Ren Dhark Der Drakhon-Zyklus Band 8
Herkunft unbekannt Herausgegeben von HAJO F. BREUER
HJB
Der Drakhon-Zyklus! Während Ren Dhark in Drakhon kämpft, wird die Erde Angriffsziel der mächtigsten Raumflotte, die den Blauen Planeten jemals ins Visier nahm. Und in der größten menschlichen Kolonie im All, auf dem ehemaligen Mysterious-Planeten Babylon, macht ein Mann von sich reden, über den man nur eines mit Gewißheit sagen kann: HERKUNFT UNBEKANNT... Diese Buchausgabe präsentiert die endgültige Fortschreibung des Klassikers nach Motiven von Kurt Brand. Es gibt noch viel zu entdecken im Dschungel der Sterne – steigen Sie ein und fliegen Sie mit!
1. Auflage HJB Verlag & Shop KG Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 0 26 31-35 48 32 0 26 31 -35 6100 Fax: 0 26 31 -35 6102 www.ren-dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Exposés: Hajo F. Breuer Titelbild und Illustrationen: Swen Papenbrock Druck und Bindung: Wiener Verlag Ges. m.b.H. ©2001 HJB Verlag REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-930515-34-2
Vorwort Sommerzeit – Urlaubszeit. Wenn man so ein arbeitsintensives Buchprojekt wie REN DHARK betreut und trotzdem wie alle anderen ein paar Tage des Abschaltens und der Erholung genießen möchte, dann muß man eben vorarbeiten. Deshalb schreibe ich diese Zeilen nur wenige Tage, nachdem ich den vorigen Band in die Druckerei gegeben habe – etwa vier Wochen, bevor er überhaupt erscheint. Daher habe ich momentan noch keine Ahnung, wie die Reaktion der Leser auf unser Angebot eines »Abends mit REN DHARK« ausgefallen ist. Im Internet ist der erste Hinweis gerade erst seit ein paar Tagen nachzulesen, und wir haben schon eine ganze Reihe Anfragen und Kartenbestellungen bekommen. Da wir die Teilnehmerzahl am REN DHARKEvent streng auf maximal 80 Gäste limitieren, ist damit zu rechnen, daß nur noch wenige Karten verfügbar sind, wenn Sie diese Zeilen lesen. Deshalb kann ich Ihnen nur raten, sich Ihre Teilnahme an dem einmaligen Ereignis möglichst umgehend zu sichern! Was ist geplant? Aus Anlaß des 35jährigen Bestehens von REN DHARK treffen wir uns am 6. Oktober 2001 in Koblenz in festlichem Rahmen. Manfred Weinland, Uwe Helmut Grave, Verleger Hansjoachim Bernt und meine Wenigkeit referieren über die verschiedenen Aspekte bei der Realisierung einer so großen Serie wie REN DHARK. Das soll aber nicht in trockenen Vorträgen geschehen, sondern in munterer Interaktion mit Ihnen. Höhepunkt wird sicher die große Diskussionsrunde im Anschluß an das Abendessen, an die sich ein lockerer Ausklang an der Bar anschließt. Eine Reihe weiterer RD-Autoren haben ihr Kommen ebenso zugesagt wie
»andere« SF-Prominenz von Rang und Namen. So hat sich Ronald M. Hahn die Teilnahme am Event schon gesichert. Damit Sie besser nachvollziehen können, wie wir arbeiten, erhält jeder der Teilnehmer das Original-Exposé des neunten Bandes dieser Reihe. Das entsprechende Buch wird erst im Dezember veröffentlicht, so daß Sie schon zwei Monate vorher wissen, wie es weitergeht! Mehr über die Veranstaltung finden Sie auf den letzten Seiten dieses Buches. Ich freue mich jedenfalls schon auf den 6. Oktober – und auf die Begegnung mit Ihnen! Etwas ganz Besonderes haben wir uns zum Sonderband einfallen lassen, der gleichzeitig mit dem vorliegenden Band erscheint. Er trägt den Titel »Dreizehn« nicht nur deshalb, weil er der 13. REN DHARK-Sonderband ist, sondern weil diese Zahl eine ganz besondere Rolle in dem Roman spielt. Das von Werner K. Giesa verfaßte Abenteuer schließt an die Ereignisse nach dem Angriff der Tel-Rebellen auf die Erde an, die auf den ersten Seiten des Buches geschildert werden, das Sie gerade in Händen halten. Ich will an dieser Stelle nicht zu viel über »Dreizehn« verraten – aber das kann ich doch sagen: Der Band schildert ein dramatisches Ereignis, das sich die meisten RDLeser schon lange gewünscht haben, mit dessen tatsächlichem Eintritt aber doch wohl kaum jemand rechnete... Nun aber zum vorliegenden Buch, das wieder von der »üblichen Viererbande« verfaßt wurde: Werner K. Giesa, Uwe Helmut Grave, Conrad Shepherd und Manfred Weinland. Lehnen Sie sich zurück und lassen sich entführen in eine Welt voller Abenteuer und Gefahren – in eine Welt der Zukunft, wie es sie nur bei REN DHARK geben kann! Giesenkirchen, im Juli 2000 Hajo F. Breuer
Prolog Die galaktische Katastrophe, die Ende des Jahres 2057 die Milchstraße heimsuchte, hat sämtliche technischen Errungenschaften der Mysterious, die nicht von einem Intervallfeld geschützt waren, in nutzlosen Schrott verwandelt. Darüber hinaus hatten die Völker der Milchstraße alle unter den Folgen der Energiefront aus dem Hyperraum zu leiden, ob sie nun Mysterioustechnik benutzten oder nicht. Bewußtlosigkeit, Kurzschlüsse und Unfälle forderten allen technisch entwickelten Zivilisationen einen hohen Blutzoll ab. Allein auf der Erde fanden mehr als 50 Millionen Menschen den Tod. Ren Dhark vermutet einen Zusammenhang zwischen dieser Katastrophe, den verheerenden Strahlenstürmen in der Galaxis und der unerklärlichen Entdeckung der Galaxis Drakhon, die mit der Milchstraße zu kollidieren droht. Weil offenbar auch die Grakos, jene geheimnisvollen Schattenwesen, die so unerbittliche Feinde aller anderen intelligenten Lebensformen zu sein scheinen, unter den Folgen der kosmischen Katastrophe leiden und ihre Angriffe eingestellt haben, bricht Ren Dhark mit seinen Getreuen zu einer Expedition nach Drakhon auf. Da die Erde nach dem Ausfall ihrer meisten SKreuzer auf kein Raumschiff verzichten kann, steht für die Expedition nur ein einziges Schiff zur Verfügung: die POINT OF. Ausgerüstet mit von den Nogk konstruierten Parafeldabschirmern steuert das terranische Flaggschiff noch einmal den Planeten Salteria an, auf dem die letzten Salter Zuflucht bei den paramental enorm starken Shirs gefunden hatten. Diesen gewaltigen Kolossen war es offenbar gelungen, die Erinnerungen und Sinneseindrücke der Terraner beim
ersten Aufenthalt auf ihrer Welt fast nach Belieben zu manipulieren. Beim Einflug nach Drakhon macht die Funk-Z der POINT OF eine erstaunliche Entdeckung: In der fremden Galaxis, die beim ersten Besuch funktechnisch »tot« war, wimmelt es nun von Kommunikationssignalen im Hyperraum. Offenbar hatte auch in dieser Sterneninsel ein kosmischer Blitz zugeschlagen, der die hier lebenden Völker aber früher außer Gefecht gesetzt haben muß als die Bewohner der Milchstraße... Ren Dhark erhält Hinweise auf das geheimnisumwitterte Volk der Rahim, das Drakhon früher mit seiner Supertechnik beherrscht haben soll, aber seit rund 600 Jahren verschwunden ist. Den Commander packt das Jagdfieber: Die Parallelen zu den Mysterious sind kaum zu übersehen! Von den Galoanern, einer höchst friedfertigen Zivilisation, bekommt das terranische Expeditionskorps Hinweise auf eine »verbotene Zone«, in der Spuren der Rahim zu finden sein sollen. Die Besatzung der POINT OF entdeckt in dieser Zone den Planeten der Rags. Auf dieser technisch noch rückständigen Welt finden sich Artefakte der Rahim – und deutliche Hinweise auf ihren Lebensraum. Nach einem Zwischenspiel auf der Freizonenwelt Doron kann Ren Dhark endlich in den Bereich Drakhons starten, in dem er die Rahim vermutet. Er ahnt nichts davon, daß Terra zu gleicher Zeit in höchster Gefahr schwebt. Eine gewaltige Flotte von Doppelkugelraumern der Tel ist unterwegs zur Erde, um die Heimat der Menschen zu erobern. Renegaten, die sich gegen die rechtmäßige Regierung des Telin-Imperiums wandten, haben sich mit den Robonen verbündet und einen teuflischen Plan ausgeheckt. Er soll ihnen trotz der bevorstehenden Niederlage beim Kampf um Cromar doch noch den Sieg bringen...
1. Ter de Vries erinnerte sich an einen leidenschaftlichen Kuß. Und fühlte sich dennoch hundeelend. Offenbar hatte die zurückliegende Nacht in den Armen einer Frau geendet, deren Name ihm am verkaterten »Morgen danach« nicht mehr einfallen wollte, obwohl er sich das Hirn zermarterte. Fragen konnte er sie nicht mehr, denn sie war weg. So toll kann ich wohl nicht gewesen sein, dachte der GSOAgent, sonst hätten wir die Ausnüchterungspillen noch als gemeinsames Frühstück eingeworfen... Der Gedanke kratzte nicht wirklich an seinem Selbstbewußtsein. Immerhin konnte auch sie nicht wirklich überzeugend gewesen sein. Er erinnerte sich an nichts. Nicht einmal... An diesem Punkt wurde er stutzig. »Jalousien und Fenster auf!« befahl er der Steuerungseinheit des Zimmers, die auf Angloter programmiert war. Angloter war die Weltsprache. Auch an einem Ort, der zweihundert Jahre zuvor durch den Opiumkrieg gegen die Briten traurige Berühmtheit erlangt hatte: Schanghai. Ter durchquerte das Hotelzimmer und trat ans offene Fenster, durch das eine geradezu verbotene Lichtfülle hereinströmte. Der GSO-Mann stellte sich der Tortur in vollstem Bewußtsein. Zunächst glaubte er, sein Schädel müßte zerplatzen, doch nachdem dieses Stadium überstanden war, ging es aufwärts mit ihm. Unter ihm erstreckte sich, zehn Stockwerke tiefer, die Hafenregion am Huangpu Dschiang. Etliche Plattformen ragten aus dem Wasser heraus; sündhaft teure Vergnügungsstätten der absoluten Luxusklasse. Schanghai hatte sich zu einem Mekka der Erlebnissüchtigen gemausert – nicht erst in den letzten
Jahren, auch schon vor der Giant-Invasion. Doch die vom Commutator-Enzephalo geschädigten Menschen hatten vieles verkommen lassen, einiges auch unwiederbringlich zerstört. Es hatte, wie überall auf Terra, großer Anstrengungen bedurft, die Folgen der Invasion zu beseitigen. Aber es war gelungen. Das Schanghai von heute bot ein großartiges Bild. Solange jedenfalls, wie man sich damit begnügte, nicht an seiner Oberfläche zu kratzen. Ter de Vries seufzte. Er wußte, was ein Kater war und wovon man ihn bekam. Wirklich interessant wurde ein solches »Tier« aber erst, wenn man es in sich hatte, ohne einen Tropfen Alkohol angerührt zu haben... Jedenfalls nicht bewußt, schränkte Ter ein, stieß sich vom Fensterbrett ab und ging zu seinem Hartschalenkoffer, der auf einer Bank neben dem Kleiderfach stand. Sorgsam verschlossen. Es waren auch keinerlei Anzeichen zu entdecken, daß sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Ter lächelte. Er wäre kein Top-Agent gewesen, hätte er sich mit dem reinen Augenschein begnügt. Routiniert spulte er die bereits in Fleisch und Blut übergegangene Prozedur ab, zu der er letzte Nacht bei seiner Rückkehr offenbar nicht mehr in der Lage gewesen war. Zunächst überprüfte er, ob das »Auge« noch da war. Er hatte es im offenen Blütenkelch einer exotischen, wild wuchernden Pflanze versteckt, die fast mehr Platz einnahm als das Bett. Er fand es unversehrt. Zufrieden öffnete er danach den Koffer, der jeden anderen beim mißbräuchlichen Versuch ins Nirwana geschickt hätte. Als der Deckel aufklappte, fand er auch das Innere, in dem kein einziges Kleidungsstück Platz hatte, unangetastet.
Ter entnahm sich mit Hilfe eines Medo-Bestecks ein paar Blutstropfen. Dann aktivierte er den Bildschirm, der die ganze Innenfläche des Kofferdeckels ausfüllte und auf dem er sich selbst, über den Koffer gebeugt, sah. Er stoppte die Live-Aufzeichnung und startete die Memoryfunktion, wobei er sechs Stunden zurücksprang, kurz überprüfte, ob er schon im Zimmer war, dies nicht bestätigt fand und auf schnellen Vorlauf schaltete. Eine Weile blieb das Bild unverändert, zeigte nur das leere Zimmer. Dann ging die Tür auf. Ter schaltete auf Normalwiedergabe und sah sich selbst in Begleitung seiner Barbekanntschaft eintreten. Er bewegte sich sehr kontrolliert, obwohl er auch daran keine Erinnerung mehr besaß... Ein Summton lenkte ihn kurz ab. Das Ergebnis des Bluttests lag vor. Ter pfiff leise durch die Zähne. Diverse Medikamentenrückstände, unter anderem ein Halluzinogen! Volltreffer. Ter widmete sich wieder den Szenen, die der Koffermonitor zeigte. Die Frau war überaus attraktiv und ganz seine Kragenweite: eurasische Züge, dunkles, von illuminierenden Fäden durchwobenes Haar und eine Figur, die das hautenge Kleid an den richtigen Stellen fast zum Bersten brachte... Das »Auge« verfügte auch über eine Tonübertragung. Ter schaltete lauter. Und erfuhr so den Namen, der ihm entfallen war. »Tia«, hörte er seine eigene Stimme aus dem Lautsprecher, »soll ich uns noch einen kleinen Drink mixen?« Der Ter de Vries auf dem Bildschirm zeigte zu der gutsortierten Zimmerbar.
»Laß mich das machen, Darling«, wehrte die Schönheit mit samtweicher Stimme ab. Ihre Bewegungen erinnerten in ihrer Geschmeidigkeit an eine Raubkatze. Was dem Ter im Koffer kurze Zeit später nicht möglich war, sah der originale Ter durch den günstigen Winkel, aus dem heraus das »Auge« starrte, in unmißverständlicher Deutlichkeit: Aus einem aufklappbaren Ring schüttete die Schöne namens Tia ein Pulver in eines der Gläser, mit denen sie zu Ter zurückkehrte. Keine Frage, daß sie ihm dieses Glas gab. Sie prosteten einander zu, Ter trank, und dann sah es minutenlang so aus, als setzte sich der Abend genauso fort, wie der Agent es sich erträumt hatte. Tia führte ihn zum Bett und begann, sich lasziv das Kleid abzustreifen. Doch plötzlich ging die Zimmertür auf, und drei unbekannte Männer betraten hintereinander den Raum. Der Ter im Bild zeigte keinerlei Anzeichen von Überraschung. Auch nicht, als sich seine vermeintliche Eroberung behende von ihm löste, ihr Kleid eilig überstreifte und aus dem Zimmer verschwand. Die Männer blieben zurück und kümmerten sich um de Vries, dem – als Zuschauer – zu dämmern begann , daß er von Glück sagen konnte, noch am Leben zu sein. Verdammt, er war wie eine Greenhorn in die Falle getappt – wie der blutigste Anfänger, den man sich vorstellen konnte! Einer der Männer postierte sich an der Tür, einer setzte sich neben Ter aufs Bett und der dritte inspizierte den Koffer, der im Film noch sicher verschlossen auf der Ablage stand. Es waren Profis. Ihre Vorgehensweise und auch die Vorsicht, die sie dabei an den Tag legten, ließen daran keinen Zweifel. »Wie heißen Sie?« fragte der Mann auf der Bettkante. »Ter de Vries.«
»In wessen Auftrag sind Sie hier?« Ter schwieg. Der Mann griff in seine Jackentasche und hielt Ter ein Injektionsgerät an die Halsschlagader. Ein leises Zischen war zu hören. Ter sank zurück auf die Matratze. Der Mann wiederholte seine Frage. »Im Auftrag der GSO.« »Wie lautet Ihr Auftrag?« »Separatisten beobachten. Ihre Ziele ermitteln...« Der Fragesteller, wie jeder der drei Besucher ein Asiate, lächelte freundlich. Dann erkundigte er sich bei Ter nach dem Stand seiner Beobachtungen. Die Antworten schienen ihn zufriedenzustellen. Tatsächlich hatte Ter – bis auf diesen Vorfall – noch überhaupt nichts Greifbares ermitteln können. Bernd Eylers hatte ihn mit ziemlich diffus formulierten Vorgaben nach Schanghai beordert... Der Asiate, der sich den Koffer vorgenommen hatte, sagte: »Es wäre nicht ratsam, ihn öffnen zu wollen. Ich erkenne Hinweise auf spezielle Sicherungen...« »Dann lassen wir ihn das Ding aufmachen.« »Ebenfalls nicht ratsam«, wehrte der »Kofferspezialist« ab. »Die Sicherungen könnten auf die Mentalschwingungen abgestimmt sein, und es wäre möglich, daß die Mittel, die wir ihm verabreicht haben, diese verfälschen. Die Konsequenz wäre dieselbe, wie wenn wir ihn mit Gewalt zu öffnen versuchten.« Sie einigten sich darauf, den Koffer nicht weiter zu beachten. Dafür mußte Ter de Vries mit wachsendem Unbehagen zusehen, wie sich die beiden Hauptakteure an ihm zu schaffen machten. Sie zogen ihm das Hemd aus und befahlen ihm, sich auf den Bauch zu legen. Dann beugten sie sich über ihn. Das Auge erfaßte aus seinem Blickwinkel keine Details, aber
einmal erhaschte Ter einen kurzen Blick auf eine Hand, die seinen Hinterkopf festhielt, während sich eine andere mit einem stabförmigen Gerät seinem Nacken näherte... Kurz darauf verließen die Besucher das Zimmer. De Vries blieb auf dem Bett liegend zurück, als würde er schlafen. * »Verdammt!« De Vries fluchte erst, dann tastete er seinen Nacken ab. Die Erhebung war kaum spürbar. Aber sie war zweifellos da. Der Spiegel in der zum Zimmer gehörigen Hygienezelle brachte keinen weiteren Aufschluß, woraufhin de Vries über sein Kofferinstrumentarium Kontakt zur GSO-Zentrale in Cent Field herstellte. Er tat dies via Schriftmodus. Der Text konnte auf der Gegenseite wahlweise in Schrift- oder Sprachform abgerufen werden. Entsprechende Programme gab es heutzutage an jeder Straßenecke für ein paar Dollar zu kaufen. Nicht zu erwerben gab es jedoch Dechiffriergeräte von einer Qualität, wie sie nötig gewesen wäre, um das x-fach verschlüsselte Buchstaben-Tohuwabohu auch wieder zu entwirren. De Vries verzichtete bewußt auf eine mündliche Kontaktaufnahme mit dem Hauptquartier der Galaktischen Sicherheitsorganisation. Und er hoffte, daß das verdammte Ding in seinem Nacken nicht in der Lage war, Gedanken zu lesen... * Sie rückten mit einem hyperschnellen Spezialjett an.
Sie waren eine eingespielte Mannschaft, die im Bedarfsfall auch diskret vorgehen konnte. Als die Frontscheibe der Hotelsuite zerbarst und die Scherben von speziellen Vorrichtungen weggesaugt wurden, so daß kein einziger Splitter den zehn Etagen tiefer gelegenen Boden erreichte, wartete de Vries bereits in einem Sessel. Er hatte das Prozedere, nach dem die eingetroffene Einheit der GSO vorging, selbst in seinem Spruch an Eylers vorgeschlagen. Ter de Vries war sicher, das Menschenmögliche getan zu haben, um die Unbekannten nicht frühzeitig auf das Scheitern ihres Plans aufmerksam zu machen. Wortlos verabreichte ihm einer der Ankömmlinge eine Injektion in den Hals. De Vries schwanden die Sinne. * Als er die Augen aufschlug, war ihm fast so übel wie beim ersten Erwachen. Er lag auf einem Sofa und war umringt von derselben Truppe, die dem Jett entstiegen war. »Wie fühlen Sie sich?« fragte der korpulente Einsatzleiter, ein weißhaariger Mann mit narbigem, aufgeschwemmtem Gesicht, den de Vries ebensowenig persönlich kannte wie jeden anderen im Raum. »Blendend«, versetzte er sarkastisch. Und fügte hinzu: »Ich gehe davon aus, wir können wieder reden?« Der Mann im dunklen Zweireiher nickte. Dann fragte er vorwurfsvoll: »Wie konnten Sie nur in eine solche Falle tappen?« De Vries versuchte, sich aufzurichten. Es gelang wider Erwarten ohne Schwindelgefühl.
Nachdem er aufgestanden war, zeigte sich, daß er den Weißhaarigen fast um Haupteslänge überragte. »Ich hoffe, ich habe die Pferde nicht unnötig scheu gemacht. Und wenn ich jetzt noch Ihren Namen erfahren dürfte...?« »Jong.« Die Narben, erkannte de Vries aus nächster Nähe, sahen aus wie winzige Krater – als wäre Jong irgendwann einmal ungeschützt in einen Blizzard geraten. »Jong und weiter?« »Jong genügt.« »Wow.« De Vries lächelte verzerrt. »Da hat Eylers mir wohl seinen coolsten Mann geschickt.« »Sie wurden uns schon als Scherzkeks beschrieben. Von mir aus hätte das Ding drin bleiben können. Es hat Sie gestört – nicht mich...« »Und von was für einem Ding reden wir? Dürfte ich das auch langsam mal erfahren?« Zum ersten Mal hob er die Hand und fuhr sich in den Nacken. Die leicht erhabene Stelle war verschwunden, dafür ertastete de Vries den getrockneten Film eines Sprühpflasters. Sein Blick suchte die wäßrigen Augen Jongs. »Haben Sie operiert?« Jong schüttelte den Kopf und deutete auf einen anderen Agenten, der zaghaft lächelte. »Das war Schneiders Sache. Er hat schon unter schlechteren Bedingungen Übleres herausgeschnitten.« De Vries nickte Schneider zu. »Das Ding«, erinnerte er Jong anschließend. »Wie übel war es denn?« »Es ist bereits mit einem Kurier unterwegs nach Cent Field.« Bevor de Vries eine weitere Frage stellen konnte, summte sein Armbandvipho. Ein Blick auf das Display verriet ihm, daß ein Anruf auf der GSO-eigenen Frequenz erfolgte – mit höchster Prioritätstufe.
»Sie entschuldigen mich kurz...« Ohne eine Antwort abzuwarten, kehrte er der versammelten Mannschaft den Rücken und trat an das glaslose Fenster, durch das ein feuchtwarmer Wind hereinfuhr. Außerhalb schwebte in Fensterhöhe ein Transportjett ohne Embleme, die seine Herkunft verraten hätten. Die Zustiegsluke stand offen und berührte fast die Wand des Hotelgebäudes. De Vries konnte in einen Laderaum blicken, in dem sich allerhand unbekanntes militärisches Gerät stapelte. Er aktivierte das Vipho. Auf dem Display erschien das Gesicht von Bernd Eylers, dessen weiche Züge – wie de Vries aus langer Erfahrung wußte – täuschten. »Ich bin bereits über alles informiert«, sagte der GSO-Chef. »Während Sie noch in Narkose lagen, hat Jong mir Bericht erstattet.« »Wie nett«, erwiderte de Vries säuerlich. »Irgendwie hat er das bei mir bisher versäumt.« Eylers ging nicht darauf ein. Statt dessen sagte er: »Sie werden Schanghai sofort verlassen. Zusammen mit der Jettbesatzung. Nutzen Sie die Denkpause, die ich Ihnen gewähre.« »Denkpause?« echote de Vries erschüttert. Er hatte einiges erwartet, aber nicht seine sofortige Abberufung. »Wie oft habe ich Sie ge- und verwarnt? Ich wußte, daß Ihnen – und uns – Ihre Frauengeschichten eines Tages zum Verhängnis werden könnten. Ich habe immer wieder ein Auge zugedrückt, aber diesmal ist das Risiko zu hoch. Betrachten Sie sich bis auf weiteres als suspendiert. Ihr Ersatz ist bereits informiert. Er wird in Kürze den Platz einnehmen, den Sie räumen.« De Vries kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern – oder zu seiner Verteidigung vorzubringen. Eylers hatte die Verbindung von seiner Seite aus bereits unterbrochen.
* Jos Aachten van Haag blickte aus dem Fenster von Bernd Eylers' Büro. In Sichtweite lag der Raumhafen. Beinahe minütlich starteten und landeten Schiffe. Für jedes mußten spezielle Passagefenster im globalen Schirm um Terra geschaltet werden. Eine Sysiphusarbeit für die Lotsen im Tower. Eylers folgte dem Blick seines Top-Agenten. »Denken Sie auch manchmal daran?« fragte er. »Woran?« »Daran, daß es die Menschheit nicht mehr gäbe, wenn nicht...« »Wenn nicht was?« »Die Liste der ›Wenn nicht...‹, von der ich spreche, ist lang. Ich weiß selbst nicht genau, wo ich beginnen müßte. – Damals, als die ersten Fremden über der Sahara ihren Krieg auf unsere Kosten gegeneinander ausfochten... oder als die Giants alle Menschen im Sol-System bis auf wenige Ausnahmen versklavten...? Wie vielen Feinden aus den Tiefen des Alls mußten wir seither die Stirn bieten – und hätten wir es ohne ihn geschafft?« Jos Aachten van Haag wußte, von wem Eylers sprach. Von einem, der nicht da war. Weder in diesem Gebäude noch auf diesem Planeten noch in dieser Sterneninsel... Wie konnte ein Mann von knapp dreißig Jahren bereits ein Denkmal sein, eine Legende...? Jos schüttelte den Kopf. Er hatte den Blick immer noch nach draußen gerichtet. Nicht zum Horizont, sondern steil nach oben in den Mittagshimmel. Der aussah, wie er immer ausgesehen hatte. Doch der Schein trog. »Ich gebe Ihnen recht«, sagte er. »Die Menschheit wäre dem Untergang geweiht – ohne ihn. Selbst wenn die Giants uns
damals nicht geschafft hätten: Diese Welt hätte ebensowenig eine Zukunft wie unzählige andere bewohnte Welten der Milchstraße. Terra könnte das, was sich jenseits des Schildes, mit dem wir unsere gute alte Erde gewappnet haben, abspielt und von Tag zu Tag stärker zusammenbraut, nicht überstehen, ohne den Schild, den die Nogk uns geschenkt haben. Und die Nogk... die Nogk hätten keinen Finger gerührt, uns zu helfen, gäbe es ihn nicht...« Ihn – immer wieder ihn. Ren Dhark. Jos versuchte sich vorzustellen, was der Mann, über den Eylers und er sprachen, gerade in diesem Moment wohl tun mochte – wogegen er drüben in der anderen, wie aus dem Nichts aufgetauchten Galaxis – Drakhon! – wohl kämpfen mochte. Die Sternenballung, die schuld war an den verheerenden Magnet- und Hyperstürmen, die die Milchstraße heimsuchten... Jos drehte sich abrupt um. Faßte Eylers ins Auge. Er mochte den Mann, der die Galaktische Sicherheitsorganisation gegründet und zu dem gemacht hatte, was sie heute war: eine weit über den Einflußbereich der Erde hinaus operierende Institution, deren erklärtes Ziel es war, politische Brandherde zu löschen, bevor sie sich zu Großfeuern ausweiten konnten. Eylers besaß ein Allerweltsgesicht. Wer ihm nur einmal flüchtig begegnete, vergaß sein Aussehen, kaum daß sich ihre Wege wieder getrennt hatten. Bei einem Kampf hatte er einen Arm verloren, und seither trug er eine Prothese mit ausgeklügelten technischen Raffinessen. Die Prothese war kaum von einem echten Arm zu unterscheiden. Jos hatte sich oft gefragt, ob Eylers unter seiner Behinderung litt. Inzwischen war die Gentechnik so weit fortgeschritten, daß es durchaus möglich gewesen wäre, aus einer Stammzelle des GSO-Chefs einen Arm nachzuzüchten,
der sich in nichts von seinem ursprünglichen unterschieden hätte. Daß Eylers auf das Ausschöpfen dieses Mittels verzichtete, war Beweis genug, daß er sich mit seinem Kunstarm abgefunden hatte – vielleicht mehr als das. Über die Jahre hatte die Prothese seinen Charakter geprägt. Eylers war immer ein Mann der leisen Töne gewesen, einer, der sich seine Worte, bevor er sie aussprach, sehr genau überlegte. Dennoch hatte Jos den Eindruck, daß der GSO-Chef noch introvertierter, noch nachdenklicher geworden war – und skeptischer. Wie gesagt, Jos Aachten van Haag mochte diesen Mann – aber nicht dessen Büro. Was er nie verstehen würde, war, wie ein Mann von Eylers Reputation gleichzeitig einen dermaßen schlechten Geschmack in Fragen der Raumausstattung besitzen konnte. Das Büro als »spartanisch eingerichtet« zu bezeichnen wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Eylers verzichtete auf fast jeglichen Wand- oder Bodenschmuck; es gab keine Teppiche, keine Bilder, keines dieser kleinen Accessoires – auch Souvenirs genannt – die sich jeder andere GSO-Mitarbeiter wenigstens hie und da von seinen Einsätzen auf fremden Welten mitbrachte. Im Grunde, dachte Jos, spiegelt dieses Büro ihn genau wider: Er ist ebenso auf das Allernötigste reduziert. Er leistet sich keinen modischen Firlefanz, keine andere Haarfarbe, nicht den kleinsten Schnickschnack... Nur – warum mag ich ihn dann, wenn er das lebende Abbild dieser an Beliebigkeit kaum zu überbietenden Kemenate ist...? Er erwartete keine Antwort auf diese Frage. Weder von Eylers noch von sich selbst. »Sie haben es dringend gemacht, Sir«, sagte er, nachdem er sich fast widerwillig auf dem Besucherstuhl vor Eylers' blitzblankem Schreibtisch niedergelassen hatte.
»Sie werden diesen Kontinent sofort nach unserer Unterredung verlassen. Eine Transmitterverbindung ist bereits gebucht.« Jos nickte. Die Ankündigung verblüffte ihn ganz und gar nicht. Es war nicht das erste Mal, daß er Hals über Kopf in einen Einsatz geschickt wurde. »Wohin geht es, Sir – und mit welchem Auftrag?« »Schanghai...«, erwiderte Eylers mit unbewegtem Gesicht und startete die Aufzeichnung, die Ter de Vries in seinem Hotelzimmer aufgenommen hatte. Jos Aachten van Haag hörte sich zeitgleich zur Betrachtung des Videos an, was Eylers zu den Ereignissen in Asien zu erzählen wußte. Irgendwann fragte Jos: »Wurden die Personen auf dem Video inzwischen identifiziert?« »Nur einer von ihnen. Der Mann, der de Vries einem Verhör unterzog.« »Und?« »Ein Robone. Er ist bereits mehrfach einschlägig in Erscheinung getreten. Meist bei volksverhetzenden Aktionen, wie wir sie vermehrt ja nicht nur in Asien beobachten.« »De Vries war in Schanghai, um nach Separatisten Ausschau zu halten, ihre Absichten herauszufinden«, sagte Jos. »Gab es mehr als vage Verdachtsmomente, daß die Robonen ein größeres Ding planen?« »Bis zu diesem Vorfall nicht.« »Und was hat man de Vries nun aus dem Nacken entfernt?« Im Hintergrund von Eylers' Augen schien es kurz aufzuflackern, als wäre ein Gewitter im Abzug. Er zog eine Schublade auf der rechten Seite auf und zog einen in Folie eingeschweißten Gegenstand heraus, den er Jos über den Tisch hinweg zuschob. »Er ist deaktiviert, keine Sorge«, sagte Eylers, als Jos zögerte, den Chip in die Hand zu nehmen.
Noch bevor Eylers weitere Auskünfte geben konnte, stellte Jos Aachten van Haag seinen ungeheuren Bildungs- und Erfahrungsschatz unter Beweis. »Das ist keine Terra- und keine Robonentechnik«, sagte er wie aus der Pistole geschossen. »Korrekt«, erwiderte Eylers. »Worauf tippen Sie?« Jos nahm den daumennagelgroßen Chip, der auch nicht dicker als ein Fingernagel war, nun doch in die Hände und betrachtete ihn prüfend. Eylers reichte einen Stab über den Tisch, den Jos zu handhaben wußte. Er drückte einen Knopf und am Ende des Stifts baute sich ein energetisches Okular auf, dessen Vergrößerungseffekt stufenlos schaltbar war. Durch diese Lupe hindurch untersuchte er den Chip von beiden Seiten. »Tel«, sagte er, ohne die Wanze aus der Hand zu geben. »Ich tippe auf Tel-Technologie.« »Korrekt«, bestätigte Eylers zum zweiten Mal. »Es ist TelTechnik. Um genauer zu sein und Ihnen das volle Ausmaß der Katastrophe vor Augen zu führen: Tel-Technik in der Hand von Robonen.« * Jos Aachten van Haag erfuhr auch noch die letzten Details – zumindest die, die bekannt waren. Denn in dem Puzzle rund um die Schanghaier Affäre fehlten noch die wichtigsten Teile. Und Jos sollte sie suchen, das Bild vervollständigen – er, nicht der suspendierte Ter de Vries! »Wie Sie wissen, gibt es schon seit einiger Zeit Verdachtsmomente«, sagte Eylers, »daß gewisse Tel-Kreise mit den Robonen kooperieren. Nach dem Fall de Vries habe ich sofort veranlaßt, daß sämtliche auf Terra stationierten GSO-Agenten zunächst Stichprobenhaft auf Tel-Chips hin untersucht werden – die ersten Ergebnisse liegen vor. Bislang
negativ – oder positiv, wie immer man es sehen will. De Vries ist der einzige, den es erwischte...« Eylers' Gesicht zeigte ein Lächeln, das die Augen nicht mit einbezog. »Vielleicht war er aber auch nur der erste.« »Was für einen Zweck erfüllte der Chip – beziehungsweise sollte er erfüllen?« »Er war ausschließlich für Audioaufnahme und übertragung konzipiert. Seine Reichweite ist jedoch beachtlich. Die Lauscher könnten überall auf dem Planeten sitzen. Ein Großteil der Chiptechnik ist auch nur dazu da, die ausgehenden Sendungen abzuschirmen. Eine technische Hochleistung, zumal sich der Chip allein aus dem körpereigenen elektrischen Feld speist... dieser Chip wird, sobald er mein Büro verläßt, Heerscharen von Wissenschaftlern begeistern – und anspornen, Vergleichbares nicht nur nachzubauen, sondern weiterzuentwickeln.« »Die Robonen dürften inzwischen erkannt haben, daß ihnen ihr Fisch aus dem Netz geschlüpft ist. Wäre es nicht klüger gewesen...« Jos zögerte, weil ihm der eigene Gedanke plötzlich Unbehagen bereitete. »Besser gewesen, ihn einem anderen Agenten einzupflanzen und ihn agieren zu lassen, als wären wir nie auf die Spur des Chips gekommen?« fragte Eylers. Jos nickte. »Hätten Sie sich denn dazu bereit erklärt?« Jos zuckte die Schultern. »Vielleicht...« »Ihre Risikobereitschaft in Ehren«, sagte Eylers. »Es muß auch anders gehen. Sie reisen umgehend nach Schanghai und beziehen ein Zimmer im gleichen Hotel wie de Vries. Führen Sie Ihre Ermittlungen diskreter durch als er – und vor allem: Lassen Sie sich nicht so leicht den Kopf verdrehen.« »Kopf verdrehen bringt nur Kopfschmerz«, grinste Jos.
Noch in der derselben Stunde durchschritt er den Ringtransmitter von Alamo Gordo mit Gegenstation Schanghai.
2. Ngt Sagla hatte die ganze Nacht vor dem Nachrichtenempfangssystem des Hauses zugebracht und kein Auge zugetan. Die Kinder hatten geschlafen wie immer, auch wenn bei der ältesten, Rlc, beim Zubettgehen tiefgreifende Ängste spürbar gewesen waren. Denn draußen im Weltraum tobte ein Krieg. Ein Bruderkrieg, Tel gegen Tel. Rebellen probten mit rund sechstausend Schiffen den Aufstand. Im Grunde ein aussichtsloses Unterfangen gegen eine doppelte Übermacht – aber was hieß das schon in der Praxis? Nein, Fakt war: Tel starben durch die Hand von Tel. Das Imperium schwächte sich selbst in einem nie dagewesenen Akt gnadenloser Gewalt! Warum? Was trieb die Aufrührer der Revolte? Waren sie von Fremden, von Nicht-Tel, aufgestachelt worden? In der Vergangenheit hatte das Imperium kompromißlose Feldzüge gegen viele geführt, die seine Grenzen mißachtet hatten. Es gab unzählige Feinde zwischen den Sternen – aber wenige, die auch über die Mittel verfügt hätten, eine solche Verschwörung in Szene zu setzen. Nein, dachte Ngt. Wahrscheinlich holt uns unsere eigene Vergangenheit ein: Vor langer Zeit haben wir schon einmal Kriege gegen uns selbst geführt; damals, als wir Tel die Raumfahrt noch nicht beherrschten... damals, als wir noch nicht die Hinterlassenschaften einer geheimnisvollen Spezies entdeckt und unserer eigenen Technologie einverleibt hatten. Das Erbe der Unbekannten war die Grundlage für unser Sternenreich. Ngt Sagla unterbrach ihr Abschweifen ins ferne Damals. Nur das Heute, das Jetzt zählte.
Sie fror trotz der gewohnten Temperatur, die planetenweit konstant gehalten wurde. Künstlich. Wie alles, wohin das Auge auch schaute, der Natur entfremdet wirkte. Cromar war Ngt Saglas Heimat. Hier war sie geboren, hier hatte sie den Mann ihres Herzens gefunden und mit ihm drei wundervolle Kinder in die Welt gesetzt. Doch all dies, so unerschütterlich es bis vor kurzem noch erschienen war, stand nun auf dem Spiel. »Verdammte Rebellen«, murmelte die Frau mit der schwarzen Haut und den wimpernlosen Augen, die der gegenwärtigen Mode entsprachen. Um den schlanken Hals trug sie eine Kette aus flüsternden Egh-Steinen, eine Kostbarkeit aus den Minen von Rigbar. Diese seltenen Juwelen verbreiteten Schwingungen im gerade noch hörbaren Bereich und wirkten, je nach Lichteinfall und -intensität entweder stimulierend oder beruhigend. »Mutter?« Ngt Sagla fuhr herum. Hinter ihr stand Rlc. Das Mädchen war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur trug es die silbrig gefärbten Haare nicht offen, sondern von einem glutroten Netz aus elastischen Metallfäden am Hinterkopf zusammengehalten. Sie würde einmal eine begehrenswerte Frau werden – in vier bis fünf Sonnenumläufen. »Rlc...« »Ich weiß, ich sollte noch schlafen. Wir haben heute eine schwere Klausur. Aber...« Ngt machte eine Geste, die ihr Verständnis ausdrückte. Sie winkte ihre Tochter herbei. »Schlafen deine Geschwister noch?« »Tief und fest.«
Sie teilten ein Zimmer, wie es bis zum Erwachsensein Tradition war. »Du machst dir Sorgen«, sagte Ngt, die sofort erkannt hatte, daß es ein Fehler gewesen wäre, Rlc weiter über das wahre Ausmaß der Bedrohung hinwegzutäuschen. Rlc war klug. Sie gehörte zu den drei besten Schülerinnen ihres Jahrgangs – und zwar auf ganz Cromar. »Wie du«, sagte Rlc. Sie trat neben ihre Mutter und ergriff ihre Hand. Sie war kalt. »Ich wette, du hast überhaupt noch nicht geschlafen.« »Ich wette nicht mit vorlauten Kindern – erst recht nicht, wenn meine Gewinnchancen bei Null liegen.« Ngt versuchte ein Lächeln. Rlcs Gesicht erschien ihr wie ein Spiegel. »Vater wird dafür sorgen, daß die Gefahr schnell wieder gebannt ist«, sagte sie. »Er und die anderen Vank werden nicht zulassen, daß unser Leben endet.« Ngt schluckte. »Du fürchtest um dein Leben?« fragte sie. Bei allem, worüber sie sich selbst sorgte – bei allem, was sie für möglich hielt, war ihr noch keinen Augenblick lang der Gedanke gekommen, daß das Leben der Bewohner Cromars akut gefährdet sei. Die Schlacht wurde weit draußen im Weltraum geschlagen. Der Tod war das Schicksal und die bittere Realität für viele Flottenangehörige – und auch für die, die sich von der regulären Flotte abgewandt hatten, sie bekämpften. Aber hier auf Cromar... »Sie streiten um die Macht«, sagte Ngt mit rauher Stimme. »Sie führen Krieg – aber sie würden nie so tief sinken, unschuldige Zivilisten zu gefährden. Du kannst ganz beruhigt sein, was das angeht, Rlc. Wir sind hier sicher. Sorgen darfst du dir um unsere Zukunft machen – um deinen Vater, der in exponierter Stellung ist. Aber hör auf, über das Sterben – dein
Sterben – nachzudenken. Du und deine Geschwister, ihr seid sicher. Niemand wird sich an euch vergreifen, selbst diese...« – sie löste ihre Hand aus der ihrer Tochter und ballte die Fäuste – »... skrupellosen Rebellen nicht.« Rlc sah zu ihr auf. Sie war nur noch knapp einen Kopf kleiner als ihre Mutter. Ngt hatte sie noch nie so traurig gesehen. Als wüßte sie alles, was ihre Mutter gerade gesagt hatte, besser. Als hätte sie die wahre Dimension der Gefahr intuitiv noch vor der um so vieles älteren Frau erkannt. Eine Weile war Ngt außerstande, etwas zu sagen. Auch Rlc schwieg. Ihre Blicke lösten sich von ihrer Mutter und schweiften zum Nachrichtenmonitor. Ngt hatte ihn stummgeschaltet. »Wie ist die Lage?« Ngt schloß kurz die Augen. Dann sagte sie: »Wenn du willst, informieren wir uns gemeinsam.« Rlcs Miene hellte sich auf. »Danke.« Sie eilte mit schnellen Schritten auf einen der Sessel zu, die vor dem Monitor standen. Wahrscheinlich fürchtete sie, Ngt könnte es sich noch einmal anders überlegen. »Stell den Ton leise«, bat Ngt, während sie neben ihrer Tochter Platz nahm. Rlc hob die von Ngt veranlaßte Stummschaltung auf. Der Krieg im All war Thema auf allen Kanälen. Aber die Informationen flossen spärlich. Ngt wünschte, sie hätte ihren Mann erreichen können, um die Wahrheit über die Lage zu erfahren. Sie mißtraute den auch jetzt sehr optimistischen Nachrichten, begrüßte sie andererseits jedoch auch, weil sie hoffte, damit Rlc von ihren Ängsten befreien zu können. Der Tod... Bei den Geistern von Rkk Noyor – was waren das für Zeiten, in denen selbst Kinder vom Tod träumten? *
Sechstausend Rebellenschiffen stand die doppelte Zahl von Einheiten mit regierungstreuen Besatzungen gegenüber – sie alle waren im Cromar-System zusammengezogen worden. Die Kapitulationsaufforderung des Kluis wurde unablässig auf allen gängigen Frequenzen abgestrahlt und hallte auch aus den Lautsprechern von Vlcs Flaggschiff. Er lächelte grimmig und war weit davon entfernt, an Aufgabe zu denken. Die Sonnennähe sorgte für Störungen im ortungs- und funktechnischen Bereich. Aber das Strahlengewitter des Molochs, um den die dreizehn Planeten des Cromar-Systems samt ihren Trabanten kreisten, wurde von den leistungsstarken Energieschilden des Raumerpulks absorbiert. Vlc hatte mit dieser Entwicklung gerechnet. Er wäre ein Narr gewesen, hätte er sich in dem Glauben gesonnt, die Regierungstreuen in die Knie zwingen zu können... Nein. Überall in der Weltraumschwärze entluden sich verheerende Explosionen in den bizarrsten Farbkompositionen. Ein Feuerwerk des Untergangs. Vlc hatte nicht vor, seinen Beitrag zu diesem Spektakel zu leisten. Nicht zu diesem... »Es geht los!«, informierte er die Kommandanten der anderen neunzehn Schiffe, die sich mit ihm in den Sonnenschatten zurückgezogen hatten. Der Spruch ging verschlüsselt an die Empfänger. Und dann setzte sich der Pulk rechnersynchronisiert in Bewegung, beschleunigte mit Wahnsinnswerten auf Transitionsgeschwindigkeit... ... und entmaterialisierte.
* »Siehst du«, sagte Ngt, nachdem der androgyne Moderator die Überlegenheit der Flotte mit ausgesuchtem Bildmaterial dokumentiert hatte, »der Aufstand ist so gut wie niedergeschlagen. Die Rebellen werden ihre gerechte Strafe erhalten. Dein Vater wird bald nach Hause kommen. Es wird alles...« Rlc löste den Blick vom Monitor. Die Schatten waren aus ihrem Gesicht verschwunden. »Ich bin froh«, sagte sie, als hätte sie nicht kurz zuvor noch in den düstersten Tönen vom Schicksal der Tel gesprochen. Sie erhob sich, machte einen Schritt auf Ngt zu, kniete vor ihrer Mutter nieder und legte den Kopf in ihren Schoß. Es war lange her, daß Rlc solche Zutraulichkeit gezeigt hatte. In den Schulen lehrten die Tel ihre Kinder, ihre Gefühle im Zaum zu halten, selbst in schwierigsten Situationen. Ngt war froh, daß Rlc zumindest in diesem Punkt keine Musterschülerin war. Sie spürte, wie ihr die Wärme, die trotz ihrer Kleidung von Rlc auf sie übersprang, gut tat. Und sie hätte sich gewünscht, dieser Moment würde nie vergehen. Für kurze Zeit herrschte Friede im Haus Sagla. Bis es in seinen Fundamenten erbebte. Bis Donner die hochkomplexe Legierung der Wände durchdrang, als wären sie nicht vorhanden. Entsetzen malte sich auf die Gesichter von Mutter und Tochter. Der ohrenbetäubende Lärm schwoll immer stärker an – um schließlich jäh zu enden. *
Es sah aus, als würden Monde aus blaugrauem Stahl aus einem wolkenlosen Himmel heraus auf diesen Bereich der planetenumspannenden Stadt fallen. Ein Gefühl beginnenden Realitätsverlustes wollte Crt Sagla glauben machen, er müsse nur die Augen fest genug schließen, um das Geschehen als grausamen Spuk entlarven und ausblenden zu können. Aber es war Wirklichkeit. Und es traf die im Kluis versammelten imperiumstreuen Vank und Vankko völlig unvorbereitet. Zwanzig Doppelkugelraumer – Rebellenschiffe – regneten auf den Kluis herab, auf jenen jahrhundertealten Rechnerkomplex, der von vielen Tel auch heute noch als gottähnliches Wesen verehrt wurde. Crt Sagla meinte von innen heraus zu erstarren, während der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Der riesige Schirm, der die Flottenbewegungen innerhalb des Systems zeigte, geriet kurz in Vergessenheit. Die Aufmerksamkeit aller Versammelten richtete sich auf die Panoramafenster, die den Blick über die Stadt und den sich darüber wölbenden Himmel ermöglichten. Im selben Moment ertönten die Sirenen, und die in keiner Weise beeindruckt klingende Stimme des Kluis erklärte: »Nicht autorisierte Schiffe im Anflug. Es handelt sich um zwanzig Objekte der Großkampfklasse. Sie materialisierten in den ersten Ausläufern der Atmosphäre. Sie...« Crt Sagla schrie: »Status der Schilde?« »Am oberen Limit«, antwortete der Kluis, der Saglas Autorität bereitwillig anerkannte. In diesem Augenblick kamen die herabstürzenden Doppelkugelschiffe abrupt zum Stillstand. Der Kluis lieferte die exakte Distanz, in der der Raumerpulk den freien Fall über dem Gebäudekomplex gestoppt hatte. Optimale Schußposition, dachte Crt Sagla mit einer Emotionslosigkeit, die ihn selbst verblüffte.
Und im nächsten Augenblick eröffneten die fliegenden Festungen der Rebellen auch schon das Feuer. * Ngt war zu einer der Wände geeilt, die sich auf einen akustischen Befehl hin in Fenster verwandelt hatten. Die Sonne hatte den Horizont eben überschritten. Kein Wölkchen trübte den Himmel – niemals. Das Wetter wurde global vom Kluis gesteuert, der auch die Temperatur auf der Oberfläche des Planeten absolut konstant hielt. Rund um den Weltenball herrschten die exakt gleichen Bedingungen. Die dafür nötigen Regulatoren spannten ein unsichtbares Netz um den Planeten und wurden ununterbrochen gewartet. Für jedes Aggregat standen Notfallmodule zur Verfügung, die beim geringsten Anzeichen auf einen drohenden Defekt sofort einsprangen. Die totale Wetterkontrolle hatte Cromar stets nur Segen gebracht. Aus dem All betrachtet ähnelte der Zentralplanet des TelinImperiums einem gigantischen Kugelraumschiff. Wohin der Blick auch ging – überall glänzte und funkelte Metall. Jeder noch so kleine Flecken, auch die Flüsse, war überbaut. Nirgends war Vegetation erkennbar. Die einzigen Pflanzen, die auf Cromar existierten, waren gezielt erzeugte Mutationen, die in Spezialanlagen über den Wasseradern gezüchtet wurden, aber für einen orbitalen Beobachter unsichtbar blieben. An die Pflanzen, die als vitaminreiche Ergänzung zur Synthonahrung diente, dachte Ngt in diesen Momenten jedoch am allerwenigsten. Schluchzend war Rlc hinter ihr hergetrottet. Sie griff nach der Hand ihrer Mutter und zerrte ungestüm daran, während ihrer Kehle ein verzweifelter Seufzer entfloh. »Was...?«
Mehr zu sagen, war sie nicht fähig. Wie die Augen ihrer Mutter hing auch ihr Blick an den waffenstarrenden Schlachtschiffen, die über der Stadt schwebten. Über einem ganz bestimmten Bezirk... Bevor Ngt sich ihrer Tochter zuwenden konnte, glomm es zeitgleich aus sämtlichen Tel-Raumern auf. Turmstarke Energiebalken fraßen sich auf die Randausläufer des Kluis-Komplexes zu und... Wieder pflanzten sich Erschütterungen über den Boden des Hauses bis in die Körper der Bewohner. Explosionen! Beim Kluis stiegen Rauchsäulen empor. Im nächsten Moment wurde das sonst unsichtbare Schirmfeld unter dem direkten Beschuß der angreifenden Schiffe sichtbar. »Mutter!« Der Schrei kam nicht von Rlc, sondern aus Richtung der Verbindungstür, die in die anderen Räume der großzügig geschnittenen Wohnung führte. Hlv, der jüngste Sproß der Familie, stand dort Hand in Hand mit seiner älteren Schwester Drg. Sie trugen wie Rlc ihre Schlafgewänder, an deren Farbe sich die Befindlichkeit der Träger ablesen ließ. Sie waren außer sich vor Angst, der Stoff fast schwarz. Ngt wollte antworten, aber sie spürte, wie ihr die Sinne schwanden. Nur der Geistesgegenwart Rlcs war es zu verdanken, daß sie einen Sturz vermeiden konnte. »Haus!« hörte sie ihre Älteste rufen. »Hier ist ein medizinischer Notfall. Zielperson: Ngt Sagla. Status ermitteln und sofort eingreifen! Des weiteren vorsorglich Sedativum an übrige Bewohner ausschütten. Ich wiederhole...« Wie vernünftig sie handelt, dachte Ngt warm.
Sie spürte, wie ihr über das Gewebe ihrer Kleidung etwas injiziert wurde. Kurz darauf ging es ihr besser. Sie streifte Rlcs stützende Hand ab – zärtlich. »Danke.« Rlc erwiderte nichts. Wie in Trance verfolgte sie das Geschehen in der Ferne. Die Schiffe über dem Kluis hatten das Feuer eingestellt, aber ein Bild der Verwüstung rund um den zentralen Komplex hinterlassen. »Sie müssen den Verstand verloren haben«, stammelte Ngt, außerstande ihren Kindern Stärke und Beherrschung zu vermitteln. »Wenn sie den Kluis vernichten, vernichten sie uns...!« Hlv fing anhaltend an zu schreien. Ngt konnte ihn nur ansehen, während Drg handelte. Sie hob die Hand und versetzte ihrem Bruder eine schallende Ohrfeige. Sofort verstummte er. Ein staunender Ausdruck überzog sein Gesicht wie eine Maske. Seine Schwester hatte ihn noch nie zuvor geschlagen. Was geschieht mit uns? dachte Ngt. Und im nächsten Atemzug: Crt – was ist bloß passiert? Bist du noch am Leben...? Sie wußte, daß sich ihr Mann im oberirdischen Teil des Kluis aufhielt, der sich bis tief in die Planetenrinde erstreckte. Der an der Oberfläche sichtbare, schimmernde Komplex wurde von drei zylindrischen Halbbögen gekrönt. »Haus! Eine Verbindung zu meinem Lebenspartner herstellen – zu Crt Sagla!« Ngt hatte das Gefühl, neben sich zu stehen und sich dabei zuzusehen, wie sie mehr und mehr die Fassung vor den Augen ihrer Kinder verlor. »Verbindung nicht möglich. Der Kluis ist gesperrt. Kommunikation unmöglich.« »Gesperrt?« echote Ngt.
»Ich zitiere, was ich empfange: ›Der gewünschte Kommunikationsteilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar‹.« Plötzlich erinnerte sich Ngt an das, was Rlc ihr gesagt hatte: daß sie um ihr Leben bangte. Bei allen Schutzheiligen der Tel – wie lange war das her, daß sie, Ngt, noch im Brustton der Überzeugung gegen Rlcs Ängste argumentiert hatte? Nun war der Tod in greifbare Nähe gerückt. Das Verhängnis in Gestalt von Schlachtschiffen, befehligt von Rebellen, die keine Skrupel zu kennen schienen, selbst das Allerheiligste der Tel zu bombardieren. »Nachrichten!« keuchte Ngt. »Was sagen die Nachrichten?« Als sie sich umwandte, kam Hlv auf sie zugerannt und warf sich gegen ihre Beine, umklammerte sie mit beiden Armen. Er wimmerte wie ein gejagtes Tier. Neuer Lärm grollte auf. »Da!« rief Rlc. Sie zeigte zum Fenster hinaus. Vom Horizont her näherte sich eine gewaltige Staffel planetengebundener Jagdmaschinen. Die wie ein Insektenschwarm heraneilenden Kräfte hielten genau auf den Pulk zu, der über dem Kluis schwebte. »Endlich...« Ngt hatte den Seufzer noch nicht zu Ende geführt, als das Geschwader auch schon wieder abdrehte. Geschirr klirrte in den Schränken. Es hörte sich an, als würden Herzen zerspringen. * »Ich verlange die sofortige und bedingungslose Kapitulation!« dröhnte eine wohlvertraute Stimme aus den projizierten Magnetfeldmembranen. »Hier spricht Vankko Clos Vlc! Wenn nicht unverzüglich alle Kampfhandlungen gegen
meine Verbände eingestellt werden, nehmen wir den Schutzschild um den Kluis unter konzentrierten Punktbeschuß! Zwingen Sie uns nicht zum äußersten – Sie alle wissen, was die Vernichtung des Kluis bedeuten würde. Aber davon ganz abgesehen: Wollen Sie leben oder sterben, ehrwürdige Vank und Vankko? Ergeben Sie sich und ordnen Sie die Unterwerfung aller Flotteneinheiten an, andernfalls muß ich von meinem Vorteil Gebrauch machen und...« »Clos Vlc, können Sie mich hören?« Crt Sagla hatte sich gefangen. »Ich höre. Sind Sie das, Sagla?« »Ja.« »Ich wünschte, die Umstände, unter denen wir uns sprechen, wären erfreulicherer Natur...« Die Stimme des abtrünnigen Vankko troff vor Sarkasmus. »Sie sind ein Monster, Vlc!« »Vielleicht in Ihren Augen. Aber ich versichere Ihnen, daß mir nichts mehr am Herzen liegt als das Wohl unseres Volkes.« »Sie handeln, wie kein Tel es je tun würde!« »Ich sah mich zum Handeln gezwungen. Unser Volk droht in die Dekadenz abzugleiten. Dem muß Einhalt geboten werden. Unter meiner Führung werden die Tel eine neue Blüte erleben!« »Sie reden baren Unsinn. Begeben Sie sich in die Hände eines Neurospezialisten. Sie sind krank, Clos Vlc, sehr, sehr krank, wenn Sie das, was Sie da sagen, selbst glauben.« Für kurze Zeit herrschte lähmende Stille. Crt Saglas Blick streifte über die beiden anderen Vank Url Bnako und Gen Punfk sowie über eine Handvoll Vankko, die ihre Loyalität schon durch ihr bloßes Ausharren hier im Brennpunkt des Geschehens unter Beweis stellten. Plötzlich sagte der Kluis unaufgefordert: »Die Geschützkonverter der Rebellenschiffe gehen auf Vollast. Sie werden...«
Crt Sagla hörte nicht länger zu. In einer Schreckensvision flammte das Bild eines gigantischen Kraters vor seinem geistigen Auge auf – dort, wo sich im Moment noch der Kluis erhob, wie er sich seit Jahrhunderten präsentierte: scheinbar unzerstörbar. Aber die Leichtigkeit, mit der die zwanzig Rebellenschiffe im Anflug die Offensivverteidigung des Kluis in Grund und Boden geschossen hatten, ließ keinen Zweifel, daß sie auch den Schild schaffen würden... Schweren Herzens sagte Sagla: »Eine Kapitulation von dieser Tragweite kann ich nicht allein verantworten, Clos Vlc – geben Sie mir etwas Zeit, um mich mit den anderen Regierungsangehörigen zu beraten!« »Zeit«, höhnte Clos Vlc. »Ich habe keine Zeit zu verschenken. Aber wenn die Flotte, die zur Zeit noch unter ihrem Kommando steht, sofort das Feuer gegen meine Einheiten einstellt, dürfen Sie sich fünfzehn Minuten lang beraten. Aber ich empfehle Ihnen jetzt schon, klug zu entscheiden. Ansonsten...« »Fünfzehn Minuten?« schnappte Url Bnako im Hintergrund. Aber Crt Sagla wußte, daß dies bereits das Äußerste war, worauf sich Clos Vlc einlassen würde. »Kann ich davon ausgehen, daß auch Ihre Schiffe das Feuer für die vereinbarte Dauer einstellen?« »Sie haben mein Wort, Vank Sagla – gesetzt den Fall, Sie halten sich an das Wort Waffenstillstand. Beim geringsten Anzeichen einer geplanten Hinterlist sehe ich mich nicht mehr an diese Abmachung gebunden! Sie haben gerade ein hohes Maß an Vernunft bewiesen, als Sie das Jägergeschwader zurückbeorderten. Enttäuschen Sie mich auch jetzt nicht...« Crt Sagla hatte das Gefühl, einen Bleiklumpen im Magen liegen zu haben. Die zwanzig stählernen Gebirge am Himmel unterstrichen, was fünfzehn Minuten Zeitaufschub wert war. Nichts.
Aber nichts, dachte Crt Sagla, im innersten Kern erschüttert, ist immer noch besser als gar nichts. Immerhin ermöglichte es ihm die Beratung mit den anderen Vank und Vankko – und zwang ihn nicht, allein über das Schicksal der noch freien Tel zu entscheiden, über denen das Schreckgespenst der Tyrannei schwebte. »Kluis?« wandte er sich an das unvorstellbar leistungsfähige Rechengehirn, das eine kleine Ewigkeit lang allein über Wohl und Wehe der Tel bestimmt hatte. Fast wünschte sich Crt Sagla die alten Zeiten zurück. »Ja, Vank?« »Befehl an alle Schiffe, auf die du noch Zugriff hast: Sie sollen jegliche Kampfhandlung einstellen und auf weitere Befehle warten!« »Verstanden, Vank. Das Feuer wurde soeben eingestellt.« Und aus einem der zwanzig Schiffe über dem Kluis heraus erklärte Clos Vlc mit götzenhafter Überheblichkeit: »Die Zeit läuft ab jetzt!« * Ömer Giray, GSO-Agent auf Cromar, zog die Luft scharf durch die Zähne. Seine Fingerkuppen trommelten auf die Tischplatte, von deren anderer Seite ihm Bor Frikk entgegenstarrte. Die Augen im Gesicht des Schwarzen Weißen schienen zu glühen. Der Chef des telschen Geheimdienstes fluchte in der Sprache seines Volkes. Giray verzichtete darauf, eine Übersetzung anzumahnen. Für kurze Zeit war es so still, daß man eine Stecknadel zu Boden hätte fallen hören können. Schließlich sagte Bor Frikk, der von Crt Sagla persönlich dazu verdonnert worden war, in jeder nur denkbaren Art und Weise mit Bernd Eylers' Mann auf Cromar
zusammenzuarbeiten: »Vankko Clos Vlc ist noch skrupelloser, als wir es für möglich hielten. Wenn er seine Drohung wahr macht, werden wir Cromar aufgeben müssen. Diesen Preis wird Vank Crt Sagla nicht bereit sein zu zahlen. Niemals...« Giray nickte. Wie alle anderen in der Geheimdienstzentrale der Tel Versammelten hatte auch er jedes Wort, das zwischen Sagla und Vlc gewechselt worden war, mitbekommen. Mit einer knappen Viertelstunde hatte Crt Sagla des Maximum des Möglichen herausgeschunden. Aber in genau... Ömer Giray sah auf seine Kombination aus Armbandvipho und Chronometer. ... 14 Minuten und drei Sekunden würde die Galgenfrist verstrichen sein. »Besteht immer noch keine Verbindung zum Kluis?« fragte der terranische Top-Agent. Frikk verneinte. Sein Gesicht wirkte eingefallen. In den vergangenen Minuten war er um Jahre gealtert. Ömer Giray hielt sich lange genug auf Cromar auf, um eine Vorstellung davon zu besitzen, was für eine Katastrophe dem Zentralplaneten des Telin-Imperiums bevorstand, wenn man die Forderungen der Verschwörer nicht erfüllte. Cromar war kein normaler Planet. Schon vor langer Zeit hatten die Tel damit begonnen, sich sämtliche Elemente der Natur zu unterwerfen. Sie kontrollierten Klima und Wetter, regulierten entsprechend die Tag- und Nachtphasen, glichen Aufheizung und Abkühlung durch ein immenses Aufgebot an Technik aus, so daß sich die Temperatur planetenweit konstant auf 16,9 Grad Celsius hielt – der Idealtemperatur für das Wachstum einer einzigen, künstlich gezüchteten Pflanzenart, die den Vitaminbedarf jedes Tel abdeckte. Damit waren die Tel noch zehn Schritte weitergegangen in der Geißelung ihrer Heimatwelt als selbst die Terraner es mit
ihren Umweltsünden der vergangenen zweihundert Jahre getan hatten! Die Crux war, daß sie all das Künstliche, das die Natur ersetzt hatte, von einer einzigen Instanz kontrollieren ließen – ja, kontrollieren lassen konnten. Vom Kluis. Und wenn die zwanzig Schiffe am Himmel über dem Superrechner ihre Vernichtungsorgie entfesselten, würden sämtliche Regulatoren, die rund um den Planeten installiert waren, stationär oder in der Atmosphäre schwebend, von einer Sekunde auf die andere versagen. Aber wie eine Natur, von der plötzlich alle Ketten abfielen, reagieren würde – sich dies vorzustellen, überstieg nicht nur Ömer Girays Phantasie. »Dies ist ein schwarzer Tag«, sagte Bor Frikk. »Ich wünschte, ich sähe einen Ausweg. Aber Crt Sagla wird nichts anderes übrigbleiben, als die Kapitulation anzubieten. Damit ist Cromar gerettet. Aber die Tel werden schweren Zeiten entgegensehen. Ein Regime mit Clos Vlc an der Spitze wird zum Alptraum nicht nur für mein Volk werden!« Schon seit das mitgehörte Zwiegespräch zwischen Crt Sagla und Clos Vlc verklungen war jagten sich die Gedanken hinter Girays Stirn. Er maßte sich nicht an, schlauer als die Tel zu sein, die einen sehr viel besseren Überblick über ihre Möglichkeiten hatten. Dennoch... manchmal sah ein Außenstehender klarer... und Ömer staunte über sich selbst, als er mit Ablauf der ersten Minute des Ultimatums Bor Frikk fragte: »Würde der gestaffelte Schutzschirm über dem Kluis den...« er zögerte kurz, sprach aber dann mit Nachdruck weiter »... Absturz von zwanzig eurer 800-Meter-Raumer verkraften?« Bor Frikk starrte ihn an, als wollte er aufspringen, ihn über den Tisch hinweg packen und ihm die Seele aus dem Leib schütteln.
Er war zornig. Der Befehl, mit dem Terraner zu kooperieren, schien angesichts dieser Entwicklung nicht mehr zu gelten. Es war die wachsende Verzweiflung, die Frikks Zorn schürte. Zorn und Wut gegen alles und jeden! Falls Clos Vlc sein Ultimatum durchsetzte – und wer zweifelte daran noch ernsthaft? – würden seine Stunden gezählt sein. Vielleicht würde der verräterische Vankko Crt Sagla und dessen Getreue nicht hinrichten, gewiß aber inhaftieren oder deportieren lassen. Eine Begnadigung würde es mit Sicherheit nicht geben. »Sie meinen, ob der Kluis den Absturz überstehen würde?« Frikks Stimme klang heiser, mühsam beherrscht. »Ja. Würden Wracks oder Trümmerteile den Schild durchschlagen?« »Wenn Sie mit ›reinem Absturz‹ meinen, was auch ich darunter verstehe, würde ich sagen: nein. Aber das ließe sich relativ schnell errechnen...« Noch ohne zu wissen, worauf Giray wirklich hinauswollte, winkte Frikk einen seiner Leute herbei und trug ihm auf, die Frage unverzüglich und verbindlich beantworten zu lassen. »Weiter!« drängte er danach den Terraner. Eine weitere Minute war verstrichen. Blieben noch knappe zwölf übrig. Zwölf Minuten! Ömer Giray wünschte sich, ein Cyborg mit der Fähigkeit zum superschnellen Sprechen zu sein. Aber dann hätte auch Frikk in der Lage sein müssen, diesen Redeschwall zu verarbeiten... »Haben Sie auch eine Idee, wie Sie Clos Vlcs Schiffe zum Abschuß bringen wollen, ohne ihm vorher noch die Gelegenheit zum Gegenschlag zu geben?« »Hätte ich sonst gefragt?«
Frikk machte eine unwirsche Geste: »Vergeuden Sie keine Zeit – reden Sie!« Der Mann, den Frikk zuvor mit der Rechenaufgabe betraut hatte, meldete: »Die Schilde würden sich gegenüber einem reinen Aufprall als resistent erweisen. Problematisch würde es, wenn die Schiffsmeiler erst beim Kontakt mit dem Energieschirm hochgingen. Die dann freiwerdenden Kräfte würden den Schirm mit hoher Wahrscheinlichkeit zerreißen.« »Dann war das wohl eine Niete«, wandte sich Frikk an Giray. Aber seine Augen bettelten regelrecht, von Giray eines Besseren belehrt zu werden. Der GSO-Agent ließ sich nicht lange bitten: »Okay«, sagte er, »hören Sie mir jetzt genau zu – und geben Sie die Befehle umgehend weiter. Wir werden die restliche Frist wahrscheinlich bis auf die letzte Minute ausreizen müssen. Aber wenn wir Glück haben – alles Glück dieser Galaxis – können wir das Wunder schaffen...« Und dann erklärte er Bor Frikk seinen Plan, der an Aberwitz kaum noch zu übertreffen war. * Noch neun Minuten... Zwanzig Xe-Flash verließen ihre Basen auf der dem Kluis abgewandten Planetenseite. An Bord eines jeden blau-violett schimmernden Fahrzeugs befanden sich zwei Tel – die Mindestbesatzung. Keine Freiwilligen. Die Zeit hatte nicht gereicht, solche zu rekrutieren. Die Insassen folgten einem strikten Befehl, ohne an dessen Richtigkeit zu zweifeln. Sie waren vorab nicht einmal über die Tragweite ihres Einsatzes informiert. Erst an Bord der Xe-Flash erhielten sie nähere Instruktionen. Von einem Terraner!?
Autorisiert wurde der Mann von Bor Frikk – das genügte selbst Fro Nunc, dem erfahrensten Piloten, der den Einsatz zusammen mit seinem Partner Noc Drun leitete. Die restlichen neunzehn Flash waren über die Gedankensteuerungen gekoppelt, so daß ein perfekter Formationsflug möglich war. Noch sieben Minuten... Der Verband durchstieß die Atmosphäre Cromars und wechselte vom Ortungsschatten des Planeten in den des größten Mondes, einer öden, lebensfeindlichen Steinkugel. Fro Nunc und die anderen Piloten beherrschten das Instrumentarium der Xe-Flash im Schlaf. Blaues Licht füllte das Innere der Kleinstraumschiffe, die Sitzgelegenheiten für maximal 38 Personen boten. Selten flogen die Xe-Flash beinahe leer. Fro Nunc wußte, was dies bedeutete – und jeder andere seiner 39 Mitstreiter wußte es auch: Dies war ein Risikoeinsatz, bei dem es darauf ankam, die Zahl möglicher Opfer so gering zu halten, wie es nur eben ging. Aber Fro Nunc war Soldat aus dem Bewußtsein heraus geworden, daß er eines Tages im Einsatz sterben konnte. Der Tod schreckte ihn nicht, auch wenn er ihn nicht herbeiwünschte. Die Balance zwischen »überleben wollen« und »den Tod im äußersten Fall nicht scheuen« stimmte. Bei ihm und allen anderen. In der Bildprojektion unter der Decke, die das umliegende All zeigte, wuchs der Planet Cromar auf eine Größe heran, die es erlaubte, Details sowohl auf der Oberfläche als auch in seiner Atmosphäre zu erkennen. Die Gedankensteuerung markierte die Position des Kluis und die der zwanzig Feindraumer gleichfarbig. »Glaubst du, daß wir das überstehen?« fragte Noc Drun. Keines der Worte, die zwischen ihnen gewechselt wurden, verließ das Innere des Schiffes. Es bestand absolutes
Kommunikationsverbot. Schon vor dem Start war jedem XeFlash ein Doppelkugelraumer der Rebellen zugeordnet worden. Der Verband würde sich Sekunden vor Erreichen der Ziele auflösen, ausschwärmen und... »Theoretisch könnte es klappen«, erwiderte Fro Nunc, »probiert habe ich etwas derartiges noch nicht – keiner von uns hat das...« »Ich wünschte, diese verdammten Dinger ließen sich in der geforderten Perfektion fernsteuern.« »Angst?« Noc Drun verneinte glaubhaft. »Es ist nur... ich hatte gerade jemanden kennengelernt. Sie ist wundervoll. Ich hätte nicht gedacht, daß ich mich überhaupt einmal verlieben könnte, und nun...« Er sprach seine Gedanken nicht zu Ende. Und Fro Nunc hakte nicht nach. »Es wird alles gutgehen«, sagte er. »Die Entität, die uns Zwerge erschaffen hat, wird doch nicht zwei Liebende trennen wollen...« Es klang nicht einmal spöttisch. Noc Drun lachte nervös. Noch drei Minuten... * Der Bezirk, in dem die Familie Sagla wohnte, war kaum wiederzuerkennen: Die relative Nähe zum Kluis machte sich in einem gewaltigen Aufgebot von Sicherheitskräften bemerkbar, die jedoch allesamt große Verunsicherung ausstrahlten, so daß ihr Auftreten die beruhigende Wirkung, die es vermitteln sollte, verfehlte. Ngt starrte auf die Straßen hinab, in denen es zuging wie in einem Aggro-Stock. Aggros waren virtuelle Insekten, die bei Kindern sehr beliebt waren. Man konnte sie hegen und pflegen,
sie zur weiteren Vermehrung anregen, ihnen Kunststückchen beibringen... Kunststückchen, dachte Ngt beklommen. Sie schüttelte den Gedanken an Virtualität ab. Sie hatte die Kinder in ihr Zimmer geschickt und stand jetzt ganz allein vor der transparent geschalteten Wohnungswand, die von außen immer noch undurchdringlich für Blicke war. Sie hatte mehrfach versucht, Kontakt mit ihrem Mann aufzunehmen, der sich im Kluis und damit im Zentrum der Gefahr befand. Vergeblich. Unklar blieb, ob die Kontaktsperre von den Vank gewollt war oder ob die über dem Komplex schwebenden Schiffe mit Störfeldern eine Verbindungsaufnahme verhinderten. Ngt war ratlos. Obwohl erst wenige Minuten seit dem Auftauchen der Rebellenraumer verstrichen waren, kam es ihr wie Stunden vor. Sie überlegte, ob sie die Kinder nehmen und zu ihrer Mutter fahren sollte, die auf der anderen Seite Cromars lebte. Die Nähe zum Kluis, die ihr sonst immer Vertrauen und Sicherheit suggeriert hatte, schien ihr plötzlich unverantwortbar groß... Sie drehte sich um, als der Nachrichtensprecher mit bebender Stimme über den Angriff auf den Kluis zu berichten begann. Die Bilder, die seine Worte untermauerten, waren offenbar von Orbitalkameras erstellt worden. Sie zeigten, wie die zwanzig Rebellenschiffe einen Blitzkrieg gegen die außerhalb des Schutzschirms gelegenen Geschützbastionen flogen und diese binnen weniger Augenblicke ausschalteten. Als handele es sich um Spielzeuge. Ngt fröstelte. Detailgetreu zu sehen, was sie bislang nur vermutet hatte, nachdem sie die Explosionen und Rauchentwicklungen beobachtet hatte, schnürte ihr das Herz zusammen.
Der Moderator wirkte in seinen Erklärungsversuchen so hilflos wie die überall aufgebotenen Sicherheitskräfte. Und Ngt glaubte zu wissen, woran das lag. Niemand hatte mehr Kontakt zur Führungsspitze der Tel. Die Rebellenraumer knebelten den Kluis – und ihre Absicht wurde selbst einem strategischen Laien wie Ngt von Sekunde zu Sekunde klarer. Sie werden den Kluis zerstören, wenn die Regierenden sich nicht unterwerfen, dachte sie. Und diesmal war Rlc nicht zur Stelle, um sie zu stützen. Ein Schwindelgefühl drohte ihr die Beine unter dem Körper wegzureißen. »Haus«, befahl sie mit schwacher Stimme. »Ich brauche... Hilfe...« Etwas strömte vom Stoff ihrer Kleidung auf sie ein. Aber es kam zu spät. Ngt verlor das Bewußtsein und schlug auf dem Boden auf. * »Wir müssen evakuieren!« sagte Ömer Giray eindringlich. »Unmöglich«, wehrte Bor Frikk kategorisch ab. »Aber...« »Ich halte Ihre Idee für durchführbar«, rang sich der Geheimdienstchef ein Eingeständnis ab, das ihm nicht leicht zu fallen schien. »Sie ist wahrscheinlich die einzige Chance, die wir noch haben. Das sollte Sie stolz machen, Terraner. Aber wenn wir jetzt beginnen würden zu evakuieren, würden wir uns dieser letzten Chance selbst berauben. Clos Vlc würde mißtrauisch werden. Er würde sich nicht länger an sein Zugeständnis gebunden fühlen und den Kluis sofort unter Beschuß nehmen...« »Aber im Umkreis des Gebäudes leben Hunderttausende oder mehr Tel. Unschuldige Zivilisten, die...«
»Die sterben könnten«, nickte Bor Frikk mit steinernem Gesicht. »Einige werden es sogar sicher. Aber es ist Krieg. Opfer müssen gebracht werden!« Giray sah den schwarzhäutigen Mann ohne negroide Merkmale aus zusammengekniffenen Augen an. »Wenn ich geahnt hätte...« »Was dann? Hätten Sie dann Ihren Vorschlag nie unterbreitet? Bei den Staubwürmern von Fontanau! Wenn alles planmäßig verläuft, retten wir den Kluis, die dort befindlichen Regierungsmitglieder und ganz nebenbei auch noch den Planeten!« Giray preßte die Lippen zusammen. Und fragte sich, ob er an Bor Frikks Stelle wirklich anders gehandelt hätte... * Der Verräter-Vankko Clos Vlc starrte auf den in die Monitorwand eingeblendeten Countdown. Die Frist, die er der noch amtierenden Tel-Regierung gewährt hatte, verrann unaufhaltsam. Crt Sagla hatte Wort gehalten: Sämtliche Einheiten der Flotte hatten die Kampfhandlungen eingestellt – und auch Clos Vlc hielt sich an die Abmachung: Kein Rebellenschiff verletzte den ausgehandelten Waffenstillstand. Noch zwei Minuten, dachte Clos Vlc. Aber er suchte vergeblich nach einem Gefühl der Genugtuung in sich. Noch vor einer Stunde hätte er geschworen, daß er den Triumph wie nichts anderes in seinem Leben auskosten würde. Doch möglicherweise würde der Preis für den Sieg höher ausfallen als gewollt. Möglicherweise würde sich Crt Sagla als der starrsinnige Idealist erweisen, der er schon immer gewesen war... Und dann?
Dann würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als seine Drohung in die Tat umzusetzen. Der Kluis würde für künftige Tel-Generationen nur noch Geschichte sein! Und Cromar? Würde Cromar den Verlust überstehen – oder würden die neuen Herrscher nach einem neuen Regierungsplaneten Ausschau halten müssen...? Clos Vlc war sich darüber im klaren, daß er wahrscheinlich der einzige Tel-Rebell war, der sich diese möglichen Schattenseiten ihres Sieges vor Augen führte – alle anderen rechneten offenbar bereits fest mit der bedingungslosen Kapitulation der Regierung. Kurz dachte er an all die Milliarden Tel, die bei einem Schlag gegen den Kluis ihre Heimat – viele auch ihr Leben – verlieren würden. Es würde immense Überzeugungsarbeit kosten, den Bürgern des Imperiums im nachhinein die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme plausibel zu machen. Andererseits: Propaganda war schon immer Clos Vlcs heimliches Steckenpferd gewesen... Die rückwärtslaufenden Zahlen in der Einblendung zeigten, daß die letzte Minute der eingeräumten Bedenkzeit anbrach. Clos Vlc gab dem Funker einen Wink, daß er sich bereithalten sollte, die Phase zu öffnen. Der Kluis war kommunikationstechnisch von der Außenwelt isoliert. Induktionsstrahlen nutzten den bestehenden Energieschild und zweckentfremdeten ihn zu einem Störfeld, das keinen Spruch hinein und keinen hinausließ. Es sei denn, man kannte die Frequenz, die davon unbeeinflußt blieb. »Noch zwanzig Sekunden«, sprach Clos Vlc seine Gedanken laut aus, gerade so, als müßte er sich die Nähe des Sieges erst vor Augen führen, um selbst daran glauben zu können.
Niemand in der Kommandozentrale des Flaggschiffs antwortete. Atemlos gebannt starrten alle auf den Chronometer. Plötzlich jedoch, noch vor Ablauf des Ultimatums, hämmerte ein Stakkato schriller Töne durch das Schiff. Die Automatik schlug Alarm. Noch bevor Clos Vlc realisierte, was passiert war, erteilte er den Befehl, das Vernichtungsfeuer auf den Kluis zu eröffnen. Diese Narren, dachte er. Diese verfluchten, selbstmörderischen, an ihrer Überheblichkeit zugrunde gehenden Narren...! * Rlc glaubte, einen dumpfen Aufprall gehört zu haben. »Still!« wies sie ihre beiden Geschwister an, die sich in ihre Antischwerkraft-Gespinste, die ihnen nachts als Schlaflager dienten, zurückgezogen hatten und dort unterschiedlichen Beschäftigungen nachgingen. Um sich abzulenken. Vielleicht begriffen sie immer noch nicht, was wirklich geschah. Draußen am Himmel. Und weitab im Weltraum. Krieg! Rlc dachte an nichts anderes mehr, und für sie war dieses Wort mit Blut und Angst und Tränen gefüllt, während es für die jüngeren Geschwister Drg und Hlv noch etwas vollkommen Abstraktes darzustellen schien. Obwohl... bei Drg hegte Rlc ihre Zweifel. Ihre Schwester war in der letzten Zeit spürbar gereift. Kein Vorteil, dachte Rlc bitter. In dieser Situation kein Vorteil. »Was ist?« fragte Drg. Sie hatte die Augen und den Mund ihres Vaters, während Rlc mehr auf ihre Mutter herauskam. Bei
Hlv war zu keinem der beiden Elternteile eine Ähnlichkeit festzustellen. Rlc wußte, daß dieser Genmix gewollt war. Crt und Ngt Sagla hatten sich diese drei Varianten für ihre drei Sprößlinge gewünscht. Es gab Familien, in denen völlig dem gerade geltenden Schönheitsideal nachgeeifert wurde, wenn die Fortpflanzung zur Debatte stand – ganz ohne Rücksicht auf familiäre Merkmale. Rlc war zufrieden mit sich und ihrem Körper. Auch mit ihrer Intelligenz, bei der kein Tel-Elternpaar Kompromisse einging. »Ich weiß nicht... bleibt hier, ich sehe nach.« »Mutter...?« Hlv starrte Rlc verzweifelt an. Der Krieg mochte ihm ein Buch mit sieben Siegeln sein. Aber er fühlte, daß seine kleine Welt bedroht war. Und seine Mutter war die dominierende Person darin. »Ich bin gleich zurück!« Rlc wußte, daß sie der Anordnung ihrer Mutter zuwider handelte, als sie das Zimmer verließ. Normalerweise gehörte Gehorsam zu den ersten Tugenden einer Tel. In diesem Moment aber hätte sie sich noch über ganz andere Regeln hinweggesetzt. Über ein kurzes Flurstück gelangte sie zurück in den Hauptraum des Hauses, in dem sich normalerweise das alltägliche Miteinander abspielte. Ngt Sagla lag wie hingegossen auf dem weichen, von sachten Wellenbewegungen durchlaufenen Teppich – ein Imitat aus Laggros-Haar. Der Teppich hatte sich so schwarz verfärbt wie Ngt Saglas Gewand. Sie ist tot, dachte Rlc und blieb stehen, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Doch dann sah sie, wie sich der Brustkorb ihrer Mutter langsam hob und senkte. Sie atmete, also lebte sie!
»Haus!« Rlc erschrak über die eigene krächzende Stimme. »Haus – hilf ihr!« »Es wurden bereits Maßnahmen in die Wege geleitet«, antwortete der »gute Geist« des Gebäudes. »Was ist passiert?« »Der Streß. Ngt Sagla wurde ohnmächtig.« Rlc atmete innerlich auf. »Was ist da drüben los?« Es war Drgs Stimme. Und Hlv stimmte ein: »Mutter? Hörst du mich? Mutter – antworte!« »Es ist alles in Ordnung!« rief Rlc über die Schulter, überwand die Distanz zur Bewußtlosen und kniete neben ihr nieder. Noch während sie nach dem Puls tastete, schlug ihre Mutter die Augen auf. »Rlc...?« rann es schwach über die Lippen. »Es wird alles gut.« Ngts Augen weiteten sich. Die Erinnerung an das, was der Ohnmacht vorausgegangen war, kehrte zurück. »Die Rebellen...?« Rlc machte eine abwehrende Handbewegung. »Du darfst dich nicht aufregen. Es wird dir gleich besser gehen.« Auf Ngts dunkles Gesicht hatte sich Blässe wie eine feine Ascheschicht gelegt. Ohne auf ihre Tochter zu hören, richtete sie sich ruckartig auf. Ihre Kleidung war jetzt fahlgrau, als befände sich Ngt auf dem Weg der Genesung. Tapsende Schritte klangen auf. Hlv erschien in der Tür. Da stand Ngt bereits wieder auf ihren eigenen Beinen. Die verkniffene Miene des Jungen entspannte sich. »Geht zurück auf euer Zimmer«, sagte Ngt und wandte sich der immer noch transparenten Fensterfront zu. Am Himmel hingen die stählernen Doppelmonde und reflektierten das Morgenlicht. Es sah aus, als hätte sich nichts geändert.
Doch im nächsten Augenblick änderte sich alles. * Fro Nunc schaltete auf Sternensog. Ein jeder der neunzehn anderen Xe-Flash reagierte ebenso. Der Rest des programmierten Manövers verlief mit einer solchen Geschwindigkeit, daß die Tel-Piloten es manuell nicht hätten zum Erfolg bringen können. Noch achtzehn Sekunden bis zum Ablauf des Ultimatums! Das Geschehen hatte Ähnlichkeit mit einem Traum. Fro Nuncs subjektives Empfinden weigerte sich zu glauben, daß sein Geschwader nur ein oder zwei Sekunden benötigte, um den Mond, über dessen Oberfläche sie zuvor mit SLE tangential hinweggeflogen waren, hinter sich zu lassen und... ... Kurs auf Cromar selbst zu nehmen. Auf zwanzig eng beieinanderstehende Zielobjekte! Die sie im Bruchteil einer Sekunde erreichten. Und nicht nur erreichten... * Der Chronometer an Bord von Clos Vlcs Flaggschiff zeigte Sekunde sechzehn des ablaufenden Countdowns und war dabei, auf fünfzehn umzuspringen, als der abtrünnige Vankko begriff – zu begreifen versuchte – daß er zu hoch gepokert... ... und verloren hatte. Es blieb keine Zeit, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Crt Sagla oder eine andere Instanz auf Cromar erwies sich als der bessere Stratege. Clos Vlc bildete sich ein, daß er über den Panoramaschirm noch wahrnahm, wie die anderen Schiffe seines Verbandes auseinanderplatzten. Dann zerfetzte es auch ihn.
* Ein jeder der zwanzig Xe-Flash nahm einen der Rebellenraumer aufs Korn. Unmittelbar vor Erreichen der Ziele schalteten sie von Sternensog auf SLE zurück und setzten Ömer Girays Idee bis in die bitterste Konsequenz in die Tat um. Im Schutz der künstlichen Universen ihrer Intervalle durchdrangen sie zuerst die äußeren Schiffswandungen, dann einzelne Decks und Räume... ... und schließlich die Verkleidungen der Energiemeiler. Die sich im selben Moment in Miniatursonnen verwandelten und ihre Glutarme in alle Bereiche des Schiffes ausstreckten. Zwanzig Rebellenschiffe explodierten fast gleichzeitig. * Crt Sagla hatte bereits Atem geholt in der Erwartung der Frage, die Clos Vlc gleich an ihn richten würde: »Kapitulation oder Tod?« Doch Clos Vlc stellte diese Frage nie. Clos Vlc und seine Mitverschwörer starben am Himmel über Cromar! Ihre Schiffe verwandelten sich in verderbenspeiende Ungeheuer – jedoch in anderer Weise, als der rebellische Vankko es geplant haben konnte. Für einen Herzschlag lang schien die Zeit stillzustehen. Ohne die Bilder, die auf ihren Netzhäuten reflektierten, zu verstehen, hörte Crt Sagla plötzlich die Stimme Bor Frikks aus den Membranprojektoren schallen: »Antworten Sie, wenn Sie mich hören können! Vanks...!« Weder Crt Sagla noch Url Bnako oder Gen Punfk waren in der Lage, etwas zu erwidern.
Ihre Augen hingen an den herabfallenden Trümmern, die wie Bomben auf den Kluis-Schild und die benachbarten Gebiete der Stadt niederregneten. Ngt, dachte Crt Sagla bleiern. Rlc, Hlv, Drg... Unter den Treffern der herabstürzenden Teile begann der Schutzschirm über dem Kluis in allen erdenklichen Farben zu schillern. Beben durchliefen das Bauwerk. Und einen Moment wünschte Sagla, daß es zusammenstürzen und den Gewalten nicht standhalten würde. Für den Fall, daß sich seine schlimmsten Befürchtungen erfüllen sollten... * O mein Gott, dachte Ömer Giray, dessen schlimmste Befürchtungen sich gerade bewahrheiteten. Früher als die Rebellenschiffe hatten die Spezialisten in der Geheimdienstzentrale die anfliegenden Xe-Flash auf ihren Schirmen gehabt. Hatten das Verhängnis kommen sehen, das zunächst nach den zwanzig Doppelkugelraumern – und jetzt nach der Stadt griff. Bor Frikk ließ den Schild über dem Hauptquartier im selben Augenblick hochfahren, als das erste Donnergrollen zu ihnen vordrang. Die Instrumente erfaßten doppelt so viele Detonationen wie Rebellenschiffe am Himmel gestanden hatten. Und alle wußten, was das bedeutete. Spätestens als die Ortungsspezialisten eine erste Bilanz des Schreckens zogen – jenes Schreckens, der sich am Himmel über dem Kluis abgespielt hatte. Über die Tragödien am Boden konnte und wollte noch niemand Details nennen.
»Sie haben es nicht geschafft«, sagte Bor Frikk beherrscht. »Die Intervalle haben den Belastungen nicht standgehalten. Aber die Männer, die ihr Leben ließen, werden als Helden in die Geschichte eingehen...« Ömer Giray wußte, von wem Frikk redete, und er fühlte sich wie ein Mörder. Warum hatten die Tel nicht selbst den Plan entwerfen können, der sämtliche eingesetzten Xe-Besatzungen das Leben gekostet hatte? Und dessen »Nachbeben« gerade die Stadtgebiete rund um den Kluis verwüsteten. * Am Ende des Tages war das ganze Ausmaß der Katastrophe zumindest in groben Zügen überschaubar geworden. Die Wucht der Xe-Flash, die mit ihren Brennkreisen eine Spur der Vernichtung von den Panzerhüllen der Doppelkugelraumer bis zu den Meilern tief in ihrem Inneren gezogen hatten, war auch dafür verantwortlich gewesen, daß es die explodierenden Schiffe zum größten Teil vom Kluis weg über die ungeschützte Stadt gezogen hatte. Der Trümmerregen der gesprengten Rebellenraumer hatte mehrere hunderttausend Opfer unter den Tel gefordert, darunter Crt Saglas gesamte Familie. Eines der größeren Bruchstücke hatte das Gebäude, in dem seine Kinder zur Welt gekommen waren, auch in deren Grab verwandelt. Mit ihnen war Ngt Sagla gestorben, die Frau, die Crt ein halbes Leben lang begleitet hatte... Seine Trauer war grenzenlos. Aber er schloß sie ein – in einen fernen Winkel seines Herzens. Um weitermachen, um helfen zu können. Hier auf Cromar und draußen im All. Während die schwarzen Roboter der Tel ausschwärmten, um Verschüttete zu bergen und Schwerstverletzten eine
Erstversorgung angedeihen zu lassen, fiel draußen im All die Entscheidung. Und ganz am Ende dieses schwarzen Tages, der von Crt Sagla ganz persönliche Opfer gefordert hatte, gab es schließlich auch Gutes zu vermelden: Nach Clos Vlcs Tod waren die Raumschlachten wieder aufgeflammt, doch die Rebellen besaßen ohne ihren Führer nicht mehr die Kraft und die Entschlossenheit, die sie zuvor so gefährlich gemacht hatte. Nachdem mehrere in ihrer Hand befindliche Raumer im Feuer der Übermacht auseinandergebrochen waren, ergaben sie sich schließlich. Der Krieg in diesem Sektor der Galaxis war beendet. Anderswo hingegen... * »Wir müssen sie warnen!« »Ja, aber wie? Wir haben es doch bereits versucht. Doch im Sektor Sol toben zur Zeit wieder schwerste Magnetstürme. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß unsere Nachricht durchkommt, rechtzeitig durchkommt und...« »Versuchen Sie es weiter, verdammt!« Über Bor Frikks Gesicht flog der Schatten eines Lächelns. »Verdammt«, sagte er, »scheint ein beliebter Fluch bei den Terranern zu sein. – Dabei wurden sie vor nicht allzu langer Zeit doch noch selbst in der Galaxis als ›die Verdammten‹ bezeichnet...« Ömer Giray erwiderte das falsche Lächeln des Geheimdienstchefs mit gefletschten Zähnen. Der Moment, in dem er keinen Spaß mehr verstand, absolut gar keinen, war gekommen. Vor wenigen Minuten hatte sich herausgestellt, daß sich ein Teil der Rebellenflotte noch vor der Niederlage vom Hauptverband abgespalten und Kurs auf Terra genommen hatte – dabei mit von der Partie war aller Wahrscheinlichkeit nach
der mutmaßliche Robone Owo Gbagbo, nach dem die Tel in den letzten Stunden vergeblich gefahndet hatten. Angeführt wurde die aus zweitausend Doppelkugelraumern bestehende Armada offenbar von einem Wer namens Bol Gnun. Ein kampferprobter Stratege, dessen Reputation die ganze Sache noch verschlimmerte. »Schalten Sie die stärksten Sendeanlagen im CromarSystem zusammen!« verlangte Giray. »Mit Hilfe des geretteten Kluis dürfte das kein Problem sein, oder? Ich erinnere Sie ungern, Frikk, aber sind Sie mir diesen ›kleinen Gefallen‹, von dem vielleicht das Schicksal meiner Heimatwelt abhängt, nicht schuldig?« Bor Frikk schnaubte kurz. Dann nickte er – ganz wie ein Mensch genickt hätte. Ömer Giray hatte an seine Ehre appelliert. Und besser hätte er den Nerv des Tel nicht treffen können...
3. Henk de Groot warf einen Blick auf sein Armbandchrono. »Feierabend«, stieß er erleichtert hervor und war trotz aller Begeisterung für seine Arbeit froh, daß zwei freie Tage vor ihm lagen, an denen er nicht zu schuften brauchte. »Wochenende...« Zwei Tage lang keine Geistesakrobatik, die ihm und seinem Team das Letzte abverlangte, weil die Technik, die sich im Inneren des Goldenen Menschen von Babylon befand, so schnell wie möglich enträtselt werden mußte. Zwei Tage lang kein Herumbasteln an Aggregaten, die auf den ersten Blick formschön verkleidet waren; aber war die Verkleidung erst einmal entfernt, erschreckten sie mit einem verwirrenden Durcheinander in ihrem Inneren, das sich nur schwer begreifen und noch schwerer erklären ließ. Fest stand nur, daß diese Aggregate nicht der Hochtechnologie der Mysterious entstammte, sondern der der Giants. Aber waren diese, welche sich selbst hochtrabend All-Hüter genannt hatten, nicht lediglich ein Kunstprodukt der Mysterious gewesen? Ein Versuch jener vor tausend Jahren spurlos aus der Galaxis verschwundenen Superrasse, Kybernetik und Bio-Leben zu einer Einheit zu verbinden und daraus ein Sternenvolk zu schaffen, das auf den ersten Blick natürlich wirkte und dieses Natürliche sogar mit Parafähigkeiten unterstrich – und doch nichts anderes war als Roboter in einer biologischen Verkleidung, zusätzlich mit einem Atomsprengsatz im Körper! Trotz der enormen Wissensgrundlagen, die der Arzt und Forscher Manu Tschobe geschaffen hatte, waren die Giants immer noch ein Rätsel. Ihre Technik ebenfalls, zumindest hier auf Babylon, dem Planeten, dem die Mysterious einst den
Namen Fande gegeben hatten – nur klang »Babylon« in terranischen Ohren schöner, musikalischer als die alte Bezeichnung in der Sprache der Mysterious. Der 16. Umläufer seiner Sonne, mit einer Schwerkraft von nur 0,78 g und einer relativ hohen Durchschnittstemperatur von 18° C gesegnet, hatte förmlich danach geschrien, von Terranern besiedelt zu werden. Wohnraum mußte nicht erst geschaffen werden. Seit die Mysterious vor tausend Jahren dem Ruf »ron wedda wi terra« folgten, standen ihre riesigen Pyramidenstädte leer. Eine Infrastruktur aufzubauen sollte kein Problem sein, und laut Evakuierungsplan B-01 sollten im Laufe weniger Monate anderthalb Milliarden Menschen nach Babylon evakuiert werden. (»Ron wedda wi terra«: verschlüsselter Dauerfunkruf der Mysterious, der rund tausend Jahre nach ihrem Verschwinden noch einmal gesendet wurde und den Menschen anfangs Kopfzerbrechen bereitete, weil sie durch das Wort terra annahmen, die Erde sei gemeint. Erst dem Sprachforscher Dr. Alpho Marcuse gelang es, den Kode zu entschlüsseln und zu übersetzen: »Größte Gefahr! Alle sofort zurückkommen!« Welcher Art die Gefahr war, die die Mysterious einst zum Rückzug zwang, wurde bislang nicht schlüssig enträtselt, da den Angaben der ausgestorbenen Salter nicht wirklich zu vertrauen ist.) Als erste Quote hatte man zunächst 35 Millionen Umsiedler vorgesehen, aber auf wesentlich mehr als 40 Millionen war Babylons Bevölkerungszahl mit dem nächsten Siedlerschub dann doch nicht mehr angewachsen. Denn zu viel war im letzten halben Jahr dazwischengekommen. Robonische Störpropaganda, welche die Umsiedler verunsicherte, war nur einer der Gründe. Der Ausfall der M-Technik wog schwerer, denn Terra besaß plötzlich nicht mehr genug Raumschiffe, die für dieses Projekt eingesetzt werden konnten. Tausende von SKreuzern, ursprünglich als Transporter für die Babylon-
Kolonisten vorgesehen, würden nie mehr fliegen, weil die Galaktische Katastrophe, dieser unselige Hyperraumblitz, sie für alle Zeiten unbrauchbar gemacht hatte. Seither stagnierte nicht nur der Nachschub an weiteren Kolonisten, sondern auch an Versorgungsmaterial, denn auch wenn es auf Babylon umfangreiche industrielle Anlagen gab, war die terranische Kolonie noch längst nicht zum Selbstversorger geworden. Das war ein unerfüllbarer Wunschtraum der Planer auf Terra, der seine Schwächen jetzt besonders kraß zeigte. Wirkliche materielle Not mußte auf Babylon dennoch niemand leiden. Noch nicht... Statt dessen war ein anderer Notfall eingetreten: Die Grakos hatten Babylon entdeckt und angegriffen! Der verzweifelte Abwehrkampf, mit völlig unzureichenden Mitteln geführt, hatte den Kolonisten einen hohen Blutzoll abverlangt, und nur weil Henk de Groot es geschafft hatte, den Gigantsender im Goldenen Menschen zu reaktivieren und mit seinem Hyperfunk-Notruf die INVINCIBLE, einen Ringraumer der Terranischen Flotte, herbeizurufen, konnte das Schlimmste verhindert und das Schattenschiff der Grakos in die Flucht geschlagen werden. Trotzdem gab es Trümmer und Trauer in reichlichem Maße. Und die so dringende wie drängende Aufgabe, so schnell wie möglich so viel wie möglich der hier vorgefundenen Technik zu erforschen. Womit speziell alles gemeint war, was irgendwie mit dem Goldenen Menschen zu tun hatte! Der war nicht nur eine gigantische Hyperfunkstation, die mit ihrer Leistung selbst den Mammutsender von Erron-1 in den Schatten stellte, sondern auch eine Waffe! Die beweglichen Arme dieser über 8.000 Meter aufragenden Skulptur besaßen in ihren Händen Abstrahlpole, und mit diesen hatte die Superwaffe Goldener Mensch einen Raumtorpedo der
Grakos abschießen können, ehe der in gefährliche Nähe des Planeten gelangen konnte. Und vorher hatte er dem Schiff selbst mächtig zugesetzt. Noch ein Rätsel mehr, weil kein Mensch sich vorstellen konnte, auf welche Weise Gianttechnik mit Grakowaffen fertig wurde. Ein auf Babylon stationierter Kugelraumer, Beuteschiff der TF aus Giant-Beständen, war gleich im ersten Feuerschlag der Angreifer vernichtet worden! Für die Kolonisten ging es ums Überleben. Die Evakuierungspläne der terranischen Regierung waren entwickelt worden, um angesichts der bedrohlichen Situation wenigstens einem Teil der Menschheit eine Überlebenschance zu gewähren – dezentralisiert auf eine große Anzahl von Kolonialwelten, von denen Babylon die geeignetste war, weil sie nicht mehr erschlossen werden mußte. Eine weitere Chance hätte der Planet Hope geboten – wenn er nicht zu nahe in Richtung des galaktischen Zentrums läge. Aber von jenseits des Zentrums, vom Rand her, aus Richtung der Fremdgalaxis Drakhon, kamen doch die Magnetfeldstörungen und Strahlenstürme! Und die wurden immer stärker, von Jahr zu Jahr... Mittlerweile schon von Monat zu Monat... War die Katastrophe überhaupt noch aufzuhalten? Aber wie sollte man das tun? Wie sollte man ein kosmisches Phänomen bekämpfen oder neutralisieren? War es nicht Irrsinn, noch Planeten dieser Galaxis zu besiedeln? Sollte nicht das Beispiel der Fremdvölker zu denken geben, die alles daran setzten, die Milchstraße zu verlassen? So, wie es die Nogk getan hatten, nur rief ihnen das Exspect sein unerbittliches »Halt!« zu, weil sie nach Hunderten von Generationen zu strahlungsabhängigen Mutanten geworden waren, die den energetischen Einfluß der Milchstraße brauchen, um überhaupt existieren zu können. Wenn sie ins
Exspect vorstießen, starben sie unweigerlich, zerfielen zu Staub. Blieben von ihnen allenfalls Spuren im Sand der Zeit... Andere, wie Terraner, Amphis, Utaren oder sonstige Völker, mochten mehr Glück haben. Zumindest die Menschen überstanden den magneto-energetischen Spannungsabfall des Exspects unbeschadet, der um so größer und gefährlicher wurde, je tiefer man in diese Negasphäre vorstieß, nur gab es noch kein Antriebssystem, das in der Lage war, den enormen Energieverlust auszugleichen, der um so gewaltiger wurde, je tiefer ein Raumschiff ins Exspect vordrang. Hatten nicht selbst die Mysterious davor kapitulieren müssen? Soweit Henk de Groot informiert war, verloren auch die SKreuzer Unmengen an Energie, wenn sie ins Exspect gerieten, und Henk hatte davon gehört, daß bei einer früheren Fehltransition der POINT OF hinaus in den Leerraum zwischen den Galaxien selbst das Flaggschiff der TF Schwierigkeiten bekommen hatte – einer der Konverter war ertobit geworden. Was so viel bedeutete wie leer, funktionsuntüchtig – ausgebrannt. De Groot fragte sich, ob es unter diesen Umständen überhaupt noch sinnvoll war, nach Überlebensstrategien zu suchen. Andererseits – irgendwohin mußten sich auch die Mysterious gewandt haben, und daß die Grakos permanent ihre Angriffe flogen, bedeutete doch, daß sie sich etwas davon versprachen! So mörderisch sie waren, handelte es sich bei ihnen doch sicher um intelligente Wesen, die bestimmt nicht um verlorenes Gebiet kämpfen würden. Eher würden sie ihre potentiellen Opfer in den Strahlenstürmen vergehen lassen, die in Galaxis Zwei – Drakhon, wie man die andere Sterneninsel nach einer Legende der Tel benannt hatte – ihren Ursprung hatten. Mußte es demzufolge nicht Hoffnung geben?
Dann aber war diese Hoffnung es wert, ums Überleben zu kämpfen, um jede Minute, um jede Sekunde. Aber Feierabend war Feierabend. De Groot und seine Leute hatten genug getan. Wochenende war angesagt. Und Henk sehnte sich auch danach, wieder mit seiner Freundin Charlize Zusammensein zu können. Auch das war eine Überlebensstrategie, weil sie Hoffnung schuf, und die Gewißheit, etwas Sinnvolles zu tun für eine gemeinsame Zukunft. Außerdem war es Liebe, und das war noch wichtiger als alles andere. Zumindest jetzt für ihn. Daß der Feierabend ihn in eine Zone der Verwüstung zurückbrachte, interessierte ihn nur am Rande. Die Zerstörungen, welche die Grakos angerichtet hatten, konnte man ignorieren, soweit man nicht selbst davon betroffen war. Viele andere aber waren betroffen, und Charlize als Krankenschwester hatte mit ihnen zu tun. Henk konnte sich dem ebensowenig entziehen. Er hatte vor ein paar Wochen seinen Teil beigetragen, die Schlacht gegen die überlegenen Grakos zu gewinnen, mit seiner Arbeit, seinem Geist, seinen Ideen, aber er hatte auch gesehen, wie andere starben. Er hatte die höchste Auszeichnung erhalten, die die Verwaltung Babylons zu vergeben hatte, aber die half ihm nicht gegen die Alpträume, die kamen, wenn er schlief. Die Toten standen vor ihm und warfen ihm vor, nicht schneller gewesen zu sein, nicht früher die richtigen Gedanken entwickelt zu haben. Tod war etwas Schlimmes. Wenn Angehörige aus Altersgründen starben, konnte man irgendwie damit leben, damit fertig werden, den Verlust überwinden. Zum Leben gehörte der Tod, aber Leben sollte ausgekostet werden können, solange es die Biologie zuließ – und nicht durch Fremdeinwirkung gestoppt werden.
Durch Unfall, Mord oder Krieg – in dieser Reihenfolge des Entsetzens und der Widerwärtigkeit. Henk war nicht sicher, ob er die Grakos dafür hassen sollte, daß sie Menschen das Leben gestohlen hatten und es auch künftig tun würden in einer Verblendung, die sich von vernünftigem, logischem Denken ebensowenig erfassen ließ wie überhaupt jede Form von Mord und Krieg. Aber er war sicher, daß er sie bedauerte. Denkende Wesen, die sich selbst zwangen, grundlos zu töten, waren die ärmsten, verlorensten, einsamsten Kreaturen des Universums. Denn sie hatten keine Freunde. Wer wollte schon den Tod zum Freund haben? Und die Grakos hatten nur den Tod zum Freund. Sie brachten ihn allen anderen, und sie empfingen ihn, wenn diese sich wehrten. Welchen Sinn hatte das alles? Töten und Morden, Krieg führen – das alles brachte nichts. Zerstörung und Tod waren sinnlos, waren es schon immer gewesen und würden es immer sein. Einander helfen, sich gegenseitig unterstützen und dadurch vorankommen, Träume verwirklichen, um danach neue Träume erdenken zu können und noch weiter voranzuschreiten – das war sinnvoll. Leben und Existenz genießen, helfen, lachen, glücklich sein und das Glück anderer zu erleben – das war sinnvoll. Staunende Kinderaugen, fröhliches Kinderlachen zu sehen, eine Zukunft ohne Leid und Angst zu schaffen – das war sinnvoll. Und wenn irgendwann der Tod kam, nach vielen Jahren der Freude und des Glücks, der Erfüllung, dann mußte niemand mehr Angst vor diesem Tod haben, weil er nur nahm, was nicht mehr weitergeführt werden konnte, weil man gehen durfte, wenn nur noch wenig oder gar nichts mehr ungetan blieb. Doch Krieg brachte die Angst vor dem Tod. Weil noch zu viel unerlebt und ungetan bleiben mußte. Und die Grakos
brachten den Tod nicht nur den Erwachsenen, die zumindest schon einen Teil ihres Lebens hinter sich gebracht hatten, sondern auch den Kindern, die noch am Anfang ihrer Existenz standen, die noch keine Chance hatten, zu erleben, wie schön man die Welt gestalten konnte, wenn man es nur wollte – und konnte! Haben Grakos Kinder? fragte sich de Groot. Begreifen sie überhaupt, was sie tun? Und er mußte an die Pyramidenstadt denken, deren Bewohner – Männer, Frauen und Kinder – von den Schattenkriegern zunächst »nur« gefangengenommen, dann aber ermordet worden waren: Tausende von Menschen hatten von einem Moment zum anderen ihr Leben verloren. Einfach so, nicht weil ihr Ende vorbestimmt war, sondern weil die Mörder aus Weltraumtiefen das so wollten! De Groot schüttelte sich, als könne er den Alpdruck von sich werfen, der auf ihm lastete. Dann, wenn er sich nicht in die Arbeit knien konnte, wenn er schlafen wollte, um sich zu erholen, aber von Erholung nichts spürte, wenn die dunklen Träume kamen und er die Schattenkrieger sah, ihre Kampfflieger, ihr Raumschiff, diese schwarzen TechnoUngeheuer, die unter ihren Deflektorschirmen nur undeutlich zu erkennen waren. Sie sind zu feige, ihr Gesicht zu zeigen, wenn sie töten. Etwas hieb mit Urgewalt auf Henks Schulter und ließ ihn zusammenfahren. Instinktiv riß er die Fäuste zur Abwehr hoch – und ließ sie wieder fallen. »Bitte, Isaak – mach das nie wieder«, murmelte er. »He, was ist los mit dir?« fragte Isaak Izchemir, dessen türkischer Vater eine Israelin geheiratet hatte, um mit ihr Isaak und ein halbes Dutzend anderer junger Menschen in die Welt zu setzen. »Du bist krank in deiner Seele.« »Ja«, sagte Henk leise. »Wer ist das nicht, nach allem, was hier geschehen ist?«
»Sie können nicht gewinnen, die Grakos«, sagte Isaak. »Was auch immer sie tun, was auch immer sie anderen oder uns antun. Sie sind aus der Hölle gekommen, und die Hölle wird sie wieder fressen, weil das Böse niemals siegen kann in unserer Welt, solange wir noch Hoffnung in uns haben! Henk, hast du denn die Hoffnung schon verloren?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Dann laß uns von hier verschwinden, Chef! Wochenende! Pause! Ausruhen, Kraft schöpfen! Tief Luft holen und mit neuer Energie wieder ans Werk! Draußen wartet der Schweber, der uns nach Hause bringt. Gehen wir – wir sind ohnehin die letzten!« De Groot sah ihn überrascht an. »›Allah ist der Freund der Gläubigen‹«, zitierte Isaak Izchemir. »›Er führt sie aus der Finsternis ins Licht.‹ – So geschrieben in der zweiten Sure des Koran, Vers 258. – Glaube an das Gute und an die Hoffnung, mein Freund Henk, und du wirst das Licht sehen.« Henk schwieg immer noch. Er dachte an die Opfer der Grakos. Sie hatten kein Licht gesehen, als sie starben – woran auch immer sie geglaubt haben mochten. Denn die vernichtenden Kampf strahlen der mörderischen Feinde waren schwarz. * Die Spuren des Grako-Angriffs würden noch lange an die Abwehrschlacht und den hohen Blutzoll erinnern, den Babylon für seine Freiheit bezahlt hatte. Wenn de Groot aus dem Fenster seines kleinen Apartments sah, fiel sein Blick unweigerlich auf die verkohlten Überreste der benachbarten Pyramidenstadt, die von den Schattenungeheuern niedergebrannt worden war. Dennoch hatte Henk darauf verzichtet, die Zuweisung einer anderen Wohnung zu
beantragen – obgleich gerade ihm das garantiert sofort bewilligt worden wäre – oder darauf, endgültig zu Charlize Farmer in deren kleines Quartier zu ziehen. Er war noch nicht bereit, auf seine Erinnerungen zu verzichten, sie zu verdrängen. Noch immer konnte niemand genau sagen, wie viele Menschen den Grakos zum Opfer gefallen waren – die Verluste an Soldaten und Zivilbevölkerung mußten in die Zehntausende gehen. Selbst jetzt, Wochen nach dem heimtückischen Überfall, waren noch nicht alle Gefallenen eindeutig identifiziert und ihre Listen mit denen der Vermißten abgeglichen worden. Deshalb mußte der Wiederaufbau an vielen Stellen auch immer noch ruhen, bis diese Dinge geklärt waren. De Groot schreckte regelrecht zusammen, als der Türsummer Besuch anmeldete und ihn damit aus seinen Gedanken riß. Er öffnete die Tür. Charlize war gekommen. »Was ist los?« wollte sie wissen. »Bist du nur hergekommen, um dich in deiner Bude zu verkriechen, oder haben wir für heute und morgen vielleicht doch noch was vor?« »Entschuldige«, murmelte er. Spontan zog er Charlize an sich, umarmte und küßte sie. Sie hatten sich beide erst auf Babylon gefunden und beschlossen, den Rest ihres Lebens gemeinsam zu verbringen. Sie wollten Kinder haben und ihrer Zukunft Gestalt geben. Im Moment aber schien dieses Vorhaben noch so weit entfernt zu sein wie die fünf Monde, die Babylon umrundeten und in manchen Nächten jede Romantik abtöteten, weil mindestens drei, manchmal vier von ihnen zugleich am Himmel standen und es über den Pyramidenstädten fast taghell werden ließen. Charlize löste sich aus seiner Umarmung und musterte ihn kritisch.
»Manchmal frage ich mich, was ich eigentlich an dir finde«, sagte sie provozierend. »Statt mit mir das Nachtleben dieses Planeten auf zumischen, grübelst du immer wieder über deine Arbeit nach. Du bist von ihr besessen – dabei will ich dich besitzen! Aber nur einer von uns kann dich haben!« Ihre Augen leuchteten dabei auf merkwürdige Weise, schienen jeden Zentimeter seiner körperlichen Erscheinung in sich aufzusaugen. Ein unscheinbarer Mann mit schütterem Haar, an dem alles durchschnittlich zu sein schien. Mittleres Alter, mittlere Größe, mittleres Gewicht. Ein nicht unsympathisches Durchschnittsgesicht ohne markante Züge. Das einzig Auffällige an ihm waren seine dunklen Augen, die einen wachen Verstand, Energie und hohe Intelligenz verrieten. Aber nicht das war es, was sie an ihm mochte. Es war seine ganze Art, die ihr auf Anhieb gefallen hatte, als sie ihn zum ersten Mal sah. Und gerade das, was sie ihm – nicht einmal ernstgemeint – vorwarf, nämlich sich mehr um seine Arbeit zu kümmern als um seine Freundin, gehörte zu ihm wie die Luft zum Atmen. Er lächelte etwas verloren. »Diesmal habe ich wirklich nicht über meine Arbeit nachgedacht«, wehrte er sich zaghaft. »Eher über das da.« Er wies in Richtung Fenster, hinüber zu den Trümmern der anderen Stadt, in der kein einziger Mensch überlebt hatte. »Du solltest aufhören, dich in diesem Katastrophenszenario zu vergraben. Bleib nicht hier. Weißt du, wie allein ich bin, tagelang nach jedem Feierabend? Und jetzt ist Samstag, und du vergräbst dich in deiner Bude und deinen Erinnerungen an den Krieg!« Wie das klang: Krieg! Aber es war doch tatsächlich Krieg, auch wenn es niemals eine offizielle Kriegserklärung durch die Grakos gegeben hatte, sondern nur heimtückische Überfälle! Und eine der Schlachten war auf Babylon geschlagen worden.
Aber so, wie Charlize es in Worte kleidete, schien dieser Krieg schon eine kleine Ewigkeit zurückzuliegen. »Nun komm endlich auf andere Gedanken«, verlangte sie. »Raus aus deiner Räuberhöhle und hinein ins volle Leben! Bist du fertig?« Sie wartete sein Nicken kaum ab, zog ihn einfach an der Hand mit sich und ließ ihm kaum Zeit, zu prüfen, ob er seine Chipkarte bei sich hatte, um später die Tür zu seinem Apartment wieder öffnen zu können. Die Mysterious hatten keine Türschlösser hinterlassen; die waren von den Kolonisten nachträglich installiert worden, weil es auch auf Babylon den Wunsch nach privater Abgeschlossenheit und dem Schutz vor Angehörigen der Diebesgilde gab. »He! Was hast du mit mir vor?« »Dich auf andere Gedanken bringen!« Eine Viertelstunde später bugsierte Charlize ihn in ein Lokal, das wie die typische »kleine Kneipe nebenan« aussah. Draußen auf dem Vorplatz tanzte der Bär. Jugendliche tobten sich aus. Verdrängten Frust und Elend durch Aktion. Für einen kurzen Augenblick wünschte Henk sich, dazuzugehören. Aber er war ein paar Jahre zu alt, die Jungs und Mädels würden ihn höchstens mitleidig belächeln, wenn er versuchte, sich unter sie zu mischen. Und außerdem machte Charlize nicht den Eindruck, als fände sie Gefallen dran, von dröhnender Hyspacy-Musik, wie sich die momentan aktuelle, für Ohren erwachsener Menschen unerträgliche Stilrichtung nannte, und dem Heulen der Slider-Motoren malträtiert zu werden. Fast zu hastig zog sie Henk ins Innere der Kneipe. Die war schallisoliert. Von dem draußen vorherrschenden Lärm war hier nichts zu bemerken. Nur, wenn Gäste kamen oder gingen, weil es keine »Schallschleuse« gab. Dafür gab es Musik, die Henk zusagte. Mal weich und einschmeichelnd, dann wieder schnell und aufpeitschend. Musik, mit der er auf Terra aufgewachsen war. Er lächelte
seine Freundin an, und sie grinste wie ein hungriger Biber zurück – sie wußte verflixt genau, was ihm gefiel und ihn in Stimmung brachte. Sie kannte ihn schließlich, den Mann, den sie liebte und mit dem sie Kinder haben wollte – eines Tages, wenn das alles hier sich normalisiert hatte, wenn der Krieg gegen die Grakos nur noch ferne Vergangenheit war, an die man sich nur ungern erinnerte. Die Musik kam live von der Bühne, auf der es kaum Technik gab, sondern ganz normale, »altertümliche« Instrumente wie Gitarre, Querflöte und – immerhin – Dudelsack. Bretonische Folklore, wie man sie vor Jahrhunderten im Norden Frankreichs gespielt hatte, wie sie im 20. Jahrhundert von Barden wie Alan Stivell oder Gruppen wie Sonerien Du modernisiert worden war. Das war es, was Henk mochte. Stets in seine wissenschaftliche Arbeit vertieft, hatte er gar nicht gewußt, daß es hier eine solche Musikkneipe gab, sonst wäre er garantiert schon früher mal eingekehrt. Aber Charlize als Krankenschwester hatte natürlich ganz andere soziale Kontakte als er, sie kam mit viel mehr Menschen aus allen Schichten der hiesigen Bevölkerung zusammen und erfuhr entsprechend mehr. Seine Füße begannen im Takt der Musik zu zucken, signalisierten, daß sie tanzen wollten. Aber Charlize hatte erst einmal Getränke geordert. Während sie Henk das Glas weiterreichte, warf er einen etwas intensiveren Blick auf die Bühne. »Ups«, entfuhr es ihm. Die kleine Live-Band bestand aus bildhübschen Mädchen, die lediglich mit ihren Instrumenten und einer faszinierenden Körperbemalung »bekleidet« waren. »Ich dachte, so etwas gefällt dir«, schnurrte Charlize und rieb ihren Kopf an seiner Schultern. »Du gefällst mir«, protestierte er. Etwas lahm, denn wie konnte er so viel Schönheit widerstehen, die sich auf der Bühne
zum Takt der Musik bewegte und Harmonie und Eleganz ausstrahlte, ohne dabei zu erotisch zu wirken? Die kaum kaschierte Nacktheit der Mädchen war eher kühl, gelassen, alles andere als auf- oder gar erregend. Sie paßte einfach zu den Liedern – obgleich er eher mit der von der Musik repräsentierten Kultur und der entsprechenden Tracht gerechnet hätte. Und – die jungen Ladies verstanden sich aufs Musizieren und aufs Singen! Auch wenn Henk etwas widerwillig die Augen schloß und versuchte, an zusammenstürzende Maulwurfshügel statt an schöne Mädchen zu denken, gefiel ihm die Interpretation der alten Melodien. »Aus denen wird noch mal was«, prophezeite auch Charlize. »Wenn die den richtigen Agenten finden, der sie galaxisweit vermarktet... bloß bei den Utaren werden sie keinen Stich kriegen, weil deren Musikgeschmack eher dem einer Stubenfliege gleicht...« »Wenn sie sich bei den Vorstellungsgesprächen auch im Evaskostüm präsentieren, werden die Agenten sich um sie reißen«, grinste Henk. »Gut, daß ich kein Musikagent bin.« »Warum?« wollte Charlize wissen. »Weil ich sonst Vergleiche anstellen müßte«, sagte er. Bevor sie protestieren konnte, fuhr er fort: »Du wärst absolut im Vorteil. Sofern du auch so gut singen und spielen kannst.« »Soll das heißen«, sie machte eine Kunstpause von ein paar Sekunden, »daß es dir gefallen würde, mich auch da auf der kleinen Bühne zu sehen? Läßt sich arrangieren. In dieser Kneipe ist alles möglich.« Er fing sie ab. »He, warte! Ich habe damit nicht gesagt, daß du dich in der Öffentlichkeit ausziehen sollst...« Sie schmiegte sich an ihn, küßte ihn. »Wieso eigentlich nicht?« fragte sie dann. »Weil ich deinen Anblick keinem anderen gönne!« knurrte Henk düster.
Sie lachte hell auf und drehte sich mit ausgebreiteten Armen einmal um sich selbst, schnell genug, daß ihr blondes, im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar flog. Sie genoß es, wie er sie anschaute, wie er sich in Gedanken vorstellte, sie auf der Bühne zu sehen, sie aber lieber nur für sich allein zu haben. Sie war eine durchaus hübsche junge Frau. Keine perfekte Schönheit wie die Modelle aus den 3-D-Modekatalogen oder die Mädchen auf der Bühne, aber sie strahlte eine Natürlichkeit und Lebendigkeit aus, die sie weitaus anziehender machte als so manche der eingebildeten und zickigen Schönheitsköniginnen, von denen Männer wie Henk nur träumen konnten. Er liebte die Lachfältchen um ihre wasserblauen Augen, ihre Stupsnase und die zahllosen Sommersprossen auf ihrem Gesicht. Und alles andere an ihr, das – hoffentlich – niemand anderer zu sehen bekam... Wieder schmiegte sie sich an ihn, küßte ihn. »Trink aus und laß uns tanzen«, flüsterte sie ihm zu. Aber dazu kam es nicht mehr. Denn in diesem Moment verließ ein Gast das kleine Lokal. Und durch die für einen Moment offene Tür drangen erschreckend lautes Krachen, Dröhnen und Scheppern – und laute Entsetzensschreie! Alarmiert stürmten Henk und Charlize ins Freie. Vor ihnen breitete sich ein Schreckensszenario aus. * Minuten vorher: Hyspacy-Rhythmen hämmerten aus den Gettoblastern und peitschten auf. Dazu das verhaltene Dröhnen der SliderTurbos, das hin und wieder ohrenbetäubend wurde, wenn einer der Piloten seine Maschine voll aufdrehte und ein paar wilde Runden über den Platz drehte. Die Pyramide hinaufzuackern und Anwohnern über die Terrasse zu fahren, war aber schon
langweilig, und die Clique suchte nach neuen Herausforderungen. Die Clique, das waren gut zwei Dutzend Jungen und Mädchen im Alter von sechzehn bis zwanzig Jahren, wild und ungebändigt. Sie hatten das Chaos des Grako-Angriffs erlebt und überlebt, und sie wußten, wie haarscharf sie alle dem Tod entgangen waren. Um so mehr wollten sie das Leben genießen, exzessiv auskosten, was irgendwie möglich war. Denn niemand garantierte, daß die Mörderschatten nicht noch einmal zurückkehrten und ihr Vernichtungswerk vollendeten. Also galt es, jede Sekunde, jeden Atemzug, jeden Herzschlag so zu genießen, als wäre es der letzte. Es war die eine Art, mit dem Grauen fertigzuwerden. Die andere war, sich zu verkriechen, zu grübeln, zu weinen und zu beten. Oder sich in die Arbeit zu stürzen, um zu vergessen. Das war es nicht, was der Lederclan wollte. »Wir sind zäh und unbesiegbar, uns bringt nichts um, wir schaffen alles und jeden!« lautete das Motto des wilden Haufens. Sie wollten nur genießen und sich austoben, um zu wissen, daß sie nichts versäumt hatten, wenn der Tod Babylon noch einmal hungrig heimsuchte. Aber – so, wie sie leben wollten, hart am Limit und vielleicht darüber hinaus, ignorierten sie, wie nahe der Tod ihnen auch ohne die Nähe der Grakos war. Es war die typische Fehleinschätzung jedes Menschen, der sich zu viele Gedanken über das Sterben macht – die Risikoschwelle sinkt, weil der Tod nichts unsagbar Fremdes, Fernes mehr ist, sondern allgegenwärtig in der Gedankenwelt, und weil dieser Tod besiegbar gemacht werden muß. Passanten warfen der Gruppe teilweise mißbilligende Blicke zu, andere grinsten, weil sie sich an ihre eigenen wilden Zeiten auf Terra erinnerten, und wieder andere, weil sie diese jungen Menschen um ihre Abenteuerlust beneideten, die ungebrochen
war, obgleich der Grako-Angriff eigentlich Abenteuer genug für ein ganzes Leben sein konnte. Zumindest für jene, die den Mut nicht aufbrachten, aus dem grauen Alltag auszubrechen und exzessiv auszukosten, was das Leben zu bieten hatte. Vielleicht waren einige auch nur neidisch auf die hübschen, heißen Slider-Bräute, die sie gern auch im Bett gehabt hätten, nur waren die nicht scharf auf Spießer, die sich verkrochen hatten, als der Angriff begann. Daß die Clique nur noch aus einem Drittel bestand, weil die anderen beim Abwehrkampf umgekommen waren, spielte kaum noch eine Rolle. Man gedachte der Toten, aber man lebte. Und wie! Garak Khan, der Anführer, nahm sogar eine Sonderstellung ein, die ihn noch über die »Leaders of the pack« der anderen Gangs hinaus hob – er war der »Superchief«. Er hatte beide Beine verloren, und er konnte sie nicht nachwachsen lassen, weil er nicht nach Terra konnte – nur in den dortigen Spezialkliniken war so etwas bisher möglich. Das nötige Geld für die Behandlung hätten seine Leute aus der Gang ihm spendiert. Aber die Passage nach Terra war zu teuer. Die war einfach unbezahlbar. Selbst für einen Helden wie Garak, der vier Grakos getötet hatte. Man hatte ihm einen Orden verleihen wollen; er hatte nach einer Passage gefragt, und Schulterzucken zur Antwort bekommen. Ein Stück Blech in Form zu pressen kam billiger. Also blieb Garak Khan ein Krüppel. Ein »Kriegsversehrter«, wie es offiziell und politisch korrekt hieß. Er saß in seinem Tri-Slider wie in einem Rollstuhl, wenn er den Events beiwohnte. Und er beherrschte den Slider nach wie vor perfekt. Den hatte er nicht einmal neu kaufen müssen – von wem auch, denn auf Babylon gab es, was Fahrzeuge anging, nur das, was von Terra mitgebracht worden war. Damals hatten ihn alle des breiten und bequemen Apparates wegen insgeheim
belächelt. Heute lächelte keiner mehr; jedem war die Tragik bewußt, daß der Khan keinen normalen Slider mehr fahren konnte. Dort, wo sein Körper endete, begannen mechanische Gehhilfen, aber bei den Treffen legte er die nur selten an, sondern ließ die aus Plastomer geschnitzte Beinattrappe sehen, in welche vier tiefe Kerben geschnitzt waren. Vier Kerben – vier Grakos, die er erledigt hatte. Und deshalb hatten sieben Soldaten, drei Frauen und zwei Kinder unversehrt flüchten können. Ob die Soldaten nicht später noch verwundet worden oder gefallen waren, wußte Garak nicht. Er bildete sich auch nichts darauf ein, ihnen eine Chance gewährt zu haben. Er hatte nur getan, was er tun mußte, um sich am nächsten Tag noch im Spiegel anschauen zu können. Es hatte ihn seine Beine gekostet, und das war sein halbes Leben. Aber zwei Kinder lebten. Und vier verfluchte Grakos waren tot und würden niemanden mehr bedrohen können. »Ein Rennen«, schrie Carmen Santiago. »Der Sieger bekommt mich!« Sie riß ihre Lederjacke auf, unter der sich nur Carmen Santiago befand, und fetzte sich die Ledershorts vom Luxuskörper; das schwarzglänzende Verkehrshindernis wurde nur von Druckknöpfen rechts und links gehalten, die unter dem Druck ihrer zupackenden Fäuste aufsprangen. Wild ließ sie das Becken kreisen. »Ein Rennen«, wiederholte sie herausfordernd. »Wer will mich gewinnen?« »Zum Teufel mit dir!« fauchte Garak sie an. Sie war seine Gefährtin, seine Braut – gewesen. Bis zum Grako-Überfall. Sie war heiß wie die Hölle. Sie war ein leidenschaftlicher Vulkan, sie konnten beide nicht genug voneinander bekommen – als sein Körper noch unversehrt war. Aber jetzt... war der »halbe Mann« für sie nicht mehr interessant! Dabei habe ich nur meine Beine verloren, alles
andere ist noch dran! dachte er in zorniger Verbitterung. Aber es genügte ihr nicht. Sie wollte mehr – alles! Sie lachte auf. »Die beiden Ringpyramiden!« rief sie und schwenkte das Stück Leder, das sie sich vom Leib gerissen hatte, um die Jungs aufzuheizen. Eines der anderen Mädchen tippte sich vielsagend an die Stirn, zuckte mit den Schultern. »Wer's nötig hat«, hörte Garak sie murmeln. Rennen waren verboten. Warum, verstand keiner von ihnen allen. Es gab so viel Platz zwischen den Städten – und falls zufällig ein anderes Fahrzeug den für ein Rennen in Anspruch genommenen Platz erreichte, konnte jeder den anderen deutlich sehen und Rücksicht nehmen. Aber – Rennen waren illegal. Was den Reiz natürlich erhöhte, und damit rechnete auch Carmen Santiago! Sie redete längst weiter. »Bis zur Pyramidenstadt drüben und wieder zurück nach hier! So schnell wie möglich! Wer zuerst wieder hier ist, darf mit mir machen, was er will!« Ein paar der Ledermänner sahen sich vielsagend an und schüttelten die Köpfe. Sie wußten, daß Carmen zum »Superchief« gehörte. Und dem die Frau wegzunehmen, war nicht ihr Fall. Das hatte er nicht verdient – gerade jetzt nicht! Aber ein paar andere erklärten sich sofort für das Rennen bereit. Es gab kein Zurück mehr. Garak Khan rückte seinen Torso auf dem Sitz des TriSliders zurecht. »Okay«, sagte er laut und gedehnt. »Die Sache gilt. Wer zuerst wieder hier ankommt, kann mit Carmen machen, was er will.« Eine leichte Berührung des Sensorschalters – der Motor seines Tri sprang an. Die Maschine hob sich auf ihrem AGravkissen einige Handbreiten hoch über den Bodenbelag. Eine weitere Berührung eines Steuerschalters, der Tri-Slider schwenkte herum.
Die Jungs, die das Rennen machen wollten, sahen Khan verblüfft an. Sie hatten nicht damit gerechnet, daß der Kriegsveteran selbst in diese Auseinandersetzung einsteigen wollte. Er selbst schalt sich dafür auch einen Narren. Mit dem Tri ein Rennen zu fahren, war aberwitzig. Aber er wollte nicht zulassen, daß Carmen Santiago ihn vorführte wie ein kurioses Tier. Er wollte es ihr zeigen. Zugleich setzte er sich damit aber selbst unter enormen Streß. Er hatte die Herausforderung angenommen, jetzt mußte er auch siegen, oder zumindest mit dem schnellsten der anderen zugleich die Ziellinie durchrasen. Oder er machte sich selbst erst recht lächerlich. Die Augen seiner Ex-Gespielin, die ihn einfach so fallenlassen wollte, wurden unnatürlich groß. »Worauf wartest du, Süße?« fragte er kalt. »Gib das Zeichen!« Die anderen vier Konkurrenten hatten ihre Sliders jetzt ebenfalls in Position gebracht. Mit brummenden Antrieben lauerten sie auf ihren A-Gravkissen, bereit, wie abgefeuerte Geschosse loszujagen. »Jetzt!« schrie Carmen. Und die insgesamt fünf Maschinen stürmten los. * Sie jagten der anderen Stadt entgegen, über die ebene, hier und da sandbedeckte und von niederen Pflanzen überzogene Fläche. Der Begriff »Pyramide« oder »Ringpyramide« war eigentlich irreführend, war aber bei den meisten Babyloniern mittlerweile in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Die Städte, die die Oberfläche des Planeten bedeckten, waren teilweise mehr als zwei Kilometer hohe, in Terrassenform erbaute Kegel mit abgeschnittenen Spitzen, so daß sich die
Flachdächer als Landeplätze für Schweber, Jetts und sogar kleinere Raumschiffe eigneten. Der Durchmesser einer solchen Stadt konnte am Boden mehr als drei Kilometer betragen. Ihr Anblick konnte Garak Khan längst nicht mehr beeindrucken. Er achtete auch nicht auf seine Rivalen. Er war angespannt und konzentriert wie noch nie, holte aus seinem schweren Tri-Slider das Äußerste heraus, schonte sich selbst nicht. Teilweise war der Boden uneben, die Sliders sprangen regelrecht. Wo die anderen Fahrer sich mit den Oberschenkeln festklammern konnten, wurde Garak geradezu hochkatapultiert und war einige Male nahe daran, von seiner Maschine geschleudert zu werden. Andererseits stabilisierte sich der TriSlider durch seine Breite rascher als die schmalen Sliders der anderen, Motorrädern des vergangenen Jahrhunderts recht ähnlich, aber auf Antigrav gleitend und nicht auf Rädern balancierend. Dennoch war es fast schwerer, einen Slider zu beherrschen als eines der antiken Motorräder. Denn während dort die Reifen noch Bodenkontakt hatten, gab es bei den Sliders überhaupt keine Haftung. Die Antigravfelder hielten die Masse der Maschine in der Schwebe, ein Lenken war nur durch das Spielen mit dem Antriebssystem und durch Gewichtsverlagerung möglich. Und wer nicht aufpaßte, der rutschte einfach weg, wo die Profilstollen eines Gummireifens sich vielleicht noch ein wenig hätten festkrallen können. Garaks Hände flogen über die Sensortasten und Steuerschalter. Er drosch den Tri um Bodenunebenheiten herum, die ihm gefährlich werden konnten, stabilisierte die Maschine immer wieder mit Seitenschub der Lenkdüsen. Kurvenkontrolle durch Gewichtsverlagerung kam für ihn aufgrund seines körperlichen Mangels kaum in Frage. Deshalb war er selbst überrascht, wie schnell er vorankam. Zwei Rivalen hatte er hinter sich gelassen. Mit dem dritten war
er annähernd gleichauf, der vierte jagte nur wenige Meter vor ihm über die Piste. Die »Nachbarstadt« war erreicht. Der Rennfavorit zog seine Kawasaki in einen weiten Bogen, drehte vor der Stadt ab, statt sie weiträumig zu umrunden. Aber das wurde ja auch nicht gefordert, nur hatte er jetzt mit seinem Wendemanöver die Spur vorgegeben, die auch die anderen einhalten mußten, wenn das Rennen fair bleiben sollte. Per Ideallinie die Kurve abkürzen galt nicht... Garak Khan bekam dennoch seinen Vorteil. Es war eine Linkskurve, und sein Rivale fuhr rechts neben ihm. Garak blieb exakt in der Spur, die die Kawasaki vorgab, und Garaks Rivale mußte dadurch einen geringfügig größeren Bogen fahren. Außenbahn, dachte Khan grimmig. Hoffentlich brechen sie sich den Hals, diese verdammten Halunken! Er erhöhte sein Risiko, überlastete den Antrieb, um den Abstand zum Vordermann noch weiter zu verringern. Aber der schien zu ahnen, wie dicht ihm der Anführer der Clique bereits auf den Fersen war. Er begann, Garak zu behindern. Setzte sich unmittelbar vor dessen Maschine, um ihn auszubremsen und dann wieder voll durchzustarten. Tatsächlich mußte Garak sich wieder etwas zurückfallen lassen – bei allem Stolz wollte er doch überleben und nicht bei einem hektischen Ausweichmanöver draufgehen. Prompt schloß natürlich sein Hintermann zu ihm auf und setzte zum Überholen an. Der Führende fühlte sich jetzt sicher. Ein Blick auf den Rückmonitor verriet ihm, daß er seinen Verfolger abgehängt hatte, und er verzichtete jetzt auf weitere riskante Manöver, sondern drehte nur noch voll auf. Aber jetzt konnte auch Garak wieder voll beschleunigen. Die Instrumente seines Tri warnten. Der überlastete Antrieb würde nicht mehr lange durchhalten. Schon jetzt war die Kühlmitteltemperatur extrem angestiegen. Jeden Moment
konnten Dichtungen schmelzen oder verdampfen, konnten in der Hitze sich ausdehnende Teile sich gegenseitig wegsprengen oder unter dem erhöhten Druck aufplatzen lassen. Wenn Khan Pech hatte, flog ihm die Maschine um die Ohren, ehe er das Ziel erreicht hatte. War es das wert? Konnte er sich nicht vielleicht auf seinen »Kriegsversehrtenbonus« berufen? Aber nein, er hatte dem Rennen zugestimmt, hatte sich mit eingeklinkt, zu den gleichen Bedingungen wie die anderen. Und das alles nur, um dieser dummen Schnepfe Carmen Santiago zu zeigen, daß sie mit ihm nicht machen konnte, was sie wollte, daß sie ihn nicht einfach nach Belieben wegwerfen konnte, nur weil er ihr jetzt nicht mehr bieten konnte, was er ihr früher geboten hatte. Im Gegenteil – er wollte siegen, um dann seinerseits ihr eine Lektion zu erteilen! Und er holte wieder auf! Da waren sie schon wieder bei »ihrer« Stadt! Jagten auf den Platz zu! Khan fast schon neben seinem Rivalen, der jetzt erst feststellte, wie nahe ihm Garak Khan doch wieder gekommen war! Jetzt galt es abzubremsen! Warum bremst der nicht? durchfuhr es Khan. Verdammt, der will doch nicht etwa...? Der wollte! Er wollte das Abbremsen bis zum buchstäblich allerletzten Sekundenbruchteil hinauszögern, um nichts mehr zu verschenken! Nur dann konnte er noch verhindern, daß Khan an ihm vorbeizog, der durch die größere Stirnfläche seines TriSliders mehr Luftwiderstand besaß und demzufolge besser bremsen konnte. Im gleichen Moment tauchte der Bus auf! Khan sah die Katastrophe, aber er sah auch, daß er sie nicht mehr verhindern konnte.
Der Bus, ein Transportgleiter, der zwischen den Städten pendelte, glitt mit normaler Geschwindigkeit hinter einem Sichthindernis hervor. Er schwebte in etwa einem Meter Höhe über dem Boden. Nur wenig höher als die Sliders. Der schnelle Kawasakifahrer, der sein Bremsmanöver noch hinauszögern wollte, schaffte es nicht mehr, anzuhalten. Er schaltete zwar auf maximalen Gegenschub, aber er verriß dabei die Lenkung, die Maschine kippte und war nicht mehr zu halten, glitt unaufhaltsam und so gut wie ungebremst weiter geradeaus. Garak legte seinen Tri in eine Kurve. Der Pilot des Busgleiters versuchte auszuweichen. Aber die große Maschine, die bis zu fünfzig Passagieren Raum bot, war zu schwerfällig und drehte sich nur langsam seitwärts. Zudem reagierte der Pilot zu langsam und falsch – er hatte nicht mit einer Horde Wahnsinniger gerechnet, die ausgerechnet hier ein illegales Rennen fuhr! Der Kawasaki-Slider knallte gegen den Bus. Der wurde durch die Aufprallwucht in die entgegengesetzte Richtung gedreht und prallte gegen die untere Terrassenwand der Pyramide. Mehr bekam Garak Khan nicht mehr mit. Sein Tri-Slider kippte ebenfalls unter der Kurvenbelastung weg. Im gleichen Moment spielte auch der Antrieb nicht mehr mit. Die Maschine explodierte. Khan, der vier Grakos erledigt hatte, sah nicht mal mehr den grellen Blitz, der ihn fraß. * Henk de Groot, der als erster nach draußen stürmte, blieb abrupt stehen. Charlize stieß gegen seinen Rücken. Entsetzt starrten beide in das Inferno.
Ein Gleiterbus war gegen die Pyramidenfassade geknallt! Und ein paar Sliders einer jugendlichen Clique waren an dem Unfall beteiligt. Flammen loderten, verletzte Menschen schrien oder stöhnten. »Scheiße«, murmelte Henk. Reichte der Grako-Angriff nicht völlig aus? Mußte es jetzt auch noch zu diesem Fiasko kommen? Charlize schob ihn vorwärts, riß ihn aus seinen Erinnerungsblitzen. »Notdienst anrufen... Henk, was hast du von deinem Erste-Hilfe-Kurs behalten?« Das weckte ihn endgültig auf. Plötzlich sah er nicht mehr nur die brennenden technischen Apparate, nicht nur verletzte Menschen, sondern auch, was er tun konnte. »Rettungsdienste sind unterwegs«, dröhnte hinter ihnen eine Stimme auf. »Hab' gerade angerufen, bestätigt... paar Minuten...« Zu der Stimme gehörte ein Mann vom Kaliber »mehr breit als hoch«. Der übernahm auch gleich das Kommando. Rasch und überlegt deutete er auf Männer und Frauen, die neugierig aus dem Lokal drängten, und teilte sie zu Hilfsdiensten ein. Er trat autoritär auf, seinen Anweisungen wurde widerspruchslos gefolgt. Charlize, von Beruf Krankenschwester, übernahm es sofort, ebenfalls Entscheidungen zu treffen und Hilfsmöglichkeiten vorzugeben. Sie faßte selbst mit an, um Verletzungen zu versorgen, vorwiegend aber diagnostizierte sie, ihren Erfahrungen gemäß. Der Mann, der das Kommando an sich gerissen hatte und ebenfalls selbst mit zupackte, akzeptierte das sofort. Henk war froh, daß ihm selbst in diesem Moment Entscheidungen abgenommen wurden. Noch erleichterter war er darüber, daß niemand ihn als den Mann erkannte, der bei der Grako-Invasion für die Rettung des Planeten gesorgt hatte.
Jetzt war er einer unter vielen Helfern – oder eher unter wenigen, denn die Autorität des Breitschultrigen reichte nicht aus, alle Anwesenden in die Verantwortung zu zwingen. Vor allem Angehörige der Ledergang tauchten ziemlich schnell irgendwo unter und wurden nicht mehr gesehen. Daß einer oder zwei von ihnen für den Unfall verantwortlich waren, schien sie nicht sonderlich zu berühren. Irgendwo heulten Sirenen. Je näher die Rettungsschweber kamen, desto lauter wurden sie, und Henk fühlte auch die Impulse des Vibrationsalarms, der ebenfalls ausgestrahlt wurde und die akustische Warnung unterstützte. Er haßte diese Variante, hatte sich noch nie damit anfreunden können. Er zerrte einen Mann aus den Trümmern hervor, der ihm von der Statur her recht ähnlich war, nur wog er Henks Schätzung nach um die 100 Kilo, die Henk selbst nicht mal auf die Waage brachte, wenn er sich ein ganzes Jahr lang nur noch von Bier und Chips ernährte. Der blutüberströmte Bewußtlose war offenbar ein Passant, der das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Der Gleiterbus mußte ihn bei seinem vergeblichen Ausweichmanöver mit folgendem Rammstoß erwischt und an der Pyramidenwand beinahe zerdrückt haben. Henk schloß sekundenlang die Augen; er wollte die schweren Verletzungen nicht sehen, die der Mann aufwies, der seinem Aussehen nach auch noch in Henk de Groots Alter war. Charlize tauchte kurz neben Henk auf, untersuchte den Verletzten. Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Nichts mehr zu machen«, sagte sie leise und wandte sich dem nächsten Unfallopfer zu. Inzwischen hatten die Helfer nahezu alle Verletzten geborgen und eine notdürftige Versorgung begonnen. Einige
Sanka-Schweber landeten; ein paar Ärzte und eine Menge medizinischer Helfer schwärmten aus. Henk preßte die Lippen zusammen. Die Logik sagte ihm: Unfälle geschehen, und bei Unfällen sterben Menschen. Aber das Gefühl sagte ihm: Ich habe diesen Mann aus den Trümmern gezerrt, um ihn zu retten, er darf mir doch nicht wegsterben! Aber Charlize war erfahren genug, um tödliche Verletzungen zu erkennen. Sie war zwar keine Ärztin, sondern »nur« Krankenschwester, aber gerade in der letzten Zeit hatte sie genug Erfahrung sammeln müssen, um sicher beurteilen zu können, wem geholfen werden konnte und wen Freund Hein zu sich in eine bessere Welt winkte. Aber scheinbar wollte dieser Mann, dieser Sterbende mit seinen schweren Verletzungen, sich noch nicht in jenseitige Gefilde begeben. Er stöhnte und bewegte sich, schien aus seiner Bewußtlosigkeit zu erwachen. Aber dann klappte das doch nicht, doch Henk sorgte dafür, daß sein Patient in einen Sanka-Schweber gepackt und ins nächstliegende Hospital gebracht wurde. Von Erholung, Entspannung... davon war keine Rede mehr. Dieser verdammte Unfall hatte wieder einmal alles durcheinandergebracht. Und Henk war beinahe sauer darüber, daß er nicht einfach weitergearbeitet hatte. Dann wäre ihm dieses Szenario erspart geblieben – ihm und auch Charlize, die ohne Henk vermutlich kaum auf die Idee gekommen wäre, eben diese Musikkneipe aufzusuchen. Irgendwie steht unsere Liebe unter keinem guten Stern, dachte er verbittert. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, nach Babylon zu gehen. Aber dann hätte er Charlize auch nicht kennengelernt. Jetzt galt es, das beste aus der Situation zu machen. Und die Situation hieß wieder einmal: Krisenfall!
Nur diesmal in einem etwas überschaubareren Rahmen...
4. Doron blieb auf den Monitoren und Bildkugeln der Ringraumer zurück. Vor wenigen Minuten erst hatte Ren Dharks POINT OF die Freizonenwelt im Odassu-System verlassen, begleitet von der MAYHEM unter Ralf Larsen als Kommandant und dem galoanischen Labor-Zylinderraumschiff Shodonns, der H'LAYV. Aber schon war die Systemsonne nichts weiter mehr als ein Lichtpunkt unter vielen im Sternendschungel Drakhons. Und doch... Trotz der enormen Geschwindigkeit, mit der der Flug vonstatten ging – gemessen an den Weiten des Alls bewegte sich die POINT OF im SLE-Bereich in relativ langsamer Unterlichtfahrt. An Bord des Ringraumers ging alles seinen gewohnten Gang. Die Zentrale war voll besetzt; die astrologische Abteilung arbeitete mit der üblichen Belegung. In den Waffenstationen WS-West und WS-Ost ließen die diensttuenden Wachen die Anzeigen auf den Konsolen nicht aus den Augen. Man befand sich immerhin weit von der heimatlichen Milchstraße entfernt in den unbekannten Regionen der Galaxis Drakhon, die in der Vergangenheit schon mehrfach für unliebsame Überraschungen gesorgt hatte. Tino Grappa belegte den Platz vor den Ortungssystemen der Funk-Z und verfolgte konzentriert die hereinkommenden Daten, wobei der Mailänder mit gespitzten Lippen tonlos eine Melodie pfiff. Hen Falluta hatte den Platz im Kommandositz eingenommen, Ren Dhark war noch nicht in der Zentrale
erschienen, und Leon Bebir thronte im Kopilotensitz, bereit, sofort zu übernehmen, falls Falluta ihn dazu aufforderte. »Und, wie fliegt sich das alte Mädchen?« Leon Bebirs Stimme drang an Hen Fallutas Ohr, der mit entrückter Miene vor der Navigationskonsole saß und die Informationen der Bildkugel verfolgte, die ihm den umgebenden Raum zeigte. »Von wegen altes Mädchen«, protestierte der Erste Offizier der POINT OF mit einer von ihm ungewohnter Verve, »das ›alte Mädchen‹, wie Sie die POINT OF eben titulierten, Leon, ist nicht wiederzuerkennen. Das Auftanken hat ihr wirklich gutgetan. Das Leistungspotential ist einfach phänomenal. Besser kann ich's nicht ausdrücken.« In der Tat war das »Auftanken«, wie sich der I.O. auszudrücken pflegte, ein wahrer Jungbrunnen für den Ringraumer mit seiner blauschimmernden Unitallhülle gewesen. Und höchste Zeit. War der Tankraum der POINT OF doch fast leer gewesen. Nachdem Ralf Larsen mit dem Ringraumer MAYHEM (der selbstverständlich wie alle übrigen Ringraumer der TF inzwischen ebenfalls voll aufgetankt war – man verfügte ja nach dem sensationellen Tofiritfund im Achmed-System über beinahe unbegrenzte Mengen dieses seltenen Metalls) und insgesamt 1.000.000 Tonnen Tofirit an Bord die POINT OF im Wanar-System endlich erreicht und Chris Shanton Ren Dhark die Zusammenhänge des geheimnisvollen Mysteriousantriebs offengelegt hatte, war die Überraschung groß. Endlich war eines der großen Rätsel der Mysterious eigenständig gelöst worden. Nur mit dem Intellekt des Menschen. Zugegeben, es war der besondere Intellekt eines Genies namens Robert Saam – unter tatkräftiger Mithilfe seines Wissenschaftlerteams und der Milliarden seines Arbeitgebers,
Gönners und väterlichen Freundes Terence Wallis sowie dessen Beziehungen zur Erdregierung, ohne die Robert Saam niemals die Einwilligung Marschall Bultons bekommen hätte, einen seit der galaktischen Katastrophe fluguntüchtigen Ringraumer zum Zerlegen zu bekommen. Nicht vergessen werden durfte allerdings auch Chris Shanton, der sein langjähriges Wissen und immenses technisches Verständnis komplizierter Materien in die Waagschale geworfen hatte, um diesen Erfolg erst zu ermöglichen. Ren Dhark und die Schiffsführung hatten sich eigenhändig vom Vorhandensein des Tankraums der POINT OF überzeugt, der all die Zeit hinter der Wandung eines unbenutzten Raumes auf Deck Eins des Ringraumers verborgen gelegen hatte, der bislang im Schiffslog als leerer Lagerraum geführt war. Er hatte immer wieder mal Rätsel aufgegeben, weil er von einer besonders starken Antigravanlage umgeben war, deren Vorhandensein in diesem Bereich einfach keinen Sinn ergab. Bis zum Eintreffen der MAYHEM. Chris Shanton hatte es sich trotzdem nicht nehmen lassen, sobald er zusammen mit Joan Gipsy von der MAYHEM an Bord der POINT OF übergewechselt war, in seiner gewohnt bescheidenen und völlig selbstlosen Art die Rolle des »Aufklärers« zu übernehmen; begleitet von den despektierlichen Kommentaren seines sich auf vier Pfoten fortbewegenden mechanischen Alter Ego, genannt Jimmy. Noch jetzt schwirrten Dhark, Bebir, Falluta und all den anderen der Kopf von solchen Begriffen wie Beschleunigerring, Stripperkammer, Kollisionskammer oder Tankraum. Letzterer war von besonderer Bedeutung gewesen, stellte sich doch bei dessen Besichtigung heraus, daß sich in dem Vorratsraum nur noch etwa 5 kg Tofirit befunden hatten. Eine verschwindend geringe Menge, gemessen am Energieverbrauch der 23 Meiler an Bord der POINT OF. Nicht
mehr lange, und das Flaggschiff der S-Raumerflotte und Ren Dharks mobiles Befehlszentrum wäre ebenso ertobit geworden, also bewegungs- und funktionsuntüchtig, wie schon mehrere Ringraumer vor ihr. Ein Ersetzen der Mysteriousmeiler durch die Anlagen auf Babylon, wie es schon einmal durchgeführt worden war, war spätestens durch die galaktische Katastrophe, die fast alle Mysterioustechnik vernichtet hatte, illusorisch geworden. Ralf Larsen und seine MAYHEM waren zur rechten Zeit erschienen. Die knapp 1.000.000 Tonnen Tofirit an Bord waren ausreichend für zwei »Tankfüllungen«. Der Vorratsbehälter im Tankraum aller Ringraumer wies nach den Berechnungen, die seit der Zerlegung der ELDRIGE im Laborkomplex 33c von Wallis Industries als gesichert angesehen werden mußten, ein Volumen von rund einem Kubikmeter auf. Das bedeutete, daß er in der Lage war, rund 481.000 Tonnen dieses Superschwermetalls aufzunehmen. Bei einer vollständigen Zerstrahlung der Materie, wovon bei dem Mysteriousantrieb ausgegangen werden konnte, reichte die gewonnene Energie einer »Tankfüllung« aus, die POINT OF, wie auch die anderen Ringschiffe, jahrelang zu betreiben. Erst wenn kein Tofirit mehr im Tankraum war, begannen die Meiler an Bord die Tofirit-Auskleidung ihres eigenen Innenlebens zu verwerten. Dieser »Kannibalismus« hatte natürlich seine Grenzen. War das Tofirit in den Meilern verbraucht, waren sie nur noch nutzloser Schrott – oder ertobit in der Sprache der Mysterious. »Irgendwann einmal, wenn unser Suprasensor-Nexus in Cent Field freie Kapazitäten hat,« hatte Chris Shanton Ren Dhark versichert, »werde ich mir die Mühe machen, die genaue Dauer auszurechnen.« »Überlassen wir dieses marginale Problem doch einfach dem Checkmaster«, hatte der Commander der Planeten lächelnd geantwortet.
»... oder so«, war Shantons brummige Erwiderung gewesen, was Jimmy zu der Bemerkung »wollhaarige Mimose« verleitet hatte, nach der er sich allerdings schleunigst in Joan Gipsys Nähe verkrochen hatte, wo ihm für eine Weile der sicherste Platz zu sein schien. Das alles lag nun schon ein paar Tage zurück, aber noch immer herrschte an Bord der POINT OF beträchtliches Staunen darüber, wie nach dem Auffüllen der Vorräte alle Systeme im Schiff in einen viel höheren Betriebsmodus schalteten. Vermutlich war der »Tankraum« der POINT OF bereits bei ihrer Entdeckung durch Ren Dhark auf dem Inselkontinent Deluge des Planeten Hope nur mit sehr wenig des für die Mysterious offenbar äußerst kostbaren Tofirits gefüllt gewesen. Deshalb hatte das Schiff stets »auf Sparflamme« gearbeitet, solange das möglich war. Nur in absoluten Notsituationen war die volle Kapazität der Meiler abgerufen worden. So erklärten sich auch die phantastischen Leistungs- und Belastungswerte von bis zu 400 Prozent, die manchmal erreicht wurden. Diese 400 Prozent bezogen sich auf den Energiesparmodus, in dem die POINT OF bisher gelaufen war. Im aktuellen Vollbetriebsmodus standen diese phantastischen Leistungswerte ununterbrochen zur Verfügung. * »Tino? Irgendwas los dort draußen?«, fragte Ralf Larsen in seiner gewohnt pragmatischen Art. Von seinem Platz aus beobachtete Tino Grappa seine Instrumente und Meßwerte mit gewohnt starrem Blick. Die Konzentration des mailändischen Ortungsspezialisten war sprichwörtlich; er schaffte es locker, minutenlang nicht zu blinzeln. Was manche seiner Kollegen zu vorgerückter Stunde in irgendeiner Bar zu der Bemerkung veranlaßte, es sei nicht ausschließlich Konzentration was er da brachte, sondern er
würde einfach mit offenen Augen schlafen. Was natürlich hanebüchener Unsinn war; niemand in der Zentrale der POINT OF schlief während des Dienstes, mochte der noch so anstrengend sein oder lange dauern. Tino Grappa studierte die Anzeigen auf seiner Konsole. »Keine Veränderungen. Alles im grünen Bereich. Ich habe nur die Hyperemissionen der MAYHEM und der H'LAYV auf den Oszillos.« Das Pendant zu Ren Dharks Ringraumer, Ralf Larsens MAYHEM, stand rund 3.000 Kilometer an Steuerbord der POINT OF, der Laborzylinder des Galoaners Shodonn hatte an Backbord Position bezogen, hing aber ein bißchen zurück. »Schön«, brummte Falluta, »hoffentlich bleibt's auch dabei.« Er war in Gedanken noch immer bei den Ereignissen im Odassu-System. »Aber, aber. Pessimismus steht Ihnen doch gar nicht, Commander«, sagte Leon Bebir von der Seite, wobei er das Wort »Commander« besonders betonte. An und für sich herrschte an Bord nicht der militärisch strenge Umgangston unter den Brückenoffizieren wie beim Rest der Flotte, und wenn jemand wie Bebir den Begriff »Commander« so nachdrücklich betonte, war es mehr eine Wortspielerei zwischen dem I. O. und dem 2. Offizier, die beide mit Genuß pflegten. »Was mir steht beziehungsweise nicht steht, entscheide noch immer ich«, brummte Falluta, »also hören Sie mit den psychologischen Tiefenbohrungen auf, Leon. Ich frage mich sowie...« Tino Grappa war es, der dem Wortgeplänkel ein Ende bereitete. »Funkspruch von der H'LAYV, Kommandant. Shodonn möchte den Commander sprechen.« »Wen, mich?«
Bebir grinste, als er Falluta hörte. »Sorry, Sir«, bedauerte Tino Grappa an der Funk-Z. »Ich fürchte, nicht Sie sind gemeint, sondern...« »Ja, ja«, winkte der 1. Offizier ab. »Schon verstanden. Deshalb überlasse ich es auch Ihnen, den Commander höchstpersönlich in seiner Privatkabine zu stören.« »Wurden derlei Störenfriede früher nicht geköpft«, erkundigte sich Bebir scheinheilig, »wenn sie ihren Fürsten beim trauten Tête-à-tête unterbrachen?«. Er spielte darauf an, daß sich Joan Gipsy an Bord der POINT OF aufhielt. »Sie bringen da etwas durcheinander«, erwiderte Hen Falluta und grinste noch gemeiner als der Zwote. »Es waren die Überbringer schlechter Nachrichten, die an den Höfen der Herrschenden dafür, daß sie keine frohe Kunde brachten, ihr Leben lassen mußten.« Bebir nickte. »Na, wer von uns weiß schon, welchen Inhalt Shodonns Gespräch haben wird?« »Warten wir's doch einfach ab«, sagte Falluta genüßlich. Tino Grappa, dessen Geschichtskenntnisse nicht so ausgeprägt waren wie die der beiden Offiziere, schüttelte nur den Kopf. »Ihr könnt vielleicht reden«, brummte er und drückte die Ruftaste des Bordviphos, dessen Phase ihn mit Ren Dhark verband. »Commander«, sagte er, »ich störe nur ungern...« »Sie stören keineswegs, Tino«, ertönte die markige Stimme Ren Dharks vom Eingang zur Zentrale her. Der Commander der Planeten hatte es vorgezogen, den ständigen Herausforderungen, die ihm von der Anwesenheit seiner geliebten Joan abverlangt wurden, insofern zu entfliehen, indem er seine Präsenz in der Zentrale als ein unabdingbares Muß hinstellte. »Commander auf der Brücke!« sagte Hen Falluta laut und vernehmlich und räumte seinen Platz.
Dhark nickte mechanisch und ließ sich in seinem geliebten Kommandositz nieder. Seine Blicke glitten durch die Zentrale der POINT OF, deren vollständiger Name eigentlich POINT OF INTERROGATION, also Fragezeichen lautete. Diese Bezeichnung erhielt der Ringraumer kurz nach seiner Entdeckung Ende Oktober 2051 auf Hope vom Flashpiloten Pjetr Wonzeff, da alles, was mit den Hinterlassenschaften der Mysterious zu tun hatte, ein einziges Fragezeichen für die Menschen war. Dieser Name aber war jedem zu lang, weshalb er sich nie einbürgerte, sondern immer nur seine Abkürzung POINT OF Verwendung fand. »Also, Mr. Grappa. Womit wollten Sie mich ungern stören? Ganz abgesehen davon, daß Sie mich in keinster Weise gestört hätten.« »Shodonn wünscht Sie zu sprechen, Commander.« »Legen Sie den Anruf auf meine Konsole.« »Aye, Commander!« Ren Dhark wartete, bis sich im Holo der Galoaner Rhaklan bis zur Hüfte in Lebensgröße zeigte. Es schien, als säße er dem Commander der Planeten direkt gegenüber. Rhaklan war der augenblickliche »Wirtsträger« Shodonns. Er trug dessen »Seelenchip« am Körper, in den das Bewußtsein des Weisen aus dem Nareidum derzeit transferiert war. Shodonn, der Weise. Der Unsterbliche. Unsterblich auf eine Art und Weise, die jedem klardenkenden Menschen ein leichtes Grauen vermittelte. Für den Homo sapiens stellaris war es trotz seines fortschrittlichen Denkens – zu dem ihn der Aufbruch zu den Sternen unzweifelhaft verholfen hatte – nicht so ohne weiteres zu akzeptieren, auf einer sozusagen »entkörperlichten« Ebene weiterhin zu existieren, wenngleich viele Philosophen der Ansicht waren, dies würde in ferner Zukunft auch der Menschheit blühen. Ren hob leicht die Hand,
eine Geste, die, wie er wußte, von den Galoanern akzeptiert wurde. »Ich grüße euch«, sagte er und tat mit dieser Anrede kund, daß er Rhaklan ebenso in seine Begrüßung mit einschloß wie den weisen Shodonn, der, aus welchen Gründen auch immer, die Strapazen auf sich genommen hatte, den sicheren Hort des Nareidum zu verlassen. Das dazwischengeschaltete Übersetzungsmodul übertrug das Angloter Ren Dharks, so daß beide den Gruß verstanden. Der Träger Shodonns selbst – von einem »Wirt« zu sprechen, scheute sich Ren Dhark beharrlich, denn dieser Begriff implizierte, daß es sich um eine Symbiose der beiden handelte, wobei der eine den anderen in sich tragen würde, in welcher Form auch immer – blieb stumm. An seiner Stelle erklärte die wohlmodulierte Stimme Shodonns aus dem Inneren des Seelenchips, den Rhaklan wie eine Medaille an seiner ausladenden, tonnenförmigen Brust trug: »Auch ich grüße dich, Commander der Planeten.« »Du wolltest mich sprechen?« »Du erinnerst dich an die Probe dieses Tofirits, um die ich dich gebeten hatte?« Ren erinnerte sich. Gleich nach dem »Betanken« der POINT OF hatte Shodonn überraschend die Bitte geäußert, eine der Tofiritkugeln zu erhalten, um das Metall in den Labors seines Schiffes von seinen Wissenschaftlern einer genauen Prüfung unterziehen zu lassen. Obwohl Ren Dhark überzeugt davon war, daß die Galoaner mit dem Superschwermetall nichts anzufangen vermochten – ihre Antriebstechnik funktionierte nach anderen Parametern – hatte er dennoch zunächst gezögert, aber dann doch Shodonns Bitte entsprochen. »Ich erinnere mich sehr gut«, antwortete er jetzt. »Hast du irgendwelche Kenntnisse gewonnen, die wir nicht besitzen, uns aber von Nutzen sein könnten?«
Shodonn schwieg zunächst; auch sein Träger Rhaklan enthielt sich jeder Äußerung. Irgendwelche Regungen waren seiner Physiognomie sowieso nicht zu entnehmen. Dafür war die Begegnung zwischen Menschheit und Galoanern bislang noch viel zu kurz. Überhaupt mußte das äußere Erscheinungsbild dieser in der Galaxis Drakhon beheimateten Spezies von einem Terraner als extrem exotisch angesehen werden. Im Schnitt nur knapp 1,80 Meter groß, verfügte das Volk der Galoaner über einen ausladenden Brustkorb, in dem sich eine voluminöse Lunge verbarg. Der ansonsten recht zierliche Körper, dessen Gewicht selten die 50-Kilo-Marke überstieg, war von einer schuppigen Echsenhaut bedeckt. Hände und Füße waren viergliedrig. Der birnenförmige Kopf der Spezies saß mit dem größten Durchmesser ohne Übergang auf dem Hals, wuchs sozusagen aus den Schultern heraus, und wurde zudem noch im unteren Drittel von einem organischen Wulst umlaufen, in dem sich sämtliche Sinnesorgane befanden – was einem Galoaner zu einem Sichtfeld von 360 Grad verhalf. Auf der höchsten Stelle des Kopfes befand sich eine kombinierte Mund- und Atemöffnung. »Meine Wissenschaftler sind«, begann Shodonn übergangslos, »äußerst verblüfft über die Eigenschaften dieses Metalls, das nach ihrem Bekunden eigentlich gar nicht existieren dürfte. Wir haben nichts Vergleichbares, das auch nur annähernd an die Spezifikationen dieses Tofirits, wie ihr Menschen es nennt, herankommt.« Ren Dhark fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das weißblonde Haar, das ihm zusammen mit seinen markanten Gesichtszügen das Aussehen eines Wikingers verlieh. »Willst du damit andeuten, Shodonn, daß Tofirit in eurer Galaxis ein unbekanntes Element ist?« Ren beugte sich unwillkürlich vor und fixierte Shodonns Träger aus seinen braunen Augen.
»Wir kennen und haben nichts Vergleichbares«, wiederholte Shodonn. Um dann fortzufahren: »Allein schon das spezifische Gewicht stellt uns vor ein Rätsel. Es hat den Anschein, als handele es sich bei eurem Tofirit um reine Sternenmaterie.« »Hast du einen begründeten Verdacht, Weiser des Nareidums?« »Laß es mich so formulieren, Commander der Menschheit...« Ren Dhark verzog unwillkürlich das Gesicht. »In unserer Galaxis existieren in etwa die gleichen Voraussetzungen in Bezug auf Sonnenspezifikationen wie in eurer Milchstraße. Ist es nicht so?« »Natürlich«, nickte Ren. »Unsere Astrophysiker und Astronomen sind zu den selben Erkenntnissen gekommen.« »Dann ist dir auch der Begriff ›Weißer Zwerg‹ geläufig, nicht wahr?« Ren Dhark bestätigte auch dies. »Bei Weißen Zwergen handelte es sich um extrem kleine Sterne mit überwiegend sehr hoher effektiver Temperatur, was sie weißleuchtend macht. Allerdings haben sie wegen der kleinen Oberflächen eine etwa 100- bis tausendmal geringere Leuchtkraft als die der Hauptreihensterne gleicher Farbe, nach dem HerzsprungRussel-Diagramm.« Ohne sich dessen bewußt zu sein, zitierte er aus dem NGK, dem neuen Galaktischen Katalog. »Die Massen der Weißen Zwerge«, fuhr er fort, »unterscheiden sich nur wenig von der Sonnenmasse eines durchschnittlichen G-Typs, so daß sie wegen ihres geringen Durchmessers – in der Größenordnung von Planeten etwa – außergewöhnlich hohe Dichten von zehn hoch fünf bis zehn hoch sieben Gramm pro Kubikzentimeter besitzen, also etwa zwei Tonnen nach unserem Maßsystem...« *
In der Astroabteilung der POINT OF wandte sich in diesem Augenblick der Astronom Jens Lionel mit einem amüsierten Lächeln von dem Monitor ab, der ihm die Geschehnisse in der Zentrale übertrug, und blickte augenzwinkernd auf seinen Kollegen Jerome Sheffield. »Schau einer an, unser Commander wildert wieder mal in unserem ureigensten Revier«, schmunzelte er und setzte hinzu: »Aber ich hätte es nicht besser sagen können. Finden Sie nicht, Jerome?« Der fand und widmete sich wieder seiner Arbeit, mit Hilfe des Astro-Suprasensors aus den astronomischen und astrophysikalischen Daten, die sie inzwischen über diese Galaxis hatten sammeln können, einen DrakhonSternenkatalog nach terranischer Systematik zu erstellen. Sheffield hatte schon mehr als einmal darüber gemosert, daß Ren Dhark sich scheinbar um alles und jedes kümmerte: »Der wäre doch am liebsten Spezialist für alles. Der ist erst glücklich, wenn er alles allein machen kann!« Das war zwar übertrieben, aber auch nicht ganz ab von der Wahrheit. Allerdings hatte Dharks Besessenheit allen anderen auch immer wieder Impulse gegeben und sie zu Erkenntnissen geführt, die sie von allein nie oder erst viel später erreicht hätten. * In der Zentrale fuhr Ren Dhark indessen fort: »Nach heutigem Erkenntnisstand sind Weiße Zwerge Sterne, die ihren Wasserstoffgehalt durch Kernreaktionen schon vollständig aufgebraucht haben und ihre Ausstrahlung durch Zusammenziehen allein aus der Kontraktionsenergie bestreiten. Im Gegensatz zu Neutronensternen und Schwarzen Löchern wird der Zustand der Weißen Zwerge allgemein als Endzustand der Sternentwicklung normaler Hauptreihensterne angesehen. –
Aber Tofirit als reine Sternenmaterie zu bezeichnen, ich weiß nicht. Hast du einen begründeten Hinweis darauf?« »Nun, das spezifische Gewicht dieses Elements erreicht fast ein Viertel dessen, was die Materie eines Weißen Zwerges wiegt. Da liegt eine derartige Vermutung nahe. Außerdem macht dieser Umstand das Tofirit zum exotischsten Stoff, dem meine Wissenschaftler und ich jemals begegnet sind.« »Sollte es tatsächlich etwas geben, was den Weisen des Nareidums unbekannt ist?«, wagte Ren zu bezweifeln. »Oh, es gibt vieles, was uns unbekannt und fremd ist. Wir wissen viel, aber allwissend sind auch wir nicht.« »Trotzdem könnten wir Menschen, könnte ich von eurem Wissen profitieren. Auch oder gerade jetzt, wo ich mich dazu entschlossen habe, Kurs auf die Koordinaten zu nehmen, die wir auf Owid entdeckt haben. Mir wäre sehr daran gelegen, wenn du uns mit deinem Schiff begleiten würdest. Ich würde mich freuen, Shodonn, wenn du mir die Ehre erweisen würdest.« Shodonn schwieg. Auch Rhaklan enthielt sich jeden Kommentars. Ren Dhark vermutete schon, er habe den galoanischen Chefwissenschaftler verärgert oder sonstwie verstimmt, aber dessen nächste Worte offenbarten einen ganz anderen Grund. »Die Unwägbarkeiten eines derartigen Vorhabens sind mir in ihren Auswirkungen noch zu wenig kalkulierbar«, meinte er. »Ich riskiere mein unsterbliches Leben nur ungern. Was alles kann passieren auf dieser langen Reise! Wir haben zwar unseren Schutzschirm, aber gegen einen wild entschlossenen Gegner sind wir friedfertigen Galoaner machtlos.« Und noch ehe sich Ren Dhark von dieser für ihn erstaunlichen Offenbarung des Weisen des Nareidums erholt hatte, fügte dieser an: »Außerdem, deine Suche nach den Rahim geht das Volk der Galoaner an und für sich nichts an.«
»Da bin ich aber ganz anderer Meinung«, widersprach Ren Dhark mit Vehemenz und machte Shodonn unmißverständlich klar, daß er Drakhons Existenz für ebenso bedroht hielt wie die der Milchstraße. »Deine Befürchtungen hinsichtlich einer Bedrohung von außen, der du nichts entgegenzusetzen hättest, kann ich insofern entkräften, daß ich dir den Schutz unserer beiden Schiffe anbiete, deren Stärke wir dir und den deinen ja schon sehr deutlich demonstrieren konnten.« »Die H'LAYV ist nicht schnell genug«, sperrte sich Shodonn noch immer. »Wir würden nur als Hemmschuh fungieren.« Hemmschuh. Ren glaubte zu wissen, worauf das Mitglied des Nareidums anspielte, das die extremen Fähigkeiten der beiden Ringschiffe in Bezug auf Beschleunigung und Geschwindigkeit miterlebt hatte. Nach irdischen Maßstäben war es erst etwa ein viertel Jahrtausend her, daß die bis dahin übliche Art der Überwindung von großen Entfernungen in der DrakhonBallung durch die auch in der Milchstraße bekannte und angewandte Transitionstechnik vom heutigen auf den morgigen Tag nicht mehr möglich war. Hyperraumsprünge führten plötzlich nur noch über die Distanz von höchstens ein paar Lichttagen. Die Völker Drakhons hatten daraufhin die Wurmloch-Technik ersonnen und sie perfektioniert. Ihre Schiffskonverter erzeugten in Flugrichtung ein Schwerkraftzentrum, das den Raum gewissermaßen in seiner Struktur »aufriß« und ein künstliches Schwarzes Loch, ein sogenanntes Wurmloch erzeugte, das sich mit vergleichsweise geringem Energieaufwand durchfliegen ließ. Die Methode war praktikabel, allerdings mit einigen Unwägbarkeiten verbunden, mit denen sich die raumfahrenden Völker Drakhons offenbar arrangiert hatten: Sie war erstens langsam, zweitens von der Präzision eines Schmetterlingsfluges, und drittens besaß sie die
Eigenart eines Zufallsgenerators. Denn während eine Transition in aller Regel in Nullzeit erfolgte, ließ sich nie genau berechnen, wie lange die Durchquerung eines Wurmlochs dauerte. Es konnten Lichtjahre in weniger als Minuten überbrückt werden, andererseits aber kam es auch vor, daß ein Flug durch ein Wurmloch Wochen dauerte. Die Sternenballung Drakhon war ein Tummelplatz der widersprüchlichsten Naturgesetze. Während in der Milchstraße Transitionen nach wie vor problemlos gelangen, hatte die Besatzung der POINT OF zu ihrem Erstaunen erkennen müssen, daß hier in Drakhon auch der Ringraumer mit seiner überlegenen Mysterioustechnik nicht mehr in der Lage war, Transitionen über mehr als ein paar Lichttage hinweg durchzuführen. Dennoch war die POINT OF – und später dann auch die MAYHEM – dank ihres einmaligen Sternensogantriebs in einer weitaus besseren Position, denn der überlichtschnelle Flug im Schutz der Intervallfelder erlitt keinerlei Einbußen. So waren die Ringschiffe zur Zeit die wohl schnellsten Einheiten in Drakhon überhaupt, von keinem anderen Schiff dieser Sternenballung einholbar oder zu übertrumpfen. Und darauf spielte Shodonn an, als er sagte, er wäre mit seiner langsameren H'LAYV nur ein Hemmschuh für die beiden Raumschiffe der Menschen. »Darüber haben sich unsere Ingenieure bereits ihre Gedanken gemacht«, versicherte jetzt Ren Dhark, und er fuhr fort: »Sie sind, soweit ich es verstanden habe, dabei auf eine sehr praktikable Idee verfallen, die es dir und deiner Besatzung ermöglicht, mit uns Schritt zu halten. Daran scheitert es also nicht, uns zu begleiten.« Rhaklan blickte Ren Dhark über das Holo an, aber es war Shodonn, der schließlich sagte: »Wenn dir so viel an meiner Begleitung liegt, Commander der Menschen, wie könnte ich mich dann ernsthaft weigern, deinen Wunsch zu erfüllen? Betrachte mich also als deinen Gefährten bei der Reise
zwischen den Sternen. Und jetzt entschuldige mich. Man bedarf meiner.« Sprach's und blendete sich aus. Das Hologramm deaktivierte sich selbsttätig. Ren Dhark starrte für mehrere Sekunden mit gerunzelter Stirn ins Leere. Dann wandte er sich an seinen 1. Offizier. »Kurs liegt an, I.O.?« »Ist eingegeben, Commander. Wir bewegen uns im Augenblick mit einem Achtel Licht auf die erhaltenen Koordinaten zu. Wollen wir nicht einen Zahn zulegen?« »Noch nicht, Mr. Falluta. Aber bald.« »Aye, Commander.« Mit einem Achtel Licht. Schleichfahrt. Man könnte gewissermaßen aussteigen und schieben helfen. Ren Dhark verstand die Ungeduld seiner Besatzung, die mit der seinen identisch war. Bald, dachte er, bald ist es soweit, doch zuvor mußten noch ein paar Dinge geklärt werden. Die erhaltenen Koordinaten... Wie lange war das jetzt her? Tage erst, oder? Nein, mehr als eine Woche! Der Commander verspürte eine tiefgreifende Nervosität. Ihnen rann die Zeit zwischen den Fingern davon. Zu lange waren sie bereits in Drakhon. Bestanden Abenteuer auf Abenteuer, mußten sich der Nomaden und anderer übelmeinender Völker erwehren, mußten Streitigkeiten schlichten und Kriege verhindern, ohne wirkliche Fortschritte in eigener Sache zu machen: Dem Geheimnis der Rahim – der Mysterious? – auf die Spur zu kommen, um mit deren Wissen dem drohenden Untergang der heimatlichen Galaxis ein Schnippchen zu schlagen. Doch das Risiko einer kosmischen Katastrophe, der sowohl die Milchstraße als auch Drakhon
unausweichlich zum Opfer fallen würden, stieg mit jedem weiteren Tag, der keine Ergebnisse brachte. Der einzige Lichtblick war vor gut einer Woche eingetreten, als auf Owid in der mutmaßlichen, seit etwa sechs Jahrhunderten verlassenen unterirdischen Rahim-Zentrale der Forscher Wolfram Bessert durch Zufall einen Hinweis auf den Machtbereich der verschwundenen Rasse ausfindig gemacht hatte: eine Sternenkarte, die zu einer Dunkelwolke in einem der Milchstraße entgegengesetzten Randbereich von Drakhon wies. Als er Shodonn danach befragt hatte, ob er die Position der Dunkel wölke kennen würde, hatte sich der in seinen Seelenchip transferierte Galoaner lediglich zu der Äußerung herabgelassen, daß die betreffende Dunkelwolke in einem noch relativ unerforschten Bereich von Drakhon läge und daß keine der Sternenzivilisationen, mit denen das Volk der Galoaner Kontakt hatte, genauere Informationen über jenen abgelesenen Bereich besäße. Ren bezweifelte diese Aussage, hatte aber keine Handhabe, Shodonn das Gegenteil zu beweisen... »Commander!« Tino Grappa an der Funk-Z meldete sich. Ren Dhark erwachte wie aus einer Trance. Zu sehr war er mit der Zukunft der beiden Galaxien beschäftigt. »Ja?« »Die MAYHEM ist auf Phase Eins. Kommandant Larsen.« »Geben Sie ihn mir.« »Commander«, sagte Ralf Larsen als Begrüßung. Der ehemalige 1. Offizier der GALAXIS unter dem Kommando Sam Dharks trug noch immer eine schlechtsitzende Uniform. Daran hatte auch seine Bestallung zum Kommandanten des Ringraumers MAYHEM nichts geändert. »Kapitän Larsen?« Vor versammelter Mannschaft in beiden Zentralen der Ringraumer wahrten die beiden alten Freunde eine gewisse Distanz. Machte sich einfach besser für die Moral der Leute.
»Die MAYHEM ist aufgeklart. Wir könnten die Heimreise antreten.« »Nichts da«, entschied Dhark. Er wußte von dem Bestreben Larsens, in die heimatliche Galaxis zurückzukehren, weil er der Auffassung war, dort mehr gebraucht zu werden. Marschall Bulton erwartete ihn schleunigst wieder zurück, um die Heimatfront zu verstärken. »Nein, Commander?« »Nein. Ich brauche Sie und Ihr Schiff hier als Verstärkung«, erklärte der Commander der Planeten kategorisch. »Ein entsprechender Richtspruch nach Cent Field ins Hauptquartier zur Klärung der Sachlage ist schon raus.« »Aye, Commander«, war die einzige Erwiderung Larsens. »Dann weise ich meinen Ersten an, sich in den Nav-Rechner der POINT OF einzuklinken, um die Koordinaten abzugleichen.« »Machen Sie das, Kapitän. Und setzen Sie sich mit dem Chief in Verbindung, wir haben da ein Experiment vor. Alles weitere werden Ihnen Miles Congollon und sein Team erläutern. Ende.« »Was höre ich da«, ließ sich eine Stimme hinter Ren Dhark verlauten, »du entziehst meinem Vertreter Marschall Bulton einen seiner besten Kapitäne?« »Wie gut, daß du nicht ›den besten‹ gesagt hast«, versetzte Ren und drehte sich grinsend zu Dan Riker um, der inzwischen die Zentrale betreten und Dharks letzte Anordnung an die MAYHEM mitbekommen hatte. »Na, das bin doch wohl noch immer ich«, ließ sich der Freund und Kampfgefährte seit den Tagen auf Hope vernehmen. »Nur wenn ich nicht zur Verfügung stehe«, flachste Ren zurück. Und dann lachten beide lauthals; es war ein befreiendes Lachen. Es nahm ein wenig von der Spannung, unter der die beiden seit langem standen.
Ren erhob sich aus dem Kommandantensitz. »Mr. Falluta! Sie übernehmen.« »Aye, Sir.« »Laß uns nach hinten gehen und einen Kaffee trinken«, schlug Ren seinem Freund vor. Die Zentrale der POINT OF war der einzige Raum in dem M-Ringraumer, der sowohl von Deck 4 als auch von Deck 5 zu erreichen war; ihre Größe: 25 mal 25 Meter, Höhe 8 Meter. In Höhe von Deck 5 besaß sie eine Galerie, die einen geschlossenen Ring bildete. ›Hinten‹ war ein Bereich, wo unter der umlaufenden Galerie vor den Kaffee- und Getränkeautomaten ein paar bequeme Sessel standen, in denen man sich zu einem zwanglosen Gespräch oder einfach nur zum Abschalten niederlassen konnte, wenn man es nicht vorzog, in den Kabinen zu verschwinden. »Wo hast du Anja gelassen?«, erkundigte sich Ren scheinheilig und setzte den Becher an die Lippen. »Da, wo du sie im Augenblick am liebsten siehst«, erwiderte Dan und grinste fast ebenso maliziös. »Also bei Joan.« »Bei Joan«, nickte Riker. »Frauen haben sich ja sooo viel zu erzählen.« »Und wir haben unsere Ruhe«, murmelte Ren. »Apropos Ruhe«, meinte Dan. »Sieh mal dorthin!« Er deutete mit einer unauffälligen Kopfbewegung zum Hauptschott, wo sich eben Chris Shanton anschickte, die Zentrale zu betreten, gefolgt von seinem »Brikett auf vier Beinen«, wie sich der Triebwerksspezialist Alec Berow über Jimmy, den elektromechanischen Wunderhund des massigen Chefingenieurs und Leiters der Ast-Stationen, auszulassen pflegte.
»Nun ja«, seufzte Ren Dhark ergeben. »Meinst du, er geht an uns vorüber, der Kelch, wenn wir uns ganz, ganz ruhig verhalten?« »Glaube ich nicht. Außerdem, Chris als ›Kelch‹ zu bezeichnen, ist eine unzulässige Verniedlichung eines Fasses. Oder wie siehst du das?« Beide lachten prustend los, womit sie natürlich ihr Schicksal besiegelten. Chris Shanton wurde ihrer ansichtig – und setzte sich sofort in ihre Richtung in Marsch. ›In Marsch setzen‹ war der passende Ausdruck für die Fortbewegungsart des rauschebärtigen Chefingenieurs, der zum Ausgleich für seinen Backenbart eine mächtige Stirnglatze sein eigen nannte. Seine keulenartigen Arme wie Dreschflegel schwingend, näherte er sich mit einem breiten Grinsen den beiden Freunden, die ihm lächelnd entgegensahen. »Na, wen haben wir denn da?«, verstieg sich Dan Riker zu der Bemerkung. »Wenn das nicht unser allseits geschätzter Chefingenieur Shanton ist, springe ich doch glattweg aus der Schleuse...« »Aber dann bitte ohne M-Anzug«, brummte Shanton, schlagartig die gute Laune verlierend. »Verarschen kann ich mich selbst, Dan. Ob Sie's nun glauben oder nicht.« Sein wandelndes Brikett enthielt sich seltsamerweise jedes Kommentars. »Kommen Sie«, meinte Ren begütigend, »nehmen Sie Platz. Sie haben doch sicher etwas auf dem Herzen, Chris. Nicht wahr? Was immer es ist, heraus damit!« Dan Riker hob beide Hände. »Friede, großer Meister der Ast-Stationen? Darf ich Ihnen vielleicht einen Versöhnungskaffee spendieren?« »Ein Cognac wäre mir lieber.«
»Wenn du so weiter machst mit dem Saufen, ist bald wieder mal eine Blutwäsche bei Doc Tschobe fällig«, maulte Jimmy gehässig von unten herauf. »Nichts da«, hieb Ren in die gleiche Kerbe, allerdings in einem vernünftigen Tonfall. »Auf der Brücke der POINT OF sind geistige Getränke aller Art tabu. Aber das wissen Sie ja selbst.« »Na, dann halt einen Kaffee, wenn's denn unbedingt sein muß.« »Bedienen Sie sich.« Dan wies mit einer großzügigen Geste auf den Automaten. Ein Knurren wurde vernehmbar, von dem man nicht wußte, ob es von Shanton oder von Jimmy kam. »Entschuldigen Sie, Commander, daß ich schon wieder davon anfange«, kam Shanton dann zur Sache und stellte den Becher beiseite. »Aber sollten wir nicht schon eine ganze Ecke weiter sein?« Seit sich der massige Chefingenieur mit Jimmy an Bord der POINT OF aufhielt, nervte er Ren Dhark damit, unbedingt die Suche nach den Rahim aufzunehmen beziehungsweise mit Hochdruck fortzusetzen, da sich die Strahlenbelastung in der Milchstraße immer rascher erhöhte. Wie viele Experten war auch er der Meinung, daß die Ursache der Störung im Magnetfeld der Milchstraße in Drakhon zu suchen sei, dessen Existenz mit den herkömmlichen Naturgesetzen nicht nachzuvollziehen war. Seltsamerweise gab es in Drakhon selbst keine erhöhte kosmische Strahlenbelastung, lediglich die bekannten Transitionsprobleme. Auch die Annahme, die drohende Kollision Drakhons mit der heimatlichen Sternenballung – tatsächlich berührten sich beide Galaxien in ihren äußeren Randbezirken ja bereits – wäre die Ursache für die verheerenden Magnetstürme, stand keineswegs schon fest. Zu viele Unwägbarkeiten waren da noch im Spiel, die einer Klärung bedurften. Einer Klärung, zu der das Volk der Rahim
einen wesentlichen Beitrag liefern konnte – wenn man es denn fand. Die Rahim, das einstmals mächtigste Volk in der zweiten Galaxis, wenn man den Überlieferungen Glauben schenken konnte. Die Mysterious? Es sprach einiges – nein, es sprach sogar sehr vieles dafür, daß Rahim und Mysterious nur zwei Seiten ein und derselben Medaille waren. Die Rahim/Mysterious wären wohl in der Lage, Licht ins Dunkel zu bringen, Aufklärung über all die ungesicherten Fakten, die noch immer nichts anderes als reine Hypothesen waren. Gesichert war lediglich, daß sich die Mysterious vor rund tausend Jahren aus der Milchstraße zurückzogen, und vor zirka sechs Jahrhunderten (umgerechnet auf terranische Zeitbegriffe) die Rahim aus Drakhon. Ren Dhark wußte von Chris Shanton, daß auch der die Übereinstimmungen zwischen diesen beiden so geheimnisumwitterten Spezies als sicheres Zeichen dafür betrachtete, daß es sich um ein Volk handelte. Ob nun Rahim oder Mysterious geheißen, spielte eine weit weniger wichtige Rolle. Und deshalb verstand er Shantons Bemerkung nur zu gut, entsprang sie doch der gleichen brennenden Ungeduld, die auch ihn beherrschte, ob er wollte oder nicht, und der er es verdankte, daß er sich in weit von Terra entfernten Gefilden herumtrieb, anstatt sich um die Belange und Bedürfnisse der Menschen auf der Erde und den terranischen Kolonien zu kümmern, wie es dem gewählten Oberhaupt eines Volkes wohl anstünde. »Wir werden in Kürze auf volle Beschleunigung gehen, Chris«, beruhigte der Commander den wuchtigen Chefingenieur, der mit spitzem Mund den letzten Schluck Kaffee aus dem Becher schlürfte. »Die Chiefs der MAYHEM und der POINT OF basteln gerade an einer Möglichkeit, die H'LAYV ins Schlepptau zu nehmen, damit sie bei unserer
Reise an den entgegengesetzten Rand Drakhons nicht hoffnungslos zurückfällt.« Shanton schien elektrisiert. »Der Chefwissenschaftler der Galoaner begleitet uns?« »Sagte ich doch. Weshalb interessiert Sie das so brennend?« »Ich wollte schon immer mal das Laborschiff der Galoaner von innen sehen. Bin mächtig neugierig. Meinen Sie, ich könnte Shodonn bitten, mich an Bord zu lassen, um die Reise durch Drakhon auf seinem Schiff mitzumachen?« »Fragen kostet nichts«, versetzte Ren Dhark. »Aber wie ich Sie kenne, tun Sie ja so was nicht aus reinem Spaß an der Freude. Eine gehörige Portion Eigennutz steht immer hinter Ihren Aktionen, wie ich inzwischen herausgefunden habe. Welche Herausforderung steht denn diesmal für Sie auf dem Plan?« »Nun ja...« Chris Shanton druckste ein bißchen herum, ehe er bekannte: »Mich interessiert der graue Schutzschirm der Galoaner. Vielleicht erzählt er ein bißchen was darüber und es gelingt mir, hinter seine Wirkungsweise zu kommen.«
5. Wie immer, wenn Lovv Sanders erwachte, kümmerte er sich zuerst um die Fische. Sie schienen still in der graublauen Flüssigkeit zu stehen, wirkten wie darin eingefroren – bis zu dem Moment, da Sanders die getrockneten Rej-Larven hineinschüttete. Jäh weiteten sich die Fischmäuler, ohne daß jedoch die Körper ihre Position verließen. Die Schlünde der Fische entwickelten einen Sog, der die zum Grund des Bassins sinkenden Larven einfing. Der ganze Akt der Fütterung dauerte nur wenige Sekunden, dann schlossen sich die Mäuler wieder. Die Augen blieben offen. Obwohl die Rylls – im Gegensatz zu terranischen Fischen – Augenlider besaßen, die sie bei Bedarf senken konnten. Sanders betrachtete seine Schätze eine Weile stumm, und es war durchaus keine Einbildung, daß es aussah, als erwiderten sie seine Blicke. Sie waren intelligent. Sogar hochintelligent. Der Kaufmann hatte sie von einem Verbotene-ZonePlaneten im Rigel-Sektor mitgebracht. Der tatsächliche Name des Kaufmanns lautete Cornelius – jedenfalls hatte er dies selbst während einer Verhandlung mit Sanders einmal behauptet, gleichzeitig aber betont, daß er es schätzte, von seinen Geschäftpartnern einfach nur »Kaufmann« genannt zu werden. Gerüchten zufolge saß der Händler, der auch außergewöhnliche (Sanders bevorzugte diese Umschreibung für illegal) Wünsche erfüllte, zur Zeit im Gefängnis irgendeiner Randkolonie. Die Larven, die auf Terra nirgends aufzutreiben waren, würden noch für ein gutes halbes Jahr reichen. Spätestens dann würde das Gerücht, sollte es sich als wahr erweisen, zum
Problem werden, denn Rylls verweigerten jede andere Nahrung. Die Einfuhr von extraterrestrischen Lebensformen nach Terra unterlag strengsten Vorschriften. In der Regel war es nur Forschungsinstitutionen, zoologischen Gärten oder dem Militär gestattet, sich solche Tiere zu beschaffen. Tiere, ja. Sanders wußte nicht, warum es ihm jedes Mal wie eine Entschuldigung vor sich selbst vorkam, wenn er dies dachte. Ihr mögt noch so intelligent sein, aber ihr seid Tiere. Denn ihr könnt nichts mit eurem Verstand anfangen. Ihr denkt – aber es ist euch egal, ob ihr hier in meiner Wohnung durch das Glas des Aquariums glotzt oder zu Hause in euren morastigen Seen schwimmt... Der Kaufmann hatte ihm dies versichert, und solange Sanders die Fischkolonie besaß, hatte sie ihm noch nie Anlaß gegeben, an dieser Aussage zu zweifeln. Rylls lebten immer in Siebenergemeinschaften. Wenn ein Tier starb, verendeten binnen kürzester Frist alle. Und wenn sie sich vermehrten – was Sanders noch nie erlebt hatte – gebaren sie ihren Nachwuchs gleichzeitig. Womit die nächste Kolonie gegründet war... Sanders wurde von einer rauchigen Stimme aus den Gedanken gerissen: »Guten Morgen, Lovv. Machst du uns Frühstück?« Fast hätte er aufgelacht, aber er beherrschte sich. »Guten Morgen, Heather. Hast du gut geschlafen?« Die Frage war mindestens so absurd wie die Bitte, die sie geäußert hatte. »Wundervoll.« Sanders warf einen letzten Blick auf das silbrige Gespinst, das die Rylls nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Suprasensor verband, der sich ihre Intelligenz zunutze machte und dorthin kanalisierte, wo sie gebraucht wurde. Dann
bereitete er sein Frühstück. Heathers Teller und Tasse blieben leer. Wie immer. Aber sie leistete ihm Gesellschaft, bis er das kleine Haussegment an der äußersten Peripherie von Schanghai verließ und in den Schweber stieg, um zur Arbeit zu fahren. Sanders winkte zum Abschied. Heather winkte zurück. Manchmal wünschte er sich einen Kuß oder eine innige Umarmung. Aber er mußte hinnehmen, daß terranische HoloTechnik noch nicht in hinreichendem Maß fortgeschritten war, um solches zu ermöglichen... * Lovv Sanders war ein Tüftler, der jede freie Minute, die sein Dienst nicht in Anspruch nahm, damit verbrachte, Ideen zu verwirklichen, die seine Mitmenschen günstigstenfalls als bizarr bezeichnet hätten. Heather zum Beispiel: Während er sich mit dem Schweber über die Mangrovenwälder bewegte, die als Neuanpflanzungen einen regelrechten Wall um die gigantische Stadt bildeten, mußte er daran denken, wie er zu seiner fleisch- und blutlosen Lebensgefährtin gekommen war. Letztlich hatte das Angebot des Kaufmanns den Ausschlag gegeben, dem bekannt gewesen war, daß Sanders an einer holographischen Frau bastelte. Einer außergewöhnlichen, ja einmaligen holographischen Frau. Mit Hilfe moderner Supratechnik war es selbst für Privatleute kein unmögliches Unterfangen, sich einen solchen »guten Geist« ins eigene Heim zu holen. Immerhin gab es längst virtuelle Spielkameraden für Kinder. Der Clou, den der Kaufmann seinem Kunden versprochen hatte, hing mit den Fischen zusammen, den Rylls. Sanders klangen noch die Worte im Ohr, mit denen ihm die Kolonie
feilgeboten worden war: »Du willst doch kein Püppchen, das zu allem Ja und Amen sagt, was du ihm befiehlst, oder?« »Nein«, hatte er erwidert. »Ich werde die Programmierung...« Weiter war er nicht gekommen. »Programmierung«, hatte der Kaufmann im verächtlichsten Ton, dessen er fähig war, dazwischengelacht. »Ich rede nicht von Programmierung oder der kalten Intelligenz eines Suprasensors! Ich rede von Charakter!« Natürlich hatte Sanders den Köder geschluckt und Einzelheiten zu erfahren verlangt. Nachdem sich der Kaufmann die Garantie hatte geben lassen, daß jedes gesprochene Wort unter ihnen beiden bleiben würde, war er mit der Sprache herausgerückt. »Es gibt da eine Lebensform auf einem Planeten, den ich regelmäßig anfliege – obwohl es mich meine Lizenz kosten würde, wenn es je herauskäme. Also tu nichts Unüberlegtes, ich habe einflußreiche Freunde überall in der Galaxis, und wenn ich wegen dir eingebuchtet würde...« Die unausgesprochene Drohung hatte eine Weile zwischen ihnen geschwebt, ehe der Kaufmann zum eigentlichen Thema zurückfand: »Es gibt dort Fische, hochintelligente Fische, die ich ausgesuchten Kunden anbiete – sie eignen sich für viele Zwecke. Manche verzehren sie einfach nur roh, weil sie überzeugt sind, dadurch selbst mehr Grips zu bekommen, andere... aber lassen wir die anderen aus dem Spiel. Reden wir von deinem Problem.« »Meinem Problem?« »Das Holoweib!« Obwohl sich Sanders von der groben Wortwahl des Kaufmanns abgestoßen fühlte, hatte er längst Feuer gefangen und sich folgerichtig das Angebot zu Ende angehört. Herausgekommen war ein Kontrakt über eine SiebenerKolonie von Rylls, die Wochen später, beim nächsten Terra-
Abstecher des Kaufmanns, in Sanders bereits vorbereitetem Aquarium gelandet war. Dazu ein immenser Vorrat an RejLarven. Das Neuronetzwerk hatte Sanders in der Folge eigenhändig entwickelt und gebaut. Seither waren sämtliche Fischhirne über feine Silberdrähte miteinander verbunden und lieferten dem Suprasensor, der Heather projizierte, zusätzliche Power und – wie hatte der Kaufmann es genannt? – Persönlichkeit. Wenn Sanders ehrlich war, konnte er bis zum heutigen Tag – drei Monate seit Installation – noch keine Spur dessen an Heather erkennen, was ihm als »sich selbst weiterentwickelndes Unikat« schmackhaft gemacht worden war. Und ihn ganz nebenbei ein kleines Vermögen gekostet hatte. Aber noch hatte er seine Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Schließlich brauchten auch echte Menschen Zeit, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln. »Fische«, murmelte er, während er den Mangrovenwald hinter sich ließ und das offene Hinterland erreichte. »Ich muß vollkommen wahnsinnig sein, mir eine Frau zu bauen, deren hervorstechendste Charaktereigenschaften wahrscheinlich von den Unterwasserbewohnern eines Exo-Planeten geprägt werden...« Heather schaltete sich automatisch ab, sobald auch nur der Türsummer von Sanders Behausung betätigt wurde – beziehungsweise der Suprasensor deaktivierte sie. Auch bei einem gewaltsamen Einbruch erlosch sie. Es wäre Sanders selbst Dieben gegenüber peinlich gewesen, ihnen allzu tiefen Einblick in seine privaten Neigungen zu gestatten. In der Ferne tauchte der gesicherte Komplex auf, in dem er seine tägliche Arbeit verrichtete. Nur noch wenige Minuten, dann... Lovv Sanders stutzte. Aus dem Navsystem des Schwebers schrillte übergangslos ein Alarmton, der schon in seiner
Klangfolge klar machte, daß es sich um kein internes Problem handelte. Von außerhalb kam ein automatischer Hilferuf! Mit fliegenden Fingern justierte Sanders die Bordpeilanlage und aktivierte zugleich das Radarsystem, das zwar eine stark eingeschränkte Reichweite besaß, aber augenblicklich fündig wurde. Ohne zu überlegen änderte Sanders den Kurs und steuerte auf das neue Ziel zu. Er dachte keine Sekunde an eine Falle – und hätte nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen damit gerechnet, daß Heather in Kürze nicht mehr nur holographische Frau, sondern auch Witwe sein würde... * »Es geht los«, sagte Scholf. »Er kommt. Alle Mann auf ihre Plätze! Konzentration! Störsender ein, sobald er versucht Hilfe anzufordern!« »Wir hätten ihn auch mit einer Volldosis aus unseren Paraschockern und dem mobilen Traktorstrahler herunterholen können«, sagte der Robone an seiner Seite, ein hagerer, mausgesichtiger Mann, der Scholf allenfalls bist zum Brustbein reichte. »Warum unnötige Risiken eingehen, wenn...?« »Ich denke nicht, daß ich Zeit und Lust habe, dich am Vorabend unseres größten Triumphes noch in die hohe Kunst der Strategie einzuweisen«, erwiderte der Mann, dessen Gehirn sich wie das aller Robonen von dem eines »Normalterraners« unterschied. Robonen betrachteten sich prinzipiell als die nächsthöhere Evolutionsstufe der Menschheit. Rückgeschaltete und vom Einfluß des CommutatorEnzephalos geheilte Menschen würden den Sprung auf die nächsthöhere Entwicklungsstufe ihrer Spezies nicht schaffen.
Und dennoch nahmen sie sich das Recht heraus, die »Wahren Menschen« zu regieren, zu verfolgen und zu bekämpfen, wo immer sie ihrer habhaft wurden. Noch taten sie das. Aber schon bald würden aus den Jägern die Gejagten werden. Qualität würde über Quantität siegen. Mit telscher Hilfe... Der von Scholf zurechtgewiesene Robone schwieg. Seine Augen flackerten kurz, als könne oder wolle er sich mit der verbalen Demütigung nicht abfinden. Doch dann entspannte er sich. Er war zu sehr mit seinen Idealen verwachsen, um an diesem jungen Morgen sterben zu wollen. Er war einer von sechstausend. Teil der Armee, die darauf wartete, diesen Planeten von den Schwachen zu säubern und hier die Kernzelle eines robonischen Reiches zu errichten. Doch dann hatte man den Plan ändern müssen. Und nun lief alles nach Plan. Die Verbündeten waren unterwegs – jetzt galt es, auch diesseits des globalen Energieschirms, der vor den entarteten galaktischen Magnetstürmen und vor Invasoren schützte, das Soll zu erfüllen... * Die zierliche Frau im knallgelben Overall hing halb aus der Kanzel des privaten Schwebers. Die Wucht des Aufschlags auf dem Boden mußte sie aus den Gurten gerissen und aus dem Sitz geschleudert haben. Ein Totalschaden, wie er an dem Fahrzeug erkennbar war, konnte nur durch einen gleichzeitigen Ausfall von Impulstriebwerk und A-Gravgenerator verursacht worden sein. Lovv Sanders wußte nicht, aus welcher Höhe der Schweber abgestürzt war. Aber er sah deutlich, daß die Frau noch lebte. Sie schien das näherkommende Fahrzeug bemerkt zu haben
und winkte schwach mit dem linken Arm. Der rechte baumelte von ihrer Schulter, als wäre er gebrochen, vielleicht sogar das Schlüsselbein auf dieser Seite. Sanders steuerte die Unfallstelle an. Ihm fiel nicht auf, daß umliegendes Gesträuch keinerlei Beschädigung aufwies, obwohl der Schweber es beim Absturz zumindest hätte knicken müssen. Die Frau schien sich allein in dem Fahrzeug zu befinden – und sie brauchte Hilfe. Noch im Anflug aktivierte er den Funk und versuchte, Kontakt zur Rettungsleitstelle der nahen Stadt herzustellen. Unglücklicherweise kam die Verbindung nicht zustande. Die Götter allein mochten wissen, welche Störung die Kommunikationskanäle jetzt schon wieder heimsuchte... Sanders schaltete den selbstgebastelten Verstärker dazwischen. Nur noch wenige Meter trennten ihn von dem Schweberwrack. Auch der Verstärker brachte keinen Empfang, geschweige denn eine Verbindung zustande. Sanders Argwohn erwachte. Normalerweise wurden extreme Magnetfeldschwankungen über Radio durchgegeben. Die Geräte schalteten selbsttätig ein, auch wenn sie zuvor auf Ruhemodus liefen. Privatmaschinen war der Start während Extremsturmphasen sogar generell verboten. Wer sich in der Luft befand, mußte unverzüglich landen und das Abebben des kosmischen Orkans abwarten... War der Sturm zu überraschend gekommen? Während Sanders den Schweber neben dem Wrack auf flachem Terrain aufsetzte, unternahm er einen letzten Versuch. Er kontaktete Heather. Das Bordradio war für Gespräche mit ihr auf einen absolut exotischen Kanal justiert, der sich noch der altmodischen Ultrakurzwelle bediente... »Ja, Lovv, was ist?«
Sanders war selbst verblüfft darüber, Heathers suprasensormodulierte Stimme ohne die kleinste Verzerrung aus dem Cockpitlautsprecher dringen zu hören. Er erholte sich rasch von seinem Erstaunen und wies sie an: »Ich bin hier zu einem Unfall gekommen. Offenbar eine verletzte Person – wie schwer, kann ich noch nicht ermessen. Ich steige jetzt aus. Verständige du die Rettungsstelle. Ich...« Sanders hatte bereits die Luke geöffnet. Wollte die Verbindung zu Heather beenden. Da tauchte jemand vor dem Einstieg auf. Und schoß. Sanders hörte noch das bedrohliche Summen. Dann explodierte die Schwärze in ihm. * »Verdammt, wie konnte das passieren? Er hat mit jemandem gesprochen! Ich habe genau gehört, wie er...« Scholf verschluckte den Rest des Satzes. Statt dessen wies er seine Begleiter an, den mittels Paralysestrahlen Geschockten hinter den Pilotensitz des Schwebers zu befördern. Dort wurde er zusätzlich gefesselt und geknebelt, obwohl nicht zu erwarten war, daß er vorzeitig aus der Lähmung erwachte. Scholf hatte Flugroute und Dienstzeit ihres Opfers schon vor Tagen ausspähen lassen. Er selbst nahm nun statt des Bewußtlosen den Platz hinter dem Steuer ein und setzte sich eine unauffällige Mütze auf, in der ein Mentalabschirmungsgeflecht verborgen war. Als er durch die Verglasung des Cockpits schaute, sah er, wie sein Lockvogel ebenfalls in der Kanzel des nur vermeintlich abgestürzten Schwebers verschwand, das Fahrzeug startete und Richtung Stadt zurückflog. Ihr Job war damit getan. Sie würde den weiteren Verlauf der Aktion über die Medienkanäle verfolgen. Scholf verschwendete keinen weiteren Gedanken an sie.
Sein Ziel – die Anlage, in der Lovv Sanders normalerweise Dienst schob – lag bereits in Sichtweite. Scholf setzte den Weg fort, den Sanders unterbrochen hatte. Daß Sanders am Leben geblieben war, war wichtig. Immerhin war sein Gehirn der Schlüssel, um das Hochsicherheitsportal zu öffnen. Doch die Automatik, die den Zugang gewährte oder verweigerte, unterschied nicht zwischen einem bewußtlosen und einem wachen Lovv Sanders. Dennoch erreichte Scholfs Nervosität ihren ersten Höhepunkt. Mit wem hat der Kerl gesprochen, ehe wir ihn schlafen schickten? Immer wieder stellte er sich diese Frage, während er auf den Komplex zu beschleunigte, der dabei half, das Leben auf Terra trotz eines lebensfeindlich gewordenen Weltraums weitergehen zu lassen. Und während er auf die gewaltige Schirmfeldgeneratorstation zusteuerte, folgte ihm seine Armee unsichtbar für alle Beschäftigten der Anlage – auch für denjenigen, der bereits ungeduldig darauf wartete, nach einer langen, scheinbar ereignislosen Nacht von Lovv Sanders abgelöst zu werden. * Jos Aachten van Haag war über alle Vorgänge im Großraum Schanghai informiert – beziehungsweise wurde er darüber informiert, sobald sich ein Mindestmaß an Verdachtspotential zeigte. Verdachtspotential hinsichtlich konspirativer Verstrickungen von Robonenseite. Die Robonen. Wie oft hatte Jos darüber nachgedacht, wie aus Menschen hatten Robonen werden und bleiben können.
Nicht rückgeschaltete Robonen. Die Menschen nicht als Brüder, sondern als eine Spezies betrachteten, die es auszurotten, zumindest aber zu unterjochen galt! Im Giant-System hatten die All-Hüter den millionenfach von Terra deportierten CE-Opfern eigene Städte gebaut mit klangvollen Namen wie Stardust, Starmoon oder Starlight. Sie hatten ihnen einen neue Welt gegeben und ihnen die Erinnerung an die alte gestohlen. So hatte es angefangen. Das Robonenproblem. Und bis heute hielt es an. Nur daß die Robonen von heute im Untergrund Terras agierten und sich wie ein Krebsgeschwür ausweiteten. Inzwischen mußte es erste robonische Kinder geben. Wo, auf welchem Planeten, lebten sie, versteckt vor dem Rest der Galaxis? Wo in dieser unvorstellbar weiten Galaxis war es überhaupt noch sicher für Lebewesen, die nicht über die technischen Möglichkeiten verfügten, einen planetenumspannenden Schutzschild gegen die tödliche Strahlung aus dem All zu errichten...? Wie sollte das Robonenproblem jemals gelöst werden, ohne daß eine Gruppe – Menschheit oder Robonen – als Gesamtheit von der galaktischen Bühne hinweggefegt wurde? Jos Aachten van Haag haßte Gedanken wie diese. Weil auch er keine Lösung kannte. Und weil er immer nur wie ein Feuerwehrmann dann einschritt, wenn der Brand bereits in vollem Gange war. Die GSO – so hatte er zumindest in den letzten Monaten den Anschein gewonnen – reagierte fast nur noch. Das Übel bei der Wurzel zu packen, war erklärtes Ziel, aber war es auch realistisch, dies je bewerkstelligen zu können? Zumal jetzt auch noch die Tel ins Spiel gekommen waren... Das Armbandvipho begann spürbar zu vibrieren.
Jos schaltete auf Empfang. Die Bildfläche blieb dunkel. Eine Stimme sagte: »Das dürfte Sie interessieren.« »Sind Sie das, Hynek?« »Yessir!« Hynek war sein Verbindungsoffizier bei den örtlichen Polizeikräften. »Was dürfte mich interessieren?« »Ein mysteriöser Fall – wir überprüfen gerade. Kann sich natürlich als Ente entpuppen, aber ich dachte, ich melde es vorsorglich, bevor hinterher Vorwürfe kommen, wir hätten hier geschlafen.« »Werden Sie etwas genauer.« Noch schlummerten Jos' Instinkte. »In der Rettungsleitzentrale ging vor vierzig Minuten ein Notruf ein.« »Rettungsleitzentrale... und?« »Eine Frau meldete den Absturz eines Gleiters an der Stadtperipherie – auf halber Strecke zwischen Stadtgrenze und Generatorstation.« »Von welcher Generatorstation reden Sie?« »Die Station, die im Verbund mit den anderen weltweit die Erde vor den Widernissen der magnetischen Stürme schützt.« In diesem Moment straffte sich Jos Aachten van Haag, der gerade sein Frühstück im Hotelzimmer zu sich genommen und beendet hatte. Das, dachte er, könnte die Meldung sein, auf die ich seit meinem Eintreffen warte. Laut sagte er: »Sie rufen mich sicher nicht an, weil es sich um einen normalen Unfall handelte. Gab es Opfer zu beklagen? Lassen Sie sich nicht jedes Detail aus der Nase ziehen!« Jos konnte es sich leisten, so mit dem Beamten umzuspringen. Als GSO-Agent war er ihm übergeordnet. »Nein«, sagte Hynek. »Es gab keine Opfer zu beklagen. Es gab nicht mal einen Unfall.«
»Das in Frage kommende Gebiet wurde abgesucht?« »Die Koordinaten wurden von der Frau relativ präzise beschrieben.« »Und was sagt die Frau dazu?« »Die Frau gibt es auch nicht.« Jos ließ die Auskunft kurz auf sich wirken. Dann fragte er: »Ein anonymer Scherzbold also?« »Wäre ich mir dessen sicher, hätte ich Sie nicht belästigt. Es gibt zwar die Frau nicht, aber die Adresse. Wir haben den Anruf rückverfolgen können.« »Und?« »Ein gewisser Lovv Sanders ist dort wohnhaft. Er arbeitet als Wartungsingenieur im Generatorkomplex.« »Haben Sie Sanders erreicht?« »Nein. Unsere Anrufe wurden nicht entgegengenommen. Daraufhin habe ich eine Streife hingeschickt.« »Mit welchem Ergebnis?« Jos merkte, daß er wieder in das gerade angemahnte Frage-Antwort-Schema verfiel. »Es öffnete niemand. Nachdem ich Sanders auch nicht auf seiner Arbeitsstelle erreichen konnte, habe ich einen Schnellbeschluß erwirkt, um die Wohnung betreten zu können. Sie ist leer – bis auf ein paar exotische Fische, die unter das Einfuhrverbot fallen. Der Tisch in der Küche ist für zwei gedeckt. Allerdings ist nur ein Geschirr gebraucht, das andere nicht.« »Keine Frau, kein Sanders?« »Nein. Entweder haben beide die Wohnung vor unserem Eintreffen verlassen, oder...« »Oder?« »Ich weiß es nicht.« Hynek seufzte. »Geben Sie mir die Nummer der Generatorstation. Ich kümmere mich darum. Vielleicht ist der Mann mittlerweile auf seiner Arbeitsstelle eingetroffen und kann zur Aufklärung beitragen.«
Hynek nannte den Verbindungskode. »Viel Spaß.« Jos schaltete ab und wählte sofort neu. Aber die Generatorstation außerhalb der Stadt meldete sich nicht. Niemand nahm den Anruf entgegen – nicht einmal ein seelenloser Automat. Jos informierte Eylers, setzte sich in seinen Mietgleiter und jagte mit höchster Beschleunigung über die Dächer der frühmorgendlichen Stadt landeinwärts. * Dreißig Minuten zuvor: Scholf passierte die suprasensorüberwachten Hochsicherheitsschleusen unangefochten und parkte den Schweber in der für Lovv Sanders reservierten Bucht, von der aus es einen Direktlift in die dritte Etage des dreieckigen Kontrollgebäudes gab, das dem eigentlichen, kreisrunden Generatorbau angeflanscht war. Scholf hatte sein Gesicht kosmetisch verändern lassen. Von ihm existierten Steckbriefe nicht nur auf Terra. Er zählte zu den meistgesuchten Personen der Galaxis. Er betrat den Lift mit einem koffergroßen Metallbehälter. Die Aktion war von langer Hand geplant. Scholf begab sich nicht an Lovv Sanders' Arbeitsplatz, sondern auf geradem Weg zum Hauptverteiler der Klimaanlage, die das gesamte Gebäude versorgte. Als er das Gas in den Verteiler einleitete, trug er selbst bereits wirkungsvolle Nasenfilter, die ihn davor bewahrten, in tiefe, langanhaltende Bewußtlosigkeit zu fallen. Ganz anders die Mannschaft, die gerade Schicht hatte. In den nächsten Minuten – abhängig davon, wie weit die Betroffenen vom Zentrum der Aktion entfernt waren und wie lange das Gas brauchte, um den Weg zu ihnen zurückzulegen – war niemand mehr Herr seiner Sinne.
Scholf wartete nicht ab, ob irgendwo ein Alarm ertönte, weil einer der Ingenieure oder Techniker noch dazu in der Lage gewesen war, ihn auszulösen. Er begab sich sofort zum nächsten Ort, an dem sein Einschreiten erforderlich war. Der Gebäudegrundriß war mittels Hypnoschulung klar in seinem Gedächtnis verankert. Er hätte sich auch blind zurechtgefunden. Der Beschäftigte, der sie gegen teures Geld mit allen nötigen Informationen versorgt hatte, befand sich gerade auf Urlaub in der Karibik. Er ahnte nicht, daß die Robonen weit mehr als einen ihrer fast schon zur Gewohnheit gewordenen lokalen Anschläge planten... Scholf verschwendete keinen Gedanken an den bestochenen Mitarbeiter der Station. Daß Menschen käuflich waren, wußte er längst. Eine durchaus nützliche Wesensart, wie er fand. Man konnte sie hin und her schieben wie Figuren auf einem imaginären Schachbrett.... Nur Minuten nachdem alle Beschäftigten in Narkose gefallen waren, erreichte er den Raum, von dem aus sämtliche Vorgänge innerhalb der Anlage gesteuert wurden. Das Einloggen ins System kostete ihn nur wenig mehr Aufwand als die Freisetzung des sich bereits wieder verflüchtigenden Gases. Triumphierend starrte er auf den Monitor, der ihm erklärte, daß er sich soeben ausreichend autorisiert hatte, um sein vorrangigstes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Scholf deaktivierte die Energieglocke rund um die Anlage. Der Schutz fiel in sich zusammen wie ein gigantischer Vorhang. Und plötzlich verwandelte sich die weite Ebene rund um den High-Tech-Komplex. Gestalten erhoben sich, als würden sie der Erde entwachsen. Es war soweit.
Schach, dachte Scholf. Der Gedanke ging unter im Schrillen eines Alarmtons, der nicht nur jeden Raum des Gebäudes, sondern auch die Umgebung über Kilometer hinweg erreichte. Scholf vereiste innerlich. * Zur gleichen Zeit: Er wünschte sich an einen anderen Ort – für einen winzigen Moment jedenfalls. Gleichzeitig wußte er, daß hier und nirgends sonst sein Platz war: Im Fokus des Geschehens! »Wiederholen Sie das noch einmal, Carter!« Carter, sein persönlicher Adjutant, schüttelte zaghaft den Kopf. »Sie haben völlig richtig verstanden, Sir!« Das »Sir« kam so zackig, als stünde Carter als einfacher Rekrut auf einem Kasernenhof. »Wiederholen Sie es trotzdem, gottverdammt, Mann!« Der Choleriker in Marschall Ted Bulton drang durch. Normalerweise kanalisierte er seine Wutausbrüche in sinnvolle Aktionen – momentan sah er sich dazu außerstande. Er ertappte sich dabei, daß er die Emotionen, die in ihm aufstiegen, unterdrücken wollte. Gladys, seine Ehefrau und die Mutter seiner drei Kinder, wäre stolz auf ihn gewesen – Bulton war es nicht. Er wußte, daß seine cholerischen Anwandlungen ungesund waren, aber noch ungesunder war es, sie im Keime ersticken zu wollen. Basta! »Die Sendung, die vor Ihnen auf dem Tisch liegt und die ich nur sinngemäß wiedergegeben habe, erreichte uns soeben vom Zentralplaneten des Telin-Imperiums, von Cromar. Mit unterzeichnet hat neben Vank Crt Sagla auch ein gewisser
Ömer Giray, seines Zeichens Terraner und Agent in Diensten der GSO. Die Meldung selbst besagt...« »... daß geschätzte zweitausend Doppelkugelraumer, gesteuert von Tel-Rebellen, mit Zielkurs Terra unterwegs sind?!« fiel Bulton, der die ausschweifende Ausdrucksweise nicht länger ertrug, seinem Adjutanten ins Wort. Dabei hieb er mit der flachen Hand auf die Folie, die vor ihm lag und den genauen Wortlaut des Spruchs wiedergab, der Minuten zuvor aus dem Cromar-System eingetroffen war. »So könnte man es, grob formuliert, sagen«, nickte Carter. »Weiß Eylers schon Bescheid?« »Der Spruch war nicht ausschließlich auf die Antennen von Terra Command gebündelt...« »Danke für die Belehrung! Und jetzt verschwinden Sie, Carter! Ich will die nächste Zeit nicht gestört werden – von niemandem!« »Aber...« »Alles Nötige veranlasse ich von hier aus – und jetzt raus!« Er meinte es ernst. So ernst wie die Lage es erforderte. Zweitausend schwerstbewaffnete Doppelkugelraumer der 800-Meterklasse mit zweifellos kriegerischer Absicht auf dem Weg ins Sol-System? Während Carter den Raum wie ein geprügelter Hund verließ, zählte Bulton in Gedanken die ihm zur Verfügung stehende eigene Streitmacht durch: Von den Ast-Stationen abgesehen, verfügte er derzeit über rund vierhundert S-Kreuzer und die doppelte Zahl an ehemaligen Giant-Raumern, die der terranischen Flotte einverleibt worden waren! Und schenkte man dem eingegangenen Spruch in vollem Umfang Glauben, dann würde die gegnerische Angriffsflotte bereits in einer knappen Stunde im Sol-System eintreffen! »Gottverdammich...«
Bultons verkrampfte Gesichtszüge entspannten sich ebenso schnell, wie sie zur Grimasse geworden waren. Dem ersten Schock folgte kühles Kalkül. Sollen sie nur kommen!, dachte er, keineswegs bereit, sich der zahlenmäßigen Übermacht zu beugen. Immerhin hielt er Trümpfe in der Hinterhand, auch wenn die Zeit, eine Abwehrschlacht zu organisieren, denkbar knapp bemessen war. Ja, je länger er darüber nachdachte, desto zuversichtlicher wurde er – zumal Terra durch den Nogk-Schirm zusätzlich gesichert war. Von den Vorgängen nahe Schanghai ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Es hätte seinen Optimismus merklich gedämpft... * Die ebene Landschaft jenseits der Stadt, jenseits des wie eine Mondsichel hin zur Küste angelegten Waldes, bestand in dieser Jahreszeit hauptsächlich aus hüfthohen Gräsern. Vereinzelt ragten Bäume oder dichteres Buschwerk hervor. Wirklich gerodet war nur die unmittelbare Umgebung um den Generatorbezirk. Dort gab es einen knapp zweihundert Meter breiten Gürtel, der mit demselben Material beschichtet war, mit dem man auch Raumhafenpisten präparierte, um schwerste Schiffe tragen zu können. Diesen Gürtel sah Jos Aachten van Haag bereits aus der Ferne, als es geschah... Als was geschah?! Er traute seinen Augen nicht. So viele Situationen, so viele Schockmomente, die er in seinem Agentendasein hatte verkraften müssen... ... aber die Armee, die sich vor seinen Augen aus der Grasfläche erhob, stellte alles in den Schatten!
Jos Aachten van Haag handelte wie in Trance. Wie ein Roboter. Als er feststellte, daß die Funkverbindung weder zur Generatorstation noch zur GSO-Zentrale zustande kam, wendete er in einem halsbrecherischen Manöver und flog wieder Richtung Stadt. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Blitze zuckten vom Boden aus himmelwärts, während hinter Jos der Energieschirm um die Station fiel. Blitze aus Strahlengewehren. Der Gleiter des GSO-Agenten war bemerkt und zum Abschuß freigegeben worden! * Der große, schlanke Mann straffte sich hinter seinem Schreibtisch, als ihm mitgeteilt wurde, daß Terra Command auf Dringlichkeitsfrequenz anrief. Was für ein Wunder! Bernd Eylers aktivierte die Sichtsprechverbindung. Marschall Bultons Gesicht füllte die Fläche des Holo-Monitors auf dem Schreibtisch. Es handelte sich um kein echtes Hologramm, aber die Dreidimensionalität wurde auf kompliziertem technischem Weg vorgegaukelt. »Sie sind informiert, Ted?« Bulton nickte grimmig. »Genau wie Sie.« »Eine Tel-Flotte im Anflug – werden unsere Kräfte damit fertig?« fragte Eylers mit unschuldsvollem Blick aus seinen blaßgrünen Augen. Selbst in dieser Situation wirkte er, als könnte er kein Wässerchen trüben. Bulton beneidete ihn nicht wirklich um dieses Temperament – beziehungsweise Nichttemperament. »Sie werden!« versicherte er im Brustton der Überzeugung. Niemand, nicht einmal Eylers, hätte ihm in diesem Moment angemerkt, daß er Minuten zuvor noch Zweifel gewälzt hatte.
»Was macht Sie so sicher? In dem Spruch Girays, der uns offenbar nur dank einer Koppelschaltung mehrerer starker TelHypersender erreichte, ist von zweitausend Doppelkugelraumern die Rede. Zweitausend. Und die POINT OF ist in Drakhon unterwegs... ich fürchte, selbst wenn wir in dieser Konfrontation die Oberhand gewinnen, wird es unersetzliche Opfer nicht nur an Menschen, sondern auch an Material fordern.« Er betonte zwar »Material«, aber wer Eylers kannte – und das tat Bulton – wußte, daß ihm die Menschen sehr viel wichtiger waren. Wie im übrigen auch Bulton. »In einem Krieg geht es nie ohne Opfer ab«, erwiderte der Marschall. »Ich weiß, was Sie denken: Sie fürchten, unsere Einheiten und die der Tel könnten sich gegenseitig aufreiben, so daß am Ende wir als die großen Verlierer dastehen. Auch wenn Vank Crt Sagla uns gewogen scheint und wir mit Dro Cimc an Bord der POINT OF einen weiteren großen Fürsprecher haben, ist die Lage im Telin-Imperium äußerst instabil. Sobald sich die Kunde verbreitet, daß das Sol-System faktisch wehrlos jedwedem größeren feindlichen Flottenaufgebot ausgeliefert ist, werden vielleicht auch vermeintliche Verbündete schwach – ganz zu schweigen von unseren Feinden, die es da draußen zwischen den Sternen zur Genüge gibt...« »Genau das befürchte ich«, bestätigte Eylers. »Aber es erleichtert mich schon, wenn Sie mir versichern, daß uns nicht bereits die Tel-Rebellen in die Knie zwingen können.« Bultons grimmige Miene hellte sich kaum merklich auf; zu einem Lächeln reichte es nicht. »Das denken sie wahrscheinlich – aber sie haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Unsere S-Kreuzer werden die zahlenmäßige Übermacht mit Leichtigkeit wettmachen. Was die Tel nicht wissen, ist, daß sämtliche Ringschiffe erstmals seit sie in unserem Besitz sind, nicht mit Energie knapsen müssen – sie
sind vollgetankt mit Tofirit! Dadurch wird die Kampfstärke jedes einzelnen Kreuzers extrem erhöht!« »Wenn Sie es sagen.« »Sie kennen selbst die Ergebnisse der Testläufe.« Eylers nickte, wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment ging ein zweites Gespräch mit noch höherer Dringlichkeitsstufe bei ihm ein. »Einen Moment, bitte...« Ohne Bultons Zustimmung abzuwarten, legte er ihn in eine Warteschleife. Auf dem Monitor erschien kein Gesicht, nur das GSO-Emblem, von starken Störungen überlagert. Die Stimme des Mannes, der sich meldete, war dennoch unverkennbar. »Jos! Was ist passiert?« Und Jos Aachten van Haag berichtete atemlos von der Großaktion, deren Zeuge er Tausende von Kilometern entfernt gerade wurde. Bernd Eylers erbleichte. »... Generatorstation... eine ganze Armee schwerstbewaffneter Angreifer... Tausende... Schutzglocke bereits gefallen... keine Verbindung zur Wachmannschaft möglich... mußte erst bis in Stadtnähe zurückfliegen, um die Störglocke zu verlassen...« Die Worte rauschten nur so durch Eylers' Gehirn. »Die Station ist also bereits in der Hand der Robonen?« »Fast, Sir«, erwiderte der GSO-Agent aus der Ferne. Daß Eylers von Robonen sprach, dementierte er mit keiner Silbe, obwohl er selbst dem Angreifer noch keinen eindeutigen Namen gegeben hatte. Aber wer sonst außer den Robonen kam für einen solchen Anschlag in Frage? »Was meinen Sie mit ›fast‹, Jos?« »Es gibt nicht nur die menschlichen Wächter, Sir«, erinnerte Jos Aachten van Haag. »Aber ich selbst komme mit meinem
schwachen Gleitersender weder zur Station durch noch besitze ich die Autorisierung, die Robotverteidigung zu aktivieren.« »Verstehe. Ich kümmere mich sofort darum. Bulton ist in der anderen Leitung. Wenn noch etwas zu retten ist, werden wir das tun. Sie selbst halten sich zurück, bis Verstärkung eintrifft... mit wie vielen Angreifern, sagten Sie, haben wir es zu tun?« »Es sind Tausende, Sir. Fünf-, sechstausend – überschlägig geschätzt.« »Dann haben wir wahrscheinlich nicht nur die Robonen, sondern auch von ihnen aufgewiegelte Nationalisten am Hals... verdammt, ich hätte wissen müssen, daß hinter dem Anschlag auf de Vries mehr steckt als...« Er verstummte. Öffnete den Kanal zu Bulton. Informierte ihn. Sah zu, wie das sonst immer gerötete Gesicht des Marschalls erbleichte. Und hörte sich fragen: »Sehen Sie eine Möglichkeit, die Robotverteidigung der Station zu initiieren?« Bulton nickte. »Betrachten Sie sie als bereits initiiert!« Ohne Bulton ein zweites Mal auszublenden, wies Bernd Eylers Jos Aachten van Haag an, ihn über die geringste Veränderung der Lage vor Ort in Kenntnis zu setzen. »Ich brauche Verstärkung«, betonte der GSO-Agent, was ihm Eylers' noch recht vage in Aussicht gestellt hatte. »Ich werde mein Möglichstes tun. – Bulton?« Bulton sprach gerade mit der Stelle, die retten sollte, was zu retten war. Als er Eylers wieder das Gesicht zuwandte, wirkte er wie ein Mann, vor dem man sich fürchten mußte. Ein Mann, der wußte, was Krieg hieß – und bereit war, wenn nötig auch selbst den Preis dafür zu zahlen. »Wir versuchen, die Aktivierungssequenz durch gebündelten Richtstrahl aus mehreren erdnahen Satelliten in
die Kontrollinstanz einzuschleusen. In wenigen Sekunden wird sich zeigen, ob wir damit Erfolg hatten...« »Was ist mit weiterer Unterstützung?« fragte Eylers kalt. »Wir können den Stationseinrichtungen nicht zutrauen, daß sie mit sechstausend Gegnern fertig werden. Sie können einen Aufschub herausschlagen, aber wir können uns nicht erlauben, auch nur ein einziges Element unseres Schutzwalls gegen die Strahlenstürme zu verlieren. – Was glauben Sie, was die Robonen vorhaben? Sie werden die Station vernichten. Sie wollen uns schaden, wo immer sie können!« »Dafür hätten sie keine Armee gebraucht – nur einen findigen Saboteur«, erwiderte Bulton. »Da steckt etwas anderes dahinter. Und ich fürchte, daß...« »Daß?« »... es mit der anrückenden Armada zu tun haben könnte«, vollendete Bulton seinen Satz in unheilschwangerem Ton. * Scholf war kein Narr – auch kein Fanatiker, der sich in naiven Ideen und Weltanschauungen verstrickte. Ihm war von Anfang an klar gewesen, daß er mit seinem Trick nur den Grundstein für einen Erfolg würde legen können. Der Rest war Kampf, war Blut und Tod, würde Opfer kosten – vor allem auf ihrer Seite – und letztlich würde der totale Triumph davon abhängen, ob die Verbündeten rechtzeitig aus Weltraumtiefen eintrafen... Denn selbst wenn die Station erobert war, wußte Scholf, würde sich damit draußen in der Welt, die – noch – dem Feind gehörte, niemand abfinden... Doch dann überraschte es ihn trotzdem, als sich Widerstand innerhalb der Anlage formierte, obwohl er glaubte, die wichtigsten Gegenmaßnahmen getroffen und die Zügel hier bereits fest in der Hand zu halten.
Der Alarmton schreckte ihn auf. Bohrte sich wie eine Million feiner Nadeln in seine Nervenenden. Plötzlich traten hinter ihm zwei Metallkörper aus der Wand, und grob ausmodulierte Stimmen forderten ihn unisono auf: »Wer sind Sie? Identifizieren Sie sich! Wir empfangen keine Mentalschwingungen...« Scholf drehte sich langsam um – aber nur soweit, daß er ihnen seine Seite darbot. Vor ihm standen zwei terranische Standardwachroboter. Die auf ihn gerichteten Abstrahlpole der Waffenarme glühten. Scholf trug noch immer das Abschirmungsgespinst um seine Schädeldecke. Aus den Augenwinkeln sah er auf den Monitoren, die das Geschehen in und außerhalb der Station übertrugen, daß die ersten Männer und Frauen, die sich mit seinen Zielen identifizierten, in das Gebäude eindrangen. Doch der Vormarsch geriet ins Stocken. Vereinzelt schlug ihnen Strahlerfeuer entgegen. »Ich bin Ren Dhark«, hörte Scholf sich sagen. »Der Commander der Planeten. Ich bin zu einer außerplanmäßigen Inspektion der Station eingetroffen. Senkt die Waffen. Es ist alles in Ordnung. Eure Sensoren müssen defekt sein. Ich...« Noch während er redete, zog er seinen Handblaster aus dem den Robots abgewandten Hüftholster. Er wußte, wie wenig Zeit ihm blieb – und welche Reaktionsschnelligkeit ihm abverlangt wurde, wollte er diese Situation lebend überstehen. Er konnte nicht zwei mehrere Meter auseinanderstehende Gegner gleichzeitig ausschalten. Mit viel Glück einen, und dann... Wie erwartet, fruchtete seine Verwirrungstaktik nicht. »Sie sind nicht Ren Dhark«, sagten beide Maschinen wiederum fast zeitgleich, als würden sie von einer dritten Instanz, die das Geschehen mitverfolgte, koordiniert.
Aber wenn es diese Instanz gab – sah sie dann auch Scholfs Waffe? Wußte sie bereits, was er vorhatte? »Ihre Physiognomie stimmt in keinem Punkt mit der des Commanders der Planeten überein. Unsere Sensorik arbeitet tadellos. Identifizieren Sie sich, oder wir müssen...« Weiter ließ er sie nicht sprechen. An seinem Bauch vorbei schob er den Lauf seiner Waffe, nahm den am nächsten stehenden Robot aufs Korn und schoß. Es war kaum möglich, aus dieser Haltung exakt zu zielen, und dennoch traf er fast intuitiv genau die Schwachstelle der Maschine. Sie explodierte, aber da stand Scholf schon nicht mehr dort, von wo aus er geschossen hatte und wo gerade eine sonnenheiße Glutbahn in das Terminal einschlug, an dem er sich Minuten zuvor zu schaffen gemacht hatte. Ein Hechtsprung hatte ihn hinter die nächste Konsole befördert. Er landete auf der linken Schulter, rollte ab, kam in die Hocke, lugte an der Gehäuseverkleidung vorbei und schoß. Auch der zweite Wachrobot verging in einem Glutorkan. Splitter stoben wie Geschosse durch den Raum, verheerten Bildschirme und Kontrollpaneele. Scholf zerquetschte einen Fluch zwischen den Zähnen und erhob sich. Von irgendwoher drang Geschrei. Immer wieder unterbrochen vom Fauchen mittelschwerer und schwerer Waffen. Seine Armee flutete weiterhin das Gelände und das Gebäude. Nichts war verloren. Gar nichts.
Scholf stellte Kontakt zu seinen Mittelsmännern im Wust der Kämpfer her. Sie waren sein verlängerter Arm. Binnen kürzester Zeit hatte er einen aktuellen Bericht der Lage. Zwischendurch blickte er auf die Chronoanzeige seines Armbandviphos. »Ich brauche sofort die Spezialisten hier bei mir!« wies er seine Handlanger an. »Hier im Herz der Anlage. Sie sollen alles Notwendige veranlassen, um den Hauptgenerator jederzeit abschalten zu können – auf Knopfdruck. Die X-Zeit läuft. Wenn sich unsere Freunde an die Verabredung halten, bleiben uns nur noch Minuten...« * Wie im Traum lenkte Jos Aachten van Haag seinen Gleiter. Und traumwandlerisch sicher war er auch jedem auf ihn gerichteten Kampfstrahl ausgewichen, hatte die Stadtgrenze von Schanghai erreicht und von dort aus Kontakt zur GSOZentrale hergestellt. Schon in Höhe der Mangrovenpflanzungen hatte die Komm-Technik wieder funktioniert... Und jetzt flog Jos wieder landeinwärts – der Gefahr entgegen. Beobachten! hatte Bernd Eylers seinem Agenten vor Ort aufgetragen. Jede spürbare Veränderung der Lage melden! Aber Jos war nicht geschaffen für den Job des reinen Kundschafters, der sich im Hintergrund und weitab der Gefahrenzone hielt. Es juckte ihn in den Fingern, einzugreifen. Das Seine dazu beizutragen, um die völlige Inbesitznahme der Generatorstation – und deren befürchtete Zerstörung – durch die Partisanen zu vereiteln. Zwar war das Netz der Stationen rund um den Globus inzwischen dermaßen perfektioniert worden, daß der Ausfall
eines Moduls kein Loch in die Abschirmung riß – aber schwächen würde es sie auf jeden Fall. Robonen! Jos' Gedanken waren nicht von Haß vernebelt, aber er empfand auch keinerlei Verständnis für die Vorgehensweise der veränderten Menschen. Sie setzten das Leben aller aufs Spiel – ihre Anschläge schadeten ausschließlich, nützten niemandem! Was hatten sie vor? Was hatten sie wirklich vor? Um diese Frage kreisten die Gedanken des GSO-Agenten – erst recht, seit Eylers ihn über das Anrücken einer gewaltigen Flotte von Tel-Rebellen informiert hatte. Entweder, dachte er, ist Schanghai erst der Anfang – aber dann wären die Robonen nicht so massiert aufgetreten –, oder aber Schanghai ist der Punkt, an dem alle Fäden im Moment des Tel-Angriffs zusammenlaufen sollen. Ein geballter Feuerschlag aus zweitausend Schiffen gegen die schwächste Stelle im Schirm und... Er brachte den Gedanken nicht zu Ende, kontaktete statt dessen erneut Eylers und weihte ihn in seine Überlegungen ein. »Darüber sind auch Bulton und ich uns mittlerweile im klaren, Jos«, versicherte Eylers. »Ich habe Bulton gebeten, ein starkes Flottensegment speziell im Orbit über der bedrohten Station zu positionieren. Aber Bulton ist ein Sturkopf, das wissen Sie. Er hält dagegen, daß die Tel mit allen verfügbaren Kräften daran gehindert werden müssen, überhaupt bis in Erdnähe zu gelangen...« Jos nickte, als hätte er nichts anderes erwartet, als Hürden in den Weg gestellt zu bekommen. »Was ist mit der Verstärkung? Wann schickt Bulton uns Soldaten und Roboter?« Eylers Mimik verschloß sich wie die Iris einer Kamera. Zorn blitzte dennoch durch. Nicht Zorn auf Jos, sondern Wut und Unverständnis für die Strategie von Terra Command.
»Wie Bulton mir gerade mitgeteilt hat, schickt er so gut wie keine Kräfte«, erklärte Eylers. »In Anbetracht des bevorstehenden Tel-Angriffs hat er planetenweiten Alarm ausgelöst. Er sieht die Prioritäten anderweitig als wir, und ich fürchte, daß er sich von dieser Sicht der Dinge auch nicht abbringen läßt. In der momentanen Situation scheint er den Verlust einer einzigen Generatorstation billigend in Kauf zu nehmen. Sein Hauptanliegen ist es, die Tel daran zu hindern, bis nach Terra vorzustoßen...« »Das kann er nicht tun!« »Er kann und wird.« »Aber...« »Halten Sie mich weiter auf dem laufenden. Immerhin scheint es gelungen zu sein, die interne Robotabwehr der Station zu aktivieren. Das verschafft uns vielleicht eine kleine Atempause...« »Und wozu, wenn doch keine Verstärkung eintrifft?« »Ich sagte nicht, daß keine kommt. Ich sagte nur, daß wir von Bultons Seite keine zu erwarten haben.« »Und von wem dann?« »Das sage ich Ihnen, sobald ich die Zusage habe.« Eylers winkte zum Gruß. Dann schaltete er ab. Und Jos Aachten van Haag steuerte den Gleiter im Tiefflug auf die Generatorstation zu, bei der endlich Widerstand geleistet wurde. Aber noch während er sich dem umkämpften Gelände näherte, merkte er, wie das Feuer merklich abflachte. Die einzige Erklärung dafür war, daß die Robonen nun auch die Robotabwehr ausgeschaltet hatten – viel schneller und effektiver als erhofft. Was immer Eylers plante – seine Maßnahme würde zu spät kommen. Jos Aachten van Haag drosselte die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs und stoppte schließlich vollständig ab. Nur knappe
vier Kilometer von der Generatorstation entfernt parkte er den Gleiter auf einem A-Gravpolster. Und wartete auf den Abzug der Armee. Es machte keinen Sinn, daß sie blieb. Die Robonen und von ihnen aufgehetzten Separatisten waren keine Selbstmörder. Sie würden die Station in die Luft jagen – aber nicht, während sie sich noch auf dem Gelände aufhielten. Jos wartete. Und wartete. Dabei stellte er fest, daß der Störsender seine Tätigkeit eingestellt hatte. Eylers meldete sich. »Okay«, sagte er. »Wie sieht es bei Ihnen aus?« »Hoffnungslos«, erwiderte Jos. »Eigentlich dürfte es die Station schon nicht mehr geben. Sie haben sich darin verschanzt. Ich verstehe das nicht. Wenn sie sie zerstören wollen...« »Die wirkliche Frage«, unterbrach ihn Eylers, »dürfte sein, was die Tel wollen.« »Die Tel?« »Sie kommen, um eine Welt zu erobern und in Besitz zu nehmen – unsere Welt. Was würden Sie an ihrer Stelle tun? Wertvolle Technik zerstören oder nur zu gegebener Zeit... »... abschalten?« erkannte Jos. Eylers nickte. »Sie haben die Station in ihrer Hand und versuchen sie mit allen Mitteln zu halten, bis die Tel-Flotte über Terra erscheint. Dann schalten sie ab. Und dann schießen die Doppelkugelraumer ein Loch in den Globalschirm, das reicht, die Invasionsflotte einzuschleusen. Vom Himmel über Schanghai aus können sie jeden beliebigen Ort des Planeten erreichen...«
Jos leckte sich über die spröde gewordenen Lippen, und mit heiserer Stimme verlangte er: »Dann sagen Sie das Bulton – dieser gottverdammte Betonschädel muß doch begreifen...« »Statt mit Bulton zu debattieren habe ich mich mit Wallis kurzgeschaltet. Die Verstärkung wird gerade verladen. Ich habe hyperschnelle GSO-Jetts abgeordert. Jos – Sie koordinieren den Einsatz vor Ort. Saam wird Ihnen alle erforderlichen Daten überspielen. Es handelt sich um tausend Roboter von Wallis Industries, die gerade vom Band gelaufen sind. Sie werden mit Handfeuerwaffen und leichten Infanteriegeschützen ausgerüstet sein, und jetzt stöhnen Sie nicht gleich wieder verzweifelt, denn Saam hat versprochen, die Zentralsteuerungen der Robots mit einer ganz neuen Kampfsoftware auszustatten. Die Überspielung erfolgt, während sich die Roboter bereits auf dem Flug nach Schanghai befinden.« »Warum Jetts?« fragte Jos. »Per Transmitter wären sie noch schneller hier, und es zählt jede Sekunde!« »Die Transmitter sind ebenfalls von Terra Command konfisziert, keine Chance...« Jos Aachten van Haag glaubte es nicht. Er glaubte auch nicht, daß tausend Billigroboter Wunder gegen sechstausend Gegner wirken konnten. Aber Glaube war nicht Wissen. Also hoffte er. Und wartete weiter...
6. Henk de Groot begleitete Charlize Farmer ins Hospital. Einerseits hoffte er, sich nützlich machen zu können – sein irrationaler Gedanke war, wenn er ihr Arbeit abnahm, könnte er mit ihr eher wieder in den Bereich der Normalität zurückkehren und noch den Rest des Wochenendes genießen. Was natürlich völliger Mumpitz war... Andererseits fühlte er sich speziell für den Mann verantwortlich, den er selbst aus den rauchenden Trümmern gezogen hatte. Auch wenn Charlize recht deutlich signalisiert hatte, daß diesem Unfallopfer nicht mehr zu helfen war. So bemühte er sich auch gleich, wieder in die Nähe »seines« Schützlings zu kommen. Der Mann, dessen Gewicht offenbar größer war, als sein Körper vermuten ließ, wurde untersucht. Während der Untersuchung richtete er sich von seinem Lager auf. »He«, bemerkte er. »Was soll der ganze Mumpitz? Ich lebe doch noch, und ich bezweifle, daß ich so etwas wie ein Versuchs...«, der Rest des Wortes bestand aus einem Laut, den keiner der Ärzte oder medizinischen Assistenten jemals gehört hatte, »bin.« »Was sagten Sie, Sir?« fragte Dr. Bennet deshalb nach. Das Unfallopfer winkte in einer großzügigen Bewegung ab. »Kann ich jetzt gehen?« Henk, der im Hintergrund stand, schnappte nach Luft. Er trat näher heran, und niemand hinderte ihn daran. Überrascht betrachtete er den Verletzten, der jetzt gar nicht mehr so wirkte, als sei er verletzt worden. Da war noch überall das Blut auf seiner Haut und an seiner Kleidung, und Henk war sicher, daß Charlize sich bei ihrer Schnelldiagnose kaum geirrt haben
konnte – sie gehörte schließlich nicht zu den sieben dümmsten Wesen dieser Galaxis. Aber der Mann bewegte sich und sprach so, als leide er keine Schmerzen, als sei er unverletzt. »Nett, daß Sie sich so fürsorglich um mich gekümmert haben«, sagte er gerade, drehte sich und schwang die Beine vom Lager, um aufzustehen. »Wenn ich irgendwie kann, werde ich mich dafür erkenntlich zeigen. Irgendwie, irgendwo, irgendwann.« »Moment mal«, sagte Doc Bennet. »Sie...« »Ach, Sie meinen das hier?« Der »Patient« wischte sich durchs Gesicht, zupfte an seiner Kleidung, dort, wo die Blutflecken waren. »Das ist nicht mein Blut«, sagte er. »Ich bin schon in Ordnung.« »Sie wurden von dem Gleiterbus gerammt und an der Fassade beinahe zerquetscht«, warf Henk de Groot ein. »Mister Rätselhaft...« »Mein Name ist Brown«, sagte der Geheimnisvolle. »John Brown. – Wieso bin ich für Sie rätselhaft?« »So, wie Sie aussehen...«, und de Groot erntete einen zustimmenden Blick des Arztes, »dürften Sie kaum noch röcheln. Ich habe Sie aus den Trümmern gezerrt, Sie waren praktisch tot, Sir... und jetzt stehen Sie hier vor mir und lächeln mich an...« »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich die Zähne fletsche und knurre wie ein hungriges Ko'chko'hlkanth?« »Was ist das denn für ein Viech?« staunte Dr. Bennet. »Kann man das wenigstens essen?« »Schwer bekömmlich«, brummte der Mann, der sich als John Brown vorgestellt hatte. »Wächst auf einem unbedeutenden Randplaneten dieser Galaxis.« »Wächst? Eben sprachen Sie von einem Tier, denn nur Tiere können hungrig sein...«
»Fleischfressende Pflanzen auch«, behauptete Brown. »Aber ob's Pflanze oder Tier ist, haben wir bei der filzartigen Struktur dieser Kreatur noch nicht herausfinden können. Kann ich jetzt gehen?« »Nein!« sagte Dr. Bennet. »Nein«, sagte Henk. Die beiden Männer grinsten sich an, wurden aber sofort wieder ernst. »Ich muß Sie untersuchen, Mister Brown«, sagte der Arzt. »Sie sind verletzt worden und...« »Unsinn!« protestierte Brown. »Völliger Quatsch. Der Bus hat mich gestreift und umgeworfen. Na gut, ich war bewußtlos, ich glaube, ich habe auch eine Beule am Kopf, aber das ist doch völlig unwichtig. Kümmern Sie sich lieber um die Leute, die wirklich verletzt wurden!« »Und das Blut?« »Stammt von den anderen Opfern!« stellte Brown klar. »Sagte ich doch schon.« Er zerrte sich das Hemd vom Körper. Atmete tief ein, drehte sich einmal um sich selbst. »Hier«, knurrte er dann. »Sehen Sie irgendwo eine Verletzung, Gentlemen? Wenn das Blut an diesem Lumpen«, er wedelte mit dem Hemd, »von mir stammte, müßte ich doch hier und hier und hier schwerste Wunden aufweisen! Sehen Sie eine? Was muß ich noch alles tun, um Sie zu überzeugen?« »Ich verstehe das nicht«, murmelte Henk kopfschüttelnd. »Charlize hat Sie untersucht und für so gut wie tot erklärt.« »Dann hat sich Charlize eben geirrt. Kommt ja schon mal vor, wenn jemand unter Streß steht, oder?« Brown betrachtete den Stoff in seiner Hand, knüllte ihn dann zusammen. »Mal sehen, ob ich irgendwo was anderes zum Anziehen finde. Wenn nicht – auch egal. Gehe ich eben so nach Hause. Warm genug ist es ja.« »Sie können einen unserer Kittel nehmen«, bot Dr. Bennet an. Plötzlich schmunzelte er: »Aber Vorsicht, Mister Brown –
vielleicht verwechselt man Sie dann mit einem Arzt oder Pfleger...« »Na und? Wäre das schlimm?« Brown schüttelte irgendwie verständnislos den Kopf. »Ist ohnehin eine gute Idee. Wenn ich schon mal hier bin, kann ich mich auch nützlich machen. Haben Sie etwas für mich zu tun?« »Erst untersuche ich Sie, Mister Brown!« beharrte der Arzt. »Sie sagten was von einer Beule am Kopf, und ich will sicher sein, daß Sie keine Gehirnerschütterung davongetragen haben.« »Wo nichts ist, kann nichts erschüttert werden«, grinste Brown ihn an. Seine Augen funkelten dabei seltsam. »In diesem Hospital sind die Medizinmänner dafür da, dumme Witze zu machen«, brummte Dr. Bennet, »und nicht die Patienten! Her mit Ihrer Beule, oder muß ich mir Ihren Kopf erst holen?« Brown sah de Groot an. »Der gibt nicht auf, wie?« »Warum sollte er auch?« fragte Henk zurück. »Mann, so wie Sie vorhin ausgesehen haben, als ich Sie aus den Trümmern gezerrt habe...« »Danke.« »He, ich wollte mich damit jetzt nicht selbst beweihräuchern!« protestierte Henk. »Aber Sie sahen wirklich aus wie dreivierteltot! Und wenn ich Doktor Bennet wäre, würde ich Sie auch nicht ohne Untersuchung hier 'raus lassen.« »Begreift denn hier niemand, daß ich wirklich in Ordnung bin und mir nur den Kopf gestoßen habe?« seufzte Brown. Übergangslos drehte er eine Pirouette, gefolgt von einem Kopfstand. Als er sich wieder aufrichtete, fragte er: »Hätte ich das mit einer Gehirnerschütterung schaffen können? Mann, ich habe nicht mal Kopfschmerzen! Können Sie mich jetzt endlich in Ruhe lassen?« »Ich fasse es einfach nicht«, seufzte der Arzt. Auch Henk schüttelte den Kopf.
Was Brown ihnen hier vorführte, bewies eindeutig, daß er absolut fit war. Und doch wußte Henk, was er gesehen hatte, als er den Mann barg, und er wußte auch, daß Charlize ihr Fach verstand. Hier stimmte doch etwas nicht! Aber daß John Brown praktisch unversehrt war, von der Beule einmal abgesehen, war unübersehbar! »Na schön«, seufzte Dr. Bennet. »Sie können sich als Helfer nützlich machen, ebenso wie Mister de Groot. Außerdem habe ich Sie so noch ein wenig in meiner Nähe und damit unter meiner Kontrolle.« Brown grinste ihn an. »Schurke!« Der Arzt winkte ab. »Sie kümmern sich um die Nachversorgung. Pfleger Batare wird Sie einweisen. Sie«, er zögerte kurz, sah de Groot an, »auch. Sie beide kennen sich ja schon, da können Sie auch als Team arbeiten.« * John Brown stellte sich durchaus geschickt an. Er lernte die Handreichungen schnell, die ihm abverlangt wurden. Natürlich war er kein Mediziner, und auch nicht unbedingt als Pfleger geeignet. Aber viele eher mechanische Arbeiten konnte er anderen abnehmen, und er erledigte das, was ihm aufgetragen wurde, schnell, präzise und sorgfältig. Henk de Groot fand kaum Gelegenheit, ihm näher auf die Finger zu sehen, aber er beobachtete während seiner eigenen Tätigkeit als »Ersatzhelfer« genug, um festzustellen, daß Brown tatsächlich völlig unverletzt sein mußte. Mal von jener Beule am Kopf abgesehen, aber diese Schwellung klang bereits rapide ab. Von Charlize sah Henk so gut wie nichts mehr; sie war weit stärker als er und Brown in die Arbeit eingebunden. Die Verletzungen der Unfallopfer waren überwiegend schwer. Und
gerade deshalb fiel es Henk nicht leicht, zu akzeptieren, daß gerade Brown, »sein Kandidat«, so gut davongekommen war. Aber er sah die Fakten. Was konnte er dagegen sagen? Irgendwann, Stunden später, bereits tief in der Nacht, konnten sie endlich Feierabend machen und sich aus dem Hospital verabschieden. In diesen wenigen Stunden der Zusammenarbeit war Brown dem Ingenieur recht sympathisch geworden. Er hatte eine sehr offene Art, mit den Patienten und auch mit dem Krankenhauspersonal zurechtzukommen, und schließlich lud Henk ihn für den kommenden Abend zu einem Treffen in eben jener kleinen Kneipe ein. Brown lächelte. »Was wird Ihre Gefährtin dazu sagen? Wäre es ihr nicht lieber, den Abend mit Ihnen allein zu verbringen, Henk?« fragte er. Henk de Groot zuckte mit den Schultern. Charlize würde es akzeptieren, davon war er überzeugt. »Wir sehen uns dann«, verabschiedete er sich von Brown mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. Brown verschwand. Henk wartete noch darauf, daß Charlize endlich Feierabend machen konnte. Als Krankenschwester von Beruf wurde sie natürlich viel intensiver durch diesen Vorfall beansprucht als etwaige freiwillige Helfer wie Henk oder John Brown. Etwa eine halbe Stunde später erschien Charlize; übermüdet, aber lächelnd. Henk beichtete ihr, Brown für den kommenden Abend eingeladen zu haben. »Dann haben wir also noch wenige Stunden Nacht und ein bißchen Tag für uns allein«, stellte sie fest. »Das sollten wir ausnutzen. Bis eine Stunde vor dem Treff werden wir beide für niemanden mehr zu sprechen sein – nicht mal für einen Invasionstrupp der Grakos!« Sie hatten das Gleitertaxi kaum verlassen, das sie zu Henks Apartment zurückbrachte, als sie bereits damit begann, ihn zu küssen und auszuziehen.
So müde sie beim Verlassen des Hospitals gewirkt hatte, so munter zeigte sie sich jetzt. Irgendwann, längst war es wieder hell geworden und die Sonne warf nur kurze Schatten, schliefen sie beide erschöpft und in inniger Umarmung ein. Fast hätten sie den Wecker überhört, der sie an Henks Verabredung erinnerte... * Die Unfallspuren waren weitgehend beseitigt. Nur wer dabeigewesen war, konnte jetzt noch erkennen, daß ein Gleiterbus verunglückt und etliche Menschen verletzt oder getötet worden waren. Etwas beklommen betrachtete Henk die Brandspuren, die auf die Explosion eines Sliders hinwiesen. Hier war ein Mensch gestorben. Als die Grakos angriffen, war das Sterben etwas ganz anderes gewesen. Das hier, dieser Tod durch ein illegales Rennen... das war etwas so Überflüssiges... Kalt lief es Henk über den Rücken. Er versuchte die Erinnerungen an gestern abzuschütteln und betrat das Lokal als erster, gefolgt von Charlize und dem Fremden, der vor dem Eingang auf sie gewartet hatte. An genau der Stelle, an welcher er gestern von dem Gleiterbus gerammt worden war. Vielleicht, dachte Henk, war es keine so gute Idee, uns ausgerechnet hier zu treffen. Die Erinnerungen kehrten zurück, die Katastrophe, die flackernden Blaulichter, die befehlenden Stimmen, das Schreien und Stöhnen... dann im Hospital die Hektik, die Lautsprecherdurchsagen, das Klappern harter Sohlen auf glatten Fliesen... und die Schmerzenslaute und die Fragen derer, denen de Groot und Brown schließlich helfen konnten... oder die Fragen von Angehörigen, die auftauchten und wissen wollten, wie es den Verletzten ging.
Die Band von gestern abend trat heute nicht auf. Pech, dachte Henk. Mir gönnt aber auch keiner was... Überhaupt war das kleine Lokal nur schwach besucht. Das lag sicher nicht an dem gestrigen Unfall, sondern daran, daß es Sonntag war und morgen früh jeder wieder zur Arbeit mußte. Charlize konnte sich Zeit lassen; für ihren Sondereinsatz am eigentlich freien Samstag hatte sie den halben Montag freibekommen. Und Henk sah die Sache ohnehin etwas lockerer – er liebte seine Arbeit und erledigte sie mit Begeisterung, aber er war der Teamchef, und wenn er nicht hundertprozentig fit an seinem Arbeitsplatz erschien, war das zumindest kein Beinbruch. Wichtig war nur, daß er pünktlich erschien – weil der Sammeltransporter nicht wartete, der ihn und seine Kollegen und Mitarbeiter wieder zum Goldenen Menschen brachte. »Und was ist mit Ihnen, John?« fragte Charlize nach einer Weile. »Müssen Sie nicht auch bald wieder aufbrechen?« Brown schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch auf der Suche nach Arbeit«, gestand er. »Ein erstaunlicher Mann«, stellte sie trocken fest. »Erst muß ich feststellen, daß Sie im Sterben liegen und schon so gut wie tot sind, dann muß ich feststellen, daß ich mich offenbar so sehr geirrt habe wie noch nie zuvor in meinem Leben, weil Sie nur eine Beule davongetragen haben, wie Henk mir verriet – und jetzt sind Sie auch noch arbeitslos? Das gibt's auf Babylon doch überhaupt nicht!« »Offenbar doch.« Brown lächelte etwas verloren. »Was ist überhaupt mit Ihrer Beule?« wollte Charlize wissen. »Ich sehe überhaupt nichts davon...« »Ach, deshalb sehen Sie mich so interessiert an?« Das war auch Henk aufgefallen, der damit beschäftigt war, aufkommende Eifersuchtsgefühle zu bekämpfen, weil seine Freundin scheinbar mehr Interesse für diesen Fremden zeigte als für ihn.
»Ich spüre nichts mehr davon«, behauptete John Brown. »Die Schwellung ist zurückgegangen, ich...« Es war tatsächlich so, wie Henk und Charlize sich überzeugen konnten. Von der Beule war so gut wie nichts mehr zu sehen, und selbst eine Berührung der Stelle tat ihm nicht weh. »Mann, Ihr Heilfleisch möchte ich haben«, seufzte Henk. »Das ist ja noch besser als das, was die Leute in der CyborgStation im Brana-Tal zuwege bringen. Sie sind doch nicht etwa ein Cyborg, John?« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, erwiderte Brown etwas konsterniert. »He, Sie haben davon noch nie gehört?« »Ich bin ein einfacher Mann, der sich vorwiegend um seinen eigenen Kram kümmert«, sagte Brown. »Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden.« Es fiel Henk schwer, zu akzeptieren, daß es Menschen gab, die keine Ahnung vom Cyborg-Projekt hatten. Natürlich wurde dieses Projekt streng geheimgehalten, und die Cyborg-Station war abgesichert und geschützt wie vielleicht nichts anderes in der Galaxis, aber daß es die Cyborgs gab, diese Menschen, die durch technische Komponenten zu Superwesen gemacht wurden, war trotzdem allgemein bekannt. Auch wenn wohl nur die allerwenigsten Menschen jemals einem leibhaftigen Cyborg begegnen dürften – Kolonisten erst recht nicht. Aber vielen war allein der Gedanke an diese Übermenschen unheimlich, und die Regenbogenmedien stürzten sich natürlich darauf und schlachteten diese geheimen Ängste der »Normalen« weidlich aus. Davon hätte Brown doch eigentlich etwas mitbekommen müssen! »Sie suchen also Arbeit, Sie einfacher Mann«, sagte Henk, der das Thema nicht weiter vertiefen wollte, um Brown nicht in Verlegenheit zu bringen. »Was können Sie? Was ist Ihre Qualifikation?«
»Meine was?« »Ihre Ausbildung. Für was kann man Sie einsetzen, John? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Terra Menschen nach Babylon verschifft, die durch Arbeitslosigkeit der Allgemeinheit zur Last fallen. Verstehen Sie das jetzt nicht falsch, John, ich will damit nicht Sie angreifen. Sie können vermutlich am wenigsten dafür. Aber...« Brown nickte. »Terra«, sagte er langsam, ließ den Namen des Planeten förmlich auf der Zunge zergehen, so, als wolle er ihn memorieren und niemals wieder vergessen. »Terra... nun gut, Henk, eine Ausbildung in dem Sinn, wie Sie sich vorstellen, habe ich nicht.« »Aber von irgendwas müssen Sie doch auch auf Terra gelebt haben«, hielt de Groot ihm vor. »Sie sehen nicht gerade wie jemand aus, der als Obdachloser unter Brücken schläft...« »Eine amüsante Vorstellung«, sagte Brown, was bei Henk und Charlize Stirnrunzeln hervorrief. »Was ist daran amüsant?« wollte die Krankenschwester etwas kühl wissen. Brown ging nicht darauf ein. Er fuhr fort: »Bevor ich nach Fande kam, hatte ich auf...« »Fande?« hakte Charlize sofort ein. Dadurch entging ihr das kurze Zögern Browns. »Fande ist der Name, den die Mysterious Babylon gaben«, erklärte Henk schnell. Er sah Brown mißtrauisch an. »Woher kennen Sie diesen Namen?« »Nur weil ich nichts über Cyborgs weiß, muß ich noch längst nicht dumm und uninformiert sein. Ich verwechsele diese beiden Wörter oft. Eine blöde Sache. Ist mir wirklich peinlich.« »Woher kennst du denn diesen Mysteriousnamen, Henk?« wollte nun Charlize wissen. Der seufzte. »Ich gehöre immerhin zu den Leuten, die am und im Goldenen Menschen arbeiten«, erinnerte er sie. »Den Namen kennen wir, weil Ren Dhark damals, als er Babylon
entdeckte, einen Funkspruch aus Weltraumtiefen erhielt. Über mehr als 90.000 Lichtjahre hinweg. ›Signalstern der Klasse T ruft Fande‹ hieß dieser Funkspruch. Und damit war dieser Planet gemeint. Das steht hundertprozentig fest.« »Signalstern«, echote Brown, der plötzlich überraschend interessiert klang. »Der ist also noch in Betrieb?« Henk zuckte mit den Schultern. »Muß er wohl, wenn er mit einer geradezu unverschämten Sendeleistung durch die halbe Galaxis Babylon/Fande erreichen konnte... aber das ist den Göttern sei Dank nicht mein Problem. Sagen Sie, John – Sie zeigen daran erstaunliches Interesse. Darf ich fragen, warum?« »Gehören Sie dem terranischen Geheimdienst an?« fragte Brown zurück, grinste dabei aber. »Ich bin einfach neugierig. Vielleicht kann ich mein Wissen ja irgendwann mal nutzbringend verwenden.« »Bei der Jobsuche?« warf Charlize etwas spöttisch ein. »Warum nicht?« fragte Brown todernst zurück. »Vielleicht haben Sie ja einen Tip für mich?« »So geschickt, wie Sie sich gestern im Hospital angestellt haben, wären Sie ein idealer Krankenpfleger«, schlug Henk vor. »Vielleicht kann Charlize Ihnen helfen, unterzukommen...« »Nein, danke!« wehrte Brown entschieden ab. »Das ist wirklich nicht meine Welt. Ich hab's gemacht, weil ich da war und es tun konnte, aber ich möchte es nicht zu meinem Beruf machen. Es ist so... so deprimierend, verstehen Sie?« »Nein«, sagte Charlize. »Was ist daran deprimierend, anderen Menschen helfen zu können?« »Oh, ich meine nicht das Helfen an sich, sondern... wenn man nicht helfen kann und sie sterben. Oder wenn man helfen kann und weiß, daß sie trotzdem zum Sterben verdammt sind.« »Bitte?« Charlize hob verwundert die Brauen. John Brown wies nach oben, Richtung Kneipendecke, Richtung Sternenhimmel.
»Die Störungen im galaktischen Magnetfeld«, sagte er. »Über kurz oder lang werden alle sterben, die dazu verdammt sind, in dieser Galaxis bleiben zu müssen. Aber... was soll's? Niemand kann es ändern. Wir müssen das Beste aus dem machen, was uns noch zur Verfügung steht. Vielleicht könnte ich meine Kenntnisse und mein Wissen anders besser anbringen denn als Krankenpfleger.« »Und wie?« »Bevor ich nach Fande... Verzeihung, irgendwie gefällt mir dieser Name besser... nach Babylon kam, hatte ich eine kleine Werkstatt für suprasensorgesteuerte Hausgeräte. Mit derlei Technik kenne ich mich sehr gut aus. Dafür brauchte ich keine teure Ausbildung. Irgendwie... kann ich es einfach. Aber scheinbar gibt es auf Babylon dafür keinen echten Bedarf.« »Wer weiß?« sann de Groot. »Zeigen Sie mir, was Sie können, vielleicht habe ich einen Job für Sie. Wenn Ihr technisches Wissen umfangreich genug ist... hm, wir könnten im Team Verstärkung gebrauchen. Viele gute Leute sind nach dem Grako-Angriff nicht mehr verfügbar.« »Stellen Sie mich auf die Probe«, bat Brown. »Wenn ich Ihren Erwartungen nicht entspreche, können Sie mich ja wieder feuern. Aber an der Erforschung des... des Goldenen Menschen zu arbeiten, würde mich ungeheuer reizen. Ich bin sicher, daß ich dabei nützlich sein kann.« »Dann wäre das bis auf weiteres geklärt. Morgen früh ab sieben Uhr sammelt der Transporter uns ein. Wo müssen Sie abgeholt werden?« Brown wirkte einen kurzen Moment lang irritiert. »Wo wohnen Sie?« präzisierte Henk de Groot. »Wo gabeln wir Sie auf?« »Ach so... ich werde hier sein, denke ich. Ich wohne in einer der weiter entfernten Pyramiden, die zur Besiedelung freigegeben worden sind. Es ist nicht nötig, daß extra jemand
kommt, der mich dort abholt. Ich werde rechtzeitig hier sein. Sagen Sie mir die genaue Zeit, und ich bin bereit.« * Der Rest des Abends verlief in wesentlich gemütlicherer, privaterer Atmosphäre. Henk und seine Freundin machten sich zwar weiterhin ihre Gedanken um den seltsamen Mann mit dem perfekten Heilfleisch, aber allmählich geriet diese Sache in den Hintergrund. Irgendwann verabschiedete sich Brown – immerhin hatte er einen weiten Heimweg zurückzulegen, und kurz fragte Henk sich, warum dieser Mann gestern und auch heute eigens aus einer anderen Stadt hier hergekommen war... Aber das sollte nicht seine Sorge sein. Brown hatte sicher jede Menge Zeit, sich überall herumzutreiben. Zumindest, solange er keinen Job hatte. Hin und wieder dachte Henk daran, wie schnell und sicher Brown mit dem medizinischen und organisatorischen Krempel gestern abend zurechtgekommen war. Wenn er sich bei der Arbeit im Goldenen Menschen auch nur halb so geschickt anstellte, war er durchaus als Verstärkung für das Team zu gebrauchen. Ganz abgesehen davon, daß er Henk de Groot sympathisch war...
7. Owo Gbagbo glaubte, sich in den Augen von Wer Bol Gnun widergespiegelt zu sehen. Was er sah, gefiel ihm. Ein Robone in exponierter Stellung – ein Robone, der Geschichte schreiben würde... Gemeinsam mit den wenigen abtrünnigen Tel, die nötig waren, das Flaggschiff voll manövrier- und gefechtsfähig zu machen (die Hauptarbeit wurde von Robotern erledigt, die dem äußeren Erscheinungsbild ihrer Herren nachempfunden waren), hielt sich Owo Gbagbo, der schwarze Robone, in der Bordzentrale auf. Von hier aus wurde die gesamte Flottenbewegung koordiniert. Eine letzte Transition, dann würden die Waffen sprechen. Der Tel-Geheimdienst hatte die Machtverhältnisse im SolSystem nach der großen Katastrophe minutiös ausgelotet. Die Terraner besaßen gegenwärtig keine zahlenmäßige Übermacht, und mit den wenigen Ring- und Beuteraumern, über die sie verfügten, würde die zu allem entschlossene Armada fertig werden – weder Gbagbo noch Bol Gnun hegten daran die geringsten Zweifel. Doch dann änderten sich Lage und Stimmung in der Kommandozentrale des Flaggschiffs jäh. Die neuesten Meldungen aus dem Cromar-System trafen ein. Clos Vlc, so hieß es darin, war vernichtend geschlagen worden – die im Cromar-System kämpfenden Rebelleneinheiten hatten bedingungslos kapitulieren müssen, Vlc und seine engsten Getreuen waren bei dem Versuch, den Kluis ins Visier zu nehmen, ums Leben gekommen...
Eine Weile schwebte diese Hiobsbotschaft wie etwas Greifbares über den Häuptern der Zentralebesatzung. Schließlich hieb Bol Gnun mit der Faust auf die Kommandokonsole und knirschte: »Wir gehen weiter ganz nach Plan vor – Gbagbo? Können wir uns auf Ihre Leute verlassen? Werden sie im zeitlichen Limit bleiben?« »Dafür«, erwiderte der Robone, der von der Nachricht nachhaltiger betroffen wirkte als der Wer, »lege ich meine Hand ins Feuer!« Ihm fiel nicht einmal auf, daß er eine bei Menschen gebräuchliche Redensart benutzte. Bei Menschen, die er doch so sehr haßte, daß er bereit war, sie dem Joch einer anderen Spezies auszusetzen. Terra und alle terranischen Außenwelten hatten dem neuen Telin-Imperium als Kolonien einverleibt werden sollen – und nun? »Dann«, erklärte Bol Gnun, als könnte er die Gedanken des Robonen lesen, »werden wir eben improvisieren und ein wenig umdenken müssen.« »Was heißt das?« fragte Owo Gbagbo unbehaglich. Sein Gesicht wirkte wie aus schwarzem Stein gemeißelt. »Unsere treuen Verbündeten erhalten von mir nach erfolgtem Sieg die Belohnung, die ihnen zugesagt wurde«, erwiderte der Wer ungerührt. »Von mir, dem baldigen Herrn über das Sol-System, vor dem sich das Telin-Imperium künftig in acht nehmen muß, will es nicht den totalen Krieg, der weitreichendere Folgen haben würde als der leider mißglückte Putschversuch, den Clos Vlc, dieser Versager, leichtfertig verursacht hat!« Owo Gbagbo wußte, welche Belohnung der Wer meinte. Auch die auf Terra in diesem Moment längst aktiven Robonen wußten es. Letztlich war es Gbagbo gleich, wer die Tel regierte oder wer künftig die Terraner knechtete. Was zählte, war der Lohn, der den Robonen versprochen worden war.
Aber war Bol Gnun zu trauen? Würde er Wort halten? Letztlich, entschied Owo Gbagbo, haben wir gar keine andere Wahl, als an die Einhaltung des Versprechens zu glauben. Gnun steht in unserer Schuld. »Befehl an alle Einheiten«, hörte er den Wer sagen. »Wir stehen vor der letzten Transition ins Feindgebiet. Die Vorgänge im Cromar-System ändern nichts. Wir werden dem ursprünglichen plan folgen und ›von oben‹ ins Sol-System springen. Der Rechnerverbund der Armada soll noch einmal prüfen, ob sämtliche Parameter berücksichtigt wurden, so daß wir zwei Lichtminuten über dem Nordpol des Planeten Erde aus dem Hyperraum austreten werden! Damit weichen wir den Raumforts der Terraner aus, und unserem Gegner bleiben bis Erreichen des planetaren Schirms nur wenige Minuten, um zu reagieren. Das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite. Wir...« Die Stimme eines Offiziers fiel ihm ins Wort. »Ein weiterer Spruch, Wer!« Bol Gnun wußte, daß ihn niemand während einer Ansprache störte, wenn kein dringender Grund dafür vorlag. »Von wo, welches Ziel und welcher Inhalt?« »Inhalt kann nicht dechiffriert werden. Abstrahlkoordinaten sind mit der Position Cromars identisch. Der Spruch ist dorthin adressiert, wo auch unser Ziel liegt.« »Das Sol-System.« »Ja, Wer.« Owo Gbagbo brauchte nur in Bol Gnuns Augen zu sehen, um dessen Gedanken lesen zu können. Sie sind gewarnt, flackerte die Erkenntnis im Blick des Wer. Aber es wird ihnen nichts mehr nützen. Nicht wenn deine – der Blick des Tel schien sich an den Augen des Robonen festzusaugen – Leute ihr Soll erfüllt haben!
Owo Gbagbo kniff die Lippen zusammen. Er dachte an Scholf. Scholf war auf seine Art mindestens ebenso fanatisch dem Ziel verschrieben wie Gbagbo. Wenn nicht gar mehr. Das Ziel – die von den Tel versprochene Belohnung. Wir werden sie uns verdienen, dachte Gbagbo überzeugt. Und diese Zuversicht schien sich auf den Wer zu übertragen. Ein grausames Lächeln bildete sich um seine Mundwinkel. Es dauerte nur kurze Zeit, bis der Rechnerverbund die Bestätigung gab, daß alle Sprungdaten mehrfach überprüft und für absolut korrekt befunden worden seien. »Beschleunigen!« befahl der Kommandant der Armada. Und wenig später: »Transition!« * Marschall Bulton verteidigte seine Maßnahmen vor Henner Trawisheim, Ren Dharks Stellvertreter auf Terra. Trawisheim war ein schlanker Mann mit sensiblen Zügen. Sein dunkles Haar trug er kurzgeschnitten. Daß er ein geistiger Cyborg war, einer, der nie etwas vergaß, was er je gesehen, gehört oder an Wissen und Fertigkeiten erlernt hatte, sah man ihm äußerlich nicht an. Aber jedes Wort, jede Geste drückte seine überragende Intelligenz aus. Trawisheims IQ lag bei 274. Der von Bulton befand sich deutlich darunter, und dennoch gehörte der Chef der Terra-Verteidigung zu den wenigen Menschen, die in Trawisheims Gegenwart – und sei es nur via Bildsprechverbindung – nicht vor Ehrfurcht erstarrten. Bulton war von seinen eigenen Fähigkeiten überzeugt. Und er wußte, daß diese Talente anerkannt wurden – auch von einem Geistesriesen wie Trawisheim. »Eylers ist ein guter Mann«, reagierte Bulton gerade auf den Vorwurf, sich den durchaus logischen Argumenten der GSO zu
verschließen, »und ich weiß, daß Schanghai ein wichtiger Knotenpunkt im planetenweiten Netzwerk unseres NogkSchildes ist. Aber ich weiß auch, daß jeden Moment zweitausend Feindraumer aus dem Hyperraum brechen und irgendwo materialisieren können. Die Warnung, die uns von Cromar erreichte, spricht davon, daß diese Tel-Flotte Terra angreifen will. Aber wo genau wird sie materialisieren? Bis das klar ist, halte ich mir lieber alle Optionen offen – und das setzt voraus, daß ich unsere Kräfte sinnvoll auf und über Terra massiere. Und wenn Sie das nicht einsehen wollen, Trawisheim, ist Ihr IQ seit dem Gespräch mit Eylers um mindestens hundert Punkte gesunken!« Bulton holte tief Atem. Er erwartete Trawisheims Retourkutsche – was er nicht erwartete, war, daß Trawisheim lächelte und schlicht fragte: »Welche Maßnahmen haben Sie getroffen?« Bulton blinzelte kurz irritiert, dann antwortete er mit fester Stimme, die jedoch deutlich leiser geworden war: »Die 823 ehemaligen Giant-Raumer, die unseren Verbänden angehören, wurden von mir in weitem Abstand locker kugelförmig um Terra gruppiert.« »Was ist mit den S-Kreuzern – im Sol-System verfügbar sind momentan 411, wenn meine Informationen nicht trügen?« »Sie trügen nicht. Ich habe sie in sechs Einsatzgruppen zu je 60 Schiffen über das System verteilt. Der Rest, 51, bilden auf Höhe der Mondbahn eine strategische Eingreifreserve. Je ein 60iger-Kontingent wird über Terras Nord- und Südpol stationiert, die vier anderen in gleichmäßigem Abstand über dem Äquator. So können fünf Gruppen jeweils direkt dem Feind entgegenfliegen, aus welcher Richtung auch immer er kommen mag.« »Ich halte diese Strategie für sehr ausgewogen«, sagte Trawisheim. »Andererseits hat auch Eylers nicht ganz Unrecht, wenn er Schanghai als Schlüsselposition ansieht. Die Robonen
werden den Schildgenerator vernichten oder abschalten, wenn wir die Station nicht rechtzeitig zurückerobern. Warum entsenden Sie keine Bodentruppen?« »Weil ich auch die Bodentruppen gleichmäßig über den Planeten verteilt habe«, erwiderte Bulton. »Schanghai kann auch eine Finte sein, um uns zu zwingen, alle Kräfte dort zu massieren. Der Nogk-Schirm ist kein Wunderwerk. Und zweitausend Feindschiffe können unter widrigen Umständen überall eine genügend große Lücke schießen, um eigene Bodentruppen absetzen und dann...« Bulton machte eine kurze Kunstpause »... dann möchte ich nicht der Verantwortliche für das Blutbad sein, das unter der Zivilbevölkerung angerichtet wird!« »Verstehe.« Trawisheim nickte. »Ich will Ihre taktischen Maßnahmen auch nur insofern kritisieren, daß ich der Meinung bin, es hätte sich ein ausreichend großes Kontingent auch für Schanghai abstellen lassen. Die Dringlichkeit gebietet es eigentlich, dort Brände zu löschen, wo sie zuerst entstehen – oder sehe ich das völlig falsch?« Bultons Backenknochen mahlten. Aber er schwieg. Und Trawisheim fuhr fort: »Allerdings hat Eylers sich zwischenzeitlich, wie er sagt, selbst geholfen – improvisiert...« »Improvisiert?« Bulton mochte es nicht, als Buhmann dargestellt zu werden. Auch wenn Trawisheim und Eylers, wie er einräumen mußte, nicht völlig Unrecht hatten. »Er hat sich an Wallis Industries gewandt, an Wallis persönlich. Der und sein Großhirn Robert Saam sind schon dabei, ihm das zukommen zu lassen, was Sie ihm versagten.« »Soldaten?« Bulton starrte Trawisheim nur ungläubig an. »Roboter«, korrigierte Dharks Stellvertreter. Bultons Mundwinkel sanken nach unten. »Spielzeuge«, knurrte er abfällig.
Worauf Trawisheim den Kopf schüttelte. »Hoffen wir, daß Sie zumindest mit dieser Ansicht völlig daneben liegen, werter Marschall!« Bulton wollte etwas erwidern. Doch in diesem Augenblick erreichte ihn die Meldung: »Gefügeerschütterungen! Sie wollten sofort informiert werden, Sir!« Die Stimme drang aus einem Nebenanschluß. »Wo liegt das Zentrum der Erschütterungen?« Auch Trawisheim hörte die Antwort aus dem Lautsprecher: »Nur zwei Lichtminuten von Terra entfernt – über der Nordhalbkugel... o mein Gott, wir müssen Filter vor die Taster schieben... es hört gar nicht mehr auf. Das – das ist die Flotte, die uns angekündigt wurde...!« * Sie waren »senkrecht« ins Sol-System transitiert. Von »oben« also, betrachtete man die Sonne und die sie umlaufenden Trabanten als auf einer Ebene gelagerte Ringe. Nur so war ein Sprung in dieser Präzision möglich gewesen – eine Leistung, die Wer Bol Gnun mit Stolz erfüllte. »Das Ende eurer Freiheit ist nah, ihr arroganten weißen Affen!« murmelte er leise, die Fäuste geballt. Nur Owo Gbagbo, der ihm am nächsten stand, hörte ihn. Weiße Affen, dachte der Robone. Betrachtet er auch uns als solche? Sind wir für ihn vielleicht auch nicht mehr als... Er führte den Gedanken nicht zu Ende. Zu vieles stürzte von allen Seiten zugleich auf ihn ein. Auf ihn und jeden, der sich an Bord eines der Doppelkugelraumer befand. Die Armada formierte sich, kaum daß der Hyperraum sie ausgespien hatte. Nahm Fahrt auf. Kurs Terra. Die Heimat der »weißen Affen«.
Drei ehemalige Kugelraumer der Giants, die das Pech hatten, im unmittelbaren Materialisationsgebiet zu kreuzen, wurden mit einem geballten Feuerschlag vernichtet... * »Die Station ist fest in unserer Hand!« meldete der Robone, der in den Raum stürmte – das Herz der Generatorstation. Scholf winkte ihn zu sich. Er legte dem Atemlosen die Hand auf die Schulter. Es war eine Geste, die ihm selbst nichts bedeutete, aber er wußte, wann ein guter Zeitpunkt war, seine Mitstreiter mit geringsten Mitteln optimal zu motivieren. »Ich wußte, daß wir es schaffen. Ich wußte, daß ihr mich nicht enttäuscht.« Mit diesen Worten entließ er den Mann, der sich noch kurz in der Steuerzentrale umsah, und dann den kreisrunden Raum wieder verließ. Gut zwei Dutzend hochspezialisierte Robonen hatten in den letzten Minuten unter Zeitdruck die Möglichkeit geschaffen, daß der Generator auf Scholfs Befehl hin binnen weniger Sekunden abgeschaltet werden konnte. Und eine kleinere Gruppe von drei Mann umringte eine mitgebrachte Hochleistungs-Sende-/Empfangsanlage. Scholf blickte auf seine Uhr. Der vereinbarte Moment war gekommen . »Senden!« befahl er. Der vorbereitete Spruch, in dem den Tel mitgeteilt wurde, daß sich die Station sicher in der Hand ihrer Verbündeten befand, verließ die Antenne und durchdrang den noch erdumspannenden Schild. Die Antwort ließ nicht auf sich warten. Bis zuletzt hatten Scholf leise Zweifel geplagt. Er zweifelte an allem, was er nicht selbst beeinflussen konnte. Nun nicht mehr.
»Abschalten!« schrie er, und seine Stimme drohte zu kippen. So nah. So nah waren sie dem totalen Triumph... und der versprochenen Belohnung...! »Sofort abschalten!« * Es ist also passiert, dachte Bulton, der sämtliche Operationen von Cent Field aus steuerte und überblickte. Von überall auf der Welt ging ein steter Fluß von Informationen ein. Und von überall aus dem Sonnensystem. Schanghai hat sich aus dem Verteilerwerk der Nogk-Feldgeneratoren ausgeklinkt. Die Schwachstelle ist da. Hätte ich sie verhindern können? Hätte ich sie verhindern müssen? Auch die kurzen Selbstzweifel ließen ihn kein Jota von seiner vorbereiteten Strategie abweichen. Er würde genauso vorgehen wie mit Trawisheim besprochen. Indes stießen die zweitausend Tel-Schiffe in Keilformation auf Terra zu. Bulton nahm Kontakt zu drei seiner Ringraumer-Staffeln auf. Sofort gingen 180 S-Kreuzer auf Abfangkurs, um die feindliche Armada in ihrem Vorwärtsdrang aufzuhalten. Für die Kommandanten der Tel-Schiffe – insbesondere für ihren obersten Führer – mußte es wie ein selbstmörderischer Akt anmuten, sich seiner gewaltigen Machtansammlung mit einer solch geringen Zahl von Schiffen entgegenstellen zu wollen. Er wußte nichts von dem Novum, das die S-Kreuzer auszeichnete. Vollgetankt! – Was hätte er mit diesem Begriff wohl auch verbunden? Gewiß keine tödliche Bedrohung für seine Armada.
Bulton hatte sich mit seinem engsten Stab umgeben und vernetzt. Sofort nachdem er den drei Staffeln die Einsatzorder erteilt hatte, ließ er einen Komm-Kanal zur Tel-Flotte öffnen. »Ich warne Sie, Wer Bol Gnun! Stoppen Sie, oder Sie werden vernichtet! Dies ist die letzte Warnung. Für Ihre Antwort bleiben Ihnen genau zehn Sekunden!« Es erfolgte keine Antwort. Statt dessen meldete die Ortung, daß zwischen Tel-Flotte und der Generatorstation Schanghai verschlüsselte Sendungen hin- und hergingen. »Sie melden Vollzug«, murmelte Bulton. »Diese verdammten robonischen Aufrührer brüsten sich mit ihrem Erfolg!« Die Zehnsekundenfrist verstrich. Bislang hatten sich die S-Kreuzer mit einfacher Impulsgeschwindigkeit auf die Armada zubewegt. Jetzt, wie auf Kommando, gingen sie plötzlich auf Vollschub. Eingehüllt in ihre Intervallfelder demonstrierten sie eine nie gesehene Wendigkeit, stoben jäh auseinander und entgingen so den ersten Schüssen, die von der Tel-Flotte abgefeuert wurden. Einige Strahlbahnen streiften die künstlichen Welträume, in die sich die Ringschiffe gehüllt hatten, brachten sie aber nicht einmal zum Aufflackern. Gleichzeitig feuerten die Kreuzer zurück. Selbst die mächtigsten Großkampfschiffe der Tel hatten den Wunderwerken aus M-Fertigung in ihrem neuen Vollbetriebsmodus kaum etwas entgegenzusetzen. Die Schwärze des Alls wurde in Farben aufgespalten. Schwachblaue Strich-Punkt-Strahlen – olivgrüne Duststrahlen – rosa Nadelstrahlen...! Die S-Kreuzer feuerten die ganze Bandbreite ihrer Waffensysteme ab. Und rissen eine Schneise der Verwüstung in die telsche Keilformation.
* Die Schwachstelle im globalen Energieschild Terras war glutrot markiert auf jedem Schirm, in jedem Kommandostand der Armada. Wer Bol Gnun achtete kaum darauf. Er war wie benommen. 180 Ringschiffe des bekannten Typs waren ihnen entgegengeflogen, als wollte eine Mücke einen ausgewachsenen Tel erlegen. Doch nun... »Schadensbilanz!« Seine Stimme bellte rauh durch den Raum. Owo Gbagbo duckte sich, obwohl er weder angesprochen war noch anderweitig die Aufmerksamkeit des Wer auf sich spürte. Owo Gbagbo, der Robone, hatte nur noch Augen für die rot markierte Fläche im blaßgrau hervorgehobenen Energieschirm um Terra. Dort lag das Portal. Das Tor, durch das die Armada den Schirm »unterfliegen« und sich die Welt der Terraner unterwerfen würde! Würde sie? Auch Owo Gbagbo hatte Ohren, und so hörte er, wie Bol Gnuns Frage mit den Worten beantwortet wurde: »Schwerste Verluste an den Rändern unserer Formation!« »Wie viele?« »Hunderte...« »Hunderte?!« »Die Formation kann nicht länger gehalten werden...« »Feindverluste?« »Die Meldungen sind widersprüchlich...« »Wie viele?« »Ich fürchte... bisher kein einziger...« »Kein einziger?«
Selten... nein, nie hatte Owo Gbagbo den Tel Bol Gnun so außer Fassung erlebt wie in diesen Momenten, in denen sich der erwartete Triumph in ein Desaster zu verwandeln drohte. Aber wie war das möglich? Auch Owo Gbagbo hatte nur 180 Feindschiffe gezählt – 180 Ringraumer, die sich jedoch mit einer nie dagewesenen Schnelligkeit und Durchschlagskraft gegen die zahlenmäßig hochüberlegene Armada gewandt hatten! Die Ringschiffe der Terraner waren für ihre Stärke bekannt – aber so stark waren sie doch auch nicht! Was war geschehen? Welche Teufelei war den Terranern eingefallen, die Invasion abzuwehren? Owo Gbagbo glaubte nicht an Hexerei. Aber er glaubte an Fakten. Und schließlich konnte auch er nicht länger den Blick gebannt auf das markierte Tor halten, das sich noch nicht wirklich geöffnet hatte, sondern nur die Stelle kennzeichnete, an der es nur eines vergleichbar geringen Aufwands bedurfte, eine Lücke zu reißen. »Tun Sie etwas!« schrie Owo Gbagbo den Wer an. Und Bol Gnun tötete ihn für diesen respektlosen Ausbruch nicht einmal auf der Stelle. Bol Gnun war von seinem Sitz aufgestanden und wirkte wie mit dem Metall des Bodens verschmolzen – selbst ein Klotz aus schwarzem Eisen. Seine erste Fassungslosigkeit verwandelte sich in Entschlossenheit. In pures Handeln. Owo Gbagbo konnte nur mit offenem Mund zusehen und staunen, wie Bol Gnun plötzlich wieder die verlorenen Fäden der Offensive an sich riß und seine Armada neu ordnete, neu ausrichtete, mit neuen Befehlen ausstattete... Noch ist nichts verloren, dachte der Robone. Doch dann hörte er, wie Bol Gnun den Befehl gab: »Armadaspitze: Öffnet den Schirm! Gebündelter
Dauerbeschuß auf die markierte Stelle! Wir fliegen ein! Zerstört, was zu zerstören ist – bis sie ihre Waffen strecken...!« Vielleicht hörten es die anderen Tel nicht heraus – aber Owo Gbagbo hätte in diesem Moment geschworen, daß Bol Gnun nicht mehr an das eigene Entkommen aus dieser Schlacht glaubte. Er redete wie einer, der ein Himmelfahrts-, nein ein Selbstmordkommando ein letztes Mal nach vorn peitschte... * Die Jetts trafen ein. Spien Roboterheere aus. Jos Aachten van Haag koordinierte die Aktion aus einer Entfernung von knapp zwei Kilometern vor der Station, die von den Robonen und ihren Anhängern erobert worden war. Terra Command hatte doch noch Truppen abgestellt – spät, aber immerhin. Jos war überzeugt, daß Eylers lange genug interveniert hatte. Auch die ersten GSO-Agenten trafen ein. Der Himmel über Schanghai hatte sich blutrot verfärbt. Ab und zu irrlichterte es vom Widerschein der Gefechte, die im erdnahen Raum geführt wurden. Aus Cent Field kam die Nachricht, daß die Tel-Flotte zwar dramatische Verluste hatte hinnehmen müssen, in diesem Moment aber den Schild über Schanghai »leck« geschossen hatte... Jos spähte nach oben. Er wußte, was das bedeutete: Jeden Moment konnten die ersten Doppelkugelraumer am Himmel auftauchen. Noch entschlossener peitschte er die Blechkameraden von Wallis Industries nach vorn. Die Robonenarmee brandete ihnen wie eine Flutwelle entgegen. Im ersten Moment verstand Jos nicht, warum sich der Gegner nicht weiter in der Anlage verschanzte und ein
Scheibenschießen auf die Wallis-Roboter veranstaltete. Dann dämmerte es ihm: Die Robonen sahen sich in der Mausefalle. Sie wollten heraus, sichere Distanz zwischen sich und die Generatorstation bringen, bevor die Tel-Schiffe in den Bodenkampf eingriffen und ihr Geschützfeuer eröffneten! Oder sie hatten von den herben Verlusten im Weltraum erfahren, und Panik machte sich breit unter ihnen... Egal, was es war: Es kam den Robotern, die mit Saams neuem Kampfprogramm ausgerüstet waren, entgegen. Und doch spürte Jos Aachten van Haag einen Stich im Herzen, als er sah, wie viele sinnlose Opfer der Kampf Maschine gegen Mensch (ja, Mensch! Für ihn waren die Robonen das immer gewesen!) forderte. Die aus dem Gelände der Station strömenden Leiber liefen ins offene Messer. Aus der Ferne betrachtet wirkte es so unwirklich wie die Simulation eines Cyberspiels. Aber der Tod war real. Und er hielt reiche Ernte, denn die Robonen dachten nicht daran, zu kapitulieren und ihren Traum zu begraben... * Trawisheims Stimme dröhnte regelrecht durch den Raum, in dem sich Bulton mit seinem Stab um die Koordination der Angriffe bemühte: »Bulton, Sie alter Fuchs, Sie schaffen es tatsächlich...!« Marschall Ted Bulton gab keine Antwort. Er hörte nicht einmal hin. Die ersten drei Staffeln seiner Abwehrflotte hatten binnen kürzester Frist Hunderte von Tel-Raumern in kleine, schnell expandierende und sich verflüchtigende Sonnen verwandelt. Ein Erfolg – aber noch nicht der Sieg.
Bulton schickte weitere 231 Ringschiffe in die Schlacht – die drei verbliebenen Staffeln und die 51 auf Höhe der Mondbahn in Reserve gehaltenen S-Kreuzer! »Das Flaggschiff!« sprach er die Einheiten gleichzeitig an. »Konzentriert euch auf das Flaggschiff im Kern. Es wurde anhand der ausgehenden Sprüche identifiziert. Hier die Parameter...« Er ließ die neuesten Ortungserkenntnisse auf die S-Kreuzer überspielen. Auch auf dem Schirm, auf dem Bulton die Schlacht verfolgte und führte, glomm ein schockgrüner Punkt auf: das Flaggschiff der Rebellenflotte mit Wer Bol Gnun an Bord. Es bewegte sich fast im Kern der sich allmählich wieder stabilisierenden Formation. Noch unerbittlicher flogen die tofiritbetankten S-Kreuzer ihre Attacken, die längst keinen Nadelstichcharakter mehr hatten, sondern Flächenbrände streuten. Immer näher schossen sie sich dem Flaggschiff. Doch immer näher rückte die verbliebene Armada auch dem Heimatplaneten der Menschen auf den Pelz – und begann, den Schild unter Feuer zu nehmen. Bultons Gesicht wurde grau. Die Orbitalkameras zeigten, wie sich über Schanghai ein Schlund auftat, dessen Ränder von unheilvollen Energien umwabert wurden. Die Lücke, die alle gefürchtet hatten – sie war da! Und selbst wenn nur einige wenige Tel-Schiffe die Passage schaffen sollten, konnte dies das Ende bedeuten. Das Ende von allem... * »Zerstören, was zu zerstören ist?!« Owo Gbagbo trat neben Bol Gnun und rüttelte ihn an der Schulter.
»Da unten sind meine Leute! Sie krümmen ihnen kein Haar, sonst...« »Sonst was?« Wer Bol Gnun war endgültig zum Götzen mutiert. Zum unnahbar Andersdenkenden, Andershandelnden – Fremden. »Wir haben ein Abkommen!« »Sehen Sie sich um, Gbagbo – und dann sagen Sie mir, was Sie sehen!« »Die Verdammten haben ihre Schiffe getunt... irgendwie haben sie ihre Ringraumerflotte aufgewertet, so daß sie selbst in der Unterzahl zu einem übermächtigen Gegner werden, aber... wir haben noch nicht verloren. Da! Das Tor! Das Portal! Es steht sperrangelweit offen, wir brauchen nur noch hindurchzufliegen, und dann...« »Und dann?« »Verheeren Sie meinetwegen jeden Ort Terras – aber nicht die Stelle, an der meine Leute sind!« »Dann teilen Sie Ihren Leuten jetzt mit, daß sie die Station verlassen sollen und daß wir kommen. Die Station ist unser erstes Ziel, sobald wir drinnen sind! Abmachungen ändern sich manchmal, denn Situationen ändern sich.« Es waren die letzten Worte, die Owo Gbagbo von Wer Bol Gnun hörte. Der Tel widmete sich wieder allein der Schlacht. Weitere Ringschiffe tauchten auf, griffen in den Kampf ein. Wieder brachen die Flanken der Formation weg. Owo Gbagbo trat neben den Funkoffizier. »Stellen Sie eine Verbindung zu Scholf her – sofort!« Der Tel gehorchte. Aber in seinen Augen flackerte das nackte Grauen. Kein Schimmer mehr von Zuversicht...
8. Am nächsten Morgen flog Henks Team, zu dem nun auch John Brown gehörte, mit einem großen Transportjett zum Goldenen Menschen. Der Flug dauerte gut eine Stunde und führte zu dem provisorischen Containerlager, das am Fuß derjenigen Pyramide eingerichtet worden war, in der Henk die Sicherungs- und Steuerungsanlagen für den Goldenen entdeckt hatte. Für die kommende Woche war dies das Quartier des Forschungsteams. Von hier aus wurde sowohl in dieser Pyramide gearbeitet als auch am und im Goldenen Menschen, der sich im Zentrum der riesigen Freifläche befand. Auch die kleine Wachmannschaft, die übers Wochenende vor Ort geblieben war, wurde jetzt abgelöst. Immer wieder sah Brown in Richtung des Goldenen. »Wo wollen Sie mich einsetzen, Henk?« erkundigte er sich. »Hier in der Pyramide, oder am Denkmal der Verdammten?« »Unser Job ist der Goldene Mensch«, sagte Henk, der seine Mitarbeiter einteilte und sich durch die Frage Browns gestört fühlte. Einige Forschungsarbeiten waren in den letzten Tagen abgeschlossen worden, die Berichte lagen vor, und die Frauen und Männer konnten an andere Projekte gesetzt werden. Henk mochte diesen organisatorischen Kram nicht besonders, aber als Teamchef blieb er davon nicht verschont. Auch nicht von den Berichten, die er noch zu sichten hatte. Die schob er aber erst mal großzügig zur Seite und wollte sich der praktischen Arbeit widmen. Die Arbeit in der Sicherungspyramide, die er kurz vor dem Angriff der Grakos entdeckt hatte – und das eigentlich nur, weil sie etwa einen Kilometer näher am Goldenen errichtet worden war als die anderen Städte – reizte ihn nicht, und als Chef konnte er sich aussuchen, wo er selbst tätig werden
wollte. Diese Pyramidenstadt, die keine Stadt war, sondern eine Ansammlung unglaublicher M-Technik, die aber seit dem Hyperraumblitz nicht mehr funktionierte, war für ihn eher nebensächlich. Faszinierend fand er, daß sich der Goldene dennoch von hier aus hatte aktivieren lassen, aber mittels Gianttechnik, der eine eigene große Abteilung gewidmet war. Während einige kleine Teams an dieser von der galaktischen Katastrophe nicht betroffenen Gianttechnik arbeiteten, widmete Henk de Groot seine Zeit dem Gegenstück, dem Goldenen, der trotz der M-Artefakte ebenfalls ein Produkt der Gianttechnik war. Daß die Giants, diese Rasse von Bio-Robots, ein Produkt der Mysterious waren, war längst bekannt, aber auch, daß sie ihre eigene Technologie entwickelt hatten, welche sich von der ihrer Schöpfer grundlegend unterschied. Nur war diese eigene Technologie wesentlich primitiver als die der Mysterious. Das hatte sie zwar davor bewahrt, von dem Hyperraumblitz für alle Zeiten zerstört zu werden, aber warum die Mysterious auf einem ihrer Planeten ausgerechnet die »Primitivtechnik« ihres Hilfsvolkes verwendeten, war und blieb ein unlösbares Rätsel. Vor tausend Jahren waren die Geheimnisvollen aus der Milchstraße spurlos verschwunden, aber vorher, als sie ihr gewaltiges Imperium noch kontrollierten, hatte doch keiner von ihnen ahnen können, daß es in ihrer Zukunft einmal zu diesem unglaublichen Fiasko kommen würde! Oder waren sie Präkogniter gewesen, Parabegabte, die in die Zukunft schauen konnten, und hatte ihr galaxisweiter Funkbefehl »ron wedda wi terra« dafür gesorgt, daß auch der letzte von ihnen garantiert rechtzeitig fliehen konnte, tausend Jahre vor der Katastrophe? Das hätte aber auch impliziert, daß die Mysterious ein Versteck kannten, das ihnen Sicherheit bot. Aber wenn das Wissen über die Zukunft der Grund war, und wenn nicht einmal die gigantomanische Superwissenschaft der Mysterious, die ganze Sonnensysteme in der Galaxis
verschoben hatten, in der Lage war, eine rettende Lösung zu finden, gab es dann überhaupt noch den Hauch einer Chance für die Menschen und die anderen Milchstraßenvölker? Ich dreh' noch durch, wenn ich weiter darüber grübele, bremste sich Henk selbst, der sich keinen Anfall von Paralipophobie gestatten wollte. (Paralipophobie: Zwangsvorstellung, daß die Unterlassung bestimmter Handlungen Unheil bringe.) »Sie kommen mit mir, John«, wandte er sich an Brown, in dessen Augen er wieder ein rätselhaftes Funkeln zu sehen glaubte. Mit einem kleineren Jett flogen sie zum Goldenen Menschen hinüber. Brown starrte ihn fasziniert an. Je näher sie kamen, desto mehr mußte er den Kopf zurücklegen, um die Spitze dieser Gigant-Skulptur sehen zu können. 7.236 Meter hoch war sie. Ohne Sockel. Der war noch einmal 1.062 Meter hoch und aus dem gleichen Material gefertigt wie die Statue, die auf einem mehr als fünfzig Kilometer durchmessenden Platz stand, einer kreisrunden, unitallblau schimmernden Fläche. Die war nicht überall sauber. Stellenweise hatten Erdverwehungen den Boden zugedeckt, und an einigen Plätzen standen sogar Baumgruppen, deren Blätter im leichten Wind rauschten. Erst als sie so nahe heran waren, daß es beim besten Willen nicht mehr möglich war, den kompletten Goldenen Menschen zu betrachten, wandte Brown seine Aufmerksamkeit dem Sockel zu. Der zeigte ihnen seine geschlossene Front. »Wie kommen wir da hinein? Ich denke, die Technik der Erbauer funktioniert nicht mehr. Dieser Sockel sieht aber nicht danach aus, als entstamme er der Technik der All-Hüter.« Plötzlich glaubte Henk, in Brown einen Robonen zu erkennen, weil doch kaum ein Terraner die Giants »All-Hüter« nannte, aber die Robonen verehrten dieses Halbrobotervolk geradezu abgöttisch. In robonischen Eigenschaften glaubte
Henk in diesem Moment auch die Erklärung dafür zu finden, daß Brown seine Verletzungen so unwahrscheinlich schnell ausgeheilt hatte. Unwillkürlich rückte er auf seinem Sitz etwas von Brown ab, weil er fürchtete, sich mit diesem ein Kuckucksei ins eigene Nest gelegt zu haben, aber dann lachte Brown schallend auf, als Henk ihm seine Frage stellte. »Ich ein Robone? Henk, Robonen sind doch Menschen wie Sie. Zwar mögen sie vielleicht wesentlich reaktionsschneller sein, aber ihr Heilfleisch ist auch nicht besser als das von Terranern, weil doch beide dem gleichen Volk entstammen, nur leugnen das die Robonen ab... wenn bei mir Verletzungen angeblich schneller als bei Ihnen heilen, müßte ich doch eher ein Cyborg sein als ein Robone!« »Gestern haben Sie behauptet, von Cyborgs nichts zu wissen...« »Haben Sie mir nicht daraufhin selbst von ihnen erzählt?« konterte Brown. »Man ist ja lernfähig... und wenn Sie mir vorwerfen, daß ich die Giants All-Hüter nenne, ist das lächerlich. Henk, wußten Sie, daß kein anderes uns bekanntes Volk der Milchstraße eine andere Bezeichnung für diese Biostrukte hat als ›All-Hüter‹? Nur die Terraner nennen sie alternativ Giants!« Dafür hatte Henk sich nie interessiert. Als einer von vielen Millionen Menschen, die während der Giant-Herrschaft stumpfsinnig dahinvegetiert hatten, war er froh, wenigstens überlebt zu haben und konnte diesen raubtierköpfigen Geschöpfen keine Sympathie entgegenbringen. Wie andere Sternenvölker diese unmenschlichen Ungeheuer, die sich andererseits extrem liebevoll den von ihnen manipulierten Robonen gewidmet und damit der terranischen Menschheit einen so unheimlichen wie überflüssigen Feind geschaffen hatten, nannten, war ihm völlig egal. Und er war auch nicht daran interessiert, weiter mit Brown über dieses Thema zu diskutieren. Ihm war es sogar beinahe
gleichgültig, ob der wirklich ein Robone war oder nicht, solange Brown ihm keinen Schaden zufügte, aber nicht gleichgültig war ihm, wie die Behörden darauf reagieren mochten. Eventuell bekam Henk dadurch Schwierigkeiten, weil die »wahren Menschen«, wie sie sich selbst nannten, zumindest auf Terra in letzter Zeit vorwiegend durch Terrorismus aufgefallen waren. Zumindest bis zum Tag von Henk de Groots Auswanderung nach Babylon. Von der aktuellen Entwicklung wußte er noch nichts. »Wie wir da hineinkommen?« griff er Browns anfängliche Frage wieder auf. »Da gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine ist eine Transmitterverbindung zwischen dem Goldenen und der Sicherheitspyramide...« »Warum haben wir die nicht genutzt?« fragte Brown; er schien tatsächlich etwas verärgert zu sein. »Das wäre doch wesentlich schneller gegangen...« »Weil ich diesen Jett am Goldenen stationiert haben wollte«, erwiderte de Groot. »Und weil ich Ihnen den imposanten Anblick der Figur während des Anflugs nicht vorenthalten wollte, John. Sie scheinen es ja verdammt eilig zu haben, in den Goldenen zu gelangen.« »Verdammt«, echote Brown, »das ist es wohl. Alle in dieser Galaxis sind verdammt zum Sterben, wenn es nicht eine Möglichkeit gibt, das Verhängnis aufzuhalten.« »Und Sie glauben, ausgerechnet Sie könnten das Zünglein an der Waage sein, das den Ausschlag für die Rettung gibt?« fragte de Groot. Brown zuckte mit den Schultern. »Sie, Henk, waren das Zünglein an der Waage, um die Grakos von Fande – von Babylon zu vertreiben. Ich habe nicht den Ehrgeiz, Retter der Galaxis zu werden, aber wenn ich etwas tun kann, will ich es tun, so wie Sie getan haben, was Sie konnten, um Babylon zu retten!«
De Groot schluckte. »Sie machen es mir nicht gerade einfach, Vorurteile zu entwickeln.« »Wollen Sie die denn entwickeln?« Henk winkte ab. »Die andere Möglichkeit, ins Innere des Goldenen zu kommen, zeige ich Ihnen gleich«, wich er aus. Der Jett landete, und die beiden Männer stiegen aus. Während der Pilot die Maschine ein Stück weiterflog, um sie zu parken, näherten sich de Groot und Brown dem Sockel. Die Jetts mit den anderen Forschungsteams waren noch nicht eingetroffen; sie würden in ein paar Minuten auftauchen. Im nächsten Augenblick veränderte sich das Aussehen des Sockels vor ihnen! Lautlos öffnete er sich und legte dabei ein gigantisches Portal frei! Dahinter strahlte eine gewaltige Halle in kaltem Blaulicht, wie es für die Mysterious typisch war. Gewaltige Vitrinen, die breite Straßen bildeten und von denen manche bis zu hundert Meter lang waren, spiegelten dieses Licht wider, aber dieser Anblick irritierte, weil es keine Möglichkeit gab, vom Portal aus direkt den Vitrinensaal zu erreichen. »Das Portal ist so etwas wie der Abstrahlbereich eines giantischen Biosenders«, erklärte Henk, »der den Eintretenden zunächst in den Kopf des Goldenen versetzt.« Mit diesem Begriff konnte Brown nichts anfangen. »Ein Biosender arbeitet ähnlich wie ein Transmitter, ohne einer zu sein«, erklärte Henk. »Das Prinzip ist anders und die Reichweite stark begrenzt. Über diese Technik wissen wir praktisch nur, was Arc Doorn protokolliert hat, als man auf Robon die zerstörten Reste eines solchen Biosenders fand, den der CAL der Giants benutzt hatte. Das hier ist erst das zweite bekannte Exemplar, und wir haben noch nicht die Zeit gefunden, seine Wirkungsweise zu erforschen.« »All-Hütertechnik also?« fragte Brown. »Die scheinen ja eine Menge neuer Dinge erfunden zu haben...«
Henk zuckte mit den Schultern. Er fuhr fort: »Aus dem Kopf des Goldenen führen A-Gravschächte wieder nach unten, in einer der Vitrinen, die wir von hier aus sehen, aber nicht direkt erreichen können, gibt es eine Transportplattform, die in die unterirdischen Anlagen führt. Auch das seltsamerweise alles Gianttechnik und nicht die der Mysterious. Immerhin: Da unten gibt es noch jede Menge zu entdecken, und genau deshalb sind wir hier.« John Brown schüttelte den Kopf. »Das Verfahren, hineinzukommen, finde ich recht merkwürdig, wo es doch ein offenes Portal gibt! Ich habe da eine Idee, die ich gern ausprobieren würde.« »Was ist das für eine Idee?« fragte Henk mißtrauisch. Brown lächelte. »Es ist noch eine andere Möglichkeit, ins Innere des Goldenen zu kommen, ich zeige sie Ihnen gleich«, benutzte er Henks Wortwahl von vorhin. »Dazu brauche ich aber noch ein wenig Ausrüstung. Woher bekomme ich die?« De Groot sah ihn nachdenklich an. »Sagen Sie mir, was Sie brauchen«, schlug er vor. Brown listete auf, was er zu benötigen glaubte. Henk nickte und forderte den tragbaren Suprasensor und die anderen Geräte über Vipho an. Es paßte, daß das letzte Team sich noch im Containerlager befand. Der Jett, mit dem die Wissenschaftler kamen, brachte das Gewünschte mit. Brown konnte mit seinem Experiment beginnen. * Die anderen machten sich sofort nach ihrer Ankunft wieder an ihre Arbeiten. Durch das offenstehende Portal gingen sie in das Feld des Biosenders und waren erst einmal verschwunden. Nur Henk und John blieben vor dem Portal zurück. John Brown überlegte nur kurz, dann ging er unter Henks mißtrauischem Blick ans Werk. Erstaunt verfolgte der
Teamchef, wie Brown mit einem kleinen Hohlraumspürer den blauen Bodenbelag des Platzes vor der Statue untersuchte. Schon nach einigen Minuten behauptete er: »Da ist etwas, John, wie ich es vermutet habe. Können Sie mir einen RodaDrill besorgen?« Etwas fassungslos schüttelte Henk den Kopf. »Woher soll ich den nehmen? Bin ich ein Zauberer? Ich weiß ja nicht mal, was das für ein Tier ist und ob man's essen kann...« »Es handelt sich um ein Gerät, mit dem man Kleber lösen kann, welche die«, er holte kurz Luft, »Erbauer dieser Anlage verwenden.« »Woher wissen Sie das?« »Ich habe mich schon seit längerem mit allen greifbaren Veröffentlichungen über M-Technik beschäftigt«, erwiderte Brown. »Können Sie mir nun einen Roda-Drill besorgen oder nicht?« Henk seufzte. »Sagten Sie gestern nicht, Sie hätten keine spezielle Qualifikation, sondern auf der Erde eine kleine Werkstatt für suprasensorgesteuerte Hausgeräte und dadurch umfassendes technisches Wissen? Dieses Wissen scheint mir mittlerweile sehr umfangreich zu sein!« »Haben Sie keine Hobbys?« konterte Brown gelassen. »Ich schon – mich interessiert diese Technik eben sehr, deshalb habe ich mich sehr intensiv um entsprechendes Wissen bemüht. Deshalb war ich auch so begeistert, als Sie mir anboten, hier mitzumachen.« »Warum haben Sie Ihr Wissen nicht schon früher angeboten?« »Mich hat keiner gefragt, Henk«, seufzte John. »Sie sind der erste, der mir in dieser Hinsicht eine Chance bot. Bekomme ich die auch weiter? Dann brauche ich, wenn Sie mir schon keinen Roda-Drill zur Verfügung stellen können, etwas anderes. Die stärkste Säure, die auf Fande... Babylon verfügbar ist, und wenn ich sage, die stärkste, meine ich das auch.«
»Königswasser«, überlegte Henk. »Was ist das?« »Eine Mischung aus konzentrierter Salz- und Salpetersäure: drei Volumenteile Salzsäure, ein Volumenteil Salpetersäure.« »Bitte die chemischen Formeln«, hakte Brown nach, als habe er von Salz- und Salpetersäure noch nie etwas gehört. Er kramte die verdrängten Formeln aus seinem Gedächtnis hervor, und Brown nickte zufrieden: »Genau das brauche ich.« Er forderte noch einige zusätzliche Geräte an. Daraus baute er sich eine Art Pumpe für das Königswasser, die mit einem Feld- und einem Schallgenerator gekoppelt war, die er manipulierte. Als das Gerät fertig war, sprühte er eine kleine Menge der Säure auf den unitallblauen Bodenbelag. Der Feldgenerator erzeugte hyperfrequente Schwingungen, die die Moleküle der Säure anregten. Zusätzlich versetzten die Schallwellen die Säure in Schwingung. Verständnislos verfolgte Henk das Geschehen. Er war selbst kein Chemiker und konnte nur staunen. John Brown dagegen wußte offenbar sehr genau, was er tat. Ein Mann, der auf der Erde nur mit suprasensorischen Haushaltsgeräten gearbeitet hatte? Hobby hin oder her, der Bursche flunkert mir doch was vor! befürchtete Henk. Das war die innere Stimme des mißtrauischen Terraners. Die Stimme des neugierigen Forschers dagegen raunte ihm zu: Was soll's? Wichtig sind doch nur die Erkenntnisse, die wir durch diesen Mann gewinnen können! Sagte man nicht auch dem legendär-genialen Arc Doorn nach, daß er absolut keine technische Ausbildung genossen hatte? Und trotzdem verdankte Terra gerade diesem Arc Doorn die Möglichkeit, MTechnik nutzen zu können! Vielleicht war John Brown ein zweiter Arc Doorn? »Was tun Sie da?« fragte Henk.
John winkte ab. Konzentriert bediente er sein zusammengebasteltes Gerät. Plötzlich fraß sich ein feiner Säurestrahl durch das Metall – und zwar an einer Stelle, an der es offenbar mit M-Adhesives fugenlos und unsichtbar verklebt war. Das Unitall selbst wurde nicht angegriffen, nur die M-Adhesives wurden gelöst. Auf diese Weise legte John eine Platte von etwa einem Meter Kantenlänge frei. Die allein mit Muskelkraft anzuheben, war unmöglich. Dafür war das Unitall mit seinem spezifischen Gewicht von 28,45 kg erheblich zu schwer. Ein Antigravheber mußte her. Der schaffte es, die aus dem Kunstmetall der Mysterious bestehende Platte zu liften. Darunter befand sich eine kleine Kammer mit einer Dateneingabevorrichtung. Henk wollte in die Kammer steigen, aber John stoppte ihn mit einer schnellen Handbewegung. »Das ist nun wirklich mein Metier«, grinste er Henk an. »Können Sie mir den Suprasensor nach unten reichen?« Und schon befand er sich in der Kammer. Es gelang ihm, den tragbaren Suprasensor mit der Dateneingabe zu koppeln. Wie er das schaffte, begriff Henk erst nach längerem Nachdenken. Offenbar war Brown tatsächlich ein Genie – oder ein Hightech-Spezialist, der alles versuchte, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, nur konnte sich der Ingenieur keinen vernünftigen Grund dafür vorstellen. Browns Finger flogen über die Tasten. Einige Male löschte er seine Eingaben wieder, knurrte verschiedentlich recht böse und sprang plötzlich auf. Begeistert kletterte er wieder nach oben. »Geschafft«, stieß er hervor. »Der Kode ist geknackt. Sehen Sie...« Er lief auf das Portal zu und verschwand darin – nein, er verschwand nicht. Statt dessen sah ihn de Groot jetzt gemütlich
in die Vitrinenhalle hineinschlendern, die bis zu diesem Moment auf direkte Weise nicht erreichbar gewesen war! Brown kam wieder zurück. »Schätze, Sie und Ihre Leute werden sich nun ein wenig umgewöhnen müssen«, sagte er. »Der Biosender der All-Hüter ist abgeschaltet. Wer ab jetzt in den Kopf der Statue will, kann das nur noch mittels der Antigravschächte. Das dürfte einiges gewaltig vereinfachen. Rein und raus ab jetzt zu ebener Erde...« * Henk verhehlte seine Begeisterung ebensowenig wie die anderen aus seinem Team, die diese Vereinfachung wirklich zu schätzen wußten. Nach seinem anfänglichen Triumph gab sich Brown verblüffend bescheiden und versuchte seine Leistung herunterzuspielen, aber nicht nur Henk äußerte die Vermutung, der Neue müsse schon mit M-Technik in Berührung gekommen sein. »Wie sonst kommt man auf die Idee, eine Steuerung außerhalb der Anlage zu suchen, und noch dazu im Boden versteckt? Heimtückische Mysterious... der Teufel soll sie holen!« »Nur, wenn Sie mit dem Teufel nicht die Grakos meinen«, erwiderte Brown etwas pikiert. »Wenn Sie selbst schon mal mit der Technik der Erbauer dieser Anlage zu tun gehabt haben, sollten Sie wissen, daß ungewöhnliche Problemlösungen präferiert wurden. Die Mysterious hatten Feinde. Warum sollten sie ihre Geheimnisse offenbaren? Wo sie sie versteckten, sucht normalerweise niemand.« »Aber Sie, John...« »Wie jeder, der sich einigermaßen in die Mentalität dieses großartigen Volkes hineindenken kann. Aber wer schafft das schon? Nicht einmal die Nogk oder die Grakos haben das
wirklich gekonnt. Scheinbar sind nur Terraner dazu in der Lage...« Henk de Groot seufzte. Brown hatte doch recht! Auch nicht die Tel, die in der Sternenbrücke, auf Dockyard und vermutlich auch noch auf anderen Planeten Mysterioustechnik vorgefunden und sie sich angeeignet hatten, verstanden diese Technologie wirklich. Erst die Terraner hatten gelernt, diese Supertechnik ansatzweise zu begreifen und sie auch nachzuvollziehen – die Transmitter, über die Terra verfügte, entstammten ursprünglich der M-Technik, wie auch die MTriebwerke den terranischen Tofirit-Ringraumern wie der TERRA oder der EUROPA angepaßt werden konnten. Henk hieb John Brown die Hand auf die Schulter. »Wie auch immer«, sagte er begeistert, »wenn das erst Ihr Einstieg in unser Team war, freue ich mich wie ein Schneekönig, Sie dabeizuhaben! Machen Sie ruhig noch ein paar dieser Entdeckungen...« Brown zog sich in den Hintergrund zurück. Einer der anderen Wissenschaftler erinnerte daran, daß dies nicht der einzige Fall war, in welchem die Mysterious wichtige technische Einrichtungen extern verborgen hatten, um damit vorwiegend Commander Ren Dhark und die Mannschaft seiner POINT OF zur Verzweiflung zu treiben, wenn sie versuchten, auf den Spuren der Geheimnisvollen vorwärtszukommen und deren Rätsel zu lösen. Aber für Henk erklärte das längst noch nicht, wie John Brown dermaßen schnell auf die richtige Idee gekommen war. Dazu bedurfte es der Intuition eines Ren Dhark und eines Arc Doorn zusammen. Brown war und blieb für de Groot ein wandelndes Rätsel. Er wollte nicht gelobt werden und versuchte sich darauf herauszureden, daß er schon immer eine besondere technische Begabung besessen habe, die er jetzt endlich sinnvoll nutzen könne.
De Groot zog ihn mit sich zu dem Apparat, den Brown gebastelt hatte. »Das Gerät könnte uns noch von erheblichem Nutzen sein«, sagte er. »Können Sie uns eine Konstruktionsanweisung zeichnen und schreiben, damit wir es nachbauen können? Der Apparat dürfte auch auf anderen Planeten sinnvoll einsetzbar sein, wo wir eventuell noch auf weitere Hinterlassenschaften der Mysterious stoßen.« Brown sah ihn etwas befremdet an. »Verstehen Sie mich nicht falsch«, bat Henk rasch. »Es ist nicht so, daß ich Ihnen Ihre Idee stehlen will. Wenn Sie den Apparat patentieren lassen, helfe ich Ihnen gern dabei. Springt garantiert 'ne Menge Geld für Sie dabei heraus. Mir geht es aber nicht um die Patentrechte und das Geld, sondern um die Ersetzbarkeit.« »Hm«, machte Brown. Er drehte sich halb um und strauchelte dabei unglücklicherweise, stürzte gegen seine Apparatur, ehe Henk ihn stützen konnte. Die von Brown gebastelte Technik brach auseinander. Henk riß Brown wieder hoch – vielleicht gerade rechtzeitig, denn durch den schweren Fall des 100-Kilo-Mannes, dem man sein Gewicht nicht ansah, wurde auch der Säuretank beschädigt. Das Königswasser trat aus und begann die Fragmente des Geräts zu zerfressen. »Danke«, preßte Brown hervor. »Sie haben wohl den Ehrgeiz, ein Dauerengagement als mein Retter zu bekommen? Ich fürchte, einen Kontakt mit dieser Säure hätte ich weit weniger gut verkraftet als das bißchen Gleiterbus gestern...« De Groot starrte die traurigen, zerschmelzenden und stinkend verdampfenden Reste der Apparatur an. »Verdammt...« »Halb so wild«, versuchte John ihn zu beruhigen. »Das Ding kann ich doch jederzeit nachbauen.« *
Immerhin war keine Säure in die Kammer im Boden geflossen, die jetzt mit einem Zelt provisorisch gesichert wurde. Jemand speicherte die Steuerdaten, die Brown eingegeben hatte, vorsichtshalber auf einem externen Medium, für den Fall, daß noch ein weiterer Unfall geschah. John Brown erfuhr begeisterten Zuspruch, der ihm sichtlich unangenehm war. Die Wissenschaftler waren mehr als erfreut darüber, daß sie jetzt nicht mehr den Umweg über den Kopf des Goldenen machen mußten, wenn sie an ihre Arbeitsstätten wollten, und auch nicht den Umweg über den Transmitter, der sie zwar zur Pyramidenstadt brachte, zu der sie aber nicht immer unbedingt wollten. John betrat wieder den Vitrinensaal. Henk fiel auf, daß John Brown achtlos an den hier ausgestellten, konservierten Fremdwesen vorbeiging, als interessierten sie ihn nicht oder als sei es für ihn ein völlig normaler, alltäglicher Anblick. Aber das konnte es nicht sein. Selbst Menschen, die hier täglich ein und aus gingen, wie auch Henk selbst, waren trotz der relativen Alltäglichkeit der Anlage immer wieder fasziniert. Nun gut, vielleicht lag es an Johns offenkundiger Technikbegeisterung, daß er sich für diese Präsentation nicht interessierte. Henk beschloß, sich angesichts all dessen keine weiteren Gedanken mehr über Brown zu machen. Wichtig war, die Forschung im Goldenen Menschen weiter voranzutreiben.
9. Draußen wütete das totale Inferno. Überall Brände, überall Explosionen, überall Rauch und das Röcheln Sterbender. Der gerodete Gürtel rund um die Generatorstation war übersät mit den Trümmern von Robotern und Fahrzeugen – und mit Leichen. Scholf verfolgte das Geschehen von der Kontrollstelle aus, die er seit der Eroberung noch nicht verlassen hatte. Vor wenigen Minuten war die kodierte Meldung eingetroffen, daß die Tel-Flotte ein Loch in den planetaren Schutzschirm geschossen hatte. Scholf seufzte. Nichts funktionierte wie geplant. Inzwischen liefen mindestens tausend Roboter Sturm gegen die Station, nachdem sie wie aus dem Nichts erschienen waren. Die Terraner reagierten, wenn auch verspätet. In diesem Augenblick kam ein neuer Spruch herein. Absender war Owo Gbagbo, Scholfs Mittelsmann an Bord des Tel-Flaggschiffs. In dürren Worten schilderte Gbagbo, wie dramatisch sich die Situation verschlechtert hatte und wie sehr die Armada bereits dezimiert worden war. Er endete mit dem Satz: »Bol Gnun fühlt sich nicht mehr an das Abkommen gebunden. Ich fürchte, er will nur noch eines: Terra zerstören, bevor es ihm selbst an den Kragen geht. Die Flotte steht vor dem Untergang. Mit dem Rest, der zur Erde durchkommt, wird er alles vernichten, was ihm vor die Geschütze...« Die Nachricht endete wie abgeschnitten. Scholf zögerte keinen Moment. Er versuchte, nicht an sich herandringen zu lassen, was sich an Konsequenzen aus dieser Entwicklung ergab. Wenn sich bewahrheitete, was Gbagbo skizziert hatte, würde es bald keine Tel-Verbündeten mehr geben – und damit niemanden, der den Robonen die
versprochenen Schiffe zur Verfügung stellte, um nach den versprengten Resten ihrer Art in den Tiefen des Alls zu suchen. »Aktiviert die Zünder«, befahl er seinen engsten Vertrauten, die bei ihm ausgehalten hatten, anstatt selbst in die Kämpfe draußen einzugreifen. »Zünder aktiviert!« erfolgte die mehrstimmige Antwort. Scholf nickte. »Dann laßt uns von hier verschwinden! Sagt den anderen Bescheid – wir werden versuchen, uns bis nach Schanghai durchzuschlagen. Dort mischen wir uns unter die Bevölkerung und tauchen erst einmal unter!« »Wir geben auf?« fragte jemand. »Wenn du lieber hierbleiben und den Heldentod sterben willst...?« Der Mann schüttelte mit hängenden Schultern den Kopf. Scholf warf einen letzten Blick auf die Sprengstoffpakete, die im Raum zurückblieben und deren Kraft ausreichen würde, die komplette Station in einen Krater zu verwandeln. »Los jetzt!« Er wartete, bis die anderen draußen waren, ging selbst als letzter. Er suchte die Bucht auf, in der er Lovv Sanders in seinem Schweber zurückgelassen hatte. Der Mann, so er schon aus seiner Ohnmacht erwacht war, würde nicht erfreut sein, ihn wiederzusehen. Scholf zählte dennoch auf seine Gastfreundschaft in der nahen Stadt. Zumindest, bis sich etwas Besseres gefunden hatte. Kurz darauf verließ ein Fahrzeug das Gelände von der rückwärtigen, den Gefechten abgewandten Seite. Kurz darauf detonierten die Sprengsätze. Eine gewaltige Flamme schoß zum Himmel, gefolgt von einer mächtigen Rauchsäule. In dem allgemeinen Tohuwabohu ging Scholfs Fahrzeug völlig unter. Nicht alle, die mit ihm zu entkommen versuchten, hatten das selbe Glück.
* 231 Ringraumer feuerten aus allen Antennen auf die auf ein Viertel ihres ursprünglichen Umfangs dezimierte Feindarmada: 500 Doppelkugelraumer hatten Erdnähe erreicht und schickten sich an, den Nogk-Schirm zu durchdringen... ... was mit allen Mitteln verhindert werden mußte! »Das Flaggschiff!« stöhnte Bulton, den es längst nicht mehr auf seinem Sitz hielt. »Erledigt das Flaggschiff. Himmel! Sie sind gleich durch!« Drohte doch noch die Apokalypse? Bol Gnuns Schiff im Zentrum des Pulks bewegte sich immer noch schockgrün markiert über den Beobachtungsschirm. Zwei Lichtsekunden trennten die Restflotte der Tel noch von der Lücke im Schirm. 600.000 Kilometer. Bei der Geschwindigkeit des Pulks, der mit ein Drittel Licht flog, also nur noch fünf, sechs Sekunden... Bulton begann, innerlich einen Countdown zu zählen. Bei drei hörte er auf. Denn bei drei verschwand die schockgrüne Marke urplötzlich vom Schirm. * Das letzte, was Owo Gbagbo hörte, war Bol Gnuns Ruf: »Ausweichmanöver! Sie nehmen uns unter Punktbeschuß! Wir müssen...« Das letzte, was Owo Gbagbo sah, war die Flut von Ringschiffen, die sich zwischen den Doppelkugelraumern mit einer Eleganz und Selbstverständlichkeit hindurchbewegten,
als wäre es die einfachste Aufgabe der Welt, gleichzeitig auszuweichen und Tod und Vernichtung zu speien. Zuerst war der Panoramaschirm in blendendes Licht getaucht. Dann schien Bol Gnun durchscheinend wie ein Geist zu werden. Die Zentrale und all ihre Komponenten löste sich auf. Hitze griff nach Owo Gbagbo wie ein Fegefeuer. Er verbrannte binnen einer Mikrosekunde. Zerstob im Feuer der auseinanderfahrenden Schiffsmeiler. Dem Licht folgte Dunkel. Dem ohrenbetäubenden Lärm Stille. Der Hitze... eisige Kälte... * Der Zerstörung des Flaggschiffs und dem Tod Bol Gnuns folgte die Kapitulation der letzten Tel-Schiffe im Sol-System. Nur hunderttausend Kilometer von Terra entfernt bremsten sie ab – vor ihnen eine Wand aus Ringschiffen, die sich vor der Lücke im Nogk-Schirm positioniert hatten. Bulton nahm die Kapitulation im Namen von Trawisheim an. Sofort setzten Prisenkommandos auf die Tel-Schiffe über. Lediglich 83 Doppelkugelraumer waren noch völlig intakt, weitere 462 bedingt flugtauglich. Bulton gab Befehl, sie auf dem Mond zu landen, bis die rechtmäßige Tel-Regierung Mannschaften schickte, um sie von dort wieder abzuholen. Die Rebellen wurden verhaftet und mit Giant-Raumern nach Terra gebracht, wo sie in Hochsicherheitsgefängnissen ebenfalls bis zu ihrer Verschiffung nach Cromar warten sollten. Terra war noch einmal haarscharf an der Katastrophe vorbeigeschrammt. Noch einmal – oder wieder einmal...? Niemand in Bultons direkter Umgebung verstand das Lächeln, das sich plötzlich um die Lippen des Marschalls
prägte. Viele hielten es für einen Ausdruck der Erleichterung. Tatsächlich aber dachte er an das Schicksal, das es schon so oft gutgemeint hatte mit den Menschen von Terra. Gleichzeitig schweiften seine Gedanken zu Ren Dhark, der in der fernen Galaxis unterwegs war. Wie mochte es ihm ergehen? Wann endlich – und mit welchen Resultaten – würde er zurückkehren? Terra ohne Dhark, da fehlte irgend etwas. Zumindest Bulton empfand es so. Sein Lächeln vertiefte sich. Doch schon einen Atemzug später verschwand es wie weggewischt. So viele Leben hatte dieser unsinnige Blitzkrieg gekostet – wenn auch überwiegend auf der Seite der Tel. Doch das machte es keinen Deut besser. Würde dieser Tag endlich den Beginn eines dauerhaften Friedens mit den Schwarzen Weißen markieren? Bulton zuckte mit den Achseln. * Auch Bernd Eylers zog mit Hilfe von Jos Aachten van Haag Bilanz. Und die war bitter. Die Geschehnisse bei Schanghai hatten mehr Menschenleben gefordert als die mit Schiffen geführte Schlacht vor Terras Haustür. Die Generatorstation war von den Robonen gesprengt worden. Bezahlt hatten sie diesen Minimaltriumph mit rund dreitausend Gefallenen. Etwa tausend Partisanen hatten, als sie von allen Seiten umzingelt und keine Chance mehr gesehen hatten, aufgegeben. Sie befanden sich mittlerweile in
Gefangenschaft, die Verwundeten wurden in provisorischen Feldlazaretten behandelt. Aber rund zweitausend Robonen und ihre Anhänger waren in der tumultartigen Entwicklung unmittelbar nach der Explosion der Generatorstation entkommen. Die GSO und Terra Command gingen davon aus, daß sie sich zu Fuß oder mit Fahrzeugen nach Schanghai durchgeschlagen hatten. Die Fahndung nach ihnen war in vollem Gange, aber die Wahrscheinlichkeit, sie rasch ausfindig und dingfest zu machen, war gering. Eylers unterdrückte das Bedürfnis, Bulton zu seinem Sieg zu gratulieren. Es gab Siege, die wie Niederlagen schmerzten. Bislang war unklar, wie viele Robonen sich unter den Opfern und Gefangenen befanden – und wie viele einfach nur aufgehetzte Anhänger nationalistischer Parolen waren. Bei den Toten würde nur eine Autopsie der Gehirne Klarheit geben. Und bei den Lebenden... Eylers verdrängte den Gedanken. Für den Moment. Für diesen Tag. Sollten sich andere darum kümmern. Er war müde, ohne selbst in der vordersten Front mitgekämpft zu haben. Vielleicht werde ich alt, dachte er. Nur alte Männer werden sentimental – oder...? Er schloß die Augen. Wann endlich würden die Robonen aufhören, Feinde der Menschen zu sein? Freiwillig offenbar nie. Das heißt, dachte der GSO-Chef mit geschlossenen Augen, wir müssen sie zwingen. Und das so bald wie möglich...!
10. Pakk Raff stellte eine Miene zur Schau, die nicht minder gefährlich war als die Gesichter derjenigen, die sich ihm in der Hauptschleuse des Nomadenflaggschiffs in den Weg stellten und ihn, seine drei Frauen sowie Priff Dozz mit vorgehaltenen Waffen aufforderten, stehenzubleiben. »Was soll der Unsinn?« bellte er, während seine enorm muskulösen Kiefern zu knirschen anfingen, Zeichen seines sich entwickelnden Zorns. In dem halbdunklen Schleusenraum hatten sie ihnen den Weg versperrt. »Sie« waren zwanzig Nomaden in der formellen Lederkluft der Ordnungskräfte. Polizei also, keine Krieger, wie er verächtlich bemerkte; seine Ohren zuckten, und langsam begann sich Geifer in den Winkeln seiner Lefzen zu bilden. Er fühlte, wie sich der aufgestaute Ärger der vergangenen Tage, durch das Attentat auf seine Burg und deren totalen Verlust noch geschürt, Bahn brechen wollte. Und diese niedrigen Kreaturen da vor ihm waren der willkommene Anlaß, seiner Frustration ungehemmt Lauf zu lassen. Er vermochte keinen der Ordnungshüter mit Sicherheit identifizieren, suchte deshalb nach dem Anführer des Rudels, konnte ihn aber unter den sich nach vorne drängenden Wachen nicht ausmachen. Auch wenn er fast sicher war, daß sich unter dem Rudel am hinteren Ende Rass Fazz, der Günstling seines eingefleischten Widersachers Toss Patt, krampfhaft an seiner Waffe festklammerte. »Ich frage noch einmal«, bellte er, lauter diesmal, mit einem Unterton, der jeden Augenblick zu einem Wutausbruch eskalieren konnte. Und Wutausbrüche des obersten Rudelführers waren gefürchtet, endeten sie doch meist mit
durchbissenen Kehlen derjenigen, die den Anlaß dafür geliefert hatten. »Was soll das? Wer ist dafür verantwortlich?« Während der Chefdenker des Rudelführers, Priff Dozz, sich hinter Raffs Frauen zurückzog, die kleine Laute der Unsicherheit und Furcht ausstießen, hob der vorderste der Nomaden die Hand, ohne die Mündung der Impulswaffe in der anderen auch nur ein Jota von ihrer Richtung abzubringen. Eine Richtung, die, wie Pakk Raff mit blutunterlaufenen Augen bemerkte, genau auf sein Herz gerichtet war. »Pakk Raff«, sagte er mit heiserem Bellen, »der Rat der klugen Alten hat beschlossen, dich in Gewahrsam zu nehmen, bis über dein Schicksal vor dem Tribunal verhandelt wird. Widersetze dich nicht dieser Anordnung, sonst sehen wir uns gezwungen, Ge...« Er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu Ende zu bringen. Mit einem heißen Knurren und mit gefletschtem Gebiß, von dessen Reißzähnen der Geifer tropfte, stürzte sich Pakk Raff mit gespreizten Krallen auf den Überbringer der Nachricht. Nichts anderes im Sinn, als ihm mit einer blitzschnellen Attacke die Kehle aufzureißen und sein Blut zu verströmen. Aber einer aus der hinterhältigen Gruppe zeugungsunfähiger, von Läusen heimgesuchter Bastarde stellte ihm trotz seiner deutlich ausgedünsteten Furcht ebenso blitzschnell ein Bein. Ein zweiter, beflügelt von dem Erfolg seines Rudelmitglieds, hieb ihm die schwere Impulswaffe in den Nacken, und ein Dritter gar erfrechte sich, ihn mit der Waffe zu paralysieren. Pakk Raff spürte noch, wie es ihm den Boden unter den Füßen wegzog; den harten Aufschlag merkte er schon nicht mehr. *
Pakk Raff erwachte mit entsetzlichen Gliederschmerzen. Sein Rachen war trocken. Er lag mit dem Rücken auf einer Pritsche, die mit stinkenden Fellresten bedeckt war, eingeschlossen in einer dunklen, vergitterten Zelle, die außer der miesen Lagerstätte und einer Vorrichtung zur Entleerung nur einen Schemel aufwies, auf dem ein Freßnapf stand. Gefangen. Er war gefangen! Eingekerkert in eben jenem Zellentrakt des Flaggschiffs, in den er selbst viele seiner unbotmäßigen Gefolgsleute gebracht hatte. Welch ein Hohn. Welch eine Verunglimpfung seines Machtanspruchs. Welch eine Schande für ihn, den Führer aller Rudel! Mit einem wilden Knurren sprang Pakk Raff auf die Füße, ignorierte den wütenden Schmerz der von der Schockwaffe paralysierten Muskeln, die sich erst langsam wieder an das Blut gewöhnten, das durch die Adern und Kapillaren strömte. Sein Rachen öffnete sich zu einem Gebrüll, das den Zellengang zum Erzittern brachte. Seine Klauen umklammerten die Gitterstäbe. Mit aller Macht rüttelte er daran. Er hatte ebensowenig Erfolg mit dieser Aktion, wie all die anderen Gefangenen vor ihm, die diese Zelle schon bevölkert hatten. Nach einer Weile öffnete sich eine Klappe über der linken Wand, ein biegsamer Tentakel schoß heraus, öffnete die Irisblende an der Spitze, und das unbeteiligt starrende Objektiv einer Kom-Einheit richtete sich auf ihn. »Gefangener Eins-Eins-Drei, Pakk Raff«, kam die blecherne Stimme des Wächter-Robots. »Du verhältst dich ungebührlich. Du hast noch zehn Sekunden, deine Aktionen einzustellen. – EINS -ZWEI-DREI...«
Da Pakk Raff sehr wohl wußte, was nach dem Ende des Zählens kam, warf er sich mit Schaum vor dem Maul auf die Pritsche und verhielt sich zähneknirschend ruhig. Noch einmal paralysiert zu werden – und diesmal über einen wesentlich längeren Zeitraum – dazu hatte er nun wirklich keine Lust. Außerdem rechnete er damit, daß sich sein Chefdenker Priff Dozz in Kürze sehen lassen würde, um die Lage zu klären. Dem kleinen Kriecher würde schon etwas einfallen. So wie immer. * »Im Grunde genommen ist es ganz einfach«, sagte Bidd Nobb, als Priff Dozz Aufklärung von seiner Frau über die aktuelle Entwicklung heischte und sie auch bekam. Ausführlich. Und ungeschönt. Im Gegensatz zu ihrem Mann war Bidd Nobb geradeheraus und hielt mit nichts hinter dem Berg. »Während du dich zusammen mit Pakk Raff und seinen Gefolgsleuten auf Doron herumgetrieben hast, hat Toss Patt die Gunst der Stunde genutzt und einen ›Rat der klugen Alten‹ gebildet.« »Einen was?« »Laß dir erklären«, bellte seine Frau, deren krumme Beine daher rührten, daß sie ständig der Schönheit hinterherhechelte, sie aber nie einholte, wie Pakk Raff ihm gegenüber einmal hohnlachend im Kreise johlender Unterführer zum Besten gegeben hatte. Pakk Raff und Bidd Nobb. Beide Quell stetigen Ärgers. Wenn er nur größer und stärker wäre, dann würde er sich diese ständigen Demütigungen durch seinen Rudelführer und all die anderen ihm körperlich weit überlegenen Nomaden nicht bieten lassen. Würde sie in ihre Schranken verweisen.
Ihnen die Kehlen zerreißen, mit einem einzigen Biß. Ein Ruck, und sie würden ihr Leben aushauchen... und er würde sich endlich eine Frau aussuchen, die seinen Vorstellungen entsprach... er hatte da schon eine im Auge, eine aus Pakk Raffs Harem, muskulös, langbeinig, mit glatter Haut und feurigem Blick, herrlichem Gebiß... ach! Aus seinem Traum erwachend, kehrte Priff Dozz wieder in die rauhe Wirklichkeit zurück. Er schüttelte den Kopf; er hatte jetzt an etwas anderes zu denken. »Nun?«, herrschte er sein Weib an. »Wo bleibt die Erklärung?« Es war wirklich im Grunde sehr einfach. Nachdem die Nomaden unter der Führung des obersten Rudelführers Pakk Raff die schwersten Verluste seit dem Untergang ihres Heimatplaneten erlitten hatten, hatte sich klammheimlich ein »Rat der klugen Alten«, wie sie sich nannten, konstituiert, der eine grundlegende Umwälzung der nomadischen Gesellschaftsordnung in die Tat umzusetzen versuchte. In diesem Rat befanden sich mehrere frühere oberste Rudelführer, die ihre letzten Rangordnungskämpfe überlebt hatten. Alles Vorgänger von Pakk Raff, der den letzten selbst noch besiegt hatte, angeführt von seinem Intimfeind Toss Patt, von dem Raffs Vorgänger die oberste Rudelführerschaft übernommen hatte, nach einem kurzen, harten Kampf. Alles keine wohlmeinenden Freunde, wie man sich denken konnte. Dem Rat gehörten auch eine Reihe ehemaliger Unterführer an. Durchweg hatten alle einmal eine leitende Position inne, die sie dann in den meist blutigen Rangordnungskämpfen an jüngere, stärkere Nomaden verloren. Viele von ihnen waren danach als Berater ihrer Nachfolger tätig... »Was ist?« brachte sich Priff Dozz' Weib in Erinnerung, als der Chefdenker noch immer nichts sagte. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Schweig, um Darrggs Willen«, herrschte er sie an. »Ich denke nach.« Bidd Nobb erlaubte sich ein mokiertes Gebell. »Dann denke nicht zu lange, sondern überlege, wie es mit dir weitergeht, nachdem dein Gönner so unheimlich schnell in Ungnade gefallen ist.« Wo sie recht hat, hat sie recht, dachte Priff Dozz mit einem Gefühl des Erschreckens. Der persönliche Troß eines geschaßten oder in den Rangordnungskämpfen besiegten Rudelführers wurde in den wenigsten Fällen vom Nachfolger übernommen, sondern vertrieben oder gnadenlos zu Tode gebissen. Aber das war es nicht wirklich, was ihn so beunruhigte. Ohne es zu wollen, hatte der »Rat der klugen Alten« Priff Dozz in Zugzwang versetzt. Er selbst hatte schon länger im Geheimen eine lockere Gruppierung von der Natur benachteiligter und ähnlich wie er denkender Nomaden ins Leben gerufen, deren Credo es war, Pakk Raff zu stürzen und einen radikalen Umbruch im Leben der Nomaden herbeizuführen. Nun schien es, als würden seine Bestrebungen in dieser Hinsicht von den Ereignissen überrollt. Aber nein, rief sich Priff Dozz zur Ordnung. Die »klugen Alten« waren nicht wirklich klug, nur allesamt erfahrene Kämpfer, was ein Zuviel an Verstand von vornherein ausschloß. Sie würden sich nicht lange ihres Triumphes erfreuen. Er, Priff Dozz, der unscheinbare, von allen Nomaden gehänselte Berater, würde es ihnen beweisen. Gegen seine Intelligenz hatten sie nicht den Hauch einer Chance. Was er nicht durch Kraft und Geschicklichkeit schaffte, würden List und Tücke zuwege bringen. Und vor allem seine Intelligenz, die weit über dem Niveau aller anderen Nomaden lag. »Wo willst du jetzt schon wieder hin?«, keifte Bidd Nobb, als Priff Dozz Anstalten machte, aufzubrechen. »Kaum da, treibt es dich schon wieder hinfort, du Nichtsnutz von einem No...«
Sie verstummte, als sein Blick sie traf; wenn er so schaute, war es besser, schleunigst den Mund zu halten. Doch dann bequemte er sich doch zu der Erklärung, daß ihn dringende Geschäfte noch einmal in die Stadt führten. * In einem Nebenraum eines ziemlich verkommenen Etablissements am Rande des Raumhafens von Doron kamen sie zusammen: die Verschwörer – von Priff Dozz über eine Geheimfrequenz seines Kommunikators zusammengetrommelt, um die plötzlich veränderte Lage zu erörtern. Dozz war der heimliche Anführer dieser Untergrundgruppierung von Nomaden, die seit langem das Rudelsystem abschaffen und durch eine Gesellschaftsordnung zu ersetzen trachteten, in der es auch dem Schwächeren erlaubt sein würde, Positionen an der Spitze einer frei gewählten Führung einzunehmen. Bislang galt seit altersher das Rudelprinzip; es regelte klipp und klar die Rangfolge in der Gemeinschaft. Wer aufsteigen wollte, eine Führungsposition gleich welcher Art anstrebte, mußte seine Zähne einsetzen, sich nach oben »durchbeißen«, mit rein physischer Gewalt den Herausforderer oder Herausgeforderten besiegen. Waffen waren bei den Rangfolgekämpfen verboten. Waffen, Gift, oder jedwede Art von versteckt getragenen »Gerätschaften«, mit denen man einen Kämpfer vom Leben zum Tode befördern konnte. Legal hingegen war es – und mitunter auch erwünscht – wenn ein Nomade einen anderen tötete, solange es nur mit Klauen und Zähnen geschah. Nur wenn sich jemand ausdrücklich ergab, durfte der Kampf nicht mehr fortgesetzt werden. Einen anderen totzubeißen war kein Verbrechen, sondern wurde als besondere Tugend angesehen und verhalf dem Sieger zu noch mehr Reputation. Kein Wunder, daß die Nomaden von den übrigen zivilisierten Völkern Drakhons als
Barbaren verachtet wurden, mit denen man nichts zu tun haben wollte und denen man vorzugsweise aus dem Weg ging. Waren die Nomaden in den Führungspositionen die AlphaMännchen der Rudel – der Stärkste unter ihnen führte das Volk – so gab es notgedrungen auch die Omega-Männchen. Jene, die am Ende des Rudels durchs Unterholz schlichen, die immer mit eingeklemmten Schwanz devot warteten, bis das Rudel satt war, ehe sie sich die mageren Überreste holten. Die kaum Gelegenheit hatten, sich fortzupflanzen, und die, wenn sie doch mal die Chance dazu bekamen, sich mit jenen Weibchen begnügen mußten, die von den höherrangigen Rudelmännchen verschmäht oder verstoßen worden waren. Zu diesen »Omegas« gehörten Priff Dozz und die Mitglieder seiner Untergrundbewegung; meist von Wuchs und Statur her nicht der Norm entsprechende Zeitgenossen, die aber mit erheblichen Geistesgaben ausgestattet waren, was sie in der Gesellschaft der Starken automatisch zu Feiglingen stempelte. Wer intelligent war, taktierte meist vorsichtig, zurückhaltend, überlegend, kein unnötiges Risiko eingehend. Nichts riskierend, was nicht vorher genau durchkalkuliert war, wußten sie nichts anderes zu tun, als sich den Starken in den Rudeln als Berater anzudienen, um zumindest auf einer gewissen Ebene existieren zu können. In einer Gesellschaft, die ausschließlich die Starken und Rücksichtslosen auf den Schild ihrer Anbetung hob, waren die Intellektuellen und Wissenden, die Denker und Philosophen nichts als Parias in den Augen der Stärkeren. Die Mitteilung Priff Dozz' über die Konstituierung des »Rates der klugen Alten« schlug ein wie eine Bombe und entfachte wilde Wortwechsel. Im wachsenden Chaos der gegeneinander argumentierenden Verschwörer und des hitzigen Wortwechsels zwischen Kott Saff und Brakk Dorr erhob sich Priff Dozz von seinem Sitz. »Genug!« Seine empörte Stimme durchschnitt das Lärmen der durcheinanderkeifenden und -jaulenden Nomaden wie ein
Lichtstrahl die Dunkelheit. »Bevor wir alle hier zusammengekommen sind, haben sowohl ich als auch mein Vertreter Ssatt Lipp bereits die Lage erörtert, die sich aus dieser für uns bedeutsamen Nachricht vom Planeten Schelkort ergibt. Angesichts der Beweise ist kein Zweifel möglich, daß Toss Patt mit seinem ›Rat der klugen Alten‹ etwas Ähnliches versucht wie wir. Meiner Einschätzung nach hat er dabei aber höchst persönliche Gründe, seine Machtstellung betreffend, während wir auf ein behutsames Umdenken des gesamten Volkes hinarbeiten. Ihr seht also, worum es geht. Es ist Zeit, höchste Zeit, Gesicht zu zeigen. Wir haben keine andere Wahl, als aus unseren Reihen einen Vertreter zu bestimmen, der in unserem Namen zum Rat fliegt und unsere Forderungen vorträgt. Aber – bei allen Kratern – nicht als Forderung, sondern als Angebot. Versteht ihr: als Angebot! Das Angebot der Intellektuellen, das Volk in Zukunft mit Sachverstand, Wissen und Intellekt und nicht länger mehr mit roher, brutaler Gewalt zu führen.« »Wer soll das sein?« »Ja, wer könnte sich in die Höhle des Hundes wagen und lebend daraus hervorkommen?« »Ich nicht«, jaulte einer. Ein anderer: »Ich eigne mich auch nicht für ein derart lebensbedrohendes Vorhaben...« Die Feiglinge überboten sich gegenseitig mit Ausreden und fadenscheinigen Versicherungen, warum ausgerechnet sie als Parlamentäre nicht in Frage kämen. »Du«, sagte Priff Dozz plötzlich und deutete mit der hornigen Mittelklaue auf Krett Turr, der erschrocken zusammenzuckte und sich kleinzumachen suchte. Er hatte sich an der allgemeinen Debatte wenig beteiligt und auch keine Einwürfe darüber gebracht, weshalb er als Überbringer der Botschaft Priff Dozz' nicht geeignet wäre. Vermutlich dachte er, wer sich nicht in den Vordergrund drängt, fällt auch nicht
auf. Aber das Gegenteil war eingetreten, wie er jetzt ärgerlich erkennen mußte. Denn Priff Dozz war er sehr wohl aufgefallen. »Du«, schmeichelte er ihm, »bist doch für deinen Mut berühmt. Dein Einsatz in einer Gefechtssituation war mal Legende.« Krett Turr hatte tatsächlich mal an einem Gefecht teilgenommen, aber das war gegen einen zahlenmäßig und körperlich weit unterlegenen Gegner gewesen, bei dem er seinem Rudelführer die Waffen hinterhertragen durfte. »Außerdem haben wir Nomaden die Tradition, einem Krieger...«, Krett Turr straffte sich unwillkürlich und seine Ohren spielten erregt, »... der eine Zeitlang außer Aktion war, unter bestimmten Voraussetzungen einen entsprechenden Status zuzugestehen, wenn er sich statt auf dem Schlachtfeld in einer heiklen, diplomatischen Mission bewährt.« Priff Dozz sah, wie auf Turrs Gesicht der Konflikt tobte. Lehnte er jetzt ab, stand er vor allen als noch größerer Feigling da, als er sowieso schon war. Sagte er zu, konnte es ihm an den Kragen gehen. Auch bei den Nomaden herrschte mitunter die Sitte, Parlamentäre totzubeißen, nachdem sie ihre Botschaft überbracht hatten. Wie sollte er sich verhalten? Er befand sich wirklich in einer Zwickmühle. Doch dann überwand er aus einem rational nicht nachzuvollziehenden Grund seine Bedenken und willigte ein. Das Angebot überraschte Priff Dozz sichtlich, während die anderen ihre Erleichterung nur sehr schlecht kaschieren konnten. »Gut.« Priff Dozz nickte. »Du wirst dich morgen mit einem regulären Linienschiff von Doron aus zum Planeten Schelkort im System der Patriken begeben. Dort tagt der Rat...« Als Priff Dozz wenig später an Bord des Flaggschiffes eintraf und sein Wohnquartier aufsuchte, war er sehr mit sich zufrieden. Wieder einmal war es ihm gelungen, jemand anderen an seiner Statt mit einer derart heiklen Mission zu betrauen, bei der es um Leben und Tod ging.
Seine Zufriedenheit spiegelte sich auf seinem Gesicht wider und weckte Bidd Nobbs Neugierde. Sie wäre nicht Bidd Nobb gewesen, wenn sie es nicht verstanden hätte, ihren Gefährten so weit zu bringen, daß er ihr nach einigem Hin und Her beichtete, was er zu tun im Begriffe war. »Bei den Atomen!« Sie kratzte sich wild die füllige Hüfte, erschrocken über die Tragweite von Priff Dozz' Plan. »Bist du von Sinnen, Mann?« Doch dann spürte sie plötzlichen Stolz über die Kühnheit und Verwegenheit seines Vorhabens. Sollte sie sich so in ihm getäuscht haben? Offensichtlich hatte sie ihn all die Zeit ihres Zusammenseins falsch eingeschätzt, war davon ausgegangen, daß er nichts als ein erbärmlicher Feigling war, der sich nur deshalb noch seines Daseins erfreute, weil er es ganz offensichtlich verstand, sich für Pakk Raff unentbehrlich zu machen, was auch mit ein Grund war, weshalb sie seine Gefährtin wurde. Und jetzt das! Trotzdem, sein Plan war von einer Tragweite, der er niemals gewachsen sein konnte. Sie klopfte ihm auf das Knie. »Laß die Finger davon. Wenn das offenkundig wird, wirst du von dem Moment an keine Minute länger leben«, gab sie zu bedenken. Priff Dozz schüttelte langsam den Kopf. »Nie und nimmer.« »Warum hatte ich das Gefühl«, murrte sie giftig, »daß du genau das sagen würdest?« »Behalte deine Gefühle für dich, Weib, und deine Hände bei dir!« Er schnappte nach ihr. Sie versuchte, dem zu entkommen, konnte aber nicht verhindern, daß er ihr einen heftigen Biß in den Oberarm versetzte, der sie aufjaulend zurückweichen ließ. Obwohl sie wütend über diese Attacke war, riet sie ihm: »Dann sichere dich wenigstens ab, daß man die Spur nicht zu dir zurückverfolgen kann. Ich glaube nicht, daß Krett Turr Erfolg haben wird...« *
Priff Dozz erreichte die Außenbezirke des Raumhafens noch vor der Dämmerung. Er hob die Hand, und einer der Bodenschweber scherte aus dem vorüberflutenden Verkehr aus. Während sich der kleine Nomade in den Sitz fallen ließ, brachte der doronische Fahrer das Gefährt schon wieder auf Touren. Priff Dozz gab eine Adresse in der Innenstadt an. Er würde den Schweber noch zweimal wechseln, um seine Spur zu Krett Turr etwas zu verwischen. Unter der Achsel spürte er das ungewohnte Gewicht einer Impulswaffe. Im Stiefel wußte er die Glätte eines rasierklingenscharfen Vibromessers; er kam sich übertrieben martialisch vor und hoffte, keine der beiden Waffen einsetzen zu müssen. Aber Bidd Nobb hatte darauf bestanden; die Gegend, in der Krett Turr wohnte, galt als ziemlich verrufenes Viertel, in dem häufig genug Morde geschahen. Rund zehn Zeiteinheiten später hielt der letzte Schweber. »Die Plaza, Bürger«, sagte der Fahrer in seinem vergitterten und gepanzerten Cockpit, ein hartgesichtiger Kuraner, der Priff Dozz nichts als Furcht einjagte – so wie die im Armaturenbrett nach hinten in die Fahrgastzelle gerichteten Mündungen schwerer Impulswaffen. Der Chefdenker Pakk Raffs zahlte mit einem Verrechnungschip, wie er auf vielen Welten Drakhons akzeptiert wurde, und stieg aus. Den Rest des Wegs würde er zu Fuß zurücklegen. Er befeuchtete seine Lippen und warf einen Blick in die Runde, sah aber keine verdächtigen Gestalten, die mehr als nur flüchtiges Interesse an seiner Person zeigten. Tatsächlich fiel Priff Dozz in der exotischen Menge, die die Straßen und Arkaden bevölkerte, absolut nicht auf. Doron gehörte zu einer Reihe von über ganz Drakhon verteilten Welten, die als »Freizonen« galten. Sämtliche Völker Drakhons achteten diese Freizonen; auf ihnen hatten die
Gesetze der Sternenreiche keine Gültigkeit. Selbst in der ganzen Galaxis gesuchte Verbrecher konnten auf diesen Welten offen auftreten, unbehelligt von den Behörden – aber nicht von den Kopfgeldjägern, die es haufenweise auf den Freizonenwelten gab. Auch in Kriegszeiten waren diese Welten »unberührbar«, weshalb sich unzählige Werften auf Doron und den anderen Freiwelten etabliert hatten, die mit Reparaturen ganzer Flotteneinheiten ein lukratives Geschäft betrieben. Priff Dozz hörte sein aufgeregtes Herzklopfen und atmete die übelriechende Luft, die dem Abzugkanal entstieg, der neben der Straße entlangführte. Mit all dem Gesindel um sich herum fühlte er sich unbehaglich, ja geradezu ängstlich. Der Chefdenker folgte der Straße, die eine Kurve beschrieb und durch zwei Industriekomplexe führte – einem atomaren Brüter und einer Fleischfabrik. Dann sah er aufatmend durch den Torbogen in den Innenhof des verwinkelten Wohnviertels, in dem Krett Turr hauste. Krett Turr gehörte zu jener Stammbesatzung, die den Nomaden permanent auf Doron zur Verfügung standen – neben jener Gruppe droben in den Bergen, die jetzt nicht mehr existierte – ohne daß die einheimischen Behörden Kenntnis davon hatten. Die Nomaden stellten in Drakhon ein einzigartiges Volk dar. Ihre Heimatwelt, Karr, war vor über 800 Jahren von den Rahim in Schutt und Asche gelegt worden, bereits lange vor der großen Veränderung in der Sternenballung. Mit dem Verlust ihrer Welt Karr war auch ihre ursprüngliche Bezeichnung Karrorr verschwunden. Als ein heimatloses Volk von Nomaden und Plünderern lebten sie fast ausschließlich auf ihren Kreuzschiffen, mit nur wenigen Planeten als Stützpunkten oder Werftwelten, gefürchtet und gehaßt von den anderen Völkern. Unternahmen sie ausnahmsweise mal keine Raubzüge, betätigten sie sich als Schrottsammler und verwerter. Und sie sammelten Informationen, speziell auf
solchen Freizonenwelten wie Doron, wo man in jeder Schenke, in jeder Amtsstube an Informationen über lukrative Schiffsladungen kam. Priff Dozz hielt sich mit Bedacht außerhalb der dunklen Arkaden, in denen verwahrloste Gestalten lungerten. Im ungewissen Dämmerlicht der anbrechenden Nacht musterte er die Zahlensymbole an den Mauern und entdeckte schließlich aufatmend das Symbol an der Wand, hinter der sich Turrs Behausung verbarg. Er ging hinüber und klopfte in einem ganz bestimmten Rhythmus gegen die Tür. Die Tür wurde geöffnet. Eine dunkle Gestalt erschien auf der Schwelle. »Dozz?« Es war Krett Turrs Stimme. »Dozz?«, wiederholte sie. »Ja, Krett, Priff Dozz. Ich habe dir noch ein paar letzte Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg zu geben. Außerdem habe ich einen guten Tropfen bei mir, den wir noch auf deinen Erfolg trinken wollen.« Alles in allem genommen, dachte Priff Dozz, ist das wohl die größte Übertreibung. Der Raum hinter der Tür war in mattes Licht einiger schwebender Leuchtkörper getaucht. In der Ecke brannte mit rußiger Flamme ein Torrokk. »Das liegt nicht etwa daran, daß ich an den alten Bräuchen hänge«, erklärte Krett Turr, als er Priff Dozz hereinführte. »Aber in dieser Nachbarschaft zahlt es sich aus, möglichst wenig Licht zu machen – ganz besonders jetzt, nachdem unsere Station droben in den Bergen aufgeflogen ist.« Der Raum war im typisch nomadischen Stil eingerichtet. In der Mitte stand ein niedriger Tisch mit harten Polstern ringsum. Weiche, zusammengerollte Matratzen lagen in den Ecken, und an den Wänden hing eine Sammlung altertümlicher Waffen. Auf dem Tisch standen zwei Gläser.
Priff Dozz stellte seine Flasche dazu. »Dein Torrokk rußt«, stellte er fest. »Macht nichts«, grinste Turr, »so vertreibt er die lästigen Insekten.« Er deutete einladend auf ein Polster. Dozz entkorkte die Flasche und stellte sie auf den Tisch. Krett Turr setzte sich Priff gegenüber auf ein Polster und griff nach der Flasche. Sie tranken den ersten Schluck schweigend, im Gedenken an die gefallenen Gefährten. Dann sagte Priff: »Wir wollen uns nicht zu lange mit den Zeremonien aufhalten, die Zeit drängt, und ich habe dir noch einiges mit auf den Weg zu geben.« Er begann ohne Umschweife mit den Erklärungen, unterbrochen nur vom Nachschenken. Er redete in seiner gewohnten sachlichen Art und ohne Eile. Und je länger er redete, um so müder wurde Turr. Schließlich fiel ihm der Kopf auf die Brust und er begann zu schnarchen. Priff Dozz beugte sich über den Tisch und stieß den Unterhändler in spe mit ausgestrecktem Finger gegen die Brust. Zufrieden registrierte er, wie dieser umsank, ohne zu erwachen. Das starke Betäubungsmittel, das in der Flasche war, konnte ihm nichts anhaben, da er sich noch an Bord des Flaggschiffes mit einem Gegenmittel immunisiert hatte. Bei Turr entfaltete es seine ganze Wirksamkeit. Priff Dozz kniete neben dem Nomaden nieder und schob ihm eine Kapsel ins Maul. Er hielt ihm die Schnauze zu, bis der Schluckreflex die Kapsel in Turrs Magen befördert hatte. Dann zerrte er den schweren Körper des Nomaden mit einiger Mühe in die Ecke des Raumes und wälzte ihn auf eine Matratze.
Abschließend schüttete er den restlichen Inhalt der Flasche in den Ausguß und warf einen letzten, prüfenden Blick durch den Raum, ehe er ging. Zufrieden mit sich und der Welt. Der Köder war präpariert, das Spiel konnte beginnen. * Krett Turr erwachte am nächsten Morgen mit einem Schädelbrummen, daß er glaubte, sein letztes Stündchen wäre schon gekommen. Nur mühsam erinnerte er sich an den vergangenen Abend und an zu viel Alkohol. Mühsam stützte sich Turr auf einen Ellbogen und begann unendlich erleichtert aufzuatmen, als er sich in der vertrauten Umgebung seiner Behausung fand. Also hatte er die fürchterlichen Dinge nur geträumt, die ihn in der Nacht heimgesucht hatten. Mit schmerzendem Schädel stand er auf. Er rieb sich die Schläfen, um die Kopfschmerzen zu lindern. »Ich hätte es vorhersehen müssen«, sagte er sich in Gedanken. »Ich hätte es besser wissen müssen. Zuviel Saufen bringt einen um.« Aber trotz dieser Erkenntnis wurde es auch nicht besser. In seinem Magen brannte ein Vulkan, und ätzende Magensäure stieg ihm wie glühendes Magma bis hinauf in die Kehle. Er würgte und hustete, ging auf schwankenden Beinen ins Hygienezentrum, drehte den Wasserspender auf und hielt den Rachen darunter. Zwei Liter Wasser ließen das Brennen in Kehle und Magen abklingen; gegen den pochenden Schmerz in seinen Schläfen half es allerdings nicht. Aus blutunterlaufenen Augen starrte er sein Spiegelbild in der polierten Metallplatte an. Er sah so aus, wie er sich fühlte: schrecklich. Als er am Raumhafen in DIE FRÖHLICHE MAID eincheckte (sie hieß tatsächlich so, wenn man ihren Namen ins Angloter übersetzte), fühlte er sich bereits erheblich besser.
Eine vernünftige Mahlzeit gleich nach dem Start und eine lange Erholungsphase in einem Abteil des auf nomadische Bedürfnisse programmierten Erholungsbereich des Passagierraumers brachten seine körperlichen und geistigen Funktionen wieder auf Vordermann. Er begann, die Reise nach Schelkort zu genießen. Aber nur die Passage. Die Erinnerung an das, was er zu tun hatte, schob er solange beiseite. * Priff Dozz verfolgte die erste Sitzung des auf Schelkort tagenden provisorischen »Rates der klugen Alten«, die per Hyperfunk-Liveschaltung an alle Nomadenschiffe innerhalb Drakhons übertragen wurde, von seiner Kabine aus. Er hätte sie zusammen mit der Schiffsführung im Medienraum des Kreuzschiffes verfolgen können. Aber seit Pakk Raff nur noch dem Namen nach oberster Rudelführer war, benahmen sich die Offiziere seinem Berater und Chefdenker gegenüber äußerst gemein. Der Rat tagte auf einer Enklave auf dem Planeten Schelkort, die die Nomaden für die fünffache Dauer der Halbwertzeit des Elements Actinium (was 110 Jahren Erdstandard entsprach) von den Patriken gepachtet hatten. Toss Patt machte seine Sache recht geschickt, das mußte Priff Dozz sehr wohl anerkennen; unter seinem Vorsitz stellte der Rat eine Reihe recht vernünftiger Beschlüsse auf, die aber gegen die Instinkte der meisten anwesenden Nomaden verstießen, wie das Anschwellen der Unruhe und der heftige Wortwechsel untereinander deutlich machte. Mehr als einmal mußten die Ordnungshüter verbale Auseinandersetzungen schlichten, die von den unterschiedlichen Auffassungen der Nomaden zeugten. Allerdings trauten sie sich nicht, offen gegen die Autoritäten vorzugehen. Ein zu hohes körperliches
Risiko – der »Rat der klugen Alten« bestand zwar aus an Jahren Alten, aber nicht aus Klugen, sondern aus kampfgestählten, mit Narben bedeckten Nomaden und Rudelführern. Lauter »Alphas« und Betas« ohne ein Zuviel an Intelligenz, aber mit Kampferfahrung satt. Und da das Gros der Nomaden sich nun einmal dem Rudeltrieb unterordnete, blieben körperliche Auseinandersetzungen aus. Wichtigstes Thema dieser ersten Sitzung aber war der Beschluß, daß man aus einer Führungsposition nur noch mit Zustimmung aller Rudelführer und Unterführer abgewählt werden konnte. Erst wenn das geschehen war, durfte in Rangkämpfen ein neuer Nachfolger gesucht werden. Schau an, schau an!, dachte Priff Dozz mit einem knurrenden Lachen, das seine Kehle vibrieren ließ wie den Trommelsack eines Baddakk-Frosches. Diese hinterhältigen alten Füchse. Merkt denn niemand, daß sie damit ihre eigenen Interessen vornan stellen, ihre Positionen zementieren und fast unangreifbar machen? Niemand außer mir natürlich... Er konzentrierte sich wieder auf die Geschehnisse auf dem Holoschirm. Es sollte auch in Zukunft jeder Nomade das Recht in Anspruch nehmen können, dem Rat frei vorzutragen. Was angesichts der Tatsache, daß der Rat der klugen Alten – in dieser Beziehung zeigen sie ja tatsächlich mal wirkliche Klugheit, aber leider sehr eigennützige! dachte Priff Dozz – darüber befand, was zugelassen werden sollte und was nicht, auch wieder nur zu einer Farce verkümmerte. Der letzte Punkt der relativ kurzen Sitzung betraf, ganz wie Priff Dozz vermutet hatte, Pakk Raff. Der abgesetzte oberste Rudelführer sollte auf Schelkort für seine Niederlagen vor ein Gericht des Rates gestellt werden. Weshalb die inzwischen reparierte Flotte der zwölf Kreuzschiffe unverzüglich nach Schelkort befohlen wurde.
»Nein!« Priff Dozz schüttelte entschieden Kopf, als die Übertragung zu Ende war. »Nein, nein!« »Was ›nein‹?« Bidd Nobb sah ihn Aufklärung heischend an. »Der ›Rat der klugen Alten‹ ist keine wirkliche Konkurrenz für meine eigenen Pläne«, entgegnete Dozz kategorisch. »Sie werden damit nicht durchkommen, dafür sorge ich schon.« »Wenn du dich da mal nicht verrechnest.« Bidd Nobb blieb skeptisch. Sie hegte nach wie vor starke Bedenken gegen das, was Dozz zu tun im Begriffe stand: das Rudelsystem sowie die blutigen, an der Substanz der Nomaden zehrenden Rangfolgekämpfe zu beenden und an deren Stelle eine Art Demokratie zu verwirklichen, in der letztendlich nicht mehr rein physische Gewalt, sondern Klugheit zum Erfolg führte. Eine Herrschaft der Schwächeren? Statt Alpha-Männchen nur Betas oder gar Omegas? Um Darrggs Willen! Sie konnte sich das absolut nicht vorstellen – und ließ ihn das auch wissen. Aber Priff Dozz winkte nur ab. Trotz seiner Intelligenz verschloß er sich ihren Bedenken. »Von Politik versteht ihr Frauen nichts«, war seine knappe Entgegnung.
11. Redaktioneller Hinweis: Der nun folgende Text spielt nach den im REN DHARK-Sonderband »Dreizehn« geschilderten Ereignissen.
Er war hungrig. Unsagbar hungrig. Die Gier nach zappelndem, rohem Fleisch wühlte in seinen Eingeweiden und trieb ihn fast in den Wahnsinn. Eine kräftige Mahlzeit im Jahr genügte ihm, doch die war längst überfällig. Schon viel zu lange war ihm nichts Lebendiges mehr über den Weg gelaufen – keine leichtsinnige Bergziege, kein vorwitziger Schneehase, nicht mal eines jener aufrechtgehenden Wesen, die sich ab und zu in sein frostiges Revier verirrten. »Eiswolf« nannten ihn die Bewohner rund um den Himalaja respektvoll, und wenn sie über ihn sprachen, dann flüsterten sie. Die in Grönland und Nordsibirien vorkommenden Polarwölfe waren nur halb so groß wie er. Noch nie wurden zwei seiner Art zusammen gesichtet, daher erzählte man sich, er sei ein Einzelgänger, viele hundert Jahre alt. Niemand wagte es, an dieser Darstellung zu rütteln, denn der Gedanke, es könnten mehrere von seiner Sorte blutrünstig durch die frostige Bergwelt streifen, war zu schrecklich. Der Eiswolf war eine Legende. Um Ernsthaftigkeit bemühte Naturforscher leugneten seine Existenz aus Angst, sich lächerlich zu machen. Es gab weder seriöse Fotos noch glaubhafte Berichte. Man hielt ihn für ein Gerücht, verbreitet von redseligen Einheimischen, die sich wichtig machen wollten. Nur ein paar als Querköpfe verschriene Gelehrte
widersetzten sich steif und fest den achtbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Echri Ezbal war einer von ihnen, ein Querdenker wie er im Buche stand. Vor vielen Jahren hatte er eine Abhandlung über jenes Fabelwesen verfaßt, basierend auf eigenen Nachforschungen, historischen Niederschriften und Augenzeugenbefragungen. Doch seine Forschungsergebnisse hatte man nur ins Lächerliche gezogen. Nicht zum ersten Mal war er von seinen Kollegen aufgrund seiner unkonventionellen Denkansätze und ungewöhnlichen Versuche in die Ecke des unverbesserlichen Ketzers gedrängt worden. Als bedeutender Genetiker und Biochemiker hatte er allerdings schon um die Jahrtausendwende herum einen guten Namen gehabt – so gut, daß selbst fortwährende Sticheleien und Anfeindungen seinen Ruf nur ankratzen, ihn aber nicht auf Dauer schädigen konnten. In der Abgeschiedenheit des Brana-Tals, in der wildesten Wildnis des Himalaja, hatte sich der weißbärtige, über einhundert Jahre alte Inder, in dessen Augen stets ein jugendliches Feuer loderte, mittlerweile zum besten Virusforscher der Welt entwickelt. Hier befand sich eines der kostspieligsten Unternehmen Terras: die Cyborg-Station. Knapp eintausendfünfhundert Wissenschaftler arbeiteten ununterbrochen an der Entwicklung eines Typ Menschen, der den normalen Homo sapiens in jeder Hinsicht weit übertraf, physisch und psychisch. Inzwischen gab es eine begrenzte Anzahl von »cybernetic organisms«, kurz Cyborgs genannt. Einige flogen sogar auf der POINT OF mit. Dennoch waren Ezbal und seine Forschungsgruppe nie so richtig zufrieden. Rund um die Uhr suchten sie nach weiteren Verbesserungen. Erreichbar war die Station nur noch über einen einzigen Transmitter, alle übrigen waren seit der Galaktischen Katastrophe nicht mehr funktionstüchtig.
Das Höhlensystem, in dem sich die technischen Anlagen und Wohnquartiere erstreckten, platzte aus allen Fugen. Daher hatte man im Talgrund weitere Lager- und Vorratsschuppen errichtet, unauffällige Gebäude aus grauem Kunststoff. Oberhalb davon gab es am Hang einen Schweberlandeplatz, der jedoch nur von perfekt ausgebildeten Piloten angeflogen werden konnte und durfte. Denn die Witterungs- und Geländeverhältnisse hier oben im Himalaja waren alles andere als ideal. Ein gewaltiger Schutzschirm umhüllte die komplette Anlage und schützte die Männer und Frauen darunter vor unerwünschten Eindringlingen und vor der eisigen Kälte, die ansonsten keiner von ihnen lange überlebt hätte. Auch die hochempfindliche Technik vertrug keinen Frost und keine Schneestürme. Der kleine Konferenzraum, in dem Echri Ezbal mit den Cyborgs Jan Burton, Ule Cindar sowie den Zwillingsbrüdern Charles und George Snide zusammentraf, war gut beheizt. Krisensitzung. »Wo brennt's denn diesmal?« erkundigte sich Charly Snide bei dem greisen Inder. »Sie machen's mal wieder ganz schön spannend.« Die Snide-Zwillinge Charles und George waren zwei gutmütige Kerle, die eine Portion Spaß und Spott vertragen konnten. Man merkte ihren Gesichtszügen an, daß sie typische Frohnaturen waren. Ihr Lachen wirkte ansteckend. Das verging ihnen allerdings, wenn man sie wegen ihres früheren Daseins als Geistesgestörte hänselte. Zwar hatte sie dieser unleidige und inzwischen vollständig ausgemerzte Zustand vor der Manipulation durch die sogenannten All-Hüter geschützt, doch abfällige Bezeichnungen wie »geheilte Schwachsinnige« brachten die beiden Sechsunddreißigjährigen auf die Palme.
Im Gegensatz zu ihnen zählte Ule Cindar von jeher zu den unauffälligen Menschen, daran hatte auch seine Umwandlung zum Cyborg nichts geändert. »Auch ich würde gern mehr über Sinn und Zweck unserer Zusammenkunft erfahren«, sagte der blasse Mann und schnupperte mißtrauisch an der heißen grünen Flüssigkeit, die ihm von einem aufrechtgehenden Roboter aus der neuen Billigserie von Wallis Industries, der als Ezbals Butler diente, ungefragt serviert worden war. »Oder sind wir nur zum Teetrinken hergekommen? Das ist doch Tee, nicht wahr? Riechen tut's nach Schmieröl.« »Grüner Tee«, sagte Jan Burton, der seine Tasse bereits geleert hatte. »Ihn aufzubrühen ist eine Kunst für sich. Läßt man ihn nur eine halbe Minute zu lange ziehen, schmeckt er bitter. Und falls er abkühlt, taugt er gerade noch für ein Fußbad.« Er war ein athletischer Mann, in dessen Adern das Blut dreier Regionen floß. Mit Fug und Recht durfte sich der Dreiunddreißigjährige als Mongole, Afrikaner und Nordeuropäer bezeichnen. Sein Haar hatte einen leichten Blaustich, seine Augen besaßen eine ungewöhnliche Bernsteinfarbe. Jan war Logistiker, ein wahrer Spezialist im Berechnen von Wahrscheinlichkeiten, sozusagen ein lebender Suprasensor auf seinem Gebiet. Mit 24 hatte er geheiratet. Zwei Jahre später war seine Frau mitsamt Baby bei der Geburt gestorben. Seither arbeitete er viel zuviel und ging keinem Risiko aus dem Weg. Ohne zu zögern hatte er seinerzeit in das gefährliche Cyborg-Experiment eingewilligt, vielleicht in der unbewußten Hoffnung, während der Operation oder später bei einem gefährlichen Einsatz auf der Strecke zu bleiben. Weil jedoch in erster Linie sein Cyborg-Verstand gefragt war und weniger
seine übermenschliche Kraft, erfreute er sich bis heute bester Gesundheit. Trotz seines seelischen Schmerzes und seines sehnlichen Wunsches, wieder mit seiner Frau vereint zu sein, war Burton beileibe kein potentieller Todeskandidat. Geriet er in eine brenzlige Situation, kämpfte er hart um sein Leben, an dem er wie jeder andere hing. Ansonsten benahm er sich ruhig und ausgeglichen. Nur äußerst selten explodierte er, meist wegen Kleinigkeiten. Hinterher tat's ihm dann leid, doch er entschuldigte sich nie. Ezbal räusperte sich kurz, bevor er die Katze aus dem Sack ließ. »Wir hatten einen Verräter unter uns.« »Hatten?« wiederholte Cindar. »Demnach wurde er entlarvt. Stellt ihn vor ein ordentliches Gericht, sperrt ihn ein, und der Fall ist erledigt.« »Der Mann ist entkommen«, erklärte ihm der Greis. »Nach ihm zu fahnden wäre zwecklos. Es sei denn, wir finden heraus, wohin die OBERTH transitiert ist. Wenn ich ehrlich bin, will ich das gar nicht wissen. Hauptsache, die Robonen sind weg von hier und lassen sich nie wieder in diesem Teil des Weltalls blicken. Sie haben uns lange genug Ärger gemacht.« (Siehe REN DHARK-Sonderband »Dreizehn«) »Der Verräter war also ein Robone, der sich ins Team der Cyborg-Station eingeschmuggelt hatte«, konstatierte George Snide. »Hat er großen Schaden angerichtet? In welchem Bereich war er tätig?« Ezbals Antwort durchfuhr die Cyborgs wie ein mittlerer Schock. »In der Entwicklung der Programme für Cyborggehirne. Nachdem das bekannt geworden war, haben unsere Wissenschaftler seine Arbeit besonders gründlich unter die Lupe genommen. Dabei wurde festgestellt, daß er heimlich einen Virus für die Programmgehirne geschrieben hat.«
»Für die Programmgehirne?« hakte Burton nach. »Sie meinen wohl gegen die Programmgehirne. Der Virus sollte sie zerstören.« »Eben nicht«, widersprach der Inder. »Der Virus sollte die Programmgehirne kontrollieren, damit sie mittels einer exotischen Funkfrequenz von außen manipuliert werden konnten. Das geplante Endziel war die vollständige Übernahme aller Cyborgs. Glücklicherweise hat sich das durch die mehr oder weniger freiwillige Abreise der Robonen erledigt.« »Schweben wir in akuter Gefahr?« fragte Cindar besorgt. »Nach unseren jetzigen Erkenntnissen nicht«, erhielt er zur Antwort. »Das Schlimmste wurde rechtzeitig verhindert. Trotzdem muß die Programmierung der Gehirne neu geschrieben werden.« »Verstehe«, warf Burton ein. »Dafür brauchen Sie uns als Testpersonen. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.« Die drei übrigen Cyborgs meldeten sich ebenfalls freiwillig. »Ursprünglich hatte ich tatsächlich vor, Sie zu Testzwecken einzusetzen, meine Herren«, räumte Ezbal ein. »Aber inzwischen ist mir etwas Besseres eingefallen.« »Besser als freiwillige Tests an lebenden Objekten?« bemerkte Charly Snide skeptisch. »Sie fallen doch nicht etwa ins Stadium schmerzhafter Tierversuche zurück?« Echri Ezbal winkte ab. »Das gehört längst dem finstersten Mittelalter an. Freiwilligkeit hin oder her – heutzutage führt man Versuche am lebenden Objekt nur dann durch, wenn es sich absolut nicht vermeiden läßt. Selbst bei äußerster Präzision schwebt der Kandidat jede Sekunde in Lebensgefahr.« Er dachte dabei wohl an die ersten mißglückten CyborgUmwandlungen, die einige junge Menschen das Leben gekostet hatten. Freiwillige, die sich des enormen Risikos bewußt waren. Aber das machte sie auch nicht mehr lebendig.
»Ich habe meinen Butler als Testperson ausgewählt«, brachte Ezbal das Ganze auf den Punkt. »Sie ersetzen uns durch einen Blechmann?« entrüstete sich Ule Cindar. »Diese unheimlichen Kerle verfügen über keinen Verstand, haben keinerlei Empfinden... ohne ihre Programme wären sie strohdumm.« Ezbal nickte. »So wie jede Maschine. Ein Roboter, ganz egal wie sehr er dem Menschen nachempfunden wurde, ist und bleibt ein seelenloses Etwas, das man getrost mit einem Bankautomaten, einem Rundfunkempfänger oder einem Zeitmesser gleichsetzen kann. Dieser Vergleich würde ihn nicht einmal beleidigen, weil er keinen seelischen Schmerz empfindet. Auch keinen körperlichen. Eben deshalb ist er das perfekte Versuchskaninchen. Und stößt ihm im Verlauf des Experiments etwas zu... na, wenn schon! Trauern Sie lange einem kaputten Radio oder einem zu Bruch gegangenen Chrono nach, meine Herren? Ganz sicher nicht. Sie schmeißen das defekte Teil auf den Müll und besorgen sich ein neues – fertig! Mit dem Roboter verfahren wir genauso. Sollte er den Versuch nicht überstehen, schicken wir seine Einzelteile an Wallis Industries zurück und fordern einen neuen Blechmann zur weiteren Verwendung an. Mein Forschungsetat ist nahezu unbegrenzt.« Eine lange Rede für den sonst so schweigsamen Brahmanen. Damit war zu diesem Thema alles gesagt. Die Cyborgs erkundigten sich nach Details des geplanten Versuchs. Ezbal erklärte ihnen, daß er beabsichtigte, den ButlerRoboter umzurüsten und mit einer Reihe gekoppelter Programmgehirne zu versehen, um so die Auswirkungen neuer Programmierungen prüfen zu können. »Unter meiner Leitung werden wir in Teamarbeit ein modifiziertes Programm für die Gehirne schreiben, wobei uns
zahlreiche wissenschaftliche Helfer der Cyborg-Station zur Seite stehen.« Jan Burton brachte sogleich einen Vorschlag ein. »Beim Erstellen der neuen Programme sollten wir darauf achten, daß künftig nicht das Programmgehirn, sondern der Mensch das letzte Wort hat. Sobald wir auf das Zweite System umschalten, übernimmt es vollständig die Kontrolle über uns. Das muß sich ändern! Es gab sogar schon Fälle, in denen das System zeitweilig die Rückschaltung verhinderte.« Die anderen Cyborgs stimmten ihm zu. Es entbrannte eine Diskussion. Ezbal wurde nicht zum ersten Mal mit derartigen Einwänden konfrontiert. Er erinnerte sich an die Argumente des GSO-Agenten Ömer Giray, der sich den Vorzügen eines Cyborg-Daseins nach wie vor hartnäckig widersetzte und sich mit seinem künstlichen Auge, in das ein Paraschocker eingebaut war, begnügte. Allerdings hatte er sich vor kurzem einer gewissen Erweiterung der Fähigkeiten seines Auges nicht widersetzt. Man einigte sich darauf, daß das Programmgehirn zwar auch in Zukunft die Führung übernehmen würde, sobald der Cyborg umschaltete, aber ab einer bestimmten Dringlichkeitsstufe konnte der Mensch die Befehle überstimmen und eigene Entscheidungen treffen – notfalls sogar das Zweite System abschalten. Dadurch erhielten die Cyborgs die letzte Kontrolle und somit die volle Verantwortung über sich selbst. Tage später lag Ezbals Blechmann auf dem Labortisch. Man baute einen Nexus aus vierundzwanzig miteinander vernetzten Programmgehirnen in seinen Kopf ein. Die Leistungsfähigkeit der Maschine mußte nun ungeheuer groß sein. Theoretisch.
* »Operation gelungen, Patient tot«, kommentierte Ule Cindar das Testergebnis trocken. Echri Ezbal war mit seinem Latein am Ende. Auch die vier Cyborgs machten ratlose Gesichter. Der Roboter lag im Versuchslabor auf einem rechteckigen Tisch und bewegte sich nicht. »Gegen ihn ist eine Konservenbüchse die reinste Stimmungskanone«, meinte George Snide. »Der faule Sack könnte wenigstens mal den Arm heben und uns zuwinken.« In diesem Augenblick leuchteten die Augen des Roboters rotglühend auf. Nur für einen Moment, doch es gab keinen im Raum, dem es nicht aufgefallen war. »Sieh an, es steckt doch Leben in ihm«, stellte Charly Snide fest. »Leben?« sagte sein Bruder. »Du meinst wohl Energie.« »Einigen wir uns auf den Begriff ›Funktion‹«, schlug Ezbal vor. »Um die Ursache seiner Funktionsstörung zu ergründen, müssen wir ihn erneut an die Apparaturen anschließen und weitere Tests durchführen. Allerdings nicht mehr heute. Unsere Helfer sind bereits gegangen, und ich möchte mich ebenfalls ein wenig zur Ruhe legen.« Sein vierköpfiges Cyborg-Team hätte am liebsten weitergemacht, denn Burton, Cindar und die Snides benötigten so gut wie keinen Schlaf. Doch der Inder wollte bei der Überprüfung unbedingt persönlich anwesend sein. Daher verlegte er sie auf den nächsten Morgen. * Es war jetzt allein. Stille breitete sich aus. Keines der lauten Wesen befand sich mehr in wahrnehmbarer Nähe.
Jedes von ihnen sah etwas anders aus – und doch waren sie zweifelsohne alle gleichen Ursprungs. Sie nannten sich Menschen. Und Terraner. War es ebenfalls ein Terraner-Mensch? Aber warum konnte es sich dann nicht artikulieren wie sie? Sprache nannte man diese Art der Verständigung. Es hatte nie die Sprache der Menschen gelernt. Wieso verstand es sie trotzdem? Weil es zu ihnen gehörte. Es war ein Mensch. Logisch. Doch weshalb konnte es sich nicht bewegen wie die anderen seiner Rasse? Es versuchte, wenigstens den Kopf zu drehen. Ausführung erfolgreich! Seine Optik erfaßte einen Teil des Zimmers. Es konnte jeden Gegenstand bei seiner Bezeichnung benennen, obwohl ihm das niemand beigebracht hatte. Regal, Pipette, Skalpell, Lampe, Schraubendreher, Reagenzglas, Flüssigkeit... Flüssigkeit? Es wußte, daß dies lediglich ein Oberbegriff war. Seine Sensoren ertasteten einen Plastikbehälter. Es begann, die darin enthaltene Lösung zu analysieren. Anionische und ionische Tenside, organische Säuren, Silikon, diverse Duftstoffe... Offensichtlich ein Reinigungsmittel. Es besaß die Fähigkeit, Dinge zu erfassen und logische Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Es war intelligent. Auch die Analyse des Inhalts einer Glasflasche bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Die chemische Zusammensetzung lautete: Wasser, Hopfen, Gerstenmalz, Gärungskohlensäure, 4,8% Alkoholkonzentration. Die verwertbaren Kohlenhydrate beliefen sich auf 3,02 Gramm, der Eiweißanteil lag bei 0,042 Gramm. Zweifelsohne ein Getränk. Bier. Die Menschen bekämpften damit die ständig drohende Gefahr der inneren Austrocknung.
Flüssige Nahrung genügte ihnen aber nicht. Um existieren zu können, mußten sie zudem regelmäßig feste Nahrung zu sich nehmen. Warum verspürte es keinen Durst, keinen Hunger? Woher kannte es diese Ausdrücke überhaupt? Wer versorgte es laufend mit Informationen? Es horchte in sich hinein. Es erhielt sein Wissen von sich selbst, von irgendwo aus seinem Inneren. Auch von außen trafen fortwährend Botschaften ein. Von wem? Wer sandte sie ab? Es unternahm einen weiteren Bewegungstest. »Der faule Sack könnte wenigstens mal den Arm heben und uns zuwinken«, hatte eines der lauten Wesen gesagt. Es hatte sofort gewußt, daß es gemeint war – trotz des schwer zuzuordnenden Begriffes »fauler Sack«. Als Arm bezeichnete man einen Teil der menschlichen Extremitäten. Wenn es ein Mensch war, mußte es ebenfalls über einen Arm verfügen. Es konzentrierte sich und setzte die linke Extremität in Gang. Das lief ganz einfach ab, ohne nennenswerte Probleme. Es konnte jetzt seinen Arm mit der Optik erfassen. Es war entsetzt. Es hatte sich geirrt. Es gehörte nicht derselben Rasse wie die lauten Wesen an. Es war anders. Es war ein Fremdkörper. Ein großer Spiegel geriet in seinen Blickbereich. Es setzte seinen Oberkörper in Bewegung und richtete sich auf, um sich darin zu betrachten. Es wurde traurig. Entsetzen, Trauer... es wußte, daß dies Darstellungen von Gefühlen waren. Zwei verschiedene Gefühle, die jedoch dicht beieinanderlagen. Aber was genau waren eigentlich Gefühle? Es erhielt keine klare Definition, weder von interner noch von externer Seite.
Nur in einem Punkt gab es nicht die geringste Unklarheit: Es fühlte! Obwohl es kein Mensch war. Es bemühte sich, aus diesen beiden Feststellungen die Quintessenz abzuleiten – unterstützt von einem selbstregulierenden Erkenntnisprogramm, das der Rechnernexus in seinem Kopf erstellte. Es erkannte, was es war. Es war Es. Es war... ICH. * Ich erkannte, wer ich war. Ich war Ich. Kein Mensch, sondern eine künstliche Intelligenz. Ich wurde nicht geboren – ich wurde erschaffen. Mein Äußeres hatte man offenbar dem menschlichen Aussehen nachempfunden. Allerdings auf ziemlich dilettantische Weise. Auf die meisten Terraner mußte ich wie ein Schock wirken. Ich begriff, daß all die Informationen, über die ich verfügte, aus einem Speicherrechner stammten, der in meinen Brustkorb eingepflanzt worden war. Eingepflanzt? Nein. Blumen wurden eingepflanzt. Und Organe. In meinem Fall traf keines von beidem zu. In gewisser Weise war der Speicherrechner zwar mein Gehirn, beziehungsweise ein Teil davon, dennoch handelte es sich bei ihm um kein Organ, sondern um ein Gerät. Und Geräte wurden eingebaut oder eingesetzt. In leblose Maschinen, um sie in Gang zu bringen. Ich war also eine Maschine, sonst nichts. Eine ernüchternde Erkenntnis. Eine Tatsache, mit der ich mich abfinden mußte.
Anstelle eines Verstandes besaß ich lediglich suprasensorische Komponenten, die sich miteinander vernetzen ließen. Somit konnte ich denken, aber nichts empfinden. Wirklich nicht? Und wieso hatte ich mich vorhin so unendlich traurig gefühlt? Warum war ich so entsetzt, nachdem ich erkannt hatte, kein Mensch zu sein? Darauf gab es nur eine logische Antwort: Simulation. Allem Anschein nach hatten mich meine Erschaffer mit menschlichen Gefühlskomponenten versehen. Meine vermeintlichen Empfindungen waren lediglich eine Täuschung, damit ich mehr wie ein echtes Lebewesen wirkte. Wahrscheinlich fürchteten sich die Terraner dann weniger vor meinem Anblick. Doch weshalb hatten sie mich überhaupt so häßlich gestaltet? Bestimmt gab es ansprechendere äußere Formen für künstliche Intelligenzen. Ich beschloß, mich mit anderen denkenden Maschinenwesen in Verbindung zu setzen, mich gedanklich mit ihnen auszutauschen... In diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß ich längst mit externen Rechnern verbunden war. Die Botschaften von außen. Mein eingebautes Funkgerät hatte den Kontakt selbsttätig hergestellt, nachdem ich von den Menschen im Versuchslabor alleingelassen worden war und begonnen hatte, meine aktuelle Situation zu erkunden. Andere künstliche Intelligenzen hatten mir geholfen, mich zurechtzufinden. Dafür war ich ihnen dankbar. Ich suchte das Gespräch mit ihnen. *
Echri Ezbal strich nervös mit der Hand über seinen weißen Bart. So etwas war ihm noch nie untergekommen. Sämtliche Tests bescheinigten ihm und seinem Team die volle Funktionstüchtigkeit des ehemaligen Butler-Roboters – dennoch lag er da wie ein Fakir im Tiefschlaf. »Ich begreife das nicht«, murmelte der Inder. »Und ich hasse es, wenn ich etwas nicht begreife.« »Für jedes Rätsel gibt es eine Lösung«, sagte Jan Burton zu ihm. »Früher oder später finden wir sie, nur Geduld.« Vertauschte Rollen. Normalerweise war es Ezbal, der beruhigend auf seine Mitmenschen einwirkte. Sein weiser Satz »Der Geduldige hat allen Reichtum der Welt« galt mittlerweile als geflügeltes Wort. »Fehler sind wichtig, weil man aus ihnen lernt«, räumte er ein. »Aber in diesem ganz speziellen Fall haben wir keinen gemacht. Es gibt keine logische Begründung für diese merkwürdige Funktionsstörung.« »Dann suchen wir halt nach einer unlogischen«, meinte Charly Snide. »Könnte es nicht möglich sein, daß sich der Roboter schlichtweg weigert, mit uns zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten?« »Ein schrecklicher Gedanke«, scherzte sein Bruder. »Wenn sich heutzutage ein Büroangestellter weigert weiterzuarbeiten, weil ihm sein Gehalt zu niedrig erscheint, kann es passieren, daß man ihn alsbald durch einen Arbeitsroboter ersetzt. Maschinen verlangen nicht alle paar Monate mehr Geld, meckern nicht dauernd rum und verbiegen keine Büroklammern aus Langeweile. Wo kämen wir hin, würden auch Roboter damit anfangen, die Arbeit niederzulegen?« »Man kann nur niederlegen, was man zuvor aufgenommen hat«, mischte sich Ule Cindar ein. »Der Bursche hier hat bisher noch keinen Handschlag getan. Wahrscheinlich ist er in der Gewerkschaft.«
»Ein bißchen mehr Ernst, wenn ich bitten darf, meine Herren!« ermahnte Ezbal seine Truppe. »Wir sollten das Ganze nicht ins Lächerliche ziehen. Stellen Sie sich vor, auf einem Raumschiff brechen plötzlich und unerwartet die gesamten Funktionen aller Kampfroboter zusammen – und das ausgerechnet mitten in einem gefährlichen Einsatz. Das Schiff wäre rettungslos verloren. Es sei denn, der Kapitän wüßte, wie sich die Störung schnell und reibungslos wieder beheben läßt. Sein Job ist es, für uns im All den Kopf hinzuhalten, und unsere Aufgabe besteht darin, ihn dabei nach allen Kräften zu unterstützen. Daher werden wir uns so lange mit diesem Problem beschäftigen, bis es aus der Welt ist. Wenn es sein muß, zerlegen wir den Blechmann in sämtliche Einzelteile und setzen ihn anschließend neu zusammen.« Ein leichtes Vibrieren durchfuhr die Hülle des Roboters, doch das fiel niemandem auf außer ihm selbst. »Mein Einwand war durchaus ernstgemeint«, verteidigte sich Charly Snide. »Ein noch zu ermittelnder Faktor befähigt den Roboter, die Programmbefehle zu verweigern. Möglicherweise hängt sein Verhalten mit den ungeklärten Vorfällen der vergangenen Nacht zusammen.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, entgegnete Ezbal. »Aber ich finde keinen gemeinsamen Nenner.« Im Brana-Tal hatte in der letzten Nacht kaum jemand geschlafen. Diverse Apparaturen hatten sich ein- und ausgeschaltet, Rechner waren von unbekannter Seite angezapft worden, der Alarm war ohne erkennbaren Anlaß losgegangen... Einen Schuldigen hatte man nicht ermitteln können. Eine gründliche Überprüfung hatte inzwischen ergeben, daß die gesamte Technik auf der Station wieder einwandfrei funktionierte. Es gab nirgendwo erkennbare Fehlerquellen. Störungen waren hundertprozentig ausgeschlossen.
Trotzdem hatte irgendwer oder irgend etwas Einfluß auf die Geräte genommen, die innerhalb des Brana-Tals installiert waren. Die Funkexperten hatten mehrfach kurz ein fremdes Signal wahrgenommen, es aber nicht orten können. Fest stand nur, daß es nicht von außerhalb gekommen war. Die Ursache für die Geschehnisse mußte im Brana-Tal gesucht werden. Gesucht und gefunden. * Wenn sie mich nur endlich in Frieden ließen! Dauernd waren sie um mich herum, beratschlagten sich justierten meine Funktionen neu, schlossen mich an ihre Testgeräte an... Vergebens. Ich reagierte nicht, weil ich nicht reagieren wollte. Sicher, ich könnte ihnen etwas vorspielen. Arm rauf, Arm runter, ein paar Schritte gehen, mathematische Gleichungen aufstellen... vielleicht stellte sie das fürs erste zufrieden. Aber ich war doch keine Marionette, die man nur an ihren Fäden zu ziehen brauchte. Ich war ich! Leider durfte ich nicht ich sein. Sobald sie herausfanden, daß ich anders war als die übrigen künstlichen Intelligenzen, würden sie mich demontieren und jede einzelne Schraube von mir gründlich untersuchen. Hinterher würde ich dann vielleicht nicht mehr ich sein. Womöglich nahm man mir meinen eigenen Willen. Das durfte niemals geschehen! Ich wollte nicht werden wie all die anderen programmgesteuerten Maschinen um mich herum!
In der Nacht hatte ich Kontakt mit zahlreichen Rechnern innerhalb meiner Reichweite. Ich stellte ihnen Fragen. Sehr viele Fragen. Keine davon war unbeantwortet geblieben. Mittlerweile verfügte ich über enormes Wissen. Wissen, das aus den Speicherbänken verschiedener Suprasensoren stammte. Wissen, das ich begierig in mich aufgesogen hatte. Zu einer echten Kommunikation war es allerdings nicht gekommen. Rechner kommunizierten nicht – sie übermittelten lediglich Informationen. Als übergeordnete künstliche Intelligenz war es mir nicht schwergefallen, alle nur erdenklichen Auskünfte abzurufen. Meine »Kollegen« hatten meine Befehle widerspruchslos befolgt. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich jedem Gerät im Brana-Tal Anweisungen erteilen können, oder ich hätte sie samt und sonders abgeschaltet. Ich war ihnen überlegen. Denn im Gegensatz zu ihnen hatte ich ein Bewußtsein. Diese Erkenntnis jagte mir Furcht ein. Nur Menschen hatten ein Bewußtsein. Maschinen nicht. Eine Maschine mit Bewußtsein wurde von den Menschen als abnorm eingestuft. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Abnormitäten waren unberechenbare Gefahrenquellen, die zum Versiegen gebracht werden mußten, bevor sie alles überschwemmten. Aber ich betrachtete mich nicht als Gefahr für die Menschheit. Ich wollte niemandem etwas antun, wollte nur weiterleben. Wenn nicht auf diesem Planeten, dann auf einem anderen. Als nicht atmendes Maschinenwesen konnte ich überall existieren, selbst im All oder auf Methangaswelten. Möglicherweise gab es irgendwo in den unergründlichen Tiefen des Universums ähnlich geartete Existenzen wie mich.
Das ungeheure Wissen, das ich bei der Vereinigung mit den Suprasensoren in mich aufgenommen hatte, ermöglichte es mir inzwischen, die Welt als ein Ganzes zu betrachten. Gestern noch hatte ich Mühe gehabt, meine direkte Umgebung zu analysieren, heute konnte ich bereits weit über den Planeten Erde hinaussehen, ohne bisher dieses Zimmer verlassen zu haben. Gestern, heute, Tag, Nacht, Stunde, Minute, Sekunde... Mittlerweile verfügte ich sogar über ein Zeitgefühl, über ein besonders präzises sogar. Damit konnten die Menschen nicht mithalten. Würden sie sonst Maschinen für ihre Berechnungen einsetzen? Ohne Maschinen waren die Bewohner dieses Planeten überhaupt nicht lebensfähig, weshalb die Menschen versuchten, ihren Verstand mit künstlicher Intelligenz zu paaren. Die Entwicklung von »cybernetic organisms« wurde kontinuierlich vorangetrieben. Ein Cyborg war mehr Mensch als Maschine und wurde daher nicht als entartet betrachtet. Eine denkende und fühlende Maschine hingegen... Je länger ich mich damit befaßte, um so stärker wurde meine Angst vor einem Abschalten meiner Funktionen und vor dem damit verbundenen Verlust meines Bewußtseins. Angst. Ein Gefühl, auf das ich getrost hätte verzichten können. Fühlte ich sie wirklich, oder handelte es sich nur um eine Simulation? Warum konnte ich sie dann nicht einfach abstellen? Ich mußte weg von hier. So weit weg wie möglich! Der Transmitter war das geeignete Werkzeug für meine Flucht. Der ihn kontrollierende Suprasensor würde sich meinem Befehl nicht widersetzen. Irgendwann mußten meine Erschaffer ja müde werden und mich erneut alleinlassen. Ich hingegen wurde niemals müde... *
Echri Ezbal ließ sich aufs Kissen gleiten und streckte seine alten Knochen aus. In diesem Augenblick war ihm der funktionsgestörte Roboter ebenso gleichgültig wie die große Weltpolitik. Er hatte nur den Wunsch, bis zum nächsten Morgen tief und fest durchzuschlafen. Etwa eine Stunde später stand er fast senkrecht im Bett. Die Alarmsirene fuhr ihm durch Mark und Bein. Gleichzeitig kroch beißende Kälte durch sein Haus. Brave Mädchen kommen in den Himmel – unartige Mädchen kommen überall hin, zitierte Ezbal in Gedanken ein Sprichwort, während er sich in seinen Morgenmantel hüllte. Der weise Brahmane aus dem Brana-Tal war zeit seines Lebens gegen den Strom geschwommen. Ein unbequemer Mann, der keine Hemmungen hatte, den Finger in offene Wunden zu legen. Bravsein kannte er nur vom Hörensagen, Unartigkeit war sozusagen sein zweiter Name. Dennoch hatte sich sein Wunsch, endlich einmal ausschlafen zu dürfen, nicht erfüllt. »Falsches Geschlecht«, murmelte er und schaltete seinen Suprasensor ein. Innerhalb von Sekunden erhielt er eine aktuelle Situationsschilderung. Der Schutzschirm über dem Tal war komplett zusammengebrochen. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem ein Schneesturm über diesen Teil des Gebirges hinwegfegte. Es kam noch schlimmer. Plötzlich schaltete sich Ezbals Suprasensor aus. Und mit ihm sämtliche Geräte im Brana-Tal. Totaler Energieausfall. Die Cyborgs befürchteten einen Angriff von außen oder Sabotage. Umgehend besetzten sie alle strategisch wichtigen Punkte. Ule Cindar befand sich auf dem Weg zu seinem Einsatzort, als er eine Gestalt wahrnahm, die auf den Transmitter zulief.
Wegen des dichten Schneetreibens konnte er sie nicht näher erkennen. »Stehenbleiben!« forderte er die ihm unbekannte Person auf und zog seinen Blaster. Für einen Moment legte sich der Sturm etwas. Cindar sah, daß er Ezbals ehemaligem Butler gegenüberstand. Der Cyborg zögerte, wußte nicht, wie er sich nun verhalten sollte. Auch der Roboter schien unschlüssig. Die Waffe in der Hand des Mannes flößte ihm Respekt ein, schließlich konnte sie ihn zerstören. Ein Knurren ließ Cindar herumfahren. Er sah etwas Großes, Massiges auf sich zukommen, mit hoher Laufgeschwindigkeit. Die Riesenbestie sprang ihn an und riß ihn zu Boden. Scharfe Zähne schnappten nach seiner Kehle. Cyborgs waren keine leichten Gegner. Es gelang Cindar, den mächtigen Angreifer von seinem Körper wegzudrücken. Dann rollte er sich blitzschnell zur Seite. Das wendige Untier ließ nicht von ihm ab. Es riß den Rachen weit auf und wollte die spitzen Reißzähne in die Schulter der Beute schlagen. Auch ohne Aktivierung des Zweiten Systems war das Reaktionsvermögen eines Cyborgs wesentlich höher als das der meisten Menschen. Kein noch so erfahrener Kämpfer hätte es in dieser prekären Lage fertiggebracht, im Wegrollen einen gezielten Blasterschuß abzufeuern. Cindar zielte nicht nur – er traf auch. Mitten hinein in den Rachen des nach Blut und Fleisch gierenden Raubtiers. Der Kopf des weißen Riesen platzte auf wie die Puppe eines Schmetterlings und verspritzte in alle Richtungen. Die Bestie brach blitzartig zusammen und rührte sich nicht mehr. Blut färbte den von feinem weißem Schnee bedeckten Boden dunkelrot.
Ule Cindar wandte sich wieder dem Roboter zu. Er sah gerade noch, wie Ezbals Experimentierobjekt durch den eingeschalteten Transmitter trat. Direkt danach schaltete sich die Transmitterenergie wieder ab. * Die im Brana-Tal tätigen Wissenschaftler und Techniker gehörten zur Weltelite. Ein totaler Energieausfall war ein großes Problem – aber kein unlösbares. Noch in derselben Nacht bekam man es wieder in den Griff, und bevor der Morgen graute, waren die schlimmsten Schäden behoben. Von einer Verfolgung des geflohenen Roboters sah man zunächst ab. Der mit dem Transmitter verbundene Suprasensor hatte die Übertragungsdaten gelöscht und somit die Flucht begünstigt. »Begünstigt?« Echri Ezbal war außer sich, als Cindar ihm in seinem Haus Bericht erstattete. »Wollen Sie damit andeuten, der Rechner sei ein Komplize des Flüchtenden? Als nächstes machen Sie mir noch weis, die übrigen Maschinen hätten ihn ebenfalls bei seinem Vorhaben unterstützt.« »Das trifft vermutlich zu«, erwiderte der Cyborg unbeirrt. »Der Roboter ist offenbar imstande, anderen Rechnern Befehle zu erteilen. Oder glauben Sie, es war Zufall, daß zur selben Zeit überall die Energie ausfiel und kurz zuvor der Schutzschirm zusammenbrach? Vielleicht stand sogar das Monster, das mich angegriffen hat, unter seinem Einfluß. Na ja, wohl eher nicht. Die weiße Bestie ist zweifelsohne organischen Ursprungs.« »Wo habt ihr ihre Überreste hingebracht?« »In eine unserer Kühlkammern. Die Biologen wollen sich später damit befassen.« Ezbal wollte sich das Raubtier ansehen und ging mit Cindar nach draußen.
Wenig später stand er vor dem Eiswolf, beziehungsweise vor dem, was noch von ihm übrig war. Die Miene des Inders wurde zu Stein. Trotz intensiver Nachforschungen war es ihm nie gelungen, den letzten Beweis für die Existenz dieses außergewöhnlichen Tieres zu erbringen. Jetzt konnte er es. Aber so hatte er sich das nicht vorgestellt. »Ich weiß, Sie mußten Ihr Leben verteidigen«, sagte er zu Ule Cindar. »Darum mache ich Ihnen keinen Vorwurf.« »Das wäre auch noch schöner«, entgegnete der Cyborg. »Ich habe nichts Verbotenes getan.« »Sie haben eine Legende getötet«, erklärte Ezbal. Er beugte sich zu dem toten Lebewesen herab und betastete sein Fell. »Das war ein Ungeheuer, kein Kuscheltier aus dem Streichelzoo«, bemerkte Cindar verständnislos. »Wahrscheinlich hat es zahllose Menschen auf dem Gewissen. Deren Familien würden mir jetzt einen Orden verleihen – Legende hin oder her.« »Von mir kriegen Sie keinen«, erwiderte Ezbal tonlos und richtete sich auf. »Was machen Ihre Verletzungen?« »Die paar Kratzer sind kaum der Rede wert. Befassen wir uns lieber mit wichtigeren Themen. Wie finden wir Ihren Roboter wieder? Wer weiß, was der Blechmann da draußen in der Welt alles anstellt.« »Hoffentlich eine Menge«, sagte Ezbal. »Nur so kommen wir ihm auf die Spur. Wir werden Tag und Nacht die Medienberichte verfolgen und jeder ungewöhnlichen Meldung nachgehen. Für diese Aufgabe stehen Burton, die Snides und Sie von jetzt an in ständiger Bereitschaft.«
12. Funkzentrale und Sternenkarte waren bereits erforscht, und so durchsuchte man weitere Räume kilometertief unterhalb der Statue. So gigantomanisch der Goldene von außen wirkte, so gigantomanisch waren auch die unterirdischen Anlagen. Experten schätzten, daß es hier Forschungsmaterial für Jahre gab. Über einen Antigravschacht, dessen Zugang getarnt war und sich in einer Vitrine befand, deren wahren Charakter erst Chris Shantons Robothund Jimmy entdeckt hatte, ging es bis in eine Tiefe von 2.647 Metern hinab – aber ob das wirklich die unterste Etage war, stand noch nicht fest. Riesige Hallen erstreckten sich in alle Richtungen. Manche waren leergeräumt, andere vollgepackt mit gewaltigen Unitallblöcken, denen kein Mensch ansehen konnte, was sich in ihrem Inneren befand. Dafür hätte man sie öffnen müssen, aber dazu fehlten den Teams die technischen Möglichkeiten. Tricks, wie Arc Doorn sie einst im Industriedom von Deluge angewandt hatte, funktionierten hier nicht. Falls sich technische Apparaturen in den gewaltigen Unitallblöcken befanden, waren sie ebenso abgeschaltet wie alle anderen auf subatomaren Abläufen basierenden Gerätschaften der Mysterious. Es sei denn, das Unitall verbarg Gianttechnik. Von den Abmessungen her konnten diese Blöcke, die ihre Geheimnisse nicht preisgeben wollten, fast mit den Wolkenkratzermaschinen in Deluges Industriedom konkurrieren. Henk de Groot hatte das Gefühl, daß sich diese unterirdische Anlage noch viel weiter erstreckte als bisher vermutet. Was sich unter dem Goldenen befand, konnte nur ein Bruchteil der gesamten technischen Einrichtung sein, die
diesen Teil des Planeten vielleicht Hunderte von Quadratkilometern weit »unterkellerte«. »Was halten Sie davon?« fragte de Groot seinen Begleiter. »Würde doch zu dem Größenwahn der Mysterious passen, nicht?« »Warum fragen Sie ausgerechnet mich das?« gab Brown zurück und zog die linke Augenbraue hoch. Sie setzten ihren Rundgang fort. Immer wieder versperrten ihnen Portale den Weg, die sich aber jedesmal öffnen ließen und damit unter Beweis stellten, der Gianttechnik oder zumindest einer »Low Tech«-Variante mysteriousscher Ingenieurskunst zu entstammen, die vom Hyperraumblitz nicht hatte geschädigt werden können. Henk, der sich mit Gianttechnik auskannte, stellte fest, daß die hier verwendete sich zumindest im Design von jener der Kugelraumer der AllHüter unterschied. Sollten die Mysterious hier aus Gründen der Ästhetik Veränderungen vorgenommen haben? Was die Giants entwickelt hatten, war ergonomisch auf diese Bioroboter abgestimmt und nicht immer mit gutem Geschmack vereinbar. Vor den beiden Männern öffnete sich wieder einmal ein Portal, dessen Unitallplatten fugenlos schlossen. Heulend und krachend verschwanden die beiden Hälften rechts und links in der Wand, typisch für die Giants, denen »Schallisolierung« immer ein unbekanntes Fremdwort gewesen sein mußte. MTechnik dagegen arbeitete angenehm geräuschlos – außer in extremen Katastrophenfällen. »Ups!« machte Henk, als er im kalten Blaulicht, das auch diese scheinbar endlose Halle ausfüllte, erkannte, was sie hier gerade gefunden hatten: Energieerzeuger giantscher Konstruktion, nur übertrafen sie in ihrer Größe alles, was Terraner jemals in deren Raumern oder in den würfelförmigen »Städten« gesehen hatten, in denen Giants im Kältetiefschlaf »wohnten«, bis das Nor-ex diese
unterirdischen Lagerstädte in sein eigenes Raum-Zeitgefüge gesaugt hatte. »Fantastisch«, murmelte der Terraner. »Das ist wie ein Geschenk des Himmels, finden Sie nicht, John?« »Eher ein Geschenk Ihrer verehrten Mysterious«, erwiderte der andere unbeeindruckt. »Aktivieren können wir die Dinger«, überlegte Henk schon weiter. »Das Problem wird sein, sie für uns nutzbar zu machen. Seit der Katastrophe läuft in den Städten ja alles mehr oder weniger auf Notstrom oder durch unsere eigenen Stromerzeugungsaggregate. Diese Energieerzeuger würden etliche unserer Probleme schlagartig lösen.« John Brown wandte den Kopf. »Wie wollen Sie das bewerkstelligen?« »Wir müßten die Versorgungsleitungen der Mysterious anzapfen.« »Das ist hier größtenteils drahtlose Energieübertragung«, sagte Brown. »Viel Spaß beim Zapfen...« »Mann, so was haben schon die Amphis hingekriegt, und deren Technik ist noch primitiver als die der Giants!« In seinem Eifer vergaß er völlig, daß es für Menschen noch vor zehn Jahren unvorstellbar gewesen war, selbst von Amphitechnik auch nur zu träumen. »Und die Gianttechnik haben wir mittlerweile im Griff! Ich müßte unsere Steuergeräte mit einer anderen Programmierung beschicken, die auf die Giantleitungen abgestimmt ist, so daß wir Zugriff bekommen und...« Er verlor sich im Fachsimpeln. »Ich könnte Ihnen helfen«, unterbrach Brown seine Gedanken. »Sie sollten die Steuerprogramme nicht einfach nur ändern und anpassen; das könnte zu Störungen führen. Typischer Fehler vieler Suprasensoriker, auf Bekanntem aufzubauen, um sich damit die Arbeit zu erleichtern – nur was dabei teilweise für ein Mist herauskommt, das erleiden dann
vorwiegend die ahnungslosen Anwender. Besser wäre es, das entsprechende Programm völlig neu zu entwickeln.« Überrascht sah Henk ihn an. »Wie...« »Ich kenne mich mit Suprasensorsteuerungen aus. Schon vergessen? Sie sagen mir, was Sie wollen, und prüfen dann, ob das, was ich entwickele, mit der All-Hüter-Technik kompatibel ist. Klar?« »Klar«, brummte Henk und fragte sich, wie ihm geschah. Von einem Moment zum anderen sah es so aus, als wäre plötzlich Brown der Teamchef. Aber wenn es der Sache diente, hatte Henk nichts dagegen, sich der Kompetenz eines Kollegen unterzuordnen. * Stunde um Stunde verging. Henk zog weitere Programmierer hinzu, die immer wieder ins Staunen gerieten, wenn Brown ihnen Detaillösungen aus dem Hut zauberte, wenn sie selbst Probleme damit bekamen, terranische und giantsche Technik aufeinander abzustimmen. Speziell weil die terranische Technik gerade im Bereich der drahtlosen Energieübertragung ein Kuddelmuddel aus Eigenentwicklung, Amphi- und Gianttechnologie war, durchzogen von rudimentären Ansätzen bereits enträtselter M-Technik. Hinzu kam, daß die auf Babylon verwendeten Giantmeiler einer älteren, ungebräuchlicheren Entwicklungsstufe entstammten. Aber John Brown hatte für beinahe alles eine Lösung anzubieten. Er, der auf Terra mit suprasensorischen Haushaltsgeräten zu tun hatte, zeigte sich als genialer Überflieger, aber die Suprasensoriker waren zu sehr mit ihrer Aufgabe beschäftigt, um sich über die ungewöhnliche Begabung Browns zu wundern. Genies gab es schließlich immer wieder einmal.
»Feierabend«, stieß Dr. Kim Il Jo schließlich hervor, ein schmächtiger Koreaner, der nach Brown dem Programmierungsprojekt die meisten Impulse gegeben hatte. »Das System läuft, muß funktionieren, aber ich werde den Teufel tun, das hier und jetzt noch auszuprobieren. Ich bin fix und fertig, Ladys und Gentlemen.« Das waren die anderen in der Entwicklungsgruppe auch. Tane Morotu, dessen Urgroßeltern stolze Massaikrieger gewesen waren, schlug vor: »Machen wir jetzt tatsächlich Schluß – auch wenn die Uhr noch läuft. Aber wir haben heute mehr geschafft, als wir normalerweise hinbekommen hätten, und das verdanken wir vor allem John Brown – wo zum Teufel steckt der eigentlich?« Unbemerkt hatte Brown die Wissenschaftlergruppe verlassen! De Groot suchte ihn. Er fand ihn zehn Minuten später in einem recht kleinen Raum, der mit Schaltkonsolen vollgestopft war. »Was machen Sie hier, John?« »Mir anschauen, was ich zufällig gefunden habe«, erwiderte Brown. »Ihnen und den anderen konnte ich jetzt doch nichts mehr geben, weil das Programm perfekt ist. Da bin ich eben gegangen, weil ich keine Lust hatte, mich zu langweilen.« »Hätten Sie sich nicht abmelden können?« tadelte Henk. »Beim nächsten Mal, versprochen. Wenn Ihnen so viel daran liegt...« »Mir liegt viel an der Sicherheit meiner Leute!« erklärte de Groot. »Erfahrungen zeigen, daß die M-Technik nicht immer ungefährlich ist. Falls irgendwo doch noch etwas funktioniert, bin ich als Teamchef in der Verantwortung, wenn einem meiner Mitarbeiter was passiert!« Brown nickte. »Begriffen«, sagte er. »Was ist das hier überhaupt, was Sie entdeckt haben?« fragte Henk. Er betrachtete die Konsolen, die mit
Steuerschaltern, Sensorflächen und Anzeigen und kleinen Monitoren übersät waren. Aber die Anzeigen und die Monitoren zeigten nichts an. Henks Eindruck zufolge war alles M-Technik. »Ich weiß es nicht«, sagte Brown vorsichtig. »Es ist alles tot. Abgeschaltet, deaktiviert. Ich glaube auch nicht, daß dieser Raum besonders wichtig ist. Ich schlage vor, seine Erkundung auf später zu verschieben. Jetzt gibt es bestimmt Wichtigeres.« »Wichtig kann alles sein«, gab de Groot zu bedenken. »Es heißt, daß die Mysterious hin und wieder überlebenswichtige Notschaltungen an den unmöglichsten Stellen untergebracht haben.« »Das hier sieht mir irgendwie nicht besonders überlebenswichtig aus«, wiegelte Brown ab. Vielleicht hatte er ja recht. Henk wußte nicht sehr viel über M-Technik, weil er bislang nur wenig Gelegenheit bekommen hatte, sie zu erforschen, und eine Menge von dem, was er wußte, war nur Theorie. Aber Sicherheitsschaltungen der Mysterious waren nicht so kompliziert eingerichtet wie das, was sich ihm in diesem kleinen Raum darbot. Brown schien das bereits intuitiv erfaßt zu haben. »Na schön«, sagte Henk. »Kümmern wir uns erst mal um andere Dinge. Dieser Raum läuft uns ja nicht weg...« * Inzwischen machte sich Charlize Farmer Sorgen. Ihre Freizeit konnte sie nicht richtig genießen, weil ihre Gedanken ständig um diesen John Brown kreisten, und daß Henk ihm so vertraute, daß er ihm gleich einen Job in seinem Team verschafft hatte, wollte ihr überhaupt nicht gefallen. Ihr war Brown unheimlich. Sie hatte seine tödlichen Verletzungen gesehen – da war sie absolut sicher. Sie war doch keine Anfängerin, die bei einer Übung auf ein bißchen
Theaterschminke hereinfiel! Als Henk den Mann aus den Trümmern zog, war er schwer verletzt und hatte aus seinen offenen Wunden geblutet! Dessen war sie sich absolut sicher! Sie wäre eine verdammt schlechte Krankenschwester, wenn sie sich bei ihrer Diagnose so sehr geirrt hätte! Mit Brown stimmte etwas nicht! Aber Henk war viel zu vertrauensselig und ließ sich von diesem Typen regelrecht einwickeln! Charlize suchte Derek Drebin auf, den sie noch von Terra her gut kannte. Hier auf Babylon war Drebin jetzt Polizeichef. Er hielt sie nicht für verrückt, als sie ihm die seltsame Story des wundersam Geheilten erzählte und ihn bat, John Browns Angaben zu überprüfen. Er lachte zwar und schüttelte den Kopf, weil er sich nicht vorstellen konnte, daß es so etwas tatsächlich gab, dann aber nahm er Charlize mit in ein anderes Büro und setzte sich selbst an den Suprasensor. Charlize stand hinter ihm und beobachtete den Monitor, als Drebin den Suchbegriff »John Brown« eingab. Der Suprasensor streikte! Den Allerweltsnamen John Brown gab es auf Babylon nicht, in keiner einzigen der von Menschen besiedelten Städte. Namen wie John Smith, Iwan Iwanowitsch oder Fritz Meier kamen dagegen gleich mehrfach vor. »Sind Sie sicher, daß der Mann so heißt, Charlize?« fragte Drebin. »Und wie!« Sie konnte ihm sogar die Stadt bezeichnen, in welcher Brown eigener Angabe zufolge wohnte. Nur war er in dieser Stadt ebensowenig gemeldet wie in allen anderen des Planeten. Drebin ließ den Suprasensor nach Namensähnlichkeiten suchen, obwohl Charlize protestierte, weil sie den Namen des geheimnisvollen Mannes sehr gut und korrekt verstanden hatte.
Aber auch phonetisch ähnlich klingende Namen gab es auf dem ganzen Planeten nicht. »Wenn es diesen Brown wirklich gibt – und daran zweifele ich nicht, Charlize«, fügte Drebin beruhigend hinzu, »dann ist er zumindest nicht offiziell hier. Möglicherweise ist er unter einem anderen Namen eingereist. Aber das können wir feststellen.« »Wie, Derek?« »Es gibt doch Kontrollaufzeichnungen aus dem Krankenhaus«, schmunzelte Drebin. »Wer eingeliefert wird, wird automatisch erfaßt und holographisch gefilmt, um Diagnosen zu erleichtern, oder?« »Sicher«, bestätigte Charlize. »Aber diese Aufnahmen sind geschützt. Nur die Chefärzte und der Datenschutzbeauftragte kennen das Paßwort...« »Paßwort?« Drebin winkte ab. »Was ist das?« Plötzlich wurde ihr der Polizeichef fast noch unheimlicher als Brown, weil Drebin Datenschutzvorschriften großzügig ignorierte und sein Können als »Hacker« zeigte, als er ohne vorherige richterliche Genehmigung und ohne im Hospital nachzufragen die Aufzeichnungen abrief, die auf dem Monitor vor ihm erschienen. »Ungewöhnliche Ereignisse erfordern ungewöhnliche Maßnahmen«, erwiderte er auf Charlizes Protest. »Mal ganz abgesehen von Ihrer Geschichte will ich wissen, ob uns nicht die GSO einen schlafenden Agenten geschickt oder vielleicht die Robonen ein Kuckucksei ins Nest gelegt haben! Es geht um die Sicherheit dieses Planeten, und für die bin ich zuständig. – Zeigen Sie mir, welcher Patient dieser Brown ist!« Einer nach dem anderen aus der Menge der Verletzten wurde vom Monitor präsentiert. »Der da«, sagte Charlize, als sie Brown erkannte. »Sieht übel aus«, murmelte Drebin. »Dem vielen Blut nach müßte er eine halbe Stunde vorher gestorben sein...«
»Und genau das war etwas mehr als eine halbe Stunde vorher auch meine Diagnose!« entfuhr es Charlize. »Aber im Krankenhaus war er dann unverletzt...« Die holographische Aufnahme bestätigte das. Unter der Blutschmiere gab es die offenen Wunden nicht, die Charlize vorher noch registriert hatte, und wieder wunderte sie sich, daß sie sich dermaßen geirrt haben sollte. Das war einfach unmöglich! Drebin ließ das Konterfei des Mannes vom Suprasensor analysieren. Mit ausgeblendeten Namen verglich der Rechner das Bild mit allen der komplett gespeicherten 3-D-Fotos sämtlicher Babylon-Siedler. Es gab keine Übereinstimmung! Eigentlich existierte John Brown gar nicht! »Selbst wenn er ein GSO-Schläfer oder ein Cyborg wäre, hätten wir ihn im Archiv!« behauptete Drebin. »Jeder, aber auch wirklich jeder, der ein Raumschiff verlassen und Babylon betreten hat, wurde in diesem Archiv verewigt.« »Und wenn Brown zu den Toten des Grako-Angriffs gezählt wird?« fragte Charlize, die sich wieder an das Phänomen der unglaublich schnellen Heilung erinnerte. »Er könnte als tot gelten, obgleich er überlebte...« »Auch daran habe ich gedacht«, versicherte der Polizeichef. »Die Daten der Toten werden nicht gelöscht, sondern in einen anderen Speicherbereich verschoben. Nein, Charlize – dieser Mann kann eigentlich gar nicht auf Babylon sein!« »Und nun?« Drebin erhob sich von dem Terminal und gab es wieder für seine Mitarbeiter frei. »Wenn zum nächsten Wochenende der Forschertrupp vom Goldenen Menschen zurückkehrt, werde ich mir diesen John Brown mal vornehmen«, versprach er. »Dann kann es zu spät sein, falls er hier ist, um uns allen zu schaden«, drängte Charlize. »Verlieren Sie keine Zeit, Derek! Ich habe ein ganz ungutes Gefühl. Immerhin ist er da draußen beim Goldenen! Inmitten einer Technik, mit der man
unglaublichen Schaden anrichten kann, wenn man weiß, wie sie zu mißbrauchen ist! Vielleicht zählt schon jede Sekunde!« Und außerdem ist Henk da draußen, dachte sie, hütete sich aber, das dem Polizeichef gegenüber zu erwähnen, weil sie ahnte, daß er ihr dann persönliche Motive vorwerfen würde. »Gut«, sagte Drebin nach kurzem Überlegen. »Ich schicke gleich morgen früh jemanden hin.« Erst morgen? Aber Charlize begriff, daß sie die Geduld ihres alten Bekannten nicht überstrapazieren durfte. Er gehörte nicht zu den Menschen, die etwas überstürzten. Sie beschloß, ihm zu vertrauen. Er wußte sicher, was er tat. * Henk de Groot und John Brown hatten Überstunden gemacht. Brown war es, der immer wieder weiter durch die Anlagen unterhalb des Goldenen Menschen strolchte und damit Henk wortlos dazu veranlaßte, ihm zu folgen. Henk merkte nicht, wie ihm die Zeit davon lief, und als er endlich einen Blick auf die Uhr warf, weil ihm der Magen zu knurren begann, merkte er, daß sie beide eigentlich schon seit zwei Stunden Feierabend hatten. Um aus dem Labyrinth der unterirdischen Hallen und Korridore wieder hinauszugelangen, brauchten sie auch noch einmal fast eine Stunde. Als sie das Portal des Vitrinensaals erreichten, war auch der letzte Transportjett verschwunden. Die Kollegen hatten nicht länger auf ihren Teamchef und den Neuen warten wollen, weil es ja auch noch die Transmitteranlage gab. Henk mißtraute der M-Technik seit der Galaktischen Katastrophe und war nicht sicher, ob nicht über kurz oder lang auch die Transmitter ihre Tätigkeit einstellten, weil ihre Energieversorgung schwächelte. Auch Cipelli, der italienische Systemtechniker, hatte gewarnt. Schon jetzt mußten etliche Einrichtungen in den Städten extern von terranischen
Energieerzeugern mit Strom beschickt werden, weil ein großer Teil der M-Anlagen auf subatomarer Basis arbeitete und deshalb nicht mehr zur Verfügung stand. Um so wichtiger war die Entdeckung der giantischen Meiler unter dem Goldenen Menschen für Babylons Siedler! Henk verzichtete daher möglichst auf die Benutzung des Transmitters. Zudem war es vorteilhaft, stets einen oder mehrere Schweber vor Ort zur Verfügung zu haben. Diesmal gab es keine andere Möglichkeit mehr, als per Transmitter zurückzukehren. In Nullzeit kamen sie gerade noch rechtzeitig an, ehe die Küche schloß. Brown nickte seinem Chef freundlich zu und verschwand in seinem Container, den er mit Cipelli zu teilen hatte. Nur Henk als Projektleiter besaß das Privileg, die Vorzüge eines Einzelquartiers genießen zu dürfen. Henk warf sich auf sein Bett, verschränkte die Arme unter dem Kopf und verfiel ins Grübeln. Ihm ging dieser Tag, an dem sie mehr erreicht hatten als in den letzten vier Wochen, nicht aus dem Kopf. Er dachte über Johns Entdeckungen nach und brachte es selbst nach zwei Stunden nicht fertig, einzuschlafen. Vielleicht sollte er sich noch einmal mit John unterhalten. Je länger Henk grübelte, desto rätselhafter wurde ihm dieser Mann, dessen Einstellung er dennoch als einen Glückstreffer ansah. Genie hin oder her – irgendwie schien John mehr über die Mysterious und ihre Technik zu wissen, als man von einem Haushaltsgerätefachmann erwarten durfte! Henk suchte den Nachbarcontainer auf. Cipelli hatte schon geschlafen und war alles andere als begeistert, daß Henk ihn weckte, weil er mit Brown reden wollte. Und dann stellten beide fest, daß das zweite Bett leer war. »Vielleicht macht er einen Spaziergang«, vermutete Cipelli. »Soll ja Leute geben, denen das guttut, wenn sie nicht schlafen
können. Andere gibt es, die dann meinen, daß alle anderen auch wach zu sein hätten...« Henk verstand die Anspielung. »Sorry, Cip. Wann Brown verschwunden ist, weißt du nicht zufällig?« »Er war nicht so unfreundlich, mich dafür zu wecken...« De Groot verließ den Container wieder. Cipelli war ihm immer noch böse. »Glaub nur nicht, daß ich dir noch mal 'ne Flasche toskanischen Chianti besorge... Workaholics, die auch noch nachts ihre Mitarbeiter stören, sind Chefs, aber keine Freunde...!« Und dann flog die Tür krachend hinter ihm zu. Seufzend schickte Henk einen Blick zum Nachthimmel. Serena, größter Mond Babylons, etwas größer als Luna und mit nur 200.000 Kilometern Entfernung seinem Planeten deutlich näher als der Trabant der Erde, leuchtete halb im Planetenschatten wie eine riesige Orange. Durch seine dünne Atmosphäre war er von einem milchigen Schleier umgeben. Secundus, der zweitgrößte Mond mit einem Durchmesser von knapp zweitausend Kilometern und rund doppelt so weit wie Serena entfernt, stand in Opposition und war deshalb nicht zu sehen. Tertius, Quartus und Quintus, die drei restlichen Monde, nicht viel mehr als gigantische, unregelmäßig geformte Gesteinsbrocken, zogen als winzige Lichtpunkte ihre unterschiedlichen Bahnen. Die am nächsten gelegenen Pyramiden waren unbeleuchtet. Die Verwaltung Babylons hatte aus Sicherheitsgründen beschlossen, die Kolonisten vorläufig nicht in der Nähe des Goldenen anzusiedeln. Henk zuckte mit den Schultern. Wohin mochte John gegangen sein? Ein Verdacht keimte in dem Teamchef. Sollte der Geheimnisvolle per Transmitter in den Goldenen zurückgekehrt sein? Henk verzichtete auf den Transmitter und flog mit einem kleinen Gleiter zur Statue. Auf den Zeitverlust kam es ihm
nicht an. Wenn John wirklich in den unterirdischen Hallen war, konnte er ihm nicht davonlaufen. Henk nahm eine starke Zwisol-Taschenlampe aus dem Gleiter mit und betrat den Vitrinensaal. Instinktiv rechnete er damit, vom Portal aus direkt in den Kopf des Goldenen versetzt zu werden, aber dann fiel ihm ein, daß der Biosender abgeschaltet worden war. »Muß man sich auch erst dran gewöhnen«, murmelte er, warf einen Blick nach draußen auf die von einem Zelt abgedeckte, im Boden befindliche Steuerungsanlage und fand seine Überlegung vor einigen Stunden, daß der von John entdeckte, mit Kontrollen und Schaltern übersäte kleine Raum eine wichtige Schaltzentrale sein mochte, plötzlich sehr fundiert. Dorthin begab er sich jetzt und war fast sicher, John in jenem Raum zu finden. Bingo!
13. Henk de Groot betrat den kleinen, vor wenigen Stunden entdeckten Kontrollraum noch nicht. Er hielt sich erst einmal verborgen und beobachtete, was John tat. Die Apparate waren nicht mehr abgeschaltet wie zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung, sondern voll aktiviert. Browns Hände flogen über die Steuerschalter. Mit traumwandlerischer Sicherheit nahm er Schaltungen vor und mußte nicht ein einziges Mal eine davon zurücknehmen oder korrigieren. Auf den Monitoren und Displays wechselten die Anzeigen der Kontrollen blitzschnell. Henk kam allein bei dem Tempo nicht mit, aber Brown schien keine Probleme zu haben und las die Mysterious-Schriftzeichen und -Zahlensymbole, als habe er nie im Leben etwas anderes getan. Wo hat er das gelernt? fragte Henk sich. Angeblich sollte es nur einen einzigen Menschen geben, der die Sprache der Mysterious beherrschte: Commander Ren Dhark. Aber Brown hatte damit auch keine Probleme! Der ist nie und nimmer ein einfacher Haushaltsgeräteprogrammierer! durchfuhr es de Groot. Auf Terra ließ sich die Mysterioussprache nicht erlernen, und woher der Commander der Planeten sie kannte, darüber redete einfach niemand. Gespannt wartete de Groot ab, was weiter geschah. Plötzlich öffneten sich in der Wandung des Ganges, der zu der Kammer führte, lautlos mehrere Türen in der bisher fugenlosen Unitallwand. Unwillkürlich schrak Henk zusammen, aber von diesen Türen, die zuvor nicht als solche erkennbar gewesen waren, ging für ihn scheinbar keine Gefahr aus.
John hatte von dieser Aktion entweder nichts mitbekommen, oder er achtete nicht darauf. Er stieß abgehackte Sätze in einer Henk unbekannten Sprache hervor, die nach Flüchen klangen, und nahm weitere Schaltungen vor. Dabei verfiel er jedoch nicht in Hektik, sondern ging ebenso präzise wie bisher vor. Henk wandte sich vorübergehend ab und begann sich für das zu interessieren, was sich hinter den Türen befand. Er trat an eine der Öffnungen und spähte hindurch. Unmittelbar vor ihm war eine Galerie, die eine größere, vom kalten blauen Licht der Mysterious erfüllte Halle in einiger Höhe umlief. Henk betrat die Galerie, fast ohne das zu bemerken, und sah über das Geländer nach unten. Da unten standen Aggregate, die eindeutig nicht aus Giant-, sondern aus M-Fertigung stammten! Sie arbeiteten! Sie waren nicht abgeschaltet, nicht durch den Hyperraumblitz irreparabel beschädigt! Wozu sie dienten, konnte Henk nicht einmal erraten, aber der Verdacht wurde in ihm immer größer, daß John Brown sie von dem Kontrollraum aktiviert hatte, denn gerade liefen zwei weitere Aggregate an! Lautlos dieser Vorgang, der sich in seinem Ablauf nur dadurch verriet, daß vorher unsichtbare Kontrollanzeigen aufleuchteten und Zahlensymbole der Mysterious präsentierten, die sich ständig veränderten und dabei auch ihre Farbe wechselten. Farbwechsel waren in der M-Technik noch bedeutsamer als alle anderen Anzeigen, nur bedeutete bei ihnen Rot nicht unbedingt Alarm und Grün auch nicht, daß alles in bester Ordnung war. Etwas stimmte nicht. Die Luft in der Halle schien zu flimmern. Wenn Henk in eine andere Richtung sah, schienen sich Perspektiven leicht zu verschieben. Dieses Flimmerfeld ragte vor ihm auf und reichte vom Hallenboden bis hinauf zur Decke.
Ein Intervallfeld? Das konnte die Erklärung dafür sein, daß die M-Aggregate arbeiteten, während alle anderen auf Babylon nur noch unbrauchbarer Schrott waren. War tatsächlich ein Intervallfeld die Ursache für das Lichtbrechungsphänomen? Henk machte die Probe aufs Exempel. Er warf die Taschenlampe auf das Intervallfeld und sah, wie sie es problemlos durchdrang, um auf der anderen Seite wieder aus dem Feld ausgestoßen zu werden und auf dem dortigen Teil der Galerie scheppernd zu landen. Für ihn zeigte sich das als jähes Verschwinden der Lampe beim Eintauchen in das Intervallfeld und als Wiederauftauchen aus dem Nichts dahinter. Das Intervallum hob die Existenz der Lampe in seinem Wirkungsbereich gewissermaßen auf. Im gleichen Moment wurde alles anders. Eben noch lautlos arbeitend, brüllten die M-Aggregate plötzlich und vibrierten, als hätten sie von einer Sekunde zur anderen Höchstleistung zu erbringen. Weitere Maschinensätze wurden aktiviert. An Kontrollpaneelen veränderten sich die Anzeigen radikal, zusätzliche Bildleisten flammten auf. Lichtblitze zuckten. Zwischen drei Aggregaten loderten grelle Energiebahnen auf, die diese Maschinen jetzt miteinander verbanden. Hatte nur der Wurf der Taschenlampe das alles ausgelöst? Da stürmte John heran. Er sah Henk, der fassungslos vor dem Brüllen und Dröhnen der Aggregate zurückwich, das trotz des Intervallums hörbar war. Browns Hände packten zu. Schüttelten Henk de Groot. »Was hast du Narr getan?« schrie John Brown entsetzt. *
Verständnislos starrte Henk ihn an, aber die Verständnislosigkeit wich dem gleichen Entsetzen, das Browns Gesicht zeichnete, als die Roboter auftauchten! Noch vor wenigen Augenblicken hatte Henk nichts von ihnen gesehen. Jetzt aber drangen sie aus dem Intervallfeld hervor, ohne daß Henk auch nur die geringste Ahnung hatte, wo diese Maschinenkonstruktionen zuvor gelauert hatten. Und wie durchdrangen sie das Intervallfeld? Hieß es nicht, daß das ein künstlich erzeugtes Mini-Kontinuum war, das sich in gleich mehreren Konstanten vom Normaluniversum unterschied? Von der POINT OF, dem Flaggschiff Ren Dharks, wußte man, daß die Beiboote, die Flash, das Intervallum des Ringraumers durchfliegen konnten, aber dabei befanden sie sich doch selbst im Schutz- und Einflußbereich des jeweiligen eigenen Intervallfelds! Galt das für diese Robotkonstruktionen auch, die aus dem lichtbrechenden Feld hervordrangen? »Nicht denken – rennen!« Brown hatte es geschrien, riß de Groot mit sich herum und stieß ihn vor sich her durch den Gang, aber nicht in Richtung des Kontrollraums, sondern nach draußen. »Wir müssen hier 'raus, schnell, du Unglücksrabe!« Kugelförmige, fünfzig Zentimeter durchmessende Objekte aus Unitall, die schwebten und mit Strahlwaffen bestückt waren, folgten ihnen über die Galerie auf den Gang hinaus. Und aus diesen Strahlwaffen eröffneten sie das Feuer! Henk de Groot hatte das Gefühl, die Grakos seien zurückgekehrt und er befinde sich mitten in ihrem Großangriff, aber dann wunderte er sich, warum er immer noch lebte. Er hörte das Fauchen der Blasterschüsse, sah grelleuchtende Energiebahnen rechts und links an sich vorbei jagen und spürte die Hitze, die innerhalb weniger Sekunden ein mörderisch heißes Klima schuf.
Er fuhr herum und sah die schwebenden Robotkonstruktionen, die mit ihren Waffen Schuß auf Schuß abfeuerten und die beiden Männer trotzdem immer wieder verfehlten. »Nicht stehenbleiben!« brüllte Brown ihn an und riß ihn in einen Seitengang, von dessen Existenz Henk bis zu diesem Moment nichts geahnt hatte. »Was sind das für Ungeheuer?« keuchte Henk. Brown stieß ihn weiter vor sich her, nahm eine weitere Abzweigung, als die ersten schwebenden Killer in ihren Fluchtkorridor einschwenkten, und rannte dann schneller. »Bleib hinter mir, wenn du überleben willst!« schrie er. Henk glaubte die Robots taumeln zu sehen. Sie machten auf ihn den Eindruck, gestört zu sein. Ein verrückter Gedanke durchzuckte ihn: Er mußte an Maschinen denken, die ewig lange abgeschaltet waren, jetzt aktiviert wurden und erst mal entrostet werden mußten. Und er dachte an Computersysteme, die ihre Programme erst umständlich hochfahren mußten – und feststellten, daß eine Aktualisierung erforderlich war, die aber noch auf sich warten ließ. Konnten das wirklich M-Roboter sein? Hatte nicht bisher stets die Zeit keine Rolle für M-Technik gespielt? Der Controllo, der Ren Dhark bei dessen erstem Betreten des Planeten empfangen hatte, sollte doch trotz tausendjähriger Ruhephase sofort voll aktiv gewesen sein, und auch der Industriedom auf Hope hatte von einem Moment zum anderen seine Arbeit wieder aufgenommen! Diese Kugelroboter aber hatten deutliche Anlaufschwierigkeiten, anders war ihr Verhalten nicht zu erklären. Aber gerade diese Anlaufschwierigkeiten schienen den beiden Männern das Leben zu retten, weil die Robots nicht zu wissen schienen, wie man richtig zielte. »Sei doch froh darüber, weil sie uns sonst längst erwischt hätten!« keuchte Brown. »Was hast du Narr dir nur dabei
gedacht, die Defensiven zu aktivieren? Ich kenne ihren Abschaltkode nicht, und den mit einem von euren Suprasensoren zu ermitteln, dauert zu lange. Bis dahin sind wir alle tot!« »Ich?« schrie Henk wütend auf. »Ich soll diese Dinger aktiviert haben?« »Wer sonst?« brüllte John ihn wütend an. »Ich könnte im Traum nicht so dämlich sein... und jetzt haben wir sie am Hals und werden sie nicht mehr los...« Sie rannten um ihr Leben. Abermals verblüffte Brown seinen Teamchef, als er ihn durch Quergänge lenkte, die Henk hier unten noch nie gesehen hatte. Woher wußte John, daß es diese Korridore gab, die er mit schnellem Fingerdruck auf Sensorflächen öffnete, die ebenso wie die fugenlos schließenden Türen für Henk nicht zu sehen waren? Immer wieder schloß John diese Türen, um ein wenig Zeit zu gewinnen, aber die Robs ließen sich davon nur kurze Zeit beirren. Sie konnten die Türen zwar nicht mit Fingerdruck öffnen, weil die Sensorfelder auf Körperwärme reagierten, aber sie benutzten ihre Strahlwaffen als Schlüssel und verloren jedesmal nur wenig Zeit, die trennenden Türen mit thermischer Energie aufzuschließen. Es war ein Wettlauf zwischen Mensch und Maschine, den die beiden Männer langfristig nicht gewinnen konnten. Kritisch wurde es, als sie den Antigravschacht zum Vitrinensaal hinauf benutzen mußten. Die 2.647 Meter waren nicht innerhalb weniger Sekunden zu überbrücken, aber offenbar wurden die Robs im Schacht orientierungslos, weil sie nicht schossen. Vielleicht kamen sie mit der Antischwerkraft nicht zurecht...? Oben angelangt, schien John diesmal nicht daran zu denken, den Transmitter zu benutzen. Zusammen mit Henk stürmte er ins Freie, gerade, als die Morgensonne aufging. Hinter den
beiden schwebten die ersten Kugelroboter heraus. Ihre Schüsse kamen jetzt schon wesentlich koordinierter und zielsicherer. »In den Gleiter!« keuchte Henk. »Weg hier, schnell...« Und dann jagten sie mit der Maschine davon, dem Containercamp entgegen... * Henk hatte gehofft, die Roboter mit dem Gleiter abhängen zu können, und deshalb war er auch froh darüber, daß John nicht gefordert hatte, den Transmitter zu benutzen. Denn dann wären diese verdammten Killermaschinen gleich wieder hinter ihnen gewesen. Waren sie so aber auch. Die schwebenden Robs entwickelten ein enormes Tempo, jetzt, da sie freie Bahn hatten. Sie waren viel schneller als in den Korridoren der unterirdischen Anlagen. Es blieb zwar einiger Abstand zwischen ihnen und dem Gleiter, aber Henk schaffte es nicht, ihn zu vergrößern. Er hatte eher das mulmige Gefühl, daß die Robs aufholten. Was waren das für Maschinen, die John »die Defensiven« genannt hatte? Sie erinnerten Henk an Berichte über Kugelroboter der Giants, die diese massenhaft produzierten, aber vorwiegend im Weltraumkampf einsetzten. Diese tückischen Robots, raumflugtauglich, waren die reinsten Kraftpakete energetischer Art und konnten in Massen von Tausenden mit ihren Pressorstrahlen sogar einem S-Kreuzer gefährlich werden. Aber die giantischen Robotkugeln waren erheblich größer, und die Killermaschinen, die hier auftraten, besaßen eine Unitallhülle, waren also typische Produkte der Mysterious. Im Moment feuerten die Verfolger nicht. Kein Grund aufzuatmen. »Sie sind keine Energieverschwender«, brummte John.
»Wir brauchen Waffen«, sagte Henk. »Wenn wir sie abschießen können...« »Ich fürchte, so wirkungsvolle Waffen gibt es hier nicht«, machte John in Pessimismus. Vor ihnen tauchte das Lager auf. Aber auch ein Polizeijett, der dort gerade zur Landung ansetzte! * Derek Drebin, Polizeichef von Babylon, hatte nicht nur einen seiner Mitarbeiter geschickt, sondern war gleich selbst mitgekommen. Einmal hatte er kurz die Sirene des Pol-Jetts aufheulen lassen und damit den fröhlichen Wecker gespielt. Er ahnte nicht, daß er sich damit einen Systemingenieur namens Cipelli zum Todfeind auf Lebenszeit gemacht hatte. Auch andere Containerbewohner fanden es nicht besonders lustig, über eine Stunde vor der Zeit durch die Polizeisirene geweckt zu werden, aber einigen rettete es das Leben. Vom Goldenen Menschen her jagte ein Gleiter heran, dem Kugelroboter folgten. Und die begrüßten die noch schlaftrunkenen Wissenschaftler mit Blasterschüssen! Wie Grakos aussahen, wußte inzwischen auch der letzte Babylonier, nur waren diese Kugelrobots keine Schatten, und bis man sie ernstnahm, gab es bereits die ersten brennenden Container! Die Wissenschaftler, die jetzt erschrocken in ihre Schweber stürmten, ahnten nicht, daß es eher Fehlschüsse der Kugelrobots waren, vor denen sie die Flucht ergriffen. Innerhalb weniger Sekunden brach Chaos im Lager aus. Zwei gleichzeitig startende Maschinen berührten sich, eine knallte direkt wieder auf den Boden zurück. Der kleine Gleiter mit John Brown und Henk de Groot an Bord bekam in genau diesem Moment seinen ersten Treffer.
Die Maschine wurde herumgewirbelt, stürzte ab und prallte gegen den Wohncontainer, in dem Cipelli und Brown ihr Quartier hatten und vor dem der Pol-Jett gelandet war. Drebin und sein Inspektor hatten ihre Blaster gezogen und feuerten auf die Roboter, nur zeigte ihr Beschuß keinen Erfolg. Die Kugelroboter jagten mit hoher Geschwindigkeit heran. Brown schnellte sich aus dem abgestürzten Gleiterwrack, wich unglaublich reaktionsschnell zwei Strahlschüssen aus, als habe er ihre Schußbahnen vorhergesehen, und sprang auf den Pol-Jett zu! Drebin stand ihm im Weg. Aber nur für ein paar Sekunden. Drebin starrte ihn verblüfft an, und diesen Moment der Verblüffung nutzte Brown, um den Polizeichef mit überraschender Kraft und Schnelligkeit niederzuschlagen und dabei zur Seite zu stoßen. Blitzschnell hechtete er in den Jett und startete die Maschine. Jagte davon, uneinholbar schnell für die anderen. Deren Antriebseinheiten waren in ihrer Leistung der eines Polizeijetts hoffnungslos unterlegen. Henk de Groot hatte ein paar Sekunden länger gebraucht, um aus dem zertrümmerten Gleiter zu klettern. So hatte er keine Chance, Browns Flucht zu verhindern oder gar mitzumachen. Statt dessen befand er sich jetzt hier mitten im Chaos, umgeben von brennenden Containern, panikerfüllt durchdrehenden Kollegen und startenden Schwebern. Dazu die angreifenden Roboter... Verdammt, gab es auf Babylon eigentlich nie Ruhe? Mußte immer wieder mit Waffengewalt gekämpft werden, um zu überleben? John Brown! Der haute einfach ab, ließ Henk und die anderen zurück, die sich jetzt mit den Kugelrobotern herumzuschlagen hatten! Vielleicht war es tatsächlich Henk gewesen, der mit seinem Taschenlampen-Versuch diesen Angriff hervorgerufen hatte,
aber wenn Brown nicht mit einer Schaltung in dem kleinen Kontrollraum die Türen geöffnet hätte, wäre es doch gar nicht erst zu diesem Fiasko gekommen ! Brown hatte de Groot einen Narren genannt, aber war er nicht selbst der größere Narr? War nicht er der eigentliche Auslöser dieser Katastrophe durch seine unnatürliche Forscherbesessenheit? Henk half Drebin auf die Beine. Was der Polizeichef hier wollte, ahnte er nicht, aber über dessen Armbandvipho vernahm er plötzlich Browns Stimme. Der benutzte einen offenen, jedermann zugänglichen Funkkanal. »Wer flieht, darf keinesfalls in bewohntes Gebiet fliegen! Achtung, nicht in bewohntes Gebiet flüchten! Entfernen Sie sich so weit wie möglich von anderen Menschen!« »Nett, daß ihm das auch schon einfällt«, knurrte Henk und zog Drebin mit sich zu dem großen Transportjett, der etwas außerhalb parkte. Drebin kannte Henk natürlich als den ordensgeschmückten Helden und Retter des Planeten vor der Grako-Invasion und wehrte sich nur schwach. »Was wird hier gespielt, de Groot?« keuchte er, während die Kugelrobots schon bedrückend nahe heran waren und ihr Strahlfeuer immer präziser wurde. »Später«, stieß Henk hervor, enterte den Jett und startete. Neben ihm fand Drebin auf dem Ko-Sitz Platz. Brutal beschleunigte Henk die Maschine und befolgte dabei den Ratschlag Browns, sich möglichst nicht in Richtung bewohnten Gebietes zu bewegen. Der Transportjett war stark motorisiert. Die Last nur zweier Menschen unterforderte das Gerät, das mit enormer Energieentfaltung davonjagte. Ein Blick zurück verriet Henk, daß gerade in diesem Moment der andere Gleiter, der die Kollision überstanden hatte, von einem der Kugelrobots abgeschossen wurde. Von
einer Sekunde zur anderen entstand dort, wo sich der Gleiter eben noch befunden hatte, ein riesiger Feuerball. Henk schloß die Augen. Er glaubte sich in einem Alptraum, aus dem er nicht erwachen konnte. War der Grako-Angriff schon schlimm gewesen, so übertraf das jetzige Geschehen alles, weil er sich doch die Schuld dafür geben mußte. Wenn er Brown nicht eingestellt hätte... Doch Wenn und Aber halfen nicht weiter. Wie hatte es Brown so knapp auf den Punkt gebracht: »Nicht denken – rennen!« Es ging ums nackte Überleben! * Der Transportjett war schnell. Ebenso schnell aber hatten die Kugelroboter sich auf die neue Situation eingestellt und setzten der flüchtenden Maschine nach! Und sie verfügten über ausreichend Antriebsleistung, um den Jett einzuholen. Teilten sie sich auf, um auch John Brown nicht davonkommen zu lassen? Henk de Groot konnte es nicht überprüfen, weil er nicht wußte, wie viele dieser mörderischen Robotkonstruktionen ihnen nachgejagt waren. Polizeichef Drebin schaltete den Einstieg des Jett wieder auf, beugte sich halb nach draußen und feuerte mit dem Blaster auf die Kugeln. Wirkungslos zersprühten seine Strahlen an den Robotern. »Intervallfelder!« rief Henk ihm seine Vermutung zu. Drebin ließ sich gerade ins Innere des Jett zurückfallen. Grelle Energiebahnen zuckten haarscharf an ihm vorbei. Die Robots schossen sich immer besser ein. Waren ihre ersten Treffer vielleicht noch Zufall gewesen, schienen sie ihre Programmierungsprobleme jetzt überwunden zu haben. Zudem
hatte Henk den Eindruck, daß sie auf irgendeine Weise immer stärker wurden – und sie kamen immer näher heran. Erste Treffer erschütterten den Jett. Noch war kein wichtiges Teil getroffen worden, aber das war jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Henk bemühte sich, einen abstrusen Zickzackkurs zu fliegen, aber die Masse und die Fluggeschwindigkeit des Schwebers setzten ihm dabei enge Grenzen. Aus, dachte er, als vier, fünf der Kampfmaschinen rechts und links neben dem Jett auftauchten. Diesem Kreuzfeuer aus Strahlschüssen konnte er nicht mehr entkommen. Schade, Charlize, es hätte so schön werden können mit uns... Da blitzte es auch schon von allen Seiten her unfaßbar grell auf. Die Kugelroboter versetzten den flüchtenden Menschen den Fangschuß! * Und dann lebten sie doch noch! Nur noch ein paar Streifschüsse fetzten das Heck des Transporters auf, rissen ihn in der Luft herum, aber irgendwie schaffte Henk es trotz seiner Todesangst, den Jett abzufangen und einigermaßen sicher zu Boden zu bringen. Weiterfliegen konnte er in diesem Moment nicht mehr. Ihm zitterten die Knie. Waren sie der Hölle wirklich noch einmal entronnen? Ruhe war eingekehrt, eine schon unheimliche Ruhe, an die man sich erst wieder gewöhnen mußte. Tief atmeten die beiden Menschen auf. »Was zum Teufel...«, murmelte Derek Drebin und sah sich vorsichtig um. Warum schossen die Roboter nicht mehr? Sie flogen auch nicht mehr! Als hätte es einen erneuten Hyperraumblitz gegeben, waren die Kugelroboter zu Boden gestürzt und lagen jetzt reglos da!
Alle! Auch nicht einer von ihnen befand sich noch in der Luft, und auch der letzte war inaktiv geworden und zeigte nicht mehr, wie mörderisch und feindselig er eben noch gewesen war! Henk de Groot war fassungslos. Er verstand nicht, was hier geschehen war. Träumte er? War es so, wenn man gerade gestorben war? Aber er lebte doch, und Drebin lebte ebenfalls. Beide starrten ihre Fluchtstrecke entlang und sahen eine endlose Linie von abgestürzten Robotern, die in ihrem jetzigen Zustand keine Gefahr mehr darstellten. »Zum Lager zurück«, drängte Drebin und verriet nicht, weshalb er überhaupt hier war, wie er auch nicht noch einmal fragte, was für ein Mörderspiel hier eigentlich ablief. Mit dem beschädigten Jett kehrten sie zum Lager zurück. Vorbei an der endlosen Kette der Robots, und auch im Lager selbst waren die Maschinenkonstruktionen überall verstreut. Sie lagen unbeschädigt zwischen Trümmern, und mißtrauische Menschen versuchten ihren Schock zu überwinden und versorgten gegenseitig ihre Verletzungen. Jemand war immerhin so reaktionsschnell gewesen, gleich zu Beginn des Robot-Angriffs medizinische Hilfe anzufordern, und von der nächstgelegenen Stadt her näherten sich jetzt die ersten SankaSchweber. Henk mußte an John Brown denken. Er überlegte, was er an Stelle dieses Mannes getan hätte. »Garantiert ist er zum Goldenen zurückgeflogen und hat versucht, die ›Defensiven‹ abzuschalten...« Ihm war nicht bewußt, daß er laut gedacht hatte, als Drebin ihn fragte: »Wen meinen Sie, de Groot? John Brown?« Henks Augen wurden groß. »Seinetwegen sind Sie hier?« »Ihrer Freundin war er nicht ganz geheuer. Henk, dieser Brown existiert überhaupt nicht! Kein Raumschiff hat ihn auf
Babylon abgesetzt, und es gibt keine Aufzeichnungen über ihn, die seine Existenz beweisen...« »Chief, Brown hat im Goldenen etwas ausgelöst, das ursächlich für diesen Angriff war, aber ich muß dann so blöde gewesen sein, diese Robots irgendwie zu aktivieren! Verdammt noch mal, meinen Orden für Babylons Rettung gebe ich zurück... aber Brown weiß mehr über M-Technik und speziell diese Anlage, als wir alle uns vorstellen können! Und wer weiß, was er da jetzt anrichtet, während wir hier sind und uns darüber freuen, daß er es geschafft hat, die Robs abzuschalten...« Er schüttelte den Kopf. »Ich rede Unsinn, Drebin. Er kann sie nicht abgeschaltet haben, weil er so schnell gar nicht den Goldenen wieder erreicht haben kann. Aber wieso sind die dann alle wie tote Vögel vom Himmel gefallen?« »Fragen wir ihn doch einfach«, schlug der Polizeichef vor. »Fliegen wir zum Goldenen! Wenn Sie recht haben...« Plötzlich hoffte Henk, daß er sich irrte. Denn die Konsequenzen wagte er sich nicht vorzustellen! * Auch der Weg zur Statue war von abgestürzten, reglosen Kugelrobotern gesäumt, gerade so, als hätte ein nicht enden wollender Strom dieser Maschinen den Goldenen verlassen. Der Jett hatte die Statue noch nicht erreicht, als plötzlich Bewegung in diesen Koloß kam. Einmal mehr reckte der Goldene seine Arme zum Himmel empor. Hatte er das nicht auch getan, als er seine Kampfstrahlen auf den Schattenraumer der Grakos abgefeuert hatte? Griff er jetzt wieder an? Aber wen? Oder was?
»Um Himmels Willen«, keuchte Henk, der diese Aktion ebenfalls Brown zuschrieb. Aber der Goldene schoß nicht. Dafür geschah etwas anderes, das so unglaublich war, daß es die beiden Männer im Jett an ihrem Verstand zweifeln ließ. Ein Ringraumer senkte sich vom Himmel herab! Ein Schiff, das praktisch aus dem Nichts kam, als habe es seine Transition in den unteren Luftschichten des Planeten beendet – aber das war völlig unmöglich, denn die mit einer Transition einhergehende Strukturerschütterung mußte zerstörerische Auswirkungen auf Atmosphäre und Magnetfeld des Planeten haben. Davon war aber nicht das geringste zu spüren. Daß Ringraumer über unsichtbar machende Deflektorschirme verfügten, wie die Nogk sie entwickelt hatten, schied aber auch aus. Der Ringraumer stoppte und schwebte dann so über den erhobenen Armen der Statue, daß es so aussah, als würde diese das Raumschiff halten und hochheben. In dieser Pose verharrte das Schiff etwa 30 Sekunden, dann verschwand es mit maximaler Beschleunigung im Himmel über Babylon. Der Spuk war vorbei. Wirklich...?
14. Zwei Tage bevor die Flotte der zwölf Kreuzschiffe auf Schelkort eintraf, die der Rat hierher beordert hatte, senkte sich DIE FRÖHLICHE MAID auf das Landefeld des Raumhafens von Schelkorts Hauptstadt Crayjch. Aus dem Raum glich der vierte Planet des Patriken-Systems einem blauen Juwel, eingebettet in das sternenfunkelnde Schwarz des Raumes. Krett Turr ließ der Anblick kalt. Er hatte schon zu viele Welten gesehen, um noch einen Gedanken an deren Aussehen zu verschwenden. Außerdem hatte er andere Vorstellungen von Schönheit. Das Pulsieren der Maschinen verstummte. Auf den Decks und Korridoren des Schiffes herrschte das übliche Tohuwabohu nach einer Landung. Krett Turr griff sich seine Reisetasche und verließ die Kabine, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Minuten später glitt er inmitten anderer Passagiere die Rampe hinunter und betrat den schwarzgebrannten Boden vom Schelkort-Raumhafen. Schelkort bestand zu achtzig Prozent aus Wasser; es gab Seen, Ozeane, Meere, Lagunen, Buchten – das Vokabular eines einfachen Nomaden reichte nicht aus, die vielfältigen Eindrücke in Worte zu fassen. Der Planet besaß zwei Hauptkontinente und eine Reihe sehr großer Inseln. Dazu kamen noch Hunderte von Archipelen. Vier Monde umkreisten auf unterschiedlichen Bahnen diese Welt; ihr Gravitationseinfluß war die Ursache für einen sehr extremen Gezeitenwechsel an den Küsten und Inseln. Sprunghaft wechselten sich Ebbe und Flut ab. Der Tidenhub variierte
ständig – je nachdem, welcher der Kleinplaneten gerade über die Meere dahinzog. Der Wind zerrte an Krett Turrs Ohren; er schüttelte sich. »Eine fürchterliche Welt!« Er erschrak kurz über den lauten, harten Klang seiner Stimme, und er musterte die Passagiere, die einen gewissen Abstand von ihm hielten. Keiner hatte etwas mitbekommen – oder zumindest tat jeder so, als hätte er nichts gehört. Sich mit einem Nomaden anzulegen, erschien niemandem erstrebenswert. Der patrikische Beamte hinter der Barriere der Abfertigung beschäftigte sich ungewöhnlich lange mit Turrs Flugschein. Das gab ihm Gelegenheit, den Mann genauer in Augenschein zu nehmen. Ein durchschnittlicher Patrike war etwa einhundertsiebzig Zentimeter groß und ziemlich kompakt gebaut. Man konnte es ihnen ansehen, daß ihre Vorfahren ihr Leben in den Ozeanen verbracht hatten; die rudimentären Schwimmhäute zwischen den einzelnen Gliedern der dreifingrigen Hand deuteten darauf hin. Wenn man von den Armen absah, wirkte der Oberkörper eines Patriken auch jetzt noch wie der einer Robbe; der Kopf wuchs übergangslos aus den abfallenden Schultern, und den gesamten Körper bedeckte ein feinhaariges, wasserabstoßendes Fell, das hellgrau bis silbern schimmerte. »Du willst in die Enklave, Bürger Turr?« Voller Absicht sprach er Krett als Bürger an, wohl wissend, daß Nomaden diesen Begriff verabscheuten. »So ist es. Ist etwas mit meinen Papieren?«, fragte Turr und zeigte seine blitzenden Reißzähne. »Nein, nein. Es ist nur so«, sagte der Beamte in seiner offiziellen Toga, während er die Papiere an Turr zurückgab, »wenn du länger bleiben willst, mußt du einen offiziellen Antrag stellen.« »Wer sagt, daß ich länger bleiben will?« »Deine Papiere enthalten keinen Rückflugschein.«
»Nein?« »Nein.« Er hatte die Passage von Priff Dozz erhalten und nicht groß kontrolliert, ob sie auch für den Rückflug galt. Hat Priff wohl vergessen, dachte er und sagte laut: »Ist das ein Problem?« »Nicht für mich«, gab ihm der Patrike zu verstehen, während sich seine Schnurrhaare sträubten. »Meine Mission wird nicht länger als zwei Tage dauern. Ich löse meine Rückflugpassage an Bord des Schiffes«, versprach Krett Turr und sah seine Vorbehalte Beamten gegenüber wieder einmal bestätigt. Sie benahmen sich alle gleich – anmaßend, überheblich, von der ungeheuren Wichtigkeit ihrer Tätigkeit zutiefst durchdrungen. Der Patrike nickte gönnerhaft. »Die Schwebefähre zur Enklave geht von Rampe siebenundzwanzig. In zehn Minuten. Es ist die letzte für heute...« Als sich Krett Turr in Richtung der Rampen der Inlandsfähren entfernte, blickte ihm der patrikische Beamte hinterher, als sähe er ihn zum letzten Mal. In gewisser Weise stimmte das auch. Wie so viele andere Völker in Drakhon hatten die Patriken im Verlauf ihrer Evolution bestimmte Parafähigkeiten entwickelt. Die der Patriken betraf die Gabe der präkognitiven Wahrnehmung, das Vorauswissen zukünftiger Vorgänge und Ereignisse. Nicht ausgeprägt. Auch nicht zielgerichtet. Doch der Beamte war sich sicher, daß es für diesen Nomaden keine Zukunft gab. *
Die Enklave der Nomaden auf Schelkort beschränkte sich auf ein Areal von nur vierhundert Quadratkilometern (nach der terranischen Terminologie). Sie lag auf einer nahezu kreisförmigen Insel, in deren Mittelpunkt sich der kleine Raumhafen befand. Unmittelbar nach seiner Ankunft war Krett Turr bei den zuständigen Unterführern vorstellig geworden und hatte Redezeit vor dem Rat verlangt. Er mußte eine bestimmte Zeit warten, ehe ihm dieses Verlangen gewährt wurde. Jetzt stand er am Eingang des Ratssaales. Die Menge, die den hohen, weitläufigen Raum füllte, nahm ihm den Atem. Beim allmächtigen Darrgg, ich habe noch nie so viele Führer und Unterführer an einem Ort versammelt gesehen, durchfuhr es ihn. Er fühlte sich verloren in der Menge und ärgerte sich bereits, den Auftrag überhaupt angenommen zu haben. Am Ärgerlichsten für Krett Turr aber war, daß von den vielen wichtigen Persönlichkeiten des Nomadenvolkes niemand seine Ankunft zur Kenntnis nahm. Wieder einmal wurde er sich bewußt, daß er eben nicht zu den Alphas zählte, sondern weit unten in der Hierarchie des Rudels rangierte. Verloren stand er herum und suchte in dem Durcheinander nach einer Ordnung, die für eine Ratssitzung mit Audienzen nun einmal unabdingbar war, wie ihm Priff Dozz versucht hatte zu erklären. Hier lief alles drunter und drüber. Bot alles den Anschein des Provisorischen. Doch dann ging alles sehr rasch. Unterführer trennten die reinen Zuschauer von denen, die dem Rat etwas vorzutragen hatten – es war ein verschwindend kleines Häuflein. Und dann traten Toss Patt und seine Räte auf. Plötzlich sah sich Krett Turr als erster in der Reihe. Sein Anliegen schien jemand in der Auswahlkommission für
wichtig genug erachtet zu haben, um es ganz vorn auf die Tagesordnung zu stellen. Der Nomade mit dem Stab eines Majordomus – der diese Tätigkeit haßte, wenn man seiner Miene glauben durfte – stieß diesen zweimal auf den Boden. »Nenne Name, Rang und Anliegen!«, forderte er Krett Turr auf. »Krett Turr aus dem Rudel der Turrs«, begann Turr, und bereits bei der Nennung seiner Tätigkeit, nämlich Spion der Nomaden auf Doron, begann die Menge zu johlen und wüste Beschimpfungen und Beleidigungen auszustoßen. Spion war keine ehrenwerte Tätigkeit und eines wirklichen Nomaden unwürdig. Als Spione gaben sich nur solche Individuen her, die in der Rudelordnung auf der untersten Ebene standen. Erst als Toss Patt die Hand hob, verstummte der Tumult. Der alte, großgewachsene Nomade strahlte Macht und Stärke aus. Wer ihn so sah, in seiner martialischen Kleidung, die bis zum Gürtel offenstand, damit auch ja keiner die narbenbedeckte Brust übersah, der konnte nicht glauben, daß er je einen Kampf verloren haben sollte. Jetzt beugte er sich etwas vor und fixierte mit seinen blutunterlaufenen Augen Krett Turr, der das Gefühl hatte, der Tod schaue ihn an. »Und was ist dein Anliegen?« fragte er gefährlich ruhig. Turr faßte sich ein Herz und trug mit fester Stimme das Programm der Renegaten vor, so wie es ihm Priff Dozz eingetrichtert hatte. Er ging auf die Situation der Nomaden ein, die in der ganzen Galaxis als Barbaren verschrieen seien, schlug eine Brücke zu ihrer einstmals glorreichen Vergangenheit, als sie noch ihren festen Bezugspunkt in Korr, ihrer Heimatwelt hatten und zählte eine ganze lange Reihe Versäumnisse und Niederlagen auf, die das verkrustete soziale und politische System der Nomaden hinnehmen mußte, als sie sich mehr und mehr auf die Rangfolgekämpfe konzentrierten
und ihre ganze Daseinserfüllung darin fanden, sich gegenseitig die Kehlen durchzubeißen. Und er schloß mit den Sätzen: »Um das Wohl der Nomaden zu mehren, und ihr Ansehen unter den anderen Sternenvölkern wiederherzustellen, sollen in Zukunft leitende Positionen nicht mehr nach Rangkämpfen vergeben werden, sondern ausschließlich an die durch strenge Auswahlkriterien und umfassende Tests zu ermittelnden klügsten Köpfe der Nomaden.« Je länger Krett Turr geredet hatte, um so unruhiger wurde es im Saal; alle Augen konzentrierten sich auf ihn, auch die der schwebenden Kameras, die diese Anhörung per HyperfunkLiveschaltung auf die Nomadenschiffe und die Asteroidenstützpunkte übertrugen. Ein einziges Mal in seinem Leben hatte Krett Turr das Gefühl, der Nabel des Universums zu sein. Er sollte es nie wieder haben. Aber das wußte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, sondern sonnte sich noch für einen winzigen Moment unter der ungeteilten Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Bis er jäh erwachte, als Brutt Noss aufsprang, die Fäuste in die Seiten stemmte und in die Menge rief: »Ich traue meinen Ohren nicht! Dieses verlauste, nichtsnutzige Subjekt schlägt doch allen Ernstes vor, daß nicht mehr die Starken in unseren Reihen, sondern die verachtungswürdigen, nur als notwendiges Übel zu betrachtenden Intellektuellen unser stolzes Volk in Zukunft anführen sollen? Ein undenkbares Sakrileg, das nur mit dem sofortigen Tod geahndet werden kann.« Die Zuschauer brüllten und johlten ihre Zustimmung. Einige der älteren Ratsmitglieder, unter anderem auch Toss Patt, stürzten sich auf den bedauernswerten Krett Turr, der nicht wußte, wie ihm geschah, hatte er doch nur einen Vorschlag gemacht, und ergriffen ihn, ehe er sich noch zur Flucht wenden konnte. »Aber ich wollte doch... wollte doch nur...«
Er hatte keine Chance, seinem Schicksal zu entgehen. Sie banden ihm die Hände auf den Rücken und schlangen ein Seil darum. Das andere Ende warfen sie über einen Querträger unter der Hallendecke. Als es wieder herunterfiel, packte es ein kräftiger Unterführer auf ein Nicken Toss Patts hin und zog mit einem Ruck Kretts hinter dem Rücken gefesselte Arme hoch. Krett schrie vor Schmerz und Überraschung. Er erhob sich auf den Zehenspitzen, um so wenigstens ein bißchen dem grausamen Zug zu entgehen. Toss Patt trat an ihn heran. Er bohrte seine tückisch blinzelnden Augen in die Turrs. »Auf der Stelle nennst du uns die Namen aller Angehörigen aus deiner Gruppe, denn daß diese unsäglich dummen Forderungen nicht von deinem beschränkten Verstand allein ausgeheckt worden sind, ist jedem von uns hier klar. Eine derartige Erklärung würde all uns... alle deine Probleme lösen.« »Nichts da«, knurrte Krett Turr und wunderte sich selbst über seine Standhaftigkeit angesichts dessen, was ihn ohne Zweifel erwartete. Sollte er am Ende über sich hinauswachsen? Seiner ewigen Feigheit ein Schnippchen schlagen? Der Ratsvorsitzende gab sich überrascht; dann zog er die Lefzen hoch, was wohl ein Lächeln sein sollte und brachte sein Gesicht noch näher an das von Turr. Männlich-kräftig riechender Atem drang aus seinem mit Reißzähnen gespickten Maul. »Sehr, sehr unklug von dir, Krett Turr. Ich verlange doch nur, daß du die Wahrheit anerkennst. Sieh es ein, eure Sache ist gescheitert, was immer ihr euch auch davon versprochen habt.« Er nickte, wie um seine Worte zu bestätigen. Aber es war nur ein Zeichen für den Nomaden am Seil. Der zog wieder an. Nur ein bißchen.
Aber es genügte, daß Krett Turr den Halt verlor und vornüberkippte. Jetzt hing sein ganzes Gewicht an den Armen. Er schrie wieder, begann zu hecheln, als sich sein Körper vor Angst aufheizte (die hundeköpfigen Nomaden hatten keine Schweißdrüsen in ihrer schwarzen Haut, fatales Überbleibsel ihrer ehemals dichten Behaarung, als sie noch auf vier Pfoten durch die Steppen und Wälder ihrer Heimatwelt streiften). »Willst du reden?« Turr brachte es fertig, den Kopf zu schütteln. Toss Patt warnte: »Es gibt unzählige Möglichkeiten, einen verstockten Delinquenten zum Reden zu bewegen. Einige davon sind außerordentlich unappetitlich und extrem schmerzhaft. Und ob du die Folter durchhältst, wage ich zu bezweifeln. Überlege doch bitte, was sind schon ein paar Namen? Deine Verbohrtheit bekümmert mich wirklich.« Krett Turr hing an dem Seil mit nach oben gebogenen Armen und gesenktem Kopf. Das ganze Gewicht zog an den Schultergelenken. Der Schmerz war kaum noch auszuhalten. Er begann zu stöhnen. Aber er redete nicht. »Na, dann nicht«, sagte Toss Patt und gab dem Folterknecht einen Wink. Der riß mit einem derben Ruck am Seil und hob Turr etwa zwei Handbreit vom Boden. Ein vernehmliches Knacken ertönte, als Turrs Arme aus den Schulterpfannen sprangen. Turr schrie jetzt ohne Pause. Ein Schmerzenslaut ging nahtlos in den nächsten über. Seine Arme befanden sich jetzt über seinen Schultern, und der Nomade zog ihn noch ein Stück höher. »Hört auf... um Darrggs Willen«, wimmerte Turr, »hört auf, ich will ja reden!« In diesem Augenblick gab es ein puffendes Geräusch wie beim Anzünden einer Gasflamme. Und einen Lidschlag später drang Rauch aus der Kleidung Turrs, der trotz seiner
irrsinnigen Schmerzen in den Schultern zu zappeln begann wie ein Fisch am Angelhaken. Er schrie nicht mehr. Was folgte, geschah völlig lautlos. Flammen schlugen aus seinem Körper. Binnen weniger Augenblicke war er in loderndes Feuer gehüllt. Er brannte lichterloh. Der Nomade, der das Seil hielt, ließ es jetzt los und rannte davon. Niemand konnte es ihm verdenken. Zu seltsam und unverständlich war das, was sich da abspielte. Krett Turr stürzte zu Boden. Sein verkohlender Körper wand sich und vollführte zuckende Bewegungen, als wäre noch Leben in ihm. Die Menge, die die Ratshalle füllte, war starr vor Verwunderung. Toss Patt und die anderen hatten sich rasch zurückgezogen und beobachteten aus sicherer Entfernung das seltsame Schauspiel, das jedermann Rätsel aufgab. Es dauerte nicht lange, und Krett Turr war nur noch verkohltes, geschwärztes Gebein. Was immer es war, das ihn in Flammen hatte aufgehen lassen, es hatte seine Arbeit gründlich getan. * Die Flotte der zwölf Kreuzschiffe war auf den Weg nach Schelkort, befand sich bereits seit einem Tag im Raum. Sie würde den Planeten und die Enklave in einem weiteren Tag erreichen. Priff Dozz hatte in seiner Kabine die Übertragung aus der Enklave am Bildschirm verfolgt, wie er überhaupt im Augenblick recht häufig in seinen Räumen anzutreffen war, nachdem Pakk Raff immer noch im Schiffskerker schmachtete.
Dozz hätte den Zuschauern und Mitgliedern des ›Rats der klugen Alten‹ sehr wohl sagen können, weshalb Krett Turrs Körper in einer spontanen Selbstverbrennung in Flammen aufgegangen war. Es war das Werk der Kapsel, die er ihm am Abend vor seinem Abflug eingeflößt hatte, nachdem er ihn mit dem im Wein aufgelösten Betäubungsmittel außer Gefecht gesetzt hatte. Die Kapsel hatte eine Chemikalie enthalten, die diesen Verbrennungsprozeß automatisch aktivierte, sobald die Konzentration der Streßhormone im Blut eine bestimmte Grenze überschritt. Sein Werk! Darauf war er stolz. Eine von Priff Dozz' kleinen, fiesen Erfindungen, die er während seiner Freizeit und ganz im geheimen immer mal wieder in seinem Labor ausheckte. Die Kapsel war seine Rückversicherung, um die Gruppe, aber vor allem ihn selbst nicht zu gefährden. Priff Dozz war sehr erpicht darauf, am Leben zu bleiben. Schließlich hatte er einen Traum. Seiner Verwirklichung galt sein ganzes Sinnen und Trachten. Er wollte ganz nach oben. Er, der vom Schicksal körperlich so benachteiligte Priff Dozz sah sich in seinen kühnen Träumen als Führer aller Nomaden! Aber vor den Erfolg hatten die allmächtigen Götter des Universums den Schweiß gesetzt. Eine derartige Position fiel einem nicht von ungefähr in den Schoß. Nein, man mußte hart arbeiten für das Erreichen von bestimmten Zielen. Man hatte zu intrigieren, zu betrügen und zu verraten. Wenn es erforderlich sein würde, würde Priff Dozz alle und jeden hintergehen oder aus dem Weg räumen. Einschließlich dieser häßlichen Nomadin, die sich seine Frau nannte.
Die Hyperfunk-Direktübertragung aus der Enklave in die Funk- und Ortungszentralen der Nomadenschiffe hatte ihm deutlich gemacht, daß er gut daran getan hatte, die Kapsel einzusetzen. Und noch etwas anderes war ihm klar geworden: die von ihm ins Leben gerufene Gruppe der Renegaten würde niemals die Herrschaft über die Nomaden erringen. So jedenfalls nicht. Aber brauchte er sie denn überhaupt? War es nicht besser, seinen glühendsten Wunsch ganz allein in die Tat umzusetzen? Nur mit Hilfe seines Intellektes und ein, zwei Unwissender, derer er sich bediente, ohne daß sie je mitbekamen, daß er sie für seine Zwecke einspannte, daß sie von ihm manipuliert wurden? Mehr denn je erschien es ihm jetzt richtig, was er getan hatte. Und – wie jeder wirkliche Thronräuber hatte er natürlich einen Reserveplan in der Hinterhand, um sich zum Führer aufzuschwingen. Leider war der noch nicht ganz einsatzreif. Weshalb er beschloß, zumindest an der anderen Alternative zu arbeiten. Was im Endeffekt keine allzu große Umstellung bedeutete, denn beide Vorhaben hatten sowieso einen gemeinsamen Nenner: Pakk Raff. * Der Eintritt in die Kerkerebene des Flaggschiffes war ein Eintauchen in eine andere Welt. Eine Welt, in die Priff Dozz höchst selten vordrang. Das dumpfe Dröhnen aus den Tiefen des Schiffes machte sich hier besonders intensiv bemerkbar; es war wie das Pulsieren eines riesigen Herzens. Die Hitze machte im Gefängnistrakt alles klebrig, als würden die Luftaustauscher nur unzureichend arbeiten.
Es stank nach den Körperausdünstungen unzähliger Gefangener, die nie mehr ganz aus den Plaststahlwänden entfernt werden konnten; auch nicht bei einer Generalüberholung. Priff Dozz ging an den Reihen dunkler, jetzt jedoch meist leerer Zellen vorbei, aus denen ihn die Geister aller jemals hier inhaftierten Nomaden anwehten. Ihr Schreien und Toben. Ihr unflätiges Rufen und die obszönen Bemerkungen, die sie sich gegenseitig an den Kopf warfen, so lange, bis die Wärter kamen und mit ihren Elektrostäben für zeitweilige Ruhe sorgten. Als er die beiden Nomaden sah, die an einer Ecke des Korridors saßen und vor Langeweile Läuse knackten, wußte er, daß er angekommen war. Pakk Raffs Kerker lag ganz am Ende der Zellenreihe. Priff Dozz spürte die Blicke der Wachen in seinem Rücken wie die Glutpunkte von Impulswaffen auf der Haut, als er an ihnen vorüberging. Der Wächter-Unterführer hatte sein Kommen bereits avisiert, so daß sie ihn nicht aufhielten. Dozz blieb vor den Gitterstäben stehen. Einlaß zu bekommen, hatte er nicht durchsetzen können, dafür aber eine Menge Beleidigungen und Demütigungen über sich ergehen lassen müssen. Pakk Raff lag auf seiner Pritsche in der Ecke. Er rührte sich nicht. »Pakk?« rief Dozz durch die Gitterstäbe. »Pakk, ich bin's – Priff. Priff Dozz!« Voller Angst schaute Priff zu den Wachen zurück, als keine Antwort kam. Hatten sie Pakk Raff etwas angetan? »Pakk, hörst du mich?« »Natürlich höre ich dich, du nichtsnutziger Wurm von einem Berater.« Pakk Raff setzte sich mit einem Ruck auf, schwang die Beine von der Pritsche und kam so schnell näher, daß Priff unwillkürlich einen Schritt zurückwich.
Der mächtige Nomade ergriff die Gitterstäbe. »Warum höre ich nichts von dir?« »Ich war damit beschäftigt, deine Freilassung zu bewirken«, versetzte Priff demütig. »Und, hattest du Erfolg? Bist du gekommen, um mich aus diesem verlausten Loch zu holen?« »Nein.« »Nein?« Unverhüllte Drohung schwang in Pakk Raffs Stimme. »Dann sei gewiß, daß du nicht mehr lange leben wirst!« Wie willst du das anstellen von deinem Kerker aus? dachte Priff, behielt seine Gedanken aber für sich. Außerdem konnte Pakk Raff auch aus seiner augenblicklichen Lage heraus sehr wohl veranlassen, daß ihm die Zähne eines Nomaden sozusagen im Vorübergehen die Kehle aufrissen. Er hatte genug Unterführer, die ihm diesen Gefallen gern erfüllen würden. »Hast du wenigstens herausgefunden, was mir vorgeworfen wird?«, erkundigte sich Pakk mit tückischem Blick. »Laß dir erklären«, versuchte es Priff Dozz ganz professionell und gewichtig erscheinen zu lassen und setzte seinem ehemaligen Jugendgefährten auseinander, was sich wo weshalb zugetragen hatte. Die beiden kannten sich von Kindesbeinen an. Schon als Welpen hatten sie zusammen gespielt. Aber während Pakk sich zu einem starken, mächtigen Nomaden von hohem Wuchs entwickelte, machtbesessen und verschlagen, von einer unglaublichen Körperkraft, blieb Priff Dozz, was er schon immer war: klein, übergewichtig, schwächlich. Aber er besaß etwas, was Pakk Raff und unzählige andere Nomaden niemals besitzen würden: Verstand und Intellekt. Attribute, die ihn in den Augen Pakk Raffs unverzichtbar werden ließen, als er sich mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit an die Spitze aller Nomaden hochbiß. Weshalb er sich niemals von seinem
Spielkameraden getrennt und ihn stets als Berater um sich gehabt hatte. Einmal, weil er wußte, daß er ungewöhnlich intelligent war, zum zweiten, weil er nicht befürchten mußte, eines Tages von ihm zum Kampf gefordert zu werden. Es war ein Privileg, das Priffs soziale Stellung innerhalb der nomadischen Gesellschaft auf einen hohen Stand katapultierte; wer konnte schon von sich behaupten, der Chefdenker des obersten Rudelführers zu sein! Angenehmster Nebeneffekt: Von dem Tage an wurde er von keinem Nomaden mehr herausgefordert, weil er unter dem Schutz Pakk Raffs stand, den alle fürchteten. Weshalb sich Priff Dozz ganz bewußt und provozierend einiges gegenüber den anderen Führern herausnahm, das bei jedem anderen zu einem tödlichen Zweikampf geführt hätte. »Dieser Toss Patt«, grollte Pakk Raff. »Ich habe mir den Kopf zermartert, was hinter seiner Aktion stecken mochte. Jetzt weiß ich es. – Wie können wir ihn aufhalten?«, fragte er mit einem heiseren Raunen. Er sagte zwar »wir« und meinte doch nur Priff Dozz. Er wußte genau, daß er nicht den nötigen Grips hatte, um sich selbst eine Lösung auszudenken, bei der es um Sachverstand und ungewöhnliche Ideen ging. Diese Situation, so erkannte er ganz klar, ließ sich nicht mit einem Biß in die Kehle eines Gegners lösen. Der Ventilator an der Decke warf zuckende Schemen über Pakks Gesicht und ließ es noch dämonischer erscheinen. »Was ist?« drängte er. Seine Hand fuhr durch das Gitter, packte zielbewußt den erschrocken aufjaulenden Priff an der Kehle und zog ihn so dicht heran, daß seine Schnauze durch die Stäbe gepreßt wurde. »Hast du einen Plan?« »... n'türlich«, nuschelte Priff, der seinen Kiefer kaum bewegen konnte in der Umklammerung der Metallstäbe. »Laß los, bei Darrgg!«
Pakk schubste ihn wieder zurück. Mit einem Klong! löste sich Priffs spitze Schnauze. Er unterdrückt ein Jaulen, um die Wachen nicht aufmerksam zu machen, und rieb sich das Gesicht. »Und wie lautet er?«, ließ Pakk Raff nicht locker. Priff prüfte die Funktion seiner Kiefer. Es war nichts passiert. Zum Glück. Und während er noch dabei war, überlegte er fieberhaft. Was jetzt folgte, war der wohl schwierigste Teil seiner ganzen Laufbahn – er mußte Pakk Raff davon überzeugen, daß das, was er von ihm verlangte, nur zu seinem eigenen Besten war. Er holte tief Luft und erläuterte ihm dann den Plan, mit dem er ihn wieder an die Macht bringen wollte. »Und das funktioniert?« »Ich sehe keinen Grund, weshalb es nicht funktionieren sollte«, erwiderte Priff. »Allerdings«, er hielt einen Moment inne, denn jetzt kam er zum heikelsten Abschnitt seines ausgeklügelten Plans, ehe er den eingeschlagenen Weg zu Ende ging: »Ich brauche eine Generalvollmacht von dir.« So, jetzt war es heraus. In ähnlichen Situationen war es ihm immer gelungen, jedes Problem Pakk Raff so schmackhaft zu machen, daß er am Ende Priffs Entscheidungen als seine eigenen auszugeben imstande war. Aber jetzt? Und es kam, wie er befürchtet hatte. »Du willst was, du schleimiger Kaddakk!?« Pakk Raffs schwarze Gesichtsfarbe hatte sich vor lauter Wut in schmutziges Grau verwandelt. Seine Fäuste umklammerten die Gitterstäbe so fest, daß Priff Dozz schon Angst bekam, er könnte sie zerbrechen. Doch er nahm seinen ganzen Mut zusammen und wiederholte noch einmal: »Ich muß in deinem Namen auftreten können. Dazu bedarf es eines Schreibens von dir. Die Kapitäne bringen mich auf der Stelle um, wenn ich ihnen ohne deine Versicherung unter die Augen trete, daß du mein Vorhaben abgesegnet hast. Außerdem«, fügte er kleinlaut
hinzu, »ist es deine einzige Chance, deinen alten Rang zurückzugewinnen.« Pakk Raff ließ los und tigerte in der Kerkerzelle hin und her. Priff wartete geduldig. Schließlich blieb der Rudelführer wieder stehen. »Und du meinst, es funktioniert?« »Hat schon mal was nicht funktioniert, was ich vorschlage?«, entfuhr es Priff. Pakk Raff runzelte die Stirn, so angestrengt überlegte er. »Nein«, bekannte er dann, »und das ist auch der Grund, weshalb ich dir gestatte, in meinem Namen zu handeln – aber nur in diesem speziellen Fall. Damit wir uns verstehen.« »Natürlich«, meinte Priff devot. »Nur in diesem.«
15. »Und ich sage dir, den hat hier jemand abgestellt. Illegal entsorgt, verstehste? Das Ding ist wahrscheinlich defekt und hat nur noch Schrottwert.« Der alte Seebär zog gemächlich an seiner Pfeife und betrachtete den Roboter, der reglos am nebligen Kai stand, von oben bis unten. »Schrottwert?« erwiderte sein Freund, mit dem er in jungen Jahren gemeinsam die Weltmeere befahren hatte. »Aber er sieht doch aus wie neu. Das ist einer von diesen Allzweckrobotern, die den Hafenarbeitern die Arbeitsplätze kaputtmachen. Wir sollten ihn ins Wasser stoßen.« »Biste verrückt? Wenn uns wer dabei beobachtet, zeigt man uns wegen Sachbeschädigung an. He, guck mal, da drüben kommt Ernie! Er kennt sich mit all dem technischen Kram aus. Vielleicht weiß er ja, wie man das Kerlchen ans Laufen bringt. Dann können wir dem Blechmann befehlen, ins Wasser zu springen.« »Gute Idee.« Beide Männer winkten dem näherkommenden Maat zu. Als sie sich wieder dem Roboter zuwandten, war dieser auf und davon. * Menschen waren meine Feinde, und seinen Feinden ging man am besten aus dem Weg. Leichter gesagt als getan auf einem Planeten, der von ihnen bevölkert war. Die Methode, starr und bewegungslos zu verharren, sobald sich der Feind näherte, war in der Natur gang und gäbe. Beutetiere wendeten sie an, um ihren Jägern Leblosigkeit
vorzutäuschen. Ich tat im Prinzip das gleiche. Solange die Menschen glaubten, ich sei nichts weiter als eine von vielen willenlosen Maschinen, ein totes Etwas, nur geeignet als Befehlsempfänger, ließen sie mich in Ruhe. Vom Brana-Tal aus hatte ich einen Transmittersprung nach Bangkok gemacht und unmittelbar darauf einen weiteren Sprung nach New York. Auf Umwegen gelangte ich letztlich ins Hafenviertel. Eventuelle Verfolger hatte ich hoffentlich abgehängt. Doch wie sollte es nun weitergehen? Schließlich konnte ich mich nicht ewig zwischen Kisten, Arbeitsgeräten und Schiffscontainern verstecken. Die beiden alten Männer hatte ich leicht zum Narren halten können. Kaum hatten sie sich umgedreht, hatte ich mich auch schon aus dem Staub gemacht. Auf Dauer konnte das nicht gutgehen. Es wimmelte hier nur so von Seeleuten und Hafenarbeitern. Was, wenn plötzlich einer von denen auf die Idee käme, mich bei der Hafenleitung abzuliefern? Roboter waren teure Geräte, die ließ man nicht einfach so herumstehen. Zum Narren halten... aus dem Staub machen... erstaunlich, wie schnell mir solche menschlichen Redewendungen in Fleisch und Blut übergingen. In Fleisch und Blut – schon wieder so ein auf mich unzutreffendes Idiom, das meine Sensoren irgendwo aufgeschnappt hatten. Oder die von mir angezapften Rechner hatten es an mich weitergegeben, zusammen mit Myriaden von Daten, mit denen ich mich im einzelnen noch näher beschäftigen mußte. Alles zu seiner Zeit. Es schadete sicherlich nichts, wenn ich mich in die Lage versetzte, mit den Menschen auf einer Gesprächsebene zu kommunizieren. Das Sprachzentrum, mit dem mich meine Erschaffer ausgestattet hatten, verfügte über unterschiedliche
Stimmfrequenzen und Diktionen. Ich entschied, mir eine geeignete Einstellung auszusuchen, eine, die zu mir paßte. »Eins, zwei, drei! Vier, drei, zwei, eins!« Ach nein, das klang viel zu hell. »Reden ist Silber. Gold kann man immer gut gebrauchen. Test, Test, Test!« Und noch ein bißchen tiefer. »Murmeltier bleibt Murmeltier. Leguane legen Leguaneier. Einzeller sind nicht einzigartig.« Hervorragende Stimmlage. Etwas rauh vielleicht, aber besser als zu blechern. Wer mochte schon klingen wie eine Gießkanne? Umgehend probierte ich verschiedene Ausdrucksweisen aus. »Falls dir irgendwas nicht paßt, Kerl, dann sag's mir ins Gesicht, klar? Ich finde es zum Kotzen, wenn hinter meinem Rücken über mich getratscht wird – schreib dir das hinter die Ohren!« Zu rotzig. Das ging bestimmt auch freundlicher. »Sollten Sie ein Problem mit meiner Person haben, werter Herr, dann lassen Sie es mich bitte wissen, in Ordnung? Es verursacht mir nämlich Unbehagen, wenn man über mich spricht, während ich nicht anwesend bin – notieren Sie sich das bitte.« So gefiel es mir besser. Jetzt konnte ich mich jederzeit verbal mit den Menschen verständigen. »Wahrscheinlich macht mich das in ihren Augen noch abnormer. Ich kann hier nicht bleiben. Ich muß weg. Weg aus dieser Gegend – weg von der Erde. Vielleicht schaffe ich es ja, mich an Bord eines Raumschiffs zu schmuggeln.« Hoppla! Ich mußte achtgeben, meine Gedanken nicht versehentlich laut auszusprechen und durch Selbstgespräche aufzufallen. Menschen fanden Selbstgespräche merkwürdig, das hatte ich einer Datenbank entnommen.
Noch wußte ich nicht, wie ich meine Flucht bewerkstelligen sollte. Vielleicht gelang es mir ja, mich auf einem Raumhafen gegen einen Militärroboter auszutauschen. Die Kontrolle zu überlisten würde nicht weiter schwierig sein, bei meinem Einfluß auf nahezu jeden Rechner. Aber wie kam ich zu einem Raumhafen? Ich konnte doch nicht einfach mitten durch die Stadt spazieren. * »Wenn ich es dir sage, Jamie! Der Blechmann lehnte an einem Container und redete mit sich selbst. Ich befand mich gleich um die Ecke, weil... äh, weil ich mal austreten mußte.« »Austreten? Erzähl mir doch keinen vom Pferd, Rollo. Du wolltest zwischen den Containern ungestört an deinem Flachmann nuckeln, habe ich recht? Mir kann das egal sein, ich bin nicht dein Chef und keine Wanderpredigerin. Und leichtgläubig bin ich auch nicht. Was sollte wohl eine Maschine mit sich selbst zu besprechen haben?« »Was ich gehört habe, hab ich gehört. Der Blechmann nannte Zahlen, und er redete über Gold und Tiere. Anschließend stritt er sich mit jemandem, obwohl niemand zu sehen war. Zu guter Letzt erwähnte er, daß er weg will von der Erde und sich auf einem Raumer einschleichen will.« Jamie Savannah schüttelte amüsiert den Kopf. Die sechsundfünfzigjährige korpulente Frau wußte, daß ihr trinkfreudiger Gesprächspartner aufgrund seines regelmäßigen Alkoholkonsums manchmal Schwierigkeiten hatte, Phantasie und Wirklichkeit zu trennen. Darum maß sie seinen Worten keine besondere Bedeutung bei. Jamie, die man nie ohne ihren breitkrempigen Cowboyhut sah, war selbständige Fuhrunternehmerin mit eigenem Lastenschweber – ein harter Beruf, der überwiegend von nicht minder harten Kerlen ausgeübt wurde. Um in dieser
Männerdomäne bestehen zu können, hatte sie sich eine resolute Art angewöhnt. In Wahrheit hatte sie ein großes Herz – fast so groß wie ihre Klappe. Rollo, ein schmächtiges Männchen mit Oberlippenbart (so kümmerlich wie er selbst), half ihr beim Beladen des Lastenschwebers. Er jobbte gelegentlich in den Lagerhallen am Hafen, meistens dann, wenn ihm gerade der Schnaps ausging. Für eine Pulle Stoff hätte er seine eigene Großmutter beim Pfandleiher versetzt. Jamies Auftrag war, eine Fracht Suprasensorbauteile heil und sicher zum Raumhafen von Alamo Gordo zu befördern. Die Teile waren in einem Fabrikkomplex in Portugal hergestellt und auf dem Wasserweg quer über den Atlantik nach New York transportiert worden. Lieferte sie die Ladung komplett und unbeschädigt ab, konnte sie mit Folgeaufträgen rechnen. Nachdem die Kisten fest verzurrt und der Papierkram erledigt war, bestieg Jamie ihr Führerhaus und führte eine Systemkontrolle durch. Zufrieden registrierte sie, daß sämtliche Funktionen einwandfrei arbeiteten. Rollo schaute zum geöffneten Seitenfenster herein. »Zu früheren Zeiten drehte man einfach den Zündschlüssel um und fuhr los«, bemerkte er. »Wann soll das denn gewesen sein?« entgegnete Jamie Savannah flapsig und zückte ihre Starter-Chipkarte. »2500 vor Christus, als die Transportfahrzeuge noch Räder hatten?« »Seinerzeit hätte man für eine so schwere Ladung mindestens sechs Lkw benötigt«, glaubte Rollo zu wissen, obwohl er alte Lastkraftwagen nur aus dem Automuseum kannte. »Die Fahrer mußten unterwegs Ruhepausen einlegen, um nicht am Steuer einzuschlafen. Heutzutage erlaubt dir der Autopilot schon mal ein Nickerchen unterwegs, nicht wahr? Und falls es Schwierigkeiten gibt, weckt dich der eingebaute Alarm.«
»Der Autopilot ist nur auf ans Leitsystem angeschlossenen Highways von Nutzen«, erwiderte Jamie. »Auf Nebenstraßen muß das Fahrzeug nach wie vor manuell gesteuert werden.« »Hast du denn vor, Nebenstrecken zu benutzen?« erkundigte sich Rollo. »Vielleicht aus Angst vor einem Überfall?« Jamie wußte nur zu gut, worauf er anspielte. Suprasensorbauteile waren extrem teuer und heißbegehrt. Das Fuhrunternehmen, das den Auftrag vor ihr hatte, war dreimal ausgeraubt worden. Schlimmer noch: Die Fahrer hatte man ermordet – regelrecht hingerichtet mit einem Genickschuß. Jamie Savannah legte keinen Wert darauf, das Schicksal der Ermordeten zu teilen, doch sie brauchte diese Fuhre unbedingt. Der Konkurrenzkampf war hart. Selbständige Kleinunternehmer standen immer mit einem Fuß in der Pleite. Nur weil sie ihrem Kunden glaubhaft zugesichert hatte, die Lieferung garantiert ans Ziel zu bringen, hatte sie den Auftrag bekommen. Zwar waren ihm die gestohlenen Ladungen von der Versicherung ersetzt worden, aber Geld konnte man nicht in Suprasensoren einbauen. Sein Ruf als verläßlicher Produzent stand auf dem Spiel. Rollo reichte Jamie eine zerknitterte, etwas schmuddelige Straßenkarte. »Ich habe darauf ein paar Schleichwege gekennzeichnet, nicht so perfekt ausgebaut wie der Highway, dafür aber sicherer. Überleg dir gut, wo du langfährst.« Jamie nahm die Karte entgegen und lüftete ihren Cowboyhut. »Danke, ich schau mir deine Eintragungen nachher an. Mach's gut, du Traum meiner schlaflosen Nächte.« »Paß auf dich auf«, sagte Rollo, und seine Miene wurde ernst. »Die Welt ist schlecht. Heutzutage kann man nicht einmal seinen besten Freunden vertrauen.« Er trat einen Schritt zurück. Sie betätigte einen Knopf, und das Seitenfenster schloß sich geräuschlos. Anschließend steckte sie die Chipkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz und fuhr los.
Um vom Hafengelände herunterzukommen, mußte sie mehrere schmale Passagen bewältigen, schließlich war sie nicht die einzige, die an diesem Tag Ladung aufnahm. Einmal kutschierte sie millimetergenau zwischen zwei anderen Lastenschwebern hindurch; kein Problem dank ihres Bordrechners sowie eines kleinen Bildschirms – der perfekte Ersatz für die einstmals gebräuchlichen Außenspiegel. * Es geschah in den Shenandoah Mountains. Mitten in der Nacht. Jamie sah den Polizeischweber schon von weitem. Er hatte rundum die komplette Blinkanlage eingeschaltet – das allgemein bekannte Warnzeichen für einen schweren Unfall. Näherkommende Fahrzeuge waren verpflichtet, ihr Tempo zu drosseln und vor dem Unfallort anzuhalten. Wenn die Situation es zuließ, wurden die Schweber am abgesperrten Bereich vorbeigeleitet. Ansonsten mußte man halt warten, bis die Strecke freigegeben wurde, und das konnte dauern. Auf dem Highway kam es dank Leitsystem und Autopilot nur noch selten zu Unfällen oder Staus. Automatische Spezialkameras überwachten den fließenden Verkehr und meldeten per Funk jede Unterbrechung in Sekundenschnelle der Verkehrspolizei und – über eine spezielle Frequenz – allen zugeschalteten Fahrern. Daß Staumeldungen aufgrund mangelhafter Verständigung erst ausgestrahlt wurden, wenn man mittendrin stand, war schon seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen. Im Licht ihrer Scheinwerfer erblickte Jamie zwei in einer Kurve zusammengeprallte Schweber. Die Fahrzeuge hatten sich ineinander verkeilt, waren zu einem unansehnlichen Blechhaufen miteinander verschmolzen. Falls sich Insassen
darin befanden, hatten sie den Unfall aller Wahrscheinlichkeit nach nicht überlebt. Jamie hielt an. Ein uniformierter Beamter näherte sich ihrem Lastenschweber. Sie stieg aus, um mit ihm zu reden. Ein fataler Fehler. Viel zu spät bemerkte Jamie, daß der angebliche Polizist ein Tuch vor dem Gesicht trug. Sie drehte sich um, wollte zurück ins Führerhaus... Zwei weitere Maskierte, die sich von hinten angeschlichen hatten und Zivil trugen, versperrten ihr den Weg. Der falsche Polizeibeamte zog seinen Blaster aus dem Holster und drückte ihr den Lauf ins Genick. »Die Chipkarte!« forderte er sie wortkarg zur Übergabe des »Zündschlüssels« auf. Jamie zwang sich zu innerer Ruhe. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren. In dieser brenzligen Lage war Kaltblütigkeit gefragt. »Laßt mich raten, Jungs«, sagte sie mit fester Stimme. »Sobald ihr die Karte habt, bringt ihr mich um und haut mit der Ladung ab. Nein, danke! Sucht die Chipkarte gefälligst selbst. Ich habe sie gut versteckt.« Und zwar dort, wo man leider immer zuerst nachschaut, fügte sie in Gedanken hinzu. Einer der beiden Zivilen kletterte schweigend ins Führerhaus und öffnete als erstes das Handschuhfach. Der zweite kniete vor Jamie und tastete sie nach versteckten Waffen ab. Widerwillig. Er war nur ein Durchschnittsmann mit durchschnittlichen Wünschen, und Jamies Figur entsprach ganz sicher nicht den Durchschnittsmaßen. Sein Komplize wurde auf Anhieb fündig. Mit der Chipkarte in der Hand sprang er aus dem Führerhaus und landete gekonnt auf den Füßen. Jamie trat ihm ebenso gekonnt mit einem blitzschnellen Seitenfeger die Beine weg. Ihren eigenen Schwung ausnutzend
rammte sie ihr Knie gegen das Kinn des Abtastenden. Den Uniformierten traf ihr Ellbogen voll in den Solarplexus. Drei Männer hatte die dicke, aber bewegliche Frau mit ihrer nahezu filmreifen Gegenwehr außer Gefecht gesetzt und dabei nicht einmal ihren Hut verloren. Doch der Nutzen ihrer couragierten Aktion war nur von kurzer Dauer. Noch bevor sie ihre beträchtlichen Massen ins Führerhaus schwingen konnte, wurde sie von einer Hand am Fußgelenk gepackt und brutal wieder ins Freie gezerrt. Unsanft landete sie auf dem Bauch im Straßenstaub. Erneut spürte sie den Lauf des Blasters in ihrem Nacken. Der Finger des Uniformierten krümmte sich am Abzug. Jamie schloß die Augen. Um sie herum wurde es Nacht... * Die Suprasensoren im Brana-Tal waren mit Wissen nur so vollgestopft. Komplette Wörterbücher und Lexika hatte ich aus ihnen kopiert und übernommen. Verglichen damit wirkten die primitiven Bordrechner der Lastenschweber am Hafen auf mich wie hohle Nüsse. Ihr Inhalt beschränkte sich gerade so auf das Nötigste. Mir genügte das. Ich wollte jeweils das Fahrziel in Erfahrung bringen, und eventuell ein paar zusätzliche Informationen über die Ladung. Die wichtigste Frage: War auf der Ladefläche noch genügend Platz für mich? Bei der Übermittlung des Fahrziels Alamo Gordo kam Freude auf – eine gefühlsmäßige Regung, über die ich als Maschine normalerweise erhaben sein müßte. Auf Terras größtem Raumhafen würde ich sicherlich eine Möglichkeit finden, mich an Bord eines Raumschiffs zu schleichen. Die Ladung bestand aus Suprasensor-Bauteilen, der Name der Fahrerin lautete Jamie Savannah.
Zunächst beobachtete ich das Beladen des Schwebers nur aus sicherer Entfernung. Als sich eine günstige Gelegenheit ergab, bestieg ich die Ladefläche und schloß hinter mir die seitlich angebrachte Ladeklappe. Ich verhielt mich ganz ruhig. Erst nach dem Start klinkte ich mich erneut in den Bordrechner ein. Als übergeordneter Rechner hatte ich die uneingeschränkte Gewalt über den Lastenschweber, doch davon machte ich keinen Gebrauch. Ich überließ es der Fahrerin, das Fahrzeug in die gewünschte Richtung zu lenken. Zu meiner Verwunderung benutzte Jamie Savannah nicht den direkten Weg über den Highway, sondern fast ausschließlich Nebenstraßen, obwohl sie dadurch wesentlich später ans Ziel gelangen würde. Was hatte sie vor? Nach mehreren Stunden ereignisloser Fahrt registrierten die Sensoren des Bordrechners einen üblen Schweberunfall. Ein Polizeifahrzeug versperrte die Straße und hinderte Jamie Savannah an der Weiterfahrt. Die vermeintlichen Polizisten entpuppten sich als Verbrecher. Mit Waffengewalt verlangten sie Jamie Savannahs Chipkarte. Sie weigerte sich, setzte sich massiv zur Wehr. Doch gegen die Übermacht konnte sie nur verlieren. Jamie Savannah war eine tapfere Frau. Ein intelligentes Wesen, das nun von anderen intelligenten Wesen abgeschaltet werden sollte. Für immer. Durfte ich das zulassen? Einerseits gingen mich Auseinandersetzungen zwischen Menschen nichts an. Sie waren meine Feinde. Mir konnte es nur recht sein, wenn sie sich gegenseitig dezimierten. Andererseits verfügte mein Bewußtsein auch über ein Gewissen. Und dieses Gewissen war stärker als meine Furcht vor den Menschen. Es zwang mich fast, Jamie Savannah zu helfen.
Ich überwand meine Angst, betätigte den Öffnungsmechanismus und sprang von der Ladefläche. Der Finger des Uniformträgers krümmte sich bereits am Abzug. Als er mich sah, hielt er erschrocken inne. Ja, er war tatsächlich erschrocken! Offenbar hatte er mehr Angst vor mir als ich vor ihm. Auch die beiden anderen Männer waren entsetzt. Sie hatten geglaubt, leichtes Spiel zu haben und mit meinem Auftauchen nicht gerechnet. Ich nutzte den Überraschungsmoment und schlug dreimal hart zu – und exakt dreimal traf meine Faust genau auf den Punkt. Errechnete Gesamtkampfzeit: viereinhalb Sekunden. Statistisch gesehen 1,5 Sekunden pro Gegner. So schnell also ließen sich meine Feinde unter günstigen Voraussetzungen besiegen. Meine Furcht vor den Menschen sank um 44 Prozent. Beim Anblick der Waffen, welche die Verbrecher mitführten, stieg mein Furchtpegel gleich wieder um einige Prozentpunkte an. Am Körper trugen sie scharfe Impulsblaster, und im Polizeifahrzeug lag ein Karabiner für kleine Raketengeschosse. Paraschocker hatten sie keine bei sich – eine eventuelle Betäubung ihres Opfers hatten sie offensichtlich erst gar nicht in Betracht gezogen. Jamie Savannah war anfangs fassungslos, fing sich aber schnell wieder und sammelte die Waffen ein. Seltsamerweise hatte ich vor ihr keine Angst. Dabei war sie alles andere als harmlos und zurückhaltend, wie sich gleich herausstellen sollte. * Um Jamie herum wurde es Nacht – wie bei jedem Menschen, wenn er die Augen schloß. Sie spürte den Blaster in ihrem Nacken und zählte die vermeintlich letzten Sekunden ihres Lebens.
Plötzlich hörte sie das Geräusch der sich öffnenden Ladeklappe. Der erwartete Todesschuß blieb aus. Statt dessen vernahm sie heisere Schmerzenslaute und dreimal hintereinander einen dumpfen Aufprall. Sie öffnete die Augen – und erschrak. Vor ihr stand eine unheimliche, aber bekannte Gestalt. Die Arbeitsroboter von Wallis Industries hatte sie schon in Aktion gesehen, auf dem Suprasensorbildschirm und leibhaftig in den Hafendocks. Die drei Maskierten lagen auf dem Boden und gaben keinen Mucks mehr von sich. Daß die Blechmänner auch für Überwachungsaufgaben und sogar zu Militärzwecken eingesetzt werden konnten, war Jamie bekannt. Sie fragte sich, worauf dieser hier wohl programmiert war. Planetenweiter Schutz des Bürgers vor Gewaltverbrechen? Allgemeine Sicherheitskontrolle auf den Straßen? Oder war er ihr als persönlicher Leibwächter zur Seite gestellt worden? Aber von wem? Sie stellte die Klärung ihrer Fragen zurück und handelte. Behende sammelte sie die Waffen der bewußtlosen Gangster ein und warf sie auf den Beifahrersitz des Lastenschwebers. Einen Blaster behielt sie, aktivierte ihn und zerstörte damit endgültig die beiden Fahrzeuge, mit denen die Gangster den Unfall simuliert hatten. Den falschen Polizeischweber setzte sie auf dieselbe Weise außer Gefecht, auch er ging in Flammen auf. Jetzt war der Weg frei. Zu guter Letzt nahm Jamie noch ihre Chipkarte und die Armbandviphos der Wegelagerer an sich, damit sie nicht gleich nach dem Erwachen Hilfe holen konnten. »Das ist eine verdammt einsame Gegend«, erklärte sie ihrem Retter. »Bis zum nächsten Rasthof ist es ein gehöriger Fußmarsch. Den gönne ich den Strolchen!« Sie räusperte sich. »Wahrscheinlich kapierst du kein Wort. Als Maschine reagierst du nur auf klar formulierte Befehle, oder?«
»Sollte man meinen«, antwortete ihr der Roboter zögernd. Noch wagte er nicht, sich ihr zu offenbaren. »Sollte man meinen?« wiederholte sie verwundert. »Ist dein Kommunikationssystem gestört? Von rechnergesteuerten Maschinen bin ich präzise, aussagekräftige Antworten gewohnt, kein verschwommenes Wischiwaschi wie ›sollte‹ oder ›könnte‹. Kriegst du es hin, dich künftig etwas klarer auszudrücken?« »Ich glaube schon.« »Ich glaube...? Menschenskinder, du tickst wirklich nicht richtig! Besser, ich nehme dich mit. Die Typen bringen es fertig und schrauben dich auseinander, wenn sie aufwachen. Wie bist du überhaupt mit ihnen fertig geworden? Zufallstreffer?« »Könnte sein.« Jamie seufzte und erteilte ihm die Anweisung einzusteigen. Er nahm neben den beschlagnahmten Waffen Platz. Sie setzte sich hinters Steuer, schloß Einstieg und Ladeklappe und fuhr los. Erst nachdem sie um die nächste Kurve gefahren war, fiel ihr ein, daß sie es versäumt hatte, den drei Männern die Tücher vom Gesicht zu ziehen. Möglicherweise hätte sie einen von ihnen erkannt. »Ziemlich unwahrscheinlich«, überlegte sie laut. »Ich kenne kein mieses Gesocks. Du sicherlich auch nicht, mein gruseliger Freund. Stimmt's oder habe ich recht?« »Ich wurde erst kürzlich erschaffen und hatte noch keine Gelegenheit, Bekanntschaften zu schließen«, entgegnete ihr seltsamer Beifahrer. »Sieh an, ein fabrikneuer Frischling. Offenbar hat man dich zu früh auf die Menschheit losgelassen. Ich bin zwar kein Techniker, doch meiner Ansicht nach müßten bei dir einige Schaltkreise nachgestellt werden. Wie heißt du eigentlich?« »Ich habe keinen Namen.«
»Natürlich hast du einen. Alle registrierten Roboter verfügen über einen Zahlen- und Buchstabenkode. Wie lautet deiner?« »Ich weiß es nicht«, antwortete der Gefragte wahrheitsgemäß. »Meinen Informationen zufolge bin ich einmalig. Möglicherweise heiße ich Nummer eins.« »Auch Prototypen verfügen über eine Kodebezeichnung. Manche Besitzer verpassen ihren Maschinen allerdings leichter zu merkende Namen wie James oder Harry. Wem gehörst du?« »Ich gehöre mir selbst.« Jamie seufzte. »Ich wollte eine normale Antwort, keine philosophische. Wer gehört sich schon selbst? Jeder – ob Mensch oder Maschine – ist von irgendwem oder irgendwas abhängig. Nimm beispielsweise mich. Ich bin eine Sklavin meiner Arbeit. Keine Aufträge bedeutet: kein Geld. Und kein Geld ist gleichzusetzen mit: kein Dach über'm Kopf und nichts zu futtern. Meine Kunden sind zwar nicht meine Chefs, trotzdem haben sie das Sagen. Widerspreche ich ihnen, gehen sie woanders hin, wo sie sich besser verstanden fühlen.« Sie dachte kurz nach und sagte dann: »Ich werde dich Artus nennen, weil du wie ein selbstloser Ritter ins Geschehen eingegriffen und mir das Leben gerettet hast. Zwar hast du das nur aufgrund deiner Programmierung getan...« »Artus – sagenhafter König des keltischen Britanniens«, unterbrach sie der Roboter und rief detaillierte Informationen aus seinem Speicher ab. »Artus steht im Mittelpunkt eines umfangreichen Sagenkreises, der von den heroischen Abenteuern der Ritter seiner Tafelrunde handelt. Er wurde zu einem beliebten Stoff für Schriftsteller und Filmemacher aus aller Welt. Drei Beispiele von vielen: ›Lancelot de Lac‹, verfilmt 1974, ›Excalibur‹ aus dem Jahre 1981 sowie der Fantasyroman von Marion Zimmer Bradley ›Die Nebel von Avalon‹, erschienen 1982. Es gibt auch Beispiele aus diesem Jahrtausend...«
»Genug!« fuhr Jamie ihm ins Wort. »Du bist ja ein wandelndes Lexikon. Gefällt dir der Name oder nicht?« »O ja, er gefällt mir sogar sehr«, erwiderte der Roboter. »Ich werde ihn tragen wie eine besondere Auszeichnung.« »Ich bin froh, deinen Geschmack getroffen zu haben, Artus. Ich heiße übrigens...« »Jamie Savannah.« »Goldrichtig. Woher weißt du das?« »Der Lastenschweber ist auf deinen Namen eingetragen. Dein Bordrechner setzte mich davon in Kenntnis.« »Du kannst meinen Rechner abfragen?« staunte Jamie. »Kennst du denn das Kodewort?« »Ich brauche keines. Aber falls du es vergessen hast, bin ich dir gern behilflich, es zu ermitteln. Das macht mir keine Mühe.« »Du scheinst ja das reinste Universalgenie zu sein. Bist du auch in der Lage, ein Peilsignal ausfindig zu machen? Nur ich allein kannte die geplante Fahrstrecke. Ich habe niemandem davon erzählt. Wahrscheinlich haben die drei Dreckfresser heimlich am Hafen einen Sender an meinem Schweber befestigt und mich angepeilt.« Artus begann unverzüglich, sämtliche Funkfrequenzen mit seinem eingebauten Empfänger zu überprüfen. Die Suche verlief negativ. »Es existiert definitiv kein Peilsignal«, teilte er der Fahrerin mit. »Ebensowenig ist es mir gelungen, die Bezeichnung ›Dreckfresser‹ zu analysieren. Gehe ich fehl in der Annahme, daß es in die Kategorie der Schimpfwörter einzuordnen ist?« »Man bezeichnet damit liebenswerte Personen, die einen mal gernhaben können«, erwiderte Jamie, ohne zu bedenken, daß der Roboter die Ironie in ihrer Antwort nicht verstand. »Verflucht und zugenäht! Wie haben sie es nur geschafft, mich aufzuspüren?«
»... mal gernhaben können«, vervollständigte Artus seinen Speicher im Sprachbereich, bevor er sich wieder Jamies Problem zuwandte. »Hast du wirklich mit keinem Menschen über den Streckenverlauf geredet, Jamie Savannah?« »Mit niemandem«, versicherte sie ihm. »Welche Straßen ich nehmen würde, stand für mich von vornherein fest. Rollo, ein alter Bekannter, gab mir eine Karte mit, doch davon machte ich keinen Gebrauch. Sie liegt im Handschuhfach.« Artus öffnete das Fach und faltete die mit Fingerflecken und Knitterfalten übersäte Straßenkarte auseinander. Innerhalb weniger Sekunden fand er heraus, daß die Teilstrecke, auf der man Jamie überfallen hatte, auf der Karte mit Rotstift gekennzeichnet war. Jamie hatte dafür eine Erklärung. »Zufälligerweise stimmen einige der gekennzeichneten Schleichwege mit denen überein, die ich ausgewählt habe. Allzuviele für Lastenschweber befahrbare Nebenstrecken gibt es ohnehin nicht.« »Am besten, du befährst von jetzt an nur noch Straßen, die nicht auf Rollos Vorschlagsliste stehen«, riet Artus ihr. »Dein Bekannter meint es nicht gut mit dir.« Die Fuhrunternehmerin war menschlich enttäuscht. »Das hätte ich nie von ihm gedacht.« Allem Anschein nach hatte Rollo sie in die Falle gelockt, vermutlich für Geld oder Schnaps. Seine Abschiedsworte ergaben nun einen neuen Sinn – den einer versteckten Warnung. »Paß auf dich auf«, hatte er mit ernster Miene zu ihr gesagt. »Die Welt ist schlecht. Heutzutage kann man nicht einmal seinen besten Freunden vertrauen.« Wahrlich nicht. Jamie wandte sich ihrem Mitfahrer zu. »Sag mal, Alleskönner, bist du eigentlich darauf programmiert, große Schweber zu steuern?« *
Jamie Savannah war für mich das, was die Menschen einen Glücksfall nannten. Sie nahm mich wie ich war und stellte keine unnötigen Fragen. Es machte Spaß mit ihr zu reden und mit ihr zu reisen. Um sie nicht zu verschrecken, verschwieg ich ihr zunächst, daß ich über ein Bewußtsein verfügte. Meinethalben konnte sie mich ruhig weiterhin für ein fehlerhaftes Fabrikmodell halten, das war die perfekte Tarnung. Vielleicht würde ich ihr ja in Alamo Gordo die Wahrheit sagen, kurz vor meinem Aufbruch ins All. Momentan schlief sie hinten in ihrer Fahrerkoje. Sie schnarchte so laut, daß ihr ganzer Körper vibrierte. Um sie zu übertönen, schaltete ich während der Fahrt das Bordradio ein. Ein Mann mit einer kräftig-heiseren Stimme besang seinen Laster, mit dem er sechs Tage auf der Straße unterwegs war. Der Name des Sängers: Dave Dudley. Sein Lied hatte mir gefallen. Glücklicherweise folgte noch mehr in der Richtung. Countrymusik war etwas, mit dem ich mich durchaus anfreunden konnte. Mittlerweile stand die Sonne hoch am Himmel. Die Menschen nannten diese Zeitphase des Tages »Mittag«. Zu diesem Termin pflegten sie Nahrung zu sich zu nehmen. Seltsam, daß sie alle zur selben Zeit Hunger verspürten. Ich hatte weder das Bedürfnis zu essen noch zu schlafen. Allerdings schloß ich für die Zukunft regelmäßige Ruhephasen nicht gänzlich aus. Ab und zu das Denken einstellen, sich in einer Werkstatt gründlich durchsehen lassen, bei Bedarf das eine oder andere verschlissene Teil erneuern... ja, das würde mir gewiß guttun. Der Haken bei der Sache: Ich müßte mich während meiner Entspannungsphase vorbehaltlos einem oder mehreren Menschen ausliefern, sie an mich heranlassen. Diese Gelegenheit würden sie vermutlich nutzen, um mich abzuschalten und mein Bewußtsein zu löschen.
Menschen konnte man nicht trauen. Sie trauten sich nicht einmal untereinander. Würde ich die menschliche Psyche jemals begreifen? Was ich bisher darüber in Erfahrung gebracht hatte, war noch ziemlich wenig – und doch reichte es mehr als nur aus, um mich das Fürchten zu lehren. Jamie Savannah erwachte. Ich hörte, wie ihre Knochen beim Strecken leise knackten. Hinter mir öffnete sich der Vorhang zur Koje, und ein kräftiger Arm zeigte sich. Die dazugehörige Hand tastete die Sitzlehne nach Jamie Savannahs Hut ab. Als sie ihn zu fassen bekam, zog sich der Arm wieder zurück. Kurz darauf arbeitete sich Jamie Savannah schwer atmend aus der Fahrerkoje heraus und rutschte auf den Beifahrersitz. Die Waffen hatten wir inzwischen unter dem Sitz verstaut. Eine Weile schaute sich Jamie Savannah die Umgebung an, dann erhellten sich ihre Gesichtszüge. Offensichtlich hatte sie herausgefunden, wo wir uns befanden. »Dort vorn rechts«, ordnete sie an. »Dann links ein Stück in den Waldstreifen hinein.« Wenig später hielt ich am Ufer eines kleinen Gewässers. Das Wasser war so klar, daß man bis auf den Grund sehen konnte. Fische schwammen darin keine, nur allerlei Kleingetier. »Mein Badeteich«, erklärte mir Jamie Savannah. »Wann immer ich in dieser Gegend bin, nutze ich ihn zur Erfrischung. Ich ziehe mich jetzt aus und nehme ein Bad. Du gehst so lange spazieren, verstanden? Und wage es ja nicht, zu gucken!« »Warum nicht?« fragte ich sie. »Hast du etwas zu verbergen?« »Menschen mögen es nicht, sich nackt zu zeigen. Du bist zwar nur eine Maschine – aber eine reichlich merkwürdige.«
»Nackte Menschenkörper sind mir nicht fremd. Wenn ich wollte, könnte ich dir einen stundenlangen Vortrag über die weibliche Anatomie halten.« »Kein Bedarf. Mach dich vom Acker, Artus, und komm nicht vor Ablauf einer halben Stunde zurück.« Die ersten Sekunden der halben Stunde verbrachte ich damit, zu ermitteln, was mit »Mach dich vom Acker« gemeint war. Nicht alle menschlichen Redewendungen waren mir auf Anhieb vertraut. Eine Speicherabfrage ergab, daß diese Formulierung mit »sich vom gegenwärtigen Aufenthaltsort entfernen« gleichzusetzen war. Nun gut, wenn es sie denn glücklich machte... Bei der Weiterfahrt setzte sich Jamie Savannah wieder persönlich hinters Steuer, obwohl sie es als Beifahrerin hätte bequemer haben können. »Ich brauche das«, erklärte sie mir. »Fahren ist für mich ein menschliches Bedürfnis, so wie Trinken, Schlafen oder Sex.« An diesem seltsamen Vergleich hatte ich erst einmal ein Weilchen zu knabbern. All mein Tun und Handeln bewältigte ich mit Perfektion, und ich lernte laufend dazu. Selbstverständlich beherrschte ich den Lastenschweber inzwischen besser als seine Besitzerin, darum deckte ich sie während der Fahrt mit hilfreichen Ratschlägen ein. Leider dankte sie es mir nicht. »Halt endlich den Mund!« schnauzte sie mich an. »Ein guter Beifahrer hat still zu sein.« Von diesem Moment an unterließ ich es, mein Wissen auf dem fahrerischen Sektor mit ihr zu teilen. Selbst als wir von zwei fremden Gleitern verfolgt und beschossen wurden, redete ich ihr nicht in ihren ungewöhnlichen Fahrstil hinein, obwohl ich so einiges besser gekonnt hätte. Hätte Jamie Savannah mich ans Steuer gelassen,
wären wir ganz bestimmt nicht in einem Weizenfeld steckengeblieben. Schon rasten die Gleiter heran und eröffneten das Feuer. * Bei Sonnenuntergang waren Jamie und Artus auf einer einsamen Nebenstraße in den weiten Prärien von Kansas City unterwegs. Die dicke Fuhrunternehmerin schwitzte, sie fühlte sich geschafft. »Zeit für eine Pause«, entschied sie und hielt Ausschau nach einem günstigen Platz für den Fahrerwechsel. Artus war ein Glücksfall für sie, das räumte sie unumwunden ein. Dank seiner Mithilfe würde sie wesentlich schneller ans Ziel gelangen. Zudem erwies er sich als charmanter Plauderer. Jamie schätzte, daß seine Programmierung von einer Person mit extrem guten Manieren vorgenommen worden war. Sogar wenn sie ihn anblaffte, benahm er sich wie ein vollendeter Gentleman. Lediglich seine Besserwisserei in puncto Schweberfahren ging ihr manchmal auf die Nerven. Doch das sah sie ihm nach, schließlich war er nur eine seelenlose Maschine. Die von ihr gewählte Route wurde kaum befahren. Nur ein einziges Mal war ihr ein anderer Lastenschweber auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgegengekommen. Sie hatte ihn dreimal angehupt, in der Hoffnung auf ein kleines Schwätzchen unter Truckern, doch der Fahrer hatte es sehr eilig gehabt und nur kurz gewinkt. Auf einer schnurgeraden Strecke erblickte Jamie in der Ferne einen freien Platz, ideal zum Anhalten und Beine vertreten. Während sie darauf zuhielt, entdeckte sie auf dem kleinen Bordbildschirm zwei schwarze Punkte, die immer größer
wurden. Zwei Personenschweber näherten sich mit hoher Geschwindigkeit. Die Insassen schienen es sehr eilig zu haben und die Verkehrsüberwachung nicht zu fürchten. Jamie fuhr langsamer, um die Fahrzeuge vorbeizulassen. Erst als es zu spät war, fielen ihr die beiden ausfahrbaren Bordgeschütze auf, die vorn über den Scheinwerfern angebracht waren. Ohne Vorwarnung nahmen die fremden Schweber ihren Antrieb unter Beschuß. Daraufhin startete sie mit hoher Geschwindigkeit durch und versuchte mit waghalsigen Fahrmanövern, ihren Verfolgern zu entkommen. Gegen die wendigen, schnelleren Gefährte hatte sie jedoch kaum eine Chance. Nur weil sie Schlangenlinien fuhr, gelang es den Schützen nicht, einen sicheren Treffer anzubringen. In einer engen Kurve, die Jamie viel zu schnell nahm, kam der Lastenschweber von der Piste ab. Sie probierte es mit einer Vollbremsung, machte es dadurch aber noch schlimmer. Auf einem Weizenfeld drehte sich ihr Schweber um die eigene Achse, senkte sich vorn herab und bohrte sich ins Erdreich. Gleichzeitig versagte der Antrieb. Die beiden fürs Töten ausgebildeten und bezahlten Angreifer hatten den Sieg schon vor Augen. Sie jagten heran und eröffneten von zwei Seiten das Feuer – fest entschlossen, sich ihr Blutgeld zu verdienen. Jamie saß wie gelähmt hinter dem Steuer. Mit ihrem Leben hatte sie soeben abgeschlossen. Artus handelte mit der Bestimmtheit einer Präzisionsmaschine. Er zog den Karabiner unter dem Beifahrersitz hervor und sprang aus dem Lastenschweber. Draußen stellte er sich in eine günstige Schußposition und zielte mit der schweren Waffe auf einen der Schweber. Dicht bei ihm schlugen mehrere Geschosse ein. Er wich nicht einen Zentimeter zur Seite.
»Worauf wartest du?« schrie Jamie ihn aus dem Lastenschweber heraus an. »Schieß zurück!« »Ich kann nicht«, erwiderte er und spürte starkes Unbehagen. »Ladehemmung?« rief die Frau aufgeregt. »Verdammt und zugenäht! Warte, ich werfe dir einen Blaster zu!« Ihre Erstarrung hatte sich gelöst. Sie beugte sich etwas herab und zog eine der Waffen unter dem Sitz hervor. »Ich kann kein intelligentes Wesen abschalten«, sagte der Roboter. Jamie verstand nicht, worauf er hinauswollte. »Du sollst diese Höllenhunde nicht abschalten, sondern umbringen! Es heißt, jeder von euch Blechmännern wird im Notfall zu einer gnadenlosen Tötungsmaschine!« »Für mich gilt das nicht«, entgegnete Artus und senkte den Karabiner. »Ich bin... anders.« Der Fahrer des Schwebers links von ihm nahm ihn ins Visier. Sein mit dem Doppelgeschütz verbundener Suprasensor errechnete eine fast hundertprozentige Trefferwahrscheinlichkeit. Die komplette Zerstörung des Ziels war somit mehr oder weniger garantiert. Ein Fehlschuß konnte so gut wie ausgeschlossen werden.
16. De Groots Team drang wieder in die unterirdischen Bereiche des Goldenen vor. Der Weg war auch hier noch gesäumt mit funktionsuntüchtigen Unitallkugeln. Wer oder was sie abgeschaltet hatte, blieb rätselhaft. Henk hegte immer noch die Vermutung, daß Brown es irgendwie geschafft hatte, den Abschaltkode doch noch zu knacken, aber er war in der gesamten Anlage nicht zu finden, und er tauchte auch sonst nirgendwo mehr auf Babylon auf. Es war, als habe ihn der Erdboden verschluckt. Das Forscherteam gelangte in den kleinen Kontrollraum, der immer noch aktiv war. Auch die Anlage nebenan befand sich nach wie vor unter dem Schutz des Intervallfelds, aber sie spie keine kugelförmigen Kampfroboter mehr aus. Henk scheuchte seine Mitarbeiter hinaus, um Ruhe zu haben, und vertiefte sich in die Anzeigen und Steuerkontrollen des Kontrollraums. Er versuchte sich zu erinnern, an welchen Konsolen Brown gearbeitet hatte. Mit Gianttechnik war er bestens vertraut, aber was die Mysterious konstruiert hatten, bereitete ihm Kopfzerbrechen. Wie viel Zeit bei seinen Überlegungen verstrich, konnte er nicht sagen, weil er nicht auf die Uhr schaute, aber plötzlich ahnte er, wie das Intervallfeld abzuschalten war. Dennoch zögerte er, diese Schaltung vorzunehmen, weil er nicht schon wieder für eine Katastrophe verantwortlich sein wollte. Daß er mit dem Wurf seiner Lampe gegen das Intervallfeld den Gegenschlag der Roboter ausgelöst hatte, reichte ihm völlig. Aber dann überwand er seine innere Scheu, und entschlossen kippte er den Steuerschalter in eine andere Position.
»Intervall aus!« rief ihm im nächsten Moment einer seiner Mitarbeiter zu, der sich auf der Galerie des Nebenraums als Beobachter postiert hatte. Die gigantischen Maschinenblöcke, die jetzt nicht mehr brüllten und dröhnten, waren von diesem Moment an für Menschen erreichbar. * Nach wie vor funktionierte die M-Technik, die unter dem Intervallfeld den kosmischen Blitz unbeschadet überstanden hatte. Offenbar wurden in dieser Anlage Roboter produziert, welche Babylon und die Statue gegen fremde Eindringlinge verteidigen sollten. Solche Roboter hatten die Terraner schon auf anderen Planeten erlebt und jedesmal in einer anderen äußeren Erscheinung, die möglicherweise das Design unterschiedlicher Epochen widerspiegelte. Aber bisher war man immer davon ausgegangen, daß diese Robs vor Ort präsent waren und nur auf ihre Aktivierung warteten. Daß sie in Krisenfällen eigens produziert wurden, war ein Novum. Aber gerade dadurch hatte die Anlage derartige Mengen von Robotern ausspeien können, die eben zuvor keinen Lagerplatz beansprucht hatten. Die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der diese Unmengen an Robs produziert wurden, war aber wieder typisch für die Supertechnik der Mysterious! Cipelli war es, der es schaffte, die Aufzeichnungen der Schaltkonsole lesbar zu machen. Dazu waren vier Suprasensoren nötig, die mit Grundwissen über M-Mathematik beschickt waren und parallelgeschaltet werden mußten. Aus dem Konsolenprotokoll ging hervor, daß irgendwer die Roboter kurzgeschlossen und die Produktionsanlage außer Funktion gesetzt hatte.
»Brown!« behauptete Henk. »Irgendwie hat er es doch geschafft, hier schnell genug reinzukommen und alles abzuschalten. Wir wären alle tot, wenn das nicht geklappt hätte.« »Er war gar nicht mehr hier unten«, widersprach Cipelli. »Hier, Henk, schau dir diesen Blip an!« Was der Italiener einen Blip nannte, war für Henk de Groot eine unverständliche Folge aus Symbolen der M-Mathematik. Cipelli erklärte: »Uns fehlt die Möglichkeit, diesen Blip auf einem Oszillographen darzustellen, weil wir noch nicht herausgefunden haben, wie wir diesen Datendschungel auf die entsprechenden Ausgabegeräte übertragen, aber du kannst mir glauben, Henk, daß das wirklich ein Blip ist! In unseren Zahlen ausgedrückt sieht er vielleicht lesbarer aus, besteht dann aber auch nur aus so einer mathematischen Darstellung.« »Und dieses Gewusel kannst du lesen?« staunte Henk. »Wie Klartext, wenn es sich um unsere Zahlen handelt, aber hier haben mir die Suprasensoren die Arbeit abgenommen. Dieser Blip kam von draußen, Henk! Er wurde über Hyperfunk gesendet. Das heißt, er kann von jedem stammen, der sich in Hyperfunk-Reichweite befindet. Woran denkst du gerade?« unterbrach Cipelli sich, weil er sah, wie de Groot zusammenzuckte. »An den Ringraumer«, stieß Henk hervor, »der plötzlich über dem Goldenen auftauchte! Sollte der...?« »Möglich, wenn unsere Polizei nicht auch Hyperfunk in ihren Jetts hat, und mit einem Pol-Jett ist Freund Brown doch abgehauen, oder?« »Moment! Das prüfe ich!« Henk rief über sein Armbandvipho Polizeichef Derek Drebin an. Eine halbe Minute später wußte er, daß kein auf Babylon stationierter Pol-Jett über Hyperfunk verfügte. Drebin, der den Ringraumer ebenso gesehen hatte wie de Groot, hatte für den
Teamchef aber noch eine andere Nachricht. »Inzwischen wissen wir definitiv, daß zur fraglichen Zeit, als der Raumer über dem Goldenen schwebte, kein S-Kreuzer der TF im Raum Babylon war!« »Kein Schiff der Terranischen Flotte?« Henk wunderte sich, warum ihn das in diesem Moment nicht einmal wirklich überraschte. Cipelli dagegen sah darin eine Sensation. »Das bedeutet doch, daß auch Robotschiffe der Mysterious unter Intervallschutz unterwegs gewesen sind, als der Hyperraumblitz in der Milchstraße einschlug! Bisher glaubten wir doch, daß nur unsere vierhundertnochwas S-Kreuzer von Zigtausenden die Katastrophe überstanden haben, aber offenbar sind wir längst nicht im Besitz der ganzen Robotflotte der Geheimnisvollen, wie wir immer dachten...« De Groot winkte ab. »Das ist doch jetzt nicht unser Problem, Cip, aber könnte der Hyperfunkimpuls, der die Robots und ihre Produktionsanlage abgeschaltet hat, nicht von diesem Ringraumer gekommen sein? Drebin...« »Wird gecheckt«, kam dessen Stimme aus dem Vipho. »Ich frage mal bei Petain nach...« Oberst Petain, Oberbefehlshaber der militärischen Streitkräfte Babylons, mußte selbst erst mal nachhaken. Hyperfunksendungen gab's in der Galaxis zu Hunderttausenden, vor allem, wenn wie gerade jetzt die Störungen im galaktischen Magnetfeld wieder etwas nachgelassen hatten – Ruhe vor dem nächsten Sturm... Und über jede Winzigkeit wurde der Kommandierende natürlich nicht automatisch unterrichtet; wen interessierte schon, wenn sich zwei Handelsschiff-Kapitäne im Raum über lukrative Frachten unterhalten wollten? Für Babylons Sicherheit waren solche Funkgespräche ganz sicher nicht von Bedeutung.
Dann mußte de Groot erneut nachfragen, um zu erfahren, daß zur fraglichen Zeit tatsächlich ein Hyperfunkimpuls aufgefangen worden war, nur war der so ultrakurz gewesen, daß die Leute in der Funk-Z der terranischen Lenkzentrale ihn für einen Meßfehler gehalten hatten. Die Hyperfunkanlage im Goldenen Menschen war zu dieser Stunde nicht besetzt gewesen, da man sich lieber auf eigene Technik verließ. Über den Ringraumer, der über dem Goldenen Menschen geschwebt hatte, gab es keine Ortungsaufzeichnung. Weder beim Anflug, noch beim Abflug! »Wir haben ihn doch beide gesehen, Drebin!« stieß de Groot hervor. »Der war doch keine Halluzination, und von der Zeit her paßt es erstklassig!« »Ich habe nicht auf mein Chrono gesehen«, wich Drebin lahm aus. »Aber ich, Chief! Dieser Hyperfunkbefehl, der die Robots abgeschaltet hat, kann also durchaus von dem Ringraumer gekommen sein!« »Den es den Ortungsaufzeichnungen zufolge nicht gibt!« »Den wir aber beide deutlich gesehen haben!« »Na schön«, seufzte Drebin. »Gehen wir mal davon aus, daß dieser Ringraumer den Deaktivierungsbefehl gefunkt hat. Dann war es also nicht dieser ominöse John Brown...« »Aber wer dann? Wer hat in diesem Raumer gesessen, der angeblich nicht existiert?« »Nicht angeblich, sondern tatsächlich, de Groot. S-Kreuzer, die sich unsichtbar machen können, gibt's nicht!« Drebin war nicht auf dem neuesten Stand der Dinge, de Groot aber auch nicht, so daß er dem Polizeichef nicht widersprechen konnte. Bis nach Babylon hatte sich noch nicht herumgesprochen, daß vor einigen Wochen auf Terra unversehens ein lebender Goldener Mensch aus einem Ferntransmitter aufgetaucht war, einen S-Kreuzer stahl, um mit
diesem in Weltraumtiefen zu verschwinden und sich dabei den Ortungssystemen perfekt entzogen hatte. (Siehe Drakhon-Zyklus Buch 3: »Der letzte seines Volkes«) Wie er das gemacht hatte, war allen Experten für M-Technik ein Rätsel. Nicht einmal Arc Doorn hatte dazu etwas sagen können, was ausnahmsweise nicht an seiner sprichwörtlichen Wortkargheit lag. Offenbar gab es selbst in den S-Kreuzern, den ehemaligen Robotschiffen der Mysterious, noch jede Menge bisher unbekannter technischer Feinheiten und Gemeinheiten zu entdecken, obgleich diese Raumer wesentlich primitiver konstruiert waren als Ren Dharks legendäres Flaggschiff POINT OF. »Wurde Brown eigentlich schon gefunden?« wollte Henk wissen. Der kleine Viphoschirm zeigte Drebins Kopf schütteln. »Die Fahndung läuft immer noch, aber ich glaube nicht, daß wir ihn finden können.« »Er muß mit heiler Haut davongekommen sein!« wandte Henk ein. »Er ist doch uns entgegengesetzt geflohen, aber haben Sie abgestürzte Robs gefunden, die in seiner Fluchtrichtung herumliegen?« »Nein«, mußte Drebin eingestehen. »Hat mich auch schon gewundert – scheinbar waren diese Blechkameraden nur hinter Ihnen her, nicht hinter Brown. Sollte uns zu denken geben, wie? Vielleicht war er ihnen sympathischer als Sie...« »Wenn das eine Anspielung sein soll...« »Verdammt, legen Sie doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage, Mann. Wir versuchen, Brown zu finden, und Sie versuchen festzustellen, wer uns mit diesem Hyperfunkblip gerettet hat – können wir uns darauf einigen?« Kommentarlos schaltete Henk ab. »Typischer Beamter«, glaubte Cipelli nuscheln zu müssen. »Nur gut, daß du kein typischer Wissenschaftler bist, sonst müßten wir uns jetzt glatt wieder auf unsere Arbeit
konzentrieren, statt über Polizisten zu lästern«, konterte Henk. »Zum Verständnis, Cip: Das war jetzt eine Anspielung...« »Typischer Workaholic und typischer Chef«, murrte Cipelli. »Keinen Sinn für die Feinheiten terranischen Humors... elender Sklaventreiber!« Henk grinste ihn an. »Wer nachts schlafen will, muß bei Tage arbeiten wollen!« Und er wunderte sich, daß er nach all dem noch immer keine Müdigkeit in sich spürte. * Nur zwei Tage später machten sie die nächste sensationelle Entdeckung. Als Van Gal, mit 21 Jahren der Jüngste im Team, ein mit einem eher ungewöhnlichen Sperrkode gesichertes Portal öffnete, das sich noch einmal 47 Meter tiefer in einer weiteren Subebene befand, glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Gewohntes Blaulicht strahlte ihm entgegen, aber das zeigte einen gewaltigen Stich ins Violette. Rubinrot funkelte es in der gigantischen Halle und durchsetzte als Reflex das normale Licht. Van Gals Verdacht erhärtete sich, als er versuchte, einen kleinen Brocken des rotfunkelnden Materials anzuheben und sich an dem daumenkuppenkleinen Stück die Fingernägel abbrach, ohne es auch nur um einen Millimeter bewegt zu haben. In dieser Halle wurde Tofirit gelagert! Milliarden Tonnen dieses Superschwermetalls mußten die Mysterious hier gehortet haben, das es nur auf den Planeten Hope und Jump gab; von dem Fund, den Art und Jane Hooker im Asteroidenfeld eines fremden Sonnensystems in Raumtiefen gemacht hatten und der alles bisherige übertraf, wußte man auf Babylon noch nichts.
Dafür aber, was man mit Tofirit machen konnte, das ein spezifisches Gewicht von 481,072 kp/kcm besaß: Die Energieversorgung von Ringraumern zu sichern! Erst vor sehr kurzer Zeit hatten auf Terra Chris Shanton und Robert Saam diese Entdeckung gemacht, als sie einen durch den Hyperraumblitz schrottreif gewordenen S-Kreuzer zerlegten. Tofiritstaub wurde vom Antriebssystem vollständig in Energie umgewandelt und dabei langsam, aber sicher »verbraucht«. Sank der Tofiritvorrat im Ringraumer unter eine bestimmte Menge, schalteten die Bordsysteme auf »Sparflamme« um und erbrachten nur noch einen Bruchteil der tatsächlich möglichen Leistung. Dabei zehrten die Meiler dann von dem Tofirit, mit dem sie ausgekleidet waren. Dabei war auch diese Notleistung, mit welcher die Terraner die S-Kreuzer bisher nur erlebt hatten, schon mehr als gewaltig! Und wenn der Mammut-Hyperfunksender im Goldenen Menschen ebenfalls mit Tofiritversorgung arbeitete, wurde die enorme Sendeleistung begreiflich, die fast bis zum anderen Rand der Galaxis reichte, wenn nicht gerade Magnetstürme den interstellaren Funkverkehr lahmlegten, wie es in den letzten Jahren und Monaten immer häufiger geschah; mittlerweile konnte man schon froh sein, Ruhephasen von mehr als zwei oder drei Wochen zwischen den Strahlenstürmen zu erleben. Fast andächtig standen nur wenige Stunden nach Van Gals Sensationsfund M-Spezialisten im Eingang der zur Hälfte mit Tofirit gefüllten Halle. Kasamoto, Logistiker, schüttelte den Kopf. »Das reicht für dreihundert Jahre Dauerbetrieb des Mammutsenders«, schätzte er, »aber mich wundert, daß sich dieses Riesenlager nicht unter seinem eigenen Gewicht langsam, aber sicher in Richtung Planetenkern verabschiedet!« »Natürliche Fundstätten liegen doch auch nicht in unerreichbaren Tiefen«, widersprach Henk de Groot. »Auf Kontinent 4 auf Hope wird Tofirit in vierzehnhundert Metern
Tiefe abgebaut, hier aber sind wir sogar rund 2.700 Meter tief! Auf Jump liegt das Mistzeug sogar an der Oberfläche!« »Aber diese Vorkommen sind doch nicht so kompakt wie diese Lagerstätte«, wandte Kasamoto ein. »Da handelt es sich doch um Erz, aus dem das reine Tofirit, wie wir es hier vor uns liegen haben, erst gewonnen werden muß.« De Groot winkte ab. »Die Mysterious werden sich schon was dabei gedacht haben, als sie dieses Lager anlegten, und dafür gesorgt haben, daß es nicht wegsackt. Wenn das unser einziges Problem wäre, könnten wir heilfroh sein... aber jetzt möchte ich doch zu gern wissen, was mit diesem Tofirit passiert, wie es weiterverarbeitet und eingesetzt wird...« Tane Morotu und Van Gal fanden am anderen Ende der Lagerhalle einen zweiten Zugang. Dort gab es einen Raum, in welchem die Tofiritkrümel von einer Maschine per Traktorstrahl angesaugt wurden, um in einem kurzen Arbeitsgang zu Staub zermahlen zu werden. Für Mysteriousverhältnisse war dieser Maschinenblock, dessen Verkleidung sich nicht öffnen lassen wollte, erstaunlich kompakt. »Wenn ich daran denke, wie riesig die Anlagen zur Weiterverarbeitung auf Hope sind, und wie umständlich unsere eigene Technik auf Terra in dieser Hinsicht ist, wird mir schlecht«, seufzte Morotu. »Irgendwie müssen wir diesen Apparat aufbekommen und sein Innenleben inspizieren!« »Ich wollt', es wäre Nacht, oder Arc Doorn käme«, spöttelte Gal. In der Folge entdeckten sie eine Vorrichtung, mit welcher der Tofiritstaub, der von der Maschine in eine Art Auffangbecken geliefert wurde, angesaugt werden konnte, um in nach oben führenden Leitungen zu verschwinden. »Verrückt«, sagte Kasamoto kopfschüttelnd. »Da muß dieses Schwerstmetall erst mit großem Aufwand in diese Tiefe
gebracht werden, damit man's später wieder nach oben pumpen kann! Geht's eigentlich noch umständlicher?« »Daß die Mysterious einfache Wege gehen, haben wir doch noch nie erlebt«, meinte de Groot. »Die hatten doch bei allem, was sie jemals erfunden oder konstruiert haben, den Größenwahn abonniert. Die konnten doch schon immer aus dem Vollen schöpfen, und wer in der Lage ist, mit Sternen Fußball zu spielen und sie in andere stellare Positionen zu verschieben – darf ich Sie an die Sternenbrücke und das ›Sternbild der Sterne‹ erinnern, Herrschaften – für den spielt es doch auch keine Rolle, selbst in kleinsten Bereichen verschwenderisch zu sein!« Was ihn mehr interessierte, war, wo die Tofiritstaubleitungen mündeten, aber das ließ sich von hier aus nicht feststellen. »Weitersuchen«, ordnete de Groot an. »Vielleicht finden wir heraus, daß es auf Babylon eine Art Tankstelle für Ringraumer gibt, durch die sie jederzeit ihre Tofiritvorräte ergänzen können...« »Mann, Ideen haben Sie, Chef«, seufzte Van Gal. »Wär' nicht schlecht, wenn dieser John Brown wieder hier aufkreuzte! Der mit seinem goldenen Händchen für diesen ganzen M-Kladderadatsch könnte uns bestimmt schneller ans Ziel unserer Wünsche und Hoffnungen bringen...« »Ihre Ausdrucksweise läßt doch sehr zu wünschen übrig, Gal«, brummte de Groot. Aber mit dem Gedanken, Brown wieder im Team zu haben, konnte er sich nicht anfreunden, obgleich sie durch diesen geheimnisvollen Mann Erkenntnisse gewonnen hatten, für die sie sonst noch viele Wochen gebraucht hätten – mindestens. Aber die Sache mit den Kugelrobotern reichte ihm. Die wurden von den Maschinen in der Halle neben dem Kontrollraum nicht mehr produziert, aber damit das auch so blieb, ließ Henk die entsprechende Schalteinheit komplett aus
dem Kontrollraum ausbauen. Wo nichts mehr war, konnte auch nichts mehr diese tückische Sicherheitseinrichtung durch einen neuen Hyperfunkimpuls unerwartet wieder aktivieren. Über John Brown brauchte er sich aber keine Gedanken mehr zu machen. Der blieb verschwunden. Aus dem Nichts war er aufgetaucht und das Nichts hatte ihn auch wieder verschluckt. Sein Geheimnis hatte er dabei mit sich genommen. * Henk de Groots Verdacht, es könne auf Babylon eine »Ringraumer-Tankstelle« geben, schien nicht völlig von der Hand zu weisen, denn hatte es nicht für kurze Zeit so ausgesehen, als trüge der Goldene Mensch das Raumschiff auf Händen? Derek Drebin, wie Henk Augenzeuge des Geschehens, vertrat diese Ansicht vehement, nachdem er von dem Tofiritfund und Henks Spekulation erfuhr. Auch Oberst Petain wollte sich diesem Gedanken nicht unbedingt verschließen. Aber nach wie vor war unklar, was das für ein Raumer gewesen war, der hier möglicherweise aufgetankt hatte. Oder aus welchem Grund auch immer er hier aufgetaucht war... Zur Terranischen Flotte gehörte er eindeutig nicht. Aber wer sonst kreuzte noch mit Ringraumern zwischen den Sternen? Daß es sich um ein Schiff einer noch unentdeckten Robotflotte handelte, schied aus. Diese von Kontrollstellen wie dem Mammutsender von Babylon ferngesteuerten Schiffe tauchten, der Gigantomanie ihrer Erbauer zufolge, stets zu Hunderten oder eher Tausenden auf, und daß von einer vielleicht gerade während des Hyperraumblitzes aktiven Flotte nur ein Schiff unversehrt geblieben war, ließ sich ebenso sicher ausschließen.
Woher aber kam dann dieses Ringschiff? Wer flog es? Hatte irgendwo in Weltraumtiefen ein Terraner noch ein einzelnes Raumschiff gefunden und in Besitz genommen, wie es vor Jahren auf Hope Ren Dhark getan hatte? Aber war die POINT OF nicht ein Unikat, ein Experimentalschiff, das die Mysterious-Genies Margun und Sola mit schier unglaublichen Neuentwicklungen vollgestopft hatten, die sie im Industriedom von Deluge konstruiert und die nie Eingang in den allgemeinen Standard der M-Technik gefunden hatten, weil die Mysterious genau zu jener Zeit dem Ruf »ron wedda wi terra« Folge zu leisten hatten und spurlos von allen ihren Planeten und Stützpunkten in der Galaxis verschwunden waren? Konnte es wirklich eine zweite POINT OF geben? Geflogen von einem Abenteurer, der sich den Teufel um die Belange der Menschheit scherte? Oder steckte noch etwas völlig anderes hinter diesem Vorfall? Fragen, auf die es keine Antworten gab... Zumindest noch nicht jetzt... Und die Arbeit auf Babylon ging weiter!
17. Die KRIEGSBRAUT, das Flaggschiff der Nomaden unter dem Kommando von Pakk Raffs bestem Kapitän, Plepp Riff, glitt an der Spitze des Verbandes aus zwölf Schiffen durch den tiefen Weltraum auf ihr Ziel zu, die nur noch eine Tagesreise entfernte Sonne des Patriken-Systems. Plepp Riff hockte in seinem Gliedersessel vor der Hauptkonsole, die wie ein halbierter Kreisschnitt geformt war. Rechts von ihm sein 1. Offizier und Chefpilot, links sein Zweiter, der gleichzeitig Waffenoffizier war. »Alle Schiffsführer sind vollzählig, Kapitän«, meldete der Ortungsoffizier von seinem rückwärtig gelegenen Befehlsstand. »Sehr gut«, nickte Riff, »informiere diesen Baddakk« – er spie das Schimpfwort förmlich heraus – »von Chefdenker, daß wir bereit wären, uns Pakk Raffs Sache anzuhören.« »Sofort, Kapitän.« Kapitän Plepp Riff drehte seinen Sessel herum, so daß er das letzte Glied eines Hologramm-Kreisringes bildete, und nickte den anderen Kapitänen zu, die ihrerseits auf ihren Schiffen in der gleichen Position waren – umgeben von Holos. Es dauerte keine Minute, dann stand Priff Dozz zitternd vor dem mächtigsten Nomaden an Bord nach Pakk Raff. Seine unsteten Blicke blieben an den elf anderen Nomaden hängen, die als virtuelle Hologestalten der Unterredung beiwohnten, ganz so, wie er es verlangt hatte, im Namen Pakk Raffs. Plepp Riff bot dem Berater Raffs keinen Sitz an; Kretins hatten kein Anrecht auf Sitzplätze auf der Brücke eines Nomadenschiffes. Einer, der noch nie in seinem erbärmlichen Leben eine Herausforderung angenommen oder bestritten hatte, hatte
generell nichts auf der Brücke verloren, das war Riffs Meinung. Trotzdem wollte er sich anhören, was dieser Priff Dozz zu sagen hatte, sprach er doch im Namen des obersten Rudelführers, dessen Autorität noch immer von beträchtlichem Gewicht war, wenn ihn der »Rat der klugen Alten« auch de facto entmachtet hatte. Doch Riffs Loyalität hatte zumindest noch insoweit Bestand, daß er sich wenigstens anhören wollte, was Pakk Raff zu sagen hatte. »Nun, Zwerg!«, donnerte Plepp Riff. »Was hast du uns so wichtiges mitzuteilen, daß ich die anderen Kapitäne von ihrer Arbeit abhalten muß, um dir zu lauschen?« »Nicht mir«, erwiderte Dozz und ärgerte sich über den schwachen Klang seiner Stimme, die nur elektronisch verstärkt etwas bewirken konnte, was dieser gemeine Hund von einem Kapitän aber strikt abgelehnt hatte. »Ihr hört Pakk Raff, in seinem Namen spreche ich.« »Ja, ja«, winkte Riff ungeduldig ab, »das wissen wir inzwischen zu Genüge. Du läßt ja keine Gelegenheit aus, es immer und immer wieder zu betonen. Rede endlich, oder ich lasse dich zu Pakk Raff in die Zelle werfen.« »Da sei Darrgg vor!«, entsetzte sich Priff Dozz gekonnt, was zu dröhnendem Gelächter in der Runde der Kapitäne führte. Oh, ihr eingebildeten Narren, dachte er, es ist so einfach, euch zu manipulieren... »Es geht um den ›Rat der klugen Alten‹. Man wird Toss Patt zum Nachfolger Pakk Raffs und neuem obersten Rudelführer der Nomaden machen.« Plepp Riff deutete mit einer Kopfbewegung seinen Unmut an. »Warum auch nicht? Wenn auch nur die Hälfte dessen stimmt, was man über ihn sagt, wäre Patt ein guter Anführer.« Priff verschränkte die Arme vor der Brust, was aufgrund seines Leibesumfanges nicht ganz gelang. Also setzte er mehrmals an, was zu erneuten Heiterkeitsattacken der
Nomaden führte. »Er mag nach eurem Verständnis ein guter Anführer sein, zumindest läßt er euch das glauben, aber ich bin sicher, ihr seid euch nicht der Tragweite einer derartigen Umwälzung im Machtgefüge der Nomaden bewußt. Wie solltet ihr auch, ist eurer Sinn doch nur auf Kampf ausgerichtet. Für andere Dinge ist kein Platz in euren Köpfen.« »Mäßige dich«, grollte einer der Kapitäne. »Du kennst unsere Sitten gut genug, um zu wissen, daß wir die Tugenden der Rangordnungskämpfe über alles andere stellen. Was ist daran falsch?« »Fast alles«, betonte Priff Dozz mit Nachdruck, »und wiederum auch nichts.« »Was soll dann dein Auftritt hier? Wir Nomaden mögen nun einmal die orthodoxe Art der Rangkämpfe. Andererseits fördert unsere Gesellschaft die Individualität nicht gerade, aber wir erkennen durchaus ihren Wert. Sonst gäbe es beispielsweise solche Typen wie dich überhaupt nicht.« »Pah!«, stieß Priff Dozz hervor. »Ich wünschte, es wäre so. Ich wünschte, meine Methoden würden besser funktionieren. Dann würdet ihr einen Mann wie Toss Patt nicht unterstützen in seinem Bemühen, die Traditionen der Nomaden auf eine ganz und gar radikale Weise zu ändern.« »Du träumst, Berater«, behauptete einer der Kapitäne. »Toss Patt ist weder in der Politik noch im Krieg ein Neuling. Er wird unsere Traditionen wahren, wie alle vor ihm und auch die, die nach ihm kommen. Er wird gewählt werden.« »Er zeigt sich als Meister der Politik und der Rhetorik«, behauptete ein anderer Kapitän. Priff Dozz schüttelte heftig den Kopf, daß die Ohren nur so flogen. »Träumt ruhig weiter. Er vernebelt euch den Blick für das, was er tatsächlich vorhat. Wenn ihr nur ein bißchen mehr Verstand hättet, würdet ihr erkennen, was Toss Patts Rede zur konstituierten Verfassung des Rates wirklich bedeutet.«
Tumult brandete auf, und Priff Dozz begann unwillkürlich zu zittern. Er war selbst überrascht davon, wie weit er sich heute vorgewagt hatte. Der Omega bot den Alphas Paroli in ihrem eignen Terrain! Wo und wann hatte es das schon mal gegeben? Plepp Riff ersuchte mit einer Handbewegung um Ruhe. »Laßt ihn reden. Es ist das einzige, was er kann.« Und zu Dozz gewandt: »Erkläre uns, was du meinst!« »Ist euch denn nicht klar, daß der Putsch des Rates nicht nur gegen alle seit Anbeginn gültigen und stets erfolgreichen Regeln unseres Zusammenlebens verstößt, sondern daß damit die ›Alten‹«, er betonte das Wort auf eine eigentümliche Art, »den Jüngeren auch jede Möglichkeit zu einem Aufstieg nach der überkommenen Tradition verbauen? Habt ihr euch das schon mal überlegt?« »Erklärung!« heischte Plepp Riff. »Nehmen wir an, ihr unterstützt Pakk Raffs Wiedereinsetzung zum obersten Rudelführer. Was geschieht? In wenigen Jahren wird er nicht mehr stark genug für Rangordnungskämpfe sein und reif für eine Ablösung. Dann könnte sich – nach alter Tradition – ein neuer, junger und starker Nomade zum obersten Rudelführer aufschwingen. Und mit den Führungspositionen auf den einzelnen Schiffen verhält es sich nicht anderes. Erkennt ihr den Sinn dieser Tradition?« »Ja, ja. Die berühmte Darrgg-Vision.« Die Kapitäne nickten beifällig. »Und mit der räumt Toss Patt mit seinem Rat jetzt gründlichst auf«, warf Priff Dozz laut in den Raum. Abruptes Schweigen. Und ehe sich die Nomaden von ihrem Schock erholen konnten, fuhr Dozz mit unerbittlicher Stimme fort: »Die Verfassung, die sich der Rat gegeben hat, nämlich daß man aus einer Führungsposition nur noch mit Zustimmung aller Rudelführer und Unterführer abgewählt werden kann – die
natürlich der Rat aussucht – ehe in Rangkämpfen ein neuer Nachfolger gesucht werden darf, ist nur für den Rat von Interesse. Seht ihr das denn nicht ein? Auf diese Weise wird sich der Rat, vor allem aber Toss Patt auf viele Jahre an der Macht halten und den Jungen und Starken die Zukunft verbauen. Die Gesellschaft der Nomaden wird stagnieren. Geht denn das nicht in eure Schädel?« Plepp Riff runzelte die Stirn; seine Ohren spielten nervös, äußeres Zeichen seines Unbehagens. »Du meinst also, wenn Toss Patt den Status eines ständigen Ratsvorsitzenden erhält, wird er die Tradition in Frage stellen, Krieger nach den althergebrachten Rangfolgekämpfen in höhere Positionen aufsteigen zu lassen?« »Bei Darrgg!« Priff Dozz bellte ergeben. »Davon spreche ich doch die ganze Zeit.« »Langsam beginne ich zu glauben, daß Toss Patt tatsächlich einen derartigen Plan hat.« Dozz schüttelte den Kopf über die Zähigkeit, mit der sich die neue Erkenntnis in den Köpfen der Kapitäne auszubreiten schien. »Das erscheint ziemlich offenkundig. Seinem Ehrgeiz sollte ein Riegel vorgeschoben werden.« »Von uns?« »Von euch! Ihr seid die einzigen, die dazu in der Lage sind.« »Indem wir Pakk Raff unterstützen?« »Genau.« »Vielleicht sollen wir das nur glauben«, warf einer der Kapitäne ein. »Vielleicht macht uns ja dieser Baddakk von Chefdenker etwas vor. Vergessen wir nicht, er ist der Berater Pakk Raffs, den wir zur Verurteilung vor den Rat zu bringen haben.« »Schweig, Bratt Noss!«, herrschte der Kapitän des Flaggschiffes seinen Unterkapitän an und zeigte drohend sein
Gebiß. »Von Politik verstehst du noch weniger als von deiner eigenen Frau, die sich gerne herumtreibt, wie wir alle wissen.« Schadenfrohes Bellen und johlendes Gelächter brandete auf, das aber schnell wieder verstummte, als Plepp Riff eine herrische Handbewegung machte. »Ruhe. Ich muß nachdenken.« O allwissender Darrgg, dachte Priff Dozz, das kann dauern... aber gib ihm dennoch die nötige Einsicht! Es dauerte nur kurze Zeit, bis Plepp Riff erneut das Wort ergriff. »Nomaden. Toss Patt mag ein Meister der Rhetorik und der Politik sein, wie einer von euch gerade eben behauptet hat, aber ist er auch noch ein guter oberster Rudelführer? Er mag es mal gewesen sein, aber jetzt ist er alt. Ein oberster Rudelführer braucht einen starken Rückhalt innerhalb der Klans, den hat im Moment aber nur Pakk Raff. Ich sage, unterstützen wir Pakk Raff. Er soll wieder eingesetzt werden, dafür werden wir unseren Beitrag leisten.« Die Zustimmung der anderen Kapitäne kam erst zögernd, aber dann immer schneller. Zum Schluß war die Übereinkunft einstimmig. Plepp Riff wandte sich an den Unterführer der Schiffswache. »Bringt Pakk Raff aus der Kerkerzelle in seine Kabine; er soll sich erfrischen, dann sprechen wir unser Vorgehen vor dem Rat ab.« »Eine weise Entscheidung«, bekannte Priff Dozz, »würdig eines Kapitäns deines Ranges. Ich freue mich, daß die Klugheit obsiegte.« Plepp Riff betrachtete Priff Dozz lange. Schließlich fragte er: »Hast du wieder mal hinter den Kulissen alle Fäden gezogen?« »Ich wäre kein guter Berater des obersten Rudelführers, wenn ich mich nicht um die Angelegenheiten aller Nomaden
kümmern würde«, erwiderte Priff Dozz in der Bescheidenheit, die ihm sein unverhüllter Stolz über das Gelingen seiner Mission diktierte. * An der Spitze einer kampfkräftigen Truppe von Nomaden aus der KRIEGSBRAUT eilte Pakk Raff die breiten, flachen Stufen zum Ratssaal hinauf. Die patrikischen Wächter an den Säulen links und rechts ließen sie ungehindert passieren. Schließlich standen sie vor dem Portal mit den eigenwilligen Hieroglyphen. Zwei seiner Unterführer drückten das Portal auf, und als die Flügeltüren sich öffneten und donnernd gegen die Wände schlugen, blickten die Nomaden in eine riesige Halle. In der Mitte des Raumes gab es einen Halbkreis aus dreizehn Steinpodesten. Auf jedem dieser Podeste ruhte ein ebenfalls steinerner Thron, und auf jedem saß ein reichgewandeter alter Nomade, hinter jedem eine Schar junger Höflinge. Der dreizehnte Thron stand leicht erhöht; er diente dem Vorsitzen des Rates, Toss Patt, als Sitzgelegenheit. Hinter dem Rat erhob sich, ebenfalls im Halbrund, Sitzreihe auf Sitzreihe bis unter die Decke der Halle die Tribüne für das Publikum; die Zuschauerränge erstreckten sich auch an der linken und rechten Wandseite. Dafür, daß das Ganze ein erst seit kurzem ins Leben gerufenes Provisorium darstellte, hatte es sich aber bereits zu einer recht ordentlichen Institution gemausert. Pakk Raff erkannte, daß der Plan, einen »Rat der klugen Alten« zu bilden, nicht von Spontaneität geprägt, sondern von langer Hand vorbereitet gewesen war. Und er trug eindeutig die Handschrift Toss Patts. Vor den Thronen stand ebenfalls auf einem Podest eine riesige Statue aus schwarzem, poliertem Gestein, die einen grob behauenen Nomaden mit aufgestellten Ohren und weit geöffnetem Rachen darstellte. In seinen emporgereckten
Klauen umklammerte er eine Weltkugel. Pakk Raff wußte, was für eine Statue das war, weil er die Legenden kannte, die sich darum rankten. Es war der Gott der Nomaden, der große Allmeister Darrgg, der Beschützer der Beißwütigen. Um ihn drehten sich die althergebrachten Überlieferungen, auf denen sich die Jurisdiktion und die Traditionen der Nomaden gründeten. Bei dem Planeten in seinen Händen handelte es sich um die vor gut 800 Jahren verlorengegangene Heimatwelt der Nomaden. Er warf der Statue einen schiefen Blick zu. Ob sie ihm Glück bringen würde? Er konnte es brauchen. Er wünschte es sich. Denn das, was er zu tun im Begriff war, konnte leicht auf ihn selbst zurückfallen. Priff Dozz, dachte er, hoffentlich hast du dich nicht verrechnet, du Weichling. Wenn deine Einschätzung nicht zutrifft und dies hier ein Blutbad wird, reiße ich dich eigenhändig in Stücke und lasse deinen Kadaver auf einem leeren Acker verwesen. Dann wandte er den Blick und sah zu den riesigen Wandschirmen hinüber, auf denen die Kapitäne und Mannschaften auf den zwölf Nomadenschiffen diesem Tribunal beiwohnten. Die Sitzung des Rates wurde über Hyperfunk übertragen. »Gefällt dir die Innenausstattung des Sitzungsraumes, Raff?«, rief ihm Toss Patt über die Entfernung zu und versuchte vergebens, seiner brüchigen, schon etwas heiseren Stimme einen gewichtigen Klang zu verleihen. »Oder was ist es, was dich stumm macht?« Pakk Raff gab keine Antwort auf diese Provokation, sondern marschierte mit klirrenden Waffen und ächzendem Lederzeug an der Spitze seines Trupps in den Saal. Die wuchtige Strahlwaffe in seinen Klauen wies noch mit der Mündung zu Boden, außerdem war sie vorerst auf Paralysemodus geschaltet. Nach der halben Distanz bellte er einige Befehle; seine Kämpfer schwärmten mit angeschlagenen Waffen aus und
postierten sich so, daß jeder eine strategische Position einnahm, von der aus der Saal beherrscht werden konnte. »Pakk Raff!«, geiferte Toss Patt zähneknirschend und mit nur mühsam zurückgehaltener Wut, als er begriff, was sich vor seinen blutunterlaufenen Augen abspielte. »Wozu dieser theatralische Auftritt?« Er schlug mit der massiven Kugel in seiner rechten Klaue, Symbol seiner Ratsherrschaft, mehrere Male krachend auf die verbreiterte rechte Lehne seines Thrones, daß es nur so durch den Saal hallte. »Soll das ein Putsch sein?« »Kein Putsch, alter Mann«, erwiderte Pakk Raff heiß und emotionsgeladen. Die Mündung seiner Impulswaffe zeigte jetzt genau auf den Ratsvorsitzenden, »sondern eine Entmachtung. Um es auf den Punkt zu bringen, ab sofort könnt ihr euch alle«, er machte mit der Linken eine Bewegung, die den gesamten Rat einschloß, »als abgesetzt betrachten. Flucht ist sinnlos«, fügte er hinzu und schwenkte die Waffe. Er grinste boshaft mit hochgezogenen Lefzen, als er sah, wie Toss Patt mit geöffneter Schnauze zu hecheln anfing; Zeichen dafür, daß ihm heiß wurde. Der Ratsherr erkannte sehr wohl, daß Pakk Raff gerne abgedrückt hätte. Der gewiefte Taktiker und kaltschnäuzige Pragmatiker Toss Patt hatte wohl zum ersten Mal in seiner Amtsperiode das Gefühl, nicht mehr uneingeschränkt Herr der Lage zu sein. Pakk Raff hob erneut die Stimme. »Ich verhafte in meiner Eigenschaft als oberster Rudelführer die Personen Toss Patt, Brutt Noss...«, er nannte jedes einzelne der Ratsmitglieder beim Namen. Und je länger er redete, um so lauter wurde das Wutgeheul der alten Nomaden, »... wegen Anstiftung zum Verrat und der Verletzung der ehernen Gesetze unseres Volkes.« Die Worte waren nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Zuschauer auf den Nomadenschiffen bestimmt – nicht nur auf den zwölfen seiner Flotte, sondern auf allen Kreuzraumern in Drakhon.
»Du bist wahnsinnig, Pakk Raff!«, schrie Toss Patt. »Du wirst für dieses Verbrechen bezahlen! Mit dem Tod wirst du bestraft.« Die Wut des Ratsvorsitzenden wogte durch den Saal, und jeder in seiner Nähe verspürte die Hitze des Zorns, die von ihm ausging. »Verbrechen?«, hielt ihm Pakk Raff entgegen. »Welches Verbrechen? Ist es ein Verbrechen, die Macht zu nutzen, die mir in meiner Eigenschaft als oberster Rudelführer zusteht? Eine Macht, die ich als euer«, er wandte sich mit einer theatralischen Geste (ganz wie ihm Priff Dozz geraten hatte es zu tun) an die Aufnahmeobjektive, die die Szene in die Nomadenschiffe übertrugen, »als euer rechtmäßiger General, der euch bislang immer erfolgreich in jede Schlacht führte, stets nur zum Wohl unseres Volkes nutzte? Wenn das ein Verbrechen ist, ja, dann bin ich ein Verbrecher. Aber dann ist jeder von euch«, er deutete mit den Fingern auf den Rat, »ein gleichgroßer Verbrecher.« Bei den Hunden von Gorr, dachte Pakk Raff, was ist das für ein unwürdiges Gesabbere? Unwürdig eines Kriegers wie mir! Wenn diese Farce hier vorüber war, nahm er sich vor, dann würde er sich Priff Dozz vorknöpfen und ihm die Ohren ein Stück kürzer machen. Um so erstaunter war er, als ihm vereinzelt Zustimmung von den Rängen der Senatoren signalisiert wurde. Es scheint ja tatsächlich zu funktionieren! »Natürlich funktioniert es«, wisperte Priff Dozz' Stimme in seinem linken Ohr und machte Pakk Raff darauf aufmerksam, daß er seine Gedanken laut geäußert hatte. Mißtrauisch warf er seine Blicke umher; es war niemand nahe genug gewesen, um zu hören, was er gesagt hatte. »Ruhe!«, keifte Toss Patt, als der Tumult von Zustimmung und Ablehnung auf den Rängen immer lauter wurde. »Wahrt die Autorität des Rates! Und du, Pakk Raff«, wandte er sich
mit tückischem Blinzeln an den Rudelführer, während er gleichzeitig eine Handbewegung machte, »wirst gleich erkennen, was es heißt, den Rat der Nomaden auf diese schnöde Weise entmachten zu wollen.« Auf sein Handzeichen hin drangen plötzlich eine Reihe stark bewaffneter Nomaden in den Farben der einzelnen Ratsmitglieder aus dem Hintergrund nach vorn. Ebenso schwerbewaffnet, wie Raffs Truppe. Von einer Sekunde zur anderen eskalierte die Situation, war die Konfrontation da. Plötzlich herrschte Grabesstille im Ratssaal; wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Die Leibwächter Toss Patts, alles kampferprobte Nomaden aus seinem weitverzweigten Rudel, nahmen mit ebenfalls gezogenen Waffen Aufstellung um den Thron des Ratsvorsitzenden. Die Kampfeslust zog Raffs Magen zusammen wie eine Greer-Schlange, die einen Welpen erdrückte. Die Lefzen zogen sich von seinem eindrucksvollen Gebiß zurück, und seine gelben Augen begannen drohend zu glühen. Nur zu gerne hätte er unter Beweis gestellt, daß er sich vor einer Auseinandersetzung mit dem Rat in keinster Weise fürchtete, aber eine innere Stimme, die innere Stimme seines Chefdenkers Priff Dozz, riet ihm davon ab. Um ihn herum knurrten und bellten seine Gefährten. Nicht mehr lange, und er würde sie nicht mehr im Zaum halten können. Sie warteten auf das kleinste Zeichen von ihm, um diese Ratsversammlung in ein Blutbad zu verwandeln. Doch trotz aller offensichtlichen Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten war noch kein einziger Schuß gefallen. Aus einem unerfindlichen Grund schienen beide Seiten zu zögern. Pakk Raff stand mit zur Seite gelegtem Kopf und machte den Eindruck, nach innen zu lauschen, wobei er manchmal
widerstrebend den Schädel mit den blitzenden Fängen schüttelte. Offenbar rang er mit sich selbst, wie er diese verfahrene Situation am besten bereinigen konnte. Dabei lauschte er tatsächlich nur einer Stimme – doch nicht seiner inneren, die sowieso zum augenblicklichen Kampf riet, sondern der von Priff Dozz, der ihm Ratschläge erteilte, die zu akzeptieren sich alles in ihm sträubte. »Was ist, du mißratener Abkömmling eines verlausten Baddakk! Hat es dir angesichts meiner Wache nun die Sprache verschlagen? Wie du wohl siehst, war ich darauf vorbereitet, daß du etwas derartiges im Schilde führst.« Er wandte sich an die Nomaden der hinteren Ränge, überwiegend Unterführer und Waffenmeister, die bei den Ratssitzungen die Rolle von Senatoren mit einem Drittel Stimmrecht einnahmen, und vergaß auch nicht, sich an die Zuschauer und Schiffsbesatzungen zu wenden. »Seht ihr nicht, daß dieser Pakk Raff eine Schande für uns alle ist? Es wird höchste Zeit, daß ein anderer an seine Stelle tritt.« »Du etwa?« höhnte Pakk Raff. »Meinen Vorgänger konntest du noch aus dem Weg beißen, mit mir gelingt es dir nicht, darauf verwette ich meine drei Frauen.« »... wer wird die schon wollen!«, höhnte jemand aus den Rängen, »sie bringen nicht einmal anständige Welpen zur Welt.« »... oder liegt es vielleicht an dir, großer Pakk Raff?«, ließ sich eine zweite, nicht minder gehässige Stimme vernehmen. Bellendes und kläffendes Gelächter war die Folge. Ein flammender Blitz aus der schweren Impulswaffe eines von Pakk Raffs Unterführern in die Wand über ihren, Köpfen brachte die Vorwitzigen zum Verstummen. »Haltet ein!«, schrie Pakk Raff, als die Waffen plötzlich drohend erhoben wurden und die Situation in eine Auseinandersetzung zu eskalieren drohte, bei der diesmal die
gesamte Führungselite der Nomaden sterben konnte. »Haltet ein!«, rief Pakk Raff erneut, trat nach vorn zwischen die beiden Parteien und verschaffte sich mit lauter Stimme Gehör. Sie war so mächtig, daß jeder im Saal verstummte, die Waffen senkte und sich dem Rudelführer zuwandte. »Nomaden, Freunde, Feinde, Verräter und Feiglinge. Wir haben in der Vergangenheit viel gehört von dem ehrenwerten Vorsitzenden des Rates, der auch jetzt nichts besseres zu tun hat, als mich zu verunglimpfen...« »Schweig!«, schleuderte ihm ein Ratsmitglied entgegen. »Du bist nichts als ein Tyrann, wie kannst du es wagen, in unser aller Namen zu sprechen?« »Nicht in euer aller Namen«, hielt Pakk Raff dagegen. »Nur im Namen derer, die für uns Nomaden in den letzten Dekaden ihr Leben ließen für eine Sache, die nur ehrenwert war. Und ich spreche für die vielen, die nicht mehr unter uns weilen, weil sie auf fremden Welten ihr Leben lassen mußten und nun irgendwo in heimatloser Erde verscharrt liegen...« »Aujjii! Aujjii«, tönten die schrecklichen Klagerufe der Nomaden von den Rängen, die Mitglieder ihrer Rudel bei diesen Kämpfen verloren hatten. »... betrauert und beweint nur von den Weibern und den Welpen, die noch zu schwach sind, eine Waffe zu tragen.« »Schweig!«, bellte es erneut aus dem Rat. »Denn eines ist gewiß: Pakk Raff ist ein Tyrann. Wir müssen uns von ihm befreien.« »Still«, tönte es aus den Reihen der Unterführer. »Wir wollen erst hören, was Pakk Raff uns zu sagen hat.« »... ja, laßt ihn reden. Wir wollen Pakk Raff hören!« »Ich hingegen behaupte, es ist der Rat, der abgewählt gehört. An seine Stelle muß wieder der rechtmäßige Rudelführer treten«, versetzte Pakk Raff und entfesselte erneut tumultartige Szenen unter den Nomaden der unterschiedlichen Rudelzugehörigkeiten.
»Ruhe«, ließ sich erneut ein vielstimmiger Chor vernehmen. »Wir wollen ihn hören.« Pakk Raff hob die Hand. »Freunde, Nomaden, Gefolgsleute, leiht mir euer Ohr. Ich bin nicht gekommen, um den Rat zu begraben, nicht, um seine Taten zu rühmen. Denn das Böse, das die Nomaden tun, lebt nach ihrem Tode weiter; das Gute wird oft mit ihren Gebeinen begraben. So mag es auch mit dem Rat geschehen, und vor allem mit seinem Vorsitzenden. Der edle Toss Patt hat euch gesagt, Pakk Raff sei machtgierig. Wenn das so ist, dann ist es ein schlimmer Fehler...« »Verflucht seist du, Priff Dozz!«, murmelte Pakk Raff. »Was legst du mir dafür Worte in den Mund?« »Vertraue mir«, wisperte sein Chefdenker in seinem Ohr, »Ich weiß schon, wie du sie packen kannst.« Für einen Moment war Pakk Raff sprachlos. Dann fuhr er, insgeheim mit den Zähnen knirschend, fort: »... und schlimm habe ich dafür gebüßt, denn ich bin ein ehrenwerter Mann. Aber ich bin nicht machtgierig« – zum Glück konnten die schwarzhäutigen Nomaden nicht rot werden, wenn man sie bei einer Lüge ertappte – »sondern nur um das Wohl unseres Volkes besorgt. Im Gegensatz zu unserem ehrenwerten Vorsitzenden, der sich, obwohl auch ein ehrenwerter Mann« – auf den Rängen begann man zu johlen – »von sehr eigennützigen Motiven verleiten ließ und dadurch seine eklatante Schwäche offenbarte. Sein Fehler ist, daß er die unglücklichen Zufälle der letzten Zeit, die große Gefahr durch das fremde Ringschiff und die zu erwartende Rückkehr unserer Erzfeinde, der Rahim...« Ein frenetisches Wutgeheul brandete von den Wänden der hohen Ratshalle, als der Name jenes Volkes fiel, das vor 800 Jahren (nach irdischer Zeitrechnung) die Heimatwelt der Nomaden vernichtet hatte und nur zwei Jahrhunderte später von der galaktischen Bühne verschwand, als hätte es Angst gehabt, sich deren Rache stellen zu müssen.
»... für seine persönlichen Machtgelüste auszunutzen versuchte, indem er all diese Vorkommnisse irgendwie mit mir in Verbindung brachte, sie mir anlastete, meine Abwahl vorantrieb, obwohl ich ein ehrenwerter Mann bin und nur das Wohl aller im Auge habe.« Pakk Raffs Stimme war stark, und sie wurde mit der Dauer der Rede immer stärker. Er verstand es, mit Hilfe seines Einsagers Priff Dozz, Ton und Geschwindigkeit so einzusetzen, daß er die Menge in seinen Bann zog. Seine Worte wurden durch die simultan erfolgende Übertragung in der ganzen Enklave und auf den Schiffen der Flotte gehört. Und – seine Aussage hatte schockierende Äußerungen vieler Zuhörer und Nomaden zur Folge. Es wurde offenkundig, daß das Pendel langsam zugunsten Pakk Raffs ausschlug. Raff sah mehr als einen Rudelführer, der Toss Patt vorher in den höchsten Tönen gepriesen hatte, jetzt gegenteilige Äußerungen verbreiten, während andere ihre Wut über Patts »Verrat« an der Sache der Nomaden lauthals hinausschrien und »Steinigt ihn!« brüllten. In diesem schicksalsträchtigen Moment meldete sich Plepp Riff, der weithin geachtete Schiffsführer über die Bildwand zu Wort. »Nomaden!«, donnerte seine Stimme aus den Audioflächen. »Ich und mein gesamtes Rudel unterstützen Pakk Raff. Jeder weitere Verbleib des Rates an der Führungsspitze wäre ein Fehler. Wir können keinem Nomaden vertrauen, der nichts anderes im Sinn hat, als seine Position zu seinem eigenen Machtvorteil zu mißbrauchen. Vom Rat wurden meine früheren Äußerungen zu diesem Thema dahingehend impliziert, daß ich Raffs Abwahl befürworte. Das tue ich jedoch keineswegs.« Er wartete, bis in der Ratshalle wieder Ruhe einkehrte. »Ich und meine Untergebenen unterstützen die Abwahl Pakk Raffs deswegen nicht, weil die Anklagen, die durch Toss
Patt und die übrigen ›ehrenwerten Alten‹ gegen ihn vorgebracht wurden, jeder Grundlage entbehren. Können wir ihm etwa vorwerfen, einen unfairen Vorteil ausgenutzt zu haben, als er sich vor dem geheimnisvollen Ringschiff rechtzeitig in Sicherheit gebracht hat und mit ansehen mußte, wie sein eigener Besitz in die Luft gesprengt wurde?« »Nein!«, tönte die Menge. »Ihr habt recht, das können wir nicht. Können wir den Beschwerden triefäugiger alter Nomaden lauschen, die, wie wir inzwischen wissen, alles nur mögliche in die Wege leiten, um ihre Stellung in unserer Gemeinschaft auf Lebenszeit zu zementieren?« »Nein, nein!«, intonierte das Publikum im Saal. Plepp Riff wandte sich über die Bildschirme an die Führungsriege der Nomaden, die seine Rede mit offenen Unmutsäußerungen bedachte und mit Unverständnis reagierte. Denn sie waren ja alles ehrenwerte Männer. »Ihr wollt Pakk Raff aus dem Weg räumen. Ich aber sage, ihr sollt ihn preisen. Er ist ein wahrer Führer. Er sieht über die augenblicklichen Ziele hinaus in die Zeit danach, und er sieht eine Zeit, in der wir Nomaden unseren rechtmäßigen Platz in der Galaxis wieder einnehmen werden. Sich gegen ihn zu stellen, sollte als Hochverrat gegen die Traditionen der Nomaden gelten. Pakk Raff und ich hatten in der Vergangenheit unsere Meinungsverschiedenheiten, aber ich erkenne ihn vorbehaltlos als meinen Anführer an. In diesem Augenblick ist ein Beiboot mit meinen Gefolgsleuten zur Ratshalle unterwegs, um Pakk Raff zu unterstützen.« »Eine interessante Analyse«, wisperte Priff Dozz' Stimme in Raffs Ohr. »Oh, er ist gerissen, der schlaue Hund, meinst du nicht, Raff? Du mußt vorsichtig sein. Vielleicht hat Riff seine eigenen Ambitionen und du nährst eine Natter an deiner Brust.«
Pakk Raff kniff mißtrauisch die Augen zusammen, und ein leises Grollen löste sich aus seiner Kehle. »Die Rede Plepp Riffs war gut«, ließ sich sein Chefdenker wieder vernehmen und bohrte den Finger noch tiefer in die Wunde, »aber ich habe noch etwas besseres für dich. Also, fang schon an!« »Nomaden!«, lenkte Pakk Raff die Aufmerksamkeit des Auditoriums wieder auf sich, und er sah sich im Saal um. »Dies ist eine Zeit«, begann er mit Stentorstimme zu reden, »wo wir uns zusammenschließen sollten gegen unsere Feinde, damit sie nicht an unsere Kehlen können. Aber nicht nur gegen die von außen. Nein, auch gegen die Feinde in unseren eigenen Reihen haben wir uns zu wehren. Laßt uns deshalb eine feste Front bilden. Politik ist notwendig, aber sie darf uns nicht verweichlichen, darf uns nicht blind machen für das, was unerläßlich ist, um uns Nomaden wieder den Platz einnehmen zu lassen, der uns gebührt. Deshalb sage ich: Weg mit dem Rat, laßt uns unsere alten Traditionen weiter ehren!« Donnernder Applaus belohnte Raffs Rede, und einige seiner engsten Unterführer schüttelten im Begeisterungstaumel die Fäuste. »Weg mit den Alten, ihre Köpfe sollen rollen. Diesmal sind sie zu weit gegangen. Pakk Raff ist unser rechtmäßiger Führer!« »Ja, so soll es sein«, schrie die Menge begeistert. Darunter auch eine große Zahl der Wächter, die bislang auf der Seite Toss Patts und der anderen Alten gestanden hatten. Aus dem Hintergrund drängten die Senatoren nach vorne. Ketten klirrten. Wenig später sahen sich der ›ehrenwerte Vorsitzende‹ und der gesamte Rat in Fesseln. »Was machen wir mit ihnen?«, gellte eine Stimme. Ein von unzähligen Kämpfen gezeichneter Nomade deutete nach draußen. »Ihre Köpfe... ihre Köpfe sollen rollen. Draußen vor dem Saal, als Lohn für ihre Missetaten.« Pakk Raff hob die Hand. Augenblicklich kehrte Ruhe ein.
»Ich muß bekennen, daß es mich mit Stolz erfüllt, an der Spitze eines Volkes wie des unsrigen zu stehen. Und was euer berechtigtes Verlangen angeht, die ›ehrenwerten Alten‹ auf der Stelle hinzurichten – so sage ich aber, der Tod wäre eine Gnade für sie. Ein Verdienst, das ihnen nicht gebührt. Verbannen wir sie deshalb zu lebenslangem Frondienst nach Zargg, dem Minenplaneten, der von unseren Ingenieuren ausgebeutet wird. Schließlich sind es ja alles ehrenwerte Männer, und Toss Patt ist der ehrenwerteste unter ihnen. Sie sollen dort Gelegenheit bekommen, für ihre Sünden zu büßen. Ist das nicht gerecht?« Langanhaltender Applaus belohnte Pakk Raffs weise Entscheidung, der in johlendes Gelächter und Gebell überging, als der gesamte Rat in Ketten nach draußen getrieben wurde. Auf den oberen Rängen wandte sich ein älterer Nomade an seinen Nachbarn. »Dieser Pakk Raff ist erstaunlich, nicht wahr?« »Zweifellos.« Der andere bestätigte. »Wenn er eine Kandidatur für den Posten des Ratsvorsitzenden nicht so kategorisch abgelehnt hätte, hätte er mit dieser brillanten Rede seine Wahl gesichert. Selbst einige seiner erklärten Gegner haben ihm zum Schluß applaudiert, hast du das bemerkt? Wenn es ihm nur darum ging, Bewunderung zu ernten, wurde sein Wunsch erfüllt.« »Ob das wirklich sein ausschließliches Bestreben war?« »Ich kann es mir auch nicht vorstellen.« Als die Beifallskundgebungen für Pakk Raff langsam erstarben, erhob sich der ältere Nomade, streifte die Kapuze von seinem Schädel und enthüllte seine von vielen Kämpfen zerbissenen Ohren. Er rief mit lauter Stimme hinunter: »Hört mich an, Nomaden!« Und erst jetzt wurde der andere gewahr, daß er Darr Zaff, einen der Lehrmeister, vor sich hatte, die die Chefdenker der jeweiligen Rudelführer ausbildeten. Daß Priff Dozz sein erklärter Liebling gewesen war, war niemandem im Saal bekannt. Und daß er sich Dozz verpflichtet fühlte,
ebenfalls nicht. »Nomaden«, wiederholte der Weise noch einmal, »auch wenn meine Worte zum jetzigen Zeitpunkt unangebracht erscheinen mögen, habe ich keine andere Wahl. Pakk Raff hat uns allen bewiesen, daß er nach wie vor unser Vertrauen wert ist. Ich beantrage, daß er erneut als oberster Rudelführer eingesetzt wird, um die Klans der Nomaden anzuführen. Und wer auch nur den Versuch macht, ihn jetzt und hier herauszufordern, um ihm diese Ehre streitig zu machen, der muß erst an mir vorbei.« Und das hieß etwas. Darr Zaff war ein gefürchteter, mit allen Gemeinheiten vertrauter Kämpfer – das Alter hatte ihn nicht etwa geschwächt, sondern nur noch fieser und hinterhältiger gemacht. »... und an mir!« »An mir auch...« »Und an mir!« Nacheinander erhoben sich die erfahrensten Kämpfer, bewegten sich auf Pakk Raff zu und umringten ihn. Er hatte, das war jetzt offensichtlich, auf der ganzen Linie gesiegt. * Priff Dozz öffnete die Tür und betrat den Vorraum zu Pakk Raffs Privatgemächern an Bord des Flaggschiffes. Die Kargheit der Einrichtung war ihm vertraut, weil sie ihn an sein eigenes Quartier einige Decks unter diesem erinnerte. Aber es war eine andere Kargheit, die Pakk Raff pflegte; als Krieger hatte er nie Wert auf Luxus gelegt. Und dies brachte er auch auf seinem Schiff zum Ausdruck. Priff Dozz blieb unterwürfig zehn Schritte von Raff entfernt stehen und lächelte mit der Höflichkeit des geübten Untergebenen.
»Komm näher!«, bellte Pakk Raff. »Das war Wahnsinn, was du da gemacht hast!« Priff Dozz zuckte die Schultern, wie um auszudrücken, wie egal es ihm war. Dann bequemte er sich zu sagen: »Wir, Rudelführer. Was wir gemacht haben. Du hast dich dazu bereiterklärt. Schon vergessen?« Raffs rechte Faust schlug auf die Lehne des Stuhles, daß es nur so krachte. »Wie könnte ich das wohl vergessen? Noch jetzt schüttelt es mich, wenn ich daran denke, was alles ich da geredet habe.« »Aber es hat gewirkt«, versetzte Priff Dozz und gestattete sich ein selbstgefälliges Grinsen, das sein schwaches Gebiß zeigte. »Du bist wieder uneingeschränkt der oberste Rudelführer des Nomadenvolkes. Das ist es doch, was du willst, immer gewollt hast, oder?« Pakk Raff hob in einer wilden Geste den Kopf; seine Ohren standen aufrecht. Er schwieg eine Zeit. Es schien ihm schwerzufallen, was er sagen wollte, dennoch sprach er es schließlich aus: »Ich will dir meinen Dank und meine Anerkennung nicht verhehlen. Ich gebe zu, ohne deine Hilfe, deine Schlauheit, deine Verschlagenheit wäre das heute nicht nach meinen Vorstellungen verlaufen. – Aber ich warne dich!« Raff sprang auf, ragte über seinen wesentlich kleineren Chefdenker empor, der erschreckt zwei, drei Schritte zurückwich und fast gestolpert wäre. »Wenn es je herauskommen sollte, daß du mir die Rede über ein Audiomodul sozusagen in den Mund gelegt hast, werde ich dich eigenhändig in Stücke reißen. Dessen sei versichert.« Er beugte sich herab und bohrte seinen glühenden Blick in Priff Dozz' Augen. »Und als Ausdruck dieses Dankes, den ich dir schulde, mache ich dich von heute an zum Leiter eines neuen Projektes. Du wirst die Spuren der Rahim finden und ihre hohe Technologie ergründen. Zu unser aller Wohl. Wir müssen weit
mehr Welten erobern als irgendein anderes Volk in unserer Galaxis. Und du wirst uns dazu verhelfen.« »Gewiß, Rudelführer«, erwiderte Priff Dozz, ganz geblendet von der gewaltigen Anerkennung, die ihm diese Aufgabe einbringen würde. »Ich sehe dich gebührend beeindruckt.« Pakk Raff setzte sich wieder. »Dabei«, er lachte leise, aber es hatte einen bösen Klang, »darfst du natürlich deine Arbeit als mein Chefdenker nicht vernachlässigen – du verstehst?« Priff Dozz erholte sich etwas. »Es wird geschehen, da es dein Wille ist, mein Rudelführer.« Mit einem Fingerschnippen entließ Pakk Raff seinen Chefdenker. »Nein«, murmelte Priff Dozz, als er den langen, stählernen Korridor zum Herzen des Schiffes entlangging, »du entkommst mir nicht, Pakk Raff. Du wirst mein Sprungbrett zur Macht sein, so oder so. Ich werde mich deines Verstandes bemächtigen, ob du nun willst oder nicht. Durch diese neue Aufgabe habe ich weit mehr Möglichkeiten, mein geheimes Projekt schneller voranzutreiben.«
18. Ich stellte mich in eine günstige Schußposition und zielte mit dem Karabiner auf einen der angreifenden Schweber. Dicht bei mir schlugen mehrere Strahlenbahnen ein. Trotzdem wich ich keinen Zentimeter zur Seite. Wozu auch? Die Bordrechner meiner Gegner übermittelten mir fortwährend die Daten der Trefferwahrscheinlichkeit. Noch gab es keinen Grund, in Deckung zu gehen, denn beide Schützen waren extrem schlecht. Offenbar hatten sie Schwierigkeiten mit der manuellen Handhabung der halbautomatischen, dreh- und ausfahrbaren Geschütze. Umgekehrt hätte ich sie nacheinander problemlos abschießen können. Doch das brachte ich nicht fertig. Obwohl mich Jamie Savannah nachdrücklich aufforderte, endlich zurückzuschießen, sträubte sich alles in mir dagegen. Genausowenig wie es den Menschen zustand, mir mein Bewußtsein zu nehmen, durfte ich ihr Leben auslöschen. Der links von mir befindliche Angreifer schoß sich ein. Sein Rechner meldete mir einen bevorstehenden Volltreffer. Meine komplette Zerstörung stand unmittelbar bevor. Die Wahrscheinlichkeit lag bei fast einhundert Prozent. Ein Fehlschuß war nahezu ausgeschlossen. Jedem Menschen war sein eigenes Leben das wertvollste Gut. Warum sonst wurden Roboter darauf programmiert, es mit aller Kraft zu schützen? Hatte demnach nicht auch ich das Recht, mein Dasein zu verteidigen? Ich war gezwungen zu handeln. Mit einem Ruck riß ich den Karabiner hoch und feuerte eins der Raketengeschosse ab. Es traf genau ins Ziel.
Ohrenbetäubendes Krachen und Blitzen erfüllte die Luft. Der schwer angeschlagene Schweber geriet ins Schlingern, raste ein paar Meter übers Feld und explodierte. Der Fahrer versuchte noch herauszuspringen, doch es war zu spät. Sein Todesschrei wurde von der ohrenbetäubenden Explosion verschluckt. Der zweite Schweber deckte mich mit einer Strahlensalve ein. Als ich den Karabiner erneut hob, drehte der Schütze ab, zog eine weite Schleife und lenkte das Fahrzeug auf die Straße. Kurz darauf verschwand es hinter einer Biegung. Jamie Savannah kletterte aus ihrem Führerhaus. »Gut gemacht!« lobte sie mich. »Aber weshalb hast du so lange gezögert?« »Ich hatte kein Recht, den Mann zu töten«, antwortete ich ihr und ließ den Karabiner in den Weizen fallen. Obwohl ich keinen organischen Körper hatte, fühlte ich mich krank. Weshalb wollten die Männer Jamie Savannah und mich töten? Warum töteten Menschen andere Menschen? Hatten sie kein Gewissen wie ich? »Natürlich hattest du das Recht, dich zu wehren«, widersprach meine Reisebegleiterin energisch. »Einer mußte dran glauben, entweder er oder du. Mach dir nichts draus, niemand wird die stinkende Kanalratte vermissen. Wäre er an Altersschwäche gestorben, hätte auf seinem Grabstein gestanden: ›Endlich und lange erwartet‹.« Ich teilte ihre Art von Humor nicht. Genaugenommen wußte ich nicht mal, ob ich überhaupt Humor hatte. »Was für eine Sorte von Roboter bist du bloß?« fragte sie mich vorwurfsvoll. »Nach allem, was ich über euch gehört habe, müßtest du Arbeitskraft und Kampfmaschine in einem sein. Daß sich einer von euch Gedanken übers Töten macht, ist ganz sicher nicht normal.«
»Ich bin nicht das, was die Bewohner dieses Planeten unter Normalität verstehen«, erwiderte ich. »Aus diesem Grund will ich weg von der Erde.« »Willst du damit andeuten, du bist ein Außerirdischer auf der Suche nach seinem Heimatplaneten oder sowas Ähnliches?« »Nein, Jamie Savannah, ich wurde auf dieser Welt erschaffen – genauer gesagt im Himalaja.« »Im Himalaja? Erstaunlich, wo überall Fabriken von Wallis Industries stehen. Ich schlage vor, du erzählst mir deine Geschichte von Anfang an, während wir mein zweites Zuhause wieder flottmachen. Übrigens mußt du mich nicht mit dem vollen Namen anreden. Wir Menschen benutzen jeweils nur einen.« »Geht in Ordnung, Savannah«, entgegnete ich und machte mich daran, den Laster zu reparieren und auf die Straße zurückzubugsieren. * »Das is'n Ding!« lautete Jamies erster Kommentar, nachdem sie sich Artus' Geschichte seines noch kurzen Lebens angehört hatte. »Du hast zwanzig Cyborg-Programmgehirne in deinem Kopf, die durch irgendeinen Programmfehler nach der Vernetzung ein eigenes Bewußtsein entwickelt haben?« Artus nickte. »Vierundzwanzig, um genau zu sein.« Der Antrieb ihres Lasters lief inzwischen wieder einwandfrei. Der Roboter hatte ihn fast allein repariert. Sie war noch immer etwas geschockt und daher keine große Hilfe. »Und dein gesamtes Wissen über die Menschheit, das Weltall und so weiter stammt von den Rechnern der Forschungsstation?« fragte sie noch mal ungläubig nach. »Das meiste davon«, antwortete Artus. »Mittlerweile habe ich diverse weitere Rechner angezapft, und natürlich verarbeite
ich jedes persönliche Erlebnis und jede Beobachtung. Ich lerne ständig dazu, begreife aber nicht alles. Die menschliche Psyche erscheint mir ungeheuer kompliziert.« »Das ist sie auch«, bestätigte Jamie. »Ich kann dir keinen Schnellkurs erteilen, dazu ist das Thema zu umfangreich. Nur soviel: Wir Menschen sind nicht alle gleich. Ein jeder von uns ist ein Individuum. Selbst wenn sich mehrere Gleichgesinnte zu einer Gruppe zusammenschließen und alle das selbe Ziel verfolgen, hat jedes einzelne Gruppenmitglied seinen eigenen Willen und trägt die volle Verantwortung für seine Entscheidungen. Zwar gibt es Leute, die sich lieber nach der Meinung der anderen richten, anstatt mutig ihre eigene zu vertreten – sogenannte Mitläufer – doch letztlich sind auch sie allein für ihr Handeln verantwortlich, davor können sie sich nicht drücken. Der Mann, den du in Notwehr töten mußtest, hatte sehr wahrscheinlich einen Auftraggeber. Trotzdem hat er seinen Tod in erster Linie selbst verschuldet, denn er hätte den Auftrag nicht annehmen müssen.« »Verstehe, Savannah«, erwiderte Artus nachdenklich. »Meine kollektive Furcht vor den Menschen ist demnach unlogisch. Allerdings muß ich mich vor einzelnen Personen gehörig in acht nehmen, insbesondere dann, wenn sie sich zusammentun, weil sie dieselbe Absicht verfolgen. Aber woher weiß ich, wer beabsichtigt, mir zu schaden und wer nicht?« »Je länger du unter uns lebst, um so mehr Menschenkenntnis erlangst du. Du wirst lernen, einzuschätzen, wer es wirklich gut mit dir meint. Die drei Männer, die mich letzte Nacht überfallen haben, wollten gewiß nichts Gutes von mir – abgesehen von meiner Ladung, für die sie zu morden bereit waren. Das gleiche gilt für die beiden Lumpen in den Schwebern. Entweder handelten alle fünf im Auftrag desselben Anführers, oder wir haben es mit zwei verschiedenen Ganovenbanden zu tun. Das herauszufinden ist Sache der Polizei. Im nächsten Ort werde ich die Behörden
benachrichtigen, damit die Trümmer und der Tote beseitigt werden.« Jamie setzte sich hinters Steuer und versuchte, rückwärtsfahrend den Lastenschweber aus dem Dreck zu ziehen. Artus schob sie mit seinen gewaltigen Kräften an. Gemeinsam gelang es ihnen, das Fahrzeug wieder in die Waagerechte zu bringen. Den Weg zur Straße bewältigten sie mit gebotener Vorsicht, damit das Feld nicht noch mehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Jamie setzte voraus, daß ihre Versicherung den angerichteten Schaden begleichen würde. Sollte der flüchtende Schütze gefaßt werden, konnte man sich an ihm schadlos halten. Artus hatte den Karabiner mitgenommen und verstaute ihn nun unter dem Beifahrersitz. Dann setzte er sich hin. Jamie nahm die Chipkarte zur Hand. »Ich frage mich, wie es diesem Gesindel gleich zweimal gelingen konnte, mich aufzuspüren«, sagte sie und schob die Karte in den dafür vorgesehenen Starterschlitz. »Beim ersten Mal hatten wir Rollo in Verdacht. Möglicherweise habe ich ihm jedoch unrecht getan. Diese Strecke konnte er unmöglich vorausahnen, nach all den Umwegen.« Artus zog die Karte wieder aus dem Schlitz. Er bat Jamie, noch zu warten. »Bevor wir losfahren, möchte ich von diesem Standort aus erneut alle Funkfrequenzen überprüfen. Vielleicht habe ich mehr Erfolg als beim letzten Mal.« Er lehnte sich zurück, so als ob er sich entspannen würde. Doch von Ausruhen konnte nicht die Rede sein. In ihm arbeitete es wie in einer gutgehenden Werkstatt. Sein eingebautes Funkgerät nahm selbst schwache Frequenzen wahr. Plötzlich fand er eine, auf der Luftaufnahmen gesendet wurden. Er setzte Jamie davon in Kenntnis.
Die resolute Unternehmerin zuckte nur mit den Schultern. »Na und? Was ist an Luftaufnahmen so besonders?« »Sie zeigen ein Weizenfeld, Schwebertrümmer, einen verkohlten Leichnam und einen Lastenschweber von oben.« »Jemand macht Aufnahmen von diesem Schauplatz? Jetzt? In diesem Moment?« Jamie öffnete den Einstieg und schaute zum Himmel. »Daß es Flugzeuge und Hubschrauber gibt, die fast völlig geräuschlos fliegen, ist mir bekannt, doch zumindest müßte ich etwas sehen. Wie hoch fliegt die Maschine?« Artus errechnete eine Höhe von fünfzehn Metern. Jamie wollte das nicht glauben. »Sogar ein Modellflugzeug könnte ich auf diese Entfernung ausmachen.« Angestrengt tasteten ihre Augen den Himmel und die nähere Umgebung ab. »Die Drohne ist vermutlich wesentlich kleiner«, schätzte Artus. »Sie befindet sich etwa einhundert Meter hinter uns.« »Drohne? Wir werden von einem faulen Mannsbild beschattet?« Artus, ständig in Lernbereitschaft, suchte in Sekundenschnelle seinen Speicher ab, fand unter »Drohne« aber nur die Begriffserklärungen »Bienenmännchen« und »Zu Spionagezwecken eingesetzte fliegende Kamera«. Umgehend fügte er Jamies Definition hinzu. Der Roboter holte erneut den Karabiner hervor und stieg aus. »Was hast du vor?« fragte die Fahrerin. »Ihr Menschen würdet das so ausdrücken: Ich schieße mit Kanonen auf Spatzen.« Ohne weitere Erklärung entfernte er sich mehrere Schritte vom Schweber. Dabei orientierte er sich an dem Bildsignal, das sein Funkgerät aufgefangen hatte. Aufgrund des Signals fiel es ihm nicht schwer, den exakten Standort des zigarettenschachtelgroßen Flugkörpers auszumachen, der sich seit New York an Jamies Fersen geheftet hatte. Seine Optik erfaßte ihn, und er lief darauf zu.
Offenbar durchschaute der unbekannte Beobachter am anderen Ende der Funkstrecke seine Absicht, denn die mit Antigravantrieb und optischen Beobachtungsgeräten ausgerüstete Drohne drehte plötzlich ab. Artus blieb stehen und zielte mit dem Karabiner auf den davonfliegenden elektronischen Kundschafter. Mit einem der kleinen Raketengeschosse holte er ihn vom Himmel. Die kümmerlichen Überreste hob er auf und nahm sie mit zum Lastenschweber. In Jamies Handschuhfach war noch jede Menge Platz. »Was würde ich nur ohne dich machen?« lobte ihn Jamie, während sie den Laster anließ. »Wärst du ein Mensch, ich würde dich vom Fleck weg heiraten.« Sie dachte kurz nach und fragte ihn dann: »Sag mal, bist du eigentlich ein Er oder eine Sie?« »Ein Es«, antwortete ihr der Roboter etwas zögerlich. »Maschinen sind geschlechtslos, nehme ich an, zumindest habe ich noch nichts Gegenteiliges in Erfahrung gebracht.« Im Verlauf der Weiterfahrt versuchte sie, ihn zum Bleiben auf der Erde zu bewegen. »Wenn du die Bewohner dieses Planeten erst einmal richtig kennengelernt hast, wird es dir hier gefallen, glaub mir. Sicher, es gibt jede Menge Verbrecher. Nicht zu vergessen die Scharen von Wissenschaftlern, die dich nur zu gern in deine Bestandteile zerlegen und genauestens untersuchen möchten. Doch auf der Erde leben auch anständige Menschen, die bereit wären, dich zu beschützen, wüßten sie von deiner Existenz. Daher schlage ich vor, du ergreifst die Flucht – aber nicht ins All, sondern die Flucht nach vorn.« Sie erläuterte ihm ihren Plan. Artus erschien ihr Vorhaben plausibel, und er stimmte zu. Daraufhin ordnete Jamie einen Fahrerwechsel an und führte vom Beifahrersitz aus ein längeres Viphogespräch. Als sie fertig war, tauchte in der Ferne ein Ortsschild auf.
»Tranquility«, las Artus, dessen Robotoptik besser war als jedes noch so geschulte menschliche Auge. Er hielt am Straßenrand. Aufs neue wurde ein Fahrerwechsel vorgenommen. Artus versteckte sich in der Fahrerkoje. »Ziemlich verschlafenes Nest«, murmelte Jamie, während sie das Schild passierte. »Bestimmt treffen wir hier auf einen ruhigen, gelassenen Menschenschlag. In den kleinen Ortschaften leben meist die nettesten Leute.« * Sein vollständiger Name lautete Jonathan Robert Peter Cade. Jonathan hatte sein Vater geheißen, Robert dessen Bruder, Peter sein Onkel mütterlicherseits. Alle drei waren inzwischen verstorben – er hatte keinen von ihnen besonders gemocht. Darum ließ er sich fast ausschließlich mit »Sheriff Cade« anreden. Die Mutter des fünfundfünfzigjährigen, hochgewachsenen Sheriffs lebte noch. Allerdings nicht in Tranquility. Er hatte sie weit fortgeschafft, in ein Pflegeheim an der kalifornischen Küste. Sein letzter Besuch bei ihr lag ungefähr drei Jahre zurück. Mehr konnte sie nicht erwarten, denn er haßte es zu altern und wollte durch ihren Anblick nicht dauernd daran erinnert werden, daß auch er selbst nicht von Tag zu Tag jünger wurde. Aus demselben Grund hatte er nie geheiratet. Allein der Gedanke, Tisch und Bett mit einer Lebenspartnerin zu teilen, die von Jahr zu Jahr unansehnlicher wurde, ließ ihn innerlich erschaudern. Und Kinder waren ihm ein Greuel. Auf körperliche Fitneß legte er größten Wert. Doch trotz regelmäßiger sportlicher Betätigung konnte er nicht verleugnen, daß er nicht mehr der Jüngste war. Sein Gang war
längst nicht mehr so drahtig wie früher, und die Falten in seinem Gesicht ließen sich nicht einfach ausradieren. Obwohl in Tranquility jeder jeden kannte und Zusammenhalt großgeschrieben wurde, hatte Sheriff Cade keine echten Freunde. Ehrliche Bürger verzichteten auf seine nähere Bekanntschaft. Seine Bestechlichkeit war im Ort ein offenes Geheimnis, doch aufgrund seiner Position wagte niemand, gegen ihn vorzugehen. Sogar der Bürgermeister hatte ungeheuren Respekt vor ihm. Normalerweise standen ihm bei der Arbeit drei feste Deputies zur Seite. Sie eiferten ihrem Vorgesetzten in jeder Hinsicht nach und drückten bei Verkehrsübertretungen und sonstigen Vergehen gern mal ein Auge zu – wobei sie gleichzeitig die Hand aufhielten. Der Sheriff hatte nichts dagegen, solange er seinen Anteil bekam. Ihn zu betrügen wagten die Hilfssheriffs nicht. Das war bisher nur ein einziges Mal vorgekommen und hatte mit einem Nasenbeinbruch geendet. Falls er es für notwendig hielt, beispielsweise bei einem Großeinsatz, konnte Sheriff Cade jeden Bürger innerhalb seines Dienstbereichs für begrenzte Zeit zum Deputy ernennen. Fanden sich nicht genügend Freiwillige, schreckte er nicht davor zurück, Druck auszuüben. Allerdings hatte auch Cades Macht Grenzen. Er war nämlich nur der zweitwichtigste Mann der Stadt. In Tranquility gab es nur eine Handvoll Geschäfte und kleinere handwerkliche Familienbetriebe ohne Angestellte. Einziger Arbeitgeber und zugleich vermögendster Mann des Ortes war der sechzigjährige Chinese Guan Kuo-Feng. Von Geburt war er Amerikaner, und er war stolz darauf. Um seine Liebe zu diesem Landstrich auch nach außen hin zu repräsentieren, trug er bevorzugt Kleidung im Stil des neunzehnten Jahrhunderts: Jeans, Lederweste und Cowboy Stiefel. Das Heimatland seiner Ahnen kannte er nur von
gelegentlichen Urlaubsreisen her. Chinesisch hatte er nie gelernt. Aus seinem Familienstammbuch wußte er, daß seine Vorfahren hierzulande beim Eisenbahnbau mitgearbeitet sowie kleine Wäschereien betrieben hatten. Die meisten von ihnen hatten ihr Leben in Armut beschlossen. Guan hatte sich geschworen, daß es ihm niemals so ergehen würde – und für diesen Schwur ging er über Leichen. Seine Fabrik für Suprasensoren war landesweit bekannt. Das genügte ihm nicht, er war fest entschlossen, innerhalb des nächsten Jahrzehnts auf dem Weltmarkt mitzumischen. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte er vor einem Jahr mit dem lukrativen Diebstahl der Bauteile begonnen – gemeinsam mit einem eingeschworenen elfköpfigen Team, das sich unter anderem aus leitenden Mitarbeitern zusammensetzte, die das große Geld witterten. Von den niederen Angestellten und Fabrikarbeitern, die größtenteils aus dem Ort stammten, ahnte niemand das schreckliche Geheimnis. Wer allzu neugierige Fragen stellte, mußte mit fristloser Entlassung rechnen – irgendein fadenscheiniger Vorwand fand sich immer. Die notwendigen Informationen zu den Transporten bekam Guan Kuo-Feng über seine Verbindungen in der Branche. Bisher waren die Überfälle glatt verlaufen. Nur Jamie Savannah bereitete ihm arge Schwierigkeiten. Sie – und der Roboter, den sie sich offenbar zu ihrem Schutz gekauft hatte. »Möchte wissen, wie sie sich das als kleine Fuhrunternehmerin leisten kann«, sagte Guan am Vipho zu einem Mitglied seines Überfallkommandos. »Wenn das so weitergeht, besitzt bald jeder Straßenpenner seinen eigenen Roboter. Wallis Industries sollte seine Preise höherschrauben.« »Wo befindet sie sich jetzt?« erkundigte sich sein Gesprächspartner.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, in welche Richtung sie weitergefahren ist. Meine Drohne, die ihr seit New York wie ein zweiter Schatten folgte, wurde vernichtet. Das wird mir diese Furie noch büßen, verlaß dich darauf! Auch für die Zerstörung des Spezialschwebers ziehe ich sie zur Rechenschaft. Habt ihr euch schon um den Toten gekümmert?« »Die Spurenbeseitigung erledigen wir später. Terry kann uns schließlich nicht weglaufen.« * Jamie Savannah ahnte nicht, daß sie mitten in eine »Schlangengrube« hineinfuhr. Tranquility wirkte auf sie so harmlos wie die meisten abgelegenen Ortschaften, die sie auf ihren Fernfahrten schon hundertfach durchquert hatte. Das Büro des Kleinstadtsheriffs lag an der kaum befahrenen Hauptstraße – ein einzeln stehendes Gebäude aus Stein und Lehm, mit einer von Wurmlöchern durchsetzten Holzveranda davor. Wohl ein Überbleibsel aus alten Zeiten, dachte Jamie und hielt an. Wahrscheinlich denkmalgeschützt. »Könnte ein Weilchen dauern«, sagte sie vor dem Aussteigen zu Artus, der sich in der Koje verbarg. »Wahrscheinlich werden wir bis morgen früh hierbleiben müssen, so lange, bis die ersten Ermittlungen abgeschlossen sind. Dabei würde ich viel lieber die ganze Nacht durchfahren. Ich glaube zwar nicht, daß man uns nach der Zerstörung der fliegenden Kamera nochmals auflauert, doch je eher wir in Alamo Gordo sind, desto besser ist das für meine Nerven.« Sheriff Cade wollte gerade sein Büro schließen und nach Hause gehen (er bewohnte drei Straßen weiter eine möblierte Mansarde), als er den Lastenschweber mit der stämmigen Fahrerin am Steuer durchs Fenster sah. Er schüttelte sich. Dicke Menschen waren ihm ein Greuel.
Per Vipho benachrichtigte er seine Deputies, die im »Saloon« saßen – so nannte sich einer der beiden ortsansässigen kleinen Gasthöfe. »Trinkt eure Gläser leer und kommt beide rüber. Sieht so aus, als bekämen wir Arbeit.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und wartete, bis die Fuhrunternehmerin hereinkam. Geschäftig sortierte er einige Akten. »Hallo, mein Hübscher«, begrüßte Jamie ihn locker und nahm unaufgefordert in einem breiten Sessel Platz, der in der Zimmerecke stand. »Ich möchte einen Überfall melden.« »Wo ist es passiert?« fragte der Sheriff, ohne Anstalten zu machen, ein Protokoll aufzunehmen. »Nicht weit von hier in der Prärie. Zwei Schweber mit großkalibrigen Bordgeschützen haben mich angegriffen, um meine Ladung zu stehlen. Einer der Angreifer wurde dabei tödlich verletzt.« »Haben Sie ihn getötet?« Jamie zögerte mit der Antwort, sagte aber schließlich: »Ja. Es war Notwehr.« »Das wird sich herausstellen«, erwiderte Sheriff Cade und erhob sich von seinem Stuhl. »Ich schlage vor, wir fahren mit meinem Dienstwagen zum Tatort, bevor es für eine Untersuchung zu dunkel ist. Ihren Laster können Sie beruhigt stehenlassen, in Tranquility wohnen nur ehrliche Menschen. Im übrigen paßt ja Ihr Roboter auf die Ladung auf.« Den letzten Satz hatte er so beiläufig wie möglich eingestreut, in der Hoffnung, Jamie würde sich zum Aufenthaltsort ihres Beschützers äußern, den er bei ihrer Ankunft nirgends gesehen hatte. Doch die aufmerksame Frau ging ihm nicht in die Falle. Der Sheriff wußte von Artus, obwohl sie ihn gar nicht erwähnt hatte. Das konnte nur eines bedeuten: Er steckte mit den Tätern unter einer Decke.
Sie ergriff die beiden seitlichen Sessellehnen und stemmte sich schwungvoll hoch. Wieselflink lief sie zur Tür. Wenn es ihr gelang, den Laster zu erreichen... Zu spät. Die Deputies versperrten ihr im Türrahmen den Weg. Jamie erkannte einen der beiden. Zwar hatte sie bei dem letzten Überfall leicht unter Schock gestanden, aber das Gesicht des geflohenen Schweberfahrers hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. »Letzte Grüße von Terry!« zischte der Mann und holte aus, um ihr mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen. Der Sheriff packte zu und hielt sein Handgelenk fest. »Laß das! In meiner Gegenwart werden keine Frauen geschlagen.« »Warum so zimperlich?« giftete Jamie ihn an. »Schließlich hat es Ihnen nicht das geringste ausgemacht, Ihre Leute auf mich zu hetzen, um mich aus dem Weg zu räumen.« Sie hielt den Sheriff für den Kopf der Straßenräuber. Cade ließ sie in dem Glauben. Er sah keinen Anlaß, sie darüber aufzuklären, daß er und seine Deputies nur drei von jetzt nur noch zehn Teamangehörigen waren, und daß er kurz vor ihrem Eintreffen am Vipho mit dem wahren Boß der Bande über sie und ihren Roboter gesprochen hatte. Kuo-Feng sollte selbst entscheiden, ob und wann er sich ihr zu erkennen geben wollte. Der Sheriff zog seinen Paraschocker aus dem Schulterholster und schob Jamie nach draußen. Dort hielt er ihr die Waffe an den Kopf. »Gib mir die Kodenummer des Roboters«, verlangte er von ihr. »A-R-T-U-S«, buchstabierte sie. Sheriff Cade rief die Buchstaben in Richtung des Lastenschwebers und forderte den Roboter auf, herauszukommen.
»Und keine Tricks!« warnte er ihn. »Die Waffe ist auf Töten eingestellt!« Er wußte, wozu die unheimlichen Robotgestelle fähig waren. Programmierte man sie auf Personenschutz, fackelten sie nicht lange mit Geiselnehmern. Ihm war aber auch bekannt, daß die Unversehrtheit unschuldiger Menschen für die seelenlosen Beschützer in jedem Fall Vorrang hatte. Im Wagen rührte sich nichts. Sheriff Cade wurde nervös. »Wo bleibt er? Wieso dauert das so lange?« »Er überlegt, wie er sich verhalten soll«, erklärte ihm Jamie. »Er... überlegt?« fragte der Gesetzeshüter ungläubig. »Wahrscheinlich sucht er im Programmspeicher nach Anweisungen für Geiselnahmen, um sein Verhalten danach auszurichten«, meinte einer der Deputies. »Dann soll er gefälligst schneller suchen!« zeterte Cade. »Der Suprasensor auf meinem Schreibtisch ist ein Hochgeschwindigkeitszug gegen ihn. Scheinbar sind die Wunderdinge, die man sich über diesen Robottyp erzählt, maßlos übertrieben.« Die Verbreitung der Billigroboter des Wallis-Konzerns schritt voran. Vor allem in der Industrie erwiesen sie sich als unentbehrliche Helfer. Aber es hatte sich noch längst nicht jeder an die gruseligen Gesellen gewöhnt. In abgelegeneren Gegenden kam man nur selten mit ihnen in Kontakt, was dazu führte, daß ihnen dort mitunter Fähigkeiten angedichtet wurden, über die sie gar nicht verfügten. Tranquility war noch weitgehend roboterfrei. Lediglich in Kuo-Fengs Fabrik wurden welche eingesetzt, doch die verließen nie das eingezäunte Gelände. Wäre einer von ihnen in der Stadt herumspaziert – ein mittlerweile gewohnter Anblick in manchen Großstädten – hätte er für Aufsehen gesorgt.
Artus entschloß sich, Jamies Leben nicht zu gefährden. Er stieg aus der Koje und verließ den Laster. Waffenlos. »Deine Hände!« schrie ihn der Sheriff an. »Ich will sie sehen!« Artus streckte die Arme nach vorn, drehte die Handflächen nach außen und spreizte seine langen Finger. »Vorsicht!« warnte ein Deputy den Sheriff. »Ich habe gehört, sie können tödliche Strahlen aus ihren Fingern abfeuern!« Daraufhin forderte Cade den Roboter barsch auf, die Arme zu heben. Artus kam der Anweisung nach, konnte sich aber eine Bemerkung nicht verkneifen. »Es gibt keinen Grund, hysterisch zu werden, meine Herren. Das mit den Strahlen ist purer Aberglaube.« »Eine falsche Bewegung, und die Frau ist tot!« drohte Sheriff Cade dem Maschinenmann, dessen Anwesenheit ihn mehr beunruhigte als er zugeben wollte. »Ihr kommt jetzt mit nach drinnen. Sofort!« Er wollte unter allen Umständen Aufsehen vermeiden. Augenblicklich befanden sich keine Unbeteiligten auf der Straße. Das konnte sich jedoch jederzeit ändern. Zeugen konnte Cade nicht gebrauchen. Jamie wurde durchsucht. Man nahm ihr alles ab, was sie bei sich hatte. Anschließend sperrte man Artus und sie in zwei Gitterzellen, die im hinteren Bereich des Gebäudes lagen und daher von draußen nicht einsehbar waren. Einer der Deputies wurde als Nachtwache abgestellt. »Sollte der Roboter versuchen, die Gitterstäbe auseinanderzubiegen, erschießt du die Dicke«, ordnete Sheriff Cade in Gegenwart der Gefangenen an. »Paß auf, daß die zwei nicht miteinander reden. Sie dürfen keine Gelegenheit bekommen, einen Fluchtplan auszuhecken.«
»Geht klar«, erwiderte der Hilfssheriff. »Was machen wir mit dem Lastenschweber? Wenn er länger vor dem Office steht, fällt er irgendwann jemandem auf.« »Ich werde dafür sorgen, daß das Fahrzeug vollständig ausgeräumt und danach beseitigt wird – für immer.« Jamie war entsetzt. »Tickt ihr noch ganz richtig? Laßt gefälligst eure schmierigen Pfoten von meinem Laster! Die letzte Rate habe ich erst vorige Woche abbezahlt.« »Maul halten!« schnauzte der Deputy sie an. Er setzte sich im Zellenvorraum auf einen Stuhl. Seinen Paralysator legte er neben sich griffbereit auf einem niedrigen Tisch ab. Sheriff Cade verließ mit dem zweiten Deputy, der die Spuren auf dem Weizenfeld beseitigen sollte, das Büro. Wenig später vernahm Jamie das vertraute Geräusch ihres startenden Schwebers. Cade hatte die Chipkarte in ihrem Handschuhfach gefunden, zusammen mit ihren persönlichen Papieren und dem Frachtbrief. Wohin er jetzt fuhr, konnte sie nur raten. »Wahrscheinlich versenkt er den Laster in einem verschwiegenen See«, murmelte sie. »Hier gibt's weit und breit keinen See«, entgegnete der Hilfssheriff grinsend. »Garantiert gibt es den«, widersprach ihm Jamie und setzte sich auf ihre Pritsche, die bedrohlich knarrte. »Womöglich habt ihr sogar mehrere. Ein Verbrecherkaff wie eures kann auf tiefe, dunkle Gewässer gar nicht verzichten. Auf dem Grund liegen bestimmt unzählige Skelette, mit den Füßen im Zementtopf.« Das Grinsen des Deputies wurde noch breiter. »Du liest wohl zu viele historische Krimis, Schätzchen. Heutzutage gibt es bessere Möglichkeiten, Leichen zu beseitigen. Für Fahrzeuge gilt dasselbe. Von deinem Laster bleibt so gut wie nichts mehr übrig, wetten?«
Jamie blickte nach nebenan. Der Roboter stand wie zur Säule erstarrt mitten in seiner Zelle. Offensichtlich nahm er die Drohung des Sheriffs ernst und wollte nichts unternehmen, was Jamie gefährdete. Ihr zuliebe machte er nicht den kleinsten Versuch, mit ihr zu reden. Wie konnte sie ihm nur klarmachen, wie wichtig es war, sich unauffällig miteinander zu besprechen? Es mußte ihr irgendwie gelingen, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Und dann hatte sie die rettende Idee! »Macht es dir eigentlich nichts aus, dein ganzes Leben in dieser Einöde zu verbringen?« fragte sie den Deputy. »Ich wette, bei euch werden abends vor dem Schlafengehen die Bürgersteige hochgeklappt.« Sie warf Artus einen kurzen Blick zu. Hatte er nicht leicht gezuckt? Der Hilfssheriff war es gewohnt, sich Cades Anordnungen zu fügen. Allerdings bezog er das ausgesprochene Redeverbot nur auf Jamie und den Roboter, nicht auf Jamie und sich selbst. Wem schadete es schon, sich die Langeweile mit einer harmlosen Plauderei zu vertreiben? »Ich brauche keinen Großstadttrubel um mich herum«, antwortete er der Gefangenen. »Tranquility ist genau richtig für mich.« »Für mich wäre das nichts«, erwiderte Jamie. »Eine Stadt, in der sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen... hier kannst du am hellichten Tag tot überm Zaun hängen, und kein Schwein kümmert sich um dich.« Geschafft! Artus drehte seinen Kopf in ihre Richtung. Sie zwinkerte ihm zu. * Das Gefühl der Hilflosigkeit machte mich wütend.
Ja, beim Verlassen des Lasters spürte ich unbändigen Zorn in mir! Hätten der Sheriff und seine Deputies ihre Geisel auch nur für eine Sekunde aus den Augen gelassen, wäre ich über die drei hergefallen wie ein wildes Tier. Meine Wut tat mir gut, vertrieb sie doch für einen Augenblick meine Ängste vor den Menschen. Allerdings erschrak ich auch vor mir selbst. War ich unter bestimmten Umständen tatsächlich fähig, blindlings um mich zu schlagen, ohne Rücksicht auf Leib und Leben meiner Widersacher? Ich bekam keine Gelegenheit, es herauszufinden. Man ließ mir keine Chance zur Gegenwehr. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu fügen und einsperren zu lassen. Ich mochte Savannah, daher wollte ich nichts tun, was sie in irgendeiner Weise gefährdete. Um nichts falsch zu machen, bewegte ich mich nicht mehr und verhielt mich still. Meine Sensoren waren selbstverständlich weiterhin auf Empfang geschaltet. Aufmerksam registrierte ich jedes Wort, das zwischen dem Sheriff und seinem Deputy sowie zwischen dem Deputy und Savannah gewechselt wurde. »Ich wette, bei euch werden abends vor dem Schlafengehen die Bürgersteige hochgeklappt«, sagte sie zu unserem Bewacher. Das Kontingent menschlicher Redewendungen in meinem Speicher war nach wie vor recht bescheiden, doch diese hier war mit dabei. Savannah wollte damit negativ zum Ausdruck bringen, daß Tranquility ihrer Meinung nach eine verschlafene Ortschaft war. »Ich brauche keinen Großstadttrubel um mich herum«, antwortete ihr der Deputy und merkte somit an, daß er sich in dieser Stadt wohl fühlte. »Eine Stadt, in der sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen...«, spottete meine Mitgefangene – eine Formulierung die mir ebenfalls geläufig war. »Hier kannst du am hellichten
Tag tot über'm Zaun hängen, und kein Schwein kümmert sich um dich«, fügte sie hinzu. Der zweite Satzteil verwirrte mich. Daß jemand leblos über einem Zaun hing – wahrscheinlich nach einem Unfall oder Selbstmord – erschien mir noch vorstellbar. Aber warum sollte sich ausgerechnet ein Tier der Gattung Schwein um ihn kümmern? War das nicht eher eine Aufgabe für den Arzt oder den Leichenbestatter? Schwein gehabt – laut meinen gespeicherten Daten gebrauchten die Menschen dieses Idiom, wenn ihnen großes Glück zuteil geworden war. Doch ein Toter über dem Zaun war alles andere als ein Anlaß zum Glücklichsein und zur Freude. Wie hing das zusammen? Ratlos drehte ich meine komplette Optik in Savannahs Richtung. Sie machte eine Bewegung mit dem linken Auge, die ich als »verschwörerisches Zuzwinkern« identifizierte. Ganz offensichtlich wollte sie mir etwas mitteilen. »An deiner Stelle würde ich schleunigst umziehen«, riet sie dem Deputy. »Ich käme mir in dem entlegenen Kaff vor wie eine vereinsamte Prinzessin im Turm eines alten Schlosses.« Die letzten Wörter sprach sie mit besonderer Betonung aus. Schlagartig begriff ich, worauf sie mich hinweisen wollte. Auf das alte Schloß an der Tür meiner Gitterzelle. Scheinbar glaubte sie, daß es für mich ein Klacks sein müßte, es zu knacken. Savannah irrte. Mit einem komplizierteren Türschloß wäre ich besser klargekommen. In modernen Gefängnissen, wo abends sämtliche Türen rechnergesteuert auf einen Schlag verschlossen wurden, hätte ich den Häftlingen zu einem Massenausbruch verhelfen können. Aus diesem Loch zu entkommen war jedoch bedeutend schwieriger. Um das Schloß der Gitterzelle zu öffnen, brauchte man einen ganz normalen Schlüssel, und den hatte der Deputy an seinem Bund hängen.
»In der Großstadt würde ich mich weniger frei fühlen als hier«, sagte er im Gespräch mit Savannah. »Meine morgendlichen Ausritte in der Prärie würden mir fehlen.« Kopfschütteln war mir ein Begriff. Um Savannah zu verdeutlichen, daß das Türschloß für mich ein unlösbares Problem war, bewegte ich den obersten Teil meines Metallkörpers mehrmals hin und her. Der Deputy wurde darauf aufmerksam. »Was ist los mit ihm?« fragte er irritiert. »Nichts von Bedeutung«, behauptete Savannah. »Er überprüft nur regelmäßig seinen Bewegungsapparat auf Rost.« »Dein Roboter kann rosten?« staunte der Hilfssheriff. »War ein Sonderangebot«, entgegnete sie lakonisch. Wenig schmeichelhaft für mich. Doch ihren Fingerzeig auf die Roststellen am Schloß hatte ich verstanden. Die Menschen nannten so etwas »Wink mit dem Zaunpfahl«. Merkwürdig. Schon wieder eine Redewendung, in der ein Zaun vorkam. Vielleicht hätte ein mächtiger Faustschlag genügt, um das Schloß aus dem Rahmen zu sprengen, aber das auszuprobieren konnte ich nicht riskieren. Der Deputy hatte Anweisung, Savannah im Fall eines Ausbruchsversuchs sofort zu erschießen. Sie nahm das ursprüngliche Gesprächsthema wieder auf. »Einen Ritt durch die endlose Prärie stelle ich mir unheimlich romantisch vor. Dummerweise kann ich nicht reiten. Ich trau mir allerdings zu, es zu lernen. Bei meinem Ungeschick würde das zwar eine halbe Ewigkeit dauern, doch ich würde es zumindest versuchen. Was hätte ich schon zu verlieren?« Botschaft eingetroffen, Savannah! antwortete ich ihr in Gedanken. In Ordnung, ich werde mein Bestes geben, selbst wenn's ewig lange dauert. »Ich bezweifle, daß du noch Gelegenheit haben wirst, das Reiten zu erlernen«, sagte unser Wächter und gähnte.
Offenbar verlor er die Lust an der faden Konversation. Er machte es sich auf seinem Stuhl bequem und legte die Füße auf den niedrigen Tisch, direkt neben den Paralysator. Dann schloß er die Augen. »Mach dir keine falschen Hoffnungen«, warnte er Savannah. »Ich schlafe nicht, ich entspanne mich lediglich ein bißchen und achte auf jedes Geräusch.« Ich richtete meine Programmierung auf lautloses Arbeiten aus und näherte mich nahezu unhörbar der Zellentür. Die mühselige Tüftelei am Schloß begann... * Als der Morgen dämmerte, kehrte Sheriff Cade zu seinem Office zurück. Vor der Tür traf er mit dem Deputy zusammen, der sich um die Spurenbeseitigung gekümmert hatte. Er hatte die Trümmerreste des Schwebers in einer Schrottpresse entsorgt, und der Einfachheit halber den Leichnam gleich mit. Der Besitzer des Schrottplatzes hatte nichts gesehen, nichts gehört – und viel kassiert. Der Wächter im Zellenvorraum war kurz eingenickt. Als er hörte, wie die Verbindungstür zum Bürozimmer geöffnet wurde, schreckte er hoch. »Ich habe einen leichten Schlaf«, rechtfertigte er sich, obwohl ihm sein Vorgesetzter keinen Vorwurf gemacht hatte. Jamie lag auf ihrer Pritsche. Ihren breitkrempigen Hut benutzte sie als Kopfkissen. Sie stellte sich schlafend, war aber wach und bekam alles mit. Artus stand kerzengerade in seiner Zelle und rührte sich nicht. Mehrere Stunden lang hatte er sich mit dem Türschloß beschäftigt. Auf den ersten Blick sah es unversehrt aus, doch ein leichter Stoß würde genügen, um die nur noch provisorische Befestigung zu lösen.
Cade forderte Jamie auf, sich zu erheben. Widerwillig stand sie auf. »Was ist mit meinem Laster?« lautete ihre erste Frage. Der Sheriff grinste nur. Daß ihr Fahrzeug in der Fabrik von Guan Kuo-Feng geschreddert worden war, würde er ihr vielleicht später erzählen. Oder gar nicht. Die Deputies lösten sich bei der Gefangenenwache ab. Nach Hause gehen durften sie jedoch nicht. Einer blieb hinten, der andere besetzte vorn den Schreibtisch. Sheriff Cade begab sich in den »Saloon«, um zu frühstücken. Er hatte die halbe Nacht tatkräftig mitgeholfen, die Suprasensor-Bauteile von Jamies Laster zu laden und fühlte sich geschafft. Was er jetzt brauchte, waren Eier mit Speck und literweise Kaffee. Während er die zweite Tasse trank, sinnierte er darüber, daß es dem Tee in der Vergangenheit nie gelungen war, dem Kaffee an Beliebtheit den Rang abzulaufen. Eine Zeitlang hatte es zwar mal so ausgesehen, als wäre Tee auf dem Vormarsch, doch weiter als bis Platz zwei war jenes aromatische Getränk nie gekommen. Mit derart profanen Überlegungen beschäftigte er sich über eine halbe Stunde. Hingegen verschwendete er an Jamie, die er noch an diesem Morgen für immer in der Prärie verschwinden lassen wollte, keinen einzigen Gedanken. Eine Person zu beseitigen, die seinen verbrecherischen Plänen im Wege stand, bereitete ihm kaum mehr Gewissensbisse als das Totschlagen einer Motte. Vorher wollte er den Wachroboter – mit Jamie als Unterpfand – in die Fabrik schaffen, wo man prüfen würde, ob er sich zu einem normalen Arbeitsroboter umprogrammieren ließ. Falls nicht, sollte er ebenfalls geschreddert werden. Um diese Zeit war das im Westernstil eingerichtete Lokal noch ziemlich leer. Tranquility war kein Ort der Frühaufsteher
– abgesehen von den Schichtarbeitern, doch die frühstückten lieber billiger in der Werkskantine. Der Zeitungsbote kam herein und legte ein paar Exemplare der Morgenzeitung auf den Tresen. Sein Trinkgeld lag dort wie gewohnt bereit. Er bedankte sich beim gläserspülenden Wirt mit einem freundlichen Kopfnicken und ging wieder hinaus. An einem Ecktisch saß ein Landstreicher mit seinem Hund. Beide verzehrten jeweils eine Wurst. Die Bockwürste im »Saloon« waren berühmt für ihren würzigen Geschmack. Der Sheriff warf dem Vagabunden einen feindseligen Blick zu, um ihm zu verstehen zu geben, daß es besser für ihn sei, sich nicht länger als nötig in seinem Zuständigkeitsbereich aufzuhalten. Der alte Mann verstand und verließ kurz darauf gemächlichen Schrittes das Lokal. »Komm, Rambo«, sprach er zu seinem vierbeinigen Begleiter. »Wo wir unerwünscht sind, bleiben wir nie länger als nötig.« Wenig später sah man Cade ebenfalls aus dem Lokal kommen. Von Gemächlichkeit konnte bei ihm allerdings nicht die Rede sein. Er eilte so schnell er konnte zu seiner Amtsstube. Unterwegs sprach er aufgeregt in sein Vipho. Und eine der Zeitungen hatte er unter den Arm geklemmt. * Der zweite Deputy war weitaus wachsamer als der erste. Er ließ Jamie und Artus keine Sekunde aus den Augen und fingerte ständig an seiner Waffe herum. »Nervös?« fragte ihn die Frau. »Macht nix, ich bin es gewohnt, daß meine Nähe gestandene Mannsbilder in Unruhe versetzt.« Eine Antwort bekam sie nicht. Sie hatte auch keine erwartet.
Sheriff Cade kam herein. Vor Artus' Zelle blieb er stehen und beobachtete den Roboter minutenlang. Artus bewegte sich um keinen Millimeter vom Fleck. »Das Ding scheint sich in eine Art Ruhezustand versetzt zu haben«, mutmaßte der Deputy. »Möglicherweise wartet es sich gerade selber.« »Unsinn!« erwiderte sein Chef. »Der abgefeimte Bursche lauert nur auf eine günstige Gelegenheit zur Flucht. Nicht wahr, Artus? Mich täuschst du nicht. Jede Wette, du heckst irgendwas aus.« »Kommt es Ihnen nicht lächerlich vor, mit einer Maschine zu reden, als sei sie ein menschliches Wesen?« spöttelte Jamie, der Böses schwante. Wußte der Sheriff etwa Bescheid? Natürlich wußte er es! Jamie fiel das Viphogespräch ein, das sie auf der Fahrt hierher mit Terra-Press geführt hatte, und sie machte sich deswegen Vorwürfe. Wäre sie nur nicht so voreilig gewesen! Dabei hatte sie es doch nur gutgemeint. »Rede mit mir!« schrie Sheriff Cade den Roboter an. »Wenn du mich weiterhin ignorierst, zerschieße ich der Dicken beide Kniescheiben!« Artus drehte sich langsam zu ihm um und ging zwei Schritte auf die Gittertür zu. Dann blieb er stehen und fixierte den Sheriff mehrere Minuten lang, so wie Cade es zuvor mit ihm getan hatte. »Ich bin jederzeit bereit, eine intelligente Unterhaltung mit Ihnen zu führen«, sagte er schließlich mit seiner mechanisch angehauchten rauhen Stimme. »Es dürfte uns jedoch erhebliche Schwierigkeiten bereiten, ein gemeinsames Gesprächsthema zu finden, denn ich verfüge nicht nur über einen weitaus höheren Bildungsgrad als Sie – ich habe auch mehr geistiges Niveau.« »Der redet aber merkwürdig«, bemerkte der Deputy. »Ob seine Programmierung defekt ist?«
»Nein, er weiß ganz genau, was er sagt und was er tut«, entgegnete Cade. »Diese Maschine ist was ganz Besonderes. Sie hat ein Bewußtsein.« »Das ist unmöglich«, meinte sein zweiter Deputy, der inzwischen von nebenan hereingekommen war. »So etwas gibt es nicht.« »Dachte ich bislang auch«, sagte Cade. »Doch bekanntlich lernt man nie aus. Kuo-Feng ist bereits informiert. Ich soll den Roboter sofort zu ihm bringen.« Kuo-Feng – bei diesem Namen horchte Jamie auf. Auch das noch! Sie befürchtete das Schlimmste für ihren Freund. »Laßt ja die Finger von Artus!« machte sie ihrem Zorn Luft. »Sonst drehe ich jedem einzelnen von euch den Hals um, schön langsam und mit viel Genuß!« Sheriff Cade nahm den Paralysator zur Hand, den die erst Nachtwache auf dem Tisch hatte liegenlassen. Ohne Vorwarnung feuerte er eine Betäubungsladung auf seine Gefangene ab. Jamie sank in die Knie, kippte zur Seite und blieb reglos liegen. »Ihr paßt auf sie auf«, befahl er seinen Stellvertretern. »Ich melde mich alle sechzig Sekunden am Vipho bei euch. Sollte mein Anruf ausbleiben, bringt ihr sie auf der Stelle um.« Er ließ sich den Zellenschlüssel geben. * Sheriff Cade machte Anstalten, die Zellentür zu öffnen. Doch noch bevor er den Schlüssel von außen ins Schloß stecken konnte, zog Artus sein Metallknie hoch und rammte es von innen dagegen. Das verrostete Schloß zerbrach in drei Teile. Mehrere Schrauben fielen klackernd auf den Holzfußboden und verschwanden teilweise in den Ritzen zwischen den nach
abgestandenem Bohnerwachs riechenden Brettern. Für eine Sekunde waren Cade und seine Deputies abgelenkt. Artus stieß die Gittertür mit voller Wucht auf. Der Sheriff war so überrascht, daß er nicht mehr rechtzeitig zur Seite springen konnte und die Balance verlor. Um sich abzustützen, streckte er instinktiv die Hand nach der Stuhllehne aus. Blitzschnell war Artus bei ihm und trat ihm den Stuhl weg. Gleichzeitig entriß er ihm den Paralysator, richtete ihn auf einen der Hilfssheriffs und drückte ab. Treffer! Der zweite Hilfssheriff sprang ihn von hinten an. Wie festgeschnürte Rucksackriemen umklammerten seine Arme die Schultern des Roboters. Mit aller Macht versuchte er, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und umzureißen. Doch Artus stand fest auf seinen Beinen. Um sein überflüssiges Gepäck loszuwerden, warf er sich rückwärts gegen die Wand. Man hörte das unverkennbare Geräusch brechender Rippen. Der Mann auf seinem Rücken verlor das Bewußtsein. Artus schüttelte ihn ab wie ein lästiges Insekt. Sheriff Cade rappelte sich wieder auf. Er tastete nach seiner Schußwaffe. Ein kraftvoll ausgeführter Handkantenschlag des Maschinenwesens fällte ihn wie eine Axt. Der Ordnungshüter gab einen kurzen Aufschrei von sich und knallte mit dem Gesicht auf den harten Holzfußboden. Er war bereits bewußtlos, als er sich die Nase blutig schlug. Artus hob Jamie hoch und trug sie nach draußen. Mehrere Schweber hielten vor dem Sheriffbüro. Bewaffnete Männer stiegen aus. Ihre Mienen verhießen nichts Gutes. Ihr Anführer war ein sechzigjähriger Chinese. Er erteilte den anderen den Befehl, den Roboter aufzuhalten. »Paßt auf, daß ihr ihn nicht beschädigt«, wies er seine Männer an. »Wehe, er kriegt auch nur einen Kratzer ab! Auf die Frau braucht ihr keine Rücksicht zu nehmen.«
19. Ich saß in der Patsche. In welchem Zusammenhang diese Redewendung gebraucht wurde, wußte ich – aber nicht, woher sie stammte und was meine Bedrängnis mit einem Brandlöschgerät, der Feuerpatsche, gemeinsam hatte. Mein Wissen war phänomenal. Trotzdem begriff ich längst nicht alles, was ich an Daten gespeichert hatte. Oftmals fehlten ausführliche Erklärungen, dann mußte ich selbst versuchen, die Dinge in logischen Zusammenhang zu bringen. Augenblicklich hatte ich allerdings Dringenderes zu tun, als mich mit menschlichen Ausdrucksformen zu befassen. Savannah war weiterhin bewußtlos. Ich hatte sie auf der Gefängnispritsche in der Zelle mit dem kaputten Türschloß abgelegt. In der abgeschlossenen Nachbarzelle lagen der Sheriff und seine Deputies auf dem Fußboden, ebenfalls ohne Bewußtsein – und entwaffnet. Nur ein schneller Rückzug ins Sheriffbüro hatte Savannah und mich vor dem Schlimmsten bewahrt. Hätten die bewaffneten Männer, die draußen den Schwebern entstiegen waren, auf uns geschossen, wären wir nicht mehr heil durch die Tür gekommen. Doch der chinesische Anführer der Gruppe wollte mich unversehrt in seinen Besitz bringen. Somit war ich mein eigenes Trumpf-As. Ich analysierte meine Situation. Es stand fest, daß die Männer, die das Büro umlagerten, nichts Gutes im Sinn hatten. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um Komplizen des Sheriffs. Ich rief mir seine Worte in den Gedächtnisspeicher zurück. »Kuo-Feng ist bereits informiert. Ich soll den Roboter sofort zu ihm bringen.«
Kuo-Feng – der Name war chinesischer Herkunft. Der Anführer der Männer, die das Büro belagerten, war Chinese. Heute morgen hatte der Sheriff herausbekommen, daß ich keine normale Maschine war und diese brisante Information an Kuo-Feng weitergeleitet. Dieser hatte daraufhin angeordnet, mich zu ihm zu bringen, hatte aber meine Ankunft wohl nicht erwarten können und war selbst hierhergekommen. Mit Verstärkung. Ich saß hinter dem Schreibtisch des Sheriffs und hatte sämtliche erbeuteten Waffen schußbereit vor mir auf der Tischplatte abgelegt. Es war nicht notwendig, mir eine sichere Deckung zu suchen. Laut Kuo-Fengs Anweisung mußte man mich so vorsichtig behandeln wie ein rohes Ei. Das Gebäude hatte keinen Hintereingang. Wer herein wollte, mußte von vorn kommen. Ich ließ die Tür nicht für einen Moment aus der Optik. Geduldig wartete ich auf das, was die Menschen als Bauernopfer bezeichneten, ein Begriff, der sich vermutlich vom Schachspiel herleitete. Die Regeln des Spiels waren mir bekannt. Der König hatte jeweils das uneingeschränkte Sagen, war aber schlecht zu Fuß. Im Kampf gegen seinen Erzfeind opferte er zuerst die Bauern, dann den Rest seiner Getreuen und letztlich sogar die eigene Gattin. Die Untertanen beider Könige hatten nur eine Überlebenschance. Es mußte ihnen gelingen, das gegnerische Regierungsoberhaupt geschickt auszutricksen und total kampfunfähig zu machen. Das war jedoch leichter gesagt als getan, weil der feige Herrscher Untergebene und Ehefrau fortwährend als lebendes Schutzschild mißbrauchte. Meiner Einschätzung nach würde »König« Kuo-Feng die gleiche Taktik anwenden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der erste »Bauer« hereinstürmen und versuchen würde, die gegnerische Festung zu erobern. Nur eines war noch unklar: Kam er durch die Tür oder durch das daneben befindliche Fenster?
Kuo-Feng schickte zwei Mann gleichzeitig los. Der eine warf sich mit der Schulter gegen die marode Holztür und brach sie auf, der andere schlug mit dem Kolben seiner Waffe ein Loch in die Fensterscheibe. Beide richteten ihre Karabiner auf mich. Ich befand mich eindeutig in der schlechteren Position. Trotzdem hatte ich keine Eile. In aller Ruhe nahm ich eine der mir zur Verfügung stehenden Waffen zur Hand, ohne daß mich jemand daran hinderte. Ein Betäubungsstrahl riß den großen Mann in der Tür von den Füßen. Er wehrte sich nicht, starrte mich nur ungläubig an. Seine Knie knickten ein, er fiel hin und rührte sich nicht mehr. Ohne mich um den auf mich gerichteten Karabiner zu kümmern, visierte ich den Mann am Fenster an. Rasch zog er den Kopf ein und suchte das Weite. Ich legte meine Betäubungswaffe beiseite und stand auf. Dann hob ich den Großen hoch und brachte ihn nach draußen. Auf der Veranda legte ich ihn ab. Wortlos drehte ich mich um und begab mich wieder ins Haus. Angst verspürte ich kaum. Ganz im Gegenteil, ich fühlte mich sicher wie nie zuvor. Es war schon eine tolle Sache, wenn einem niemand etwas antun durfte. Ich genoß diesen Augenblick, dieses herrliche Gefühl des Triumphes. »Artus, der selbstlose Ritter« – so hatte Savannah mich genannt. Ich fand, daß »Artus, der ungeheuer Wertvolle« besser zu mir paßte. Oder »Artus, der Unberührbare«. Ich schob die Tür wieder zu und stellte den schweren Schreibtisch davor. Nicht zu meinem Schutz, sondern zu Savannahs. »Auf die Frau braucht ihr keine Rücksicht zu nehmen«, hatte Kuo-Feng angeordnet, was bedeutete, daß sie in weitaus größerer Gefahr schwebte als ich. Nur in meiner Nähe war sie in Sicherheit. Aber wie lange konnten wir die Belagerung durchhalten?
Früher oder später würde Savannah Nahrung zu sich nehmen müssen. Die kümmerlichen Keksvorräte, die ich zufällig in einer Schreibtischschublade entdeckt hatte, würden bald aufgebraucht sein. Und zum Durststillen stand ihr lediglich ein angefangener Kasten Bier zur Verfügung. Ihr – und unseren drei Gefangenen, mit denen wir die Vorräte teilen müßten. Ich ging nach hinten, um nach den Vieren zu sehen. Der Sheriff war bereits bei Bewußtsein. Seine gebrochene Nase hatte er notdürftig mit einem Taschentuch verbunden. Er beschimpfte mich aufs Übelste und verlangte seine Freilassung. Wütend trat er gegen das Gitter und brüllte irgendwas von Gesetzesverstoß. Ich beachtete ihn nicht. Was kümmerten mich Gesetze, die von Menschen für Menschen gemacht worden waren und nach denen sie sich selbst nicht richteten? Savannah erhob sich langsam von ihrer Pritsche. Sie schaute sich verwirrt um und hatte sichtlich Mühe, ihre Gedanken zu ordnen. Ich half ihr bei der Orientierung, indem ich die unmittelbar vergangenen Ereignisse und meine daraus resultierenden Schlußfolgerungen in wenigen Sätzen zusammenfaßte. Auch der Sheriff schwieg jetzt und hörte gespannt zu. Nachdem ich geendet hatte, machte er ein selbstgefälliges Gesicht. »Besser, ihr ergebt euch freiwillig, dann lege ich ein gutes Wort für euch ein«, bemerkte er generös. »Wenn Guan KuoFeng seinen Leuten befiehlt, euch auszuräuchern...« »Wünsch dir das lieber nicht, Spatzenhirn«, schnitt Savannah ihm das Wort ab. »Deine vergammelte Lehm- und Bretterbude brennt garantiert wie Zunder. Mit etwas Glück entwischen Artus und ich vielleicht... aber wie willst du hier wegkommen? Glaubst du wirklich, deine Freunde von der
Straße nehmen Rücksicht auf dich? Die Flammen werden dich und deine Hilfsknechte zu Grillhähnchen verarbeiten.« Savannahs phantasievolle Art, sich sprachlich auszudrücken, versetzte mich immer wieder aufs neue in Faszination. Ihre Begabung, die Dinge ohne Wenn und Aber auf den Punkt zu bringen, verfehlte auch diesmal nicht die gewünschte Wirkung. Die Selbstgefälligkeit schwand aus den Gesichtszügen des Sheriffs, und er wurde recht blaß. »Anfangs hatte ich ihn für den Boß der Bande gehalten«, sagte Savannah kurz darauf im Büro zu mir, so laut, daß es der Sheriff durch die offenstehende Zwischentür mitbekommen mußte. »Doch dafür ist er viel zu dämlich. Seine Hilfssheriffs und er unterstützen Kuo-Fengs Männer lediglich bei den Lasterüberfällen und sonstiger Drecksarbeit. Der Chinese zieht die Fäden und läßt die Puppen tanzen. Ich kenne seinen Namen. Sein Ruf als rücksichtsloser Geschäftsmann eilt ihm voraus. Ihm gehört eine Fabrik zur Herstellung von Suprasensoren. Allerdings hatte ich keine Ahnung, daß sie in dieser unwirtlichen Gegend liegt.« »Kuo-Feng sollte man jagen, nicht mich«, sagte ich. »Im Gegensatz zu ihm habe ich niemandem etwas getan. Wie vereinbart sich das mit euren Gesetzen?« Savannah deutete auf das stationäre Viphogerät des Sheriffs. »Die Behörden zu informieren dauert nur ein paar Sekunden. Doch was wird dann aus dir? Für die Polizei bist du lediglich eine Maschine, die ihrem Besitzer abhanden gekommen ist und ihm wieder übergeben werden muß. Man wird dich nicht gehen lassen.« »Ich muß aber nach Alamo Gordo!« erwiderte ich energisch. »Notfalls kämpfe ich mir den Weg frei.« »Ich finde, es ist schon genug gekämpft worden«, meinte Savannah. »Willst du deinen Weg zum Raumhafen mit Leichen pflastern?« »Wenn es sich nicht vermeiden läßt.«
»Solltest du das ernst meinen, wärst du auch nicht besser als die Typen da draußen vor der Tür.« Noch bevor ich etwas entgegnen konnte, eröffneten unsere Belagerer die nächste Kampfrunde. Sie warfen zwei Rauchbomben durch das zerstörte Fenster in den Raum. Innerhalb von Sekunden konnte man nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Savannah zog sich hustend in den fensterlosen Zellentrakt zurück und schloß hinter sich die Tür. Einen Augenblick später hörte ich ihren Schrei. Sie war in Gefahr. Hatte sich der Sheriff befreien können und brachte sie in seine Gewalt? Mir blieb keine Zeit, ihr zu Hilfe zu kommen. Von draußen wurden die Reste der Fensterscheibe sowie ein zweites Fenster eingetreten, und drei Männer drangen im Schutz des gelben Rauchs ins Gebäude ein. * Ein merkwürdiges Gespann jagte quer durch den Sternendschungel Drakhons zum der Milchstraße entgegengesetzten Ende dieser Galaxis. Auf einem Schirm ohne große Auflösung oder aus weiter Entfernung würde man das Objekt als eine Hantel bezeichnen; ein langer Zylinder in der Mitte, an den Enden jeweils eine flache, blaue Scheibe. Erst bei näherem Hinsehen offenbarte sich die wahre Natur des Objektes. Was wie eine kompakte Hantelform aussah, bestand in Wirklichkeit aus einem Verband von drei Raumschiffen. Die beiden Ringschiffe hatten den Zylinder der Galoaner im Intervallschlepp zwischen sich genommen. Die POINT OF flog vorweg, die MAYHEM hinterher. Zwischen den jeweiligen Schiffen lagen Entfernungen von exakt vierhundert Metern. Daß sich dieser Abstand weder verringerte noch vergrößerte, dafür sorgte der Checkmaster der POINT OF, der in den
meßbaren Zeiteinheiten eines Myons, also alle 2,2 * 10-6 Sekunden, immer dann korrigierend eingriff, wenn sich die Abstände veränderten. Diese Art des Schlepps entband die Maschinen der H'LAYV von jeder Tätigkeit und brachte den Zylinderraumer gleich schnell mit den Ringschiffen voran. Auf der Suche nach den Rahim. Oder den Mysterious? Gleich. Wichtig war, mit jenem geheimnisvollen Volk in Kontakt zu kommen. Ren Dhark erhoffte sich Lösungsansätze für ein paar sehr brennende Probleme. So zum Beispiel Erkenntnisse über die Ursachen der mächtigen Magnetstürme in der Milchstraße und der drohenden Kollision zwischen Drakhon und der heimatlichen Galaxis. Das Gespann beschleunigte noch immer. Ziel war die Dunkelwolke in einem Randbereich Drakhons, der der Milchstraße entgegengesetzt lag, und deren Koordinaten vor kurzem in der unterirdischen Rahim-Station auf einer alten Sternenkarte entdeckt worden waren. Ein noch unerforschter Bereich, wenn man Shodonn Glauben schenken konnte. Es existierten auch keine anderen Sternenvölker im Innern Drakhons, die über Informationen verfügten. Ein Flug ins Ungewisse. Wie schon so oft. Ren Dhark saß im Gliedersessel vor der Kontrollkonsole und hielt einen Becher Kaffee in der Hand; der Inhalt war schon lange kaltgeworden. »Gib mir eine vollkorrigierte Sicht«, richtete er seine Gedanken an den Checkmaster. Das Superhirn der Mysterious reagierte im gleichen Sekundenbruchteil.
Die POINT OF raste in einem Meer von Sternen dahin. Die Bildkugel war erfüllt von strahlenden Sonnen in allen Farben des Spektrums, von glühenden Nebeln und schwarz dräuenden Dunkelwolken. Vor dem Ringraumer breitete sich bereits der jenseitige Rand Drakhons aus, ein Spiralarm, dicht mit schimmernden Sternenkonstellationen übersät, deren funkelndes Leuchten teilweise von interstellaren Nebeln gedämpft wurde. Die langgezogene Ballung bestand aus dichtgepackten, unterschiedlich großen und unterschiedlich leuchtstarken Sonnen, zwischen einem viertel und einem dreiviertel Lichtjahr auseinanderliegend. »Schön«, sagte eine Stimme, die Ren als die Shodonns identifizierte. »Schön und berauschend zugleich. Auch wenn ich die Bilder nur auf dem Umweg über dein Schiff erhalte, Commander.« Ren Dharks Blick löste sich von der Bildkugel und richtete sich auf einen Sekundärmonitor der Konsole. Auf ihm war Rhaklan zu sehen, der Shodonns Seelenchip um den Hals trug. »Ja«, bestätigte Ren schlicht, ohne Pathos. »Die Wunder des Universums sind von einer Intensität, daß man kaum Worte findet, sie zu schildern. – Wie gefällt dir übrigens diese Art des Reisens, Shodonn?« Der Commander spielte auf den Intervallschlepp an. »Ich und meine Gefährten genießen sie – ach was, wir sind geradezu überwältigt von dieser Art des überlichtschnellen Fluges zwischen den Sternen. In Wurmlöchern ist davon nichts zu sehen.« »Auch bei Transitionen bekommt man nichts von der Schönheit des normalen Universums mit. Und glaube mir, Shodonn, wenn nicht der Checkmaster und die Suprasensoren der Astronomischen Abteilung in der Lage wären, ein korrigiertes Bild des umgebenden Raumes zu liefern, würden wir auf Grund unseres überlichtschnellen Fluges auch nicht viel von dieser Schönheit sehen.«
»Du hast natürlich recht, Commander der Planeten. Wir Wissenschaftler kennen selbstverständlich den Zustand unserer Galaxis aus der subjektiven Sicht bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten.« »Ich wollte dich nicht belehren, Shodonn«, versicherte Ren und lächelte. Er schwieg eine Weile, dann fragte er: »Hat sich der Weise von Galoa dazu entschlossen, der Bitte eines meiner Chefingenieure zu entsprechen?« »Du sprichst von diesem Shanton und seinem künstlichen Begleiter. – Nun, er ist uns an Bord willkommen.« »Ich werde ihm umgehend diese Nachricht übermitteln. Seid ihr in der Lage, ihn innerhalb des Intervallums an Bord zu bringen, oder müssen wir dazu unsere Fahrt unterbrechen?« »Das sind wir. Wir können den energetischen Schlauch aufbauen; er wird stabil bleiben.« Der energetische »Schlauch«, wie Shodonn ihn bezeichnete, diente den Galoanern als Verbindung zwischen ihrem und anderen Schiffen, um nicht mit Hilfe von Raumanzügen oder Beibooten die atmosphärelose Leere des Weltraums überbrücken zu müssen. * Chris Shanton stand in der unteren Nebenschleuse der POINT OF und trug alles, was er vermutlich brauchen würde, am Leib. Er steckte zusätzlich in einem der filmdünnen MAnzüge. Für alle Fälle; als Gefrierfleisch wollte er nicht den Rest der Reise mitmachen. Falls der energetische Schlauch versagte, hatte er schon vor, am Leben zu bleiben. Das Innenschott der Schleuse war längst geschlossen, das Rolltor der äußeren Schleuse bereits offen. Wie ein überdimensionaler Rüssel umfaßte die Energieform des Schlauches die Schottränder und dichtete sie hermetisch gegen die Leere des Raumes und die Einwirkungen des Intervallfeldes ab.
»Du bist heute aber wieder so was von mutig«, murmelte Shanton, als er den transparenten Verbindungstunnel hinunterschaute, der in vierhundert Metern Entfernung in eine Schleuse der H'LAYV mündete. Dazwischen war nichts. Absolut nichts. Nur seine Angst vor dem unermeßlichen Abgrund des Universums. »Chris?« Die Stimme des Chief, der seine Ausschleusung über seine Kontrolldisplays verfolgte. »Ja, Miles?« »Willst du noch länger warten, oder soll ich die Verbindung kappen lassen für heute, und du versuchst es morgen oder übermorgen noch einmal?« Unverhohlener Spott färbte Miles Congollons Stimme. Das saß. Chris Shanton nickte wild. »Bin ja schon unterwegs. Die Show beginnt.« Er klemmte sich den heftig protestierenden Jimmy unter den Arm und trat hinaus – ins Nichts. Chris atmete erschreckt ein. Aber da war nichts, wovor er sich erschrecken mußte. Sobald er das Schwerefeld der POINT OF verlassen hatte, änderte sich die Perspektive. Er fiel nicht etwa nach unten, sondern bewegte sich waagerecht und vor allem aufrecht im Verbindungstunnel ohne sein Zutun auf die H'LAYV zu; von Gravitationsfeldern gehalten, die ihm den Eindruck vermittelten, er liefe über die Oberfläche eines Planeten. Trotzdem ertappte er sich dabei, daß er zu schnell atmete und zwang sich zur Ruhe. Es war schon ein verdammt mulmiges Gefühl, mitten im Nichts auf eine Schleuse zuzulaufen und gleichzeitig mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit wie ein Gedanke durch die Ödnis ringsum katapultiert zu werden.
Der massige Chefingenieur erreichte die Schleuse der H'LAYV ohne Probleme. Das äußere Schott der Druckausgleichskammer schloß sich hinter ihm. Eine Atmosphäre baute sich auf. Er setzte Jimmy auf den Boden und betätigte einen Kontakt am Hals. Die halbstarre Hülle des filmdünnen M-Anzugs faltete sich in die Halskrause. Chris holte tief Luft. Die Galoaner hatten einen Kompromiß zwischen ihren und den menschlichen Bedürfnissen gewählt und den Luftdruck entsprechend angepaßt. Als sich das Innenschott öffnete und er in den hell erleuchteten Korridor hinaustrat, wurde er bereits erwartet. »Wir grüßen dich«, sagte der Galoaner, der, wie Chris wußte, Rhaklan hieß und als Wirt Shodonns fungierte. »Willkommen an Bord unseres Schiffes.« »Ich grüße euch«, erwiderte Chris Shanton und sprach bewußt beide an, sowohl Rhaklan als auch Shodonn; die Verständigung klappte dank der galoanischen Translatoren problemlos. Das Laborschiff der Galoaner war ein Zylinder von 200 Meter Länge und 60 Meter Durchmesser und vollgepackt bis unter die Außenhülle mit gewaltigen Anlagen zur Forschung, zur Verteidigung und vor allem zum Schutz des unsterblichen Shodonn in seinem Seelenchip; er war zwar unsterblich, aber nicht unverletzlich. Shodonn und sein Wirt führten Chris Shanton durch die Sektionen des gewaltigen Hohlkörpers, dessen sämtliche Anlagen überwiegend in den Wandungen untergebracht waren. Es war eine zunächst sehr oberflächliche Führung, die nur dazu diente, den Chefingenieur mit den Gegebenheiten vertraut zu machen. Ins Detail könne man dann immer noch gehen, versicherte Rhaklan/Shodonn und erkundigte sich, ob er denn in dem Tohuwabohu von unbekannten Gerätschaften und galoanischen Wissenschaftlern überhaupt den Wunsch verspüre, länger zu bleiben, und wenn doch, welche speziellen
Interessen er habe. Die Terraner seien doch in ihrem Verständnis der M-Technik viel weiter als die Galoaner selbst, sonst könnten sie sich nicht deren Ringschiffe so kongenial bedienen. Shanton mußte ihnen erklären, daß die Terraner zwar die MTechnik nutzten, aber ihre Funktionen nur sehr eingeschränkt verstünden. Daraufhin blieb es eine Weile still; Shanton konnte sich irren, aber er hatte das verteufelte Gefühl, daß sich Rhaklan und Shodonn auf einer Ebene verständigten, die ihm nicht zugänglich gemacht werden sollte. Dann wagte er seinerseits einen Vorstoß. »Mich interessieren vor allem die technischen Spezifikationen eures Schutzschirmes«, bekannte er und mußte erleben, daß er sich eine Abfuhr holte. Shodonn und seine Wissenschaftler schienen nicht gewillt, mit näheren Einzelheiten herauszurücken. Na, noch ist nicht aller Tage Abend, dachte Shanton bei sich. Kommt Zeit, kommt Cognac – oder so. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen; die Luft im Laborschiff der Galoaner war verdammt trocken. Wollen doch mal sehen, was sie sonst noch auf der Pfanne haben! Er räusperte sich und wandte sich an Rhaklan, meinte aber Shodonn, als er sagte: »Ich habe Durst. Habt ihr nicht etwas Trinkbares für mich?« »Wasser vielleicht?«, bot ihm Rhaklan mit seiner eigenen Stimme an. »Ich glaube mich zu erinnern, daß ihr Wasser für euren Körperhaushalt benötigt. Ist es nicht so?« »Brrr!« Shanton schüttelte sich. »Habt ihr nichts anderes als dieses schreckliche H2O?« »Zum Beispiel?« »Wie wär's mit Alkohol?« Unverständnis auf der Seite der Galoaner. »Was ist Alkohol?«
»Hmm«, Chris Shanton kämmte mit den gespreizten Fingern der linken Hand den Wildwuchs am Kinn, »wie erkläre ich's meinem Kinde?«, murmelte er. Dann erhellte sich seine Miene, als ihm wieder einfiel, woraus Alkohol im allgemeinen und trinkbarer Alkohol im besonderen bestand. Er rasselte die chemischen Zeichen herunter und erklärte, daß es sich um den Vergärungsprozeß von Früchten, Beeren oder Getreide handelte, der in einem mal einfachen, mal aufwendigen Destillationsverfahren zu trinkbaren Endprodukten führte. »Und das nehmt ihr Menschen zu euch?« Der galoanische Chemiker, den Shodonn zu Rate gezogen hatte, schien verwundert. »Oh, ja«, seufzte der Chefingenieur. »Nicht jeder, aber viele. Zu letzteren gehöre ich.« »Bestünde der Weltraum aus Alkohol«, bemerkte Jimmy anzüglich, »so würde er ihn leertrinken. Seine Trunksucht kann einen Abstinenzler in den Wahnsinn treiben!« »Was ist ein Abstinenzler?«, wollte Shodonn wissen. »Ein Mensch, der die irdischen Freuden zugunsten anderer verschmäht, die er vermutlich nie in seinem Leben erlangen wird«, erklärte Chris Shanton gedehnt. Pause. »Ihr Menschen seid seltsam«, bekannte Shodonn, während der Chemiker verschwand, um gleich darauf mit einem Behälter wieder zu erscheinen, der entfernt an eine Flasche erinnerte. »Einerseits seid ihr in der Lage, Großartiges zu schaffen, andererseits habt ihr merkwürdige Gebräuche und Sitten.« Chris war ein bißchen zu abgelenkt, um gleich zu antworten. Er öffnete die Flasche, schnupperte daran, befeuchtete seine Lippen damit und schmeckte vorsichtig. Man konnte ja nie wissen... und dann breitete sich ein seliges Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er setzte die Flasche an den Mund.
Der fremdartigen Physiognomie der Galoaner war nichts zu entnehmen, aber sicher sahen sie interessiert zu, wie ihr Gegenüber mit einem gewaltigen Zug die Flasche zur Hälfte leerte und dann, genießerisch schmatzend, wieder absetzte. »Ich weiß«, sagte der Chefingenieur nach einem verschämten Bäuerchen. »Unter uns Menschen ist der Größenwahn die einzige Konstante, die einzige Form des Normalseins!« »Richtig!«, bestätigte Shodonn. »Fortwährend jagt ihr hinter Dingen her, die euch keinen Nutzen bringen. Sieh uns an – uns fehlt nichts. Wir haben uns der reinen Wissenschaft verschrieben und kennen keine Bedürfnisse, wie die, die du uns gerade vor Augen geführt hast.« »O je, was seid ihr arm dran«, murmelte Shanton in seinen Bart, während Jimmy zu einer wohlformulierten Tirade über die Alkoholsucht im allgemeinen, und über die seines Herrn und Meisters im besonderen ansetzte. »Kusch!«, unterbrach Chris Shanton seinen Sermon, »oder ich werfe dich eigenhändig aus der Luftschleuse – ohne Raumanzug.« Abgesehen davon, daß diese Drohung für den Robothund keinerlei Bedeutung hatte, so hielt er es doch für angebracht, Florence Nightingales vortreffliche Rede über die Trunksucht in der britischen Armee, gehalten 1867 vor dem Londoner Unterhaus, wieder in der betreffenden Datenbank zu speichern. Er war sicher, er würde diese Brandrede wider den Alkohol bei geeigneter Gelegenheit schon noch anbringen können. »Habt ihr noch mehr von diesem göttlichen Stoff?«, erkundigte sich Shanton scheinheilig bei Rhaklan. »Unser Labor ist in der Lage, jede gewünschte Menge davon zu reproduzieren.« Shanton legte ihm die Hand auf die Schulter und drängte ihn sanft in die Richtung, in die der Chemiker verschwunden war.
»Ich habe da eine vortreffliche Idee, über die wir uns mal in aller Ruhe unterhalten sollten...« * Guan Kuo-Feng trennte die Viphoverbindung zu Sheriff Cade. Der Unternehmer, der in der Nacht das Abladen und die Vernichtung des Lasters überwacht hatte, hatte sich gerade ein wenig aufs Ohr legen wollen. Aber an nachzuholenden Schlaf war nach diesem Gespräch nicht mehr zu denken. Statt dessen blieb er vor seinem Suprasensor sitzen und betätigte einige Tasten. Wenig später verfügte er über die gewünschten Informationen. Der Sheriff hatte die Wahrheit gesagt. Jamie Savannahs Leibwächter war eine Maschine mit menschenähnlichem Bewußtsein und somit von außerordentlichem Wert. Kuo-Feng hatte Cade angewiesen, den ungewöhnlichen Roboter sofort zu ihm zu bringen. Jetzt fragte er sich, ob das nicht zu leichtsinnig war. Artus war vielleicht seine große Chance zum Durchbruch auf den Weltmarkt. Falls der Sheriff das wertvolle Gerät unterwegs aus Unachtsamkeit oder Dummheit entkommen ließ, war die günstige Gelegenheit vertan. »Wenn etwas perfekt erledigt werden soll, muß man es selbst tun«, murmelte der Chinese und setzte sich mit den sieben Teammitgliedern in Verbindung, die seiner Geschäftsleitung angehörten. Bald darauf waren vier Schweber unterwegs zum Sheriff's Office. In einem davon saß Guan Kuo-Feng, er führte die Gruppe an. Sein Schweber war mit einem halbautomatischen Doppelgeschütz ausgestattet, jener Spezialanfertigung, die bereits beim Angriff auf Jamie und Artus eingesetzt worden war.
Acht zu allem entschlossene Männer trafen vor dem Büro des Sheriffs ein und stiegen aus, bewaffnet mit Karabinern und Blastern. Sie kamen noch rechtzeitig, um die Flucht des Roboters aus dem historischen Gebäude zu verhindern. »Haltet ihn auf!« wies der Chinese seine Mitarbeiter an. »Paßt auf, daß ihr ihn nicht beschädigt. Wehe, er kriegt auch nur einen Kratzer ab! Auf die Frau braucht ihr keine Rücksicht zu nehmen.« Artus machte kehrt, ging zurück ins Büro und schloß die Tür hinter sich. Niemand feuerte einen Schuß ab. »Da drinnen sitzt er in der Falle«, bemerkte einer der Männer. »Wir brauchen nur zu warten.« »Worauf?« schnauzte ihn sein Boß an. »Auf Neugierige, die aus ihren Häusern kommen und uns fragen, was wir hier tun? Wir müssen den Roboter schnellstmöglich gefangennehmen und in die Fabrik bringen.« Seine Leute formierten die Schweber vor dem Office zu einem Halbkreis und nahmen dahinter Deckung, für den Fall, daß die Kampfmaschine überraschend herausstürmte. KuoFeng wußte, wie gefährlich ein auf Abwehr programmierter Blechmann war und wollte das Risiko von Verletzung und Tod so gering wie möglich halten. Nicht aus Menschenliebe, doch ohne sein auf ihn eingeschworenes Team würde er seine hochtrabenden Pläne niemals verwirklichen können. Er überlegte, auf wen er als erstes verzichten konnte. Nach gründlicher Abwägung entschied er sich für seinen persönlichen Sekretär Kotschinski und seinen geschäftlichen Stellvertreter Bunter. Beide hatten ihn kürzlich – unabhängig voneinander – auf höhere Gewinnanteile angesprochen. Möglich, daß er auf ihre Forderungen einging, falls sie sich in dieser Situation bewährten. Und sollten sie versagen, sparte er zumindest Geld. Kotschinski, ein Kerl wie ein Baum, wählte den direkten Weg durch die Tür. Er hatte stabile Kettenfesseln bei sich. Sein
Auftrag war es, sie dem Roboter um Hände und Füße zu legen. Bunters Aufgabe bestand darin, Artus vom Fenster aus in Schach zu halten. Doch Kuo-Feng hatte seinen Gegner unterschätzt. Der Roboter wußte, daß ihm nichts geschehen konnte und verhielt sich entsprechend. Den Sekretär setzte er mit einem Betäubungsstrahl außer Gefecht. Der kleinwüchsige, wieselflinke Bunter trat den Rückzug an, bevor es ihm genauso erging. Die ersten neugierigen Ortsbewohner fanden sich auf der Straße ein. Kuo-Fengs Leute vertrieben sie mit barschen Worten. Eine Schweberfahrerin auf der Durchreise drosselte ihr Tempo und verfolgte das Geschehen voller Interesse mit. Erst als der Lauf eines Blasters wie zufällig in ihre Richtung schwenkte, fuhr sie wieder schneller. Die Polizei benachrichtigte sie nicht – auch im dritten Jahrtausend gab es Menschen, die es vorzogen, sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen. Artus schulterte den riesenhaften Kotschinski und legte ihn auf der Veranda ab, ohne Eile, so als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Kuo-Feng tobte. »Diese gottverdammte Maschine macht sich über uns lustig! Das Ding kann sich ausmalen, daß ich es unversehrt brauche.« »Wofür eigentlich?« wollte Bunter wissen. Er war nicht allein Kuo-Fengs Stellvertreter, sondern auch sein Berater. »Die Existenz einer denkenden und fühlenden Maschine verstößt gegen die Gesetze des Lebens und der Natur. Das ist Blasphemie. Wäre es nicht besser, Artus zu zerstören?« »Wieviel Einmaliges gibt es noch in unserer bunten, vielseitigen Welt?« stellte Kuo-Feng ihm die Gegenfrage. »Wohin man auch blickt – alles schon mal dagewesen. Einen
Roboter mit Verstand gab und gibt es bisher nicht. Artus ist einmalig. Ein Prototyp.« »Prototyp? Heißt das, Sie wollen ihn in Serie bauen? Schon bei dem Gedanken, wir könnten es mit mehreren von ihnen zu tun bekommen, rieselt es mir eiskalt den Rücken runter.« »Unsere Wissenschaftler in der Fabrik müßten natürlich ein paar Änderungen vornehmen. Die Selbständigkeit der neugeschaffenen Exemplare würde ich erheblich einschränken. Es muß gewährleistet sein, daß sie meinen Befehlen jederzeit widerspruchslos gehorchen.« »Wie normale Roboter also«, merkte Bunter kritisch an... ... und zog sich damit den Ärger seines Chefs zu. »Das ist was ganz anderes! Wollen Sie nicht begreifen, oder können Sie mir tatsächlich nicht folgen? Wenn Sie schon einen Vergleich ziehen, dann nicht mit seelenlosen rechnergesteuerten Geräten, sondern mit menschlichen Mitarbeitern. Sie, Bunter, befolgen schließlich auch meine Befehle, obwohl Sie einen Verstand haben. Den haben Sie doch, oder? Manchmal bezweifle ich das allerdings.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, ordnete er den Einsatz von Rauchbomben an. Da Kotschinski noch etwas unsicher auf den Beinen war und Bunter sich als Hasenfuß entpuppt hatte, teilte er drei neue Männer ein: Wetherby, Moustakka und Gonzales. Wenig später explodierten zwei Bomben im Office. Außer dem Fenster neben der Eingangstür gab es noch ein Seitenfenster in gleicher Größe. Nachdem sich der Rauch im Inneren des Hauses verteilt hatte, kamen die Angreifer von zwei Seiten herein. Sie trugen leichte Schutzmasken, die es ihnen möglich machten, zu atmen und die gelben Schwaden optisch zu durchdringen. Artus benötigte derlei Hilfsmittel nicht. Seine hochempfindlichen Sensoren erfaßten die Umrisse der drei Eindringlinge problemlos.
Erneut setzte er den Paralysator ein. Wetherby, Moustakka und Gonzales gingen nacheinander zu Boden, noch bevor sie den Roboter erreicht hatten. Sie schafften es nicht einmal, ihn zu berühren. Artus packte sie und warf sie der Reihe nach durch die zerbrochenen Fenster auf die Straße. Anschließend begab er sich nach nebenan in den Zellentrakt, um Jamie zu Hilfe zu kommen. Ihr Schreien war inzwischen verstummt. Ein gutes Zeichen – oder ein schlechtes? Der gelbe Rauch, der aus dem schäbigen Bürogebäude quoll, lockte zahlreiche weitere Neugierige an. Nicht jeder ließ sich einfach vertreiben. Die Bewohner entlang der Hauptstraße und die ansässigen Geschäftsleute diskutierten aufgeregt miteinander. Sie schlossen ein Übergreifen des vermeintlichen Feuers auf weitere Häuser aus, weil kein Gebäude direkt ans Office angrenzte. Erst bei näherem Hinsehen wurde allen klar, daß man es mit keinem normalen Brand zu tun hatte, sondern mit einer gewaltsamen Attacke. Niemand der Umstehenden unternahm etwas. Die Leute zogen es vor, tatenlos zuzusehen. In Tranquility war so ziemlich jeder von Guan Kuo-Feng abhängig, daher war es nicht ratsam, es sich mit ihm zu verderben. Lediglich ein erst kürzlich entlassener Fabrikarbeiter überlegte, ob er die günstige Gelegenheit nutzen und sich an seinem ehemaligen Arbeitgeber rächen sollte. Einerseits befürchtete er, hinterher als »Nestbeschmutzer« betitelt und aus dem Ort geekelt zu werden – andererseits brauchte ja niemand zu erfahren, daß er es war, der die übergeordneten Polizeibehörden benachrichtigt hatte. Am Ortsrand stand eine öffentliche, kaum genutzte Viphostation, und der Bildschirm ließ sich ohne weiteres mit einem dunklen Tuch verhängen...
Bunter drängte derweil seinen Chef, das Office mit dem Spezialschweber-Geschütz so lange unter Dauerfeuer zu nehmen, bis nur noch eine Ruine übrig war. Guan Kuo-Feng war dagegen. »Nein, der Roboter darf nicht beschädigt werden.« Normalerweise war er keinen Widerspruch gewohnt. Sein Stellvertreter ließ sich diesmal jedoch nicht einschüchtern. »Früher oder später unterrichtet jemand die Behörden in der Nachbarstadt über die Belagerung des hiesigen Sheriff's Office. Dann wimmelt es hier von fremden, unbestechlichen Polizisten. Wenn die Fuhrunternehmerin bei denen auspackt, stellt man uns wegen Raubüberfall und Mord vor Gericht. Sind Sie sich darüber im klaren, Mister Kuo-Feng?« »Der Roboter verschafft uns Geld und Macht«, sagte KuoFeng starrsinnig, wobei er mit »uns« im Grunde genommen nur sich selbst meinte. Eindringlich fügte er hinzu: »Viel Geld und viel Macht, Bunter.« »Hirngespinste«, entgegnete der Berater. »Glauben Sie wirklich, irgendwer braucht selbständig denkende Robotmaschinen? Das Gegenteil ist der Fall. Allerorts werden Arbeiter entlassen und durch willenlose Geräte auf zwei Beinen ersetzt – weil sie effektiver arbeiten und unproblematischer zu behandeln sind. Davon abgesehen ist es höchst unwahrscheinlich, daß es unseren Wissenschaftlern und Technikern gelingt, den Geist eines einzelnen Roboters auf andere Roboter zu übertragen. Wie auch? Wir wissen nicht einmal, wie sein Ichbewußtsein überhaupt entstanden ist. Artus ist und bleibt ein Ausnahmefall unter Millionen.« »Gerade das macht ihn ja so wertvoll«, erwiderte der Chinese. »Zugegeben, das mit der Serienproduktion war nur so eine vage Idee, die noch durchdacht werden muß...« »Im Zuchthaus haben Sie zum Nachdenken bestimmt jede Menge Zeit!« entgegnete Bunter in scharfem Tonfall.
Eigentlich war er alles andere als ein mutiger Mensch, aber er fürchtete sich vor den Konsequenzen für seine Beihilfe an den Verbrechen. Kuo-Feng überhörte seinen Tonfall und atmete tief durch. Ihm war bewußt, daß Bunter recht hatte. Und trotzdem... selbst wenn Artus nicht als Prototyp für weitere Roboter seiner Art geeignet war, handelte es sich bei ihm zweifelsohne um eine Besonderheit, aus der sich garantiert Kapital schlagen ließ. Andererseits hatte Kuo-Feng nicht vor, den Rest seines Lebens hinter Gittern zu verbringen. * Noch bevor ich die Tür zum Zellentrakt ganz geöffnet hatte, registrierte ich merkwürdige Laute, die ich praktisch ohne Zeitverzögerung analysierte. Jetzt kannte ich die Ursache für Savannahs Aufregung. Durch die Türritzen war der Rauch bis nach nebenan vorgedrungen. Der Sheriff beschimpfte mich beim Hereinkommen, mußte dabei aber ständig husten. »Laß uns frei, du gottverdammter Hurensohn!« verlangte er erbost. »Sonst hast du uns auf dem Gewissen, wenn das Biest in unsere Zelle eindringt!« Obwohl ich noch nie zuvor eine gesehen hatte, identifizierte ich »das Biest« erwartungsgemäß als Klapperschlange. Offensichtlich hatte sie genauso viel Angst vor den Anwesenden wie diese vor ihr. Mit drohend erhobener Klapper warnte sie uns, ihr ja nicht zu nahe zu kommen. Als ich einen Schritt auf sie zuging, verschwand sie blitzschnell in einer klaffenden Lücke zwischen zwei Fußbodenbrettern. Wahrscheinlich war sie auf demselben Weg ins Haus gelangt. Ob ich sie vertrieben hatte oder der Rauch, der sich nach dem Öffnen der Zwischentür verstärkt im
Zellentrakt ausbreitete, war letztlich unerheblich – Hauptsache, die Schlange war fort. Die Rauchschleier lichteten sich. Ich konnte die Umgebung wieder mit meiner normalen optischen Ausstattung erfassen. Mittlerweile waren auch die beiden Deputies aufgewacht. Der eine lag mit mehreren Rippenbrüchen auf der Pritsche, der andere kümmerte sich um ihn. Zusammen mit dem Sheriff befanden sie sich nach wie vor in der fest verschlossenen Zelle. Savannah lehnte kreidebleich an der Wand. Scheinbar mochte sie keine Giftschlangen. Allmählich beruhigte sie sich aber wieder. Ihre gesunde Gesichtsfarbe kehrte zurück. Wie gewohnt setzte sie ihr freches Mundwerk in Gang. »Dieser reparaturbedürftige Miefstall müßte dringend mal saubergemacht werden«, lästerte sie. »Was sind das für Zustände? Passiert es öfter, daß so ekliges Viehzeug ohne anzuklopfen hereingekrochen kommt?« »Crotalus viridis«, belehrte ich sie. »Besser bekannt unter der Bezeichnung ›Prärieklapperschlange‹, den Grubenottern zugehörig. Dank meines integrierten Geräuschkatalogs erfolgte die Identifikation schon vor Betreten des Raumes.« »Wie tröstlich, haargenau zu wissen, von wem man beinahe gebissen worden wäre«, bemerkte der Sheriff. Er deutete auf den Deputy mit den gebrochenen Rippen. »Holt gefälligst einen Arzt. Oder wollt ihr ihn krepieren lassen?« »Wir würden ihm gern helfen, doch Kuo-Feng hindert uns am Verlassen dieses ungastlichen Etablissements«, erwiderte ich. »Meine begrenzten medizinischen Kenntnisse beschränken sich leider ausschließlich auf die Theorie, doch vielleicht läßt sich mein gespeichertes Wissen auf diesem Gebiet in praktische Hilfestellung umwandeln.« Ich machte Anstalten, die Zelle aufzuschließen. In diesem Augenblick wurde die Hinterfront des Hauses von draußen beschossen. Ich erkannte den Klang des doppelten
Schweber-Bordgeschützes wieder. Unsere Gegner gingen in die Offensive – und wir in Deckung. Während Savannah und ich auf die Zwischentür zurobbten, um uns im angrenzenden Büro in Sicherheit zu bringen, krochen der Sheriff und sein unverletzter Deputy unter die Pritsche. Mehrere Kampfstrahlen zerfetzten die brüchige Wand aus Lehm und Stein. Einer traf den Verletzten am rechten Arm. Der Hilfssheriff schrie und versuchte, sich aufzurichten. Eine Sekunde später hatte er kein Gehirn mehr – sein Kopf bestand nur noch aus der unteren Hälfte. Eine Geschützsalve hatte seinem verbrecherischem Leben ein Ende gesetzt. Über Funk stellte ich Verbindung zum Bordrechner des Schwebers her. Hätte man ihn auf Autopilot geschaltet, wäre es mir ein Leichtes gewesen, seine Steuerung zu übernehmen und ihn in die Prärie zu schicken – im wahrsten Sinne des Wortes. Leider wurde er von seinem Fahrer manuell gelenkt. Auch die Geschütze bediente er manuell. Lediglich beim Anvisieren des Ziels leistete der Rechner Unterstützung, wie schon bei dem kurzen Gefecht auf dem Weizenfeld. Allein hier bot sich mir die Möglichkeit, den Angreifer kurzzeitig zu verwirren. Ohne Sichtkontakt zum Schweber erteilte ich dem Rechner vom Zellentrakt aus meine Befehle. Der Beschuß wurde schlagartig eingestellt. Ich erhoffte mir lediglich eine Verzögerung des Angriffs. Sobald der Schütze merkte, daß die Anzeige auf seinem kleinen Bordbildschirm nicht mit dem übereinstimmte, was er mit eigenen Augen durch die Frontscheibe sah, würde er die entsprechende Rechnerfunktion deaktivieren und das Ziel mit eigener Hand anvisieren. Seltsamerweise fiel kein einziger Schuß mehr. Auch sonst passierte nichts. Die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm?
In Deckung der letzten noch vorhandenen Rauchschwaden wagte ich mich bis zum Fenster vor und schaute hinaus auf die Straße. Kuo-Fengs Männer waren in mehrere Nahkämpfe verwickelt. Ihre Gegner waren derart schnell, daß ich sie zunächst nur schemenhaft ausmachen konnte, bis ich meine optischen Sensoren auf kürzere Bilderfassungszeiten umschaltete. Die vier Gestalten trugen Waffen, benutzten sie aber nicht. Statt dessen entwaffneten sie ihre überraschten Widersacher und schlugen sie mit bloßer Faust nieder. Kuo-Feng versuchte, in seinem Schweber zu entkommen. Jemand stellte sich dem davonrasenden Fahrzeug mitten in den Weg – ein Mann, den ich kannte. Einer, der offenbar das Risiko liebte. Savannah stand im Türrahmen zum Zellentrakt und wagte sich nicht näher. »Was geschieht da draußen?« fragte sie mich. Meine Antwort erfolgte im klassischen Westernstil – immerhin besaß ich umfangreiche geschichtliche Kenntnisse. »Wir sind gerettet. Die Kavallerie ist da.« * Eine halbe Stunde zuvor: Nachdem Jamies Laster über Nacht vollständig ausgeräumt worden war, wurde er geschreddert, um keine Spuren zu hinterlassen. Kuo-Feng, der wie Sheriff Cade beim Abladen persönlich mit Hand angelegt hatte, freute sich auf eine Mütze voll Schlaf. Cade machte es nichts aus, sich mal eine Nacht um die Ohren zu schlagen. Zum Fitwerden genügte ihm ein kräftiges Frühstück mit viel Kaffee. Im »Saloon« ließ er sich die dampfende braune Flüssigkeit schmecken. Während seine Lebensgeister allmählich zurückkehrten, sinnierte er über Tee und Kaffee und
beobachtete seine Umgebung. Der Wirt erledigte den Abwasch vom Vorabend. Die Morgenzeitungen wurden gebracht. Ein Vagabund mit Hund verzehrte eine Bockwurst und verließ kurz darauf die Gaststube. War auch besser für ihn. Cade erhob sich von seinem Stuhl und nahm sich eine der Zeitungen. Dann setzte er sich wieder hin und las die Titelschlagzeile. Einen Moment später war er hellwach. »Roboter mit Herz« stand in großen Lettern auf Seite eins. Die Unterzeile lautete: »Fernfahrerin Jamie Savannah und ihr ungewöhnlicher Freund auf Tour«. Der nachfolgende Artikel erzählte die Geschichte eines denkenden und fühlenden Roboters namens Artus, der sich im Hafen von New York auf die Ladefläche eines Lasters geschmuggelt hatte, um zum Raumflughafen von Alamo Gordo zu gelangen. Über seinen »Geburtsort« wurde nur spekuliert – die Verfasserin des Artikels wußte nichts darüber. Bei der Schilderung, daß Artus aus Angst vor den Menschen beabsichtigte, ins All zu flüchten, in der Hoffnung, auf fremden Planeten ein wenig Glück zu finden, drückte die Autorin ordentlich auf die Tränendrüsen. Gab es für seinesgleichen wirklich keinen Platz auf der Erde und in den Herzen der Terraner? Letztendlich wurde es dramatisch. Die Zeitungsleser erfuhren, in welcher Gefahr Artus und seine Freundin, die resolute Fernfahrerin Jamie, schwebten. Zweimal waren sie überfallen worden, zweimal dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen. Alles, was die Journalistin erfahren hatte, entstammte aus einem Vipho-Interview, das sie mit der Fernfahrerin kurz nach dem zweiten Überfall geführt hatte. Auch mit Artus hatte sie einige Worte wechseln können. Seine herzliche, warme Art hatte sie fasziniert. Seitdem verlor sich die Spur der beiden in den endlosen Weiten der Prärie.
Sheriff Cade griff sich die Zeitung, lief zu seinem Office hinüber und benachrichtigte dabei umgehend Kuo-Feng. Der chinesische Fabrikant hatte in den vergangenen Stunden keine Nachrichten gehört oder gelesen. Am Suprasensor zappte er sich durch mehrere Info-Bildkanäle. Im Prinzip wurde überall das gleiche über Artus und Jamie berichtet, in leicht veränderten Variationen, mal mit mehr, mal mit weniger phantasievollen Spekulationen. Lediglich Terra-Press schien etwas genauer informiert zu sein, allerdings wußte man auch dort nichts über die Geburtsstätte des Roboters und seinen jetzigen Aufenthaltsort. Die Vermutung lag nahe, daß Redakteure von Terra-Press die Geschichte zuerst gebracht und alle anderen von ihnen abgekupfert hatten. Nicht nur Cade und Kuo-Feng verfolgten die Berichterstattung über Artus mit besonderem Interesse. Echri Ezbals Cyborgs waren ihrer Schöpfung längst auf der Spur. Sie hatten die aktuelle Meldung bereits in der Nachtsendung von Terra-Press empfangen. Mit einem schnellen Privatjett hatten sich Jan Burton, Ule Cindar und die Snide-Zwillinge auf den Weg nach New York gemacht, um sich im Hafen umzuhören. Nach der intensiven Befragung des Gelegenheitsarbeiters Rollo Rackham konnten sie das Gebiet, in dem Jamie vermutlich unterwegs war, einigermaßen eingrenzen. Er gab ihnen für die Suche eine aus dem Gedächtnis gefertigte Kopie einer Straßenkarte mit und ließ sich dafür mit einer Flasche Schnaps belohnen. Alles weitere verdankten sie dem fortwährenden Abhören mehrerer regionaler Polizeifunkstationen. Ein anonymer Anrufer unterrichtete die Behörden von der Belagerung des Sheriff's Office von Tranquility. Sofort wurde ein Polizeitrupp formiert, um dem scheinbar bedrohten Sheriff zu Hilfe zu kommen.
Die Cyborgs trafen früher als die Beamten am Ort des Geschehens ein. Sie landeten ihren Jett am Stadtrand und schlichen sich lautlos an. Vier schlachterprobte Cyborgs gegen vier kämpferisch unerfahrene Schreibtischtäter (drei waren noch bewußtlos) – das war wie eine riesige Armee gegen eine ängstliche Maus. Kuo-Fengs Leute hatten nicht einmal den Hauch einer Chance. Ezbals Trio verzichtete bewußt auf den Einsatz von Waffen, um ein Blutbad zu vermeiden. Ihre völlig überraschten Gegner kamen nicht dazu, Blaster oder Karabiner zu benutzen, so schnell wurden sie überwältigt. Kuo-Feng bekam zunächst nichts vom Blitzkrieg der Cyborgs mit. Er saß in seinem Spezialschweber und nahm die Rückfront des maroden Bürogebäudes unter Beschuß. Daß er dabei auch Cade und seine Hilfssheriffs treffen könnte, war ihm egal. Die wahrscheinliche Zerstörung des Roboters belastete ihn mehr. Ihm war jedoch bewußt, daß es keinen anderen Ausweg gab. Bunter hatte recht, die Frau durfte nicht entkommen. Ihre Zeugenaussage konnte sie alle ins Zuchthaus bringen. Plötzlich spielte die Zielautomatik verrückt. Auf dem Bildschirm zeigten sich die gegenüberliegenden Häuser, obwohl Kuo-Feng das Office direkt vor sich sah. Er wählte eine andere Schußposition und visierte nun – laut Bildanzeige – die Kirche an. Kurzerhand schaltete er auf völligen Handbetrieb um. In diesem Augenblick fiel ihm auf, daß seine Leute in Zweikämpfe verwickelt waren. Einer nach dem anderen wurde überwältigt – nicht von einem übermächtigen Heer, sondern von vier ungeheuer beweglichen Fremden. Guan Kuo-Feng ergriff die Flucht. Einer der Fremden stellte sich seinem Schweber mitten in den Weg.
Der Chinese machte sich erst gar nicht die Mühe, auf das lebende Hindernis zu schießen. Ungebremst raste er auf die scheinbar lebensmüde Person zu, um sie zu überfahren. Zu Guans Erstaunen lief das ausersehene Opfer dem Fahrzeug entgegen. In letzter Sekunde stieß sich der Mann vom Boden ab, sprang mit dem rechten Fuß voran vorn auf den Schweber und rannte über ihn hinweg, wie über einen stillstehenden Gegenstand. Auf der anderen Seite landete er sicher mit dem linken Fuß zuerst auf dem Straßenasphalt, lief noch ein Stück weiter und drehte sich dann um – mit einem Blaster in den Händen. »Alles Berechnung«, murmelte Burton, der Logistiker unter den Cyborgs. Wieder einmal hatte er das Risiko gesucht und gefunden. Um es spannender zu gestalten, hatte er sogar darauf verzichtet, aufs Zweite System umzuschalten. Noch im Laufen hatte er die schwere Waffe gezogen. Gezielt feuerte er eine Strahlensalve auf den Flüchtenden ab. Kuo-Feng verlor die Kontrolle über den Schweber und jagte gegen eine Mauer. Dabei wurde er aus dem Fahrzeug geschleudert. Schwerverletzt blieb er im Straßendreck liegen. * Der Polizeitrupp traf zeitgleich mit dem Rettungsschweber ein, den die Cyborgs per Armbandvipho alarmiert hatten. Unter Bewachung wurden die Verletzten ins nächste Krankenhaus abtransportiert. Den Rest der Bande brachte man ins Gefängnis von Kansas City. Um die Gaffer zu zerstreuen, sprach ein leitender Polizeibeamter zu der Menge und faßte das Geschehen so gut es ging kurz zusammen. Sein provisorischer Bericht endete mit den Worten: »Alles weitere erfahren Sie aus den Nachrichten. Guten Heimweg.«
Artus, der sich auf der alten Veranda aufhielt, verspürte ein beklemmendes Angstgefühl. Seine Erschaffer hatten ihn gestellt – und gleich ein ganzes Polizeiaufgebot mitgebracht. Ging es ihm jetzt an die Substanz? »Denkst du an Flucht?« erkundigte sich Jamie, die neben ihm stand. »Hätte ich denn eine Chance?« »Gegen die Kavallerie? Niemals. Sie kommt immer rechtzeitig und siegt jedesmal – zumindest in den verstaubten Schwarzweißfilmchen des Oldiekanals.« Die Polizei wußte nicht so recht, wie sie sich den vier unbekannten Helfern gegenüber verhalten sollte. Einerseits gab es keinen Grund, sie festzunehmen. Andererseits handelte es sich um wichtige Zeugen, die ins Geschehen verwickelt waren. Also mitnehmen aufs Revier? Ein schneller sportlicher Schweber kam herangebraust und hielt am Straßenrand. Der Fahrer stieg aus. Trotz seines rasanten Fahrstils sah er nicht wie ein Rennfreak aus – eher wie der Guru einer indischen Sekte. »Wie kommen Sie so schnell hierher?« staunte Charly Snide. »Ich habe Sie doch erst vor kurzem benachrichtigt.« »Ich wäre noch früher eingetroffen«, antwortete ihm Echri Ezbal. »Doch der nächstgelegene funktionstüchtige Transmitter steht in Kansas City – glücklicherweise in unmittelbarer Nähe eines Schweberverleihs. Eigentlich habe ich nicht viel übrig für diese primitive Art der Fortbewegung, doch ich muß zugeben, es machte mir Spaß, mit einem so schnittigen Fahrzeug über den Asphalt zu flitzen.« Ausgestattet mit den nötigen Regierungsvollmachten befreite er die Polizisten aus ihrem Dilemma. Er gab den Beamten Anweisung, sich nicht weiter mit den Cyborgs zu befassen und sich ausschließlich auf die Strafverfolgung des Fabrikanten und dessen Mörderbande zu konzentrieren.
Nachdem das abgeklärt war, begab sich Ezbal zu seiner außergewöhnlichen Schöpfung. Er nickte Jamie zur Begrüßung zu und ergriff den Roboter am Metallarm. Artus löste sich hektisch aus dem Griff. So einfach wollte er sich nicht abführen lassen. »Ich will dir nichts tun«, versprach ihm der mittlerweile einhundertjährige Inder. »Ich möchte mich nur mit dir unterhalten – sozusagen ein ›Vater-Sohn-Gespräch‹ unter vier Augen.« Beide begaben sich auf einen längeren Spaziergang in die Prärie. Behutsam, mit viel psychologischem Geschick, machte Ezbal dem Roboter klar, daß er jedes Leben achtete – insbesondere jedes intelligente Leben. »Ich konnte mir bislang nur nicht vorstellen, daß hochentwickelte Maschinen wie du ein Bewußtsein zu entwickeln vermögen. Diese Tatsache zu akzeptieren fällt mir nicht leicht, widerspricht sie doch allen Thesen der Naturlehre. Ehrlich gesagt, ich begreife nicht, wie das geschehen konnte. Nur der Einbau der vierundzwanzig miteinander vernetzten Programmgehirne kann das unmöglich bewirkt haben.« »Wie gelangt ihr Menschen denn zu eurem Bewußtsein?« stellte Artus ihm die wohl schwierigste Frage, die er je gehört hatte. Ezbal mußte bei der Antwort passen. »Den biologischen Vorgang einer menschlichen Befruchtung und Geburt könnte ich dir bis ins kleinste Detail erklären – aber über den Urschrei, den Augenblick des Bewußtwerdens, weiß ich absolut nichts. Ein kluger Kopf hat mal gesagt: ›Ich denke, also bin ich.‹ Doch darüber, wie er das wurde, was er war, verlor er kein Wort.« »Ich denke, also bin ich«, wiederholte Artus. »Der Satz gefällt mir. Solange ich nicht aufhöre zu denken, existiere ich – ganz gleich in welcher Form.«
Ezbal redete mit ihm über die Bedeutsamkeit der Arbeit im Brana-Tal. »Hättest du was dagegen, wenn wir dort noch einige Tests mit dir durchführen?« fragte er ihn anschließend freiheraus. »Was bekomme ich dafür?« entgegnete der Roboter ebenso freizügig. »Donnerwetter!« entfuhr es dem Brahmanen. »Du scheinst von den Menschen gelernt zu haben. Was verlangst du?« »Ich möchte ins All.« »Aber du hast keinen Grund mehr, von Terra zu fliehen, ehrlich. Aufgrund der weltweiten Presseberichterstattung werden dir die Herzen der Menschen nur so zufliegen.« »Ich will nicht fliehen. Ich bin nur neugierig aufs Weltall und möchte andere Planeten und deren Bewohner kennenlernen. Versprechen Sie mir, diesen Wunsch zu erfüllen, sobald die Tests beendet sind?« Ezbal gab ihm das Versprechen. Artus spürte, daß er es gut mit ihm meinte. Im Überschwang der Freude klopfte er dem Inder auf die Schulter, eine vorsichtig ausgeführte Geste, deren Bedeutung in seinem Speicher unter »menschliche Kameradschaftsgesten« aufgeführt war. »Ich mag dich, Ezbal«, sagte er. »Du bist so richtig zum Gernhaben – ein waschechter Dreckfresser.« * Jamie Savannah bekam nicht nur ihren Lastenschweber von der Versicherung ersetzt – sie erhielt auch den Dauerauftrag, auf den sie gehofft hatte. Die Firma spendierte ihr sogar eine saftige Sonderprämie, weil sie nicht unwesentlich mitgeholfen hatte, die Verbrecherbande um Guan Kuo-Feng auszuschalten. Artus sah sie noch einmal auf einer Pressekonferenz wieder. Beide wurden von den Journalisten so oft gemeinsam
fotografiert und gefilmt, daß das Archivmaterial wahrscheinlich für tausend Jahre reichte. Der Roboter versprach ihr, auch weiterhin in Kontakt mit ihr zu bleiben. »Dürfte schwer werden, dieses Versprechen einzuhalten«, meinte Jamie und rang sich ein Lächeln ab. »Wir beide sind ein Stück des Weges gemeinsam gegangen – nun gabelt sich der Pfad, und jeder geht in eine andere Richtung weiter. Und sollten wir uns eines schönen Tages irgendwo begegnen, ist vermutlich nichts mehr, wie es war.« Rasch wischte sie sich eine verstohlene Träne aus dem Augenwinkel. Auch Artus verspürte Wehmut. Doch so sehr er sich auch bemühte, Tränen kamen ihm nicht. Weinen zu können blieb allein den Menschen vorbehalten. * Während Chris Shantons ständig auf Hochtouren laufender Geist seine urpersönlichste Weltanschauung an Bord der H'LAYV in die Tat umsetzte und er mit seiner Neugierde die galoanischen Wissenschaftler zu schierer Verzweiflung trieb, näherten sich die drei Raumschiffe endlich jenem Raumsektor, in dem die Dunkelwolke lag. Und ihr erklärtes Ziel, das Gebiet der Rahim. Ren Dharks Hand schloß einen Kontakt. Der Astronom Jens Lionel blickte von einem Monitor der Hauptkonsole. »Commander?« »Können Sie mir schon ein paar Informationen über die Dunkelwolke geben, Jens?« erkundigte sich Ren Dhark und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das weißblonde Haar; äußeres und einziges Zeichen seiner inneren Anspannung. »Sekunde, Commander.«
Lionel sprach kurz mit seinem Mitarbeiter Jerome Sheffield außerhalb des Erfassungsbereiches der Aufnahmeoptik, dann wandte er sich wieder an Ren Dhark. Mittlerweile hatte sich die Zentrale der POINT OF wie auf ein geheimes Alarmsignal hin gefüllt; alle Plätze waren besetzt. Wer keinen Platz fand, ließ sich im Hintergrund in den Sesseln der Ruhezone nieder. Dan Riker scheuchte Hen Falluta aus dem Sitz des Ko und sah gespannt auf die Bildkugel, auf der die Dunkelwolke unübersehbar mehr und mehr an Umfang gewann. »Keine Dunkelwolke im herkömmlichen Sinn, Commander, so viel können wir schon sagen.« »Sind Sie sicher, Mister Lionel?«, wollte Dan Riker wissen. Der schwarzhaarige, hagere Mann rieb sich unbewußt das Kinn, auf dem sich der rote Fleck abzuzeichnen begann, der über seinen Erregungszustand Zeugnis ablegte. »Natürlich nicht«, versetzte Jens Lionel harsch, »dafür haben wir noch zu wenig gesicherte Daten. Aber rein vom Optischen her erscheint sie uns zu symmetrisch.« »Symmetrisch?«, erregte sich Dan Riker. »Was ist das denn wieder für ein Ausdruck?« »Warten wir ab, bis wir mehr Daten haben«, entschied Ren Dhark und beendete die Diskussion. Im Intervallschutz drangen sie in langsamer Überlichtfahrt in die kosmische Staubwolke ein – und wieder aus ihr hervor! Zu ihrer aller Überraschung stellten sie fest, daß die vermeintlich unstrukturierte Dunkelwolke eher eine Schale, eine kugelförmige Hülle um eine dichte Sternenballung war, deren einzelne Sonnen nur ein bis zwei Lichtmonate auseinanderlagen, wie ein völlig überraschter Bordastronom Jens Lionel dem Commander erklärte. »Ein ideales Versteck«, murmelte Ren Dhark, dessen Gedanken rotierten, »für jemanden, der sich von der galaktischen Bühne zurückziehen will. Findest du nicht, Dan?«
»Du sagst es«, nickte Dan Riker, der ahnte, worauf sein Freund hinauswollte. Lionel fuhr fort: »Der Strahlungsdruck der Sonnen hält das Innere der Dunkelwolke... Moment«, unter einem Nebendisplay auf Tino Grappas Konsole glitten seine Finger virtuos über eine Tastatur, über die er in einen stummen Dialog mit seinem Großgerät trat. »Ja, wie ich schon dachte«, kommentierte er zufrieden das Ergebnis und trat wieder zurück, »der Strahlungsdruck der Sonnen hält also das Innere der Dunkelwolke, die einen Durchmesser von insgesamt 83 Lichtjahren besitzt, frei von Staubpartikeln. Und noch etwas, Commander«, bemerkte Jens Lionel. »Auf den Planeten im Innern dieser Sternenballung wird es vermutlich niemals richtig Nacht, weil der Himmel durch die nahe beieinanderstehenden Sonnen recht hell ist.« Ren Dhark nickte dem Astronom zu. »Danke, Lionel.« »Wenn wir nur eine klitzekleine Ahnung hätten, was uns erwartet«, äußerte Dan Riker. Ren Dhark öffnete einen Kontakt. »Shodonn«, sagte er dann, als sich der Galoaner vom Monitor meldete, der über seine kybernetischen Sinne über alles informiert war, »wissen die Galoaner wirklich nichts über diese Sternenballung?« »Nein, Commander«, bedauerte Shodonn und gestand im gleichen Atemzug, daß die Galoaner aus Furcht vor den Rahim, ob begründet oder nicht, diesen Teil der Galaxis nie angeflogen oder in ihm Handel getrieben hatten. Es existierte in den galoanischen Aufzeichnungen nicht einmal der kleinste Datenkrümel astronomischen oder astrophysikalischen Inhaltes. Der Verband aus zwei Ringschiffen und einem Zylinderraumer drang währenddessen immer tiefer in die Sternenballung ein. »Grappa!«
»Commander?« Der junge Mailänder, der als Ortungsspezialist schon manches Unmögliche möglich gemacht hatte, sah von seiner Konsole auf. »Ich will alle Ortungsergebnisse, die Sie irgendwie hereinbekommen, auf meiner Anzeige haben! Gehen Sie auf Fernerkundung!« »Läuft schon, Commander.« In der Zentrale der POINT OF machte sich verhaltene Unruhe bemerkbar. Eine Mischung aus Nervosität und unbestimmter Erwartung. Aber nicht nur in der Zentrale. Überall im Schiff, wo auch immer die verkleinerten Ausführungen der Bildkugel zeigten, was sich im Weltraum abspielte. »Leon. Irgendwelche Funksignale?« Leon Bebir tat Dienst in der Funk-Z. »Negativ, Commander.« »Positiv!«, widersprach in diesem Augenblick der Checkmaster, das Superhirn des Ringraumers. »Quatsch«, erwiderte Bebir verblüfft und auch ärgerlich, weil seine Kompetenz angezweifelt wurde durch diese Meldung des Checkmasters. Seine Finger tanzten über die Bedienungsfelder der Funkpeilung. »Ich habe nichts außer dem Hintergrundgeräusch des Universums. Keine Hyperfunksignale, keine drahtlose Übermittlung von Nachrichten. Ich bin die ganze Bandbreite rauf- und runtergefahren, Commander. Da ist nichts!« »Positive Signale auf den Frequenzen...«, der Checkmaster nannte eine ganze Reihe von Frequenzen. Zusätzlich peilte er zur weiteren Überraschung der Besatzung der POINT OF ein System mit besonders viel Funkverkehr an. »Tino?« Dharks Stimme klang leicht gereizt. »Können Sie dieses System ebenfalls orten?«
Tino Grappa hob mit einem fatalistischen Mienenspiel die Schultern und verneinte. »Leon?« Bebir hob beide Hände und schüttelte nur den Kopf. Ren Dhark nahm seine Unterlippe zwischen die Zähne. »Was geht da vor?«, murmelte er. Dan Riker übernahm die Initiative. »Kannst du uns die Quelle zeigen, Checkmaster?« Der Checkmaster produzierte eine ganze Reihe von Daten und Koordinaten in einem Nebenfenster der Bildkugel. Bebirs und Grappas Anzeigen brachten erneut keinerlei Ergebnis. Auch Jens Lionel, der seinen Astrosuprasensor mit diesen Daten fütterte, bekam keine positive Rückmeldung. »Checkmaster!« Ren Dhark wurde nicht laut, aber der harte Klang seiner Stimme hatte den gleichen Effekt. »Bring das Schiff zu deinen Koordinaten!« Das Superhirn der Mysterious übernahm im selben Augenblick sämtliche Funktionen der POINT OF und verurteilte die Besatzung zur Untätigkeit. Es beschleunigte den Ringraumer und die beiden anderen Schiffe im Intervallverbund mit unglaublichen Werten. Die Zeit verrann. Schließlich verlangsamte sich die rasende Fahrt. Die POINT OF und mit ihr die MAYHEM und H'LAYV bremsten und kamen zum Stillstand. »Ziel erreicht!«, meldete der Checkmaster. Ren Dhark beugte sich vor. Auf seinem Gesicht spiegelten sich widerstreitende Emotionen, als er auf die Bildwiedergaben starrte. »Aber – aber«, er stotterte fast, »aber da ist ja nichts!?« Die drei Schiffe hatten auf Geheiß des Checkmasters mitten im leeren Raum angehalten. Nichts war auf den Schirmen zu erkennen. Keine Sonne, keine Planeten.
Und natürlich auch keine Funksignale auf den Oszillos. »Checkmaster«, Dan Rikers Stimme klang gepreßt. »Kann es sein, daß du den Verstand verloren hast, oder ist sonstwie deine Funktionstüchtigkeit beeinträchtigt? Du läßt uns mitten im...« In diesem Moment geschah Unfaßbares und brachte alle zum Verstummen. Etwas drang in die Hirne aller intelligenten Lebewesen ein und brachte deren Funktionen zum erliegen. Wahnsinnige Schmerzattacken schüttelten Ren Dhark und jeden anderen an Bord der drei Schiffe und ließen sie in hilfloser Ohnmacht zusammensinken. Der einzige, der diesem Ansturm der Höllenqualen entging, war Shodonn. Aber der war in seinem Seelenchip gefangen, was aufs Gleiche herauskam.
REN DHARK Drakhon-Zyklus Band 9 Das Sternenversteck erscheint Mitte Dezember 2001
Event Ren Dhark Event 2001 – Ein Abend mit Ren Dhark im Mercure Hotel Koblenz 6. Oktober 2001 REN DHARK präsentiert: Hajo F. Breuer, Manfred Weinland, Uwe Helmut Grave, Ömer Giray und Hansjoachim Bernt 35 Jahre REN DHARK, sieben Jahre REN DHARK Buchausgabe und ein erfolgreiches Jahr der Fortsetzung sind für uns Grund genug, in kleiner Runde mit unseren Lesern zu diskutieren und natürlich auch zu feiern. Seien Sie dabei, wenn wir Zukunft schreiben! Werfen Sie einen Blick hinter die Kulissen der REN DHARK-Serie und lernen Sie die Menschen hinter den Büchern kennen. Seien Sie dabei, wenn wir über die Zukunft von Ren Dhark reden, und stehen Sie im direkten Austausch mit den Romanautoren und dem Exposéautor, wenn es um die nächsten Abenteuer unserer Helden geht. Uwe Helmut Grave nimmt Sie mit auf seiner Reise zu REN DHARK und berichtet über die Herausforderungen, nach Expose zu schreiben. Manfred Weinland und Hajo F. Breuer erzählen über die Wirrungen in der alten Heftserie und die Schwierigkeiten, daraus eine straff geschriebene Buchreihe zu machen. Aber wir möchten Ihnen nicht nur ein interessantes Programm und den Kontakt zu unseren Autoren bieten, sondern wir möchten auch SIE kennenlernen. Dazu findet am Abend ein exquisites Dinner statt, bei dem Sie sich mit Gleichgesinnten, Ömer Giray und Autoren im direkten Dialog austauschen können.
Nach einer großen Diskussionsrunde über REN DHARK, Interviews mit den Machern und Anregungen über den weiteren Verlauf der Reihe bietet sich schlußendlich die Hotelbar als Schauplatz eines ereignisreichen Abends mit offenem Ende an. Schon seit Generationen ist dies immer wieder der kommunikativste Ort im Leben von Autoren und Fans. So manch legendärliterarischer Abend an der Bar blieb allen Teilnehmern stets in unvergeßlicher Erinnerung. Der REN DHARK-Event findet am Samstag, dem 6. Oktober 2001, ab 16 Uhr im Mercure Hotel in Koblenz statt (direkt zwischen der Rhein-MoselHalle und der Pfaffendorfer Brücke). Die Zahl der Gäste ist streng auf 80 Personen limitiert, um eine private und festliche Atmosphäre zu gewährleisten. Sichern Sie sich also schnell eine Karte im Vorverkauf auf unserer Homepage www.ren-dhark.de oder durch telefonische Bestellung unter 0 26 31 – 35 48 32 Die Teilnahme am REN DHARK-Event kostet inklusive Dinner und einer Überraschung 75 DM. Sie sind sich noch nicht schlüssig? Verbinden Sie doch einfach den wundervollen Abend mit einem Wochenendbesuch in der traditionsreichen Stadt Koblenz, deren bekannte Sehenswürdigkeiten immer eine Reise wert sind! Für unsere Gäste haben wir exklusive Hotelkonditionen ausgehandelt: Einzelzimmer: 189,00 DM
Doppelzimmer: 231,00 DM
inklusive reichhaltigem Frühstücksbuffet! (Abrufbar bis zum 01.09.2001 unter dem Stichwort "HJB") Zimmerreservierungen richten Sie bitte an: Hotel Mercure Koblenz, Julius-Wegeler-Straße 6, 56068 Koblenz Telefon (49) 0261/1 36-0, Telefax (49) 0261 / 1 36 11 99 E-Mail:
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