehn Uhr für Ihren Einkaufsbummel bereit sein wird." „Vielen Dank." Samantha frühstückte am Tisch vor dem Fenster und blickte auf das geschäftige Treiben in der Sackgasse unterhalb. Sie sehnte sich danach, endlich nach draußen zu kommen und mehr von der Stadt zu sehen. In dieser feinen Umgebung fühlte sie sich in ihrem schlichten Baumwollkleid etwas unwohl, aber sie hatte auch nicht im Traum erwarten können, mit dem englischen Adel verwandt zu sein. Lady Davenport kam pünktlich um zehn Uhr in einem maßgeschneiderten leichten Tweedkostüm aus ihrem Schlafzimmer. Sie sah elegant und zierlich aus, und Samantha beneidete sie um ihr selbstsicheres Auftreten. Neben der alten Dame kam sie sich linkisch und viel zu groß vor. „Geh nicht so krumm", sagte Lady Davenport kritisch. „Du bist groß, aber darauf solltest du stolz sein. Bald trägst du Pumps mit hohen Absätzen, die dich noch ein wenig größer machen werden. Wie groß bist du genau?" „Ein Meter achtundsechzig."
„Schön, dann wirst du einen Meter dreiundsiebzig sein. In Gesellschaft kleinerer Leute beuge dich auf keinen Fall zu ihnen herunter, sondern lass sie zu dir aufblicken. Deine Größe ist dein Vorteil, setze ihn für dich ein!" „Ja, Grandma", antwortete Samantha pflichtschuldig. „Du kannst ganz schön streng sein, nicht wahr?" Lady Davenport lachte vergnügt. „Das kommt darauf an, mit wem ich es zu tun habe. Können wir los? Barnes wartet auf uns." Der Rolls-Royce parkte im Hof des „Savoy". Samantha half ihrer Großmutter beim Einsteigen und nahm neben ihr Platz. Sobald sie losfuhren, blickte Samantha gespannt aus dem Fenster. Sie wollte nichts verpassen. Sie fuhren mitten durch London. Lady Davenport wies Barnes an, einmal rund um den Piccadilly Circus zu fahren, damit Samantha die Eros-Statue bewundern konnte. „Du musst noch eine richtige Stadtbesichtigung machen", sagte ihre Großmutter. „Weißt du schon viel über London?" „Nun ja, mein Vater hat mir natürlich von den wichtigsten Sehenswürdigkeiten erzählt wie dem Tower und Buckingham Palace. Aber vor allem hat er von den Museen und Kunstgalerien geschwärmt. Er liebte die alten Kunstschätze." Ihre Großmutter lächelte. „Und? Hast du seine Vorliebe geerbt?" „O ja! Ich würde London wirklich gern erkunden. Es gibt so vieles, was ich sehen möchte." „Nun, du wirst viel Zeit dazu haben." „Ja, und ich bin froh darüber. Im Grunde habe ich England immer kennen lernen wollen. Nur manchmal verleiten einen die Umstände, etwas anderes zu glauben." In dem Laden, in den Lady Davenport sie führte, erfuhr Samantha zum ersten Mal, was es wirklich bedeutete, Geld zu haben. Von außen sah das Geschäft in einer Seitenstraße der Bond Street eher unscheinbar aus, aber drinnen eröffnete sich Samantha eine völlig neue Welt. Der Laden mit dem schlichten Namen „Helene" war eins der exklusivsten und teuersten Bekleidungsgeschäfte Londons. Lady Davenport wurde als Stammkundin mit ihrer Enkelin in einen eleganten Salon geführt und von Helene persönlich bedient - einer kleinen, ältlichen Französin, deren Hände von Arthritis fast verkrüppelt waren. Samantha musste sich bis auf die Unterwäsche ausziehen und wurde dann gemessen und gewogen, was sie, die nicht daran gewöhnt war, sich vor anderen zu entkleiden, eine ziemlich peinliche Prozedur fand. „Ihre Enkelin hat eine wundervolle Figur", bemerkte Helene. „Groß und schlank, aber genau an den richtigen Stellen gerundet." „Das ist auch mein Eindruck", bestätigte Lady Davenport zufrieden lächelnd. „Sie wird sich gut einkleiden lassen, nicht wahr?" „Aber natürlich. Unsere neue Kollektion für junge Frauen wird das Richtige für sie sein. Sie ist sechzehn, sagten Sie?" „Ganz recht", erwiderte Lady Davenport, ohne mit der Wimper zu zucken, aber Samantha errötete tief. Als Samantha zwei Stunden später mit ihrer Großmutter Helenes Geschäft wieder verließ, war sie von Grund auf neu eingekleidet. Angefangen von feinster Seidenunterwäsche, über mehrere Kostüme, Kleider für jeden Anlass, ein langes Abendkleid, Designerjeans, Blusen, Tops bis hin zu schicken, modischen Sweatshirts. Dazu kamen natürlich noch Dutzende feine Nylons und Schuhe passend zu der neuen Garderobe. Es war schon ein tolles Gefühl, so viele schöne neue Sachen auf einen Schlag zu bekommen. Barnes packte Berge von Schachteln und Taschen in den Kofferraum des Rolls-Royce, und der Rest würde später ins Hotel geliefert werden. Samantha trug jetzt ein leuchtend orangefarbenes Kostüm mit einem kurzen, engen Rock und einem flotten, taillenlangen
Jäckchen ohne Kragen und dazu schwarze Lederpumps mit Blockabsatz. Sie war selbst überrascht, wie verändert sie aussah. „Und nun dein Haar", sagte Lady Davenport, als sie wieder im Rolls-Royce saßen. Etwas unsicher ließ Samantha die Finger durch ihr langes, seidiges Haar gleiten. „An was für eine Frisur hast du denn gedacht?" Ihre Großmutter lächelte. „Keine Sorge, viele Teenager tragen heutzutage ihr Haar lang. Aber die Spitzen müssten geschnitten werden, und ich denke, Raphael sollte etwas Schick in deine Frisur bringen. Ja, einen Fransenpony, um deine schönen grünen Augen zu betonen." Samantha errötete schon wieder. Sie war an derartige Komplimente nicht gewöhnt. Raphaels Salon war ganz in der Nähe, und Lady Davenport ließ Samantha dort allein, nachdem sie Raphael informiert hatte, was sie sich für ihre Enkelin vorstellte. Während Samantha die Haare gewaschen, geschnitten und geföhnt wurden, bekam sie gleichzeitig eine Maniküre und später dann eine kosmetische Grundbehandlung. Schließlich wurde sie von einer versierten Kosmetikerin dezent geschminkt, so dass Lady Davenport, als sie kam, um ihre Enkelin abzuholen, restlos begeistert war. Das Mittagessen nahmen sie im Restaurant des „Savoy" ein. Samantha zog bewundernde Blicke auf sich, und Lady Davenport bemerkte es lächelnd. „Vielleicht ist es ganz gut, dass du erst sechzehn sein sollst", meinte sie nachdenklich. „Barbara hat bestimmt nicht vermutet, dass du so hübsch sein würdest. Du bist die perfekte Verbindung aus John und Barbara. In vieler Hinsicht schlägst du nach ihr, aber du bist viel größer und hast Johns Augen." „Wann werde ich meine Mutter endlich kennen lernen?" fragte Samantha, ohne aufzublicken. „Barbara meinte, sie würde irgendwann heute Nachmittag vorbeikommen. Wenn sie nicht arbeitet, steht sie selten vor Mittag auf. Sie hat gerade ein sechsmonatiges Gastspiel am Broadway hinter sich und macht einen Monat Pause, bevor die Proben für ein neues Stück beginnen, das im West End Premiere haben wird." „Ich verstehe. Und wann will sie anfangen, mich öffentlich herumzuzeigen? " „Bitte, Liebes, mach nicht so ein Gesicht. Morgen Abend gibt sie eine Cocktailparty in ihrer Wohnung. Ich nehme an, dass dort dein Debüt stattfinden soll." „Warum wohnst du nicht bei ihr, wenn du in London bist?" „Ach, Barbaras Lebensrhythmus liegt mir nicht, Liebes. Sie schläft zwar morgens lang, aber dafür ist sie eine richtige Nachteule und geht selten vor dem ersten Hahnenschrei ins Bett, wie man so schön sagt." Samantha, die es gewohnt war, zeitig schlafen zu gehen und mit den Vögeln aufzustehen, fragte sich, wie sie mit diesem Lebensstil zurechtkommen würde. Nach dem Essen gingen sie hinauf in Lady Davenports Suite. Ihre Einkäufe bei Helene waren bereits von Emily, dem Dienstmädchen, ausgepackt und in die Schränke geräumt worden. Emily arbeitete schon über zwanzig Jahre für Lady Davenport, und Samantha fragte sich, was sie wohl über die Täuschung dachte. Das Dienstmädchen musste sie, Samantha, doch schon als Kleinkind gekannt haben und somit auch ihr richtiges Alter kennen. Doch Emily war Lady Davenport loyal ergeben und hätte nie etwas gesagt oder getan, was die alte Dame hätte verletzen können. Lady Davenport zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, um sich etwas hinzulegen, und Samantha blieb sich selbst überlassen. Sie setzte sich auf die Couch und blätterte in einer Zeitschrift, aber sie konnte sich auf nichts konzentrieren. Das bevorstehende Treffen mit ihrer Mutter lag ihr im Magen. Nach allem, was sie bisher von ihrer Großmutter über Barbara erfahren hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie diese Frau mögen würde. Hinter ihr ging die Tür auf, und Samantha drehte sich um in der Erwartung, Emily zu sehen. Doch stattdessen erblickte sie eine kleine, hinreißend schöne Frau mit kurzem blondem Haar und blauen Augen. Sie trug ein maßgeschneidertes purpurrotes Samtkostüm, ein
goldenes Kollier funkelte an ihrem Hals, Diamanten glitzerten an ihren Ohren. Anmutig gegen die weiße Tür gelehnt, schien sie genau zu wissen, wie betörend sie in diesem Moment aussah. Alles in allem ein perfekt inszenierter Auftritt. Samantha stand auf. Ihr war klar, dass dies ihre Mutter sein musste. „Nun", sagte Barbara langsam, „du bist also Samantha!" „Ja", antwortete Samantha heiser. Ihr zitterten die Knie. „Und du ... bist meine Mutter." „Offensichtlich." Barbara ging langsam auf sie zu. „Mutter hat wirklich bewundernswerte Arbeit geleistet. Du siehst ... recht hübsch aus." Sie blieb in einiger Entfernung von Samantha stehen. „Du verzeihst mir sicher, wenn ich dich nicht küsse, nicht wahr? Es liegt mir nicht, Frauen zu küssen, und außerdem kennen wir uns zu wenig, um wirklich Zuneigung füreinander zu empfinden. Wir können unmöglich wie Mutter und Tochter fühlen, zumal John sicherlich alle Illusionen, die du vielleicht über mich gehegt hast, zunichte gemacht hat." „Er hat mir gesagt, du seist tot", erwiderte Samantha kühl. Barbara lächelte ungerührt. „Ach ja? Nun, wie es aussieht, ist er kein Risiko eingegangen. Vermutlich wollte er verhindern, dass es ihm noch einmal passieren würde." „Da bestand keine Gefahr!" entgegnete Samantha heftig. „Und ich denke, du hast dich sehr schlecht benommen." „Tatsächlich? Hast du dich noch nie zu einem Mann hingezogen gefühlt, der nahezu unerreichbar für dich war?" „Nein." „Natürlich nicht." Barbara winkte gelangweilt ab. „Aber in einem Dorf am Ende der Welt findet man ja auch kaum irgendeinen passablen Mann." „Es ist ein wunderschönes Dorf", sagte Samantha zornig. „Und wir waren sehr glücklich dort. Ich habe nie einen anderen Mann gebraucht." „Wie reizend!" Barbara wandte sich ab, und plötzlich hatte Samantha den Eindruck, sie von irgendwoher zu kennen. Seltsam, sie konnte sich doch gar nicht an ihre Mutter erinnern, und doch ... „Ich nehme an, Mutter hat dir die Sachlage erklärt", fuhr Barbara fort. „Bist du einverstanden?" „Augenscheinlich, sonst wäre ich wohl nicht hier, oder?" erwiderte Samantha schroff. „Oder sollte ich nicht postwendend zurückgeschickt werden, wenn ich nicht eingewilligt hätte? Barbara lachte spöttisch. „Du solltest mich nicht zu sehr hassen, Darling. Immerhin bin ich deine Mutter, und ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, wir könnten uns nicht leiden." Samantha sah ihre Mutter ablehnend an. „Ich überlege ernsthaft, ob ich dieses Spiel wirklich mitmachen soll." „An deiner Stelle würde ich es mir nicht noch einmal anders überlegen, Darling. Denk nur daran, wie viel Geld schon für dich ausgegeben wurde. Mutter hat dir doch eine neue Garderobe gekauft, oder nicht? Dieses Kostüm sieht nach einem von Helenes Modellen aus." „Das stimmt", räumte Samantha widerwillig ein. Barbara hatte natürlich Recht. Sie durfte ihre Großmutter nicht vergessen. Schließlich hatte sie nur ihretwillen in diese Maskerade eingewilligt. „Dachte ich es mir." Barbara lächelte. „Entspann dich, Darling. Ich habe doch kein Verbrechen begangen, und John war vermutlich ohne mich viel glücklicher. Wir haben einfach nicht zueinander gepasst." War das bloß Verdrängung, oder besaß Barbara wirklich keinerlei Gewissen? Samantha war allmählich geneigt, Letzteres zu glauben. „Schön", Barbara setzte sich anmutig in einen der Sessel, „ich möchte, dass du mich Barbara nennst - das ist dir sicher auch lieber so. Nach allem, was war, könntest du mich wohl kaum ,Mum' nennen, oder?"
„Offen gestanden, nein", sagte Samantha sofort. Barbara beobachtete ihre Tochter, als sie nun ans Fenster ging und hinausblickte. Samantha war so ganz anders, als sie es erwartet hatte - vor allem viel hübscher. Und mit ihrer Größe hatte sie unübersehbare Vorteile. Andererseits hatten die meisten Männer es ganz gern, wenn eine Frau klein und zerbrechlich wirkte. Eine große Frau wie Samantha konnte nie das Schmusekätzchen spielen. Ihr seidiges weißblondes Haar allerdings war beneidenswert. Es erinnerte Barbara schmerzlich daran, dass sie schon auf künstliche Mittel zurückgreifen musste, um die ersten grauen Haare zu überdecken. Samantha hing ihren eigenen Gedanken nach. Sie war nach England gekommen in dem festen Vorsatz, ihre Mutter fast bedingungslos zu akzeptieren, und war nun restlos enttäuscht. Die Frau, die vor ihr stand, war kalt und berechnend und anscheinend zu keinerlei normalen Muttergefühlen fähig. Innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden waren ihre, Samanthas, Träume wie Seifenblasen zerplatzt. Sie war jetzt schon älter, reifer ... und vor allem vorsichtiger geworden. Samantha war froh, als kurz darauf ihre Großmutter in den Salon der Suite kam. Beim Anblick ihrer Tochter blieb Lady Davenport stehen. „Barbara! Du bist viel früher hier, als ich erwartet hatte." Barbara war aufgestanden und goss sich gerade einen Drink ein. „Nicht wahr? Ich konnte es nicht erwarten, meine reizende Tochter kennen zu lernen." Samantha wandte sich ab, und Lady Davenport blickte zwischen den beiden hin und her. Sie spürte natürlich die angespannte Atmosphäre im Raum. „Und meinst du nicht, dass du eine wunderschöne Tochter hast?" Barbara nippte gelangweilt an ihrem Drink. „Ja, wirklich. Sie ist in vieler Hinsicht eine Überraschung für mich." Dabei blickte sie Samantha über das Glas hinweg spöttisch an. „Ich ... würde jetzt gern duschen", sagte Samantha rasch. „Macht es dir etwas aus, Grandma?" „Aber nein." Lady Davenport überspielte ihre Besorgnis. „Natürlich nicht, Liebes. Geh nur." „Danke." Sobald sich die Tür hinter Samantha geschlossen hatte, wandte Lady Davenport sich vorwurfsvoll an ihre Tochter. „Was hast du gesagt, dass das Kind so aufgebracht ist?" Barbara lachte. „Mutter, ich bin erst seit wenigen Minuten hier. Was soll ich schon gesagt haben?" „So wie ich dich kenne, können einem wenige Minuten in deiner Gesellschaft wie eine Ewigkeit vorkommen." Lady Davenport ließ sich seufzend in einen Sessel sinken. „Du übertreibst wie immer", erwiderte Barbara kühl. „War es eigentlich schwer, sie zu überreden?" „Ja, ziemlich schwer. Sie ist eine sehr attraktive junge Frau. Würdest du an ihrer Stelle gern wieder den Teenager spielen und somit vielleicht deine besten Jahre vergeuden?" „Nein", gestand Barbara langsam. „Aber die Umstände zwingen mich zu ungewöhnlichen Maßnahmen." Plötzlich lächelte sie wieder. „Ich bin sogar ziemlich stolz auf mich. Auf diese Weise schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe." Sie blickte in das skeptische Gesicht ihrer Mutter. „Du wirst schon sehen ... alles wird gut gehen." Als Samantha in den Salon zurückkehrte, stellte sie erleichtert fest, dass ihre Mutter schon gegangen war. „Wie ich dir gesagt habe, wird Barbara morgen Abend eine Cocktailparty geben", sagte Lady Davenport. „Heute Abend sind wir allein. Sie hat eine andere ... Verabredung." „Mit dem Mann, mit dem sie eine Affäre hat?" „Das könnte man so ausdrücken, Liebes. Aber sei nicht so verbittert. Ich dachte, wir besorgen uns Theaterkarten und verbringen den Abend in der Stadt. Na, wie klingt das?" Samanthas Gesicht hellte sich sofort auf. „Wundervoll!"
Sie zog zu diesem besonderen Anlass natürlich eins ihrer neuen Kleider an - ein langes schwarzes Jerseykleid mit Spaghettiträgern und darüber ein Jäckchen aus flauschigem schwarzem Webpelz. Lady Davenport lächelte sie liebevoll an. „Du siehst sehr hübsch aus, Liebes. Ach Samantha, wir werden viel Spaß miteinander haben! Meinst du, das ist es für dich wert?" „Natürlich", antwortete Samantha sanft. „Ich tue das alles nur für dich. Dich kennen zu .lernen hat meinem Leben wieder einen Sinn gegeben." Während des Stücks dachte Samantha unwillkürlich an Patrick Mallory und daran, wie nett er zu ihr gewesen war. Ob sie ihn wohl je wieder sehen würde? Es war unwahrscheinlich. London war riesig, und wenn alles nach Plan verlief, würde sie sowieso bald mit ihrer Großmutter in Daven sein. Sie seufzte, und Lady Davenport sah sie besorgt an. „Langweilst du dich, Samantha?" flüsterte sie ihr zu. Samantha lächelte. „Aber nein. Ich habe nur über etwas nachgedacht." Sie drückte ihrer Großmutter beschwichtigend den Arm. „Ich kann immer noch nicht glauben, was alles geschehen ist." Lady Davenport tätschelte ihr die Hand. „Wir haben viel nachzuholen. Aber gefällt es dir wirklich?" „Sehr sogar", sagte Samantha ehrlich und konzentrierte sich von da an ganz auf das Geschehen auf der Bühne. Nach dem Theater aßen sie in einem kleinen, exklusiven Restaurant und kehrten gegen Mitternacht ins Hotel zurück. „Ich glaube, ich werde morgen früh etwas länger schlafen", sagte Lady Davenport, die erschöpft aussah. „Sieh dich ruhig ein wenig in der Stadt um, Samantha, aber verlauf dich nicht, ja?" „Natürlich nicht, Grandma. Es war ein wundervoller Abend. Vielen Dank." Lady Davenport küsste sie lächelnd auf die Wange. „Mir hat es auch sehr gefallen. Und jetzt... ins Bett. Gute Nacht, Liebes." „Gute Nacht, Grandma." Als Emily um neun Uhr das Frühstück brachte, hatte Samantha das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Die vielen neuen Eindrücke und der Gedanke an die bevorstehende Party ihrer Mutter hatten sie erst gegen vier Uhr morgens einschlafen lassen. Nach dem Frühstück zog sie sich Designerjeans und ein feines blaues Sweatshirt an, band sich das Haar zu einem Pferdeschwanz hoch, zog noch eine flotte Lederjacke über und verließ das Hotel. Draußen brach die Sonne durch die Wolken, und es wehte ein kühler Wind, der Samantha hellwach werden ließ. Unternehmungslustig machte sie sich auf zum Trafalgar Square. Es war aufregend und viel interessanter, die Stadt zu Fuß zu erkunden. Nachdem sie die Brunnen und die berühmte Nelsonsäule gebührend bewundert hatte, ging sie weiter. Vor ihr erstreckte sich The Mall. Samantha entschied sich, linker Hand durch den Park zum Buckingham Palace zu gehen. In den Straßen herrschte um diese Stunde schon ein erstaunlich dichter Verkehr. Samantha genoss die Ruhe im Park, die sie an Perruzio erinnerte, und sah eine Weile den Enten auf dem Teich zu. Dann ging sie weiter zum Palast und dem Victoria Memorial. Schließlich war es Zeit, zum Hotel zurückzugehen, und sie machte widerstrebend kehrt. Auf dem Weg zum Aufzug rief jemand ihren Namen. Samantha drehte sich um und sah einen Mann von etwa vierzig mit blondem, leicht angegrautem Haar auf sie zukommen. „Ja?" fragte sie erstaunt. Sie kannte doch niemanden in England. „Kann ich Ihnen helfen?" „Sie sind Barbara Harriets Tochter, nicht wahr?" „Ja, das stimmt. Aber wer sind Sie?"
Der Mann lächelte einschmeichelnd. „Mein Name ist Martin Pryor. Ich bin ... ein Freund Ihrer Mutter. Sie sehen ihr sehr ähnlich. " Seinen scharfen Augen entging nicht, dass Samantha bei diesen Worten etwas zusammenzuckte. „Darf ich Sie zu einem Drink einladen?" Sie blickte ihn überrascht an. Seine Art gefiel ihr nicht. „Ich bin noch nicht achtzehn", sagte sie kühl. Der Mann lächelte ungerührt. „Wie wär's mit einem Kaffee im Salon?" „Danke, nein", wehrte sie ab. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen ..." „He, warten Sie! Ich habe hier über eine halbe Stunde auf Sie gewartet." „Ach ja? Haben Sie sich bei meiner Großmutter angemeldet?" „Ehrlich gesagt, nein. Ich habe am Empfang nach Ihnen gefragt und erfahren, dass Sie das Hotel verlassen hatten. Da entschied ich mich, auf Sie zu warten." Samantha betrachtete ihn skeptisch. „Sie können mir sicher das, was Sie mir zu sagen haben, auch hier im Foyer mitteilen." „Nun gut, vielleicht sollte ich Ihnen erst einmal verraten, dass ich ... Reporter bin." Sie erstarrte. „Allerdings!" „Langsam, Schätzchen, ich will doch nur eine Story von Ihnen. Wie lange Sie in Italien gelebt haben, wie eng Ihr Kontakt zu Ihrer Mutter war ..." Samantha fiel ihm zornig ins Wort: „Ich habe nicht die Absicht, meine Privatangelegenheiten mit Ihnen oder sonst jemand zu besprechen. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe Wichtigeres zu tun." Martin Pryor blickte ihr belustigt nach. Das war also die siebzehnjährige Tochter - oder hatte Barbara sechzehn gesagt? Auf jeden Fall ein ziemlich eingebildeter Teenager. Lächelnd wandte er sich ab und ging in die Bar. Als Samantha die Suite ihrer Großmutter betrat, saß Lady Davenport am Sekretär und schrieb einen Brief. „Kennst du einen Mann namens Martin Pryor, Grandma?" erkundigte Samantha sich immer noch aufgebracht. Lady Davenport blickte besorgt auf. „Ja, allerdings, Kind. Warum fragst du?" „Weil er mir gerade im Foyer aufgelauert und mir Fragen über mich und Barbara gestellt hat." „Ach herrje! Und was hast du ihm gesagt?" „Nichts. Er war viel zu aufdringlich für meinen Geschmack." Lady Davenport lächelte. „Aufdringlichkeit ist sein Geschäft. Martin Pryor ist ein einflussreicher Mann in der Fleet Street. Seine Klatschkolumne im ,Ambassador' ist ein absolutes Muss für jeden, der berühmt werden möchte. Sie wird praktisch von jedermann gelesen und lebt vor allem von den Skandalen und Skandälchen in der Film- und Theaterwelt." „Ich verstehe. Dann gehört Pryor wohl zu denen, die es ausschlachten würden, dass Barbara eine einundzwanzigjährige Tochter hat." „Genau. Du hast dich genau richtig verhalten. Sag nie etwas, bevor du dich nicht mit mir oder Barbara abgesprochen hast. Alle Äußerungen gegenüber der Presse können missdeutet oder aus dem Zusammenhang gerissen werden." „Schon gut, Grandma", sagte Samantha beschwichtigend, „ich habe verstanden. Essen wir zusammen zu Mittag?" „Ja, ich lasse uns etwas hier oben servieren. Freust du dich schon auf die Party heute Abend?" „Eigentlich nicht. Sie macht mir eher Angst." „Unsinn", wehrte Lady Davenport lächelnd ab. „Vergiss nicht, die Leute werden sich darum reißen, dich kennen zu lernen, weil du Barbara Harriets Tochter bist."
„Ich weiß, genau das macht mir ja Angst." Samantha rang sich ein Lächeln ab. „Aber ich habe es ja bald hinter mir." Ihre Großmutter seufzte. „Es ist leider nur der Anfang. Du wirst noch einiges an Publicity über dich ergehen lassen müssen."
4. KAPITEL
Barnes setzte Samantha gegen halb sechs vor der Wohnung ihrer Mutter ab. Die Party sollte um sechs beginnen, aber Barbara wollte, dass Samantha etwas früher da war, um ihr die Wohnung zu zeigen und ihr letzte Anweisungen zu geben. Samantha kam sich fast wie eine Schauspielerin vor, die für den Abend angeheuert worden war, um die Rolle von Barbaras Tochter zu spielen, und vorher noch ihren Text lernen sollte. Sie trug für diesen Abend ein kurzes, leicht ausgestelltes apricotfarbenes Trägerkleid, schwarze Spangenschuhe mit Blockabsatz und darüber einen taillierten dunkelgrünen Blazermantel. Ihr weißblondes Haar umschmeichelte offen ihr zartes Gesicht, und sie sah frisch und jung aus. Barnes begleitete sie noch bis ins Foyer des Wohnhauses. „Fahren Sie mit dem Aufzug hinauf in den dritten Stock. Es ist die Wohnung Nummer dreiunddreißig. Miss Harriet wird Sie bereits erwarten", sagte er freundlich. „Viel Glück!" „Danke." Samantha lächelte. „Das werde ich brauchen!" Der Lift brachte sie im Nu in den dritten Stock. Langsam ging sie den mit einem weichen Teppich ausgelegten Flur entlang und las die Nummern an den Türen. Einunddreißig, zweiunddreißig, dreiunddreißig. Sie war da! Zögernd klopfte sie an die Tür und entdeckte dann erst die Klingel. Gerade wollte sie auf den Knopf drücken, als die Tür schon von einem Dienstmädchen in Uniform geöffnet wurde. „Oh, tut mir Leid", sagte Samantha verwirrt. Was für ein Einstand! „Dies ist doch ... Miss Harriets Apartment?" „Ganz recht", bestätigte das Dienstmädchen ungnädig. „Sie müssen Miss Kingsley sein." „Richtig. Meine Mutter erwartet mich." „Ich weiß. Treten Sie ein." Samantha betrat einen tiefschwarzen Veloursteppichboden, der so krass wirkte, dass sie kaum den Blick davon losreißen konnte, um dem Dienstmädchen in den Salon zu folgen. Der hohe, große Raum war wie eine Werbung für modernes Wohnen. Weiße Samtvorhänge an den hohen Fenstern bildeten einen starken Kontrast zu dem erstaunlich schwarzen Teppich. Die Möbel waren futuristisch und sahen sehr unbequem aus: eine Cocktailbar aus schwarzem, poliertem Ebenholz, weiße Ledersessel, schwarzweiß gestreifte Korbsofas und ein Couchtisch mit einem weißen Marmorsockel in Gestalt zweier riesiger Hände, die eine Kristallglasplatte trugen. Samantha hatte das Gefühl, sich in das Schaufenster eines exklusiven Möbelgeschäfts verirrt zu haben, so kalt und unbewohnt wirkte der Raum. Mehrere Türen führten zu anderen Zimmern, waren jedoch geschlossen. Gegenüber der großen Fensterwand befand sich eine doppelflügelige Terrassentür, durch die man auf einen Balkon gelangte. Als das Dienstmädchen verschwand, um Barbara die Ankunft ihrer Tochter zu melden, zog es Samantha in diese Richtung. Zögernd öffnete sie die Terrassentür und betrat einen großen Balkon mit Blick auf den Belgrave Square. „Bewunderst du die Aussicht?" Beim Klang der Stimme zuckte Samantha zusammen und drehte sich um. Barbara stand auf der Türschwelle, bekleidet mit einem Cocktailkleid aus schwarzer Seide, das sich eng an ihre zierliche Figur schmiegte. Samantha sah sie einen Moment lang schweigend an. Sie war so wunderschön. Konnte sie wirklich so schlecht sein? „Ja", antwortete Samantha schließlich. „Wie es aussieht, bin ich die Erste hier." „Ja, komm mit in mein Schlafzimmer, und leg deinen Mantel ab. Clyde kann dir das Haar noch einmal bürsten. Es ist etwas vom Wind zerzaust." „Clyde? War das ... die Person, die mich eingelassen hat?" fragte Samantha. „Ja. Hat sie dich eingeschüchtert?"
„Ein wenig." Barbara lächelte. „Clyde ist schon in Ordnung, wenn du sie erst besser kennst. Komm mit." Im Vergleich zu dem kargen, kalt anmutenden Wohnzimmer war Barbaras Schlafzimmer eine angenehme Überraschung. Es war wohl weniger als Vorzeigestück gedacht und wirkte mit seinen zarten, femininen Pastelltönen einladend und wohnlich. Clyde kämmte Samantha die Haare, nachdem sie ihr den Mantel abgenommen hatte, und Barbara lobte ihre Tochter wegen ihrer Kleiderwahl. „Genau das Richtige für eine Party, Darling. Was meinst du, da du natürlich in der Öffentlichkeit keinen Alkohol trinken darfst, sollen wir uns jetzt einen Cocktail gönnen, bevor die anderen Gäste eintreffen?" „Ja, gern", antwortete Samantha. „Gut. Clyde, bring uns die Drinks hier ins Schlafzimmer. Auf diese Weise kann keiner meine sechzehnjährige Tochter beim heimlichen Alkoholgenuss überraschen, und wenn wir beim Eintreffen der ersten Gäste zusammen aus dem Schlafzimmer kommen, wird das den Eindruck von großer Vertraulichkeit zwischen Mutter und Tochter machen." Während Barbara und Samantha im Schlafzimmer ihren Cocktail tranken, traf Clyde im Wohnzimmer die letzten Vorbereitungen für die Party, so dass alles perfekt war, als die ersten Gäste klingelten. Als Erstes trafen Charles Barratt, Barbaras Agent, und seine wesentlich jüngere Frau Annabel ein. Annabel plauderte sofort freundlich mit Samantha und erkundigte sich interessiert nach ihrem Leben in Italien. Samantha war angewiesen worden zu erzählen, dass sie in Italien bei einem ältlichen Kindermädchen aufgewachsen und in einer Klosterschule erzogen worden sei - was der Wahrheit entsprach - und jetzt auf ihren eigenen Wunsch hin nach London zurückgekommen sei. Die nächsten Gäste waren fast ausnahmslos Paare, die auf irgendeine Weise mit dem Theater zu tun hatten. Samantha stellte fest, dass es ihr leichter als erwartet fiel, in die gewünschte Rolle zu schlüpfen. Vielleicht hatte sie ja etwas von dem schauspielerischen Talent ihrer Mutter geerbt. Schließlich trafen zwei junge Männer ein, die ungefähr achtzehn Jahre alt sein mochten, und Barbara stellte sie sofort ihrer Tochter vor. „Samantha, ich möchte dir zwei junge Freunde von mir vorstellen - Ken Madison und Andrew Frazer." Samantha schüttelte den beiden jungen Männern lächelnd die Hand, und Barbara ließ sie mit ihnen allein, um sich um neu ankommende Gäste zu kümmern. Andrew Frazer war mit Abstand der Attraktivere der beiden, und Ken schien sowieso mehr daran interessiert, mit Barbaras Agenten als mit Samantha zu sprechen. So war sie im Nu mit Andrew allein. „Möchtest du noch einen Drink?" fragte er, wobei er auf das fast leere Glas Grapefruitsaft in ihrer Hand deutete. „Was ist darin? Gin?" „Du machst wohl Witze", protestierte Samantha lachend und zwinkerte ihm schelmisch zu. „Meine Mutter würde mir nie erlauben, Alkohol zu trinken ... in meinem Alter!" „Aber natürlich." Andrew grinste, „'tschuldigung." Er besorgte sich einen Cocktail und setzte sich mit Samantha auf eines der Sofas. „Und jetzt erzähl mir ein bisschen von dir." Sie lächelte. „Mein Leben war bisher nicht sehr interessant. Erzähl mir lieber von dir. Was machst du so?" Andrew lehnte sich zurück und streckte lässig die Beine aus. „Ken und ich treten zusammen auf, und wenn du nicht all die Jahre in Italien gelebt hättest, hättest du vermutlich schon von uns gehört. Wir nennen uns die ,Kendrews'- kapiert?" „Ja ... sehr originell. Singt ihr?" Andrew lachte. „Ja, begleitet von Gitarren, Keyboard, gelegentlich haben wir auch einen Drummer dabei. Boygroups wie wir sind augenblicklich ziemlich in ..."
Samantha fand Spaß daran, sich mit Andrew zu unterhalten und einiges über die Mode und Vorlieben der jungen Leute in London zu erfahren. Natürlich wiederholte sie ihm auch ihre Geschichte und beobachtete dabei die ganze Zeit aus dem Augenwinkel ihre Mutter. Barbara schien sehr beliebt, doch Samantha fragte sich, wie viele der Anwesenden sie um ihretwillen mochten und wie viele nur, weil sie als berühmte Schauspielerin großen Einfluss in der Theaterwelt hatte. Zwischendurch kam Barbara immer wieder zu Samantha, wie es sich für ihre Rolle als fürsorgliche Mutter eines Teenagers gehörte. Samantha registrierte es spöttisch. Diese zynische Seite kannte sie überhaupt noch nicht an sich. Wie sehr hatte sich ihre Welt doch seit ihrem Flug von Mailand nach London verändert! Da war sie in vieler Hinsicht noch ein unerfahrenes Kind gewesen. Doch sie spürte, dass sie sich rasch an die neuen Umstände gewöhnte. Und da sie sowieso nichts mehr daran ändern konnte, entschied sie sich, sich ruhig etwas zu amüsieren. Inzwischen drängten sich schon ziemlich viele Gäste in dem Wohnzimmer, und Samantha fragte sich, wann ihre Mutter ihr den Mann vorstellen würde, der den Andeutungen ihrer Großmutter zufolge in Zukunft eine besondere Rolle in ihrem Leben spielen würde. Da läutete es erneut, und Barbara ging zur Tür. Samantha blickte auf, neugierig, wer noch so spät zu der Party erscheinen würde. Der Gast stand mit dem Rücken zu ihr und zog sich gerade den Mantel aus. Ihre Mutter begrüßte ihn überschwänglich und wirkte völlig verändert. Sie strahlte förmlich - dabei hatte Samantha geglaubt, nichts könne Barbara aus der Fassung bringen. Der Mann drehte sich um, und Samantha erblasste. Andrew, der ihr gerade etwas über die aktuelle Musik- und Tanzszene erzählte, bemerkte es. „Sag, ist dir schlecht?" fragte er besorgt. „Du bist furchtbar blass." Samantha schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich bin okay." „Wirklich? Das ist übrigens mein Onkel, der da gerade angekommen ist... falls es dich interessiert." „Ach ja?" Samantha schluckte. „Wer ... wer ist er?" „He, du hast aber wirklich am Ende der Welt gelebt! Er ist Patrick Mallory, der Schriftsteller ... ein sehr berühmter Bühnenautor. Er schreibt auch das neue Stück für deine Mutter." „Ach so!" „Möchtest du ihn kennen lernen? Deine Mutter bringt ihn sicher gleich her. Er und Barbara sind nämlich ein Paar." „Oh." Samantha kam sich ziemlich dumm vor, aber es verschlug ihr einfach die Sprache. Ihr Blick wurde wie magisch von Patrick angezogen. Wie er lächelte, wie er locker mit ihrer Mutter und einigen der übrigen Gäste plauderte ... Samantha fand, dass er atemberaubend attraktiv aussah in dem eleganten dunkelgrauen Anzug. Allein durch seine stattliche Größe und die markanten Züge seines gebräunten Gesichts hob er sich von den anderen anwesenden Männern ab. War er wirklich der Mann, den ihre Mutter heiraten wollte? Samantha wollte es sich nicht vorstellen. Aber wie konnte sie daran zweifeln? Barbara himmelte ihn förmlich an. Da war nichts mehr von dem eiskalten, berechnenden Wesen, das Samantha bislang kennen gelernt hatte. Ihre Mutter setzte all ihren Charme ein und spielte überzeugend die junge, zauberhafte Frau, die alles tat, um diesen Mann zu betören. Und im gleichen Moment wurde Samantha ihre eigene Position bewusst. Sie sollte einen sechzehnjährigen Teenager spielen und würde Patrick Mallory als Barbaras minderjährige Tochter vorgestellt werden! Andererseits, warum machte sie sich überhaupt Gedanken wegen ihres Alters? Kein Mann würde sie auch nur eines Blickes würdigen, solange Barbara greifbar war. Und ihre Mutter
beabsichtigte zweifellos, greifbar zu sein. Die Art, wie sie sich besitzergreifend bei Patrick Mallory eingehakt hatte, sprach Bände. Samantha nippte an ihrem Drink und versuchte, sich zu fassen. Allmählich kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück, während sie so tat, als würde sie Andrew zuhören. „Sag", unterbrach sie ihn schließlich, „wie alt ist dein Onkel eigentlich? Er ist nicht verheiratet, nehme ich an?" „Nein, er ist nicht verheiratet. Patrick müsste so sechsunddreißig sein. Warum?" Andrew lachte. „Gefällt er dir? Das geht den meisten Frauen so. Aber du bist vielleicht noch ein bisschen jung dafür." Sie rang sich ein Lächeln ab. „Das würde ich nicht sagen. Ich finde ihn schon sehr attraktiv." Andrew lächelte jungenhaft. „Und was ist mit mir? Glaubst du, du könntest es ertragen, mit mir auszugehen?" Samantha entspannte sich ein wenig. „Ich denke schon. Heißt das, du lädst mich ein?" „Natürlich. Sag einfach, wann." Während sie und Andrew noch miteinander lachten, fiel bei Samantha der Groschen. Plötzlich wusste sie, warum ihre Mutter ihr so vertraut vorgekommen war. Barbara war die Frau gewesen, die Patrick Mallory vom Flughafen abgeholt hatte! Das tat richtig weh. Ihre Mutter war zum Flughafen gefahren, um Patrick abzuholen, hatte vermutlich sogar gewusst, dass sie, Samantha, mit demselben Flugzeug aus Mailand ankommen würde, und nicht einmal den Versuch gemacht, ihre Tochter zu finden! Wie gefühllos war diese Frau eigentlich? Samantha zwang sich, ruhig zu bleiben. Es wäre kindisch und sinnlos gewesen, ihren Gefühlen Luft zu machen. Barbara war kalt und berechnend, es kümmerte sie nicht im Geringsten, was ihre Tochter fühlte. Dass Patrick Mallory berühmt war, hatte Samantha nach der Reaktion der Stewardess auf dem Flug schon vermutet. Schlimm war nur, dass er mit ihrer Mutter so eng vertraut war. Sicher hatte Barbara seinetwegen so wenig Zeit für sie gehabt. Liebte er Barbara? Ging er mit ihr ins Bett? Samantha zuckte heftig zusammen, als sie Barbaras Stimme dicht an ihrem Ohr hörte. „Darling, ich möchte dir einen sehr, sehr lieben Freund von mir vorstellen." Samantha stand langsam auf, drehte sich um und blickte trotzig zu Patrick auf. Er atmete hörbar ein, ein ungläubiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. Dann sagte Barbara: „Patrick, das ist Samantha. Ich würde ja sagen ,die kleine Samantha', aber, wie du siehst, ist sie alles andere als klein." Samantha errötete bei den Worten ihrer Mutter, aber Patrick hatte sich wieder gefasst. „Sie ist eine Schönheit, Barbara", sagte er. „Wie es aussieht, hast du all die Jahre dein Licht unter den Scheffel gestellt." Eine solche Antwort hatte Barbara gewiss nicht erwartet, doch sie unterdrückte ihre Verärgerung. „Es ist wundervoll, sie wieder bei mir zu haben." „Das glaube ich gern." Sein Sarkasmus war unüberhörbar, und Samantha hielt den Atem an. Doch Barbara erkundigte sich scheinbar ungerührt: „Und, Darling? Kümmert sich Andrew gut um dich?" Andrew grinste. „Aber selbstverständlich. Hi, Pat!" Patricks herzliches Lächeln verriet, dass er und sein Neffe sich gut verstanden. „Ich amüsiere mich bestens", warf Samantha befangen ein. „Ich habe gehört, dass Sie Bühnenautor sind, Mr. Mallory?" „Das ist richtig", sagte er langsam. „Und ... was machen Sie?" „Was soll sie schon machen?" rief Barbara gespielt fröhlich aus. „Darling, hör auf, Samantha zu necken. Sie wird mit Mutter in Daven leben. Das wird wundervoll für sie sein."
Patrick zuckte die Schultern. „Als deine Tochter, Barbara, sollte sie eigentlich die Lichter der Großstadt dem geruhsamen Landleben vorziehen." Barbara hatte Mühe, ihre Gereiztheit zu verbergen. „Darling, vergiss nicht, Samantha ist noch ein halbes Kind." „Teenager sind heutzutage schon ziemlich erwachsen", mischte sich Andrew ein. „Ihr scheint ja alle entschlossen, für Samantha zu entscheiden", sagte Barbara gespielt gelassen. „Vielleicht solltet ihr sie fragen, wo sie leben will." Patrick sah Samantha an. „Ja, vielleicht sollten wir das tun. Und, Samantha? Reizt Sie das ruhige Leben?" Samantha spürte den scharfen Blick ihrer Mutter und zögerte nur kurz. „Ich bin noch nie in Daven gewesen ... jedenfalls viele Jahre nicht", verbesserte sie sich rasch. „Meine Großmutter sagt, es gibt da Pferde ... und eine herrliche Landschaft zu erkunden ..." Patricks Augen funkelten spöttisch. „Aber wird es Ihnen auch gefallen?" „Natürlich!" Barbara hatte offensichtlich genug. „Komm, Patrick, ich möchte dich noch einigen meiner Gäste vorstellen." Patrick ließ sich von ihr wegziehen, aber Samantha hatte die Skepsis in seinem fragenden Blick gesehen. Wenn sie ihn nur nicht schon in dem Flugzeug getroffen hätte! Barbara würde gar nicht erfreut sein, wenn das herauskam. Wie sollte sie Patrick erklären, dass sie ihn von demselben Flugzeug abgeholt hatte, mit dem auch ihre Tochter angekommen war, ohne sich um sie zu kümmern? Außerdem hatte Samantha Patrick erzählt, dass ihr Vater erst kurz zuvor bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Das passte nicht mit Barbaras offizieller Geschichte zusammen, ihr heimlicher Ehemann sei schon vor vielen Jahren gestorben. Was für eine verzwickte Geschichte! dachte Samantha müde. Nicht zuletzt blieb da ihr angebliches Alter. Patrick hatte ihr im Flugzeug einen Sherry bestellt, den sie auch getrunken hatte. Na, wenigstens hatte sie ursprünglich um einen Tomatensaft gebeten! Sie merkte, dass Andrew sie befremdet ansah. Sie war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie ihm überhaupt nicht mehr zugehört hatte. „Es tut mir Leid", sagte sie. „Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Das war sehr unhöflich von mir. Was hast du gesagt?" Sie unterhielten sich weiter und gingen schließlich auf den Balkon hinaus. Dankbar atmete Samantha die kühle Abendluft ein. Sie überlegte immer noch, wie sie Barbara erklären sollte, dass sie Patrick schon vorher begegnet war. Warum hatte er es ihr nicht sofort erklärt? Andrew lehnte sich an die Balkonbrüstung. „Was fängst du mit dem angebrochenen Abend an, wenn die Party hier vorbei ist?" „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht", antwortete Samantha ehrlich. „Warum? Hast du einen Vorschlag?" „Ja. Ken und ich haben heute Abend keinen Auftritt. Wie wär's, wenn wir beide zusammen ausgehen?" „Nun, ich müsste meine Mutter fragen", sagte Samantha langsam. „Und da ist auch noch meine Großmutter ..." Andrew grinste neckend. „Ist meine Gesellschaft nicht interessanter?" Sie lächelte. Andrew war so unkompliziert. Er nahm sie einfach, wie sie war. In seiner Gesellschaft konnte sie sich entspannen und ihre Probleme vergessen. „Ich werde meine Großmutter später anrufen, nachdem ich Barbara gefragt habe." „Gut, dann ist es abgemacht. Ich kenne eine Disko, wo wirklich die Post abgeht. Kannst du tanzen?" Samantha lachte. „Ich kann es lernen. Du bist sicher ein toller Lehrer." „Und was genau soll er Ihnen beibringen?" fragte eine ihr vertraute Stimme hinter ihr. Samantha drehte sich um. Patrick Mallory lehnte lässig am Rahmen der Balkontür. Er hielt einen Drink in einer Hand und sah Samantha spöttisch an.
„Nun, wir ... wollen heute Abend ausgehen. Andrew will mir die Tänze beibringen, die jetzt in sind." „Ach ja?" Patrick richtete sich auf. „Ich dachte, Sie würden vielleicht gern mit Ihrer Mutter und mir zu Abend essen. Wir beide sollten uns näher kennen lernen, meinen Sie nicht?" Samantha spürte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen schoss. Sie hatte kein Verlangen danach, den Abend mit den beiden zu verbringen! Zu ihrer Erleichterung mischte sich Andrew ein. „Was? Soll sie den Abend damit verbringen, bei dir und Barbara den Anstandswauwau zu spielen? Wohl kaum, Pat. Sie geht mit mir aus. Unter uns, du hattest für dich doch sicher auch andere Vergnügungen im Sinn, oder?" Patrick lächelte ungerührt. „Was weißt du von meinen Vergnügungen?" Andrew lachte. „Nicht halb so viel, wie ich wollte." In diesem Moment kam Barbara auf den Balkon. „Patrick, was machst du hier draußen? Ich habe dich gesucht. Oh!" Sie bemerkte ihre Tochter und Andrew. „Störe ich? Ihr seht wie die Verschwörer aus." „Ich habe Samantha gerade vorgeschlagen, mit uns zu Abend zu essen, aber Andrew hat andere Pläne", erklärte Patrick ihr. „Das kann ich mir vorstellen", rief Barbara ungeduldig aus. „Darling, Samantha muss eigene Freunde finden. Sie ist zu alt, um mit uns zu gehen." „Vielleicht würde es ihr ja doch gefallen", ließ Patrick nicht locker. „Wenn man dich hört, Barbara ... du verbannst deine Tochter nach Daven, kaum dass sie nach Hause gekommen ist, und weigerst dich, sie zum Essen mit uns einzuladen - man könnte meinen, du willst sie nicht bei dir haben!" Barbaras Wangen erröteten hektisch. Andrew wandte sich ab, um ein Grinsen zu verbergen. Kein anderer Mann außer Patrick wagte es, so mit Barbara Harriet zu sprechen. „Darum geht es doch gar nicht", sagt sie nun rasch. „In unserer Gesellschaft würde Samantha sich nur langweilen. Andrew weiß viel besser, was ihr Spaß macht." Andrew sah seinen Onkel spöttisch an. „Kapiert, Pat?" Patrick lächelte. „Ich denke, ja", sagte er langsam, wobei er Samantha jedoch eindringlich anblickte. Dann drehte er sich um und führte Barbara ins Wohnzimmer zurück. Ihrer Mutter war anzusehen, dass sie innerlich vor Wut kochte. Barbara Harriet war es nicht gewohnt, dass in ihrem Beisein jemand anders im Rampenlicht stand. Als die Cocktailparty kurz nach acht Uhr endete, war Patrick schon längst gegangen. Samantha war froh, dass Andrew sie eingeladen hatte, und verabschiedete sich von ihrer Mutter. Glücklicherweise waren noch andere Gäste anwesend, so dass Barbara sich zusammennehmen musste. Doch ihr eisiger Blick sprach Bände. Andrew führte Samantha in eine Diskothek in Chelsea, wo eine Popband Livemusik spielte. Die Tanzfläche war brechend voll mit jungen Leuten, die sich ausgelassen im schnellen Rhythmus der Musik bewegten. Samantha ließ sich bald von Andrew ermuntern, es auch zu versuchen. Als einer aus der Band Andrew erkannte, bat er ihn auf die Bühne und drückte ihm eine Gitarre in die Hand. Der Jubel des jungen Publikums verriet, dass Andrew und Ken offenbar wirklich schon einen Namen hatten. Andrew sang einen ihrer Hits, eine eher getragene Liebesballade, und am Ende stimmte Samantha begeistert in den Applaus der übrigen ein. „Das war wirklich toll", sagte sie bewundernd, als Andrew zu ihr zurückkam. Er lächelte geschmeichelt. „Komm, lass uns tanzen." Samantha machte es Spaß, mit Andrew zu tanzen. In seiner Gesellschaft begann sie sich allmählich wirklich wieder wie ein sechzehnjähriger Teenager zu fühlen. Ein Gedanke, der sie belustigte, denn es war noch nicht lange her, da hatte sie sich in Patrick Mallorys Nähe gewünscht, eine erfahrene Frau vom Format ihrer Mutter zu sein.
Patrick Mallory. Er übte eine magnetische Anziehung auf sie aus. Andrew war ja ein netter Junge und bestimmt auch nicht unerfahren, was Mädchen betraf, aber Patrick war etwas ganz anderes. Ein Mann wie er stellte eine Herausforderung für jede Frau dar. „So nachdenklich?" fragte Andrew. Samantha seufzte. „Dein Onkel ist ein sehr attraktiver Mann, nicht wahr?" „He, er ist viel zu alt für dich!" „Ich weiß. Ich hab's ganz objektiv gemeint." „Ach ja?" fragte Andrew skeptisch. „Bist du eigentlich ein Einzelkind?" „Ich?" Er lachte. „Schön wär's! Ich habe zwei Brüder und drei Schwestern, darunter ein Zwillingspaar. Warum?" „Und bist du der Älteste?" „Ja." „Ist Patrick der Bruder deiner Mutter?" „Ja, sie heißt Virginia, wird aber normalerweise Gina genannt. Pat und meine Mutter sind halb italienischer Abstammung." „Das erklärt, warum dein Onkel so ein dunkler Typ ist." „Ja, aber meine Mutter ist heller. Sie schlägt mehr nach ihrem Vater, der halb irischer Abstammung war. Ein ziemlich komplizierter Stammbaum, nicht wahr?" „Und du? Dein Nachname ist Frazer. Ist dein Vater Schotte?" „Auch nur zur Hälfte." Andrew lachte. „Wie ist es eigentlich, wenn man reinrassig ist?" Samantha stimmte in sein Lachen ein. In Andrews Gesellschaft war es leicht, sich zu amüsieren, und es wurde ein wundervoll lockerer und entspannter Abend. Müde kehrte sie gegen Mitternacht zum Hotel zurück und stellte fest, dass ihre Großmutter noch auf war und offensichtlich auf sie gewartet hatte. „Hast du dich gut amüsiert, Liebes?" erkundigte Lady Davenport sich freundlich. „Allerdings", bestätigte Samantha. „Aber jetzt bin ich zum Umfallen müde." Ihre Großmutter lächelte. „Das kann ich mir vorstellen." „Warum hast du auf mich gewartet?" fragte Samantha. „Am Telefon hast du mir doch gesagt, du würdest früh ins Bett gehen." „Das wollte ich auch." Lady Davenport wich ihrem Blick aus. „Aber ich muss mit dir sprechen. Barbara ist hier gewesen ... nach ihrer Cocktailparty." Samantha horchte besorgt auf. „Was wollte sie?" „Sie war ziemlich wütend, weil Patrick Mallory, ihr gegenwärtiger ... Bewunderer, sie anscheinend heute Abend sehr enttäuscht hat. Sie hat ihn dir doch auf der Party vorgestellt, nicht wahr? Hast du irgendetwas gesagt, was sie so aufgebracht hat, Liebes? Sie sagte, du hättest sie zum Narren gemacht." „Unsinn!" wehrte Samantha erstaunt ab. „Sie hat sich selbst zum Narren gemacht. Besitzt sie denn keinen Stolz?" „Nun, es ist wohl für sie eine neue Erfahrung, dass ein Mann ihr nicht auf Anhieb mit Haut und Haaren verfallen ist", antwortete ihre Großmutter. „Das kann ich mir vorstellen", sagte Samantha halb abgewandt. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, war sie doch erleichtert, dass es ihrer Mutter offenbar nicht gelungen war, den Abend mit Patrick Mallory zu verbringen. „Bitte, Samantha, sei in Gegenwart deiner Mutter vorsichtig! Barbara ist unberechenbar, wenn ihre Pläne durchkreuzt werden, und ich will nicht, dass man dir wehtut." Samantha sah ihre Großmutter verständnislos an. „Ich habe den Abend mit Andrew Frazer verbracht, Patrick Mallorys Neffen. Was war daran denn falsch?" „Nichts. Du musst Barbaras Unmut auf der Cocktailparty geweckt haben. Anscheinend hatte sie den Eindruck, dass du dich über sie lustig gemacht hättest. War es so?"
Samantha seufzte. „Ach Grandma, du hättest sie sehen sollen, wie sie versucht hat, diesen Mann ganz für sich zu vereinnahmen! Er mochte es einfach nicht, und es ist allein ihre Schuld, wenn er es vorgezogen hat, den weiteren Abend nicht mit ihr zu verbringen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Patrick Mallory sich von irgendeiner Frau beherrschen lässt." Sie zögerte einen Moment. Eigentlich hätte sie ihrer Großmutter erzählen sollen, dass sie Patrick schon im Flugzeug kennen gelernt hatte. Aber sie war einfach zu müde, wollte nichts mehr von Intrigen und Heimlichkeiten hören. „Hast du etwas dagegen, wenn ich jetzt ins Bett gehe, Grandma?" Lady Davenport schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Es tut mir Leid, wenn ich dir durch dieses Gespräch die Stimmung verdorben habe." „Das hast du nicht." Samantha küsste sie zart auf die Wange. „Gute Nacht, Grandma, und mach dir keine Sorgen. Ich glaube, ich bin seit meiner Ankunft hier schon sehr erwachsen geworden, und ich bin überzeugt, dass alles gut wird."
5. KAPITEL
Am folgenden Morgen hatte Lady Davenport einen Termin bei ihrem Anwalt. Samantha war sich ziemlich sicher, dass Barbara im Verlauf des Vormittags im Hotel auftauchen und von ihr eine Erklärung verlangen würde. Deshalb entschloss sie sich, lieber in die Stadt zu gehen und den vorauszusehenden Streit mit ihrer Mutter noch etwas hinauszuschieben. Sie trug schwarze Jeans, einen dicken grünen Pullover, darüber eine leichte, schwarz glänzende Steppjacke und stand im Begriff, die Suite zu verlassen, als das Telefon läutete. Da Emily gerade in Lady Davenports Schlafzimmer beschäftigt war, nahm Samantha den Anruf entgegen. „Lady Davenports Suite. Kann ich Ihnen helfen?" „Das können Sie allerdings." Ihr Herz begann heftig zu pochen, denn das war unverkennbar Patrick Mallorys tiefe, warme Stimme. „Oh, guten Morgen, Mr. Mallory", sagte Samantha heiser. „Wollten Sie meine Mutter sprechen? Sie ist leider nicht hier." „Nein", fiel Patrick ihr ins Wort. „Ich wollte Sie sprechen. Haben Sie nicht damit gerechnet?" Sie seufzte. „Vermutlich. Ich nehme an, Sie erwarten eine Erklärung. Ich weiß gar nicht recht, wo ich anfangen soll..." „Das kann ich mir vorstellen. Es ist wohl eine etwas komplizierte Angelegenheit. Hören Sie, so etwas bespreche ich nicht gern am Telefon. Ich möchte mich mit Ihnen treffen. Jetzt. Sofort. Was sind Ihre Pläne für heute?" „Nun ja ... Andrew wollte mich später anrufen. Und meine Großmutter hat heute Vormittag einen Termin bei ihrem Anwalt." „Gut. Mit anderen Worten, Sie sind frei." „Ja, schon, aber warum? Wollen Sie vorbeikommen?" „O nein." Er lachte leise. „Ich gehe davon aus, dass Barbara heute irgendwann dort auftaucht, und es wäre mir nicht lieb, wenn unser Gespräch durch sie unterbrochen würde." Verunsichert überlegte Samantha, ob es überhaupt klug wäre, sich mit Patrick Mallory zu treffen. Aber wie sollte sie seine Bitte ablehnen? „Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich mit Ihnen ohne Einwilligung meiner Mutter über irgendetwas unterhalten sollte ..." sagte sie zögernd. „Wenn Sie nicht bereit sind, mit mir darüber zu sprechen, werde ich persönlich ein paar passende Worte mit Ihrer Mutter reden", entgegnete Patrick schroff. Samantha zweifelte nicht einen Moment daran, dass er dies wahr machen würde. Sie befand sich in einer schlimmen Zwickmühle ... und die Tatsache, dass nicht zuletzt Patrick Mallory sie in diese Lage gebracht hatte, machte sie wütend auf ihn. „Also schön, Mr. Mallory", antwortete sie kühl. „Da Sie anscheinend alle Trümpfe in der Hand halten ... was schlagen Sie vor?" „Schon viel besser, Samantha. Entspannen Sie sich. Ich werde Sie nicht auffressen, auch wenn Sie sicherlich zum Anbeißen sind. Kommen Sie zu mir, in mein Haus. Die Adresse lautet: High Tower Road 34, ganz in der Nähe der Great Portland Street. Glauben Sie, dass Sie das finden werden?" „Ich nehme an, der Taxifahrer wird schon wissen, wo es ist", sagte sie trocken, und Patrick lachte. „O Samantha, Sie haben sich verändert. Vor einer Woche hätten Sie noch nicht einmal gewusst, wie Sie in London ein Taxi bekommen." „Die Menschen verändern sich eben", erwiderte sie kühl. „Ja, allerdings. Also schön, ich erwarte Sie so bald wie möglich." „Ja, Mr. Mallory", sagte sie ergeben und legte auf.
Samantha ließ sich von der Rezeption ein Taxi rufen und war bald darauf auf dem Weg. Sie war nervös, doch sie bezwang ihre Panik, weil sie das bevorstehende Gespräch unbedingt in Barbaras Sinn durchstehen musste. Nicht weil sie Barbara besänftigen wollte, sondern ihrer Großmutter zuliebe ... und Patrick Mallory sollte merken, dass sie sich nicht einschüchtern ließ. Die High Tower Road lag in einer Villengegend und war gesäumt von beeindruckenden Patrizierhäusern mit mindestens vier Stockwerken. Samantha blickte bewundernd an den Fassaden empor und wagte gar nicht zu überlegen, wie viel eins dieser Häuser kosten mochte. Haus Nummer 34 hatte eine weiße Tür, die ein blank polierter Messingklopfer zierte. Samantha bezahlte den Taxifahrer und stieg die drei Stufen zum Eingang empor. Sie betätigte den Klopfer und wartete dann nervös, die Hände fröstelnd in den Taschen ihrer Jacke vergraben. Obwohl es ein milder Septembertag war, fiel es ihr immer noch schwer, sich nach der Wärme in Italien auf das kühlere englische Klima umzustellen. Die Tür ging auf, und eine ältere Frau in Schwarz mit einer karierten Schürze erschien. Samantha nahm an, dass es die Haushälterin sein musste. „Ich ... möchte zu Mr. Mallory. Er erwartet mich." Die Frau lächelte freundlich. „Aber ja, Sie müssen Miss Kingsley sein. Kommen Sie herein, Miss, Mr. Mallory erwartet Sie in seinem Arbeitszimmer." Im Haus war es geheizt und angenehm warm. Samantha öffnete ihre Jacke und sah sich interessiert um. Die geräumige Eingangshalle war mit Eichenholz getäfelt und mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt. Ein hohes Fenster über der Tür ließ genügend Licht herein, so dass die Halle anheimelnd und freundlich wirkte. Mehrere Türen führten in weitere Räume, und ein Flur führte in den hinteren Teil des Hauses, wo sich vermutlich die Küche befand. Über eine weitläufige Treppe gelangte man in die oberen Geschosse. „Hier entlang, Miss." Die Stimme der Haushälterin riss Samantha aus ihrer Betrachtung. Lächelnd folgte sie der Frau zu einer Tür unterhalb der Treppe. Die Haushälterin klopfte an und öffnete die Tür, nachdem man von drinnen ein tiefes „Herein" vernommen hatte. „Miss Kingsley, Sir." Die Haushälterin drängte Samantha ins Zimmer, trat zurück und schloss die Tür. Samantha fühlte sich ein bisschen wie eine Angeklagte, die vor ihren Richter tritt. Doch sie zwang sich, den Raum mit erhobenem Kopf und so würdevoll wie möglich zu betreten. Es war ein schönes, ansprechendes Zimmer. Kein Vergleich zu der kalten, ultramodernen Einrichtung in der Wohnung ihrer Mutter. Hohe Bücherregale säumten die Wände, die Decke war wie die Eingangshalle mit Eichenholz getäfelt. Das Zimmer wirkte eher wie eine Bibliothek als wie ein Arbeitszimmer. Beherrschendes Möbelstück war ein großer Schreibtisch aus massivem Mahagoniholz, der in der Mitte eines rotbraun und grün gemusterten Teppichs stand. Die hohen Fenster zierten schwere goldfarbene Samt vorhänge, eine Sitzgruppe aus grünen Ledersesseln wirkte einladend und bequem. Einzig der moderne Laptop-PC auf dem Schreibtisch war eine notwendige Reminiszenz ans zwanzigste Jahrhundert. Ansonsten gab es nicht einmal ein Telefon, das den hier Arbeitenden hätte stören können. Samantha konnte sich gut vorstellen, wie Patrick sich hier in seine Arbeit vertiefte. Der Hausherr selbst erhob sich hinter dem Schreibtisch, um sie zu begrüßen. Groß und breitschultrig, bekleidet mit einer schwarzen Hose und einem königsblauen Hemd, sah er so atemberaubend attraktiv aus, dass Samantha befangen errötete. „Hallo." Er betrachtete sie forschend. „Wie geht es Ihnen heute Morgen?" Sie spielte mit dem Reißverschluss ihrer Steppjacke. „Danke, gut." „Ziehen Sie die Jacke ruhig aus", riet er ihr locker. „Hier drinnen ist es warm, und ich werde Sie nicht so verschrecken, dass Sie überstürzt davonlaufen müssen."
Resigniert zog Samantha die Jacke aus und reichte sie ihm, damit er sie über einen Stuhl hängen konnte. „Schon viel besser. Setzen Sie sich doch. Mrs. Chesterton wird uns gleich Kaffee bringen." „Danke." Samantha nahm in einem der bequemen Ledersessel Platz und blickte verstohlen zu Patrick auf. Er setzte sich ihr gegenüber, ohne den Blick von ihr zu lassen. Seine faszinierenden goldbraunen Augen schienen sie bis in die Tiefen ihrer Seele ergründen zu wollen. Samantha durchzuckte es heiß. Sie fing an, ihn zu sehr zu mögen! Viel zu sehr, und „mögen" war auch ein viel zu schwaches Wort bezogen auf einen Mann wie Patrick Mallory. Er war ein Mann, den eine Frau entweder liebte oder hasste ... Barbaras Verhalten am Abend zuvor hatte das bewiesen. Sie hatte ihn gehasst wegen der Gleichgültigkeit, die er ihr gegenüber bezeugt hatte. Und heute früh hatte sie, Samantha, ihn auch gehasst, weil er sie am Telefon so in die Enge gedrängt hatte. Nun aber, als sie ihm gegenübersaß und er ihr seine ganze Aufmerksamkeit schenkte, fühlte sie ganz anders. Ihr war bewusst, dass Patrick Mallory mit seinem Charme jeden um den Finger wickeln konnte, und auch sie war keineswegs immun dagegen. Ein schreckliches Gefühl, zumal sie wusste, dass er nur mit ihr spielte und ihre Mutter ihm viel eher gewachsen war als sie. In seiner ganzen Haltung schien er sie zu necken und zu verspotten. „Können wir die Sache nicht hinter uns bringen?" fragte sie unbehaglich. „Es macht Ihnen sicher nur Spaß, mich zappeln zu sehen." „Wie kommen Sie denn darauf?" fragte er spöttisch. „Samantha, ich dachte, im Flugzeug wären wir Freunde gewesen. Wie hätte ich ahnen können, dass Sie plötzlich als Tochter der Frau auftauchen würden, die ich ..." Er verstummte. „Reden Sie weiter. Die Sie was?" Patrick lächelte. „Später. Zunächst einmal möchte ich wissen, warum Barbara verbreitet, Sie wären in Italien bei einem Kindermädchen aufgewachsen, wo Sie doch stattdessen dort mit Ihrem Vater gelebt haben. Und wenn John Kingsley Ihr Vater war, wieso sagt Barbara, er sei schon vor vielen Jahren gestorben?" Samantha schluckte. „Nun ... die Wahrheit ist, meine Eltern waren geschieden, Mr. Mallory. Barbara fürchtet, dass daraus eine nachteilige Publicity entstehen könnte. Stellen Sie sich nur vor, was die Presse daraus machen würde, wenn jetzt herauskäme, dass meine Eltern geschieden waren und ich all die Jahre bei meinem Vater gelebt habe ..." Patrick sah sie nachdenklich an. „Das ist also der Grund für diese Intrige?" „Ich denke schon." „Da bleibt aber immer noch etwas anderes zu erklären, was Sie mir gesagt haben." Samantha zermarterte sich den Kopf, was sie ihm im Flugzeug alles erzählt hatte. „Und was?" fragte sie vorsichtig. „Wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie, dass Sie seit Ihrem vierten Lebensjahr nicht mehr in England gewesen seien. Sie sagten auch, Ihr Vater habe das so gewollt. Nun kann ich verstehen, dass es Ihrem Vater nach seinen schlechten Erfahrungen hier in Italien besser gefallen hat, aber ich frage mich, wie oft haben Sie denn dann Barbara in all den Jahren gesehen? In Anbetracht ihrer beruflichen Verpflichtungen kann es nicht sehr oft gewesen sein." „Nein, nicht sehr oft." Samantha hasste es, ihn belügen zu müssen. „Und Barbara behandelt Sie wie die geliebte Tochter, die sie endlich wieder in ihre Arme schließen kann!" Patrick lächelte spöttisch. „Was ist sie doch für eine Schauspielerin! Kein Wunder, dass sie es nicht in der Presse breitgetreten haben will! Ich kann mir vorstellen, wie sich Martin Pryor darauf stürzen würde." „Martin Pryor? Der hat mir kurz nach meiner Ankunft aufgelauert und wollte mich über mein Leben in Italien ausfragen." Samantha seufzte und fügte hinzu: „Das ist jetzt auch egal. Nachdem Sie nun die Wahrheit kennen, wird es bald sowieso jeder wissen."
„Ach ja? Und wer wird es ihnen erzählen?" Sie errötete. „Nun, ich dachte ..." „Dann haben Sie falsch gedacht. Ich habe nicht die Absicht, Barbara vor der Welt bloßzustellen. Warum sollte ich? Im Grunde geht es mich gar nichts an, wenn sie es für richtig hält, ihre Scheidung geheim zu halten." Samantha sah ihn erleichtert an. „Aber ... ich dachte, als Sie mich heute hierher gebeten haben ..." „... dass ich ein gewisses Vergnügen daraus ziehen würde, Sie zappeln zu sehen. Ich weiß. Nun, das war nicht meine Absicht. Ich bin Schriftsteller, Samantha, und interessiere mich für Menschen. Außerdem war ich auch neugierig, was der Grund für eine solche Täuschung sein mochte. Er überrascht mich nicht, denn Barbara Harriet ist für mich eine leicht durchschaubare Persönlichkeit. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie ja auch mich am Flughafen abgeholt am gleichen Tag und zur gleichen Zeit, als auch Sie angekommen sind. Das allein verrät, was für eine Frau sie ist." Samantha fühlte sich seltsam enttäuscht. Ganz offenbar hatte Patrick Barbaras Charakter längst durchschaut ... und trotzdem fand er sie attraktiv und hatte eine Affäre mit ihr. „Warum haben Sie nicht gestern Abend schon zugegeben, dass Sie mich bereits kannten?" fragte sie spontan. Patrick lachte. „Wenn ich das getan hätte, hätte Barbara Ihnen die Hölle auf Erden bereitet. Schon gar unter diesen Umständen. Barbara war nicht gerade begeistert, wie viel Aufmerksamkeit man Ihnen geschenkt hat. Von sechzehnjährigen Töchtern wird erwartet, dass sie im Hintergrund bleiben. Sie sind doch wirklich sechzehn ... oder ist das eine weitere Lüge?" Samantha zögerte. Es wäre so leicht gewesen, ihm jetzt ihr tatsächliches Alter einzugestehen. Sicher würde er auch das niemandem verraten, doch Barbara würde damit natürlich um einige Jahre älter werden. Und obwohl Barbara eine miserable Mutter war, brachte Samantha es nicht über sich, ihr derart in den Rücken zu fallen. „Es ist keine Lüge", sagte sie langsam. Genau in diesem Moment klopfte Mrs. Chesterton an die Tür und trug ein Tablett mit Kaffee und Keksen herein. Dann ließ sie Samantha und Patrick wieder allein. Nachdem Patrick ihnen Kaffee eingeschenkt hatte, nahm Samantha sich Zucker und Sahne und rührte nervös um. „Lassen Sie uns jetzt über etwas anderes sprechen." Patrick lächelte sie gewinnend an. „Wie gefällt es Ihnen in England? Hat Andrew Sie gestern Abend gut unterhalten?" „O ja!" Samanthas Augen strahlten. „In der Disko hat er sogar gesungen. Er ist richtig gut, nicht wahr?" Patrick lächelte. „Wenn man's mag." „Sie ziehen wohl eine gehobenere Unterhaltung vor?" „Nun ja ..." Patrick wirkte amüsiert. „Ich bin ein bisschen älter, wissen Sie. Waren Sie schon im Ballett?" „Nein, aber ich war einmal mit meiner Großmutter im Theater. Ich würde auch gern eins Ihrer Stücke sehen", fügte Samantha spontan hinzu. „Ach ja? Nun, da werden Sie leider bis Dezember warten müssen. Mein neues Stück hat am fünfzehnten Dezember im Grosvenor Playhouse im West End Premiere. Da Ihre Mutter die Hauptrolle spielt, gehe ich davon aus, dass Sie zur Premiere kommen werden. Vorausgesetzt, Sie sind bis dahin in Daven nicht vor Langeweile eingegangen", fügte er spöttisch hinzu. „Erzählen Sie mir von Ihrem Leben in Italien. Meine Mutter lebt dort in einer Villa am Lago di Como. Ich habe den vergangenen Monat bei ihr verbracht. Vermissen Sie nicht das warme Klima?" „Doch, natürlich. Aber ich hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, weil ich seit meiner Ankunft mit zu vielen ... anderen Dingen zu tun hatte."
„Das kann ich mir vorstellen", sagte er sarkastisch. „Und wann gehen Sie nach Daven?" „Ich weiß es nicht genau. In ungefähr einer Woche, denke ich. Grandma mag die Hektik in London nicht." „Nun, aber Sie sollten doch eine Weile hier bleiben und bei Ihrer Mutter leben. Schließlich ist ihre Wohnung groß genug." „Ich glaube nicht, dass Barbara ... ich meine ..." Samantha verstummte. „Nein, vielleicht haben Sie Recht. Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass Sie die wenigen Tage, die Ihnen noch hier bleiben, genießen, nicht wahr?" „Wir?" fragte Samantha verblüfft. „Wen meinen Sie damit?" „Ich meine mich ... und Barbara." Samanthas Herz klopfte bei dem Gedanken, einen Abend mit Patrick Mallory zu verbringen. Sicher meinte er das nicht ernst, und Barbara würde es sowieso nie erlauben. „Würden Sie nicht gern mit mir ausgehen?" fragte er spöttisch. „Doch ... schon, aber ich glaube nicht, dass es meiner Mutter recht wäre." „Und wenn ich Barbara dazu einladen würde?" „Oh." Plötzlich war die Vorstellung gar nicht mehr so reizvoll. Einen Abend mit Patrick Mallory und ihrer Mutter zu verbringen hieße, sie würde sich nur wie das fünfte Rad am Wagen vorkommen. Die beiden waren so viel älter und weltgewandter als sie, die sie überdies auch noch die Rolle eines sechzehnjährigen Teenagers spielen müsste. „Ich sehe, der Gedanke behagt Ihnen nicht", bemerkte Patrick, der sie aufmerksam beobachtete und ihre Gedanken zu lesen schien. Samantha schluckte. „Ich denke, es würde weder Ihnen noch meiner Mutter großen Spaß machen, mich mitschleifen zu müssen", sagte sie ruhig. „Außerdem hat Andrew versprochen, mich heute irgendwann anzurufen. Er möchte mit mir ausgehen, solange ich noch in London bin." „Ich weiß. Er hat mich heute früh schon angerufen. Sie scheinen großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Aber nehmen Sie ihn nicht zu ernst, ja? Andrew hat nicht gerade den beständigsten Ruf." Samantha stellte ihre Tasse auf den Tisch und stand auf. „Vielen Dank für den Kaffee, Mr. Mallory", sagte sie förmlich, „und für Ihr Verständnis. Aber jetzt muss ich gehen." Lächelnd erhob er sich ebenfalls. Er war ihr so nahe, dass sie den herben Duft seines After Shaves riechen konnte. Ihr Herz begann erneut zu pochen. Warum übte Patrick diese Wirkung auf sie aus? Wie der prickelnde Champagner, den sie mit ihrer Großmutter nach dem Theater zum Essen getrunken hatte. „Zeigen Sie mir nicht die kalte Schulter, Samantha", bat Patrick nun sanft. „Ich glaube, Sie machen sich über mich lustig", erwiderte sie verunsichert. Sein Lächeln raubte ihr den Atem. Es war so warm und herzlich und ohne jeglichen Spott. Rasch wandte sie sich ab. „Ich ... muss jetzt wirklich gehen. Adieu, Mr. Mallory." „Auf Wiedersehen", verbesserte er sie gelassen und ging voraus, um sie zur Tür zu begleiten. Patrick Mallory fuhr seinen schnittigen Sportwagen in den ruhigen Hof der Künstlersiedlung aus luxussanierten ehemaligen Kutscherhäuschen in der Nähe der Kings Road. Hier teilten sich Andrew und Ken Madison eine der teuren kleinen Wohnungen, die meist von Theaterleuten und Künstlern bewohnt wurden. Patrick parkte den Wagen, stieg aus und hielt das sonnengebräunte Gesicht in den kühlen Wind. Bekleidet mit einem eleganten hellbraunen Kaschmirmantel über einem dunkelblauen Anzug, war er heute ganz der erfolgreiche Bühnenautor. Er stieg die Außentreppe zu Andrews Wohnung hinauf, schloss mit dem Schlüssel, den er von seinem Neffen besaß, auf und trat ein. Zielstrebig durchquerte er das verlassene Wohnzimmer und ging zur Tür von Andrews Schlafzimmer. Nach kurzem Anklopfen betrat er das Zimmer. Andrew war tief in Kissen und Decken vergraben und hatte die Ankunft seines Onkels offenbar gar nicht mitbekommen.
Lächelnd ging Patrick zum Bett, beugte sich über seinen Neffen und sagte laut: „Guten Morgen, Andrew." Andrew schreckte mit einem Aufschrei hoch. „Du liebe Güte! Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme? Wie kannst du mich mitten in der Nacht so erschrecken!" „Zehn Uhr früh und höchste Zeit, dass du aufstehst. Es ist ein herrlicher, frischer Morgen." Andrew setzte sich stöhnend auf. „Und seit wann weißt du, was draußen um diese Stunde für ein Wetter herrscht?" „Seit heute", erwiderte Patrick locker. „Komm schon, ich möchte einen Kaffee und habe nicht vor, ihn mir selber zu machen." Patrick zog lächelnd seinen Mantel aus. „Wann bist du denn gestern Abend ins Bett gekommen?" „Heute Morgen", verbesserte Andrew ihn gähnend. „Gegen vier Uhr. Wir waren auf einer Party und ..." „Ich verstehe. Trotzdem, ich bestehe auf dem Kaffee, also komm", sagte Patrick unbarmherzig. Resigniert stieg Andrew aus dem Bett, warf sich einen Bademantel über und folgte seinem Onkel ins Wohnzimmer, wo er sich seufzend aufs Sofa warf. Patrick ging in die winzige Küche und setzte das Kaffeewasser auf, bevor er sich in einem Sessel seinem Neffen gegenübersetzte. „Und was treibt dich so früh am Morgen um?" fragte Andrew neugierig. „Nichts Besonderes", antwortete Patrick beiläufig. „Ich möchte mit dir über Samantha Kingsley sprechen." „Samantha?" Andrew fuhr sich verblüfft durchs zerzauste Haar. „Aber ich habe sie seit dem Abend nach Barbaras Cocktailparty nicht mehr gesehen, und das muss jetzt vier Tage her sein." „Ich weiß. Hast du versucht, dich mit ihr zu treffen?" „Sicher. Was denkst du denn? Sie ist ein flotter Käfer. Hat mir sehr gefallen." „Den Eindruck hatte ich auch." Patrick nickte. „Hast du sie seitdem getroffen?" Patrick zögerte. „Nein, eigentlich nicht." „Und Barbara?" „Nun, ich habe Barbara getroffen", sagte Patrick nachdenklich, „aber ich bin nicht mit ihr ausgegangen, wenn du das meinst." Andrew verstand überhaupt nichts mehr. Warum interessierte Patrick sich für ein sechzehnjähriges Mädchen? Schön, Samantha war Barbara Harriets Tochter, aber Andrew hatte eigentlich eher den Eindruck gehabt, dass sein Onkel allmählich das Interesse an Barbara verlor. Schon vor seinem Urlaub hatte er sich nicht mehr allzu sehr um sie bemüht. In eingeweihten Kreisen machte man sich schon darüber lustig, wie Barbara ihm nachlief. Patrick mochte es nicht, wenn man ihn verfolgte, er jagte lieber selber. Da machten viele Frauen bei ihm den entscheidenden Fehler. Patrick lächelte, als er die besorgte Miene seines Neffen sah. „Schon gut, Patrick, ich habe nicht vor, mich für einen Teenager zu entflammen, wenn du das befürchtest. Aber ich mache mir Sorgen wegen Samantha." Andrew ging in die Küche, um den Kaffee aufzugießen. Als er mit dem Kaffeetablett zurückkam, sagte Patrick unvermittelt: „Ich habe sie in dem Flugzeug von Mailand hierher getroffen." Sein Neffe sah ihn groß an. „Aber auf der Party hast du nichts davon gesagt... und sie hat es auch nicht erwähnt. Allerdings wurde sie auffällig blass, als du eingetroffen bist. Ich habe mich damals gefragt, warum." „Wir hatten Gründe, uns wie Fremde zu verhalten, die ich hier nicht näher erläutern möchte." Patrick sah Andrews skeptischen Blick und fügte hinzu: „Es ist kein großes
Geheimnis, glaub mir. Eigentlich ist es Samanthas Angelegenheit und nicht meine. Aber ich bin hergekommen, weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte." Andrew betrachtete seinen Onkel argwöhnisch. „Du überraschst mich. Ich dachte, du würdest mich aus reiner Herzensgüte besuchen." Um Patricks Mundwinkel zuckte es amüsiert. „Was war, als du versucht hast, dich mit Samantha zu verabreden?" „Als ich das erste Mal angerufen habe, war Barbara am Telefon. Sie sagte, Samantha fühle sich nicht gut und habe sich wohl durch den Klimawechsel eine Erkältung eingefangen." „Wann war das?" „Direkt am Tag nach der Party." Patrick blickte nachdenklich. „Ich verstehe. Und hast du danach noch einmal versucht, sie anzurufen?" „Ja, gestern. Ich wollte Samantha zu der Party mitnehmen. Aber diesmal war Lady Davenport dran. Sie sagte, sie würden schon morgen nach Daven abreisen, und Samantha habe noch zu viel mit ihrer Mutter zu unternehmen, um sich mit mir zu treffen." Patrick stand auf. Als er Barbara gestern zufällig in einem Restaurant getroffen hatte, hatte sie ihm überschwänglich von ihrer gemeinsamen Zeit mit Samantha vorgeschwärmt. Sie hatte sich bei ihm entschuldigt, dass sie so gar keine Zeit für ihn gehabt habe, aber ihre Mutterrolle habe sie ganz und gar vereinnahmt. Dabei war sie einfach über die Tatsache hinweggegangen, dass er, Patrick, überhaupt keinen Versuch gemacht hatte, sich bei ihr zu melden. Er nahm ihr diese Selbsttäuschung nicht übel, machte sich jedoch Sorgen, welche Rolle Samantha in dieser Angelegenheit spielte. Er wollte Samantha persönlich treffen, weil er sie etwas fragen musste. Nur, wie sollte er ein solches Treffen ermöglichen, ohne dass Barbara gleichzeitig dabei anwesend war oder aber das Treffen von vornherein verhinderte? Es war dumm von ihm gewesen, dass er Barbara gegenüber seine Gefühle auf jener Party so deutlich gezeigt hatte. Aber er war so restlos überrascht gewesen, das Mädchen, zu dem er sich in dem Flugzeug so seltsam hingezogen gefühlt hatte, als Barbaras Tochter wieder zu treffen. Und der Gedanke, den Rest des Abends ausgerechnet mit der Mutter zu verbringen, war ihm ein Gräuel gewesen. Er brauchte Zeit, um nachzudenken. Schließlich hatte man ihm auf der Party gesagt, Samantha sei erst sechzehn! Jetzt war er immer noch nicht weiter. Er hatte gehofft, über Andrew Zugang zu Samantha zu bekommen, aber wie es aussah, unterband Barbara jegliche Verbindung zwischen ihrer Tochter und seiner Familie. Und wenn sie Samantha erst nach Daven abgeschoben haben würde ... welche Ausrede würde dann noch bleiben, um sie in diesem abgelegenen Dorf zu besuchen? „Hör zu", er wandte sich wieder seinem Neffen zu, „deine Mutter hat mich heute früh angerufen und zu einem Grillfest für heute Abend eingeladen." Andrew nickte. „Ich weiß. Ich habe Dad gestern in der Stadt getroffen." „Und? Kommst du auch?" „Ich hatte es eigentlich nicht vor, aber ich vermute, du hast einen guten Grund, warum ich kommen sollte." Patrick lächelte. „Ich habe überlegt, Barbara und Samantha dazu einzuladen mit dem Hinweis, dass du auch erscheinen und Samantha gern wieder sehen würdest." „Glaubst du, Barbara ließe sich darauf ein?" Patrick zuckte die Schultern. „Ich bilde mir ein, einen gewissen Einfluss auf Barbara zu haben. Wenn ich sie einlade, wird sie wohl kaum ablehnen. Wenn ich dann also Samantha als Begleitung für dich einlade, könnte es klappen." Andrew schüttelte verwundert den Kopf und sagte: „Ich verstehe das alles nicht. Ich denke, du willst eigentlich Samantha treffen." „Ja."
„Aber warum?" Patrick wich der Antwort aus. „Bist du ernsthaft an ihr interessiert?" „Nicht mehr als sonst. Sie ist ein nettes Mädchen. Wer weiß, vielleicht wird ja etwas Ernstes draus?" „Das bezweifle ich", erwiderte Patrick schroff. „Ich habe vielleicht... andere Pläne, was Samantha betrifft." „Aber ... sie ist erst sechzehn!" „Ist sie das?" entgegnete Patrick mit unergründlicher Miene. „Wir werden sehen. Also, kann ich mit deiner Hilfe rechnen?" „Natürlich. Aber du hättest mich deswegen auch anrufen können ... zu einer zuträglicheren Tageszeit." „Ich komme meinen Pflichten gern frühmorgens nach", sagte Patrick spöttisch lächelnd. „Aber jetzt gehe ich, und du kannst weiterschlafen. Ich rufe dich dann wegen heute Abend später noch mal an." „Tu das." Andrew war schon wieder auf dem Weg ins Schlafzimmer. Patrick fuhr nach Hause zurück. Es war wirklich ein wunderschöner, sonniger Septembermorgen, und abgesehen von einer kühlen Brise versprach es, ein milder Tag zu werden. Als Patrick sein Haus betrat, kam ihm Mrs. Chesterton aus der Küche entgegen. „Sie haben Besuch, Mr. Mallory." Für einen Moment glaubte er schon, es sei Samantha, doch seine Hoffnung wurde rasch enttäuscht. „Es ist Miss Harriet, Sir. Sie wartet schon seit einer halben Stunde." „Was Sie nicht sagen!" Patrick zog seinen Mantel aus. „Danke, Mrs. Chesterton. Ich kümmere mich um Miss Harriet." „Ja, Sir." Die Haushälterin nahm ihm den Mantel ab. „Ich habe sie in das Frühstückszimmer geführt." Als Patrick den Raum betrat, saß Barbara bei einer Tasse Kaffee und blätterte ungeduldig in der Zeitung. Bei Patricks Anblick sprang sie sofort auf. „Darling! Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich! Wo hast du nur gesteckt?" Sie eilte auf ihn zu und küsste ihn zart auf die Wange. Patrick wich zurück und ging zum Fenster. „Ich war bei Andrew. Du hättest vorher anrufen sollen." „Ja, Darling, ich weiß." Barbara überspielte gekonnt sein kühles Verhalten. „Aber ich wollte dich unbedingt sehen, und normalerweise gehst du vor zehn doch nie aus dem Haus." Patrick drehte sich zu ihr um und rang sich ein Lächeln ab. Zwar freute er sich keineswegs darüber, Barbara zu sehen, aber wenn er sein Ziel erreichen wollte, musste er es geschickter anfangen. „Verzeih meine schroffe Art, Barbara. Ich bin im Moment ganz von der Arbeit an meinem neuen Stück gefangen genommen." Barbara lenkte bereitwillig ein. „Aber nein, ich sollte mich entschuldigen, weil ich hier einfach unangemeldet auftauche und dich störe!" „Unsinn. Heute Morgen arbeite ich ja nicht, wie du siehst", wehrte Patrick ab und fügte ohne Vorwarnung hinzu: „Sag mir, warum hast du Samantha eigentlich verboten, mit Andrew auszugehen?" Barbara war sichtlich verblüfft. „Nun", sagte sie langsam, „ich habe ihr nicht direkt verboten, mit Andrew auszugehen ..." „Nicht? Wie ich von ihm weiß, hast du ihm gesagt, Samantha sei erkältet, aber mir hast du gestern im Restaurant nichts davon erzählt, als wir von deiner Tochter gesprochen haben." „Nun ja, es war auch nur eine leichte Erkältung. Ich habe mir einfach Sorgen um sie gemacht." „Dann hast du also eigentlich nichts gegen ihre Freundschaft mit Andrew einzuwenden?" Barbara zögerte. „Nein ... warum sollte ich?"
„Ja, warum auch?" Patrick lächelte spöttisch. „Ich frage dich das auch nur, weil meine Schwester uns für heute Abend zu einem Grillfest eingeladen hat. Uns ... das heißt, dich und mich und Andrew, natürlich. Und ich dachte, Samantha würde vielleicht gern als Andrews Begleitung mitkommen." Es war Barbara anzusehen, in welcher Zwickmühle sie sich befand. Sie wollte natürlich mit ihm ausgehen, aber der Gedanke, dass Samantha sie begleiten würde, passte ihr gar nicht, und Patrick glaubte den Grund zu ahnen. „Ich ... sollte das erst mit Samantha besprechen", sagte sie zögerlich. „Sie hat vielleicht ... andere Pläne. Mutter und sie reisen morgen nach Daven ab." Patrick betrachtete sie nachdenklich. Er begriff selber nicht genau, warum er diesen starken Wunsch hegte, Samantha zu beschützen. Seit er sie im Flugzeug kennen gelernt hatte, fühlte er sich seltsam verantwortlich für sie, und er kannte Barbara lange genug, um zu wissen, dass sie Samantha nicht aus Uneigennützigkeit als ihre Tochter akzeptierte. Ihm war natürlich klar, dass sie Samantha aus ganz persönlichen Gründen von ihm fern halten wollte. Samantha war ein ebenso hübsches wie reizendes Mädchen. Aber wenn Barbara bereits nach so kurzer Zeit schon Probleme mit ihrer Tochter sah, warum schickte sie Samantha nicht einfach wieder weg? Barbara war eine reiche Frau, die es sich durchaus leisten konnte, ihre Tochter wieder nach Italien oder woandershin zu schicken, um so wieder ungestört ihr eigenes Leben zu führen. Je mehr Patrick über die Sache erfuhr, desto mehr Sorgen machte er sich um Samantha. Barbara war sehr temperamentvoll und unberechenbar, wenn man ihre Pläne durchkreuzte. Falls Samantha ihrer Mutter tatsächlich ernsthaft in den Weg kam, konnte die Strafe drastisch ausfallen. „Dann ruf sie jetzt an", sagte Patrick ruhig. „Oder soll ich es lieber tun?" „Nein, nein, ich mache das besser selber." Barbara ging rasch zum Telefon. „Wobei ich jedoch annehme, dass sie gar nicht da sein wird. Mutter wollte heute früh mit ihr einkaufen gehen", fügte sie hinzu. Als Barbara das Telefon zur Hand nahm, kam Patrick bewusst an ihre Seite. Er wollte ihr nicht die Gelegenheit geben, Samantha zu verleugnen, obwohl sie da war. Wie es der Zufall wollte, ging Samantha selbst ans Telefon. In den vergangenen Tagen hatten immer andere an ihrer Stelle die Anrufe beantwortet, und da sie keinen Grund hatte, anzunehmen, dass man sie belog, nahm sie an, dass Andrew gar nicht versucht hätte, sich bei ihr zu melden. „Ja, ich bin's, Samantha", sagte sie nun, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte. „Möchtest du Grandma sprechen?" „Nein." Barbara presste die Lippen zusammen. „Samantha, ich bin hier bei Patrick. Er hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du vielleicht Lust hast, heute Abend mit zu einer Grillparty bei seiner Schwester zu gehen. Sie lebt an der Küste. Andrew kommt auch und würde dich gern als Begleitung haben." Samantha verschlug es die Sprache. Obwohl es sie nicht freute, zu hören, dass ihre Mutter gerade mit Patrick Mallory zusammen war, wusste sie doch, dass sie überall hingehen würde, wo sie ihn treffen könnte. „Vielen Dank", sagte sie förmlich. „Ich nehme die Einladung gern an." „Mutter hat nichts anderes mit dir vor?" „Nein. Sie will früh ins Bett gehen, damit die Fahrt nach Daven morgen sie nicht zu sehr anstrengt." „Ich verstehe. Dann bis später." Barbara legte auf und seufzte. „Ich nehme an, sie kommt mit", bemerkte Patrick trocken. „Ja, und sie bedankt sich bei dir für die Einladung." Barbara nahm auf einem Sofa Platz. „Sag, was hältst du von meiner Tochter?"
Dies war natürlich eine hintergründige Frage, doch Patrick zögerte nicht eine Sekunde mit der Antwort. Das hätte Barbara nur misstrauisch gemacht. „Ich denke, sie ist ein sehr reizvolles Mädchen", antwortete er locker. „Ganz anders als du, allerdings, denn sie ist nicht der kleine, zierliche Typ. Vermutlich schlägt sie mehr nach ihrem Vater." „Ja, das stimmt. John war auch groß und gut gebaut." „John...Kingsley?" „Ja." Barbara warf ihm einen prüfenden Blick zu, aber Patrick wirkte ganz gelassen und locker. „Erzähl mir doch von deinem verstorbenen Mann", fuhr er beiläufig fort. „Was hat er denn so gemacht?" „Ach, als ich ihn kennen lernte, war er bei der Marine." Barbara stand auf, ging zu Patrick und setzte sich anmutig auf die Armlehne seines Sessels. Zärtlich ließ sie die Hand über seine Wange gleiten, beugte sich zu ihm herab und flüsterte ihm ins Ohr: „Reden wir nicht über John, Darling ... sondern lieber über uns." Patrick blickte zu ihr auf. Barbara Harriet war eine sehr schöne Frau, und in dem eleganten grauen Seidenkostüm, das sie heute trug, sah sie geradezu umwerfend aus. Er fragte sich, warum ihr Zauber bei ihm nicht mehr wirkte. Schließlich hatte er von Anfang an gewusst, was für eine Frau sie war ... selbstsüchtig und verwöhnt ... aber er selbst war auch nicht so ohne Makel, dass er bei anderen Perfektion erwartete. Eine Zeit lang war ihm Barbaras Gesellschaft als sehr angenehm und anregend vorgekommen. Doch nun tauchte immer, wenn sie in seine Nähe kam, das Gesicht ihrer Tochter vor ihm auf, und er ertappte sich dabei, zu wünschen, dass nicht Barbara, sondern Samantha versuchen würde, ihn zu verführen. Allerdings hatte Samantha keinerlei Neigung in diese Richtung gezeigt. Sie schien ihm im Gegenteil seine Einmischung in ihre Angelegenheiten zu verübeln und fühlte sich offenbar mehr zu Andrew hingezogen. Vermutlich fand sie ihn, Patrick, zu alt und zu erfahren, und er wäre klug beraten gewesen, sich dem zu fügen. Er hatte sich noch nie von einer Frau gefangen nehmen lassen. Patrick zog Barbara auf seinen Schoß und küsste sie auf den Mund. Er verachtete sich für seine Unaufrichtigkeit, aber vielleicht half es ihn, seine deprimierte Stimmung etwas aufzuheitern. Barbara war sofort Feuer und Flamme. Immerhin war es über einen Monat her, dass Patrick und sie zuletzt miteinander geschlafen hatten. „Darling", flüsterte sie verführerisch an seinem Ohr, „ich bete dich an ..." Angewidert von seinem Verhalten, stand Patrick unvermittelt auf und setzte Barbara etwas unsanft in den Sessel. Dann blickte er reumütig in ihr errötetes Gesicht. „Verzeih, Darling. Aber es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt... oder der richtige Ort ... dafür!" Barbara erhob sich anmutig, wobei sie bemüht war, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie warf Patrick einen forschenden Blick zu und griff nach ihrer Handtasche. „Wann holst du uns heute Abend ab?" „Wäre dir sechs Uhr recht? Bis nach Sandwich ist es noch ein gutes Stück zu fahren." „In Ordnung." Sie sah ihn herausfordernd an. „Vielleicht passt es ja heute Abend besser, was meinst du?" Patrick rang sich ein Lächeln ab. „Vielleicht", antwortete er unverbindlich und öffnete ihr die Tür.
6. KAPITEL
Samantha wusste nicht, ob sie sich auf den bevorstehenden Abend freuen oder sich davor fürchten sollte. Sie und Barbara verkehrten in diesen Tagen kaum mehr höflich miteinander. Seit jener schicksalhaften Cocktailparty hatte Barbara ihre Mutter zu einigen öffentlichen Einladungen begleitet, und es war jedes Mal eine Tortur gewesen. Barbara hegte inzwischen eine nahezu kindische Abneigung gegen ihre Tochter, obwohl Samantha sich immer noch bemühte, auch wenn ihr ihre Mutter mittlerweile ziemlich gleichgültig war. Für die Öffentlichkeit spielten sie allerdings nach wie vor heile Welt, und nur Clyde, die Barbara überallhin begleitete, wusste, wie es wirklich aussah. Lady Davenport tröstete ihre Enkelin, so gut sie konnte, und der Gedanke, dass sie bald mit ihrer Großmutter nach Daven abreisen würde, half Samantha, diese Zeit durchzustehen. Die Abende verbrachte sie sowieso allein mit Lady Davenport, während Barbara ausging. Samantha nahm an, mit Patrick Mallory ... eine Vorstellung, die sie zusätzlich quälte. So war sie bei der Aussicht, erneut einige Stunden in Barbaras Gesellschaft zu verbringen, nicht gerade erfreut... zumal sie diesmal auch noch gezwungen sein würde, mit anzusehen, wie sich ihre Mutter und Patrick wie das Liebespaar benehmen würden, als das sie alle Welt kannte. Auf der Party war Patrick so überrascht und erzürnt gewesen, dass er sich sehr schnell zurückgezogen hatte. Heute Abend aber würde Barbara zweifellos seine ungeteilte Aufmerksamkeit gehören. Samantha zog sich Jeans und einen dicken roten Pullover an. Eigentlich trug sie selten Rot, weil ihr die Farbe zu auffällig war. Aber heute Abend war ihr alles egal. Sie hatte sowieso keine Lust mehr, in London zu bleiben, und wollte sich an ihrem letzten Abend wenigstens noch etwas amüsieren. Lady Davenport war schon ins Bett gegangen und wirkte müde und erschöpft, als Samantha bei ihr hereinschaute, um sich zu verabschieden. „Du siehst so jung aus, Liebes", sagte Lady Davenport herzlich. „Heute hat Barbara wirklich keinen Grund, sich zu beklagen." „Hoffentlich." Samantha lächelte liebevoll. „Ach Grandma, was würde ich ohne dich anfangen?" „Du würdest schon zurechtkommen", antwortete die alte Dame überzeugt. „Du hast Charme. Alle, die ich gesprochen habe, waren ganz hingerissen von dir." Samantha lachte. „Barbara ausgenommen, denke ich. Aber jetzt muss ich wirklich los. Es ist schon fast sechs Uhr." „Viel Spaß, Liebes. Und lass dich von meiner Tochter nicht ärgern." „Das werde ich nicht." Samantha beugte sich herab, küsste ihre Großmutter zum Abschied auf die Wange und verließ das Zimmer. Sie zog sich die schwarze Steppjacke an und betrachtete sich noch einmal im Spiegel, als die Tür zur Suite geöffnet wurde. Überrascht drehte Samantha sich um und blickte direkt in Patrick Mallorys markantes Gesicht. Patrick trug Jeans wie sie, dazu einen dicken grünen Pullover und darüber eine sportliche braune Lederjacke. Sein schwarzes Haar war vom Wind zerzaust, und seine goldbraunen Augen blitzten wie meist ein wenig amüsiert. „Hallo", sagte er lässig, „sind Sie bereit?" Samanthas Herz pochte. „Ich ... ja. Sind Sie allein?" „Im Moment ja. Andrew wartet draußen im Wagen, und Barbara müssen wir erst noch abholen." „Ich verstehe. Sollen wir dann los?" „Sicher, deshalb bin ich ja gekommen." Samantha errötete. Er machte sich schon wieder über sie lustig! Patrick kam einen Schritt auf sie zu. „Glauben Sie, dass ich mich auf Ihre Kosten amüsiert habe?"
Samantha hielt den Atem an, als er ihr so nahe war. Rasch wandte sie sich ab und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Es ist mir egal, was Sie tun, Mr. Mallory!" Er betrachtete sie einen Moment lang forschend, dann zuckte er die breiten Schultern. „Schön, auf geht's!" Es klang kühl und distanziert, und Samantha verwünschte sich insgeheim, dass sie ihn so brüskiert hatte. Schließlich war er nicht unhöflich zu ihr gewesen, sondern hatte sie nur ein wenig geneckt. Als sie gemeinsam zum Lift gingen, hakte sie sich spontan bei ihm ein. Er blickte unergründlich auf sie herab. „Es tut mir Leid", sagte sie leise. „Das war ziemlich schnippisch von mir, nicht wahr?" „Ja." Seine Stimme klang jetzt wieder warm und liebevoll. Ehe Samantha wusste, wie ihr geschah, nahm er ihre Hand und drückte sie sanft, bevor er sie in den bereitstehenden Aufzug führte. Samantha wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie hatte nur freundlich sein wollen ... Aber vermutlich nahm sie die Sache zu wichtig. Was war schon dabei, dass er ihre Hand hielt? Schließlich glaubte er, sie sei ein Teenager, und wollte vielleicht den väterlichen Freund herauskehren. Vor allem, da Barbara bald dabei sein würde. Als der Aufzug im Erdgeschoss anhielt, entzog Samantha Patrick ihre Hand und ging vor ihm aus dem Hotel. Draußen parkte ein eleganter, schnittiger Sportwagen. Samantha blickte sich anerkennend zu Patrick um. „Ist das Ihrer?" „Ja, gefällt er Ihnen?" „Natürlich, er ist super! Wo sitze ich?" Sie waren bei dem Wagen angelangt, und Andrew, der auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, stieg gerade aus, um sich auf die Rückbank zu setzen. „Wo möchten Sie denn gern sitzen?" fragte Patrick lächelnd. „Neben mir?" „Wenn Sie es wollen ..." Samantha war sich nicht bewusst, wie verführerisch sie in diesem Moment wirkte, aber Patrick schluckte sichtlich. „Nun ... Sie setzen sich wohl am besten nach hinten zu Andrew", sagte er heiser. „Barbara wird vorn sitzen wollen." „Gut." Samantha warf ihm noch einen prüfenden Blick zu, bevor sie sich zu Andrew auf die Rückbank gesellte. Am Belgrave Square ließ Patrick Samantha und Andrew allein im Wagen, um Barbara abzuholen. Andrew legte Samantha lässig einen Arm um die Schultern. „Gemütlich hier, nicht?" Samantha lächelte zurückhaltend. „Ja. Wie lange wird es wohl dauern, bis sie kommen?" „Schwer zu sagen, wie ich Barbara kenne", antwortete Andrew mit einem jungenhaften Lächeln. „Gut möglich, dass sie noch gar nicht fertig ist." „Aber Patrick hat doch sechs Uhr gesagt, und es ist schon nach sechs!" Andrew lachte. „Es ist wirklich erfrischend, eine Frau kennen zu lernen, die nicht weiß, wie man einen Mann warten lässt! Andererseits könnte ich mir vorstellen, dass Patrick Barbara heute Abend zur Eile antreibt. Er scheint nicht mehr so von ihr angetan zu sein, wie er es einmal war. Ich glaube, er ist nicht nur nach Italien geflogen, um Urlaub zu machen, sondern vor allem, um sich über seine Gefühle für deine Mutter klar zu werden. Sie hat nie ein Geheimnis aus ihren Gefühlen für ihn gemacht, und Pat ist nicht der Typ, der sich ohne gründliche Überlegung zu einer Ehe drängen lässt." Andrew sah Samantha viel sagend an. „Schließlich ist er auch als Junggeselle kein Kind von Traurigkeit gewesen. In seiner Jugend war er sogar ein ziemlich wilder Hecht. Und jetzt fliegen ihm die Frauen nur so zu. Sein Erfolg als Bühnenautor hat ihm sämtliche Türen geöffnet. Er war zwar immer schon vermögend, aber bevor er zu einer prominenten Größe in der Theaterwelt wurde, waren seine Freunde auf die ... Oberschicht beschränkt. Du verstehst, was ich meine, oder?"
„Nicht wirklich", gestand Samantha. „Heißt das, du weißt es nicht? Ich dachte, Barbara hätte es dir längst erzählt. Sein Vater war ein Peer, ein Adliger." Andrew schüttelte ungläubig den Kopf. „Dann weißt du auch nichts von Killaney?" „Killaney? Was ist das?" „Das ist sein Anwesen in Irland. Pat besitzt ein großes Anwesen in County Galway." Samantha machte große Augen. „Ich hatte keine Ahnung." „Sag ihm bloß nicht, dass ich es dir erzählt habe!" bat Andrew. „Er hasst jede Form von Snobismus." „Ist er oft in Irland?" „Nun, das Anwesen wird von einem Verwalter geführt, Michael O'Hara. Mike kümmert sich da um alles. Pat verbringt die meiste Zeit in London, obwohl ich glaube, dass er tief in seinem Herzen am liebsten auf Killaney leben würde. Es ist wunderschön dort... nur üppig grüne Hügel und das Rauschen des Meeres, das einen nachts in den Schlaf lullt." „Das klingt ja richtig poetisch, Andrew!" „Killaney weckt solche Gefühle in einem. Es ist das Paradies der Dichter. Du musst Barbara überreden, dorthin zu reisen, damit du sie begleiten kannst." „Nun, das ist höchst unwahrscheinlich." Sie sah Andrew fragend an. „Warum hast du eigentlich nicht angerufen?" „Aber das habe ich doch! Zwei Mal!" „Das verstehe ich nicht. Ich habe keinen Anruf von dir bekommen." „Nein. Deine Mutter und deine Großmutter haben mir jeweils zu verstehen gegeben, dass du keine Zeit hättest. Da dachte ich, es wäre deine Art, mir eine Abfuhr zu erteilen." „Aber nein! Ich war sogar ziemlich gekränkt, als du, wie ich dachte, nicht angerufen hast, obwohl du es versprochen hattest. Ich wollte mir noch so viel ansehen, und jetzt reisen wir morgen nach Daven ab, und ich werde wer weiß wie lange nicht wieder nach London kommen." „Tut mir Leid, Schätzchen, aber ich habe wirklich angerufen. Vielleicht wollten deine Verwandten nicht, dass du mit mir ausgehst." „Sieht ganz so aus. Aber warum?" Genau in diesem Moment wurde die Beifahrertür geöffnet, und Barbara stieg ein. „Hallo, ihr beiden", sagte sie gespielt locker. „Gemütlich habt ihr es hier. Habt ihr euch auch benommen?" Samantha errötete, denn genau in diesem Moment stieg auch Patrick an der Fahrerseite ein, und sie war sich sicher, dass Barbara das nur gesagt hatte, um ihm klarzumachen, dass hier zwei Teenager im Wagen saßen. Es war schon fast dunkel, als sie gegen acht Uhr Sandwich erreichten. Patrick lenkte den Sportwagen die steile Auffahrt zu dem alten, umgebauten Herrenhaus hinauf, in dem die Frazers wohnten. Das Haus erhob sich malerisch oben auf den Klippen und hatte auf der Rückseite Zugang zu einem Privatstrand, auf dem das Grillfest stattfinden sollte. In der Zufahrt parkten bereits die Autos weiterer Gäste, und als Patrick anhielt, stieg Samantha erleichtert aus und reckte die verspannten Glieder nach der langen Fahrt. Sofort kamen mehrere Kinder aus dem Haus und stürzten sich überschwänglich auf Patrick, der aus den Jackentaschen Bonbons hervorzauberte und sich das kleinste Kind, ein Mädchen, auf die Schultern hob. Barbara hielt sich skeptisch abseits, aber Samantha, die Kinder liebte, ging bereitwillig auf die Kleinen zu. Andrew stellte sie ihr lachend vor. „Die beiden Rangen da sind Debbie und Donald - Das sind die Zwillinge. Auf Patricks Schultern sitzt Jennifer und das ist Fran ... die Kurzform für Francesca. Die Zwillinge sind acht, Fran ist zehn und Jennifer fünf. Fehlt nur
noch Steven. Er ist vierzehn und im Moment im Internat. Das zweifelhafte Vergnügen, ihn kennen zu lernen, musst du dir also für später aufheben." Samantha lachte. Sie stellte es sich wundervoll vor, so viel© Brüder und Schwestern zu haben. Patrick kam mit Jennifer auf den Schultern an ihre Seite. „Und? Was halten Sie von diesem wilden Haufen?" „Toll!" rief Samantha begeistert aus. „Es muss wundervoll sein, so eine große Familie zu haben." Patrick lächelte sie liebevoll an. „Warten Sie, bis Sie verheiratet sind und eine eigene Familie haben. Dann lernen Sie dieses Vergnügen auch kennen." Samantha blickte verträumt zu ihm auf. „Ja. Ich will viele Kinder." „Und die werden Sie sicher haben", erwiderte Patrick so leise, dass nur sie es hören konnte. Befangen wandte sie sich ab. Die Zwillinge beäugten Barbara ziemlich argwöhnisch. Sie kannten sie schon von früheren Besuchen und mochten sie nicht besonders. Diese blonde Frau roch ihnen zu sehr nach Parfüm, und jetzt trug sie ein grünes Seidenkostüm zu einer Strandparty! Fran hängte sich an Samantha, als alle ins Haus gingen, wo die anderen Gäste bereits mit den Frazers einen Aperitif tranken. „Bist du Andrews Freundin?" fragte Fran neugierig. „Eigentlich nicht", antwortete Samantha lächelnd. „Ich bin Miss Harriets Tochter." „Von Onkel Pats Barbara Harriet?" Fran war sichtlich erstaunt. „Ja. Warum?" „Ich wusste gar nicht, dass sie verheiratet ist." „Das ist sie auch nicht mehr. Ihr Mann ... mein Vater ist gestorben." Fran betrachtete Samantha skeptisch. „Du bist ganz anders als sie." „Ja? Nun, das ist doch normal, oder? Ich bin jünger und auch nicht so prominent wie sie." „Was heißt das ... ,prominent'?" Samantha wollte es gerade lächelnd erklären, als Andrew grinsend hinter ihr auftauchte. „Nun, weißt du es?" fragte er neckend. Samantha boxte ihm gespielt empört in den Bauch. Andrew tat, als wäre er schwer verletzt, und die Zwillinge kamen lachend hinzu, um an dem Spaß teilzuhaben. Im Nu herrschte wieder ein lärmendes Tohuwabohu. Barbara sah Patrick triumphierend an. „Du hattest Recht", sagte sie gespielt arglos. „Samantha amüsiert sich prächtig. Kinder scheinen immer viel Spaß miteinander zu haben." Patrick setzte Jennifer zu Boden und wandte sich Barbara zu. „Soll das heißen, dass Erwachsene nie Spaß miteinander haben?" fragte er spöttisch. „Du willst mich bewusst missverstehen", entgegnete Barbara pikiert und stolzierte vor ihm die Treppe hinauf ins Haus. Die Frazers waren beide Mitte vierzig, seit fast zwanzig Jahren verheiratet und immer noch sehr verliebt ineinander. Gina, Patricks Schwester, war groß und schlank und dunkelhaarig, Giles, ihr Mann, war blond und stämmig und hatte einen leichten Bauchansatz, weswegen ihn seine Kinder und Gina gnadenlos aufzogen. Doch er nahm es gutmütig hin und begrüßte Barbara und Samantha herzlich. Die übrigen Gäste waren zwei ältere Paare aus der Nachbarschaft und einige Teenager und Kinder, Freunde von Andrew und Francesca. Alle bis auf Barbara waren zwanglos gekleidet, trugen Jeans und warme Pullover, weil am Strand eine frische Brise vom Meer wehte. Barbara zog sich immerhin eine Pelzjacke über, als man zum Strand hinunterging. Sie achtete penibel darauf, stets so vorteilhaft wie möglich auszusehen, und da ihre Beine eher kurz geraten waren, kamen Jeans für sie nicht infrage - auch wenn es manchmal unpraktisch war. Am Strand waren ein gewaltiger Holzkohlegrill sowie Holztische und -bänke aufgestellt worden. Eine beachtliche Auswahl an Grillgut lockte die Hungrigen, und ein reichliches
Büfett mit köstlichen Salaten und Desserts ließ nicht nur den Kindern das Wasser im Mund zusammenlaufen. Staunend ließ Samantha den Blick darüber schweifen, als eins der Kinder die Musikanlage aufdrehte und Andrew Samantha zum Tanz aufforderte. Sie hatte nicht vergessen, was er ihr an dem Abend in der Diskothek beigebracht hatte, und legte inmitten der fröhlich tanzenden Jugendlichen und Kinder bald ihre Hemmungen ab. Die älteren Gäste saßen im Kreis um das Grillfeuer und unterhielten sich bei einem Glas Punsch, den Giles Frazer höchstpersönlich angesetzt hatte. Bevor die ersten Steaks fertig waren, trafen weitere Gäste ein, darunter Ken Madison mit einigen Mädchen. Im Nu waren Samantha und Andrew im Mittelpunkt einer ausgelassenen Gesellschaft, durch die ungestüm die Frazer-Kinder tollten. Irgendwann gelang es Samantha, der lärmenden Schar für einen Moment zu entfliehen, und sie gesellte sich zu Gina. „Finden Sie uns nicht völlig verrückt?" fragte Patricks Schwester lachend. „Manchmal frage ich mich selbst, wie ich es mit diesen Temperamentsbündeln aushalte. Und Ken und seine Freunde sind ja auch noch oft genug hier, so dass ich abends nicht selten zwölf oder mehr am Tisch sitzen habe. Nur gut, dass Giles so ein Gemütsmensch ist. Die meisten Männer würden das nicht ertragen." Samantha lächelte. „Ich beneide Sie um Ihre wundervolle Familie. Leider habe ich nie Brüder oder Schwestern gehabt." Gina warf einen viel sagenden Blick auf Barbara. „Nein, das kann ich mir vorstellen. Sagen Sie, mag Ihre Mutter keine Kinder?" Samantha senkte verlegen den Blick, und Gina entschuldigte sich sofort. „Es tut mir Leid, meine Liebe, ich hätte das nicht fragen dürfen. Ich trete aber auch immer ins Fettnäpfchen! Aber wenn Barbara hier ist, scheint sie jeglichen Kontakt zu den Kindern zu meiden. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, aber wenn es so ist, hoffe ich, dass Patrick sie nicht heiratet. Er liebt unsere Kinder und will sicher eigene haben. Meine Mutter jammert ständig darüber, dass er noch Junggeselle ist!" Gina lachte. „Armer Pat, er ist so ein netter Kerl - und die Kinder vergöttern ihn." „Vergöttern wen?" fragte eine tiefe Stimme dicht hinter Samantha, und sie erkannte sie sofort. Gina wandte sich liebevoll zu ihrem Bruder um. „Als würdest du das nicht wissen! Amüsierst du dich gut, Bruderherz?" „Ich denke schon. Wer, in aller Welt, ist dieses Geschöpf, das Ken heute Abend mitgebracht hat? Die mit den Leopardenleggings und dem tief ausgeschnittenen Pullover?" fragte Patrick belustigt, wobei er Samantha beiläufig einen Arm um die Schultern legte. „Ach, du meinst Angela!" Gina lachte, und Samantha blickte ebenfalls neugierig in die Richtung. „Sehen Sie, wen ich meine?" fragte Patrick, dicht an ihrem Ohr, und sein warmer Atem streifte ihre Wange. „Ja, ich sehe es", antwortete Samantha lächelnd und hätte sich am liebsten an ihn gelehnt. „Was ist sie von Beruf, Mrs. Frazer?" „Lieber Himmel, nennen Sie mich Gina - das tun alle. Was Angela betrifft, ich glaube, sie ist Tänzerin in einem Club in London. Kens Freunde werden immer exotischer." Patrick beobachtete lächelnd die rhythmischen Bewegungen der jungen Tänzerin zu der lauten Popmusik. „Sie ist schon ein toller Käfer!" „Meinen Sie wirklich?" Samantha drehte sich erstaunt zu ihm um. Gina hatte sich anderen Gästen zugewandt, so dass Patrick und Samantha allein zurückblieben. „Ja, natürlich. Sie etwa nicht?" Sein Lächeln vertiefte sich.
„Nein, ich ..." Samantha entzog sich seinem Arm und ging in Richtung Meer davon. „Sie haben sich nur wieder über mich lustig gemacht!" sagte sie vorwurfsvoll, als Patrick ihr folgte. „Warum sollte ich so etwas tun?" Samantha wich seinem spöttischen Blick aus. „Hören Sie auf!" sagte sie ärgerlich. „Ich will nichts mehr davon hören." Inzwischen waren sie außer Hörweite der übrigen Gäste rund um das Grillfeuer. Patrick blieb am Wasser stehen und sah Samantha forschend an. „Und was würden Sie gern hören?" fragte er sanft. Samantha zuckte die Schultern. „Nichts. Alles." „Was für eine Antwort!" sagte er lachend. „Und was soll ich darauf erwidern?" „Ach nichts." Samantha zog die Fußspitze durch den Sand. „Wir fahren morgen nach Daven." „Ich weiß. Barbara hat es mir gesagt." „Natürlich", flüsterte Samantha missmutig. „Du liebe Güte, ich habe Sie aber wirklich verärgert, nicht wahr? Es tut mir aufrichtig Leid." „Hören Sie auf, mich zu necken", bat sie gereizt. „Ich bin kein Kind mehr!" „Ich weiß", sagte er ruhig. „Sie sind einundzwanzig." Samantha blickte verblüfft zu ihm auf. „Woher wissen Sie das?" Er zuckte die Schultern. „Ganz einfach. Ich war im Somerset House in London, wo sich unter anderem das Geburtenregister befindet." „Ich verstehe." „Sie haben mich belogen", fuhr Patrick langsam fort, „indem Sie mir gesagt haben, Sie seien sechzehn." „Ich weiß. Aber Barbara ... Ach, was soll's!" „Ich kann mir denken, dass Barbara nicht zugeben wollte, eine einundzwanzigjährige Tochter zu haben." „Ja, genau. Haben Sie ihr gesagt, dass Sie es wissen?" „Nein. Warum sollte ich?" „Und warum sagen Sie es mir?" Patrick zog sie zu sich heran. „Damit du, wenn ich dich jetzt küsse, nicht denkst, dass ich auf kleine Mädchen stehe", sagte er sanft, fasste ihr unters Kinn und küsste sie auf den Mund. Samantha sträubte sich im ersten Moment, aber dann gewannen ihre lang unterdrückten Gefühle die Oberhand. Sehnsüchtig schmiegte sie sich an Patrick und legte ihm die Arme um den Nacken. Er presste sie an sich und öffnete ihr mit seinem heißen, leidenschaftlichen Kuss die Lippen. So ist es also, von einem richtigen Mann geküsst zu werden, dachte Samantha, von brennendem Verlangen erfüllt. Sie atmete den Duft seines Körpers ein und spürte, wie eine elektrisierende Erregung sie durchflutete. Jetzt machte Patrick sich nicht mehr über sie lustig oder neckte sie. Sein schneller Atem verriet ihr, dass er sie begehrte, wie ein Mann eine Frau nur begehren konnte, und dass er sie nicht mehr loslassen wollte. Schließlich drückte er schwer atmend die Stirn gegen ihre und sagte: „Du hast das genauso sehr gewollt wie ich, nicht wahr?" Sie nickte, und er ließ sie widerstrebend los. „War ich zu heftig? Habe ich dir wehgetan?" Samantha schüttelte benommen den Kopf. Sie wagte es nicht, zu sprechen. Wie hatte das nur passieren können? Was musste Patrick jetzt von ihr denken! Hatte sie ihn vielleicht unbewusst dazu verleitet? Auch Patrick machte einen ziemlich nachdenklichen Eindruck. Er hatte Samantha nicht loslassen wollen. Bisher hatte er sich stets genommen, was er haben wollte, und es war kein
angenehmes Gefühl, sie freizugeben, obwohl er sie so sehr begehrte. Entsprechend schroff sagte er: „Wir sollten besser zu den anderen zurückgehen." Samantha senkte befangen den Kopf. „Bist du böse?" „Nein, warum sollte ich böse sein?" „Du klingst aber so." Als er nur die Schultern zuckte, wandte Samantha sich seufzend ab und ging zum Grillfeuer zurück. Sie war gekränkt und verunsichert. Patricks Reaktion verstand sie nicht und nahm einfach an, dass er es bereute, sie überhaupt geküsst zu haben. Wie konnte sie nur so naiv sein! Er war ein erfahrener, viel begehrter Mann und küsste wahrscheinlich jede Frau, wenn es ihm gerade passte. Als sie die jungen Leute erreichte, blickte sie sich enttäuscht nach Patrick um. Er stand bereits neben Barbara, und sie lachte gerade über irgendetwas, was er ihr sagte. Erzählte er ihr vielleicht, was er soeben getan hatte? Samantha hätte sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Andrew tauchte neben ihr auf und betrachtete sie besorgt. „Bist du mit meinem lieben Onkel spazieren gegangen?" Samantha errötete schuldbewusst. „Ja. Warum?" „Ach, nur so." Andrew schüttelte verwirrt den Kopf. Es war überhaupt nicht Patricks Art, so den Kopf zu verlieren, schon gar nicht wegen eines Mädchens, das seine Tochter hätte sein können! Er seufzte. „Komm, lass uns tanzen. Ich habe dich schon vermisst." Samantha lächelte. „Wirklich? Na, wenigstens einer!" Als zum Essen gerufen wurde, blieb Samantha in der Gruppe der jungen Leute, doch sie hatte kaum noch Appetit. Wenn Patrick nur geblieben wäre, was er für sie gewesen war: attraktiv, aber unerreichbar. Nun konnte sie nur vermuten, dass sie ihn irgendwie enttäuscht hatte, und das war kein gutes Gefühl!
7. KAPITEL
Patrick tanzte mit Barbara. Obwohl sie den Sand in ihren Pumps hasste, hatte sie sich dazu überreden lassen, weil es die einzige Möglichkeit war, in seinen Armen zu sein. Doch Patrick ertappte sich dabei, dass er den Blick immer wieder dorthin schweifen ließ, wo Samantha mit Andrews und Kens Freunden tanzte. Die jungen Leute hatten sie sofort in ihrer Gruppe aufgenommen - sie war eine von ihnen ... so jung und schön und voller Leben. Ihr weißblondes Haar umschmeichelte ihr zartes Gesicht, die grünen Augen leuchteten, als sie ihren Tanzpartner anlächelte. Sie schien sich prächtig zu amüsieren. Patrick riss sich gewaltsam von diesem bezaubernden Anblick los. Samantha war so jung. Auch wenn sie nicht sechzehn war, wie sie behauptet hatte, so war sie doch in vieler Hinsicht noch unberührt vom Leben. Welches Recht hatte er, sich mit seiner Sehnsucht nach ihr zu quälen? Gereizt überlegte er, dass er sich nach all der Zeit, die er nun mit Barbara zusammen war, doch unmöglich in ihre Tochter verliebt haben konnte, oder? Dennoch hatte er das Gefühl, Samantha beschützen zu müssen. Als sie sich im Flugzeug begegnet waren, war sie gerade im Übergang zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben begriffen gewesen. Er war sozusagen der Vermittler gewesen und fühlte sich daher für sie verantwortlich. Schon das ist lächerlich! dachte er verärgert. Samantha hatte jetzt ihre eigene Familie gefunden ... eine Großmutter und sogar eine Mutter! Warum nur ließ sie ihn nicht los? Sie hatte ihn doch nie um Hilfe oder Rat gebeten und eher ungehalten auf seine bisherige Einmischung reagiert. Warum also drehten sich all seine Gedanken ständig um sie? Sicher, sie war reizvoll und attraktiv, aber wenn es nur ums Aussehen ging, dann war Barbara vermutlich noch schöner als ihre Tochter. Barbaras zarte Schönheit war praktisch zeitlos. Gegen die einzig mögliche Lösung dieses Rätsels sträubte Patrick sich vehement. Er, Patrick Mallory, war nicht der Typ für die Liebe. Liebe war zu bindend, zu fordernd. Liebe war etwas für sesshafte Menschen wie Gina und Giles, nicht für Freigeister wie ihn. Allein die Vorstellung, sich ganz in die Hand eines einzigen Menschen zu geben, erschreckte ihn. Er liebte seine Freiheit und liebte auch die Frauen ... aber nur bis zu einem gewissen Grad. Frauen waren ein notwendiger Teil seines Lebens wie das Schreiben. Doch ihm war bisher noch nie der Gedanke gekommen, eine Frau aus einem anderen Grund zu heiraten, als sich gegebenenfalls eine Geliebte und eine präsentable Gastgeberin zu sichern. Bisher. Sein Verstand wehrte sich gegen das Naheliegende. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er für Samantha mehr als ein nur vorübergehendes Interesse empfand. Barbara sagte etwas zu ihm, und er blickte auf sie herab. Sie sah heute Abend wirklich wundervoll aus, und Patrick wusste, dass er ihre Gesellschaft eigentlich hätte genießen müssen. Denn tatsächlich hatte sich doch gar nichts zwischen ihnen geändert. Er hatte immer gewusst, was für ein Mensch Barbara war ... eitel, egoistisch, gelegentlich etwas neurotisch. Nichts, was sie tat, hatte ihn je aus der Fassung bringen können. Und dennoch hatte er sie ernsthaft für die geeignetste Kandidatin gehalten, sollte er sich je entschließen zu heiraten. Samantha hatte das alles verändert. Patrick war sich bewusst, dass er nun niemals Barbara heiraten und Samantha als seine Stieftochter annehmen könnte. Denn seine Gefühle für Samantha waren alles andere als väterlich. „Es ist schon halb zwölf", sagte Barbara. „Wann wolltest du aufbrechen?" Patrick konzentrierte sich auf diese unverfängliche Frage. „Wenn die Party zu Ende ist. Warum? Bist du müde?" Sie zog einen Schmollmund. „Vielleicht ein bisschen gelangweilt." „Mit mir?" In dem Moment, als die Worte heraus waren, hätte Patrick sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Er war es so gewöhnt, die Menschen mit seinem Charme zu faszinieren, dass er ganz automatisch so reagierte, wenn seine Position auch nur entfernt infrage gestellt wurde.
Barbara reagierte wie erwartet. Sie schmiegte sich enger an ihn und flüsterte: „Mit dir langweile ich mich doch nie, Darling." Patrick erstarrte unangenehm berührt. Er konnte diese Sache unmöglich noch lange so weitertreiben. Nach dem heutigen Abend musste er einen Weg finden, erst einmal Abstand zu gewinnen. Vielleicht erlaubten ihm seine Verpflichtungen, London für eine Woche oder zehn Tage den Rücken zu kehren. Er konnte nach Killaney fahren. Dort war es um diese Jahreszeit wundervoll. Nur in Irland würde er die nötige Ruhe und Ausgeglichenheit finden, um wieder Ordnung in seine Gedanken und Gefühle zu bringen. Weit weg von Barbara und Samantha, würde es ihm leichter fallen, die Dinge wieder in die richtige Perspektive zu rücken. Die Musik endete, und Patrick befreite sich aus Barbaras Armen. Genau in diesem Moment kam Giles mit ernster Miene auf sie zu. Mit einem mitfühlenden Blick auf Barbara sagte er: „Würden Sie uns einen Moment entschuldigen, Barbara? Ich muss kurz mit Pat allein sprechen." Ein wenig pikiert ging Barbara davon, und Giles zog Patrick zur Seite. Patrick sah ihn besorgt an. „Was ist los, Giles?" Sein Schwager schüttelte erregt den Kopf. „Pat, ich hatte gerade einen Anruf aus London. Es war eine gewisse Emily, die, wie sie sagte, für Barbaras Mutter arbeitet. Anscheinend hatte Lady Davenport heute Abend einen Herzanfall, und diese ... Emily meinte, es wäre wohl besser, wenn du es Barbara schonend beibringst." „Dann ist sie tot?" „Nein, aber ich habe auch mit dem Arzt gesprochen, und er schien der Ansicht, dass sie die Nacht vermutlich nicht überleben wird." „Lieber Himmel!" Patrick fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Dann sollten wir wohl so schnell wie möglich nach London zurückfahren, nicht wahr?" „Genau. Der Arzt sagte, sie frage nach Samantha. Damit ist sicher Barbaras Tochter gemeint, oder?" „Ja. Samantha." Patrick riss sich zusammen. „Hör zu, Giles, ich werde es Barbara beibringen, und wenn wir fort sind, kannst du uns ja bei den anderen Gästen entschuldigen. Ach ja, ich werde es auch Samantha sagen. Sie wird natürlich mit uns fahren. Sag Andrew, dass er besser heute Nacht hier bleibt." „Sicher, ich spreche mit Andrew und Gina. Alles Gute, Pat." „Danke." Patrick machte sich sofort auf die Suche nach Barbara. Sie stand neben der Musikanlage und sah sich gelangweilt die CDs an. Wie würde sie die Nachricht aufnehmen? Und was war jetzt mit Samantha? Schließlich hätte sie bei ihrer Großmutter in Daven leben sollen. Morgen hatten sie abreisen wollen. Was würde jetzt mit ihr geschehen? Ein schmerzlicher Stich durchzuckte sein Herz. Samantha war so wichtig für ihn geworden ... das Wichtigste in seinem Leben, und sie wusste es nicht einmal. Langsam ging er zu Barbara. Sie blickte auf, als er neben ihr stehen blieb. „Nun?" fragte sie spöttisch. „Was war denn so ungemein wichtig? Und warum machst du so ein Gesicht? Auch Giles schien mir ein bisschen blass um die Nase." Patrick führte sie zu einer der Holzbänke. „Ich muss dir etwas sagen, aber setz dich besser vorher hin." Barbaras Augen leuchteten auf. „Das scheint ja sehr wichtig zu sein. Wie aufregend, Darling!" Er wartete schweigend, bis sie Platz genommen hatte, und beugte sich dann vor. Barbara blickte erwartungsvoll zu ihm auf. Wenn er es so spannend machte, musste es wichtig sein. Sie hoffte inständig, dass es das war, was sie sich zu hören wünschte.
Patricks Worte trafen sie dann wie ein Schlag. Barbara wurde kreidebleich und sah für den Bruchteil einer Sekunde so alt aus, wie sie wirklich war. Sie war froh, dass sie saß, denn die Enttäuschung und der Schock zusammen waren einfach zu viel. Es war, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen entzogen. „Dann ist sie also tot?" fragte sie heiser. „Nein. Aber der Arzt meint wohl, sie könnte die Nacht nicht überleben." „O nein! Warum musste das passieren, Patrick?" Barbara brach in Tränen aus und schluchzte haltlos. Patrick wandte sich ab. Er hätte sie gern getröstet, aber als Freund ... und Barbara hätte ihn nie als Freund akzeptiert. Schließlich drehte er sich wieder zu ihr um. „Wir sollten so schnell wie möglich nach London zurückfahren und müssen es vorher noch Samantha sagen." Barbara hielt in ihrem Schluchzen inne und blickte verblüfft zu ihm auf. Ihr Blick schien seine geheimsten Gefühle zu ergründen. Dann stand sie auf und hakte sich bei ihm ein. „Was würde ich nur ohne dich tun?" fragte sie langsam. „Meine rechte Hand." „Ich bin kein guter Tröster, wenn Frauen weinen", antwortete er. „Aber es tut mir wirklich aufrichtig Leid." „Das weiß ich doch." Barbara begann erneut zu schluchzen, „Was soll ich tun, wenn sie jetzt stirbt? Dann bin ich ganz allein. Ich kann nicht allein sein." „Du lebst doch nicht mit deiner Mutter zusammen", wandte Patrick ungnädig ein. „Das nicht. Aber sie ist immer da, wenn ich sie brauche." Patrick glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Welch ein Egoismus! Dachte Barbara denn immer nur an sich? „Immerhin ist da noch Samantha", sagte er schroff. „Sie ist auch allein." Barbara warf ihm einen forschenden Blick zu. „Samantha ist ein unabhängiger Mensch wie ihr Vater. Sie braucht mich nicht."' „Meinst du?" Patricks Miene war unergründlich. „Sie wird jemand brauchen." „Hättest du einen Vorschlag?" fragte Barbara lauernd. Er rang sich ein Lächeln ab. „Wie kommst du darauf? Da drüben ist Samantha. Wir sollten es ihr besser sofort sagen." Gemeinsam gingen sie über den Strand dorthin, wo die Gruppe der Teenager immer noch zusammen tanzte und Spaß hatte. Samantha drehte sich um, als hätte sie Patricks Nähe gespürt, und er wurde von der Macht seiner Gefühle überwältigt. Samantha war so unglaublich schön, wie sie dastand und ihn mit einem so wehmütigen Ausdruck in den grünen Augen ansah. In diesem Moment wusste er, dass er sie liebte. „Komm, Samantha", sagte Barbara barsch, „wir brechen auf." Die Rückfahrt nach London zog sich für Samantha endlos hin. Sie war außer sich vor Angst und Sorge um ihre Großmutter. Die liebe alte Dame, die sie so herzlich in England willkommen geheißen hatte, sollte im Sterben liegen? War die Aufregung um ihre, Samanthas, Ankunft vielleicht zu viel für das schwache Herz ihrer Großmutter gewesen? Hatte Lady Davenport sich in der Woche mit ihr möglicherweise überanstrengt? Von solchen Gedanken gequält, hatte Samantha kein Mitgefühl für Barbaras übertriebene Weinkrämpfe. Sie war sich sowieso sicher, dass ihre Mutter sich nur bewusst in Szene setzte, um Patricks Mitleid zu gewinnen. Doch der war die gesamte Fahrt über auffallend schweigsam und schien mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Als Patrick schließlich vor dem „Savoy" vorfuhr, sprang Samantha aus dem Wagen, während er noch Barbara beim Aussteigen half, und eilte voraus in das Hotel. Oben in Lady Davenports Suite wurden sie alle drei von dem Arzt erwartet. Ein Blick in sein bedrücktes Gesicht bestätigte Samanthas schlimmste Befürchtungen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und sah den Arzt in angstvoller Erwartung an. „Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen", sagte er ernst, „dass Lady Davenport vor einer halben Stunde verstorben ist."
„O nein!" Barbara stürmte an ihm vorbei ins Schlafzimmer ihrer Mutter und fiel schluchzend neben dem Bett auf die Knie. Kurz darauf kam Emily aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Das Gesicht des treuen Dienstmädchens war blass, und seine Augen waren gerötet. Offenbar hatte auch Emily geweint, doch jetzt wirkte sie gefasst und ruhig. Der Arzt rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ich konnte nichts mehr für sie tun", wandte er sich fast entschuldigend an Patrick. „Ihr Herz war in den letzten Jahren zunehmend schwächer geworden. Als sie mir vor zwei Wochen ihre Ankunft in London ankündigte, habe ich ihr dringend geraten, sich zu schonen. Sie war eine alte Dame und konnte nicht mehr viel Aufregung ..." „Ich verstehe", fiel Patrick ihm ins Wort. „Es ist sicher in Miss Harriets Sinn, wenn ich Ihnen unsere Dankbarkeit für Ihre Bemühungen ausdrücke. Sie braucht etwas Zeit, um sich zu fassen und sich mit dem Unvermeidlichen abzufinden." „Ja, gut ..." Der Arzt drehte sich zu Emily um. „Richten Sie Miss Harriet bitte aus, dass ich im Lauf des Vormittags wegen der üblichen Formalitäten vorbeikomme. Augenblicklich bleibt hier nichts mehr für mich zu tun." „Ja, Sir." Emily ging auf ihn zu. „Und vielen Dank für alles." Der Arzt lächelte, wenngleich etwas traurig. „Ich muss mich bei Ihnen bedanken. Sie waren eine große Hilfe." Sichtlich geschmeichelt geleitete Emily ihn zur Tür. Sobald der Arzt fort war, wandte Patrick sich Samantha zu und betrachtete sie besorgt. Sie hatte sich immer noch nicht von der Stelle gerührt und wirkte tief betroffen. Als Patrick sie ansprach, blickte sie auf, und der verlorene Ausdruck in ihren großen grünen Augen war mehr, als er ertragen konnte. „Samantha", flüsterte er, ohne sich um Emilys Anwesenheit zu kümmern. „Nicht!" „Sie ist tot!" Samantha schüttelte benommen den Kopf. „O Patrick, warum sterben alle Menschen, die ich liebe?" Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie sanft. „Hör auf mit diesen Selbstvorwürfen", sagte er streng. „Deine Großmutter war eine sehr alte Dame. Du hast den Arzt gehört ... es hätte sie jeden Tag treffen können. Aber sie hat sich noch den Wunsch erfüllen können, dich hier bei sich zu haben. Nur das zählt." Samantha seufzte. „Ich weiß. Trotzdem ... es ist so unfair. Morgen ... nein, heute wollten wir zusammen nach Daven fahren. Und jetzt ist alles vorbei." „Was ist vorbei?" „Alles! Diese Maskerade! Jetzt werde ich nicht mehr hier bleiben ... nicht mit Barbara." „O doch, das wirst du, Samantha", widersprach Patrick energisch. „Du gehörst jetzt hierher und kannst nicht mehr davonlaufen." „Wovor davonlaufen? Barbara wollte mich doch sowieso nie hier haben." „Ich vermute, sie hatte in diesem Punkt keine Wahl", sagte Patrick trocken. „Und wenn du jetzt gehst ... Nein, ich glaube, du wirst wohl bleiben müssen." Genau in diesem Moment kam Barbara aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie hatte ihre Tränen getrocknet und wirkte anrührend zart und zerbrechlich. „O Patrick! Verzeih mir, ich habe mich völlig vergessen. Samantha! Darling, Kind, können wir diesen Schmerz gemeinsam tragen?" Das war zu viel. Angewidert blickte Samantha zwischen den beiden hin und her. Dann eilte sie mit einem unterdrückten Aufschrei in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Barbara sah Patrick fragend an und zuckte die Schultern. „Du liebe Güte! Das Kind ist ja völlig außer sich. Das wird wohl schwierig werden." „Warum?" fragte Patrick ruhig. Sie seufzte. „Es ist nur so ein Gefühl. Samantha ist kein einfaches Kind." „Sie ist kein Kind mehr." Barbara blickte ihn forschend an. „Sie ist erst sechzehn", sagte sie dann ein wenig trotzig.
Patrick ließ es unwidersprochen. Dies war nicht der rechte Zeitpunkt für eine derartige Diskussion. „Ich muss jetzt los. Im Lauf des Vormittags komme ich noch mal vorbei und sehe, ob ich etwas tun kann. Bis dahin wird auch die Presse von der Nachricht Wind bekommen haben." „Gut möglich." Barbara betrachtete ihn nachdenklich. „In Ordnung, Patrick. Vielen Dank für alles." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „In letzter Zeit muss ich dich anscheinend immer ermuntern", fügte sie kühl hinzu. Er lächelte spöttisch. „Ja, wirklich! Ich sollte mir etwas mehr Mühe geben. Gute Nacht, Barbara." Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging Barbara wütend im Zimmer auf und ab und befahl Emily, ihr Kaffee zu bringen. Emily, die nie viel von der verwöhnten und eigensüchtigen Tochter ihrer Herrin gehalten hatte, ging missmutig vor sich hin murmelnd davon. Barbaras dekorative Krokodilstränen hatten sie nicht einen Moment täuschen können, denn sie galten nicht der Trauer um die verstorbene Mutter, Barbara Harriet dachte nur an sich ... und an Patrick Mallory. Wobei Emily den Eindruck gewonnen hatte, dass der sich mehr für Miss Samantha interessierte. Und warum auch nicht? Emily wusste genau, wie alt Samantha wirklich war. Inzwischen ging Barbara immer noch aufgebracht im Zimmer auf und ab. Sie wurde einfach das Bild nicht los, wie Patrick dicht bei Samantha gestanden und sie so besorgt und liebevoll angesehen hatte. Samantha, ihre Tochter, die er für sechzehn halten musste! Besaß er denn gar keinen Stolz? Warum, warum nur ging ihr in letzter Zeit alles schief? Zuerst musste sie ihre eigenen Pläne zurückstellen und Samantha nach London holen und als ihre Tochter anerkennen. Dann musste sie ertragen, wie diese Samantha sie mit ihrem entwaffnenden jugendlichen Charme in den Schatten stellte, und jetzt war auch noch ihre Mutter gestorben und hatte sie mit alledem allein gelassen. Es war grausam. Es war unfair. Und zu allem Überfluss sollte sie auch noch zusehen, wie der einzige Mann, dem sie je hätte treu sein können, sich wegen ihrer eigenen Tochter zum Narren machte? Nein. Das durfte sie nicht zulassen! Lady Davenport sollte nach ihrem Wunsch in der Familiengruft in Daven begraben werden. Und so besuchte Samantha das Anwesen, das ihr Zuhause hatte werden sollen, unter ganz anderen Umständen als erwartet. In den Tagen nach dem Tod ihrer Großmutter fühlte sie sich genauso innerlich leer wie nach dem Tod ihres Vaters. Sie trauerte um die alte Dame, die sie zwar nur kurz gekannt, aber sehr lieb gewonnen hatte. Nur wenn Patrick in der Nähe war, kehrte das Gefühl von Sicherheit zurück, das ihr so grausam geraubt worden war. Barbara spielte in der Öffentlichkeit die gramgebeugte Tochter, und die Presse schlachtete die gefühlsselige Geschichte weidlich aus. Allein mit Samantha zeigte Barbara jedoch ihr wahres Gesicht und war eiskalt und ablehnend, wobei Samantha nicht ahnte, dass ein Großteil der Feindseligkeit ihrer Mutter in deren Eifersucht in Bezug auf Patrick Mallory begründet war. , Samantha fiel es zunehmend schwer, die Rolle zu spielen, die Barbara ihr zugedacht hatte. Sie hasste die Heuchelei, wenn Barbara sich - dramatisch in Schwarz gekleidet - mit Tränen in den Augen vor den Reportern an ihren Arm klammerte. Martin Pryor, der KlatschspaltenKolumnist, ließ Mutter und Tochter nicht aus den Augen, und Samantha fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis er sich - wie Patrick - im Geburtenregister erkundigen und Barbara mit den Fakten konfrontieren würde. Und sie wagte sich nicht vorzustellen, was geschehen würde, wenn Barbara erfuhr, dass Patrick längst die Wahrheit kannte. Manchmal wünschte Samantha sich, sie wäre nie nach England gekommen. Andererseits konnte und wollte sie sich nicht vorstellen, Patrick Mallory nie kennen gelernt zu haben. Sie
war sich inzwischen bewusst, dass er der einzige Mann war, der ihr etwas bedeutete - sie liebte ihn, auch wenn eine gemeinsame Zukunft mit ihm höchst unwahrscheinlich war. Daven war ein wunderschönes elisabethanisches Herrenhaus, umgeben von hohen Bäumen - obwohl es in dieser traurigen Stunde auf Samantha einen sehr melancholischen Eindruck machte. Samantha hatte sich einen Tag vor der Beerdigung von Barnes in dem Rolls-Royce hinfahren lassen. Barbara war bereits da und kümmerte sich um die Vorbereitungen für den nächsten Tag. Nachdem einer der Dienstboten Samantha ihr Zimmer gezeigt hatte, wurde sie mehr oder weniger sich selbst überlassen. Sie duschte, zog sich Jeans und einen Pullover an und begann, sich auf eigene Faust umzusehen. Sie wollte einfach mehr über das Haus erfahren, in dem Lady Davenport den Großteil ihres Lebens verbracht hatte. Viele der Räume, die Samantha betrat, schienen schon lange vor dem Tod ihrer Großmutter nicht mehr benutzt worden zu sein und wirkten durch die abgedeckten Möbelstücke ein wenig gespenstisch. Da und dort, wo sie die weißen Tücher lupfte, entdeckte sie Antiquitäten von zweifellos beachtlichem Wert. Staunend sah sie sich in der riesigen Bibliothek um, in der sich unzählige Bücher an den hohen Wänden reihten. Aber auch hier bewies die fehlende Ordnung, dass der Kaum seit vielen Jahren nicht mehr wirklich genutzt worden war. Alles in allem wirkte das große Haus, als würde es in einem tiefen Schlummer liegen und darauf warten, zu neuem Leben erweckt zu werden. Die Nacht verbrachte Samantha in einem gewaltigen Himmelbett, dessen schwere Samtvorhänge ihr ein etwas beklemmendes Gefühl gaben. So sprang sie beim ersten Tageslicht aus dem Bett, zog die Gardinen am Fenster beiseite und ließ den Blick über die friedliche Landschaft schweifen. Das Anwesen erstreckte sich weit bis zu den grünen Hügeln am Horizont. In der unmittelbaren Umgebung des Hauses waren gepflegte Blumenbeete und Rasenflächen angelegt, gesäumt von Hecken und alten Bäumen. Samantha entdeckte auch einen kleinen Teich und fragte sich, ob wohl Goldfische darin schwammen. Rasch zog sie sich Jeans und einen warmen Pullover an und eilte die Treppe hinunter und nach draußen. Die kühle Morgenluft ließ sie im ersten Moment frösteln. Doch dann verbrachte sie die nächste Stunde damit, das Anwesen und die Stallungen zu erkunden, und gewann mit ihrer freundlichen Art auf Anhieb das Herz des alten Stallburschen. Die Beerdigung war auf elf Uhr angesetzt. Als Samantha zum Frühstück ins Haus zurückkehrte, traf sie auf Barbara, die - dekorativ blass - bei einer Tasse schwarzem Kaffee saß. Samantha zwang sich, wenigstens einen Toast zu essen, und zog sich so schnell wie möglich in ihr Zimmer zurück, um sich umzuziehen. Vor ihrer Abreise aus London hatte sie für diesen traurigen Anlass bei Helene ein figurbetontes dunkelgraues Kostüm erstanden. Ein kleiner schwarzer Hut saß keck auf ihrem weißblonden Haar, das sie zu diesem Zweck mit einer schwarzen Samtschleife zusammengebunden hatte. Aber das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, war bleich, und ihre ausdrucksvollen grünen Augen blickten traurig. Patrick traf kurz nach elf Uhr aus London ein. Als er in einem schwarzen Anzug, über dem er einen dunkelgrauen Kaschmirmantel trug, die Eingangshalle betrat, kam Samantha gerade die Treppe herunter. Sie sah ihn dort unten stehen, das schwarze Haar vom Wind leicht zerzaust, und ihr Herz klopfte sofort schneller. Er bedeutete ihr so viel - jetzt vielleicht noch mehr, da sie praktisch allein auf der Welt war. Denn auf Barbara konnte sie nicht zählen... ihre Mutter hatte ihr in den letzten Tagen sehr deutlich gemacht, dass sie sie am liebsten so schnell wie möglich wieder dahin zurückschicken würde, woher sie gekommen war. „Hallo", sagte Patrick sanft, „geht es dir gut?" Sie eilte die Treppe hinunter und blieb etwas atemlos vor ihm stehen. „Jetzt ... ja", sagte sie schlicht. Patrick umfasste sacht ihren Nacken und zog sie zu sich heran. Sie waren allein in der Halle, und Samantha blickte mit angehaltenem Atem zu ihm auf.
„Wir sollten nicht..." flüsterte sie heiser. „Ich weiß." Er seufzte. „Aber ich brauche dies ..." Er beugte sich herab und küsste sie auf den Mund. Es war ein inniger, leidenschaftlicher Kuss, den Samantha hemmungslos erwiderte. Am liebsten hätte sie Patrick gar nicht mehr losgelassen, und ihm erging es genauso. Doch schließlich schob er sie sacht von sich. „Wo ist deine Mutter?" fragte er betont sachlich. Samantha ließ die Zunge über die Lippen gleiten. „Ich glaube im Salon. Sie überwacht die Vorbereitungen für ... danach." „Und was hast du vor ... danach?" Sie zuckte die Schultern. „Ich weiß es noch nicht." Patrick sah sie eindringlich an. „Was würdest du denn gern tun?" Samantha wich seinem Blick aus. „Ich bin mir nicht sicher." „Wirklich nicht? Möchtest du mit mir nach London kommen?" flüsterte er zärtlich. Sie blickte überrascht zu ihm auf. Genau in diesem Moment kam Barbara aus dem Salon in die Eingangshalle. Sie trug einen taillierten schwarzen Gehrock zu einem engen, kurzen Rock, was ihre zierliche Figur reizvoll zur Geltung brachte. Ihr Make-up war dezent, aber perfekt, und ein winziger schwarzer Hut saß auf ihren kurzen blonden Locken, die ihr zartes Gesicht umrahmten. Sofort wich Samantha von Patrick zurück, bevor sie die Gelegenheit hatte, seine Frage zu beantworten. „Darling!" Barbara ging auf Patrick zu. „Du bist schon da! Ich dachte doch, dass ich deinen Wagen vorfahren gehört habe." „Ja. Ich habe noch ... ein Wort mit Samantha gewechselt", antwortete Patrick gelassen. „Kommst du zurecht? Oder kann ich noch irgendetwas tun?" Er ging mit Barbara davon, und Samantha hatte Zeit, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen. Was, in aller Welt, hatte Patrick mit seiner letzten Frage andeuten wollen? Eins stand jetzt zweifelsfrei für sie fest: Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Ob dies aber vorübergehend oder etwas Ernsthaftes war, konnte sie nicht entscheiden. Patrick war ein erfahrener, weltgewandter Mann mit gehobenen Ansprüchen. Vielleicht empfand er es einfach als eine nette Abwechslung, sich auf ein flüchtiges Abenteuer mit einem naiven, unerfahrenen jungen Mädchen einzulassen? Welche Absichten verfolgte er mit seiner Einladung, mit ihm nach London zu gehen? Er wusste, dass sie einundzwanzig und damit in ihren Entscheidungen frei war. Aber er hatte nie auch nur mit einem Wort davon gesprochen, dass er sie liebe. Was also erwartete er von ihr, wenn sie ihn nach London begleiten würde? Wollte er, dass sie dort mit ihm zusammenlebte? Samantha schloss die Augen und versuchte, die verführerischen Gedanken zu bezwingen, die sich ihr aufdrängten. Wäre es nicht auch wundervoll, wenn er sie nur als Geliebte wollte? In seinen Armen die höchste Lust zu erfahren, auch wenn es nur für kurze Zeit sein würde? War nicht der Spatz in der Hand besser als die Taube auf dem Dach? Eine kurze Zeit größter Seligkeit... „Verzeihen Sie, aber sind Sie nicht Miss Kingsley?" Samantha schlug die Augen auf und errötete schuldbewusst. Vor ihr stand ein kleiner, älterer Mann in dunklem Anzug. „Ja", antwortete sie befangen. „Ich bin Samantha Kingsley." „Das dachte ich mir." Seine freundlichen Augen funkelten. „Es tut mir Leid, wenn ich Sie aus Ihren Träumen gerissen habe." Samantha errötete noch tiefer. „O nein, bitte ..." „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, meine Liebe." Er lächelte. „Darf ich mich Ihnen vorstellen? Bolam, Joseph Bolam. Ich war der Anwalt Ihrer Großmutter."
„O ja." Samantha schüttelte ihm lächelnd die Hand. „Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Suchen Sie meine Mutter?" „Nein, eigentlich nicht. Ich würde ganz gern ein wenig mit Ihnen plaudern, um Sie näher kennen zu lernen. Ihre Großmutter hat mich aufgesucht, während sie in London war, und mir viel von Ihnen erzählt." Samantha senkte traurig den Kopf. „Ich wünschte nur, ich hätte mehr Zeit mit ihr gehabt." „Ja, ich bin sicher, das hat sie sich umgekehrt auch gewünscht, meine Liebe." Sie gingen gemeinsam ins Frühstückszimmer, und Samantha bat ihren Gast, sich zu setzen. „Haben Sie schon Pläne für die Zukunft?" erkundigte Mr. Bolam sich interessiert. Samantha seufzte. „Genau genommen nicht. Ich ... möchte mich nicht in das Leben meiner Mutter drängen. Sie ist eine ... sehr beschäftigte Frau." „Zweifellos. Barbara war immer ... sehr beschäftigt." Mr. Bolam räusperte sich. „Wie ich gehört habe, hat sie im Dezember mit einem neuen Theaterstück Premiere?" „Ja. Mr. Mallory, Patrick Mallory, hat das Stück für sie geschrieben." „Ah ja. Patrick Mallory. Ich bin ihm schon begegnet. Ist er heute auch hier?" „Ja. Tatsächlich ist er jetzt irgendwo im Haus mit meiner Mutter." Mr. Bolam räusperte sich erneut. „Sagen Sie, wäre es denkbar, dass Ihre Mutter wieder heiratet?" Samantha schluckte. „Sie meinen natürlich Mr. Mallory." „Nun, es gibt gewisse Gerüchte, nicht wahr? Ihre Großmutter hielt es jedenfalls für wahrscheinlich." „Ja." Samantha zuckte die Schultern. „Ich kann wirklich nichts dazu sagen. Barbara hat darüber nicht mit mir gesprochen." „Aber sollten sie und Mr. Mallory heiraten, würden Sie dann gern bei den beiden leben?" „Nein!" wehrte Samantha sofort ab. Allein die Vorstellung, mit Patrick und ihrer Mutter unter einem Dach zu wohnen! Das wäre ebenso quälend wie gefährlich. „Interessant." Mr. Bolam nickte und tätschelte ihr die Hand. „Keine Sorge, meine Liebe. Ich bin sicher, Sie haben keinen Grund zur Sorge." „Zur Sorge?" „Nur so eine Redewendung", beschwichtigte Mr. Bolam sie und blickte auf die Uhr. „Wir sollten uns jetzt zu den anderen gesellen, denn es geht schon auf elf Uhr zu." Abgesehen von Samantha, Barbara, Patrick und Mr. Bolam nahmen natürlich Emily als Lady Davenports persönliches Mädchen und ihre Gesellschafterin sowie das gesamte Personal von Daven House und einige alte Freunde aus der Nachbarschaft an der Beerdigung teil. Auch Charles Barratt, Barbaras Agent, war aus London angereist. Während Barbara fast unaufhörlich weinte, war Samantha gefasst. Patrick suchte so oft wie möglich ihre Nähe, und seine Gegenwart war ihr ein Trost. Nach einem kurzen Gottesdienst in der Familienkapelle auf dem Anwesen wurde Lady Davenport in der Familiengruft beigesetzt. Charles Barratt nahm Barbara in seinem Wagen mit zurück zum Haus, und so lud Patrick Samantha ein, bei ihm mitzufahren. Sie waren allein im Wagen, und Samantha fiel es schwer, nicht die Hand nach Patrick auszustrecken, als er ihr so nahe war. Ihr Herz pochte. Befangen vermied sie es, ihn anzusehen, und blickte starr zum Fenster hinaus. „Du bist bei mir sicher", bemerkte er unvermittelt. „Sicher?" Samantha schluckte. „Ich weiß nicht, was du meinst." „Wirklich nicht? Nun, du benimmst dich jedenfalls so, als wäre ich der Bösewicht im Stück und kurz davor, dich zu verführen. Was, glaubst du denn, habe ich mit meiner Frage vorhin in der Eingangshalle gemeint?" „Ich ... keine Ahnung."
„Deinem Gesicht nach zu urteilen, möchte ich behaupten, dass du dir sehr wohl einiges dabei gedacht hast. Verdammt, Samantha, wofür hältst du mich?" Sie presste die Lippen zusammen. „Ich ... glaube, es ist egal, was ich denke", sagte sie langsam. „Aber ich möchte trotzdem wissen, was du damit gemeint hast, als du mich eingeladen hast, mit dir nach London zu kommen." Patrick wurde bleich. „Fragst du mich das im Ernst?" „Warum nicht? Woher soll ich denn wissen, was in deinem Kopf vorgeht?" Sichtlich aufgebracht parkte Patrick den Wagen vor dem Haus. Seine goldbraunen Augen funkelten zornig, als er Samantha ansah. „Steig aus", befahl er kühl. Samantha folgte der Aufforderung und blickte sich noch einmal um. Patrick blieb im Wagen sitzen. Mit zittrigen Knien ging sie die Stufen zum Eingang hinauf. Was hatte sie getan? Und wo würde das alles noch enden?
8. KAPITEL
Nach dem Essen bat Mr. Bolam Barbara, Samantha und Emily zur Verlesung des Testaments in die Bibliothek. Samantha fragte überrascht, warum auch sie dazu gebeten würde, und der Anwalt erklärte es ihr freundlich. „Ihre Mutter, Sie und Emily sind die Hauptbegünstigten im Testament Ihrer Großmutter." Nachdem sie also in der großen Bibliothek Platz genommen hatten, begann Mr. Bolam Lady Davenports letzten Willen zu verlesen. Die Präambel war kurz und präzise. Alle Angestellten von Lady Davenport wurden in Anerkennung ihrer treuen Dienste mit einer einmaligen Zuwendung von jeweils fünfhundert Pfund bedacht. Samantha nahm es erstaunt zur Kenntnis. Da die Zahl der Dienstboten auf Daven House beträchtlich war, fragte sie sich, wie ihre Großmutter sich diese Großzügigkeit erlauben konnte, denn nach ihren Aussagen war doch Barbara die Haupterbin ihres verstorbenen Mannes gewesen. Emily war die erste der drei, die namentlich erwähnt wurde. Lady Davenport bedachte sie mit einer einmaligen Zuwendung von fünftausend Pfund, plus einer Leibrente von jährlich zweitausendfünfhundert Pfund bis zu ihrem Tod. „Um sie unabhängig zu machen", lautete Lady Davenports Anweisung im Testament, und Emily kramte, überwältigt vor Rührung, in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Samantha lächelte ihr freundlich zu, während Barbara dem alten Dienstmädchen nur einen gönnerhaften Blick schenkte. Doch zu Barbaras Überraschung war sie - und nicht Samantha - die Nächste auf der Liste. Gespannt beugte sie sich vor. „Meiner Tochter Barbara, die bereits so viel besitzt, vermache ich zehntausend Pfund, die größtenteils in Aktien angelegt sind ..." Barbara atmete hörbar ein, und Mr. Bolam fuhr in ruhigem Ton fort: „... und den Familienschmuck, der eine beträchtliche Summe einbringen würde, sollte sie je gezwungen sein, ihn zu verkaufen. Einzige Ausnahme ist hier die Perlenkette meiner Mutter, die ich Samantha vermache, damit sie sie auf ihrer Hochzeit trägt." Barbara war aufgestanden und sah den Anwalt ungläubig an. „Ist das alles?" rief sie zornig aus. „Ich glaube, ja." Mr. Bolam überflog noch einmal das Testament. „Ja, Miss Harriet ... soweit es Sie betrifft." „Aber das ist doch lächerlich! Das kann unmöglich stimmen. Was ist mit Daven? Mit dem Anwesen ... dem Hauptvermögen?" „Wenn Sie die Geduld aufbringen, noch wenige Minuten zu warten, werden Sie es erfahren", antwortete Mr. Bolam streng. „Darf ich jetzt fortfahren?" Barbara nickte erregt und setzte sich wieder. Auch Samantha zitterte innerlich. Was sollte das alles bedeuten? Sie verstand überhaupt nichts mehr. Hatte ihre Großmutter ihr nicht gesagt, Barbara sei bereits im Besitz des Hauptvermögens? Mr. Bolam warf Barbara einen missbilligenden Blick zu und nahm die Testamentsverlesung wieder auf. „Und endlich vermache ich meiner Enkelin Samantha mein gesamtes übriges Vermögen einschließlich Daven House und der angrenzenden Güter." Nun verschlug es Samantha die Sprache. Das war doch nicht möglich! Daven sollte ihr gehören? Mr. Bolam las weiter: „Ich habe Samantha das Haus und das nötige Einkommen vermacht, weil sie nach dem Tod ihres Vaters kein Zuhause mehr hat. Und sollte Barbara wieder heiraten, wird es ihr sicher lieber sein, dass ihre Tochter nicht von ihr abhängig ist." „Sie muss verrückt geworden sein!" rief Barbara aus und sprang wieder auf. „Das kann doch nicht wahr sein! Sie wusste doch erst seit wenigen Wochen, dass Samantha überhaupt kommt."
„Das stimmt", erwiderte Mr. Bolam. „Aber unmittelbar nach Samanthas Ankunft hat Ihre Mutter mich in meiner Kanzlei in London aufgesucht und dabei - nur wenige Tage vor ihrem Tod - ihr Testament zu Gunsten ihrer Enkelin geändert." Während Barbara sichtlich Mühe hatte, sich zu beherrschen, brachte Samantha immer noch kein Wort über die Lippen. Das alles war wie ein Traum. Sie konnte es einfach nicht glauben, dass sie nun Eigentümerin eines so gewaltigen Anwesens sein sollte. Mr. Bolam wandte sich nun direkt an Samantha. „Dem Testament ist auch ein persönlicher Brief an Sie beigefügt", sagte er freundlich und nahm einen Umschlag aus seinem Aktenkoffer. „Ihre Großmutter bat mich, ihn Ihnen nach ihrem Tod zu geben. Ich denke, er enthält gewisse Erklärungen." „Was gibt es ihr noch zu erklären?" mischte sich Barbara unhöflich ein. „Wenn überhaupt, dann verdiene ich eine Erklärung. Das ist wirklich ein starkes Stück!" „Leider habe ich für Sie keinen Brief", antwortete Mr. Bolam ungerührt. „Und, mit Verlaub, Miss Harriet, ich denke, Sie sind sehr angemessen bedacht worden. Sie haben doch Daven nie gemocht - Ihre Mutter hat es mir so oft erzählt." „Ihre Meinung interessiert mich nicht!" Barbara vergaß in ihrer Wut alle damenhafte Zurückhaltung. „Ich finde es einen Skandal, dass diese Kreatur ..." dabei deutete sie auf Samantha, „... einfach hier auftaucht und alles einsackt..." „Diese ,Kreatur', wie Sie es so unhöflich ausdrücken, ist immerhin Ihre eigene Tochter!" rief nun Emily empört dazwischen. „Halten Sie sich da raus, Sie alter Drachen." Dankbar ließ Barbara ihren Zorn an Emily aus. „Sie haben sich doch selbst auf widerliche Weise bei meiner Mutter eingeschlichen und unentbehrlich gemacht. Glauben Sie nicht, dass ich es nicht bemerkt hätte ..." „Genug!" Mr. Bolam stand auf. „Miss Harriet, Sie vergessen sich. Ihre Bemerkungen sind beleidigend, wie Ihnen hoffentlich klar ist. Falls Miss Lawson es wünscht..." „Ach, halten Sie den Mund!" Barbaras Gesicht war wutverzerrt. „Glaubt nicht, dass ich es dabei bewenden lasse! Ich werde dieses Testament anfechten!" „Das würde Ihnen nur eine sehr abträgliche Publicity einbringen", entgegnete Mr. Bolam, nun selber wütend. „Die Reporter würden sich darauf stürzen. ,Prominente Schauspielerin fechtet Testament an, weil die Tochter Haupterbin ist.'" Barbara zitterte förmlich vor Zorn. „Ihr macht mich krank! Ihr alle!" „Bitte, beherrschen Sie sich." Mr. Bolam hatte seine Fassung wieder gefunden. „Samantha, meine Liebe, hier ist der Brief für Sie." „Danke." Es war das erste Wort, das Samantha herausbrachte. Sie nahm den Brief entgegen und öffnete ihn mit zittrigen Händen. Ihre Mutter beobachtete sie dabei mit Argusaugen und sah aus, als wollte sie ihr das Schriftstück im nächsten Moment entreißen. Der Text lautete wie folgt: Meine liebe Samantha, zunächst muss ich Dich um Verzeihung bitten für all die Notlügen, die ich Dir seit Deiner Ankunft hier erzählt habe. Es war einfach erforderlich, dass Du hier bleibst, zu Barbaras Bedingungen, und ich sah keinen anderen Weg, Dich dazu zu überreden, als Dich glauben zu machen, meine Zukunft würde in Deinen Händen liegen. Du hast Dich auch in diesem Punkt als Tochter Deines Vaters erwiesen, und ich habe Dich dafür geliebt. Wie die Dinge nun liegen, kann ich Dir ein Zuhause geben, mit dem Du nie gerechnet hast, und ich hoffe, es wird Dich für all das entschädigen, was Dir diese Familie zugefügt hat. Lass Dich von Barbara nicht einschüchtern. Ich weiß, sie wird es versuchen, sobald sie den Inhalt dieses Testaments kennt. Denn obwohl sie nie auf Daven leben wollte, kennt sie doch den finanziellen Wert des Anwesens. Jetzt hältst Du alle Trümpfe in der Hand. Daven gehört Dir, und keiner kann es Dir nehmen. Du kannst dort leben oder anderweitig darüber verfügen. Du bist die Erbin eines beträchtlichen Vermögens und musst nie wieder auf
Geld achten. Du kannst Dein geliebtes Italien besuchen, so oft Du es willst, und wirst doch in diesem Land immer ein Zuhause haben, zu dem Du zurückkehren kannst. Vielleicht triffst Du eines Tages einen Menschen, mit dem Du Dein Leben teilen möchtest, und vielleicht wirst Du dann zumindest einen Teil des Jahres auch auf Daven wohnen. Es wäre ein schöner Gedanke, dass das alte Haus eines Tages wieder von Kinderlachen widerhallt und die Räume wieder mit Leben erfüllt sind. Samantha wandte sich der zweiten Seite zu, während Barbara inzwischen erregt im Raum auf und ab ging. „Nun? Was steht in dem Brief? Sicherlich lauter sentimentaler Quatsch!" Samantha blickte auf. „Sentimental ja, aber kein Quatsch", sagte sie ruhig. „Es ist ein wundervoller Brief, und ich werde ihn mein Leben lang wie einen Schatz hüten." „Unfug!" Barbara nahm ihre Handtasche und wandte sich an Mr. Bolam. „Ich nehme an, ich kann gehen?" „Ich sehe keinen Grund, warum Sie es nicht tun könnten", bestätigte der Anwalt bereitwillig. „Gut." Barbara ging zur Tür und blickte noch einmal gehässig in die Runde. „Ihr macht mich krank!" Dann verließ sie den" Raum und schlug die Tür hinter sich zu. Mr. Bolam räusperte sich, und Emily stand nervös auf. „Ich gehe besser auch. Ich muss mich noch darum kümmern, dass alles richtig aufgeräumt wird, wenn die Gäste fort sind." „Ja, natürlich." Samantha stand ebenfalls auf und ging zu Emily. „Nehmen Sie es nicht so ernst, was meine Mutter gesagt hat. Sie ist müde, überanstrengt und natürlich auch enttäuscht." „Schon gut, Miss Samantha." Emily lächelte. „Es tut mir nur für Sie Leid." „Das braucht es nicht. Ich kann auf mich aufpassen", antwortete Samantha mit einer Zuversicht, die sie nicht empfand. „Schön, Miss Samantha. Wir sehen uns sicher noch später." Sobald Emily fort war und Mr. Bolam seine Unterlagen einsammelte, wandte Samantha sich wieder dem Brief zu. Solltest Du je Rat in geschäftlichen Dingen benötigen, wende Dich vertrauensvoll an Mr. Bolam, meinen treuen Freund und Anwalt. Daven wird seit über zwanzig Jahren von einem fähigen Verwalter geführt. Jim Edwards wird Dir ebenfalls mit Rat und Tat zur Seite stehen. Du hattest Recht ... ich liebe Barbara trotz allem. Sie ist besessen von Ehrgeiz und kompromisslos egoistisch, aber sie ist meine Tochter, und ich muss mir die Schuld dafür zuschreiben. Verzeih mir nochmals, dass ich Dich getäuscht habe. Zumindest hat es bewiesen, dass Du allein um meinetwillen geblieben bist. Ich bin dankbar für die Zeit, die ich mit Dir hatte. Deine Dich liebende Großmutter Lucia Davenport Samantha blinzelte gegen Tränen an. Mr. Bolam, der sie beobachtete, lächelte freundlich. „Ich sagte Ihnen ja, dass Sie keinen Grund zur Sorge hätten." Samantha erwiderte sein Lächeln matt. „Ja, das sagten Sie. Heißt das wirklich, dass ich hier, solange ich will, bleiben kann?" „Natürlich. Das alles gehört jetzt Ihnen, und niemand kann es Ihnen mehr nehmen. Keine Angst, Ihre Mutter würde es wegen der nachteiligen Publicity nie wagen, das Testament anzufechten", lautete die Antwort. Samantha seufzte. „Sie ist, glaube ich, eine sehr frustrierte Frau." „Vermutlich." Mr. Bolam räusperte sich. „Ich werde mich jetzt verabschieden, denn ich muss zurück nach London." „Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich noch hier bleibe? Ich habe über so vieles nachzudenken."
„Aber nein. Ich werde mich in den nächsten Tagen wegen der Einzelheiten mit Ihnen in Verbindung setzen." „Danke, Mr. Bolam. Sie waren sehr freundlich." „Keine Ursache." Sobald Mr. Bolam gegangen war, sank Samantha auf den Stuhl zurück und las den Brief ungläubig noch einmal. Sie spürte plötzlich die Last der Verantwortung, die ihr durch die unerwartete Wendung der Ereignisse aufgebürdet worden war. Es war wirklich überwältigend: Von einem Moment auf den anderen war sie eine reiche Erbin geworden. Was würde Patrick dazu sagen? Sie hoffte, dass er zum Abendessen bleiben würde. Barbara würde ihn sicher darum bitten, und vielleicht würde sich danach für sie, Samantha, eine Gelegenheit ergeben, allein mit ihm zu sprechen. Barbara würde sicher bald nach London in ihre gewohnten Kreise zurückkehren. Samantha aber war entschlossen, wenigstens für eine Weile auf Daven zu bleiben. Hier konnte sie sich entspannen und wieder zu sich selber finden. Als sie schließlich die Bibliothek verließ, fand sie den Salon fast verlassen vor. Nur Colonel Winch, ein alter Freund ihrer Großmutter, war noch da und trank in Seelenruhe seinen Sherry. „Wo sind denn alle hin?" fragte sie erstaunt. „Nun, meine Liebe, die Dienstboten sind wieder an ihre Arbeit gegangen", erklärte der alte Colonel mit seiner dröhnenden Stimme, „Ihre Mutter hat sich nach oben zurückgezogen, und Mr. Mallory ist vor fünfzehn Minuten nach London aufgebrochen. Bolam, der Anwalt, ist mit ihm gefahren." Samantha hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen entzogen. „Mr. Mallory ist fort?" „Ja, Miss. Er sprach kurz mit Ihrer Mutter und verabschiedete sich dann sofort. Sie konnte ihn nicht überreden zu bleiben." „Ach herrje!" Samantha seufzte bedrückt. „Stimmt etwas nicht?" Der Colonel betrachtete sie fürsorglich. „Es war wohl ein sehr anstrengender Tag für Sie." „Ja, allerdings." Samantha drehte den Brief in ihren Händen. „Vielen Dank, Colonel Winch. Ich gehe jetzt besser auch nach oben und ziehe mich um." „Tun Sie das. Und ich verabschiede mich jetzt. Richten Sie Ihrer Mutter meine besten Wünsche aus." „Das werde ich." Samantha begleitete den Colonel noch zur Tür und blieb allein in der großen Eingangshalle zurück. Sie fühlte sich schrecklich allein und verloren. In ihrem Zimmer machte Samantha sich etwas frisch und zog sich Jeans und einen Pullover an. Sie wusste nicht, was sie nun tun sollte. Es war noch früh am Nachmittag, und sie hatte keine Lust, ihrer Mutter über den Weg zu laufen. Warum war Barbara eigentlich nicht mit Patrick nach London zurückgefahren? Das wäre doch das Naheliegendste gewesen. Sie setzte sich ans Fenster und blickte hinaus auf die idyllische, schon leicht herbstlich gefärbte Landschaft. In anderer Stimmung wäre sie jetzt nach draußen und zu den Stallungen gegangen. Aber sie brachte die Energie nicht auf. Was sollte sie als Nächstes tun? Sie konnte heute Abend Patrick anrufen. Aber was sollte sie ihm sagen? Ohne ihm gegenüberzustehen und seine Reaktion in seinem Gesicht abschätzen zu können, scheute sie davor zurück, ihm ihre Gefühle offen zu legen. Und vielleicht schätzte sie seine Gefühle ja auch ganz falsch ein. Möglicherweise war er aus einem ganz anderen Grund auf sie wütend gewesen. Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken. Emily trat freundlich lächelnd ein. „Aber, Miss, warum sitzen Sie allein hier oben und blasen Trübsal?" „Ach Emily!" Samantha seufzte. „Ich habe das Gefühl, als ob alles für mich zusammenbricht."
„Ich weiß. Aber Sie werden darüber hinwegkommen, Miss. Ihre Großmutter war eine sehr alte und sehr müde Frau." „Ja, das stimmt wohl. Aber ich weiß einfach nicht, was ich als Nächstes tun soll. Hier sitze ich, umgeben von allem, was jetzt mir gehört, und habe keine Ahnung, wie ich mein Leben in die Hand nehmen soll. Bisher hat mir immer jemand zur Seite gestanden - erst mein Vater, dann Grandma. Ich fühle mich augenblicklich ziemlich orientierungslos." Emily lächelte begütigend. „Das ist nur natürlich und geht vorbei. Überstürzen Sie nichts. Sie haben viel Zeit. Niemand kann von Ihnen erwarten, dass Sie sofort die Zügel in die Hand nehmen. Du meine Güte, in der Küche spekuliert man schon, was Sie mit Daven vorhaben. Aber unter den Dienstboten hat man natürlich immer damit gerechnet, dass Miss Barbara eines Tages alles übernehmen, das Anwesen verkaufen und das Personal entlassen würde. Jetzt regt sich Hoffnung ..." „Natürlich werden alle bleiben", sagte Samantha sofort. „Wenn ich bleiben soll, werde ich jede Hilfe brauchen. Das Haus ist so groß! Bitte, Emily, sagen Sie das den anderen. Ich werde Daven bestimmt nicht verkaufen." „Das freut mich zu hören, Miss", antwortete Emily zufrieden. „Und ich weiß, dass auch Ihre Großmutter darauf gehofft hat. Sie hat mit mir darüber gesprochen, dass sie Daven Ihnen vermachen wollte, und sie war sich sicher, dass es Ihnen hier genauso gefallen würde, wie es ihr immer gefallen hat." „Ja, aber ich sehe jetzt schon, dass es hier sehr viel zu tun gibt. Das Haus ist dringend renovierungsbedürftig." „Natürlich, aber Lady Davenport war zu alt, um sich um die nötigen Reparaturen zu kümmern, und Barbara hatte kein Interesse. Das Land ist heutzutage wesentlich mehr wert als das alte Herrenhaus, und Ihre Großmutter war sich sicher, dass Barbara das Anwesen nach ihrem Tod an den Meistbietenden verkaufen würde. Aber Sie haben die Möglichkeit, das Haus wieder herzurichten. Es könnte wieder wunderschön werden." Samantha lächelte. „Sie haben mir sehr geholfen, Emily. Bei allem, was hier zu tun ist, werde ich auf Jahre hinaus beschäftigt sein." „Und warum sollten Sie sich Jahre damit beschäftigen?" fragte Emily schmunzelnd. „Sie werden bald heiraten und Kinder haben. Dann haben Sie Beschäftigung genug. Als ob ich nicht wüsste, dass Sie nicht erst sechzehn sind! Ich war doch hier, als Sie als kleines Baby ins Haus gekommen sind." „Wirklich, Emily?" „O ja. Lady Davenport war ganz verrückt nach Ihnen. Sie war sehr traurig, als Mr. John kam und Sie wieder fortholte." Samantha seufzte. „Das ist schon lange her." „Ja, aber jetzt sind Sie eine erwachsene Frau. Sie können tun und lassen, was Sie wollen, und sind niemandem mehr Rechenschaft schuldig." „Ach, ist sie das nicht?" Die spöttische Frage veranlasste Samantha und Emily, sich umzudrehen. Barbara stand an der Tür, bekleidet mit einem seidenen Hausmantel. Wie lange war sie schon da? Was hatte sie von dem Gespräch mitbekommen? „Ich dachte mir, dass ich Sie hier finde", sagte sie an Emily gewandt, „wie Sie dem Mädchen dumme Flausen in den Kopf setzen. Sie sind eine intrigante alte Närrin und sollten schon längst das Haus verlassen haben. Wozu Ihr Einfluss meine Mutter getrieben hat, haben wir ja gesehen. Nur weil wir gezwungen waren, die Göre herzuholen, mussten Sie noch lange nicht meine Mutter ermuntern, eine sentimentale Zuneigung zu ihr zu fassen. Ich hätte mir denken können, dass Sie dahinter stecken. Sie haben mich schon immer gehasst..." Emilys Gesicht war wie versteinert. „Ich habe Sie nicht gehasst, aber Sie waren eifersüchtig auf mich wie auf jeden, der vielleicht eine Konkurrenz für Sie hätte sein können.
Sie haben Ihre Tochter nie gewollt. Hatten Sie Angst, sie würde vielleicht zu hübsch werden und Sie in den Schatten stellen?" „Halten Sie den Mund!" „Das werde ich nicht tun! Ich habe viel zu lange geschwiegen. Wenn Ihre Mutter manches von Ihnen wüsste, würde Sie sich im Grab umdrehen!" Barbara stürzte auf Emily zu und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Samantha sprang bestürzt auf. „Mutter! O Emily ..." „Keine Sorge, Miss", sagte Emily beschwichtigend, „ich gehe schon. Geben Sie nicht nach, meine Liebe, Sie haben das Recht auf Ihrer Seite." „Raus!" schrie Barbara wütend, und Samantha schob Emily aus Angst, ihre Mutter könnte sie nochmals schlagen, zur Tür hinaus. „Schön." Barbara sah sie herausfordernd an. „Und was hast du nun vor?" „Ich bin mir noch nicht sicher. Ich muss erst in Ruhe darüber nachdenken." „Und das willst du hier tun?" „Das ist schließlich allein meine Entscheidung." „Du scheinst hier neuerdings alle Entscheidungen zu treffen." „Würdest du bitte gehen, Barbara?" bat Samantha betont ruhig. „Warum sollte ich? Du bist immerhin meine Tochter." Barbara streckte sich auf der Chaiselongue aus und betrachtete Samantha gehässig. „Nur dem Namen nach!" „Was sind wir doch gemein!" Samantha seufzte. „Bitte, mach jetzt keine Szene." „Warum nicht? Mir ist nach einer Szene zu Mute. Schließlich ist mir ziemlich böse mitgespielt worden." „Ich weiß nicht, was du meinst." „Tu nicht so unschuldig! Patrick Mallory." Samantha errötete unwillkürlich, und Barbara nickte wütend. „Ich kann nicht einmal seinen Namen nennen, ohne dass du errötest. Es ist lächerlich! Was glaubst du denn, was du ihm bedeutest?" „Wenn du der Ansicht bist, ich würde ihm nichts bedeuten, warum sagst du dann, man habe dir böse mitgespielt?" fragte Samantha mutig. „Gute Frage. Nun, du kleine Schlange, als unser gemeinsamer Freund heute Nachmittag von hier fort ist, hat er ziemlich deutlich gemacht, dass er mit keinem von uns noch etwas zu tun haben will." „Was?" rief Samantha ungläubig aus. „Warum?" „Er hat mir gesagt, er wisse um dein richtiges Alter, und ich verdiene Prügel für die Täuschung. Vor allem weil ich damit deine Chancen, glücklich zu werden, verdorben hätte. Was kann er damit wohl gemeint haben?" „Ich weiß es nicht." Samantha war den Tränen nahe. „Ich auch nicht. Aber du musst etwas gesagt haben, was ihn sehr aufgebracht hat. Er sagte mir nämlich auch, er habe ein Angebot von einer amerikanischen Filmgesellschaft zur Verfilmung eines seiner Stücke und sei gebeten worden, so bald wie möglich wegen der Vertragsverhandlungen nach Kalifornien zu kommen. Ich hatte den Eindruck, dass er nur allzu bereit dazu war - und demnach haben wir beide verloren, meinst du nicht?" „Ich ... kann es nicht glauben." Samantha sank auf die Bank am Fenster. Was war nun mit ihren Plänen, Daven zu renovieren? Hatte sie dabei unbewusst nicht auch ihre Zukunft ... und Patrick im Sinn gehabt? „Dachte ich mir, dass dich das aus deinen Träumen reißen würde", sagte Barbara zufrieden. „Und das ist längst noch nicht alles!" „Was noch?" fragte Samantha dumpf. Was konnte sie mehr verletzen als die Tatsache, dass Patrick nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte?
„Ich wette, Mutter hat dir in ihrem reizenden Brief nicht den wahren Grund genannt, warum du hierher geholt worden bist?" „Den wahren Grund?" wiederholte Samantha verständnislos. „Als Grandma vom Tod meines Vaters erfahren hat, hat sie sofort alles Nötige für meine Reise nach England veranlasst", fügte sie hinzu. Barbara lächelte boshaft. „Ja, das hat sie in der Tat. Was bist du doch für ein Unschuldslamm! Deine dich liebende Großmutter hat dich hierher geholt, weil sie gar keine andere Wahl hatte. Dein Vater hatte in seinem Testament die Auflage gemacht, dass du nach seinem Tod von meiner Existenz erfahren, nach England geschickt und von mir als meine Tochter anerkannt werden solltest." „Nein!" Samantha wurde ganz elend zu Mute. „O doch, Darling." „Aber ... er hatte doch keine Garantie, dass du mich anerkennen würdest." „Meinst du?" Barbara sah sie höhnisch an. „Tatsächlich hatte er, was mich betrifft, die beste Garantie der Welt. Er hatte einen Brief hinterlegt, der die Umstände unserer Ehe, meine Untreue, die nachfolgende Scheidung und so weiter bis ins kleinste Detail beschrieb. Dieser hässliche kleine Skandal hätte mein sauberes Image in der Öffentlichkeit zerstört. John wusste das genau -und der Brief sollte an die Presse weitergeleitet werden, hätte ich mich geweigert, dich anzuerkennen." Samantha schloss die Augen. Sie war den Tränen nahe. „Glücklicherweise hatte John in seiner Darstellung eine Kleinigkeit vergessen: Es fand sich kein Hinweis auf dein genaues Alter. Das machte ich mir natürlich zu Nutze. Und? Was denkst du nun von deiner lieben Großmutter?" Samantha konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Das ändert nichts. Egal, was du sagst, Grandma hat mich geliebt", erwiderte sie. „Nun, sie hat vor allem auf meine Anweisung hin gehandelt. Wenn du dich geweigert hättest, in England zu bleiben, wäre die ganze Geschichte vermutlich rausgekommen. Also wies ich meine Mutter an, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um dich an der Abreise zu hindern. Wie man sieht, hatte sie Erfolg", sagte Barbara. „Du bist der abscheulichste Mensch, den ich kenne", flüsterte Samantha. „Du bist nicht eher zufrieden, als bis alle vor dir zu Kreuze kriechen. Wie konntest du mir das sagen?" Barbara blickte sie böse an. „Weil du mir seit deiner Ankunft nur Ärger gemacht hast!" „Nicht zuletzt wegen Patrick", fügte Samantha scharfsinnig hinzu. „Genau. Schön, jetzt hast du also dein Haus, dein Anwesen, dein Vermögen ... aber glücklich wirst du nicht damit werden. Im Grunde hast du nichts!" Samantha wischte sich die Tränen fort und fragte: „Und was ist mit dir?" „Ich?" Barbara lächelte selbstgefällig. „Ich habe meine Arbeit und meine Wohnung in London im Kreis meiner Freunde. Und auch Patrick wird irgendwann aus Kalifornien zurückkommen. Er wird vergessen, was war. Männer vergessen schnell. Vielleicht bekommst du ja doch noch deinen Stiefvater." Samantha sah sie herausfordernd an. „Und was, wenn ich mich entschließe, mich selber an die Presse zu wenden?" Ihre Mutter schüttelte zuversichtlich den Kopf. „Eine solche Grausamkeit würde nicht zu dir passen. Deshalb wirst du auch nie etwas erreichen, nie jemand sein. Außerdem darfst du das Andenken an deine Großmutter nicht vergessen. Sollen denn all ihre Bemühungen umsonst gewesen sein?" Barbara schlenderte gemächlich zur Tür. „Ich werde mich jetzt anziehen und doch nach London zurückfahren. Ich denke, ich habe hier ... alles erledigt." Sobald ihre Mutter die Tür hinter sich geschlossen hatte, warf Samantha sich weinend aufs Bett. All ihre Hoffnungen und Träume waren am Boden zerstört. Selbst die Liebe zu ihrer Großmutter war durch Barbaras hässliche Vorwürfe beschmutzt worden. Das schöne alte
Haus konnte sie nicht mehr freuen, sondern schien plötzlich nur noch ein Mittel, sie aus Barbaras Leben fern zu halten und zum Schweigen zu bringen. Entschlossen setzte Samantha sich auf und trocknete ihre Tränen. Von jetzt an würde sie hart sein. Heute konnte sie nichts mehr unternehmen, aber morgen würde sie Daven verlassen. Nur, wo sollte sie hin? In England kannte sie sich nicht aus und hatte sie auch keine Freunde. In Italien war Benito ... aber das war auch keine Lösung. Plötzlich fiel ihr Matilde ein. Die alte Haushälterin hatte ihr gesagt, sie könne sie bei ihrer Schwester in Ravenna finden, sollte sie je Hilfe brauchen. Dort würde sie sicher für eine Weile unterkommen und sich dann einen Job und eine eigene Wohnung suchen. Immerhin sprach sie perfekt Italienisch. Sobald Samantha die Entscheidung getroffen hatte, fühlte sie sich besser. Sie würde keine Zeit vergeuden und gleich morgen die erste Maschine nach Italien nehmen. Von wem sollte sie sich groß verabschieden? Barbara würde froh sein, dass sie fort war, und Patrick ... Nun, er hatte ziemlich deutlich gemacht, was er von ihr hielt. Und sie, Samantha? Sie würde sich in Italien eine Arbeit suchen, sich ein neues Leben aufbauen und mit der Zeit hoffentlich vergessen, dass sie ihre Mutter, ihre Großmutter und ... Patrick Mallory je kennen gelernt hatte.
9. KAPITEL
Fast eine Woche später lenkte Patrick seinen Sportwagen durch die Tore von Daven. Etwas befremdet stellte er fest, dass das Haus noch genauso unbewohnt wirkte wie beim letzten Mal. An den meisten Fenstern waren die Vorhänge zugezogen, und nur der Rauch aus dem Kamin verriet, dass es nicht gänzlich verlassen war. Patrick hatte in den letzten Tagen viel nachgedacht und wusste, was er zu tun hatte. Er war gekommen, um mit Samantha zu reden. Was immer sie für ihn empfand, er wollte wissen, wo er stand. Unzählige Male hatte er sich gesagt, dass Samantha zu jung und unerfahren für ihn sei, doch seine Gefühle ließen sich nicht verleugnen, und der Gedanke an Samantha raubte ihm den Schlaf. Am Tag der Beerdigung hatte er die Gesellschaft im Zorn verlassen - teilweise wegen Samanthas Andeutung, dass er nur eine flüchtige Affäre mit ihr suchen würde, und teilweise wegen des hässlichen Streits mit Barbara. Als Barbara ihrer Enttäuschung über das Testament Luft gemacht hatte, hatte er die Beherrschung verloren und ihr gesagt, dass er genau wisse, wie alt Samantha wirklich sei. Ein böses Wort hatte das andere gegeben, und schließlich war er ohne Abschied aufgebrochen, weil ihm klar gewesen war, dass er Samantha sowieso nicht allein hätte sprechen können, solange Barbara noch im Haus war. Im Lauf der Woche hatte er mehrfach nach Daven fahren wollen, es jedoch für besser gehalten, Samantha etwas Zeit zu geben, den Tod ihrer Großmutter zu verarbeiten. Heute nun hatte er nicht länger warten können und war direkt nach dem Frühstück losgefahren. Der trostlose Anblick des Hauses weckte nun schlimme Vorahnungen in ihm. Nervös ging er die Stufen zum Eingang hinauf und läutete. Ein älterer Butler öffnete. „Oh, Mr. Mallory!" rief er überrascht aus. „Was kann ich für Sie tun?" „Ich würde gern Miss Samantha sprechen, wenn es möglich ist." „Miss Samantha?" Der Butler sah ihn verblüfft an. „Aber sie ist nicht hier." Patrick atmete tief ein. „Was soll das heißen?" „Nun, wie ich schon sagte, Sir. Sie ist einen Tag nach der Beerdigung abgereist. Ich nahm an, Sie wüssten es." „Nein." Patrick wurde zunehmend besorgt. „Warum sollte ich es wissen?" „Nun, Sir, Miss Samantha sagte, sie würde nach London fahren. Ich nahm an, zu ihrer Mutter. Und da Sie mit Miss Harriet so gut bekannt sind ..." „Ich verstehe. Und seitdem haben Sie nichts mehr von ihr gehört?" „Nein, Sir. Verzeihen Sie, möchten Sie nicht eintreten?" Patrick zögerte. „Nein, danke. Wenn Miss Samantha nicht hier ist ..." Er war beunruhigt. So wie die Dinge lagen, würde Samantha bestimmt nicht zu Barbara gefahren sein. Er nickte dem alten Butler zu. „Nochmals vielen Dank." Nachdenklich ging Patrick zu seinem Wagen zurück und setzte sich hinters Steuer. Was sollte er davon halten? Irgendetwas stimmte an der Sache nicht. Warum sollte Samantha nach London zurückgekehrt sein? Und wo sollte sie dort wohnen? Während der gesamten Rückfahrt zerbrach er sich den Kopf, wie er Samantha finden sollte. Sollte er Barbara fragen? Kein angenehmer Gedanke, aber das Einzige, was ihm einfiel. Als er sein Haus in London betrat, kam Mrs. Chesterton überrascht aus der Küche gelaufen. „Sir, Sie sind schon zurück? Ich dachte, es würde spät werden." „Das dachte ich auch", antwortete Patrick düster. „Irgendwelche Anrufe, während ich fort war?" „Nein, Sir. Haben Sie schon etwas gegessen?" „Nein, aber ich habe keinen Appetit."
„Unsinn!" Mrs. Chesterton schüttelte energisch den Kopf. „Ich werde Ihnen etwas ins Arbeitszimmer bringen." „Wenn schon, dann ins Wohnzimmer. Ich muss telefonieren." „Sehr wohl, Sir." Patrick warf seine Lederjacke über einen Stuhl und ging ins Wohnzimmer. Nach kurzem Zögern griff er nach dem Telefon und wählte Barbaras Nummer. Es läutete ewig, bis sich endlich am anderen Ende der Leitung Clydes gleichmütige Stimme meldete. „Die Wohnung von Miss Harriet. Mit wem habe ich die Ehre?" „Mallory", antwortete Patrick schroff. „Ist Barbara da?" Sofort nahm Clydes Stimme einen freundlicheren Klang an. „Ach, Sie sind es, Mr. Mallory. Nun, sie steht gerade erst auf, aber ich denke, für Sie ist sie zu sprechen." „Danke", erwiderte Patrick ungeduldig. Minuten später drang Barbaras Stimme an sein Ohr. „Darling! " rief sie erfreut. „Wie schön, dass du anrufst! Hast du unseren kleinen Streit vergessen? Es war alles meine Schuld ..." „Da stimme ich dir zu", sagte Patrick barsch. „Barbara, ist Samantha bei dir?" „Samantha?" Es klang so überrascht, dass Patrick wusste, er konnte sich jede weitere Frage sparen. „Schon gut", sagte er. „Ich höre deiner Stimme schon an, dass sie nicht bei dir ist." „Aber, Darling, warum sollte sie hier sein? Sie hat doch jetzt Daven." „Ja, schon gut, Barbara. Danke." „Hast du nur deshalb angerufen?" fragte Barbara enttäuscht. „Ja. Vielen Dank für deine Mühe." „Aber Patrick ..." Er hatte schon aufgelegt. Ganz offensichtlich hatte auch Barbara keine Ahnung, wo Samantha steckte. Wo konnte sie sein? Sie kannte doch in London niemand. Die Vorstellung, dass Samantha in dieser gewaltigen Großstadt auf sich allein gestellt war, beunruhigte ihn. Sie war noch so arglos und unerfahren. Wie sollte sie in London allein zurechtkommen? Und warum war sie überhaupt von Daven fort? War irgendetwas passiert, wovon er nichts wusste? Patrick ging nervös im Zimmer auf und ab und zerbrach sich den Kopf nach einer Antwort. Mrs. Chesterton brachte ihm etwas zu essen, doch er rührte es kaum an. Es war immerhin möglich, dass Barbara mehr wusste, als sie ihm gesagt hatte. Er traute ihr zu, aus irgendeinem Grund, den er noch nicht kannte, die Ahnungslose zu spielen, obwohl sie ganz genau wusste, dass Samantha nicht mehr in Daven war. Barbara war sicher nach seiner Abreise am Tag der Beerdigung noch auf Daven geblieben. Hatte sie vielleicht etwas gesagt, was Samantha veranlasst haben mochte, sich die Sache mit dem Erbe zu überlegen? Barbara war außer sich vor Wut gewesen, dass ihre Mutter Daven Samantha vermacht hatte – und wenn Barbara wütend war, kümmerte es sie nicht, wen sie verletzte. Was konnte er tun? An wen außer an Barbara konnte er sich wenden? Und plötzlich fiel ihm Emily ein. Lady Davenports tatkräftiges Dienstmädchen war ihm immer sympathisch gewesen, und Emily schien auch Samantha gemocht zu haben, wohingegen sie Barbara gegenüber immer eher ablehnend gewesen war. Emily musste Barbara schon als junges Mädchen gekannt haben und hatte sich nicht von der Aura der großen Schauspielerin täuschen lassen. Ja, vielleicht wusste Emily etwas über Samanthas Verbleib. Was ihn zu dem nächsten Problem brachte: Wie sollte er Emily finden? Andererseits ... Emily stammte aus Daven, soviel er wusste. Es war möglich, dass jemand im Dorf sie genauer kannte und wusste, wo sie zu finden war. Ja, das war die Antwort: Daven und Emily. Gegen acht Uhr am selben Abend kam Patrick erneut in Daven an. Diesmal fuhr er ins Dorf und geradewegs zum einzigen Pub des Ortes, dem „Queen's Head". Hier würde er am ehesten etwas in Erfahrung bringen. Daven House als das Herrenhaus und Emily, die dort
lange Zeit gearbeitet hatte, waren gewiss von Interesse für den Dorfklatsch. Gerade einfache Menschen waren ganz wild auf Klatschgeschichten aus Adelskreisen, und Emily musste als eine Informationsquelle ersten Ranges gelten. Das Pub war ziemlich voll, Bierdunst und dichte Rauchschwaden hingen in der Luft. Patrick bahnte sich einen Weg zur Theke, bestellte einen Whisky und fragte den Barmann beiläufig, ob er eine Emily Lawson kenne. Der Barmann beäugte ihn misstrauisch. „Und was wollen Sie von Miss Lawson?" fragte er. „Sie sind doch aus der Stadt. Sind Sie mit Miss Lawson verwandt oder so?" Patrick schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich möchte Emily in einer persönlichen Angelegenheit sprechen. Wissen Sie, wo ich sie finden kann?" Der Barmann zögerte, schien dann aber doch zu dem Schluss zu gelangen, dass dieser Fremde einigermaßen vertrauenswürdig aussah. „Miss Lawson ist mit Mrs. Peel vom Stone Cottage befreundet und besucht sie öfter. Mag sein, dass Mrs. Peel Ihnen weiterhelfen kann." „Danke." Patrick trank seinen Whisky aus und verließ das Pub in dem Wissen, dass er nun seinerseits reichlich Stoff für Spekulationen abgeben würde. Er ließ den Wagen am Pub stehen und machte sich zu Fuß auf die Suche nach Stone Cottage. In einem Dorf dieser Größe konnte das ja nicht so schwer zu finden sein. Doch er hatte die Hauptstraße schon in der einen Richtung ganz abgeschritten und stand kurz davor, zum Pub zurückzukehren und sich eine genauere Wegbeschreibung zu holen, als neben ihm jemand ausrief: „Ja, das ist doch Mr. Mallory, oder nicht?" Patrick drehte sich um. „Emily! Lieber Himmel, bin ich froh, Sie zu sehen!" Sie sah ihn aufhorchend an. „Haben Sie mich denn gesucht?" Er nickte. „Wohnen Sie jetzt hier im Dorf?" „Ja. Augenblicklich bin ich bei meiner Freundin Mrs. Peel untergekommen, weil ich noch nicht so recht weiß, was ich tun soll. Ich brauche etwas Zeit, um mich mit der veränderten Lage zurechtzufinden. Jetzt wollte ich gerade zum Herrenhaus hinüberspazieren, um Miss Samantha zu besuchen. Ich habe am Tag der Beerdigung etwas überstürzt das Haus verlassen und wollte einmal nachsehen, wie es Miss Samantha geht." „Samantha ist nicht im Herrenhaus", sagte Patrick müde. „Ich dachte, Sie wüssten vielleicht, wo ich sie finden kann." „Sie ist nicht auf Daven House?" Emily war sichtlich überrascht. „Aber wo ist sie dann?" „Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier." Patrick seufzte. „Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, Emily, aber ich suche schon den ganzen Tag nach ihr. Ich habe sogar Barbara angerufen, doch sie scheint auch keine Ahnung zu haben. Zumindest schien sie davon auszugehen, dass Samantha immer noch in Daven ist." „Das klingt beunruhigend." Emily machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ist sie denn einfach so verschwunden?" „Nein, nicht ganz. Ein alter Butler im Herrenhaus sagte mir, Samantha habe angedeutet, sie wolle nach London gehen. Deshalb nahm die Dienerschaft natürlich an, sie würde bei Barbara sein." „Nichts läge ferner!" sagte Emily heftig. Patrick nickte. „Das habe ich mir auch gedacht." „Vor allem nach dem Streit, den sie nach der Beerdigung hatten", fügte Emily hinzu. „Sie hatten einen Streit?" Emily presste die Lippen zusammen. „Ja, Sir. Es ist eigentlich nicht meine Art, derartige Dinge weiterzutragen, aber in diesem Fall ist es vielleicht wichtig. Miss Samantha und ich unterhielten uns gerade über Daven. Sie sagte, wie gern sie das Haus renovieren und wieder zu ... einem richtigen Heim machen würde. Und ich sagte ihr, wie sehr ihre Großmutter sich genau das gewünscht habe. Als plötzlich Miss Harriet hereinplatzte. Sie war sehr unhöflich ... geradezu beleidigend zu mir, und Miss Samantha regte sich sehr darüber auf. Miss Harriet warf mich praktisch aus dem Haus ... und wer weiß, was noch passiert ist, als ich fort war. Ich
hoffe nur, dass Miss Harriet Miss Samantha nichts von den Anweisungen im Testament ihres Vaters erzählt hat!" „Was für Anweisungen? Hat das etwas mit Samanthas Rückkehr nach England zu tun?" „Ja, Sir." Patrick seufzte. „So etwas Ähnliches hatte ich mir schon gedacht. Kommen Sie, Emily, setzen wir uns in meinen Wagen. Hier auf der Straße lässt sich so etwas schlecht besprechen." Im Wagen erzählte Emily Patrick dann die ganze Geschichte. Lady Davenport hatte vor ihr keine Geheimnisse gehabt. Patrick begriff nun endlich, warum Barbara praktisch gezwungen gewesen war, Samantha als ihre Tochter anzuerkennen. Und ihm war auch klar, dass Samantha sich verraten und getäuscht fühlen musste, wenn sie die Wahrheit erfahren hatte. In ihrem labilen Zustand wäre das sicher der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hätte. „Glauben Sie, dass Barbara Samantha das alles erzählt hat?" fragte er schließlich Emily. „Nun, Sir, in dem Zustand, in dem Miss Harriet war, halte ich es für sehr wahrscheinlich." „Lieber Himmel!" Patrick fuhr sich erregt durchs Haar. Arme Samantha! Sie musste geglaubt haben, völlig allein auf der Welt zu sein. Und er hatte mit seinem gekränkten Stolz die Sache nur noch schlimmer gemacht. Emily sprach aus, was sie beide dachten: „Sie ist fort." Patrick nickte. „Wenn sie das wirklich von Barbara erfahren hat, dann wäre ich an ihrer Stelle auch davongelaufen." „Ja, Sir", sagte Emily betreten. „Nur, wo ist sie hin? In London kennt sie doch niemand. Und sie war es nicht gewöhnt, allein zurechtzukommen." „Ich weiß." Patrick schüttelte deprimiert den Kopf. „Für eine Weile hatte sie hier die verlorene Sicherheit gefunden, aber nun, nach dem Tod ihrer Großmutter ... und mit der Geschichte im ' Kopf, die Sie mir gerade erzählt haben ... wird sie sich völlig allein gelassen fühlen. Aber wo könnte sie hingegangen sein?" Emily zermarterte sich den Kopf. Und plötzlich kam ihr eine Idee. „Wäre es nicht möglich, dass sie nach Italien zurück ist?" „Italien! Natürlich! Warum habe ich nicht gleich daran gedacht?" Patricks Gesicht hellte sich auf. „Dort hat sie Freunde. Jetzt habe ich endlich eine Spur! Hören Sie, Emily, ich werde nach London zurückfahren und mich am Flughafen erkundigen, ob Samanthas Name auf irgendeiner Passagierliste nach Mailand auftaucht. Sobald ich mehr weiß, rufe ich Sie bei Mrs. Peel an. Keine Sorge, ich werde sie finden." Emily lächelte viel sagend. „Ich habe mir immer gedacht, dass Sie ein Auge auf Miss Samantha geworfen haben." Er erwiderte ihr Lächeln. „Emily! Das sind Gedanken, die Sie nicht verbreiten sollten." „Ich weiß, Sir. Aber Miss Samantha war so aufgebracht, und ich bin sicher, dass Sie der einzige Mensch sind, der ihr helfen kann." „Ich hoffe, Sie haben Recht", sagte Patrick. „Ich werde jedenfalls alles versuchen." Samantha betrat Sophia da Silvas Haus in der Via Algante in Ravenna. Draußen regnete es in Strömen, und sie trug einen schwarzen Regenmantel, den sie sich bei ihrer Rückkehr nach Italien in Mailand gekauft hatte. Seit ihrer Rückkehr vor über einer Woche hatte es fast jeden Tag geregnet, und es war für die Jahreszeit auch ungewöhnlich kühl. Das Wetter spiegelte nur Samanthas Stimmung wider. Sie fühlte sich elend und unglücklich. Ravenna war auch nicht wie Perruzio, wo sie praktisch jeder gekannt hatte. Ravenna war ihr genauso fremd wie London. Die alte Matilde und ihre Schwester Sophia waren die einzigen ihr vertrauten Menschen. Sie war natürlich schon nach Perruzio gefahren, um das Grab ihres Vaters zu besuchen. Seltsam, es war noch gar nicht lange her, dass sie ihn beerdigt hatte, doch nach allem, was inzwischen passiert war, kam es ihr wie eine Ewigkeit vor.
Als sie am Marktplatz auf den Bus nach Ravenna gewartet hatte, rief plötzlich jemand ihren Namen. Sie drehte sich um und erblickte Benito. „Samantha?" fragte er ungläubig. In dem schicken Regenmantel und mit hochhackigen Pumps sah sie gewiss ganz anders aus als das Mädchen, das er zuletzt in Erinnerung hatte. Sie rang sich ein Lächeln ab. „Hallo, Benito. Schön, dich wieder zu sehen." Benito sah sie unverwandt an. „Aber ..." „Mach nicht so ein erstauntes Gesicht", sagte Samantha locker. „Ich bin kein Gespenst. Ich wohne augenblicklich in Ravenna bei Matilde und ihrer Schwester, und ich werde bald einen Job haben. Sophia, Matildes Schwester, kennt eine gutbetuchte Fabrikantenfrau, die ein kleines Kind hat und ein Kindermädchen sucht. Ich überlege, den Job anzunehmen." „Aber das kannst du doch nicht tun!" rief Benito nun doppelt verwirrt aus. „Samantha, du weißt doch, was ich für dich empfinde. Ich dachte ... du wärst zurückgekommen, um mich zu sehen." Sie errötete. „Benito, Benito, es tut mir so Leid, aber ich bin leider nur gekommen, um das Grab meines Vaters zu besuchen." „Und deine Reise nach England? War die kein Erfolg?" „Nein", sagte sie schroff. „Was hast du jetzt vor?" „Das habe ich dir doch gerade gesagt." Benito streckte eine Hand aus. „Samantha, bitte ..." „Benito, vor meiner Abreise hatte ich ein Gespräch mit deiner Mutter. Sie will mich nicht mehr als Schwiegertochter haben, und mir ist inzwischen bewusst geworden, dass es nicht die große Liebe zwischen uns war." „Woher weißt du das?" fuhr er heftig auf. „Hast du in England vielleicht einen anderen kennen gelernt?" Sie wich seinem Blick aus. „Ja." „Und warum bist du dann hier?" „Das ist eine lange Geschichte." Samantha blickte die Straße entlang und wünschte sich sehnlichst, der Bus würde endlich kommen. Sie hatte keine Lust, sich mit Benito zu streiten. „Wirst du diesen Mann heiraten?" Sie schüttelte stumm den Kopf. Benito ließ nicht locker. „Aber warum nicht?" Samantha blinzelte zornig gegen ihre Tränen an. „Weil er mich nicht will", stieß sie aus, „und jetzt lass mich bitte allein. Bitte." Benito fuhr sich durchs Haar. „Das tut mir Leid für dich, Samantha. Wirklich." Sie lächelte scheu. „Ach Benito, was soll ich noch sagen? Wie ist es dir denn so ergangen?" „Ich komme zurecht. Silvana hat übrigens einen weiteren Jungen bekommen." Silvana war seine Schwester, und sie hatte bereits drei Söhne gehabt. Samantha räusperte sich befangen. Noch vor wenigen Monaten wäre diese Unterhaltung ihre ganze Welt gewesen. Verzweifelt blickte sie erneut die Straße entlang. Wenn nur der Bus endlich käme! Benito schien ihre Verlegenheit zu spüren und erwies sich als taktvoll. „Nun, ich gehe jetzt besser. Mama wartet schon auf mich." „Alles Gute, Benito. Es war nett, dich wieder zu sehen." Es klang so stereotyp, aber ihr fiel einfach nichts Besseres ein. Und glücklicherweise kam dann endlich auch der Bus und erlöste sie aus ihrem Dilemma. Das war nun vier Tage her, und heute hatte Samantha bei Signora Marcasi vorgesprochen. Die neureiche Fabrikantengattin war sehr von ihrem Umgang mit ihrem verwöhnten kleinen Vittorio angetan gewesen - zumal es auch schick war, sich ein englisches Kindermädchen für
ihren Kleinen zu nehmen -, aber Samantha hatte Zweifel bekommen, ob dieser Job wirklich das war, was sie wollte. Zum Befremden der Signora hatte sie sich deshalb eine Bedenkzeit erbeten, die ihr, sehr widerstrebend, gewährt worden war. Matilde kam in den Flur, als Samantha gerade den Regenmantel ablegte. „Na? War das Vorstellungsgespräch erfolgreich?" fragte sie eifrig. Samantha fuhr sich seufzend durchs feuchte Haar. „Ich denke schon. Signora Marcasi war jedenfalls mit mir zufrieden. Ach Matilde, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, auf die Dauer mit dieser Familie zurechtzukommen. Ich habe mir eine Bedenkzeit erbeten." „Natürlich." Matilde nickte verständnisvoll. „Sophia wird vielleicht ein wenig enttäuscht sein, dass Sie die Stelle nicht sofort angenommen haben. Sie hielt es für eine einmalige Chance. Die Marcasis sind sehr reich und geachtet." Samantha ging in die Wohnküche, wo sie die meiste Zeit verbrachten. Das Haus war mit seinen vier Zimmern klein und reichte gerade für Matilde und Sophia. Samantha wusste, dass sie sich bald eine eigene Wohnung würde suchen müssen. Sophia war zum Einkaufen, und Samantha nahm dankbar die Tasse Kaffee entgegen, die Matilde ihr reichte. „Wenn Sie diese Stelle nicht annehmen, wird Ihnen die nächste vielleicht noch weniger annehmbar erscheinen", bemerkte die alte Haushälterin scharfsinnig. Samantha lächelte. „Ich weiß, meine liebe, gute Matilde. Und ich werde die Stelle natürlich annehmen. Ich fühle mich im Moment einfach nur so ... entwurzelt." Matilde nickte. Samantha hatte ihr bei ihrer Rückkehr aus England die ganze Geschichte erzählt, und die alte Haushälterin hatte zugehört, ohne Samanthas Handlungsweise zu kommentieren. Samantha wusste ja selber noch nicht recht, ob sie das Richtige getan hatte, und gelegentlich fragte sie sich, ob es klug gewesen war, das luxuriöse Leben, das sie in England gehabt hätte, hinter sich zu lassen. Doch solche Gedanken verdrängte sie sofort. Sie hatte nicht in England bleiben und das Risiko eingehen können, ihrer Mutter und Patrick zusammen zu begegnen ... und womöglich die Hochzeit der beiden zu erleben. Als Sophia zurückkehrte, aßen sie schweigend ihr Abendessen. Sophia war jünger als Matilde und verwitwet. Sie war sichtlich überrascht, als Matilde ihr von Samanthas Vorstellungsgespräch und ihrer Bitte um Bedenkzeit erzählte, schien jedoch zu spüren, dass Samantha nicht in der Stimmung war, darüber zu diskutieren. Am nächsten Morgen wurde Samantha früh von der Sonne geweckt, die zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr nach Italien strahlend vom Himmel schien. Sie öffnete ihr Fenster weit und hielt das Gesicht dankbar in die milde Luft. Seltsam, wie doch der Anblick der Sonne die Stimmung heben konnte. Sie hatte mit Signora Marcasi einen Termin um drei Uhr nachmittags vereinbart, so dass ihr der Morgen zur freien Verfügung blieb. Nach einem raschen Frühstück aus Brötchen und Kaffee verließ sie in Jeans und einem leichten Sweatshirt das Haus, um einige Einkäufe zu erledigen. Sophia hatte ihr eine Liste mit auf den Weg gegeben, und Samantha liebte es, mit den italienischen Marktfrauen zu feilschen. Heute fühlte sie sich wirklich schon viel besser. Die Zeit wird alle Wunden heilen, sagte sie sich zuversichtlich und verbot sich jeden Zweifel. Gegen zwölf Uhr kehrte sie gut gelaunt in die Via Algante zurück ... und erstarrte. Vor Sophias kleinem Haus parkte ein großes Luxuscabrio, das in dieser engen Gasse völlig fehl am Platz wirkte. Wer konnte das sein? Sophia und Matilde kannten gewiss niemand, dem ein solcher Wagen gehörte. Es sei denn ... die Marcasis. Ja, der Wagen musste den Marcasis gehören ... nicht Barbara oder Mr. Bolam oder ... Patrick. Samantha ging langsam weiter und betrat nervös das Haus. Gespannt ging sie in die Küche, wo Sophia seelenruhig eine Suppe für das Mittagessen rührte, als wäre nichts Besonderes geschehen. Sie blickte lächelnd auf, als Samantha eintrat.
„Haben Sie alles bekommen, Samantha?" „Ja, ich glaube schon. Wann ist das Mittagessen fertig?" „In ungefähr fünfzehn Minuten." Sophia wandte sich wieder der Suppe zu. „Und wo ist Matilde?" „Im Wohnzimmer. Sie hat Besuch. Gehen Sie doch bitte, und sagen Sie ihr, das Essen sei fast fertig. Ach ja, und fragen Sie Ihren Gast, ob er vielleicht mit uns essen möchte, ja?" „In Ordnung." Samantha ließ den Korb mit den Einkäufen auf dem Küchentisch stehen und ging über den Flur ins Wohnzimmer. Sie klopfte an die Tür, öffnete ... und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Neben dem Kamin erblickte sie Patrick, der in seinem eleganten dunklen Anzug atemberaubend attraktiv aussah. „Patrick!" flüsterte sie ungläubig. „Hallo, Samantha", erwiderte er locker, als wäre seine Anwesenheit hier in Sophias Haus überhaupt nichts Ungewöhnliches. Matilde, die auf der Couch gesessen hatte, erhob sich. „Dieser Gentleman hat auf Sie gewartet, Samantha. Ist alles in Ordnung? Sie sehen so blass aus, mein Kind." Samantha schüttelte den Kopf. „Nein, nein, schon gut." Sie riss sich zusammen. „Was machst du hier, Patrick? Hat Barbara dich geschickt?" „Niemand hat mich geschickt", antwortete er ernst. „Ich bin gekommen, um dich zu finden und zurückzuholen." „Danke für deine Mühe", sagte Samantha förmlich, „aber ich will nicht zurück." Patrick warf Matilde einen Blick zu. Sie begriff und wandte sich zur Tür. „Ich lasse Sie beide jetzt allein. Sie haben sich sicher viel zu erzählen." Samantha fasste sie am Arm und versuchte, sie zurückzuhalten. „Bitte, Matilde, gehen Sie nicht. Es gibt nichts, was Sie nicht hören dürften." Matilde schüttelte energisch den Kopf. „Samantha, Liebes, das müssen Sie allein durchstehen. Ich kann Ihnen dabei nicht helfen." Sie ging und schloss die Tür fest hinter sich. Samantha lehnte sich gegen die Tür und ließ die Hand an der Klinke, um schnell entfliehen zu können. In ihrem aufgewühlten Zustand fühlte sie sich Patrick nicht gewachsen. „Ich weiß nicht, was du von mir hören willst", sagte sie verzweifelt. „Ich habe England für immer verlassen. Ich will nicht mehr zurück. Mir gefallen die Menschen dort nicht, und ich kenne auch niemanden mehr dort." „Du kennst mich", wandte Patrick ein. Sie seufzte. „Soweit ich gehört habe, hast du ein Angebot aus Amerika für die Verfilmung eines deiner Stücke." „Richtig. Ich fliege in vierzehn Tagen hinüber. Sollte für die Vorbereitung meines neuen Stücks meine Anwesenheit in London erforderlich sein, bin ich mit dem Flugzeug schnell wieder zurück." „Ich verstehe." Samantha wich seinem Blick aus. „Ich freue mich für dich. Dann wirst du ja bald weltberühmt sein." „Ist das so wichtig?" fragte er ernst. „Weltberühmt zu sein?" „Keine Ahnung. Für manche Menschen sicher. Barbara wird begeistert sein." „Was hat Barbara damit zu tun?" fragte er kühl. „Das weiß ich genauso wenig. Aber ich nehme an, euch beiden wird schon etwas einfallen. Schade, dass sie wegen der Proben für ihr neues Stück an London gebunden ist. Sonst hätte sie dich begleiten können." „Hör auf, solchen Unsinn zu reden!" sagte Patrick gereizt. „Zwischen Barbara und mir ist nichts mehr. Wir haben uns einmal ... gemocht, aber das ist längst vorbei. Sie wusste es ... sie weiß es, aber sie will es nicht zugeben." Samantha ließ die Hand von der Türklinke sinken. „Und warum bist du dann hier? Ich verstehe das nicht."
„Was glaubst du denn, warum ich hier bin, du Dummchen?" Patrick kam auf sie zu und zog sie in seine Arme. Sacht fasste er ihr ins Haar und presste den Mund heiß und begehrlich auf ihren Hals. „Na los", flüsterte er zärtlich, „sag mir, warum ich hier bin." Samantha versuchte, unbewegt zu bleiben. Aber es war eine süße Qual, ihm so nahe zu sein. Seine leidenschaftlichen Küsse raubten ihr jeden klaren Gedanken. Mit einem leisen Aufschrei legte sie ihm die Arme um den Nacken und schmiegte sich an ihn. Sie liebte ihn zu sehr und konnte ihn nicht fortstoßen, mochte es auch noch so unvernünftig sein. „O Samantha!" flüsterte er und küsste sie auf den Mund. Minutenlang herrschte Schweigen in dem kleinen Wohnzimmer, das für Samantha zum Paradies geworden war. Widerstrebend löste Patrick sich schließlich von ihr und blickte sie eindringlich an. „Hast du eine Ahnung, was du mir angetan hast, Samantha?" Er schüttelte den Kopf. „Verdammt, und ich dachte, ich wäre zu alt, um mich noch richtig zu verlieben!" Samantha ließ die Fingerspitzen verführerisch über sein Kinn gleiten. „O Patrick, warum hast du es mir nicht gesagt?" Er drückte sie an sich. „Ich habe es versucht, am Tag der Beerdigung. Aber wie gewöhnlich habe ich es wohl völlig verpatzt. Selbst jetzt ziehst du vermutlich noch meine Absichten in Zweifel." Samantha errötete verräterisch. „Siehst du!" Patrick seufzte. „Glaubst du wirklich, ich könnte dir ernsthaft nur eine Affäre mit mir vorschlagen?" „Ich wusste es nicht", gestand Samantha. „Bitte, Patrick, frag mich, wie es sich gehört." Er lächelte. „Ich liebe dich. Ich will dich heiraten. Willst du meine Frau werden?" Samantha blickte mit strahlenden Augen zu ihm auf. „Du weißt, dass ich es will", flüsterte sie. „O Patrick, Darling, es ist, als würden all meine Träume wahr werden." Selig schmiegte sie sich an ihn und besiegelte ihre Worte mit einem innigen Kuss. -ENDE -