KLEINE JUGENDREIHE
Adolf Branald
Goldenes Herz
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1957
8. Jahrgang, 1 Maiheft
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KLEINE JUGENDREIHE
Adolf Branald
Goldenes Herz
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1957
8. Jahrgang, 1 Maiheft
Tschechischer Originaltitel:
ZLATE SRDCE (S RYCEM A MOTYKOU)
Ins Deutsche übertragen von Gottfried J. Wojtek
Veröffentlicht 1957 im Verlag Kultur und Fortschritt
Berlin W 8 Taubenstraße 10 Lizenz-Nr 3 – 285/56/56– Alle Rechte vorbe halten
Illustrationen: Vaclav Junek
Umschlag: Karl Fischer nach Motiven von Vaclav Junek Satz und Druck:
(1II/9/1) Sächsische Zeitung, Dresden N 23 163
An Deck der „Harmonie“ Immer näher rückte der Zeitpunkt des Auslaufens, immer lebhafter wurde es am Kai. Einige verspätete Fahrgäste schleppten ihre Bündel zum Schiff, stolperten über Taue und Ketten und riefen die Seeleute oben auf Deck an. Doch diese hatten jetzt alle Hände voll zu tun. Der Wind, der vom Meer her wehte, wurde heftiger und verstärkte den fremdländi schen Duft im Hafen. Es roch nach Gewürzen und Holz. Die Bürger der Stadt rüsteten sich zum Schlaf, doch die dort oben auf dem Segelschiff traten die Fahrt in ein unbekanntes Land an. Die tschechischen Auswanderer standen an der Reling und hielten ungeduldig nach einem Mann im karierten Reise mantel Ausschau; Herr Herrmann – so hieß der Erwartete hatte sie aus der Heimat nach Bremerhaven gebracht und war hier mit einemmal verschwunden. „Was machen wir nun?“ jammerte die Frau des Schneiders Slabihoudek und zerrte ihren Mann aufgeregt am Rock schoß. Dieser aber glaubte, daß die „Harmonie“ ohne Herrn Herrmann gar nicht nach Amerika auslaufen würde. „Er wird schon noch kommen. Ganz bestimmt!“ Da holten die Matrosen das Fallreep ein. Die Schiffsglocke ertönte, und die „Harmonie“ lichtete den Anker. Dichtgedrängt standen die europäischen Auswanderer an der Reling, den Blick ver zweifelt auf den Kai geheftet. Das Schiff löste sich von der Mauer, vom heimatlichen Kontinent; man sah das dunkle, mit Abfällen, Schmutz und Ölflecken bedeckte Wasser. „Betrüger!“ erklärte der Weber Martin Räz (Sprich: Raasch), drehte sich kurz um und stieg in das Unterdeck. Er wollte den Frauen sagen, daß sie alle nun auf sich selbst ge stellt seien. Schweigend und bedrückt folgten ihm einige Männer. Nur der Schneider schüttelte den Kopf, als könne er
eine solche Schlechtigkeit nicht fassen. Er wandte sich Zu stimmung heischend an den jungen Schmied Burda: „Du hast gar keine Ahnung, Josef, was das für ein guter Herr ist. Er wollte mir den Anzug sofort bezahlen, wenn wir in Ame rika ankommen. In Dollars. In reinem Gold wollte er zah len…“ Der Schmied hörte nicht auf den Schneider. Sein Blick hing am Ufer, das sich immer mehr entfernte. Die Fäuste hielt er geballt er kämpfte mit der Sehnsucht, einen Anlauf zu nehmen, die Reling und den graugrünen Wasser streifen, der ihn vom Land trennte, zu überspringen und heimzulaufen, in seine verlassene Kysperker Schmiede an der Kaiserstraße. Noch schwammen sie auf der Weser, die dem Meer zueilte, doch bald würde das Schiff das weite Meer erreichen, sie würden fern vom Adlergebirge sein, von den duftenden Wäldern, von den Äckern und Wiesen, von den Menschen, die sie wie Brüder und Schwestern kannten, fern von allem, was ihnen vertraut war… Das Deck sah leer aus. Nur einige wenige deutsche Aus wanderer standen noch am Bug. Sie konnten die Augen nicht von dem schlanken Leuchtturm lassen, der langsam in der Abenddämmerung versank. Mit einemmal blinkte sein Licht auf. Der Leuchtturmwärter hatte die Signallampen an gezündet. Die Deutschen seufzten: der Abschiedsgruß der Heimat. Tausend Sterne leuchteten am Himmel auf. Die letzten Möwen, die das Schiff begleitet hatten, kehrten um. Die Wellen wurden größer und brachten den salzigen Duft des Meeres mit. Ein scharfer Wind sang in den Rahen. „Komm“, sagte Burdas Mutter und nahm ihren Sohn bei der Hand. „Komm, sonst wächst du hier noch an. Unten warten sie auf uns.“ Josef Burda, ein Kerl wie ein Baum, riß den Blick von dem
schon im Dunkel versunkenen Ufer und folgte seiner energi schen Mutter, wie immer. Einige Öllampen in Schutzkörben aus Draht erhellten nur schwach den von den schweigsamen Menschen überfüllten niedrigen Raum. Hier waren nicht nur die zwölf tschechi schen Familien untergebracht, die der gewissenlose Herr Herrmann nach Bremerhaven gelockt hatte, hier gab es auch noch Deutsche, Italiener, Slowenen, Russen und Rumänen, lauter arme Menschen, die nach Amerika wie in das Land der Wunder fuhren. Auch einige der tapferen Männer waren dabei, die sich vor ein paar Jahren, im Revolutionsjahr acht zehnhundertachtundvierzig, in Paris, Wien, Berlin und Prag gegen die Gewaltherrschaft der Monarchen aufgelehnt hat ten. Sie flohen vor der Polizei, die ihnen keine Ruhe gönnte. Die tschechischen Auswanderer waren meist Weber. Sie kamen aus dem Adlergebirge, aus Kysperk, aus Usti und aus Cermnä. Sie alle bedrückte die Fremde, das Meer, die neue Umgebung und die ungewisse Zukunft. Und dennoch hoff ten sie insgeheim auf das große Glück, die Jungen wie die Alten, ja sogar der Älteste unter ihnen, der Weber Janda. Mit schwerem Herzen hatte der siebzigjährige Mann seine Hei mat verlassen, aber sein zwanzig Jahre alter Sohn hatte ihn dazu überredet. Nun fuhr er diesem zuliebe mit, denn das Leben des Sohnes begann, seines aber neigte sich dem Ende zu. Doch er würde sich wohl nicht mehr an die Neue Welt gewöhnen. Regungslos saß er auf seinem Bündel – ein stilles Häufchen Unglück – und hielt einen Käfig im Schoß. Alles hatte ihm der Sohn auszureden vermocht, nur den gelben Sänger nicht! Noch lebte der blaßgelbe Vogel, saß zitternd auf der Stange, aber er schwieg. Gestern hatte er aufgehört zu singen. Gewiß sehnte er sich nach dem Zimmer mit den weißen Gardinen und dem Poltern des Webstuhls… Der
junge Schmied betrat mit seiner Mutter das Unterdeck. Früher einmal hatten die Leute in Kysperk den Josef ausge lacht. „Muttersöhnchen!“ hatten sie gesagt. „Hältst dich am Rock fest wie ein kleiner Junge!“ Aber sie täuschten sich in ihm. Josef hatte es fertiggebracht, den Rock der Mutter los zulassen, und später fürchtete er sich nicht einmal mehr vor den Soldaten. Vor sechs Jahren hatte ihm die Mutter die alte Schrotflinte des verstorbenen Vaters in die Hand gedrückt und gesagt: „Geh nach Prag, Josef, und hilf ihnen! Dort ist Revolution gegen die Herrschaft.“ Josef war mit den anderen aus Kysperk abgefahren, und sie kamen gerade zur rechten Zeit. Als Letzter ging Josef von den Barrikaden; aber bevor er ging, schlug er noch ein paar der Soldaten nieder - nur mit dem Kolben, wie es hieß. Zu Hause in Kysperk wurde er schon von den Gendarmen erwartet und in das Gefängnis von Usti gesperrt. Seit dieser Zeit mochte ihn der Gendarme riehauptmann nicht, die Polizisten ließen ihn nicht aus den Augen, und als eines Tages der Herr Hermann nach Kysperk kam, um für eine Fahrt nach Amerika zu werben, sagte die Mutter entschlossen: „Josef, wir fahren mit!“ Josef verkaufte die kleine Schmiede an der Kaiserstraße mitsamt dem Werkzeug und dem Vorrat an Hufnägeln, nur den alten, vom Vater geerbten Vorschlaghammer schob er in sein Bündel und brach mit den anderen Auswanderern auf. Dazu gehörten auch Martin Räz und seine Frau Marie mit dem neun Jahre alten Vojta und dem kleinen, kaum ein Jahr alten Poldi, den Marie Räzova noch auf dem Arm trug. Das Weberhandwerk brachte wenig ein, es reichte nicht aus, sie zu ernähren. So verkauften sie ihr altes Häuschen und den noch älteren Webstuhl und vertrauten ihr Geld Herrn Herr mann an. Auch Martin Räz hatte sich von ihm täuschen las sen.
Alle kannten Martin und mochten ihn gern. Auf der langen Eisenbahnfahrt aus dem Adlergebirge nach Prag und von Prag durch das fremde deutsche Land bis zum Hafen lernten sie ihn noch besser kennen. Martin war jung, nur wenig über dreißig Jahre alt, aber er hatte schon eine ganze Menge Er fahrungen gesammelt. In Wien war er Soldat gewesen, ein Stück Welt hatte er kennengelernt. Er beherrschte die deut sche Sprache und kannte sich unter den Menschen aus. Wenn die anderen keinen Ausweg mehr fanden, so wußte Martin Räz immer noch einen Rat. Sie alle, die beiden Jandas, der Schmied Josef und Martin Räz sowie die Weber Hampl Brüzek* und Petrlik, gingen mit ihren Familien nach Amerika, weil sie mußten. Sie such ten einen Lebensunterhalt. Der Schneider Slabihoudek dagegen hätte nicht auswan dern müssen. Der zierliche Bursche, der den anderen ständig weismachen wollte, daß ihnen der großartige Herr Herrmann mit dem nächsten Schiff folgen werde, fuhr mit völlig ande ren Absichten nach Amerika. Seit Herr Herrmann mit sei nem verlockenden Gerede aufgetaucht war, schien Usti an der Adler für Slabihoudek zu klein zu sein. Amerika war riesengroß, und der Schneider wurde nicht müde, den Erzäh lungen des redseligen Herrn zu lauschen, der sich bei ihm einen schönen Anzug nähen ließ. Er nahm Maß, schnitt zu und nähte, und Herr Herrmann träumte indessen laut vom „märchenhaften Kalifornien, wo man nur mit der Spitzhacke in die Erde schlagen muß, damit sich sofort ein Goldklum pen herauswälzt“. Ein andermal wieder sprach er vom Land der Freiheit, wo „jeder soviel Land bekommt, wie er will, wo er sich eine Blockhütte errichtet, in einem Jahr eine Farm besitzt und in zwei Jahren ein reicher Mann ist“. Jetzt saßen die Auswanderer im düsteren Unterdeck auf ih
ren Bündeln, Kisten und Holzpritschen und dachten an zu Hause. In einem Winkel weinten kleine Kinder. In einer an deren Ecke versuchte jemand auf einer Geige zu spielen, aber das Schiff schaukelte so stark, daß er es bleiben ließ. „Was werden wir tun?“ flüsterte der alte Janda und legte die runzligen Hände auf den Käfig, als wolle er seinen Liebling beschützen. Die Frau des Schneiders Slabihoudek brach in Tränen aus. Marie Räzovä, die mit dem kleinen Kind neben ihr saß, legte den freien Arm aufmunternd um ihre Schul tern. Alle drängten sich in ihrer Ratlosigkeit dichter anein ander. „Herrmann hat uns schändlich betrogen“, brach Martin Räz das Schweigen. „Damit müssen wir uns nun schon abfinden. Er hatte versprochen, uns nach Baltimore zu bringen. Dort sollten wir erfahren, wo unsere neue Heimat liegt. Ich hab mich beim Kapitän erkundigt, er kennt Herrmann zwar nicht, aber unsere Überfahrt ist bezahlt. Dem Betrüger ging es dar um, uns aus Europa verschwinden zu lassen. Jetzt sind wir weg, und er kann mit dem Geld, das wir ihm für den Ankauf von Land gegeben haben, machen, was er will.“ Die Slabi houdkova schluchzte laut auf, und auch das gute Zureden ihres Mannes wollte nicht mehr helfen. Sie preßte ihre sechsjährige Justinka an sich, streichelte deren blonde Zöpfe und jammerte: „Ich hab dich gewarnt, Slabihoudek! Jetzt hast du uns alle auf dem Gewissen. Ach, heiliger Florian, Schutzpatron gegen Wasser und Feuer, bitt für uns…“ „Warte mit der Fürbitte noch ein paar Tage“, sagte Martin Räz ruhig. „Auf der langen Fahrt fällt uns schon noch etwas ein. Wir sind alle gleich dran. Wenn wir zusammenhalten, werden wir mehr schaffen als mit Weinen und Jammern.“ Die Frau beruhigte sich, aber der unglückselige Slabihoudek gab sich noch nicht zufrieden. Er holte ein zerknittertes Blatt
Papier aus seiner Tasche und begann Herrn Herrmann glü hend zu verteidigen: „Keine Angst, liebe Leute! In Amerika ist das Paradies. Hört, was der ,Große Begleiter der Aus wanderer’ darüber sagt. Hier steht es schwarz auf weiß: Das verheißene Land ist ein Land, das, beginnend am Fuße des Alleghany, sich über weite Prärien und mächtige Flüsse, prächtige Seen und erhabene Berge bis dorthin erstreckt, wo die Flut und die Ebbe des Stillen Ozeans die goldenen Ufer des Eldorados küßt. – Hört zu: Eldorado! Das bedeutet pures Gold, reines Gold!“ Alle schwiegen, berückt von den ge heimnisvollen Worten, hinter denen sich so große Verhei ßungen verbargen. Sie wußten noch nicht, daß die Allegha nies ein böses Gebirge waren, das sie überwinden mußten, wenn sie in die Ebene gelangen wollten. Sie kannten die Gefahren nicht, die die unendliche, von Karawanen kühner Pioniere durchquerte Prärie barg. Noch wußten sie nicht, wie schrecklich groß das verheißene Land war, wo zwar die Freiheit, aber auch das Gesetz des Stärkeren herrschte. Wo jeder seine ganze Kraft einsetzen mußte, um zu leben, in der einen Hand die Hacke, in der anderen das Gewehr. Und bis zu diesen goldenen Ufern des Eldorado, von dem Slabihoudek so begeistert gesprochen hatte, waren es vom amerikanischen Hafen Baltimore einige Tausend Meilen… Die Schmiedin rüttelte sie auf. „Wenn die verdammten Polizisten nicht gewesen wären bis zum Tode würde ich in unserem lieben Kysperk sitzen. Ich glaub nicht an dein gepriesenes Amerika, Slabihoudek, hörst du? Ich glaub nicht daran. Dann schon eher an das Lied, das bei uns über Amerika gesungen wird. Hör zu, falls du es noch nicht kennst: Hört, liebe Leute, das Lied von dem Land, das als das reichste der Erde bekannt,
wo alle Menschen mit Glück sind gesegnet,
weil es dort Dollars vom Himmel regnet.
Ja, also denkt sich’s der arme Mann.
Hin will er ziehn über’n Ozean,
nur von Amerika mag er noch träumen,
glaubt, daß die Knödeln dort wachsen auf Bäumen,
Schweine, geselcht, frei herum dort spazieren,
Tauben, gebraten, ums Maul ihm flanieren,
daß man die Buchteln gleich fertig dort kriege,
Mokka aus Röhren umsonst zur Genüge.
Aber die Wahrheit ist: Auch in den Staaten
labt sich an Mokka und Buchteln und Braten
nur, wer sich abrackert, schuftet und schwitzt,
nur, wer die nötigen Dollars besitzt.
Sicher wohl sind in Amerika
Wälder genug noch zum Roden da,
Platz ist genug und für Geld zu erwerben.
Aber der Traum ging schon manchem in Scherben.
Müde vom Schaufeln, vom Hacken ganz krumm,
hinkt er enttäuscht in Amerika rum.“
„Sehr schön, Mutter“, erklang es in deutscher Sprache hin ter dem Rücken der Schmiedin, als sie zu Ende gesungen
hatte, und der Kapitän, ein großer, breitschultriger Deutscher
mit einem struppigen Seemannsbart, kam die knarrende
Treppe herab. Er ging durch das Unterdeck, ließ da und dort
ein Wort fallen, streichelte ein Kind und überzeugte sich,
daß alles in Ordnung war. Schließlich gab er seinen deut schen Landsleuten Ratschläge: „Gebt acht auf das Licht! Ein
Brand auf freiem Meer bedeutet den Tod für uns alle. Früh
wird geläutet. Da kommt ihr auf Deck. Es gibt Kaffee und
Brot, Und nun gute Nacht, Kinder!“
Die deutschen Auswanderer übersetzten ihren Reisegefähr
ten die Worte des Kapitäns. Hier gab es also doch einen, der sich um sie kümmerte – sei es auch nur bis zum amerikani schen Hafen Baltimore. „Das Schiff schwankt!“ schrie der Schmied Josef plötzlich auf, und alle erstarrten. Jetzt erst kam ihnen das Gefühl, als hätten sie den festen Boden unter sich verloren, als öffne sich irgendwo weit unter ihnen ein drohender Abgrund. Ein Matrose sah den Schrecken auf ihren Gesichtern. Er lächelte und sagte deutsch: „Wir sind jetzt auf dem Meer. Das Schiff hat die Weser verlassen. Ihr werdet euch schon daran ge wöhnen. Das erstemal ging es mir auch so, und nun fahr ich schon dreißig Jahre zur See.“ Sie lächelten schwach, und der Seemann fuhr fort: „Es ist neun Uhr. Jedes Schiff hat seine Ordnung, und ihr müßt jetzt schlafen. Hört ihr – alle schlafen!“ „Schlafen auf Kommando – essen auf Kommando – nur gut, daß ich ohne Kommando singen durfte“, brummte die Schmiedin. Die Auswanderer streckten sich auf den harten Pritschen aus, deckten sich mit ihren Mänteln zu, schoben sich ein Bündel unter den Kopf und versuchten einzuschlafen. Aber es war heiß zum Ersticken. Und noch schlimmer als die Hit ze war das widerliche Schwindelgefühl, vor allem, wenn man auf dem Rücken lag. Doch langsam wurde es still, alle waren müde, und die Augen fielen von selbst zu. Die Nacht schien unendlich lang. Keiner traute sich aufzu stehen. Sie hätten gar nicht gemerkt, daß draußen heller Tag war, aber mit einemmal dröhnten schwere Schritte über die Planken. Die Falltür, die aufs Deck führte, öffnete sich, hel les Licht flutete herein, und die Stimmen der Seeleute schall ten zu ihnen herunter. Mit neuem Mut kletterten die Männer, Frauen und Kinder aufs Deck, in der Hand kleine Töpfe aus
Steingut, Blechnäpfe und Kaffeetassen aus Porzellan. Oben blieben sie wie betäubt stehen. Ringsum breitete sich eine endlose Wasserfläche aus. Der Schreck, den sie angesichts dieser Unmenge Wasser emp fanden, verschlug ihnen den Atem. Sie suchten einen festen Halt und schauten auf das Schiff, auf die Taurollen und die Kapitänsbrücke oder noch höher hinauf zu den Rahen, wo sich die mächtigen Segel im Wind blähten. Kaum wagten sie einen Schritt vorwärts, doch schon reihten sie die Matrosen zu einer Schlange, in der Luft hing anregender Kaffeeduft, und der Atem kehrte wieder in die Lungen zurück. Langsam gewöhnten sich die Auswanderer an die neue Umgebung. Die „Harmonie“ war nur ein kleines Segelschiff, aber es brachte nicht nur Menschen, sondern auch Güter über den Atlantischen Ozean. Die Auswanderer hatten sich mit dem Raum zwischen den Säcken, Fässern und Kisten zu begnü gen, die Europa nach Amerika schickte. Zehn Wochen lang mußten die Menschen in dem dunklen Unterdeck des alten Schiffes hausen, wo Rinnsale an den Wänden herabflossen und es an kalten Tagen und Nächten nicht einmal einen Ofen gab, an dem sie sich die starren Hände wannen konnten. Bei heftigen Stürmen verrammelten die Seeleute die Tür zum Deck. Keiner durfte hinauf, damit ihn die Wellen nicht ins Meer spülten. Im Unterdeck aber war es stickig und schmutzig. Mit einem Stückchen Holz kratzten sich die Menschen Ungeziefer aus dem Hemd. Die Unsauberkeit brachte ekelhafte Krankheiten mit sich. Wenn es draußen stürmte, hörte man Jammern und Klagen – die einen weinten, die anderen beteten, und in die sem Durcheinander fielen Bündel von den Wandbrettern, die geringe Habe der Auswanderer wurde durch das heftige
Schaukeln in alle Ecken verstreut; Kisten und Fässer, die sich gelöst hatten, rutschten zwischen den verängstigten Leuten umher, und das Schiff ließ nicht nach, sich aufzurich ten und in abgründige Tiefen zu stürzen… Die Kost war schlecht, das Trockenfleisch versalzen, und das Wasser wurde in kleinen Schlucken zugeteilt. Ein Glück noch, daß der Kapitän freundlich war. Er kannte das Schick sal der Auswanderer, er hatte schon viele Schiffe voll menschlichen Elends aus Europa nach Amerika gebracht. „Für das Salzfleisch kann ich nicht, Kinder, der Schiffseig ner will viel verdienen. Aber wir werden euch wenigstens einen guten Kaffee kochen“, sagte er zu ihnen. Ohne diesen Kapitän wäre die Fahrt noch viel, viel schlimmer gewesen. Auf anderen Schiffen starben Auswanderer zu Dutzenden dahin, an Krankheiten und an Heimweh. Tobten anfangs heftige Herbststürme, so folgte eine Reihe sonniger Tage. Sie kamen gut voran. Ehe sie sich versahen, waren sie mitten auf dem Ozean. Die Küste der Neuen Welt rückte näher, und mit ihr kehrten auch die Sorgen wieder. Noch wußte keiner der Tschechen, was er beginnen sollte. Nicht einmal Martin Räz, der stundenlang am Heck stand und tief in Gedanken der hellen Schaumspur nachschaute, die die „Harmonie“ im blaugrünen Ozean zurückließ. Da führte ihm Josef eines Ta ges einen deutschen Auswanderer zu, mit dem er sich ange freundet hatte. „Sie nehmen uns mit!“ berichtete er Räz er freut. „Wohin?“ fragte Martin und reichte dem neuen Freund die Hand. Hans Schöffler war gebürtiger Münchner, hatte aber beim Schienenlegen ganz Deutschland kennengelernt. Dem jungen, vierschrötigen Mann mit dem braungebrannten Gesicht, dem mächtigen blonden Schnurrbart und den kind lichen blauen Augen konnte man auf den ersten Blick ver trauen, und Martin Räz glaubte auch wirklich alles, was
Hans Schöffler erzählte. „Die Amerikaner bauen die Eisenbahnstrecken so schnell, wie eine Spinne ihr Netz spinnt. Die Arbeit wird gut bezahlt. Viele Freunde von uns sind schon hinübergegangen, und vor kurzem hat Johann Wolter geschrieben: Komm und bring die ganze Gruppe mit, mit der wir an der Strecke BerlinHamburg gearbeitet haben. Er sagt, die Arbeit sei manchmal so lustig, daß es einem beinah zu bunt wird. Sie legen Schie nen durch die Prärie, leben ganz abgeschnitten von der übri gen Welt, schlagen sich mit Indianern herum und beschaffen sich selbst die Verpflegung. Das soll sich in der letzten Zeit aber gebessert haben. Sie brauchen nun nicht mehr jeden Tag Bisonfleisch zu essen. Jetzt gibt’s auch schon Butter und frisches Wasser. Jeder will sich möglichst schnell ein paar Dollars für den Ankauf von Land, Geräten und Vieh zusammensparen. Johann will nach Minnesota gehen und sich dort eine Farm anlegen.“ „Meinen Sie, daß wir auch Arbeit finden?“ fragte Martin Räz. „Bestimmt. Dort hat bis jetzt jeder Arbeit bekommen. Es wird noch viele Jahre dauern, bis man den Osten mit dem Westen verbunden hat. Wir sind dreißig, aber das reicht noch lange nicht.“ Hans Schöffler lachte und führte Martin Räz an eine windgeschützte Stelle, wo sie sich auf Taurollen setzten. „Unsere Leute bringe ich zu Johann nach Dubuque. Diese Stadt liegt am Mississippi, dem größten Fluß Amerikas, ja vielleicht sogar der ganzen Welt. Er ist noch gar nicht er forscht. In Dubuque endet die Strecke vorläufig. Von dort stoßen wir in die Prärie vor, über Iowa, Nebraska und Wyo ming nach Kalifornien.“ „Wie Sie das alles wissen!“ bewunderte Räz Schöfflers
Kenntnisse. Der Deutsche schmunzelte und holte ein Bündel abgegriffener Papiere aus seiner Jackentasche hervor. „Die Karten habe ich von Johann. Er hat sie selbst gezeichnet. Früher mußte er einmal für einen Berliner Landrat Pläne machen. Hier haben Sie die ganze Gegend. Johann hat man chen Abend über diesen Karten gesessen. Wenn Sie mit kommen wollen, bringe ich Sie zu Fuß bis nach Dubuque. In Sachsen habe ich gearbeitet, in Flandern, im Rheinland, in Österreich und auch an der Baseler Eisenbahn. Wir werden zusammen immer schön der Nase nach bis nach Dubuque gehen.“ Die deutschen und die tschechischen Auswanderer berieten sich. Martin Räz legte seinen Landsleuten ans Herz, sich Schöfflers Gruppe anzuschließen. „Wer von uns kennt Amerika? Keiner. Was fangen wir an, wenn wir in Baltimore an Land gehen?“ Der Schneider Sla bihoudek sprang auf eine Pritsche und rief mit dünner Stim me: „Wohin? Dorthin, wo auch die anderen hingegangen sind. Amerika ist ein Land des Wohlstands, dort sind Men schen sehr gefragt, meine Lieben. Ihr werdet sehen, daß Herr Herrmann nicht gelogen hat.“ „Schweig, Slabihoudek!“ sagte der Schmied streng und zog den Schneider von der Pritsche herunter. „Ich will nicht bis zu meinem Lebensende Schienen legen“, erläuterte Martin Räz. „Wir wollen uns nur umschauen, nur ein paar Dollar für Vieh, einen Wagen und Werkzeug verdienen. Dann machen wir uns auf in die Prärie und gründen eine Wirtschaft. Zu nächst aber müssen wir das Land und die Menschen kennen lernen, Slabihoudek!“ Dieser wollte nicht verstehen, er meinte einfach, er würde den ausgetretenen Weg gehen können, wie ihn der unehrli che Anwerber ausgemalt hatte.
„Ich fahr doch nicht nach Amerika, um mich irgendwo in der Steppe mit der Kreuzhacke abzuschinden“, schrie er vol ler Trotz, und seine Stimme schnappte über. „Da hätte ich gleich zu Hause bleiben können, dort hätt’ ich’s besser ge habt, viel besser!“ An diesen Worten war manches wahr, und deshalb gelang es Slabihoudek, einige junge Auswanderer schwankend zu machen. So teilten sich die Tschechen in zwei Gruppen: Die größere wollte mit Räz nach Dubuque gehen. Auch die Schmiedin mit ihrem Sohn und die beiden Jandas waren darunter. Slabihoudek schlossen sich fünf abenteuerlustige ledige Weber an. Wohin sie gehen würden, wußten sie noch nicht, aber sie stolzierten hocherhobenen Hauptes auf Deck herum und lachten die Einfaltspinsel aus, die in die Neue Welt gin gen, um irgendwo an einer Eisenbahnstrecke mit der Kreuzhacke in der Hand zu arbeiten. Sie selbst würden auch graben, aber nach etwas anderem. Nach Gold! Sie würden nach Kalifornien gehen, in das schönste Land der Welt, und wenn sie zu Fuß die ganze Prä rie durchqueren müßten. Was ist die Prärie schon? Eine gro ße Wiese. Die Schlangen? Kennen wir, davor fürchten wir uns nicht. Die Indianer? Wir kaufen uns Flinten, und wenn wir losschießen, hauen sie ab. So einfach und kindlich malten sie sich alles aus. Sie hock ten ständig beisammen, hatten im Unterdeck schon ihren eigenen Winkel, und bis spät in die Nacht hörte man Slabi houdeks aufgeregtes Flüstern, aus dem sich die Worte Eldo rado, Gold und Herr Herrmann heraushoben. Noch später, wenn alle eingeschlafen waren, konnte man Weinen hören. Die Slabihoudkova glaubte ihrem Mann nicht, und sie fürchtete sich vor diesem Eldorado. Sie wäre
lieber mit Martin Räz gegangen. Der Zwist der Großen wirkte sich aber nicht auf die Freundschaft der Kleinen aus. Wie sonst auch saß Vojta Räz mit der kleinen Justinka Slabihoudkova an einem windge schützten Ort hinter den mächtigen Schiffstaurollen. Nach dem sie sich an den Delphinen satt gesehen hatten, die das Schiff in weiten Kreisen umschwammen, schlüpften sie in ihr „Stübchen“, wie Justinka die Ecke zwischen den Tauen, den Kisten und der alten ausrangierten Winde nannte. Vojta erzählte von dem merkwürdigen Land, in das sie fuhren. Der neunjährige Junge wußte zwar selbst nicht viel darüber, und das, was er wußte, übertrieb er noch ordentlich, aber Justinka war sechs Jahre alt; sie hatte große schwarze Augen, mit denen sie den „klugen“ Vojta bewundernd anschaute, und diese Bewunderung tat Vojta wohl. Er erzählte: „Dort gibt es auch Mohren, die sind ganz schwarz, und dann Indianer, die sind wieder ganz rot.“ „Aber warum denn?“ fragte Justinka entsetzt. Noch vor kurzem hatte sie sich vor dem Schornsteinfeger gefürchtet. „Weil sie schon so zur Welt gekommen sind“, belehrte der „kluge“ Vojta das Mädchen. „Alle Menschen sind eben nicht weiß.“ „Gibt es auch grüne?“ wollte Justinka wissen, und Vojta überlegte lange. Nein, von grünen hatte er noch nichts ge hört. Aber es wäre ganz schön, wenn es welche gäbe, und deshalb phantasierte er: „Die gibt’s auch, Justinka. Je kälter es ist, um so grüner sind die Menschen. Je heißer es ist, um so schwärzer sind sie.“ Justinka dachte wieder an die Mohren, und sie fing an, sich zu fürchten. „Dort wird es heiß sein wie im Ofen, nicht wahr?“ „Ja.“ Vojta nickte gleichmütig. „Doch daran gewöhnst du
dich. In kurzer Zeit wirst du schwarz sein wie die Mohren, und dann kommt es dir gar nicht mehr so heiß vor.“ Justinka wußte nicht, ob sie sich freuen oder ob sie weinen sollte. Schön wäre es schon, ganz schwarz nach Hause zurückzu kommen. Die Kinder würden staunen und sie beneiden, und die Großmutter würde sehr erschrecken. Aber dann malte sich ihr kleiner Verstand ein anderes Bild aus: Justinka ganz in Weiß, wie eine Kranzjungfer beim Fronleichnamsfest. Und ihr Gesichtchen ist schwarz, und die Hände sind schwarz, und die Füße sind schwarz. Um Justinkas Lippen begann es zu zucken, in die Augen traten Tränen. Vojta lenkte rasch ab: „Heul nicht, dummes Ding, daran gewöhnst du dich. Die Indianer sind auch nicht ganz weiß, und wie ihnen das steht! Und erst die Federn! Alle Indianer tragen Federn!“ „Wie Hühner?“ platzte Justinka heraus und hörte auf zu weinen. „Noch mehr. Sie nähen sich Federn an der Mütze und am Hemd fest und ziehen so in den Kampf oder gehen auf die Jagd oder ins Wirtshaus. Je nachdem, wozu sie gerade Lust haben.“ Doch bevor Justinka antworten konnte, zog sie Vojta an der Hand in ihr Versteck zwischen den Schiffstauen und flüster te: „Der alte Janda.“ Der alte Mann schlurfte auf das Heck des Schiffes zu, wo es öd und leer war. Mit der einen Hand stützte er sich auf die Reling, in der anderen hielt er den Käfig. Als er das Heck erreicht hatte, ließ er seinen Blick lange auf dem Käfig ru hen, dann öffnete er ihn und langte hinein. „Er will ihn he rauslassen“, flüsterte Vojta, und beide Kinder beobachteten atemlos die Hand des Alten. Jetzt öffnete sie sich – aber der Vogel flog nicht davon. Er lag tot da. Ein gelber, unbewegli
cher Fleck. Die Kinder begriffen, und Tränen traten in Ju stinkas Augen. Sie traute sich aber nicht zu schluchzen, denn Vojta hatte ihr befohlen, still zu sein, und so beobachtete sie den alten Janda nur stumm. Jetzt trat er dicht an die Reling und drehte die Hand langsam über dem Meer um. Der gelbe Fleck fiel hinab. Die Schultern des Greises zuckten. So stand er eine Weile da, den Blick auf das Wasser geheftet, dann hob er den Käfig und warf ihn ebenfalls ins Meer. „Er ist gestorben“, flüsterte Justinka, und nun weinte sie haltlos. Der Alte stützte sich mit beiden Händen auf die Reling und weinte auch. „Komm!“ sagte Vojta entschlossen. Er griff Justinka bei der Hand, und sie liefen aus ihrem Versteck heraus. Der Alte rührte sich nicht, auch dann nicht, als ihm Vojta ungeschick te jungenhafte Worte des Trostes sagte und Justinka an sei nem Ärmel zog. Erst als die Kinderfinger seine runzlige Hand streichelten, seufzte er auf, sagte aber kein Wort. Er ließ sich von den Kindern zu dem windgeschützten Platz führen, zu den Taurollen, wo sich alle drei hinsetzten und schwiegen. Und sie dachten an den Vogel, der sie an die Heimat erinnerte. Mit einemmal kam Wind auf. Das Segel knatterte über ih ren Köpfen, und aus dem Ausguck erklang ein langgezoge ner Ruf. Die beiden Kinder und der alte Mann kehrten in die Wirklichkeit zurück. „Ich hätte es nicht tun sollen“, flüsterte der Greis einige Male. Vojta begriff. Er wollte den Alten trösten, er wollte ihm sa gen, daß alles gar nicht wahr sei, daß das Schiff plötzlich wenden und wieder zurückfahren werde, nach Hause, zurück zu dem Garten mit den Apfelbäumen und dem Zimmerchen
mit den weißen Gardinen – aber es war schon zu spät: der Posten im Ausguck hatte Land erblickt. Am 12. Oktober 1854 ging die „Harmonie“ im amerikanischen Hafen Balti more vor Anker. Mississippi – Vater der Ströme Ein Zug ratterte über eine Eisenbahnbrücke des Susque hanna-Flusses. Er stürmte in die dunkle Nacht hinein und stieg die Gebirgsrücken der Alleghanies hinan. Im Morgen nebel fuhr er in die Ebene hinab und blieb schließlich auf den weitläufigen Gleisanlagen des Pittsburger Bahnhofs ste hen. Aus Hochöfen loderten Flammen zum trüben Himmel empor. Rauch und Dampfwolken wälzten sich über die Stadt. Die Tschechen saßen auf den Holzbänken des geräumigen Waggons und schwiegen. All die neuen Eindrücke: die Ber ge, die Weite des riesigen Landes, Pittsburg – hatten sie ein geschüchtert. „Ihr habt von Indianern, von Steppen gespro chen. Seht mal, dort stehen auf einem einzigen Fleck so viel Fabriken, daß einem die Augen übergehen.“ Keiner antwor tete dem alten Janda. Sie preßten die Gesichter an die schmutzigen Scheiben und schauten hinaus. Noch waren sie alle beisammen. Nach dem Plan Hans Schöfflers sollten sie mit dem Zug bis zum Hafen Rock Island am Mississippi fahren und von da mit dem Schiff stromaufwärts nach Dubuque. Slabihoudeks Gruppe dagegen wollte in Rock Island auf das andere Ufer übersetzen und sich auf den Weg ins Unbekannte, in die Prä rie, auf die Suche nach dem Glück machen. Die Eisenbahn fahrkarten hatten viel Geld gekostet. Mancher mußte sich von seinen letzten Ersparnissen trennen, und Marie Razovä weinte um ihr goldenes Kreuz. Jetzt aber saßen sie in der
Eisenbahn und fuhren dem neuen Leben entgegen. Am dritten Tag tauchte die Stadt Cincinnati am Horizont auf. Justinka hatte eine ganze Weile zu tun, bevor sie diesen merkwürdigen Namen richtig aussprechen konnte. Es war eine schöne Stadt in einem malerischen Tal. An den Hängen grünten Weinberge. Als sie näher kamen, sahen sie Garten häuser, dann Stadtbauten, die immer größer wurden, und schließlich blickten die Auswanderer in das übliche düstere Gesicht einer Fabrikstadt. Das war nach Pittsburg die zweite riesige Stadt, die sie sa hen. Sollte dieser Slabihoudek nicht doch recht haben? Wo es solche Städte gab, mußte sich doch leicht Arbeit finden lassen. Ob sie nicht doch besser mit ihm gingen? Ehe sie diesen Gedanken zu Ende überlegt hatten, raste der Zug donnernd über einen Viadukt, der sich über den Fluß Ohio spannte, und mit einem Schlage waren sie in der Prä rie. Die Siedlungen verschwanden. Keine Farm war mehr zu sehen. Zu beiden Seiten der Strecke dehnte sich eine unüber sehbare Ebene. Riesige Felder mit dunklen vertrockneten Maisstöcken machten weiten Grasflächen Platz. Aus spärli chem Gesträuch flog ab und zu ein Schwarm Präriehühner auf. Nirgends standen Bäume. Dem Zug entgegen kam eine Staubwolke. Eine Bisonherde jagte an dem rauchenden Un geheuer vorüber. Und dann sahen sie stundenlang und mei lenweit nichts als öde, trostlose Grassteppe, die am Horizont mit dem Himmel verschmolz. Slabihoudeks Leute schwiegen. Der Anblick der öden Flä che nahm ihnen doch den Mut. Schließlich endete die Prärie, und der Zug fuhr wieder durch Siedlungen, Farmen wechsel ten mit kleinen Städten aus neugebauten Holzhäuschen. Die Eisenbahngleise liefen durch die Hauptstraßen, sie durch
schnitten Torffelder, zogen sich an Sümpfen vorbei, tauchten hin und wieder in einem Fichten- oder Ahornwald, einem Zedern- oder Zypressenhain unter – doch die gelbe und graue Prärie herrschte vor, ausgedorrt und unendlich weit. Breitschultrige bärtige Männer stiegen zu. Ihre Kleidung und ihre Hüte waren zerrissen, am Gürtel trugen sie Revolver. Zunächst verbreiteten sie Angst und Schrecken, doch als sie mit den Auswanderern ins Gespräch kamen, drangen den Tschechen vertraut klingendes Polnisch und Russisch ins Ohr. Sie erfuhren, daß diese vierschrötigen, bärtigen Kerle vor Jahren genauso schüchtern hergekommen waren wie sie jetzt. Von ihnen erhielten sie die ersten wahrheitsgetreuen Berichte über Amerika. Es war kein leichtes Leben. In die sen Tagen brachen viele Menschen nach Omaha auf, um von da weiter bis zu den Black Hills zu marschieren, zu den Schwarzen Bergen. Dort hatte man gerade Gold gefunden. Slabihoudeks Augen leuchteten auf… Black Hills, Black Hills – klingt es erregt aus allen Ecken des Waggons. Keiner denkt an die Gefahren, die zwischen ihnen und den sagen haften Schätzen liegen. Und wieder steigen Menschen ein, mit Pelzmützen und Gürteln aus Büffelhaut. Auch Frauen sind dabei, kleine Kin der auf dem Arm. Von aller Lippen klingt es: Black Hills! Neue Waggons werden angekoppelt, der Zug fährt immer langsamer durch die unendliche, mit Gras und Heidekraut bedeckte Ebene. Hin und wieder stehen einfache Holzkreuze an der Strecke, oder die Hütte eines einfachen Siedlers taucht auf – meist in der Nähe eines Bahnhofs, eines einfa chen Holzhauses, des ersten und ältesten Gebäudes einer künftigen amerikanischen Stadt. So verbringen die Auswanderer schon den vierten Tag. Am fünften Tag endlich sind sie am Ziel: Der Mississippi. In
Dunstwolken gehüllt, wälzt er sich nach Süden, quer durch das amerikanische Land, ein riesiger Strom. Tausende Kilo meter mißt sein Lauf von der Quelle bis zur Mündung im Golf von Mexiko. Er ist unersättlich, auf seiner langen Reise von der kanadischen Grenze zum Ozean wird er von Hun derten Flüssen und Bächen mit Wasser gespeist. Jetzt im Oktober ist der Vater der Ströme ruhig, aber im Frühjahr, wenn in den Bergen der Schnee und das Eis auf den Seen schmilzt und starke Regenfälle niedergehen, steigt das Was ser über die Ufer, und die graue Flut ergießt sich in die Prä rie. Die Wellen treiben herausgerissene Zypressen, Pappeln und Zedern vor sich her. Diese bohren sich an flachen Stel len in den schlammigen Grund, und über Nacht entstehen neue Inseln aus angeschwemmten Zweigen, Präriegras und Schlamm. Der Mississippi, dieser unergründliche Strom mit seinen Tausenden Inseln, Flußarmen und Buchten, ist der Ernährer der Tschippewä und der Fischer von Louisiana, aber auch der Vernichter der Farmen von Minnesota und der Plantagen von Arkansas. Er ist gut und böse, wird geliebt und gehaßt. „Ein schrecklicher Fluß!“ flüsterte der alte Jan da. „Herrlich!“ rief der Weltenbummler Hans Schöffler; genau so hatte er sich den berühmten Fluß vorgestellt. Er verglich ihn mit den ihm bekannten Strömen, aber sowohl der Rhein als auch die Elbe zogen bei diesem Vergleich den kürzeren. Slabihoudek lächelt siegessicher. Dieser großartige Strom bestätigte all das, was Herr Herrmann gesagt hatte: Amerika ist ein Land der Wunder. Hier war ein Fluß, wie man ihn noch nie gesehen hatte, und hinter diesem Fluß lag das Eldo rado, das Paradies auf Erden! Die anderen schwiegen. Sie waren die Silhouette des Ad lergebirges, ihren holprigen Marktplatz und den abgegriffe
nen Webstuhl gewohnt. Und jetzt das Meer, Pittsburg, die Prärie, der Mississippi. Sie kamen sich fremd und hilflos vor und waren froh, daß Martin Räz und Hans Schöffler bei ih nen waren, die in aller Ruhe mit einem Hafenangestellten sprachen und sich den Preis der Schiffskarten nach Dubuque sagen ließen. Wie ein Pfeil schoß ein riesiges Floß, das Güter geladen hatte, aus dem nebligen Dunst. Es zog an ihnen vorüber, und schon ging der Fährdampfer vor Anker, mit dem Slabihou dek und die Seinen auf das andere Ufer fahren wollten. Sla bihoudek verabschiedete sich, er schien sehr niedergedrückt und sprach ungereimtes Zeug. So meinte er, daß sie sicher lich wieder einmal zusammentreffen würden, daß er ihnen dann aus dem Schlamassel heraushelfen und sie alle in sein Eldorado bringen werde. Die Slabihoudkova jammerte laut, aber Fahrgäste stürmten auf den Dampfer und rissen auch die kleine tschechische Gruppe mit. „Leb wohl, Justinka!“ rief Vojta dem Madchen nach. Es drehte sich um und wink te. Gewiß dachte sie, daß sie morgen wieder mit Vojta zu sammentreffen und ihm dann von dem Dampfer mit dem riesigen Rad erzählen würde, von dem Schiff, auf dem ein Haus gebaut war und an dessen Bug eine geschnitzte Engels figur stand. Der Fährdampfer verschwand im Nebel. Noch sah man sein Heck, da näherte sich schon ein grauer Koloß der Anlege stelle, der an der Seite die rote, in Gold eingerahmte Auf schrift „New Orleans“ trug. Der große Transportdampfer hatte ein zweigeschossiges Deck, das von einer weißen Reling umgeben war. Verglaste Fenster mit geblümten Gardinen schmückten die strahlende Fassade.
In der Mitte dieses schwimmenden Hauses qualmten zwei schlanke Schornsteine, von starken Drahtseilen festgehalten. Am Heck des Schiffes drehte sich ein mächtiges Schaufel rad. Der Dampfer war überfüllt. Die Fahrt nach Dubuque kostete nicht einmal einen Dollar, allerdings im Unterdeck zwischen der Ladung, die aus Baumwolle und Trocken fleisch bestand, gemeinsam mit Reisenden aus den Südstaa ten, die zum größten Mississippihafen im Norden, nach St. Paul fuhren. Nur im Vorbeigehen konnten die Tschechen durch die halboffenen Türen einen Blick in die Schiffssalons werfen, die mit Spiegeln, Marmor und Goldstuck verziert waren und in denen Menschen zu fröhlicher Musik tanzten. Hier auf dem Schiff sah Vojta zum erstenmal Neger aus der Nähe. Halbnackt, in ausgefransten gestreiften Hosen, verrichteten sie die gröbsten Arbeiten auf dem Schiff. Jeder schrie sie an, und als sie mit Kübeln kamen, um die Gänge zum Unterdeck
zu wischen, stand ein Matrose mit finsterem Gesicht und einer Peitsche in der Hand bei ihnen. „Schlägt er sie, Vater?“ flüsterte der Junge, und Räz erzählte ihm alles, was er über die Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten wußte. „Die großen Herren haben schwarze Menschen zur Arbeit. Aus ihrer Heimat, aus Afrika, haben sie sie hergebracht. Dort fangen die Sklavenhändler sie in den Wäldern ein, le gen sie in Ketten wie wilde Tiere, bringen sie auf ein Schiff und transportieren sie her. Auf dem Sklavenmarkt kauft sich der Herr einen Sklaven, er ist sein Eigentum, und er kann mit ihm tun, was er will. So wie ich mit meiner Pfeife oder du mit deiner Schleuder. Ein Sklave findet nirgends Schutz. Sein Herr kann ihn auch töten, und es tut ihm deswegen kei ner etwas.“ „Warum tritt niemand für die Neger ein?“ „Die reichen Plantagenbesitzer sind gefürchtet. Die Men schen haben Angst vor den Reichen. Du weißt doch, wie wir in Usti vor Herrn Samuel Heller, vor den Faktoren, dem Gendarmeriehauptmann und dem Bürgermeister den Hut gezogen haben…“ „Ich hab keine Angst“, sagte Vojta, vom Schicksal der Ne ger gerührt. „Ich möchte ihnen gern helfen, aber wie, Va ter?“ „Allein richtest du nichts aus.“ Martin Räz zuckte die Schultern. „Aber behandle sie wie Weiße, lach sie freundlich an, beleidige sie nicht und hilf ihnen. Du wirst sie aufmun tern, und sie werden wissen, daß nicht alle Weißen gleich sind Er legte dem Sohn die Hand auf die Schulter: „Am Abend sind wir in einer fremden Stadt, und ich werde dort arbeiten. Wer weiß, wie wir leben müssen. Wirst du dich um die Mut ter und um Poldi kümmern?“
Vojta kehrte dem Vater sein sommerprossiges Gesicht zu, dann zwinkerte er und nickte. Gegen Abend ging die „New Orleans“ an der Landebrücke in Dubuque vor Anker, und Martin Räz machte sich mit Hans Schöffler auf, ein Obdach zu suchen. Die zwölf Tschechen setzten sich auf ihre schmutzigen Bündel und die abgeschabten Kisten und schauten in das trübe Wasser des Mississippi, von dem Feuchtigkeit, Kälte und Trauer aufstiegen. Es wurde dunkel. In den kleinen Fen stern der Holzbaracken und der Blockhäuser leuchteten gel be Lichter auf. Das Grölen betrunkener Männer war zu hö ren. Jemand schoß. Das Schreien verstummte kurze Zeit, dann wurden erneut Stimmen laut. Zwei, drei… zehn. Es erklang Musik, hartes Lachen und ein Lärm, der sie er schreckte. Wie still und friedlich es um die Zeit in der Hei mat, am Fuß des Adlergebirges, war. Die Menschen gingen zur Ruhe. Die Abendglocken läuteten, ein Duft von Holz lag in der Luft, die Feuer gingen aus, und die Hunde krochen in ihre Hütten. Langsam verlöschte das Abendrot, und aus den Wäldern drang eine angenehme Kühle ins Tal, eine ganz andere Kühle als diese häßliche kriechende Kälte, die sich von dem mächtigen, wirbelnden Strom heraufstahl… Es war schon finster, als Martin Räz zurückkam. Die Deut schen waren bei Wolter geblieben, aber dort konnte niemand mehr unterkommen, so eng war es. So verbrachten die Tschechen die Nacht in einem halbzerfallenen großen Blockhaus am Rande der Stadt. Der Wind hatte das Dach zerstört, von allen Seiten zog es unbarmherzig, aber sie wa ren todmüde und schliefen bald ein. Am Morgen irrte Martin Räz zwischen den Blockhäusern, den Holzbuden und Erdhöhlen umher, konnte aber die Baracke der Deutschen nicht mehr finden. Dubuque war sozusagen über Nacht entstan
den. Es gab ein paar Steinhäuser mit kleinen Balkons und schmalen Fenstern, vor denen grüne Jalousien hingen. An sonsten sah man nur Blockhäuser und neue Holzbuden, die die Sonne noch nicht schwarz gebrannt hatte, überall herrschte Unordnung, wie in jeder Siedlung, die neu ent steht. Die Eisenbahngesellschaft Burlington & Quincy, die die Strecke von Dubuque nach Südwesten gebaut hatte, versorg te die ganze Stadt. Martin Räz kam an einem niedrigen, langgestreckten Holzbau vorbei, der in Goldbuchstaben die Aufschrift SALOON trug. Die Tür stand offen, man hörte Grammophongeplärr und rauhes Lachen. Vor dem Wirts haus standen ein paar Männer mit breiten Hüten, die Hosen in halbhohen Stiefeln und die Daumen unter den breiten Le dergürteln, an denen zwei Pistolentaschen hingen. Ihre Auf merksamkeit galt dem schneidigen Marsch, den der plärren de Kasten von sich gab. Die Baracken glichen sich wie ein Ei dem anderen; Hans Schöffler war nirgends zu finden. Vor einem großen Gebäu de mit vergitterten Fenstern und der Aufschrift BURLING TON & QUINCY warteten viele Menschen. Martin Räz hör te, wie sie sich in mehreren, ihm unbekannten Sprachen un terhielten. Hier war so ungefähr die ganze Welt versammelt ~ warum sollte Martin Räz nicht auch dabeisein? Als er nach zwei Stunden schließlich an der Reihe war, stellte man ihn und seine übrigen Landsleute als Tagelöhner beim Bau der Eisenbahnstrecke ein. Als er zu ihnen zurückkehrte, blieb er überrascht auf dem ausgefahrenen Weg stehen. Das Dach war repariert, die lee ren Fenster mit Brettern vernagelt, der Fußboden ausgebes sert, die Fugen abgedichtet und der Schmutz hinausgefegt. An der Spitze der Helfer standen Josef und die Schmiedin.
„Ein prima Häuschen“, lobten sie. „Unten seid ihr, die Brü zeks und die Hampls, oben wir mit den anderen. Und jetzt erzähl, was du ausgerichtet hast.“ Am Morgen darauf traten die Männer zur Arbeit an. Sie er hielten eine Kreuzhacke, einen Karren und eine Schaufel und gingen an die Strecke. Am Abend kehrten sie todmüde zurück, der Rücken schmerzte, die Handflächen waren hart wie Stein, aber in der Tasche steckte ein Dollar, manchmal auch zwei. Es fiel Schnee, ein harter Winter zog ins Land, und die Tschechen drängten sich alle in den unteren Räumen zusammen. Josef baute aus Blech und Eisenstangen einen urkomischen Ofen. Sie heizten mit Holz und mit Holzkohle. So lebten sie armselig auf einem Haufen, aber mit der Zeit verstanden sie sich immer besser, die gemeinsame Sehn sucht nach der Heimat und die gemeinsame Hoffnung auf ein besseres Leben verband sie. Keiner beklagte sich, nur der alte Janda rührte sich nicht aus seiner Ecke heraus und ver brachte den ganzen Tag auf dem feuchten Stroh. Er lag da und jammerte leise vor sich hin. Er schien vor ihren Augen dahinzuschwinden, so magerte er ab. Das Heimweh be drückte ihn. Er als einziger sehnte sich nicht nach Geld. Für die anderen aber bedeutete jeder Dollar einen Schritt weiter zur Verwirklichung ihrer Träume. Sie aßen nur einmal am Tag und ernährten sich meist von billigen getrockneten Maisfladen, die sie auf der heißen Ofenplatte aufbuken. „Wieder ein Dollar! Jetzt reicht’s schon für eine Kuh. Und jetzt für einen Wagen. Für fünf Hühner. Für einen Pflug. Für ein Pferd.“ Sie dachten an Slabihoudek: „Was der wohl treibt? Er hat’s bestimmt besser als wir; aber wir werden’s schon schaffen, und dann soll er sehen!“ „Mag er tun, was er will“, meinte die Schmiedin hart, „er
hat uns verraten. Glaubt bloß nicht, daß es ihm besser geht als uns. Jedes Ding hat zwei Seiten.“ Der Kohlenofen warf Wärme in die Dunkelheit. Die in Lumpen, alte Röcke und Stroh gehüllten Menschen drängten sich dicht aneinander. Sie hatten es warm und ein Dach über dem Kopf. Aber auch um dieses Geringe beneideten sie we niger Glückliche. Eines Nachts – sie schliefen schon – erscholl vor der Blockhütte ein Schrei. Bevor sie sich nur gefaßt hatten, schlug jemand die Tür ein, und ein paar dunkle Gestalten drangen ins Innere. Martin Räz sprang auf, aber die Ein dringlinge stießen ihn auf das Stroh zurück und riefen irgend etwas auf englisch. Durch die eingeschlagene Tür drang das Mondlicht herein, und die Auswanderer blickten voller Ent setzen in rohe Gesichter und zwei oder drei Colts. Die Ab sicht der Eindringlinge war klar: sie wollten die Tschechen aus der Blockhütte vertreiben. Sie jagten sie in die frostige Nacht hinaus, stießen mit den Füßen nach den Langsameren, die noch auf dem Stroh lagen, und verschonten nicht einmal die Frauen. Die Männer wehrten sich, die Frauen schrien, und diesen ganzen Lärm übertönte die hohe Stimme der Schmiedin: „Schlagt sie, die Mörder, verprügelt sie!“ Bloße Hände aber waren zu schwach gegen die bewaffneten Fein de, und schon schien es, als würden die Tschechen unterlie gen. Einen aber feuerte der Ruf der Schmiedin an und ver lieh ihm geradezu übermenschliche Kräfte. Josef schoß aus seiner dunklen Ecke hervor, den Schmiedehammer in der starken Hand. Er rannte vor, und die schreckliche Waffe fiel nieder wie ein Dreschflegel auf die Tenne. Die Tenne aber waren die Schultern, die Rücken und die Köpfe der Ein dringlinge. Die Überraschung war vollkommen. Sie brüllten auf und suchten eiligst das Weite. Schon hatte sich der junge
Janda wieder gefaßt, Räz und Brüzek sprangen auf, und die anderen Männer und Frauen packten, was ihnen gerade in die Hand fiel, einen Stuhl, einen Ziegelstein, die Messing pfanne, und rannten hinter der Bande her. Die Männer ver schwanden in der Mondnacht wie Gespenster. In dem zer wühlten Stroh aber hatten sie böse Andenken hinterlassen: zwei Colts. Die Schmiedin wog sie in einer Hand, nickte anerkennend und reichte den einen Martin Räz, den anderen ihrem Sohn. Die beiden Männer wußten diese Ehre zu schät zen. Räz schob den Colt in die Tasche, Josef aber hielt die Waffe verlegen in der offenen Hand und gab sie dann der Mutter zurück. „Mir genügt das hier“, sagte er einfach; seine Hand um schloß den Schmiedehammer noch fester. So bekam der jun ge Janda die Waffe. Nach diesem nächtlichen Zwischenfall begriff der junge Vojta, warum man diese Gegend den „Wilden Westen“ nannte. Die stürmische Nacht in Dubuque war die erste Leh re, die Vojta in seiner neuen Schule des Lebens erhielt. Die zweite ließ nicht lange auf sich warten. Der junge Janda begann sich nachts herumzutreiben. Er sagte zu keinem ein Wort, kam von der Arbeit nicht gleich heim, sondern traf erst gegen Morgen ein. Alles Zureden des Vaters war vergeblich, und so machte sich Martin Räz schließlich eines Nachts auf, den jungen Janda zu suchen. Er ging gleich an den richtigen Ort. Durch ein unverhülltes Fenster des „Saloons“ bot sich ihm ein in teressantes Bild. Am Ausschank standen mehrere, meist be trunkene Männer mit Gläsern in den Händen. An einem gro ßen Tisch saßen Spieler hinter kleinen Haufen Münzen und Banknoten. In der Mitte des Tisches drehte sich ein großes Rad. Als es stehenblieb, fiel eine schwarze Kugel in eine
Vertiefung, die eine Zahl trug. Eine grüne Tafel lag auf dem Tisch, sie war in quadratische Felder eingeteilt, und jedes Feld trug eine rote Nummer, von eins bis zweiunddreißig. Auf diesen Zahlen lagen Geldscheine und Münzen. Nach jedem Spiel zahlte der Mann, der das Rad in Drehung ver setzte, ein paar Gewinne aus, und das restliche Geld schob er in eine Holztruhe, die ein dicker bewaffneter Mann auf den Knien hielt. Es gab wenig Gewinne, aber wie verblendet setzten die Männer immer wieder und verspielten ihr Geld. Der junge Janda saß dem Fenster gegenüber, und Martin konnte in sein gequältes Gesicht sehen. Er schien zu verlieren, Aber er setzte von neuem und verlor wieder. Schließlich hatte er den letzten Dollar verspielt, er schaute sich ratlos um, jemand stieß ihn vom Tisch fort, und Janda wankte hinaus. „Muß das sein, Alois?“ fragte Martin leise. Gemeinsam schritten sie durch die Winternacht, und der junge Mann schüttete sein Herz aus. „Am Dreikönigstag hatte ich einen halben Dollar gesetzt. Sofort gewann ich fünf Dollar, aber dann verlor ich alles wieder. Nach jeder Lohnzahlung hat es mich hierher gezo gen, ich wollte das verlorene Geld zurückhaben. Ich setzte mein ganzes Geld – und gewann! Das war in der vergange nen Woche. Ich hatte – stell dir vor, Räz –, ich hatte fast dreihundert Dollar – und ich sagte euch nichts davon!“ Dreihundert Dollar, das bedeutete ein Paar Ochsen oder ei nen Wagen mit Plane. Einen Pflug, ein Pferd, Hühner, Gerät. „Ich wollte noch mehr haben. Ich malte mir aus, wie ich euch eines Tages sagen wollte: Wir sind reich, hier habt ihr ein paar Tausender, morgen machen wir uns auf den Weg nach dem Westen… Zunächst habe ich vorsichtig gesetzt, dann wurde ich kühner, und nach kurzer Zeit waren die drei
hundert Dollar und der Ring und auch das Paar Reserve schuhe weg, das ich von zu Hause mitgebracht hatte. Jetzt hab ich gar nichts mehr, Martin. Ich bin ein Lump…“ Unter Tränen versprach er Martin, sich niemals mehr an den ver fluchten Tisch mit den roten Zahlen und der Aufschrift „Roulett“ zu setzen. Das Frühjahr kam. Die braunen Fluten des Mississippi stie gen aus ihrem Bett und überschwemmten die ganze Gegend. Das Wasser strömte in die Stadt und verwandelte die Straßen in Sümpfe. Die Tschechen mußten in das erste Geschoß des Blockhauses umziehen; sie verbrachten hier lange Tage und Nächte, denn die Arbeit auf der Strecke ruhte. Die Erspar nisse nahmen ab, und alle drehten jeden Cent fürs Essen dreimal um. Kaum hatten sie einen Bissen geschluckt, schauten sie zum Fenster hinaus, um zu sehen, was der Mis sissippi, dieser böse Vater der Ströme, trieb, der ihre schö nen Hoffnungen auffraß. Endlich kam der März. Das Wasser fiel, und die kahle Prä rie begann zu grünen. Die Welt schaute wieder freundlich aus, um so mehr, als sich die Tschechen schon in die neue Welt eingewöhnt hatten. Jetzt ließen sie sich nicht mehr bei der Auszahlung übers Ohr hauen, sie hatten gelernt, die Hacke richtig anzupacken, und da seit dem Frühjahr auch die Frauen mit ihnen arbeiteten, nahmen die Ersparnisse wieder zu. Nur der junge Janda bereitete ihnen Sorgen. Das Roulett war stärker als alle guten Vorsätze. Martin versteckte Jandas Schuhe, aber dieser kroch mit bloßen Füßen durchs Fenster. Sie redeten ihm gut zu, er gelobte Besserung, doch am näch sten Tag ging er wieder spielen. Am ersten Frühlingstag saßen die Tschechen abends vor dem Blockhaus, sprachen über ihre Pläne, und da sahen sie
ein Fahrzeug den schmalen, stark ausgefahrenen Weg heran rollen. Der „Schoner der Prärie“, wie man die mit einer Pla ne bedeckten Auswandererwagen bezeichnete, wurde nur von einem einzigen Paar ausgemergelter Ochsen gezogen. Vor dem Fahrzeug gingen zwei Menschen, ein Mann und eine Frau. Als sie näher kamen, sprangen alle auf und liefen ihnen entgegen. Und schon schloß Martin Räz den Schneider Slabihoudek in die Arme, die Schmiedin küßte die abgema gerten Wangen der Slabihoudkovä, und Vojta setzte sich auf den Bock an Justinkas Seite, deren Gesicht verdächtig blaß aussah. „Du hast recht gehabt, Martin“, sagte der Schneider nach der Begrüßung. „Es ist besser, erst einmal Land und Leute kennenzulernen. Das hat mir Herr Herrmann nicht gesagt, der Halunke. Jetzt kenne ich Land und Leute – und wie ich sie kenne, mein Lieber! Und ich sage dir, Martin, das Leben hier wird uns verdammt schwer werden.“ Nun erzählte er von ihrer schrecklichen Fahrt durch die herbstliche Prärie, vom Hunger, von der vergeblichen Wanderung durch unbe kannte Gegenden. Schließlich waren sie in einer kleinen Ort schaft geblieben, hatten sich eine Höhle in einen Hang ge graben, sie mit Rasenstücken ausgelegt und so überwintert. Als das Frühjahr nahte, entschlossen sich die jungen Weber, nach Kalifornien weiterzuwandern. Slabihoudek aber hatte seine Lehre weg. Er kehrte lieber zu den Freunden zurück. Jetzt, als er wieder unter ihnen saß, war er froh, bei diesem gefährlichen Abenteuer mit dem Leben davongekommen zu sein und mit einem Wagen und einem Paar Ochsen zurück zukehren, die sie unbedingt für die gemeinsame große Reise brauchen würden. Schon am nächsten Tag arbeitete Slabihoudek mit ihnen auf der Strecke, aber nicht lange, denn alle erkannten, daß
diese Knochenarbeit für den Schneider den Tod bedeuten würde. Und so eröffnete Slabihoudek in der halbzerfallenen Blockhütte eine Schneiderwerkstatt. „Tailor for ladies and gentlemen“, kündigte dreist eine mit Rötel geschriebene Schrift von der abgeplatzten Wand: Da men- und Herrenschneider. Zunächst besserte Slabihoudek zerrissene Hosen aus und nähte Knöpfe an Buschjägerjacken. Doch bald hörten die Leute von dem neuen Schneider. Sie fuhren bis nach St. Paul, um Stoff zu kaufen, und so konnte Slabihoudek nach langer Zeit wieder zu Metermaß und Schere greifen. Er ar beitete ehrlich und billig, und schon bald darauf erhielt er so viel Bestellungen, daß ihm die Slabihoudkova helfen mußte. Als sich alles so zum Besseren wendete, brach am anderen Ende der Stadt die Cholera aus. Mit unheimlicher Ge schwindigkeit sprang sie vom Lager der Iren auf ganz Du buque über, denn es hatte zu regnen begonnen und wurde heiß. Die Cholera wählte nicht lange: die Menschen erkrank ten und starben dahin, Deutsche, Iren, Russen, Italiener, Tschechen. Martin bangte am meisten um die Kinder, aber die böse Krankheit schien Mitleid mit ihnen zu haben. Eines traurigen Abends starb der alte Janda. Erschüttert standen sie vor ihrem ersten Toten, und später begruben sie ihn am Mis sissippi. Zum Abschied sangen sie das Lied „Schönes Böh men, mein Böhmen…“ Der Sohn verbrachte die ganze Nacht am Grab des Vaters, und von diesem Augenblick an hörte er auf, Roulett zu spielen. Die Arbeit an der Strecke wurde eingestellt, auch Aufseher waren erkrankt. Die Stadt glich einem riesigen Spital. „Al lerhöchste Zeit, zu verschwinden!“ meinte die Schmiedin. Sie hatten noch nicht genug Geld, und so entschlossen sie sich, um nicht ins Ungewisse zu fahren, Martin Räz und
Slabihoudek als Kundschafter stromaufwärts zu schicken. Sie sollten auf dem einzigen Wagen fahren und ihre Ange hörigen mitnehmen. Wenn sie passendes Land gefunden hatten, konnten Frauen und Kinder dortbleiben, während die Männer den Rest der Gruppe nachholten. Der Schmied brachte den Wagen in Ordnung, und Vojta sorgte einen gan zen Monat lang aufopfernd für das Ochsenpaar. Er fütterte und tränkte sie und striegelte sie so lange, bis ihr Fell glänz te. „Ihr braucht Geld für die Reise“, erklärte die Schmiedin. Sie wartete nicht auf Zustimmung, sondern nahm den breiten Hut ihres Sohnes und zählte Scheine hinein. Räz wollte sie daran hindern, aber alle anderen stimmten der Schmiedin zu: „Du fährst für uns alle. Du mußt sicher an Ort und Stelle ankommen. Vielleicht brauchst du Geld, um Land zu kaufen. Wir vertrauen dir, Martin. Ohne Geld geht’s nun mal nicht.“ Sie gaben ihm fünfhundert Dollar mit. Dann kam einer nach dem anderen und flüsterte ihm heimlich zu: „Such einen Platz am Fluß aus. Fische erleichtern uns die Ernährung. Ich angle so gern…“ Ein anderer: „Nur am Wald, Martin. Weißt du noch, wie wir zusammen gewildert haben?“ Und ein Drit ter: „Auf einem Berg! Auf einer Anhöhe, damit wir das Land gut übersehen können. So einen Platz mußt du aussu chen. Zu Hause stand mein Häuschen am Wald, oben auf einem Berg - in der Ebene würde ich vor Heimweh ster ben…“ Schließlich kam Josef: „Unbedingt an einer Straße, Martin. Ich möchte doch wieder eine Schmiede aufmachen.“ Martin begab sich erst auf eine Probefahrt in die große Stadt Rock Island, um dort alles zu kaufen, was sie auf der Reise und beim Ansiedeln in der Wildnis brauchen würden. Er kaufte Medikamente, Verbandmaterial, ein kleines Schiffsfernrohr, einen Kupferkessel für die gemeinsame Kü
che in der ersten Zeit und zwei Vorderlader Marke Wilkin son. In froher Laune kehrte er zurück. Der erste Schritt war getan. Die Tschechen streichelten die neuen Gewehre, durch das Fernrohr schauten sie hinüber auf das andere Ufer des Mississippi, und sie lobten Martin, daß er die Medikamente nicht vergessen hatte. „Fürcht dich nicht, Justinka, ich laß dich nicht im Stich“, beteuerte Vojta mit einem Seitenblick auf die Gewehre. Das Mädchen dachte aber noch an die erste schreckliche Fahrt mit dem Vater, es hatte Angst vor Kälte und Hunger. „Es ist Mai, draußen ist es warm“, beruhigte sie Vojta. „Wenn du frierst, pack ich dich in die Decken, und wenn du Hunger hast, nehm ich eine Flinte und schieß einen Bison, und wir feiern Schlachtfest wie in Cermna bei der Großmutter.“ Die letzte gemeinsame Nacht und der letzte gemeinsame Morgen brachen an, dann schwankte der Wagen auf dem gleichen holprigen Weg davon, auf dem Slabihoudek gekommen war. Heute aber fuhr der „Schoner der Prärie“ fröhlicher einher, die Räder quietschten nicht, und die Ochsen trugen die Köp fe hoch. Unter der Plane saßen die beiden Frauen. Die Räzo vä hielt ihr kleines Kind im Arm, die Slabihoudkovä weinte, denn immer, wenn sie gerührt war, kamen ihr die Tränen. Slabihoudek rutschte auf dem Bock hin und her, lugte mal rechts, mal links hinaus, rief, winkte, sagte Räz, wie er die Ochsen führen solle, kurz, er war quicklebendig und schwatzte ununterbrochen. Martin schwieg. Er hielt die Zü gel fest und schritt neben dem Wagen einher. Hinter dem Wagen liefen Vojta und Justinka. Sie schauten sich immer wieder um und riefen und winkten zurück. „Glückliche Reise!“ flüsterte die Schmiedin. Als die graue Plane hinter einer Krümmung des Hohlwegs verschwand, fuhr sie ihren Sohn an: „Was stehst du hier herum wie eine
Salzsäule! Martin ist weg, jetzt bist du unser Bürgermeister. Tu doch was!“ Jeder wußte, daß die Schmiedin nur so schrie, um nicht los zuheulen. Allen standen Tränen in den Augen. Von nun an würden sie nur auf den Augenblick warten, da Martin sie von hier wegholte. Begegnung mit den Tschippewä Sie drangen stromaufwärts vor. Die Glocken an den Jochen der Ochsen läuteten lustig, aber die Fahrt war nicht leicht. Oft mußte der Wagen in einem weiten Bogen vom Fluß wegfahren, denn das Frühjahrs hochwasser hatte am Ufer unpassierbare Plätze geschaffen. An anderen Stellen wieder galt es, schroffen Hängen, ange schwollenen Bächen, Morästen und Sümpfen auszuweichen; aber kein Weg war ihnen zu schwer, denn endlich hatten sie ein festes Ziel vor Augen. Die beiden Kinder Vojta und Ju stinka eilten dem kleinen Trupp voraus, scheuchten im Ge strüpp versteckte Vögel auf, Fasanen, Wachteln, Lerchen, Rehe und Hasen, kletterten auf kleine Hügel, wateten durch Bäche, und immer kehrten sie mit großen Steppenglocken und wilden Tulpen zum Wagen zurück. „Wie kommt es nur, Vater, daß es hier die gleichen Vögel gibt wie bei uns, Ler chen, Wachteln und Eichelhäher, und Rehe und Hasen? Und Pferde und sogar Tulpen?“ „Amerika und Europa hingen früher einmal zusammen, Vojta.“ „Sind denn die Lerchen so alt?“ „Frag sie doch selbst!“ Martin Raz lachte, knallte mit der Peitsche und trieb die Ochsen an. Er hatte seine Freude an Vojta. Tausendmal am Tag kam er mit Fragen. Die große Reise über den Ozean und die Fahrt durch unbekannte Ge
genden sah er als eine gute Schule für seinen Sohn an. Das Schönste waren die Abende. Der Wagen hielt unter freiem Himmel, die Männer fachten ein Feuer an, die Frauen buken Kartoffeln oder Maisfladen, und Slabihoudek erzählte, was er auf seiner ersten fahrt über die Indianer erfahren hatte. „Alles würde ich ihnen verzeihen, Martin: daß sie Hunde essen, daß sie ihren Feinden nach dem Tode die Haare ab ziehen und das einen Skalp nennen, daß sie keine ordentliche Arbeit verrichten und nur Krieg führen und jagen wollen, während sich die Weiber abplagen müssen. Das alles würde ich ihnen verzeihen – aber daß sie keinen richtigen Friedhof haben, das verzeih ich ihnen nicht! Stell dir vor, die packen ihre Toten in eine Haut, nähen sie mit einer Fischgrätennadel zu, geben ihnen Essen, ein Beil und zu trinken mit, angeb lich für die Wanderung in das Paradies, und dann legen sie diese Leiche in die Zweige eines Baumes. Ist das nicht Ket zerei?“ Martin tat ein paar Züge aus seiner kurzen Pfeife. „Andere Länder, andere Sitten. Du darfst nicht vergessen, in der Prärie gibt es Schakale, Hyänen und andere Tiere, die Aas fressen. Für dieses Gesindel ist kein Grab tief genug.“ „Auf den Bäumen gibt es aber auch Raubtiere! Geier, Ad ler…“ wandte Vojta ein. „Und deshalb nähen die Indianer ihre Toten in eine Haut ein“, erläuterte Martin Räz. So unterrichteten sie sich gegenseitig über die Bräuche der Völker, von denen sie gestern noch überhaupt nichts wußten. Sie saßen bis lange in die Nacht hinein, so lange, wie das Feuer brannte, und dann gingen die Kinder und die Frauen in den Wagen schlafen, während die Männer Wache hielten. In den ersten Tagen war ihnen die Witterung gut gesinnt, später aber regnete es oft, und der Wagen sank mitsamt den Ochsen im Schlamm ein. Manchmal mußte die ganze Ladung herun
tergeholt werden, damit Männer und Frauen den leeren Wa gen aus dem tiefen Morast ziehen konnten. Am fünften Tag überschritten sie bei La Crosse den Fluß und betraten den Staat Minnesota, der ihre künftige Heimat werden sollte. Zunächst waren sie enttäuscht. Sie fuhren durch eine Wild nis, wo man nichts kaufen und tauschen konnte. Unterwegs schoß Martin Krähen und Hasen. Mit den Vorräten an Mais und Mehl mußten sie haushalten. Niemand wußte, wie lange sie noch fahren und wie lange sie noch auf sich selbst ange wiesen sein würden. Die armen Kolonisten, auf die sie hin und wieder stießen, hatten selbst wenig, doch jeder half den neuen Einwanderern aus. Nach zehn Tagen erreichten sie die große Stadt St. Paul und versorgten sich dort für die Weiter fahrt mit Proviant. Hier erfuhr Martin von Ansiedlern, daß im Bezirk Scott Land zu haben sei. Die Männer beschrieben ihm den Weg am Minnesota entlang bis zur kleinen Siedlung Shakoppee, wo der Regierungskommissar seinen Sitz hatte, der ihnen Land zum Ansiedeln zuweisen würde. Diese Ge gend sollte ein wahres Paradies sein. Und die Indianer? Die Tschippewä seien schwach, zersplittert und verhielten sich den Berichten aus Shakoppee zufolge recht friedlich. Der Fluß Minnesota war ein ausgezeichneter Wegweiser. Bald langten sie in Shakoppee an, das noch vor zwanzig Jah ren eine Indianersiedlung gewesen war. Heute standen hier einige Blockhütten, ein großes Warenlager für die Koloni sten, der unvermeidliche „Saloon“ und ein besonders festes Blockhaus, der Sitz des Kommissars. Die ganze Siedlung war von Palisaden umgeben. Räz begriff: zum Schutz vor Überfällen. Als sie durch das offene Holztor fuhren, flüsterte Marie: „Martin, das will mir nicht gefallen. Sollten wir nicht doch lieber umkehren?“ Er versicherte seiner Frau, daß die
Tschippewä das friedlichste Volk der Welt seien, aber er nahm sich doch vor, den Kommissar gründlich auszufragen. Der Wagen hielt auf einem kleinen freien Platz, und gleich darauf eilten Leute herbei und ließen sich mit Slabihoudek in ein Gespräch ein, soweit das durch Gestikulieren möglich war. Martin ging zum Kommissar. Der breitschultrige, hochgewachsene Mann mit dem langen, dichten Vollbart war nach dem Revolutionsjahr 1848 aus Paris nach Amerika geflohen. Als Martin das Wort Bohemia aussprach, sprang der bärtige Riese auf, so daß der mit Büffelhaut bezogene Stuhl umkippte, und drückte Martin an seine Brust. „Bohe mia – vive la revolution! Paris et Prague – piffpaff -tres bien…“ Das war im großen und ganzen eine deutliche Sprache. Es lebe die Revolution! Prag und Paris hatten damals gemein sam um die Freiheit gekämpft. Davon schien der Franzose zu sprechen, als er auf Martin einen wahren Wasserfall fremder Worte herabstürzen ließ. Martin hätte sich zu gern damit gerühmt, daß unter seinen Kameraden in Dubuque einer, der Josef, auf den Prager Barrikaden gekämpft hatte, aber mit seinen geringen Sprachkenntnissen hätte er es doch nicht geschafft. So lächelte er nur und nickte. Dann trat der Kommissar an die Holzwand der Blockhütte, an der eine einfache Landkarte hing. Ein paar Striche deuteten die Gren zen des Bezirkes Scott an. Der rechte Zeigefinger des Kom missars hielt auf einem kleinen Kreis an. „Das ist Shakop pee.“ Von hier führte ein Weg zum Wald. Das war die grüne Farbe. Am Waldrand das kleine Quadrat schien ein Block haus zu sein. Dort endete der Weg. Der Finger des Kommis sars aber setzte ihn kühn fort, quer durch den Wald, über eine kleine Anhöhe hinweg in ein weites Tal mit zwei Seen.
Und dorthin legte der Kommissar die ganze Hand, drehte sich zu Martin um, zeigte auf ihn, lachte und sagte langsam: „Sand Creek. Your home.“ Martin begriff. Der Kommissar wies ihm Land im Tal des Sandbaches zu. Wie sollte er aber nun sagen, daß er mindestens achtzig Acres für jeden wollte, daß sie ihrer zwölf waren und daß sie vorhatten, eine ganze Siedlung zu gründen? Er beschrieb mit der Hand einen Kreis. In diesem Kreis deutete er Häuschen an. Viele Menschen. Sie arbeiten. Sie gehen in diese Häuschen schlafen. Ja, jawohl – eine Kolonie. Der Kommissar verstand und wies Martin ein riesiges Stück Land zu, achthundert Quadratmeilen, fast das ganze Tal des Sandbaches. An den Grenzen der Bezirke Scott und La Sueur. Dann trug er die Landgröße ein, und schließlich schrieb er noch mit feierlicher Miene: „Zwischen dem 93. und 94. Grad westlicher Länge und dem 44. und 45. Grad nördlicher Breite.“ Das war zwar sehr grob umrissen, aber Land gab es hier ja übergenug… Aber das Wichtigste: Wie sollte die Siedlung heißen? Martin verstand nicht und schwieg. „Nome – Name – “, schrie der Kommissar und ge stikulierte wild, bis Martin ihn endlich verstand. Er überlegte lange. Das war nicht so einfach, einen Ort zu taufen, an dem man sein ganzes Leben verbringen sollte. Eines Tages würde dort vielleicht eine große Stadt liegen, und diese Stadt hatte er, Martin Räz, in dieser unvergeßlichen Stunde getauft… Sagte er Kysperk, würden sich die aus Usti ärgern. Sagte er Cermna, waren die aus Kysperk und aus Usti auf ihn böse. So ging es also nicht. „Praga – Prague“, schlug der Kommissar vor, und seine Augen leuchteten auf über diese glückliche Idee. „Prag“, wiederholte Martin, und er lächelte, geschmeichelt darüber, wie bekannt dieser Name doch war. Ihr Prag, das Herz der
Heimat, die Stadt, die sie alle liebten, die schönste Stadt, die sie kannten. Jetzt würde es ein neues, ein junges Prag geben. Mitten im Staat Minnesota, Tausende Meilen von der Hei mat entfernt. Aber noch etwas: „Indianer – Indians Piffpaffpuff – gibt es die dort?“ Martins Frage war ganz eindeutig. Der Kommissar lächelte und schüttelte den Kopf. Dann deutete er Gutmütigkeit und Demut an, und schließlich klopfte er Martin auf die Schulter, als wolle er ihm versichern, daß die Tschippewä völlig unge fährlich seien. Martin eilte zu den Seinen zurück und wiederholte die be kannten englischen Worte, die er schon in Dubuque gehört und die jetzt auch der Kommissar gesagt hatte. Worte, die für Martin und seine Leute so wichtig wie das Leben waren: Mais, Weizen, Weideflächen, Wasser. Sie drückten ihm die Hände, sie umarmten ihn. Die Slabihoudkova vergoß wieder ihre Tränen, wenn auch diesmal vor Freude. „Unsere Siedlung heißt Prag. Jeder von uns bekommt ein so großes Stück Land wie ganz Kysperk mitsamt dem Markt!“ Slabihoudek hatte inzwischen festgestellt, daß das Lager in Shakoppee ausgezeichnet versorgt wurde. „Wir werden jede Woche herkommen, wie zum Markt nach Trübau“, lobte er. „Wenn ich mich erst umgesehen habe, mache ich wieder einen Laden auf, mit Goldbuchstaben: Tailor for ladies and gentlemen.“ Das war auch ungefähr alles, was Slabihoudek an engli schen Worten kannte. Gegen Mittag kamen sie an einem Sägewerk vorbei. Martin erinnerte sich des kleinen Quadrats auf der Karte des Kom missars. Drei Holzfäller arbeiteten in der Wildnis, sie behau ten gefällte alte Zedern, deren kostbares Holz gut bezahlt
wurde. Als sie den Wagen erblickten, ließen sie ihre Arbeit liegen und gingen den Einwanderern entgegen. Es waren Iren, sie verstanden kein Wort Tschechisch, aber die Begrü ßung war dennoch herzlich. Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern, drückten einander die Hände, und dann er zählten sie Martin, wie er fahren müsse, um das zugeteilte Land zu erreichen. Der Wald sei nicht allzu tief. Bald wür den sie auf eine Anhöhe gelangen, von der aus das Tal zu sehen sei. Schweigend setzten sie die Fahrt fort. Die Kinder hörten auf zu singen. Die Slabihoudkova saß unter der Plane und fürchtete sich vor dem Augenblick, da der Wagen mitten in der Einöde halten und Martin sagen würde: Hier sind wir zu Hause! Der Wald wurde dichter; vom Wind umgelegte Bäume, zersplittert wie Späne, versperrten den Weg. Zu alledem hat te sich ein starker Wind erhoben. „Da hilft nichts“, sagte Martin zu Slabihoudek, und er be mühte sich, seiner Stimme einen harmlosen Klang zu geben. „Wir müssen die Beile nehmen und einen Weg bahnen.“ Während die Männer die Stämme wegräumten, schauten sich die Frauen ängstlich um und lauschten auf die geheim nisvollen Geräusche des Waldes. „Nur keine Angst“, munterte Martin sie auf und fuhr sich über die schweißbedeckte Stirn. „Die Tschippewä sind fried licher als der Pfarrer von Kysperk. Das hat der Kommissar gesagt.“ „Wer weiß, was er dir gesagt hat“, seufzte die Räzovä, und die Slabihoudkova schloß sich ihr an: „Keiner versteht die ses Kauderwelsch. Sie sagen gut und meinen böse.“ Sie fuhr zusammen: „Hast du gehört, Marie!“ Ein Reh war vorbeige laufen, dürre Zweige raschelten. „Hier gibt es bestimmt viel Wild“, meinte Martin ruhig. „Vielleicht haben wir morgen
schon Rehbraten zu Mittag.“ Endlich ging es weiter. Nicht lange, und der Wald lichtete sich. Die müden Ochsen spann ten die letzten Kräfte an, und als die Ansiedler den Waldrand erreichten, standen sie auf der Anhöhe, von der der Kom missar und auch die Holzfäller gesprochen hatten. Das Tal des Sandbaches lag vor ihnen. Das war eine Überraschung! üppiges Gras bedeckte die Hänge, der Boden würde gut tra gen. Die untergehende Sonne tauchte das Tal in goldenes Licht. Die beiden Seen spiegelten die Strahlen wider, und jetzt entdeckten die Ansiedler auch den Sand Creek, den Bach, der das Tal in seiner ganzen Länge durchfloß, von einem See zum anderen. In dem dichten Präriegras meldeten sich Schnepfen und Präriehühner, Hummeln und Wespen summten genauso wie im Adlergebirge, und als am Fuße des Hangs urplötzlich eine Lerche aufflog und über ihren Köp fen ein Lied zum Gruß sang, konnte Slabihoudek, ja sogar Martin, nicht mehr die Tränen zurückhalten, zur Verwunde rung der Kinder, denen die Gegend auch gefiel. Aber was sollten Tränen, wo es nach einer Reihe kümmerlicher Tage endlich so schön war! „Das ist ein großer Augenblick, Kin der“, sagte Martin. „Hier werdet ihr leben, hier werden eure Kinder zur Welt kommen und vielleicht auch deren Kinder. Hier ist eure zweite Heimat. Aber eins will ich euch sagen: Vergeßt niemals, daß ihr aus Böhmen seid. Vergeßt niemals, daß eure Eltern tschechisch gesprochen haben.“ Langsam fuhr der Wagen ins Tal hinab. Unten steckten die Ochsen die Köpfe ins Gras und begannen ungeduldig zu weiden. Martin aber trieb sie noch weiter, bis zu einem ho hen Baum mit einer ausladenden Krone, wo er einen geeig neten Lagerplatz entdeckt hatte. Hier erst hielt er den Wagen an, warf seinen breiten Hut ins Gras, liebkoste den kleinen Poldi, der im Arm seiner Frau schlief, und rief aus: „Jetzt
sind wir zu Hause, Mutter.“ Slabihoudek saß auf dem Bock wie auf einem Thron und malte seiner Familie einen wunderschönen Traum aus: „Mein Gott, hier haben viele Häuser Platz… Dort bei dieser Schneise wird einmal der Marktplatz sein, und da werde ich einen großen Laden haben und über dem Laden Goldbuch staben…“ „Tailor for ladies“, plapperte Justinka, die schon die Lieb lingsworte ihres Vaters auswendig kannte. Aber der Schnei der ließ sich dadurch nicht stören und fuhr fort: „Aus ganz Minnesota werden die Gentlemen zu mir kommen, ja sogar der berühmte Indianerhäuptling Stierauge wird von mir ver langen, daß ich ihm einen wattierten Pelz für die Schneestür me nähe. Und ich werde ihn so vor mich hinsetzen, das Me termaß nehmen und sagen: Und nun die Hände schön vom Körper abhalten – das wären hundertfünfundsechzig; Mutter schreib – zwölf, siebenundachtzig, hundertfünfundvierzig ach was, am Bund wird so ein Indianerhäuptling mindestens hundertneunzig haben…“ Martin unterbrach Slabihoudeks Träume: „Komm mir hel fen. Ich tränke die Ochsen. Du kannst inzwischen die Plane abnehmen, wir stellen das Zelt auf.“ Slabihoudek seufzte, aber er gehorchte und rutschte von seinem Bock herunter. Nach der anstrengenden Fahrt nah men die Ochsen das Wasser wie trockene Schwämme in sich auf. Dann schickte Martin sie auf die Weide und kehrte zu rück. Der Indianer, der sich als erster bei ihnen eingestellt hatte, holte einen schönen, bunt bestickten Lederbeutel hervor, den er Martin feierlich überreichte. Austausch von Geschenken – Martin begriff und zog seine kurze Pfeife aus der hinteren Hosentasche. Er stopfte sie mit
dem Tabak der Indianer, steckte sie an und rauchte ein paar Züge. Der Indianertabak brannte und biß teuflisch. Aber Martin täuschte höchsten Genuß vor. Der alte Tschippewä stopfte eine geschnitzte Pfeife mit langem Rohr mit Martins Tabak und schien sehr beglückt. Nach einer Weile reichte er die Pfeife den beiden Jungen hin, jeder tat feierlich ein paar Züge; dann gaben sie sie dem Alten wie eine große Kostbar keit zurück. Schließlich tauschten Martin und der Tschippe wä ihre Pfeifen aus, und damit war die Freundschaft besie gelt. Es verging eine ganze Weile, bis sie zu Ende geraucht hatten. Der alte Indianer klopfte die Asche ins Gras, wies auf das letzte Wölkchen Tabakrauch, das noch über Martins Kopf zitterte, und sagte langsam: „Smoke.“ Das bedeutete in der englischen Sprache Rauch. Martin nickte, lächelte, wies auf sich und sagte genauso langsam: „Friend.“ Freund. So wechselten sie noch ein Dutzend englischer Wörter, die sie beide kannten. Martin erfuhr auch, daß der alte Indianer der „Chief“ sei, das heißt der Häuptling, und wegen seiner Gut mütigkeit und Schnelligkeit „Lächelnder Wind“ heiße. Die beiden Jungen waren seine Söhne. Der eine hieß „Schlan genzahn“ und der andere „Fauler Fuß“. Dann wies Martin auf sich und sagte langsam: „I am Mar tin. Your friend Martin.“ Prüfend schaute er den alten India ner an. Hatte der ihn verstanden? Ich bin euer Freund Mar tin. Der letzte Rest Mißtrauen schwand. Es schien Martin sogar, als ziehe ein kaum merkliches Lächeln über das Ge sicht des Häuptlings, aber er täuschte sich wohl. Selten nur lachen die Indianer in Gegenwart weißer Männer, die ihnen soviel Leid gebracht haben. So nahm der alte Indianer von Martins Ankunft im Tal des Sandbaches Kenntnis. Noch zitterte das Gestrüpp, das Rascheln der Zweige ent
fernte sich. Dann war Martin allein. Und wäre nicht der in dianische Tabakbeutel an seinem Gürtel gewesen, hätte er nie geglaubt, daß diese merkwürdige Begegnung tatsächlich stattgefunden hatte. Er kehrte zu den Seinen zurück, erzählte von den Tschip pewä und zeigte das Geschenk der Indianer. Vojta konnte sich gar nicht satt sehen an dem Tabakbeutel. „Das hast du gut gemacht, Martin“, lobte Slabihoudek. „Jetzt haben wir bei den Indianern einen Stein im Brett.“ Die Slabihoudkova aber traute der Freundschaft nicht: „Ihr wißt doch, was man in Dubuque erzählt hat! Eines Nachts werden sie kommen und uns alle ermorden.“ „Vater, zeig mir doch, wie man Pfeife raucht“, bat Vojta. „Aber warum denn? Dazu hast du noch Zeit genug.“ „Wenn nun ein Indianerjunge kommt und mit mir spielen will? Wir müssen doch erst rauchen, damit er merkt, daß ich sein Freund bin.“ Bis lange in die Nacht hinein sprachen sie von den India nern, dann schliefen sie ruhig ein, viel ruhiger als in den Nächten vorher. Und schon am nächsten Tag kamen sie. Der Abend senkte sich herab, die beiden Familien lagerten am Feuer, müde von der schweren Arbeit. Plötzlich schrie Vojta: „Indianer!“ Sie traten aus dem Wald heraus, zwanzig schlanke Schat ten, schritten langsam zum Feuer, und als sie näher kamen, sah Martin, daß auch zwei Frauen dabei waren. Eine trug etwas auf dem Kopf, das wie ein großes Bündel aussah. Zwanzig Schritte vor dem Feuer blieben sie stehen. Auch die Tschechen erhoben sich und warteten, was nun weiter ge schehen werde. Slabihoudek hielt das Gewehr schußbereit, - doch Martin gab ihm einen Wink, und widerwillig legte
der Schneider die Waffe fort. „Das ist unsere letzte Stunde“, flüsterte die Slabihoudkova, am ganzen Körper zitternd, doch die Razova beruhigte sie: „Martin kennt sie, er geht zu ihnen. Sie haben doch Frauen bei sich. Fürchte dich nicht, sie sind Menschen wie wir.“ Der alte Häuptling, mit einem prächtigen Stirnband aus farbigen Federn geschmückt, trat vor, reichte Martin die Hand - und dieser rief die ganze Gruppe ans Feuer. „Sie haben Gewehre, hast du gesehen, Vater? Die beiden ganz hinten“, flüsterte Vojta dem Vater zu, und jetzt bemerkte auch Martin die beiden jungen Indianer, die am Ende der Gruppe gingen. Wahrhaftig, sie hielten Gewehre in den Händen. Martin lächelte den alten Häuptling an und sagte auf tschechisch: „Das ist schlecht von euch, daß ihr uns miß traut. Wir haben die Flinten weggelegt.“ Er wies auf Slabihoudeks Gewehr im Gras und dann auf beiden bewaffneten Indianer. Der Häuptling befahl ihnen, die Waffen ebenfalls hinzule gen. Sie lehnten die Gewehre gegen einen Baum und schlossen sich den anderen an, die sich scheu am Feuer nie derließen. Slabihoudek beugte sich zu seiner Frau: „Gib ih nen Fladen, zuerst dem Alten, du siehst doch, wie er darauf wartet.“ Mit zitternden Händen nahm die Slabihoudkova Maisfladen von den heißen Steinen, den ersten reichte sie dem Häuptling, und die übrigen fünf verteilte sie an die In dianer, die in ihrer Nähe saßen. „Mach neue, schau, wie sie ihnen schmecken.“ Slabihou dek lachte, alle Beklemmung fiel von ihm ab. Dann setzte er sich zu einem jungen Indianer und begann tschechisch auf ihn einzureden: „Ja, mein Lieber, das sind tschechische Fla den solche macht nur unsere Mutter. Ein wenig Majoran haben wir von zu Hause mitgebracht, aber wenn es erst Eier
bei uns gibt, dann mußt du herkommen, mein Juunge, was meinst du, wie so ein Happen schmeckt!“ Kein Muskel regte sich im Gesicht des Kriegers. Feierlich zerkaute er den Fladen, während ihm Slabihoudek von mär chenhaften böhmischen Gerichten erzählte, von Schweinenbraten mit Sauerkraut, von Kaiserschmarren und Buchteln und wie Slabihoudeks Lieblingsgerichte sonst noch hießen. Als sie gegessen hatten, rief der Häuptling die beiden In dianerfrauen herbei. Sie überreichten der Räzova einen gro ßen länglichen Korb, aus Bast geflochten und mit herrlichen Mustern bemalt. Die Räzova lächelte und schaute das Ge schenk verständnislos an. Sie begriff nicht, was sie damit sollte, bis schließlich eine der beiden Frauen auf sie zutrat und auf das Kind zeigte. Marie drückte es fester an sich. Nun kam die Indianerin näher heran und wollte ihr das Kind aus dem Arm nehmen. Die Räzova schrie auf, doch Martin be ruhigte sie: „Gib es ihr nur, Marie, sie will dir eine Freude bereiten.“ Widerwillig gab die Mutter der Indianerin das Kind, ohne die Augen von ihrem Jungen zu lassen. Alle schauten die Indianerin an: Was würde sie mit dem Kind tun? Die Lippen der Tschippewäfrau bewegten sich ein wenig, als flüstere sie ein paar zärtliche Worte. Dann legte sie das Kind behutsam in den bemalten Korb. Jetzt erst begriff die Räzovä. Lächelnd kniete sie neben dem Korb nieder, und beide Frauen schauten den schlaftrun kenen Jungen an, für den der Korb schon ein wenig zu klein war. Deshalb bewegte er sich unruhig hin und her, bis er die richtige Lage gefunden hatte, und schlummerte dann zufrie den in seinem neuen Bett ein. Lange saßen sie beisammen, rauchten und schwiegen, und als sich die Indianer verabschiedeten, brachte Martin Räz
drei Pfund Zucker, Tabak, ein Päckchen Nägel und noch ein merkwürdiges Geschenk herbei, das er mit Vorbedacht in Dubuque für die Indianer ausgewählt hatte. Ein alter Pelz tierjäger hatte ihm dazu geraten. Es war eine kleine Pinzette zum Ausreißen der Barthaare. Die Indianer hassen Barte, aber sie furchten sich vor dem Rasiermesser.“ Der Jäger hatte recht gehabt. „Lächelnder Wind“ freute sich sehr über alle Geschenke, den größten Erfolg aber heimste die Pinzette ein. Er schob sie wie einen kostbaren Diamanten hinter seinen Gürtel, während er die anderen Geschenke ei nen jungen Indianer tragen ließ.
Die Räzova schenkte der Indianerin ein gestricktes Kinder jäckchen; ein dankbares Lächeln belohnte sie. „Es ist kaum zu glauben“, flüsterte die Slabihoudkova, als sie gegangen waren, und schaute ungläubig auf das niedergetretene Gras um die Feuerstelle. Slabihoudek spielte sich auf wie ein Held. „Du hast dich ganz unnötig gefürchtet“, sagte er zu seiner Frau. „Ich war doch immer bei dir.“ „Kennen die Indianer auch Musik?“ fragte Justinka Vojta. „Warum?“ „Sie sind so traurig, sie haben dagesessen und nicht gesun gen. Bei der Großmutter in Olesek hat die Verwandtschaft immer gesungen.“ „Sie werden schon noch singen, Justinka“, sagte Martin. „Wart nur, bis wir sie besser kennen.“ Noch lange sprachen sie von der neuen Freundschaft, und schließlich kamen sie überein, daß die Tschippewä gute Menschen seien und Martin ruhig nach Dubuque fahren könne, um die anderen zu holen. Der Blizzard Axtschläge hallten aus dem nahen Wald. Hin und wieder hörte man einen heftigen Knall, wie den Schuß aus einem Wilkinsongewehr. Ein gefällter Stamm sauste zur Erde nie der, die Zweige pfiffen durch die Luft, und das Echo trug den scharfen Klang durch das ganze Tal. Pappeln und Ulmen fielen, der Waldrand wurde lichter, doch an den Hängen über beiden Seen vermehrten sich die Blockhäuser. Sie duf teten nach frischem Holz. Die Tschechen bauten ihre Wohnungen mit dem gleichen Eifer wie fünf Meilen südwestlich die Deutschen unter Hans Schöffler. Sie nannten ihre Siedlung „Heidelberg“. Alle wa ren glücklich in der neuen Heimat angelangt, obwohl Martin
von Dubuque nach Prag diesmal einen ganzen Monat ge braucht hatte. Das war aber auch ein Zug! Alle Ersparnisse hatten die Ansiedler für zehn Ochsengespanne und drei Wa gen ausgegeben, die mit Lebensmitteln, eisernen Ofen, Ar beitsgerät, Decken, Saatgut und Baustoffen bepackt waren. In St. Paul kauften sie auch Legehühner und einige Hähne. Die Schmiedin opferte sogar elf Dollar für ein Ferkel, das sie bis Weihnachten mästen wollte, um sich für den ganzen Winter mit Fleisch zu versorgen. Nun begann die schwere Pionierarbeit. Zunächst mußte der Boden mühselig aufgebrochen werden; es war schon August und Zeit für die Herbstaussaat. Andere wieder mähten und trockneten das dichte Präriegras und leg ten einen Heuvorrat für den Winter an. An Nahrung fehlte es ihnen vorläufig nicht, in den Wäldern gab es reichlich Wild; und bevor sie in den neuangelegten Gärten ihre ersten Früch te ernten würden, ersetzte ihnen die Melde das Gemüse und gerösteter Mais den Kaffee. Die Ahornbäume gaben einen süßen Saft, den man als Zucker verwenden konnte. Den Boden urbar zu machen, hatten die Neusiedler kein anderes Gerät als einen schweren Pflug, vor den sie ein Paar Ochsen spannten. Die Eggen ersetzten ihnen große Äste, die sie mit Gurten hinten am Gespann festmachten. Auf die Äste legte man ein schweres Stück Holz, oder der Ansiedler stell te sich einfach darauf. Die meisten Weber verstanden etwas von der Landwirt schaft, der Webstuhl allein hätte sie zu Hause nicht ernährt. Und wer etwas vom Boden versteht, der versteht es auch, Hütten zu bauen. Räz, Slabihoudek, Brüzek und Petrlik machten sich an den Bau der Blockhäuser. Holz gab es genug. Aber der Winter stand vor der Tür, und sie mußten sich beeilen. „Für eine
saubere Arbeit haben wir jetzt keine Zeit“, fertigte Martin seine Frau ab, als sie ihn auf die Fugen zwischen den unbe hauenen Stämmen hinwies. „Die Hauptsache ist das Dach über dem Kopf.“ Dank dieser Eile fanden später alle mögli chen Tiere, Iltisse, Schlangen und auch Vögel, Unterschlupf in den Blockhäusern. Die Fensterlöcher wurden im Winter mit Ölpapier beklebt und die Ritzen mit Stroh und Moos verstopft. Die Türen hatte man aus Holzabfällen zusammen gezimmert, nur Räz und Slabihoudek besaßen Nägel. Einige Siedler verzichteten darauf, sich in so mühevoller Arbeit nur unvollkommene Blockhäuser zu bauen, und be gnügten sich vorderhand mit Erdhöhlen, legten sie mit Stroh und Reisig aus und widmeten den Unterkünften für das Vieh sowie den Scheunen und den Lagerräumen für das Saatgut weitaus mehr Sorgfalt, denn hier lag der Grundstock für ihre weitere Existenz. Der bedeutendste Bau war das Blockhaus des Schmiedes. Als wolle Josef hierbei all seine riesigen Kräfte zeigen, schleppte er die schwersten Stämme aus dem Wald herbei, legte ein festes Fundament mit Steinen aus dem See und deckte schließlich noch das ganze Blockhaus mit Rasenstük ken zu, denn die Schmiedin hatte Angst vor dem Winter. Drinnen war es finster wie in der Hölle, und erst nach lan gem Zureden bequemte sich Josef, in die Rasenstücke ein kleines Fenster zu schneiden. Und eines Tages machte er sich auf den Weg nach Shakoppee, um eine Glasscheibe zu holen. Glas war damals im Westen eine große Kostbarkeit. Der Kommissar in Shakoppee hatte aber von Josefs Wunsch erfahren und wollte ihm eine Freude bereiten. Die Barrika denkämpfer aus dem Jahre achtundvierzig mußten doch zu sammenhalten! So hatte er eine Glasscheibe in St. Paul be stellt und ließ Josef durch die Holzfäller sagen, er möge sich
das kostbare Stück abholen. Alle fürchteten jedoch, daß sich Josef im Wald mitsamt dem Glas verirren werde, Sie redeten ihm ab, aber er ließ sich nichts sagen. „Gebt mir ein Pferd! Ich reite.“ So lieh denn Brüzek dem Josef sein mageres Pferd, und Martin hatte einen prächtigen Einfall. Er band Josef eine große Kuhglocke um den Hals und erklärte: „Wenn du bis zur Dunkelheit nicht zurück bist, werden wir dich suchen.“ So ausgerüstet, hatte Josef doch einige Aussichten auf gute Heimkehr, und die Siedler kamen und baten ihn, dieses und jenes in Shakoppee zu besorgen. „Ich möchte einen geselch ten Schinken, Josef.“ „Zwanzig Pfund Maismehl!“ „Ein Bündel Hanfgurte!“ „Fünf Päckchen Tabak, Safran und Ingwer.“ „Einen Sack Bohnen und eine Säge.“ Josef schrieb ein Stück Papier ganz voll, und immer noch kamen sie herbei und baten ihn um etwas, so daß sich ihm der Kopf drehte. „Josef, kauf mir einzöllige Nägel mit einem großen Kopf“, bat der letzte. Es war Slabihoudek. Josef hatte keinen Platz mehr, um den Auftrag zu notieren, doch die Slabihoudkovä bestand darauf: „Den Nachbarn wirst du doch nichts ab schlagen!“ Am nächsten Morgen ritt Josef frühzeitig auf seinem klapp rigen Pferdchen los, und alle Bewohner der Siedlung gaben ihm das Geleit bis zum Wald. Gegen Mittag erreichte er glücklich Shakoppee und begann einzukaufen. Alle waren neugierig, wie Josef die vielen Dinge fortbringen werde. Zunächst band er auf dem Rücken des mageren Pferdchens den Sack mit Bohnen, die Säge und drei Schinken fest, dann einen Sack mit Weißkohl, das Päckchen mit den Nägeln und
das Bündel Hanfgurte, über den Hals des Pferdes hängte er eine Unmenge kleiner Päckchen mit allem möglichen Krimskrams, und er selbst bepackte sich mit einem Sack Mehl und einer Gitarre für den jungen Janda. An dem Sattel befestigte er eine große Schachtel mit Filzhüten für sechs Männer, in die Linke nahm er die sorgfältig in Stroh einge packte Glasscheibe, in die Rechte die Zügel und machte sich unter dem fröhlichen Gelächter des ganzen Ortes auf den Weg. So ging es einige Zeit im Zuckeltrab, bis schließlich die am Sattel festgemachte Schachtel mit den Hüten das Pferd störte. Es drehte sich im Kreise und blieb schließlich stehen. Dabei zitterte es am ganzen Leibe, trat auf der Stelle und ließ sich nicht zureden. Josef blieb nichts anderes übrig als abzusteigen. Er machte die Schachtel mit den Hüten oben am Sattel fest und schritt betrübt mit der schweren Last auf dem Rücken neben der dickköpfigen Ferda einher. So gin gen sie ein paar Schritte. Da riß der Bindfaden, der die Schachtel festhielt; sie fiel zur Erde, und erschrocken galop pierte Ferda los. Josef stolperte hinterher. „Ferda – der Teu fel hol dich! Bleib stehen! Hörst du! Haaaalt!“ schrie er mit so gewaltiger Stimme, daß er wohl eine Herde wutentbrann ter Bisons zum Stehen gebracht hätte, aber Ferda dachte gar nicht daran. Und so waren die Siedler im jungen Prag sehr überrascht, als am späten Nachmittag das schwerbeladene Pferd aus dem Wald kam. Josef aber war nirgends zu sehen. Ferda ging schnurstracks in ihren Stall und hielt erst vor einem Haufen Heu an. „Der arme Josef“, schluchzte die Slabihoudkova. „Kommt ihn suchen, Leute! Man hat ihn sicherlich erschlagen.“ „Erschlagen?“ Die Schmiedin schüttelte energisch den Kopf. „Ein Tölpel ist er, ich geh ihn jetzt suchen… Na war
te, wenn ich dich erwische, mein Bursche.“ Bis tief in die Nacht hinein suchten sie nach ihm. Als sie es schon wirklich mit der Angst zu tun bekamen, hörten sie aus der Ferne die Glocke läuten. Sie liefen in die Richtung, und nicht lange, da erblickten sie Josef, der sich mühsam durchs Gestrüpp arbeitete. Auf dem Rücken trug er den Sack Mehl und die Gitarre, in den Händen die Hutschachtel und die in Stroh gepackte Glasscheibe. Die Haare fielen ihm in die Stirn, sein Gesicht war von Zweigen zerkratzt, und eine dik ke Schlammkruste klebte an seinen Schuhen. „Ach, du Un glückswurm!“ Die Schmiedin schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Was hast du bloß wieder angestellt?“ Sie konnte ihm aber doch nicht böse sein, wie er so dastand. Als sie mit den Fackeln näher kamen, fing Josef an, die Glas scheibe aus dem Stroh zu schälen. „Ich fürchte, sie hat einen Sprung“, sagte er seufzend, und alle warteten ungeduldig, bis er das kostbare Stück ausgepackt hatte. Endlich war es soweit… „Kaputt!“ „Du müßtest gleich noch einmal nach Shakoppee gehen“, sagte die Schmiedin vorwurfsvoll, und Josef tat allen auf richtig leid. Am nächsten Tag machte er sich wieder mit der Axt im Wald zu schaffen, und die Holzsplitter flogen um ihn herum wie die Federn aus einem zerschlissenen Deckbett. Was hät ten seine Landsleute ohne ihn, den Riesen, angefangen? Wen sollten sie nach Heidelberg schicken, um das leere Schnaps faß aus Eichenholz zu holen, das sie zum Einstampfen des Sauerkrauts brauchten? Wer von ihnen hatte schon die Kraft, einen Stier oder eine Kuh zu bändigen, einem Stamm den entscheidenden Schlag zu versetzen oder eine Büchse zur Hand zu nehmen und mit einer präparierten Ladung das Wildschwein zu treffen, das in einer Nacht in den frisch an
gelegten Gärten soviel Schaden angerichtet hatte… Mit ei nem Wort, Josef war ein ausgezeichneter Buschmann ge worden, und deshalb waren alle überrascht, als ihn eines Tages eine ganz gewöhnliche Mücke zu Fall brachte. Der trockene Herbst, der hier Indianersommer hieß, wurde von feuchter Witterung abgelöst. Mücken tauchten in der Sied lung auf. Von den Seen her zogen sie in dichten Schwärmen herauf, und es war unmöglich, die Abende am Lagerfeuer zu verbringen. Der geringfügige Stich schwoll an. Zwei Tage später konn te Josef den Arm nicht mehr bewegen, und da nahm sich die Schmiedin seiner an. „Ein Glück, daß ich meine Apotheke mitgenommen habe.“ Bis von Pardubitz waren früher Herrschaften zu ihr gekom men, um sich behandeln zu lassen, aber sie half lieber den Armen. „Die Herrschaften haben ihre Ärzte, die Armen ha ben nur mich“, pflegte sie zu sagen, und jetzt war es ein Glück für die ganze Siedlung, daß sie die Schmiedin mit hatten. Sie legte zerquetschten Wegerich mit Essig auf den Arm des Sohnes, am nächsten Tag rieb sie die Stelle mit einer schwarzen Salbe ein, und am Abend darauf sagte sie zu Josef: „Morgen nehm ich die Binde ab.“ „Es ist auch Zeit, Mutter, ich muß doch noch das Fenster in Ordnung bringen, bevor der Winter kommt.“ Als er am nächsten Morgen erwachte, sah er an Stelle des grünen Tals eine schneeweiße Fläche. „Der Winter ist da, Mutter!“ rief er aus, aber die Schmiedin antwortete mürrisch: „Also doch… ich dachte schon, in Amerika gäbe es keinen Winter.“ Mißmutig drehte sie sich auf die andere Seite und schlief weiter. Josef stand auf und klebte die Fensteröffnung mit Ölpapier zu. Dann öffnete er die Tür und schaute hinaus. Von der
glitzernden Fläche stiegen ab und zu bläuliche Rauchsäulen auf. Die Bewohner der Rasenhöhlen heizten ihre Unterkünf te. Martin stand vor seinem Blockhaus und schaufelte den Weg zu den Ställen frei. Bei Brüzeks Blockhaus hob Ferda das Stalldach mit ihrem Rücken hoch – so viel Schnee hatte sie unter sich festgetreten. Josef riß den Verband von der geheilten Hand und lief zum Wald hin, dort lag gehacktes Holz. Noch am Vormittag schleppten es die Männer in ihre Behausungen, und so be gann im amerikanischen Prag der Winter. Mitte Dezember schlachtete Josef das Schwein und lud alle zum Schlachtfest ein. Auch Weihnachten verlebten sie gemeinsam, in Martins Blockhaus. Unter dem Christbaum hatte sich ein ganzer Haufen einfacher Geschenke angefunden, eine geschnitzte Pfeife für Martin, warme Fäustlinge für Josef, und die Frau en beschenkten sich gegenseitig mit eingesparten Lebens mitteln, Gewürzen, Salz oder ein paar Handvoll Kaffeeboh nen. Vojta bekam vom jungen Janda ein dickes Buch. Von au ßen war es gar nicht einmal so ansehnlich; das Schöne an ihm waren vielmehr sein Alter und die Würde, die es aus strahlte. Die Deckel aus Holz waren mit dunklem Leder be zogen und hatten eine Spange aus Metall. Auf dem Titelblatt standen mehrere Worte in Schwabacher Schrift, und Martin half Vojta, sie zu entziffern. Sie lauteten: „Botschaft Alter Tschechischer Begebenheiten Oder Tschechische Chronik Von Der Ersten Ankunft Der Beiden Kroatischen Fürsten Tschech Und Lech In Dem Heutigen Böhmischen Land.“ „Halt dieses Buch in Ehren, Vojta“, sagte Janda. „Mein Va ter hat es als Andenken an die Heimat mitgenommen. Ich trenne mich nicht gern von ihm – aber ich hab mir gedacht,
daß es dir von uns allen am schlechtesten ergeht.“ Die Tschechen schauten den jungen Janda erstaunt an. Selten, daß er so viel sprach. vor allem seit der Vater gestorben war; dafür arbeitete er aber für drei. „Jawohl, dir geht es am schlechtesten von uns allen“, wie derholte Janda. „Als ich zehn war wie du heute, ging ich zur Schule. Du wirst hier kaum eine besuchen, Junge, und so hab ich dir wenigstens das Buch mitgebracht. Lies darin von der Geschichte unseres Volkes, und vergiß die Heimat nicht, Vojta!“ Mit einemmal war allen traurig zumute, aber Justinka sorg te wieder für frohe Laune. Die Frauen hatten ihr eine Lum penpuppe geschenkt, eine Indianerin mit schwarzen Zöpfen und großen Augen. „Für eine Indianerin ist sie etwas zu dick“, urteilte das klei ne Mädchen; sie hatte die hageren Gesichter der Indianer frauen im Gedächtnis. Dann fügte sie hinzu: „Ich will sie Mariechen nennen.“ „Aber Justinka, Indianerinnen heißen doch nicht Marie chen“, wurde sie von der Mutter belehrt. „Du mußt ihr ir gendeinen Indianernamen geben.“ „Welchen denn?“ fragte Justinka, aber da konnte ihr keiner raten. „Wir wissen wenig von ihnen“, sagte Martin in Gedanken. „Aber sie wissen sicherlich mehr von uns.“ Seit dem ersten Besuch hatten sie sich nicht mehr gezeigt. Die Siedler aber fanden häufig Spuren von ihnen in der Nähe ihrer Erdhöhlen und Blockhütten. Die Indianer hatten es jetzt bestimmt schwer, mußten hungern und frieren. Nach Neujahr gab es eine Reihe so kalter Tage, daß die Tschechen in ihren Höhlen auf wärmeres Wetter wie auf eine Rettung warteten. Wenn es nur endlich Frühling würde, aber bald,
bevor wir alle erfrieren… Anfang Februar kam ein Bote der Indianer in die Siedlung. Er war durchgefroren und wärmte sich erst an Martins guß eisernem Öfchen, bevor er zu reden begann. Seinen Gesten entnahm Martin, daß im Lager der Indianer etwas Ernstes vorgefallen sein mußte. Der Bote übergab ihm ein Stück Leder, auf dem mit ungelenken Fingern, aber deutlich, ein Bild gemalt war. Der alte Häuptling lag auf seinem Lager, und weinende Indianer umstanden ihn. Der „Lächelnde Wind“ war schwer erkrankt, der Bote sollte Hilfe holen. „Das muß eine ernste Krankheit sein, Mutter“, meinte Mar tin zur Schmiedin, „wenn ihm nicht einmal ihr berühmter Medizinmann helfen kann.“ Die Schmiedin wußte nicht, was ein Medizinmann ist; sie sagte nur kurz; „Wir werden ja sehen!“ Darauf fuhr sie in ihren Pelz, zog ihre Stiefel an und ging. Josef stampfte hinter ihr her, er trug ihre kleine Holztruhe mit den getrockneten Pflanzen und verschiedenen Salben. „Nicht einmal einen Schlitten haben sie“, brummte die Schmiedin, als sie bis zu den Knien im hohen Schnee ver sank. Die Umsiedler schauten ihnen nach, bis sie im Wald verschwunden waren. „Wenn man sie bloß nicht dort be hält!“ jammerte die Slabihoudkova, doch der Schneider fing an zu lachen: „Die Schmiedin? Da behalten sie eher den Teufel da. Die würde ihnen ganz schön die Federn rupfen.“ Erst am nächsten Tag gegen Abend kamen die beiden zu rück. Alle versammelten sich in Josefs Blockhaus, und die Schmiedin mußte ihre Erlebnisse erzählen. „Das war ein Marsch, meine Lieben. Das ging bergauf und bergab, durch Wald und Steppe. Erst als es dämmerte, kamen wir im Lager an. Es steht mitten im Wald, lauter leichte Planen, von allen Seiten bläst es hinein. Sie haben mich gleich in ein großes
Zelt geführt und mit Fackeln in eine Ecke geleuchtet, wo der Alte lag. Er war nur Haut und Knochen und zitterte am gan zen Körper. Als ich ihn mir so anschaute, wußte ich gleich, wie es um ihn stand. Viertagefieber – bei ihm kam es aller dings schon jeden dritten Tag. Es hatte ihn gerade gepackt und schüttelte ihn schrecklich. Dieser trockene Schüttelfrost ist eine schöne Bescherung, aber man kann ihn aus dem Körper vertreiben. Man muß nur wissen, woher das Ganze kommt, ob von einer Erkältung oder ob es eine andere Ursa che hat. So saß ich denn bei ihm und überlegte, wie ich die Krankheit hinaustreiben könne, weil doch ein Gespräch mit einem Indianer dasselbe ist, als wenn man sich mit dem Teu fel unterhält. Und da bringt ihm gerade so ein schmuddliges Mädchen, wohl die Enkelin, das Essen. Ich guck in die Schüssel und seh einen trockenen Fladen, mit Gras darin! Na, was soll ich euch groß erzählen. Sie haben einfach Hun ger. In ihrem ganzen Lager ist nicht ein Stäubchen Mehl aufzutreiben. Immer nur getrocknetes Fleisch und wieder Fleisch, und wenn jemand dabei krank wird, stopfen sie Fla den aus Melde und allem möglichen Zeug in ihn hinein. Da hab ich gleich ordentlich angefangen zu schimpfen, den Fla den aus dem Zelt hinausgeschmissen und dem lieben Häupt ling gleich was Ordentliches zu essen gegeben. Erst einge weichten Rhabarber und Sennesblätter, um den Magen weich zu machen, und als das nichts half, ein wenig Bitter salz in Wasser. Mit Josef blieb ich die ganze Nacht an sei nem Bett, und am Morgen habe ich ihm dann eine ordentli che Fleischsuppe gekocht. Er hat die Augen aufgerissen, als sähe er ein Wunder. Ihr hättet sehen sollen, wie er futterte. Als er fertig war, hat er die Schale neben das Bett gestellt, mir die Hand gedrückt und How gesagt. Wenn dir das guttut, dachte ich mir, dann also How. Als wir dann gingen, gab er
mir diese schöne Haut hier. Seht mal…“ Josef breitete vor ihnen eine große gegerbte Büffelhaut aus, die mit herrlichen indianischen Mustern bemalt war. Alle bewunderten das Geschenk des Häuptlings, aber die Schmiedin fuhr fort: „Nur über eins staune ich. Wie kommt es, daß sie alles wissen? Woher haben sie bloß erfahren, daß ich die Leute kuriere?“ Martin dachte nach und sagte nach einer Weile: „Damals, als sie zu Besuch kamen, brachten sie den Korb für Poldi mit. Woher wußten sie nur, daß wir ein kleines Kind bei uns haben?“ „Nun, sie sind hier zu Hause“, meinte Slabihoudek. „Habt ihr vielleicht nicht gewußt, was bei eurem Nachbar los war? Ganz Usti wußte es, wenn ich mich mit der Lojza gezankt hatte oder wenn bei den Zahofiks der Ofen rauchte.“ Sie lachten hell auf. Doch bevor sie auseinandergingen, schlug Martin vor: „Wir müssen ihnen helfen, sonst werden am En de noch alle krank. Heute hat es nicht geschneit. Die Spuren der Schmiedin sind noch frisch. Wir werden ihnen morgen früh etwas zu essen hinschaffen – und jeder wird ein wenig dazu beisteuern. Was meint ihr?“ „Sie haben doch Fleisch“, wandte der knausrige Slabihou dek ein. „Aber sie haben kein Mehl, keinen Zucker, kein Salz. Frü her einmal waren sie Herren über das ganze Land hier, jetzt aber jagen wir sie immer weiter in die Berge hinein, fort von ihren alten Siedlungen. Die Kolonisten lassen ihnen nicht einmal Zeit, den Boden ordentlich zu bearbeiten. Nur durch unsere Schuld leben sie von der Hand in den Mund, nur da durch sind sie ein Nomadenvolk geworden.“ Martins heftige Worte kamen überraschend. Alle schwiegen. Nach einer Weile erhob sich die Schmiedin, ging in die Kammer neben an und kehrte mit einem Beutel zurück. Fünf Pfund Mehl
waren darin. Sie legte ihr Geschenk auf den Tisch und schaute die anderen erwartungsvoll an. Das entschied. So teilten sie das letzte Mehl, den Zucker und das Salz. Alle gaben etwas, einige, wie auch Slabihoudek und Bruzek, aus Angst, eines Nachts überfallen und ausgeraubt zu werden, andere jedoch – und das war die Mehrheit –, um die Not der Indianer zu lindern. Am nächsten Morgen machten sie sich mit den Geschenken auf den Weg: Martin, Josef und Brüzek. Der Schnee war gefroren, und sie kamen gut voran. Am frühen Nachmittag erblickten sie eine dünne Rauchsäule am Horizont, das La ger der Indianer. Es lag zur Hälfte auf einem freien Hang, zur Hälfte im Wald. Nach einigen Stunden sahen sie die ho hen Zelte, die so geschickt zwischen den Baumriesen aufge stellt waren, daß die Zweige sie vor Schnee und Wind schützten. Höher als die Zeltspitzen erhob sich eine Holzsäu le mit geschnitzten Verzierungen. Das war das Totem, das Symbol eines ihrer Götter. Oben, auf einem Tierschädel, glitzerte eine Schneehaube in der untergehenden Sonne. Eine Gruppe Indianer jagte ihnen unter lautem How-HowGeschrei entgegen, und die Tschechen antworteten ebenfalls mit einem fröhlichen How-How. Auf der Lichtung inmitten des Lagers loderte ein Feuer, wo sich die Ankömmlinge erst einmal aufwärmten. Abgemager te Gestalten in verblichenen, einstmals bunten Umhängen umstanden sie. Einige Indianer hatten Decken über die Schultern geworfen, ein Geschenk der Regierung, aber von tausend hatten kaum zehn eine erhalten. Einige Indianer tru gen breite europäische Hüte, andere waren barhäuptig. In die harten schwarzen Haare hatten sie Bänder geflochten, von den Enden hing allerlei Flitterzeug, Glasperlen oder ähnli cher billiger Tand, herab. Kleine Beile, Tomahawks, steck
ten bei den Männern hinter den Gürteln aus Büffelhaut. Zwei oder drei Indianer trugen alte Kentucky-Flinten. Schweigend blickten sie in die Gesichter der Tschechen. Mit keiner Miene verrieten sie, was sie dachten. Ein indianischer Krieger mußte sich beherrschen können. Es war schwer, die ses Gesetz zu befolgen, denn der Indianer hat ein leiden schaftliches Herz. Nachdem die drei Männer eine Zeitlang gewartet hatten, kam ein junger Indianer – Martin erkannte den „Faulen Fuß“ – und führte sie in ein großes Zelt, das von außen mit Zwei gen und Rasenstücken bedeckt war. In der Mitte loderte ein Feuer, und ein kleiner Indianerjunge warf dürre Heidekraut büschel und flache Scheiben aus getrocknetem, mit Nadeln vermischtem Mist in die Flammen, In einer Ecke lag der „Lächelnde Wind“ auf Büffelfellen. Er streckte den Tsche chen die Hand entgegen, aber auch sein Gesicht verschwieg seine Gedanken. Er bat die Gäste, näher zu treten, und als sie an seinem Lager Platz genommen hatten, griff er nach der Pfeife, die er zunächst Martin anbot, der sie nach ein paar Zügen Josef weiterreichte. Dem Schmied wurde schon nach dem zweiten Zug übel, und rasch wollte er sie Brüzek geben, da flüsterte Martin: „Rauch weiter, sie denken sonst, du bist ein Feigling…“ So überwand sich Josef und tat noch ein paar Züge. Dann rauchte Brüzek, der als alter Soldat allen möglichen Tabak gewohnt war. „Brr, ist das ein Zeug!“ schimpfte er gleich nach den ersten Zügen, aber er gab sich nicht geschlagen und rauchte die Pfeife tapfer zu Ende. Martin übergab dem „Lächelnden Wind“ die Geschenke, Als sie den Sack Mehl auspackten, glaubte Martin im Ge sicht des Indianers wieder dieses flüchtige, kaum merkliche Lächeln zu sehen wie damals bei der ersten Begegnung.
„You are my friends“, sagte der Häuptling feierlich, und seine Hand beschrieb einen Kreis, in den er nicht nur Martin Räz, Josef und Brüzek einbezog, sondern auch alle anderen Tschechen mitsamt Justinka und Vojta, also alle Siedler am Sandbach, die jetzt, einige Meilen von diesem Ort entfernt, zusammensaßen und an die Männer dachten, die sie als Ab gesandte zu den Indianern geschickt hatten. Und als echte Abgesandte beteiligten sich die drei auch an dem Gastmahl, zu dem sie „Lächelnder Wind“ einlud. Auf einem Spieß im Feuer leuchtete ein Stück frisches Fleisch. Am Nachmittag hatten die Indianer ein Reh erlegt, das Fell hing jetzt zwischen zwei Bäumen und flatterte im eisigen Wind, der es besser trocknete als die heiße Sonne. Die Indianer, die sich am Feuer versammelt hatten, zeigten kein Interesse für das bratende Fleisch. Ihre Blicke glitten verstohlen zu dem Sack Mehl, zu dem gelben Rohrzucker auf der Bastmatte und zu dem viel kleineren, aber kostbare ren Häufchen, dem Salz, das weiß leuchtend in einer Holzschale lag. Diese Gaben überwanden auch das Mißtrauen des Medizinmannes, der sich mit geheimnisvollen Gebärden über Holzschalen beugte, die ihm junge Indianer gebracht hatten und die der Zauberer jetzt besprach und beräucherte. „Ihr Arzt!“ Brüzek wies auf den Medizinmann. „Er wird wütend auf meine Mutter sein“, meinte Josef, und beide lachten. Denn das, was dem mächtigen Zauberer mit seinen Kunststücken nicht gelungen war, hatte die Schmiedin mit ihren Kräutern und mit ihrer langjährigen Erfahrung fertig gebracht. „Lächelnder Wind“ war wieder gesund! Als das Reh goldbraun gebraten war, reichte der Medizinmann zu erst den Tschechen Schalen, dann dem Häuptling und schließlich den anderen Indianern. Alle rückten näher ans Feuer, einige saßen so dicht bei den Flammen, daß es kein
Wunder gewesen wäre, hätten ihre Hosen aus Leder oder Leinwand Feuer gefangen. Frauen waren nicht hier, nur draußen vor dem Zelt konnte man ihre flüchtigen Schatten sehen. Der Medizinmann eröffnete das Festmahl mit einem lang gezogenen, die Tschechen bedrückenden Gesang, in den die Indianer einfielen. Dabei spielten sie auf merkwürdigen Mu sikinstrumenten, von denen eine Trommel und eine Rassel, die Josef an ein Kinderspielzeug – mit Erbsen gefüllte ge trocknete Gänsegurgeln – erinnerte, den größten Lärm mach ten. Lange sangen sie, und Josef glaubte schon, daß dieses Abendessen niemals beginnen werde. Schließlich beendete der Medizinmann seinen Gesang, die Indianer verstummten, und man vernahm die tiefe Stimme des „Lächelnden Win des“. „You, Martin, my friend…“ Martin begriff, daß ihn der Häuptling zu sich rief. Er stand auf und trat an das Lager. „Lächelnder Wind“ forderte ihn mit einer Kopfbewegung auf, Platz zu nehmen, dann streckte er die Hand aus und legte sie Martin auf die Schulter. Er sprach einige Sätze, die fremden Laute bedeuteten bestimmt etwas Feierliches und Wichtiges, denn alle Indianer lausch ten aufmerksam. Schließlich wandte sich der „Lächelnde Wind“ wieder an Martin, und jetzt sah man ganz deutlich, daß er lächelte! Kaum merklich, wie ein Windhauch nur, aber er lächelte. Auf den Gesichtern der anderen Indianer erschien ein Abglanz dieses Lächelns, und in dem düsteren Zelt, das nur vom flackernden Feuerschein erleuchtet wurde, schien es mit einemmal heller zu werden. Dann richtete sich „Lächelnder Wind“ auf und sagte: „You Martin – good fellow. You are our golden heart – golden heart!“ Golden heart – goldenes Herz. Martin verstand. Der Häupt
ling wiederholte diese beiden englischen Wörter mehrmals, als wolle er, daß sie sich allen ins Gedächtnis einprägten. „Golden heart“, sagte auch der Medizinmann und nickte bedeutsam. „Golden heart“, klang es als Echo durch das Zelt. So erhielt Martin Räz seinen Indianernamen, und seit dieser Zeit nann ten ihn die Indianer nicht anders als „Goldenes Herz“. Nach der Mahlzeit mußten die drei zu Josefs großem Ärger noch eine Friedenspfeife rauchen, und dann verabschiedeten sie sich. Auch sie erhielten drei wunderschöne Büffelhäute, ebensolche wie die Schmiedin. Martin aber hatte das schön ste Geschenk erhalten: die feste Freundschaft der Indianer. Die weiße Schneedecke verschwand überraschend schnell, der Sandbach schwoll an, und im See wogte das von den Talhängen in den Kessel hinabschießende Wasser. Schon Anfang März begannen die Kolonisten zu pflügen, sie säten Hafer und Sommerweizen aus. In wenigen Tagen war der Boden ganz abgetrocknet, die Erde duftete, und in der war men Luft öffneten die ersten Frühlingsblumen ihre Kelche. Das gesamte Vieh wurde auf die Weide getrieben, und je der hatte seine Arbeit. Da hieß es, sich um die Felder küm mern, Bäume für Blockhäuser fällen und für das Vieh sor gen. Im April begann die Saat zu grünen, Vojta und Justinka tummelten sich im warmen Gras, und die Menschen arbeite ten in Hemdärmeln auf den Feldern. „Wir werden schöne Ostern haben“, meinte die Räzova zur Slabihoudkova. „Wir sollten irgendeine Überraschung vor bereiten.“ Sie verabredeten, böhmische Kuchen zu backen, für die Kinder ein paar Eier zu bemalen und Josef zu überreden, nach Shakoppee zu reiten und nach einem Zicklein Aus schau zu halten. Am Mittwochnachmittag vor Ostern began
nen die Frauen mit dem Backen. Die Männer waren auf den Feldern, im Wald oder beim Vieh auf der Weide. Josef war nach Shakoppee geritten, das Zicklein zu besorgen, und Voj ta pflückte mit Justinka am See Frühlingsblumen. Die Slabihoudkova stand am Fenster von Martins Block haus, sie half der Räzovä beim Backen. Eben schaute sie hinaus, und ihre Hände blieben wie erstarrt auf dem Teig klumpen liegen. Der Himmel hatte sich mit bleigrauen Wol ken überzogen. Er war so drohend dunkel, daß die Slabi houdkova voller Angst ausrief: „Marie, schau dir doch mal den Himmel an!“ Kaum hatte sie das gesagt, zerrissen die Wolken: es begann zu nieseln. Doch im nächsten Augenblick ging der Sprühre gen in einen Schneesturm über, der immer stärker wurde. Ein heftiger Wind erhob sich und jagte den Schnee in rasch folgenden Böen gegen das Blockhaus. Ein Schneevorhang versperrte den Blick ins Freie. Es wurde so dunkel, daß die Räzovä Kerzen anstecken mußte. Der Wind heulte, und in der Ferne hörte man es donnern. „Um Himmels willen, die Kinder!“ schrie die Slabihoud kova auf und rannte zur Tür. Doch als sie diese aufriß, trieb ihr der Sturm den Schnee so heftig ins Gesicht, daß sie sich an die Wand lehnen mußte. Rasch schlug die Räzovä die Tür wieder zu und führte die Slabihoudkova in die Stube zurück. Der kleine Poldi im Bettchen fing an zu weinen. Die Mutter kniete bei ihm nieder, drückte das Kind an sich und versuch te gleichzeitig, die weinende Slabihoudkova zu trösten: „Die Männer sind doch bei ihnen. Beruhige dich, sie sind doch bei ihnen…“ Der Schneesturm überraschte Martin mitten auf dem Acker. Rasch spannte er die Ochsen aus und trieb sie im Galopp zum Hang. Die rasenden Schneeböen stemmten sich ihm in
den Weg. Martin drehte den Rücken zum Wind, packte die Zügel mit starkem Griff und wickelte sie um ein Handge lenk. So zog er die Tiere hinter sich her. Brüzek kam aus seinem Blockhaus gelaufen, er half Martin, die Tiere in ei nen Schuppen zu ziehen. Martin wischte sich nur über das vom Schnee gepeitschte Gesicht, dann schrie er Brüzek an, um das Heulen des Sturmes zu übertönen: „Das Pferd – sattel das Pferd, wir müssen das Vieh zusam mentreiben.“ „Bist du toll – bei diesem Wetter!“ antwortete Brüzek, doch Martin schob ihn zur Seite und wankte hinaus zum Pferde stall. Unterwegs blieb er im Schnee stecken und kam nicht weiter. Brüzek lief hinterher und zog Martin wieder in den Schuppen zurück. Beide schauten durch einen Spalt in den Schneesturm hin aus. Martins Atem ging heftig: „Ein Blizzard! Der Kommis sar hat mich davor gewarnt. Er begräbt alles. Das Vieh, die Saat, das Mehl, die Hühner, uns, einfach alles, Brüzek. Wir haben es näher zum Grab, als du denkst.“ Diese Worte wirkten. Brüzek lauschte auf das Heulen des Windes: Die erste starke Welle war vorbei. Er warf sich eine Decke über die Schulter, eine zweite reichte er Martin. Sie traten hinaus und stapften durch den Schnee zur Weide. Das Vieh war nicht da. „Zum Wald!“ rief Martin, und so stiegen sie den Hang hin auf. Sie befreiten eine Kuh, von der nur noch die Hörner zu sehen waren, aus dem Schnee und trieben sie vor sich her zum nächsten Heuschober. Hier standen vier Ochsen, schon zur Hälfte vom Schnee verweht. Oben am Waldrand stießen sie auf Slabihoudek, der mit drei anderen Männern den Rest der Herde bewachte. Die armen Tiere hatten sich im Ge strüpp verkrochen und zitterten vor Kälte und Angst. Es ge
lang ihnen, die Herde unter einem Schleppdach in Sicherheit zu bringen, das Josef für die Holzfäller errichtet hatte. Die darunter gestapelten meterlangen Holzstücke warfen sie in den Schnee und trieben das Vieh unter das Dach. Aber der Wind peitschte von allen Seiten herein, und so wälzten sie die Stämme wieder heran und legten sie übereinander zu einem Wall, der im Nu vom heranjagenden Schnee abge dichtet wurde. Das Gewitter wollte kein Ende nehmen, aber der Wind hat te nachgelassen, und Martin stapfte mühsam zu seinem Blockhaus, um nach den Frauen zu sehen. Kaum hatte er das Zimmer betreten, rief die Räzova: „Mar tin, wo hast du die Kinder?“ Und wieder mußte Martin hinaus ins Freie, müde und in knochenhart gefrorenen Kleidern. Wo steckten die Kinder? Der Schneesturm hatte Vojta und Justinka am Seeufer über fallen. Justinkas Arm war schon ganz voll Blumen, doch Vojta wollte noch eine zartgelbe Seerose pflücken, die am Ufer schwamm. Er riß eine Weidenrute ab und zog die halb geöffnete Blüte zum Ufer. Justinka zupfte ihn am Ärmel und zeigte auf den Himmel. „Es wird regnen“, sagte sie ruhig, und Vojta schaute sich um. In diesem Augenblick riß das riesige schmutzige Tuch über ihnen, dichter Schnee fiel. „Schnell nach Hause!“ schrie Vojta. Er packte das Mäd chen an der Hand und zog es den Hang hinauf. Die scharfen Schneekörner stachen in die zarten Kindergesichter, die Fü ße versanken im Schnee. Justinka blieb stehen. „Ich kann nicht mehr weiter, Vojta, ich kann nicht mehr“, stieß sie her vor; ihre Tränen vermischten sich mit Schnee und froren auf den roten Wangen fest.
Jetzt erwachte der kleine Vojta zu einem ganzen Kerl. Er drohte: „Ich laß dich hier, und du erfrierst!“ Aber gleich dar auf beugte er sich zu ihr und flüsterte eindringlich: „Du mußt, Justa, du mußt!“ Wieder setzten sich die Kinderfüße in Bewegung, winzige Spuren blieben zurück. Die Blumen, Justinkas Arm entfal len, verwehte der wirbelnde Schnee. Vojta kannte hier jeden Stein. Sie mußten nur zu dem Wacholderbusch, zu dem Hau fen Felsblöcke und der hohen Pappel gelangen, dann waren sie auf dem richtigen Weg. Unter der Pappel blieb Justinka wieder stehen. Sie sagte kein Wort mehr, sie zitterte nur am ganzen Körper. Vojta preßte sie an sich und schaute ratlos in das schneeverklebte, blau werdende Gesicht. Nur eine Wei le. Dann zog er das Stück Bindfaden aus der Tasche, das er zum Blumenbinden mitgenommen hatte, wickelte es um Justinkas schmales Handgelenk, machte einen Knoten, einen zweiten und sicherheitshalber noch einen dritten, und das andere Ende des Bindfadens band er mit der Linken und den Zähnen an seinem Handgelenk fest. „So“, sagte er mit fester Stimme. „Jetzt gehst du mir nicht verloren! Komm, Justa, bald sind wir zu Hause – siehst du schon das Licht?“ Sie sah nichts und er auch nicht. Er schleppte sie zu einem mit trockenem Schilf geschützten Heuschober, bohrte mit der steifgefrorenen Linken ein Loch in das Heu und schob das zitternde Mädchen hinein. Dann legte er sich selbst vor die Öffnung, um Justinka vor dem heftigen Sturm zu schüt zen. Beide waren so erschöpft, daß ihnen die Augen zufie len. Und so schliefen sie mitten im Schneesturm ein. Die Männer fanden sie am späten Abend, als sie mit Fackeln nach ihnen suchten. Als Vojta wieder die Augen öffnete, sah er eine Holzdecke
über sich. Eine bekannte Hand glitt über seine Brust, er ver nahm die Stimme des Vaters. „Hast dich gut gehalten, mein Junge!“ „Wo ist…“ Vojta wollte sich aufrichten, aber der Vater be ruhigte ihn: „Hab keine Angst. Schlaf nur! Es ist alles gut gegangen.“ Spät in der Nacht kam auch Josef aus Shakoppee zurück. Der Blizzard hatte ihn in der Nähe des Sägewerks über rascht. Josef verkroch sich, doch als es dunkelte und der Sturm nicht nachließ, dachte er: Besser unterwegs erfrieren als hier. So war er noch während des Unwetters wieder auf gebrochen. Nur dank seiner gewaltigen Kräfte hatte er die Siedlung erreicht. Er trat ins Haus, eingehüllt und ausge stopft mit Schnee, durchgefroren bis auf die Knochen, und konnte sich nicht rühren. Seine Beine waren schwer wie Blei. So stand er mitten im Zimmer und starrte die Mutter stumpf an. Sie rief die Nachbarn zu Hilfe, allein konnte sie ihm die steifgefrorene Jacke nicht ausziehen oder gar die festgefrorenen Stiefel von den Füßen streifen. Danach fiel er wie ein schwerer Stein auf sein Bett, und die Mutter rieb ihm die erfrorenen Füße, die Hände und das Gesicht. Als das Blut wieder warm in seinem Körper strömte, bewegte er mühsam seine geschwollene Zunge. „Mutter, es ist vor der Tür!“ Er wollte sich erheben, aber die Schmiedin hielt ihn zurück und lief selbst in den Vorraum hinaus. Mit einem erstarrten Zicklein kam sie zurück, und er lächelte zufrieden. Das war aber noch nicht alles. „Das Glas noch“, bat er. „Was für ein Glas?“ fragte die Mutter überrascht. „Ich hab auch gleich die Scheibe mitgebracht, weil ich sowieso dort war.“ Wie mochte das ausgegangen sein? Damals war ein schö
ner, sonniger Tag gewesen, und Josef war auf einem Pferd losgeritten, um die Scheibe zu holen. Er hatte Scherben nach Hause gebracht. Und jetzt, bei diesem schrecklichen Unwei ter… „Mutter, ist sie ganz?“ fragte er ungeduldig. Vorsichtig wickelte sie die Tafel aus dem hart gefrorenen Stroh. „Sie ist ganz!“ sagte sie feierlich, und erst jetzt schloß Josef zufrieden die Augen. Die Sioux Der Blizzard hatte der jungen Saat nicht geschadet. Die Weizenernte war hervorragend, und die Kolonisten brachten vierzig Bushel Korn von einem Acre ein, also fast doppelt soviel, wie die steinigen kleinen Felder am Fuße des Adler gebirges den Bauern an Ertrag zu geben vermochten. Auch der Mais war gut geraten, und der Verwalter des Regierungs lagers in Shakoppee kaufte ihnen die halbe Ernte ab. Die andere Hälfte lagerten sie für den Winter ein, und so schien es, als sei ihre Existenz für ein weiteres Jahr gesichert. Be sonders dann, als Slabihoudek auf die gute Idee kam, Körbe zu flechten und Reusen im See auszusetzen. Jeden Morgen fanden sie viele Fische darin. Die Gemüsefelder hatten die ersten Früchte getragen. Das Geld, das sie für den Mais erhielten, wurde gut genutzt. Sie zahlten die erste Rate an den Regierungskommissar für das Land, kauften in der Umgebung von St. Paul weiteres Vieh, und dann blieb ihnen immer noch etwas für den Ankauf von Wintervorräten. Neue Blockhäuser wuchsen am Hang beim Wald in die Höhe, nur wenige Familien wohnten noch in Rasenhohlen, aber auch diese bereiteten sich schon auf den Bau einer fe
steren Wohnung vor. Mit den Tschippewä verband sie gute Freundschaft. Eines Abends kam Hans Schöffler aus der benachbarten deutschen Siedlung Heidelberg zu Besuch. Hinter ihm ritt auf einem schwarzen halbwilden Pferd ein großer, schlanker Mann in einer Lederjacke und einer Lederhose. Auf dem Kopf trug er eine mit Hamsterpelz verbrämte abgeschabte Mütze und auf dem Rücken zwei Gewehre über Kreuz, einen Militärvorder lader und eine schwere Jagdbüchse. Er schwankte lässig auf dem hohen Pferde hin und her, die Füße waren ihm aus den Steigbügeln gerutscht. Als er absprang, stellten die Männer fest, daß er mindestens einen Kopf größer war als Josef, der größte von ihnen. „Danny Baum“, stellte ihn Hans Schöffler vor. „Einer der bekanntesten Pelztierjäger westlich des Mis sissippi.“ Dannys langes, schmales Gesicht zeigte keine Re gung. Das hatte er gewiß von den Indianern gelernt. Ruhig hob er die Hand an seine merkwürdige Mütze und tippte mit dem Zeigefinger an den Schirm. Die Männer hatten von dem berühmten Trapper schon ge hört und wußten, daß er die Steppen von Minnesota genau sogut kannte wie die Hänge der Schwarzen Berge oder ande re waldreiche Jagdplätze. Am liebsten trieb er sich in Minne sota und Dakota umher, wo sich zahlreiche Landsleute von ihm angesiedelt hatten. Danny Baum war in Hamburg als Sohn eines Seemanns geboren und kam nach Nordamerika, als er geradeso alt war wie der kleine Poldi, der jetzt im Arm seiner Mutter schlief. Heute hatte er Heidelberg aufgesucht, um seine Landsleute zu warnen. Brüzek schürte das Feuer, die Flammen schlugen hoch, und die Männer nahmen neben dem Jäger Platz. Er sprach lang sam, damit alle sein mit englischen Worten vermischtes Deutsch verstehen konnten. Anschaulich, doch knapp und
abgehackt wie seine Rede, waren seine Gesten. Die Tsche chen verstanden ihn auch ohne diese, hatten sie doch zu Hause oft mit deutschen Webern zu tun gehabt. Auch die Faktoren, die ihnen das Leinen abkauften, waren meist Deutsche gewesen. „Zwischen dem Niobrara und der Hochebene von Rosebud ist es seit dem Frühjahr unruhig. Die Sioux haben das Kriegsbeil ausgegraben. Sie lehnen sich gegen die Regie rungstruppen auf.“ Das war allerdings eine wichtige Nachricht – aber der Nio brara war weit, und was hatten sie schon mit den Regie rungstruppen gemein? „Es ist möglich, daß die Sioux die Grenzen Minnesotas überschreiten. Ihr müßt euch darauf vorbereiten. Wenn es schlimm wird, geht ihr nach Shakoppee.“ Sollten sie die in mühevoller Arbeit gebauten Blockhäuser, den bestellten Boden, die neue Heimat verlassen? „Wir ha ben ihnen doch nichts getan“, stieß Slabihoudek hervor, aber Danny Baum beachtete ihn nicht. Er zuckte nur die Schul tern und sprach weiter: „Ich bin von Standing Rock zum Großen Fluß der Sioux geritten und unterwegs auf niederge brannte Blockhäuser gestoßen. Vor Redneid stand ein fran zösisches Blockhaus. Zwei Brüder. Beide lagen tot in einem Gebüsch. Und auf einer Lichtung dreißig verlassene Wagen, eine Expedition nach dem Westen: durcheinandergeworfene Säcke, die Menschen fort. Ich ritt weiter. Am Fluß James machte ich nachts ein Feuer an. Da kamen sie, an die drei hundert. Sie wollten die Säcke holen. Als sie sich am Feuer niederließen, sah ich sie nicht an und sie mich auch nicht. Ich ärgerte mich und sprach kein Wort. Warum ich böse sei? ,Geh und schau dir die Toten an, Flinker Fuß. Die Soldaten werden kommen und euch verdreschen.’ Wutentbrannt
sprang er auf. Er sagte nicht einmal How und verschwand.“ Danny Baum seufzte, schwieg eine Weile und sprach dann leise: „Und doch sind sie nicht böse…“ „Warum ermorden sie unschuldige Menschen?“ schrie Ma rie Räzova und drückte ihr Kind an die Brust. „Sie sollen uns in Ruhe lassen!“ rief die Slabihoudkovä ängstlich und drohte in Tränen auszubrechen. Die Männer schwiegen und überlegten. Danny Baum schaute sich um. Langsam stopfte er seine Pfeife, dann bückte er sich, um einen brennenden Zweig aufzuheben, und machte sich nachdrücklich mit dem Anzünden seiner Pfeife zu schaffen. Wie sollte er es ihnen nur sagen? Wie sollte er ihnen das Leben seiner indianischen Freunde schildern, wie ihnen Achtung vor den roten Men schen beibringen? Wie sollte er sie überzeugen, wenn er ge kommen war, sie zu warnen? Und Danny Baum erzählte: „Als die Indianer zum ersten Mal ein Schiff erblickten, glaubten sie, Manitou käme. Die Frauen trugen Speisen her bei, die Männer kamen mit Geschenken. Das Schiff ging vor Anker. Manitou hatte ein rotes Gewand, und in der Hand trug er ein Schwert. Sie bestaunten seine weiße Haut. Hol länder waren es, vor denen sie auf die Knie fielen. Sie gaben den Indianern Schnaps. Erst sträubten sie sich, dann tranken sie. Sie begannen zu springen, zu lachen und zu singen. Dann sanken sie zur Erde und schliefen. Als sie wieder er wachten, erzählten sie, sie seien im Paradies gewesen. Sie wollten noch mehr Schnaps. Und die Holländer gaben ihnen noch mehr Schnaps. So fing es an.“ „Wie lange ist das her?“ fragte Brüzek. „Das war vor zweihundertfünfzig Jahren. Die Holländer wollten in Ruhe leben. Sie baten die Indianer um Land. So viel, wie eine Ochsenhaut mißt. Die Indianer sagten großmü tig zu. Da zerschnitten die Holländer die Ochsenhaut in dün
ne Streifen, banden sie zusammen und dehnten sie, sosehr es ging. Damit maßen sie ein Stück Land an der Küste ab, das war New York. Die Indianer wunderten sich, aber sie beka men Schnaps. Bald kamen die Holländer wieder. Sie wollten wieder Land haben. Die Indianer konnten ohne Schnaps nicht mehr sein. Schritt um Schritt, Meile um Meile, bis wir hierherkamen…“ „Wir? Ich war doch nicht dabei“, verwahrte sich Slabi houdek. „Nach den Holländern kamen die Engländer. Im Norden die Franzosen. Jeder wollte Land. Sie nahmen die besten Jagdplätze, die besten Fischfanggebiete. Als sich die India ner wehrten, begannen die Weißen zu schießen. Die Indianer hatten nur Pfeil und Bogen. Jetzt lernten sie das Gewehr kennen. Sie verteidigten sich. Dann flüchteten sie vor dem Gewehr. Meile um Meile, bis hierher.“ „Heute ist es doch besser. Die Regierung…“, wandte Mar tin ein. „Die Regierung hat einen Vertrag mit den Sioux, den Cheyennes und den Arapaho unterschrieben. Sie hat ihnen ein Territorium zugewiesen. Von Klein-Missouri bis zu den Black Hills. Dann kamen die Texasleute mit ihrem Vieh. Sie brauchten Gras. Die Regierung gab ihnen ein Stück vom Indianerterritorium. Es kamen neue Kolonisten. Die Regie rung gab ihnen ein Stück von Klein-Missouri. Für vierzig Millionen Acres bekamen die Osagen tausend Dollar. Heute gibt es die Osagen nicht mehr, sie sind ausgestorben.“ Die Weißen schwiegen. Hatten sie nicht auch schuld an der Not der Tschippewä, die noch vor zwanzig Jahren ungestört an den Ufern der Seen fischten, auf denen sich jetzt der Mond spiegelte? Noch vor kurzem jagten sie in den Wäldern, die heute abgeholzt sind. Gestern noch – nein, es war besser,
nicht daran zu denken, was war. Man mußte sich bemühen, es wiedergutzumachen. Und da sie den guten Willen hatten, sagte Martin Räz für sie alle: „Wir nehmen die Tschippewä unter unseren Schutz. Man kann doch in Frieden mit ihnen leben. Wir werden sie pflügen und säen lehren und auf unsere Weise zu leben…“ Er sagte das, um sein eigenes Gewissen zu beschwichtigen. Kaum hatte er aber die Worte ‘ausgesprochen, zweifelte er schon an seinem Vorschlag. „Sie führen ihr eigenes Leben“, sagte Danny Baum leise, als hätte er Martins Gedanken gelesen. „Sie haben ihre Bräuche, ihr werdet sie nicht über Nacht lehren, auf unsere Weise zu leben. Wird ein Indianer sechzehn Jahre alt, herrscht eitel Freude, aber auch Schmerz. Der Medizinmann tötet eine Kuh. Es gibt ein Festmahl, und der Junge geht schlafen. Am nächsten Morgen wartet der Zauberer vor sei nem Zelt. Was hast du geträumt, Krieger? Hast du im Traum eine Schlacht gesehen? Ein Festmahl? Blut? Ist dir Manitou erschienen? Gut, wir werden erproben, ob du reif bist. Die Indianer lassen sich im Kreis nieder. Der Junge steht in ihrer Mitte. Er ist nackt. Der Medizinmann sticht mit einem Mes ser in seine Brust und zieht eine Sehne durch die Haut, das Lariat. Daran bindet er den schweren Kopf eines Aueroch sen. Der Junge ist sechzehn Jahre alt. Man jagt ihn an einen steinigen Platz, Den Kopf des Auerochsen zieht er hinter sich her. Lauf schnell, lauf! rufen sie, und wenn er nicht läuft, lachen sie ihn aus. Bist eine Squaw! Ein Weib! Der Junge rennt. Er blutet. Die Wunde an der Brust wird immer größer. Sie rufen: Schneller, du bist ein Mann! Wenn er aus hält, bis das Lariat seine Brust zerrissen hat, tragen sie ihn auf Händen. Wenn er nicht aushält, ist er eine Squaw. Diese Schmach ist schlimmer als der Tod.“
Danny nahm einen Schluck aus dem Krug mit süßem Ahornsaft und fuhr dann fort: „Ein harter Krieger erzieht harte Krieger. Die Männer eines Stammes halten auf Leben und Tod zusammen. Sie haben ihre Geheimzeichen. Wenn ein Sioux in der Prärie einem Indianer begegnet, grüßt er. So eine Bewegung macht er mit dem Zeigefinger: vom linken Ohr unter dem Kinn durch zum rechten Ohr. Als würde er den Hals durchschneiden. Ein Arapaho hebt den linken Arm und fährt in der Ellenbogengegend mit der rechten Hand darüber. Die Komantschen deuten das Ohrabschneiden an. Die Cheyennes machen ein Schlangenzeichen. Die Iowas ahmen das Fußabschneiden nach. Aber wehe, wenn sie ei nem Feind begegnen. Sie weichen einander niemals aus. Entweder geht der eine oder der andere vom Platz. Mit dem Skalp. Sie schneiden dem gefallenen Feind die Haare mit samt der Haut ab. Das ist die größte Schande. Ohne Haare kommt kein Indianer in die ,Ewigen Jagdgründe’, in das Pa radies der Indianer.“ „Wie kommt es, Danny, daß du lebst und gesund bist? Du bist doch schon mit so vielen Komantschen, Sioux und Cheyennes zusammengetroffen.“ Danny lächelte auf Hans Schöfflers Frage. „Ich bin aller Freund. Und dann kenn ich auch die Zeichen. Wenn ich einem Sioux begegne, ziehe ich den Zeigefinger unterm Kinn durch, begegne ich einem Cheyenne, mache ich eine Schlange.“ Sie lachten. „Aber warum tun das nicht alle Indianer? Kennen sie die Zeichen der anderen Stämme nicht?“ fragte Janda. „Ich bin ein Weißer. Ich kann aller Freund sein. Der Indianer darf nur ein Zeichen machen. Das seines Stammes. Sonst wird er verflucht. Ist eine Squaw. Manitou verstößt ihn. Ein Indianer stirbt lieber, als daß er das Grußzeichen fälscht. Der Indianer ist nicht gewohnt zu lügen.“
„Er belügt nur die Weißen“, wandte Brüzek kurz ein. Er war nicht so von der Unbescholtenheit der Indianer über zeugt. „Die Weißen?“ wiederholte Danny. Er zuckte die Schul tern. „Die Weißen haben ihnen das Lügen erst vorgemacht. Ich will euch sagen, wie sie die Weißen betrachten: Der gro ße Manitou wollte den Menschen erschaffen. Er nahm Lehm und formte eine Gestalt daraus. Er brannte sie im Feuer – und verbrannte sie. So entstand der Neger. Dann ließ er sie zu kurze Zeit im Feuer, und es entstand der Weiße. Erst beim dritten Mal gelang das Werk. Er brannte die Gestalt nicht zu wenig, aber er verbrannte sie auch nicht. So wurde der Indianer.“ „So bin ich also nicht genug gebrannt!“ rief Slabihoudek spöttisch. Aber Danny verbesserte ihn ruhig: „Unvollkom men sind wir. Und sie haben recht. Ich habe mit einem christlichen Missionar gesprochen, der den Tschippewä eine Bibel brachte. Die Tschippewä lehnten sie ab. Sie sagten: Manitou hat das gioße Buch den Weißen gegeben. Die In dianer brauchen kein großes Buch. Sie kennen den Willen ihres Gottes. Im Herzen tragen sie ihn, nicht im Buch. Die Weißen sagen, was in ihrem großen Buch geschrieben steht, und handeln nicht danach. Sie sagen: Du sollst nicht töten! Und sie töten. Sie sagen: Du sollst nicht stehlen! Und sie stehlen. Schon seit dreißig Jahren reite ich zu ihnen, zu den Tschippewä an den Quellen des Minnesota, zu den Sioux am Yellowstone, am liebsten aber zu den Cheyennes nach Da kota, weil jeder sie verflucht. Man sagt, die Cheyennes seien wilde Hunde. Ich aber hab sie gern. Schon von weitem be grüßen sie mich. Die kleinen Cheyennes zupfen mich am Ärmel. Ich. bringe ihnen sweet pice mit, Zuckerkuchen. Sie wollen mich nicht
gehen lassen. Sie singen mir Lieder vor. Die Großen versor gen mein Pferd. Das Bleichgesicht schläft, sagen sie, wir müssen still sein. Sie geben mir zu essen. Am Morgen, wenn ich aufstehe, ist das Pferd sauber, am Sattel hängen ein Schinken und eine Flasche Wasser. Die Cheyennes begleiten mich. Daß dir auch nichts zustößt, Starker Baum.“ Da fiel ihm etwas ein. Er wandte sich an Martin. „Dich nennen sie ,Goldenes Herz’. Ich weiß es. Ein merkwürdiger Name bei Indianern. Gold… sie glauben, du hast sie gern. Sie wollten dir eine Freude bereiten. Eine große Ehre. Wisse das zu schätzen! Sonst…“ Ein Schatten überzog das Gesicht des Jägers, „… sonst nennen sie die Weißen ,Lange Messer’.“ Martin Räz begriff. „Danny Baum, wir alle hier wollen uns darum bemühen, daß sie uns nicht so nennen. Wenn es nur nicht schon zu spät ist.“ Danny Baum erhob sich. Er legte die Hand auf Martins Schulter: „Es ist niemals zu spät. Lebt mit ihnen zusammen wie mit euresgleichen. Das ist der einzige Weg, Martin.“ Das Feuer erlosch. Keiner hatte daran gedacht, Holz nachzu legen. So kehrten alle in ihre Blockhütten und Erdhöhlen zurück mit der festen Absicht, die Martin so klar für sie aus gedrückt hatte: sie dürfen zu uns nicht „Lange Messer“ sa gen, zumindest zu uns hier nicht! Danny übernachtete in dem Blockhaus von Martin Räz. Noch bevor er einschlief, hörte er, wie Martin seiner Frau zuflüsterte: „Unser Kleiner wird schon bessere Zeiten erle ben…“ Am frühen Morgen machten sich drei Männer auf den Weg nach Shakoppee: Danny, Martin und Hans Schöffler. Der Kommissar war schon über den Aufstand der Sioux unter richtet. „Habt ihr Waffen?“ fragte er Martin. Heute verlief ihr Ge
spräch schon flüssiger, da brauchten sie sich nicht mehr mit Gesten zu verständigen. Martin konnte schon ganz gut Eng lisch, und was er nicht verstand, übersetzten ihm Hans Schöffler und Danny. „Wir haben drei Vorderlader, zwei Büchsen und zwei Colts“, sagte Martin, und des am Vorabend gefaßten Ent schlusses eingedenk fügte er rasch hinzu: „Wir werden aber nicht schießen.“ „Wollt ihr die Sioux mit bloßen Händen erwarten?“ „Warum nicht? Das ist mir schon einmal gelungen.“ „Sie sind ein Tor. Nur deshalb, weil die Tschippewä Sie ,Goldenes Herz’ nennen?“ Der Kommissar grinste. „Nein, weil jemand den Anfang machen muß!“ sagte Martin fest, doch der Kommissar beachtete ihn nicht mehr, er fragte Hans Schöffler: „Haben Sie dort wenigstens einen Palisa denzaun für das Vieh? Er wird anders reden, wenn ihn die Sioux erst einmal mit Pfeilen überschütten.“ „Damals sagten Sie, hier sei es sicher. Ich habe Ihnen ge glaubt, Kommissar. Und heute bin ich gekommen, um Sie zu überzeugen“, verteidigte Martin seinen Standpunkt. „Bauen Sie einen Palisadenzaun um das größte Blockhaus herum“, sagte der Kommissar zu Hans Schöffler, aber sein Rat war auch für Martin Räz bestimmt. „Fangt gleich damit an. Wenn es zu einem Überfall kommen sollte, ziehen sich alle in dieses Blockhaus zurück. Vereint seid ihr stärker. So wer det ihr schon aushalten, bis Verstärkung kommt. Stellt bei Tag und bei Nacht Wachen aus. Bestimmt Leute, die Nach richten übermitteln sollen, am besten Reiter. Wenn Gefahr droht, schickt sofort einen Boten nach Shakoppee, wir wer den euch schon helfen. Und Heidelberg soll sich nach Prag zurückziehen – dort unten könnt ihr euch allein nicht vertei digen.“
„Die Sioux werden die Grenzen von Minnesota wohl gar nicht überschreiten“, meinte Danny Baum. „Sie fürchten die Tschippewä.“ „Die Sioux fürchten die Tschippewä nicht“, hielt ihm der Kommissar entgegen. „Sie fürchten nur die Regierungstrup pen, Danny. Ich hab eine gute Nachricht für Sie. Die Solda ten sind schon unterwegs.“ „Soldaten!“ entfuhr es Martin. In seinem Aufschrei lag Pro test. „Seien Sie doch froh, Boy.“ Der Kommissar wandte sich an Martin wie ein Vater an seinen ungehorsamen Sohn. „Die Soldaten werden kommen und euch beschützen.“ Martin verließ das Blockhaus. Danny holte ihn ein. „Vorsicht – Goldenes Herz! Die Sioux sind nicht die Tschippewä!“ „Sie haben doch selbst gesagt:…. wie mit unsresgleichen. Das ist der einzige Weg!“ „Im Frieden. Jawohl. Aber jetzt ist Krieg“, sagte Danny. Er drückte Martins Hand und versprach Hans Schöffler, die alarmierende Nachricht in allen kleinen Siedlungen Minne sotas zu verbreiten. Dann wolle er nach Shakoppee zurück kehren. An einer Weggabelung nahmen sie Abschied voneinander. Der eine ritt nach Norden in das Innere Minnesotas, der an dere nach Süden, nach Heidelberg, der dritte machte sich auf den Rückweg nach Prag. Als Räz wieder allein war, ließ er sich das Gespräch mit dem Kommissar, die gestrigen Worte Danny Baums und dessen heutiges Verhalten durch den Kopf gehen. Dannys Ratschläge waren gewiß richtig, aber wie sollten sie sich verhalten, wenn die Sioux wirklich mit kriegerischen Ab sichten kämen? Diesmal würde es nicht nur um ihn, um
Martin gehen. Diesmal betraf es die ganze Siedlung! Und den Sioux mit leeren Händen entgegengehen?… Nein, nein! Der Kommissar hatte schon recht, das wäre zu gefährlich. Es ist Krieg. Danny hatte das richtig gesagt. Unentschlossen und verwirrt traf er am späten Nachmittag wieder zu Hause ein. Schließlich behielt die Furcht die Oberhand. Er befahl den Männern, Stämme zurechtzuhauen und einen Palisadenzaun um Josefs Blockhaus zu errichten. Allen teilte er mit, daß Gefahr durch die Sioux heraufziehe, aber er sagte ihnen auch, daß Soldaten der Regierungstrup pen unterwegs seien. Als er merkte, wie sehr die anderen erschraken, versuchte er sie wieder zu beruhigen. „Denkt daran, was uns Danny gesagt hat. Die Indianer sind auch nur Menschen. Wir müssen mit ihnen…“ „Menschen!“ Slabihoudek schrie es heraus. „Eben deshalb, weil sie auch nur Menschen sind und keine Engel! Ich glau be Danny Baum nicht. Sie werden kommen und uns die Kehle durchschneiden.“ Die Frauen begannen zu jammern. Janda trat zu Slabihou dek. Sein Gesicht war finster, fast wäre es zu einer Schläge rei gekommen. Doch Martin ergriff seine Axt und machte sich im Schein des Feuers daran, einen Stamm zu behauen. Sofort schlössen sich ihm alle an. In fieberhafter Eile hoben sie um Josefs festes Blockhaus Gräben aus, setzten die zuge spitzten Stämme hinein, füllten die Löcher mit Steinen und Lehm und banden die Stämme mit Wurzeln, mit Stricken und Gurten aneinander. Als dieses Material ausging, nahmen sie zu Streifen gerissenes Leinen, kurz alles, was sie gerade zur Hand hatten. Die Frauen brachten die Kinder zu Bett und halfen den Männern. Von Zeit zu Zeit lauschten sie. Es tönte wie ferner Trommelwirbel. Oder war es das Blut, das in ih ren Schläfen pochte?
Sie arbeiteten die ganze Nacht hindurch; der Tag brach an, und sie hörten noch nicht auf. Um zehn Uhr vormittags brannte die Sonne so heiß wie mitten im Sommer. Der Schweiß rann den Männern in Strömen über die Brust. Aber die ängstlichen Blicke der Frauen spornten sie an. Von neu em ergriffen sie die Äxte, spannten die erschlafften Mus keln… Josef beschattete die Augen und schaute zum See hinunter. Es dauerte lange, bevor er sagte: „Mir scheint, daß…“ Da kamen ihm die Frauen in den Sinn. Er verstummte, denn er wollte sie nicht unnütz erschrecken wie Slabihoudek gestern abend. Mit dem Ellbogen stieß er Martin an; dieser richtete sich auf und blickte in die Richtung, die Josef unauf fällig angedeutet hatte. In der Prärie, weit hinter dem See, bewegten sich winzige Punkte, die langsam größer wurden. Es waren nicht viele, vielleicht zwanzig oder dreißig Reiter, aber sie kamen näher, auf den See zu. Josef und Martin schauten wie gebannt in die Ferne. Sie bekamen kein Wort heraus. Ein Gefühl der Beklemmung ließ ihren Atem stocken. Jetzt hatten die beiden Ansiedler schon Gewißheit. Auf den Köpfen und auf den Pferdehälsen zitterten Federn. Indianer. Bevor sie die anderen aufmerksam machen konnten, zerriß ein Aufschrei die Stille. Man hatte sie schon erblickt. Die Siedler rannten verwirrt durcheinander, dann liefen sie hinter die halbfertige Palisade und riefen verzweifelt: „Die Indianer kommen!“ Die Verwirrung raubte ihnen die klaren Gedanken. Sie rannten wieder aus Josefs Haus heraus, liefen zu ihren Blockhütten und verbarrikadierten Türen und Fenster mit Möbelstücken. Dann aber erinnerten sie sich an das Vieh,
der Bauernverstand erwachte in ihnen, sie stürzten sich auf die einfache Barrikade an der Tür, rissen sie auseinander und eilten wieder ins Freie. Andere krochen unter die Erde, in ihre Rasenhöhlen, ver stopften Fenster und Tür mit Steinen und Lehm und drück ten die Kinder und die Frau an sich in der Hoffnung, dem Unheil unbeachtet zu entgehen. Auch die Tiere wurden unruhig. Die Kühe brüllten, die Hühner flatterten aufgeschreckt zwischen den Menschen umher, Brüzek lief aus dem Stall heraus, das sich aufbäu mende Pferd am Zügel. „Nach Shakoppee!“ schrie ihm Martin zu, und er begriff sofort. Er saß auf und ritt in den Wald. Martin breitete die Arme aus und versperrte den aufge schreckten Menschen den Weg zur Flucht. „Zu Josef! Ins Blockhaus! Hört ihr – ins Blockhaus!“ Die einen gehorchten, andere rannten weiter zu ihren Familien. Inzwischen ritten die Indianer in einem weiten Bogen um den See herum und näherten sich der kleinen Herde, die am See weidete. Schon erklang das Blöken der Kälber, die sich ängstlich an die älte ren Tiere schmiegten. Die Indianer mäßigten ihren Galopp, sie trieben die Herde zusammen, und es schien, als suchten sie die besten Tiere aus. Martin Räz vergaß die Menschen, die Siedlung, das Block haus. Er konnte den Blick nicht von diesem Bild losreißen. Nein, noch glaubte er es nicht. Das werden sie doch nicht wagen! Sie sind gerecht. Sie stehlen nicht. Sie wehren sich nur dann, wenn man auf sie schießt. Die Indianer suchten aus der Herde die drei schwersten Tiere heraus, töteten sie an Ort und Stelle und häuteten sie ab. Sie schienen es gar nicht eilig zu haben, sie waren abgesessen und zeigten für die Kolonisten kein besonderes Interesse. Wären nicht die
drei geschlachteten Tiere gewesen, hätte man meinen kön nen, sie seien mit völlig friedlichen Absichten gekommen. Das übrige Vieh lief dumpf brüllend auf den Hängen aus einander. Die Indianer kümmerten sich nicht mehr darum, drei Tiere genügten ihnen, Martin konnte diese unerwartete Schlechtigkeit nicht fas sen. Jetzt stand er ganz allein auf dem Hang. Die anderen warteten hinter den Palisaden, die Augen an die Spalten ge preßt, oder schauten über die spitzen Pfähle. „Sie bringen uns um!“ jammerte die Slabihoudkova. Einige Frauen weinten. „Sie haben unser Vieh getötet“, sagte die Schmiedin böse und drohte mit der Faust zu den Indianern hinüber. Die Furcht wurde zu Haß. Auch in Martin wallte das Blut auf. Er war erbittert, aber immer noch glaubte er an das gute Herz der Sioux und ver suchte sie zu entschuldigen. Sie haben Hunger, sie werden uns um Verzeihung bitten. Er dachte sich ganz dumme Gründe aus, an die er selbst nicht glaubte. Dann fielen ihm Dannys Worte ein. Er war stolz auf das Vertrauen, das ihm die Indianer entgegenbrachten, war stolz auf sein gutes Herz, und mit energischen Schritten ging er direkt auf die Indianer zu. Da sahen sie ihn, überrascht blieben sie stehen: Vom Hang stieg ein unbewaffneter Mann herab und kam direkt auf sie zu… „Martin!“ schrie Marie Räzova auf und rannte hinter dem Palisadenzaun hervor. Die Männer erwachten aus ihrer Stumpfheit. „Laßt ihn doch nicht umbringen!“ schrie die Schmiedin. Eine Bewe gung ging durch die Kolonisten. Josef lief hinter der Räzovä her, die Zimmermannsaxt in der Hand. Slabihoudek ergriff ein Wilkinsongewehr und lud es. Aus den Blockhäusern, den
Rasenhöhlen und ihren Verstecken heraus kamen die Men schen. Das Entsetzen war von ihnen gewichen. Sie dachten nicht mehr daran, in welche Gefahr sie sich begaben, so wie ein Bauer sich keine Gedanken darüber macht, wenn er sein gefährdetes Haus verteidigt. Ein Räuber ist in den Hof ein gedrungen, man muß ihn vertreiben. Sie ergriffen, was in Reichweite ihrer Hände lag: Dreschflegel, Mistgabeln, Hak ken, Spaten, und liefen Josef nach, das Leben, die Kinder und Martin zu verteidigen. Der hörte den Lärm hinter sich und schaute sich um. über rascht blieb er stehen, als er die vielen Menschen sah, die ihm nachliefen. Er wollte sie zum Halten bringen, ihnen zu rufen: Wo wollt ihr hin! Bleibt stehen, bleibt doch stehen! Ich werde allein mit ihnen sprechen, so hat das keinen Sinn… Doch bevor er den Mund öffnen konnte, stützte Slabihou dek die Schulter gegen den Stamm einer Pappel, preßte den Gewehrkolben an die Backe und drückte ab. Alles blieb ste hen. Die Menschen, die Pferde, das Vieh! Sogar die Wolken, die über den See zogen, und die Vögel über ihnen erstarrten in der Luft. Und alle sahen nur eine einzige Bewegung: Das Messer, mit dem der eine Sioux das Rind abzog, fiel zur Er de, er wankte. Da kehrte Bewegung in das Tal des Sandba ches zurück. Die Indianer fingen den fallenden Kameraden auf, hoben ihn auf ein Pferd und saßen im Nu in den Sätteln. Die roten und weißen Federn auf ihren Köpfen flatterten im Wind. Ein hoher, kehliger Schrei erscholl. Einer dünnen Wolke gleich jagten sie den Hang hinauf. Auf sie zu. Pfeile pfiffen. Martin sank zu Boden. Wie mit unsresgleichen – wird das niemals jemand begrei fen? Sie jagten über ihn hinweg. Schon erkannten die Siedler die mit weißen Strichen bemalten Gesichter, die Federhau
ben, das Blitzen der Schmuckstücke, die wehenden Mähnen der Pferde, den Schaum an ihren Nüstern, schon nahte Ver nichtung und Tod… Die Kolonisten stoben auseinander. Nur Josef stand breitbeinig da, er hob die Axt und wartete. Allein gegen alle. Oben am Wald erklang ein Schrei, kühner und schärfer als der Kampfruf der Sioux, frischer, denn er flog den Hang hinab und brachte das Leben. Die tödliche Welle verlangsamte ihren Lauf. Die Sioux hielten an – und galoppierten zurück! Aus dem Wald von Shakoppee jagten dreihundert Tschip pewä in Kriegsbemalung. Auch sie trugen Federn auf den Köpfen, hatten Gewehre und Bogen in den Händen. In gleichmäßigem Galopp jagten sie den Hang hinab. Als die Spitze die Blockhäuser erreichte, hörten die Indianer auf zu schreien. In ihre Gesichter trat gespannte Aufmerksamkeit. Federnd leicht berührten die Pferde den Boden. Regungslos stand Josef mitten auf dem Hang. Jetzt hatte ihn die Welle erreicht, er hörte das Keuchen der Pferde, den Atem der Männer, das Trampeln der Hufe. Sie jagten vorbei. Die riesige Welle ward kleiner, verschwand hinter dem See und wurde endlich von der weiten Prärie verschluckt. Stille trat ein. Sie kam so plötzlich und eindringlich, daß man das leise Schluchzen der Slabihoudkova vernahm. Die Männer erho ben sich aus dem zertrampelten Gras, noch trauten sich die Frauen kaum aufzublicken. Da erklang eine menschliche Stimme. Eine zweite, eine dritte. Zaghaft riefen sie einander zu, krochen aus ihren Verstecken, hinter den Bäumen her vor, noch betäubt vom Kampfruf der Sioux, verwirrt vom rettenden Schrei der Tschippewä. Martin war nicht zu sehen, so gingen sie alle auf Josef zu, der immer noch auf seinem
Platz stand, die Axt in der Hand, unbeweglich wie ein Fels block. Schon waren sie bei ihm, und ihr Blick wanderte in die Richtung, in die Josef starrte: zu Martin, der auf dem Rücken im hohen Gras lag, das Gesicht dem Himmel zuge kehrt, die Augen offen. Ein Pfeil steckte in seiner Brust. Weit ausgebreitet waren seine starken Arme, als wolle er sie alle noch ein letztes Mal umfangen.