„Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts
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„Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts
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Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln Herausgegeben von Andreas Speer
Band 31
„Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts
Walter de Gruyter · Berlin · New York
„Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts
Herausgegeben von Jan A. Aertsen und Martin Pickave´
Walter de Gruyter · Berlin · New York
ISBN 3-11-018261-0 ISSN 0544-4128 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ” Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Satz: META Systems GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co GmbH, Göttingen
Editorial Dem 23. Band der Miscellanea Mediaevalia stellte Jan A. Aertsen seinerzeit ein Vorwort voran, in dem er sich als Herausgeber in der Nachfolge Albert Zimmermanns nachdrücklich zu den Prinzipien dieser Reihe bekannte, die der Begründer der Miscellanea Mediaevalia, Paul Wilpert, in der Einleitung zum ersten Band aufgestellt hatte. Als einen „Beitrag und ein Organ des Gesprächs zwischen den Fakultäten und zwischen den Forschern, die sich in irgendeiner Weise mit dem Mittelalter beschäftigen“, wollte Paul Wilpert die neue Reihe verstanden wissen. Damit waren die Miscellanea Mediaevalia, die von Anfang an in enger Verbindung mit den Kölner Mediaevistentagungen gestanden haben, ihrer Zeit in mancherlei Hinsicht voraus. Denn von nichts anderem spricht Paul Wilpert in der von forschungspolitischen Schlagworten noch weitgehend unbelasteten Sprache seiner Zeit als von Interdisziplinarität. Dieses interdisziplinäre Gespräch war von Anbeginn an mit der Gründungsidee des Thomas-Instituts und insbesondere der Mediaevistentagungen verbunden. Auch der vorliegende 31. Band geht auf eine Kölner Mediaevistentagung zurück. Zugleich ist mit ihm wiederum ein Wechsel in der Herausgeberschaft verbunden. Es ist daher nun an mir, diesem Band einige einleitende Worte voranzustellen. Dies kann in aller Kürze geschehen, denn im Grunde ist das Programm der Miscellanea Mediaevalia aktueller denn je, wenn sich auch manche Vorzeichen verändert haben. Ging es in der Anfangszeit noch darum, überhaupt Möglichkeiten der Begegnung und der Zusammenarbeit zu schaffen, so scheint die Gelegenheit zum Gespräch heutzutage paradoxerweise durch die Vielzahl sich zugleich immer weiter verzweigender Möglichkeiten bedroht. Daher wollen die Miscellanea Mediaevalia auch künftig vorrangig ein Forum für größere fachübergreifende Zusammenhänge, Themen und Fragestellungen bieten. Mit dieser Aufgabe sind in der gegenwärtigen Forschungslandschaft neue Herausforderungen verbunden. Doch zeigt gerade der Rückblick, dass es keinen Grund gibt, diesen Herausforderungen nicht mit Zuversicht und Neugier zu begegnen. In diesem Sinne nehme ich den Staffelstab von meinen Vorgängern im Amt des Direktors des Thomas-Instituts und als Herausgeber der Miscellanea Mediaevalia auf. Zugleich hoffe ich auch künftig auf das ungebrochene Interesse und auf die kritische Solidarität der Autoren und Leser, ohne die auch diese Reihe nicht bestünde. Mein abschließender Dank gilt dem Verlag Walter de Gruyter, der die Reihe seit ihrer Gründung in bewährter Weise ausstattet, und aus gegebenem Anlass insbesondere Frau Grit Müller, die unzählige Bände der Miscellanea Mediaevalia editorisch mit größter Sorgfalt betreut hat. Köln, im Juli 2004 Andreas Speer
Vorwort Der vorliegende Band der Miscellanea Mediaevalia enthält die Akten der 33. Kölner Mediaevistentagung, die unter dem Generalthema „Herbst des Mittelalters? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts“ vom 10. bis 13. September 2002 in Köln stattgefunden hat. Die von diesem Thema umrissene Periode gilt in der Mediävistik bisweilen als problematisch. Zumindest für die philosophische Mediävistik darf dieses Urteil Gültigkeit beanspruchen, denn aufgrund der zahlreichen und höchst unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Strömungen haftet dieser Zeit der Makel der Unübersichtlichkeit an. Daraus resultiert eine Reihe ganz unterschiedlicher Wertungen, mit denen in der modernen Forschung einzelne spätmittelalterliche Entwicklungen und Gestalten bedacht werden. Sie reichen von Verfall und Dekadenz bis hin zu Renaissance und radikalem Neuanfang. Durch die Wahl des Tagungsthemas wollten die Organisatoren zum Ausdruck bringen, dass sie diese Zeitspanne gerade auch wegen deren ambivalenter Beurteilung interessiert. Mit Blick auf die nun vorliegenden Beiträge und die rege Beteiligung an der vergangenen Tagung, die ca. 230 Forscherinnen und Forscher aus 18 Nationen nach Köln geführt hat, kann man wohl davon sprechen, dass dieses Interesse von vielen geteilt wurde. Die hier vorliegenden Aufsätze beanspruchen in keiner Weise, eine umfassende und einheitliche Neubewertung des 14. und 15. Jahrhunderts zu bieten. Dazu zeichnen sie sich durch zu unterschiedliche Herangehensweisen aus: Einige versuchen, besondere spätmittelalterliche Entwicklungen nachzuzeichnen, andere setzen das Spätmittelalter mit den anschließenden Epochen in Beziehung und wiederum andere hinterfragen unseren modernen Blick auf diese Zeitspanne. Die Reihe der insgesamt elf Sektionen beginnt mit einigen Beiträgen zum Spätmittelalter in den Deutungen von Johan Huizinga und Hans Blumenberg. Philosophische Themen, die traditionell einen Schwerpunkt der Mediaevistentagungen bilden, werden in drei verschiedenen Sektionen behandelt, wobei der Ethik und der Naturphilosophie besonderes Gewicht zukommen. Weitere Abschnitte thematisieren die spätmittelalterlichen Wissenschaftsinstitutionen, Aspekte der Wirtschafts- und Rechtsgeschichte sowie die Architektur. Jean Gerson und Nikolaus von Kues gehören ohne Zweifel zu den herausragenden Figuren des Spätmittelalters. Diesem Rang entsprechend erfahren sie in eigenen Sektionen Behandlung. Ein Abschnitt behandelt die Wechselwirkungen von arabisch-lateinischer und jüdisch-lateinischer Philosophie. Abgeschlossen wird der Band mit einer Sektion zur spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Spiritualität. Im Rückblick auf die vergangene Tagung möchten wir allen danken, die durch ihre Unterstützung und ihren Einsatz zu einem Gelingen der Veranstaltung bei-
VIII
Vorwort
getragen haben. An erster Stelle sind hier diejenigen Organisationen zu nennen, die durch ihre finanzielle Förderung ermöglicht haben, dass die Tagung im geplanten Rahmen stattfinden konnte: die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Otto Wolff-Stiftung und die Universität zu Köln, denen wir unseren aufrichtigen Dank aussprechen. Danken möchten wir ferner dem Rektor der Universität zu Köln, Herrn Prof. Dr. Tassilo Küpper, dafür, dass er auch auf der letzten Mediaevistentagung eine gute Tradition fortgeführt und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einem abendlichen Empfang in den Alten Senatssaal der Universität gebeten hat. Ein besonderer Höhepunkt der Tagung war sicherlich die kunsthistorische Nachmittagssektion im Wallraf-Richartz-Museum/Fondation Corboud. Für die erwiesene Gastfreundschaft sei dem Direktor des Museums, Herrn Dr. Rainer Budde, an dieser Stelle herzlichst gedankt. Ohne die tatkräftige Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Thomas-Instituts wäre die Organisation und Durchführung einer Veranstaltung wie der Kölner Mediaevistentagung kaum denkbar. Wir sind Petra Abendt und Wolfram Klatt sowie den studentischen Hilfskräften des Instituts für ihr großes Engagement in höchstem Maße verbunden. Ein großer Dank für die Unterstützung bei der Drucklegung des vorliegenden Bandes gilt Petra Abendt und Sabine Folger-Fonfara. Zu einem besonderen Dank sind wir Lydia Wegener verpflichtet, die sich mit ihrer Kompetenz und durch eine umfangreiche Mitarbeit in herausragender Weise um die Veröffentlichung verdient gemacht hat und ohne die ein zügiges Erscheinen nicht möglich gewesen wäre. Schließlich möchten wir dem Verlag Walter de Gruyter, namentlich Frau Dr. Sabine Vogt und Frau Annelies Aurich, für die gewohnt umsichtige Betreuung des Bandes herzlich danken. Jan A. Aertsen Martin Pickave´
Inhaltsverzeichnis
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Jan A. Aertsen Einführung: Kontinuität und Diskontinuität . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII
I. Das Spätmittelalter bei Huizinga und Blumenberg Hans Gerhard Senger (Köln) Eine Schwalbe macht noch keinen Herbst. Zu Huizingas Metapher vom Herbst des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . William J. Courtenay (Madison) Huizinga’s Heirs: Interpreting the Late Middle Ages . . . . . . . . . . . J¸rgen Goldstein (Koblenz) Zwischen Texttreue und Spekulation. Hans Blumenbergs Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds am Beispiel des Spätmittelalters . . .
3 25 37
II. Zur Philosophie des Spätmittelalters G¸nther Mensching (Hannover) Hat Nicolaus von Autrecourt Aristoteles widerlegt? . . . . . . . . . . . . 57 Gerhard Krieger (Trier) „Plato dicebat “ - Überlegungen zur Renaissance des Platonismus im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Ruedi Imbach (Paris) Virtus illiterata. Zur philosophischen Bedeutung der Scholastikkritik in Petrarcas Schrift „De sui ipsius et multorum ignorantia“ . . . . . . . . . 84 Martin Lenz (Cambridge) Oratio mentalis und Mentalesisch. Ein spätmittelalterlicher Blick auf die gegenwärtige Philosophie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
X
Inhaltsverzeichnis
III. Spätmittelalterliche Wissenschaftsinstitutionen Maarten J. F. M. Hoenen (Leuven) Zurück zu Autorität und Tradition. Geistesgeschichtliche Hintergründe des Traditionalismus an den spätmittelalterlichen Universitäten . . . . . Marek Gensler (Lo´dz´) The Late Medieval University as an Institution of Learning: More Learning or More Institution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sigrid M¸ller (Wien) Sprache, Wirklichkeit und Allmacht Gottes. Das Bild der moderni bei Johannes Capreolus (1380-1444) und seine Bedeutung im Kontext der Schulbildung des 15. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marc-Aeilko Aris (Bonn) Grübelnde Mönche. Wissenschaft in spätmittelalterlichen Kartausen . .
133 147
157 173
IV. Wirtschafts- und Rechtsgeschichte Hans-Joachim Schmidt (Fribourg) „Bien public“ und „raison d’Etat“. Wirtschaftslenkung und Staatsinterventionismus bei Ludwig XI. von Frankreich? . . . . . . . . . . . . . . . 187 Eberhard Isenmann (Köln) Zur Rezeption des römisch-kanonischen Rechts im spätmittelalterlichen Deutschland im Spiegel von Rechtsgutachten . . . . . . . . . . . . 206
V. Architektur Norbert Nußbaum (Köln) Konformität und Individualität in der deutschen Architektur nach 1350 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
VI. Spätmittelalterliche Moralphilosophie Theo Kobusch (Bonn) Analogie im Reich der Freiheit? Ein Skandal der spätscholastischen Philosophie und die kritische Antwort der Neuzeit . . . . . . . . . . . . 251 Isabelle Mandrella (Trier) Die Autarkie des mittelalterlichen Naturrechts als Vernunftrecht: Gregor von Rimini und das etiamsi Deus non daretur-Argument . . . . . . . . 265
Inhaltsverzeichnis
XI
Martin W. F. Stone (Leuven) In the Shadow of Augustine: The Scholastic Debate on Lying from Robert Grosseteste to Gabriel Biel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
VII. Jean Gerson Cornelius Roth (Fulda) Richter, Ratgeber und Reformer. Jean Gerson als Lehrer geistlicher Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Sven Grosse (Erlangen) Johannes Gerson und Bonaventura: Kontinuität und Diskontinuität zwischen Hoch- und Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
VIII. Nikolaus von Kues Werner Beierwaltes (München) Nicolaus Cusanus: Innovation durch Einsicht aus der Überlieferung paradigmatisch gezeigt an seinem Denken des Einen . . . . . . . . . . . Hubert Benz (Mainz/Trier) Nikolaus von Kues: Wegbereiter neuzeitlicher Denkweise oder kritischer Interpret traditioneller philosophisch-theologischer Konzeptionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wendelin Knoch (Bochum) Verteidigung als Annäherung? Die Auseinandersetzung des Nikolaus von Kues mit dem Islam im Spiegel der „Cribratio Alkorani“ . . . . . Martin Thurner (München) Die Wahrheit als der Weg zum göttlichen Leben nach Nikolaus von Kues. Eine Studie anhand von „De aequalitate“ . . . . . . . . . . . . . . Franz-Bernhard Stammkˆtter (Trier) „Hic homo parum curat de dictis Aristotelis“ - Der Streit zwischen Johannes Wenck von Herrenberg und Nikolaus von Kues um die Gültigkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . .
351
371 393 406
433
IX. Judaica/Arabica Dag Nikolaus Hasse (Würzburg) Aufstieg und Niedergang des Averroismus in der Renaissance: Niccolo` Tignosi, Agostino Nifo, Francesco Vimercato . . . . . . . . . . . . . . . 447 Mauro Zonta (Rom) The Autumn of Medieval Jewish Philosophy: Latin Scholasticism in Late 15th-Century Hebrew Philosophical Literature . . . . . . . . . . . . 474
XII
Inhaltsverzeichnis
X. Naturphilosophie im Übergang von Mittelalter und Neuzeit Elz˙ bieta Jung (Ło´dz´/Chestnut Hill) Why was Medieval Mechanics Doomed? The Failure to Substitute Mathematical Physics for Aristotelianism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Johannes M. M. H. Thijssen (Nimwegen) Die Stellung der scholastischen Naturphilosophie in der Geschichte der Physik: Herbst des Mittelalters oder Frühling der Neuzeit? . . . . . 512 Hans-Ulrich Wˆhler (Dresden) Die Erfurter via moderna im Spiegel der Naturphilosophie . . . . . . . . 524
XI. Spiritualität im Spätmittelalter Berndt Hamm (Erlangen) Die „nahe Gnade“ - innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Christian Trottmann (Tours) Trois regards chartreux sur la contemplation au cœur du XVe sie`cle . . . 558 Manfred Gerwing (Eichstätt/Ingolstadt) Devotio moderna oder: Zur Spiritualität des Spätmittelalters . . . . . . 594 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
Einführung: Kontinuität und Diskontinuität Jan A. Aertsen (Köln) Die Einladung zur 33. Kölner Mediaevistentagung war mit einer Illustration versehen, die nicht beliebig gewählt worden war. Sie ist einer der feinsten Schöpfungen der spätmittelalterlichen Buchmalerkunst entnommen, dem Kalendarium im Stundenbuch des Herzogs von Berry. Das Bild versetzt uns in den Herbst des Jahres - abgebildet ist der Monat Oktober - und wir sehen einen Bauern, der das Land bearbeitet und sät, in der Erwartung eines neuen Frühlings, in dem das Gesäte Frucht tragen wird. Das Tagungsvignet visualisierte treffend die Fragestellung der Tagung: „Herbst des Mittelalters? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts“. Ist das Spätmittelalter als ein Ausblühen des Alten oder als die Ankündigung des Neuen zu verstehen? Der Titel der Tagung war natürlich durch Johan Huizingas klassische Studie „Herfsttij der Middeleeuwen“ („Herbst des Mittelalters“), deren erste niederländische Auflage 1919 erschien, angeregt worden 1. Dennoch war keine eigentliche Huizinga-Tagung beabsichtigt 2; seine suggestive Herbstmetapher war lediglich der Anstoß, einen neuerlichen Blick auf das 14. und 15. Jahrhundert zu werfen und nach der Bedeutung dieser Zeitspanne zu fragen, die in der Forschung so unterschiedlich bewertet wird. Wie üblich war die Philosophie Schwerpunkt der Tagung, aber das Thomas-Institut hat seit der Gründung der Mediaevistentagungen durch Josef Koch immer eine möglichst interdisziplinäre Behandlung des jeweiligen Themas angestrebt. Die überwältigende Resonanz auf den „Call for Papers“ hat auch diesmal eine vielgestaltige Erörterung der Fragestellung gewährleistet, obwohl sicher Bereiche zu nennen sind, etwa die Literaturgeschichte, die keine eingehende Behandlung gefunden haben. Da nun die Erträge der Tagung in diesem Band der „Miscellanea Mediaevalia“ vorliegen, sind einige hinführende Bemerkungen zum Zentralthema angebracht. Sie betreffen vor allem diejenigen Aspekte in den Beiträgen, die das Problem der Kontinuität und Diskontinuität unmittelbar berühren 3. 1
2
3
Deutsche Übers.: J. Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, 1. Aufl. München 1924. Ich benutze die 11. Aufl., ed. K. Köster, Stuttgart 1975. Cf. W. R. H. Koops/E. H. Kosmann/G. van der Plaat (eds.), Johan Huizinga 1872-1972. Papers delivered to the Johan Huizinga Conference Groningen 11-15 December 1972, The Hague 1973. Grundlegend für diese Frage E. Meuthen, Gab es ein spätes Mittelalter?, in: J. Kunisch (ed.), Spätzeit. Studien zu den Problemen eines historischen Epochenbegriffs, Berlin 1990, 91-135.
XIV
Jan A. Aertsen
(1) Weil Huizingas Studie das Tagungsthema veranlasst hatte, liegt es nahe, die Frage nach der Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts mit einer Diskussion seines (Spät-)Mittelalterbildes zu beginnen 4. Durch den Untertitel seines Buches „Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden“ hat Huizinga seinen Forschungsgegenstand räumlich und zeitlich begrenzt, aber seine Mittelalterthese erhebt öfter einen Anspruch, der die Partikularität seines Objekts übersteigt. Der Inhalt seines Buches lässt sich nicht leicht zusammenfassen, weil es dem Autor primär um bildhafte Erzählung ging. Ein Gliederungsschema bietet das 2. Kapitel „Die Sehnsucht nach schönerem Leben“. Nach Huizinga sah diese Sehnsucht zu allen Zeiten drei Wege vor sich, die nach dem fernen Ziel weisen. Der erste Weg führt geradewegs aus der Welt heraus: der Weg der Weltverleugnung im Hoffen auf ein jenseitiges Heil. Der zweite ist der Weg zur Verbesserung und Vervollkommnung der Welt selbst. Das Mittelalter habe ein solches Streben noch kaum gekannt, es wurde erst im 18. Jahrhundert wirksam. Der dritte Weg ist die Flucht aus der Wirklichkeit in den Traum, in die Illusion des schönen Lebens. Sie wandelt die Formen des Lebens in Kunstformen und erfüllt das Gemeinschaftsleben mit Spiel und Fiktionen 5. Mit diesem dritten Weg, so Huizinga, „haben wir uns dem Punkt genähert, von dem aus die Kultur des ausgehenden Mittelalters hier betrachtet werden soll: die Verschönung des aristokratischen Lebens mit den Formen des Ideals“ 6. Diese „Ästhetik aller Lebensverhältnisse“ arbeitet er glänzend mit Bezug auf drei Themen aus: das Ritterideal und die Stilisierung der Liebe, den religiösen Gedanken, der alles zu verbildlichen versucht, und schließlich die Kunst im Leben. Das letzte Thema war der ursprüngliche Ausgangspunkt des Buches. In der Vorrede zur 1. Auflage der deutschen Übersetzung schreibt Huizinga: „Das Bedürfnis, die Kunst der Brüder van Eyck und derer, die ihnen gefolgt waren, besser zu verstehen und sie im Zusammenhang mit dem Leben ihrer Zeit zu erfassen, bildete die erste Veranlassung zu diesem Buche.“ 7 Mit diesem kurzen Abriss ist zwar Huizingas eigentümliche Annäherung angedeutet, aber das zentrale Anliegen seiner Studie noch nicht hinreichend bestimmt. Man könnte sich fragen, ob Huizingas Leitidee einer „Ästhetik aller Lebensverhältnisse“ nicht vielmehr dem Begriff der „Renaissance“, der durch Jacob Burckhardt epochale Bedeutung erhalten hat, entspricht. Er selber antizipiert diese Frage. „Das Streben nach einem Leben in Schönheit gilt als das eigentliche Kennzeichen der Renaissance [...]. Aber die Grenze zwischen Mittel4
5 6 7
Huizingas Buch wurde durch eine neue englische Übersetzung (1992) abermals zum Diskussionsgegenstand in den Vereinigten Staaten. Cf. E. Peters/W. Simons, The New Huizinga and the Old Middle Ages, in: Speculum 74 (1999), 587-620. Huizinga, Herbst des Mittelalters (nt. 1), 43-47. Ibid., 47. Ibid., XIII.
Einführung: Kontinuität und Diskontinuität
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alter und Renaissance ist auch hier zu scharf gezogen worden.“ Die Sehnsucht nach dem schönen Leben wurzelt schon im Ritterideal 8. Huizingas „Herbst des Mittelalters“ wendet sich gegen Burckhardts Renaissancebild, insbesondere gegen dessen Idee einer „nördlichen“ Renaissance, die durch die Kunst der Brüder van Eyck repräsentiert werde. „Es ist durchaus abzulehnen, [...] Sluter und van Eyck zur Renaissance zu rechnen. Sie schmecken mittelalterlich [...] und sie sind auch mittelalterlich, der Form und dem Inhalt nach.“ Die bildende Kunst und Literatur des 15. Jahrhunderts „dienen dem Geist, der im Ausblühen war; sie haben ihren Platz in dem bis zur letzten Möglichkeit ausgebauten System des mittelalterlichen Denkens“ 9. Deshalb „Herbst des Mittelalters“. Huizingas Metapher wird vor dem Hintergrund seines Geschichtsbildes im Beitrag von Hans Gerhard Senger zu diesem Band grundlegend analysiert und diskutiert. Die negativen Konnotationen, so stellt sich heraus, dominieren letztlich: Das Spätmittelalter ist eine „Zeit der Überreife und des Ausblühens“ 10. Die Metapher kann aber auch eine positivere Deutung erfahren. Heiko A. Oberman verfasste nach dem Vorbild seines Landsmannes ein Buch über den „Herbst der mittelalterlichen Theologie“, dessen englische Originalausgabe betitelt war „The Harvest of Medieval Theology“ 11. Der Titel war absichtlich gewählt; der Herbst der mittelalterlichen Theologie ist nicht Zeit der Desintegration, sondern „Erntezeit“, weil die Theologie „jene Früchte erntet, die reif genug schienen, den christlichen Glauben in seinem Suchen nach Verstehen zu stärken“ 12. (2) Politik, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sind in Huizingas Mittelalterbild fast völlig ausgeblendet. Sein Interesse gilt der Ästhetisierung der Lebensverhältnisse am burgundischen Hof. Ein anderer Weg zum schöneren Leben, der Weg der aktiven Weltverbesserung, sei im späten Mittelalter unbekannt gewesen. Aber lässt sich diese generelle Behauptung Huizingas aufrechterhalten und war das burgundische Milieu, an dem er sich orientierte, nicht eher eine Ausnahme? 13 In seinem Beitrag zeigt Hans-Joachim Schmidt am Beispiel der Wirtschaftspolitik des französischen Königs Ludwig XI., dass der „Pfad der aktiv-umgestaltenden Strategie der diesseitigen Lebensumstände“, den Huizinga aus seiner Darstellung ausschloss, im ausgehenden Mittelalter nicht unbekannt war. Die Interventionen Ludwigs XI. in die Wirtschaft seines Königreiches strebten eine Wohlfahrtsteigerung zugunsten der Untertanen an. Zwar berief sich das Herr8 9 10 11
12 13
Ibid., 47; 92. Ibid., 401; 402. Ibid., 303. H. A. Oberman, Spätscholastik und Reformation Bd. I: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965. Engl. Originalausgabe: The Harvest of Medieval Theology, Cambridge, MA 1963. Oberman, Der Herbst der mittelalterlichen Theologie (nt. 11), 5. Cf. P. Wolff, Automne du Moyen Age ou printemps des temps nouveaux? L’e´conomie aux XIVe et XVe sie`cles, Paris 1986.
XVI
Jan A. Aertsen
scherhandeln auch bereits vor Ludwig auf das Ideal des „bien public“, aber bei Ludwig wurde es zum Wert erhoben, zu dessen Beförderer der Herrscher sich deklarierte und aus dem er seine Legitimität schöpfte. Der Wirtschaftspolitik Ludwigs XI. kommt insofern ein zukunftorientiertes Moment zu, als sie einen wichtigen Anstoß zur Ausbildung einer umfassenden Zuständigkeit des entstehenden Staates auf dem Feld der Daseinsfürsorge gab. Die Untersuchung endet deshalb mit der Feststellung: „Nicht Absterben, sondern Umwandlung, nicht Ausklang, sondern Anfang waren die Kennzeichen des endenden Mittelalters.“ (3) Philosophiehistoriker haben sich bisher kaum mit Huizingas Buch auseinandergesetzt. Das ist eigentlich erstaunlich, weil sein Bild des scholastischen Denkens in einem hohen Maße einseitig ist. Die geringe Aufmerksamkeit lässt sich insofern verstehen, als im „Herbst des Mittelalters“ die mittelalterliche Philosophie nur am Rande erscheint: Sie kommt lediglich indirekt in zwei Kapiteln zur Sprache, die von dem „Niedergang des Symbolismus“ (Kap. 15) und dem „Realismus“ (Kap. 16) handeln. Zwischen beiden Denkarten sieht Huizinga einen engen Zusammenhang. Der Symbolismus, „gleichsam der lebendige Atem des mittelalterlichen Denkens“, war „unverbrüchlich mit jener Weltanschauung verbunden, die im Mittelalter Realismus hieß und die wir, weniger zutreffend, platonischen Idealismus nennen“ 14. Nach Huizinga, der sich hierin auf Jean Gerson und Dionysius den Kartäuser als Kronzeugen beruft, war die gesamte mittelalterliche Geisteskultur „wesensgemäß realistisch“. Die eigentliche Leistung des mittelalterlichen Geistes bestand in der Zurückführung aller Dinge auf das Allgemeine, in der Aufgliederung der ganzen Welt und des ganzen Lebens in selbständige Ideen und im Einordnen dieser Ideen in große Hierarchien der Begriffe 15. Allerdings verneint Huizinga nicht, dass es auch Nominalisten im Mittelalter gegeben hat, aber seiner Meinung nach ist die via moderna niemals etwas anderes als eine Gegenströmung gewesen, der wenig Gewicht beizumessen ist 16. Gerade dieses eindimensionale Bild des spätmittelalterlichen Denkens hat sich in den letzten Jahrzehnten wesentlich geändert. „Wohl in keinem Bereich der Mediävistik hat die Beurteilung des ,späteren‘ Mittelalters so gewechselt, sich so ins Gegenteil gewandt, wie dies in der Scholastikforschung der Fall gewesen ist.“ 17 In der heutigen philosophischen Mediävistik wird dem Weltverständnis des Nominalismus ein prominenter Platz zuerkannt 18. Die Kritik am „Essentialismus“ der Realisten, der Primat des Singulären und die Betonung der radikalen Kontingenz der Welt sind für die Bewertung des mittelalterlichen Denkens keine neben14 15 16 17 18
Huizinga, Herbst des Mittelalters (nt. 1), 304; 288. Ibid., 306. Ibid., 289. Meuthen, Gab es ein spätes Mittelalter? (nt. 3), 112. Cf. W. J. Courtenay, In Search of Nominalism: Two Centuries of Historical Debate, in: A. Maieru`/R. Imbach (eds.), Gli studi di filosofia medievale tra otto e novecento. Contributo a un bilancio storiografico, Rom 1991, 233-251.
Einführung: Kontinuität und Diskontinuität
XVII
sächlichen Philosopheme. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist William J. Courtenays Beitrag zu diesem Band, in dem er sich mit Huizingas Mittelalterthese von der Perspektive der spätmittelalterlichen Geistesgeschichte her auseinandersetzt. Einen besonderen Stellenwert in der Bewertung des spätmittelalterlichen Denkens besitzt die Philosophie des Nikolaus von Kues, weil ihr eine besondere Nähe zur „Moderne“ zugesprochen wird 19. Cusanus ist als „Grenzgänger“ bezeichnet worden 20 (aber wo findet sich die Grenze?), als „Pförtner der neuen Zeit“ 21. Er ist wegen seiner Stellung zum Erkenntnisproblem als der erste „moderne“ Denker gedeutet worden (Cassirer), und seinen Auffassungen über menschliche „Subjektivität“ und „Schöpfertum“ wird ein neuzeitlicher Charakter zugeschrieben. Mehrere Beiträge zum vorliegenden Band befassen sich mit der philosophiegeschichtlichen Situierung des cusanischen Denkens. Sie sind für das Generalthema von Bedeutung, da sie das komplexe Verhältnis von Tradition und Erneuerung ansprechen. Im Gegenzug zu einer „fast zwanghaften Aktualisierung“ verweist Werner Beierwaltes in seinem Beitrag auf die Traditionsgebundenheit des cusanischen Denkens, die jedoch seine Neuheit durchaus nicht ausschließt, weil das Innovative aus einer produktiven Umformung der Tradition hervorgeht. (4) Seit Huizingas Studie sind über achtzig Jahre verstrichen: Andere Deutungsmodelle der Epochenschwelle sind inzwischen vorgeschlagen worden. Im vorliegenden Band wird auch der im deutschen Sprachraum einflussreichen Sichtweise Hans Blumenbergs Aufmerksamkeit geschenkt. In seinem Werk „Die Legitimität der Neuzeit“ vertritt er die These, das neuzeitliche Denken sei als eine historisch notwendige Reaktion auf den spätmittelalterlichen Nominalismus zu verstehen. Gemäß der für den Nominalismus grundlegenden Lehre von der potentia Dei absoluta stehe Gott „mit seinem Werk in dem weitesten Horizont der widerspruchslosen Möglichkeiten, innerhalb dessen er wählt und verwirft, ohne dass das Resultat Rechenschaft über die Kriterien seines Willens ablegt“ 22. Dieser theologische Voluntarismus stellt alle rationalen „Konstanten“ der menschlichen Wirklichkeitserfahrung in Frage, da die Welt „als pures Faktum verdinglichter Allmacht“ gilt 23. Aus dem Allmachtsprinzip deduziert deshalb Wilhelm von 19
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Aufschlussreich ist hier die Studie von H. Benz, Individualität und Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung und das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues, Münster 1999. W. Knoch, Nikolaus von Kues: ein Grenzgänger zwischen mittelalterlicher Glaubensreflexion und neuzeitlich-philosophischem Denken, in: P. Segl (ed.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt, Sigmaringen 1997, 187-196. R. Haubst, Nikolaus von Kues - Pförtner der neuen Zeit (Kleine Schriften der CusanusGesellschaft, Heft 12), Trier 1988. H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main 21988, 176. Ibid., 188.
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Ockham letztlich die „Ohnmacht der Vernunft“ 24. Gegenüber der Herausforderung des theologischen Absolutismus war Descartes’ philosophischer Neubeginn ein Akt der humanen Selbstbehauptung; konstitutiv für die Neuzeit ist die legitime Selbsterhaltung der Vernunft gegen die spätmittelalterliche Lehre von einem „Willkürgott“. Wegen der entscheidenden Rolle des nominalistischen Allmachtsprinzips in Blumenbergs These über die Epochenschwelle ist der Bereich der Ethik für die Frage nach der Bewertung des Spätmittelalters von zentraler Bedeutung. In seinem (provokanten, aber überaus anregenden) Beitrag wendet sich Theo Kobusch der nominalistischen Moralphilosophie zu und betont das „Skandalon“ dieser Ethik. Aufgrund seiner potentia absoluta kann Gott dem Menschen beispielsweise befehlen, ihn zu hassen, oder ihm den Auftrag geben, die Ehe zu brechen. Die spätmittelalterliche Ethik sei in eine Sackgasse geraten, aus der sie erst die neuzeitliche Philosophie wieder befreit habe. Wie vielgestaltig jedoch die spätmittelalterliche Ethik ist, geht aus dem Beitrag von Isabelle Mandrella hervor, in dem sie die historischen Ursprünge des so genannten „etiamsi Deus non daretur“-Arguments untersucht. Das Argument will durch ein Gedankenexperiment die Autonomie der natürlichen Moralität zeigen: Gesetzt den - freilich unmöglichen - Fall, Gott existiere nicht, so würde noch immer sündigen, wer gegen die rechte Vernunft verstößt. Lange Zeit galt Hugo Grotius als Autor dieses Arguments, das als Indiz der neuzeitlichen Emanzipation der Vernunft vom Gottesbegriff angesehen wurde. Tatsächlich hat aber das Argument seine Wurzel im spätmittelalterlichen ethischen Rationalismus. Mandrellas Beitrag schließt mit einem Zitat von Eberhard Jüngel: Wenn das Argument „spezifisch neuzeitlich sein soll, dann beginnt die Neuzeit bereits im Mittelalter“. (5) In einer kritischen Auseinandersetzung mit Blumenbergs These hat Heiko Oberman gerade das Innovationspotential des nominalistischen Denkens hervorgehoben. Seiner Ansicht nach kommt das zentrale Anliegen des Nominalismus in einer Reform der Theologie zum Ausdruck: Sie wird aufgerufen, sich im Bewusstsein ihrer Grenzen auf ihren ureigenen Bereich der potentia dei ordinata, der Offenbarung Gottes, zu beschränken 25. Eine wichtige Quelle für dieses Reformprogramm im Herbst des Mittelalters sind die beiden Vorträge: Contra curiositatem studentium, die Jean Gerson als Kanzler der Pariser Universität im Jahr 1402 vor der Theologischen Fakultät hielt 26. Zwei Beiträge beschäftigen sich 24
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Cf. J. P. Beckmann, Allmacht, Freiheit und Vernunft. Zur Frage nach ,rationalen Konstanten‘ im Denken des späten Mittelalters, in: J. P. Beckmann/L. Honnefelder/G. Schrimpf/G. Wieland (eds.), Philosophie im Mittelalter, Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg 1987, 275294; J. Goldstein, Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, München 1998. H. A. Oberman, Contra vanam curiositatem. Ein Kapitel der Theologie zwischen Seelenwinkel und Weltall (Theologische Studien 113), Zürich 1974, 33 sqq. Cf. C. Burger, Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris, Tübingen 1986.
Einführung: Kontinuität und Diskontinuität
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mit dieser Persönlichkeit; beide zeigen, wie schwer Gerson einzuordnen ist. „Es gibt wohl kaum eine Gestalt des Spätmittelalters, die das Ineinander von Tradition und Innovation, Konservativismus und Moderne, Festhalten am Alten und Aufbruch in eine neue Zeit besser veranschaulicht als Jean Gerson“ (C. Roth). Wer die innovativen Züge der spätmittelalterlichen Theologie kennen lernen will, so Berndt Hamm in seinem Beitrag, muss über den Bereich der universitären Theologie hinausblicken und sich der seelsorglich orientierten Theologie und der Frömmigkeitspraxis selbst zuwenden. Diese Quellen spätmittelalterlicher Religiosität bringen etwas Neues zu Tage: das starke Hervortreten der „nahen Gnade“, d. h. der leicht zugänglichen gnadenreichen Präsenz Gottes. Das Verständnis dieses bisher kaum erforschten Phänomens eröffnet eine Perspektive, von der her sich die Frage nach der Beziehung der Religiosität im ausgehenden Mittelalter zur Reformation ändern dürfte. Ein weiteres Sonderphänomen der spätmittelalterlichen Religiosität ist das Aufkommen der Bewegung, die sich selbst devotio moderna genannt hat. In seinem Beitrag verbindet Manfred Gerwing die Entstehung dieser Bewegung mit dem Generalthema der Tagung. Seine These ist zweifach: Die Devotio moderna ist zwar entstanden in einer „Zeit der Krise“, als die das Spätmittelalter gelten muss, erweist sich aber als eine Spiritualität, die „Wege aus der Krise“ wies 27. (6) In vielleicht keinem anderen Bereich ist die Frage der Kontinuität oder Diskontinuität so intensiv diskutiert worden wie in der Naturphilosophie. Paradigmatisch für die Forschung war lange die These, die Pierre Duhem entwickelt hatte: Die Geburt der neuzeitlichen Naturwissenschaft habe nicht im 17. Jahrhundert stattgefunden, sondern im 14. Jahrhundert in Paris. Die „Impetus“Theorie des Johannes Buridan beispielsweise sei als eine Antizipation der Mechanik Galileis zu betrachten. Weitere Stimmen bestätigten die „Modernität“ der spätmittelalterlichen Naturphilosophie. Auf der Grundlage des Nominalismus beschränkte sie ihre Forschung auf die nur der Empirie sich enthüllenden Naturgesetze der potentia ordinata und konnte so die Physik aus den „Meta“-Fesseln der Metaphysik befreien 28. Die Naturphilosophie im ausgehenden Mittelalter: „Frühling der Neuzeit?“ In den letzten Jahrzehnten ist die „Modernitätsthese“ mehrfach kritisiert worden, weil sie den grundlegenden Unterschied zwischen der Naturphilosophie im Mittelalter und der neuzeitlichen Naturwissenschaft ignoriert 29. Aber wie ist dann die Stellung der spätmittelalterlichen Physik zu bewerten? Einige Beiträge zu diesem Band behandeln diese Frage. So zeigt Elzbieta Jung in ihrem Beitrag den innovativen Charakter mechanistischer Theorien im 14. Jahrhundert, aber zugleich den Abstand zu Galileis Mechanik. 27
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Zum Begriff der „Krise“, einem „Lieblingsthema der Spätmittelalterforschung“, cf. E. Meuthen, Gab es ein spätes Mittelalter? (nt. 3), 109 sq. Oberman, Contra vanam curiositatem (nt. 25), 37-38. Cf. J. M. M. H. Thijssen, Late-Medieval Natural Philosophy: Some Recent Trends in Scholarship, in: Recherches de The´ologie et Philosophie Me´die´vales 67 (2000), 158-190.
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(7) Erich Meuthen konstatiert am Ende seines Buches „Das 15. Jahrhundert“, dass eine Fragestellung das Forschungsgespräch zu bestimmen scheint: „Welche Rolle spielte das 15. Jahrhundert beim Hervorgang der Neuzeit aus der Welt des Mittelalters?“ Ironisch fügt er hinzu: „Die Historiker aller Disziplinen mögen sich der ziemlich sicheren Aussicht freuen, dass ihnen die vielfache Offenheit gerade dieser Frage noch lange Beschäftigung garantiert.“ 30 Diese Aussicht wird durch den vorliegenden Band nicht aufgehoben. Ziel der Tagung war es auch nicht, eine neue umfassende Sichtweise des Spätmittelalters vorzulegen. Es ging vielmehr darum, verschiedene Modelle zur Deutung dieser Zeitspanne anhand von gründlichen Einzeluntersuchungen zu hinterfragen und gegebenenfalls für einzelne Bereiche der mittelalterlichen Kultur zu modifizieren. Das bunte Panorama der Beiträge belegt eine Vielschichtigkeit der Bewertungen, die insofern dem Gegenstand angemessen ist, als das Spätmittelalter selbst eine Zeit der Ambivalenzen war. Es ist durch eine „Doppelgesichtigkeit“, eine Simultaneität des Verschiedenen gekennzeichnet, die manchmal in einer Person verkörpert ist. Das Spätmittelalter wird als eine Zeit der „Krise“ dargestellt, als „Herbst“ - aber die Metapher erweist sich als doppelsinnig -, ja als „Winter des Mittelalters“. Andererseits werden die innovativen Züge dieser Epoche betont, in der Wirtschaftspolitik, in der Philosophie (via moderna) und in der Theologie und Spiritualität (devotio moderna). In diesen Wertungen ist, wie im Vorangehenden angedeutet wurde, das jeweilige Verhältnis zwischen Traditionsgebundenheit und Erneuerung, zwischen Kontinuität und Diskontinuität genau zu prüfen. In diesem Sinne hat der neuerliche Blick auf das 14. und 15. Jahrhundert unser Bild nuanciert und bereichert.
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E. Meuthen, Das 15. Jahrhundert (Oldenbourg Grundriß der Geschichte 9), München - Wien 1980, 175.
I. Das Spätmittelalter bei Huizinga und Blumenberg
Eine Schwalbe macht noch keinen Herbst Zu Huizingas Metapher vom Herbst des Mittelalters Hans Gerhard Senger (Köln) Wer im Frühjahr 2002 im Groeningemuseum in Brügge die Ausstellung besuchte, die den Titel trug „Jan van Eyck, les Primitifs flamands et le Sud. Quand les grands maıˆtres se rencontrent (1430-1530)“ 1, der wurde an Johan Huizinga und seinen „Herbst des Mittelalters“ erinnert, wenn auch nur indirekt. Denn die Ausstellung fand statt als Jahrhundert-Gedenken an die im Jahr 1902 ebenfalls in Brügge veranstaltete Ausstellung „Les Primitifs Flamands a` Bruges“. Man erinnert sich aber daran, daß Huizinga sich damals von der Primitiven-Ausstellung stark beeindruckt zeigte 2. Die Anfänge seiner großen kulturhistorischen Studie „Herbst des Mittelalters“, seine Künstler-Studie nämlich über die Brüder van Eyck 3 sowie der Plan zu einer Studie über „Das Zeitalter Burgunds“ 4, sind also mit jenem Ereignis eng verbunden. Die Ausstellung des Jahres 2002 spielte zwar auf das damalige Ausstellungsthema deutlich an; sie stellte aber die flämische Kunst Brügges in den weiteren Kontext der mediterranen Kunst des Südens. In Bezugnahme und Intention eben dieser Ausstellung, die Brügge als „Kulturhauptstadt Europas 2002“ veranstaltete, trafen also zwei historische Topoi aufeinander: 1. der niederländisch-burgundische Raum als kulturelle Einheit zur Zeit der Brüder van Eyck gegen den nord- und mittelitalienischen Kulturraum des 15. Jahrhunderts; das ist die Position, die Huizinga 1919 der einflußreichen These Jacob Burckhardts vom Jahr 1860 über die „Cultur der Renaissance in Italien“ entgegengesetzt hatte; 1
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Jan van Eyck, de Vlaamse Primitieven en het Zuiden 1430-1530 - Jan van Eyck, les Primitifs flamands et le Sud. Quand les grands maıˆtres se rencontrent (1430-1530), Groeningemuseum Brugge, 15. März-30. Juni 2002. J. Huizinga, Mein Weg zur Geschichte (nt. 9), 45 sq. u. 56; id., Briefwisseling 1, 1894-1924, ed. L. Hanssen/W. E. Krul/A. van der Lem, Utrecht - Antwerpen 1989, 31 u. 60; cf. C. Strupp, Johan Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte, Göttingen 2000 (zugl. Diss. Köln 1996), 68 u. 135. De kunst der van Eycks in het leven van hun tijd, in: De Gids 80 H. 3 (1916), 440-462; H. 4, 52-82. L’E´tat bourguignon, ses rapports avec la France et les origines d’une nationalite´ ne´erlandaise, ˆ ge, 3. Ser. 1 [40] (1930), 171-193; 2 [41] (1931), 11-35 u. 83-86; cf. auch nt. 15. in: Le Moyen A
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2. die flämischen Primitiven und der Süden, d. h. flämische Künstler im Süden und Künstler der südlichen Länder Griechenland, Italien, Spanien, Portugal. Deren wechselseitigen Einfluß aufeinander und deren Übereinstimmungen in Thematik, Formen und Farben zu betonen waren die Intention und die These der Ausstellungskuratoren 2002. Diese beiden Topoi vergegenwärtigten den Widerstreit zweier kulturhistorischer Thesen, um ihn synthetisierend aufzuheben. Der Besucher konnte sich im Horizont seiner Ausstellungserfahrung Rechenschaft geben über die Verschmelzung von vier Horizonten: von Burckhardts Renaissance-Horizont, dem Horizont der Brügger Ausstellung von 1902 - das allerdings nur implizit -, von Huizingas Horizont vom „Herbst des Mittelalters“ und von dem Horizont der in der Brügger Ausstellung 2002 explizit illustrierten These. Das machte aber die atemberaubende Ausstellung selbst nicht klar. Weder in der Ausstellung mit ihrer museumsdidaktischen Aufbereitung noch in den theoretischen Beiträgen des Ausstellungskatalogs 5 wurde auf Huizinga Bezug genommen, obwohl er indirekt stets präsent war. Das war vor 30 Jahren in Köln noch anders. Zu der Ausstellung „Herbst des Mittelalters. Spätgotik in Köln und am Niederrhein“ lieferte Huizinga nicht nur den Titel, sondern auch die Folie, vor deren Hintergrund seine These vom Absterben des Mittelalters in die These von der Fortpflanzung des Mittelalters transformiert und Renaissance wie Manierismus als „Kinder des Mittelalters“ im Frühling danach (G. van der Osten) legitimiert wurden 6. Angesichts dieser Erinnerung war es um so auffälliger, daß Huizinga in Brügge nurmehr verborgen präsent war. Was ist inzwischen geschehen? Ist Huizinga mit seiner These vom Herbst des Mittelalters heute vergessen? Oder gilt sie nun als obsolet? Schon Erwin Panofsky hatte 1960 in seinem Buch „Renaissance and Renascences in Western Art“ 7 bei Gegenüberstellung von ars nova des Nordens und italienischer Renaissance die Thesen Burckhardts und Huizingas übergangen. Auch Hans Blumenberg kam kurz danach in seinen Epochen- und Neuzeit-Studien 8 auf Huizingas ,Herbst‘ nicht mehr zu sprechen. Mit Erstaunen habe ich bei der Beschäftigung mit diesen Fragen darüber hinaus zur Kenntnis genommen, wie wenig Huizingas Mittelaltertheorie heute in einschlägigen Werken präsent ist; fallweise wäre darauf hinzuweisen. 5
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T.-H. Borchert (ed.), Jan van Eyck und seine Zeit. Flämische Meister und der Süden 14301530 [Katalog anläßlich der Ausstellung „Jan van Eyck, die altniederländischen Maler und der Süden, 1430-1530“, im Groeningemuseum, Brügge, 15. März-30. Juni 2002], Stuttgart Darmstadt 2002. G. van der Osten (ed.), Herbst des Mittelalters. Spätgotik in Köln und am Niederrhein, Kunsthalle Köln, 20. Juni bis 27. September 1970, Köln 1970, 15. Stockholm 1960, cf. Kap. 4; dt.: Die Renaissancen der Europäischen Kunst, Frankfurt a. M. 1979. H. Blumenberg (Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966) erwähnt Huizinga (wie auch J. Burckhardt, 337) beiläufig nur einmal (350).
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Zur Bio-Bibliog raphie 9 Johan Huizinga, 1872 in Groningen geboren, studierte dort Indogermanistik und betrieb weitgefächerte Sprachstudien und Geschichte im Nebenfach. Von einem kurzen Studium an der Universität Leipzig im Winterhalbjahr 1895/96, wo er u. a. auch Wilhelm Wundt hörte 9a, kehrte er enttäuscht von der dortigen Indologie nach Groningen zurück. Ein viel zu weitgefaßter Studienplan ließ das Semester nicht erfolgreich werden. „Das war für den Anfang viel zu viel Heu auf der Gabel“, heißt es in der autobiographischen Erinnerung 10. An seiner Heimatuniversität promovierte er 1897 mit einer indologisch-literaturwissenschaftlichen Dissertation. Danach war er acht Jahre als Geschichtslehrer an der Hoogere Burgerschool Haarlem, einer Art Realschule, tätig. Während dieser Zeit habilitierte er sich (1903) im Fach Altindische Literatur- und Kunstgeschichte. Nach zwei Jahren als Privatdozent in Amsterdam erhielt er gegen die Bedenken von Fakultät und Kuratorium den Lehrstuhl für Allgemeine und Niederländische Geschichte und historiographische Geographie in Groningen 11. Die Antrittsvorlesung ging wie schon zuvor in Amsterdam „Über den ästhetischen Bestandteil geschichtlicher Vorstellungen“. Zehn Jahre später übernahm er den Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Leiden. Die Antrittsvorlesung ging diesmal „Über historische Lebensideale“. Am 1. Februar 1945 starb Huizinga 72-jährig in De Steeg bei Arnheim, wohin er sich nach nicht ganz freiwilliger Emeritierung, zweimonatiger Internierung durch die deutschen Besatzungsmächte und Expatriierung aus Leiden 1942 schließlich zurückgezogen hatte. Huizinga hat ein überaus reiches, weitgespanntes literarisches Werk hinterlassen 12, nach 1933 vor allem kritische Zeit- und Kulturanalysen. Seit den 20er Jahren war er auch als Kulturpolitiker praktisch tätig. Die Titel seiner letzten, 1945 posthum publizierten Schrift kann man als sprechende Titel oder als Ver-
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Die bio-bibliograhischen Angaben nach J. Huizinga, Mein Weg zur Geschichte (27. 12. 1943), in: id., Mein Weg zur Geschichte. Letzte Reden und Skizzen. Deutsch von W. Kaegi (Sammlung Klosterberg. Europäische Reihe), Basel 1947, 9-60; ferner nach Strupp, Johan Huizinga (nt. 2) und dem Art. ,Huizinga‘, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, vol. 18, Herzberg 2001, col. 672-694; auch im Internet unter http.//www.kirchenlexikon.de/h/huizinga_j.shtml (Autor: K.-G. Wesseling). Wundt las in jenem Semester zweistündig über „Grundzüge der Ethik nebst Geschichte der hauptsächlichen philosophischen Moralsysteme“ und vierstündig über „Geschichte der neueren Philosophie mit einer einheitlichen Übersicht über die Geschichte der älteren Philosophie“; cf. Verzeichnis der im Winterhalbjahr 1895/96 auf der Universität Leipzig zu haltenden Vorlesungen, 18; Conrad Hermann (1819-1897) las „Über die Grundbegriffe der Ästhetik“, Johannes Volkelt (1848-1930) über „Ästhetik der Dichtkunst“, Paul Barth (1858-1922) über „Empirische Philosophie der Gesellschaft und der Geschichte“; ibid. Mein Weg (nt. 9), 27. Strupp, Johan Huizinga (nt. 2), 36 sq. Cf. den Nachweis bei Wesseling, Art. ,Huizinga‘ (nt. 9), col. 677-688.
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mächtnis ansehen: „Geschonden wereld“, in der deutschen Ausgabe „Wenn die Waffen schweigen“ 13. Huizinga fand schon zu Lebzeiten Anerkennung, national z. B. durch Aufnahme in die Koninklijke Akademie van weetenschappen te Amsterdam (1916), international durch Ehrendoktorate der Universitäten Tübingen (1927) und Oxford (1937). Einladungen führten ihn in viele europäische Städte, u. a. im Januar 1932 nach Köln, wo er „auf Einladung des Deutsch-Niederländischen Instituts vor über 600 Zuhörern [...] an drei Abenden über ,Holländische Kultur des siebzehnten Jahrhunderts‘ sprach und dafür ein „Honorar von 600 RM und 1000 RM für das Vortragsmanuskript erhielt“ 14, verglichen mit heute keine schlechte Honorierung. Ein Jahr später deutete sich bereits die Brüchigkeit einer „geschundenen Welt“ an: Die Schriftleitung der angesehenen Historischen Zeitschrift distanzierte sich 1933 noch im gleichen Heft anonym von dem Abdruck der Gastvorlesung, die Huizinga am 28. Januar des Jahres an der Berliner Universität und im Januar des Vorjahres in den Romanischen Seminaren der Universitäten Köln, Marburg und Münster gehalten hatte: „Burgund - eine Krise des romanisch-germanischen Verhältnisses“ 15: „Der Aufsatz des Herrn Prof. Dr. Huizinga, derzeitigen Rektors der Universität Leyden, war [...] bereits ausgedruckt, als die Redaktion der H.Z. die amtliche Mitteilung von dem durch ihn veranlaßten Vorfall in der Leydener Universität erhielt. Die Redaktion erklärt, daß sie den Aufsatz nicht zum Abdruck gebracht haben würde, wenn sie von diesem Vorfall rechtzeitig Kenntnis gehabt hätte.“
Der „Vorfall“: Huizinga hatte bei einem Kongreß den Leiter einer deutschen Studentendelegation der Universität verwiesen, nachdem ihm eine antisemitische Publikation dieses Nationalsozialisten bekannt geworden war.
„Herbst des Mittelalters“ „Herfsttij der middeleeuwen“ erschien 1919. Doch der große Erfolg kam nicht sogleich. Er verdankt sich zum guten Teil der deutschen Übersetzung, die, vom Verfasser autorisiert, erst 1924 unter dem Titel „Herbst des Mittelalters“ erschien 16. Mit bisher (1997) 21 Ausgaben in den Niederlanden und den Über13
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Geschonden wereld. Een beschouwing over de kansen op herstel van onze beschaving, Haarlem 1945; dt.: Wenn die Waffen schweigen. Die Aussicht auf Genesung unserer Kultur. Übers. von W. Hirsch, Basel 1945. Nach Strupp, Johan Huizinga (nt. 2), 39. J. Huizinga, Burgund - eine Krise des romanisch-germanischen Verhältnisses, in: Historische Zeitschrift 148 (1933), 1-28; die Distanzierung ibid., 228; ND Tübingen 1952. Herfsttij der middeleeuwen. Studien over levens- en gedachtenvormen der vertiende en vijftiende eeuw in Frankrijk en de Nederlanden, Harlem 1919, umgearb. Aufl. 21921; Groningen 21 1997. - Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden. Dt. von T. Jolles-Mönckeberg, München
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setzungen in viele Sprachen wurde es, auch nach Einschätzung des Autors selbst, „das wichtigste“ 17, erfolg- und einflußreichste Buch Huizingas - ein Welterfolg. Die ersten Rezensionen, die im wesentlichen auch erst nach der deutschen Übersetzung erschienen 18, waren durchweg freundlich, die Rezensenten teils begeistert; man nannte es „ein Meisterwerk kulturhistorischer Schilderung“ 19 eines „künstlerischen Menschen“ 20. Hermann Hesse, ein reger und verdienstvoller Rezensent seiner Zeit, erkannte darin „eine Art Gegenstück zu Burckhardts ,Kultur der Renaissance‘ [...] und eine Ergänzung [...]. Huizinga [...] will eigentlich nichts beweisen oder erklären, er will nur zeigen, darstellen, Bilder entrollen, geschichtliche Blicke öffnen [...]. Bücher wie dieser ,Herbst des Mittelalters‘ sind selten, wie es überhaupt ein seltener Glücksfall ist, wenn ein großer Gelehrter zugleich ein großer Schriftsteller ist. Der Impetus und die Gestaltungsfreude, die zum großen Schriftsteller gehört, wird von der Vorsicht des Gelehrten, der Langsamkeit des Sammlers, dem Mißtrauen des Quellenkritikers fast immer erstickt“ 21.
Von Anfang an gab es auch Kritik. So hieß es: „zu selbstgeschwätzig [...] keine scharf umrandeten Thesen“ 22. Was hauptsächlich moniert wurde, nämlich, daß „der Obertitel [...] zu weit gefasst“ 23 sei, erkannte ein anderer als „eine umfassende Aussicht auf das ganze europäische Mittelalter“, die den „Titel in seiner allgemeinen Form daher voll berechtigt“ 24. Umfangreichere wissenschaft-
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1924, verb. Aufl. 21928. Ich benutzte hier die 11. Aufl., ed. K. Köster, Stuttgart 1975, der die 9. Aufl. mit Kösters Übersetzung von 1965 zugrunde liegt, die ihrerseits auf der fünften niederländischen Aufl. 1941, der Ausgabe letzter Hand, basiert. Huizinga, Mein Weg (nt. 9), 55 sq. Im Verzeichnis der Zeitschriftenrezensionen sind für die Jahre 1919 bis 1933 weit über 30 Rezensionen nachgewiesen. F. Arens, Westeuropas Quattrocento, in: Hochland 23,1 (1925/26), 105-109; A. Hübner, Rezension, in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der intern. Wissenschaft, N. F. 2 [46. Jg.] (1925), 2344-2348. Arens, Westeuropas Quattrocento (nt. 19). „[...] eine Ergänzung [...] in doppelter Hinsicht: einmal stellt es dem Italien der werdenden Renaissance die Kultur des nordwestlichen Europa gegenüber, und dann betont es, im Gegensatz zu Burckhardt, nicht das werdende Neue, die Renaissance, sondern das fortwirkende Alte, das ausklingende Mittelalter. Eine glänzend geschriebene [...] Kulturgeschichte der Spätgotik in Frankreich und den Niederlanden.“ Zitiert nach: H. Hesse, Prosa. Rezensionen. o. T. Huizinga, Johan: Prosa „Herbst des Mittelalters“, mschr., 1 Bl., Deutsches Literaturarchiv Marbach (gedr. in: Propyläen 31 [1934], 268). Als Beispiel verweise ich hier nur auf Herbst, 105: „Was helfen beim Lesen der Minnedichtungen und Turnierbeschreibungen alle Kenntnis und lebendige Vorstellung der historischen Details ohne das Schauen der Augen, hell und dunkel, unter dem Möwenflug der Augenbrauen und den schmalen Stirnen, die, schon seit Jahrhunderten zu Staub geworden, einst wichtiger gewesen sind als die ganze Literatur, die als ein Haufen von Trümmern zurückblieb?“ Vergleichbares z. B. 148 sq. u. ö. A. Brackmann, Rezension, in: Zeitschrift für Ästhet. u. allgem. Kunstwissenschaft 20,1 (1926), 93-97. Arens, Westeuropas Quattrocento (nt. 19).
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liche Rezensionen kamen erst relativ spät, meist kritisch, oft sehr kritisch 25. Huizingas Geschichtsbegriff wurde besonders scharf von seinen niederländischen Fachkollegen kritisiert 26. Der Untertitel „Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden“ legt die thematische, räumliche und zeitliche Begrenzung des Forschungsgegenstands präzis fest. Die raumzeitliche Eingrenzung wird in der Darstellung auf die Gebiete des Duche´ de Bourgogne und die Zeit von etwa 1350-1480 weiter eingeschränkt, also auf die Blütezeit des „hochmütigen“ Herzogtums Burgund, regentlich personifiziert durch die vier Herzöge Philipp den Kühnen (1364-1404), Johann ohne Furcht († 1419), Philipp den Guten († 1467) und Karl den Kühnen († 1477). Weite Teile der Niederlande, auch Flandern, Brabant, das Herzogtum Luxemburg, also fast die ganzen heutigen BENELUX-Staaten, und Lothringen gehörten dazu, also etwa das Gebiet von Cluny und Basel im Süden bis Calais und Amsterdam im Norden. Die dritte, die thematische Begrenzung bleibt indes vage, wie so oft, wenn vom „Geist einer Zeit“, „Vom Geist des ausgehenden Mittelalters“ 27, vom „mittelalterlichen Geistesleben“ 28 oder vom „Zeitgeist“ überhaupt die Rede ist. Was sind „Lebens- und Geistesformen“? Wo und wie existieren sie? Wer ist ihr Subjekt? Wie gewinnt man Kenntnis von ihnen? Das bleibt bei Huizinga unreflektiert; es mangelt bei ihm an einer präzisen theoretischen Bestimmung 29. Bei solchen Fragen steht eine ähnliche Problematik im Hintergrund wie beim alten Universalienproblem, hier die Frage nach Existenzweisen von Kultur- und Geistuniversalien. Dabei lag, als Huizinga in Leipzig studierte, Wilhelm Wundts (1832-1920) Theorie der Lebensformen schon vor 30. Wundt hatte individuelle, soziale und humane Lebensformen unterschieden und diese mit „Sitten“ gleichgesetzt. Und fünf Jahre vor Huizingas „Herbst“ hatte der Dilthey-Schüler Eduard Spranger (1882-1963) auf die Bedeutung von „Lebensformen“ für die Erkenntnis geistiger Erscheinungen hingewiesen 31. Was sich in Einzelpersönlichkeiten zu „Welt25
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Als ein Beispiel die umfangreiche und kritische Rezension von H. Günter, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 46,1 (1926), 622-630, der die Verallgemeinerungen generell, vor allem aber die der ersten Hälfte inkriminiert. Wesseling, Art. ,Huizinga‘ (nt. 9), col. 675 sq., nennt M. ter Braak, P. N. van Eyck, P. C. A. Geyl, J. M. Romein; cf. E. Hone´e, Art. ,Huizinga‘, in: Theologische Realenzyklopädie, vol. 15, Berlin 1986, 638; Strupp, Johan Huizinga (nt. 2), 69 u. 87-89. So der Titel eines Werkes von R. Stadelmann mit dem Untertitel: Studien zur Geschichte der Weltanschauung von Nikolaus Cusanus bis Sebastian Franck (Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Buchreihe 15), Halle/Saale 1929. M. Grabmann, Mittelalterliches Geistesleben. Abhandlungen zur Geschichte der Scholastik und Mystik, 3 vol., München 1926-1956, 21957. Derartige Begriffe fehlen auch in einem Handbuch wie Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, vol. 1-8,2, Stuttgart 1972-1997. W. Wundt, Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, 2 vol., Stuttgart 1886; 3 vol 51923-1924. Nach G. Mittelstädt, Art. ,Lebensformen‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 5, Basel - Darmstadt 1980, col. 118 sq. E. Spranger, Lebensformen. Ein Entwurf, Halle 1914 (erweit. 21921); nach Mittelstädt, Art. ,Lebensformen‘ (nt. 30).
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anschauungen“ konkretisiere, sei in der Kulturphilosophie auf überindividuelle Geisteszusammenhänge anzuwenden. Um zu „Gesamtlebensformen“ von „Repräsentanten von ganzen historischen Geistesbewegungen“ wie Humanismus, Pietismus u. a. zu kommen, ist nach Spranger allererst eine Theorie überindividueller Subjekte erforderlich. Das scheint mir eigentlich auch Huizingas Anliegen zu sein. Daß von ihm aber weder Sprangers noch Wundts Ansatz aufgegriffen wurde, macht die oft beklagte theoretische Schwäche Huizingas an diesem Punkt einleuchtend. Daß die Begriffsgeschichte von „Lebensformen“ nicht erst, wie man im Historischen Wörterbuch der Philosophie erfährt 32, im 19. Jahrhundert begann, hatte Arno Borst in seinen „Lebensformen im Mittelalter“ (1973) 33 schon gezeigt. Über das Mittelalter und Augustins vitae forma hatte er sie schon bis auf Ciceros forma vivendi und Platos bi¬vn paradei¬gmata zurückgeführt, neben die man getrost auch noch die bi¬oi des Aristoteles und im besonderen dessen bi¬ow uevrhtiko¬w setzen kann 34. Die über 22 Kapitel weitgespannte Thematik des „Herbst des Mittelalters“ gibt also nur indirekt darüber Auskunft, was Huizinga als Lebens- und Geistesformen ansieht. Ihn beschäftigen - stichwortartig notiert - die „Spannung des Lebens“, Ästhetisierung des Lebensstils, Gesellschaftshierarchie, Ritter- und Heldentum, Stilisierung, Umgangsformen und Symbolik der vor allem höfischen Liebe, das Bild des Todes, Religionsidee und Frömmigkeitstypen (hier vor allem die devotio moderna), Mystik als Alternative zum mittelalterlichen „Realismus“, die Kunst im Leben, in Bild und Wort. Als feste Lebensformen scheinen ihm vor allem Religion, Rittertum und höfische Minne zu gelten (360), während Geistesformen offensichtlich „Denkformen“ wie Realismus, Symbolismus, Ausdrucksund Empfindungsformen in der Kunst sind. Im Schlußkapitel über „Das Kommen der neuen Form“ (Kap. 22) bleibt im vagen, was die neue Form ist; daß sie kommt, scheint klar; wie sie kommt, wird so bestimmt: Nicht plötzlich, sondern langsam neben dem Alten entwickelt sich das Neue, zuerst in der Form, dann erst im Geist: Überwindung mittelalterlicher Lebensverleugnung und der Glaube an eine rückzugewinnende antike Welt - das ist „Renaissance“ a` la Huizinga. Man muß sich den Themenreichtum in seiner aspektreichen, nein überbordenden Entfaltung vor Augen halten, um die erschlagende Fülle dieser „Lebensund Geistesformen“ en gros et en de´tail zu realisieren. Huizinga weiß viele wunderbare Einzelheiten. Es scheint so, als ob ihm ein schier unversiegbares Quellenmaterial zur Verfügung gestanden hätte. Solchen Leseeindruck reduziert er aber schon selbst auf wenige, jedoch aussagekräftige Quellen der französischen Literatur und niederländischen Malerei, aus dieser vor allem die beiden van Eycks, eher Jan (~1390-1441) als Hubert (~1370-1426), Rogier van der 32 33
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Mittelstädt, Art. ,Lebensformen‘ (nt. 30), col. 118. A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1973; erneut (als Ullstein Sachbuch) Frankfurt - Berlin 1988, 14-20. Nikomachische Ethik X 7, 1178a6 u. ö.
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Weyden (1399/1400-1464), auch noch Claus Sluter († 1406); aus jener vor allem Eustache Deschamps, gen. Morel (1346-1406?) und seine Poetik „L’art de dictier et de fere chancX ons“ (um 1390), von den „Historikern“ die „Chroniques de France“ 35 (entstanden zwischen 1373-1400) des Jean Froissart (1337 - um 1404), „Le livre des faits du bon chevalier messire Jacques de Laleing“, eine Biographie des vollkommenen Ritters, vermutlich von Georges Chastellain (1404-1475), schließlich noch der allegorische „Roman de la rose“ aus dem 13. Jahrhundert 36. Solche Quellen werden allerdings viel zu wenig und nicht immer glücklich seitens der Philosophie und Theologie bilateral komplettiert durch den doctor christianissimus Jean Charlier, gen. Gerson (1363-1429) und den doctor ecstaticus Dionys von Rijkel (1403-1471). Urkunden, Akten, Gesta, Briefe und andere Dokumente spielen hier, anders als z. B. bei A. Borst, keine Rolle. Huizinga verzichtet auf „die zuverlässigsten Grundlagen der Geschichtskenntnis“, denn das „ganze Leben der Zeit spiegelt sich in der Literatur und findet in ihr Ausdruck“, während die „offiziellen Dokumente“ dürr, farb- und leidenschaftslos seien (18, 359). Insgesamt also dann doch eine durchaus überschaubare Quellenlage. Einwände Mit seinen dem 14. und 15. Jahrhundert herauspräparierten Lebens-, Geistesund Denkformen legte Huizinga soziale, religiöse, vor allem und immer wieder „ästhetische“ Strukturen eines biregionalen europäischen Territorialstaates frei, im neuburgundischen Staat zu politischer Einheit zusammengeführt. Da Huizinga viele Bereiche, vor allem das politische und ökonomische Geschehen, weitestgehend unberücksichtigt läßt, kann es sich zweifellos nur um partikulare Strukturen zweier partikularer Euro-Regionen handeln. Das hat man stets zu berücksichtigen. Kritisch ist dazu anzumerken, daß es Huizinga nicht gelingt, die selbstauferlegte geographische Beschränkung durchzuhalten. Allzu häufig ist generell die Rede vom „mittelalterlichen Geist“ als Einheit und Ganzem, vom „Geist des 15. Jahrhunderts“, einer „Zeit heftiger Depression und gründlichen Pessimismus“ (267, 326, 342, 368). Partikularisierung und Generalisierung stehen bei ihm unvermittelt nebeneinander: „Die französisch-burgundische Kultur des ausgehenden Mittelalters zählt zu den Kulturen, in denen Pracht die Schönheit verdrängen will. Die Kunst des ausgehenden Mittelalters spiegelt treulich den spätmittelalterlichen Geist wider [...]“ (365). Es gibt auch das umgekehrte Verfahren: Was generell gilt, erscheint dann hier als Besonderheit 37. Vielleicht 35
36 37
Chroniques de France, d’Angleterre, d’Escoce, d’Espaigne, de Bretaigne, de Gascogne, de Flandres, et lieux circunuoisins; Erstdruck 1495; ed. S. Luce e. a., 15 vol., 1869-1875. Verfasser: Guillaume de Lorris (um 1225/1230) und Jean de Meun (um 1270/1280). Weitere Beispiele für Generalisierungen 34-36, 64, 343 (Krisentheorie), 415, 461 und für Partikularisierungen z. B. 166 sqq. (Liebessymbolik).
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wollte Huizinga solche Generalisierungen ja immer wieder einmal wagen. Oder zeigt sich darin eine „de´formation professionelle“? „Der mittelalterliche Geist verallgemeinert gern einen Fall“ (343). Nur wenige Rezensenten ließen ihm dies durchgehen, viele monierten es, teils heftig 38. Die ebenfalls immer wieder auftretenden Psychologisierungen 39 erscheinen dagegen eher als harmlos. Huizinga trägt in seiner Untersuchung viele Aspekte an die Zeit heran, die er - stets konträr zu, aber immer unpolemisch 40 gegenüber Jacob Burckhardts Renaissance-Bild - als Ausgang des Mittelalters begreift und gegen den nordund mittelitalienischen Kulturraum des 15. Jahrhunderts stellt. Er zeichnet nicht „ein Gemälde“ dieser Zeit, wie es geheißen hat 41; in 20 Kapiteln bietet er vielmehr eine serielle Bilderfolge, keine „danse macabre“ des Mittelalters wie später Rudolf Stadelmann 42, aber einen bunten Bilderreigen, in dem der Schwarze Tanz dann aber auch vorkommt (Kap. 11). Die Bilder, die Huizinga von den Lebensund Denkformen entwirft, sind keine Genres mit lebensnaher Wirklichkeit noch Sozialidyllen, sondern spannungsgeladene, höchst artifizielle, ästhetisierende Tableaus. Aufs Ganze gesehen kann man die 22 Kapitel als eine Sprache gewordene Bildsequenz ansehen, eine literarische historia pauperum (spiritu Mt. 5,3). Man kann dann fragen, ob Huizinga seine Darstellungsart nicht der Darstellungsweise der hochgelobten alten Meister, der Jungen Neuen angeähnelt habe; ob er nicht schon in einen stillen „Paragone“ mit den van Eycks und ihrer Schule getreten war, als er „Die Kunst der van Eycks“ (1916) schrieb 43. Was Huizinga an van Eyck bewunderte, war dies: „Die Darstellung alles Denkbaren bis in seine letzten Konsequenzen, die Überanfüllung des Geistes mit einem unendlichen System formaler Vorstellungen, das macht auch das Wesen der Kunst jener Zeit aus. Auch sie strebte danach, nichts ungeformt, nichts ungestaltet oder unverziert zu lassen.“
Seine Tableaus rücken, ähnlich wie bei van Eyck 44, eine Hauptperspektive in den Vordergrund mit mehreren Nebenperspektiven im Hintergrund. Das ergibt eine Multiperspektivität, die für die Skizzierung eines Zeitkontinuums von eineinhalb Jahrhunderten allemal erforderlich ist. Wird mit solcher Polyperspektivität die Tiefenschärfe erhöht oder nimmt sie infolge unterschiedlicher Brenn38
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Pro: H. Rheinfelder, Rez., in: Literaturblatt für german. u. roman. Philologie 49 (1928), 426428; contra z. B. A. Brackmann, Rez., in: Zeitschr. f. Ästhet. u. allgem. Kunstwissensch. 20,1 (1926), 93-97. Nur ein Beispiel, das zeigen soll, was hier gemeint ist (100): „Aber der Traum von der Heldentat aus Liebe, der nun sehnsuchtsvoll das Herz erfüllt und berauscht, wächst und wuchert wie eine üppige Pflanze.“ Cf. 48, 88 sq., 209. Hone´e, Art. ,Huizinga‘ (nt. 26), 637. Cf. nt. 27. Cf. nt. 3. Zur mehrfachen Perspektive in der Malerei van Eycks cf. G. J. Kern, Die Grundzüge der LinearPerspektivischen Darstellung in der Kunst der Gebrüder van Eyck und ihrer Schule. 1. Die perspektivische Projektion (Diss. Phil.), Leipzig 1904.
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punkte insgesamt Schaden? Huizingas schöne Tableauzeichnungen sind so detailreich, von solch „müheloser Weitschweifigkeit“, daß sie leicht zu erinnerungslosem Verschwinden verurteilt sind. Eine geschlagene Schlacht soll man nicht noch einmal schlagen. Die Einwände gegen Huizingas Thesen vom „Herbst des Mittelalters“ waren zahlreich. Wenn aber nach der „Erklärungskraft“ der Thesen heute gefragt wird, muß man die wichtigsten Argumente und die Metaphorik, die dafür aufgewendet wurden, noch einmal abwägen. Kann Huizinga dann den Pardon bekommen, den er sich erbeten hatte, als er mit Hinweis auf die Gefahr, „die darin liegen kann, historische Abschnitte mit Jahreszeiten zu vergleichen“ 45, den Wert seiner Metapher selbstkritisch einschränkte? Die Antwort wird wohl heißen: Nachsicht mit der Unschärfe der Metapher, nicht mit den Unschärfen in dem, was jenseits der Metapher steht. Dabei steht nicht die Frage im Vordergrund, wie wissenschaftlich eine bildhaft-intuitive Geschichtsdarstellung überhaupt sein kann, sondern welche Versäumnisse dabei unterlaufen. Weitgehend ausgeblendet blieben Politik, Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, auch der Anteil des Bürgerlichen an der Kultur. Damit handelte Huizinga sich die Vorwürfe ein, er erfasse Kulturgeschichte elitär, begreife die Phänomene idealisierend-ästhetizistisch 46, nähere sich der Geschichte „in ihrer visuellen Gestalt, mit Sucht nach Schönheit, einer anderen Schönheit, als die eigene Zeit ihm bot“ 47. Arno Borst bezweifelt, daß die Ästhetik und Stilisierung der Kronzeugen Huizingas, meist „burgundische Höflinge“, schon mittelalterliche Lebensformen erfassen 48. Kann man solchen Beurteilungen durchaus zustimmen, dann aber wohl kaum mehr einer Einschätzung wie dieser, Huizinga bewege sich „essayistisch in bisweilen auffälliger Nähe zum gehobenen journalistischen Stil“ 49. Kann er sich aber den Vorwürfen, sein Zugang zur Geschichte und seine Methode seien unwissenschaftlich, schon mit dem Hinweis entziehen, Geschichte sei - gerade wegen ihrer subjektiven Anschaulichkeit und ästhetisch bestimmten Vorstellung - die unwissenschaftlichste Wissenschaft 50? Die Metapher vom „Herbst des Mittelalters“ „Naturnahe Metaphern bieten sich an“, bemerkte aus aktuellem Anlaß jüngst Martin Walser, „weil Geschichte wie Natur ein Prozeß ist, der der Zeit unterwor45 46 47
48 49 50
Herbst des Mittelalters. Vorrede zur 1. deutschen Auflage 1924, Stuttgart 1975, XIII sq. Wesseling, Art. ,Huizinga‘ (nt. 9), col. 675. P. Geyl, Huizinga als aanklager van zijn tid (Mededeelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen. Afd. Letterkunde, N. R., Deel 24,4), Amsterdam 1961, 152. Borst, Lebensformen (nt. 33), 33. Wesseling, Art. ,Huizinga‘ (nt. 9). Ibid. Cf. auch J. Huizinga, Über eine Definition des Begriffs Geschichte, 80 sq., in: Wege der Kulturgeschichte. Studien von J. Huizinga. Dt. v. W. Kaegi, München 1930, 78-88; erneut in: Geschichte und Kultur. Gesammelte Aufsätze. Ed. u. eingel. von K. Köster, Stuttgart 1954.
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fen ist.“ 51 Mit seiner naturnahen Metapher „Herbst des Mittelalters“ gelang Huizinga eine ungemein suggestive und wohl deswegen so erfolgreiche Metapher 52, die hier in ihrer uneigentlichen, übertragenen Verwendung, also tropisch 53 genommen wird. Huizinga hat sie nicht kreiert, aber publik gemacht; er entnahm sie einer langen Tradition, um sie in unverwechselbarer Weise zur Charakterisierung einer bestimmten Zeit mit einer spezifischen Tönung zu verwenden. Zur Geschichte der Jahreszeiten- und Herbst-Metapher Geschichtsmetaphern sind mindestens so alt wie die uns überlieferte Historiographie und der historische Mythos, mutmaßlich noch älter. Hesiods Periodisierung des Ablaufs des Weltgeschehens, seine Rede vom Goldenen, Silbernen, Ehernen und Eisernen Geschlecht, Lukrez’ Kulturrevolutionstheorie, Ovids Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, Sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat.
Und es entstand die erste, die goldene Zeit: ohne Rächer, Ohne Gesetz, von selber bewahrte man Treue und Anstand.
- sie alle belegen das hinreichend 54. Jahreszeitenmetaphern stammen einerseits aus der Naturerfahrung des Menschen 55; andererseits gehören sie zu den Bewegungsmetaphern, insofern sie auf der Sonnen- und Erdumdrehung beruhen (A. Demandt 56). Letzteres macht Jahreszeitenmetaphern eigentlich ungeeignet für die Kennzeichnung eines ge51
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Über ein Geschichtsgefühl. Vom 8. Mai 1945 zum 9. November 1989: Die Läuterungsstrecke unserer Nation führt nach Europa [Rede zum 8. Mai 2002, Berlin], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 10. Mai 2002, Nr. 107, 46. Zur Bestimmung der metaphora´ als Gattungsbegriff cf. Aristoteles, Poetik 21, 1457b6-33, wo vier Arten erwähnt werden, ein Wort von dem ihm angestammten in einen anderen Bedeutungsbereich zu versetzen. Später meist nur für analogischen Austausch verwendet, also für den tropus. Ein tropos (Wendung, übtr. Charakter) ist seit Quintilian (Instit. Orat. VIII, 6.1) verbi vel sermonis a propria significatione in aliam cum virtute mutatio. Die kunstvolle Vertauschung macht deshalb eine richtige (Rück-)Übersetzung erforderlich, bei der neben der wörtlichen Bedeutung auch die ästhetische Sprachform zu berücksichtigen ist, wie der Renaissance-Übersetzer Leonardo Bruni anmahnte: De interpretatione recta [ca. 1420] (Humanist.-philos. Schriften, ed. H. Baron, Leipzig - Berlin 1928, ND Wiesbaden 1964 u. 1970, 84). Cf. E. Ostermann, Art. ,Tropen; Tropos‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 10, Basel - Darmstadt 1998, col. 15201523, dessen Hinweise ich bei meiner Metapherndiskussion gerne aufgegriffen habe. Hesiod, Erga 90-212; Lukrez, De rerum natura V 828-837; Ovid, Metamorph. I 89 sqq. Lukrez, De rer. nat. V 1437 sq.: „sol et luna suo lustrantes lumine circum | perdocuere homines annorum tempora verti.“ A. Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, hier bes. III. Jahres- und Tageszeiten-Metaphern (124-165); cf. auch I. Was sind Metaphern für Geschichte? (1-16) u. VII. Was bedeuten Metaphern für Geschichte? (426-453).
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schichtlichen Kontinuums, weil sie eine zyklische Wiederholung nach festem Zeitrhythmus suggerieren. Daher muß ein zyklentheoretisches Verständnis für die Kennzeichnung eines bestimmten Zeitkontinuums ausgeschlossen werden. Im Deutschen und wohl auch im Niederländischen wurde der jahreszeitliche Aspekt des Herbstes mit all seinen Schattierungen schon seit dem 16. Jahrhundert auf das menschliche Lebensalter übertragen 57. Dem „Herbst des Lebens“ ließ man damals das reife Greisenalter entsprechen. Die naheliegende Parallelisierung mit dem Menschenleben war indes schon Ovid vertraut 58. Die Übertragung der Herbstmetapher vom menschlichen Leben auf soziale, politische, kulturelle Zeiten liegt nahe, wenn man diese organismisch entstehen und vergehen sieht. Der Gebrauch der Herbstmetapher für historische Zeiten machte eigentlich einen Schluß mit der toten Winterszeit und einen frühlingshaften Anfang erforderlich. Beides findet sich im politischen Metaphernreservoir. Huizinga aber isoliert seine Herbstmetapher. Johann Gottfried von Herder ließ es politisch gleich zweimal Frühling werden, mit der Völkerwanderung in Italien und mit der Reformation in Deutschland. Bei dem Revolutionsdichter Georg Herwegh (1817-1875) wird das Jahr 1848 zum Boten eines neuen politischen Frühlings, den eine Schwalbe - seit Ovid und Horaz die praenuntia veris 59 - verkündet, die Heinrich Heines Spott dann zum Maikäfer mutieren läßt 60: Andre Zeiten, andre Vögel! Andre Vögel, andre Lieder! ... ...
Welch ein Sumsen, welterschütternd! Das sind ja des Völkerfrühlings kolossale Maienkäfer Von Berserkerwut ergriffen.
Nachdem Herder den Beginn von Mittelalter und Neuzeit als Frühlinge deutete, scheint es folgerichtig, den Ausgang des Mittelalters als Herbst zu deuten. In Opposition zum Frühjahr sieht der Herbst allerdings immer alt aus: Auf „des lenzes heiterm glanze“ reimte Schiller „des herbstes welkem kranze“ („Klage der Ceres“). Und Lessing empfahl dem, der „in dem frühlinge seines lebens [...] herumgeschwärmt“, sich „in dem reifen herbste seiner jahre in den philosophischen mantel ein*zu+hüllen“ 61. Die Herbst-Metapher führt bestimmte, erfahrungsgebundene Bildkomplexe mit sich, die, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, konnotiert werden. Für unter57
58 59 60
61
Cf. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, vol. IV, 2. Abt., Leipzig 1877 (ND München 1984, vol. 10), col. 1067 sq. Metam. XV 199-213. Ovid, Fasti II 853; Horaz, Ep. I 7,12. H. Heine, Atta Troll. Ein Sommernachtstraum (1841), Caput XXVII, 45-46, 53-56 (H. Heine, Sämtl. Schriften, ed. K. Briegleb, vol. 4, München - Wien 1971; 21978; dass. als dtv-Ausgabe, vol. IV, München 1997, 570); zit. bei Demandt, Metaphern (nt. 56), 143. Schillers Werke, ed. Chr. Christiansen, Hamburg (Gutenberg-Verlag) o. J., vol. Gedichte I, 141; G. E. Lessing nach Grimm, Deutsches Wörterbuch (nt. 57), col. 1067 sq.
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schiedliche Kultur- und Sprachkreise hat man wahrscheinlich mit divergierenden Konnotationen zu rechnen. Da sie von alters her unterschiedliche, auch widersprüchliche Bilder assoziieren läßt, ist sie also nicht eindeutig festgelegt. Das spiegelt sich in der überreichen Ikonographie. Also ist sie auch nicht eindeutig „übersetzbar“. In unserem Fall verdeutlichen das auch changierende Übersetˆ ge“ 62, zungstitel, im Französischen von „Le De´clin ...“ zu „L’automne du Moyen A im Englischen von „The Waning ...“ zu „The Autumn of the Middle Ages“ 63. Die Nicht-Eindeutigkeit der Jahreszeiten-Metapher ist aber nur Indikator einer größeren Schwäche, daß sie „im allgemeinen eher dekorative als konstruktive Bedeutung für die jeweils mit ihr dargestellte Geschichte“ hat. Damit stellt sich die generellere Frage nach der Exaktheit von Huizingas Einsichten. Die Frage nach der Exaktheit seiner kulturhistorischen Analysen ist die Frage nach Huizinga als Historiker. Huizing a als Historiker Im Rückblick auf seine Anfänge bemerkte Huizinga: „Ich war ja Linguist und Sanskritist und wollte mich auch fernerhin in diesen Richtungen wissenschaftlich entfalten.“ 64 Die Entfaltung verlief bekanntlich anders, anders dann auch als bei einem Historiker zu erwarten. Noch ein Jahr vor seinem Tode bekannte sich Huizinga als Fremdling unter den Historikern: „In der streng geschlossenen Gilde der Philologen und Geschichtsforscher, wo die Reglemente gelten und den Vorschriften nachgelebt werden muß, habe ich mich nie zu Hause gefühlt.“ 65 Huizinga, der „Historicus tegen de tijd“ 66, setzte seine Vorstellung von Geschichte immer deutlich von denen seiner Fachkollegen ab. „Geschichte als Bilder“ war schon das Thema der Groninger Antrittsvorlesung. Noch am Ende galt ihm „die Wahrnehmung des Historischen“ „als eine Evokation von Bildern, wobei zunächst völlig offen bleiben kann, was dabei unter ,Bildern‘ zu verstehen 62
63
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ˆ ge. Traduction par Julia Bastin (Bibliothe`que historique), Paris 1932, ND Le De´clin du Moyen A 1948; erneut Paris 1958 (Le Club du meilleur livre. Collection Historia 14) u. Paris 1976 (Petite Bibliothe`que Payot 108). Eine Übersetzungsausgabe der siebziger Jahre (Paris 1975?, die nachzuweisen mir allerdings nicht gelang), nach Strupp, Johan Huizinga (nt. 2), 135, nt. 54: L’Automne ˆ ge. du Moyen A The Waning of the Middle Ages. A Study of the Forms of Life, Thought, and Art in France and the Netherlands in the 14th and 15th Centuries. Translated by F. Hopman, London 1924; erneut Garden City, N.Y. 1954; New York 1985; Mineola, N.Y. 1999. Dann in neuer Übersetzung: The Autumn of the Middle Ages. Translated by R. J. Payton and U. Mammitzsch, Chicago (UCO) 1996. Die von E. Peters und. W. P. Simons (id., The New Huizinga and the Old Middle Ages, in: Speculum 74,3 [1999], 587-620) erwähnten Übersetzungsalternativen „The Harvest ...“, „The Decline ...“, „The Evening of the Middle Ages“ (587) waren nicht nachzuweisen. Mein Weg (nt. 9), 39. Ibid., 60. W. E. Krul, Historicus tegen de tijd. Opstellen over leven en werk van Johan Huizinga, Groningen 1990. (Krul ist Dozent für Neuere Geschichte an der Universität Groningen.)
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sei“ 67. In jedem Fall geht es ihm um bildhafte Erzählung: „Um kritische Fundierung kümmerte ich mich wenig, ich wollte vor allem die blühende, lebendige Erzählung geben“, so Huizinga über seinen „Herbst des Mittelalters“ (49 sq.). In der Skizze zu einer ungehaltenen Rede 68 (1940) bestimmt er dann schließlich Geschichte generell als Erzählung in Bildern, als „ein geistiges Produkt - sie ist das intelligible Bild, das Geschlecht um Geschlecht und Kultur um Kultur sich immer neu zu schaffen haben aus den wüsten Brocken der Vergangenheit, zu denen ihr Auge hindurchdringen kann“.
„Geschichte“ ist demnach nichts anderes als vom menschlichen Geist produzierte und geistig rezipierte Bilder. Oder besser: Geschichte als Bilderzyklen, denn die vom Menschen gemachte Historie ist nichts von Bestand. Sie wird von Generation zu Generation sukzessiv erzeugt. Bestand gewinnt das Bild und damit die Geschichte selbst allenfalls durch ihre eigene Historisierung, indem sie selbst Vergangenheit wird. „Vergangenheit“ ist der Gegenstand von „Geschichte“, ihr Erkenntnisobjekt vergangenes Geschehen in brockenhafter Fragmentierung, in der Vergangenheit einzig ansichtig wird. Solchermaßen definierte Huizinga Geschichte als die intelligible, „die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt“ 69. Mit dieser Definition, der sich jüngst noch Arno Borst verpflichtet fühlte 70, machte Huizinga Geschichte zum Räsonnement über eine je gegenwärtige Kultur aus ihrer Herkunft. Der Historiker - und das ist für ihn der Kulturhistoriker - aktualisiert Geschichte, indem er die Autopoiesis seiner (oder auch einer Fremd-) Kultur autopoietisch „errechnet“. Damit zeigt Huizinga sich dem Geschichtsverständnis seines Zeitgenossen Benedetto Croce (1866-1952) nahe: Jede wahre Geschichte sei Geschichte der Gegenwart, insofern sie nur als mein Denken Geschichte wird 71. Schon angesichts seiner Verliebtheit in seinen spätherbstlichen Bilderbogen scheint die Frage nicht abwegig, inwieweit Huizinga seinem eigenen Geschmack verhaftet blieb. Methodisch gewendet: Hat er tatsächlich den „Entwurf eines historischen Horizontes“ geleistet, der sich von seinem Gegenwartshorizont unterscheidet, und „den Horizont der Überlieferung von dem eigenen Horizont“ 72 hinreichend abgehoben? Helmut Georg Koenigsberger hat das vor einiger Zeit 67 68
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Mein Weg (nt. 9), 50. Wie bestimmt die Geschichte die Gegenwart? Eine nicht gehaltene Rede, in: Mein Weg (nt. 9), 73-95; das Zitat 74 sq. Over een definitie van het begrip geschiedenis (Mededeelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afdeling Letterkunde, Deel 68, Ser. B, 2), Amsterdam 1929, 31-42; dt.: Über eine Definition des Begriffs Geschichte (nt. 50), 86. A. Borst, Was uns das Mittelalter zu sagen hätte. Über Wissenschaft und Spiel, in: Historische Zeitschrift 244 (1987), 537-555, das Zitat 538. Teoria e storia della storiografia, Bari (11917) 31922; dt.: Theorie und Geschichte der Historiographie u. Betrachtungen z. Philos. d. Politik. Übers. v. H. Feist/R. Peters, Tübingen 1930. Nach H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, 290.
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für Huizingas Bild von der holländischen Kultur des 17. Jahrhunderts verneint 73. Und ein Landsmann Huizingas fragte jüngst, ob er sich eigentlich nicht nur selbst suchte 74. Nach Koenigsberger hat Huizinga unzulässigerweise seinen „eigenen Geschmack moralisierend zum Maßstab“ erhoben und „trotz allen literarischen und künstlerischen Feingefühls“ die Beurteilung der „Holländischen Kultur des 17. Jahrhunderts“ 75 - darum geht es bei Koenigsberger - zur „Geschmackssache“ gemacht. Genau das war mein Eindruck bei meiner „Herbst“-Lektüre, bevor ich Koenigsbergers Studie zu Spätzeit-Problemen las: Huizingas Urteil unterliegt einer durch und durch künstlerisch-ästhetisierenden Seh-, Erkenntnis- und Darstellungsweise. Dieser verdankt sich die teils suggestive Schönheit der Darstellung; dieser ist aber auch die Begrenztheit des Erfaßten geschuldet. Der Er trag der Herbst-Metapher für Huizing as kulturg eschichtliche T heorie Huizinga bedient zwar das gesamte Bedeutungsspektrum der Herbstmetapher, von der „Überreife“ (303) über das Seufzen des Herbstwindes (324) bis zum Ableben und Sterben (XIII) und wieder umkehrend zur „neuen Befruchtung“ und zum neuen „Werdegang“ (402, XIII); aber die negativen Konnotationen dominieren, vor allem: Erschöpfung im „letzten Ausblühen“, Entartung, Verfall und Niedergang des mittelalterlichen Geistes 76. Mit der biologischen Defloreszenz-Metapher bleibt das Stadium jedoch ambivalent offen: Der „Geist im Ausblühen“ kann zum einen der noch in, wenn auch schon am Ende der Blüte stehende „Geist“ sein; zum anderen der Geist, der schon definitiv zu blühen aufgehört hat; beide Stadien sind aber gar nicht an den Herbst gebunden, wie die Kirschblüte im Frühling beweist und die Rose, die „mitten im kalten Winter“ blühte wie der Sage nach die Blumen im Garten Alberts des Großen am Drei73
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H. G. Koenigsberger, Sinn und Unsinn des Dekadenzproblems in der europäischen Kulturgeschichte der frühen Neuzeit, in: J. Kunisch (ed.), Spätzeit. Studien zu den Problemen eines historischen Epochenbegriffs (Historische Forschungen 42), Berlin 1990, 137-157; 141 u. 154-156 zu J. Huizinga, Holländische Kultur im siebzehnten Jahrhundert. Ihre sozialen Grundlagen und nationale Eigenart. Drei Vorträge (Schriften des Deutsch-Niederländischen Instituts Köln 1), Jena 1932; Holländische Kultur im siebzehnten Jahrhundert. Eine Skizze. Dt. von W. Kaegi. Fassung letzter Hand. Mit Fragm. von 1932, Basel 1961; Frankfurt a. M. 1977. H. L. Wesseling, Zoekt Prof. Huizinga niet eigenlijk zichzelf? Huizinga en de geest van de jaren dertig (Huizinga-lezing 25), Amsterdam 1996. Holländische Kultur im 17. Jahrhundert. Eine Skizze (nt. 73). Herbst, 286, 293, 402, 461, 463. - Diese These blieb nicht unwidersprochen; cf. e. g. C. Neumann, Ende des Mittelalters? Legende der Ablösung des Mittelalters durch die Renaissance, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 12 (1934), 124171, hier 144: „Die Theorie vom Absterben, vom Tode, von der Auflösung und vom Konkurs des gotischen Zeitalters ist unbegründet und widerspricht allen historischen (insbesondere auch künstlerischen) Aussagen.“
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königstag 77. An eine geologisch-mineralogische Deutung des Verkrustens und Auskristallisierens mag man hier so wenig denken wie biologisch an das iterative Blühen im Jahreszeitenrhythmus. Doch der Endgedanke steht im Zentrum: „La fin s’approche en verite´ [...]. Tout va mal [...]“ - Huizingas Deschamps-Zitat als Motto seiner „Endperioden“-Studie 78! Der für den geistigen Verfall des Mittelalters sonst oft in Verantwortung genommene Nominalismus 79 erhält bei Huizinga in dieser Hinsicht allerdings eine Art Freispruch. Angesichts der Endvorstellung stellen sich Fragen ein: Ist Huizingas HerbstGeschichte eine Verfallsgeschichte, wie der englische Übersetzungstitel „The Decline of the Middle Ages“ glauben machen will? Kommt sie einer ´eschatonTragödie nahe? Oder könnte man in ihr eher eine metaphorische Darstellung im Mythos der Romanze sehen 80? A. Borst, der Huizinga für einen Dichter und dessen Erzählung für eine erst am Schluß gesprengte „poetische Illusion“ hält, scheint dieser Auffassung nahezukommen 81: „Ist aber schönes Spiel wirklich schon Lebensform? [...] Über das Elend des Menschenlebens kann der schön schreiben, dessen Leben nicht elend ist. Er kann stilisieren, woran andere laborieren. Das macht sein Zeugnis nicht falsch, aber einseitig. Ästhetik trifft so wenig wie Ethik den Kern mittelalterlicher Lebensformen.“
Aber Dichter dürfe man nicht als erste nach Lebensformen fragen. Die Frage stellt sich noch einmal anders: War Huizinga ein Romantiker? Man hat ihm eine gewisse Affinität zur Spätromantik nachgesagt, der Zeit Brentanos, Eichendorffs und Mörikes um 1830, ihm nur zwei Generationen voraus. Auch wenn er dem Mittelalterbild der (frühen) Romantik kritisch gegenüberstand, so zeigte er durchaus Sinn für romantische Motive und romantisches Erleben 82, zwar nicht für naive und volkstümliche Poesieformen, für das Frömmeln und Volkstümeln der Spätromantik, wohl aber eine stärkere Hinwendung zur Dichtung, eine Wertschätzung übergreifender organischer Ganzheiten (statt der IchBezogenheit der Frühromantik) und der Bindung an Staat, Religion und Geschichte. Später auch zukunftsgewandt, hing er aber immer auch einer poetisch verklärten Vergangenheit nach, das eigentümliche Wesen eines Volksganzen und 77
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„Es ist ein Ros entsprungen“ nach dem Speierer Gesangbuch, Köln 1599. Zur Albert-Sage bei Johannes von Beka cf. den Katalog: Albertus Magnus. Ausstellung zum 700. Todestag. Historisches Archiv der Stadt Köln, Köln 1981, 171 sq. Herbst, 42. Belege dafür bei O. G. Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116), Göttingen 1996, 141 sq.; zu Huizinga cf. Herbst, 289. Die beiden letzten Fragen im Anschluß an H. V. White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore - London 1973; dt.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991. - Bei letzterer werde ich nur kurz der Romanzenfrage nachgehen, die moderne Verurteilung der Kultur als Mythos (G. Bueno Martı´nez, Der Mythos der Kultur, Bern - Berlin etc. 2002: Kultur als ide´e-force; ein obskurantistischer Mythos) hier aber übergehen. Borst, Lebensformen (nt. 33), 33. Cf. Herbst, 73 sq. vs. 102, 255, 370.
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des Volksgeistes suchend, weniger progressiv, eher konservativ und restaurativ wie die Politische Romantik (Novalis, Joseph v. Görres, Adam Heinrich Müller) und ganz und gar nicht individual-genialisch 83. Huizingas Geschichtsbild zeigt im „Herbst des Mittelalters“ in der Tat religions-, rechts- und literarhistorische Züge, wie sie für Friedrich Schlegel, die Brüder Grimm und Görres charakteristisch waren. Als Endzeit-Romanze eines neu- oder postromantischen Autors kann „Herbst des Mittelalters“ freilich keine ´eschaton-Tragödie sein. Huizinga behandelte das „Ausblühen“ des Mittelalters ohne Wehmut und tragische Attitüde. In das Mittelalter, das noch Kontinuitäten mit sich selbst behält 84, schob sich bereits Neues hinein wie ein „Martinisömmerchen“ in den Novemberherbst (Gerhard Meier). Huizinga suggeriert ein undramatisches Fortschreiten zu einem Ende ohne Bruch. So franst das Mittelalter irgendwie aus und die dem neuen Geist vorausgehende neue äußere Form bleibt so vage wie das Ende der alten. Es ist der neue Geist der italienischen Renaissance mit der Burckhardtschen Signatur: Ebenmaß, Heiterkeit und Freiheit, während der mittelalterliche französische Geist, im Niedergang dann überraschend scharf akzentuiert, die Signatur Huizingas trägt: düster, barbarisch, bizarr überladen (463), nachdem er zuvor, zumindest in der Kunst, als hell, licht, heiter, sonnig, freudig und friedvoll gegen ein (manichäisches) Dunkel gezeichnet worden war (29, 380). Das Zuendegehen bleibt also im vagen. Daran ändert auch die Schlußmetapher der Herbst-Studien nichts, mit der Huizinga an den Originaltitel anschloß. In dem damals schon unüblichen, durch Huizinga wieder in die Lexika gekommenen 85 Compositum ,herfsttij‘ 86 schwingt in ,tij‘/,tijd‘/,getijde‘ u. a. auch die Bedeutung ,Gezeiten‘ mit 87. Sein Schlußbild (479): „Die Renaissance kommt erst [...], wenn die Ebbe ertötender Lebensverneinung einer neuen Flut weicht und eine steife frische Brise weht“, dieses Schlußbild ist nicht glücklich gewählt, nicht nur, weil Gezeiten immer wieder kommen und gehen. Zur mediterranen 83
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Die Kennzeichnung nach Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl., Stichwort ,Romantik‘, vol. 16, Wiesbaden 1973, 86 sq. Cf. etwa die Argumente und Beispiele 189, 253, 255, 348. Darauf machte mich mein Kollege Prof. Dr. Wouter Goris aufmerksam. Belege dafür in Woordenbook der nederlandsche taal, ed. J. A. N. Knuttel e. a., 17. deel, ’s-Gravenhage - Leiden 1941, col. 23 sqq. ,Herfsttij‘ (auch: herfsttijd [= mnl.: herfsttijt: Herbstzeit; autumn; Middelnederlandsche woordenboek von E. Verwijs u. J. Verdam, 3. deel, ’s-Gravenhage 1894, col. 369 sq.], herfstgetijde), seltenes Compositum aus ,herfst‘ und ,tij‘ (verkürzt aus ,tijde‘ oder ,tijd‘) = dt. Herbst, Herbstzeit, Herbstgezeit. - ,tij‘ (mnl. getide, = Gezeiten, tide) bedeutet 1. jeden kürzeren oder längeren Zeitraum; 2. een gezette tijd, eine bestimmte, festgesetzte Zeit; een op gezette tijden terugkerend ogenblick, einen zu bestimmten, festgesetzten Zeiten zurückkehrenden Augenblick; 3. den günstigen Zeitpunkt (= kairo´s). Etymologisch woordenboek von P. A. F. van Veen u. N. van der Sijs, Utrecht - Antwerpen 1990, 749. ,tijd‘ = Zeit im Sinn von aufeinanderfolgenden Momenten. In ,herfstgetijde‘ schwingt noch die Bedeutung ,Gezeiten‘ mit. Woordenboek der nederlandsche taal von A. Beets u. J. A. N. Knuttel, 6. deel, ’s-Gravenhage - Leiden etc. 1912.
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Renaissance will das doch eher nordische Bild nicht so recht passen wie zum locus amoenus des Damsterdiep im „weiten, frischen Groninger Land“, in dem ihm die Idee zu „Herfsttij der middeleeuwen“ gekommen war 87a. Das Mittelalter endet bei Huizinga nicht tragisch, auch wenn er seine Verfallsgeschichte immer wieder in den Mittelpunkt rückt. Geschickt vermied er den Dekadenzbegriff 88, der seit Baudelaire und Nietzsche modern geworden war. In Benedetto Croce, Oswald Spengler (1880-1936) und später in Arnold J. Toynbee (1889-1975) 89 fand die historische Verfallstheorie ihre modernen Vertreter. Bei Huizinga fehlt aber eine eigene Blütezeit, die dem Ausblühen vorausgehen müßte. Die höfisch-literarische Blüte Burgunds und die der niederländischen Malerei sind Teil seines verfallenden Mittelalters. Beide, burgundische Serenität und nördlich-heitere Gelassenheit, kommen aus der Kunst; sie begleiten den Verfall, überwinden ihn aber nicht. Für Huizinga, auf den die heutige Rede von der „Unersetzbarkeit der Metapher für das Erkennen und die Kommunikation“ (I. A. Richards, M. Black) zutrifft, waren Aufstieg, Sinken, Verfall nur sprachliche Bilder 90, vage Begriffe: „Ich selbst habe seinerzeit versucht, einen großen Abschnitt der Epoche des ausgehenden Mittelalters unter dem Gesichtspunkt des Verwelkens und Absterbens der Kultur zu betrachten. Aber solche allgemeinen historischen Urteile sterben uns auf den Lippen.“
Die Begriffe kulturellen Steigens und Sinkens, immer schwankend und ungenügend, entgleiten uns, sobald wir sie benutzen wollen 91. Wie zum Beweis wird der auf den Verfall zyklentheoretisch notwendige Neuanfang nicht proklamiert. Es blieben aber nicht nur das Wie und Wann der „neuen Form“ im vagen, auch das Wo. Zeigte sie sich im Nürnberg der Pirckheimer, von Celtis, Regiomontan, Beheim, Dürer? Im Augsburg der Fugger, von Peutinger, Burgkmair, Holbein d. Ä.? In Wittenberg und Ingolstadt; in Prag, Lissabon, Sevilla oder wo sonst? Die „neue Form“ wird im Norden, namentlich in Frankreich vor ihrem eigenen Ausblühen (465) als Renaissance kaum reifen. Daß dort Humanisten „etwas mehr als üblich sich eines reinen Lateins und eines klassischen Satzbaus befleißigte(n)“ und freundliche Humanistenbriefe wechselten, erschien Huizinga bestenfalls als „eine ganz lose, äußerliche Hülle“. Ob die neue Form und damit 87a 88
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Mein Weg (nt. 9), 56. Cf. C. Antoni (1896-1959), Problemi e metodi della moderna storiografia: J. Huizinga, in: Studi Germanici, Anno I (Firenze 1935), No. 1, 5-21, hier bes. 5-12: „Fine del Medioevo? Adoperando il termine di ,Autunno‘ o piu` esattamente di ,Ora autunnale‘ (Herbsttij), Huizinga ha abilmente vitato il pericoloso concetto di tale decadenza.“ Croce, Teoria (nt. 71); O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 2 vol., München 19181922; A. J. Toynbee, A Study of History, 12 vol., London 1934-1954; Auswahl dt.: Studie zur Weltgeschichte. Wachstum und Zerfall der Zivilisationen, Hamburg 1949; Der Gang der Weltgeschichte. Aufstieg und Verfall der Kulturen, 2 vol., Zürich etc. 1949-1958. Cf. Lukrez, De rer. nat. V 1014: „tum genus humanum primum mollescere coepit.“ Wenn die Waffen schweigen (nt. 13), 2. Kap. Aufstieg u. Verfall der Kulturen, 34; 3. Kap. Steigen und Sinken der Kulturen, 61 sq., 64 u. 68.
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die Nahtstelle zum Mittelalter cisalpin „Neuzeit“ heißt, ist nicht mehr Thema der „Herbst“-Studien. Deren Verfallstheorie bleibt also Fragment. Um ins Bild zu kommen: Wie eine Schwalbe und ein Tag noch keinen Frühling machen - Aristoteles hatte in der „Nikomachischen Ethik“ 92 den dauerhaften Habitus der Tugend mit der Schwalben-Metapher einer Äsop-Fabel 93 illustriert -, so verkündet die Schwalbe, die auf Huizingas Mittelalter-Tableau über die Region Burgund/Niederlande zieht, allein noch keinen Herbst in Europa. Die „Zeichen am Himmel“, die anzeigen, „daß das Neue nahe ist“, müßten sich erst noch mehren und als globaler erweisen. Denn „Mittelalter“ ist bei aller Epochenproblematik ein gesamteuropäischer Epochenbegriff, der zwar nicht unbedingt einheitlich, aber insgesamt zerfallen müßte. Schwalben ziehen im Herbst nach Süden, aber nur von Norden aus gesehen; im Süden kommen sie aus Norden - und im Frühjahr umgekehrt, und immer in Schwärmen. Man kann generell fragen, ob eine Jahreszeitenmetapher nicht eher das gegenwärtig eigene als eine damalig-historische Zeitstimmung wiedergibt, und hier konkret, ob die Rede vom „Herbst des Mittelalters“ nicht eher ein durch eigenes Sentiment und Sympathie gefärbtes Nacherleben jener Epoche ist als eine historische Rekonstruktion jener fernen Zeit. Huizinga wollte mit seiner „figürlichen Ausdrucksweise“ die „Stimmung des Ganzen wiedergeben“ 94. „Stimmung“ nannte Wilhelm Dilthey das Lebensgefühl, auf das sich Weltdeutungen zurückführen lassen. Stimmungen „sind umgreifende Weltbezüge, in deren Licht uns die Wirklichkeit auf unterschiedliche Weise erscheint“ oder, wie Ernst Cassirer es sah, eine neue „Tönung des gesamten Weltgefühls“, mit dem sich der „Wandel geistesgeschichtlicher Epochen ankündigt“ 95. Einen solchen Epochenwandel hat Huizinga im französisch-niederländischen Spätmittelalter sehen wollen. Fragt man nach seiner Intention und ob er vielleicht den „Herbst des Mittelalters“ gegen seine damalige eigene Moderne beschwor, wie Otto Gerhard Oexle das neulich u. a. für Paul Ludwig Landsberg, Ferdinand Tönnies, Paul Honigsheim, Hans Sedlmayr und Romano Guardini aufzuzeigen unternahm 96? Bei Gustav Freytag 97, Jacob Burckhardt und auch Huizinga hatte wiederum A. Borst schon bemerkt 98, daß sie „die Grundvorstellungen ihres Jahrhunderts von Zeit 92
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Nikomachische Ethik I 6, 1098a18-20: mı´a chelido`n e´ar ou poieıˆ/una hirundo non facit ver, nach Aesop, Fabel 304; cf. G. Büchmann, Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, vol. 2, München 1967 (dtv 453), 479. Bei Äsop verkauft der verschwenderische junge Mann im Frühling beim Anblick der ersten Schwalbe auch noch seinen Mantel und fühlt sich dann von dieser inzwischen selbst erfrorenen Schwalbe betrogen. Cf. supra, nt. 45, XIV. F. J. Wetz, Art. ,Stimmung‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 10, Basel - Darmstadt 1998, col. 173-176. Oexle, Geschichtswissenschaft (nt. 79), 137-162: Kap. 5: Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach. G. Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, 5 vol., Leipzig 1859-1867. Lebensformen (nt. 33), 668.
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und Gemeinschaft ins Mittelalter hineintrugen“. Auch für Huizinga scheint also Vicos Axiom zu gelten: verum ipsum factum - das Wahre ist eben ein Gemachtes (Wahres). Im eingangs erwähnten Bild des Autors 99 gefragt: Hat Huizinga in seinem „Herbst des Mittelalters“ zuviel Herbst-Heu („quod semel singulis annis tondetur “ 100) auf die Gabel genommen, um Burckhardts Frühlingsschnitt zu wenden und umzusetzen? Man sollte sich hier in Erinnerung rufen, daß sich damals schon in verschiedenen Disziplinen Widerstand gegen einen romantischen Renaissancekult des 19. Jahrhunderts formiert hatte. Seitens der Kunst- und Kulturhistorie hatte Aby Warburg sich schon früh „gegen die Vergötterung des schrankenlosen Genies und Übermenschen“ gerichtet. Er habe, wie Dieter Wuttke jüngst schrieb 101, die dem 20. Jahrhundert aus dem Renaissancekult erwachsende Gefahr erkannt. Und schon kurz nach Erscheinen von Huizingas „Herbst“ diagnostizierte der Literaturhistoriker Walther Rehm 102 in der Finde-sie`cle-Stimmung um 1900 eine Umbewertung der mythisch-unhistorischen Renaissance-Romantik Burckhardts, Nietzsches und Wagners. Rehm erkannte „eine innere Bedingung“ zwischen dem hysterisch gesteigerten Renaissancekult des ausgehenden 19. Jahrhunderts und dem Dekadenzbewußtsein des Fin de sie`cle. Als Kronzeugen des Umschwungs ruft Rehm Thomas Manns Tonio Kröger (1903) auf (horribile dictu für einen Italien-Appassionato): „Gott, gehen Sie mir doch mit Italien, Lisaweta! Italien ist mir bis zur Verachtung gleichgültig. Das ist lange her, daß ich mir einbildete, dorthin zu gehören. Kunst, nicht wahr? Sammetblauer Himmel, heißer Wein und süße Sinnlichkeit [...] Kurzum, ich mag das nicht. Ich verzichte. Die ganze bellezza macht mich nervös. Ich mag auch all diese fürchterlich lebhaften Menschen dort unten mit dem schwarzen Tierblick nicht leiden. Diese Romanen haben kein Gewissen in den Augen.“
Tonio Krögers Anti-bellezza-Position mag nicht Huizingas Empfindung wiedergeben; aber vielleicht spiegelt sich in ihr doch etwas von einer ganz anderen, „nordisch moralistisch protestantischen“ Welt (Rehm), die ihren Exotismus an Frankreich statt an Italien befriedigt, eine Welt, die die seine gewesen sein könnte. Huizingas Stimmung, keineswegs singulär, ist in eine umfassendere Stimmung oder „Geistesform“ eingebettet gewesen. Man kann die Frage schließlich auch so stellen: Ist die Redefigur vom „Herbst des Mittelalters“ selbst eine figura cryptica 103 und seine Schrift insgesamt „ein
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Cf. supra, 5 u. nt. 10. fenum serotinum, „das heu, was von den nur einhauigen wiesen im Herbst gemäht wird“ - Johann Leonhard Frisch (1666-1743) nach: Grimm, Deutsches Wörterbuch (nt. 57), vol. 10, col. 1070. D. Wuttke, Aby Warburgs Kulturwissenschaft, in: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren (Saecula spiritalia 29-30), Baden-Baden 1996, 749. W. Rehm, Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 54 (1929), 296-328; das Zitat 324 sq. Im Sinne A. G. Baumgartens Aesthetica, Frankfurt a. M. 1750 (ND Hildesheim 1961), § 784.
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einziger Tropus“ 104? Handelt es sich bei ihr um ein „tropisches Verfahren“ in dem Sinn, in dem Hayden White die verstehende, welterschließende Auslegung kultureller Erfahrungsbereiche und den geschichtlichen Gesamtentwurf als ein „troping“ sieht, in dem sich ein Prozeß vom naiv-metaphorischen Verstehen zu reflektiertem Wirklichkeitsverständnis abspielt 105? Ist sie schließlich eher Dichtung als Historiographie, eine Poesie voller Tropen, ihre Sprache eine „Räthselsprache“ 106? Die „incorrupta fides nudaque veritas“ (Horaz, Carm. I 24,7) wird sie so wohl kaum freigelegt haben. Solche Fragen sind hier aber nun nicht mehr zu entscheiden; es genüge, sie an Huizingas „Studien“ heranzubringen, um den Blick für ihre Leistungsfähigkeit, aber auch für ihre Beschränkung zu schärfen. Fragt man heute nach der „Erklärungskraft“ der Huizingaschen Thesen, wird die Antwort aus mehreren hier vorgetragenen Gründen eher skeptisch ausfallen. Schon 1933 zählte der Literaturhistoriker Hanns Wilhelm Eppelsheimer (1890-1972) den „Herbst des Mittelalters“ zu „den Denkmälern unseres literarischen Schrifttums“ 107. Das war nicht ganz freundlich gemeint. A. Borst hat das noch einmal verschärft: Mit Freytag und Burckhardt habe Huizinga durch die „nationale und chronologische Verengung in der Forschung den mittelalterlichen Lebensformen den Garaus gemacht; denn sie beruhten auf ganz anderen Grundlagen von Zeitgefühl und Gemeinschaftsbildung“. 108
Wenn schon nicht durch Geltung, so hat Huizingas Herbst-Bild Bestand gewonnen durch seine und in seiner eigenen Historisierung. Die „Bilder einer Ausstellung“, von der eingangs die Rede war, zeichneten schon ein ganz anderes Bild. Längst ist Huizinga mit seinem Werk Objekt historischer Forschung geworden. Zeitschriftenartikel, Magisterarbeiten, Dissertationen 109, auch diese Tagung bezeugen seine akademische Inthronisation. Mit seinem „Herbst des Mittelalters“ hat sich Huizinga aber ganz gewiß ein bleibendes literarisches Denkmal 104
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J. W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen 1008, Hamburger Ausgabe, ed. E. Trunz, vol. 12, 9 1981, 507. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft (nt. 80), 50-57: Die Theorie der Tropen; id.: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (Sprachen-Geschichte 10), Stuttgart 1986, bes. Einleitung, 7-35 u. Kap. 9, 232-254. (Auch White schenkt Huizinga keine Beachtung.) Im Sinne der Romantiker Friedrich von Hardenberg (1772-1801) oder Novalis (Glauben und Liebe oder der König und die Königin [1798], Schriften, ed. P. Kluckhohn/R. Samuel, vol. 2, Stuttgart 21965, 485). H. W. Eppelsheimer, Das Renaissance-Problem, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 11 (1933), 477-500; das Zitat 477. Borst, Lebensformen (nt. 33), 668. Cf. Strupp, Johan Huizinga (nt. 2), und Peters/Simons, The New Huizinga (nt. 63). Ferner L. Hanssen, Huizinga en de troost van de geschiedenis. Verbeelding en rede (Diss. phil. Tilburg), Amsterdam 1996; F. Tremmel, „Weltgeschichtliches Dasein“. Kultur und Symbol: Über die „Formveränderung“ der Geschichte: Johan Huizinga, György Luka´cs und Ernst Cassirer (Magisterarbeit Universität Hamburg, FB Philos. u. Sozialwiss. 1998).
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gesetzt. Mit ihm durch das herbstelnde Mittelalter zu streifen lohnt sich noch immer, zumindest literarisch. Zum Schluß augenzwinkernd ein ApercX u Huizingas aus der „Skizze zu einer ungehaltenen Rede“ 110. Es hat mit dem Voraufgehenden nichts, allenfalls wenig zu tun. Zutreffendes wäre rein zufällig: „Die Jüngeren bekommen immer recht! Sie werden die Älteren richten und nicht umgekehrt; nur werden sie in jenem Augenblick schon selbst nicht mehr jung sein.“
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Wie bestimmt die Geschichte die Gegenwart? (nt. 68), 82.
Huizinga’s Heirs: Interpreting the Late Middle Ages William J. Courtenay (Madison) For many of us who work in the intellectual history of the late Middle Ages, our world seems peopled by very different persons and concerns from most of those who appear in the pages of Huizinga’s “The Waning of the Middle Ages” 1. Most of those I study are concerned in one way or another with terminist logic, linguistic analysis, mathematical physics, and the application of techniques developed in those areas to theological problems, at least until the beginning of the fifteenth century. Huizinga’s people, most whom come from or associated with the upper level of society in general are obsessed with typology, symbolism, and visual images, and are given to extremes in their emotions and behavior. My people live in a world of positive new developments, exciting for them and for those of us who study them. Huizinga’s people live in a world infused with “the decay of overripe forms” of a dying civilization. Even if one excludes Ockham and English scholastics and adopts Huizinga’s geographical limits of France and the Low Countries, such figures as Jean Buridan, Nicholas of Autrecourt, Nicole Oresme, Marsilius of Inghen, or Pierre d’Ailly do not strike me as overly given to pessimism, the extremes of emotion, nor do their lives reflect the vibrant colors and sharp contrasts that Huizinga expanded on and which have come to be the way in which we view much of late medieval society apart from its intellectual life. Admittedly there are some common sources in figures such as Jean Gerson and Denis the Carthusian, both of whom Huizinga drew upon, but by and large the leading figures of late medieval thought and the leading figures in “The Waning of the Middle Ages” seem to be dwelling in two different worlds even if, in fact, they obviously occupied the same space and time. Part of this difference is undoubtedly generated by a difference in sources. Our texts in logic, natural philosophy, and scholastic theology rarely if ever 1
Although considerably shorter and less extensively documented than the original “Herfsttij der Middeleeuwen” published in 1919, the English translation by Fritz Hopman, published in 1924 as “The Waning of the Middle Ages”, was overseen and authorized by Huizinga. The edition of “The Waning of the Middle Ages” cited here is that of Doubleday-Anchor, 1954. For an overview of recent literature and reactions to Huizinga’s work, cf. E. Peters/W. Simons, The New Huizinga and the Old Middle Ages, in: Speculum 74 (1999), 587-620; and on the new English edition of the unabridged version of the work, The Autumn of the Middle Ages, translated by. R. Payton/U. Mammitzsch, Chicago 1996, cf. the review by W. Simons in: Speculum 72 (1997), 488-491.
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mention contemporary events, court life, art, music, or literature. Their exempla are not taken from daily life but from philosophical texts. Huizinga’s sources were the chronicles, treatises, diaries, romances, and art that depicted the life of the nobility in particular, their attitudes, values, and sentiments, and the bourgeoisie who emulated them. If Huizinga’s depiction is an accurate reflection of the true atmosphere of late medieval society, then we can only imagine that when our scholars left the classroom or their private studies to take dinner in a tavern, or to deal with family problems, or interact with non-university persons, they entered a world very much in keeping with Huizinga’s reconstruction. One might conclude that the type of sources historians of philosophy read - and thus our picture of the personal life of intellectual figures in the late Middle Ages - are like bones from which the flesh has been removed, leached out. If we are to clothe the authors of late medieval philosophical texts with “a real life”, should we not imagine they were as quick to anger and sadness, as violent, as temperamental and prone to emotional extremes as Huizinga’s late medieval people? And should we not also assume that they shared that world of allegory, symbolism, and multi-faceted images that their contemporaries supposedly did? Until the invitation to speak at this meeting I did not give much thought to the discrepancy between my view of late medieval intellectual figures and Huizinga’s view of late medieval people. Like those under whom I studied and like medievalists of my own generation, I continued and still continue, to assign “The Waning of the Middle Ages” as required reading for any course in late medieval society, culture, and intellectual history. And occasionally the two worlds paralleled one another. University documents certainly reveal the violent side of academic life. Conrad of Megenberg, for example, was noted for his hot temper and willingness to engage in physical confrontation, a trait his colleagues in the English-German nation at Paris found useful in negotiating with members of the other nations 2. My own reading in biblical commentaries, religious treatises, and sermons, which abound with visual images and intricate typological analyses, lends support to many of Huizinga’s conclusions. And my view of some late medieval religious writers as well as the psychology of many political figures in the period has no doubt been shaped by the compelling vision of Huizinga’s work. In what follows I want to explore the viability of Huizinga’s vision to our present understanding of late medieval intellectual life, and to do so in two areas 3. The first of these, social in focus, is to see if and where late medieval 2
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In particular, cf. the account of a meeting in the faculty of arts in 1337, H. Denifle/E´. Chaˆtelain (eds.), Auctarium Universitatis Parisiensis, vol. I, Paris 1894, col. 18-24; as background, W. J. Courtenay, Conrad of Megenberg. The Paris Years, Vivarium 35 (1997), 102-124. I initially intended to include a third issue, namely to engage the issue of periodization, not by criticizing Huizinga for having contributed to a false biological model of growth, maturity, and decay in which late medieval society is viewed as the end of a process, but to question the very notion of a late Middle Ages as one single period with common characteristics. Because that issue, which considers the ways in which the fourteenth and fifteenth centuries are two distinct
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intellectual figures come into the picture Huizinga constructed - to put late medieval scholars as a group into late medieval society, at least into parts of that society. The second topic will be to consider whether Huizinga adopted a particular view of late medieval philosophy that not only failed to do justice to the breadth and vitality of late medieval thought but may have contributed to a distortion in his view of late medieval people and their society. I. Late Medieval Philosophers in Social Context As Jacques Verger has recently argued and persuasively documented, a learned elite emerged in the fourteenth and fifteenth centuries as a distinct professional group 4. Although most of his examples are of university-trained lawyers who became an indispensable part of secular and ecclesiastical administrations, the learned elite also included those trained in medicine and theology, and by extension arts masters as well. The magistrate, as a defined group of considerable importance by the fifteenth and sixteenth centuries, was born out of the magisterium of the fourteenth century. Part of the life of this learned elite fits well with the picture Huizinga constructed. Many belonged to a patronage circle outside the university, one that may have helped them gain benefice income during their academic career and that certainly aided them in the development of their later careers. They served in the households of bishops, princes, and even the king as learned courtiers, multipurpose individuals who, depending on their training, could be used as lawyers, physicians, chaplains, tutors, diplomats, and companions. To stay just with our prominent philosophical group, Walter Burley, Richard Fitzralph, Robert Holcot, Thomas Bradwardine, and Richard Kilvington all served at one time or another in the household of Richard de Bury, bishop of Durham 5. Bury himself, within a decade of his studies at Oxford, was tutor to Edward, prince of Wales, and later served him on diplomatic missions when the latter became Edward III. Walter Burley was also sent on diplomatic missions, was tutor to Edward’s son, the Black Prince, and was almoner of Queen Philippa. Thomas Bradwardine served as Edward’s confessor before being appointed chancellor of St. Paul’s in London and eventually archbishop of Canterbury. Several academic careers at Paris followed a similar pattern, although a preference for lawyers in the Capetian and Valois administrations in the fourteenth century provides us with fewer examples of distinguished arts masters and theo-
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periods, requires more extensive argumentation than can be included here, I have removed it from the present contribution and hope to treat it elsewhere. J. Verger, Les gens de savoir dans l’Europe de la fin du Moyen Age, Paris 1997; English edition: Men of Learning in Europe at the End of the Middle Ages, transl. L. Neal/St. Rendall, Notre Dame 2000. W. J. Courtenay, Schools and Scholars in Fourteenth-Century England, Princeton 1987, 133137; A. B. Cobban, English university life in the Middle Ages, London 1999, 76-79.
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logians holding important positions in royal service. Moreover, secular masters of theology at Paris by the second decade of the fourteenth were a remarkably unremarkable group. Among the learned court circle that Charles V assembled, however, Nicole Oresme stands out as a leading example of a distinguished Parisian natural philosopher and the only distinguished theologian in that court group. Oresme’s contributions ranged from the translation of Latin works into French to advice on monetary policy. Yet it is the English examples of Oxfordtrained courtiers surrounding Edward III and his advisors that provide the best parallel to the examples of Dufay, van Eyck, van der Weyden, and others that Huizinga gives. If the question is reshaped in terms simply of the relation of academic career to noble service, putting aside the issue of the quality or quantity of the philosophical or theological contributions of Parisian masters, we find a far closer connection of university and court cultures. The papal registers of supplication reveal that many scholars were simultaneously regent masters at Paris and part of the retinue of a bishop or prince. For example, confining myself just to the supplications of 1353, the first year of Innocent VI, there is Gaufridus le Marhec, a Breton of noble birth who was a master of arts at Paris, served a term as prior of the Sorbonne, became doctor of medicine as well as doctor of theology - a multi-disciplinary academic career that spanned three decades and by 1353 belonged to the circle of cardinal Pierre de Cros while serving simultaneously as legal (!) advisor to Joanna, duchess of Brittany and viscountess of Limoges 6. He soon after became bishop of Quimper. Another multi-disciplinary or degree-hungry academic, Jean Ogeri, master of arts, doctor of medicine, and doctor of theology, belonged to the patronage circle of cardinal Pierre Bertrand, even while Ogeri was at the same time subchancellor of the University of Paris and grandmaster of the Colle`ge d’Autun 7. Thomas de Maalon, master of arts and doctor of decrees at Paris, also belonged to the circle of the bishop of Paris, who was impressed with the fact that Maalon had commented on almost the entire “Decretum”, ordinarie 8. Guillaume de Flavacourt, archbishop of Auch and soon to be archbishop of Rouen, supported Guillaume de St-Remy as part of his circle, while the latter was still active as regent master of theology at Paris 9. Even Blanche, queen of Castile and Le´on, supplicated on behalf of her physician, John of Fogacia from Lisbon, master of arts and doctor of medicine, who at the time was a student in theology at Paris 10. The list from that one year is much longer. Part of these dual careers as professor and courtier resulted from the fact that many of the nobility as well as bishops and archbishops maintained townhouses in Paris, thus making it possible for a Parisian doc6 7 8 9 10
Vatican, Vatican, Vatican, Vatican, Vatican,
Archivio Archivio Archivio Archivio Archivio
Segreto Segreto Segreto Segreto Segreto
Vaticano, Vaticano, Vaticano, Vaticano, Vaticano,
Reg. Reg. Reg. Reg. Reg.
Suppl. Suppl. Suppl. Suppl. Suppl.
25, ff. 28r, 149v. 26, f. 126v. 25, f. 73v. 25, ff. 105v, 131v. 25, f. 162r.
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tor to remain active in teaching while belonging to a court circle as advisor, confessor, physician, advocate, but most importantly as table companion. The picture of those among the learned elite who were successful in developing a church career is even more Huizingesque. Despite the notion of equality or democracy in the world of learning, or imagining that late medieval universities operated as meritocracies based primarily on academic achievement, social background and social connections mattered considerably. Several of the examples of academic courtiers given above, for example Gaufridus le Marhec, came from the nobility and had the social background to blend in easily with court circles. More telling is the success rate by which Parisian masters were able to turn an expectation of an ecclesiastical benefice or a canonical prebend into an income-producing position. Those who belonged to the nobility - and there were many in universities by the early fourteenth century - often held a canonical prebend in a collegiate church or cathedral chapter soon after becoming master of arts, sometimes much earlier. For those with less distinguished social background or social connections, the process took far longer and in many cases was never realized. In fact, the speed by which an expectation was turned into an actual possession and secure income may well be an indication of social position or social connections, having less to do with the date of the letter of papal provision or with academic excellence and achievement of the scholar. As an example, let me take the ecclesiastical careers of two of the most distinguished and well-known intellectual figures at Paris in the fourteenth century: Jean Buridan and Nicole Oresme. Buridan came from a small village near Arras, and nothing is known of his family background. Presumably the family or some sponsor provided support for his early education, for his studies in arts at Paris, and for his gaining a burse at the Colle`ge du Cardinal Lemoine. His first expectation of a benefice came a few years after he became master of arts, and the list of executors mandated at the end of the letter to help him obtain the benefice are those found on most provisions to university masters at the time. These letters, in eodem modo, sent to these executors would have arrived on their desks along with hundreds of others. In short, Buridan did not have an important sponsor outside the university, with the possible exception of the abbey of St-Vaast at Arras, where he may have received some of his early training and through whom he received his first benefice: the rectorship of a parish church near Arras, with moderate income. The income, however, was sufficient enough to require him to give up his position at the Colle`ge du Cardinal Lemoine, and there is no evidence that Buridan ever held a fellowship in any other college at Paris. Despite the fact that Buridan was granted an expectation of prebend in the cathedral chapter at Arras in 1341, which he received because he was at Avignon as nuntius for the Picard nation at the time, nothing ever came of that expectation, which would probably not have been the case if he had come from an important family or had the support of influential persons. The nuntius for the faculty of theology in 1341, Nicolaus de Virtuto, also received an expectation of a canonical prebend at a cathedral, Chaˆlons-sur-Marne, which
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he soon obtained, added to a canonry at a collegiate church that he already held, and was well on his way to becoming a prebendary canon at Reims. But then Nicolaus was a master in the faculty of theology and, more importantly, was chaplain to cardinal Pierre Roger, who in the following year became pope Clement VI. The highest paying position Buridan ever received was a chaplaincy in the church of St-Andre´-des-arcs at Paris that was within the gift of the university 11. It is sometimes claimed that Buridan had royal support, or if the legends are to be believed, was intimate with the queen. His career would suggest otherwise. All those in royal service, including chaplains and clients of the queen, were well provided in ecclesiastical positions, either directly from the monarchy or by way of the papacy. Nothing in Buridan’s meager benefice holdings suggests royal favor. The case of Nicole Oresme is quite different. He also came from a village, in this case just outside Caen in lower Normandy, but his family was wealthy enough, or well-connected enough, to support three sons for study in arts and theology for over two decades. Like Buridan, Nicole Oresme received his first ecclesiastical expectation for a parish church soon after becoming master of arts, but the group of executors mandated at the end of his letter of expectation are markedly different from those on Buridan’s. Oresme was to receive help from people he knew, senior scholars from Normandy, two of whom were regents in higher faculties and simultaneously held canonical prebends in cathedral chapters and major collegiate churches, and one of whom belonged to the patronage circle of the queen 12. By the time Oresme was doctor of theology, he held a parish church and was Grand Master of the Colle`ge de Navarre at Paris. Within a few years he was offered the archdeaconry of Bayeux, was chaplain at the Chaˆtelet in Paris, prebendary canon at Rouen, and two years later dean of the chapter at Rouen 13. In contrast to Buridan, Oresme’s early connections brought him into contact with the royal court and to his appointment as tutor of the Dauphin. He became an important figure in the learned circle of Charles V, and he ended his career as bishop of Lisieux. The difference between the ecclesiastical careers of Buridan and Oresme is not a difference in intellect or academic achievement. Nor should we conclude that Oresme was a careerist and Buridan preferred to be simply a scholar. Both tried hard to obtain church positions; one was highly successful, the other not. Admittedly, becoming a master in a higher faculty positioned Oresme for a higher category of award. But the difference in their ecclesiastical careers cannot 11
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W. J. Courtenay, Philosophy’s Reward: The Ecclesiastical Income of Jean Buridan, in: Recherches de The´ologie et Philosophie me´die´vales 68 (2001), 163-169; id., Une correction au Chartularium Universitatis Parisiensis. Le legs de Jean de The´lus et la chapellenie de l’universite´ a` SaintAndre´-des-Arts, in: Paris et Ile-de-France. Me´moires 52 (2001), 7-18. For details on Oresme’s executors, cf. W. J. Courtenay, The Early Career of Nicole Oresme, in: Isis 91 (2000), 542-548. V. Tabbagh, Fasti Ecclesiae Gallicanae, vol. II: Dioce`se de Rouen, Turnhout 1998, 302.
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be entirely explained solely by the fact that Buridan remained simply a master of arts while Oresme became a theologian. Several other masters who limited their academic careers to the arts faculty fared better 14. The difference between the ecclesiastical careers of Buridan and Oresme was to a large extent a function of family background and the network of friends who belonged to or had entre´e into the courts of the powerful in French society. Two things can be concluded from an analysis of the lives of scholars in the world outside the university. First, birth and social position mattered. The higher one’s family stood in the social order, the faster and better was one’s ecclesiastical advancement. And, second, belonging to a patronage network, which was both a result of class and a way of improving one’s position in life, was as important for university scholars as it was for others in late medieval society. Service within a hierarchical structure mattered. This was principally true for secular scholars, like Buridan and Oresme, who did not have the support or resources of a religious order behind them. But even those in religious orders, mendicants included, were not immune to the attractions of wealth and power that patronage networks offered 15. If the careers of Parisian philosophers and theologians followed the pattern, or tried to follow the pattern, of becoming successful in the world outside the university, often as part of the retinue of the powerful, a point that conforms to Huizinga’s depiction, did their emotional makeup as well as their outlook on life and world also follow Huizinga’s depiction of the era. Here much of the evidence I have been examining lately does not coincide with Huizinga’s view. The supplications of Parisian masters to the papacy in the fourteenth century are filled with remarks on the devastation of the Hundred Years War, or the 14
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For example, Jean Fauquet, also from Picardy and master of arts by 1342, was still active in the arts faculty twenty years later, by which time he held prebends in the collegiate churches of Picquigny (Somme) and Mons, and chaplaincies at Amiens cathedral, the collegiate church at Noyelles-sur-Mer and Vismes-au-Mont (Somme); cf. Rotuli Parisienses. Supplications to the Pope from the University of Paris, vol. I: 1316-1349, ed. W. J. Courtenay, Leiden 2002, 182, 398; Urbain V (1362-1370), Lettres communes, ed. M.-H. Laurent/M. Hayez/A.-M. Hayez e. a. (Bibliothe`que des E´coles francX aises d’Athe`nes et de Rome), 12 vols. incl. indices, Paris 1954-1989, n. 1763, n. 3764. Similarly, Gerard de Bechaya, also master of arts from Picardy by 1342 and who served at least one term as rector of the University, was still teaching in the arts faculty in 1362, by which time he held a parish church that was valued at 50 parisian pounds, a chaplaincy in the cathedral at Arras, as well as an additional chaplaincy; cf. Rotuli Parisienses I, 126, 178, 223, 410; Urbain V, Lettres communes, n. 3743. Guillaume de Kaeseffredour in Brittany, master of arts by 1342, was still teaching philosophy in 1362 by which time he held a canonical prebend at Amboise along with a parish church in the diocese of Quimper; Rotuli Parisienses I, 115, 214; Urbain V, Lettres communes, n. 1762, n. 3763. Buridan’s career, with respect to benefice support, was about average for masters of arts. For examples, cf. T. Sullivan, Benedictine Monks at the University of Paris, AD 1229-1500. A Biographical Register, Leiden 1995; W. J. Courtenay, Pastor de Serrescuderio (d. 1356) and MS Saint-Omer 239, in: Archives d’histoire doctrinale et litte´raire du Moyen Age 63 (1996), 325356.
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frequency of death as a result of plague 16. None of those comments are accompanied with expressions of horror, defeatism, or pessimism that one might have expected. No supernatural or moral causes are put forward. The burning of parish churches and villages were the actions of the enemies of the kingdom of France, and its meaning for Parisian scholars was simple and basic: loss of income! The death of others in the Great Mortality and recurring outbreaks of plague meant increased benefice opportunity for oneself. Each seems aware that a colleague might easily die, and to insure against a benefice for which one was in line being given to someone else in the event of the incumbent’s death, one specifically included a phrase in one’s supplication to cover the possibility of sudden death of the incumbent, even of one’s closest colleagues. This matterof-fact way of addressing death seems callous and calculating. But apart from the occasional supplications for a plenary indulgence, “in articulo mortis”, which were as frequent before the Black Death as afterwards, each individual scholar assumes he will survive and profit from these events. I do not think that one can conclude from these comments, some of them formulaic in nature, that Parisian masters as a group were crass opportunists, avaricious by nature and insensitive to the misfortunes of their colleagues, any more than Huizinga had a right to conclude from religious treatises and sermons that late medieval writers were emotionally child-like and visual by nature, who could not think without continually transforming, “crystallizing”, as he put it, thought into images. One must be careful not to take the language of a genre as a precise and sufficient revelation of the mind and heart of the author. Conrad of Megenberg could engage in theorizing about causes of plague in a postuniversity treatise on that subject, seeing it in part due to the corrupting influence of the Ockhamists. And yet his supplications for ecclesiastical advancement view vacancies due to death as a positive opportunity. Robert Holcot in his Sapiential commentary employed allegorical and typological analysis, yet his questions on the “Sentences” and his quodlibetal questions do not have those features. In short, one must be careful in taking formulaic language or the style of a particular kind of text as reflective of a general mentalite´. Late medieval writers could employ very different conceptual styles depending on the genre and audience, just as late medieval professional scribes could employ many different styles of script depending, again, on genre and the wishes of the client. On balance, late medieval scholars, both those who made great contributions to late medieval thought as well as the many who left no scholastic work behind, lived in or on the edge of a world of court cultures (I intentionally use the plural). The class structure of society in general was present within late medieval universities. To some degree it determined who mattered within the university community, although it does not appear to have influenced academic success in
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Rotuli, Parisienses I (nt. 14), esp. 304-451.
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any significant way 17. But to the extent that the income of university masters was dependent on ecclesiastical sources, and that the latter formed the means of achieving a career outside the university, scholars were of necessity brought into the world of those who controlled those sources of income, namely those who exercised power and privilege in the world at large. Viewed in this light, the world of late medieval university scholars was very much part of the world described by Huizinga. On the other hand - and here I may betray my suspicion of the inherent reductionist tendency involved in attempting to uncover a Zeitgeist or mentalite´ of an age or social group - I am less convinced that people who lived in that younger world a half-millennium ago were so radically different from ourselves in the ways Huizinga has described. There are certainly important differences between that age and ours, but I think that many of those proffered in “The Waning of the Middle Ages” are a result of conventions and genres more than they are of structures of thought - forms and formulas more than the reality of thinking and feeling on a day-to-day basis. II. Mentalite´ and Late Medieval Philosophy Huizinga’s construction of the “mind set” of late medieval people encompassed to some extent late medieval philosophers. Although not a major element in his picture, late medieval philosophy, as he understood it, was yet another example of thought transformed into images. Some late medieval thinkers do make an appearance in “The Waning of the Middle Ages”. In addition to using Jean Gerson as one of his major sources, Huizinga mentioned Pierre d’Ailly and Nicole Oresme in passing. More significantly, Huizinga believed that the major philosophical current of the late Middle Ages, the way in which university scholars viewed the world, was essentialist and realist, the kind of realism that eschewed actual details or individual things and concentrated attention on the real essences and symbolic meanings that stood behind or beyond the world of sense perception. In a few brief lines Huizinga gave a nod in the direction of the contribution that Nicole Oresme made to the development of science, but that was only a minor element in a world that was filled with symbolic images that conveyed the true essence of the late medieval view of reality and life 18. Hui17
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The case of Alfonsus of Lisbon is illustrative. He came from the highest level of Portuguese society, apparently being the illegitimate son of the king. His social status may have influenced the decision of the chancellor to grant him the license in medicine without his having completed all the requirements for the degree. The regent masters in the faculty of medicine, however, were successful in overturning the decision of the chancellor and forcing Alfonsus to complete his degree in the proper manner. Cf. H. Denifle/E´. Chaˆtelain (eds.), Chartularium Universitatis Parisiensis, vol. II, Paris 1891, n. 918, n. 921-943; W. J. Courtenay, Parisian Scholars in the Early Fourteenth Century, Cambridge 1999, 130-131. Huizinga, The Waning (nt. 1), 325.
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zinga didn’t search for counter-examples to what he saw as the prevailing mode of thought. He was content with those examples that helped prove his point. At the time Huizinga was writing, any textbook on medieval philosophy would have described the late Middle Ages as a period of thought in decline 19. Such works would, however, have given more attention to nominalism, albeit negatively. Huizinga believed, or wished to believe, that the debate between realism and nominalism had been resolved in favor of realism in the thirteenth century, and that realism was the only significant current of thought in the late Middle Ages 20. Certainly realism better accorded with the religious language and artistic expressions that were his main sources and his main concern. That view of late medieval philosophy, never quite as one-dimensional as Huizinga suggested, has undergone considerable change in the last half-century. In deference to Huizinga, it is probably fair to say that realism was ultimately the more widely adopted current of thought in the fifteenth century, reemerging first in England in the second half of the fourteenth century and then at Paris and elsewhere in the opening years of the fifteenth century 21. But most fourteenth-century thinkers, even those who held a realist interpretation of the Aristotelian categories in the area of natural philosophy, were usually terminists in logic and emphasized knowledge of the particular through intuitive cognition of individual things 22. Moreover, a very different, anti-realist view of the world order, both the physical laws of nature and the order of salvation, gathered strength in the fourteenth and fifteenth centuries rather than disappeared. That other view defined reality according to individual substances and qualities. It replaced a world of inherent essences that made things operate as they did, with a contingent, legislative view of the orders of nature and grace. And instead of seeking causes in forms that lie behind or beyond sense experience, and then transforming those into images, this other approach privileged the world of 19
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The first edition of Maurice De Wulf ’s “Histoire de la philosophie me´die´vale” was published at Louvain in 1900. Four editions of that work appeared before the publication of “The Waning of the Middle Ages”. Although Huizinga’s understanding of late medieval thought could have been obtained from histories of medieval philosophy written before De Wulf, his was the most widely read work on the subject in the first two decades of the twentieth century. Huizinga, The Waning (nt. 1), 204: “Undoubtedly there were also nominalists. But it does not seem too bold to affirm that radical nominalism has never been anything but a reaction, an opposition, a countercurrent vainly disputing the ground with the fundamental tendencies of the medieval spirit. As philosophical formulae, realism and nominalism had early made each other the necessary concessions. The new nominalism of the fourteenth century, that of the Occamites or Moderns, merely removed certain inconveniences of an extreme realism, which it left intact by relegating the domain of faith to a world beyond the philosophical speculations of reason.” Courtenay, Schools and Scholars (nt. 5), 327-355; Z. Kaluza, Les Querelles doctrinales a` Paris: nominalistes et re´alistes aux confins du XIVe et du XVe sie`cles, Bergamo 1988. Debates over intuitive cognition in the fourteenth century were largely debates over definition and the separability of cognition and perceived objects, not of intuitive cognition itself; cf. K. H. Tachau, Vision and Certitude in the Age of Ockham, Leiden 1988.
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sense experience and individual things, and distrusted images and explanations based on inherent natures that cannot be directly perceived. This other view, often called nominalism, was a major force in late medieval thought - as predominant a force as realism. Among those who, in one way or another, subscribed to it can be placed many of the major figures of late medieval philosophy: William of Ockham, Adam Wodeham, Gregory of Rimini, Nicole Oresme, Marsilius of Inghen, and Pierre d’Ailly. These two world views are fundamentally different. One has its roots in Greek philosophy and sees the universe as a necessary system that operates on the basis of inherent natures. The other has its roots in the biblical tradition and sees the universe as a contingent system, created and not necessary, which operates on the basis of God’s ordinations and sustaining will. Several scholastics of the thirteenth century, Thomas Aquinas in particular, attempted to bring those two world views into harmony. Whatever one thinks of the so-called Thomistic synthesis, during the late Middle Ages it was seen as a failure 23. The history of late medieval thought shows the reemergence of that biblical view, and the history of early modern philosophy shows the continued conflict as well as repeated attempts at accommodation. When the late Heiko Oberman wrote his magisterial “Harvest of Medieval Theology”, he did so consciously, as he once told me, in the steps of his fellow countryman, Huizinga 24. Oberman felt that the word “harvest” better captured Huizinga’s title than the word “waning”, although the latter word had received Huizinga’s approval 25. Oberman’s “Harvest”, however, was a very different way of looking at autumn than Huizinga’s approach. Oberman’s work, more than any other at the time, laid out the dimensions and impact of this other, covenantal view of the structure of the universe. Oberman’s late Middle Ages was far more positive in its reconceptualization of the content of the scholastic tradition, rejecting certain elements and developing others. It was also more integrally related to Renaissance and Reformation, more a harbinger of things to come than a decaying world of outmoded forms. For all the differences between Huizinga’s “autumn” and Oberman’s “harvest”, they shared the assumption that the fourteenth and fifteenth centuries should be treated as one period, one cultural unit, even if Oberman saw it more as the dawn of the modern era while Huizinga saw it as the last bright flame of a dying medieval world. Just as Huizinga’s construction of the mentality of late medieval society was to a large extent formed by the type of sources he used, so too his assumption that realism was the predominant mode of philosophical thought led him to ignore the degree to which direct experience with and appreciation of individual things was a major element not only in late medieval philosophy, but in society 23 24 25
R. A. Lee, Jr., Science, the Singular, and the Question of Theology, New York 2002. H. A. Oberman, The Harvest of Medieval Theology, Cambridge MA 1963. The new English translation, unfortunately flawed, did at least restore the word “autumn”; cf. nt. 1.
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at large. The love of detail, the sensitivity to the elements of daily life and experience, are as predominant characteristics of Netherlandish art in the fourteenth and fifteenth centuries as the symbolic, perhaps even more so. A broader, indeed more balanced reading of late medieval philosophy might have led, in turn, to a more balanced view of the mentality of late medieval society itself. Huizinga was certainly correct in saying that the people who lived a half millennium ago lived in a very different world from our own. But that is not the same as believing that they were very different people from ourselves. Perceiving the psychology and motivations current in a past historical era is just as fraught with dangers of misperception as is one’s understanding of one’s own age. As illustration, it is remarkable that Huizinga, writing in 1918, could so easily contrast his own age with a late medieval society which, in his opening chapter, he describes as a world of grandiose and egoistic passions of political leaders for conquest, fame, honor, and glory, the need for retribution to revenge past losses and humiliations, of total fidelity to one’s side or party. “In the blind passion with which people followed their lord or their party, the unshakable sentiment of right, characteristic of the Middle Ages, is trying to find expression. Man at that time is convinced that right is absolutely fixed and certain. Justice should prosecute the unjust everywhere and to the end. Reparation and retribution have to be extreme, and assume the character of revenge. In this exaggerated need for justice, primitive barbarism, pagan at bottom, blends with the Christian conception of society. [...] [I]n adding to the primitive need of retribution the horror of sin, [the church] had [...] stimulated the sentiment of justice. And sin, to violent and impulsive spirits, was only too frequently another name for what their enemies did.” 26 One might well question whether Europe at the time Huizinga wrote his work, the years of the Great War, to be followed at the end of Huizinga’s life with the Second World War, was a Europe in which the personal ego of political leaders, the sense of Right, retribution, and revenge, and the willingness of populations to be caught up in the demonization of a leader’s enemies, however defined, played little or no part. And the political rhetoric now current in some quarters in the opening years of the twenty-first century causes one to wonder whether the modern age and our “mentalite´ ” are so vastly different from those who relished in the violent tenor of life a half millennium ago.
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Huizinga, The Waning (nt. 1), 22-24.
Zwischen Texttreue und Spekulation Hans Blumenbergs Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds am Beispiel des Spätmittelalters J¸rgen Goldstein (Koblenz) Hans Blumenbergs Genealogie der Neuzeit ist Teil einer Phänomenologie der Geschichte, der es im wesentlichen um eines geht: um das Verständnis der Geschichtlichkeit der Geschichte. Das leitende Interesse, verstehen zu wollen, wie es zu einem geschichtlichen Wandel von Wirklichkeitsbezügen kommen kann, was die Depotenzierung bislang tragender Selbst- und Weltverständnisse bedingt und welche Voraussetzungen das Auftreten des Neuen hat, lenkt den Blick auf das Verhältnis von Kontinuität und Wandel. Damit ist eine Philosophie der Geschichte nach dem Ende der idealistischen Geschichtsphilosophie intendiert, die die nachidealistischen und somit hermeneutischen Reflexionen der historischen Vernunft verarbeitet hat und auf den konstruktiven und kontinuitätsstiftenden Charakter der historischen Vernunft hinweist. Die Frage, wie wir verstehen können, was es heißt, Geschichte zu verstehen, ist das eigentliche und leicht zu übersehende Gravitationszentrum des Blumenbergschen Projektes einer Phänomenologie der Geschichte. Die von Blumenberg mit großem Aufwand dargestellte Epochenwende vom Mittelalter zur Neuzeit ist gleichsam, und ein wenig pointiert gesagt, die Illustration der erhofften Leistungsfähigkeit seiner phänomenologisch inspirierten Hermeneutik einer Philosophie der Geschichte. Die Grundentscheidung einer Phänomenologie der Geschichte besteht darin, die Texte der Tradition nicht als aus sich selbst heraus verständliche Sinneinheiten zu nehmen, sondern sie als Dokumente zu betrachten. Sie sind für Blumenberg Zeugnisse einer geschichtlichen Dynamik, und ihre phänomenologische Grundeigenschaft ist Uneindeutigkeit. Damit ist nicht ein potenziell ausräumbares Defizit der vorgefundenen Textquellen gemeint - gleichsam im Sinne eines Tadels -, sondern es ist der Umstand angesprochen, daß sich das isoliert präsentierende Zeugnis der Geistesgeschichte unterschiedlich zeigt, je nachdem vor welchem Hintergrund und aus welcher Perspektive es betrachtet wird. Die behutsame Variation als Ausschöpfung der Deutungsmöglichkeiten ist nicht beliebig, sondern an dem Grundinteresse orientiert, über das Textzeugnis hinaus diejenige geschichtliche Entwicklung in den Blick zu bekommen, der dieser Text seine Möglichkeit der Entstehung und Wirkung verdankt. Damit ist angesprochen, was eine Phänomenologie der Geschichte voraussetzt: die Wirksamkeit eines geschichtlichen Hintergrunds. Die Dynamik der
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Geschichte als Veränderung von Deutungssystemen des Wirklichen wird für Blumenberg nicht allein anhand einer historisch-kritischen Rezeption von Quellen lesbar. Vielmehr operiert eine Phänomenologie der Geschichte mit einem Akt der Spekulation, in dem das in einem Zeugnis Ausgesagte als Antwort auf eine Frage begriffen wird, die nicht selbst in dem Zeugnis zur Sprache kommt. Auch hier wird den Texten kein Defizit bescheinigt, da die Autoren es nur unterlassen hätten, die Fragen explizit zu machen. „Daß diese Fragen nicht hätten formuliert werden können, daß sie nicht zufällig nicht in den Texten stehen, macht unsere hermeneutische Aufgabe aus. Sie besteht hier wie sonst darin, Aussagen, Doktrinen und Dogmen, Spekulationen und Postulate als Antworten auf Fragen zu beziehen, deren Projektion auf den Hintergrund des Dokumentierten unser Verstehen ausmacht.“ 1 Der epochenkonstituierende Übertritt vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit ist für eine Phänomenologie der Geschichte, die nach den Prozessen der Veränderung fragt, der Ernstfall, das Exempel, an dem sich das Paradigma dieses Zugriffs zu beweisen hat. Blumenbergs Genealogie der Neuzeit ist gleichsam der Anwendungsfall seiner Hermeneutik, die erst mit dem Blick auf den geschichtlichen Hintergrund die Dynamik der Epochenschwelle verständlich machen zu können glaubt. Der Akt der Projektion, einen Text als Antwort auf eine Frage zu lesen, die nicht selbst im Text formuliert werden konnte, ist dabei ein hermeneutisches Wagnis. Eine Textnähe - darin besteht die hermeneutische Pointe und Herausforderung dieser Lesart - läßt sich gerade nicht textimmanent gewinnen, sondern nur durch eine Perspektive von außerhalb des gegebenen Bedeutungssystems dieses Textes. Blumenbergs Deutung des Übergangs vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit zu bewerten, kann sich demnach nicht in der Akzeptanz oder Korrektur einzelner Thesen erschöpfen, sondern es ist die Methodik der Hervorbringung dieser Thesen mitzudiskutieren. Die Pole, zwischen denen man sich dabei zu positionieren hat, sind Texttreue und Spekulation, Deutung und Entwurf, oder anders gesagt: historisch-quellenkritische Rezeption und phänomenologische Variation. I. Das Projekt einer Phänomenologie der Geschichte ist nicht aus sich selbst heraus verständlich, um nicht zu sagen: Es ist erläuterungsbedürftig. Große Passagen des Blumenbergschen Werkes sind zwar diesem Projekt gewidmet, aber die Grundkonstellation, der es seinen Antrieb verdankt, findet sich in den unveröffentlichten akademischen Arbeiten: in der 1947 in Kiel eingereichten Dissertation „Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholasti1
H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main 21988, 558.
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schen Ontologie“ und der 1950 ebenfalls in Kiel eingereichten Habilitationsschrift „Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls“. In der Dissertation, die sich, inspiriert von Martin Heidegger, Duns Scotus zuwendet, findet Blumenberg bereits auf den ersten Seiten zu seinem Thema, das die Entfaltung seines hermeneutischen Instrumentariums erforderlich machen sollte: die „Wiedergewinnung der Geschichtlichkeit der Geschichte“ 2. Er versucht dabei als Resultat festzuhalten, was Heideggers in „Sein und Zeit“ geforderte Destruktion der traditionellen Ontologie geleistet haben soll: Für Heidegger ergab sich die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie aufgrund der defizitären Einbeziehung der Problematik der Zeit innerhalb der Frage nach dem Sein. Über den Umweg der Analyse des geschichtlichen Daseins sollte nun die Temporalität des Seins aufgewiesen werden 3. Es ist die Destruktion der traditionellen Geschichte der Ontologie, der Blumenberg eine „Freigabe der Geschichtlichkeit der ontologischen Konzeptionen“ verdankt und die Aufgabe einer Deskription der „Metakinesen ihrer Horizonte“ 4 entnimmt. Blumenberg konnte von Heideggers Scotus-Interpretation ein wesentliches hermeneutisches Motiv übernehmen: Heidegger hatte sich in seiner Habilitationsschrift über die „Grammatica speculativa“, die er noch Scotus zuschrieb, gegen eine nur historisch-quellenkritische Bestandsaufnahme des mittelalterlichen Denkens gewendet und im Anschluß an Clemens Baeumker eine philosophisch-problemgeschichtliche Erfassung gefordert. Er stellte den „ersten Versuch einer prinzipiell neuen Bearbeitungsart der mittelalterlichen Scholastik“ 5 in Aussicht, der auch vor der vergleichenden Betrachtung von scholastischem und modernem Denken nicht Halt macht. Damit war ein Prinzip vorgegeben, wie der geschichtliche Hintergrund in seiner konstitutiven Kraft bestimmbar sein könnte: als Problemgeschichte. Gegen den „verdeckenden Vorrang der Vergangenheit“ 6 eines normativen Traditionalismus reklamiert Blumenberg im Anschluß an Heidegger eine „Ursprünglichkeit“ als philosophische Haltung, die sich der geschichtlichen Situation ausdrücklich stellen soll. Zum anderen ist mit dem Anspruch der Ursprünglichkeit das Freilegen des tragenden Bodens gemeint, der die Artikulation von Wirklichkeits- und Seinsverständnissen erst ermöglicht und der in seiner Unbefragtheit bislang nicht erkannt worden sei 7. Damit war eine Aufgabe in den Blick genommen worden, die Husserl in seiner Krisis-Abhandlung programmatisch vertreten hatte: die Entdeckung des 2
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H. Blumenberg, Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie, unveröffentlichte Inaugural-Dissertation, Kiel 1947, 5. Cf. M. Heidegger, Sein und Zeit, §§ 6 und 45. Blumenberg, Beiträge (nt. 2), 9. M. Heidegger, Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, in: Gesamtausgabe, I. Abteilung, vol. 1, Frankfurt am Main 1978, 189-411, hier: 204. Blumenberg, Beiträge (nt. 2), 5. Cf. ibid., 11.
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Selbstverständlichen. Husserl hatte in den lebensweltlich geltenden „selbstverständlichsten Selbstverständlichkeiten“ 8 das dem Bewußtsein bislang Entzogene, das der Aufmerksamkeit Entgangene und noch zu Entdeckende erkannt. Ihm eröffnete sich damit ein eigenes Arbeitsfeld: Die unbemerkten Evidenzen im Lebensvollzug sind in einem Akt der phänomenologischen Aufklärung zu entdecken, und „die universale Selbstverständlichkeit des Seins der Welt“ ist in „eine Verständlichkeit zu verwandeln“ 9. Blumenberg führt daher in seiner Habilitationsschrift die von der phänomenologischen Einstellung inspirierte Aufmerksamkeitssteigerung fort, wenn er den „einzigartigen Rang des Phänomens der ,Geschichte‘ “ 10 herausstellt und die Geschichtlichkeit der „Geschichte“ der Philosophie als das verborgenste Thema der Philosophie benennt 11. Die Aufdeckung des in seiner Selbstverständlichkeit Unentdeckten läßt ihn folglich nach dem übersehenen Hintergrund der geschichtlichen Kinetik fragen, also dem konstituierenden Hintergrund, der den Quellen nicht zu entnehmen und doch für ihre Hervorbringung anzunehmen ist. In der Habilitationsschrift hatte die Rede von der „ontologischen Distanz“ die Einsicht markiert, daß die Verstehbarkeit des Seienden nicht unmittelbar, sondern sprachlich vermittelt gegeben ist. Eine Eigenschaft des Mediums der Sprache ist ihre mögliche Geschichtlichkeit, so daß Blumenberg in der ontologischen Distanz den „Inbegriff des Geschichtlichseins selbst“ 12 erblickt. Die Einsicht in die „Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen“ 13 läßt sich an der Geschichte der sprachlichen Bewältigung des Wirklichen gewinnen: als Begriffsgeschichte und als Geschichte der Metaphern als Feld der Unbegrifflichkeit. Blumenbergs Metaphorologie ist der im Anschluß an Husserl und doch korrektivisch gegen ihn gewendete Versuch, an die „Substruktur des Denkens“ 14 heranzukommen, indem die den geschichtlichen Prozeß begleitenden Metaphern aus ihrer Hintergründigkeit herausgeholt und systematisch ansichtig gemacht werden. Die Metaphorologie ist somit ein wichtiges und die problemgeschichtliche Analyse begleitendes Instrument der Dechiffrierung des geschichtlichen Hintergrunds, denn die Aufdeckung der „Hintergrundmetaphorik“ 15 erhellt den vorentscheidenden Spielraum theoretischer Neuorientierungen im Wandel von ge8
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E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Den Haag 21962, 112. Ibid., 184. H. Blumenberg, Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Kiel 1950, 96. Ibid., 3. Ibid., 27. H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), 7-142 (Register 301-304), hier: 11. Ibid. H. Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), 161-214, hier: 168.
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schichtlichen Selbstverständnissen. Nimmt man die Phase einschneidender Veränderungen als Krise, deren Krisenhaftigkeit darin besteht, Altes preisgeben zu müssen, ohne über Neues schon abgesichert zu verfügen, dann ist die Funktion der Metapher die Vermittlung von Risiko und Sicherung. Sie hat etwas „Vorgreifendes, über den Bereich des theoretisch Gesicherten Hinausgehendes“, und diesen „orientierenden, aufspürenden, schweifenden Vorgriff“ verbindet sie mit einer „Suggestion von Sicherungen, die sie nicht gewinnen kann“ 16. Die Metaphorologie entdeckt, wie „sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft“ 17. Es war die Einsicht in die Vermitteltheit des Wirklichkeitsbezugs, die Blumenberg auch für die Philosophie Ernst Cassirers empfänglich machte. In dessen „Philosophie der symbolischen Formen“ erblickte Blumenberg den gelungenen Versuch, der Philosophie ein erweitertes Feld von Themen und Gegenständen erschlossen oder sie auf neue Weise dem philosophischen Interesse integriert zu haben. Zwar begrenzte Blumenberg seine hermeneutische Aufmerksamkeit bewußt auf geistesgeschichtliche Dokumente, aber das hinderte ihn nicht, über die kanonisierte Tradition der Werke hinaus auch den Briefen, Tagebüchern, Gedichten, Romanen und Anekdoten der von ihm gelesenen Autoren die gleiche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Die frühen Einflüsse konstituierten eine Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds, die sich der Aufgabe stellen sollte, die Spezifität des Epochenumbruchs vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit und die Originalität der sich selbst definierenden Epoche überhaupt erst angemessen in den Blick zu bekommen. Die Grundthese, der sie Anschaulichkeit zu verleihen sucht, besteht in der Annahme, „daß der Ursprung der Neuzeit keine Evolution, sondern eine Metakinese des ,Denkens im ganzen‘“ 18 ist. Als wichtige Anregung für die Ausbildung einer Perspektive auf den Epochenübergang, die im Gegensatz zu einer Vorstellung allmählicher und kontinuierlicher Entwicklungen mit dem Modell zäsierender Umbesetzungen arbeitet, hebt Blumenberg den erst nach Abschluß seiner Habilitationsschrift nachträglich eingearbeiteten und dadurch in seiner Wichtigkeit betonten Versuch von Karl Ulmer hervor, die Wandlung des naturwissenschaftlichen Denkens zu Beginn der Neuzeit nachzuzeichnen 19. Ulmer ist ausdrücklich an einer philosophischen Interpretation der Geschichte der Naturwissenschaft und ihrer Wandlungen interessiert. Anhand der unterschiedlichen Ansätze von Aristoteles und Galilei, das Wesen der Bewegung zu bestimmen, versucht er, die „Geschichtlichkeit des 16 17 18 19
Ibid., 212. Blumenberg, Paradigmen (nt. 13), 11. Blumenberg, Ontologische Distanz (nt. 10), 10 a. Es handelt sich dabei um den Habilitationsvortrag von Ulmer, den er anläßlich seiner Habilitation im Dezember 1944 an der Universität Freiburg und später vor der Universitätsgesellschaft Kiel im Oktober 1947 gehalten hat. Der Vortrag wurde unter dem Titel „Die Wandlung des naturwissenschaftlichen Denkens zu Beginn der Neuzeit bei Galilei“ abgedruckt in: Symposion II (1949), 293-349.
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naturwissenschaftlichen Denkens“ 20 aufzuweisen und die in der frühen Neuzeit vollzogene „Umbildung des wieder aufgenommenen Gedankengutes auf dem Grunde einer ganz neuen Konzeption der Natur und des Wissens“ 21 nachzuzeichnen. Das führt ihn zu der von Blumenberg fast wörtlich übernommenen These, „daß die Entstehung der modernen Naturwissenschaft nicht den Charakter einer Entwicklung hat, sondern den Charakter des Ursprungs“ 22. Das Ausmaß der tiefgreifenden Veränderung des Realitätsbegriffs ist für Ulmer unübersehbar: Die „Struktur des Wißbaren“ 23 wandelt sich, indem an die Stelle des Wissens von der Substanz des Seienden das Wissen vom mathematisch dekodierbaren Gesetz tritt, dem das Seiende unterliegt. „Die Idee vom Seienden als solchem und im ganzen wird eine andere.“ 24 So deutlich diese Transformation des klassischen Seinsverständnisses zu sein scheint - für Ulmer ist der Ursprung dieses Wandels grundsätzlich nicht verstehbar: Mit dem Begriff der Ursprünglichkeit der Neuzeit ist für ihn ausgedrückt, „daß im modernen Denken etwas unvermittelt hervortritt, was in keiner Weise aus dem bisherigen herausgerechnet werden kann. Und dieses Neue ist nicht ein einzelner Gedanke, der sich mit den anderen verbindet und sie dadurch umwandelt, sondern der das Denken im ganzen betrifft. In aller Vorbereitung des Neuen, die hier nicht geleugnet werden soll, kann doch die Möglichkeit und Notwendigkeit des Ursprungs nicht nachgewiesen werden.“ 25 Es ist unschwer zu sehen, daß Blumenbergs Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds eben dies zu leisten sich vornehmen sollte 26. Sie konnte sich dabei des Modells von Kontinuität stiftenden Funktionsstellen und der Möglichkeit ihrer „Umbesetzung“ bedienen. Damit wurde eine Anregung ausdrücklich und methodisch wirksam, die Blumenberg Ernst Cassirers Studie über den „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ von 1910 verdankte. Zugleich war Blumenbergs grundsätzliche Zustimmung zu Thomas S. Kuhns Studien zum Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften vorbereitet. Es bedarf, wenn man den Blick auf die frühen Arbeiten Blumenbergs resümiert, keines weiteren Hinweises, daß Blumenberg eines nicht war: ein Mediävist. Es ist die Spannung seiner denkerischen Anfänge zwischen den Studien 20 21 22 23 24 25 26
Ibid., 296. Ibid., 297. Ibid., 299. Ibid., 347. Ibid. Ibid., 299 sq. Die Frage nach der Legitimität der Neuzeit als Reflex auf ihre Bestreitung durch einen Teil der Säkularisierungstheorien ist daher nicht der ursprüngliche Antrieb von Blumenbergs Studien zur Genealogie dieser Epoche. Bevor Blumenberg die Neuzeit zu verteidigen suchte, wollte er sie verstehen. Die Säkularisierungsdebatte ist eine hinzugekommene Interessenschicht, die die Popularität von Blumenbergs Genealogie zwar erhöht, ihre Rezeption auf Dauer aber erschwert hat, da Blumenbergs Deutung, indem sie sich auf die Säkularisierungsthese einließ, deren Schwächen kopierte. Die Leistungsfähigkeit seiner Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds ließe sich anhand seiner Studie zur „Genesis der kopernikanischen Welt“ ungetrübter aufzeigen, da sie Blumenbergs Hermeneutik idealtypisch umsetzt.
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der scholastischen und neuthomistischen Philosophie, der Mediävistik und der phänomenologischen Schule, der sich auf Dauer die Spezifität und man darf sagen: die Originalität von Blumenbergs Deutung des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit verdankt. II. Blumenbergs Phänomenologie der Geschichte formuliert einen Mißtrauensantrag gegen die Quellen der Geistesgeschichte. Sie sind für ihn keine aus sich selbst heraus verstehbaren Sinneinheiten, sondern gleichsam Indikatoren für einen geschichtlichen Prozeß, der in einem genau zu verstehenden Sinne im Hintergrund abläuft. Es ist daher die Aufgabe des geschichtlichen Verstehens, angesichts der Quellen eine „Offenheit zum Abwesenden hin zu wahren, weil und insofern es das nie ganz Abwesende ist“ 27. Die „Kontinuität der Zeugnisschicht“ ist für Blumenberg daher „trügerisch“ 28, es sei vielmehr von einer „Inkongruenz von Zeugnisschicht und Ereignisschicht“ 29 auszugehen. Erst vor dem problemgeschichtlich zu bestimmenden Hintergrund erfahren die Quellen ihre Lesbarkeit, da sie dessen Ausdruck sind. Das hat zur Konsequenz, daß ein „Beim-Wort-nehmen der Zeugnisse zu einer geschichtslosen Geistesgeschichte“ führt, „unter deren Ausdrücklichkeit sich der eigentlich geschichtliche Sinnwandel verhehlt“ 30. Was also „unterhalb der thematischen Prozeßebene“ 31 liegt, ist der geschichtliche Hintergrund als die gewesene Möglichkeit des faktisch Gewordenen. Die Abhängigkeit von einer geschichtlichen Situation, heißt das, läßt nur durch diesen hintergründigen Spielraum eröffnete Möglichkeiten des geschichtlichen Handelns zu und vereitelt andere: „Hintergrund ist das, was einen bestimmten Spielraum möglicher Veränderungen eröffnet, was bestimmte Schritte zuläßt und andere ausschließt.“ 32 In seiner umfangreichen Studie zu den Bedingungen und Folgen der kopernikanischen Wende hat Blumenberg hervorgeho27 28
29 30 31 32
H. Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt am Main 1988, 8. H. Blumenberg, Epochenschwelle und Rezeption, in: Philosophische Rundschau 6 (1958), 94120, hier: 102. Ibid., 95. Ibid., 101. Blumenberg, Legitimität (nt. 1), 540. H. Blumenberg, Die kopernikanische Wende, Frankfurt am Main 1965, 7. In seinem Buch „Matthäuspassion“ hat Blumenberg ein ausgewogenes Verhältnis geschichtlicher Vorder- und Hintergründigkeit gefordert und damit die Wertschätzung der Quellen vor dem Verdacht ihrer Marginalisierung verteidigt: „Alle Ereignisse und Gestalten stehen, wenn sie wirklich werden, geworden sind oder werden können, vor ihrem Hintergrund. Hintergründigkeit ist kein Wertprädikat, sowenig wie Vordergründigkeit eine Disqualifikation. Die Isolierung des Vordergrunds der Geschichte, wie sie wirklich gewesen ist, entzieht genauso Wesentliches wie die Fixierung auf den vermeintlichen Vorrang des Hintergründigen, das darin nur den Rivalen des Untergründigen bekommen zu haben scheint.“ (Matthäuspassion [nt. 27], 7 sq.)
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ben, daß für ihn das entscheidende geschichtliche Problem dieser Epochenwende nicht in der Leistung des Kopernikus oder in einem Nachweis ihrer Notwendigkeit, sondern vielmehr in der Begründung ihrer bloßen Möglichkeit liegt 33. Auch im Kontext der kopernikanischen Wende geht es Blumenberg nicht darum, die Herkunft und Ausbildung bestimmter Ideen und Hypothesen darzustellen und ihre Anreger und Frühformen zu ermitteln - wie er es vorbildlich von Anneliese Maier realisiert fand 34 -, es sei vielmehr „eine Schicht tiefer anzusetzen, bei der Entstehung des Spielraums, in dem jene neuen Entwürfe überhaupt erst möglich wurden und innerhalb dessen die Affinitäten für ihre Wirkung und die Mittel zu ihrer Formulierung entstanden“ 35. Es geht im geschichtlichen Verstehen somit um das „Verhältnis von Potentialität und Entscheidung, also die Freiheit, aus der Geschichte zum Faktum wird, nicht dieses Faktum als solches“ 36. Erst mit dem Blick auf den geschichtlich gewandelten Hintergrund erklärt sich die Frage, warum Kopernikus nicht so folgenlos blieb wie in der Antike Aristarch von Samos. Hatte Blumenberg an Pierre Duhems „Le Syste`me du Monde“ und an Husserls Krisis-Abhandlung ablesen können, wie die abendländische Geistesgeschichte zur Vorgeschichte der Neuzeit wird, so ist der Anspruch seiner problemgeschichtlichen Dechiffrierung des entscheidenden Epochenübergangs der, die Originalität und Spezifität der Neuzeit als Epoche überhaupt erst in den Blick zu bekommen. Die retrospektiv sich selbst vergewissernde Neuzeit hatte den Schritt in die eigene Epoche rhetorisch als Zäsur idealisiert. Descartes und seine Depotenzierung der normativen Tradition wurde gleichsam zum Mythos der sich selbst und voraussetzungslos begründenden Moderne. Blumenberg verteidigt den Originalitätsanspruch der Neuzeit, indem er ihrem rhetorischen Pathos widerspricht. Er vermutet, die Mittelalter und Neuzeit verbindende Kontinuitätsschicht liege „unter der Oberfläche der Chronologie und der durch sie datierbaren Ereignisse“ 37. Die Möglichkeit der Neuzeit als Epoche wird erst verständlich vor dem Hintergrund der Krise des Mittelalters, auf die sie eine Antwort sein soll. Für eine Phänomenologie der Geschichte, die an den Strukturen der Geschichtlichkeit der Geschichte interessiert ist, sind die Bedingungen der Möglichkeit, die Epochenschwelle zu überschreiten, maßgeblich. Was aber ist überhaupt eine Epoche? Wodurch rechtfertigt sich die Annahme der historischen Vernunft, geschichtliche Tendenzen zusammenfassen und voneinander abgrenzen zu kön33 34
35 36
37
H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main 1975, 198 sq. Cf. Blumenbergs Sammelbesprechung einiger Werke von Anneliese Maier: H. Blumenberg, Die Vorbereitung der Neuzeit, in: Philosophische Rundschau 9 (1962), 81-133. Blumenberg, Genesis (nt. 33), 198. H. Blumenberg, Sokrates und das ,objet ambigu‘. Paul Vale`rys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes, in: F. Wiedmann (ed.), Epimeleia. Die Sorge der Philosophie um den Menschen, München 1964, 285-323, hier: 299. Blumenberg, Legitimität (nt. 1), 545.
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nen? Ob es die Renaissance wirklich gab, ist in diesem Zusammenhang die exemplarische Standardfrage 38. Gegen das Prägnanzbedürfnis der historischen Vernunft, das nach idealtypischen Bestimmungen einer Epoche verlangt, ist eine Epoche für Blumenberg der „Inbegriff aller Interferenzen von Handlungen zu dem durch sie ,Gemachten‘ “ 39. Da nun aber eine Handlung durch den Horizont ihrer geschichtlichen Möglichkeiten bestimmt und limitiert wird und da dieser Horizont unverfügbar ist, gilt: „Der Mensch macht zwar die Geschichte, aber er macht nicht die Epoche.“ 40 Die Epoche als der geschichtlich ermöglichte Zusammenhang eines Wirklichkeitsbezugs verschafft sich in den Quellen, Zeugnissen und Dokumenten ihrer Akteure ihren Ausdruck. Die Repräsentanten einer Epoche werden somit eher zu den Resultaten als zu Faktoren der Epoche, der sie angehören. Für die Interpretation der Texte ist dies entscheidend. Die Geschichte macht sich selbst durch die Handlungen ihrer Akteure. Die Genese einer Epoche liegt somit außerhalb der hermeneutischen Verfügbarkeit ihrer Protagonisten, wenngleich sie ohne ihre Beteiligung nicht zustände käme. Dieses Geschichtsmodell positioniert sich genau ausbalanciert zwischen den Vorstellungen einer Geschichte, die von souveränen Subjekten abhängt, und der Leitidee einer absoluten Geschichte teleologischen Zuschnitts, in der die Subjekte Marionetten eines Determinismus sind. Die Texte als die sprachliche Sedimentierung dieser geschichtlichen Kinetik zu lesen, bedeutet daher für Blumenberg den Versuch, sie in die Spannung zurückzustellen, der sie entstammen. Der geschichtliche Horizont als die Bedingung der Möglichkeit ihrer Formulierbarkeit ist der hermeneutische Schlüssel dazu. Damit ist das Projekt einer Phänomenologie der Geschichte präzisiert und der Streitwert bestimmt. III. Im vierten Teil der „Legitimität der Neuzeit“ hat Blumenberg seine Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds auf Nikolaus von Kues und Giordano Bruno angewendet, um durch ihren Vergleich die Epochenschwelle sichtbar werden zu lassen. Die Meßlatte für eine Interpretation des Cusaners und des Nolaners lag hoch, hatte doch Ernst Cassirer 1927 in seinem Buch „Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance“ den philosophischen Eigen38
39 40
Die Annahme der Homogenität einer Epocheneinheit wird zunehmend durch den Blick auf ihre Vielfalt ersetzt, womit der klassisch gewordene Epochenbegriff fragwürdig wird. Auch der Versuch von Jacob Burckhardt, die Renaissance in Italien idealtypisch zu bestimmen, scheint unter der Perspektive der Mehrschichtigkeit von Tradition und Innovation innerhalb eines geschichtlichen Zeitraums kaum noch haltbar zu sein. Cf. P. Burke, Culture and Society in Renaissance Italy, London 1972; id., The European Renaissance. Centres and Peripheries, Oxford 1998. Blumenberg, Legitimität (nt. 1), 555. Ibid., 554.
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wert dieser Übergangszeit mit Nachdruck vertreten. Am Leitfaden der Erkenntnistheorie erläuterte Cassirer die Entwicklung des Autonomiegedankens durch das Auseinandertreten von Subjektivität und naturwissenschaftlicher Objektivität. Cusanus begriff er als den „ersten modernen Denker“ 41, der vom Pathos der Selbstbestimmung bei Bruno noch übertroffen, aber nicht korrigiert wird. Es gibt in der Entfaltung des modernen Selbstbewußtseins für Cassirer eine direkte Linie von Cusanus über Bruno zu Descartes. Blumenberg dagegen stellt Cusanus und Bruno gegenüber und positioniert sie dies- und jenseits der Epochenschwelle. „Keiner von beiden hat Epoche gemacht, keiner ist Epochenstifter. Dennoch sind beide ausgezeichnet durch ihr Verhältnis zur Epochenschwelle. Diese wird nicht mit ihnen oder an ihnen erfaßt, sondern durch Interpolation zwischen ihnen.“ 42 Der Hintergrund, vor dem sie sich bewegen, stiftet erst die Möglichkeit des Vergleichs, der die Unterschiedlichkeit hervortreten läßt. Die Interpretation der Quellen geschieht demnach unter der Grundvoraussetzung, daß sie als Antworten auf unformulierte Fragen zu lesen sind 43, und daß sowohl beim Cusaner als auch beim Nolaner von „unausgesprochenen ,Hintergedanken‘ “ 44 auszugehen ist: „Nicht der Grad der Unausgesprochenheit, sondern der der Unaussprechbarkeit unterscheidet sie, deutlicher noch: ihr Verhältnis zu den Möglichkeiten, etwas ,zur Sprache zu bringen‘.“ 45 Das von Cusanus nicht Aussprechbare ist für Blumenberg die Krise des Mittelalters, vor der er retrospektiv zu sehen sei. Im Kern besteht diese Krise in einem Auseinanderbrechen der drei Exponenten des mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriffs: Gott, Universum und Mensch. Inbegriff ihrer ehemaligen Verschmelzung war der Gedanke der Inkarnation, da durch ihn die Welt zum Schauplatz der Ankunft Gottes wurde und der Mensch zum Adressaten des sich selbst mitteilenden Gottes. Im Anschluß an die Verurteilung von 1277 sieht Blumenberg einen theologischen Voluntarismus entstehen, der die unbeschränkten Möglichkeiten Gottes absolut setzt und damit auch die Notwendigkeit des Inkarnationsgeschehens unterspült. Für Blumenberg ist der Gott des spätmittelalterlichen Nominalismus eine zur reinen Willkür verdichtete Allmacht. Sie kann „quer durch alle rationalen Sicherheiten und Wertungen hindurchgehen und darin die Möglichkeiten menschlicher Gewißheit vernichten“ 46. Der Nominalismus als ein „System der Systemdurchbrechungen“ 47 gibt die in der Tradition verbürgte Entsprechung von Vernunft und Kosmos preis und generiert aufgrund der „ans Absurde streifenden intellektuellen Zumutung“ 48 eine Ohn41 42 43 44 45 46 47 48
E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 61987, 10. Blumenberg, Legitimität (nt. 1), 555. Ibid., 558. Ibid., 556. Ibid. Blumenberg, Ontologische Distanz (nt. 10), 84. Blumenberg, Legitimität (nt. 1), 215. Blumenberg, Genesis (nt. 33), 46.
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macht der Vernunft 49. Die „Agonie des Mittelalters“ sieht Blumenberg daher in der Lehre von der „doppelten Wahrheit“ - also einer Unvereinbarkeit theologischer und philosophischer Wahrheiten - begründet, die für ihn eine „intellektuelle Schizoidie“ provoziert und die tragenden Fundamente der mittelalterlichen Systematik sprengt 50. Vor diesem Hintergrund liest Blumenberg die cusanischen Texte, denen er die unausdrückliche Anstrengung entnehmen zu können glaubt, die drei Faktoren des mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriffs, die Theologie, die Kosmologie und - wenn man es einmal so sagen darf - die Anthropologie, zusammenzuhalten und der Versuchung einer „doppelten Wahrheit“ zu widerstehen. „Der Cusaner hat seine Sorge um den Bestand des Zeitalters nicht formuliert. Aber die Einheit seines Denkens läßt sich gerade und nur aus solcher Sorge verstehen.“ 51 Blumenbergs eindringliche und ausführliche Interpretationen des cusanischen Werkes konvergieren in diesem einen Motiv: Das Denken des Cusaners ist für ihn Ausdruck eines epochalen Rettungsversuches, indem es - etwa durch die Einführung einer neuen, nachgeozentrischen Kosmologie - versucht, der durch den theologischen Voluntarismus betonten Größe Gottes ein fast schon nachmittelalterlich anmutendes Selbstbewußtsein entgegenzustellen. Der Mensch als quasi alius Deus. Hatte Cusanus im Nachvollzug seiner Sprengmetaphorik im Rahmen seiner Mathematico-Theologie, wonach ein Kreis unendlich vergrößert zur Geraden wird, von seinem spezifischen Motivationshintergrund aus eine Entgrenzung der kosmischen Welt eingeleitet, so wird für Bruno gerade der unendliche Kosmos als Äquivalent der potentia Dei absoluta das entscheidende Argument gegen die Vorstellung, Gott habe sich inkarnatorisch auf die Singularität des Menschen im Universum eingelassen. Angesichts des von Bruno emphatisch aufgegriffenen Gedankens von der Pluralität der Welten wird der Inkarnationsgedanke für ihn unnachvollziehbar, und durch Caspar Schoppe wissen wir, daß sich Bruno auf dem Scheiterhaufen von dem vorgehaltenen Kruzifix abwandte und damit der Nachwelt eine prägnante Geste seines philosophischen Selbstbewußtseins hinterließ. Für Blumenberg arbeitet der Nolaner wie der Cusaner an einer „Umbesetzung“ der Transzendenz. An beiden erkennt Blumenberg den Versuch, angesichts des theologischen Voluntarismus des Spätmittelalters das Wirklichkeitsverhältnis gleichsam zu stabilisieren: Hatte Cusanus den Menschen zu einem zweiten Gott erhöht, überträgt Bruno die Transzendenz auf das Universum. Blumenberg vermag somit Cusanus als den restaurativen Innovator vorzustellen, der 49
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Blumenbergs Deutung des spätmittelalterlichen Nominalismus habe ich anhand seiner Interpretation Ockhams ausführlich diskutiert in: J. Goldstein, Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, Freiburg München 1998. H. Blumenberg, Einleitung zu: Nikolaus von Cues, Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften, besorgt und eingeleitet von H. Blumenberg, Bremen 1957, 15. Blumenberg, Legitimität (nt. 1), 558.
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das Alte zu bewahren sucht, indem er es neu denkt, und Bruno wird zum Vollstrecker eines neuen Wirklichkeitsverhältnisses, das er „eher postuliert und feiert als begreift“ 52. Gerade weil die Rezeption des Cusaners bei Bruno so greifbar ist, läßt sich nach Blumenberg bei der Kontinuität der Ausdrucksmittel die Diskontinuität der systematischen Funktion und Konsequenz als der Schritt über die Epochenschwelle nachweisen. Indem Bruno die Spannung, die in die Relationen von Gott, Mensch und Universum gekommen war, nicht mehr zu mindern versuchte, sondern zu einem intendierten Bruch steigerte, steht er für Blumenberg außerhalb des Mittelalters, ohne die Grundformeln der Neuzeit bereits gefunden zu haben 53. Seine Kosmologie war für die neue Rationalität der Neuzeit noch nicht disponiert 54. Blumenberg zeichnet ein Bild vom Nolaner, der etwas vollzieht, was gänzlich zu begreifen außerhalb seiner hermeneutischen Möglichkeiten liegt. Er ist Vollstrekker, aber kein Zeuge des Epochenumbruchs. Und doch ist es erst der Horizont spätmittelalterlicher Problemstellungen, vor dem sich die „bunt zerflatternde Welt der Vorstellungen, Imaginationen und Rezeptionen des Nolaners“ zu einem „intelligiblen Gefüge“ 55 verdichtet. Die von Bruno emphatisch ergriffene Möglichkeit, sich als Kopernikaner entwerfen zu können, erschloß ihm den Ansatzpunkt einer erfolgreich einzunehmenden Distanz vom Mittelalter. Begreift man den Nolaner als den „Metaphysiker des Kopernikanismus“ 56, wie Max Scheler ihn genannt hat, dann wird der Unterschied zu Cusanus deutlich, trotz der Ähnlichkeit einzelner Theoreme. Es gehört zur epochemachenden Konsequenz, nicht allein im Horizont gegebener Fragen zu philosophieren und neue Antworten zu formulieren, sondern durch eine Infragestellung der gegebenen Fragen den Freiraum für ein neues Wirklichkeitsverhältnis miteröffnet zu haben 57. Mit Bruno ändert sich auch der geschichtliche Hintergrund akzeptierter Selbstverständlichkeiten. Nicht nur ein geschichtlicher Hintergrund bestimmt somit die Kinetik des Epochenübertritts, sondern der Hintergrund selbst ist veränderbar. Eine Phänomenologie der Geschichte wird zu einer Metakinetik der geschichtlichen Hintergründe. IV. Seit dem Erscheinen der „Legitimität der Neuzeit“ ist der Ertrag von Blumenbergs Entwurf des spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Epochenübergangs umstritten. In einer Rezension stellte Karl Löwith als Fazit die Frage, „wozu dieser 52 53 54 55 56
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Ibid., 545. Cf. ibid., 645. Cf. ibid., 651. Ibid., 659. M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft (Gesammelte Werke VIII), Bern - München 21960, 79. Cf. Blumenberg, Legitimität (nt. 1), 662.
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Aufwand an scharfsinnigen Überlegungen“ und „ausgebreiteter historischer Bildung“ 58 letztlich diene und formuliert daher die Vermutung einer Diskrepanz von Anstrengung und Ertrag, während Hans Georg Gadamer, trotz der Kritik am Detail, betont, daß die „ins Funktionale aufgelöste problemgeschichtliche Betrachtungsweise zu historisch differenzierteren Aussagen gelangt“ 59, als es etwa Cassirers Ansatz noch vermochte. Die Probleme einer Relektüre des Epochenübergangs unter Zuhilfenahme der Projektion eines geschichtlichen Hintergrunds lassen sich systematisch benennen: 1. Carl Schmitt hat von dem „Autismus“ der Blumenbergschen Argumentation gesprochen 60. Das ist scharfsinnig beobachtet, unterhaltsamer ist aber eine Karikatur von Jean Effel in der Tageszeitung „L’Express“: Dort war der französische Staatspräsident De Gaulle in einer Pressekonferenz dargestellt, er eröffnet sie mit den Worten: „Meine Herren! Wollen Sie jetzt bitte die Fragen auf meine Antworten stellen!“ 61 Eine problemgeschichtliche Dechiffrierung des Epochenübergangs hat es unweigerlich mit dem Problem zu tun, daß jede Genealogie perspektivisch vorbestimmt ist. Von der Neuzeit aus wird das Spätmittelalter als das Problem definiert, auf das die Neuzeit die Antwort sein soll. 2. Der Bezug aller Quellen auf einen geschichtlichen Hintergrund, von dem sie abhängen sollen, den sie selbst aber nicht ausdrücklich zu machen vermögen, generiert eine problemgeschichtliche Metaerzählung. Das spekulative Moment dieser Metaerzählung willigt in das Risiko einer Distanz zum Text ausdrücklich ein. Gedankliche Motive sind daher nicht davor geschützt, aus ihrem Kontext herausgelöst und vor einem nachträglich entworfenen Hintergrund in heteronome problemgeschichtliche Zusammenhänge eingefügt zu werden. Die Versuchung für eine derartige Hermeneutik ist die Immunität gegen die Selbstaussagen eines Textes. Die von einem herangetragenen Hintergrund geleitete Interpretation birgt als hermeneutische Gefahr in sich, was Heinrich Niehues-Pröbsting anhand von Blumenbergs Platon-Rezeption treffend eine „Verlesung“ genannt hat 62. 3. Die Erfassung der Metakinetik geschichtlicher Hintergründe, die vom Modell des Paradigmenwechsels inspiriert ist, aber um die leitende Funktion der
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K. Löwith, Rezension zu: Die Legitimität der Neuzeit, in: Philosophische Rundschau 15 (1968), 195-201, hier: 200. H. G. Gadamer, Rezension zu: Die Legitimität der Neuzeit, in: Philosophische Rundschau 15 (1968), 201-209, hier: 204. C. Schmitt, Politische Theologie II, Berlin 1970, 114. Zitiert nach: H. Blumenberg, Die Vorbereitung der Aufklärung als Rechtfertigung der theoretischen Neugierde, in: H. Friedrich/F. Schalk (eds.), Europäische Aufklärung. Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag, München 1967, 23-45, hier: 24. H. Niehues-Pröbsting, Platonverlesungen. Eigenschatten - Lächerlichkeiten, in: F. J. Wetz/H. Timm (eds.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt am Main 1999, 341-368.
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Metaphern beim Wandel von Wirklichkeitsverhältnissen ergänzt wird, hat es mit einer systematischen Ambivalenz der Statik des Hintergrunds zwischen Dynamik und Kontinuität zu tun. Zum einen geht Blumenbergs Begründung historischer Kontinuität von einer Identität von Funktionsstellen innerhalb des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses aus, die zu besetzen sind. Damit ist eine Kontinuität des Hintergrunds als eines interpretatorischen Bezugsrahmens gesetzt, dessen angenommene Funktionsstellen nicht weiter zu rechtfertigen sind. Blumenberg führt etwa das Prinzip der Selbsterhaltung der Vernunft als konstante Funktion ein 63. Dieses Prinzip ist zwar als ein zunächst heuristisches eingeführt, aber seine quasisubstanzielle Verwendung läßt diese Charakterisierung als ein Moment der Rhetorik erkennbar werden. Auf der anderen Seite sind geschichtliche Hintergründe für Blumenberg offensichtlich wandelbar. Hans Michael Baumgartner hat die Frage aufgeworfen, ob diese Variabilität der Strukturen der Geschichte nicht erneut invariante Strukturen voraussetzt, um diesen Prozeß des Wandels des geschichtlichen Hintergrunds verstehbar zu halten - ein infiniter Regreß wäre die Folge 64. V. Husserl war kein Kenner mittelalterlicher Philosophie, er war ein Cartesianer. Für ihn war das Mittelalter ein medium aevum in der strikten Wortbedeutung. Es kommt in der Krisis-Abhandlung allein als Auslassung vor. Hatte sein später geschichtsphilosophischer Entwurf den Beginn der theoretischen Einstellung spekulativ und historisch undatierbar dem Griechentum zugeschrieben, so fällt Descartes die Aufgabe zu, ganz im Sinne einer Renaissance diese theoretische Haltung in ihrer ganzen Reinheit wiederherzustellen. Nach der „griechischen Urstiftung“ 65 stellt Descartes, den Husserl als den „urstiftenden Genius der gesamten neuzeitlichen Philosophie“ 66 begreift, die Eigentlichkeit der Philosophie wieder her und eröffnet die Neuzeit. Die abendländische Geistesgeschichte wird zur Einheit einer zu bewältigenden theoretischen Aufgabe, deren Erfüllung die Phänomenologie in Aussicht stellt. Der Ursprung der Neuzeit liegt somit in der Antike, die Neuzeit ist ihre Vollendung. Man mag dies alles für Rhetorik halten und den späten geschichtsphilosophischen Ausgriff des Phänomenologen als einen Reflex auf die ontologiegeschicht63
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65 66
Cf. Blumenberg, Legitimität (nt. 1), 539: „... das geschichtliche Leben aber kann, auch wenn es Zusammenbrüche und Neuformierungen durchläuft, nur unter dem Prinzip der Selbsterhaltung verstanden werden ... Dies ist zunächst nur ein heuristisches Prinzip. Es gibt ein Kriterium für das vor, was überhaupt noch an der Geschichte verstanden werden kann, wenn es in ihr tiefe Umbrüche, Umwertungen, Wendungen gibt, die die gesamte Lebensstruktur betreffen.“ Cf. H. M. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt am Main 1997, 258. Husserl, Krisis (nt. 8), 72. Ibid., 75.
Hans Blumenbergs Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds
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lichen Entwürfe seines Meisterschülers ansehen. Dennoch läßt sich Blumenbergs Versuch, eine Relektüre der gesamten abendländischen Geistesgeschichte zu leisten, in seinen Antrieben kaum ohne die Vorlage Husserls verstehen. Husserls geschichtsphilosophische Spekulation war unbelastet von zu genauen Kenntnissen der philosophischen Tradition und wurde von Einsichten in das mittelalterliche Denken nicht bedrängt. Blumenbergs problemgeschichtliche Dechiffrierung des abendländischen Denkens als eines theoretischen Zusammenhangs, die noch den kleinsten Überlieferungspartikeln tendenziell ihre Aufmerksamkeit zu schenken versucht, hat sich daher im vollen Sinne als eine HusserlKritik entfaltet. Sämtliche Überlegungen zur Geschichtlichkeit der geschichtlichen Tradition versuchen gleichsam den defizitären Geschichtsbegriff Husserls zu korrigieren. Und dennoch basieren Blumenbergs Geschichtsbegriff und der Geltungsanspruch seiner Genealogien auf dem von der Phänomenologie Husserls explizierten Wirklichkeitsbegriff. Dieser Wirklichkeitsbegriff, wie ihn Blumenberg resümiert, läßt sich als „Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes“ 67 bestimmen. Die Realität wird dabei zu einem Resultat einer Realisierung von Konsistenzen. Der Realismus der sich selbsterhaltenden Vernunft integriert das als Welt Erfahrene und Gedachte zu einer aushaltbaren Realität. Entscheidend an diesem Wirklichkeitsbegriff ist sein geschichtlicher Index: Jede Realität als das Resultat eines Realismus ist eine erzeugte Verläßlichkeit, die so lange Geltung beanspruchen kann, bis Evidenzbrüche, Irritationen, Überraschungen oder neu wahrgenommene Möglichkeiten eine Variation des Gedachten erfordern und einen neuen Begriff der Realität generieren. Die Geschichtlichkeit der Wirklichkeitsbegriffe erzeugt einen Etappenrealismus, der jede Realitätsannahme unter den Vorbehalt künftiger Korrekturen stellt. Der Wirklichkeitsbegriff der Realisierung von in sich einstimmigen Kontexten hat nach Blumenberg eine gleichsam „epische“ Struktur: Er ist unvollendbar und unausschöpfbar. Die Geschichte als die Abfolge von verblaßten Realismen zu lesen, bedeutet daher, angesichts der überbordenden Fülle an Dokumenten des Historischen einstimmige Kontexte zu schaffen, die sich als Kontinuitäten realisieren. Blumenbergs philosophische Relektüre der überlieferten Geistesgeschichte, die sich des differenzierenden Blicks epochaler Unterschiede ausdrücklich bedient, ist daher auch der Versuch, dem „homogenen Gleichlauf der Zeit Konturen zu geben, statt ihm die Kontinuität des bloßen Undsoweiter zu lassen“ 68. Damit ist eine Verteidigung der Möglichkeit, innerhalb der Geschichte von Anfängen zu sprechen, unternommen, trotz des Wissens, daß sich jeder Anfang bis zur Unkenntlichkeit historisieren und nivellieren läßt. Dieser Versuchung, „immer noch eine Vorstufe und noch einen Vorläufer anzubieten“, zu 67
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Cf. H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: H. R. Jauß (ed.), Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik I), München 1964, 9-27, hier: 12 sq. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, 112.
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widerstehen, ist ein selbstbehauptender Akt der historischen Vernunft gegen die „Nivellierungen und Verwaschungen der historischen Materialhäufung“ 69 durch das Beharren auf Bedeutsamkeit 70. In diesem Moment des Entwurfes einer bedeutsamen Kontinuität, der Behauptung eines prägnanten und den historischen Spielraum nutzenden Anfangs oder der Hervorhebung einer weitreichenden Wende innerhalb der Geschichte der gedachten Welt vollzieht die historische Vernunft einen spekulativen Akt. In diesem Akt der Spekulation präpariert die historische Vernunft eine Eindeutigkeit des historischen Verlaufs, der die uneinholbare Überfülle an faktischen Ursachen des geschichtlichen Verlaufs auf jene Einsehbarkeit verdichtet, für die es letztlich keinen Beweis innerhalb der Quellen gibt und geben kann. Der Sturm auf die Bastille wird so zu einem hervorgehobenen Ereignis, an dem die Dynamik eines historischen Umbruchs deutlich werden soll, auch wenn dieses singuläre Ereignis tatsächlich vielleicht nur ein Nebenprodukt eines Zustandswandels gewesen ist 71. Gestalten wie der Cusaner und der Nolaner werden auf diese Weise zu Epochenindices. Die systematische Akzeptanz dieser Verfahrensweise der historischen Vernunft hängt von der Konnotierung des Begriffs ,Spekulation‘ ab. Wer in ihm allein den Inbegriff des ungesicherten Herumwilderns im historischen Material sieht, mag übersehen, daß das Moment des spekulativen Entwurfs ein unhintergehbares Moment der historischen Vernunft ist. Spekulation ist das Zugeständnis der Endlichkeit der historischen Vernunft, die entwerfen muß, um zu verstehen, wo doch der unvermittelte Zugang zur Wirklichkeit des Geschichtlichen das theoretische Ideal wäre. Und „Spekulation ist nicht Willkür der Fiktionen; sie hat ihre eigene Art der Rechtfertigung und ihre spezifische Vorsicht der Anwendung“ 72. Der ins Geschichtliche gewendete Wirklichkeitsbegriff, der von einer Abfolge von Realismen ausgeht, bestimmt die Dignität des Vergangenen. Hatte Blumenberg schon an der Denkbiographie Cassirers einen Verlust des Primats der Erkenntnistheorie und somit einen Wandel des ehemals auf Gewißheit setzenden Sicherheitsbedürfnisses festgestellt 73, so läßt sich die auf die Geschichte angewendete Konsequenz auch auf den Wirklichkeitsbegriff sukzessiv sich ablösender Realitäten anwenden: „Die ehrwürdige Frage, was wir denn wissen können, transformiert sich gerade dem historisch nicht unbesonnenen Nachdenken im69 70
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Ibid. Zum Aspekt der Bedeutsamkeit bei Blumenberg cf. B. Merker, Bedürfnis nach Bedeutsamkeit. Zwischen Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit, in: Wetz/Timm (eds.), Kunst des Überlebens (nt. 62), 68-98. Cf. Blumenberg, Mythos (nt. 68), 116. H. Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, 7-54, hier: 17. Cf. H. Blumenberg, Ernst Cassirer gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg 1974, in: id., Wirklichkeiten (nt. 72), 163-172, hier: 164.
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mer mehr in die andere, was es denn gewesen war, was wir wissen wollen.“ 74 Damit ist der Blick auf vergangene Realismen entgrenzt, indem sie nicht als defizitäre Lösungen aktueller Fragen diskreditiert, sondern als legitime Antworten auf ehemalige Fragen verstehbar werden. Mit der Frage „Welches war die Welt, die man haben zu können glaubte?“ 75 formuliert eine Archäologie der vergangenen Realismen ihr historisches Interesse. Der Fokus dieses Interesses ist auf den vergangenen Wirklichkeitsbegriff gelenkt, unabhängig vom Wahrheitsanspruch, den er heute noch erheben kann. Die Relevanz des Vergangenen für eine aktuelle Gegenwart ist für diese theoretische Neugierde kein relevantes Kriterium. Das Aufgeben eines erkenntnistheoretischen Primats impliziert vielmehr die Freisetzung des Eigenwerts der geschichtlichen Stadien des humanen Realismus. Die geschichtlichen Realismen als situativ gelungene Selbsterhaltungen der Vernunft sind gleichwertig. Jeder Fortschrittsgedanke ist bei der Chronologisierung ihrer Abfolge fernzuhalten 76. Blumenbergs Philosophie der Geschichte ist letztlich eine genetische Anthropologie, die getragen ist von dem „geschichtlichen Respekt vor der Gleichrangigkeit der menschlichen Selbsthilfen im Weltverständnis“ 77. Wie ist nun der Geltungsanspruch der von der historischen Vernunft entworfenen Kontinuitätsschichten zu bestimmen? Jeder Aufweis einer geschichtlichen Kontinuität ist die Zustimmung der historischen Vernunft zu einer aus ihrer Perspektive sichtbaren Ordnung der historischen Phänomene. Der kritische Vorbehalt, der sich auf die Formel bringen läßt: „Es könnte auch anders gewesen sein!“, ist durch die Einsicht konstituiert, daß die historische Vernunft nicht metageschichtlich, sondern zeitgeschichtlich positioniert und in ihren hermeneutischen Perspektiven vorbestimmt ist - die Rezeptionsgeschichte klassischer Autoren und ihrer Texte bietet die exemplarische Einsicht in die Wechselhaftigkeit der Interpretationen und Lesarten von jeweils aktuellen Standpunkten aus 78. Das gilt auch für den vielfältigen und mehrschichtigen Beginn der Neuzeit, der monokausal unbeschreibbar ist. Die Spektren der vielen Anfänge zu einem Singular zu verdichten, indem dem historischen Verstehen ein Angebot gemacht wird, wie es gewesen sein könnte, ist ein legitimer Akt einer genealogischen Kontinuitätsstiftung, die Verstehen ermöglichen und die Präsenz der Quellen als Phänomene der Geschichte steigern soll. „Mir kommt es nur darauf an“, so resümiert Blumenberg sein Anliegen, „wie dem Anspruch genügt werden kann, 74 75 76
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Ibid. H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1981, 10. Es gehört zur argumentativen Stärke der These von der „Legitimität der Neuzeit“, den Schritt aus dem Mittelalter in die Neuzeit ausdrücklich nicht als Fortschritt beschrieben zu haben. Blumenberg, Genesis (nt. 33), 202. Eine idealtypische Bestimmung der Wandelbarkeit von rezeptionsbedingten Aussichten auf einen klassischen Gegenstand bietet der Überblick über die mehr als zweihundert Jahre umfassende Rezeptionsgeschichte Goethes. Cf. die meisterliche Studie von K. R. Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, vol. I: 1773-1918, München 1980, vol. II: 1919-1982, München 1989.
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zum Verständnis der Konstitution der Neuzeit vertretbare, auf Begründungen zumindest hinführende Aussagen zu machen.“ 79 Die Genese der Neuzeit verstehen zu wollen, ist dabei zugleich die versuchte Selbstaufklärung über die Selbstverständlichkeit der eigenen Perspektive, von der aus diese Genese wahrgenommen wird.
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Blumenberg, Legitimität (nt.1), 34.
II. Zur Philosophie des Spätmittelalters
Hat Nicolaus von Autrecourt Aristoteles widerlegt? G¸nther Mensching (Hannover) Für viele Philosophen der Gegenwart ist die Evidenz der Prinzipien von Erkenntnis verblaßt. Die Grundlagen der neuzeitlichen Naturwissenschaften sind ebenso dem Zweifel ausgesetzt wie die Logik, die am Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs orientiert ist. Anders als noch die meisten Schulen des frühen 20. Jahrhunderts hat dominierende Strömungen in dessen zweiter Hälfte ein universaler Skeptizismus ergriffen, der entweder vom Prinzipiellen überhaupt Abschied nehmen will 1, oder den Verzicht auf eine gesicherte und demonstrierbare Grundlage des Wissens und der moralischen Orientierung für geboten hält. So vertreten manche Autoren 2 einen radikalen epistemologischen Skeptizismus, der bestreitet, daß wissenschaftliche Sätze und alltägliche Aussagen als wahr bewiesen werden können, auch wenn sie begründet sein mögen. In der postmodernen Populärphilosophie wird der Anspruch, Wahres zu erkennen, vollends als ein neuerdings aufgegebener Irrweg behandelt 3. Von Substanzen im metaphysischen Sinne redet schon lange fast niemand mehr, und das Prinzip der Kausalität wird heute meist nur mehr als heuristische Hypothese verstanden, während die Naturvorgänge eher nach statistischen und wahrscheinlichkeitstheoretischen Modellen erklärt werden 4. Kaum etwas scheint der zeitgenössischen geistigen Orientierung daher ferner zu liegen als die mittelalterliche Metaphysik, deren große Vertreter sämtlich als Dogmatiker par excellence gelten. Sicher über Gott, Welt und menschliche Seele, über deren Wesen und Verhältnis zueinander sie durchaus sehr verschieden dachten, wären sie in der Tat nie auf den Gedanken gekommen, an der Möglichkeit von wissenschaftlich gewissen Aussagen überhaupt und am Hervorgang der Wirkungen aus von ihnen verschiedenen Ursachen ernsthaft zu zweifeln. 1 2 3
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Cf. O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1995. So e. g. B. Stroud, The Significance of Philosophical Scepticism, Oxford 1984. Cf. G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, 181: „Der Glaube an die Überlegenheit der Wahrheit über die Unwahrheit oder den Irrtum ist ein Glaube, der sich in bestimmten Lebenssituationen durchgesetzt hat und der sich andererseits auf die Überzeugung gründet, der Mensch könne die Dinge ,an sich‘ erkennen, was sich jedoch als unmöglich herausstellt, da gerade die chemische Analyse des Erkenntnisprozesses aufdeckt, daß es sich bei der Erkenntnis um nichts anderes als eine Reihe von Metaphernbildungen handelt.“ Cf. W. Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin - Heidelberg - New York 1974, 452-466.
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Die überlieferten Texte des Mittelalters bezeugen indes, etwa vom Beginn des 14. Jahrhunderts an, einen radikalen Bruch mit den Grundüberzeugungen der Epoche. So finden sich Autoren, die scheinbar ganz moderne Lehren vertreten haben. Unter dem Einfluß Wilhelms von Ockham entwickeln sich Positionen, die, über die nominalistische Lösung des Universalienproblems hinausgehend, bis dahin nicht ausgesprochene wissenschaftstheoretische und naturphilosophische Konsequenzen ziehen. Sie treten der neuplatonischen und aristotelischen Metaphysik mit Argumenten entgegen, die denen mancher Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts gegenüber der rationalistischen Schulphilosophie sehr ähnlich sind. So ist lange vor Hume und Kant das Prinzip der Kausalität, nach dem doch die Naturerscheinungen fraglos zusammenhängen sollten, in seiner metaphysischen Bedeutung bestritten worden. Johannes von Mirecourt 5 und vor allem Nicolaus von Autrecourt haben auf verschiedene Weise die traditionelle Auffassung von der Kausalität in der Natur und in der moralischen Welt in Frage gestellt. Nicht einmal für die Ordnung der subjektiven Erkenntnis soll das Verfahren des kausalen Schlußfolgerns bindende Gültigkeit haben. Daß überhaupt von der Existenz eines Dinges auf die eines anderen geschlossen werden kann, ist ebenso bestreitbar wie die Meinung, daß es eine von der Seele des Erkennenden verschiedene Substanz gebe. Gegen die nach langen Kämpfen schließlich auch kirchlich anerkannte aristotelische Lehre wird zudem eingewandt, daß die Ortsbewegung der Körper sowie Entstehen und Vergehen in der Natur nur unter der Annahme des leeren Raumes und letzter unteilbarer Partikel erklärbar sind. Über Ockham hinaus äußert sich hier ein erkenntnistheoretischer Skeptizismus, der erst bei David Hume wieder mit ähnlicher Schärfe - wenn auch in einem ganz anderen historischen Kontext - dargelegt worden ist 6. Lehrmeinungen wie diese widersprachen diametral dem seit der Antike herrschenden Verständnis von Wissenschaft. Aristoteles hatte deren grundlegende Maxime bündig formuliert: „Die Prinzipien und Ursachen des Seienden, und zwar insofern es Seiendes ist, sind der Gegenstand der Untersuchung.“ 7 Dementsprechend war nicht das empirische Besondere als solches, sondern das Allgemeine, nicht das zufällige Akzidentelle, sondern das notwendige Substantielle 5
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Cf. A. Franzinelli, Questioni inedite di Giovanni di Mirecourt sulla conoscenza, in: Rivista critica di storia della filosofia 13 (1958), 319-340 und 415-449. Hier zeigen sich die skeptizistischen Momente, die Johannes mit Nicolaus verbinden. Die Frage der Allmacht Gottes, die das Kausalverhältnis mitbetrifft, ist in den „Apologien“ Thema. Cf. F. Stegmüller, Die zwei Apologien des Jean de Mirecourt, in: Recherches de the´ologie ancienne et me´die´vale 5 (1933), 40-79 und 192-204. Dennoch ist die Position des Nicolaus von Autrecourt nicht - wie oft behauptet worden ist die eines „mittelalterlichen Hume“. Es ist vielmehr zu zeigen, daß Nicolaus seine Thesen aus Problemstellungen der aristotelischen Philosophie gewinnt, die Hume längst fern sind. Cf. hierzu: H. Rashdall, Nicholas de Ultricuria, a medieval Hume, in: Proceedings of the Aristotelian Society 7 (1906/07), 1-27, sowie C. Baeumker, Bericht über die abendländische Philosophie im Mittelalter, 1891-1896, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 10 (1897), 252-254. Aristoteles, Metaphysik, 1025b3 sq. (dt. Übers. v. H. Bonitz, Hamburg 1978): „Ai« aœrxai¡ kai¡ ta¡ aitia zhtei˜tai tv˜ n ontvn, dh˜ lon de¡ oÕti ñ√ onta.“
Hat Nicolaus von Autrecourt Aristoteles widerlegt?
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Objekt der Wissenschaft, die sich nach den Graden der Allgemeinheit und Denknotwendigkeit ihrer Gegenstände hierarchisch gliederte: „Es gibt also offenbar drei Gattungen betrachtender (theoretischer) Wissenschaften: Physik, Mathematik, Theologie. Die betrachtenden Wissenschaften sind die höchste Gattung unter allen Wissenschaften, und unter ihnen wieder die zuletzt genannte; denn sie handelt von dem Ehrwürdigsten unter allem Seienden, höher und niedriger aber steht eine jede Wissenschaft nach Maßgabe des ihr eigentümlichen Gegenstandes des Wissens.“ 8 Gemeinsam ist den Wissenschaften indessen die Frage nach dem Grunde der untersuchten Erscheinungen. Unter welchen Bedingungen diese Untersuchung stattfinden muß, fragt die Metaphysik, die insofern Wissenschaft der Wissenschaften ist: „Sie muß nämlich eine auf die ersten Prinzipien und Ursachen gehende, theoretische sein; denn auch das Gute und das Weswegen ist eine der Ursachen.“ 9 Vom gegebenen Bedingten und Begründeten ausgehend fragt diese Wissenschaft rekursiv nach den Bedingungen und Gründen, durch die jenes ist, was es ist. Hierzu gehören über die allgemeinen Bestimmungen der Wesensformen und Akzidenzien hinaus die Prinzipien, unter denen Denken sich selbst begreift und von denen es zugleich annehmen muß, daß das Seiende ihnen als solches genügt. „Indem wir nun die Prinzipien und höchsten Ursachen suchen, ist offenbar, daß diese notwendig Ursachen einer gewissen Natur an sich sein müssen.“ 10 Im Buch G der „Metaphysik“ untersucht Aristoteles die Prinzipien nicht allein im ontologischen, sondern ebenso im gnoseologischen Sinne. Das Prinzip, bei dem jede Täuschung unmöglich ist, muß als oberstes Denk- und Seinsprinzip gleichermaßen gelten. Es ist jedem Denken und jedem möglichen Gegenstand von Denken immer schon vorausgesetzt: „Denn ein Prinzip, welches jeder notwendig besitzen muß, der irgend etwas von dem Seienden erkennen soll, ist nicht bloße Annahme (Voraussetzung, Hypothese), und was jeder erkannt haben muß, der irgend etwas erkennen soll, das muß er schon zum Erkennen mitbringen.“ 11 Das gesuchte Prinzip erscheint hier geradezu als aœrxh¬ im Sinne der Vorsokratiker, als wäre es die reale Quelle des konkreten Seienden ebenso wie der Gedanken über es. Wäre dem so, dann müßte das erfahrbare mannigfaltige Seiende auf dieses Erste zurückführbar sein, und alle Aussagen über Seiendes auch. Für das menschliche Denken wäre es gleichsam a priori, während es ontologisch 8
Ibid., 1064b1-6: „dh˜ lon toi¬nyn oÕti tri¬a ge¬nh tv˜ n uevrhtikv˜ n eœpisthmv˜ n eœsti¬, fysikh¬, mauhmatikh¬, ueologikh¬. be¬ltiston me¡n oyÓn to¡ tv˜ n uevrhtikv˜ n eœpisthmv˜ n ge¬now, toy¬tvn d¢ ayœtv˜ n h« teleytai¬a lexuei˜sa: peri¬ to¡ timiv¬taton ga¬r eœsti tv˜ n ontvn, belti¬vn de¡ kai¡ xei¬rvn e«ka¬sth le¬getai kata¡ to¡ oiœkei˜on eœpisthto¬n.“ 9 Ibid., 982b8 sqq.: „dei˜ ga ¡ r tay¬thn tv˜ n prv¬tvn aœrxv˜ n kai¡ aiœtiv˜ n eiÓnai uevrhtikh¬n: kai¡ ga¡r taœgauo¡n kai¡ to¡ oy√ eÕneka eÕn tv˜ n aiœti¬vn eœsti¬n.“ 10 Ibid., 1003a26 sqq.: „e œ pei¡ de¡ ta¡w aœrxa¡w kai¡ ta¡w aœkrota¬taw aiœti¬aw zhtoy˜ men, dh˜ lon v«w fy¬sev¬w tinow ayœta¡w aœnagkai˜on eiÓnai kauÅ ay«th¬n.“ 11 Ibid., 1005b15 sqq.: „h À n [sc. aœrxh¡n ] ga¡r aœnagkai˜on exein to¡n o«tioy˜ n jynie¬nta tv˜ n ontvn, toy˜ to oyœx y«po¬uesiw: oÀ de¡ gnvri¬zein aœnagkai˜on tì˜ o«tioy˜ n gnvri¬zonti, kai¡ hÕkein exonta aœnagkai˜on.“
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nicht ein Seiendes unter anderen sein kann, denn sonst müßte es von einem noch Höheren stammen, das seinerseits auf ein weiteres verwiese. Näher betrachtet ist dieses Prinzip aber bei Aristoteles zunächst nichts als eine Regel des Denkens, deren universale Geltung die Reflexionen des Buches G indirekt, durch den Nachweis der Unmöglichkeit des Gegenteils, erhärten will: „Daß nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann, das ist das sicherste unter allen Prinzipien, denn es paßt darauf die angegebene Bestimmung, da es unmöglich ist, daß jemand annehme, dasselbe sei und sei nicht.“ 12 Dieses Prinzip ist nach Aristoteles noch den Axiomen vorgeordnet, und läßt keinen Beweis zu, da es bei jedem Beweis vielmehr schon vorausgesetzt ist. Nicolaus von Autrecourt 13 folgt an dieser Stelle strikt Aristoteles, indem er feststellt: „Et primum, quod occurrit in ordine dicendorum, est istud principium: Contradictoria non possunt simul esse vera. Circa quod occurrunt duo. Primum est quod istud est primum principium negative exponendo, quo nihil est prius. Secundum, quod occurrit, est, quod istud est primum affirmative vel positive, quod est quocunque alio prius.“ 14 Sodann gewinnt aber dieses Prinzip bei Nicolaus eine Bedeutung, die es bei Aristoteles nicht hatte, denn alle nur überhaupt mögliche Gewißheit soll auf es zurückgeführt werden. Gewißheit ohne Rücksicht darauf, worauf sie sich bezieht, kann sich nur von dieser ersten und nicht bezweifelbaren Gewißheit herleiten: „[...] in nostrum principium dictum omnis nostra certitudo resolvitur et ipsum non resolvitur in aliud sicut conclusio in principium.“ 15 Dieses subjektive Prinzip aller Gewißheit ist demnach die Form, nach der alle wissenschaftlichen Sätze gebildet sein müssen. Da dem Denken eine andere Form der Konsistenz nicht gegeben ist und es sich stets auf Gegenstände bezieht, muß es zwingend annehmen, daß diese ebenfalls nicht unvereinbare Eigenschaften in sich vereinige. So konnte Aristoteles das Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs nicht allein als Kriterium für die Unterscheidung wahrer und falscher Urteile, sondern auch als ontologisches Prinzip annehmen. 12
Ibid., 1005b19-24: „to¡ ga¡r ayœto¡ aÕma y«pa¬rxein te kai¡ mh¡ y«pa¬rxein aœdy¬naton tì˜ ayœtì˜ kai¡ kata¡ to¡ ayœto¬: kai¡ oÕsa alla prosdiorisai¬meuÅ an, estv prodivrisme¬na pro¡w ta¡w logika¡w dysxerei¬aw. ayÕth dh¡ pasv˜ n eœsti¡ bebaiota¬th tv˜ n aœrxv˜ n: exei ga¡r to¡n eiœrhme¬non diorismo¬n. aœdy¬naton ga¡r o«ntinoy˜ n tayœto¡n y«polamba¬nein eiÓnai kai¡ mh¡ eiÓnai.“
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Der vorliegende Beitrag versucht, die Position des Nicolaus von Autrecourt systematisch in ihrer unlösbaren Beziehung zu Aristoteles zu rekonstruieren. Eine bio-bibliographische Darstellung seines Lebens und Werkes soll daher unterbleiben. Cf. hierzu J. R. Weinberg, Nicolaus of Autrecourt. A Study in 14th Century Thought, New York 1969, sowie D. Perlers knappe Einführung zu seiner mit R. Imbach gemeinsam veranstalteten Ausgabe der Briefe von und an Nicolaus, in: Nicolaus von Autrecourt, Briefe, ed. R. Imbach/D. Perler, Hamburg 1988, IX-LXVIII. Sehr instruktiv ist auch die Darstellung bei K. Tachau, Vision and Certitude in the Age of Ockham. Optics, Epistemology and the Foundations of Semantics 1250-1345 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 22), Leiden - New York - Kopenhagen - Köln 1988, 335-352. Nicolaus von Autrecourt, Briefe (nt. 13), 14. Die Orthographie der Zitate folgt der zugrundegelegten Ausgabe. Ibid., 16.
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Diesen Übergang von der subjektiven Gewißheit zur objektiven Welt der Gegenstände im ontologischen Sinne hält Nicolaus für unmöglich. Für ihn hat das Widerspruchsgesetz nur die Funktion, die Quelle aller subjektiven Gewißheit zu sein, während die Gegenstände von dieser Gewißheit überhaupt nicht betroffen sind. Im Gegenteil, deren Verschiedenheit ist für Nicolaus die Hauptquelle des Irrtums. Nur dann nämlich, wenn die wissenschaftlichen und sogar die alltäglichen Sätze auf das erste Prinzip zurückgeführt werden können, seien sie und ihr Inhalt ebenso gewiß wie das Prinzip selbst, d. h. überhaupt erst gewiß, denn die Gewißheit habe keine Grade: „[...] certitudo evidentie non habet gradus, ut si sint due conclusiones, de quarum qualibet sumus certi evidenter, non sumus magis certi de una quam de alia. Nam, ut dictum est, omnis certitudo reducitur in idem primum principium.“ 16 Das Prinzip, nach dem einander Entgegengesetztes nicht zugleich wahr sein kann, ist aber formal und negativ. Sollen alle Schlüsse, deren Begriffe auf verschiedene Dinge bezogen sind, auf das Prinzip zurückgeführt werden, dann muß diese Verschiedenheit auf Identität gebracht oder sonstwie eliminiert werden. Da nichts in dem Maße gewiß sei wie die Unvereinbarkeit kontradiktorischer Bestimmungen und Sätze, muß das Verfahren der Reduktion die Identität von deren scheinbar verschiedenen Momenten erweisen, womöglich über Zwischenstufen: „[...] in omni consequentia evidenti reductibili in primum principium per quodvis media consequens est idem realiter cum antecedente vel cum parte significati per antecedens. Ostenditur sic, quia, si ita sit, quod aliqua conclusio reducatur per tria media in certitudinem primi principii, consequens erit idem realiter cum antecedente vel cum parte significati per antecedens.“ 17Die Überlegung demonstriert die Hauptthese des Nicolaus am Syllogismus, dessen Aristotelische Definition seit der Rezeption der ersten Analytik im Mittelalter allgemein bekannt und verbindlich war. Aus den formal voneinander verschiedenen Prämissen eines Schlusses soll die conclusio Nicolaus zufolge nur dann folgen können, wenn sie mit den Vordersätzen identisch ist. Die Verschiedenheit der extrema voneinander und vom terminus medius sind aber bei Aristoteles die notwendige Bedingung dafür, daß ein Syllogismus überhaupt zur Erkenntnis beiträgt. So definiert Aristoteles den Syllogismus allgemein: „Ein Schluß ist eine Rede, in der, wenn etwas gesetzt wird, etwas von dem Gesetzten Verschiedenes notwendig dadurch folgt, daß dieses ist.“ 18 Das Schließen ist nämlich im aristotelischen Sinne diejenige Operation des Verstandes, die zur Erweiterung der Erkenntnis führt, indem die Extreme vermöge des Mittelbegriffs in eine neue Beziehung treten. Die synthetische Leistung, durch die ein Schluß die Begriffe gerade wegen ihrer Verschiedenheit vereinigt, kann nicht vollständig aus einer Regel abgeleitet werden, aus der das Beweismittel, das Medium, folgte. Davon zeugen die vergeblichen Versuche, die unter dem Titel „De 16 17 18
Ibid. Ibid., 18 sq. Aristoteles, Analytica priora, I, 1, 24b18 sqq. (dt. Übers. v. E. Rolfes, Hamburg 1975, 2): „syllogismo¡w de¬ eœsti lo¬gow eœn ì√ teue¬ntvn tinv˜ n eÕtero¬n ti tv˜ n keime¬nvn eœj aœna¬gkhw symbai¬nei tì˜ tay˜ ta eiÓnai.“
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inventione medii“ die Beweiskraft der Syllogismen gleichsam über einige formale Regeln hinaus inhaltlich im Voraus und ein für allemal sichern wollten. Wenn Nicolaus von Autrecourt nur den fundamentalen Satz des zu vermeidenden Widerspruchs als einzig gewisses Wissen anerkennt, aber jede Verschiedenheit der Sätze eines Schlusses und der Prädikate, die einem Satzsubjekt zukommen können, stillschweigend als kontradiktorisch behandelt, weil sie nicht aufeinander reduzierbar sind, begründet er die Wissenschaft auf der Tautologie. Hierin besteht im Kern die Kritik, die Nicolaus an Aristoteles geübt hat. Sie ist aber keine Widerlegung, sondern lediglich die Behauptung des Gegenteils zu dem von Aristoteles Intendierten. Zwar hat Aristoteles nicht eingehend nachgewiesen, warum die Operation des Schließens notwendig von der Verschiedenheit der Elemente des Syllogismus ausgehen muß 19, aber Nicolaus kann deren Identität als Norm der Gewißheit nur um den Preis festhalten, daß alle nicht tautologischen Sätze und alle Folgerungen, die von einer Bestimmung zu einer anderen übergehen, nur probabiliter und nicht certitudinaliter gelten können. Das widerspricht der Aristotelischen Intention, die Grundlage des sicheren Wissens zu ergründen. Wahrscheinliches Wissen ist nach Aristoteles trivial, während die Begründung objektiver Gewißheit das zu lösende Problem darstellt. Nicolaus hat Aristoteles insofern nicht widerlegt, als er nicht einmal dessen Intention mehr teilt. Nicolaus’ übrige Lehren sind von dieser Grundlage aus zu verstehen. Obwohl vermutlich die meisten seiner Schriften infolge seiner im Jahre 1346 erfolgten Verurteilung verbrannt wurden 20, läßt sich der rote Faden seiner Reflexionen an den wenigen erhaltenen Bruchstücken verfolgen. Da das Prinzip, das Nicolaus als erste und oberste Grundlage aller Wissenschaft ansieht, nur sagt, daß Kontradiktorisches nicht gleichzeitig wahr sein kann, also negativ ist, besagt es nichts über die sichere Existenz der einzelnen Objekte. Über das reale Sein der Gegenstände und mehr noch über die Bezie19
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Erst Hegel hat unter den von ihm nochmals kritisch gewendeten Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie, also historisch weit von den spätmittelalterlichen Kontroversen entfernt, die wechselseitige Verwiesenheit des Identitäts- und des Widerspruchsprinzips gezeigt und ist zu der Einsicht gelangt, daß diese Grundregeln des Denkens als Reflexionsbestimmungen nicht analytisch, sondern synthetisch sind. „Es liegt also in der Form des Satzes, in der die Identität ausgedrückt ist, mehr als die einfache, abstracte Identität; es liegt diese reine Bewegung der Reflexion darin, in der das Andre nur als Schein, als unmittelbares Verschwinden auftritt; A ist ist ein Beginnen, dem ein Verschiedenes vorschwebt, zu dem hinausgegangen werde; aber es kommt nicht zu dem Verschiedenen; A ist - A; die Verschiedenheit ist nur ein Verschwinden; die Bewegung geht in sich selbst zurück. [...] Der andre Ausdruck des Satzes der Identität: A kann nicht zugleich A und Nicht-A seyn, hat negative Form; er heißt der Satz des Widerspruchs. [...] Es erhellt hieraus, daß der Satz der Identität selbst und noch mehr der Satz des Widerspruchs nicht bloß analytischer sondern synthetischer Natur ist“ (Wissenschaft der Logik, 2. Buch, in: G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, ed. Rhein.-westf. Akad. d. Wiss., vol. 11, Hamburg 1978, 264 sq.). Cf. J. Lappe, Nicolaus von Autrecourt. Sein Leben, seine Philosophie, seine Schriften (Beiträge zur Geschichte der Philosophie im Mittelalter VI,2), Münster 1908, 2 sqq.
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hung eines einzelnen intuitiv für real gehaltenen Dinges zu anderen ist hiermit keine Gewißheit gewonnen. Da sie sich auf dieser Basis auch nicht gewinnen läßt, hat Nicolaus in der Tat eine skeptizistische Position bezogen. Zum einen ist durch die Sinneswahrnehmung oder die Intuition keineswegs zu sichern, daß außerhalb der erkennenden Seele ein Gegenstand existiert, zum anderen ist die Existenz eines Dinges auch nicht aus der eines anderen abzuleiten. So wenig wie durch die Syllogismen zweifelsfreie wissenschaftliche Sätze abzuleiten sind, so wenig kann der Kausalnexus zwischen den Dingen den Hervorgang der Wirkung aus der von ihr verschiedenen Ursache zwingend erklären. Der erste der erhaltenen Briefe an Bernhard von Arezzo greift ein Thema auf, das schon bei Wilhelm von Ockham eine Rolle spielte. Die notitia intuitiva liefert eine Erkenntnis, die nichts als die Präsenz eines Gegenstandes beinhaltet: „[...] notitia intuitiva rei est talis notitia, virtute cuius potest sciri, utrum res sit vel non, ita, quod, si res sit, statim intellectus iudicat eam esse et evidenter cognoscit eam esse, nisi forte impediatur propter imperfectionem illius notitiae.“ 21 Für die gewöhnliche menschliche Erkenntnis verschafft demnach die notitia intuitiva Gewißheit über die Existenz eines einzelnen Dinges. Nur durch die göttliche Allmacht kann die intuitive Erkenntnis eines nicht existierenden Dinges gewiß sein 22. Nicolaus läßt aber diese theologische Einschränkung fallen und reduziert die intuitive Erkenntnis auf eine rein subjektive Gewißheit, unabhängig davon, ob deren Objekt existiert oder nicht 23. Die Lehrmeinung seines Korrespondenten Bernhard resümierend stellt er fest: „Tertia propositio ibidem posita est ista: Notitia intuitiva non requirit necessario rem existentem. Ex istis infero unam propositionem quartam, quod omnis apparentia nostra, quam habemus de existentia obiectorum extra, potest esse falsa, ex quo per vos potest esse, sive obiectum sit vel non sit.“ 24 21
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Wilhelm von Ockham, I Sent., prol, qu. 1, in: Opera theologica I, ed. G. Ga´l/S. Brown, St. Bonaventure N.Y. 1967, 31. Ibid., 38. Die hier eröffnete Möglichkeit, daß Gott einen Stern zerstört, der von den Menschen dennoch gesehen wird, ist indessen hypothetisch. Die theologische Bedingung einer solchen Situation erläutert Ockham in seinem 5. Quodlibet, qu. 5 derart, daß es sich um einen Akt des Glaubens handele, dessen Objekt nicht existiert, während die profane wissenschaftliche Erkenntnis hiervon nicht betroffen sei: „Tamen Deus potest causare actum creditivum per quem credo rem esse praesentem quae est absens. Et dico quod illa cognitio creditiva erit abstractiva, non intuitiva; et per talem actum fidei potest apparere res esse praesens quando est absens, non tamen per actum evidentem“ (Opera theol. IX, 498.). Gegen die von fast allen Autoren getroffene Feststellung, Nicolaus von Autrecourt sei Skeptiker, sind die Überlegungen von R. Paque´ nicht stichhaltig. Die in den Texten von Nicolaus zu findenden Hinweise, er spreche disputando und nicht asserendo oder die Versicherung, er wolle nichts gegen die Glaubensartikel und die Entscheidungen der Kirche lehren, verweisen nicht notwendig auf eine dem Skeptizismus entgegenstehende Position. Im Gegenteil, sie zeugen eher für die Enthaltung des Autors von den affirmativen Urteilen der Metaphysik, denen er nicht selbst eine positive Lehre gegenüberstellen will. Cf. R. Paque´, Das Pariser Nominalistenstatut. Zur Entstehung des Realitätsbegriffs der neuzeitlichen Naturwissenschaft (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie 14), Berlin 1970, 171 sqq. Nicolaus von Autrecourt, Briefe (nt. 13), 2.
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Zwar will der gesamte erste Brief an Bernhard dessen offenbar 25 radikal skeptische Haltung ad absurdum führen und ihr die alleinige und vollkommene Gewißheit des ersten Prinzips entgegenstellen, aber sein anderer Kontrahent Egidius kann ihm nachweisen, daß gerade dieser punktuelle Dogmatismus zum Skeptizismus führt: „Secunda conlusio sequitur ex ista, videlicet quod evidenter nihil scitis quia omnis certitudo evidentie est certitudo primi principii seu que in ipsum potest resolvi, ut dicitis. Igitur, cum illud principium non scitis evidenter esse verum et cetera. Tertia conclusio, que sequitur ex secunda, videlicet quod Aristotelem non habuisse evidentem notitiam de substantiis, vos non evidenter scitis, et ulterius quod non scitis evidenter utrum sitis homo vel angelus vel leo vel huiusmodi, et universaliter omnia inconvenientia, que adducitis contra Bernardum, contingerent vobis.“ 26 Die von Egidius hier angeführte Bemerkung aus dem zweiten Brief an Bernhard enthält vielleicht eine Spur, die auf andere Weise in die Moderne führt als die Hauptlehren des Nicolaus von Autrecourt. Aus der Gewißheit des Widerspruchsprinzips soll folgen, daß Aristoteles und, wie zu ergänzen wäre, jeder andere Mensch, keiner metaphysischen Substanz gewiß sein könne, die von der eigenen Seele verschieden ist 27. Nicolaus will hier seinen Grundsatz anwenden, daß ein Ding nicht aus der Existenz eines anderen abgeleitet werden kann, setzt aber die Seele als das Selbstgewisse und damit Substantielle. So wäre nicht der Satz vom Widerspruch das erste und irreduzibel Gewisse, sondern das reflexive Bewußtsein. Aber dieser zu Descartes und schließlich zu Fichte führenden Linie folgt Nicolaus nicht, obwohl sie bei ihm angelegt ist. Indessen zeigen sich die nominalistischen Prämissen seiner Position darin, daß zumindest in den Briefen allein die Frage nach der subjektiven Evidenz erörtert wird. Deshalb wurde seine Lehre auch als skeptischer Phänomenalismus bezeichnet 28. Diese Deutung kann sich auf Thesen des Traktats „Exigit ordo“ stützen. Gewiß ist hiernach ohnehin nur, was der Erfahrung dessen entstammt, der einen wissenschaftlichen Satz ausspricht: „Amplius quaero ab eo qui dicit se esse certum an sit penes ipsum aliquod lumen vel aliqua apparentia in quo lumine vel apparentia dicit se esse certum aut non; si non, igitur est in tenebris et sicut caecus loquitur; si sit aliquod lumen vel apparentia, tunc illud de quo dicit se certum vel ipsum est lumen vel ipsius est lumen, et tunc semper experitur in se vel in suo lumine, vel illud de quo dicit se certum, consequitur ad alterum vel habet habitudinem.“ 29 Gewißheit ist demnach an das erkennende Individuum gebunden, nicht aber intersubjektiv. Zudem beruht diese subjektive Gewißheit auf der Gewohnheit, die den wissenschaftlichen Aussagen, die über analytische Urteile hinausgehen, allerdings nur Wahrscheinlichkeit verleiht: „Omnis 25
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Da weder die Briefe an Nicolaus noch sonstige Schriften von Bernhard von Arezzo überliefert sind, muß seine Position aus den Antworten erschlossen werden. Nicolaus von Autrecourt, Briefe (nt. 13), 58. Cf. ibid., 28: „Ex ista regula sic declarata cuicunque habenti intellectum infero, quod nunquam Aristoteles habuit notitiam evidentem de aliqua substantia alia ab anima sua, intelligendo substantiam quandam rem aliam ab obiectis quinque sensuum et a formalibus experientiis nostris.“ Cf. Lappe, Nicolaus von Autrecourt (nt. 20), 21 sq. Nicolaus von Autrecourt, Exigit ordo, ed. J. R. O’Donnell, in: Mediaeval Studies 1 (1939), 230.
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actus dicendi formatus in pleno lumine, quantum lumen potest esse plenum apud hominem, est verus; nam omnis actus mensuratus secundum suam veram regulam est verus; sed actus dicendi formatus in pleno lumine est mensuratus secundum veram regulam, scilicet lumen plenum; nihil enim certitudinaliter possumus enuntiare nisi relatione luminis vel apparentiae quae penes nos sunt.“ 30 Eine ontologische Gewißheit kann durch diese Überlegung nicht begründet werden. Die Position, die sich hier konsequent artikuliert, ist im Kontext der mittelalterlichen Philosophie neu. Damit ist aber Aristoteles noch nicht widerlegt, denn die Basis der Gewißheit, die Nicolaus annimmt, ist sinnlich. Nur durch die subjektive, wenn auch zuweilen trügerische Erscheinung gelangt die Wissenschaft zu ihren Aussagen: „[...] secundum quod dictum est de lumine imaginis, sequeretur quod nullus posset dicere de existentia vera subjectiva vel alcujus rei. Non enim potest dicere nisi per suam apparentiam; nunc dicetur quod illa apparentia terminatur ad imaginem rei et non ad aliquid existens subjective in re extra.“ 31 Als sicher gilt also immer nur die Aussage über das, was jeweils dem Erkennenden sich unabweisbar als Erscheinung aufdrängt. Alles Übrige ist nur wahrscheinlich. Genau dies ist für Aristoteles keine Quelle des Wissens: „Aber auch durch sinnliche Wahrnehmung kann man nicht wissen. Denn wenn die Wahrnehmung auch auf eine bestimmte Qualität und nicht auf eine bestimmte Substanz geht, so nimmt man doch notwendig ein einzelnes Ding wahr, das hier und jetzt ist. Aber das Allgemeine und was bei allem sich findet, läßt sich unmöglich wahrnehmen. Denn es ist kein Dieses und ist nicht jetzt, sonst wäre es nicht allgemein; denn unter dem Allgemeinen verstehen wir, was immer und überall ist. Da nun Beweise allgemein sind und man das Allgemeine nicht wahrnehmen kann, so kann man durch Wahrnehmung auch offenbar nicht wissen.“ 32 Die Thesen von Nicolaus sind auch hier nicht Widerlegungen im strengen Sinne, sondern lediglich Gegenbehauptungen, die jedoch eine historisch neue Stellung des Denkens zur Realität anzeigen. Die von Ockham geförderte nominalistische Denkrichtung kritisiert Aristoteles, weil sie die Existenz der allgemeinen Bestimmungen in den Dingen nicht 30
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Ibid., 231. Auch Hume hat die Gewohnheit als Quelle der Gewißheit angenommen: „Custom then, is the great guide of human life. [...] Without the influence of custom, we would be entirely ignorant of every matter of fact beyond what is immediately present to the memory and senses“ (D. Hume, An Enquiry concerning Human Understanding, ed. L. A. Selby-Bigge, Oxford 1957, 44 sq.) Alle Schlüsse, insbesondere die von der Wirkung auf die Ursache und umgekehrt, beruhen auf Gewohnheit und sind folglich nur wahrscheinlich: „All inferences from experience [...] are effects of custom, not of reasoning“ (ibid., 43) Hier zeigt sich in der Tat eine argumentative Parallele zu Nicolaus von Autrecourt, deren genaue Analyse allerdings noch aussteht. Nicolaus von Autrecourt, Exigit ordo (nt. 29), 231 sq. Aristoteles, Analytica posteriora, 87b28-35 (dt. Übers. v. E. Rolfes, Hamburg 1975, 61 sq.): „Oyœde¡ di¢ aiœsuh¬sevw estin eœpi¬stasuai. eiœ ga¡r kai¡ estin h« aisuhsiw toy˜ toioy˜ de kai¡ mh¡ toy˜ de¬ tinow, aœll¢ aiœsua¬nesuai¬ ge aœnagkai˜on to¬de ti kai¡ poy˜ kai¡ ny˜ n. to¡ de¡ kauo¬loy kai¡ eœpi¡ pa˜ sin aœdy¬naton aiœsua¬nesuai: oyœ ga¡r to¬de oyœde¡ ny˜ n: oyœ ga¡r a√n hÓn kauo¬loy: to¡ ga¡r aœei¡ kai¡ pantaxoy˜ kauo¬loy fame¡n eiÓnai. eœpei¡ oyÓn ai« me¡n aœpodei¬jiw kauo¬loy, tay˜ ta d¢ oyœk estin aiœsua¬nesuai, fanero¡n oÕti oyœd¢ eœpi¬stasuai di¢ aiœsuh¬sevw estin .“
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annehmen will. Ockham hat die Jahrhunderte alte Überzeugung vom höheren Seinsgrad der Universalien zu Fall gebracht. Universalien sind sprachliche Zeichen, die das Seiende nur denkökonomisch vertreten. Diese Voraussetzung teilt Nicolaus, ohne die begriffstheoretische Seite des Nominalismus weiter zu erörtern. Ihn interessiert vielmehr die sinnliche Gewißheit, die stets wahr ist. Alle Aussagen, die hierüber hinausgehen, sind allenfalls wahrscheinlich, aber nicht gewiß. In dieser von ihm an vielen Stellen ausführlich erörterten Lehre 33 stellt er fest, daß das Sein eines Dinges stets das Sein der Vorstellung und des Intellekts voraussetzt, in dem es wahrgenommen wird. Daraus folgt die universale Existenz des Dinges in Vorstellung und Intellekt. Auch hier folgert er nichts, was nicht in der Prämisse enthalten war. Die Aristoteleskritik wird in der wissenschaftshistorischen Literatur zumeist als eine der Voraussetzungen für die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im zu Ende gehenden Mittelalter betrachtet. Den Theoretikern des 14. Jahrhunderts wird hierbei zu Recht eine Schlüsselrolle eingeräumt. Im späteren Wegestreit an den Universitäten gilt die aristotelische Philosophie, deren Anhänger noch im 13. Jahrhundert häretischer Neuerungssucht verdächtigt wurden, als veraltete via antiqua, der sich eine wenn auch keineswegs einheitliche „moderne“ Bewegung entgegensetzte. Deren Vertreter stimmten in vielen nominalistischen Lehrmeinungen und in einer kritischen Stellung gegen aristotelische Argumentationen überein. In die Entwicklung von Ockham zu Johannes Buridan, die in der frühen Neuzeit zu Francis Bacon weiterführt, fällt auch Nicolaus von Autrecourt. Er hat unter Kritik an Aristoteles einige Reflexionen hinterlassen, die für die Naturphilosophie von Bedeutung sind. Sie stehen sämtlich in enger Beziehung zu seiner Lehre von der Gewißheit. 1. Nicolaus stellt die Aristotelische Lehre von Entstehen und Vergehen der Dinge in Frage. Die Hauptthese seiner Physik, daß die Dinge in ihrer Substanz ewig seien, ist gleichermaßen dem christlichen Schöpfungsdogma und der averroistischen These von der Ewigkeit der Welt entgegengesetzt. Seiner logischen Grundposition gemäß leugnet er den Übergang vom Nichtsein zum Sein und umgekehrt. Die Materialität der Dinge im eigentlichen Sinne sei unvergänglich. Da es keine Gewißheit einer realen Relation gibt, kann die Erkenntnis auch hier nur zur Wahrscheinlichkeit führen: „Nullus intellectus, cui est certum et evidens aliquam rem esse pro tempore aliquo, pro tempore posteriori potest sub certo dicere illam rem non esse nisi habeat aliquod medium virtualiter inferens notitiam illius negativae propositionis qua dicit rem non esse quae fuit prius.“ 34 33
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Cf. besonders Exigit ordo (nt. 29), 241 sqq. Die Passage handelt von der Klarheit der Sinneswahrnehmungen und diskutiert in diesem Zusammenhang auch die Realität der imaginabilia, die aber nicht mit den Universalien im Sinne der aristotelischen Theorien des 13. Jahrhunderts gleichzusetzen sind. Die Stelle widerspricht daher auch nicht der Zuordnung der Position des Nicolaus zum Nominalismus, wenn er auch in einzelnen Punkten sehr von Ockham abweicht. Cf. hierzu Paque´, Das Pariser Nominalistenstatut (nt. 23), 179 sqq. Nicolaus von Autrecourt, Exigit ordo (nt. 29), 198.
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Die These des Nicolaus, die materielle Substanz der Dinge sei inkorruptibel, ist nicht mit der aus Aristoteles hergeleiteten Lehre der sogenannten lateinischen Averroisten zu verwechseln, die Materie sei mit dem göttlichen primum principium, das sie formt, gleichewig. Siger von Brabant und die ihm nahestehenden Autoren lehren nämlich die gleiche Substanzenmetaphysik wie ihre Gegner Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Bewegung, Entstehen und Vergehen der Dinge ist allen diesen aristotelischen Schulen zufolge der Übergang von Potenz zu Akt, während Nicolaus diese Theorie leugnen müßte. Aristotelisch ist das Entstehen ein Übergang des Seienden aus seinem Gegensatz: „Est enim ens propter materiam quam habet in se, et est non-ens propter privationem formae generandi. Ideo dicit Aristoteles I∞ Physicorum quod illud quod generatur, generatur ex subiecto et opposito. Dicendum ergo quod illud quod generatur ex non-ente simpliciter, non ente in actu, ente tamen in potentia.“ 35 Das Zitat belegt genau den von Nicolaus gerügten Übergang vom einen zum anderen, der nach seiner Auffassung des Satzes vom Widerspruch unmöglich sein soll. 2. Nachdem Nicolaus so gezeigt haben will, daß das Entstehen und Vergehen der materiellen Dinge nicht einmal sinnlich gewiß ist, leitet er hieraus eine ontologische These ab, die umgekehrt wieder seine erkenntnistheoretische Position stützen soll. Da es nach seinen Prämissen unmöglich ist, aus der Tatsache, daß ein Ding aufhört, sinnlich zu erscheinen, zu schließen, daß es nicht mehr existiert, mußte er eine wahrscheinliche Lösung finden, die das Verschwinden der physischen Phänomene erklärt, ohne den Wechsel von Potenz zu Akt zu unterstellen, welcher die Veränderung im jeweiligen Verhältnis von Materie und Form in sich schließt. Wenn die Erscheinungen der Dinge verschwinden, dann wäre immer noch eine Realität zu unterstellen, die den Sinnen entzogen ist. Einerseits erhält der menschliche Verstand nur durch die Sinne ein Wissen von der materiellen Welt, andererseits ist dieses nur subjektiv gewiß. Diese Lehre beruht auf der Behauptung, alle Erkenntnis, die über das sichere Wissen der Prinzipien hinausgeht, habe ihre Quelle in der sinnlichen Wahrnehmung und sei zudem, was ihren ontologischen Gehalt anbetrifft, nur wahrscheinlich. Aristoteles könnte gegen diese Argumente wiederum einwenden, daß die Wahrnehmung als solche überhaupt keine Quelle des Wissens sei 36, da sie nur auf Einzelnes gehe und nicht auf das Allgemeine. Hier zeigt sich indessen, daß die Reflexionen des Nicolaus von Autrecourt unter nominalistischen Voraussetzungen stehen. Für ihn ist nämlich das Allgemeine, das die Einheit des Wesens in der Vielzahl der Einzeldinge stiftet, gar keine Realität mehr. Zwar reflektiert er nicht unmittelbar auf das Universalienproblem, aber seine Ausführungen zur Substantialität der Natur gehen von der alleinigen Realität singulärer Elemente aus, die in der menschlichen Wahrnehmung womöglich objektiv trügerische, wenn auch subjektiv gewisse Verbindungen eingehen. Die Einsicht, daß die Re35
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Boethius de Dacia, Quaestiones de generatione et corruptione, in: Boethii Daci Opera, vol. 5, ed. G. Sajo´, Kopenhagen 1972, 38. Cf. supra nt. 32.
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lation zwischen den einzelnen Dingen nicht selbst dinglich ist, bereitet von ferne die neuzeitliche Wendung des philosophischen Denkens zum Subjekt vor, das jedoch nicht beim Skeptizismus stehen bleiben mußte, sondern die gegenüber diesem kritische Frage nach den überempirischen und doch subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis stellen konnte. Nicolaus selbst hat die Entdeckung des Subjekts, die sich im 14. Jahrhundert in vielen geistigen Erscheinungen vom Nominalismus bis zur devotio moderna abzeichnete, nicht eigentlich mitvollzogen, aber seine Lehre von der Gewißheit wäre noch wenige Jahrzehnte vor ihm kaum möglich gewesen. 3. Gegen die aristotelische Lehre vom Entstehen und Vergehen der endlichen materiellen Dinge setzt Nicolaus die These von deren substantieller Unvergänglichkeit. Wohl scheinen die Dinge sinnlich wahrnehmbar Anfang und Ende zu haben, aber diese Wahrnehmungen bringen ja keine ontologische Gewißheit. Ihre Substanz ist - so läßt sich probabiliter schließen - nicht einheitlich, sondern zusammengesetzt aus vielen sehr kleinen Partikeln, die sich vereinigen oder trennen. Damit hätte Nicolaus die Theorie von Materie und substantieller Form vermieden, deren Vereinigung bei Aristoteles Entstehen und Vergehen metaphysisch erklärt hat. Die natürlichen Formen sind vielmehr in unsichtbare Minima teilbar, deshalb muß das Unsichtbarwerden eines Dinges nicht seine völlige Vernichtung bedeuten: „Nunc autem ostenditur quod medium desitionis apparentiae non sufficit ad concludendum quod res non sit, et formemus illud medium ut magis appareat virtus ejus sic arguendo: omnis res quae prius apparebat ad sensum et modo non apparet et quodcumque ubi sensus defigeret aspectum suum, illud non est [...]. Quod enim ratio haec non concludat ostendi potest ex tribus quorum primus modus inter alios modos mihi probabilior esse videtur, licet non habeam conclusionem evidenter demonstrantem, et est hic: dicatur ad majorem quod veritatem non continet; nam formae naturales sunt ita divisibiles in minima quod seorsum divisa a toto non possent habere actionem suam et ita licet ipsa existentia in toto videantur, dispersa tamen et divisa seu segregata videntur.“ 37 Aristoteles hat die Entstehung eines substantiell Seienden aus der Zusammenfügung der Teile mit dem Argument verworfen, auf diese Weise entstehe eben keine Substanz, die vielmehr innerlich kontinuierlich sein müsse. Die Teilbarkeit des Kontinuierlichen könne nicht bei letzten Teilen enden: „Augenfällig aber ist auch, daß alles Kontinuierliche in ein stets wieder Teilbares teilbar ist; wäre es nämlich in Unteilbares teilbar, so würde ein Unteilbares ein anderes Unteilbares berühren, denn von dem Kontinuierlichen sind ja die äußersten Enden eins und berühren sich.“ 38 Auch hier stehen aufgrund der verschiedenen Grundannahmen die Behauptungen unverbunden gegeneinander. Da Nicolaus jedoch nur nach Wahrscheinlichkeitsargumenten sucht, widerspricht er an dieser Stelle der aristotelischen Position auch nicht vollkommen. Die atomistische Hypothese 37 38
Nicolaus von Autrecourt, Exigit ordo (nt. 29), 199. Aristoteles, Physik, 231b15-18 (dt. Übers. v. K. Prantl, Leipzig, 1854 [ND Aalen 1978]): „Fanero¡n de¡ kai¡ oÕti pa˜ n synexe¡w diaireto¡n ei«w aiœei¡ diaireta¬. ei« ga¡r ei«w aœdiai¬reta, estai aœdiai¬reton aœdiaire¬toy a«pto¬menon. eÀn ga¡r to¡ esxaton kai¡ aÕptetai tv˜ n synexv˜ n.“
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läßt jedenfalls erkennen, daß die Lehre von der integralen Wesensform und ihrer Beziehung zur Materie um die Mitte des 14. Jahrhunderts nicht mehr das unangefochtene Modell der Naturphilosophie war. Der Kenntnisstand war indes noch lange nicht ausreichend, um eine Entscheidung zu ermöglichen. 4. Aus der Reduktion der Substanzen auf die Atome, die sich verbinden und trennen, folgt die These von der Existenz des Leeren, die Aristoteles noch ausdrücklicher verworfen hat als den Atomismus. Für Aristoteles läuft die Annahme des Leeren darauf hinaus, dem Nichts Existenz zuzuschreiben, was gegen das Widerspruchsgesetz verstieße, das Nicolaus so hoch hält 39. In Anbetracht dessen, daß sich die These von der Existenz des Leeren letztlich erst mit Einsteins spezieller Relativitätstheorie erweisen ließ, und mit der Aufgabe des Lichtäthers auch die Lehrmeinung des Nicolaus von Autrecourt in diesem Punkt bestätigt wurde, hat im Disput des 14. Jahrhunderts die aristotelische Position noch gewichtige Argumente für sich, da die Bewegung für die Kosmologie des Mittelalters eines Mediums bedurfte, das die bewegten Körper trug. Nicolaus’ Argument hat sich erst in der Neuzeit durchsetzen können, ohne daß freilich sein Beitrag noch bekannt gewesen wäre: „Nomine vacui intelligimus illud in quo non est corpus, potest tamen esse corpus. [...] [Si non esset vacuum], sequeretur quod motus localis secundum rectum non potest esse, vel quod duo corpora essent simul, vel quod uno moto omnia moverentur necessario et mutarent locum. In nullo possumus ita probabiliter remanere sicut in vacuo; igitur ponendum est vacuum.“ 40 5. Im Zusammenhang mit der Lehre von den Atomen, dem leeren Raum und von Entstehen und Vergehen ist ein weiteres Element der Lehre des Nicolaus von Autrecourt ganz konsequent. So fragt er im Hinblick auf die Tätigkeit des Erkennens: „Quid de actibus animae nostrae dicendum?“ 41 Die der Seelen- und Intellektlehre gewidmeten Bemerkungen sind doppelsinnig. Einerseits zögert Nicolaus nicht, von einem spiritus zu reden, der von der Materialität der Atome getrennt ist: „Quando corpora athomalia segregantur, remanet quidam spiritus, qui dicitur intellectus.“ 42 Andererseits setzen die Erläuterungen, die Nicolaus zu dem Begriff des spiritus oder des intellectus gibt, die „Mechanik“ der Atome und die Bewegung der Gedanken in eine strikte Parallele. In seinem Traktat „Exigit ordo“ benutzt er sogar die Formel „entia atomalia spiritualia“ 43.
39 40
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Cf. ibid., 213b31: „dokei˜ dh¡ to¡ keno¡n to¬pow eiÓnai eœn ì√ mhde¬n eœsti.“ Nicolaus von Autrecourt, Exigit ordo (nt. 29), 21. In diesem Zusammenhang formuliert Nicolaus einen im Hinblick auf die Entwicklung der modernen Physik interessanten Gedanken: „Lumen nihil aliud est quam quaedam corpora quae nata sunt sequi motum solis, seu etiam alium corporis luminosi, ita quod fit per motum localem talium corporum advenientium ad preasentiam corporis luminosi“ (ibid., 84 sq). Hiernach ist das Licht nicht mehr als vermittelndes Agens zwischen göttlichem Geist und der sublunaren Welt begriffen. Vielmehr äußert Nicolaus hier als Vermutung den der späteren Korpuskulartheorie zugrundeliegenden Gedanken. Ibid., 205. Nicolaus von Autrecourt, Articuli condemnati, in: Briefe (nt. 13), 88. Nicolaus von Autrecourt, Exigit ordo (nt. 29), 205.
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Nicolaus unterscheidet implizit zwei Arten von Substanzen, eine materielle und eine spirituelle, denen entsprechende Arten von Bewegung zugeordnet sind. Jede dieser Substanzen ist radikal individualisiert. Hierin liegt sicher die aus dem Nominalismus Ockhams übernommene Doktrin, daß nur Singularia extra mentem existieren können. Da Nicolaus aber darüber hinaus seine Substanzen nicht weiter bestimmt, ist er von einer Reduktion dessen, was er Geist nennt, auf die Materie nur einen Schritt entfernt. In diesem nicht in extenso dargelegten Lehrstück zeigt sich eine sicher ungewollte Verwandtschaft zum Atomismus Epikurs, für den die Seele wie die gesamte Natur aus Atomen bestand 44. Die Sinneswahrnehmung und die intellektiven Operationen der Seele sind Vorgänge, die, wie die körperlichen Veränderungen, auf Zusammensetzungen und Trennungen von Atomen beruhen. Indessen bezeichnet Nicolaus nicht die spezifischen Eigenschaften der verschiedenen Arten von Atomen und gibt auch keine Gesetze ihrer Vereinigung und Trennung an. Deutlich wird jedoch, daß seine Vorstellung von der Natur auf ein ursprüngliches Chaos hinausläuft, dem die Gruppierung und Verbindung der Atome eine Struktur verschafft. In seinen psychologischen Überlegungen hat Nicolaus implizit die Grundsätze seiner Physik wiederholt. Der Hauptlehrsatz seiner Theorie der seelischen Akte ist: „Possumus dicere quod potest sustineri probabiliter et est probabile quod actus animae nostrae sunt aeterni.“ 45 Nach der Atomhypothese bedeutet dies, daß die geistige Tätigkeit durch elementare Gedanken bestimmt ist, die als solche unvergänglich sind wie die unteilbaren Partikel, aus denen sich die körperlichen Dinge zusammensetzen. Es wechselt nur die Zusammensetzung der Elementarteile. Um diese Veränderung und darüber hinaus die Übermittlung von Gedanken zwischen verschiedenen Personen zu erklären, nimmt Nicolaus einen motus spiritualis an. Da der gesamte Traktat „Exigit ordo“ der Prüfung dienen soll, „an sermones peripateticorum fuerint demonstrativi“ 46, bezieht sich die Passage über die Seele polemisch auf die aristotelische Lehre von intellectus agens und intellectus possibilis, eine Unterscheidung, die Nicolaus in seiner Theorie nicht mehr benötigt: „Et si vera sit haec conclusio, cessabit liber tertius Aristotelis ,de Anima‘ quasi in toto sui circa quem contingunt difficultates insolubiles ex quibus omnibus posset argui contra sic ponentes. Recessit etiam briga de intellectu agente et intellectu possibili.“ 47 Erkennen beruht nach Nicolaus auf der Bewegung der elementaren Teile, seien sie geistig oder materiell. Geht das Denken von einem Extrem zum andern über, also vom Nichtdenken zum Denken, so handelt es sich hierbei um einen 44
45 46 47
Nach dem von Diogenes Laertios X, 63 überlieferten Brief Epikurs an Herodot ist die Seele ein „sv˜ ma [...] leptomere¡w parÅ oÕlon toœ atroisma paresparme¬non.“ Ohnehin zeigt die Position von Nicolaus einige Verwandtschaft mit der Epikurs, vor allem was die Überlegungen zur Gewißheit der Wahrnehmung betrifft. Nicolaus von Autrecourt, Exigit ordo (nt. 29), 205. Ibid., 181. Ibid., 205.
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„transitus de contradictorio in contradictorium sine mutatione reali cuiuscumque intrinsice“ 48. Durch diese Formel will Nicolaus ausschließen, daß sich die Erkenntnis durch ein reales Entstehen und Vergehen vollziehe, oder - erkenntnistheoretisch gesprochen - durch synthetische Funktionen, die ja nach dem obersten Grundsatz seiner Philosophie ohnehin gar nicht möglich sind. Die Elemente aller Gedanken bleiben jedenfalls unverändert, eine These, die er durch die Übertragung des materiellen Atomismus auf das Spirituelle gewinnt: „Omne totum perfectum requirit suas partes esse sicut suo modo in istis materialibus in quibus nihil est novum, saltem de entibus absolutis permanentibus; est tamen ista res aliquando praesens alicui cui prius non erat praesens per motum localem; sic ibi scilicet in anima nostra per motum spiritualem.“ 49 Das Auftauchen eines Gedankens und das Vergessen eines anderen sind die Wirkungen der Verbindung und Lösung geistiger Atome. Der Unterschied zu den körperlichen Atomen, die nur eine lokale Bewegung haben sollen 50, wird in dieser Passage vollends undeutlich. Sind sie aber letztlich gleich, dann wird die Übermittlung eines Gedankens von einer Person an andere zu einem materiellen Prozeß. Diese Wendung, die sich in „Exigit ordo“ andeutet, führt dazu, daß Nicolaus hier nicht Aristoteles, sondern sich selbst widerlegt. Die Psychologie des Nicolaus von Autrecourt gründet sich auf die Vorstellung einer der lokalen zumindest analogen Bewegung der intellectiones. Diese Interpretation der operationes animae stellt jedoch die Verdinglichung einer Metapher dar. Darin zeigt sich ein Bruch in Nicolaus’ Denken, das doch von der strikten ockhamistischen Trennung der subjektiven Gedanken und der Art ihrer Gewißheit von der materiellen Realität ausgegangen war. Indem er die Gedanken auf quasi materielle Phänomene reduziert, widerspricht Nicolaus seinem skeptischen Phänomenalismus, zumal er oft kausale Erklärungen und Syllogismen benutzt, in denen er, seiner eigenen Kritik der Relationen zum Trotz, verschiedene Objekte miteinander verbindet. Nicolaus von Autrecourt bestimmt die Operationen der erkennenden Seele nach demselben Modell, das er auf die Naturerscheinungen anwendet. Ist aber begriffliche Erkenntnis auf physische Bewegung von Atomen reduzierbar, dann wäre der Sinn der Allgemeinbegriffe nur ein falscher Schein ohne Realität. Konsequent müßte man die Realität des Denkens selber verneinen, da es notwendig Allgemeinbegriffe verwendet. Außerdem lehrt Nicolaus die Unvergänglichkeit der Elementargedanken, der intellectiones: „Nihil est novum de novo in esse positum.“ 51 Der Atomismus verdankt sich also, folgt man seinen eigenen Prämissen, ebenfalls einer Vereinigung von geistigen Atomen. An diesem Punkt könnte deutlich werden, daß der Skeptizismus die Konsequenz einer Philosophie ist, die ihre eigene Lehre desavouiert. 48 49 50 51
Nicolaus von Autrecourt, Articuli condemnati (nt. 42), 94. Nicolaus von Autrecourt, Exigit ordo (nt. 29), 205. Nicolaus von Autrecourt, Articuli condemnati (nt. 42), 84 sq. Ibid., 88.
„Plato dicebat“ Überlegungen zur Renaissance des Platonismus im Spätmittelalter Gerhard Krieger (Trier) Ein Aspekt im Zusammenhang der Diskussion um die historische Bedeutung der spätmittelalterlichen Philosophie betrifft die Rolle des Platonismus. Die folgenden Überlegungen knüpfen an Auffassungen an, die die angesprochene Bedeutung der platonisierenden Tradition des mittelalterlichen Denkens zusprechen. Vor diesem Hintergrund soll nach der Haltung des Johannes Buridan als eines unzweifelhaft der aristotelisierenden Tradition zugehörigen Denkers gegenüber Platon gefragt werden. Dementsprechend wird zunächst der Zusammenhang zwischen der Diskussion um die historische Bedeutung der mittelalterlichen Philosophie auf der einen Seite und der Rolle des Platonismus auf der anderen Seite im Blick auf die betreffenden Überlegungen bei Peter Schulthess und Hans Blumenberg thematisiert werden (I.). Im zweiten Schritt erfolgt die Betrachtung der angesprochenen Auffassung des Johannes Buridan (II.). Abschließend wird zum Ertrag dieser Betrachtung hinsichtlich der Frage nach der Rolle des Platonismus in bezug auf die historische Bedeutung der spätmittelalterlichen bzw. mittelalterlichen Philosophie insgesamt Stellung genommen werden (III.). I. Die Zuschreibung der historischen Bedeutung der spätmittelalterlichen Philosophie zu einem Motiv der platonischen bzw. platonisierenden Tradition innerhalb des mittelalterlichen Denkens bei den genannten beiden Autoren versteht sich vor dem Hintergrund ihrer negativen Einschätzung eben dieser Bedeutung. Peter Schulthess 1 ist ebenso wie Hans Blumenberg 2 der Auffassung, daß der mittelalterlichen Philosophie im Zusammenhang der Geschichte der Philosophie im Ergebnis eine negative Bedeutung zukommt. Allerdings begründet sich diese Einschätzung ganz verschieden. Insofern stimmen die beiden Autoren zwar dem 1
2
Die Philosophie im lateinischen Mittelalter, in: P. Schulthess/R. Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter. Ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertorium, Zürich 1996, 17-349, hier: 239-293; ferner P. Schulthess, Die philosophische Reflexion auf die Methode, in: J.-P. Schobinger (ed.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, vol. 1.1 (Grundriß der Geschichte der Philosophie), Basel 1998, 62-120, hier: 62-65. Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Ausgabe, Frankfurt a. M. 21999.
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Ergebnis nach überein, der Sache nach kommt dieses Resultat aber unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten zustande. Schulthess zufolge kommt es in der Spätscholastik, d. h. in der Zeit von der Mitte des vierzehnten bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, zu einer „Autonomisierung der Wissenschaften“, was einen „Bedeutungsverlust der Metaphysik“ 3 zur Folge hatte. Näherhin bestand dieser Bedeutungsverlust zusammengefaßt darin, daß „die Metaphysik (ihre) Verbindungsfunktion von Philosophie, Logik und Theologie [...] einbüßte“ 4. Die mit dieser Sichtweise verbundene negative Einschätzung der Bedeutung der spätmittelalterlichen Philosophie versteht sich folgendermaßen: Für diese Einschätzung ist zunächst von Belang, daß Schulthess die den Bedeutungsverlust der Metaphysik bedingenden Momente durchaus in Verbindung bringt mit Elementen neuzeitlichen Verständnisses der Philosophie. In dieser Hinsicht knüpft er vor allem an die Veränderungen im spätscholastischen Wissenschaftsverständnis an. Die Infragestellung der objektiven Einheit der Wissenschaft zugunsten der Satzwissenschaft weist nach Auffassung Schulthess’ insofern „in Richtung Neuzeit“ 5, als im letztgenannten Verständnis Wissenschaft ein „System [...] von Sätzen“ 6 darstellt und die „Einheit des Wissens die Vernunft selbst ist“ 7. Diese Verbindung zwischen dem spätscholastischen und dem neuzeitlichen Denken macht die negative Bedeutung der erstgenannten Betrachtungsweise insoweit erkennbar, als Schulthess nicht die Möglichkeit in Betracht zieht, daß im Denken der Spätscholastik der Versuch gemacht wird, die neuen Elemente in einen Gesamtentwurf zu integrieren und so eine Metaphysik in affirmativer Weise zu entwickeln. Die Negativität der Deutung des Verhältnisses des mittelalterlichen zum neuzeitlichen Denken durch Schulthess zeigt sich weiter daran, daß dieser eine zweite und in diesem Falle durchaus positiv bestimmte Möglichkeit der Verbindung zwischen Mittelalter und Neuzeit kennt. Dabei bezieht er sich auf die Versuche Dietrichs von Freiberg und Meister Eckharts sowie deren Fortsetzung bei Nicolaus Cusanus. Der Sache nach kommt es hier zur Ausarbeitung der Metaphysik als „Selbstentfaltung des Intellekts“ 8. Die angesprochene Positivität drückt sich darin aus, daß die letztgenannte Betrachtungsweise insoweit noch „zur Philosophie im Mittelalter“ gezählt wird, als sie, „da in ihr das intelligere als Sein verstanden wird, durchaus noch Ontologie und noch nicht Erkenntnislehre wie in der Neuzeit“ 9 ist. In diesem Entwurf gehen mittelalterliches und neuzeitliches Denken also insofern eine positive Verbindung ein, als die in der neuzeitli3
4 5 6 7 8 9
Schulthess/Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter (nt. 1), 247, das vorangegangene Zitat: 246. Ibid., 239. Ibid., 271. Ibid., 272. Ibid., 285. Ibid., 292, ähnlich 269 sq. Ibid., 292, 293 (Hervorhebung im Original).
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chen Philosophie betonte Maßgeblichkeit der Vernunft ein integratives Moment der Metaphysik ist, soweit diese in der Begründung ihrer Erkenntnis das Erkennen selbst transzendiert. In der Deutung von Peter Schulthess steht das mittelalterliche Denken im negativen Verhältnis zur neuzeitlichen Philosophie, weil es nicht die Maßgeblichkeit der Vernunft zu bejahen und zu integrieren vermag. Dementsprechend liegt die Negativität auf seiten des mittelalterlichen Denkens, sofern es nicht in den Traditionszusammenhang der mit Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart und Nicolaus Cusanus angesprochenen „Metaphysik der Einheit“ 10 gehört. P. Schulthess schreibt die historische Bedeutung nicht nur der spätscholastischen Philosophie im engeren Sinne, sondern des mittelalterlichen Denkens insgesamt also insoweit einem Motiv der platonischen bzw. platonisierenden Tradition zu, als es die über das Mittelalter hinausreichende Verbindung zum neuzeitlichen Denken betrifft. Umgekehrt heißt das, daß die an Aristoteles anschließende Tradition in diesem Sinne für Schulthess keine historische Bedeutung besitzt 11. Hans Blumenberg stimmt mit Schulthess in gewisser Weise überein, wenn er die historische Bedeutung des mittelalterlichen Denkens ebenfalls negativ einschätzt und insbesondere das Denken des Nicolaus Cusanus von dieser Beurteilung ausnimmt. Im Unterschied zu Schulthess resultiert die Negativität für Blumenberg aber nicht aus dem mittelalterlichen Denken selbst, sondern aus dem Verhältnis der Neuzeit zum Mittelalter. Näherhin versteht sich die negative Beziehung der Neuzeit zum Mittelalter gemäß der Deutung Blumenbergs folgendermaßen: Dieser sieht Selbstbehauptung als den Kern des Selbstverständnisses der neuzeitlichen Vernunft in ihrer wissenschaftlich-technischen Rationalität an. In dieser Einstellung richtet sich die neuzeitliche Vernunft gegen ihr mittelalterliches Verständnis, das theologisch bestimmt ist. Insofern begreift die neuzeitliche Vernunft sich selbst historisch und gewinnt ihre Identität gegen das mittelalterliche Denken. Freilich ist die Selbstbehauptung neuzeitlicher Vernunft gegenüber dem Mittelalter nur insofern sinn-, d. h. identitätsstiftend, als sie das neuzeitliche Selbstverständnis dauerhaft bestimmt. Das ist wiederum deswegen der Fall, weil das mittelalterliche Selbstverständnis bleibend zum neuzeitlichen Selbstverständnis gehört. Seiner „Intention“ nach zielt der mittelalterliche Versuch darauf ab, „den theoretischen Anspruch an den Punkt der Unausweichlichkeit seines Verzichtes und damit der Unterwerfung unter den Glauben zu führen“. Seine negative Bedeutung erhält dieser Versuch aber erst daraus, daß er „seiner immanente(n) Dynamik (nach) auf das umgekehrte Resultat zuläuft: auf die Ausbildung des (neuzeitlichen) Bewußtseins, daß gerade in dem, was preisgegeben werden sollte, das Unverzichtbare des menschlichen Interesses liegen müsse“ 12. Insofern stellt die mittelalterliche Identität eine Konstitutionsbedin10 11
12
Ibid., 292. Dementsprechend spricht Schulthess (ibid., 247), vom „Bedeutungsverlust der Aristotelischen Metaphysik“. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (nt. 2), 173.
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gung neuzeitlicher Vernunft dar. Die Negativität der Genealogie der Neuzeit in ihrem Selbstverständnis gegenüber dem Mittelalter ergibt sich also daraus, daß dessen theologisches, auf die Unterordnung der Vernunft unter den Glauben abzielendes Selbstverständnis zu den historischen Konstitutionsbedingungen neuzeitlicher Vernunft zählt. Auf der einen Seite unterscheidet sich Blumenberg insoweit von der Beurteilung durch P. Schulthess, als erstgenannter die Negativität nicht mit dem mittelalterlichen Denken selbst verbindet, sondern mit dessen Bedeutung im Zusammenhang des Selbstverständnisses der neuzeitlichen Philosophie. Auf der anderen Seite stimmen beide Autoren überein, wenn sie die bleibende Bedeutung des mittelalterlichen Denkens auf dessen platonisierende Tradition beziehen. Blumenberg macht dies in seiner Wertschätzung des Denkens des Nicolaus Cusanus ausdrücklich, das er als eine freilich „allzu späte Anstrengung (begreift), dem inneren Zerfall des mittelalterlichen Systems entgegenzuwirken“ 13. Indem das Bemühen des Cusanus darauf abzielt, daß „der Vernunft [...] der Glaube nicht als die Zustimmung ihrer Selbstopferung [...], sondern als die Eröffnung der Möglichkeit ihrer Selbsterfüllung angeboten wird“, unternimmt Cusanus nach Auffassung Blumenbergs den Versuch, „das Mittelalter aus seiner eigenen Substanz heraus zu sanieren“ 14. Die weiteren Überlegungen knüpfen an die dargestellten Überlegungen von P. Schulthess und H. Blumenberg an, weil sie dem Gesichtspunkt des Platonismus folgen. Im Unterschied zu den Betrachtungsweisen von Schulthess und Blumenberg wird der Blick aber auf einen Autor gerichtet, nämlich Johannes Buridan, der unzweifelhaft nicht zur platonisierenden, sondern zur aristotelisierenden Tradition mittelalterlichen Denkens zu zählen ist. Auf diese Weise gehen die weiteren Überlegungen auf jeden Fall in dem Maße über die Betrachtungsweisen der genannten beiden Autoren hinaus, wie sich zeigt, daß und in welcher Weise im Rahmen der letztgenannten Tradition ein platonisches Motiv aufgegriffen wird. Insofern ist es naheliegend, weitergehende Überlegungen wie die, in welchem Verhältnis die Auffassungen von Schulthess und Blumenberg zu Deutungen stehen, die die historische Bedeutung des mittelalterlichen Denkens nicht in bezug auf dessen platonisierende Tradition festmachen, an die skizzierte Untersuchung des Denkens des Johannes Buridan anzuschließen.
II. Die erste Stelle, die hier in bezug auf Buridans Haltung gegenüber Platon näher in Betracht gezogen werden soll, findet sich im Zusammenhang der Stellungnahme zur Aristotelischen Feststellung des allgemein menschlichen Wis13 14
Ibid., 199. Ibid., 173.
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sensverlangens 15. Buridan bezieht sich dabei auf die Platonische Anamnesislehre. Diese führt er wiederum an zur Erklärung der ebenfalls Platon zugeschriebenen Auffassung, daß der menschliche Intellekt von Beginn an zwar über alles Wissen verfügt habe. Dieses sei aber aufgrund der körperlichen Verfaßtheit in Vergessenheit geraten 16. Buridan illustriert das Problem, das er auf diese Weise anspricht, mit dem Beispiel der Suche nach einem entlaufenen Sklaven. Diese Suche basiert auf der Voraussetzung des Wissens um die Person des betreffenden Sklaven 17. Das Problem, das Buridan mit dem Bezug zu Platon zur Debatte stellt, ist demnach das der Apriorität des menschlichen Wissens. Buridans Lösung versteht sich wiederum folgendermaßen: Er geht von der Feststellung aus, daß der menschliche Intellekt einem beliebigen Prinzip ebenso wie seinem Gegenteil zustimmen kann, falls er nicht über das betreffende Wissen zur Beurteilung dieses Gegensatzes verfügt. Weiter geht Buridan von der Beobachtung aus, daß alle Menschen von Natur aus unmittelbar den ersten Prinzipien zustimmen und ihr Gegenteil ablehnen. Daraus zieht er den Schluß, daß der menschliche Intellekt auf andere Weise zur Erkenntnis dieser Prinzipien gelangt ist 18. Mit dieser Überlegung stellt Buridan das Problem des apriorischen Wissens als Frage nach der Begründung der ersten Prinzipien. Insofern könnte man auch sagen, daß er das Problem des apriorischen Wissens als Frage nach der Begründung des Wissens als Wissen formuliert. Seine Antwort besagt, daß der menschliche Intellekt von Natur aus zum Wissen und zur Wahrheit bestimmt sei. Demzufolge verlange der Mensch gemäß seiner Vernunft von Natur aus nach Wissen sowie dazu, ebenso der Wahrheit der ersten Prinzipien zuzustimmen wie der von Schlußfolgerungen, soweit diese auf der Erkenntnis dieser Prinzipien beruhen. Dementsprechend erfolge die Zustimmung zu den ersten Prinzipien ohne entsprechende vorangehende Erkenntnis 19. Diese Stellungnahme Buridans erlaubt die Feststellung, daß er die natürliche Bestimmung zum Wissen als eine Bestimmung der Vernunft begreift und daß er diese Bestimmung wiederum als eine formale ansieht. Der erste Punkt dieser 15
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Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf: In Metaphysicen Aristotelis quaestiones, Paris 1518 (Nachdr. Frankfurt a. M. 1964). Die genannte quaestio ist die fünfte des ersten Buches. Ibid., f. 6ra: „Credidit enim [i. e. Plato] quod intellectus a principio suae creationis fuisset repletus omnibus scientiis. Sed mole carnis oppressus non poterat considerare: ideo obliviscebatur illas scientias. Et dicebat Plato quod nostrum addiscere non est nisi quoddam reminisci.“ Ibid.: „Et hoc probat per exemplum de servo fugitivo, quia si dominus eius quaerat eum et non prius cognoverit ipsum, non magis capiet illum quam istum.“ Ibid.: „Si intellectui proponatur aliquod principium, si numquam praecognivisset illud principium, ipse non magis assentiret illi quam suo opposito: igitur quia videmus quod omnes homines assentiunt statim primis principiis et dissentiunt oppositis, oportet concludere quod hoc sit, quia alias intellectus cognoverat haec principia.“ Ibid.: „Hoc erat argumentum Platonis, quod non potest solvi nisi dicendo quod intellectus noster naturaliter inclinatur ad scire et ad veritatem [...]. Et sic concludendum est quod homo secundum intellectum naturaliter desiderat scire et ad assentiendum veritatibus primorum principiorum. Et etiam est inclinatus ad assentiendum veritatibus conclusionum mediante tamen notitia principiorum. Ideo consentit illis et non oppositis, quamvis illa numquam praecognoverit.“
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Feststellung ist durch den Tatbestand legitimiert, daß Buridan das menschliche Wissensverlangen an die betreffende Bestimmung der Vernunft bindet, der zweite Punkt dadurch, daß Buridan die Bestimmung zum Wissen näher kennzeichnet durch den Bezug auf den Zusammenhang zwischen der Wahrheit des Prinzipienwissens und des sich auf schlußfolgernde Weise ergebenden Wissens. Im Ergebnis bedeutet dies, daß der Vernunft die Bestimmung zukommt, von eben dieser ihrer Bestimmung selbst zu wissen. In dieser Hinsicht liegt die Annahme nahe, daß Buridan das apriorische Wissen als ein ursprüngliches und reflexives Wissen in bezug auf die Form von Vernunftbestimmung überhaupt versteht. Im Sinne wiederum dieser Feststellung erklärt Buridan weiter, daß sich die in Frage stehende Bestimmung einem natürlichen und nicht einem geistigen, auf vorangehender Erkenntnis beruhenden Streben verdanke, insofern sie zwar dem Gehalt nach der Wahrheit der ersten Prinzipien gelte, ohne freilich kraft vorangehender Erkenntnis zustande zu kommen 20. Indem Buridan hervorhebt, daß die zur Debatte stehende Vernunftbestimmung der Wahrheit (der ersten Prinzipien) gilt, ohne auf entsprechender Erkenntnis zu beruhen, unterstreicht er den ursprünglichen und zugleich reflexiven Charakter der zur Diskussion stehenden Vernunftbestimmung. Hat Buridan zuvor das in Frage stehende apriorische Wissen seiner formalen Natur nach gekennzeichnet, unterstreicht er hier also dessen ursprünglichen und reflexiven Charakter. Der letzte Schritt seiner in Betracht gezogenen Argumentation gilt schließlich der Genese dieser Vernunftbestimmung, oder besser: ihrer Erkenntnis. Betrafen die bisher analysierten Überlegungen die menschliche Vernunft in ihrer apriorischen Bestimmung, d. h. in ihrer Vernunftnatur als solcher, steht jetzt die Frage zur Debatte, wie diese Vernunftnatur erkannt werden kann. Insofern die Vernunft an sich und aus sich selbst zu Erkenntnis und Wissen bestimmt ist, liegt wiederum die Vermutung nahe, daß die Erkenntnis dieser Vernunftbestimmung nicht anders denn auf praktische Weise zustande kommt. Denn jede theoretische Erkenntnis der Vernunftbestimmung setzt diese in ihrer Apriorität und damit als erkannte voraus. Insofern kann der Aspekt der Genese der Vernunftbestimmung nur den Aspekt ihrer praktischen Aneignung betreffen. Im Blick auf diese praktische Aneignung der Vernunftbestimmung oder unseres Wissenwollens liegt folgende Überlegung nahe: Der Sache nach stellt sich damit zunächst die Frage nach dem Motiv des Wissenwollens: Auf welchem Grund beruht unser Verlangen nach Wissen in praktischer Hinsicht? Insofern der theoretische Grund unseres Wissens die Apriorität der Vernunft selbst ist, betrifft die Frage nach dem praktischen Grund unseres Wissens letztlich unsere Vernunftbestimmung als solche. Wie die theoretische Erkenntnis der Vernunftbestimmung diese in ihrer Apriorität voraussetzt, tut dies auch die praktische. 20
Ibid.: „[...] intellectus sic est inclinatus ad scientias et veritates per appetitum naturalem et non animalem appetitum, prout in isto casu animale distinguitur contra naturale, quia inclinatus est ad assentiendum veritatibus primorum principiorum antequam aliquid cognoscat. Ideo non consentit in virtute aliquorum praecognitorum.“
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Buridan scheint auch in bezug auf die praktische Genese unseres Wissensverlangens die Apriorität der Vernunft zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen. In Buridans Darlegungen lassen sich denn auch der theoretische und der praktische Aspekt unterscheiden: Der Mensch, so stellt Buridan fest, verfüge über eine zweifache Natur, nämlich eine sinnliche und eine intellektuelle. Dementsprechend besitze er ein zweifaches Streben, nämlich einen appetitus sensualis und einen appetitus intellectualis. Diese beiden Bestrebungen stehen sich in bestimmter Weise entgegen. Mit dem erstgenannten appetitus sensualis kommt uns demnach von Natur aus ein Prinzip zu, das sich (in bestimmter Weise) gegen die Vernunft richtet. Demgemäß strebt kein Mensch gemäß seiner Sinnlichkeit nach Wissen. Trotzdem sei uneingeschränkt gültig, daß der Mensch von Natur aus nach Wissen strebe. Denn man müsse, um den Menschen in uneingeschränkter Weise zu kennzeichnen, von seinem der Bedeutung und dem Wert nach höheren Teil ausgehen. Diesen Teil mache nämlich die Vernunftnatur und nicht die sinnliche Natur aus. Menschsein bestimme sich also im schlechthinnigen Sinne nach der Bestimmtheit gemäß der Vernunft: „qualis est homo secundum intellectum, talis est dicendus simpliciter.“ 21 Von entscheidender Bedeutung für die zur Debatte stehende praktische Aneignung theoretischer Erkenntnis als solcher ist der Umstand, daß die Kennzeichnung des Menschen unter qualitativem Gesichtspunkt („qualis est homo“) erfolgt und in dieser Hinsicht in strikter Weise ausgesagt wird („debet homo simpliciter denominari, talis est dicendus“). Auf diese Weise erfolgt die Kennzeichnung des Menschen unter praktischem Gesichtspunkt, d. h. sie ist ihrer Form nach von normativer und nicht von theoretischer Natur. Die in Frage stehende Kennzeichnung resultiert ihrer Form nach nicht aus der (gegenständlichen) Einsicht in das dem Menschen von Natur aus und damit als solchem Zukommende, sondern aus der Einsicht in das, was zu tun ist. Ihrem Gehalt nach betrifft diese Kennzeichnung die Vernunftbestimmung des Menschen als solchen. Es wird dem Menschen die Aufgabe gestellt, in bezug auf sein Menschsein als solches oder seine Vernünftigkeit vernünftig zu handeln. Das kann wiederum nicht in der Weise gemeint sein, daß das Menschsein als solches davon in praktischer Weise betroffen wäre. Dann wäre nämlich das Menschsein als solches oder die Vernünftigkeit Resultat der Praxis. Eine derartige Forderung könnte aber weder an den Menschen noch im Sinne der praktisch zu verstehenden Vernunftbestimmung gestellt werden. Die Aufgabe, in bezug auf das Menschsein als solches oder die Vernünftigkeit vernünftig zu handeln, macht also ihrem Gehalt nach die Erkenntnis der Vernunft in ihrer 21
Ibid., f. 5vb: „Homo quodammodo compositus est ex duplici natura, scilicet ex natura sensuali et natura intellectuali. Ideo etiam duplex est appetitus, scilicet intellectualis et sensualis, et isti appetitus aliquomodo obviant sibi invicem“; f. 6ra: „Nullus homo secundum sensum appetit naturaliter scire. [...] est simpliciter concedenda ,Omnis homo naturaliter appetit scire‘, quia a superiori et nobiliori parte et non ab inferiori debet homo simpliciter denominari. Natura enim intellectualis est superior et nobilior et natura sensualis inferior. Ergo qualis est homo secundum intellectum, talis est dicendus simpliciter.“
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vorgängigen Bestimmtheit aus. Der fragliche Gehalt ist nichts anderes denn (menschliche) Vernunftbestimmtheit als solche. Insofern ist die Realisierung dieser Aufgabe ihrem Modus nach theoretischer Natur. Im Ergebnis besagt dies: Die analysierte Schlußfolgerung ist ihrer Form nach praktischer Natur, und ihrem Gehalt nach betrifft sie die theoretisch zugängliche (menschliche) Vernunftbestimmtheit als solche. Insofern bringt die angesprochene Schlußfolgerung die praktische Aneignung der apriorischen Vernunftbestimmung als solcher zum Ausdruck. Daß diese praktische Aneignung ihrerseits durch die apriorische Vernunftbestimmung als praktische, d. h. als Bestimmung des menschlichen Willens, begründet ist, kommt zum einen in der strikten Normativität der analysierten Schlußfolgerung zur Geltung. Zum anderen macht Buridan dies im zur Diskussion stehenden Zusammenhang in bezug auf die Entscheidung zum Nichtwissen ausdrücklich: Dieser Verzicht beruhe nicht, so die betreffende Feststellung Buridans, auf einem natürlichen Verlangen, sondern sei gewollt. Und zwar sei er gewollt, da er auf einer zum appetitus animalis gehörenden Einsicht beruht, der ihrerseits die erste Erkenntnis zugrunde liege, die den Willen frei mache („voluntas est libera mediante cognitione prima“) 22. Indem die den Wissensverzicht bedingende Erkenntnis dem appetitus animalis zugeschrieben wird und diesem seinerseits die die Freiheit des Willens bedingende „erste“ Erkenntnis zugrunde liegt, zeigt sich zunächst, daß der Wissensverzicht praktisch motiviert ist. Daß dieser praktischen Motivation wiederum der ursprüngliche und reflexive Selbstbezug des Willens zugrunde liegt, findet darin seinen Ausdruck, daß Buridan den Wissensverzicht letztlich jener „ersten“ Erkenntnis zuschreibt, die den Willen frei macht: Da es sich um eine Erkenntnis handelt, die den Willen frei macht, ist sie die Erkenntnis praktischer Vernunft. Sie betrifft, was zu tun oder zu unterlassen, was zu wollen oder nicht zu wollen ist. Da es sich um die erste Erkenntnis handelt, kann sie den Willen nicht zwischen diesem oder jenem partikulären Guten wählen lassen. Entweder würde bei einer derartigen ersten Erkenntnis ein bestimmtes Gutes gewählt, in bezug auf das der Wille aber gerade nicht frei wäre. Oder aber es handelte sich um keine erste Erkenntnis. Ist der Wille kraft einer ersten Erkenntnis frei, kann seine Wahl also nur auf das Gute überhaupt gerichtet sein. Und seine Freiheit kann dann nur darin bestehen, sich kraft der ersten Erkenntnis zum Wollen als solchem zu bestimmen. Der Wille ist, wie Buridan im Zusammenhang der zweiten, später zu analysierenden Stelle, an der er auf Platon Bezug nimmt, sagt 23, in der Lage, aus dem 22
23
Ibid., f. 5vb: „Si aliquis desiderat aliqua ignorare, hoc non est desiderio naturali, sed animali. Unde multotiens voluntas, quae est libera mediante cognitione prima, inclinatur contra illud, ad quod appetitus inclinatur naturaliter [...] voluntas, quae est appetitus intellectualis, perversa per appetitum sensitivum refugit etiam studium, sed talis voluntas non dicitur appetitus naturalis, sed animalis.“ In Metaph. VI, q. 5, f. 36vb-37ra: „Si voluntas quiescit tam ab actu volendi quam ab actu nolendi ita quod neutrum producit, aliqua alia est causa quietis, quam oportet removeri antequam agat. Dico quod non, quia ipsa sola per suam libertatem aliis ante positis est causa sufficiens et ad agendum et ad non agendum,
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Zustand der Indifferenz oder des Nichtwollens (non velle) zum Wollen oder Nicht-Wollen (nolle) überzugehen. Dabei ist diese Indifferenz weder durch etwas anderes als den Willen bedingt noch besteht sie „früher“ (aliis ante positis) als Wollen oder Nicht-Wollen (nolle). Denn wäre die Indifferenz durch etwas anderes als den Willen bedingt, wäre dieser auch in bezug auf den Übergang von der Ruhe zum eigenen Vollzug nicht frei. Sofern die Ruhe in zeitlicher Differenz zum Vollzug des Wollens steht, kann es zwar eine Erkenntnis geben, die jenen Übergang erfaßt. Nur ist diese Erkenntnis theoretischer und nicht praktischer Natur, und der in Frage stehende Übergang erfolgte nicht ursprünglich. Oder aber die Erkenntnis, die den in der Zeit erfolgenden Übergang vom Zustand der Ruhe zum Wollen erfaßt, wäre eine praktische Erkenntnis. Nur erfolgt sie dann auf der Grundlage eines schon Erstrebten und wäre somit keine erste Erkenntnis. Ist der Wille kraft einer ersten Erkenntnis frei, dann besteht seine Freiheit also in der Befähigung, vom non velle sowohl zum velle als auch zum nolle überzugehen, d. h. allein aus sich heraus einen Anfang des Wollens zu nehmen. Ist der Wille kraft einer ersten Erkenntnis frei, dann also nur, sofern diese Erkenntnis zum Wollen als solchem gehört, sofern sie das konstitutive Moment des Willens ausmacht und bewirkt, daß der Wille will. Die die Freiheit begründende Einsicht ist demnach das ursprüngliche und rein rationale Selbstverhältnis des Willens. etiam ad agendum volitionem et ad agendum nolitionem.“ F. Pironet hat in ihrer Studie, The Notion of non velle in Buridan’s Ethics, in: J. M. M. H. Thijssen/J. Zupko (eds.), The Metaphysics and Natural Philosophy of John Buridan, Leiden - Boston - Köln 2001, 199-221, die besondere Aufmerksamkeit hervorgehoben, die Buridan dem non velle schenkt (cf. z. B. 199 sq.). In ihrer Analyse spitzt sich das Problem der Willensfreiheit denn auch auf die Frage zu, wie der Wille allein aus sich selbst einen Anfang des Wollens zu nehmen in der Lage ist, 205: „We can conclude [...] that [...] either (1) the will makes its choice according to the judgement of the intellect about the goodness [...] of its object, or (2) the will defers its decision“; 210: „How, then, should we interpret Buridan’s claim [...] that [...] the will does not need anything else to determine itself (sine alio determinante) to act in a way or another?“ In ihrer Antwort gelangt Pironet allerdings nicht zu der Einsicht in die ursprüngliche und ausschließlich rationale Selbstbestimmung des Willens durch die praktische Vernunft, 204: „We should here mention the case of equally strong judgements: what happens if, after further consideration, the intellect judges that both choices are equally good? [...] the agent cannot stay in such a passive state for very long, unless, of course, he is an ass. The state is only provisional because even if the intellect is unable to rationally determine which is greater good, it can always judge that it is not good to remain in this state, and so it will judge that making an irrational or arbitrary choice (by playing dice or by other means) is the greater good.“ J. Zupko berührt in seiner Studie, Freedom of Choice in Buridan’s Moral Psychology, in: Mediaeval Studies 57 (1995), 75-99, hier: 81, das non velle insoweit, als er darauf verweist, daß Buridan hervorhebt, daß der Wille selbst nicht Herr seiner ersten Akte sei und daß das uneingeschränkte Ge- bzw. Mißfallen nicht im eigentlichen Sinne als Wollen bzw. Nicht-Wollen zu betrachten sei: cf. Quaest. in lib. Eth., f. 43ra: „Voluntas non sit libera sive domina sui primi actus [...] actus simplicis complacentiae vel displicentiae non est actus volendi aut nolendi proprie.“ Der Wille ist insoweit nicht Herr seiner ersten Akte, d. h. des uneingeschränkten Ge- oder Mißfallens, als diese die Selbsterkenntnis des Willens im positiven bzw. im negativen Sinne darstellen, die nicht selbst gewollt bzw. nicht gewollt werden kann, sondern dem Wollen bzw. Nicht-Wollen zugrunde liegt.
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Wie kann auf der Grundlage dieser ersten Erkenntnis der Verzicht auf Wissen begründet werden? Da davon auszugehen ist, daß die diesen Verzicht begründende Einsicht zum appetitus animalis gehört, handelt es sich um eine Erkenntnis, die aus der skizzierten ersten Erkenntnis abgeleitet ist. Dementsprechend schließt der gewollte oder bewußte Verzicht auf Wissen die Anerkennung der Normativität des Wissens ein. Insofern steht der Verzicht auf Wissen dann nicht im Widerspruch zum praktischen Prinzip des Wissens, sofern er aus Gründen des Wissens oder um des Wissens willen erfolgt. Der entscheidende Grund, der zum Verzicht des Wissens um des Wissens willen bewegt, ist die Vernunft selbst. Soweit die erste Stelle, die hier in bezug auf Buridans Haltung zu Platon in Betracht gezogen werden soll. Im Ergebnis kann ein Dreifaches festgehalten werden: erstens der Sache nach, daß die Bedingungen der Intelligibilität nicht (mehr) vom Gegenstand selbst her genommen und legitimiert werden, sondern von der menschlichen Vernunft, soweit sie in theoretischer und in praktischer Hinsicht menschlicher Weltorientierung zugrunde liegt; zweitens, daß Buridan den Bezug zu Platon hinsichtlich der Apriorität der Vernunft unter theoretischem Aspekt herstellt; schließlich, daß Buridan die Hinwendung zur Vernunft als Prinzip menschlicher Weltorientierung überhaupt im Bewußtsein vollzieht, mit diesem Schritt die aristotelische Tradition zu transzendieren. Der zweite hier zu analysierende Bezug Buridans auf Platon findet sich im Rahmen seiner Stellungnahme zur Kontingenz zukünftigen Geschehens 24. Buridan nennt Platon im Zusammenhang der Auffassung (opinio attribuitur reverendo Platoni) der durchgängigen notwendigen Bestimmtheit allen zukünftigen Geschehens 25. Im Blick auf diese Auffassung arbeitet Buridan der Sache nach die bereits zuvor herausgestellte apriorische Vernunftbestimmtheit als Grund des Willens heraus 26: Der Wille ist in der Lage, aus dem Zustand der Indifferenz oder des Nichtwollens (non velle) zum Wollen oder Nicht-Wollen (nolle) überzugehen. Dabei ist diese Indifferenz weder durch etwas anderes als den Willen bedingt noch besteht sie „früher“ (aliis ante positis) als Wollen oder Nicht-Wollen (nolle). Die Freiheit des Willens besteht also in der Befähigung, vom non velle sowohl zum velle als auch zum nolle überzugehen, d. h. allein aus sich heraus einen Anfang des Wollens zu nehmen. In bezug auf Platon richtet Buridan sein Augenmerk darauf, diesen als Vertreter der These erscheinen zu lassen, daß der Wille die ausreichende Ursache für
24 25
26
In Metaph. VI, q. 5: „Utrum omne futurum de necessitate eveniet.“ Ibid., f. 35vb: „Est una opinio quae attribuitur reverendo Platoni quod omne, quod potest esse, erit et non est possibile, quando ipsum erit, et omne, quod est possibile fieri, fiet et impossibile est, quando fiat.“ Ibid., f. 36vb-37ra: „[...] si voluntas quiescit tam ab actu volendi quam ab actu nolendi ita quod neutrum producit, aliqua alia est causa quietis, quam oportet removeri antequam agat. Dico quod non, quia ipsa sola per suam libertatem aliis ante positis est causa sufficiens et ad agendum et ad non agendum, etiam ad agendum volitionem et ad agendum nolitionem.“
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die Entscheidung zwischen gleichwertigen Alternativen sei 27. Dementsprechend begrenzt er zum einen die Geltung der Platon zugeschriebenen These von der durchgängigen notwendigen Bestimmtheit allen Geschehens auf den nichtwillentlichen Bereich. Zum anderen unterstreicht er, daß der Wille sich allein aus sich heraus bestimmt 28. Über das Ergebnis hinaus, das im Blick auf Buridans zuerst analysierten Bezug zu Platon festgehalten wurde, zeigt sich erstgenannter im zuletzt betrachteten Zusammenhang daran interessiert, eine Übereinstimmung zu Platon in bezug auf die Apriorität der Vernunft in praktischer Hinsicht herzustellen. Daß er mit dieser Überzeugung zugleich den Rahmen der aristotelischen Tradition überschreitet, macht er in dem in Betracht gezogenen Zusammenhang im übrigen dadurch ausdrücklich, daß er die betreffende Auffassung des Aristoteles in irrealer Weise anspricht: „Aristoteles hätte in der fraglichen Überzeugung mit ihm übereingestimmt.“ 29 III. Welche Bedeutung besitzt das Ergebnis dieser Untersuchungen zu Buridans Bezug zu Platon hinsichtlich der eingangs dargestellten Auffassungen zur historischen Bedeutung mittelalterlicher Philosophie? Der Sache nach vollzieht Buridan mit seiner Hinwendung zur Apriorität der Vernunft zugleich eine Hinwendung zum Subjekt als dem Prinzip von Erkenntnis und Wissenschaft. Damit tut er einen Schritt, der seine Auffassung in zentralen Punkten übereinstimmen läßt mit der Auffassung I. Kants. Von diesem Ergebnis sind die Deutungen des Verhältnisses des mittelalterlichen Denkens zur neuzeitlichen Philosophie von 27
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Ibid., f. 35vb-36ra: „[...] ponitur quod quandocumque positae sunt causae sufficientes eomodo, quo sunt sufficientes, scilicet quod non sit impedimentum ad hoc quod aliquid fiat, oportet quod illud fiat. Et ipse Plato credidit illam propositionem esse veram, immo etiam in voluntariis: quia ipse dicebat quod, si ego sum indifferens et potens ire ad sinistra vel ire ad dexteram, qua ratione ego ibo ad dexteram, eadem ratione ad sinistra et econtra. Igitur vel ad utramque ibo, quod est impossibile, vel ad neutram ibo, donec veniat aliud determinans sufficiens, nec eundi ad dextram nec eundi ad sinistram. Sed quando eveniet causa sufficiens determinans eundi ad dexteram, puta actus volendi, statim ibo ad dextram, quia tunc erunt positae causae sufficientes.“ Ibid., f. 36vb: „Et tunc solvitur ratio Platonis, quia sua secunda propositio negaretur de agente libero, sed concederetur de non libero, scilicet illa propositio, quae dicit quod positis causis sufficientibus eomodo, quo sunt sufficientes ad aliquid producendum, sequitur necessario productio ita quod nihil sit impediens. Hoc enim est falsum de voluntate propter eius libertate. Nec valet illa confirmatio, quae dicebat ,si agens sit indifferens ad opposita ut ad velle et ad non velle, qua ratione produceret unum oppositorum illorum eadem ratione produceret aliud. Ideo vel produceret ambo, quod est impossibile, vel neutrum‘. Dico quod talis modus arguendi habet locum in agente non libero, sed non habet locum in agente libero, quia non per rationem aliquam ultra ea, qua iam posita sunt, determinat se ad hoc vel ad illud, sed per suam puram voluntatem.“ Ibid.: „Verum est tamen quod Aristoteles [...] de nobis bene concessisset hoc, ut credo et fides habet ponere [...] tamen omnibus positis praeter actum volendi voluntas est sufficiens ad producendum actum volendi ire ad dexteram sine alio determinante, et similiter est sufficiens ad producendum actum volendi ire ad sinistram et est etiam sufficiens ad eliciendum quod neutrum actum producat, sed differat, nec ad ista indiget alio determinante nisi ipsamet.“
Überlegungen zur Renaissance des Platonismus im Spätmittelalter
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Schulthess und Blumenberg zunächst in bezug auf ihre negativen Einschätzungen des genannten Verhältnisses betroffen: Gegenüber der Auffassung von P. Schulthess ist festzuhalten, daß mit Buridans Metaphysik ein Entwurf vorliegt, der die Einheit des Wissens in der Vernunft ganz in der Weise begründet, wie es Schulthess als kennzeichnend für die neuzeitliche Philosophie ansieht. Und gegenüber Blumenberg kann gesagt werden, daß Buridans Position Selbstbehauptung nicht als einen gegen die mittelalterliche Identität gerichteten Versuch erscheinen läßt. Vielmehr resultiert die sinn- oder identitätsstiftende Bedeutung der Selbstbehauptung der Vernunft für Buridan sachlich aus ihrem affirmativen Verhältnis zu sich selbst und damit aus ihrem Verhältnis zur Wahrheit. Historisch begreift er diese Position als eine, die in Kontinuität steht sowohl zur antiken Tradition der Philosophie als auch zum christlichen Glauben 30. Eben diesem Bemühen, seine Position in Kontinuität zur antiken Tradition der Philosophie zu begreifen, ordnet sich denn auch der Bezug Buridans zu Platon zu: Insofern Buridan in dem skizzierten Schritt zur subjektiven Begründung des Erkennens und Wissens den Rahmen der Aristoteles-Tradition transzendiert, erscheint es konsequent, daß er den Bezug zu Platon wählt. Wie die Selbstbehauptung der Vernunft bei Buridan primär affirmativ gemeint ist, so versteht sich der Bezug zu Platon nicht primär abgrenzend gegenüber Aristoteles, sondern kontinuitätsbejahend in bezug auf die antike Tradition. Im Blick auf die Aufnahme der platonischen Tradition insbesondere bei Nicolaus Cusanus legt der Bezug Buridans zu Platon schließlich noch folgende Vermutung nahe: Insofern Buridan diesen Bezug der Sache nach damit verknüpft, daß er die Bedingungen der Intelligibilität nicht vom Gegenstand her nimmt und legitimiert, sondern von der Vernunft, sucht er den Ansatzpunkt für die Metaphysik auf dem Boden des Erkennens selbst. Damit verbindet er eine Begrenzung des Wissens dergestalt, daß sich mit dem Anspruch auf Wissen zugleich der Verzicht auf Wissen aus Gründen der Vernunft selbst legitimiert. Wissen ist insofern mit Nicht-Wissen verknüpft. Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung einer Nähe oder gar Übereinstimmung Buridans zu bzw. mit Cusanus in dessen Auffassung von der docta ignorantia nahe. Und insofern mag sich auch der Gedanke einer Rückkehr des Sokrates zum Ende des Mittelalters ergeben 31. 30
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In ausführlicher Weise habe ich die Auffassung Buridans, ihre Übereinstimmung mit der Position Kants sowie die betreffenden Konsequenzen hinsichtlich der historischen Beurteilung mittelalterlicher Philosophie dargestellt in der Untersuchung: Subjekt und Metaphysik. Die Metaphysik des Johannes Buridan, Münster 2003. K. Flasch spricht ebenfalls im Blick auf Cusanus von einer „Rückkehr des Sokrates“, in: id., Einführung in die mittelalterliche Philosophie, Darmstadt 1987, 195. Im Unterschied zu Flasch bedeutete die hier geäußerte Vermutung einer Nähe zwischen Buridan und Cusanus allerdings nicht, daß sich dieser Vorgang „nach Jahrhunderten von selbstvergessener Spekulation und wortgläubigem Dogmatismus“ vollzieht, sondern vielmehr eine Übereinstimmung im Grundsätzlichen, die damit zugleich auf eine historische Bedeutung mittelalterlicher Philosophie im allgemeinen verweist.
Virtus illiterata Zur philosophischen Bedeutung der Scholastikkritik in Petrarcas Schrift „De sui ipsius et multorum ignorantia“ Ruedi Imbach (Paris)
Pierre Hadot zu Ehren „Noveris licet omnia mysteria, noveris lata terrae, alta coeli, profunda maris, si te nescieris, eris similis aedificanti sine fundamento, ruinam, non structuram faciens.“ Bernhard von Clairvaux, De consideratione II, 3, 6.
I. Der Meister derer, die wissen Die Begegnung Dantes mit der philosophischen Familie im vierten Gesang des „Inferno“ gehört wahrscheinlich bei den Philosophiehistorikern zu den berühmtesten Passagen des dichterischen Meisterwerkes, weil in diesem Passus nicht nur Dantes Verhältnis zur Antike und zum Heidentum sichtbar wird, sondern auch, weil Dante darin seine Hochschätzung für den Stagiriten zum Ausdruck bringt. Aristoteles ist nicht nur der Anführer der philosophischen Gruppe, er ist „der Meister derer, die wissen und wird von allen hochgeschätzt“ 1. In seinem ausführlichen Kommentar zu der Stelle folgt Boccaccio dem Urteil Dantes ohne Einschränkung. Auch heute noch, so sagt der Dichter des „Decameron“, bewundern ihn alle, die Philosophie betreiben, und es gibt in dieser Zeit fast keine andere Philosophie. Dante selber hat in dem vor der „Commedia“ entstandenen vierten Traktat des „Convivio“ eingehend die Frage erörtert, weshalb dem Aristoteles in der Philosophie die höchste Autorität zukomme. Autorität besitzt nach Dantes Erklärungen jener, der Vertrauen und Gehorsam verdient. Dante beweist, dass den Worten des Aristoteles höchste und erhabenste Autorität zukommt, mit einem Argument, das auf die Künste und das Handwerk Bezug nimmt. In diesen Bereichen besitzt nämlich jener Autorität, der das Ziel der Tätigkeiten am besten erfasst hat. Aristoteles besitzt 1
Dante Alighieri, Commedia, Inferno IV, 131 (Dante Alighieri, Commedia, con il commento di A. M. Chiavacci Leonardi, Mailand 1991 [Text der kritischen Ausgabe von G. Petrocchi, Mailand 1966-1967]): „vidi ’l maestro di color che sanno.“
Zur philosophischen Bedeutung der Scholastikkritik bei Petrarca
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eine Vorrangstellung unter den Philosophen, weil er das letzte Ziel menschlichen Handelns am besten erkannt hat: „Und weil alle menschlichen Handlungen ein Ziel verlangen, d. h. jenes des menschlichen Lebens, auf das der Mensch hingeordnet ist, insofern er Mensch ist, muss man jenem Lehrer und Künstler, der dieses aufweist und bedenkt, in höchstem Maße glauben und gehorchen. Dieser ist Aristoteles: Also ist er am meisten des Vertrauens und des Gehorsams würdig.“ 2
Die Argumentation Dantes setzt die teleologische Verfasstheit des menschlichen Wesens voraus und behauptet, Aristoteles habe, indem er das Glück als das letzte Ziel des Menschen identifizierte, die beste Lehre vom Menschen entworfen. Die These wird auch noch durch ein historisches Argument erhärtet, das Dante zum Ergebnis führt, Aristoteles habe die Moralphilosophie zu ihrer Vollendung gebracht 3. Das fragliche Kapitel des vierten Traktats in Dantes „Convivio“ enthält zwei gewichtige Thesen: (1) Aristoteles ist der größte aller Philosophen. (2) Er ist der größte aller Philosophen, weil er die praktische Philosophie zur Vollendung gebracht hat. Die erste der beiden Thesen war zur Zeit Dantes weit verbreitet und wurde von nicht wenigen Philosophen und Theologen akzeptiert. Sie hat im Proöm zum Physikkommentar des Averroes die nach meiner Kenntnis ausgeprägteste Formulierung erfahren, wo Averroes erklärt, seit Aristoteles habe man in der Philosophie nichts Entscheidendes mehr entdeckt 4. Die zweite Behauptung ist weniger geläufig. Wenn wir sie analysieren, dann zeigt sich, dass sie aus zwei verschiedenen Thesen besteht: (3a) Die praktische Philosophie ist die Vollendung der Philosophie. (3b) Aristoteles ist der bedeutendste praktische Philosoph. Roger Bacon und Robert Kilwardby 5 könnten als Verfechter der These (3a) genannt werden, aber Dante hat sie in sehr origineller Weise erläutert und 2
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Dante Alighieri, Convivio IV, vi, 7, in: Opere minori, vol. I, 2, ed. C. Vasoli/D. de Robertis, Milano - Napoli 1988, 585-586: „E pero` che tutte l’umane operazioni domandano uno fine, cioe` quello de l’umana vita, al quale l’uomo e` ordinato in quanto elli e` uomo, lo maestro e l’artefice che quello ne dimostra e considera, massimamente obedire e credere si dee.“ Zur Bedeutung des vierten Traktats im Allgemeinen und zur Aristotelesrezeption bei Dante im Besonderen cf. meine Einleitung zur Übersetzung des IV. Traktats: Dante, Das Gastmahl, IV. Buch, Hamburg 2004. In Phys., prologus, Opera omnia, Venedig: apud Junctas 1562-1574, vol. IV, f. 4va/5ra: „Aristoteles, filius Nichomachi, sapientissimus Graecorum […] Nullus eorum qui secuti sunt eum usque ad hoc tempus, quod est mille et quingentorum, nihil addidit, nec invenit in ejus verbis errorem alicuius quantitatis. Et talem virtutem esse in individuo uno miraculosum et extraneum existit; et haec dispositio cum in uno homime reperitur, dignus est esse divinus magis quam humanus.“ Robert Kilwardby O. P., De ortu scientiarum XLIII, § 409, ed. A. G. Judy, Oxford 1976, 142-143: „Hinc igitur satis patet quod omnes activae scientiae ordinantur ad ethicam et ei famulantur, nec non etiam et omnes speculativae et maxime ad moralem. Et ita finis ultimus quodammodo totius philosophiae est ethica moralis et finis omnium finium intentorum in philosophia et partibus eius, et per consequens totius philosophiae, et ita omnis philosophia et omne quod a philosophia intenditur ad beatitudinem ordinatur.“
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interpretiert, in jenem Teil seines philosophischen Traktats, wo er sich umfassend zur Wissenschaftseinteilung äußert. Der italienische Philosoph entwickelt seine Auffassung der verschiedenen philosophischen Disziplinen und ihrer Verhältnisse zueinander mittels eines originellen Vergleichs zwischen dem Weltgebäude und den einzelnen Teilen der Philosophie. Die sieben Planeten stellen die sieben freien Künste dar; der achten Sphäre, also dem Fixsternhimmel, entsprechen Physik und Metaphysik, während die Wissenschaft der Moral mit der höchsten Sphäre zu vergleichen ist. Über ihr befindet sich nur noch das Empyreum, das die Theologie versinnbildlicht. Der Vorrang der Moralphilosophie, die die Ethik, die Ökonomik und die Politik beinhaltet, wird auf folgende Weise begründet: So wie in der kosmischen Ordnung alle Bewegung im Universum vom Ersten Bewegenden verursacht wird, so ist die ganze Philosophie von der praktischen Philosophie abhängig. Die Behauptung, ohne Einfluss des Ersten Beweglichen gäbe es weder Werden noch Vergehen, führt zum Ergebnis: „Und nicht anders wären, würde die Moralphilosophie aufhören, die anderen Wissenschaften eine gewisse Zeit lang verborgen und, es gäbe weder Werden von Glück noch glückliches Leben, und vergebens wären sie niedergeschrieben und im Altertum erfunden worden.“ 6
Die praktische Philosophie nimmt in dieser Hierarchie der Wissenschaften nicht nur den Rang der Ersten Philosophie ein, was im Widerspruch steht zum Primat der theoretischen Philosophie, wie er vom größten Teil der aristotelischen Tradition vertreten wird, sondern der Sinn, die Möglichkeit und die Legitimität des gesamten philosophischen Bemühens wird von diesem besonderen Teil abhängig gemacht. Der eigentliche Sinn des Philosophierens wird erst in der Moral sichtbar. Dass auch die These (3b), die Aristoteles über alle anderen Philosophen erhebt, weil er die Ethik und die Politik verfasst hat, nicht mit der gängigen Auffassung über die Bedeutung der aristotelischen Philosophie übereinstimmt, wird offensichtlich, wenn wir beispielhalber fragen, warum Thomas von Aquino ihn als seinen privilegierten Gesprächspartner eingeschätzt hat. Die thomasische Beurteilung hängt vor allem mit der Methode zusammen. Aristoteles ist anderen Philosophen vorzuziehen, weil er die via motus, d. h. das Vorgehen der Physik, befolgt. Dieser Weg ist nämlich die offensichtlichste und dem menschlichen Verstehen am besten zugängliche Vorgehensweise in der Philosophie. In der „Monarchia“ wird in wenigen Worten zusammengefasst, weshalb Aristoteles der Meister der Wissenden ist und weshalb Dante Aristoteles verehrt, er wird nämlich hier als der preceptor morum bezeichnet 7. 6
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Convivio II, xiv, 18: „E non altrimenti, cessando la Morale Filosofia, l’altre scienze sarebbero celate alcuno tempo, e non sarebbe generazione ne` vita di felicitade, e indarno sarebbero scritte e per antico trovate.“ Cf. dazu den ausführlichen und grundlegenden Kommentar von Th. Ricklin, in: Dante, Das Gastmahl, Buch II, Hamburg 1996, 237-302. Dante, Monarchia III, i, 3, ed. B. Nardi, in: Dante Alighieri, Opere minori, vol. II, Mailand 1979, 434: „ac preceptor morum Phylosophus familiaria destruenda pro veritate suadet.“
Zur philosophischen Bedeutung der Scholastikkritik bei Petrarca
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II. Der Gott Aristoteles In seiner Spätschrift „De sui ipsius et multorum ignorantia“, wo sich Petrarca nach meinem Wissen am ausführlichsten und am ausdrücklichsten mit dem Stagiriten, seiner Philosophie und seinen zeitgenössischen Anhängern auseinandersetzt 8, begegnen wir einer ganz anderen Beurteilung, die nun etwas genauer betrachtet werden muss. Wenn wir versuchen, die sehr zahlreichen Bezugnahmen auf den griechischen Philosophen in diesem außerordentlich wichtigen Text, der im Jahre 1367 in Angriff genommen wurde, systematisch zu ordnen, so ergibt sich ein sehr buntes und reichhaltiges Bild. Petrarca betont in seinem Text ausdrücklich, dass er in seinem Leben viel gelesen habe 9, er habe insbesondere die moralphilosophischen Schriften des Aristoteles eingehend studiert. An seine Adressaten gerichtet, die ihn, wie wir noch sehen werden, der Ignoranz bezichtigen, beteuert Petrarca: „Hören sollen mich, sage ich, alle Aristoteliker, [...] all die, die ganz Italien, Frankreich, das streitsüchtige Paris und die lärmende ,Strohgasse‘ bewohnen: Wenn ich mich nicht täusche, habe ich alle moralischen Schriften des Aristoteles gelesen, über einige habe ich auch Vorträge gehört und glaubte, bevor man meine so große Unwissenheit aufdeckte, etwas davon zu verstehen.“ 10 8
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Francesco Petrarca, De sui ipsius et multorum ignorantia/Über seine und vieler anderer Unwissenheit, übersetzt. v. K. Kubusch, herausgegeben u. eingeleitet v. A. Buck, LateinischDeutsch, Hamburg 1993. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert (unter Angabe der Seiten des deutschen und lateinischen Textes). Sehr empfehlenswert ist ebenfalls: Francisci Petrarce De sui ipsius et multorum ignorantia, Della mia ignoranza e di quella di molti altri, ed. E. Fenzi, Milano 1999. Fenzis Kommentar ist außerordentlich reichhaltig. Auf die in dieser Ausgabe benutzte Paragrapheneinteilung verweise ich in meinen Anmerkungen zusätzlich zu den Seitenangaben der Hamburger Edition. Leider fehlt in der Hamburger Ausgabe diese Paragrapheneinteilung. Es sei auf folgende Auslegungen der Schrift hingewiesen: T. Heydenreich, Petrarcas Bekenntnis zur Ignoranz, in: F. Schalk (ed.), Petrarca, 1304-1374, Beiträge zu Werk und Wirkung, Frankfurt a. M. 1975, 71-92; A. de Libera, Pe´trarque et la romanite´, in: Ch. Menasseyre/A. Tosel (eds.), Figures italiennes de la Renaissance, Paris 1997, 7-35; O. Boulnois, Pre´face: Scolastique et humanismes. Pe´trarque et la croise´e des ignorances, in: De sui ipsius et multorum ignorantia, Mon ignorance et celle de tant d’autres, traduction de J. Bertrand, revue par Ch. Carraud, notes de Ch. Carraud, Grenoble 2000, 5-43. Die Einleitung von A. Buck zur deutschen Übersetzung ist zwar knapp, aber sehr hilfreich und erhellend. Cf. ebenfalls zum Traktat: K. Bergdolt, Arzt, Krankheit und Therapie bei Petrarca. Die Kritik an Medizin und Naturwissenschaft im italienischen Frühhumanismus, Weinheim 1992, 67-76. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 72, 58/59: „Lego, inquam, sed viridioribus annis attentius legebam. Adhuc tamen poetarum et philosophorum libros lego, Ciceronis ante alios, cuius apprime et ingenio et stilo semper ab adolescentia delectatus sum.“ Aufschlussreich ist auch folgender Passus: III, § 46, 38/39: „Raro ulla unquam sano michi dies otiosa preteriit, quin aut legerem, aut scriberem, aut de literis cogitarem, aut legentes audirem, aut tacitos sciscitarer.“ Zur Bibliothek Petrarcas cf. die grundlegenden Untersuchungen von G. Billanovich, Petrarca letterato, I, Lo scrittorio del Petrarca, Rom 1947, sowie vom selben Verfasser die wichtigsten Aufsätze in: Petrarca e il primo umanesimo, Padua 1996. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 143, 104/105: „Audiant aristotelici, inquam, omnes [...], audiant quos Italia omnis, et Gallia et contentiosa Parisius ac strepidulus Straminum vicus habet.
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Der Codex Parisiensis latinus 6458, der aus Petrarcas Besitz stammt, zeugt noch heute davon, dass der italienische Dichter die „Nikomachische Ethik“ in der Übersetzung Grossetestes studiert hat 11. Er ist vom Stil des Aristoteles nicht begeistert, auch wenn er weiß, dass für die schwer zu übersehende Ineleganz vor allem die Übersetzer verantwortlich sind: „Ich muß gestehen, daß mir Aristoteles’ Stil in der Sprache, in der wir ihn lesen, nicht allzu sehr zusagt, auch wenn ich durch griechische Schriftsteller und durch Tullius, bevor man mich der Unwissenheit schuldig sprach, erfahren habe, daß seine Sprache im Original süß, wortreich und schmuckvoll sei. Der Unbeholfenheit oder auch der Missgunst der Übersetzer aber ist es zu verdanken, daß er so hart und ungehobelt auf uns kam, daß er nicht in vollem Maße unsere Ohren zu streicheln und uns im Gedächtnis zu haften vermag.“ 12
Ein wörtliches Zitat 13 sowie zwei resümierende Referate 14 zeugen von dieser Lektüre der „Ethik“. Es scheint mir des Weiteren beachtenswert, dass unser Autor in der Schrift zweimal wörtlich die „Metaphysik“ zitiert und ein drittes Mal nicht ohne eine gewisse Ironie auf eine Metapher des Stagiriten im selben Werke anspielt. Das erste wörtliche Zitat wird im Zusammenhang mit der Beurteilung heidnischer Theologie und ihren Grenzen vorgetragen, es handelt sich um jenen berühmten Schlusssatz des Buches Lambda, wo Aristoteles, wie übrigens Petrarca zu Recht feststellt, die Aussage Homers (Ilias II, 204-205), die Vielherrschaft bringe keinen Segen, theologisch umdeutet 15. Der zweite
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Omnes morales, nisi fallor, Aristotilis libros legi, quosdam etiam audivi, et antequam hec tanta detegeretur ignorantia, intelligere aliquid visus eram.“ Die „rue du Fouarre“ war das Pariser Viertel im Quartier Latin, wo die artistae, d. h. die Professoren der Artistenfakultät, lehrten. Dante nimmt darauf Bezug in Par. X, 137 („vico de li Strami“), in jenem Passus, wo Thomas von Aquino auf Siger von Brabant zu sprechen kommt. Petrarca erwähnt die Straße ebenfalls Rerum Sen. IX, 1. Petrarca besaß die Übersetzung des Robert Grosseteste. Zu den Anmerkungen Petrarcas cf. P. de Nolhac, Pe´trarque et l’humanisme, 2. ed., Paris 1907, vol. II, 150-152. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 141, 102/103: „Equidem fateor me stilo viri illius, qualis est nobis, non admodum delectari, quamvis eum in sermone proprio et dulcem et copiosum et ornatum fuisse, Grecis testibus et Tullio auctore, didicerim, antequam ignorantie sententia condemnarer. Sed interpretum ruditate vel invidia ad nos durus scaberque pervenit, ut nec ad plenum mulcere aures possit, nec herere memorie.“ Cf. auch I, § 15, wo behauptet wird, Aristoteles sei durch seine Übersetzer und Kommentatoren rau und spröde gemacht worden („scaber factus Aristotiles“). De sui ipsius et multorum ignorantia III, § 40, 32/33: „Nisi forte eo iure niti velint, quod istorum deus Aristotiles ait: ,unusquisque bene iudicat que cogonoscit et eorum bonus est iudex‘.“ Es handelt sich um Eth. Nic. I, 3, 1094b27-28. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 63, 50/51: „Et licet multa Ethicorum in principio et in fine de felicitate tractaverit […]“; § 143, 104: „et sepe mecum et quandoque cum aliis questus sum illud rebus non impleri, quod in primo Ethicorum philosophus idem ipse prefatus est, eam scilicet philosophie partem disci, non ut sciamus, sed ut boni fiamus.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 70, 56/57: „Sed ad Aristotilem revertamur, cuius splendore lippos atque informos perstringere oculos multi iam erroris in foveas lapsi sunt. Scio eum unitatem principatus posuisse, quam iam ante posuerat Homerus; sic enim ait, quantum nobis in latinum soluta oratione translatum est: ,Non bonum multidominium: unus dominus sit, unus imperator.‘ Iste autem:
Zur philosophischen Bedeutung der Scholastikkritik bei Petrarca
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Hinweis ist dem Buch Alpha entnommen, wo Aristoteles bemerkt, es sei ein Kennzeichen des Wissenden, dass er zu lehren fähig ist 16. Auf den berühmten Vergleich begrenzter menschlicher Erkenntnisfähigkeit mit dem Nachtvogel spielt Petrarca ebenfalls an, indem er allerdings die Unfähigkeit der noctua, der Nachteule, mit der Unfähigkeit des Aristoteles selbst in Verbindung bringt 17. Ich möchte an dieser Stelle noch auf einen vierten interessanten Passus hinweisen. Petrarca zitiert in extenso das bei Cicero überlieferte Fragment (De nat. deorum II, 95), das wir als die aristotelische Version des Höhlengleichnisses bezeichnen können, in der eine eindrückliche Form des kosmologischen Gottesbeweises enthalten ist 18. Petrarcas Diktion wird polemisch, wenn er bemerkt, gewisse Zeitgenossen verehrten den Philosophen wie einen Gott: „istorum deus Aristotiles“ 19. Er meint sogar, er werde der Unwissenheit angeklagt, weil er Aristoteles nicht wie einen Gott verehre: „Wenn auch die wirkliche Wurzel für ihren Neid woanders liegt, schützen sie doch als Grund vor, daß ich Aristoteles nicht anbete.“ 20 Solche Abgötterei lehnt Petrarca zunächst aus religiösen Gründen ab, denn es gibt nur einen Gott. In einem Gebet, das in den Text eingefügt ist, wendet sich Petrarca direkt an ihn: „Du aber, mein Gott, Herr der Wissenschaften, neben dem es keinen anderen Gott gibt, den ich Aristoteles, allen Philosophen und Dichtern und allen, die in ihrer Prahlsucht unaufhörlich pathetische Reden führen, den ich den Wissenschaften und
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,Pluralitas principatuum non bona, unus ergo princeps.‘ “ Das Zitat aus Aristoteles bezieht sich auf Metaph. XII, 10, 1076a4. Zu der von Petrarca benutzten Homerübersetzung cf. A. Pertusi, Leonzio Pilato fra Petrarca et Boccaccio, Venedig - Rom 1964, 389-390. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 123, 92/93: „Ita verum fit, quod his dilectus nec intellectus Aristotiles ait in primo Metaphisice: ,scientis signum posse docere.‘ “ Das Zitat stammt aus Metaph. I, 1, 981b7. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 64, 52/53. Dieser Text wird zitiert in nt. 25. Aristoteles erwähnt den berühmten Vergleich Metaph. II, 1, 993b8-10. Cf. dazu die überaus aufschlussreiche Studie von C. Steel, Der Adler und die Nachteule, Thomas von Aquin und Albert über die Möglichkeit der Metaphysik (Lectio Albertina 4), Münster 2001. Cf. dazu De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 86, 68/69. Es handelt sich um Fragment 13 aus „De philosophia“: W. D. Ross, Fragmenta selecta, Oxford 1955, 81-83. In seinem Kommentar weist E. Fenzi (458, nt. 458) noch auf eine andere Stelle aus der „Metaphysik“ hin, die Petrarca indirekt zitiert, nämlich wo er im § 145 die Philosophie des Sokrates im Anschluss an Metaph. I, 6, 987b1-2 charakterisiert: „circa moralia negotiantem“. De sui ipsius et multorum ignorantia III, § 40, 32/33. Der gleiche Ausdruck kommt ebenfalls IV, § 175, 126/127, vor („deum suum Aristotilem“). Einige Hinweise zur Aristotelesverehrung und -kritik im Mittelalter finden sich in: R. Imbach, Aristoteles in der Hölle. Eine anonyme Questio ,utrum Aristoteles sit salvatus‘ im Cod. Vat. lat. 1012 (127ra-127va) zum Jenseitsschicksal des Stagiriten, in: Peregrina curiositas, eine Reise durch den Orbis antiquus zu Ehren von D. van Damme, ed. A. Kessler/Th. Ricklin/G. Wurst, Freiburg - Göttingen 1994, 297318, sowie in der Einleitung zu: Dante, Das Gastmahl (nt. 3). De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 137, 100/101: „Hinc laceror, et quamvis alia sit invidie radix, hec tamen causa pretenditur: quod Aristotilem non adoro.“ Der Ausdruck „Aristotelem adorantes“ kommt auch im § 115, 86/87, vor.
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Lehren und überhaupt allen Dingen vorziehen muß und will, du allein vermagst mir den wahren Titel eines ,guten Mannes‘ [...] zu verleihen.“ 21
In philosophischer Hinsicht verdient indes eine andere Argumentation Beachtung: „Ich hingegen glaube, daß Aristoteles zwar ein bedeutender und in vielem gelehrter Mann gewesen ist, aber doch nur ein Mensch und deswegen manches, ja sogar vieles nicht hat wissen können. Mehr noch möchte ich sagen, wenn sie, weniger Freunde der Wahrheit als vielmehr Anhänger philosophischer Schulen, es mir gestatteten: Ich glaube, bei Gott, und zweifele nicht daran, daß Aristoteles nicht nur, was Dinge von geringerer Bedeutung angeht, wo ein Irrtum weniger Gewicht hat und keineswegs gefährlich ist, sondern auch bei sehr wichtigen, unsere Existenz betreffenden Fragen auf der ganzen Linie - wie man sagt - in die Irre gegangen ist.“ 22
Wir können in diesem Argument zwei Aspekte unterscheiden. Zum einen enthält es eine prinzipielle Aussage zur Endlichkeit des menschlichen Wissens und zum anderen eine Behauptung, die unterstreicht, dass Aristoteles sich in mehreren wichtigen Fragen schwer geirrt hat. Diese beiden Aspekte sind schließlich noch durch eine dritte Dimension zu ergänzen: Aristoteles war ein Heide und konnte als solcher die wesentlichen Inhalte des christlichen Glaubens nicht kennen. Aus methodischen Gründen ist es angebracht, die drei Aspekte (inhaltliche Irrtümer des Aristoteles, sein Heidentum und die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis) getrennt zu betrachten. Was die materiellen Irrtümer des Aristoteles angeht, die im Traktat ausführlich erörtert und z. T. widerlegt werden, möchte ich zunächst vor allem die Ewigkeit der Welt hervorheben 23. Diese These ist zwar in besonderem Maße verdammenswert 24, aber sie wird von fast allen Philosophen vertreten und kann daher nicht allein Aristoteles angelastet werden. Viel aufschlussreicher, 21
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De sui ipsius et multorum ignorantia II, § 35, 30/31: „At tu, Deus meus, scientiarum domine, extra quem non est alius, quem et Aristotili et philosophis quibuslibet ac poetis, et quicunque multiplicant loqui sublimia gloriantes, quem denique literis ac doctrinis et omnino rebus omnibus preferre debeo et volo, tu michi quod illi falsum tribuunt viri boni nomen, tribuere verum potes, et ut velis precor.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 63, 50/51: „Ego vero magnum quendam virum ac multiscium Aristotilem, sed fuisse hominem, et idcirco aliqua, imo et multa nescire potuisse arbitror; plus dicam, si per istos liceat non tam veri amicos quam sectarum: credo hercle, nec dubito, illum non in rebus tantum parvis, quarum parvus et minime periculosus est error, sed in maximis et spectantibus ad salutis summam aberasse tota, ut aiunt, via.“ Zu diesem Topos cf. den anregenden und materialreichen Aufsatz von L. Bianchi, ,Aristotele fu un homo e pote´ errare‘: sulle origini medievali della critica al ,principio di autorita`‘, in: Filosofia e teologia nel Trecento, Studi in ricordo di Eugenio Randi, ed. L. Bianchi, Louvain-la-Neuve 1994, 509-533. Cf. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 114, 86/87, wo die Unbegrenztheit, die Vielheit der Welten und die Ewigkeit genannt werden: „Quid de aliis dicam, qui non mundorum innumerabilitatem infinitatemque locorum, ut hi proximi, sed mundi huius eternitatem astruunt? In quam sententiam, preter Platonem ac platonicos, philosophi fere omnes, et cum illis mei quoque iudices, ut philosophi potius quam cristiani videantur, inclinant.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 127, 94/95: „Cuius illud supra positum inter multa damnabile, quod coeternum Deo mundum volunt.“
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besonders im Hinblick auf unseren Ausgangspunkt und Dante, ist dagegen die Anklage, Aristoteles habe sich hinsichtlich der Auffassung des Glücks geirrt. Der Meinung einiger Zeitgenossen, die behaupten, es sei unmöglich etwas Treffenderes als Aristoteles über das Glück zu schreiben, widerspricht Petrarca entschieden: „Mir aber scheint es, daß er das Glück - vielleicht ist es kühn, dies zu sagen, aber es entspricht, wenn ich mich nicht täusche, der Wahrheit - so wie die Nachteule die Sonne, d. h. sein strahlendes Licht, nicht aber das Glück selbst gesehen hat; hat er ja das Glück wie ein hohes Gebäude nicht auf dessen eigenem Grund und Boden und nicht auf festem Fundament, sondern fernab in Feindesland auf schwankendem Untergrund errichtet, die Voraussetzungen des Glücks aber, ohne die es überhaupt nicht bestehen kann, nicht erkannt oder, wenn er sie erkannt hat, unbeachtet gelassen - den Glauben meine ich und die Unsterblichkeit.“ 25
Die in diesem Passus enthaltene Behauptung, Aristoteles habe die wahre Natur der Glückseligkeit nicht erkannt, ist zwar nicht originell und wurde von einer ganzen Reihe von Theologen des Mittelalters verteidigt, sie ist jedoch signifikant, wenn wir sie mit den Aussagen Dantes vergleichen und im Zusammenhang mit dem Philosophieverständnis Petrarcas beurteilen. So besehen ist die Anklage besonders schwerwiegend. Die Aristoteles entlehnte und gegen ihn gewendete Metapher des Nachtvogels verleiht dem Argument noch besonderes Gewicht.
III. Die fromme Alte, die Fischer, Hir ten, Bauer n und die Philosophen Weil Aristoteles ein Heide war, d. h. weil er vor dem Christentum gelebt hat, konnte er die entscheidenden Fragen menschlichen Daseins nur unzureichend beantworten. Diese These spielt in der Argumentation Petrarcas eine entscheidende Rolle, wie sich anhand einer ganzen Reihe aufschlussreicher Textstellen belegen lässt. Er kombiniert in diesem Zusammenhang drei verschiedene Motive: Zum ersten erinnert sich Petrarca an jene biblischen Stellen, wo gesagt wird, Gott teile sich den Kleinen und Bescheidenen mit 26; diesen mit der Idee der geistigen Armut verknüpften Gedanken verbindet er des Weiteren mit dem in den theologischen Diskussionen des XIV. Jahrhunderts, namentlich bei 25
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De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 64, 52/53: „Cum michi tamen - audacter forsan hoc dixerim, sed, ni fallor, vere - ut solem noctua, sic ille felicitatem, hoc est lucem eius ac radios, sed non ipsam vidisse videatur; nempe qui illam non suis in finibus nec solidis in rebus edificium velut excelsum procul in hostico tremulaque in sede fundaverit, illa vero non intellexerit, sive intellecta neglexerit, sine quibus prorsus esse felicitas non potest fidem scilicet atque immortalitatem“. Cf. insbesondere Mt 11,25: „Confiteor tibi, Pater Domine caeli et terrae, quia abscondisti haec a sapientibus et prudentibus et revelasti ea parvulis.“ Cf. auch Lk 6,20 und 11,21.
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Johannes Buridan, verwendeten Beispiel der vetula, die dem gelehrten Theologen gegenübergestellt wird 27; vielleicht hatte Petrarca ebenfalls einige Stellen aus den Briefen Senecas vor Augen, in denen der römische Philosoph ohne Umschweife erklärt, die Philosophie und die Weisheit sei Sache aller Menschen 28. Und schließlich ist es nicht auszuschließen, dass die Berufung auf einfache Illiteraten, die mehr an Weisheit besitzen als die Gelehrten, polemisch auf den Hochmut jener Art von Professoren gemünzt ist, die in der Pariser Verurteilung von 1277 gemeint sind, wenn wir dort lesen: „Quod sapientes mundi sunt philosophi tantum“ 29 . Mit Franziskus von Assisi, der sich selbst so bezeichnete, lobt Petrarca deshalb den ydiota 30: 27
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Cf. zu diesem Aspekt J. Agrimi/C. Crisciani, Medici e ,vetulae‘ dal Duecento al Quattrocento: problemi di una ricerca, in: P. Rossi e. a. (eds.), Cultura popolare e cultura dotta nel Seicento, Mailand 1983, 144-159; L. Bianchi/E. Randi (eds.), Ve´rite´s dissonantes, Aristote a` la fin du Moyen Age, Fribourg 1993, 123-129. Zu diesem Punkt cf. die interessanten nt. 145 und 251 in der Ausgabe von Fenzi, 371-372 und 395-397. Ad Luc. XLIV,1-5, in: Philosophische Schriften, Lateinisch-Deutsch, IV. Band, lateinischer Text v. F. Pre´chac, ed. M. Rosenbach, Darmstadt 1995, 342: „[...] Si quid est aliud in philosophia boni, hoc est, quod stemma non inspicit: omnes, si ad originem primam reuocantur, a dis sunt. […] Bona mens omnibus patet, omnes ad hoc sumus nobiles. Nec reicit quemquam philosophia nec eligit: omnibus lucet […] Quis est generosus? Ad virtutem bene a natura compositus. Hoc unum intuendum est […] Animus facit nobilem, cui ex quacumque condicione supra fortunam licet surgere.“ Es handelt sich um den Artikel 154, cf. D. Piche´, La condamnation parisienne de 1277, nouvelle e´dition du texte latin, traduction, introduction et commentaire, Paris 1999, 126. Vergleichbar auch Art. 40 (Piche´, 92): „Quod non est excellentior status quam uacare philosophie.“ Zur Deutung dieser Artikel cf. vor allem L. Bianchi, Il vescovo e i filosofi, La condanna parigiana del 1277 e l’evoluzione dell’aristotelismo scolastico, Bergamo 1990, 46, 48, 164165, 167-168, 176, 189, 195, Bianchi/Randi, Ve´rite´s dissonantes (nt. 27), 25-37. O. Boulnois hat ebenfalls auf eine mögliche Beziehung zwischen der Verurteilung von 1277 und der Invektive hingewiesen, allerdings kann ich seiner Schlussfolgerung nicht zustimmen, wenn er sagt: „C’est donc le point de vue du censeur (scolastique) que Pe´trarque e´pouse“ (Pre´face [nt. 8], 15). Er geht sogar noch weiter: „Pe´trarque ne pre´tend donc pas modifier le statut de la foi et de la raison. Il admet d’emble´e le primat de la foi et critique les pre´tentions de la raison a` atteindre les ve´rite´s transcendantes. Et s’il s’engage jusqu’a` rejeter certaines the`ses philosophiques, c’est moins a` partir d’arguments the´ologiques que parce qu’il e´pouse le point de vue des institutions e´ccle´siastiques (la condamnation de 1277 notamment).“ Dass Petrarca wie die Pariser Zensoren ein bestimmtes Verständnis der Selbständigkeit und der Autosuffizienz der Philosophie kritisiert, ist zweifellos richtig. Die Zielscheibe seiner Kritik ist tatsächlich dieselbe wie jene der kirchlichen Zensoren. Aber die Motive, die Grundlagen und das Ziel der auf den ersten Blick identischen Kritik sind m. E. grundlegend verschieden. Petrarca kritisiert eine bestimmte Art der Philosophie im Namen einer anderen Konzeption des Philosophierens, die allerdings das Verhältnis von Glaube und Vernunft weder wie die radikalen Aristoteliker von Paris noch wie scholastische Theologen (z. B. Thomas oder Scotus) bestimmt. Zum Begriff ydiota in der Philosophiegeschichte und bei Franziskus cf. R. Imbach, Laien in der Philosophie des Mittelalters, Amsterdam 1989, 20, nt. 28. Im Traktat Petrarcas kommt der Ausdruck viermal vor: Im § 16, 16/17, wird der Ausdruck parallel zu illiteratus gebraucht: „Eundem tamen illiteratum prorsus et ydiotam ferunt“; ebenfalls auf sich selbst bezogen ist § 52, 42/43, wenn Petrarca sagt: „Sic res eunt: huc et studia, et labores nostri, nostreque vigilie pervenere, ut qui iuvenis doctus a quibusdam dici soleo, profundiore iudicio senex ydiota reperiar.“ Dagegen unterstellt
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„Viel glücklicher ist einer von den Unbedeutenden, die an dich glauben, als Platon, Aristoteles, als Varro und Cicero, die bei all ihren Wissenschaften dich nicht kennen; und ihre Richter gehen zugrunde, konfrontiert mit dir, der du der Fels bist, und offenbar wird ihre gebildete Unwissenheit.“ 31
Wiewohl die Philosophen viel vom Glück reden, darf daran gezweifelt werden, ob es mit Hilfe der Philosophie gefunden werden kann: „Und mag er [Aristoteles] auch am Anfang und Ende seiner ,Ethik‘ ausführlich über das Glück gehandelt haben, so hat er doch - ich wage es auszusprechen; sollen meine Richter nur aufschreien, wie sie wollen! - das wahre Glück so völlig verkannt, daß ein jedes fromme alte Weiblein, ein gläubiger Fischer, Hirte oder Bauer vielleicht nicht so scharfsinnig erkannt hat, was Glücklichsein bedeutet, das Glück selbst aber um so mehr erfahren hat.“ 32
Der italienische Philosoph, in dessen Urteil in der Erkenntnis Gottes die höchste Philosophie besteht 33, anerkennt durchaus, dass die heidnischen Philosophen das Prinzip des Monotheismus erfasst haben, aber ihre Gotteserkenntnis ist armselig, sehr lückenhaft und unzulänglich. Dies bestätigt der folgende Satz, der sich direkt auf das 12. Buch der „Metaphysik“ und die darin enthaltene Theologie bezieht: „Wer aber dieser Herrscher ist, wie bedeutend und mächtig, das hat er, glaube ich, nicht gewußt, und wenn er auch viele unbedeutende Dinge so pedantisch erforscht hat, hat er doch dies Eine, so Wichtige nicht erkannt, das viele andere, ohne gebildet zu sein, erfaßt haben.“ 34
Plato war nicht weniger Heide als Aristoteles, aber trotzdem wird im Traktat der Vorrang Platos vor Aristoteles ausführlich behandelt und ebenso ausführlich begründet. Der Autor kann sich dabei auf die Autorität Augustins berufen 35 und zögert nicht zu behaupten: „A maioribus Plato, Aristoteles laudatur a
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der § 120, 90/91, dass die Gegner Petrarcas Christus mit diesem Ausdruck bezeichnen: „Quomodo enim cristianus homo literatus videretur his, qui ydiotam Cristum, magistrum et dominum nostrum dicunt.“ Ganz anders wird der Ausdruck schließlich im § 207, 148/149 eingesetzt. An dieser Stelle bezeichnet nämlich Petrarca seine Gegner als geschwätzige Narren: garrulos ydiotas. De sui ipsius et multorum ignorantia II, § 36, 30/31: „Feliciorque est multo unus ex pusillis istis qui in te credunt, quam Plato, quam Aristotiles, quam Varro, quam Cicero, qui suis omnibus cum literis te non norunt, et admoti iunctique tibi, qui petra es, absorpti sunt iudices eorum, et literata ignorantia patefacta est.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 63, 52/53: „Et licet multa Ethicorum in principio et in fine de felicitate tractaverit, audebo dicere - clament ut libuerit censores mei - veram illum felicitatem sic penitus ignorasse, ut in eius cognitione, non dico subtilior, sed felicior fuerit vel quelibet anus pia, vel piscator pastorve fidelis, vel agricola.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 76, 62/63: „Nempe Deum nosse, non deos, ea demum vera et summa philosophia est.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 71, 58/59: „Quis hic princeps, qualisve, et quantus, nescisse eum, et qui multa de minimis curiose admodum disputasset, unum hoc et maximum non vidisse crediderim, quod viderunt multi literarum nescii, videntque luce non altera, verum aliter illustrante.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 163, 118/119: „In divinis altius ascendit Plato ac platonici, quanquam neuter perveniri potuerit quo tendebat. Sed, ut dixi, propius venit Plato, de quo nullus
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pluribus.“ 36 Dieser Rang steht Plato vor allem deshalb zu, weil er in religiösen Fragen dem Christentum näher steht als der Stagirite. Diese Stellungnahme zugunsten Platos ist historisch gewiss so folgenreich wie jenes Lob Ciceros, das wiederum theologische Aspekte betont. Während Petrarca die Theologie des Aristoteles rügt, findet er für jene Ciceros anerkennende Worte. Er werde in seinem Alterswerk „De natura deorum“ auf solche Höhen getragen, „daß man bisweilen den Eindruck gewinnt, es rede nicht ein heidnischer Philosoph, sondern ein Apostel“ 37. Das gilt vor allem von jenen Seiten, in denen Cicero das Verhältnis des Gottes zur Welt erörtert und ihn als Schöpfer bezeichnet: „Du siehst, daß er [Cicero] überall den einen Gott nicht nur nach philosophischem, sondern geradezu nach katholischem Verständnis zum Schöpfer und Lenker aller Dinge erklärt.“ 38
Trotz dieser bewundernswerten Leistungen eines Cicero 39, den Petrarca gerne zum Christen machen würde, wenn es möglich wäre 40, fehlt allen noch so vollendeten Werken der Heiden das einzig Notwendige, und deswegen kann man sagen, sie vermischten Honig mit Gift 41: Ohne den Glauben kann niemand wahrhaft weise und tugendhaft werden 42, denn „die Kenntnis des wahren Glaubens *ist+ das von allem höchste, sicherste und auch segensreichste Wissen [...]. Ohne dieses Wissen führen alle Wissenschaften auf Abwege, kennen kein anderes Ziel, als uns zugrunde zu richten, und sind in Wahrheit
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cristianorum et in primis Augustini librorum fidelis lector hesitaverit.“ Es ist bemerkenswert, was Petrarca in seinem Handexemplar des „Timaeus“ (Cod. Par. 6280, f. 7) am Rande vermerkt: „Felix miser, qui hec sciens unde ista nescisti“ (nach de Nolhac, Pe´trarque et l’humanisme [nt. 11], II, 142). Cf. auch S. Gentile, Le postille del Petrarca al ,Timeo‘ latino, in: Quaderni petrarcheschi IX-X (1992-1993) [erschienen 1996], 129-139. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 163, 118/119. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 76, 62/63: „Idem [Cicero] quoque iam senior, his ipsis in libris, quos de diis non de deo scribit, ubi sese colligit, quantis ingenii alis attollitur, ut interdum non paganum philosophum, sed apostolum loqui putes.“ Cf. ebenfalls § 90, 70/71: „Audis, amice, quod predixeram, non quasi philosophum loquentem, sed apostolum.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 84, 66/67: „Vides ut ubique unum deum gubernatorem ac factorem rerum omnium non philosophica tantum, sed quasi catholica circumlocutione describit.“ Cicero hat die wunderbare Ordnung der Wirklichkeit in ihrem Bezug zu Gott derart angemessen beschrieben, dass Petrarca sich fragt: „ut nesciam, an scriptorum aliquis tam anxie unquam tamque acriter ista tractaverit“ (IV, § 94, 74/75). Zum Verhältnis Petrarcas zu Cicero cf. G. Billanovich, Petrarca e Cicerone, in: Petrarca e il primo umanesimo (nt. 9), 97-116. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 96, 74/75: „Quid nunc igitur? Ciceronemne ideo catholicis inseram? Vellem posse.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 109, 82/83: „Scripserunt multi multa subtiliter, quidam etiam graviter, dulciter, eloquenter; sed in his, quasi venenum in melle, miscuerunt quedam falsa, periculosa, ridicula, de quibus nunc agere longum nimis et impertinens.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, 147, 106/107: „Que licet preter Cristi doctrinam atque auxilium omnino fieri non posse non sim nescius, neque sapientem neque virtuosum neque bonum aliquem evadere, nisi largo haustu, non de fabuloso illo Pegaseo, qui est inter convexa Parnasi, sed de vero illo et unico et habente in celo scatebras fonte potaverit aque salientis in vitam eternam; quam qui gustat, amplius non sitit.“
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keine Wissenschaften, sondern irrige Meinungen.“ 43 Diese klaren Stellungnahmen zur Priorität des Glaubens werden durch ein eigentliches Bekenntnis bestätigt. In einer historisch folgenreichen Formulierung bekennt Petrarca, er sei Ciceronianus, also ein überzeugter Bewunderer des römischen Denkers, aber er korrigiert sich sofort: „Wenn man aber über religiöse Fragen und damit über die höchste Wahrheit, das wahre Glück und über das ewige Heil nachzudenken oder zu sprechen hat, dann bin ich gewiß kein Ciceronianer oder Platoniker, sondern ein Christ.“ 44
Zweifelsohne kann dieses Bekenntnis verschiedenartig gedeutet werden, unbestreitbar und eindeutig ist seine strategische Stellung im Gedankengang der Schrift. Es wird als letzte Stütze, als tragender Pfeiler der breit angelegten Selbstverteidigung, als die der Traktat zu lesen ist, präsentiert. IV. Kritik einer verkehr ten Philosophie Im Traktat, von dem hier die Rede ist, verteidigt sich Petrarca selber gegen die Angriffe von vier venezianischen Freunden, die ihm vorwerfen: „Als guten, ja als vollkommenen Menschen bezeichnen sie mich. Wär’ ich doch im Urteil Gottes nicht schlecht, nicht am schlechtesten! Denselben nennen sie andererseits einen gänzlich ungebildeten und unwissenden Mann.“ 45
Kurz und gut, das Urteil seiner Richter lautet, er sei ein guter Mensch ohne Bildung („me sine literis virum bonum“). Die vier Ankläger, deren Namen im 43
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De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 180-181, 130/131: „[…] vere autem fidei notitia et altissima et certissima et postremo felicissima sit scientiarum omnium! Qua deserta, relique omnes non vie, sed devia, non termini, sed ruine, non scientie, sed errores sunt.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 173, 124/125: „At ubi de religione, id est de summa veritate et de vera felicitate deque eterna salute cogitandum incidit aut loquendum, non ciceronianus certe nec platonicus, sed cristianus sum.“ Diese Passage muss verglichen werden mit Rerum familiarum VI, 2, 1-2 (Pe´trarque, Lettres familie`res, t. II, livres IV-VII, notices et notes de U. Dotti, traduction de A. Longpre´, Paris 2002, 132): „[…] ex opinionibus quedam placent, alie autem minime; non etenim sectas amo, sed verum. Itaque nunc perypateticus, nunc stoicus sum, interdum achademicus; sepe autem nichil horum, quotiens quicquam occurrit apud eos, quod vere ac beatifice fidei adversum suspectumve sit. Ita enim philosophorum sectas amare et approbare permittimur, si a veritate non abhorrent, si nos a nostro principali proposito non avertunt; quod ubi forte tentaverint, seu ille sit Platon seu Aristotiles seu Varro seu Cicero, libera contumacia contemnantur omnes atque calcentur. Nulla disputationum argutia, nulla verborum lenitas, nulla omnium nos tangat autoritas: homines fuerunt, quantum humana inquisitione fieri potuit et notitia rerum docti et eloquio clari et naturali ingenio felices, sed supremi et ineffabilis obiecti privatione miserabiles et, ut qui viribus suis fiderent veramque lucem non requirerent, cecorum in morem sepe lapsi, sepe ad lapidem offendentes. [...] Vera quidem Dei sapientia Cristus est; ut vere philosophemur, Ille nobis in primis amandus atque colendus est. Sic simus omnia, quod ante omnia cristiani simus; sic philosophica, sic poetica, sic historias legamus, ut semper ad aurem cordis Evangelium Cristi sonet.“ De sui ipsius et multorum ignorantia II, § 16, 16/17: „Virum bonum, imo optimum dicunt, qui o utinam non malus utinamque non pessimus, in iudicio Dei sim! Eundem tamen illiteratum prorsus et ydiotam ferunt.“
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Text selber nicht genannt werden, können identifiziert werden 46 und es ist seit den Arbeiten von P. O. Kristeller auch klar, dass die Zielscheibe des von Petrarca unternommenen Gegenangriffs wohl nicht der Averroismus von Padua, sondern eher die aristotelische Schulphilosophie von Bologna ist. Nach meiner Meinung ist die Schrift jedoch weniger als die Antwort auf eine tatsächliche historische Offensive und als Invektive gegen eine präzise historisch identifizierbare Gestalt der Philosophie zu lesen, sondern vielmehr als der Versuch Petrarcas, sein eigenes, genuines Verständnis der Philosophie in einer möglichst nachhaltigen und eindrücklichen literarischen Form zum Ausdruck zu bringen 47. Petrarca ist ein Meister autobiographischer Fiktionen, histori46
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Es handelt sich um Leonardo Dandolo, Tommaso Talenti, Zaccaria Contarini und Guido Bagnolo. Cf. dazu: P. O. Kristeller, Petrarch’s ,Averroists‘: A Note in the History of Aristotelism in Venice, Padua, and Bologna, in: id., Studies in Renaissance Thought and Letters, vol. II, Rom 1985, 209-216; id., Il Petrarca, l’Umanesimo e la Scolastica a Venezia, in: ibid., 217-238. Ein so gearteter Interpretationsversuch steht also in schroffem Gegensatz zu Deutungen, die der großartigen Schrift Petrarcas sowohl einen philosophischen Anspruch als auch eine wahre philosophische Bedeutung absprechen. A. de Libera behauptet beispielsweise (Pe´trarque et la romanite´ [nt. 8], 7): „Le poe`te du Canzoniere n’est ni un the´oricien de la raison ni un philosophe de l’histoire, et son œuvre est, a` l’image de sa vie, si extraordinairement tisse´e de contradictions, qu’on ne peut espe´rer en elle de quoi reconstruire un type de discours - le discours philosophique - qu’elle ne veut ni ne peut d’elle-meˆme construire.“ Ganz ähnlich, aber noch dezidierter urteilt O. Boulnois (Pre´face [nt. 8], 36): „Il ne faudrait pas faire de Pe´trarque le philosophe qu’il n’a jamais pe´tendu eˆtre - car ce n’est pas le grandir que de lui preˆter une grandeur qu’il n’a pas revendique´e - mais de voir en lui exactement ce qu’il pre´tendait eˆtre: non un savant ni un philosophe, mais un honneˆte homme et un e´crivain.“ Damit stimmt auch die Behauptung überein, Petrarca sei vor allem ein Rhetor gewesen (ibid., 25). Derartige Behauptungen sind nach meiner Einschätzung aus zwei Gründen unhaltbar und verfehlen sowohl die Selbsteinschätzung Petrarcas wie auch seine philosophische Bedeutung. (1) Petrarca hat seine Invektive durchaus als ein philosophisches Werk verstanden und sein Schaffen als Philosophie gedeutet. (2) Wer von einem Denker sagt, er sei kein Philosoph, unterstellt bei einer solchen Behauptung ein bestimmtes, präzises Verständnis der Philosophie, das als normativ betrachtet wird. Das ist an sich durchaus vertretbar, aber ein solches Vorgehen ist legitimationsbedürftig im Bereich der Philosophiegeschichte, die nicht zu beurteilen hat, was an sich unter Philosophie zu verstehen ist, sondern die zu untersuchen hat, was im Laufe der Geschichte als Philosophie aufgefasst worden ist oder den Anspruch erhoben hat, Philosophie zu sein. Aber was hier auf dem Spiel steht, ist noch viel grundlegender. Es geht um die Legitimität und die Existenz verschiedener Konzeptionen der Philosophie in der europäischen Geistesgeschichte. Pierre Hadot hat mit seinem Lebenswerk für eine Konzeption der Philosophie und deren Bedeutung plädiert, nach der Philosophie nicht nur einen theoretischen Habitus und einen Modus des Argumentierens beinhaltet, sondern eine intellektuelle Haltung und eine Lebensweise umfasst (cf. dazu vor allem: Exercices spirituelles et philosophie antique, 2. ed., Paris 1987; La philosophie comme manie`re de vivre, Entretiens avec J. Carlier et A. Davidson, Paris 2001). Petrarcas Traktat ist eine Apologie einer von der Scholastik verschiedenen Auffassung der Philosophie, ihres Wesens und ihrer Funktion. Man kann selbstverständlich diese andere Deutung der Philosophie ablehnen, aber diese Ablehnung ist begründungsbedürftig, es muss insonderheit nachgewiesen werden, warum diese Weise des Denkens den ehrwürdigen Namen der Philosophie nicht verdient. Es genügt nicht zu behaupten, Petrarca sei ein Rhetor. Boulnois formuliert das Problem bereits angemessener, wenn er festhält (ibid., 31): „L’acception de la philosophie repose sur une immense me´tonymie: Pe´trar-
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scher Konstruktionen, wie sowohl die Gestalt Lauras als auch die Besteigung des Mont Ventoux auf eindrucksvolle Weise bestätigen 48. Der gesamte Traktat, von dem hier die Rede ist, basiert auf dem Gegensatz von vir bonus und (homo) literatus. Eben dieser Gegensatz steht in Zentrum eines bedeutsamen Passus im LXXXVIII. Brief Senecas an Lucilius, den Petrarca zitiert: „Ich denke dabei an jenes Wort Senecas: ,Unter großem Zeitaufwand und unter großer Belästigung für fremde Ohren erfolgt dies Lob: Ein gebildeter Mann!‘ Seien wir doch mit der schlichteren Bezeichnung zufrieden: ,Ein guter Mann‘!“ 49
Es kann nicht zufällig sein, dass Petrarca im Anschluss an diese Stelle Seneca jenen Ehrentitel verleiht, den Dante Aristoteles zusprach: preceptor morum 50. Bezeichnenderweise fügt er hinzu, er sei mit dieser ihm von seinen Richtern zugedachten Bezeichnung: vir bonus, die zwar schlichter sei, aber besser, heiliger und edler zufrieden und akzeptiere das Verdikt. Für die Konzeption von Petrarcas Apologie und der von ihm praktizierten Art des Philosophierens ist indes noch eine andere literarische Quelle von großem Belang, auf die er ebenfalls selber hinweist: „So trifft auf mich völlig zu, was Augustin über seinen Ambrosius sagt: ,Zu lieben begann ich ihn, nicht wie einen Lehrer der Wahrheit, sondern wie einen mir gegen-
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que identifie la philosophie avec une ,partie de la philosophie‘: l’e´thique.“ Das ist eben der springende Punkt. Diese Reduktion (ich würde es vorziehen von einer Konzentration zu sprechen) ist der Kern seines ganzen philosophischen Reformbemühens. Cf. G. Billanovich, Petrarca e il Ventoso, in: id., Petrarca e il primo umanesimo (nt. 9), 168184. Petrarca kleidet das, was er zu sagen hat, in autobiographische Erzählungen, um dem Intendierten für den Leser, aber in einem gewissen Sinne auch für den Erzähler selbst, größere Intensität, Bedeutung und Überzeugungskraft zu verleihen. Wie Augustin in seinen „Confessiones“ konstruiert Petrarca in verschiedenen seiner Schriften, in manchen Punkten Augustin nachahmend, eine ideale Biographie, der eine philosophische Geltung zukommt. Im Gegensatz zu Augustins Entwurf in den „Confessiones“ ist allerdings die „konstruierte“ Autobiographie Petrarcas nicht teleologisch abgerundet und in einer endgültigen Bekehrung aufgehoben, vielmehr besteht die Exemplarität im Falle Petrarcas darin, dass er die Widersprüche, die die unaufhebbaren Schwierigkeiten und letztlich das Scheitern menschlichen Mühens verursachen, dargestellt und literarisch-philosophisch gedeutet hat. Weil die Philosophie für ihn nur dann ein sinnvolles Unternehmen ist, wenn sie in direktem Zusammenhang steht mit dem Leben des Philosophierenden, bedurfte es der autobiographischen Szenerie. Ob ihr letztlich präzise historische Ereignisse entsprechen, ist m. E. von geringer Bedeutung. Ob Petrarca tatsächlich mit seinem Bruder den Mont Ventoux bestiegen hat oder nicht, ist weniger wichtig, als was er mit dieser Bekehrungsgeschichte seinen Lesern vermitteln will. Etwas Ähnliches gilt auch für die Invektive. Die Auseinandersetzung mit den vier Freunden ist bestenfalls ein Anlass, nicht für eine Selbstverteidigung, sondern für eine Attacke gegen eine falsche Philosophie und eine Verteidigung der wahren Philosophie. De sui ipsius et multorum ignorantia III, § 55, 44/45: „Memorans illud Annei: ,Magno impendio temporum, magna alienarum aurium molestia laudatio hec constat: O hominem literatum!‘ Simus hoc titulo rusticiore contenti: O virum bonum!“ Die Stelle bei Seneca, Ad Lucilium LXXXVIII, 38 lautet: „Magno impendio temporum, magna alienarum aurium molestia laudatio haec constat: o hominem litteratum! Simus hoc titulo rusticiore contenti: o uirum bonum!“ Mit demselben Titel wird Seneca auch Rerum fam. XXIV, 5, 5, angesprochen: „Tu vero, venerande vir et morum, si Plutarcho credimus, incomparabilis preceptor.“
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über gütigen Menschen‘; oder was Cicero über Epikur denkt, dessen Charakter und Sinnesart er zwar an vielen Stellen lobt, dessen Wissenschaft und Lehre er aber überall verurteilt und zurückweist.“ 51
Uns interessiert weniger die Stelle Augustins (Conf. V, 13, 23), die übrigens auch im Brief an die Nachwelt zitiert wird 52, sondern der Hinweis auf Cicero, De finibus II, 80: „Quis, quaeso, illum negat et bonum virum et comem et humanum fuisse? De ingenio eius in his disputationibus, non de moribus quaeritur.“ 53
Diese Stelle wird in Rerum memorandarum libri III, 77, 18 in folgender Weise benützt und ausgelegt: „Quamvis enim ,illum‘ [scil. Epycurum] ut ait Cicero, ,et bonum virum et comem et humanum fuisse‘ nemo neget, bonum tamen philosophum nullus affirmat.“ 54
Hier steht der Gegensatz von bonus vir und philosophus im Vordergrund. Meine These lautet, Petrarca habe auf der Grundlage des in den Texten Senecas und Ciceros, seinen antiken Lieblingsautoren, auftretenden Gegensatzes von vir bonus und literatus eine Verteidigung seiner Philosophie konzipiert, in der im Zusammenhang mit der doppelten Bedeutung des Begriffs ignorantia das Lob der virtus illiterata und die Verurteilung der literata ignorantia unternommen wird. Der historische Rahmen ist eine mise en sce`ne, die dem Vorhaben Anschaulichkeit und Gewicht verleihen soll. Die überaus gekonnte Konstruktion besteht darin, dass dem der Unwissenheit angeklagten Petrarca die Aufgabe zukommt aufzuzeigen, dass das vermeintliche Wissen der Gegner Unwissen ist und dass das Unwissen Petrarcas das wahre Wissen ist. Dieser doppelte Nachweis kann allerdings nur gelingen, wenn geklärt ist, was wahres Wissen ist, d. h. was Philosophie und ihre Aufgabe ist. Petrarca verwendet allerdings viel Mühe auf den Nachweis der Ignoranz seiner Gegner und auf die Kritik ihrer falschen Auffassung vom Wesen der Philosophie. Es lassen sich drei hauptsächliche Defizite der von Petrarca kritisierten Philosophieauffassung identifizieren, die wir mit den folgenden drei Stichwörtern umschreiben können: Dogmatismus, Neugierde und fehlender Respekt für christliche Lehren. Der Dogmatismus, den Petrarca an der Philosophie seiner Gegner kritisiert, besteht zum einen darin, dass eine von der eigenen 51
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De sui ipsius et multorum ignorantia II, § 18, 16/17: „Ita plane eo reditum, quod de Ambrosio suo narrat Augustinus: ,Amare‘, inquit, ,eum cepi, non tanquam doctorem veri, sed tanquam hominem benignum in me‘; seu quod de Epycuro sentit Cicero, cuius cum multis in locis mores atque animum probet, ubique damnat ingenium ac doctrinam respuit.“ Ep. Seniles XVIII, 1, in: Epistole di Francesco Petrarca, ed. U. Dotti, Turin 1978, 882: „qui michi iam solus omnium veterum superstes, non me epyscopaliter, ut Ambrosius Augustinum, sed fraterne dilexit ac diligit.“ Marcus Tullius Cicero, De finibus bonorum et malorum / Von den Grenzen im Guten und Bösen, Lateinisch-Deutsch, ed. K. Atzert, Zürich - Stuttgart 1964, 162. Rerum memorandarum libri III, 77, 18, ed. G. Billanovich, Firenze 1943, 169.
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Meinung abweichende Lehre unmittelbar als Unwissenheit interpretiert wird: „omnis dissensio apud illos ignorantia est“ 55. Diese Unfähigkeit zur Anerkennung eines legitimen philosophischen Dissenses ist verknüpft mit einer naiven Autoritätsgläubigkeit, die zudem auf Aristoteles fixiert ist: „Meine Freunde aber sind, was wir schon bemerkt haben, in ihrer Liebe allein zum Namen ,Aristoteles‘ so befangen, daß sie es als Sakrileg ansehen, über irgendetwas eine andere Ansicht zu äußern als Aristoteles.“ 56
Damit hängt auch zusammen, dass die „dummen Aristoteliker“ 57, das „verrückte und lärmige Pack der Scholastiker“ 58 zum Selberdenken unfähig ist, weil sich ihr ganzes Tun im Kommentieren von Texten erschöpft: „Es gibt Menschen, die sich scheuen, etwas Eigenes zu schreiben, und da sie unbedingt schreiben wollen, Kommentare zu Werken anderer verfassen; sie machen es sich wie die, die nichts von Architektur verstehen, zur Aufgabe, Wände zu weißen, und erhoffen sich dadurch Ruhm, den sie nicht durch sich selbst oder mit Hilfe anderer, sondern nur so erlangen können, wenn sie vor allen anderen die Autoren derjenigen Werke, die sie kommentieren, leidenschaftlich, überschwenglich und stets maßlos übertrieben loben.“ 59
Das Vorbild und der Ahne dieser Art philosophischen Arbeitens ist Averroes, der allerdings in diesem Traktat wesentlich wohlwollender behandelt wird als in jenem berühmten Brief an Luigi Marsili, wo vom canis Averroes die Rede ist 60. Nicht nur die Methode, sondern auch der Inhalt der gegnerischen Doktrin ist zu tadeln, da ihr ein ausgeprägtes Interesse an sinnlosen Fragen eigentümlich ist. Die Stelle des Traktats, in der Messer Francesco Beispiele solchen 55 56
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De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 115, 86/87. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 139, 102/103: „Isti vero, ut diximus, sic amore solius nominis capti sunt, ut secus aliquid quam ille de re qualibet loqui sacrilegio dent.“ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 153, 110/111: „stulti aristotelici“. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 155, 112/113: „Et quis non tribuit, nisi insanum et clamosum scolasticorum vulgus? “ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 156, 112/113-114/115: „Sunt qui nichil per seipsos scribere audeant et, scribendi avidi, alienorum expositores operum fiant, ac velut architectonice inscii, parietes dealbare suum opus faciant et hinc laudem querant, quam nec per se sperant posse assequi, nec per alios, nisi illos in primis et illorum libros, hoc est subiectum cui incubuere, laudaverint, animose id ipsum, et immodice, ac multa semper yperbole.“ Epistole seniles XV, 6, in: Opera Francisci Petrarchae, Basileae excudebat Henrichus Petri 1554, 812: „Contra canem illum rabidum Averroim, qui furore actus infando, contra dominum suum Christum contraque catholicam fidem latrat […] opusculum unum scribas.“ Cf. ebenfalls De otio religioso I, 7, 12, in: Le repos religieux, Introduction, traduction et notes de Ch. Carraud [lat. Text nach der Ausgabe von G. Rotondi, Vatikan 1958], Grenoble 2000, 108-110: „Quid deinceps? An dolosas Maometi fabulas, an philosophorum dissonas et inextricabiles ambages ac temerarii virus Averrois ac venenata convitia et sputa ad celum putido ore transmissa, an fore potius de illo vel sacrilegia Photini, vel Manichei nugas, vel Arii blasphemias audiamus? “ Die nt. 397 (280-282) von Ch. Carraud in seiner Ausgabe von „De sui ipsius et multorum ignorantia“ (supra nt. 8) fasst den Forschungsstand gut zusammen; beachtenswert sind auch die Ausführungen von A. de Libera, Pe´trarque et la romanite´ (nt. 8), 18-31.
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Fragens, das sich mit der Zahl der Haare auf dem Kopf des Löwen, der Art der Begattung von Elephanten und der Kinnlade der Krokodile beschäftigt, aufzählt, ist weithin bekannt 61, maßgeblich ist für unser Vorhaben das Kriterium dieser durch Augustinus beeinflussten Kritik an der Neugierde. Philosophisches Fragen ist dann und nur dann, wenn es in Beziehung steht mit der Existenz des Fragenden, sinnvoll und legitim: „Denn was nützt denn bitte das Wissen über die Natur der Tiere, Vögel, Fische und Schlangen, wenn wir die Natur der Menschen nicht kennen, nicht wissen, wozu wir geboren sind, woher wir kommen und wohin wir gehen, und uns für diese Fragen nicht interessieren?“ 62
Diese entscheidenden Probleme können allerdings nach der Auffassung Petrarcas ohne Bezug zum christlichen Glauben nicht angemessen gelöst werden, und deshalb kann er die seinen Gegnern, die sich lieber als Philosophen denn als Christen bezeichnen 63, unterstellte methodische Trennung von Philosophie und Theologie nicht akzeptieren, wenn sie vorgeben, sie wollten „ohne Rücksicht auf den Glauben diskutieren“ 64. Das augustinische Wort, Frömmigkeit sei wahre Weisheit 65, steht für eine Philosophie, die gegenüber christlichen Antworten auf menschliche Probleme offen ist, ohne deswegen Vernunft und Glaube ahnungslos und leichtfertig zu vermengen. V. Die Aufg abe der wahren Philosophie Wenn wir annehmen, dieses Spätwerk Petrarcas sei tatsächlich eine Apologie der wahren Philosophie, dann ist im Vergleich zu anderen Texten, die ein ähnliches Vorhaben verteidigen, sehr auffällig, dass einerseits die Kritik an der Logik eine untergeordnete Rolle spielt 66 und dass andererseits die Besinnung 61
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De sui ipsius et multorum ignorantia II, § 24, 20/21, hier werden zahlreiche Beispiele einer lächerlichen Neugierde aufgezählt. Zu den Quellen und zur Bedeutung cf. Fenzis Kommentar, 346-351. De sui ipsius et multorum ignorantia II, § 25, 22/23: „Nam quid, oro, naturas beluarum et volucrum et piscium et serpentum nosse profuerit, et naturam hominum, ad quod nati sumus, unde et quo pergimus, vel nescire vel spernere? “ De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 114, 86/87. De sui ipsius et multorum ignorantia IV, § 118, 88/89. De sui ipsius et multorum ignorantia II, § 38, 32/33-34/35: „Ridebunt plane, si hec audiant, et dicent me ut aniculam quamlibet sine literis pie loqui. His enim literarum typo tumidis nil pietate vilius, qua veris sapientibus ac sobrie literatis nichil est carius, quibus scribitur: ,Pietas est sapientia‘, meisque sermonibus magis ac magis in sententia firmabuntur, ut sine literis bonus sim.“ Cf. Augustinus, Confessiones V, 5, 8: „Dixisti enim homini: Ecce pietas est sapientia.“ Es handelt sich um ein Zitat aus Hiob 28, 28. Weitere Belege bei Fenzi, 372, nt. 148. Zu diesem wichtigen Thema cf. E. Garin, La cultura fiorentina nella seconda meta` del trecento e i ,barbari britanni‘, in: id., L’eta` nuova. Ricerche di storia della cultura dal XII al XVI secolo, Neapel 1969, 141-166; id., Petrarca e la polemica contro i ,moderni‘, in: id., Rinascite e rivoluzioni. Movimenti culturali dal XIV al XVII secolo, Rom - Bari 1975, 71-88. C. Vasoli, Petrarca
Zur philosophischen Bedeutung der Scholastikkritik bei Petrarca
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auf den eigenen Tod (meditatio mortis), die beispielsweise im dritten Teil des „Secretum“ das Wesen der Philosophie ausmacht, nicht im Vordergrund steht. Wie bereits angedeutet kreist die Reflexion Petrarcas in „De sui ipsius et multorum ignorantia“ um zwei zentrale Ausdrücke, nämlich die virtus illiterata und die literata ignorantia. Die Besinnung auf die eigene Ignoranz und die ethischen Implikationen des Philosophierens beherrschen deshalb das Ringen Petrarcas um einen angemessenen Begriff der Philosophie. Die Unwissenheit der Ankläger Petrarcas besteht darin, dass sie sich ihrer eigenen Unwissenheit nicht bewusst sind. Diese Aussage muss in ihrer ganzen erkenntnistheoretischen Tragweite aufgefasst werden und ich meine, dass diese Dimension im Traktat nicht unterschätzt werden sollte wegen der grundlegenden Aussagen zur Endlichkeit menschlichen Erkennens. Ein etwas längerer Passus bringt die zentralen Aspekte zur Sprache: Denn wenn ich darüber nachdenke, wieviel mir fehlt an dem, wonach sich der wißbegierige Geist sehnt, erkenne ich selbst wehmütig und schweigend meine Unwissenheit. Aber bis das Ende der irdischen Verbannung kommt und unserer Unvollkommenheit, durch die unser jetziges Wissen nur Stückwerk ist, ein Ende setzt, tröste ich mich damit, daß wir alle von derselben Natur sind. Und ich glaube, daß auch alle anderen guten und bescheidenen Menschen zu derselben Erkenntnis gelangen und darin Trost finden, auch diejenigen, die über ein - nach menschlichem Ermessen - ungeheures Wissen verfügen; ihr Wissen ist nämlich an sich immer winzig klein, ungeheuer groß wird es nur, wenn man in Rechnung zieht, auf welch engem Raum es beherbergt wird, und es mit dem Wissen anderer vergleicht. Wie geringfügig überhaupt ist ja doch, wieviel es auch sein mag, das, was zu wissen einem einzigen Geist vergönnt ist! Ja, soviel wie nichts ist das Wissen eines jeden Menschen, nicht gerade mit dem Wissen Gottes, sondern auch nur mit dem verglichen, was er selbst nicht weiß! Und diese Selbsterkenntnis, das Bewußtsein der eigenen Unvollkommenheit und auch den Trost, von dem ich gesprochen habe, „besitzen, vermute ich, diejenigen vor allem, die mehr wissen und mehr verstehen als andere.“ 67
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e i filosofi del suo tempo, in: Quaderni Petrarcheschi IX-X (1992-1993), 75-92; id., Intorno al Petrarca ed ai logici ,moderni‘, in: A. Zimmermann (ed.), Antiqui und Moderni, Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein in späten Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 9), Berlin 1974, 143-154. Besonders wichtige Texte zu dieser Polemik sind: Rer. Fam. I, 7 und Rerum Sen. V, 1-2. De sui ipsius et multorum ignorantia III, § 41, 34/35: „Nam et ego ipse recogitans quam multa michi desint ad id quo sciendi avida suspirat, ignorantiam meam dolens ac tacitus recognosco. Sed me interim, dum presentis exilii finis adest, quo nostra hec imperfectio terminetur, qua ex parte nunc scimus, nature communis extimatione consolor. Idque omnibus bonis ac modestis ingeniis evenire arbitror, ut agnoscant se pariter ac solentur; his etiam quibus ingens obtigit scientia - secundum humane scientie morem loquor - que in se semper exigua, pro angustiis quibus excipitur, et collata aliis ingens fit. Alioquin quantulum, queso, est, quantumcunque est, quod nosse uni ingenio datum est? Imo quam nichil est scire hominis, quisquis sit, si non dicam scientie Dei, sed suis ipsius ignorantie comparetur? Et hanc sui cognitionem ac proprie imperfectionis extimationem, suique ipsius quam dixi consolationem, his maxime qui plus sciunt plusque intelligunt inesse auguror.“ Boulnois’ Kritik an Petrarca trifft wohl kaum ins Schwarze, wenn er behauptet, Petrarca gestehe seine Ignoranz zu (Pre´face [nt. 8], 37): „La` ou` Pe´trarque parle de sa nescience scientifique et philosophique [...] il nous livre tout simplement un aveu.“ Der Begriff der Ignoranz im
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Dieser Passus ist keineswegs nur als eine fromme Beteuerung christlicher Demut zu lesen. Was hier als These aufgestellt wird, das Wissen des Unwissens („nichil est scire hominis“), ist, wie eine genaue Analyse des Textes zeigt, das Ergebnis einer Besinnung des Subjektes auf sich selbst (recogitans, recognosco, agnoscant se), einer Selbsterkenntnis und Selbsteinschätzung („sui cognitio ac proprie imperfectionis extimatio“), zu der jener Mensch gelangt, der über sich selbst und über die gemeinsame menschliche Natur nachdenkt: Die ignorantie proprie fragilitatisque notitia 68 erweist sich als ein konstitutives Moment der wahren Philosophen, die mit Sokrates 69 ihre Ignoranz bekennen. Diese Weisen wissen nicht nur wenig, vieles wissen sie nicht; sie kennen vor allem die Grenzen ihrer Selbsterkenntnis 70. Zu dieser reflexiv entdeckten Ignoranz bekennt sich Petrarca selbst, wenn er die Bezeichnung als ydiota akzeptiert, aber der wahre Philosoph ist darüber hinaus auch noch ein vir bonus, d. h. er intendiert die ethische Vollkommenheit. Der Primat der praktischen Philosophie führt indes nicht wie bei Dante dazu, Aristoteles zum Fürsten der Philosophie zu erklären, ganz im Gegenteil. Seine Bücher machen zwar möglicherweise ihre Leser gelehrter, aber keineswegs besser; er hat zwar erklärt, was die Tugend ist, aber derartige Wesensdefinitionen sind für einen Moralphilosophen, der diesen Ehrentitel verdient, unzureichend. Wer mit Hilfe der Beredsamkeit zur Tugend anspornt wie Cicero, verwirklicht dieses Ideal bereits vollkommener 71. Nicht nur mit der Frömmigkeit, auch mit der Beredsamkeit muss sich die Weisheit vereinen:
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Traktat ist mehrdeutig. Ich unterscheide drei Bedeutungen: (1) Die Petrarca von seinen Gegnern vorgeworfene Ignoranz (er kennt die naturphilosophischen Subtilitäten eines bestimmten Aristotelismus nicht). (2) Die von Petrarca seinen Gegnern vorgeworfene Ignoranz (sie beschäftigen sich nicht mit den eigentlichen Fragen der Philosophie, namentlich der Selbsterkenntnis). (3) Die alles menschliche Wissen notwendig begleitende gelehrte Unwissenheit (das Wissen um die Grenzen menschlichen Wissens). De sui ipsius et multorum ignorantia II, § 37, 30/31: „Mea vero sit humilitas et ignorantie proprie fragilitatisque notitia et nullius nisi mundi et mei et insolentie contemnentium me contemptus, de me diffidentia, de te spes; postremo portio mea Deus, et, quam michi non invident, virtus illiterata.“ De sui ipsius et multorum ignorantia V, § 204, 146/147: „Socrates ait: ,Hoc unum scio, quod nichil scio.‘ “ De sui ipsius et multorum ignorantia V, § 202, 144/145: „Inque his ipsis angustiis maximi etiam sunt versantur, et pauca scientes multa nesciunt, et nescire se, nisi insaniant, non nesciunt, verissimumque est ciceronianum illud, quod quisque gravis philosophus multa sibi deesse cognoscit; quem defectum, quo quisque minus intelligit, minus sentit et curat minus; ideoque doctissimos maxime videas discendi avidos, et maxime ignorantiam negligentem.“ Cf. auch V, § 199, 142/143. Daraus folgt, dass die Rhetorik ganz im Dienste der Ethik steht. Dies allerdings bedeutet nicht, dass Petrarca primär als Rhetor zu deuten ist (Boulnois, Pre´face [nt. 8], 25: „Pe´trarque est avant tout un rhe´teur.“) und noch weniger, dass er kein Philosoph ist (ibid., 39: „Chercher dans l’humaniste un philosophe, ce serait se condamner a` n’y voir qu’un penseur qui n’a rien a` dire mais qui le dit bien: or ce n’est pas un philosophe du tout.“). Seit den Anfängen der Philosophie, spätestens seit Sokrates, gilt es als eine der edlen Aufgaben der Philosophie, die Menschen dazu anzuhalten, die für ihre Existenz entscheidenden Fragen zu stellen und ein menschenwürdiges, d. h. vernünftiges Leben zu führen. Genau dies intendiert m. E. Petrarca, allerdings ist er der Meinung, dass die Philosophie ihr Vorhaben, nämlich die Menschen darüber zu belehren, wie
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„Das also sind die wahren Moralphilosophen und nützlichen Lehrer der Tugend, deren erste und letzte Absicht es ist, den Hörer und Leser gut zu machen, und die nicht nur lehren, was das Wesen der Tugend und des Lasters sei, und uns damit in den Ohren liegen, daß das eine herrlich, das andere verwerflich sei, sondern die unser Herz mit Liebe zum sittlich Guten und mit Verlangen danach, mit Haß aber und Abneigung gegen das sittlich Schlechte erfüllen.“ 72
Als fürchtete er, sein Leser weigere sich, diese Interpretation der Funktion philosophischer Tätigkeit zu akzeptieren, weil sie zwar wohlklingend und beredt, aber nicht dem Standard scholastischer Argumentation entsprechend sei, übersetzt der italienische Poet seinen Gedanken in die Fachterminologie, indem er mit unüberhörbarer Präzision das Gesagte noch einmal neu formuliert und unumwunden den Primat des Willens, des Guten und des Liebens vor dem Intellekt, dem Wahren und dem Erkennen behauptet: „Klüger ist es, für einen guten und frommen Willen als für einen klaren, alles erfassenden Verstand zu sorgen. Nach Ansicht der Philosophen ist ja das Bestreben, gut zu sein, Ziel des Willens, der Gegenstand des Verstandes aber die Wahrheit. Besser aber ist es, Gutes zu wollen als das Wahre zu erkennen.“ 73
Mit dieser Umkehrung der transzendentalen Ordnung zwischen gut und wahr erreicht die Erklärung des Vorranges des vir bonus vor dem literatus ihren Höhepunkt. Petrarcas Modell einer als Lebenskunst konzipierten Philosophie 74, die Dantes Identifikation der praktischen Philosophie mit der Ersten Philosophie weitergeführt und grundlegend verändert hat, findet in diesen Sätzen ihre zugleich klarste, aber auch einleuchtendste Formulierung, die in scholastischer Diktion sich von der Scholastik, d. h. vom modernus philosophicus mos 75, verabschiedet. Wenn wir bedenken, dass die Paradigmata der von Petrarca intendierten Repristination der wahren Philosophie nicht nur Cicero und Seneca, sondern auch Augustinus und Bernhard von Clairvaux 76 entlehnt wer-
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sie besser leben und sterben können, angemessener erfüllen kann, wenn das, was mitgeteilt werden soll, so mitgeteilt wird, dass es die Adressaten anspricht und sie dazu ermuntert, das Verstandene auch tatsächlich zu verwirklichen. In diesem Sinne steht die Rhetorik im Dienste der Ethik, bei Cicero, bei Seneca, bei Petrarca und einigen anderen, deren philosophische Botschaft ich nicht vermissen möchte! De sui ipsius et multorum ignorantia V, § 148, 108/109: „Hi sunt ergo veri philosophi morales et virtutum utiles magistri, quorum prima et ultima intentio est bonum facere auditorem ac lectorem, quique non solum docent quid est virtus aut vitium preclarumque illud hoc fuscum nomen auribus instrepunt, sed rei optime amorem studiumque pessimeque rei odium fugamque pectoribus inserunt.“ De sui ipsius et multorum ignorantia V, § 149, 108/109: „Tutius est voluntati bone ac pie quam capaci et claro intellectui operam dare. Voluntatis siquidem obiectum, ut sapientibus placet, est bonitas: obiectum intellectus est veritas. Satius est autem bonum velle quam verum nosse.“ Einige wichtige Aspekte zu diesem Thema bei Petrarca sind zu finden bei J. Domanski, La philosophie, the´orie ou manie`re de vivre? Les controverses de l’Antiquite´ a` la Renaissance, Fribourg - Paris 1996. De sui ipsius et multorum ignorantia II, § 14, 14/15. Einige Dimensionen der philosophischen Tradition, zu der Bernhard gehört und die, wie ich behaupte, von Petrarca weitergeführt und entfaltet wird, habe ich dargestellt in: Selbsterkenntnis und Dialog. Aspekte des philosophischen Denkens im 12. Jahrhundert, in: Wolfram-Studien
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den, wird deutlich, wie schwierig es ist, die Grenzen zwischen Altem und Neuem, zwischen Mittelalter und Renaissance zu ziehen. Der nachhaltige Einfluss zentraler Ideen Petrarcas, namentlich bei Cusanus 77 und bei Erasmus, verdeutlicht, wie in bestimmten historischen Konstellationen die Rückkehr zum Alten den Durchbruch zum Neuen ermöglicht 78.
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XVI, Aspekte des 12. Jahrhunderts, Freisinger Kolloquium 1998, ed. W. Haubrichs/E. C. Lutz/ G. Vollmann-Profe, Berlin 2000, 11-28. Zum Philosophieverständnis Bernhards cf. G. Festa, San Bernardo di Chiaravalle tra ,ipsa philosophia Christi‘ e ,philosophorum ventosa loquacitas‘, in: Divus Thomas XCVI (1993), 207-238. Die von Cusanus besessenen Petrarca-Codices sind verzeichnet bei A. Sottili, I codici del Petrarca nella Germania occidentale, Padua 1971. Zu den Anmerkungen des Cusanus in seinen Petrarca-Handschriften: G. Santinello, Studi sull’umanesimo europeo, Padua 1969, 7-42. Es ist durchaus richtig, wenn O. Boulnois in seiner Einleitung mehrfach betont, dass Petrarca Argumente, Topoi und Thesen aus der Tradition und zum Teil aus der von ihm bekämpften Scholastik übernimmt. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen: Er rehabilitiert und verteidigt einen uralten, in der Antike praktizierten, von Augustin, Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von Sankt-Thierry im christlichen Kontext erneuerten Modus des Philosophierens, dessen vielseitige und reiche Geschichte Pierre Courcelle in seiner Summa zur Selbsterkenntnis erschlossen hat (Connais-toi toi-meˆme, de Socrate a` saint Bernard, 3 vol., Paris 1974-1975). Wenn diese Besinnung auf das Alte indes den Weg zu etwas Neuem, also zur Renaissance eröffnet, dann hängt dies mit zwei Gründen zusammen. Zum einen mit der von Petrarca gewählten Form und zum anderen mit einem ausgeprägten Bewusstsein der Endlichkeit, das den Menschen als ein historisches, sich wandelndes Wesen begreift (cf. dazu die fundamentale Studie von E. Keßler, Petrarca und die Geschichte, Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München 1978). Auch unter diesem Gesichtspunkt erweist sich die Beziehung des philosophischen Diskurses zur (fiktiven) Autobiographie als zentral, denn die Philosophie ist der stets zu erneuernde Versuch, sein eigenes Leben als richtiges Leben zu gestalten. Dass Petrarca die Schwierigkeiten dieses Versuchs so eindringlich beschrieben hat (vor allem im „Secretum“), unterscheidet ihn von Augustin, dessen Leben er stets nachzuahmen versuchte, und macht ihn unzweifelhaft zu einem Vorläufer von Montaigne.
Oratio mentalis und Mentalesisch Ein spätmittelalterlicher Blick auf die gegenwärtige Philosophie des Geistes Martin Lenz (Cambridge)
„The M[entalese]-translation of ,John loves Mary‘ has to come out different from the M[entalese]translation of ,Mary loves John‘ …“ Jerry Fodor „Sed tunc est difficile salvare quomodo istae propositiones distinguuntur in mente ,omne animal est album‘, ,omne album est animal‘ et huiusmodi, quia in mente non distinguuntur propter ordinem diversum illo modo quo distingui possunt in voce.“ Wilhelm von Ockham
Die Geschichte der Philosophie des Geistes nimmt im 14. Jahrhundert eine entscheidende Wende: Wilhelm von Ockham greift den jahrhundertealten Topos einer Sprache des Intellekts auf und macht Ernst mit der Frage, inwiefern das Denken tatsächlich sprachlich strukturiert sei. Seine Konzeption des Denkens als oratio mentalis, die aus (keiner Einzelsprache zugehörenden) Begriffen bestehen und einer mentalen Grammatik folgen soll, löste heftige Diskussionen aus, deren Spuren sich bis ins 16. Jahrhundert deutlich verfolgen lassen 1. Im Jahre 1975 legte der amerikanische Philosoph Jerry Fodor seine strittige Hypothese einer „Language of Thought“ vor und setzt sich bis heute mit der Frage ausein1
Cf. E. J. Ashworth, The Structure of Mental Language: Some Problems Discussed by Early Sixteenth Century Logicians, in: Vivarium 20 (1982), 59-83; D. Perler, Diskussionen über mentale Sprache im 16. Jahrhundert, in: E. Keßler/I. Maclean (eds.), Res et verba in der Renaissance (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 21), Wiesbaden 2002, 29-51. Die vorangestellten Zitate stammen aus J. Fodor, Stephen Schiffer’s Dark Night of the Soul: A Review of ,Remnants of Meaning‘, in: id., A Theory of Content and Other Essays, Cambridge, Mass. 1990, 186; Wilhelm von Ockham, Expositio in librum Perihermeneias Aristotelis, prooem., § 6, in: Opera Philosophica II, ed. A. Gambatese/S. Brown, St. Bonaventure, NY 1978, 356.
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ander, warum das Denken ausgerechnet wie eine Sprache strukturiert sein solle. Obwohl sich Fodor nicht auf Wilhelms Thesen bezieht, weist seine Position bei allen Unterschieden in Methode, Erklärungsanspruch und Kontext - „eine verblüffende Ähnlichkeit“ 2 mit derjenigen Wilhelms auf. Den Philosophen und besonders den Historikern dieses Fachs steht damit wieder einmal eine Methodendebatte ins Haus 3: Kann man Wilhelm als „inventor“ 4 jener gegenwärtigen Konzeption bezeichnen? Kann man den damit anstehenden Vergleich beider Positionen ohne direkte Bezugsbelege überhaupt sinnvoll anstellen, ohne unhistorische Aktualisierung zu betreiben? Soll man die These der oratio mentalis in Ermangelung von Evidenz für die mit ihr vorausgesetzten Annahmen philosophisch verwerfen und als „innermittelalterliche“ Position auf sich beruhen lassen 5, Fodors Annahme des „Mentalesischen“ („Mentalese“) hingegen den „Gegenwartsphilosophen“ überlassen? Gegenüberstellungen von gegenwärtigen und spätmittelalterlichen Theorien schärfen zweifelsohne den Blick für deren Besonderheiten und historische Bedingungen. Denn auch unabhängig von direkten Bezugsbelegen sind derartige Vergleiche keineswegs beliebig. Der vorliegende Fall macht dies besonders deutlich: Lange bevor die Parallelen zwischen Wilhelm und Fodor beachtet wurden, konzentrierte man sich auf (die inzwischen umstrittenen) Gemeinsamkeiten zwischen der oratio mentalis und idealsprachlichen Konzeptionen des frühen 20. Jahrhunderts; dann begann man, wiederum in den „Quellen“ für Wilhelms Position nach idealsprachlichen Ansätzen zu suchen und meinte beispielsweise, daß sich hinter Augustins verbum-Lehre die Idee einer Idealsprache verberge 6. Auch wenn solche Lesarten teilweise in die Irre führen können, verändern sie zuweilen doch die „philosophische Geographie“ des Mittelalters und beleuchten von dort aus auch gegenwärtige Fragestellungen. Um die Philosophie des Mittelalters nicht in einem „philosophiehistorischen Ghetto“ verbleiben zu lassen, bemüht man sich seit geraumer Zeit um Annäherungen zwischen mittelalterlichen und modernen Theorien. Dabei werden gerade Wilhelms Thesen zur oratio mentalis mit Blick auf moderne semantische Konzeptionen oft scharfer Kritik unterzogen. 2 3
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D. Perler, Theorien der Intentionalität im Mittelalter, Frankfurt a. M. 2002, 376. Cf. zu methodischen Auseinandersetzungen im Rahmen der Erforschung der mittelalterlichen Philosophie R. Imbach, Autonomie des philosophischen Denkens? Zur historischen Bedingtheit der mittelalterlichen Philosophie, in: J. A. Aertsen/A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? Akten des X. Internationalen Kongresses für mittelalterliche Philosophie der S.I.E.P.M., 25.-30. August 1997 in Erfurt (Miscellanea Mediaevalia 26), Berlin - New York 1998, 125137. C. Panaccio, From Mental Word to Mental Language, in: Philosophical Topics 20/2 (1992), 140. Cf. M. Kaufmann, Begriffe, Sätze, Dinge: Referenz und Wahrheit bei Wilhelm von Ockham (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 40), Leiden - New York - Köln 1994, 20. Cf. J. Trentman, Ockham on Mental, in: Mind 79 (1970), 586-590; M. Sirridge, Quam videndo intus dicimus: Seeing and Saying in De Trinitate XV, in: S. Ebbesen/R. Friedman (eds.), Medieval Analyses in Language and Cognition, Acts of the Symposium ,The Copenhagen School of Medieval Philosophy‘, January 10-13, 1996, Copenhagen 1999, 318-330.
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Im folgenden soll demgegenüber verdeutlicht werden, daß es Wilhelm weniger um die Konstruktion einer idealen Mentalsprache ging 7, sondern eher um eine Bestimmung der Strukturen des Denkens, die auch den Aufweis der Grenzen der Analogisierbarkeit von Sprache und Denken nach sich zieht. In der anschließenden Skizze der Thesen Jerry Fodors wird sich eine entscheidende Gemeinsamkeit zu Wilhelm zeigen: die Annahme, daß die Plausibilität von Thesen über eine Sprache des Geistes vor allem an der Klärung ihrer strukturellen Beschaffenheit hängt. Wenn es aber so ist, daß die Konvergenzen sich tatsächlich nicht bloß in dem Etikett „Mentalsprache“ erschöpfen, dann bleibt eine Frage, die in diesem Rahmen nicht mehr diskutiert werden kann, offen: Müßte eine philosophische Kritik an den Thesen Wilhelms sich nicht auch gegenüber den Thesen Fodors behaupten?
1. Voraussetzung en der T hesen Wilhelm von Ockhams Das Schriftgebilde ,Jeder Mensch ist ein Philosoph‘ ist ein Satz der deutschen Sprache. Was aber macht dieses Schriftgebilde zu einem deutschen Satz? Man könnte sagen, es besteht aus Einheiten, die wir aufgrund gelernter Konventionen als Teile eines deutschen Satzes erkennen. ,Every man is a philosopher‘ stellt ein ganz anderes Schriftgebilde dar; und wer mit den erforderlichen Konventionen vertraut ist, wird wissen, daß es sich hier um einen englischen Satz handelt. Zwischen diesen recht unterschiedlichen Schriftgebilden besteht offenbar eine ganz entscheidende Gemeinsamkeit. Wie man diese Gemeinsamkeit nennt und erklärt, ist freilich davon abhängig, welche der einschlägigen Theorien man bevorzugt. Man könnte zunächst - sehr unspezifisch - sagen, daß diese beiden Sätze denselben Gedanken ausdrücken. Mit Wilhelm von Ockham muß man sagen: Beide Sätze sind demselben mentalen Satz untergeordnet. Damit ist schon eine sehr spezifische Aussage über das Verhältnis von Sprache und Denken getroffen. Offenbar entspricht den Schriftgebilden bzw. Lautgebilden nicht nur eine Einheit des Denkens, also, etwa mit den Worten Ferdinand de Saussures, eine „amorphe Masse“, sondern eine satzhafte Struktur 8. Die Tatsache also, daß wir den deutschen oder englischen Satz nicht nur als Lautkette oder als Tintenspur betrachten, sondern als sinnvollen Satz, kann demnach darauf zurückgeführt werden, daß den Lauten im Denken ein mentales Korrelat, laut Wilhelm ein mentaler Satz, entspricht. Die Annahme mentaler 7
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Von der „Konstruktion einer Idealsprache“ spricht etwa J. Hennigfeld, Geschichte der Sprachphilosophie: Antike und Mittelalter, Berlin 1994, 285 u. 287. Cf. F. de Saussure, Cours de linguistique ge´ne´rale, ed. T. de Mauro, Paris 1976, 156. Nach Saussure stellen Laute und Denken an sich etwas Gestaltloses dar, das erst durch sprachliche Artikulation geformt wird, so daß demnach das Denken keine festen Begriffe vorgibt, denen konventionelle Zeichen untergeordnet werden könnten. Sowohl Wilhelm als auch Fodor vertreten demgegenüber einen sprachlichen Konventionalismus.
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Sätze soll freilich nicht nur Übersetzungen erklären; die Tatsache, daß Sie verstehen können, was ich hier geschrieben habe, ist der Mentalsatztheorie gemäß darin begründet, daß Sie beim Lesen die gleichen mentalen Sätze bilden, die ich vor der Niederschrift gebildet habe. Ebenso ist demnach die Tatsache, daß ich mit zwei verschiedenen Sätzen, die synonyme Ausdrücke oder synonyme Konstruktionen enthalten, dasselbe sagen kann, darin begründet, daß solche Verlautbarungen dem gleichen mentalen Satz untergeordnet sind. Mentale Sätze gewähren also u. a. die semantische Identität verschiedener einzelsprachlicher Satzvorkommen. Die semantische Identität wird durch die mentalen Sätze insofern gewährt, als die mentalen Termini, aus denen sie strukturiert sind, von Natur aus dasjenige bezeichnen, was beispielsweise deutsche oder englische Sätze konventionell bezeichnen. Mit dem Ausdruck ,semantische Identität‘ ist zunächst lediglich gemeint, daß die für die Bezeichnungsfunktion (und damit auch für die Wahrheitsbedingungen) relevanten Merkmale in der Mentalsprache sich ebenso in den untergeordneten einzelsprachlichen Äußerungen finden. Die semantische Identität ist mithin ein entscheidender Aspekt in der Beziehung zwischen Denken, Sprache und Welt. Die Forderung nach semantischer Identität findet sich in gewissem Sinne bereits bei Platon. In Auseinandersetzung mit der These, alles sei in Bewegung, wird erwogen, daß in diesem Falle keine Bezeichnung, die feststehe, zutreffend sein könne; wer dies also behaupte, der müsse schon eine andere Sprache einführen, da es für eine Welt, in der alles stets in Bewegung sei, bisher keine Worte gebe 9. In vergleichbarer Weise stellt Aristoteles (aus umgekehrter Perspektive) in der „Metaphysik“ heraus, daß die Bezeichnungsfunktion eines Wortes darin bestehe, immer auf etwas Bestimmtes gerichtet zu sein. Das Postulat semantischer Eindeutigkeit wird hierbei zur Grundvoraussetzung der Rede und der Rede mit sich selbst - also des Denkens - erklärt; wer nicht etwas Bestimmtes in der Rede zu verstehen gebe, der gebe nichts zu verstehen 10. Die mittelalterliche Philosophie knüpft zur Lösung der Frage nach semantischer Eindeutigkeit bzw. Bestimmtheit an das aristotelisch-boethianische Sprachmodell an, innerhalb dessen die für sprachliche Vorgänge insgesamt konstitutive Ordnung durch den ordo orandi fixiert ist: Die konventionellen Laute (voces) erhalten ihre Bedeutung von den Begriffen/Gedanken (intellectus) her, die ihrerseits natürliche Begriffe der Sachen (res) sind 11. Das Verhältnis zwischen sprachlichen und gedanklichen Einheiten wird von Boethius strukturanalog gefaßt, d. h. der Gedanke (intellectus) bzw. Sinn (sensus) kann - wie entsprechende sprachliche Einheiten - vermittels grammatischer Terminologie als komplexe Struktur beschrieben werden; so gibt 9
10 11
Cf. Platon, Theaitetos, 157b, 180a-b u. 183a-b. Zur Platonischen Sprachphilosophie cf. B. Mojsisch, Do¬gow and eœpisth¬mh: The Constitutive Role of Language in Plato’s Theory of Knowledge, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 3 (1998), 19-28. Cf. Aristoteles, Metaphysica IV, c. 4, 1006b2-14. Cf. Boethius, Commentarii in librum Aristotelis Peri hermeneias, c. 1, pars posterior, ed. C. Meiser, Leipzig 1880, 24, 29-30.
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es laut Boethius etwa mentale Nomina und Verben wie auch vollständige und unvollständige Gedanken; die ungeklärte Schwierigkeit dieser Konzeption: Der Gedanke soll einerseits strukturanalog sprachzugewandt sein, andererseits ist er durch die Abbild-Funktion der Begriffe immer auch sachzugewandt; die Ebenen der Sprache, des Denkens und der Sachen unterliegen jedoch offenbar ganz verschiedenen „Gesetzmäßigkeiten“, so daß das Verhältnis von Sprach-, Denkund Seinsstrukturen erklärungsbedürftig bleibt. Das problematische Erbe dieser Strukturanalogie wird damit zu einem zentralen Thema der mittelalterlichen Sprachphilosophie. Das Problem der semantischen Identität erfährt seine technische Zuspitzung zunächst in der Zeit um und nach Abaelard im Rahmen des sogenannten kontextuellen Ansatzes, gemäß dem die Bedeutung eines Wortes immer auch mit Blick auf den Kontext bzw. die (Satz-)Struktur, der es zugehört, geklärt werden muß: Sätze und ihre Bestandteile - verstanden als in Wortklassen einteilbare Wörter oder als Termini - wurden im Rahmen der mittelalterlichen Logik und Grammatik vornehmlich als Token (bzw. Vorkommen) aufgefaßt; es galt daher nicht schon aufgrund bloßer Homophonie als verbürgt, daß etwa die Wiederholung des gleichen Lautgefüges dasselbe bedeutet (und insofern ein weiteres Token desselben Type darstellt) 12. Deshalb ist es eine zentrale Frage dieser Disziplinen, wie semantische Identität möglich ist und wovon sie abhängt: Sagt also jemand dasselbe, wenn er zweimal das gleiche sagt? Es steht damit zunächst die numerische Identität des Lautgefüges zur Debatte, die ja schon dann nicht mehr gegeben ist, wenn man einen Laut zweimal hintereinander äußert. Die Frage wird jedoch dringlicher, wenn sich in dem Zeitraum zwischen zwei Äußerungssituationen (außersprachlich) etwas ändert, das auf das Signifikat oder den Wahrheitswert einer Äußerung Einfluß hat: So hat der Satz ,credo Christum nasciturum esse‘ vor Christi Geburt offenbar einen anderen Wahrheitswert als nachher. Umgekehrt ließe sich fragen, ob dem Satz ,credo Christum nasciturum esse‘ (vor Christi Geburt geäußert) und dem Satz ,credo Christum nasciturum esse‘ (nach Christi Geburt geäußert) ein identischer Glaubensartikel zugrunde liegt. Solche und ähnliche Fragen versuchte man seit dem 12. Jahrhundert mit Hilfe der Dictum-Theorie zu entscheiden, denn sie ließen sich nicht allein mit Blick auf die Signifikation der einzelnen Termini beantworten. Neben der numerischen Identität steht aber insbesondere die strukturelle bzw. grammatische Identität des Lautgefüges zur Debatte: Sind etwa zwei Laute mit verschiedenen grammatischen Genera noch identisch? Dagegen wird man sogleich einwenden können, daß das, was man an einem Laut als grammatisch bzw. semantisch „sinnstiftend“ erkennt, ohnehin nicht in der Gestalt des Lautes liegt, sondern vom Denken her in die Gestalt hineingelegt bzw. aus ihr herausgehört wird (denn man kann auch „Falsches“ zurechthören und korrigieren). Es ist aber ganz unerheblich, daß sich die Zeichenfunktion nicht allein durch das 12
Cf. dazu auch den grundlegenden Aufsatz von N. Kretzmann, Medieval Logicians on the Meaning of propositio, in: Journal of Philosophy 67 (1970), 767-787.
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material gegebene Zeichen manifestiert. Es ist eher die Frage, ob ein Zeichen, auf dessen Bedeutung ich mich festgelegt habe, einen Minimalbestand an Konstanten aufweisen muß und worin diese Konstanten liegen müssen (es geht also um ein Zusammenspiel von Zeichengestalt und Intention). Diese Frage hängt also nicht nur vom Signifikationsbezug ab, sondern auch von der Intelligibilität, und zwar insofern, als ein Satz wie ,homo est alba‘ zwar grammatikalisch falsch ist (incongrua secundum vocem), aber dennoch verstehbar und damit akzeptabel (congrua secundum sensum) 13. Gibt man auch die Forderung nach grammatischer Identität als Bedingung semantischer Identität preis, so ist der Weg frei für die Annahme, daß strukturell differente Paraphrasen desselben Sachverhalts möglich sind (woraus sich erklären läßt, warum man mit verschiedenen Worten dasselbe sagen kann). Je weiter man sich jedoch von der sprachlich gestifteten Identität entfernt, desto mehr - so scheint es - ist man auf die Bedeutung festgelegt. Das Erkennen etwa von synonymen sprachlichen Vorkommen erfordert eine „starke“ semantische Konstante, die sich offenbar außersprachlich manifestieren muß. Demnach müßten also entweder die Sachen oder zumindest die Begriffe (bzw. der Sinn) identitätsstiftend sein. Wenn man jedoch, an Boethius anknüpfend, eine Analogie von Satz- und Gedankenstruktur annimmt, dann muß die erforderliche Identität entweder durch die Sachen erklärt werden - was jedoch im Hinblick auf komplexe Spracheinheiten unbefriedigend ist, da die Termini in Sätzen wie ,Deus est‘ und ,Deus non est‘ dieselbe Sache bezeichnen - oder aber durch die Annahme von Sachverhalten. Kurz: Eines der zentralen Probleme im kontextuellen Ansatz besteht in dem Übergang von der Wort- zur Satzsemantik. Wird mit dem Blick auf einzelne Wörter, die man wie Lexikoneinträge behandelt, die semantische Relation von Wort, Begriff und Sache fokussiert, so müssen in Hinsicht auf Sätze zunächst die jeweiligen strukturellen Relationen zwischen den Teilen auf der Ebene der Sprache (grammatisches Verhältnis der Wörter zueinander), des Denkens (logisches Verhältnis der Begriffe zueinander) und der Sachen (ontologisches Verhältnis der Sachen zueinander) geklärt werden, um so die semantische Relation von Satz, Begriffskomplex/Sinn und Sache/Sachverhalt bestimmen zu können. Vor dem skizzierten Hintergrund können die verschiedenen Versionen der DictumTheorie des 12. Jahrhunderts als Antworten auf die Frage nach der semantischen Identität von Sätzen verstanden werden 14. Wilhelm von Ockham knüpfte selbst 13
14
Cf. zu dieser Diskussion, die sich bereits bei Petrus Helias findet: C. H. Kneepkens, Roger Bacon’s Theory of the Double Intellectus: A Note on the Development of the Theory of Congruitas and Perfectio in the First Half of the Thirteenth Century, in: P. O. Lewry (ed.), The Rise of British Logic, Acts of the Sixth European Symposium on Medieval Logic and Semantics, Balliol College, Oxford, 19-24 June 1983, Toronto 1983, 115-143. Eine konzise Diskussion der Dictum-Theorie bei Abaelard bietet J. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, Cambridge 21999, 202-209; cf. G. Nuchelmans, Theories of the Proposition: Ancient and Medieval Conceptions of the Bearers of Truth and Falsity, Amsterdam - London 1973, 177-185.
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aber nicht an diese Theorien an. Ansätze zu einer semantischen Konzeption des Sachverhalts finden sich im Nominalismus des 14. Jahrhunderts erst wieder bei Adam Wodeham und späteren Autoren; Wilhelm entwickelte vielmehr eine Theorie, die sich bei der Erklärung semantischer Identität auf das der idiomatischen Sprache vorgeordnete Denken in Form mentaler Sätze konzentriert 15. Wie sieht nun Wilhelms Konzeption der oratio mentalis aus? Im Unterschied zu den gesprochenen oder geschriebenen (im folgenden: idiomatischen) Sätzen gehören die mentalen Sätze keiner bestimmten Sprache an, sie sind nullius linguae, wie Wilhelm mit Augustin sagt. Mentale Sätze bestehen nicht aus konventionellen Zeichen, sondern aus Begriffen, die das, was sie bezeichnen, von Natur aus bezeichnen. Das heißt: Zwischen Begriff und bezeichneter Sache besteht eine natürliche similitudo-Relation; zwischen Wort und Sache hingegen eine durch den Intellekt hergestellte Relation, eine relatio rationis. Hier zeichnet sich offenbar eine Unterscheidung zwischen der natürlichen Sprache des Denkens und den konventionellen idiomatischen Sprachen ab. Wilhelms Kernthese hierbei lautet: Jedem idiomatischen Satz entspricht ein mentaler Satz, der seinerseits keiner bestimmten Sprache angehört 16. Boethius’ Analogisierung - die Lehre von den tres orationes - war auch für das 14. Jahrhundert wohlbekanntes Schulgut und bildet hier offenkundig den Hintergrund. In der Forschungsliteratur wird daher bis heute die Meinung vertreten, daß im Grunde alle Philosophen des 14. Jahrhunderts die Annahme einer mentalen Sprache für eine Selbstverständlichkeit gehalten haben 17. Dies liegt zwar nahe, ist aber irreführend. Die Analogisierung wirft nämlich Fragen auf, denen Boethius selbst nicht nachging. So wird bereits um 1300 - etwa bei Duns Scotus, aber insbesondere bei Walter Burley - die Frage laut, wie weit diese Analogie trägt. Kann man den Begriffen wirklich sprachliche Eigenschaften zusprechen? Gewiß nicht alle, denn sonst würden den Begriffen auch alle sprachlichen Ambiguitäten zugesprochen, dann könnten sie aber nicht mehr die semantische Konstanz der Termini erklären. Und es sollen doch alle Logiker dieselbe Logik studieren, nicht die Eigenheiten der verschiedenen willkürlichen Sprachlaute. Andererseits sollen Sätze mindestens aus Nomina und Verben, also aus grammatischen Wortklassen, bestehen. Wortklassen und deren grammatische Merkmale gehören aber doch in den Bereich der idiomatischen Sprache. Auf eine Formel gebracht: Man suchte nach einer Trennung von idiomgrammatischer und logisch-semantischer Struktur. Auf der Ebene der einzelnen Zeichen, 15
16
17
Cf. M. Lenz, Adam de Wodeham und die Entdeckung des Sachverhalts, in: K. Kahnert/B. Mojsisch (eds.), Umbrüche: Historische Wendepunkte der Philosophie von der Antike bis zur Neuzeit, Festschrift für Kurt Flasch, Amsterdam - Philadelphia 2001, 99-116. Cf. Wilhelm von Ockham, Summa Logicae I, c. 1-3, in: Opera Philosophica I, ed. P. Boehner/ G. Ga´l/S. Brown, St. Bonaventure, NY 1974, 7-14. Eine ausführliche Darstellung und Literaturhinweise zu Wilhelms Konzeptionen der oratio mentalis finden sich in: M. Lenz, Mentale Sätze: Wilhelm von Ockhams Thesen zur Sprachlichkeit des Denkens, Stuttgart 2003. Cf. etwa E. Karger, William of Ockham, Walter Chatton and Adam Wodeham on the Objects of Knowledge and Belief, in: Vivarium 33/2 (1995), 171.
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die man wie Lexikoneinträge betrachtet, kann man vielleicht noch idiomatisches Wort und mentalen Begriff in diesem Sinne unterscheiden; hier das mehrdeutige Wort; im Geist der eindeutige Begriff als similitudo rerum. Auf der Satzebene aber gerät man mit dieser Unterscheidung in Verlegenheit; denn ein Satz erfordert Strukturbestimmungen, die diese Eindeutigkeit untergraben. Es ist deshalb die Regel, die grammatischen Bestimmungen wie Wortklasseneinteilung und Kasus etc. ausschließlich der Idiomsprache zuzuerkennen; so etwa bei Walter Burley und bei Walter Chatton. Die Rede von mentalen Sätzen bleibt damit freilich eine zweifelhafte Angelegenheit 18. Wie man sieht, haben wir es nicht schon mit einer Mentalsatztheorie zu tun, sondern vielmehr mit einer Analogie von idiomatischen und mentalen Sätzen, die mehr Fragen als Antworten liefert. Damit stehen wir nun vor der Problemlage, die Wilhelm von Ockham zu bewältigen suchte: Ein zentrales Anliegen der Logik ist die Etablierung einer Satzkonzeption, die die semantische Identität der Termini und der Sätze gewährt. Neben den Dingen scheinen die Begriffe als similitudines rerum am ehesten diese Funktion zu erfüllen. Der bloße Rekurs auf das Sprachmodell des Boethius genügt jedoch nicht. Denn die Begriffe liefern im Gegensatz zu den variierenden Sprachlauten - zwar in der Tat semantische Konstanz, doch es bleibt völlig unklar, wie man sich einen aus Begriffen bestehenden Satz vorzustellen hat. Man mag zwar den einzelnen Begriff als Korrelat eines kategorematischen Sprachzeichens auffassen, doch es ist nicht ersichtlich, wie eine similitudo rerum über die offenbar erforderlichen syntaktischen Strukturmerkmale verfügen kann, die zur Bildung eines Satzes erforderlich sind. Das zeigt sich schon in unserem Sprachgebrauch: So ist es eine gängige Redeweise zu sagen, man habe einen Begriff von einer Sache, doch hört man selten, daß ein Begriff im Genitiv stehe. Gleichwohl wird man zugeben müssen, daß der Terminus ,der Mensch‘ nicht bedeutungsgleich mit dem Ausdruck ,des Menschen‘ sein kann; und daher kann ihnen auch nicht derselbe Begriff entsprechen, es sei denn, man wollte äquivoke Begriffe zulassen. Andererseits gibt es im Rahmen einer Ontologie, die nur Einzeldinge zuläßt, keine Sache, von der sich ein grammatisches Merkmal ableiten ließe. Dies ist, was Jan Pinborg das „JanusGesicht“ der oratio mentalis nannte 19: Begriffe als similitudines sind sachzugewandt; als Teile eines Satzes, der syntaktisch verknüpft wird, sind sie sprachzugewandt. Es ist diese Strukturproblematik der Punkt, an dem Wilhelm von Ockham ansetzt und nach Lösungen sucht. Das Interessante ist nun, wie Wilhelm diese Probleme angeht: Wie bereits erwähnt, ist es eine ungewöhnliche Redeweise zu sagen, ein Begriff stehe im Genitiv. Aber muß er das nicht zuweilen, wenn er Korrelat eines entsprechenden Wortes ist? Die Überlegung, daß den Ausdrücken ,der Mensch‘ und ,des Menschen‘ nicht dasselbe Korrelat entsprechen kann, findet sich bereits in Wilhelms 18 19
Cf. Lenz, Mentale Sätze (nt. 16), Kap. II. J. Pinborg, Logik und Semantik im Mittelalter: Ein Überblick, Stuttgart - Bad Cannstatt 1972, 119.
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Frühschriften. Wilhelm macht Ernst mit der Rede von mentalen „Sätzen“ und erkennt ihnen diejenigen grammatischen Merkmale zu, die semantisch notwendig und mithin auch zur Distinktion wahrer und falscher Aussagen erforderlich sind. Damit stellt er sich deutlich den Ansätzen früherer Logiker entgegen, die betont hatten, Begriffen würden keine grammatischen Modi zukommen. Selbst Wilhelms Zeitgenosse Walter Chatton behauptet, grammatische Bestimmungen kämen einzig den Sprachlauten zu. An mehreren Stellen hält Wilhelm aber fest, daß den Begriffen im mentalen Satz bestimmte grammatische Merkmale zukommen müssen. Denn die Semantik und die Wahrheitswertigkeit von Sätzen werden nicht nur durch die Satzteile, sondern auch durch die grammatische Struktur geregelt 20. Grundlegend und kennzeichnend für Wilhelms frühe wie spätere Mentalsatzkonzeption ist die Einsicht, daß Begriffen als Satzteilen - neben der natürlichen Zeichenfunktion - grammatische Bestimmungen zukommen müssen. Woher stammen die grammatischen Merkmale? Da die grammatischen Merkmale der Begriffe nicht auf die Beschaffenheit der erkannten Dinge zurückführbar sind, müssen sie von der Lautsprache abstrahiert werden. Gleiches gilt für alle übrigen strukturrelevanten Termini. So macht es offensichtlich einen Unterschied, ob ich ,Jeder Mensch ist weiß‘ oder ,Ein Mensch ist weiß‘ sage. Der synkategorematische Ausdruck ,jeder‘ kann offenkundig nicht aus der Erkenntnis der Dinge stammen, es gibt keine „Jederheit“ in der Welt. Wollte man aber behaupten, daß beiden Sätzen derselbe mentale Satz korrespondierte, so wäre der mentale Satz äquivok. Auch die Synkategoremata müssen von der Lautsprache abstrahiert werden. Die mentalen Sätze müssen also - um Sätze zu sein - sprachlich bestimmt sein. Dagegen ist bekanntlich der Einwand erhoben worden, daß hier eine Inkonsistenz vorliege: Die Begriffe und die aus ihnen bestehenden mentalen Sätze könnten nicht gleichzeitig grammatisch bestimmt sein und keiner Sprache angehören 21. Wenn die mentale Sprache durch die idiomatische Sprache kontaminiert werde, so könne man dies keine Idealsprache mehr nennen. Nun ist es richtig, daß sich hieraus keine Idealsprache ableiten läßt; doch läßt sich diese „Inkonsistenz“ weitgehend auflösen, wenn man die idealsprachliche Forderung, die sei20
21
Cf. Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum, d. 2, q. 1, in: Opera Theologica II, ed. S. Brown/G. Ga´l, St. Bonaventure, NY 1970, 24: „Unde per ,hominis‘ non tantum importatur illud quod importatur per ,homo‘, sed etiam importatur aliquid quod habet dominium super illud quod importatur per ,homo‘. Similiter, per ,homines‘ non importatur quaelibet res eodem modo quo importatur per ,homo‘; et universaliter tales modi grammaticales qui conveniunt et conceptui et nomini falsificant propositiones frequenter, et frequenter eas reddunt incongruas et non intelligibiles. … Sed qualiter tales modi grammaticales possunt convenire conceptui post patebit.“ Cf. Walter Chatton, Reportatio, I, d. 3, q. 2, in: G. Ga´l, Gualteri de Chatton et Guillelmi de Ockham controversia de natura conceptus universalis, in: Franciscan Studies 27 (1967), 211. Cf. H. Gelber, I Cannot Tell a Lie: Hugh of Lawton’s Critique of William of Ockham on Mental Language, in: Franciscan Studies 44 (1984), 145; Perler, Theorien der Intentionalität (nt. 2), 383 sq.
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tens der Forschung an Wilhelms Thesen herangetragen wurde, aufgibt, und so verdeckt der Einwand die eigentlichen Errungenschaften dieser frühen Konzeption Wilhelms. Es mag freilich an Idealsprachkonzeptionen erinnern, wenn Wilhelm zunächst behauptet, die Begriffe seien nicht den willkürlichen Setzungen unterworfen, sondern natürliche Zeichen der Dinge. Man mag hier im Sinne des Wiener Kreises an die logische Form denken, die man den willkürlichen Zeichensystemen gegenüberstellt. Das eigentliche Novum bei Wilhelm liegt aber gerade nicht in der Behauptung, die Begriffe seien mentale similitudines der Dinge, das hatte ja bereits Boethius behauptet. Das Entscheidende liegt darin, die boethianische Strukturanalogie mentaler und idiomatischer Sätze durchbrochen und gezeigt zu haben, daß sich aus Begriffen als similitudines allein keine mentalen Sätze bilden lassen und daß zum Satz grammatische Bestimmungen gehören, die nicht auf die Dinge zurückgeführt werden können. Wilhelms spätere Konzeption geht zwar davon aus, daß der Intellekt die semantisch notwendigen grammatischen Bestimmungen selbst bildet und nicht von den Lauten zu abstrahieren braucht, doch wird auch hier keine Idealsprache ermöglicht, denn Grammatizität kann in syntaktischen Kontexten immer Mehrdeutigkeit nach sich ziehen 22. Dabei ist die Erkenntnis entscheidend, daß ein Begriff, der Teil eines Satzes ist, niemals notwendig Teil dieses einen Satzes ist; er kann genausogut - zu einer anderen Zeit - Teil eines anderen Satzes sein. Das heißt: Er ist - wie ein Sprachzeichen - als kompositionale Konstituente aufzufassen und trägt nicht immer in derselben Hinsicht zur Bedeutung eines Satzes bei. Gleiche Komponenten können nämlich aufgrund unterschiedlicher Strukturen zu divergenten Satzbedeutungen führen. Das heißt auch: Der Begriff ist im Hinblick auf divergierende Satzkontexte potentiell mehrdeutig. Er ist niemals von sich aus Subjekt oder Prädikat eines Satzes. Wilhelm bewertet offenkundig auch in der späteren Konzeption die Einsicht, daß das Mentale bestimmte sprachliche Strukturen aufweisen müsse, höher als das Bestreben, eine klare Demarkationslinie zwischen Mental- und Idiomsprache zu ziehen. Die Sprachlichkeit des Denkens ist zwar keine Idiomsprachlichkeit, denn anders als in der kommunikativen Idiomsprache gibt es im Denken keine Formen, die rhetorischen Zwecken dienen - und somit gestattet die Annahme einer Mentalsprache, die auf semantisch-ökonomisch strukturierten Formen basiert, einen normativen Blick auf die idiomatische Sprache -, doch besteht auf der Satzebene grundsätzlich die Möglichkeit der Mehrdeutigkeit, etwa hinsichtlich der verschiedenen Suppositionsarten und hinsichtlich der Mehrdeutigkeit grammatischer Strukturen. Das Verhältnis zwischen Mentalsprache und Idiomsprache ist also ein Korrespondenzverhältnis, keineswegs jedoch ein isomorphes, denn laut Wilhelm kommen den mentalen Einheiten nur solche Merkmale zu, die dem Kriterium semantischer Notwendigkeit (necessitas significationis vel expressionis) genügen; ebensowenig ist das Verhältnis zwischen der Mentalsprache und der 22
Cf. Wilhelm von Ockham, Summa Logicae III-4, c. 2-5 (nt. 16), 751-763.
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extramentalen Welt ein isomorphes, das heißt: Auch wenn man eine der Mentalsprache gemäße Idealsprache konstruieren wollte, bildeten deren Strukturen nicht die Struktur der Welt ab.
2. Jer r y Fodors Hypothese der „Languag e of T hought“ Seit dem 14. Jahrhundert haben sich die Philosophie des Geistes und der Sprache in vielen Hinsichten so grundlegend gewandelt, daß Vergleiche zu gegenwärtigen Theorien freilich nur mit großer Zurückhaltung und stets unter Beachtung der kontextuellen Disparitäten gezogen werden können. Aber sollte diese Zurückhaltung nicht gerade auch für die Kritik an historischen Theorien gelten? Gegen Wilhelms Konzeption lassen sich freilich zahlreiche Einwände erheben; so etwa gegen die fraglose Orientierung am Lateinischen oder gegen die Zulassung von Mehrdeutigkeit, die u. a. das Problem aufwirft, wie ein in mentalen Sätzen progredierendes Denken sich eigens korrigieren könnte. Die Frage ist aber, ob solche Einwände - berechtigt oder unberechtigt - Wilhelms Vorstoß zur Annahme einer sprachartigen Strukturiertheit des Denkens treffen können. So urteilt Matthias Kaufmann in seiner vergleichenden Studie zur Position Wilhelms mit Blick auf gegenwärtige semantische Konzeptionen: „Gleichwohl sollte man heute die Existenz solch einer mentalen Sprache wohl in Zweifel ziehen, schon weil ihre Termini und Sätze etwas mysteriöse Entitäten sind, vor allem aber, weil wir für ihre Annahme wenig Evidenz besitzen.“ 23 Dieser Vorwurf ist schon deshalb problematisch, weil er nicht präzisiert, welche Art von Evidenz für die Behauptung mentaler Vorgänge grundsätzlich in Anspruch zu nehmen wäre. Es bleibt daher fraglich, in welcher Hinsicht die mentalen Termini und Sätze erklärungsbedürftig sind. Zudem werden mit diesem Urteil Wilhelms philosophische Maßstäbe und die damit einhergehenden Vorbehalte gegen jede Theorie über die Mentalsphäre vollkommen ausgeblendet. Wilhelm selbst hat keine Evidenz für seine Thesen in Anspruch genommen, sondern vielmehr deutlich erklärt, daß es eine difficultas realis darstelle zu sagen, was auf welche Weise im Intellekt existiere 24. Der aristotelisch-boethianische Konventionalismus, der Wilhelms Thesen über den Zusammenhang von Sprache und Denken zugrunde liegt, ist insbesondere mit dem Aufkommen der historischen und vergleichenden Sprachforschung unter massive Kritik geraten. Spätestens seit der durch Saussure inspirierten strukturalistischen Linguistik aber erscheint eine Theorie, die verschiedene konventionelle Sprachzeichen unter invariante mentale Begriffe subordiniert, als völlig haltlos. Hinzu kommt, daß sich die Philosophie des Geistes im 20. Jahr23 24
Kaufmann, Begriffe, Sätze, Dinge (nt. 5), 20. Cf. Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum, d. 27, q. 2, in: Opera Theologica IV, ed. G. Etzkorn/F. Kelley, St. Bonaventure, NY 1979, 196-197.
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hundert keineswegs mehr auf eine immaterielle und für alle Menschen gleichartige anima intellectiva beruft; unabhängig davon, ob man Geist und Gehirn für identisch hält oder nicht, scheint es für die Kognitionswissenschaften keine vertretbare Alternative zum Physikalismus zu geben 25. Damit - so könnte man folgern - scheinen die Theorien Wilhelm von Ockhams und Jerry Fodors hinsichtlich ihrer Grundlagen kein tertium comparationis aufzuweisen, aufgrund dessen ein Vergleich zwischen der oratio mentalis und der „Language of Thought“ (oder „Mentalese“) angestellt werden könnte, denn Sprach- und Geistbegriff haben sich seit dem 14. Jahrhundert so grundlegend gewandelt, daß man nicht voraussetzen kann, daß die Theorien die gleichen Sachverhalte erfassen bzw. erklären sollen. Liegt also die konstatierte „verblüffende Ähnlichkeit“, die Wilhelm als „inventor“ der Hypothese Fodors erscheinen läßt, vorwiegend in den gleichartigen Namen der Theorien? Zunächst muß man konstatieren, daß Wilhelm eine traditionelle Lehre (der tres orationes) kritisch ausarbeitete, während Fodor seine Hypothese der „Language of Thought“ mit Blick auf die behavioristische „Enthaltsamkeit“ von Spekulationen über das Mentale bis in die frühen achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts „the only game in town“ nennen konnte. Fodor lieferte 1975 eine Theorie des Denkens, die einen ersten vorläufigen Rahmen für die damaligen Arbeiten in der kognitiven Psychologie und der Linguistik abgeben sollte 26. Seine radikalen Thesen stützten sich zwar auch auf empirisch begründete Annahmen, gingen aber in ihrem spekulativen Anteil weit über Noam Chomskys einflußreiche Theorie einer angeborenen grammatischen Kompetenz hinaus, denn Fodor postulierte in der Tat eine in weiten Teilen angeborene mentale Sprache, die von den historisch gewachsenen Einzelsprachen bzw. idiomatischen Sprachen distinkt sein sollte. Zwar konnte er sich u. a. auf die Arbeiten von Gottlob Frege und Alan Turing berufen, doch hatte er weniger einen epistemisch-operativen Symbolismus vor Augen, als vielmehr eine Sprache des Denkens, die in entsprechenden Abstufungen allen intelligenten Organismen zuzuerkennen sei. Eine deutliche Gemeinsamkeit zu Wilhelm liegt hierbei jedoch in der Bedeutung, die Fodor der kompositionalen syntaktischen Struktur für den Entwurf einer Theorie des Denkens beimißt. Dabei sieht auch Fodor den entscheidenden Wert einer solchen Theorie darin, daß sie so etwas wie semantische Identität gewährt; und zwar insofern, als nur die Annahme einer syntaktisch 25
26
Einen geschichtlichen Überblick über die Philosophie des Geistes im 20. Jh. gibt: W. Lyons, Matters of the Mind, Edinburgh 2001; eine systematische Darstellung bietet: A. Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin - New York 22001. Cf. J. Fodor, The Language of Thought, New York 1975, VII-IX; eine spätere Verteidigung zentraler Thesen findet sich in L. Kaye, Semantic Compositionality: Still the Only Game in Town, in: Analysis 53 (1993), 17-23. Mit Blick auf den Behaviorismus hält Fodor später fest: „In contrast to Hume, and to RTM [sc. the representational theory of mind], the logical behaviorism of Wittgenstein and Ryle had, as far as I can tell, no theory of thinking at all (except, maybe, the silly theory that thinking is talking to oneself). I do find that shocking“ ( J. Fodor, Concepts: Where Cognitive Science Went Wrong, Oxford 1998, 10).
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strukturierten mentalen Korrelationsebene zur Sprache die offenbar auf Kompositionalität angewiesenen semantischen Eigenschaften (Intentionalität, Wahrheits- und Erfüllungsbedingungen) im Denken zu erklären scheint 27. Grundlegend für Fodors Theorie ist zunächst seine Akzeptanz der Alltagspsychologie („folk psychology“). Den szientistischen Strömungen in den Kognitionswissenschaften, die den Geist auf das Gehirn und die mentalen Vollzüge auf neurophysiologische Vorgänge reduzieren zu können glauben, hält Fodor entgegen, daß mentale Zustände wie ,glauben‘, ,hoffen‘ oder ,wünschen‘ psychisch real seien. Nach Fodor sind unsere Annahmen über unser mentales Leben keineswegs sinnlos, wenn wir sie in solchen alltagspsychologischen Termini beschreiben, statt zu erwarten, daß die Annahme dieser Zustände irgendwann durch „wissenschaftlichere“ Erklärungen suspendiert werden könnte, wie dies besonders die Vertreter des eliminativen Materialismus behaupten. Dazu braucht Fodor keineswegs einen Substanzdualismus von materiellen und immateriellen Entitäten zu unterstellen; seine Position ist vielmehr eine funktionalistische, die mentale Zustände vor allem durch ihre kausalen Rollen charakterisiert sieht; und seine Einwände richten sich gegen die Annahme, daß man funktionalistische Erklärungen unseres mentalen Lebens auf physikalische oder physiologische Erklärungen reduzieren könnte: Wenn ich beispielsweise die Textverarbeitung auf meinem Computer „verstehen“ will, dann brauche ich keine Informationen über die Hardware, sondern über das Programm, das darauf installiert ist. Diesem Funktionalismus gemäß verhalten sich (alltagspsychologisch beschriebene) mentale Zustände zum Gehirn wie die Software zur Hardware 28. Mit der Computer-Analogie allein ist allerdings noch nicht der Kern der Language of Thought-Hypothese berührt, denn sie eröffnet zwar einen funktionalistischen Ausweg aus der Körper-Geist-Diskussion, sagt aber in der gegebenen Form noch nichts über die Struktur der mentalen Zustände aus und zwingt keineswegs zur Annahme sprachlicher Strukturen im Geist. Die Annahme men27
28
Cf. Fodor, Stephen Schiffer’s Dark Night of the Soul (nt. 1), 187: „… if it’s a good translation [sc. into Mentalese], then semantic properties will be preserved. That purely syntactic operations can be devised to preserve semantic properties is the philosophical moral of proof theory.“ An dieser grundsätzlichen Einschätzung hat sich (auch nach der Etablierung neuer konnektionistischer Modelle) bis heute nichts Wesentliches geändert. Cf. etwa M. Bierwisch, Erklären in der Linguistik - Aspekte und Kontroversen, in: S. Krämer/E. König (eds.), Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Frankfurt a. M. 2002, 185: „Es ist kein Zufall, dass alle Vorschläge, die diesen Aspekt [sc. der kombinatorischen Strukturen natürlicher Sprachen] theoretisch erfassen, Systeme kompositioneller Symbolrepräsentationen verlangen. … Eine äußerst erfolgreiche Strategie der Kognitionswissenschaften beruht auf der sogenannten Computer-Metapher des Gehirns.“ Cf. Lyons, Matters of the Mind (nt. 25), 156-159. Neben dem Ausdruck ,folk psychology‘ haben sich außerdem die Termini ,commonsense psychology‘ und ,belief-desire psychology‘ eingebürgert. Bei der Verteidigung alltagspsychologischer Begrifflichkeit gegen den physikalistischen Reduktionismus geht es Fodor vor allem um die Bewahrung von bewährten spezialwissenschaftlichen Erklärungen (in Linguistik, Philosophie u. Psychologie), die sich auf „propositionale Einstellungen“ berufen.
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taler Zustände wie ,glauben‘ oder ,wünschen‘ braucht uns nicht dazu zu bewegen, solchen Zuständen eine syntaktische Struktur zuzuschreiben. So hat etwa John Searle in seinen späteren Polemiken gegen die Language of Thought-Hypothese auf den Einwand der Beobachterrelativität verwiesen, gemäß dem man ja allen möglichen Dingen (etwa einem Ameisenhaufen) eine Syntax zuschreiben könne, ohne daß diese Zuschreibung etwas über deren „tatsächliche“ Beschaffenheit aussage 29. Demnach kann man zwar mentale Zustände annehmen, ohne ihnen jedoch eine bestimmte Struktur zuschreiben zu müssen. Aber auch dann, wenn viele Philosophen es ablehnen, mentalen Zuständen eine sprachliche Struktur zuzuerkennen, muß man erklären, wie es kommt, daß es etwas gibt, das im Gegensatz zu anderem dadurch charakterisiert werden kann, daß es sich auf anderes bezieht. Damit stellt sich das Problem der Intentionalität mentaler Zustände. Die Erklärungsansätze zu diesem Problem sind vielfältig, brauchen hier aber nicht als solche berücksichtigt zu werden. Wichtig ist zunächst lediglich, zwischen intentionalen mentalen Zuständen und ihren Bezugsgehalten zu unterscheiden und sich klarzumachen, daß die Eigenschaften dessen, auf das ich mich beziehen kann, keineswegs zwingend auf die Eigenschaften des mentalen Zustands schließen lassen, vermöge dessen ich mich auf etwas beziehe. Die Annahme intentionaler mentaler Zustände stellt gleichsam den gemeinsamen Nenner unter den Vertretern des „intentionalen Realismus“ dar 30. Der intentionale Realismus erkennt an, daß es von der Alltagspsychologie postulierte mentale Zustände wie ,glauben‘ und ,wünschen‘ gibt und daß sich diese Zustände auf etwas beziehen und damit einen semantischen Gehalt haben: Demnach kann ich - um ein Beispiel Fodors heranzuziehen - glauben, daß John zu spät zum Essen kommt, und entsprechend zwischen dem mentalen Zustand dieses Glaubens und dem komplexen Gehalt, der aus John (oder - je nach Theorie - dem Begriff von John) und der Eigenschaft (oder dem Begriff) des Zu-spät-zum-Essen-Kommens besteht, unterscheiden. Soweit sind sich die intentionalen Realisten einig. Die Komplexität des Gehalts, auf den der Glaubenszustand bezogen ist, impliziert aber keineswegs eine entsprechende Komplexität auf seiten des Zustands; und an diesem Punkt geht Fodors These über den bloßen intentionalen Realismus hinaus, denn Fodor behauptet, daß die intentionalen Zustände selbst über Konstituentenstrukturen verfügen, deren Konstituenten mentale Symbole sind, die den entsprechenden Gehalt im Denken repräsentieren 31. Fodor differenziert hierbei zwischen mentalem Zustand, der mentalen Repräsentation (Symbole) und dem Bezugsobjekt; die mentalen Symbole repräsentieren (oder bedeuten) diejenigen Bezugsgehalte, die Objekte des 29
30
31
Cf. für eine ausführliche Kritik der Syntax-Zuschreibung als „Homunculus-Fehlschluß“ J. Searle, The Rediscovery of the Mind, Cambridge, Mass. 1992, 207-221. Die folgende Darstellung beruht v. a. auf dem als kanonisch geltenden Kapitel „Why There Still Has to Be a Language of Thought“, in: J. Fodor, Psychosemantics. The Problem of Meaning in the Philosophy of Mind, Cambridge, Mass. 1987, 135-154. Cf. Fodor, Psychosemantics (nt. 30), 136.
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mentalen Zustandes sind. Während sich die intentionalen Realisten also weitgehend einig sind, daß es mentale Zustände bzw. propositionale Einstellungen gibt und daß deren Bezugsobjekte (intentionale Gehalte, Propositionen oder Sachverhalte) komplex sein können, herrscht Uneinigkeit über die Beschaffenheit der Zustände 32. Diese Uneinigkeit resultiert unter anderem aus der Frage, ob komplexe semantische Bezüge wirklich auf sprachartig kompositionale Weise repräsentiert werden müssen 33 und auf welche Weise man mentale Einheiten überhaupt sinnvoll individuieren kann. Dem Funktionalismus gemäß können mentale Einheiten durch die kausalen Rollen mentaler Zustände individuiert werden: Wenn man mich also - um nochmals auf das Beispiel zurückzukommen - fragen sollte, warum ich das Essen auf dem Herd warmhalte, so würde ich wohl antworten: „Weil ich glaube, daß John zu spät zum Essen kommt.“ Zwischen dem mentalen Zustand, innerhalb dessen ich auf die mentale Repräsentation der Proposition, daß John zu spät zum Essen kommt, bezogen bin, und dem Warmhalten des Essens besteht demnach ein Kausalzusammenhang, in dem eine Reihe semantisch verwandter Repräsentationen von Propositionen offenbar kausal vernetzt sind: etwa die mentale Repräsentation der Proposition, daß das Essen bald kalt sein wird, und der Proposition, daß das Essen auf dem Herd erwärmt werden kann, mit meinem Wunsch, mit John zu essen etc. Die Theorie einer Mentalsprache hat in Erklärungen solcher Zusammenhänge u. a. den Vorzug, die kausalen Zusammenhänge zwischen den mentalen Zuständen teilweise mit den semantischen Zusammenhängen (hier z. B. im Symbol/Begriff des Essens) parallelisieren zu können, da semantische Zusammenhänge laut dieser Theorie durch syntaktisch verknüpfte intentionale Symbole repräsentiert sind, die ihrerseits „transportabel“ sind, d. h. in verschiedenen Repräsentationen auftreten können. Demzufolge kann man annehmen, daß etwa das mentale Symbol oder Subsymbol für ,Essen‘ sowohl in der Repräsentation der Proposition, daß John zu spät zum Essen kommt, als auch in der Repräsentation der Proposition, daß das Essen bald kalt sein wird, als Konstituente des jeweiligen mentalen Satzes auftritt. In der Erklärung von Verhalten wird den mentalen Zuständen im Rahmen dieser Theorie also eine sprachliche Struktur zuerkannt. Ein intentionaler Realist hingegen, der die These einer mentalen Sprache ablehnt, wird den Zusammenhang zwischen mentalen Zuständen (also psychischen Prozessen) laut Fodor nicht angemessen erklären können und 32
33
Cf. Fodor, Concepts (nt. 26), 25: „I’ll use ,thoughts‘ as my cover term for the mental representations which, according to R[epresentational] T[heories of] M[ind], express the propositions that are the objects of propositional attitudes. Thus, a belief that it will rain and a hope that it will rain share a thought as well as a proposition which that thought expresses. For present purposes, it will do to think of thoughts as mental representations analogous to closed sentences, and concepts as mental representations analogous to open ones.“ So vertritt z. B. Stephen Schiffer eine Version des intentionalen Realismus, laut deren semantische Komplexität nicht in mentalen Repräsentationen instantiiert zu sein braucht. Cf. S. Schiffer, Remnants of Meaning, Cambridge, Mass. 1987.
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nichts darüber sagen können, wie die Überzeugung, daß John zu spät zum Essen kommt, mit dem Verhalten des Warmhaltens des Essens eigentlich rekonstruiert werden kann 34. Fodor sieht in David Hume den geistigen Vater dieser Konzeption, die in Form der alten Assoziationspsychologie zunächst einen kausalen Zusammenhang zwischen Begriffen behauptet hat: So lasse sich etwa behaupten, daß der Gedanke an Salz den Gedanken an Pfeffer auslösen kann oder aber der Gedanke an Hänsel den an Gretel; der Assoziationismus erkläre aber nicht, wie es komme, daß in den Relationen zwischen mentalen Zuständen oftmals die semantischen Werte bestehenblieben. Mentale Zustände sind laut Fodor nämlich semantisch bewertbar, müssen also Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen haben, da sich sonst beispielsweise nicht angeben ließe, warum wir, wenn wir von wahren Prämissen ausgehen, in der Regel auch bei wahren Schlußfolgerungen anlangen, oder warum wir von einem Wunsch sagen können, daß er erfüllt worden oder unerfüllt geblieben sei. Semantische Bewertbarkeit wird als Merkmal mentaler Zustände zwar von allen intentionalen Realisten zugestanden, doch ist leicht einzusehen, daß eine Theorie der Mentalsprache diesem meist als sprachbezogen eingestuften Merkmal am ehesten gerecht werden kann 35. Mit Blick auf die zahlreichen ungeklärten Fragen über die Funktionsweisen des Gehirns liegt es freilich nahe, daß sich viele Kognitionswissenschaftler über die Frage nach der Beschaffenheit mentaler Repräsentation ausschweigen. Fodors Eintreten für die These einer sprachartigen Repräsentationsform im Denken verdankt sich weitgehend seiner Auffassung von Sprache, der im folgenden anhand eines zentralen Arguments nachgegangen werden soll. Es handelt sich um das Argument für die sogenannte „Systematizität“ (systematicity) des Denkens - ein Begriff, der im folgenden erhellt werden soll. Warum also postuliert Fodor eine Sprache des Denkens? Eines seiner Hauptanliegen ist es zu zeigen, weshalb es unsinnig wäre, mentale Vollzüge als unstrukturierte einfache Akte oder gar als voneinander unabhängige neuronale Prozesse aufzufassen. Sein Systematizitätsargument kreist um die Frage, warum wir in der Lage sind, muttersprachliche Äußerungen zu verstehen und neue zu produzieren 36. Erinnern wir uns an den Beispielsatz, den ich einleitend erwähnte. Laut Fodor wäre jeder Muttersprachler, der den Satz ,Jeder Mensch ist ein Philosoph‘ versteht, auch in der Lage, den Satz ,Jeder Philosoph ist ein Mensch‘ zu verstehen bzw. zu bilden. Warum ist das so? Zwei Voraussetzungen erscheinen wesentlich: (1) Die sprachlichen Einheiten sind im linguistischen Sinne kompositional und rekursiv, das heißt, man kann aus einem begrenzten Inventar sprachlicher Zeichen und Regeln eine nicht scharf begrenzbare Anzahl von Sätzen erzeugen. (2) Die Satzsemantik darf nicht allein aus den einzelnen 34
35 36
Cf. Fodor, Psychosemantics (nt. 30), 136 sq. sowie id., Fodor’s Guide to Mental Representation: The Intelligent Auntie’s Vademecum, in: id., A Theory of Content (nt. 1), 21 sq. Cf. Fodor, Fodor’s Guide (nt. 34), 5 u. 21; id., Concepts (nt. 26), 10 sq. Cf. Fodor, Psychosemantics (nt. 30), 147-153; id., Concepts (nt. 26), 97-99.
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Komponenten hergeleitet werden, sondern muß aus der Satzstruktur bestimmt werden. Mit anderen Worten: Ich muß nicht nur über ein Lexikon, sondern auch über eine Grammatik verfügen. Wenn mich das Verständnis des ersten Satzes aber tatsächlich in die Lage versetzt, den zweiten Satz zu verstehen oder zu erzeugen, dann liegt das nicht nur daran, daß ich weiß, wie man den Ausdruck ,Philosoph‘ oder ,Mensch‘ richtig gebraucht, sondern vor allem daran, daß ich die Satzstrukturen verstehe. Um die Tatsache zu erklären, daß ich die Satzstrukturen verstehe, muß ich annehmen, daß ich das strukturell Gemeinsame dieser Strukturen überhaupt erfassen kann; dies nennt Fodor „Systematizität“ 37. Ich muß also in der Lage sein zu denken, daß jeder Philosoph ein Mensch ist und daß jeder Mensch ein Philosoph ist. Mehr noch: Ich muß die verschiedenen semantischen Gehalte beider Sätze trotz der Kompositionalität der Zeichen erkennen - ich muß also trotz der gleichen Komponenten deren semantische Distinktheit in verschiedenen Satzvorkommen erfassen können. Systematizität ist demnach eine Eigenschaft des Denkens: Sie ist die Voraussetzung und Erklärung dafür, daß die Fähigkeit, einen Satz in seiner semantischen Struktur zu erfassen, die Fähigkeit nach sich zieht, viele andere strukturell ähnliche Sätze zu erfassen und zu produzieren. Woher kommt nun die Systematizität? - Ähnlich wie Wilhelm, der freilich das Phänomen der Systematizität nie eigens thematisiert hat, hält Fodor sprachliche Strukturen nicht für etwas, was sich ganz und gar aus der Beschaffenheit der Welt, auf die wir sprachlich Bezug nehmen, herleiten läßt, sondern vielmehr für etwas semantisch Notwendiges. Systematizität ist also keine Eigenschaft der extramentalen Welt; zumindest ist der Geist wesentlich systematischer als die Welt 38. Läßt sich die Systematizität also aus der (idiomatischen) Sprache herleiten? 39 Einige Philosophen haben die Auffassung vertreten, daß der Geist seine Systematizität mit dem Lernen einer Sprache erhält, was sich in gewissem Maße mit der frühen Konzeption Wilhelms parallelisieren ließe, dergemäß der Geist strukturrelevante Komponenten aus der idiomatischen Sprache gewinnt. Fodor lehnt eine solche Lösung jedoch ab, denn die Sätze einer bestimmten Sprache und deren strukturelle Gemeinsamkeiten müssen ja erfaßt werden, d. h. gedacht werden: Der Geist, das Denken, darf also keineswegs weniger systematisch sein 37
38 39
Cf. Fodor, Concepts (nt. 26), 26: „Beliefs are systematic in that the ability to entertain any one of them implies the ability to entertain many others that are related to it in content. … This sort of symmetry of cognitive capacities is an ubiquitous feature of mental life. It implies a corresponding symmetry of representational capacities …“ Cf. Fodor, Concepts (nt. 26), 26. So vertritt etwa Daniel Dennett die These, daß menschliches Denken erst und allein aufgrund des Lernens der (systematischen) Sprache systematisch sei; cf. D. Dennett, Learning and Labeling, in: Mind and Language 8 (1993), 540-593. Fodor hält dem entgegen, es sei nicht plausibel anzunehmen, daß der Geist eine systematische Sprache lernen könne, die ihrerseits Propositionen ausdrücke, die der (nach Dennett) unsystematische Geist gar nicht denken könnte. Cf. Fodor, Concepts (nt. 26), 26.
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als die jeweilige Sprache. In diesem Zusammenhang spielt Fodors Sprachauffassung eine zentrale Rolle. Denn nach Fodor ist es „die Funktion der Sprache, Gedanken auszudrücken. Einen Satz zu verstehen heißt, den Gedanken zu erfassen, den seine Äußerung für gewöhnlich vermittelt …“ 40. Das Entscheidende an dieser These ist: Sprachen haben keine Semantik. Äußerungen in einer bestimmten Sprache erben ihre Semantik von den durch sie ausgedrückten Gedanken. Im Vergleich zu Wilhelm ist Fodor hier wesentlich radikaler. Denn der späte Wilhelm hat zwar eingeräumt, daß die strukturrelevanten Komponenten vom Geist gebildet werden, hat jedoch der idiomatischen Sprache eine - wenn auch untergeordnete - Semantik zugestanden; dies schon deshalb, weil die Sprache bei Wilhelm gerade nicht primär als „Ausdruck“ des Gedachten, sondern mit Blick auf die Bezeichnung der Gegenstände betrachtet wird. Die Unklarheiten, die Wilhelm sich mit seinen Konzeptionen hinsichtlich der Unterscheidbarkeit von Mental- und Idiomsprache eingehandelt hat, scheinen bei Fodor gelöst zu sein; jedoch um den Preis einer völligen Nivellierung der Sprachkonzeption. Allerdings bestehen die mentalen Sätze bzw. Gedanken für Fodor wie für Wilhelm aus Begriffen, von denen zumindest einige in aristotelischem Sinne „für alle dieselben“ sein sollen. Als ich Deutsch gelernt habe, habe ich laut Fodor keine Theorie über die Satzbedeutungen gelernt, sondern gelernt, wie die Sätze mit den korrespondierenden Gedanken, die aus Begriffen bestehen, verbunden werden. Die Sprache ist in ihrer Systematizität also durch die Systematizität des Denkens bedingt. Und das heißt auch: Um eine Sprache zu lernen, brauche ich eine Sprache - und um meine Muttersprache zu lernen, brauche ich die Mentalsprache. Wenn die Semantik aber ganz entschieden von der Syntax bestimmt wird und die Semantik den Sprachen vom Denken her vererbt wird, dann müssen wir offenkundig eine Syntax des Denkens annehmen 41. Nun mag das alles zu schön klingen, um wahr zu sein. Aber man stelle sich einmal den Fall vor, den Fodor mit seinem Systematizitätsargument ausräumen will: den Fall, daß wir unser Denken nicht als syntaktisch strukturiert, sondern als unstrukturierte Zustände oder als (noch) unbekannte und unzusammenhängende neuronale Prozesse erklären wollten. Wir gäben doch den entscheidenden Erklärungswert dieses Arguments preis, denn es erklärt ja in der Tat, warum wir in der Lage sind, zwei semantisch verschiedene Satzvorkommen mit gleichen 40
41
Fodor, Psychosemantics (nt. 30), 151: „… the function of language is to express thought. To understand a sentence is to grasp the thought that its utterance standardly conveys …“ Cf. Fodor, Concepts (nt. 26), 9: „Finally, English inherits its semantics from the contents of the beliefs, desires, intentions, and so forth that it’s used to express… English has no semantics. … Learning English isn’t learning a theory about what sentences mean, it’s learning how to associate its sentences with the corresponding thoughts. … RTM tolerates the metaphysical possibility of thought without language.“ Cf. ibid., 28 sq.: „Concepts are public; they’re the sorts of things that lots of people can, and do, share. … It seems pretty clear that all sorts of concepts (for example, DOG, FATHER, TRIANGLE, HOUSE, TREE, AND, RED, and, surely, lots of others) are ones that all sorts of people, under all sorts of circumstances, have had and continue to have.“
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Komponenten zu denken und zu produzieren. Stellen wir uns also vor, daß die Gedanken, die wir durch Sätze ausdrücken, nicht sprachartig strukturiert sind: Wenn Gedanken einfach wären, dann verfügten sie selbstverständlich nicht über kompositionale Teile. Das heißt nun für unseren Fall: Wenn die Gedanken, daß jeder Mensch ein Philosoph ist und daß jeder Philosoph ein Mensch ist, keine Teile, also keine „transportablen“ Konstituenten enthielten, dann könnten wir nicht denken, daß die beiden Gedanken irgendwie zusammenhängen. Das könnten wir allenfalls aus der homophonen Oberflächenstruktur der deutschen Sätze ableiten. Bezogen auf unsere Fähigkeit, verschiedene Sätze nicht nur zu verstehen, sondern mit dem gleichen Lautmaterial auch neue erzeugen zu können, klingt das absurd. Sie wären gleichsam in der Lage zu denken und zu sagen, daß jeder Mensch ein Philosoph ist, könnten aber nicht umgekehrt denken und sagen, daß jeder Philosoph ein Mensch ist. Wenn Gedanken keine kompositionale Konstituentenstruktur hätten, dann wüßten wir nichts von dem Zusammenhang der Gedanken. Wir hätten keine Erklärung für den laut Fodor empirisch belegbaren Zusammenhang, den wir zwischen den Gedanken herstellen. Und damit sind wir wieder bei einem zentralen Problem, das sich Wilhelm von Ockham von einer ganz anderen Seite her stellte: Wenn wir nämlich strukturierte Gedanken haben, dann müssen wir diese ja auch denken können. Wilhelm mußte sich daher mit der Frage befassen, wie mentale Sätze im Intellekt unterschieden werden können, die idiomatischen Sätzen wie ,Jeder Mensch ist ein Philosoph‘ und ,Jeder Philosoph ist ein Mensch‘ entsprechen. Aufgrund seines Geistbegriffs galt es für ihn nämlich als ausgemacht, daß die raumzeitliche Sukzession der idiomatischen Sätze, die deren semantische Verschiedenheit verdeutlicht, im Intellekt nicht besteht; er mußte daher eine Möglichkeit finden, die Sätze, die ja die gleichen Komponenten haben, als unterschiedene Strukturgebilde zu erklären, andernfalls wären die Sätze im Intellekt nicht unterscheidbar. Entweder mußten die mentalen Sätze als ontisch einfache Gebilde gedacht werden - was freilich die Kompositionalität und Rekursivität bedroht - oder als mentalgrammatisch strukturierte, aber eben nicht lineare Einheiten 42. Sehen wir uns diesen Punkt einmal an. 3. Konverg enzen und Diverg enzen Der Konflikt, auf den Wilhelm von Ockham mit seinen Thesen über die Struktur der oratio mentalis reagierte, war dem Streit über die Beschaffenheit mentaler Zustände zwischen den intentionalen Realisten nicht unähnlich. Neben der genannten boethianischen Strukturanalogie zwischen Sprache und Denken gab es weitere konkurrierende bzw. komplementäre Modelle, die im Anschluß an die augustinische Verbum-Lehre diskutiert wurden. Wilhelm versuchte, das verbum 42
Cf. Wilhelm von Ockham, In Periherm., prooem., § 6 (nt. 1), 354-356.
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mentale als intellectio im Sinne eines mentalen Zustandes bzw. Satzes zu interpretieren und so mit seiner Konzeption der oratio mentalis zu harmonisieren. Der Oxforder Dominikaner Crathorn hat Wilhelms Gleichsetzung der augustinischen verba cordis mit mentalen Satzteilen deshalb scharf kritisiert: Augustin verstehe unter den verba mentalia, die keiner Sprache angehörten, zwar verba der bezeichneten Dinge - nämlich in der Funktion von similitudines rerum -, keineswegs aber Sätze oder Satzteile 43. Augustin hatte in der Tat die syntaktische Dimension gar nicht berücksichtigt, und so mußte schon Wilhelm selbst einräumen, daß Augustins Äußerungen mit Blick auf die zeitgenössischen Konzeptionen in Widersprüche führten. Die Verbum-Lehre lieferte eine Semantik ohne Syntax. Und in diesem Sinne versuchten einige Autoren des 14. Jahrhunderts, mentale Zustände - auch wenn sie auf komplexe Inhalte gerichtet sein sollten - als strukturlose einfache Akte zu konzipieren und damit die These einer mentalen Sprache zu verwerfen, während Wilhelm und die Anhänger seiner Konzeption die Semantik von mentalen Sätzen zumindest zum Teil als syntaxbedingt auffaßten 44. Die Stärke der Positionen Wilhelms wie Fodors liegt freilich nicht zuletzt in der Annahme, daß die mentale Repräsentation semantischer Komplexität im Rahmen einer kompositionalen und rekursiven Syntax adäquat erklärt werden zu können scheint. Im Mittelalter steht diesem Erklärungsansatz aber ein Problem von seiten des Intellektbegriffs entgegen. Im Rekurs auf eine These aus der Aristotelischen Physik, dergemäß nicht mehrere Körper zugleich am selben Ort existieren können, hielten einige Autoren es nämlich für unmöglich, daß der Intellekt gleichzeitig mehrere Denkakte vollziehen kann. Die Annahme eines strukturierten und mithin mehrteiligen Satzes im Intellekt warf daher die Frage auf, ob nicht dessen Strukturiertheit die Einheit des gedachten Satzes bedrohe. Wenn man annimmt, daß der mentale Satz wie ein lautlich geäußerter sukzessiv vollzogen wird, dann ist unklar, wie er als eine Einheit und als etwas Begrenztes erkannt werden kann; weshalb Wilhelm es ablehnt, eine solche Sukzession zu unterstellen. Dann ist man aber mit dem Problem konfrontiert, daß in der idiomatischen Sprache gerade die Satzgliedstellung einen Einfluß auf den semantischen Gehalt hat. Angesichts dieser Probleme diskutierten Wilhelm und spätere Autoren verschiedene Thesen, die erklären sollten, wie syntaktische Struktur 43
44
Cf. Crathorn, Quästionen zum ersten Sentenzenbuch, q. 2, ed. F. Hoffmann (BGPhThMA N.F. 29), Münster 1988, 171. Cf. für eine konzise Analyse dieser Debatte auch Perler, Theorien der Intentionalität (nt. 2), 374 sqq. Überdies grassierte in der Tradition der verbum-Spekulation die Auffassung, daß das Satzhaft-Diskursive des Denkens strenggenommen kein Attribut des Denkens überhaupt ist, sondern der Schwäche menschlich-körpergebundenen Denkens geschuldet ist. Cf. e. g. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 58, a. 3-4, ed. P. Caramello (Editio Marietti), Rom - Turin 1952, 282-284; Walter Chatton, Reportatio, I, d. 3, q. 2 (nt. 20), 210-211; dazu kritisch Wilhelm von Ockham, Quaestiones in librum secundum Sententiarum, q. 14, in: Opera Theologica V, ed. G. Ga´l/R. Wood, St. Bonaventure, NY 1981, 319 sq.
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und Einheit des immateriellen mentalen Satzes vereinbar sind 45. Die heutigen Einwände gegen eine mentale Sprache gründen sich jedoch nicht mehr auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Struktur und Einheit, da der Geist gerade nicht als immaterielles Medium aufgefaßt wird; Fodor selbst erklärt, daß intentionale Symbolvorkommen in allen bekannten Fällen physikalischer Natur seien und gerade deshalb die angemessenen Kandidaten darstellten, kausale Rollen zu spielen 46. Die Ähnlichkeit der mittelalterlichen und gegenwärtigen Mentalsprachtheorien führt also aufgrund der disparaten Geistbegriffe für Wilhelms Konzeption zu einem Problem, das Fodor nie hatte. Fodor will seine Annahme der Strukturiertheit des Denkens mittels der für ihn verbürgten Strukturverwandtschaft verschiedener Gedanken (Systematizität) rechtfertigen, während Wilhelm seine Annahme der Strukturiertheit des Denkens gegen den Einwand der möglichen Ununterscheidbarkeit strukturverwandter Gedanken verteidigen muß. Trotz der Disparität der Streitfragen sind aber sowohl Wilhelms als auch Fodors Konzeption dem Vorwurf ausgesetzt, daß es für ihre Positionen keine empirischen „Beweise“ gibt, denn bis heute gilt, daß die wenigen empirischen Daten zum „Phänomen“ des Geistes verschiedene und durchaus einander widersprechende Theorien stützen. Wilhelms Konzeption einer immateriellen Mentalsprache begegnet dieser „Beweisnot“ mit der Analogie zur idiomatischen Sprache, während Fodor seine Konzeption einer physisch realen Mentalsprache in Analogie zum Computer entwirft. Die beiden Analogien lassen sich auf drei verschiedenen Ebenen betrachten: Auf der „untersten“ Ebene können die Akte der sprachlichen Lautproduktion (prolatio) bei der oratio vocalis mit den geistigen Akten (intellectiones) der oratio mentalis parallelisiert werden, während sich die Bitmuster eines Computers mit Feuerungsmustern von Neuronen parallelisieren lassen 47. Letztere sind als die physische Implementierung der mentalen Repräsentationen (also Symbolverarbeitungsprozesse auf einer „mittleren“ Ebene) zu sehen, die sich auf der „oberen“ Ebene alltagspsychologisch als intentionale mentale Zustände beschreiben lassen. Der mittleren und oberen Ebene in Fodors Modell entsprächen in Wilhelms Konzeption die (in Analogie zur complexio der Laute, also sprachzugewandt betrachteten) mentalgrammatisch zu Sätzen zusammengesetzten Einheiten (compositio in mente), die sich auf der oberen Ebene als (sachzugewandte) mentale Zeichen (signa) der Gegenstände beschreiben lassen. Sehen wir uns die Analogien bei Wilhelm und Fodor einmal im Überblick an: 45
46 47
Cf. Adam de Wodeham, Lectura secunda I, d. 1, q. 1, § 4, ed. R. Wood/G. Ga´l, St. Bonaventure, NY 1990, 188: „Hic tamen est advertendum quod tenendo quod tale complexum sit obiectum immediatum assensus, potest homo dupliciter imaginari de complexo. Vel scilicet quod in intellectu sunt tres actus: duo absoluti et unus comparativus … Aut … posset dici quod propositio quaecumque de mundo est in se actus simplex [in] essendo, licet non in significando quemadmodum hoc ponitur etiam de actu assentiendi.“ Cf. Fodor, Psychosemantics (nt. 30), 135. Cf. auch Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes (nt. 25), 277280.
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Betrachtungsebenen
oratio vocalis
oratio mentalis
Computer
Mentalesisch
1
prolatio
intellectio
Bitmuster
Neuronenfeuermuster
2
complexio
compositio in mente
Maschinensprache
Symbolverarbeitung
3
signum ad placitum
signum naturale
Benutzeroberfläche
intentionale Zustände
Diese freilich etwas schematische Zuordnung der Analogien zu verschiedenen Betrachtungsebenen ermöglicht einen vergleichenden Einblick in die Zusammenhänge der Theorien, die im folgenden nur andeutungsweise genannt seien. Die drei Ebenen stellen nach Funktion und Beschaffenheit unterschiedene Stufen der Betrachtung dar, die ihrerseits verschiedenen „Gesetzmäßigkeiten“ folgen. So entstand etwa die Diskussion über die Frage, ob der Intellekt mehrere Denkakte (intellectiones) gleichzeitig vollziehen kann, mit Blick auf die „Gesetzmäßigkeiten“ oder die Beschaffenheit des Intellekts (Ebene 1) - und zwar hinsichtlich der erwähnten Annahme, daß nicht mehrere Körper zugleich am selben Ort existieren könnten. Wilhelm mußte daher klarstellen, daß die im Lautlichen erforderliche Sukzession für den Intellekt nicht in Anspruch genommen zu werden brauche, auch wenn man nicht mit Sicherheit sagen könne, was auf welche Weise im Intellekt existiere. Für Fodor stellt die Ebene 1 die Implementierung der Symbole im Gehirn dar; aber auch hier ist diese Ebene ein Bereich, der sich zwar in Analogie zum Computer (Implementierung von Bitmustern in der Hardware des Computers) erschließen läßt, über den wir aber keine genaue Kenntnis brauchen, wenn wir verstehen wollen, was auf Ebene 2 und 3 geschieht. Die Ebene 2 stellt bei Wilhelm den Aspekt dar, der vorhin unter dem Begriff der Sprachzugewandtheit charakterisiert wurde, Ebene 3 hingegen unter dem Begriff der Sachzugewandtheit. Auch hier wird die Verschiedenheit der Gesetzmäßigkeiten deutlich: Mit Blick auf die bezeichneten Gegenstände lassen sich die mentalen Einheiten in ihrer Funktion als natürliche Zeichen oder similitudines beschreiben; die für natürliche Zeichen notwendige Semantik aber ergibt sich nicht allein mit Blick auf die „extramentale Welt“, sondern erst dann, wenn man sprachliche und logische Gesetzmäßigkeiten (auf Ebene 2) berücksichtigt; deshalb kann die Beschreibung einer Mentalsprache nicht allein mit Blick auf die Gegenstände gelingen. Ähnlich will Fodor die Struktur des Mentalesischen nicht aus der Beschaffenheit der intentionalen Gehalte ableiten, sondern aus der Analogie zu den „Übersetzungsprozessen“ von einer zugänglichen „Benutzeroberfläche“ (die sich mit den alltagspsychologisch beschreibbaren Zuständen parallelisieren läßt) in eine Maschinensprache, die kausale Rollen übernehmen kann, deren Syntax aber nicht in den Termini beschrieben wird, die die Alltagspsychologie für „ihre Gesetzmäßigkeiten“ verwendet. So ist etwa die Möglich-
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keit, daß das Mentalsymbol ,P‘ sowohl in ,P & Q‘ als auch in ,P & R‘ auftreten kann, wesentlich für eine kompositionale Syntax, doch spielt dies nicht zwingend eine Rolle in einer alltagspsychologischen Erklärung des Zusammenhangs zwischen zwei mentalen Glaubenszuständen (z. B.: ,Ich glaube, daß P & Q‘; ,ich glaube nicht, daß P & R‘); wenngleich alltagspsychologische Erklärungen in vielen Fällen letztlich durchaus mit formalen Gesetzmäßigkeiten in Zusammenhang gebracht werden können. Die Computeranalogie verweist jedoch auch auf wesentliche Unterschiede zwischen Wilhelms und Fodors Konzeptionen, die man im Auge behalten muß: Wilhelms Version der Mentalsprache enthält in ihren syntaktischen Verbindungen die Möglichkeit der Mehrdeutigkeit und ist damit gerade in dem Sinne eine Sprache, daß sie interpretierbar bleibt 48 und insofern auch vermittels verschiedener Rekonstruktionsansätze erschlossen werden kann; Fodors Version des Mentalesischen jedoch muß, da ihr kausale Rollen zugeschrieben werden, semantisch explizit und eindeutig sein; in ihrer „Steuerungsfunktion“ ist sie offenbar nicht „nur“ Sprache, sondern Maschinensprache. Während nämlich Wilhelm die Rolle der Mentalsprache vor allem in semantischer und epistemischer Hinsicht untersucht, hat Fodor eine umfassendere Erklärungsabsicht im Blick. Wird bei Wilhelm der Begriff des Denkens (intelligere, cogitare) weitgehend mit dem Begriff des geistigen Erkennens enggeführt, so geht es Fodor um die Erklärung intelligenten Verhaltens insofern, als es intentionale Zustände erfordert. Zwar zielen dabei beide Konzeptionen auf mentale Zeichen bzw. Repräsentationen, doch während Wilhelm v. a. den semantischen Sprach- und Gegenstandsbezug im Blick hat, geht es für Fodor darüber hinaus um die kausalen Rollen solcher Repräsentationen. So kann das „mentale Korrelat“ des Satzes ,Ich hebe meine linke Hand‘ einerseits eine Bedeutung (die Proposition, daß ich meine linke Hand hebe) oder sogar ein extramentales Denotat (die Tatsache, daß ich meine linke Hand hebe) haben; doch neben diesem semantischen Charakter kann der mentalen Repräsentation innerhalb eines mentalen Zustandes mit der Intention, die Proposition (daß ich meine linke Hand hebe) wahr zu machen, eine kausale Rolle zukommen: nämlich die, daß ich meine linke Hand hebe. Ich verfüge dann nicht nur über eine gleichsam informative mentale Repräsentation, die semantisch auf einen Gegenstand (also u. a. auf mich und auf meine linke Hand) bezogen ist; vielmehr ist es so, daß die mentale Repräsentation zur „Steuerung“ meines Verhaltens beiträgt. Der Gesichtspunkt der mentalen Kausalität stellt gegenüber der Konzeption Wilhelms aber nicht nur eine Erweiterung der Erklärungsabsicht dar, sondern hat Konsequenzen, die sich auf Kernpunkte der Theorien auswirken; so auf die Frage, wie mentale Zustände und Repräsentationen individuiert sind. Wenn 48
Darauf, daß es sich bei der oratio mentalis nicht um sprachunabhängiges Denken, sondern immer noch um eine Sprache handelt, macht auch Hennigfeld kritisch aufmerksam; er übersieht jedoch, daß Wilhelm diesen Gesichtspunkt selbstkritisch reflektiert hat. Cf. Hennigfeld, Geschichte der Sprachphilosophie (nt. 7), 285.
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Wilhelm sagt, daß jeder idiomsprachlichen Einheit auf der mentalen Ebene eine Einheit in der Weise korreliere, daß es im Geist zwar alle semantisch notwendigen Einheiten, aber keine Synonyme gebe, dann werden die mentalsprachlichen Einheiten offenkundig weitgehend über den Sprach- und Gegenstandsbezug erschlossen. Anders liegen die Dinge, wenn man die Individuation mentaler Zustände (auch) von kausalen Bezügen abhängig macht: So gibt es bekanntlich Sätze, in denen wir einzelne Konstituenten zwar salva veritate durch andere Konstituenten ersetzen können, doch folgt aus dieser Ersetzbarkeit keineswegs, daß die Sätze mit synonymen Konstituenten in allen Fällen zu den gleichen Wirkungen (z. B. Schlußfolgerungen) führen. Dementsprechend sind mentale Zustände opak. So kann jemand die Überzeugung haben, daß Wasser erfrischend ist, ohne daß man ihm deshalb das Wissen darüber unterstellen dürfte, daß ,H2O‘ = ,Wasser‘ ist, weshalb man ihm auch nicht ohne weiteres die Überzeugung, daß H2O erfrischend ist, zuschreiben dürfte. Mögen also die Termini ,H2O‘ und ,Wasser‘ auch extensionsgleich sein, so gibt es dennoch keine Garantie dafür, daß die beiden Termini als verschiedene mentale Repräsentationsweisen deshalb in jedem mentalen Leben in der Folge auch dieselben Gedanken hervorrufen. In solchen Fällen kommt also Freges Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung zum Tragen, eine Unterscheidung, die von Wilhelm nicht nur nicht getroffen wurde, sondern die durch sein Synonymie-Kriterium geradezu blockiert wird. In Fodors Version der Mentalsprache hingegen müssen solche Synonyme also repräsentierbar sein, wenn sie unterschiedliche kausale Funktionen haben sollen 49. 4. Schluß Wilhelm von Ockhams Konzeption kann in einer solchen Gegenüberstellung freilich leicht in die Schranken ihrer historischen Begrenztheit verwiesen werden: Er entwickelte seine Thesen zur oratio mentalis auf der Grundlage einer Semantik, die sich ebensowenig auf Freges Überwindung des aristotelischen Prädikationsschemas wie auf sprachvergleichende Studien oder auf die Errungenschaften der modernen Sprechakttheorie berufen konnte. Und daher fiele es auch äußerst schwer, zwischen Wilhelm von Ockhams und Jerry Fodors Äußerungen zum Verhältnis von Sprache und Denken ohne methodische Bedenken ein Gespräch zu fingieren. Gleichwohl liegt in Wilhelms nachdrücklichen und nicht bloß metaphorischen Verweisen auf die syntaktische Strukturbedingtheit der Semantik keine beliebige Gemeinsamkeit zum Ansatz Fodors; und Fodor selbst räumt 49
Cf. Fodor, Psychosemantics (nt. 30), 140; id., Concepts (nt. 26), 15-22. Fodor übernimmt jedoch nicht einfach die Einteilungen Freges, sondern differenziert noch deutlicher zwischen Sinn (sense) und Weise des Gegebenseins (mode of presentation); die Weise des Gegebenseins ermöglicht laut Fodor eine wesentlich feinere Begriffsindividuation als der Sinn und ist demnach als mentale Repräsentationsform anzusehen.
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diese Gemeinsamkeit in seiner jüngsten Arbeit erstmals explizit ein, allerdings ohne sich auf Details einzulassen 50. Dem Denken eine syntaktische Struktur zuzuschreiben, das hat freilich Folgen für den Begriff des Geistes. Denn auch dann, wenn man die Syntax eines Satzes nicht mit der sukzessiv-linearen Oberflächenstruktur eines Satzes identifiziert, läßt sich deren Repräsentation nicht gänzlich von der physikalisch gegebenen Form loslösen; andererseits bleibt aber das Problem bestehen, wie man „rein“ physischen Gegenständen intentionale oder semantische Eigenschaften zuschreiben kann. Während man daher im Anschluß an Wilhelm mit der Frage rang, wie man überhaupt Strukturen im (immateriellen) Geist annehmen kann, so ringt man im Anschluß an Fodor mit dem Problem der Zuschreibung von Semantik und Intentionalität 51. Wie steht es also um die Bewertung der spätmittelalterlichen Diskussionen über die oratio mentalis? Bereits die flüchtige Zusammenschau sollte gezeigt haben, daß die eilfertigen Einwände, die diese Konzeptionen in die historische Mottenkiste verbannen wollen, sich nicht halten lassen. Beide Konzeptionen bedienen sich mit dem Rückgriff auf die Syntax freilich einer Denk- und Sprachauffassung, die voraussetzt, daß sich Sprache und Denken grundsätzlich nach rationalen Kriterien rekonstruieren lassen. Gegenentwürfe zu einer solchen Position begegnen uns u. a. bei Wilhelm von Humboldt 52, beim späten Ludwig Wittgenstein und - im Rahmen jüngerer Sprachkonzeptionen in massiver Form im Performanzmodell sprachlicher Kommunikation 53. Schon Humboldt gesteht dem Denken gegenüber der Sprache insofern keinen grundsätzlichen Vorrang mehr zu, als er betont, daß das Denken jeweils von einer bestimmten Sprache abhängig sei. Nach Wittgensteins Auffassung der Sprache als Bestandteil unseres Verhaltens ist eine Trennung von Sprache und Denken im genannten Sinne gar nicht mehr möglich. Gemäß dem genannten Performanzmodell ist Sprache „nur in Form von Praktiken des Sprachgebrauchs“ existent. Die Sprache ist demnach nicht nur nicht bloßer Ausdruck des Denkens; auch die linguistische Unterscheidung von Sprache und Sprechen bzw. sprachlicher Regel und deren Realisierung oder Anwendung gerät in die Kritik; in den Worten der Philosophin Sybille Krämer: „Alle Aussagen über die Sprache sind dann solche, die sich immer auf die (schriftliche) Darstellung von Sprache beziehen, nicht aber auf eine Sprache 50
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Cf. J. Fodor, The Mind Doesn’t Work that Way. The Scope and Limits of Computational Psychology, Cambridge, Mass. 2000, 14: „… I think there is such a consensus [sc. about the nature of mental processes], epitomized perhaps by Kant; and that it has its roots in Aristotle and reaches us via such of the Scholastics as William of Occam.“ Cf. Fodor, Fodor’s Guide (nt. 34), 28. Cf. zu Humboldts Sprachkonzeption K. Kahnert, Denken als Sprechen: Die Bedeutung Wilhelm von Humboldts für die Sprachphilosophie, in: Kahnert/Mojsisch (eds.), Umbrüche (nt. 15), 245-259. Cf. zu Wittgenstein sowie zu einem Vergleich „logosorientierter“ und performativer Sprachkonzeptionen S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation: Sprachtheoretische Konzeptionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2001.
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Martin Lenz
,per se‘. Einen Zugang zu so etwas wie der ,reinen‘ Sprache haben wir nicht. Sprache existiert nur als Sprache-in-einem-Medium, als gesprochene, geschriebene, gestische, technisch mediatisierte Sprache.“ 54 Wenn diese Feststellung zutreffen sollte, dann könnten wir davon ausgehen, daß eine ganze Reihe von Merkmalen, die wir als grundsätzlich „sprachlich“ zu klassifizieren pflegen, auf die (materialen) Eigenschaften des jeweiligen Mediums einer sprachlichen Äußerung zurückgeführt werden könnte. So mag es etwa an der Verschriftlichung liegen, daß wir einer gegebenen Sprache bestimmte grammatische Merkmale zuschreiben. Es ist ja inzwischen eine Binsenweisheit in der Linguistik, daß der gesprochenen Sprache nicht dieselben grammatischen Prinzipien zugrunde gelegt werden können wie der geschriebenen Sprache. Wenn man also Spracheinheiten mit Blick auf logisch und semantisch relevante Einheiten klassifiziert, so heißt das keineswegs, daß man sich mit der Struktur „der Sprache“ befaßt, sondern eventuell lediglich, daß eine bestimmte „Darstellung“ der Sprache in eine zweckmäßigere überführt wird. Diese Überführung orientiert sich dann aber an den Zwecken und nicht an einer „eigentlichen Sprache“ oder an ihrer „wahren Struktur“. Entscheidend an der kritischen Position des Performanzmodells ist die Klassifizierung bestimmter Sprachkonzeptionen als Modi der Betrachtung von Sprache; damit ist die Rede über die Sprache und zumal über die Sprache des Denkens bestimmbar als ein Modus unter vielen. Was aber kann dann aus der hier angedeuteten Parallelität zwischen Wilhelms und Fodors Konzeptionen gefolgert werden? - Zunächst mag sie überraschen, denn man könnte den Eindruck gewinnen, als habe es die an den einzelnen Sprachen interessierten neuzeitlichen Strömungen, die einen Einfluß der Einzelsprachen auf das Denken der jeweiligen Sprechergemeinschaften annehmen, nie gegeben. Folgt man diesem ersten Eindruck, so fragt sich, ob die spätmittelalterliche Philosophie des Geistes und der Sprache in diesem Punkt vielleicht in engerer thematischer Beziehung zur gegenwärtigen Analytischen Philosophie des Geistes denn zu den in der Neuzeit inspirierten Ansätzen steht? Doch auch wenn diese und vergleichbare Fragen zu undifferenziert sind, als daß darauf befriedigende Antworten gegeben werden könnten, zeigen sie, daß nähere Untersuchungen dieser Parallelität nötig sind, bevor wir solche Fragen feiner formulieren oder gar zurückweisen können.
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Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation (nt. 53), 270.
III. Spätmittelalterliche Wissenschaftsinstitutionen
Zurück zu Autorität und Tradition Geistesgeschichtliche Hintergründe des Traditionalismus an den spätmittelalterlichen Universitäten Maarten J. F. M. Hoenen (Leuven) I. Die Geschichtswissenschaften betrachten eine historische Situation auf dem Hintergrund von deren Genese, um so die auf den ersten Blick zufällig erscheinenden Fakten von ihren Ursachen her verstehen und sie im Rahmen der gefundenen Entwicklungsstränge deuten zu können 1. Das gilt auch für die Philosophie, die sich schon früh für ihre Geschichte interessiert hat. Das Studium der Vorgänger diente Aristoteles als Spiegel und Mittel der Selbstvergewisserung. Er stellte die eigene Position als Folge und Korrektur der vorangehenden Denkweisen dar und begründete damit ihre Plausibilität 2. Im fünfzehnten Jahrhundert nahm die Bezugnahme auf die Vergangenheit die Gestalt eines Streites an, der an den Universitäten Frankreichs und im Alten Reich ausgefochten wurde. Zur Diskussion stand dabei vor allem die Beziehung (connexio) von Philosophie und Theologie 3. Bezugspunkt dieser Debatte war die Wende vom dreizehnten zum vierzehnten Jahrhundert. Diese Zeit hatte nach Ansicht der Kontrahenten eine Veränderung in der Philosophie gebracht, die in der Retrospektive von der einen Partei als neue Methode (modus quidam novus), von der anderen als perverse Streitsucht und Zerstörung der Einheit (dyscolia) gedeutet wurde 4. Letztere Partei vertrat deshalb die Rückkehr zu den Autoren des dreizehnten Jahrhunderts. Sie ließ sich in der Philosophie von dem durch 1
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Interessante Überlegungen dazu bringt R. G. Collingwood, An Autobiography, with a new introduction by S. Toulmin, Oxford 1978, 29-43, 53-88. De anima I, 2-5, 403b20-411b30 und Metaphysica I, 3-10, 983a24-993a27. Z. Kaluza, Les e´tapes d’une controverse. Les nominalistes et les re´alistes parisiens de 1339 a` 1482, in: A. Le Boulluec (ed.), La controverse religieuse et ses formes, Paris 1995, 297-317, bes. 315, mit Verweisen auf Quellen und Literatur. Stephan Hoest, Reden und Briefe. Quellen zur Geschichte der Scholastik und des Humanismus im 15. Jahrhundert, ed. F. Baron, München 1971, 164-178, bes. 176 (modus quidam novus), und A. G. Weiler, Un traite´ de Jean de Nova Domo sur les Universaux, in: Vivarium 6 (1968), 108154, bes. 137 (dyscolia). Zum geistigen Profil des Stephan Hoest, eines Vertreters der via moderna, cf. die Einleitung von F. Baron in der genannten Ausgabe, 37-58. Der Terminus dyscolia gehörte zum gängigen Vokabular des mittelalterlichen Gelehrten. Er wird mit Verweis auf Aristoteles gedeutet in Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, quaest. 116, art. 1 (dyscolus, litigiosus).
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Maarten J. F. M. Hoenen
die Theologie gesetzten Rahmen leiten und verteidigte die Anpassung der Philosophie an die Wahrheit des Glaubens (conformitas ad veritatem nostre religionis) 5. Die erste Gruppe dagegen kritisierte diese Mischung von Philosophie und Theologie. Die Philosophie habe einen eigenen Geltungsanspruch, der zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts an den Tag gekommen sei. Dieser neuen Tradition gelte es zu folgen, sogar im Interesse der Theologie, denn sie schütze die Theologie vor dem Eindringen philosophischen Hochmuts (auctoritates philosophorum sunt argumenta quasi extranea doctrine sacre) 6. Dieser Rückblick auf die eigene Geschichte, der mit der Frage nach dem Auftrag der Philosophie an der Universität eng verbunden war, wurde durch die historischen Umstände provoziert. Hungersnöte und Pestausbrüche, der Hundertjährige Krieg und die Spaltung der Kirche hatten an der akademischen Substanz gezehrt. Die Studentenzahlen sanken in manchen Jahren stark. Die Doktoren und Magister waren oft nicht am Platz. Sie übernahmen öffentliche Aufgaben, verbrachten ihre Zeit als Ratgeber und Botschafter an päpstlichen Höfen und beteiligten sich an den Konzilien des beginnenden fünfzehnten Jahrhunderts. Die Zahl der Schriften, die dem Unterricht gewidmet waren, verringerte sich zugunsten von Werken, in denen aktuelle Fragen der weltlichen und kirchlichen Politik aufgegriffen wurden 7. Das alles führte zu einem Verlust an Einheit und Kohärenz. Die Pariser Universität versuchte diesen Verlust auszugleichen, indem sie sich verstärkt als Hüterin der wahren philosophischen und theologischen Tradition profilierte, aber ohne Erfolg. Sie wurde zum Spielball politischer Mächte 8. Die noch jungen Universitäten des Alten Reiches betrachteten Paris als exemplar und alma mater, waren aber gespalten über die Frage, an welcher Brust sie sich zu nähren hätten, der des alten oder der des neuen Weges, denn beide konnten sich auf eine ruhmvolle Pariser Vergangenheit berufen 9. 5
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Johannes de Nova Domo, Tractatus de esse et essentia, ed. G. Meersseman, in: Meersseman, Geschichte des Albertismus, Heft 1: Die Pariser Anfänge des Kölner Albertismus, Paris 1933, 91-191, bes. 92. So bereits hervorgehoben von Peter von Ailly, Tractatus ex parte universitatis studii Parisiensis pro causa Fidei contra quemdam fratrem Johannem de Montesono, in: Ch. du Plessis d’Argentre´ (ed.), Collectio judiciorum de novis erroribus, vol. 1/2, Paris 1728, 75-129, bes. 117. Ähnliches später bei Johannes Gerson. J. Verger, The University of Paris at the End of the Hundred Years’ War, in: J. W. Baldwin/R. A. Goldthwaite (eds.), Universities in Politics. Case Studies from the Late Middle Ages and Early Modern Period, Baltimore 1972, 47-78, und W. J. Courtenay, Parisian Theology 13621377, in: M. J. F. M. Hoenen/P. Bakker (eds.), Philosophie und Theologie des ausgehenden Mittelalters. Marsilius von Inghen und das Denken seiner Zeit, Leiden 2000, 3-19, bes. 13-14. Aufschlußreich ist eine Rede des Dekans der theologischen Fakultät (1387), ediert im Chartularium Universitatis Parisiensis, ed. H. Denifle/Ae. Chaˆtelain, vol. 3, Paris 1894, n. 1557, 487489. Über die spätere Lage informiert Verger, The University of Paris (nt. 7). Dazu die Dokumente gesammelt in F. Ehrle, Der Sentenzenkommentar des Peter von Candia des Pisaner Papstes Alexanders V. Ein Beitrag zur Scheidung der Schulen in der Scholastik des vierzehnten Jahrhunderts und zur Geschichte des Wegestreits, Münster 1925, 281-358, bes. 283 und 285.
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Die auch an den Universitäten gespürte Bedrohung durch die Hussiten, die sich in Prag öffentlich zum alten Weg bekannt hatten, gab dieser zuerst rein akademischen Frage eine Aktualität und Bedeutung, die den Raum der Universität verließ und den Frieden im ganzen Reich betraf 10. Immer stärker suchte man nach einer akademischen Tradition, die den Verlust an Einheit und Prestige unter den wachsenden Bedrohungen aufhalten könnte. Diese Suche führte zur Etablierung von Autoritäten der Vergangenheit, die den Anspruch authentischer philosophischer Reflexion durch ihre Schriften de facto erfüllt hatten. Diese kurze Darstellung der geistesgeschichtlichen Umrisse des frühen fünfzehnten Jahrhunderts läßt erkennen, unter welchen Bedingungen sich die Debatten an den Universitäten gestalteten. Dennoch sind die Parameter des Wegestreites und der gesuchte Anschluß bei Autoritäten des dreizehnten oder vierzehnten Jahrhunderts nicht immer leicht ersichtlich. So waren beide Wege auf der Suche nach einer communis opinio, die sich in einigen Punkten überschnitt, in anderen jedoch stark auseinanderging 11. Ebenso trat auf beiden Seiten die Sorge um die Rechtgläubigkeit der Studenten in den Vordergrund, die jedoch im Unterricht unterschiedlich Ausdruck fand 12. Auch möchte die eine Quelle den Wegestreit auf die Philosophie beschränken, die andere dagegen zeigen, daß die Debatte auch an der theologischen Fakultät geführt wurde 13. Immer wieder jedoch ging es um den Aufbau eines Lehrplans, der den Studenten den Zugang zu Aristote10
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Z. Kaluza, La crise des anne´es 1474-1482. L’interdiction du nominalisme par Louis XI, in: M. J. F. M. Hoenen e. a. (eds.), Philosophy and Learning. Universities in the Middle Ages, Leiden 1995, 293-327. Das Streben nach einer gemeinsamen Lehre war nicht auf das späte Mittelalter beschränkt. Bereits Bartholomaeus de Capua hob die in den Schriften des Thomas befindliche communitas als Argument für dessen Kanonisation hervor. Cf. Fontes vitae sancti Thomae Aquinatis, Processus Canonizationis S. Thomae Aquinatis Neapolitanus, ed. M.-H. Laurent, in: Revue Thomiste 38 (1933)/39 (1934), 267-407, bes. 370-391 (Bartholomaeus de Capua) und 384 (Zitat): „[…] in scriptis ipsius inveniuntur communis veritas, communis claritas, communis illuminatio, communis ordo et doctrina […].“ Dieses Argument spielte im fünfzehnten Jahrhundert noch immer eine Rolle. Johannes Gerson betrachtete die Theologie des Thomas von Aquin als beispielhaft gerade wegen der dort angestrebten Einheit. Thomas habe die Lehre seiner Vorgänger in einer einheitlichen und sicheren theologischen Sprache zusammenzufassen versucht (reducendo doctores omnes priores ad unam securamque locutionis proprietatem), so schrieb er in seinem zweiten Brief an Bartolomaeus Clantier (1408), ediert in: Johannes Gerson, Œuvres comple`tes, ed. Mgr. Glorieux, vol. 2, Paris 1960, 97-103, bes. 98. Auch bei den nominales läßt sich die Erwähnung einer eigenen communis opinio feststellen, die sich nach eigener Angabe der nominales gelegentlich auch mit der Lehre des Thomas von Aquino deckte. So bemerkte Bartholomaeus von Usingen in seinem „Exercitium de anima“: „Opinio octava est beati Thome et Egidii, Gregorii Ariminensis et communis vie moderne, quod in uno composito substantiali sit tamen [tantum?] una forma substantialis“, zitiert nach W. Urban, Die via moderna an der Universität Erfurt am Vorabend der Reformation, in: H. A. Oberman (ed.), Gregor von Rimini. Werk und Wirkung bis zur Reformation, Berlin 1981, 311-330, bes. 329 nt. 58. Zu Bartholomaeus von Usingen und seinem geistigen Umfeld cf. jetzt H. U. Wöhler, Die Erfurter Quodlibet-Disputation des Jahres 1497, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 6 (2001), 137-195, bes. 138-150. Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 282, 291, 326, 334. Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 327.
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les erlauben sollte, ohne den Häresien der Zeit zum Opfer zu fallen. Autoritäten der Vergangenheit wurden als Vorbild gesucht und akademische Verurteilungen als Warnung eingesetzt. In unserem Beitrag möchten wir nun diesen komplizierten Sachverhalt untersuchen und der Frage nachgehen, welche Bedeutung die Frage der Tradition an den Universitäten hatte. II. Die Beweggründe der Verteidiger des alten Weges, sich den Autoren des dreizehnten Jahrhunderts zuzuwenden, sind auf den ersten Blick überraschend. Die Philosophie habe sich der Lehre der Kirche anzuschließen, denn die Kirche sei die beste Garantie und Schutz der Wahrheit, nach der die Philosophie ihrer Natur nach auf der Suche sei. Dieses Argument wurde in verschiedenster Gestalt immer wieder vorgetragen. Hinzugefügt wurde meistens noch ein Verweis auf die geistige Würde und den kirchlichen Status der Vertreter dieser Auffassung. Es seien die alten Gelehrten der Bettelorden, die diese Haltung praktiziert hätten und deren Lehre durch die Kirche facto et opere approbiert worden sei. Deren Haltung zu kritisieren oder nicht zu befolgen, sei gleichbedeutend damit, sich von der universalis ecclesia abzuwenden und sich als Abtrünniger zu profilieren, der mit dieser auch von den Universitäten gewahrten Tradition brechen möchte. Hier wird eine Haltung gegenüber der Philosophie vertreten, wie sie im dreizehnten Jahrhundert Albertus Magnus und Thomas von Aquin im Unterricht an den dominikanischen studia eingenommen hatten. Die Philosophie habe einen eigenen Bereich und eine eigene Methode, die unbedingt zu respektieren seien, wenn man die Lehren der Philosophen oder die philosophia gentilium verstehen wolle. Aber man könne den heidnischen Philosophen nur das als sichere Wahrheit entnehmen, was der Offenbarung nicht widerstreite, wenn auch dort anders zum Ausdruck gebracht 14. Bereits die frühesten Dokumente des Wegestreites bezeugen, daß genau dieses Verständnis der Philosophie in den Mittelpunkt der spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen gerückt war. Johannes de Nova Domo, der als Magister an der Pariser Artesfakultät tätig war, setzte an den Anfang seiner Schrift „De esse et essentia“ eine protestatio, in der er zum Ausdruck brachte, wie die Texte 14
Zu Albert cf. die Quellenverweise in: M. Schooyans, La distinction entre philosophie et the´ologie d’apre`s les commentaires aristote´liciens de saint Albert le Grand, in: Revista da Universidade Cato´lica de Sa˜o Paulo 18 (1959), 255-279, und A. Zimmermann, Albertus Magnus und der lateinische Averroismus, in: G. Meyer/A. Zimmermann (eds.), Albertus Magnus Doctor Universalis 1280/1980, Mainz 1980, 465-493, bes. 473-482. Thomas äußert sich über die Beziehung von menschlicher Vernunft und göttlicher Offenbarung in den Anfangskapiteln seiner „Summa contra Gentiles“. Hinweise zur Wirkung dieser Haltung von Albert und Thomas im Bereich des Unterrichts der Philosophie im Orden gibt M. M. Mulchahey, First the Bow is Bent in Study. Dominican Education before 1350, Toronto 1998, bes. 252-277.
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des Aristoteles zu studieren seien. Die programmatische Bedeutung seiner Worte wurde dadurch hervorgehoben, daß er von einer regula sprach, die bei der Lektüre philosophischer Werke immer befolgt werden solle. Es handelte sich also um eine Grundsatzerklärung des alten Weges. Diese regula lautet 15: „Quilibet […] christianus, desiderans philosophari in philosophia gentilium, hoc observabit pro regula quod ubicumque verba sanctorum patrum non conformant se omnino verbis philosophorum, debet illorum dictorum philosophorum verba moderare ad conformitatem verborum sanctorum, ipsaque tenere in propria forma sine quacumque moderatione.“
Als Gewährsmann dieser regula zitierte Johannes Albertus Magnus, den er als den besten expositor Aristotelis überhaupt erachtete, als besser noch als Thomas von Aquin, und den er deshalb auch als doctor meus bezeichnete. Albertus habe die Schriften der Philosophen nach ihren eigenen Grundsätzen studiert und kommentiert, aber immer darauf geachtet, sich im Konfliktfall der Lehre der Heiligen (veritas sanctorum) anzuschließen 16. Diese Stellungnahme samt ihrem Bezug auf die philosophische Tradition der Bettelorden ist bei Johannes de Nova Domo keine Ausnahme und auch kein Pariser Sonderfall. Setzte Johannes sich in seiner Schrift „De esse et essentia“ vor allem mit der Aristotelesdeutung des Thomas von Aquin auseinander, sind in anderen Schriften die nominales oder Verteidiger der via moderna seine Gegner. In diesem Zusammenhang wird nicht nur die veritas sanctorum als Norm in Anschlag gebracht, sondern auch die auctoritas apostolica und die auctoritas romane ecclesie 17. Ähnlich wird auch in dem bekannten Antwortschreiben der Kölner Universität an die Kurfürsten aus dem Jahre 1425 argumentiert: Der alte Weg sei durch die romana ecclesia approbiert worden, indem sie die Schriften dieses Weges benutzt und zur Bestätigung ihrer Lehre angeführt habe 18. Zudem dürfe man die doctores der Orden, die sich als ausgezeichnete Theologen bewährt und die vielen wertvollen Bücher geschrieben hätten, den Vertretern der via moderna, die lediglich simplices magistri artium seien, nicht unterordnen und mit dem Bann belegen 19. Diese Verbindung von Philosophie und Theologie ist auch kennzeichnend für die Rede, die Stephan Hoest bei der Verleihung der Lizenz an die Kandidaten der via antiqua im Jahre 1468 an der Heidelberger Artesfakultät gehalten hat. Die 15 16
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Johannes de Nova Domo, Tractatus de esse et essentia (nt. 5), 92. Johannes de Nova Domo, Tractatus de esse et essentia (nt. 5), 91-92 und 108 (doctor meus). Zu den sancti und philosophi bei Albertus cf. H. Anzulewicz, Anthropologie des Albertus Magnus als Ort des Dialogs zwischen den sancti und philosophi, in: F. Prcela (ed.), Dialog. Auf dem Weg zur Wahrheit und zum Glauben. Festschrift für A. Pavlovic OP, Zagreb - Mainz 1996, 47-53. Weiler, Un traite´ de Jean de Nova Domo sur les Universaux (nt. 4), 128. Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 284 sq.: „[…] Romana et universalis Ecclesia Doctores prenominatos [sc. Thomas, Albertus] facto et opere habet approbatos, eorum libris et scriptis utendo et allegando [...].“ Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 285: „Eya, quomodo dictat alicujus recta conscientia, quod ubi […] Buridanus, Marcilius et alii simplices Magistri Artium sunt accepti, ibi tam insignes sacre Theologie Professores proscribantur? “
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erworbene Lehre des alten Weges sei zum Verständnis der Heiligen Schrift nützlich und sollte deshalb weiter tradiert werden, so hielt er den Studenten vor Augen 20. Auch forderte er sie auf, durch eine unverdorbene Lehre (sana doctrina) in den Seelen (in mentibus) der Zuhörer einen Wohnplatz für den kommenden Christus vorzubereiten 21. Die Philosophie wurde also als Instrument der Theologie betrachtet. Sie ist auf die Theologie ausgelegt und hat sich deren Ziel zu fügen. Daß es sich hier um eine differentia specifica des alten Weges handelt, geht auch daraus hervor, daß Stephan Hoest in einer ähnlichen Festrede, die er einige Monate später für die Studenten der via moderna hält, die Schrift, den Glauben oder die Theologie mit keinem Wort erwähnt 22. Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ist der Ton noch immer derselbe. Die Kirche und die Orden werden eingesetzt, um das Prestige des alten Weges zu sichern. Es sei doch kaum denkbar, so wurde an der Ingolstädter Universität behauptet, daß die doctores der Orden, deren Lehre in der Kirche die höchste Autorität zuerkannt worden sei, sich geirrt hätten. Eher noch seien die nominales verblendet, denn ihre Lehrer hätten kein Ansehen erworben (nomine et auctoritate inglorii) 23. In diesem Sinne hatte der Ingolstädter Johann von Adorf eine Liste mit nominalistischen Thesen zusammengetragen, die von der Lehre der sancti patres und der ecclesia catholica abwichen, wie er am Anfang der Liste ausdrücklich hervorhob 24. Johann von Adorf war Theologe und hatte sich mit der nominalistischen Theologie auseinandergesetzt. Aber auch an der Artesfakultät galt die doctrina fidei als Norm bei der Beurteilung von Lehren. Aufschlußreich ist ein Schriftstück der Artesfakultät, in dem die Lehren der realiste und moderni einander gegenübergestellt wurden. Gegenstand waren die Logik und Naturphilosophie. 20
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Stephan Hoest, Reden und Briefe (nt. 4), 146-162, bes. 154: „[...] vos precepta philosophie ad intelligenciam sacrarum litterarum profuture aliis quoque discere volentibus nunc deinceps traderetis.“ Stephan Hoest, Reden und Briefe (nt. 4), 158: „Per sanam igitur doctrinam in mentibus auditorum venturo Christo habitaculum preparate!“ Stephan Hoest, Reden und Briefe (nt. 4), 164-178. Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 329: „Si beatus Thomas, Albertus Magnus […] et alii Realium doctores errant, erramus, imo totus Predicatorum et Minorum ordo, eorum imitatores. Sed non est credibile predictos gloriosos doctores, quorum doctrina semper sana et secura comperta est, errare, quorum etiam tanta in ecclesia auctoritas est […]. Presumendum potius est, Marsilium, Wuridanum […], et nomine et auctoritate inglorios, errasse et non modo ipsos sed et eorum sequaces, quos Nominales seu Terministas vocant.“ Zur dieser Quelle, die leider jetzt verloren ist, cf. Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 326-331. Weitere Informationen und Dokumente zum Wegestreit in Ingolstadt geben K. von Prantl, Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt, Landshut, München, vol. 2, München 1872, Nachdruck Aalen 1968, und A. Seifert (ed.), Die Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert. Texte und Regesten (Ludovico Maximilianea 1), Berlin 1973, 45-48 (n. 7) and 67-70 (n. 10). Beide Wege (beder weghalben) waren in Ingolstadt durch eigene Bursen vertreten. Das obige Zitat gehört dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts an, als die via moderna in Ingolstadt vorherrschend war. Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 338-342. Johann von Adorf tritt in den Dokumenten der Universität immer wieder hervor. Cf. Seifert (ed.), Die Universität Ingolstadt (nt. 23), 35-55, bes. 45 und 53.
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Der anonyme Verfasser, der ohne Zweifel Realist und Verteidiger des alten Weges war, begann seine Darstellung mit einem prenotandum, das den Leitfaden für die Beurteilung der nachfolgenden Lehren abgeben sollte. Die Ähnlichkeit mit der genannten protestatio von Johannes de Nova Domo ist auffallend, nur wird hier nicht Albert, sondern Gerson als Autorität angeführt 25: „Prenotandum est quod dicit Johannes de Gerson, cancellarius Parisiensis in tractatu De examinatione doctorum [doctrinarum ? ]: Attendendum est primo et principaliter, si doctrina sit conformis sacre scripture tam in se quam in modo traditionis. […] Est igitur ipsa [sc. sacra scriptura] ars, regula et exemplar, cui se alia doctrina non conformans, vel abicienda vel heretica aut suspecta vel sit impertinens ad religionem prorsus habenda est.“
Es folgt nun eine lange Liste mit Thesen, die sich auf fast den ganzen Unterrichtsstoff der Artesfakultät beziehen. Am Ende der Liste wird folgender Schluß gezogen 26: „Doctrina realium conformior est doctrine fidei et sacre scripture quam doctrina aliorum.“
Und erneut werden die Orden erwähnt, wird die allgemeine Anerkennung ihrer Lehrer hervorgehoben und ebenso die Mißbilligung der nominales 27: „Doctrina realium deffenditur a tribus ordinibus religiosorum […] et per totius orbis universitates diffusa est. Doctrina autem Marsilii et Dinkelspuchels inter duas continetur.“
Der Traktat „De examinatione doctrinarum“, dem der anonyme Autor sein prenotandum entnommen hatte, wurde von Gerson im Jahre 1423 zu Lyon geschrieben 28. Es handelt sich um eine theologische Schrift, die mit der Philosophie, wie sie an der Artesfakultät gelehrt wurde, nichts zu tun hatte. Dennoch wird die darin formulierte Regel im prenotandum des anonymen Autors auf die Philosophie angewendet. Ähnliches hatten wir bei Johannes de Nova Domo gesehen. Auch er übernahm eine regula für die Philosophie, die im Rahmen der Ordensausbildung von Albertus zum Ausdruck gebracht worden war und somit einer Welt entstammte, die dem Unterricht an der Pariser Artesfakultät zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts fremd war. Es mußte zu einer entsprechenden Reaktion kommen. In der Tat war diese Art und Weise, die Schriften des Aristoteles zu kommentieren, bei den frühesten Gegnern als eine Vorgehensweise (modus exponendi) verpönt, die dem damaligen Standard nicht mehr entsprach; und sie wurde in diesem Sinne kritisiert. Es war die Geburtsstunde der via moderna als einer philosophischen Gegenrichtung, deren erste Vertreter auf den Druck der antiqui hin nach den Autoritäten suchten, die ihrer Methode der Auslegung Gewicht verleihen konnten. Auch sie blickten in die Vergangenheit und fanden ihre Gewährsmänner. 25 26 27 28
Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 334. Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 338. Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 338. Der Traktat ist ediert in: Johannes Gerson, Œuvres comple`tes, ed. Mgr. Glorieux, vol. 9, Paris 1973, 456-475, bes. 465 (die im prenotandum zitierte Stelle). Die Datierung des Werkes ist nach ibid., xiv, n. 456.
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III. Betrachten wir also jetzt die Debatte aus der Perspektive der via moderna. Die Vertreter dieser Richtung reagierten auf den Übergriff der Theologie auf die Philosophie und deuteten ihn als Aristotelem catholicum facere 29. Albertus Magnus und Thomas von Aquin wurden als antiqui alti sermonis doctores bezeichnet, um damit die Verbindung ihrer Auslegung des Aristoteles mit der Theologie (sermo altus) hervorzuheben 30. Der konkrete Anlaß für diese Reaktion auf die theologische Aristotelesdeutung waren die sich in Prag ausbreitenden Lehren des Wyclif, die bereits mehrmals als ketzerisch verurteilt worden waren 31. Wyclif und seine Nachfolger hätten sich durch die Deutung des Aristoteles, wie sie von den antiqui verteidigt wurde, in die Irre führen lassen. Deren Deutung sei schwer zugänglich und könne leicht zu Irrlehren führen. Sie belaste die Philosophie mit einer Begrifflichkeit, die ihr fremd sei, und übersteige die geistigen Fähigkeiten der jungen Studenten. Die thomistische und albertistische Auslegung des Aristoteles sei somit für den Unterricht an der Artesfakultät ungeeignet. Sie treibe die Studenten in das Lager der Wyclifisten und Hussiten und gefährde den Frieden an der Universität 32. Der Lehrplan solle sich stattdessen auf einen Aristoteles stützen, der vom alten Rost (rubigo vetustatis) gereinigt sei, damit die Studenten durch einen direkten und kurzen Kommentar zur Erkenntnis der Wahrheit geführt werden könnten 33. Ockham habe mit dieser Reinigung begonnen und Johannes Buridan und Marsilius von Inghen hätten diese Methode des leichteren Stiles (stilus levior) zu hohem Ansehen gebracht und durch die Befestigung von Statuten und die Abfassung von Quästionen, die diesem Stil entsprächen, zum allgemeinen Nutzen der Universitäten beigetragen 34. Was sich damit aus den Quellen ergibt, ist ein Bild der via moderna als einer Rückbesinnung der Philosophie auf ihre Methode und die Prinzipien, die dieser 29
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Dieser Begriff wurde zuerst von Petrus de Candia verwendet. Die Stelle ist zitiert in Ehrle, Der Sentenzenkommentar (nt. 9), 66. Beispiele des fünfzehnten Jahrhunderts mit Literaturverweisen gibt die Einleitung zu E. Acampora-Michel (ed.), Liber de pomo/Buch vom Apfel, Frankfurt a. M. 2001, 54 sq. und 179-189. So die Wiedergabe der Meinung der Kurfürsten im Antwortschreiben der Universität Köln aus dem Jahre 1425, ediert in: Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 282. Das geht klar aus der deutschen Fassung des Mahnschreibens der Kurfürsten hervor. Cf. Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 356-358, bes. 357. Ähnliches bereits im Protokoll der Kölner Artesfakultät aus dem Jahre 1414, ediert in: A. G. Weiler, Heinrich von Gorkum († 1431). Seine Stellung in der Philosophie und der Theologie des Spätmittelalters, Hilversum 1962, 57-58. Mahnschreiben der Kurfürsten in: Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 282 und 357. So Stephan Hoest in seiner Verteidigung der via moderna in: id., Reden und Briefe (nt. 4), 176. Stephan Hoest, Reden und Briefe (nt. 4), 176. Der Begriff des stilus levior entspricht dem Begriff des stilus humilior im Mahnschreiben der Kurfürsten.
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Methode zugrunde liegen. Die Philosophie habe einen authentischen Anspruch auf Wahrheit und besitze das Maß einer klaren Erkenntnis. Denn sie bestimme im Bereich der Philosophie die Grenzen der mannigfaltigen Wahrheiten. Mit diesen Worten stellte der bereits genannte Stephan Hoest die Bedeutung der via moderna in den Mittelpunkt. Sie sei der Frühling, der die todbringende Kälte der winterlichen via antiqua, die bis in das innerste Mark der Philosophie eingedrungen sei, vertreibe und vernichte, damit die Philosophie wieder wachse und anfange, neue Früchte zu tragen 35. Einige der genannten Dokumente stellen die moderni als simplices dar, denn sie seien nicht in der Theologie ausgebildet und lehrten nicht an der theologischen Fakultät. Exemplarisch dafür war Johannes Buridan 36. Auch Marsilius wurde als simplex bezeichnet, was jedoch verwunderlich ist, denn er war als erster promovierter Theologe der Heidelberger Universität bekannt 37. Auch andere Autoren des vierzehnten Jahrhunderts, die als antesignani der via moderna angeführt wurden, waren berühmte Theologen: Adam Wodeham, Gregor von Rimini, Heinrich von Oyta, Peter von Ailly 38. Diese Gegebenheit scheint die in den Quellen hervorgehobene Trennung von Philosophie und Theologie als Merkmal der via moderna in Frage zu stellen. Konnte man als Theologe Vertreter der via moderna sein? Diese Frage wurde im fünfzehnten Jahrhundert gestellt und die Antworten waren nicht einheitlich. Gehen wir zuerst auf die Antwort der Realisten ein. Nach den Realisten gab es in der Tat eine Theologie im Sinne der via moderna. Sie kennzeichne sich durch die Anwendung philosophischer Lehren in der Theologie, die durch die nominalistische Auslegung des Aristoteles geprägt waren. Dabei wurden die Auffassungen über Relation (Trinität), Kategorien (Sakramente) und Supposition (Christologie) als die markantesten Lehren genannt, in denen sich die neue von der alten Theologie unterscheide 39. Natürlich wurde diese Anwendung nominalistischer Lehren von den Realisten kritisiert. Sie sei 35 36
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Stephan Hoest, Reden und Briefe (nt. 4), 164-170 (mit Zitaten aus Vergil). Johannes Buridan galt nach dem alten „Magnum chronicon Belgicum“ als Erfinder der via moderna. Cf. J. Pistorius, Rerum germanicarum veteres primum publicati scriptores VI, Frankfurt a. M. 1653, 293: „Item. Astronomi hoc tempore [anno domini 1323] maximi fuerunt Parisiis, videlicet Iohannes de Ligneus, Iohannes de Saxonia, Ioannes de Muris, et Buridanus maximus Philosophus, qui invenit viam modernam.“ Zu ihm cf. mein Marsilius of Inghen, Divine Knowledge in Late Medieval Thought (Studies in the History of Christian Thought 50), Leiden 1993. Z. Kaluza, Les querelles doctrinales a` Paris. Nominalistes et Re´alistes aux confins du XIVe et du XVe sie`cles, Bergamo 1988, 16 (Adam Wodeham, Gregor von Rimini, Heinrich von Oyta: Brief von Guillaume Euvrie an Gerson aus dem Jahre 1402), und Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 313 (Peter von Ailly: Verordnung Ludwigs XI. aus dem Jahre 1474). Wertvolle Informationen gibt die vom Ingolstädter Theologen Johann von Adorf angefertigte Liste nominalistischer positiones et dicta, ediert in: Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 338-342. Aufschlußreich sind auch die Verweise auf die Lehren der moderni im Sentenzenkommentar des Johannes Capreolus. Cf. dazu den Beitrag von Sigrid Müller in diesem Band.
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ungewohnt und der Theologie nicht würdig. Johannes Ryppe de Alen, der sich als modernus an einer theologischen Disputation zu Köln beteiligt hatte, wurde von seinen thomistischen und albertistischen Kollegen derart gescholten, daß in einem Bericht über die Auseinandersetzung festgehalten wurde: „Posuit Colonie inconsueta et bene scobatus fuit.“ 40 Wie haben nun die Theologen, die von den Realisten als moderni oder nominales bezeichnet wurden, sich über die Beziehung von Philosophie und Theologie geäußert? Einige verneinten die Existenz einer eigenen Theologie, die sich von der realistischen als Sonderweg unterscheide. So wurde als Position der theologi moderni der Ingolstädter Universität festgehalten: „Adiungunt et dicunt in superioribus facultatibus non esse differentias viarum.“ 41 Andere trennten die philosophische von der theologischen Betrachtungsweise. Philosophie und Theologie hatten ihrer Ansicht nach nicht die gleiche Methode. Die Philosophie stütze sich auf Sinnesdaten und principia per se nota und argumentiere nach den Regeln der Logik. Die Theologie jedoch habe die Schrift und die Tradition zum Ausgangspunkt. Diese verwendeten eine andere Logik, nicht die der Philosophie, sondern der Rhetorik 42. Zudem sei ihr modus loquendi dem konstruierten Vokabular der Philosophie entgegengesetzt. Die Sprache der Schrift und Tradition sei der täglichen Sprache der communiter intelligentes verwandt 43. Die Theologen hätten diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen. Sie sollten nicht eigensinnig auf einer philosophischen Deutung der Quellen beharren, auch wenn sie den Regeln der Logik entspreche, sondern sich dem traditionellen Sprachgebrauch anpassen und bei der Auslegung des Textes auf die intentio auctoris und den intellectus ecclesie achten 44. Bereits bevor der Streit sich im fünfzehnten Jahrhundert als Wegestreit profilierte, stand die Frage nach dem Unterschied zwischen Philosophie und Theologie auf der Tagesordnung. John Kenningham kritisierte um 1372 die Theologie des John Wyclif mit dem Argument, sie weiche von der Tradition ab: „Nec usus nec auctoritas probat quod hec positio sit vera.“ 45 Dieser trage in die Theologie eine Logik und eine Redensart hinein, die, obwohl sie gründlich und genau sei, keinen Nutzen habe und von der Kirche in ihrer Auslegung der Schrift auch niemals verwendet worden sei: „Quamvis subtilis, non tamen fructuosus, immo quem ecclesia 40
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G. M. Löhr, Die theologischen Disputationen und Promotionen an der Universität Köln im ausgehenden 15. Jahrhundert, Leipzig 1926, 61. Ehrle, Der Sentenzenkommentar (Anhang von Aktenstücken) (nt. 9), 327. Programmatisch für diese Sicht war die Schrift „De duplici logica“ des Johannes Gerson, entstanden im Jahre 1402. Cf. Johannes Gerson, Œuvres comple`tes, ed. Mgr. Glorieux, vol. 3, Paris 1960, 57-63, bes. 58. So argumentierte John Kenningham gegen John Wyclif. Cf. Ingressus, Acta et Determinationes contra Wyclif, in: Fasciculi zizaniorum Magistri Johannis Wyclif cum tritico, ed. W. W. Shirley, London 1858 (Rolls Series), 57-59. Ibid. Ähnliches auch bei Marsilius von Inghen. Cf. dazu meinen Beitrag Marsilius von Inghen in der Geistesgeschichte des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Hoenen/Bakker (eds.), Philosophie und Theologie des ausgehenden Mittelalters (nt. 7), 21-45. Fasciculi zizaniorum (nt. 43), 62.
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penitus non observat.“ 46 Bedeutend ist hier die Tatsache, daß der Gegenstand der Diskussion die Universalien, die Formaldistinktion und die ontologische Natur der göttlichen Ideen waren, also genau die Themen, an denen sich im fünfzehnten Jahrhundert der Wegestreit entfachen sollte. Dennoch erwähnten Kenningham und Wyclif den Wegestreit mit keinem Wort. Sie verstanden sich nicht als Vertreter zweier verschiedener Richtungen in der Theologie. Das Feuer war noch nicht entzündet, aber man sägte und stapelte schon das Holz. Ähnliches sehen wir bei Gregor von Rimini, Peter von Ailly und Marsilius von Inghen, die in ihren Werken die Ergebnisse der aristotelischen Philosophie den Lehren der sancti patres gegenüberstellten 47. Gregor von Rimini hatte in seinem Sentenzenkommentar an mehreren Stellen hervorgehoben, daß die Auffassungen des Aristoteles und Averroes mit dem Inhalt des Glaubensbekenntnisses nicht zu vereinbaren seien. Peter von Ailly kritisierte einige Zeit später auf gleiche Weise die Anwendung des Aristoteles in der Theologie. Wenn auch die aristotelische Lehre in der Philosophie vertretbar sei, so argumentierte er, sie reiche für die Theologie nicht aus: „Quidquid sit de opinione Aristotelis, tamen eius opinio non est sufficiens probatio in theologia.“ Marsilius von Inghen ging noch einen Schritt weiter und hob in seinem Sentenzenkommentar die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Theologie und Philosophie hervor. Nicht nur Aristoteles, sondern die natürliche Vernunft überhaupt komme in mehreren Punkten zu gegenüber der Theologie gegensätzlichen Schlußfolgerungen. Philosophie und Theologie hätten ihre je eigene Methode. Die Theologie solle deshalb bei der Anwendung der Philosophie vorsichtig sein. Umgekehrt habe die Philosophie sich von der Theologie fernzuhalten und nur ihre eigene Methode anzuwenden, wie Marsilius es in seinen Kommentaren zu Aristoteles auch tatsächlich praktizierte. Diese Überzeugung der Unvereinbarkeit wurde bei Marsilius immer stärker und ausgeprägter. In seinem Kommentar zur Metaphysik, den er am Ende seines Lebens in Heidelberg fertigstellte, kritisierte er den Philosophen Buridan, der trotz ähnlicher Überzeugung nicht ganz konsequent sei. Buridan habe sich nämlich in der Akzidenzienlehre der communis opinio theologorum angeschlossen, so Marsilius, obwohl man doch auch hier philosophisch (magis metaphysicaliter) argumentieren sollte 48. Obwohl die von diesen Theologen verteidigte Position die thomistische Harmonie von Philosophie und Theologie in Frage stellte - Peter von Ailly richtet sich sogar expressis verbis gegen Thomas -, betrachtet keiner der genannten Theologen sich als Vertreter oder Sprecher einer neuen Richtung, die gegen die 46 47
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Ibid. Zum Nachfolgenden cf. die Quellenangaben in Hoenen, Marsilius von Inghen (nt. 44), bes. 34-42, und Peter von Ailly, Tractatus (nt. 6), 101. Dazu mit einer kritischen Edition der betreffenden Textstellen P. J. J. M. Bakker, Inhe´rence, univocite´ et se´parabilite´ des accidents eucharistiques. Observations sur les rapports entre me´taphysique et the´ologique au XIVe sie`cle, in: J.-L. Sole`re/Z. Kaluza (eds.), La servante et la consolatrice. La philosophie dans ses rapports avec la the´ologie au Moyen Age, Paris 2002, 193-245, bes. 236.
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alte von Thomisten behütete connexio von Philosophie und Theologie zu Felde zog. Aber wie der Fall von Marsilius zeigt und die frühen Schriften des Gerson weiter belegen, wuchs die Sensibilität für den Gegensatz von Philosophie und Theologie um die Jahrhundertwende. Als dann die Prager Realisten sich auf den als häretisch verurteilten Wyclif stützten und ihn als evangelicus und catholicus doctor feierten, suchten die Gegner nach einem antidotum, das der Ausbreitung der Realisten auf andere Universitäten Einhalt bieten konnte 49. Die von Gregor von Rimini, Peter von Ailly und Marsilius von Inghen verteidigte Trennung von Philosophie und Theologie konnte hier Schutz gewähren. Die Logik und Metaphysik des Wyclif durften nicht durch das Tor der artes in die Theologie geraten. „Theologia suam habet propriam logicam“, so begründete Gerson in einer Ansprache am 21. Juli 1415 die Verurteilung der Prager Realisten 50. Die Suche nach den Vorbildern, die diesen Schutz garantieren konnten, begann. Bald darauf wurden in den Dokumenten neben Philosophen auch Theologen als Fahnenträger der via moderna genannt. Gregor von Rimini, Peter von Ailly und Marsilius von Inghen standen mit Ockham und Adam Wodeham oben auf der Liste. Die via moderna hatte nun auch ihre theologischen Wegbereiter.
IV. Fassen wir die Ergebnisse in einigen Thesen zusammen: 1. Zentrales Thema des Wegestreites war die Beziehung zwischen Philosophie und Theologie. Der Rückgriff auf die Vergangenheit diente als Sicherung der eigenen Position und als Mittel der Selbstvergewisserung. Für die antiqui konnten die sermones philosophorum nur im Rahmen einer connexio artium cum theologie facultate den Studenten gelehrt werden 51. Dieses Ideal sahen die antiqui in den Schriften des Albertus Magnus und Thomas von Aquin verwirklicht. Der Unterricht in der Philosophie, wie er im dreizehnten Jahrhundert an den dominikanischen studia logicalia und studia artium erteilt wurde, galt als bestes Modell für den Lehrgang an den Universitäten des fünfzehnten Jahrhunderts. Die moderni dagegen spiegelten sich an den Autoritäten des vierzehnten Jahrhunderts, die auf den Unterschied zwischen natürlicher Einsicht und übernatürlichem Glauben hingewiesen und in ihrer Auslegung des Aristoteles nicht versucht hatten, das lumen naturale dem canon biblie oder der veritas fidei anzupassen. 49
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Historisch dokumentiert ist dieser Gegensatz durch die Akten des Wiener Prozesses gegen Hieronymus von Prag. Cf. Processus iudiciarius contra Jeronimum de Praga habitus Viennae a. 1410-1412, ed. L. Klicman, Prague 1898, bes. 15 und 17. Johannes Gerson, Prosperum iter (In recessu Regis Romanorum), in: Œuvres comple`tes, ed. Mgr. Glorieux, vol. 5, Paris 1962, 471-480, bes. 476-477. Cf. Johannes de Nova Domo, Tractatus de esse et essentia (nt. 5), 141 (sermones philosophorum).
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2. Die Sicherung des Glaubens, das bonum fidei salvare, galt für beide Richtungen als wichtigstes Anliegen bei der Entscheidung, welche Autoritäten zu befolgen seien. Lehrreich sind in dieser Hinsicht die Berichte von Übertritten zur jeweils anderen philosophischen Richtung. Sie bestätigen auch, daß der Glaube selbst nicht zur Diskussion stand. Wessel Gansfort berichtete in einem Brief an Jacobus Hoeck über seinen akademischen Werdegang, wie er vom Realismus und Formalismus zum Nominalismus gewechselt habe. Die Lehren der Realisten und Formalisten seien dem Glauben entgegengesetzt, so habe er herausgefunden. Darum sei er zum Nominalismus übergegangen. Stellten die Auffassungen der nominales sich jedoch als Abweichung vom Glauben heraus, so kehre er unverzüglich zum Realismus oder Formalismus zurück: „Si quid fidei contrarium putarem [sc. in sententiis nominalium], hodie paratus [sum] remeare vel ad formales vel reales.“ 52 Ähnliche Gründe führte Dionysius der Kartäuser für seinen Wechsel vom Thomismus zum Albertismus an 53. 3. Die Debatte entzündete sich zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts an der Frage nach der Natur der Universalien. Die Prager Realisten hatten die theologische Relevanz dieser Problematik hervorgehoben, deren ursprünglicher Ort die logica vetus war, und insistierten damit auf einer Verbindung von Philosophie und Theologie, die sich auf andere Gebiete erstreckte 54. Nicht die hervorgebrachten Argumente waren neu, sondern das geschichtliche Umfeld, das alte und bewährte Antworten in ein negatives Licht rückte: hereticus et sane fidei contrarius, mit diesem Urteil konnte jetzt ein Artist rechnen. Die Kategorie des Häresieverdachts trat in die philosophische Diskussion, belastete die Argumente und Quellen und gab ihnen eine theologische Bedeutung, die sie ursprünglich nicht hatten. 4. Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Herausforderung richteten die Gelehrten den Blick auf die Vergangenheit, die aus einer doppelten Perspektive 52
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Wessel Gansfort, Opera, Facsimile of the Edition Groningen 1614 (Monumenta Humanistica Belgica 1), Nieuwkoop 1966, 876-912 (Epistola ad M. Jacobum Hoeck), bes. 877. Dazu noch immer grundlegend P. Teeuwen, Dionysius de Kartuizer en de philosophisch-theologische stroomingen aan de Keulsche Universiteit, Brussel 1938, 60-65 und 83-88. Cf. jetzt auch K. Emery Jr, Denys the Carthusian and the Doxography of Scholastic Theology, in: id., Monastic, Scholastic and Mystical Theologies from the Later Middle Ages, Aldershot 1996, 327-359. Beispielhaft für die Verbindung mit der Theologie ist die „Positio reverendi magistri Stephani de Palecz de universalibus“, ediert in: R. Palacz, La Positio de universalibus d’E´tienne de Palecz, in: Mediaevalia Philosophica Polonorum 14 (1970), 113-129, bes. 129: „Sed quod dixi universalia non cedere in commodum debet intelligi de commodo temporali. Nam notitia universalium est maxime utilis, quia nos inducit ad cognoscendum benedictam Trinitatem et ad intelligendum sacram scripturam.“ Die Quelle ist mit Sicherheit: John Wyclif, Tractatus de universalibus, ed. I. J. Müller, Oxford 1985, 104, 175, 194-197, 217 und 357. Exemplarisch sind auch die Quästionen abgehandelt in: Johannes Hus, Quodlibeta. Disputationis de Quolibet Pragae in Facultate artium mense Ianuario anni 1411 habitae Enchiridion, ed. B. Ryba, Prag 1948. Zur Wirkung der Universalienlehre in der Ethik cf. V. Herold, Wyclif und Hieronymus von Prag. Zum Versuch einer ,praktischen‘ Umdeutung der Metaphysik in der spätmittelalterlichen Ideenlehre, in: R. Työrinoja e. a. (eds.), Knowledge and the Sciences in Medieval Philosophy, vol. 3, Helsinki 1990, 212-223.
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betrachtet wurde. Man suchte nach dem Wendepunkt, der die damalige Lage eingeleitet hatte, und orientierte sich gleichzeitig an Vorbildern, die den eigenen Begriff von Philosophie und Theologie repräsentierten. Das fünfzehnte Jahrhundert entwickelte so eine besondere Historiographie der Scholastik, die den Streit zwischen Realisten und Nominalisten in den Mittelpunkt stellte und das dreizehnte Jahrhundert dem Realismus, das vierzehnte Jahrhundert dem Nominalismus zuordnete. Die Schulbildung an den Universitäten war die institutionelle Folge dieser historiographischen Betrachtung. Der Streit über die Bedeutung der Vergangenheit in einer Angelegenheit, die den Aufbau der Universität und die Zuordnung ihrer Fakultäten betraf, nagte zwangsläufig an den Wurzeln des Bildungssystems. Dieser Verlust der Selbständigkeit gab der Debatte einen Zuwachs an symbolischer Kraft, die sich in den Autoritäten der Vergangenheit kristallisierte. Die Autoritäten sollten für das angebliche Wesen der nominalistischen und realistischen Position bürgen und gaben damit der Vergangenheit im Rückblick eine Transparenz, die sie in Wirklichkeit nicht hatte 55. Durch die Debatten und Streitigkeiten der Schulen wurde diese ideelle Geschichte materiell und hat prägend auf die Institutionen des ausgehenden Mittelalters wirken können.
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Eine solche historische Lage vom Verlust des eigenen Lebens und Zuwachs des Symbolischen ist treffend dargestellt in E. Jünger, Historia in Nuce. Der Verlorene Posten, in: Das Abenteuerliche Herz. Figuren und Capriccios, Auswahl aus dem Werk in fünf Bänden, vol. 4, Stuttgart 1994, 90-93. - Für ihre Hinweise und Anregungen danke ich Sigrid Müller und Guy Guldentops.
The Late Medieval University as an Institution of Learning: More Learning or More Institution? * Marek Gensler (Lo´dz´) The condemnation of Joan of Arc by the University of Paris (1431) is a symbolic moment for the development of the Medieval University. The spring of learning, once famous for its independent thought, had been reduced to the status of a subservient institution rubberstamping the decisions of a political power. The ideal was shattered. It took more than a single act, however, to undermine it. That process started earlier. The second half of the 14th century was a period of crisis for the greater part of Latin Europe. Natural and manmade disasters tore apart the fabric of the Western society. The Plague depopulated schools as much as towns, cutting short lives of many eminent scholars and bright students and scaring away others. The Western Schism transformed the continent into a chessboard of hostile lands supporting one or another pretender to the throne of St. Peter, whose main occupation seemed to be hurling anathemas on one another. The Hundred Years’ War brought numerous atrocities, of which the trial and execution of the Maid of Orle´ans was only the most poignant symbol. Inter arma silent musae. In his book on medieval universities, “La vie des e´tudiants au Moyen Age”, Leo Moulin notes the decline of schools and pinpoints many of the ills that precipitated it. Universities, which by their very name seemed to be the embodiment of the idea of European universalism, could not be unaffected by the calamities of the time. Their most immediate result was a diminished mobility of people that ultimately resulted in a diminished mobility of ideas. Diminished mobility should not be understood only as a decrease in the volume of travel within Christendom, except for the time of the worst outbursts of the Plague 1, but as avoiding certain places where visitors were no longer welcome. An early example of this can be seen in the story of John Duns Scotus, who had to leave Paris (1303) because of the argument between the French king Philip the Fair and pope Boniface VIII. Bachelors and masters who refused to sign the document condemning the pope were not allowed to stay at the university. Loyalty to political authority became a criterion of selection. It *
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I would like to thank Dr. Adam Gogacz and Dr. Eileen Sweeny for their help in research for this paper and Latin translations, respectively. For instance, the Anglo-German nation at Paris ceased to exist during an outburst of the plague in 1438-1440. L. Moulin, La vie des e´tudiants au Moyen Age, Paris 1991, 38.
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was still a long way to Louis XI’s decree that no foreigner could become the rector of the Parisian university (1473) 2, but a precedent had been set and the tendency for the political authority to interfere in the work of schools and add criteria of admission and promotion other than personal skills and merit was becoming visible. Similar measures were taken at other universities: in 1460 the commune of Bologna decided that only Bolognese citizens may apply for professorship in canon and civil law at the university 3. The foreigners told they need not apply were less inclined to come. Restrictions on travel to Paris for Englishmen that were introduced ca. 1320 4 revealed that distrust was not limited to foreigners coming to study in another country but extended to fellow-citizens going to study abroad. The restrictions may be variously explained: a conviction that Paris was no longer a place one could learn something interesting, or that the stay in Paris would have a corruptive rather than formative influence on the student, or just a belief that Paris was not a safe place for an Englishman to go. Whatever the reasons, the English-German nation in Paris was being gradually transformed into the Germanic nation and the changes in the name reflected its changing ethnic mix 5. The dynamic of the process of tightening the grip on schools and scholars seems to draw the university ever further from the ideal of an autonomous guild of people unified in their pursuit of knowledge that seems to have inspired the spontaneous formation of the earliest universities, whose origins predate their first charters, towards the model of an institution preparing people for public service and itself taking part in the political life of the country. The subjection of the university to the secular power is slow and gradual. Growing dependence on political patrons, who saw scholars and universities as useful tools in their diplomatic actions, was a long process involving a lot of carrot and stick. The sticks have already been mentioned; carrots consisted of privileges and benefices offered to schools and individual members. As the structure of medieval society became more and more complex, it required more and more educated people. It was not uncommon for a late medieval sovereign to call university professors to his (sometimes her) court as advisors, sometimes ad hoc, at other times - as in the case of Heidelberg professors - as members of the prince’s council 6. Growing reliance on the expertise of university professors encouraged rulers to support education in the form of both founding and funding colleges, libraries, 2 3 4
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Moulin, La vie des e´tudiants (nt. 1), 135. Ibid., 143. J. A. Weisheipl, Ockham and the Mertonians, in: J. I. Catto (ed.), The History of the University of Oxford, vol. I: The Early Oxford Schools, Oxford 1984, 608-658. Moulin, La vie des e´tudiants (nt. 1), 120. K. Oz˙o´g, Miejsce i rola uczonych w po´z´nos´redniowiecznym pan´stwie polskim. Pogla˛dy mistrzo´w krakowskich a rzeczywistos´c´, in: Genealogia, władza i społeczen´stwo w Polsce s´redniowiecznej, Torun´ 1999, 289-290. Ruprecht, prince palatine of the Rhine, had 10 Heidelberg professors, seven of them theologians, in his council.
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chairs and direct benefits to individual scholars 7. Naturally, all these riches were to fall on the people who could later bring some form of return to their protectors. Accordingly, they were aimed at people who met two criteria: they studied useful subjects - law and theology - and were less likely to disappear abroad once they obtained their degree. Consequently, the 15th century sees a growing preference for people educated practically and ‘at home’. The changes at universities from a ‘knowledge-oriented’ to a ‘career-oriented’ model resulted in some changes in the approach to philosophy, too. Fewer intellectual contacts and greater distrust of unorthodox opinions that resulted from fear for the unity of Christendom in the face of the Great Western Schism produced a growing tendency eliminate diversity of opinions from schools: this was only made worse when the extreme realism of Wycliff ’s philosophy came to be treated as an inseparable part or indeed a root of his heretical ideas 8. The ‘closing of the medieval mind’ can naturally be traced back to the formation of schools of philosophy centred around the thought of venerable doctors of the order - Thomas Aquinas for the Dominicans and John Duns Scotus for the Franciscans - but the tendency grew slowly and only after some time did the dominance of the established doctrine start stifling discussion 9. Decisions favouring a particular via or attempts to establish a via communis at universities appeared first in the 15th century 10. A remedy for the waning allure of Paris and other old schools, caused by weakening of their universalistic spirit, seemed to be the multiplication of universities, which became local centers of learning across Europe. New universities proclaimed to follow Paris and Bologna in excellence and learnedness and copied some of their institutions. However, beginning with the first university of Central Europe - Prague (1347/48) - their structure and statutes show stronger influence of another Italian model: Naples. The founding act issued by the emperor and king Charles IV is visibly modelled on the document of his predecessor, Frederick II. As the reason for the action the king mentions his desire for his subjects to find education in their home country 11, but there can be no doubt that the convenience of his subjects, who used to travel far to
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Moulin, La vie des e´tudiants (nt. 1), 93. S. Swiez˙awski, Problem ‘via antiqua’ i ‘via moderna’ w XV w. i jego zaplecze ideologiczne, in: Studia z mys´li po´z´nego s´redniowiecza, Warszawa 1998, 99. K. Michalski, Tekst, osobistos´c´, szkoła i pra˛d w filozofii s´redniowiecznej, in: id., Filozofia wieko´w s´rednich [Studia do dziejo´w Wydziału teologicznego Uniwersytetu Jagiellon´skiego, vol. 5, ed. K. Banko/S. Rospond], Krako´w 1997, 224-225. The political and religious aspect of the argument between nominalists and realists in the 15th c. has been noted by many authors. Cf. K. Michalski, Zachodnie pra˛dy filozoficzne w XIV wieku i stopniowy ich wpływ w s´rodkowej i wschodniej Europie, in: id., Filozofia wieko´w s´rednich (nt. 9), 282; Moulin, La vie des e´tudiants (nt. 1), 167; Swiez˙awski, Problem ‘via antiqua’ i ‘via moderna’ (nt. 8), 104-105. A. Vetulani, Pocza˛tki najstarszych wszechnic s´rodkowoeuropejskich, Wrocław 1970, 61-62.
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obtain knowledge, was not all that he had in mind 12. The rich endowments for the university and its members testify to the king’s keen interest in establishing a new centre of learning. Gabor Klaniczay has shown that university foundation in Prague and other places in Central Europe (Krakow, Pecs and Vienna followed in quick succession) coincided with the solidification of monarchic power in the same pattern as creation of universities in the West one century earlier 13. A centralised state needed educated people to run it. The same practical needs seem to have stood behind the creation of a large part of Central European universities. On the other hand, one cannot exclude the element of personal rivalry between the monarchs. Just as in the 17th and 18th centuries every European ruler had an ambition to have his opera and his Versailles, so three centuries earlier the status symbol of a lord of the land was a university 14. Strange as it may sound, the view that the foundation of the oldest Central European universities was at least in part the whim of vainglorious princes seems to be corroborated by their quick decline after the deaths of their founders. The specific circumstances of their establishment affected also the later history of Central European universities. Because they were created with an existing model in mind, they were bound to exhibit both the strengths and weaknesses of that model. Actually, the latter was the case much more often than the former. Although the spirit of the times influenced also earlier institutions of education, making them more dependent on their protectors 15, they still had the old foundation, both material and spiritual, on which one could build. And even though the number of foreign scholars was dwindling and attempts to enforce doctrinal unanimity were meant to gag voices of dissent 16, there was the tradition of openness and enough people, books and opinions to withstand the ‘Gleichschaltung’. In the new universities, established when the old schools no longer seemed open to everyone, the temptation to renew the original spirit of the university on a local scale was irresistible, but the means to do so were far from adequate. The dependence on political patrons was extremely strong and the fortunes (or misfortunes) of these institutions clearly reflect the changes in political climate that usually followed changes on the throne. All of the Central European institutions that were founded by monarchs suffered major setbacks after the deaths of their founders and some of them ceased to exist. Prague, following the quarrels there between the Bohemian and German nation, was reduced in status from a ‘Reichsuniversität’ to a ‘Landesuniversität’ after the 12
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G. Klaniczay, Late medieval Central European Universities. Problems of their comparative history, in: Universitas Budensis 1395-1995. International Conference for the History of Universities on the Occasion of the 600th Anniversary of the Foundation of the University of Buda, Budapest 1997, 174. Ibid., 176. Ibid., 177. J. Le Goff, Les intellectuels au Moyen Age, Paris 1957, Polish translation: Inteligencja w wiekach s´rednich, Warszawa 1997, 123-124. Swiez˙awski, Problem ‘via antiqua’ i ‘via moderna’ (nt. 8), 98-101.
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edict of Kutna Hora (Kuttenberg 1409), and the university almost disappeared during the Hussite War; but at least the secessions of German scholars gave rise to universities in Erfurt and Leipzig. The Hungarian chapter in the history of universities began with a series of false starts: Pecs, created a few years after Krakow was short lived and later Hungarian attempts at creating a university: Buda (twice) and Pozsony (Pressburg, now Bratislava) were even more futile 17. The university in Vienna did not survive the death of its founder, Rudolph of Habsburg, but was successfully re-launched by his successor. Something similar happened in Krakow. After the death of its founder, Casmir the Great of Poland, the university of Krakow all but disappeared. The provisions of its founding charter that allotted some of the profits from the royal salt mine in Wieliczka to the university were not respected by the new king, Louis of Anjou, and in want of endowments from other sources the existence of the studium generale was no longer possible. Apparently, neither the nobility, who perceived the university as an element in the king’s efforts to centralise the country, nor the clergy, who were indifferent to the studium, established by the secular power and having no theological faculty, were interested in its continued functioning. The idea of the university survived, however, even in that rather unfriendly environment and kept inspiring attempts at renovation. It was the scholars themselves, not the secular or ecclesiastical powers, that kept it alive. Naturally, a restoration could not even be dreamed of without the help of the high and mighty, so the group of enthusiasts had to win their support. One of the leaders of the group was Bartholomew of Jasło (ca 1360-1406). This Prague master of arts and student of law returned to Krakow in 1390 to help restore the studium generale there 18. Although the full restoration did not come until 1400 due to the conflicting interests of the papacy and the king of Poland, who was unwilling to provide funds for an institution he could not control, the actions resulted in the revival of a studium in a reduced form in 1390 and then the creation of a theological faculty in 1397. With the king’s reluctance to loosen the strings of his purse, money was scarce; yet the positive side effect of absence of political support was the freedom to plan the constitution of the revived school. The text of the sermon of Bartholomew of Jasło presented at the opening of the studium, which documents this early stage of renovation of Krakow university, throws some light on his idea of university 19. Among other things, the vision of Bartholomew concerns two issues that are vital for the constitution of the school: its purpose and the organisation of studies. He is not much interested in the institutional structure of the school, 17
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J. Kłoczowski, Młodsza Europa. Europa S´rodkowo-Wschodnia w kre˛gu cywilizacji chrzes´cijan´skiej s´redniowiecza, Warszawa 1998, 355-358. A. Gogacz, Bartłomieja z Jasła idea uniwersytetu, in: E. Jung-Palczewska (ed.), Ksie˛ga pamia˛tkowa ku czci Profesora Zdzisława Kuksewicza, Ło´dz´ 2000, 47. M. Gensler/E. Jung-Palczewska, Wprowadzenie, in: E. Jung-Palczewska (ed.), Prima verba. Krakowskie mowy uniwersyteckie, Ło´dz´ 2000, 7-8.
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however, as if knowing that this is the prerogative of superior powers. This is why he does not refer to Paris, Bologna or Naples as models, even though the reference to king Wladislas as the efficient cause of the studium 20 may suggest that he perceived it to be akin to the last one. At first glance, the role and function of the university envisaged by Bartholomew is shaped by more down-to-earth concerns than free pursuit of knowledge. He speaks of the school’s usefulness to the king and to the people, giving reasons why it is beneficial for every class, specially referring to the poor. Through education they are able to liberate themselves from servitude to ignorance and attain true nobility. The liberal message is far from egalitarian airs, so widespread in the radical movements of his times; education entitles one to rule and reign over the ignorant: “[University is the cause] that the poor have a special reason to support, for they are subject to ruthless servitude because of their ignorance, so that easy acquisition of knowledge in a nearby studium may free them from the yoke of serfdom and turn them into masters and rectors.” 21
The elevation of scholars over uneducated people allowed Bartholomew of Jasło to see the former as a corporation of people united in pursuit of wisdom and thus to envisage the university as a democratic institution, ignoring class divisions and hierarchies of academic ranks and faculties. At the root of the university democracy lay philosophy. For Bartholomew philosophy was the discipline that encompasses all human knowledge. Influenced by his Prague teachers, above all Matthew of Krakow, who was an advocate of viewing theology as a practical rather than a speculative science 22, Bartholomew went on to stress the practical aspect of all learning, including philosophy. These two traits: the universalism of philosophy and its practical value were not new. Bartholomew drew them from Hugh of St. Victor and Cicero, Seneca and Boethius, respectively. What is original are his conclusions concerning the status of academic disciplines. According to Bartholomew, philosophy is to rule over the other sciences and its rule is a benevolent one that wins the hearts and minds of people by persuasion alone. It teaches how to live a perfect life. Law and medicine seem to have an accessory function in Bartholomew’s vision: they teach how to help those who are unable follow the path of philosophy because of the weaknesses of the soul or the body: “Philosophy rules through persuading people through arguments and if some refuse to be obedient [to it], they are governed by the precepts of canon law, which loudly 20
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Bartholomaeus de Jaslo, Oratio prima de restauratione Studii, in: Jung-Palczewska (ed.), Prima verba (nt. 19), 26. Ibid., 20-22: “Specialiter tamen ex his movent pauperes, qui propter ignorantiam dirae subiecti sunt servituti, ut per facilem scientiarum acquisitionem ex studii propinquitate a iugo servitutis liberati, aliorum domini possent effici et rectores” (Translation mine MG). Z. Włodek, Filozofia a teologia, in: R. Palacz (ed.) Filozofia polska XV wieku, Warszawa 1972, 69.
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admonishes the insolent. And if some are tired of indulging philosophy or canon law, they are governed by medicine, which openly offers to teach them how to give comfort to their bodies and keep healthy.” 23
Bartholomew also believes that the order of liberal arts is natural and necessary; therefore, the study of each is equally important 24. The vision presented by Bartholomew is quite distant from any medieval model of university education. His ambition to put philosophy on a par with medicine and law (he does not speak of theology, since that faculty was created in Krakow only a few years later), his stress on the importance of the trivium, and his vision of philosophy as the doctrine of personal perfection rather than the ancilla theologiae, have few precedents in the Middle Ages. Naturally, we can look back to Boethius of Dacia and his “De summo bono” and find the doctrine of philosophical self-sufficiency there. Bartholomew, however, looks further back to Boethius the Roman and the classical tradition of Cicero and Seneca. In his preference for the classical authors over the medieval ones, philological interests and treating philosophy as a way of life, Bartholomew resembles renaissance humanists rather than medieval scholastics. One can suspect that his studies in Prague must have brought him into contact with visitors from Italy, where the renaissance was already blooming 25. This would explain his view of the university anticipating the form of an ‘accademia’. The idea of the university championed by Bartholomew of Jasło proved utopian for a Polish environment. Unable to realise his dream, Bartholomew left Krakow and after some time spent teaching in Sandomierz returned to Prague to study theology. He came back to Krakow again to take part in the commission working on the statutes of the university following the Jagellonian renovation of 1400. At that time, however, his original plans had been abandoned. The renovated school was clearly designed to suit the political needs of its royal protector and even though the structure of the University, i. e. the division into faculties and nations, was partly modelled after that of Paris, the function of the studium generale was the same as in the times of its first founder, Casmir the Great. The first rector of the renovated university, Stanislas of Scarbimiria (ca. 1360-1431), put special stress on the practical aims of learning: institutional, moral and religious. According to him: “[University] teaching consists in three things: in the mastery of sacred canons, in the knowledge of secular sciences, in the practice of secular skills. The experience in 23
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Bartholomaeus de Jaslo, Oratio prima (nt. 20), 36: “Quae quidem philosophia […] regit inductive ac hortatur rationibus persuadendo, cui si aliqui oboedire benivole noluerint, eosdem ius canonicum regit praeceptive, contumacibus poenas vocaliter comminando. Quodsi aliqui ex servitio fatigati in obsequiis philosophiae sive iuris canonici fuerint, illos gubernat medicina corporum comfortatione et pro conservatione sanitatis eis doctrinas vocaliter proponendo” (Translation mine MG). Ibid., 37-39. Kłoczowski, Młodsza Europa (nt. 17), 357, refers to the testimony of Petrarch, who extolled the humanist erudition of the court of Charles IV.
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secular skills broadens the scope of knowledge, for a doctor should think not only of salvation of souls but also of the utility of external things.” 26
Consequently, he saw Law and Theology as the faculties of special importance both for the university and for the country. Given the political situation of Poland at the time and Stanislas’s own background, this was hardly surprising. An adviser to the queen and king of Poland and their diplomatic envoy, this doctor of canon law understood the practical value of university education not so much in terms of personal perfection as in serving the needs of the country and the Church 27. Serving the needs of the royal protectors did not mean the complete subordination of the renovated studium generale to their political agenda. Although the ties binding the university to the throne were strong and numerous, e. g. many of the Krakow professors were engaged in the diplomatic struggle against the Teutonic Knights at the Councils in Constance and Basel and in the Roman Curia 28, nevertheless they were never institutionalized. Contrary to the suggestions of Stanislas, university intellectuals were not invited to participate in the royal council 29 and Krakow university graduates constituted only a minority in the royal chancery 30. The freedom of thought at the studium was never challenged by the secular authority and its professors did not yield to the demands of raison d’e´tat. The best example can be found in the university’s opposition towards the king’s attempts at rapprochement with Czech Hussites. Its professors believed that they could not sacrifice the truth even for the sake of the country. In the debate between the chancery and university intellectuals over the condemnation of Hus and his followers that took place in 1431, the university professors Nicholas Kozlowski, Andrew of Kokorzyn, Benedict Hesse and others stood firmly by the teaching of the Catholic Church 31. The king, displeased as he was with the results of the debate, nevertheless respected the university’s freedom of opinion. Events, such as the dispute of 1431, strengthened the image of the Krakow studium generale as an independent institution of learning. The image was fostered by its masters, whose speeches and sermons reflect both the ideal and the real pictures of a university, frequently oscillating between the two. The presentation of scholars’ contemplative life as the apex of human existence was often accompanied with censure of the shortcomings of both students and masters. Mem26
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Stanislaus de Scarbimiria, Sermones sapientiales, quoted after Oz˙o´g, Miejsce i rola uczonych (nt. 6), 280: “Doctrina vero ipsius in tribus constitit: in peritia sacrarum canonum, in notitia saecularum scientiarum, in practica saecularium negotiorum. [...] Experientia negotiorum saecularium facit in peritia magis latum; doctor enim non solum de animarum salute, verum etiam de extrinseca utilitate et cautela debet esse sollicitus” (Translation mine MG). Gensler/Jung-Palczewska, Wprowadzenie (nt. 19), 9. Oz˙o´g, Miejsce i rola uczonych (nt. 6), 294-295. Ibid., 278. Ibid., 290. Ibid., 288.
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bers of the corporation were reminded that their lives should be guided by the statutes of the University, which are the Supreme Law reflecting the divine order and therefore should be observed with piety 32. In a sermon by Nicholas Kozlowski, we read: “Statutes of the university, which are like sacraments, merit being called compulsory with the authority to govern, when those who established them had the authority to do so, even when constitution has no legitimate cause and no mandate is found in either scripture or custom. Their causes are explicitly honest; they are also clearly contained in the Holy Writ.” 33
The statutes formed the institutional backbone of the university, structuring the university and setting the curricula but also regulating the minutiae of students’ and teachers’ mutual relations, e. g. the problem of fees, where it is necessary to establish the balance between greed and avarice and find the golden mean of just payment, thus fostering morality and order 34. Important though it is, the backbone is just a part of the body and must be covered with flesh to make the whole organism. In Krakow, as in other new universities, the flesh of learning that covered the structure was of various quality. The new universities’ main weakness was usually poor endowment, which frequently resulted in poor quality of teaching and high volatility of students, who looked for the best teachers and learning conditions in various schools. This practice was often criticized in university sermons 36, the preachers chastising the students for their alleged thoughtlessness. Stanislas of Scarbimiria says: “When an inn, a meal, or other thing does not appear immediately, students, just like birds, do not stay long in Bethlehem, when they want to leave for Jerusalem; not long in Padua, when they want Bologna. They turn now here, now there. They start here and do not care to complete it; and where their actions are hindered, they return ashamed to their birth places.” 37
The moralising, however, was not enough to keep the students at the university. As if by a sixth sense they perceived which school and which teacher offered 32 33
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Gensler/Jung-Palczewska, Wprowadzenie (nt. 19), 10. Nicolaus Kozlowski, De ordine et oboedientia, in: Jung-Palczewska (ed.), Prima verba (nt. 19), 88-90: “Universitatis statuta etiam sunt quaedam sacramenta, ex quo servari sub iuramento sunt praemissa. […] Talia solum merentur dici servilia, et ita premere et regnare, quorum constitutionibus nulla potest causa legitima inveniri et quae in Scriptura non habentur nec moribus serviunt, et solum hinc inde in particularibus servantur, […] quia illi, qui ea statuerunt, auctoritatem statuendi habuerunt. Horum autem causae honeste expressae sunt, haec etiam in Sacra Scriptura per expressum continentur” (Translation mine MG). Gensler/Jung-Palczewska, Wprowadzenie (nt. 19), 11-12. Stanislaus de Scarbimiria, Collatio in congregatione universitatis, in: Jung-Palczewska (ed.), Prima verba (nt. 19), 54-56. Ibid., 56: “Studentes sicut et aves, quibus ad nutum hospitia, cibus aut alia non occurrunt, non diu durant in Bethlehem, quando velint proficisci in Hierusalem; nec diu Paduae, quando velint Bononiam. […] Iam hic, iam illic intendunt. Hic incipient et non intendunt, quod perficiant; cum autem alibi operas suas impedirent, ad loca nativitatis suae […] confusi recedunt” (Translation mine MG).
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quality education and voted with their feet. It was not the institution they were looking for but knowledge, and where they found it there they stayed. The efforts to remedy the decline of old universities through establishment of new ones in the second half of the 14th and the 15th centuries produced mixed results. What was an undeniable success was the creation of a network of studia generalia throughout the ‘Younger Europe’ (to borrow an expression from Jerzy Kłoczowski). Many of these new institutions managed to survive and thrive to this day. What was not accomplished, however, was saving the original spirit of the university that allowed Paris and Oxford to flourish. It was not for want of trying: the visions of Bartholomew of Jasło testify to the lasting appeal of the idea of the corporation of scholars unified in the pursuit of knowledge, yet the circumstances were no longer favourable for it. The founders of the new universities were not interested in the ideal but in the working model and the political control over these schools was probably the last thing they were afraid of. Since the integration of universities into the framework of power seemed to work well for the rulers in the West, they wanted no experiments. Thus, the fate of those studia became hostage to political changes. Political patronage, growing institutionalisation of structures and petrifaction of teaching became common ills of universities all over Europe in the 15th century. The atmosphere of the studia was becoming increasingly stuffy, too stuffy to allow new thought to appear. This new thought, humanism, had therefore to grow independently of the established structures. With the founding of the Accademia Platonica in Florence in 1438 it received a structure of its own that proved extremely effective for the spread of new ideas. Universities found tough competitors in the academies and sodalitates litterarie sprouting almost everywhere on the continent within a hundred years of the creation of the Florentine Academy 37. A symbolic moment, again, can be found when Francis I of France founded the Collegium regium Galliarum (later to be known as Colle`ge de France) in 1530 to help spread the sprit of new philosophy in Paris against the scholastic stupor of the university, apparently unable to reform itself, like its other sister-schools. Yet reform themselves they did, even though it took some time before universities came to be springs of learning again. Institution did not strangle learning then. Let us hope it never will.
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The Accademia Pontiana in Naples was founded in 1443, Leonardo da Vinci’s Accademia in Milan in 1483, the Accademia Vitruviana in Rome in 1542. The Sodalitas Litteraria Vistulana in Krakow was started by Konrad Celtis in 1489; by the end of the century, he established similar sodalitates in Vienna, Buda and other cities.
Sprache, Wirklichkeit und Allmacht Gottes Das Bild der moderni bei Johannes Capreolus (1380-1444) und seine Bedeutung im Kontext der Schulbildung des 15. Jahrhunderts 1 Sigrid M¸ller (Wien) I. Göttliche Allmacht und die via moder na Die Berufung auf die Allmacht Gottes gilt nach wie vor als zentrales Charakteristikum der via moderna 2 und damit als eines der bedeutenden Unterscheidungsmerkmale gegenüber der via antiqua im Schulstreit des 15. Jahrhunderts. Dass diese Zuordnung jedoch einer Relativierung oder zumindest einer differenzierteren Betrachtung bedarf, ist in der philosophiehistorischen Forschung der vergangenen Jahre längst deutlich geworden. Zum einen wurde bezüglich der Vorgeschichte der philosophischen Schulen aufgezeigt, dass zumindest für das 13. und bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts das Thema der göttlichen Allmacht nicht spezifisch einer bestimmten Gruppe von Autoren zugeschrieben werden kann 3. Selbst Vertreter der Gegenposition müssen zugestehen, dass die göttliche Allmacht im 15. Jahrhundert zwar ein Thema der via moderna darstellt, jedoch in gleichem Maße bei einer Gruppe der via antiqua, den Skotisten, zu finden ist und selbst nicht von allen Thomisten gemieden wurde 4. Angesichts dieser Forschungsergebnisse drängt sich die Frage auf, wie es zu einer einseitigen Zuschreibung der göttlichen Allmacht zum Denken der moderni 1
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Diese Studie entstand im Rahmen des von der niederländischen Forschungsgemeinschaft (NWO) getragenen Forschungsprojektes „Thomism, Albertism, Nominalism. The Dynamics of Intellectual Traditions in the Late Middle Ages“ an der Universität Nimwegen. Die Autorin dankt M. J. F. M. Hoenen, L. Nauta und G. Guldentops für Kritik und wertvolle Hinweise. Cf. exemplarisch den Beitrag von T. Kobusch in diesem Band. Cf. die differenzierten Untersuchungen von W. Courtenay, beispielsweise in: Capacity and Volition. A History of the Distinction of Absolute and Ordained Power (Quodlibet 8), Bergamo 1990. L. A. Kennedy, C.S.B., The Fifteenth Century and Divine Absolute Power, in: Vivarium 27 (1989), 152: „1. On the eve of the Reformation many philosophers and theologians were making extensive applications of the notion of divine absolute power. 2. This was true of Nominalists and Scotists, though not of Thomists, particularly the more explicitly Thomistic ones. 3. Except for the matter of the Incarnation, there seems to be little or no difference between Nominalists and Scotists in these doctrines ...“
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kommen konnte und wie man diese Zuschreibung angesichts der neueren Forschungsergebnisse zu bewerten hat. Um der Antwort auf diese Frage auf die Spur zu kommen, liegt es nahe, die Anfänge der Kontroverse zwischen der via moderna und der via antiqua diesbezüglich näher zu betrachten. Diese sind in den Umbrüchen an der Universität Paris an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert zu suchen. Für diese Zeit charakteristisch ist einerseits das Schwächerwerden des Nominalismus und ein Erstarken des Albertismus an der philosophischen Fakultät und andererseits der Streit zwischen der theologischen Fakultät der Universität Paris und den Dominikanern über das rechte Verhältnis von Philosophie und Theologie. In diesem Kontext findet man zwei zentrale Zeugen für die Herausbildung der später institutionell verankerten philosophischen Schulen: Johannes de Nova Domo († 1418) und Johannes Capreolus O.P. (1380-1444). Beide lehrten zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Paris, der erste an der Artistenfakultät, der zweite an der theologischen Fakultät. II. Philosophische Kritik an den moder ni : Johannes de Nova Domo Der schulspezifische Streit um das richtige Verständnis der Philosophie findet sein frühestes bislang beachtetes Zeugnis in der Schrift „[Capitulum] de universali reali“ des Johannes de Nova Domo 5. Der Magister an der Artistenfakultät verfasste diese zu Anfang des 15. Jahrhunderts an der Universität Paris 6. In dieser Abhandlung über die Universalienlehre schließt der Autor eine Invektive gegen die nominales ein. Diese - Johannes versteht die Nachfolger Buridans (ca. 1295-ca. 1358) und des Marsilius von Inghen (ca. 1330-1396) darunter hätten sich dem philosophischen Irrweg angeschlossen, den Wilhelm von Ockham (um 1285-ca. 1348) durch seine Abweichung von der Lehre des Aristoteles im Gefolge englischer Philosophie eingeschlagen habe 7. Dies komme da5
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Zu den Schulstreitigkeiten in Paris zur Jahrhundertwende und zur Rolle des Johannes de Nova Domo allgemein cf. Z. Kaluza, Les querelles doctrinales a` Paris: nominalistes et realistes aux confins du XIVe et du XVe sie`cles (Quodlibet 2), Bergamo 1988, 13-34 und 87-125. Belegt ist Johannes de Nova Domo als Magister im Semester 1410-1411; nach Aussagen seines Schülers Heymericus de Campo ist seine Universitätslaufbahn von 1400 bis 1415 anzusiedeln. Dazu A. G. Weiler, Un traite´ de Jean de Nova Domo sur les universaux, in: Vivarium 6 (1968), 109. Der Traktat ist nach der neuen Datierung durch Kaluza, Les querelles doctrinales (nt. 5), 91, möglicherweise vor 1406, also vor der Ankunft des Capreolus in Paris, in jedem Fall aber vor 1418 entstanden, also vor Abschluss der Redaktion des für unsere Überlegungen wichtigen zweiten Buches der Defensiones in Rodez am 14. September 1426. Zur ursprünglichen Datierung der Schrift zwischen 1406 und 1418 cf. Z. Kaluza, Le „De universali reali“ de Jean de Maisonneuve et les epicuri litterales, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 33 (1986), 483. Weiler, Un traite´ (nt. 6), 137: „Dicentes taliter ... sunt ... sequentes condempnatam parisius occanicam discoliam cum collegiis suis, scilicet Biridani et Marsilii, qui Occan fuit emulator paternarum tradicionum et non insecutor Aristotelis ...“
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durch zum Ausdruck, dass sie die Universalien nicht mehr in den Gegenständen verhaftet sähen, sondern als reine Begriffe oder Zeichen auffassten 8. Die große Gefahr dieser Lehre bestehe darin, dass sie der Wissenschaft, die auf diesen Universalien aufbaue, jeden Realitätsbezug nehme und diese auf die Sprachebene einschränke 9. Durch die Leugnung der extramentalen Existenz der Prädikamente sieht Johannes de Nova Domo außerdem nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die gesamte Ordnung der Welt in Frage gestellt und lehnt diese Theorie daher ebenso aus Motiven des Glaubens wie aus philosophischen Gründen ab 10. Er kommt aufgrund seiner Auseinandersetzung mit den nominales in der Universalienfrage zu dem Schluss, dass diese keine ernstzunehmenden Gesprächspartner bezüglich der aristotelischen Wissenschaftslehre seien und deshalb von ihm in Zukunft nicht mehr berücksichtigt würden 11. Eine Auseinandersetzung in der Universalienfrage kann folglich seiner Ansicht nach nur zwischen den Vertretern eines Realismus geführt werden: Der Streit zwischen Albertisten und Thomisten, den sein Schüler Heymericus de Campo (13951460) in Köln trägt und der dort zum Markenzeichen der Universität wird, findet hier seinen Anfang 12. Das Zeugnis des Johannes de Nova Domo in seiner Schrift über das universale reale ist ein wichtiges Dokument für unsere Kenntnis über die Entstehung der Schulproblematik und für die Rolle, die dabei den moderni zugeschrieben wird. Zum einen ist sich Johannes dessen bewusst, dass diejenigen, die er unter die nominales fasst, nicht alle immer genau dieselbe Ansicht vertreten. Denn die von ihm namentlich genannten nominales des 14. Jahrhunderts, Johannes Buridanus und Marsilius von Inghen, sahen weder sich selbst als Vertreter einer Schule, noch Ockham als ihr Schulhaupt an 13. Allen Divergenzen zum Trotz spricht Johannes de Nova Domo jedoch von ihnen als einer einheitlichen Gruppe: 8
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Weiler, Un traite´ (nt. 6), 136: „Iam restat probare, quod universale ... non est omnino abstractum velut communis conceptus et intencio seu nocio singularium, sicut dicunt moderni.“ Ibid., 137: „... quid abstractum in anima, sicut quidam conceptus in anima et tenuis similitudo singularium, ut dicunt moderni ...“ Ibid., 134: „Dicunt eciam solum terminos conceptus esse universalia, et non res etc.“ Weiler, Un traite´ (nt. 6), 137: „Si enim esset universale dumtaxat quid abstractum in anima ..., ut dicunt moderni, sequitur primo falsitas istius dicti Philosophi Primo Posteriorum dicentis, quod sciencia est universalium per se inherencium ... Nulla enim sciencia sic esset realis ...“ Ibid., 137: „Nulla enim sciencia sic esset realis, sed omnis sermocinalis.“ Weiler, Un traite´ (nt. 6), 152: „Sed si dicatur, quod relacio non est res extra intellectum, sed est ens racionis tantum, illa responsio destruit ordinem tocius universi.“ Ibid., 129: „... ne offendatur philosophia parte ex una per discessum a veritate, et ne offendatur sacratissima fides parte ex altera.“ Weiler, Un traite´ (nt. 6), 137: „Ideo cum illis et quibusdam aliis in sciencia Aristotelis recusamus disputare.“ Heymericus wendet sich in seinem „Tractatus problematicus“ nur im ersten Traktat contra modernos, dann verzichtet er auf jede weitere Diskussion mit ihnen. Marsilius beispielsweise kritisiert Ockham gleich zu Anfang seines Sentenzenkommentars. Buridan vertrat in zentralen philosophischen Fragen andere Ansichten als Ockham, so dass man für die Pariser Lehrentwicklung sogar von zwei getrennten Strömungen, den Ockhamisten und Buridanisten, ausgehen muss. Dazu Z. Kaluza, Les sciences et leurs langages. Note sur le statut du 29 de´cembre 1340 et le pre´tendu statut perdu contre Ockham, in: L. Bianchi (ed.), Filosofia e teologia nel trecento. Studi in ricordo di Eugenio Randi (Textes et e´tudes du moyen aˆge 1), Louvain-la-Neuve 1994, 223.
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„plures ymmo breviter omnes“ 14. Den genannten Autoren und ihren Anhängern, die er unterschiedslos als terministae, moderni oder nominales bezeichnet 15, können bestimmte philosophische Inhalte pauschal zugeschrieben werden. Damit legt Johannes den Grundstein für die plakative Zuordnung von Inhalten zu einer Reihe von Autoren, die eine kollektive Polemik ermöglicht und ein zentrales Merkmal der philosophischen Schulen des 15. Jahrhunderts darstellt. Zum anderen ist ganz klar ersichtlich, dass der Hauptstreitpunkt zwischen Johannes de Nova Domo und den moderni im Verständnis der Universalien und in der Prädikamentenlehre liegt. Die nominales können keine reale Beziehung zwischen den Dingen herstellen, so Johannes de Nova Domo. Dadurch machen sie eine realwissenschaftliche Erkenntnis der Welt unmöglich und erschüttern die altbewährte Weise der Weltbetrachtung 16. III. Philosophische Kritik und theologische Polemik: Johannes Capreolus Diese Betrachtung der moderni als einer Gruppe und die Kritik ihrer Universalienlehre durch den Philosophen Johannes de Nova Domo ist kein Einzelfall in Paris. Eine Parallele findet sich in den „Defensiones theologiae divi Thomae Aquinatis“ des Johannes Capreolus. Der junge Dominikaner las zwischen 1407 und 1411 in Paris die Sentenzen und verfasste seinen Kommentar, wie der Titel besagt, mit dem Ziel der Verteidigung des Thomas von Aquin 17. Seine Gegner sind solche Theologen, die markant von den thomasischen Grundsätzen abgewichen waren oder diese angegriffen hatten. Der meistzitierte Autor ist Petrus Aureoli O.F.M. (1280-1322). An zweiter Stelle werden im Kommentar zu den ersten zwei Büchern Johannes Duns Scotus O.F.M. († 1308) und der Augustinereremit Gregor von Rimini (ca. 1300-1358) herangezogen 18. Gemessen daran, 14 15
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Weiler, Un traite´ (nt. 6), 132. Johannes de Nova Domo verwendet austauschbar die Begriffe moderni, terministae und nominales; cf. Weiler, Un traite´ (nt. 6), 131-132. Zu diesen Begriffen cf. auch Kaluza, Le „De universali reali“ (nt. 6), 494-495 mit nt. 57. Weiler, Un traite´ (nt. 6), 152: „... negabitur omnis causalitas rerum.“ Cf. supra nt. 10. C. Paban/Th. Pe`gues (eds.), Johannes Capreolus, Defensiones theologiae divi Thomae Aquinatis, I-VII, Tours 1900-1908. Für weitere Informationen zur Ausgabe cf. S.-Th. Bonino O.P., Albert le Grand dans les Defensiones de Jean Cabrol († 1444), in: Revue Thomiste [anne´e CVII] 99/1 (1999), 369*. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung zwischen Capreolus und den moderni findet sich in seinem Kommentar zu den ersten zwei Büchern der Sentenzen, da Gregor von Rimini nur zu diesen einen Kommentar verfasst hat. Dazu V. Marcolino, in: A. D. Trapp O.S.A./V. Marcolino (eds.), Gregor von Rimini OESA, Lectura super primum et secundum sententiarum I (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen 6), Berlin - New York 1981, XIV. Im Kommentar zum dritten Buch bezieht sich Capreolus vereinzelt auf Wodeham und einmal auf Ockham; gänzlich fehlt die Auseinandersetzung mit den moderni im Kommentar zum vierten Buch.
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dass nur Gregor - und in seltenen Fällen Duns Scotus - später zu den moderni gezählt wird, kann man nicht sagen, die „Defensiones“ nähmen in erster Linie „die Lehre des hl. Thomas gegenüber dem Nominalismus in Schutz“ 19. Und dennoch ist etwas Wahres an dieser Deutung der „Defensiones“ durch Grabmann, was sich jedoch nicht an der Quantität, sondern an der Qualität der Auseinandersetzung zeigen wird. Formal ist zu beobachten, dass auch Capreolus einige Autoren ungeachtet ihrer Unterschiede oder ihres Selbstverständnisses zu der Gruppe der moderni oder terministae 20 zusammen fasst: namentlich Wilhelm von Ockham und Adam Wodeham († 1358), indirekt auch Gregor von Rimini 21. Das zweite bei Johannes de Nova Domo festgestellte Merkmal der Auseinandersetzung mit den moderni, das Thema der Universalien- bzw. Prädikamentenlehre, findet sich bei Capreolus ebenfalls als zentrales Thema wieder. Auch bei ihm ist es verbunden mit der Frage nach dem rechten Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. 1. Das rechte Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit Eines der wiederkehrenden Axiome des Capreolus in der Auseinandersetzung mit den nominales ist, dass zwischen Namen, Begriffen und Dingen klar unterschieden werden müsse. Dabei gibt es für ihn vor allem zwei Kritikpunkte gegenüber dem Denken der terministae: Einerseits kritisiert Capreolus als deren Ansicht, dass die Sprache zu unmittelbar auf die Sache verweise. Dagegen hält Capreolus, dass auch der modus significandi berücksichtigt werden müsse 22. Eine zu unmittelbare Gleichsetzung von Wort und Sache wirft Capreolus beispielsweise Gregor von Rimini in der Quaestio über den formalen Unterschied zwischen Gott-Sohn und Heiligem Geist vor. Dort schließt dieser nämlich von der 19
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So implizit Martin Grabmann im Vergleich des Capreolus zu den Schriften der Dominikaner der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Cf. id., Johannes Capreolus O.P., der „Princeps Thomistarum“ († 7. April 1444) und seine Stellung in der Geschichte der Thomistenschule. Ein Gedenkblatt zu seinem fünfhundertjährigen Todestag, in: Divus Thomas (Freiburg) 22 (1944), 87. Capreolus selbst verwendet den bei Johannes de Nova Domo gebräuchlichen Begriff der nominales nicht, sondern spricht von moderni und von terministae. Cf. Def. II d. 15 q. 1 c. 1 (ed. Paban/ Pe`gues [nt. 17], IV, 54). Gregor von Rimini kann indirekt hinzugezählt werden, insofern Capreolus Ockham einmal als Vater Gregors und ein anderes Mal als der Vater der terministae bezeichnet; cf. nt. 33 und 35. Im Gegensatz zu Johannes de Nova Domo erwähnt Capreolus weder Buridan - was vermutlich mit dem Genus des Sentenzenkommentars zu tun hat - noch Marsilius von Inghen, obwohl von diesem ein Sentenzenkommentar stammt. Vielleicht ist das damit zu begründen, dass Zeitgenossen üblicherweise nicht namentlich erwähnt werden und Marsilius erst wenige Jahre zuvor verstorben war. Auch weitere Philosophen und Theologen der Zeit, die später den moderni zugerechnet werden, wie Johannes Dorp, Pierre d’Ailly und Johannes Gerson, werden nicht mit Namen angeführt. Def. I d. 11 q. 1 a. 3, ad arg. c. 1, arg. Gregorii, 1∞ (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], I, 33a): „Unde sanctus Thomas, 1. p., q. 39, art. 5, dicit quod ,ad veritatem locutionis, non solum oportet considerare res significatas, sed etiam modum significandi‘.“
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Einfachheit und Ununterschiedenheit des Namens „Sohnschaft“ (filiatio) auf die Einfachheit und Ununterschiedenheit der zugrunde liegenden göttlichen Person (filius). Dies sei aber falsch und in einer logisch fehlerhaften Argumentation, nämlich einer fallacia accidentis begründet 23. Capreolus hebt dagegen hervor, man dürfe nicht unmittelbar auf die Sache, den Sohn, schließen, weil die Namen nur mithilfe von Verstandesbegriffen die Sache bezeichneten. Verstandesbegriffe aber könnten und dürften sich widersprechen, ohne dass es in der Sache selbst, hier dem dreieinen Gott, einen Widerspruch gebe 24. Was Gregor als Argumentation vortrage, so polemisiert Capreolus, hätte bei den alten Theologen gerade mal als logische Denkübung, als Sophisma, verstanden werden dürfen. Gerade bei Aussagen über Gott bezeichneten die Namen nicht die Sache, sondern nur Unterscheidungen, die der Verstand treffe 25. So wie Capreolus einerseits die Begriffe oder die modi significandi als mittlere Ebene zwischen Wort und Sache hervorhebt, so wichtig ist ihm andererseits das genaue Verhältnis zwischen dieser mittleren Ebene und der extramentalen Wirklichkeit: Haben Aussagen einen realen Bezug zur zugrunde liegenden Wirklichkeit oder nicht? Besondere Relevanz erhält diese Problematik auf dem Gebiet der göttlichen Attributenlehre. Auf diesem Gebiet streitet Capreolus mit Gregor um das rechte Verständnis des Aristoteles. Gregor vertritt die Ansicht, nach Averroes seien die Unterschiede, die man in Aussagen über Gottes Eigenschaften, z. B. seine Weisheit, mache, nur im menschlichen Verstand begründet und bezögen sich nur auf die Aussageebene 26; in Gott selbst fielen die Eigenschaften schlichtweg zusammen 27. Man könne daher auch nicht von zumindest dem Verstand nach in Gott bestehenden Unterschieden sprechen, sondern nur von Unterschieden im betrachtenden Denken des Menschen 28. Gegen diese absolute Trennung von Aussage- und Sachebene wehrt sich Johannes Capreolus nun vehement. Der Aristoteleskommentator Averroes, auf 23 24
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Cf. Def. I d. 11 q. 1 a. 2, arg. c. 2, arg. Gregorii, 2∞ (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], II, 29b). Def. I d. 11 q. 1 a. 3, ad arg. c. 1, arg. Gregorii, 1∞ (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], I, 33a): „Licet enim intellectus praedicet rem de re, tamen non praedicat aliquid de aliquo, nisi mediante conceptu intellectus; immo nomina non significant rem, nisi mediante ratione intellectus. Sic ergo una ratio habet repugnantiam vel disparitatem ad aliam, licet eisdem una res correspondeat.“ Def. I d. 11 q. 1 a. 3, ad arg. c. 1, arg. Gregorii, 1∞ (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], I, 33a-b): „Similiter, q. 32, art. 2, ad 2um, dicit sic: ,Notiones significantur in divinis non ut res, sed ut quaedam rationes quibus cognoscuntur personae ...‘“ Def. I d. 8 q. 4 a. 2, arg. c. 1, arg. Gregorii (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], I, 387a): „Videretur, inquam, ex hoc, quod Commentator sensisset tales perfectiones esse idem realiter in Deo, sed distingui secundum rationem. Sed hoc non debet movere ad ponendum distinctionem talem. Quia Commentator ... accipit dispositionem et dispositum pro subjecto et praedicato propositionis, quae sunt termini et non res extra.“ Def. I d. 8 q. 4 a. 2, arg. c. 1, arg. Gregorii (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], I, 387a): „Et est intentio ejus quod in hujusmodi propositionibus subjectum et praedicatum supponunt pro omnino eodem ex parte rei, sub alia tamen et alia ratione; ita quod praedicatum et subjectum differunt ratione, et non sunt nomina synonyma; et quia supponunt pro eodem a parte rei, dicit quod reducuntur ad unum in esse.“ Def. I d. 8 q. 4 a. 2, arg. c. 1, arg. Gregorii (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], I, 387a-b): „Est ergo mens ejus quod una res habet duo nomina, scilicet subjectum et praedicatum, et duos conceptus differentes; sed non intendit quod res differat a seipsa ratione, sed solum una ratio ab alia ratione.“
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den Gregor sich berufe, fasse Subjekt und Prädikat als Dinge außerhalb der Seele auf, man könne dieselbe Argumentation verwenden wie im Falle der Universalien. Es sei schlichtweg falsch zu behaupten, es werde keine wirkliche Sache außerhalb der Seele, sondern nur etwas Gesprochenes oder Geschriebenes ausgesagt 29. Vielmehr, so ergänzt er an anderer Stelle, in der Widerlegung Ockhams zum Thema der Relation zwischen Schöpfer und Geschöpf, wer spreche, sage niemals nur das Wort aus, sondern immer auch die Sache: „Nam dicens non solum dicit verbum, immo rem per verbum.“ 30
2. Philosophische Gründe für das falsche Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit Ockham treibt nach Ansicht des Capreolus die ontologische Trennung zwischen Sprache und Wirklichkeit auf die Spitze. Der Fehler liegt, so Capreolus, in dem von Ockham vertretenen Grundsatz, mit welchem er die reale Existenz von Relationen leugne, nämlich dass man über Dinge gar nicht sprechen könne, sondern nur über Worte: „quod rebus non convenit dici, sed solum vocibus“ 31. Die katastrophalen Folgen dieser Auffassung seien, dass Universalien und Prädikamente nicht mehr als Dinge, sondern nur noch als Gesprochenes, Geschriebenes oder Gedankliches verstanden werden könnten. Und dies bedeute den Anfang vom Ende: „Ideo illud fundamentum valde ruinosum est.“ 32 Dieselbe Leugnung real existierender Relationen wird andernorts zum Kritikpunkt auch gegenüber Gregor von Rimini, Adam Wodeham und den übrigen terministae. In diesem Kontext führt Capreolus die Ablehnung von real existierenden Relationen auf die Anwendung einer bestimmten Argumentationsweise, nämlich die Berufung auf das Ockhamsche Sparsamkeitsprinzip, zurück. Dieses wird in der Variante Gregors von Rimini zitiert: Unnütz sei es, von etwas auszugehen, wozu weder Evidenz, noch Vernunftgründe oder Autoritäten zwängen 33.
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Def. I d. 8 q. 4 a. 2, ad arg. c. 1, ad arg. Gregorii (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], I, 408a). Def. I d. 30 q. 1 a. 1, ad arg. c. 1, ad arg. Occam, 4∞ (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], I, 303b). Ibid. und Def. I d. 30 q. 1 a. 1, arg. c. 1, arg. Occam, 4∞ (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], II, 288b). Def. I d. 30 q. 1 a. 1, ad arg. c. 1, arg. Occam, 4∞ (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], II, 304a). Def. II d. 1 q. 2 a. 2, arg. c. 1, arg. Gregorii (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], III, 35a): „Quia sine ratione et superflue ponitur ... nec evidentia, aut ratio aliqua, vel auctoritas cui sit standum, plus in uno ad illud cogit quam in alio.“ In dieser oder ähnlichen Formulierungen wie „pluralitas rerum vel res non est ponenda, ad quam ponere non cogit experientia, ratio vel auctoritas“ verwendet Gregor das umformulierte Sparsamkeitsprinzip Ockhams mindestens 14mal in seinem Sentenzenkommentar. Capreolus’ Polemik, Gregor verwende dieses Prinzip bei fast jedem Thema, ist daher nicht weit hergeholt. Cf. Def. II d. 1 q. 2 a. 3, ad arg. c. 1, ad arg. Gregorii, secundo loco, 1∞ (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], III, 55b): „… Unde, quia ille modus arguendi est tam conveniens isti arguenti, quod fere in omni materia armat se de ipso, ipsum ad multa deducit inconvenientia manifesta et inopinabilia quoad antiquos philosophos et theologos ... Item, per istud medium negat relationem esse aliud ab absolutis; et multa alia concludit absurda, sicut pater suus Occam, Adam, et caeteri terministae.“
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Durch solche und andere absurden Grundsätze komme Gregor zu undenkbaren Schlussfolgerungen, verglichen mit den althergebrachten Ansichten der Philosophen und Theologen. Nicht nur unerhört seien diese, sondern auch gefährlich 34. 3. Der Rekurs auf die göttliche Allmacht als Ursache für Fehler in der philosophischen Argumentation Ein Höhepunkt der Kritik des jungen Dominikaners an den terministae findet sich im zweiten Buch der „Defensiones“. Gegenüber dem ansonsten eher verhaltenen Ton des Werkes gestaltet sich die betreffende Passage, die im Kontext der Diskussion über das rechte Verständnis der Zeit steht 35, geradezu wie eine Eruption der Empörung gegen den philosophischen Irrweg der moderni oder terministae. Wie bei Johannes de Nova Domo werden die moderni auf Ockham als Schulhaupt zurückgeführt, ja es wird sogar von einem Testament Ockhams gesprochen: Gregor habe seine zu Irrtümern verleitende Argumentationsweise „ex testamento patris terministarum, scilicet Occam“ übernommen. Außer den zentralen Kritikpunkten in der Lehre von den Universalien, Prädikamenten und Relationen finden sich hier auch Bereiche der Physik angesprochen: das Verhältnis von successiva und permanentia, die in der Diskussion um das Verhältnis von Zeit und Bewegung zur Sprache kommen, und die Existenz von unteilbaren Punkten - eine Frage, die in der Diskussion über die örtliche Präsenz von Engeln eine entscheidende Rolle spielt. Zusammenfassend bringt Johannes Capreolus zum Ausdruck, die terministae wollten möglichst viel derartig Seiendes eliminieren: „... talium pluralitas entium annihilari“. Mit dieser Formulierung legt Capreolus den Grundstock für die über das Mittelalter hinaus gebräuchliche und zu unrecht Ockham selbst zugeschriebene Variante des Sparsamkeitsprinzips: „Entia non sunt multiplicanda sine necessitate.“ 36 Welche Argumentationsweise nach Capreolus aber die verpönenswerte Reduktion des Seienden in so vielen Bereichen der Philosophie hervorruft, ist, so vermerkt er an dieser Stelle, der Rekurs auf die Allmacht Gottes. Vor allem in philosophischen Fragen, zumal den zur Physik gehörigen, scheint ihm die Beru34
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Cf. Def. I d. 29 q. 1 a. 2, ad arg. c. 1, ad arg. Gregorii, 4∞ (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], II, 279a): „Tamen ille modus loquendi, improprius est et periculosus ...“ Def. II S d. 2 q. 2 a. 3, ad arg. c. 4, ad arg. Gregorii, 9∞ (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], III, 190ab). Hier finden sich alle im Folgenden angeführten Zitate. Die Formulierung des Sparsamkeitsprinzips bei Ockham in seinen zwei Formen bezieht sich nicht auf entia: Ockham spricht nur von pluralitas: „pluralitas non est ponenda sine necessitate“ oder formuliert einfach nur „frustra fit per plura quod potest fieri per pauciora“. Dazu und zur Bedeutung des Prinzips bei Ockham cf. A. Maurer, Ockham’s razor and dialectical reason, in: Mediaeval Studies 58 (1996), 49-65 und speziell 49 nt. 1 und 2 mit Verweisen auf die zahlreiche Literatur zum Thema. Der Entwicklungsweg des Sparsamkeitsprinzips scheint von Ockhams pluralitas über Gregors pluralitas rerum zu Capreolus’ entia geführt zu haben. Zu Gregor cf. supra nt. 33.
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fung auf das theologische Prinzip verwerflich und ein Zeichen mangelnder philosophischer Kompetenz: „Dicitur quod illa probatio valde misera est, quae habet continue et semper recursum ad divinam potentiam, ex defectu rationum philosophicarum, potissime in materia phisica 37, in qua nullum est miraculum.“ Die Verwendung eines theologischen Argumentes in philosophischen Kontexten bzw. in naturphilosophischen Grundfragen der Theologie müsse zu Irrtümern führen. Capreolus ergänzt also die bereits erwähnte Kritik an der von den terministae angewandten philosophischen Methode in Form des Ockhamschen Sparsamkeitsprinzips oder des Grundsatzes, dass Dinge nicht ausgesagt werden können, durch die Kritik an der Verwendung eines theologischen Prinzips: der göttlichen Allmacht. Alle drei Prinzipien scheinen dieselbe Struktur zu haben und ihre Anwendung dasselbe Ziel zu verfolgen, nämlich die Struktur des Seienden auf unzulässige Weise zu verringern und dadurch einschneidende Veränderungen in der Philosophie vorzunehmen. Doch in der Widerlegung dieses theologischen Argumentes zeigt sich, wie stark sich Capreolus in seiner Argumentation hier von einer für ihn ungewöhnlichen Polemik treiben lässt. Nicht mit Argumenten, sondern mit einem zweifachen Verweis auf Autoritäten in Sachen des Glaubens wird der Irrtum der terministae aufgewiesen. Die erste Autorität stellen die Pariser Theologen dar: Diese hätten das Argument der göttlichen Allmacht niemals mit dem Ziel verwendet, das Seiende zu minimieren und die philosophischen Denkkategorien zu zerstören. Die zweite Autorität, die Capreolus anführt, ist die der Kirche: Ockhams Lehre sei mehrfach getadelt worden, und daher könne man seiner Attributenlehre, d. h. seinem Verständnis der göttlichen Allmacht, nicht trauen 38. IV. Erg ebnisse, Rückfrag en und Weiterführ ung Die bisher erfolgten Beobachtungen zeigen im Hinblick auf die göttliche Allmacht einen zweifachen Befund: Zum einen kann erstmals beobachtet werden, dass eine schulspezifische Kritik an den moderni mit dem Gedanken der göttli37
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Der Kontext der Diskussion über Zeit und Bewegung legt nahe, an dieser Stelle phisica statt des in der Ausgabe von Paban/Pe`gues wiedergegebenen philosophica zu lesen. Obwohl die Aussage, es gebe in der Philosophie keine Wunder, vertretbar ist, scheint die Polemik hier gerade auf den Umstand abzuheben, dass Gregor selbst in so eindeutig (natur)philosophischen Themen auf ein theologisches Prinzip Rekurs nimmt. „Valde namque mirandum est quod sancti Doctores et alii solennes Parisienses non fundassent se super illo principio … si ex illo fundamento posset efficaciter talium pluralitas entium annihilari; potissime cum fides eorum circa Dei omnipotentiam et alia Trinitatis et divinae unitatis attributa, et circa articulos fidei, indubitabilior fuerit quam fides Occam, cujus dogmata per Ecclesiam multipliciter sunt reprehensas.“ Der Verweis auf die mehrfache Verurteilung Ockhams durch die Kirche erstaunt aus mehreren Gründen. Zum einen hatte der Prozess gegen Ockham von päpstlicher Seite nie zu einer Verurteilung geführt. Zum anderen kann man aufgrund des von Ze´non Kaluza herausgearbeiteten Unterschiedes zwischen dem vorläufigen Pariser Lehrverbot für Ockhams Schriften bis zu ihrer offiziellen Überprüfung von 1339 und der Zurechtweisung einiger Ockhamanhänger von 1340 auch nur von einer „Ver-
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chen Allmacht verknüpft wird. Dies stellt einen ersten Schritt zur Lösung des Forschungsproblems dar, wie es sein kann, dass die göttliche Allmacht zwar im 14. Jh. kein typisches Merkmal der nominales ist, aber spätestens im 16. Jh. als solches gilt. Das Ergebnis ist eindeutig: Mit Capreolus beginnt die einseitige Zuordnung des argumentativen Gebrauchs der göttlichen Allmacht zur philosophischen Richtung der terministae bzw. moderni. Zum anderen ist zugleich aber offensichtlich, dass der Allmachtsgedanke, wie Capreolus ihn den moderni zuschreibt, sehr dünn gefasst ist, vergleicht man ihn mit der späteren Deutung im Sinne eines voluntaristischen Allmachtsverständnisses. Bei Capreolus erfolgt die Kritik am Gebrauch der Allmacht vor allem im Hinblick auf rein philosophische Themen und mit dem Ziel, die aristotelische Universalien- und Prädikamentenlehre zu verteidigen. Doch so einfach und klar das Panorama auch vor Augen steht, es eröffnen sich dennoch einige Fragen: Was ist denn nun der zentrale Unterschied im Allmachtsverständnis zwischen Johannes Capreolus und dem kritisierten Gregor von Rimini? Welche Bedeutung hat der Verweis des Capreolus, dass die moderni Rekurs auf die göttliche Allmacht im Bereich der Philosophie nehmen, und warum beruft sich Capreolus dabei auf die magistri der Pariser Universität? Und schließlich: Was kann diese Stelle bei Capreolus zu unserem Verständnis der Schulpolemik des 15. und 16. Jahrhunderts beitragen? 1. Keine Unterschiede in re zwischen Capreolus und den moderni im Verständnis der göttlichen Allmacht Angesichts der Polemik des Capreolus gegenüber dem falschen Gebrauch der göttlichen Allmacht durch die moderni und seiner Anfrage an die Rechtgläubigkeit Ockhams vor allem in den Aussagen zur Attributenlehre stellt sich die Frage, was denn der zentrale Unterschied zwischen dem Allmachtsverständnis bei Capreolus und bei dem exemplarisch für die moderni kritisierten Gregor sei. Eine Untersuchung der vier Quaestiones des Capreolus, in denen er ausdrücklich die Allmacht Gottes zum inhaltlichen Thema macht, führt jedoch zu einem überraschenden Ergebnis. Weder im Hinblick auf das Verständnis der göttlichen Personen (Def. III d. 15 q. 1) noch in der Quaestio über die Allmacht Christi (Def. III d. 2 q. 1) werden die moderni erwähnt. Besonders auffällig ist die Leerstelle dort, wo es explizit um das Verständnis der Relationen geht (Def. I d. 20 q. 1), denn die Lehre der moderni von den Relationen war ja an der oben genannten Stelle als typischer Irrtum verurteilt worden. Stattdessen setzt sich Capreolus mit Petrus Aureoli, Bonaventura, Durandus und Duns Scotus auseinander. urteilung“ Ockhams in Paris ausgehen. Für einen Überblick zum Prozess gegen Ockham in Avignon cf. J. Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969, 71-73. Zu den Pariser „Verurteilungen“ cf. Z. Kaluza, Les sciences (nt. 13), 197-258. Vermutlich denkt Capreolus bei seiner Bemerkung an andere kirchliche Dokumente wie etwa die Exkommunikationsbulle gegen Ockham.
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Die Tendenz bestätigt sich an der einzigen Stelle, an der Capreolus sich inhaltlich mit dem Allmachtsverständnis Gregors von Rimini auseinander setzt, nämlich in der Frage, ob Gott bewirken könne, dass die Vergangenheit nicht war (Def. I d. 42 q. 1). Dabei wird Gregor, der selbst Argumente für und wider anführt und sich eines letzten Urteils in dieser Frage enthält 39, von Capreolus selektiv zitiert als Vertreter der Seite, welche der These des Capreolus, „quod Deus non potest facere praeteritum non fuisse“, entgegensteht 40. Dennoch gibt es keine Polemik, im Urteil späterer Autoren deshalb, weil es sich eher um Unterschiede in den Begriffen als in der Sache handelt: „Sed contradicunt in modo loquendi, non in re.“ 41 Gregor beruft sich für diesen Teil seiner Argumente auch selbst auf althergebrachte Autoren wie Gilbert von Poitier, nicht auf seine Zeitgenossen, die, wie er sagt, solche Ansichten in der Regel nicht vertreten 42. Gregor und die moderni, so scheint es aufgrund mangelnder Kritik von Seiten des Capreolus, vertraten keine Lehre von der göttlichen Allmacht, die der des Thomas von Aquin diametral gegenüberstände und daher von ihm in erster Linie bekämpft werden müsste. Was bedeutet das aber für die Kritik des Capreolus am Gebrauch der göttlichen Allmacht durch die moderni? Man könnte vermuten, dass sich die Kritik des Capreolus nicht gegen das theologische Verständnis der Allmacht Gottes, sondern nur gegen seine Anwendung auf den Bereich der Philosophie richtet. Offensichtlich geht es ja im Kern um die rechte Mischung von Philosophie und Theologie in solchen naturphilosophischen Themen, welche die Grundlage für die theologische Argumentation darstellen, oder umgekehrt um die Frage, wie viel theologische Axiome zur Klärung philosophischer Fragen beitragen können. Capreolus vertritt in seinem zitierten Statement die 39
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Gregor, Lectura I d. 42-44 q. 1 (A. D. Trapp OSA/V. Marcolino [eds.], Gregor von Rimini, Lectura super primum et secundum sententiarum III [Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen 8], Berlin ¿ New York 1984, 384): „Ecce, posui utriusque partis probationes et defensiones, quarum quae cui praeferenda sit, doctioris iudicio derelinquo.“ Def. I d. 42 q. 1 a. 2 c. 7, arg. Gregorii (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], II, 515b-517a) ist die beinahe lückenlose Übernahme einer zusammenhängenden Passage aus Gregor von Rimini, Lectura I d. 42-44 q. 1 a. 2 (ed. Trapp/Marcolino [nt. 39], 370-373). Dies lässt darauf schließen, dass Capreolus den Autographen Gregors oder eine Abschrift daraus vorliegen hatte, da der zitierte Abschnitt (additio 155) nur in dem Druck l überliefert ist, welcher auf diesen zurückgeht. Die erste Möglichkeit würde aber die bislang rekonstruierte Überlieferungsgeschichte des Autographen in Frage stellen. Cf. Gregor von Rimini, Lectura I (nt. 18), LIII. So lautet das Urteil im 16. Jahrhundert von F. Sua´rez, Tract. I, Liber III. De attributis Dei positivis, cap. IX. De omnipotentia dei, in: D. M. Andre´ (ed.), F. Sua´rez, Opera Omnia I, Paris 1856, 230∞; ebenso G. Va´zquez, disputatio CV. Caput I, in: G. Va´zquez, Commentariorum ac disputationum in primam secundae sancti Thomae tomus I, Lugduni 1620, pars I, fol. 514: „… nec ab opinione S. Thomae reipsa differt ...“. Gregor von Rimini, Lectura I d. 42-44 q. 1 a. 2 (ed. Trapp/Marcolino [nt. 39], 363): „Hanc conclusionem, quamvis ipsa communiter non teneatur a modernis, venerabiles tamen doctores antiqui tenuerunt, sicut magister Gilbertus Porretanus ...“ Eine Ausnahme von der Regel bildeten einige doctores universitatis Anglicanae, die im Sinne Gilberts von Poitier argumentieren. Cf. Gregor von Rimini, Lectura I d. 42-44 q. 1 a. 2 (ibid., 370). Die Begriffe antiqui und moderni werden hier wie im 14. Jahrhundert üblich im Sinne von „bereits verstorben“ bzw. „Zeitgenossen“ verwendet.
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Position, dass der Rekurs auf die göttliche Allmacht nur auf negative Weise dazu dienen kann, die philosophischen Grundlagen für die rechte Erkenntnis der Welt zu zerstören. Johannes Capreolus lag mit seiner Kampfansage an die philosophische Inkompetenz der moderni im Trend der Zeit: In der philosophischen Fakultät diskreditierte Johannes de Nova Domo die moderni und lenkte das Augenmerk ganz auf die Debatte der Realisten über das rechte Verständnis der Universalien. Überhaupt war die Periode der durch Buridan an der Universität Paris beliebt gewordenen Art des Philosophierens vorbei. Ihre bekannten Vertreter hatten zur Zeit der Lehrjahre des Capreolus Paris schon verlassen und den Nominalismus an andere, neu gegründete Universitäten mitgenommen. Sie überließen das Pariser Feld der jetzt wieder erstarkenden realistischen Strömung. Dennoch legt sich der Verdacht nahe, dass eine derartige Argumentation zu kurz greift. Denn die heftige Reaktion des Capreolus zeigt deutlich: Bei seiner Polemik gegen die Verwendung der göttlichen Allmacht bei Ockham und dessen Nachfolgern geht es ihm nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung; sonst hätte er nicht einerseits darauf abheben dürfen, dass Ockhams Attributenlehre mit Vorsicht zu betrachten sei, und es andererseits versäumen, die konkreten Fehler im Rahmen der inhaltlichen Auseinandersetzung zu widerlegen. Vielmehr ist es Kennzeichen seiner Polemik, dass er nicht die sachliche Auseinandersetzung sucht, sondern auf extrinsische Argumente zurückgreift, um die eigene Position als die richtige darzustellen. Der Streit dreht sich nicht um das rechte Verständnis der Allmacht Gottes. Der Verweis auf die Allmacht dient vielmehr dem Ziel, mit dem Hinweis auf die von offizieller Seite als dogmatisch suspekt bezeichnete Lehre Wilhelms von Ockham diesen und seine „Nachfolger“ zu diskreditieren. Den Anlass zur Polemik bot der Gebrauch des Argumentes der göttlichen Allmacht bei Gregor von Rimini in einem naturphilosophischen Kontext. Der Hinweis auf Ockham genügt, um die gesamte Methode Gregors und der ihm zugeordneten moderni in ein schiefes Licht zu rücken; was Allmacht theologisch wirklich bedeutet, spielt in diesem Zusammenhang gar keine Rolle. 2. Des Pudels Kern: Der Streit um das Verhältnis von Theologie und Philosophie in Paris Wenn aber das Verständnis der göttlichen Allmacht nicht zur Debatte stand, welche Bedeutung hat dann der Verweis des Capreolus darauf, dass die moderni Rekurs auf die göttliche Allmacht im Bereich der Philosophie nähmen? Die Polemik des Capreolus weist über die inhaltliche philosophische Auseinandersetzung zwischen den Realisten und den moderni hinaus. Es scheint, als stelle sich auf dem Hintergrund der Umbrüche in Paris von neuem die Frage, welchen Status die Theologie habe und wie ihr Verhältnis zur Philosophie zu sehen sei. Nach der Verurteilung des heterodoxen Aristotelismus von 1277, der eine Trennung von Philosophie und Theologie um der Philosophie wegen angestrebt
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hatte, gab es Ende des 14. Jahrhunderts von Seiten der Theologie nun zwei Modelle: ein konvergierendes mit einer stärkeren Philosophie in der Theologie, das in Albert dem Großen und Thomas von Aquin seinen Ausdruck fand, und ein eher divergierendes, das um der Eigenständigkeit der Theologie willen stärker die Grenzen der Philosophie hervorhob. An der Frage, welches Modell das richtige sei, entzündete sich an der Wende zum 15. Jahrhundert schließlich der hier spürbar werdende Streit, der die Bildung von Schulen begünstigte. Manifest war die Problematik in einer Auseinandersetzung zwischen der Universität Paris und dem Orden der Dominikaner geworden, die dem Studium des Capreolus unmittelbar vorausgegangen war, verursacht durch einige Aussagen des Dominikaners Johannes de Montesono im Jahre 1386. Dieser war der Ansicht, dass sich die Anschuldigungen der theologischen Fakultät nicht eigentlich gegen ihn selbst richteten, sondern gegen Thomas von Aquin, auf den er sich berufen hatte 43. Dadurch wurde eine Grundsatzdiskussion entfacht, in deren Zentrum das Verhältnis von Philosophie und Theologie stand. In diesem Kontext kritisierten die Universitätslehrer Thomas von Aquin dafür, dass er zuviel Philosophie in die Theologie mische, was leicht zu Irrtümern führen könne 44. Wenn also keine zwanzig Jahre später der Dominikaner Johannes Capreolus den moderni vorwirft, sie verwendeten die göttliche Allmacht als Argument in philosophicis, kehrt er einfach den Spieß um und beschuldigt seinerseits die Gegner, sie trügen zuviel Theologie in die Philosophie hinein. Man kann davon ausgehen, dass Capreolus diese Diskussion präsent war, denn erst drei Jahre bevor er mit den Sentenzenvorlesungen begann, waren die Dominikaner, die 1389 aufgrund der genannten Zwistigkeiten von der Universität ausgeschlossen worden waren, wieder zur Lehre nach Paris zugelassen 45. Doch statt sich anzunähern, was die Universitätsdokumente insinuieren 46, hatten die Fronten sich verfestigt. Johannes Capreolus schlug sich auf die Seite des Thomas von Aquin,
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In seiner eigenen, polemischen Darstellung der Vorkommnisse formuliert dies Gerson folgendermaßen: „... non vult enim profundae hujus doctrinae auctor putari. Habet, ut ait, sanctum Thomam“. Cf. J. Gerson, Contre Jean de Monzon, in: Mgr. P. Glorieux (ed.), J. Gerson, Oeuvres comple`tes X, Paris 1973, 7-24. C. Du Plessis D’Argentre´, Collectio judiciorum de novis erroribus, vol. I, pars 2, Paris 1728 (repr. Brüssel 1963), 117: „Et maxime apparet propositum, quia ejus doctrina in multis innititur auctoritatibus et rationibus Philosophorum, et principue Peripateticorum. Namque in omnibus etiam arduissimis fidei articulis, et humanam rationem transcendentibus ipse utitur dictis Aristotelis et immiscet ejus Philosophiam doctrinae fidei, sicut patet cuilibet intuenti. Hoc autem praebet occasionem errandi, cum ipsemet dicat, quod auctoritates philosophorum sunt argumenta quasi extranea Doctrinae sacrae.“ Dazu und zum weiteren Kontext der Pariser Zeit des Capreolus cf. R. Imbach, Le contexte intellectuel de l’oeuvre de Capreolus, in: G. Bedouelle/R. Cessario/K. White (eds.), Jean Capreolus en son temps (1380-1444) (Me´moire dominicaine; nume´ro special 1), Paris 1997, 17-18. Das Dokument über die Wiederaufnahme der Dominikaner in das Alltagsleben der Universität aus dem Jahre 1403 ist geprägt von der Unterordnung des Ordens unter die erfolgten Verurteilungen gegen Johannes de Montesono. Cf. Duplessis D’Argentre´, Collectio I, pars 2 (nt. 44), 148-151.
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indem er sämtliche Quaestionen des Sentenzenkommentars in seinem Sinne auslegte. Bei seiner Verteidigung des Thomas konnte Capreolus sich nicht gegen die Universität als solche richten. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass seine implizite Stoßrichtung den Universitätskanzlern galt: Pierre d’Ailly als dem Verfasser des universitären Positionspapiers gegen Johannes de Montesono mit der Kritik an Thomas von Aquin, und dessen Nachfolger Johannes Gerson, welcher die Verurteilung Montesonos ausdrücklich und sehr polemisch unterstützte 47. Gerson konnte zwar aufgrund seines eklektizistischen Vorgehens nicht einfach den moderni zugerechnet werden, doch vertrat er universitätspolitisch genau die Gegenposition zur integrativen Haltung des Thomas. Gerson befürwortete eine stärkere Trennung von Philosophie und Theologie, da seiner Ansicht nach die Theologie nur in der Abgrenzung von der Philosophie in ihrem eigenen Recht erkannt werden könne 48. Er steht damit in der auch von Buridan gestützten Linie des Universitätsstatuts von 1340, in dem der Bibel und damit der Theologie eine eigene Sprache zugestanden wird, die nicht nach den Regeln philosophischer Logik verstanden werden darf 49, treibt sie jedoch in der Stärkung des Glaubensmomentes auf die Spitze. Capreolus will solchen Auswüchsen mit einem gezielten Rückgriff auf einen Autor vor der logischen Engführung der Philosophie, die ein solches Statut nötig machte, begegnen. Er vertritt die Vernunftbasis der Gottes- und Welterkenntnis in seiner Verteidigung der bewährten Mischung bzw. Zuordnung von Philosophie und Theologie bei Thomas von Aquin. Was in der Polemik den moderni zugeschrieben wird, zielt letztlich auf den aktuellen Zeithintergrund und ist keine historisch genaue Aussage. Capreolus sieht jedoch durchaus eine Affinität zwischen der Vorrangstellung der Theologie bei Gerson und den philosophischen Grundlagen der moderni, welche die Grenzen philosophischer Welterkenntnis hervorhoben. Im Sinne des Johannes de Nova Domo, der die moderni als einen Wildwuchs am Baum der Philosophie sieht, der mit Ockham begann und den man zurückschneiden müsse, kann Capreolus die neue Sicht auf die Theologie als Fehler der Nachfolger Ockhams brandmarken 50. 47 48
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Cf. supra nt. 43. Auch das persönliche Verhältnis zwischen Johannes Carpreolus und Johannes Gerson war nicht ohne Konflikte. Die näheren Umstände sind jedoch nicht deutlich. Cf. dazu den Hinweis von S.-Th. Bonino O.P. in: id., Albert le Grand (nt. 17), 372 nt. 17. Kaluza, Les sciences (nt.13), 252-255. Dass Capreolus damit den Nerv der Zeit und auch Gersons trifft, zeigt sich daran, dass Gerson seinerseits zur veränderten Einstellung der Studenten Stellung nimmt und dabei eine der markanten Formulierungen des Capreolus zum Kampfruf der Studenten gegen die moderni umformuliert: „Nos, inquiunt, rem inquirimus, ad rem imus; quid nos de terminis?“ Cf. J. Gerson, Collectorium super Magnificat, in: Mgr. P. Glorieux (ed.), J. Gerson, Oeuvres comple`tes VIII, Paris 1971, 182 (datiert zwischen Januar 1427 und dem 4. April 1428). Zur Formulierung bei Capreolus aus dem ersten Buch der Defensiones (die Redaktion war am 7.11.1426 abgeschlossen) „quod rebus non convenit dici, sed solum vocibus“ cf. nt. 31.
Sprache, Wirklichkeit und Allmacht Gottes
171
Wenn er dies aber auch noch mit dem Hinweis tut, sämtliche Pariser Doktoren verträten eine andere Sicht im Verständnis der göttlichen Attribute als Ockham, weil sie nicht dieselben Konsequenzen zögen wie dieser, kann man dies nur als einen geschickten Schachzug bewerten, um die Instanz, welche Johannes de Montesono verurteilt und die Autorität des Thomas relativiert hatte, nun als Vertreter der eigenen thomistischen Position darzustellen. 3. Capreolus und das voluntaristische Allmachtsverständnis Wenn man abschließend nun festhalten kann, dass die Kritik des Capreolus an den moderni, sie verwendeten die göttliche Allmacht als Argument in philosophischen Fragen, einer polemischen Situation entspringt und dass die Allmacht Gottes in diesem Kontext inhaltlich auf die philosophischen Grundsätze der moderni und ihre unmittelbaren theologischen Anwendungsgebiete wie die Lehre von den Relationen bezogen bleibt, so hat man in der Forschungsfrage nach dem Zustandekommen des „Charakteristikums Allmacht“ der via moderna Land betreten. Freilich sind die genauen Dimensionen des Landstücks und die Pfade darauf, gerade in Hinsicht auf den Einfluss des Capreolus, noch auszuloten. Aber ungeachtet dessen, dass heute nur noch zwei Handschriften der „Defensiones“ erhalten sind, weiß man doch, dass diese im 15. Jahrhundert zugänglich waren und schon vor der Entstehung der Drucke auch außerhalb Frankreichs rezipiert wurden 51. Jedoch ist anzunehmen, dass es wieder einer speziellen historischen Situation bedurfte, um den schulspezifischen Begriff der göttlichen Allmacht zu erweitern und den moderni in seiner als typisch geltenden Form zuzuschreiben, nämlich in seiner Identifizierung mit einem voluntaristischen Willkürgott und einem entsprechenden irrationalen Gottes- bzw. Glaubensverständnis 52. Dass diese Zuschreibung nicht schon bei Capreolus erfolgte, ist um so bemerkenswerter, als sich der Sache nach bei ihm das Problem bereits stellte, und dies 51
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Ein signifikantes Beispiel gibt es für das Jahr 1487 von der Universität Köln. Capreolus wird dort als Vorlage für die Lösung einer quaestio vacantialis und zur Erklärung der Schriften des Thomas verwendet. Cf. G. Löhr, Die theologischen Disputationen und Promotionen an der Universität Köln im ausgehenden 15. Jahrhundert nach den Angaben des P. Servatius Fanckel O.P. (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 21), Leipzig 1926, 20 und 82. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Dokument der Universität Ingolstadt ein Jahrhundert nach Capreolus (das Dokument ist durch eine Randnotiz auf das Jahr 1508 datiert). Darin erstellt ein Magister der Universität Ingolstadt eine Liste mit den Unterschieden in der Lehre zwischen den moderni und den antiqui. Obwohl diese ausführlich ist, denn es geht darum, die Notwendigkeit weiterer Lehrstühle für die antiqui zu erweisen, wird darin die Allmacht Gottes nicht erwähnt. Vielmehr werden wie bei Capreolus die Bereiche der Theologie angeführt, die von den philosophischen Grundlagen der moderni unmittelbar betroffen sind. Cf. F. Ehrle, Der Sentenzenkommentar Peters von Candia, des Pisaner Papstes Alexanders V. Ein Beitrag zur Scheidung der Schulen in der Scholastik des 14. Jahrhunderts und zur Geschichte des Wegestreits (Franziskanische Studien, Beiheft 9), Münster (Westf.) 1925, 338-342.
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Sigrid Müller
im Kontext der Allmachtsdiskussion. Nur sind es nicht die moderni und ihr „Vater“ Ockham, denen diese Position zugeschrieben wird, sondern Petrus Aureoli O.F.M. Dieser wird von Capreolus aufs schärfste dafür kritisiert, dass er zum Verständnis der göttlichen Allmacht Dinge hinzufüge, die das Gespött der Ungläubigen hervorrufen und die christliche Lehre als widervernünftig erscheinen lassen können: „quinimmo forte omnipotentiae attribuit aliqua, quae possent risum infidelibus concitare, et doctrinam fidei irrationabilem reddere apud illos“ 53. Trotz der Affinitäten 54 zwischen Aureoli und Ockham, der freilich nur eine geringe Kenntnis von Aureoli hatte 55, kommt es bei Capreolus weder zu einer Identifizierung beider Allmachtsverständnisse, noch zu einer polemischen Zuschreibung des Aureolischen Allmachtsverständnisses an die moderni. Der Ort der Ausweitung des Allmachtsverständnisses als „Charakteristikum“ der via moderna ist also nach Capreolus zu suchen, wohl in einem Kontext, in dem das Anderssein Gottes und der Unterschied zwischen göttlichem und menschlichem Denken ins Extrem gesteigert hervorgehoben wurden, etwa in einer Weiterentwicklung des Gersonschen Theologieverständnisses. Möglicherweise ist bei der weiteren Landbegehung der locus historicus des „voluntaristischen Allmachtsverständnisses“ der moderni in diesem Zusammenhang zu finden, wenn nicht gar erst im Kontext der Reformation oder des tridentinischen Konzils 56.
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56
Def. I d. 42 q. 1 a. 2 ad arg. c. 5-6, ad arg. Aureoli (ed. Paban/Pe`gues [nt. 17], II, 518b). So hebt beispielsweise Grabmann, Johannes Capreolus (nt. 19), 87 hervor, Aureoli habe den Nominalismus Ockhams und seiner Schule vorbereitet. Cf. die Hinweise dazu in G. I. Etzkorn/F. E. Kelley (eds.), Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum. Ordinatio (Opera Theologica IV), St. Bonaventure (N.Y.) 1979, 16*. Freilich scheint der Schwerpunkt der Kritik an den nominales im Kontext der spanischen Spätscholastik auf der Ideenlehre und Gnadenlehre und nicht auf der göttlichen Allmacht zu liegen. Cf. S. Müller, Nominalismus in der spätmittelalterlichen Theologie, in: M. J. F. M. Hoenen/P. J. J. M. Bakker (eds.), Philosophie und Theologie des ausgehenden Mittelalters. Marsilius von Inghen und das Denken seiner Zeit, Leiden - Boston - Köln 2000, 62-63.
Grübelnde Mönche Wissenschaft in spätmittelalterlichen Kartausen Marc-Aeilko Aris (Bonn) I. Im Oktober und November des Jahres 1460 kopiert der Kartäuser Vinzenz von Aggsbach aus einer Tegernseer Handschrift das „Pentachronon“ des Gebeno von Eberbach, eine Sammlung aus den „Dicta Sanctae Hildegardis“. Eine Handschrift, die er als Vorlage benutzt haben könnte, ist als Clm 18210 erhalten und in dem von Ambrosius Schwerzenbeck 1483 angelegten Katalog der Klosterbibliothek unter der Signatur „c 16“ nachweisbar 1. Sie überliefert außer den Stücken aus Hildegard von Bingen drei Kommentare zu den Werken des Dionysius Areopagita (Thomas Gallus von Vercelli, Robert Grosseteste und Hugo von St. Victor), zwei Predigten des Augustinus, eine Gregors des Großen sowie scheinbar unvermittelt ein kurzes „exemplum de ortu ordinis carthusiensis “, wie ein Benutzer der Handschrift am Rand vermerkt 2. Bei diesem Text handelt es sich um die im Spätmittelalter weit verbreitete Wundererzählung der damnatio Parisiensis, das heißt der Verdammung eines Pariser Universitätsprofessors nach seinem Tode, deren Zeuge Bruno gewesen und durch die er eben zur Ordensgründung veranlaßt worden sei. In der Zusammenstellung der vorliegenden Handschrift freilich bezeichnet der Text mehr als nur eine hagiographische Episode. Er schließt eine Reihe von Texten ab, die unmittelbar auf die „Dicta Sanctae Hildegardis“ folgen und alle ein Thema umspielen: Ein Auszug aus Augustinus’ Traktaten zum Johannesevangelium diskutiert die Möglichkeiten, einen angemessenen Namen für Gott zu finden, insofern er als Erkenntnisziel der Theologie verstanden wird 3; eine der Evangelienpredigten Gregors des Großen unterscheidet zwischen der Befähigung zur äußeren Verwaltung der Kirche und der gna1
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Zu dieser Handschrift und zu Vinzenz von Aggsbach cf. M.-A. Aris, Hildegard bei den Kartäusern. Beobachtungen zur handschriftlichen Überlieferung der Werke Hildegards im Spätmittelalter (Mitteilungen und Verzeichnisse aus der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars zu Trier 13), Trier 1999, 12-17. Cf. München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 18210, fol. 227v. München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 18210, fol. 223r-224r; Aurelius Augustinus, In Iohannis Euangelium Tractatus, tr. 1, § 8 lin. 1 - § 13 lin. 33, ed. R. Willems (CChr. SL 36), Turnhout 1954, 5-8.
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Marc-Aeilko Aris
denvermittelten mystischen Einsicht 4; eine Predigt gegen die Häretiker des Quodvultdeus listet verschiedene Formen der Häresie auf und schärft damit die Gabe zur Unterscheidung der Geister 5; eine weitere Predigt des Augustinus betrifft das Verhältnis von Erkenntnisziel und Handlungsziel im menschlichen Leben 6, und das „Exemplum“ schließlich schildert unabhängig von den gängigen Viten Brunos die Umstände der Ordensgründung. Danach konnte ein anerkannter Gelehrter der Universität Paris nicht beerdigt werden, weil sich jedesmal, wenn die Prozession an ihr Ziel kam, der Leichnam erhob und mit dröhnender Stimme den Stand seines Verfahrens vor Gottes Gericht preisgab: „Justo iudicio Dei accusatus sum“, „Justo dei iudicio iudicatus sum“, „Justo dei iudicio condempnatus sum.“ 7 Unter diesem Eindruck wandte sich Bruno, selbst ein gefeierter Gelehrter, von der Wissenschaft ab und verfügte sich mit seinen Gefährten in die Einsamkeit der Grande Chartreuse. Daß die Handschrift in dieser Zusammensetzung das Interesse des Vinzenz von Aggsbach auf sich zog, erhellt aus den zahlreichen Briefen, die er vor allem mit Johannes Schlitpacher von Weilheim gewechselt hat. In ihnen zeigt er sich als harscher Kritiker einer auf Äußerlichkeiten fixierten Prälatenkirche, der die Kompetenz zu religiöser Erfahrung und Einsicht abhanden gekommen sei, so daß die zutreffende Gotteserkenntnis nunmehr denen anvertraut sei, die weder eine universitäre Ausbildung genossen hätten noch durch besondere Ehren in der Kirche herausgehoben seien 8. In der skizzierten Zusammensetzung der Handschrift kann die Gründungslegende der Kartause darüber hinaus als Schlüsseltext nicht nur für Vinzenz von Aggsbach und die Kartäuser selbst, sondern für das Selbstverständnis der Gemeinschaft verstanden werden, die sich durch die Rezeption der in dieser Handschrift überlieferten Texte auszeichnet. Außer den Leihgebern der Handschrift, den Benediktinern von Tegernsee, und den Leihnehmern, den Kartäusern von Aggsbach, besteht diese Gemeinschaft vor allem aus den Mönchen der Benediktinerabteien und Kartausen des Spätmittelalters. Sie versuchen im Umgang mit den Texten, die sie lesen, in einer eigenständigen Lektüre- und Rezeptionspraxis Erkenntnisformen zu entwickeln, die als Alternative zu den in den Universitäten gepflegten Erkenntnisformen verstanden werden. Nicht zuletzt, weil viele Kartäuser vor ihrem Klostereintritt Universitätsangehörige waren und als Kartäuser 4
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München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 18210, fol. 224r-225v; Gregorius Magnus, Homiliae in Evangelia, lib. 1, hom. 9 cap. 1-7, ed. M. Fiedrowicz (Fontes Christiani 28/1), Freiburg etc. 1997, 150-163. München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 18210, fol. 225v-226r; Quodvultdeus, Adversus quinque haereses, cap. 4 lin. 142 - cap. 5 lin. 69, ed. R. Braun (CChr. SL 60), Turnhout 1976, 275-279. München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 18210, fol. 226r-227v; Augustinus, Sermo 108, PL 38, 632-636. München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 18210, fol. 227v lin. 14 sq., 18, 23 sq. Cf. Vincentij Prioris Cartusiae Axpacensis in Austria Epistolae, in: Codex Diplomatico-Historico-Epistolaris, bearb. von Bernhard Pez/Philibert Hueber, vol. V/3, Augsburg 1729, 327357, hier 333.
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für ihre Erkenntnisse den gleichen Geltungsanspruch erheben, den sie auch als Universitätsgelehrte für sich beanspruchten, weil sie darüber hinaus diese Erkenntnisse durch eine erlernbare Lektüremethode herzustellen trachten, handelt es sich da wie dort wenigstens intentional um wissenschaftliche Wahrheitserkenntnis, auch wenn die Texte einen antiwissenschaftlichen Affekt nahezulegen scheinen 9. II. Der Wissenschaftsbetrieb in den Kartausen des Spätmittelalters, die ihm vorausliegenden Orientierungsbedürfnisse und das ihm zugrundeliegende Wissenschaftsverständnis lassen sich aus drei Quellen rekonstruieren: zuerst aus der Literaturproduktion in den Kartausen, dann aus den Lektüre- und Exzerpierungsgewohnheiten, die sich an den erhaltenen Gebrauchshandschriften ablesen lassen, und schließlich aus den Bibliotheken und Bibliothekskatalogen. Der erste Schriftstellerkatalog für die Kartäuser, an dem das sich wandelnde Selbstverständnis greifbar wird, ist erst für das Jahr 1489 bezeugt 10, schließt mithin eine Periode ab, deren Anfänge im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts liegen. Zuvor galt das in den „Consuetudines“ Guigos fixierte Schreibgebot, „soviele Bücher wir schreiben, soviele Zeugen der Wahrheit stellen wir uns her“ 11, in erster Linie zur Sicherung des ordensinternen Literaturbedarfs, nicht aber als Aufforderung, statt durch Predigten durch Bücher nach außen zu wirken 12. Mit dem erwachenden Bedürfnis, die kartusianische Lebensform ihren Kritikern plausibel machen zu wollen und damit den Sinn der monastischen Existenz in der Gesellschaft zumal der spätmittelalterlichen Städte zu rechtfertigen, erwuchs zugleich der Bedarf, durch Texte nach außen zu wirken bzw. sich selbst in Texten nach außen darzustellen. Die von Kartäusern verfaßten Werke sind daher im Spätmittelalter zwar vielfach als apologetische Programmschriften gedacht, zugleich aber als Prestigeindikatoren wirksam, so daß die Autoren, sei es aus eigenem Antrieb, sei es aus Gehorsam, aus ihrer monastischen Anonymität heraustreten und sich als scriptores im auktorialen Sinne zu verstehen beginnen und nach außen darstellen. 9
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Cf. S. Lorenz, Ausbreitung und Studium der Kartäuser in Mitteleuropa, in: id. (ed.), Bücher, Bibliotheken und Schriftkultur der Kartäuser. Festgabe zum 65. Geburtstag von Edward Potkowski (Contubernium 59), Stuttgart 2002, 1-19, hier 16-19; sowie die für die vorliegende Fragestellung aufschlußreiche Studie von H. Spilling, Johann Mickels Beschäftigung mit Wissenschaft und Literatur, in: ibid., 325-381. A. Bostius, Liber de viris aliquot illustribus sive praecipuis patribus ordinis Carthusianorum, Bologna 1489; cf. D. Mertens, Kartäuser-Professoren, in: J. Hogg (ed.), Die Kartäuser in Österreich, vol. 3 (Analecta Cartusiana 83), Salzburg 1981, 75-87, hier 80. Guigues Ier, Coutumes de Chartreuse [Consuetudines Cartusiae], c. XXVIII n. 4 (Sources Chre´tiennes 313), Paris 1984, 224: „Quot enim libros scribimus, tot nobis veritatis praecones facere videmur.“ D. Mertens, Kartäuser-Professoren (nt. 10), hier 79 sq.
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Die Kritik an Selbstverständnis und Lebensform hatte den Orden schon seit seiner Gründung begleitet und etwa in Berengar von Poitiers einen polemischen Stimmführer gefunden 13. Im 14. und 15. Jahrhundert führten die zahlreichen stadtnahen Gründungen von Kartausen zu neuen Angriffen, die den Mönchen insbesondere die soziale Fruchtlosigkeit ihrer Lebensform zum Vorwurf machten. Mit der notwendigen Verteidigung des Ordens veränderte sich jedoch die Auffassung von der konkreten Gestalt der vita contemplativa erheblich. Vor allem Jean Gerson hat in diesem Sinne auf die Kartäuser gewirkt 14. Seine 1415 entstandene Schrift „Contra impugnantes ordinem Carthusiensium“ nimmt die Kartäuser gegen drei Vorwürfe in Schutz: sie wirkten keine Wunder, sie hätten keine Heiligen hervorgebracht und der Orden sei nicht rechtskräftig kirchlich approbiert. Die entscheidende Approbation ist nach Gerson aber nicht die durch religiös indifferente Zeichen und Wunder, sondern das Zeugnis Christi, der eine entsprechende Lebensweise empfiehlt, und die virtuosa perseverantia, die als die Approbation durch den Heiligen Geist gedeutet werden müsse 15. Was jeweils das Tugendhafte ihrer Lebensführung sei, ist dabei im Lauf der Geschichte strittig und als die Frage nach der Konkurrenz zwischen vita activa und contemplativa in den Debatten des Spätmittelalters präsent. Gerson hat seine Auffassung in Form einer Auslegung der biblischen Figur Johannes des Täufers entwickelt 16: Danach kann eine Bewertung der jeweiligen Lebensform nach fünf Kriterien erfolgen, soteriologisch, absolut, kasuistisch, objektbezogen und christologisch; soteriologisch, insofern sie unter der Differenz von Heil und Unheil betrachtet wird, absolut, insofern die dem Menschen wesentlich angemessene Lebensform bestimmt wird, kasuistisch, indem konkurrierende Situationen konstruiert und in Form einer Güterabwägung entschieden werden, objektbezogen, indem nach dem finis der jeweiligen Lebensform gefragt wird und christologisch, indem die Lebensform Christi als Modell der dem Menschen angemessenen Lebensform und -norm verstanden wird. Mit dem Ergebnis, daß eine Mischung aus beiden Lebensformen vorzuziehen sei, gelingt es Gerson zugleich, die Frage nach ihrer jeweiligen utilitas sowohl zu legitimieren als auch positiv zu beantworten. Er entkräftet damit den mit Aristoteles, Politik I, erhobenen Einwand, die Lebensform des solitarius sei für den Menschen als animal civile widernatürlich 17, und vermag positiv aufzuzeigen, daß auch für den kontemplativ lebenden solitarius das Gemeinwohl als Kriterium einer sittlichen Bewertung seines Lebens in Geltung bleibt. 13
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Berengar von Poitiers, Epistola contra Carthusienses, in: PL 178, 1875-1880; R. Klibansky, L’e´pıˆtre de Berengar de Poitiers contre les Chartreux, in: Re´vue de moyen aˆge latin 2 (1946), 314-316. Cf. P. Glorieux, Gerson et les Chartreux, in: Recherches de The´ologie ancienne et me´die´vale 28 (1961), 115-153. Cf. J. Gerson, Contra impugnantes ordinem Carthusiensium (Oeuvres comple`tes X, n. 496), ed. P. Glorieux, Paris 1973, 41; 44. J. Gerson, De comparatione vitae contemplativae ad activam (Oeuvres comple`tes III, n. 92), ed. P. Glorieux, Paris 1962, 63-77. Ibid., 70.
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Dieser Wandel im Verständnis der vita contemplativa wird unter anderem auch greifbar an der Neubewertung geistiger bzw. damit verbundener Tätigkeiten, das heißt des Lesens und Schreibens. Gerson entwickelt diese Auffassung in der auf Bitten der Kartäuser verfaßten Schrift „De laude scriptorum“ 18. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Frage, ob es sich beim Schreiben um ein opus servile handelt, dessen der Mönch sich am Sonn- und Feiertag zu enthalten hätte. Seine Antwort, der Schreiber nehme am Heilsdienst der Kirche teil, der sich in praedicatio und satisfactio vollziehe, berücksichtigt zunächst nur den äußeren Nutzen des Schreibens, insofern heilsrelevante Texte bewahrt und verbreitet würden bzw. der Schreiber eine entsagungsvolle Tätigkeit ausübe und damit selbst heilsrelevant an der Werkgerechtigkeit teilhabe 19. Darüber hinaus werden aber Gegenstände und Praxis der Lektüre neu bewertet. Heilsträchtige Bücher (libri salubres ) sind solche, die nicht nur Kenntnisse (scientiae), sondern virtus und gustus der ursprünglichen Quelle, das heißt der Weisheit, vermitteln 20, unabhängig davon, um welche Gattung von Literatur es sich dabei handelt und für welches Zielpublikum sie geschrieben wurden 21. Diese durch Bücher mögliche Vermittlung der Weisheit ist abhängig von der Fertigkeit, Büchern nicht nur Wissen zu entnehmen, sondern auch die Inhalte, die für den jeweiligen Leser Bedeutung haben, mithin von der Leserkompetenz. Die Beurteilung von Büchern unter der Differenz von Heil und Unheil wird daher nicht über Literaturkritik, sondern über Lektürekritik, will sagen das Rezeptionsverhalten des Lesers gesteuert. Mit dieser allgemeinen Lektüreregel gelingt es Gerson, wissenschaftliche Literatur in ihrer genuinen Leistungsfähigkeit zu bewahren und zu legitimieren 22 und zugleich den Spielraum für nichtwissenschaftliche Lektüren - zumal in der Volkssprache - zu öffnen 23. Der geforderten Beurteilung der Lesestoffe unter der Differenz von Heil und Unheil entspricht eine veränderte Lektürepraxis, die den Körper des Lesers, an dem sich Heil und Unheil individuell entscheiden, im Lesevorgang stärker zur Geltung bringt 24. Die von Gerson vorgestellte Lektüre ist eine „lectio, quae scribendo fit “ - ein Lesen, das beim Schreiben sich vollzieht 25, so daß das Gelesene nicht nur intellektuell zur Kenntnis genommen, sondern körperlich nachvollzogen und angeeignet wird. Lesen heißt mithin notwendig Schreiben, wenn der Lesevorgang selbst dem Leser nicht nur Wissen, sondern Heil vermitteln soll: „Tu denique si non potueris amplos librorum manipulos ad aream Ecclesiae reportare, vel 18
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J. Gerson, De laude scriptorum (Oeuvres comple`tes IX, n. 454), ed. P. Glorieux, Paris 1973, 423-434. Ibid., n. 1-4, 424-427. Ibid., n. 7, 428. Ibid., n. 9, 430. Ibid., n. 9 u. 11, 430; 432. Ibid., n. 11, 432 sq. Zum Körper des Lesers cf. I. Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt 1991, 57 sq. Gerson, De laude, n. 4 (nt. 18), 427.
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parvulos et paucos ... vel unum afferre stude ut in tabernaculi[s] Domini non vacuus appareas “ 26 - „Wenn Du also keine umfangreichen Bündel von Büchern ins Haus der Kirche einbringen kannst, gib dir wenigstens Mühe, kleine oder wenige oder wenigstens ein [Buch] beizutragen, damit Du nicht im Zelt des Herrn mit leeren Händen erscheinst.“ Eine so bestimmte Lektürepraxis kann als körperlich vollzogene contemplatio verstanden werden, die in der Differenz von Heil und Unheil ihre sittliche Verbindlichkeit erlangt und damit unterscheidbar ist vom neugierigen Spekulieren der Philosophen 27. Sie ist aber nicht auf den Kanon erbaulicher Literatur eingeschränkt, sondern schließt wissenschaftliche Fachliteratur mit ein, die durch andere Texte wissenschaftlich ausgelegt, das heißt intertextuell referentialisiert wird 28 bzw. in ihrer doktrinellen Konsistenz zum Gegenstand eines eigenen Diskurses wird 29. Was Gerson anregt, ist mithin als alternatives Modell von Wissenschaftlichkeit zu verstehen, in dem die sittliche Verbindlichkeit des Erkannten und die sittliche Relevanz des Erkenntnisprozesses als konstitutiver Bestandteil von Wissenschaft garantiert werden sollen. In diesem Sinne ist die geistige Tätigkeit in den Kartausen bzw. den Bruderhäusern der Devotio moderna als ein alternatives Modell wissenschaftlicher Erkenntnis verstanden worden. Das erhellt aus den theoretischen Schriften der devoten Literatur ebenso wie aus den in den Kartäuserbibliotheken erhaltenen Exzerpthandschriften, Kompilatorien, Florilegien und Rapiarien sowie den in den Kartausen des Spätmittelalters hergestellten Codices 30. Gerhard Zerbolt etwa empfiehlt das Exzerpieren fortlaufend gelesener Handschriften sowie die Betrachtung der Exzerpte im Sinne einer geistlichen Übung 31; Johannes Trithemius rühmt die Praxis, sich eigene Handschriften mit individuellen Lesefrüchten zusammenzustellen, in seiner Schrift „De laude scriptorum manualium“ 32; Gerson lobt den Brauch, die Kopiertätigkeit mit Gebeten zu begleiten und begünstigt damit die Gewohnheit, Exzerpte mit einem schriftlichen Gebet einzuleiten 33. 26 27 28
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Ibid., n. 9, 430. Gerson, De comparatione (nt. 16), 74: „in curiosa philosophorum speculatione“. Gerson, De laude, n. 11 (nt. 18), 432: „Non enim esse dicimus omnium vel habere vel scrutari libros sanctos, illos maxime, qui suam difficultatem petunt explanari per alios passus et glossas doctorum.“ Ibid., n. 9, 430: „Tali grandia doctorum habenda sunt volumina quorum traditiones ordine doctrinali scrutetur.“ Cf. N. Staubach, Diversa raptim undique collecta. Das Rapiarium im geistlichen Reformprogramm der Devotio moderna, in: K. Elm (ed.), Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien, Kompilationen, Kollektionen, Wiesbaden 2000, 115-147. N. Staubach, Von der persönlichen Erfahrung zur Gemeinschaftsliteratur. Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen geistlicher Reformtexte im Spätmittelalter, in: Ons Geestelijk Erf 68 (1994), 200-228, hier 222 sq. N. Staubach, Pragmatische Schriftlichkeit im Bereich der Devotio moderna, in: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), 418-461, hier 435; zum Werk des Trithemius zuletzt: M. Embach, Skriptographie versus Typographie. Johannes Trithemius’ Schrift „De laude scriptorum“, in: Gutenberg-Jahrbuch 74 (2000), 132-144. Cf. Gerson, De laude, n. 4 (nt. 18), 426.
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III. An einem Codex aus der Bibliothek der Mainzer Kartause, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden ist, läßt sich diese Praxis veranschaulichen (I 330) 34. Die 14 ¥ 10 cm große, das heißt kleine Sammelhandschrift enthält eine den ersten Teil des Codex bildende Messerklärung (fol. 9-47) sowie Auszüge aus Mechthild von Hackeborn (fol. 49-153) und Gertrud von Helfta (fol. 161-225) und schließlich Exzerpte aus dem „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen (fol. 229-293). Während die drei ersten Teile der Handschrift nur den offensichtlich in einem Zuge geschriebenen jeweiligen Haupttext bieten, legt schon die graphische Gestalt der Hildegardexzerpte eine mehrfache Bearbeitung nahe. Vor allem auf den, den ersten und zweiten Teil des „Liber Scivias“ umfassenden Seiten, sind mit einer feineren Feder auf den freigebliebenen Rändern weitere Textstücke aus Hildegards Werk eingetragen. Diese ergänzenden Einträge stammen von der gleichen Hand, die auch den Haupttext geschrieben hat. Die mit breiterer Feder geschriebenen Exzerpte im Haupttext geben in der Regel Einheiten von 10-15 Zeilen der Druckausgabe des „Liber Scivias“ wieder. Der Exzerptor schöpft, wenn auch in deutlich unterschiedlicher Ausführlichkeit, aus allen Teilen des „Liber Scivias“, deren Text er souverän überblickt 35. Der gegebene Ausschnitt wird mit einer Gebetsanrede versehen, der Wortlaut des Textes entsprechend syntaktisch bearbeitet, die einzelnen Sätze einer exzerpierten Passage werden gelegentlich in der Reihenfolge vertauscht. Die Exzerpte sind voneinander durch einen ca. ½ zeiligen Durchschuß und die Hervorhebung der Initiale unterschieden. Sie schöpfen zumeist aus der Auslegung der jeweils bearbeiteten Vision, geben aber nur selten Teile der Vision selbst wieder. Im ganzen überwiegt beim Exzerptor das Interesse an einer theologischen Darstellung. Der längste durchgehend kopierte und mit der Überschrift „De Sacramento Altaris Nota“ versehene 36 Ausschnitt exzerpiert die sechste Vision des zweiten Teils. Er weist zudem durch zahlreiche und ausführliche marginale Ergänzungen auf eine mehrfache Bearbeitung des Textes hin. Ein Beispiel aus diesem Zusammenhang mag genügen, um den Prozeß der Textgenese zu verdeutlichen 37. Auf fol. 250v und fol. 251r werden aus der genannten Vision der Ecclesia die Abschnitte aufgenommen, die den Ritus der Messfeier auslegen. Auf fol. 250v beginnt die Seite mit dem wörtlich wiedergegebenen Ende von Kapitel 6. Mit „Rogo“ schließt der Exzerptor den Schlußteil 34
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Im folgenden greife ich zurück auf die Beschreibung der Handschrift, wie ich sie bereits an anderer Stelle mit den entsprechenden Abbildungen publiziert habe; cf. M.-A. Aris, Hildegard (nt. 1), 24-29. Ich nutze die Gelegenheit zu einer Korrektur: Bei der Beschreibung der Handschrift auf p. 24 muß es ebenso wie auf p. 11 „Mechthild von Hackeborn“ statt „Mechthild von Magdeburg“ heißen. Cf. Mainz, Stadtbibliothek Hs I 330, fol. 229r-232r: Pars I; fol. 232r-262r: Pars II; fol. 262r293r: Pars III. Cf. Mainz, Stadtbibliothek Hs I 330, fol. 248v. Cf. dazu die Abbildungen in Aris, Hildegard (nt. 1), 26 sq.
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aus Kapitel 7 (Z. 424-431) an, den er ohne Textverlust redaktionell zu einem an Gottvater gerichteten Gebet umgestaltet. Es folgt - dagegen wörtlich - der Anfang des neunten Kapitels, das mit einem Zitat aus dem am Anfang der Zeile genannten Propheten Joel beginnt. Der Exzerptor übergeht also bei der ersten Niederschrift den Anfang von Kapitel 7 sowie Kapitel 8 vollständig. Von diesen findet sich der fehlende Teil des siebten Kapitels, in kleinerer Schrift nachgetragen, in den drei Zeilen am oberen Rand der Seite, die durch ein Einschaltzeichen im Text an den bereits exzerpierten Text angeschlossen werden. Das fehlende Kapitel 8 dagegen wird an der passenden Stelle in der Mitte der Seite begonnen und dann auf dem inneren Rand vervollständigt. Der Eintrag auf dem linken Rand ist die Fortsetzung einer Ergänzung der folgenden Seite, für die dort nicht hinreichend Platz zur Verfügung stand. Aufgrund dieser durch zahlreiche andere Beispiele ergänzbarer Beobachtungen an der Handschrift läßt sich nun nicht nur der Textumfang des Exzerptes, sondern der Exzerpiervorgang als solcher rekonstruieren: Nachdem der Exzerptor seine Vorlage offensichtlich sehr sorgfältig gelesen und verinnerlicht hat, übernimmt er einen Teil des gelesenen Textes, den er nicht nur kennt, sondern beherrscht, und gibt ihn in Form eines Gebetes so wieder, daß der Wortbestand einer Passage vollständig erhalten bleibt, das Satzgefüge aber völlig neu gestaltet wird. Das Sprechsubjekt der Vorlage, Gott, wird durch die erste Person Singular als das Sprechsubjekt des geschriebenen Textes ersetzt. Damit schafft der Exzerptor die grammatischen Voraussetzungen dafür, daß ein künftiger Leser sich den gelesenen Text zu eigen machen kann. Sei es aufgrund der Leseerfahrungen mit dem so gestalteten Gebetbuch, sei es aufgrund einer erneuten Lektüre des „Liber Scivias“ kommt der Exzerptor zur Auffassung, daß durch die bereits getroffene Auswahl wesentliche Teile des Textes verlorengegangen sind. Aus diesem Grunde fügt er die ihm wichtig erscheinenden Ergänzungen fast ausschließlich in wörtlicher Wiedergabe auf dem freigebliebenen Rand ein. Bei diesem zweiten Durchgang hat sich sein Leseund Exzerpierverhalten geändert. Nunmehr legt er größeren Wert auf die vollständige Dokumentation des Textes, den er - wie im vorliegenden Beispiel auch dann in seine Ergänzung aufnimmt, wenn er ihn in bearbeiteter Form schon einmal geschrieben hat, beziehungsweise notiert ihn auch dort auf dem Rand, wo er in keinem Zusammenhang mit dem Haupttext steht. In beiden Exzerpierphasen geht es dem Mainzer Exzerptor darum, durch die Abschrift die Voraussetzungen dafür zu schaffen, sich den Text Hildegards individuell aneignen zu können, gleichsam ein experimentum textus zu ermöglichen. IV. Diese veränderte Haltung zur Buchproduktion und -rezeption führte zu einem raschen Zuwachs in den Bibliotheken spätmittelalterlicher Kartausen und machte eine sorgfältige Bestandsverbuchung erforderlich. Dabei wurden vor
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allem äußere Merkmale einer Handschrift als Kennzeichen zu ihrer Identifizierung verwendet. Die Aktualisierung der vorhandenen Kataloge, die als Besitznachweis und Wertsicherungsinstrument fungierten, mußte in kürzeren Abständen als bisher üblich betrieben werden, um den Umfang des vorhandenen Bestandes sicherzustellen 38. Zugleich dienten die Kataloge der rasch anwachsenden Bibliotheken zunehmend zur Erschließung des Bestandes. Der Bibliothekar wurde damit zusätzlich zum Besitzstandsverwalter zugleich Literarhistoriker und Enzyklopädist, dem die Ordnung und Eröffnung des in den Handschriften erhaltenen Wissens oblag, auch wenn er selbst seine Aufgabe anders empfunden haben mag. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang der Katalog der Erfurter Kartause aus der Zeit kurz nach 1475, der das oben skizzierte Wissenschaftsverständnis zur Grundlage der Bibliotheksordnung wählt und mit ausführlichen literaturgeschichtlichen Bemerkungen verbindet, selbst aber nicht anders denn als dokumentierend wirken will 39. Ähnlich erfüllt auch der Katalog der Mainzer Kartause eine mehrfache Funktion: einmal als Standortregister, um dem Bibliothekar die Sicherung des Buchbesitzes zu erleichtern, zum anderen als Schlagwortregister und als Autorenregister, um die Benutzung, nicht des Bestandes, sondern des Standortregisters zu erleichtern, wie aus dem „Intellectus registri “ hervorgeht, das der Handschrift vorangestellt ist 40. Aus diesem Vorwort wird nicht nur der Aufbau des Kataloges erkennbar (Vetus Testamentum, Novum Testamentum, Doctores et auctores, Sermones, Ius, Medicina, Artes ) 41, zudem werden die Interessen der Bibliotheksbenutzer und, nicht immer mit diesen übereinstimmend, die des Bibliothekars rekonstruierbar. Die vom Bibliothekar imaginierten Benutzer suchen anhand der nomina auctorum bzw. anhand der significatio materiarum sowohl nach einzelnen Handschriften als auch nach einzelnen Traktaten und Briefen - als bemerkenswertes Beispielwort dient „abusus “. Sie werden aber ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das zweite Register, der Standortkatalog, wichtiger sei als die vorangestellten alphabetischen Kataloge, weil nach diesem die Bücher geordnet und aufgestellt seien. Für den Bibliothekar bleibt mithin die Ordnung des Wissens bestimmend gegenüber dem Versuch, dieses Wissen 38
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Cf. am Beispiel der Basler Kartause H. Schreiber, Quellen und Beobachtungen zur mittelalterlichen Katalogisierungspraxis besonders in deutschen Kartausen, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 44 (1927), 1-19, 97-118, hier 12-14. Cf. P. Lehmann (ed.), Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Zweiter Band: Bistum Mainz-Erfurt, München 1928, 232-593; H. G. Senger, Einleitung zu: Nikolaus von Kues, Die höchste Stufe der Betrachtung lat./dtsch. (Philosophische Bibliothek 383), Hamburg 1986, XXIII; A. Märker, Schweigen und Lesen - Das Prohemium longum des Erfurter Kartäuserkatalogs als Wissenschaftspropädeutik am Ende des 15. Jahrhunderts, in: Lorenz (ed.), Bücher, Bibliotheken und Schriftkultur (nt. 9), 383-397. Cf. Schreiber, Quellen (nt. 38), 16 sq. sowie die Edition des „Intellectus registri“ in: H. Schreiber, Die Bibliothek der ehemaligen Mainzer Kartause. Die Handschriften und ihre Geschichte (Zentralblatt für Bibliothekswesen, Beihefte 60), Leipzig 1927, 193: „Rursum auten 2m et ut videtur minus principlae registrum, licet hic prenotattum, ad aliud principale, quamvis, ut dictum est, supra sibi postpositum, sic deservire dicitur.“ Ibid., 192 sq.
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für einzelne ohne den Verweis auf dessen Stellung im ganzen verfügbar zu machen. Für ein so angelegtes bibliothekarisches Verzeichnungssystem stellen der mögliche Standortwechsel und mehr noch der Bücherzuwachs ein gewichtiges Problem dar, insofern mit der Verbuchung eines Neuzugangs zugleich dessen Platz im Wissensganzen bestimmt werden muß 42. Am Bestand der Mainzer Kartause und dessen Katalogisierung in einem zwischen 1466 und 1470 geschriebenen Verzeichnis und einem weiteren aus dem Jahre 1520 lassen sich diese Abläufe durch den Vergleich der nach 1470 eingefügten Nachträge mit deren Reinschrift aus dem Jahre 1520 nachvollziehen. Neben den üblichen Neuerwerbungen sind auch Handschriften hinzugekommen, obwohl sie nur Texte bieten, die bereits in der Bibliothek vorhanden waren. Ihre Anfertigung wird aus dem Zusammenhang der beschriebenen Praxis verständlich, sich Bücher nicht nur durch deren Lektüre, sondern durch deren Abschrift anzueignen. So verzeichnet der Katalog von 1522 unter den ansonsten nur mit jeweils einem Exemplar vorhandenen 190 Einträgen zu Jean Gerson drei Exemplare der Schrift „De laude scriptorum“, zwei Exemplare seiner Verteidigungsschrift für die Kartäuser, zwei Exemplare seiner „Mystica theologia“, sieben Exemplare seiner Schrift „De remediis contra pusillanimitate animae“, vier Exemplare seiner Schrift „De praeparatione ad missam“ und sechs Exemplare seiner Schrift „De cognitione castitatis“ 43. Zumal die beiden letztgenannten Schriften geben Aufschluß über die Orientierungsbedürfnisse der Kartäuser, die sie abschreiben und damit den Mitbrüdern zur Verfügung stellen. Handeln doch beide - anders als ihr Titel vermuten läßt - mit medizinischen, psychologischen und moraltheologischen Kriterien von der ethischen Bewertung der Pollution. Ähnliche Häufungen von Kopien derselben Werke finden sich unter anderem vereinzelt bei Augustinus, mehrfach bei Bernhard von Clairvaux, bei der Verzeichnung des „Breviloquium“ des Bonaventura, der „Mystica Theologia“ des Ps.-Dionysius Areopagita, bei den pseudo-albertinischen spirituellen Schriften, bei der Schrift „De spiritualibus ascensionibus“ des Gerhard von Zutphen, bei einzelnen Schriften des Hugo und Richard von St. Viktor, der Verzeichnung des „Horologium Sapientiae“ des Heinrich Seuse, des „Compendium“ des Hugo von Straßburg, der „Imitatio Christi“ des Thomas a Kempis und auffällig bei Marsilio Ficino, dessen Werke jeweils doppelt vorhanden sind. 42
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Zur Bibliotheksordnung im Verhältnis zur Ordnung des Wissens cf. H. Zedelmaier, Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 33), Köln - Weimar - Wien 1992; sowie E. Canetti, Nachträge aus Hampstead. Aus den Aufzeichnungen 1954-1971, München 1994, 21: „Meine Bibliothek, die aus Tausenden von Bänden besteht, die ich mir zu lesen vorgenommen habe, wächst zehnmal so rasch, als ich lesen kann. Ich habe versucht, sie zu einer Art von Universum zu erweitern, in dem ich alles finde. Aber dieses Universum wächst in schwindelerregendem Maße. Es will sich nie beruhigen, und ich fühle sein Wachstum am eigenen Leib. Jeder Band, den ich neu einführe, löst eine kleine Weltkatastrophe aus, und eine Beruhigung tritt erst ein, wenn er sich scheinbar einreihen läßt und vorläufig verschwindet.“ Cf. Mainz, Stadtbibliothek Hs II 576, fol. 101-106.
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Diese Dubletten lassen sich nur teilweise aus dem Umstand erklären, daß neu eintretende Mönche ihre persönliche universitär geprägte Büchersammlung der Klosterbibliothek anvertrauten. Vielmehr entsprechen zahlreiche der mehrfach vorhandenen Titel den Lektüreempfehlungen, die Jean Gerson in seiner Schrift „De libris legendis a monacho“ ausspricht 44. Sie dienen dazu, eine theologia affectiva zu fördern, das heißt die Form von Wissenschaft, die die sittliche Verbindlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis in einer adäquaten Lebensform zu realisieren sucht, mithin die begriffliche Annäherung an den Erkenntnisgegenstand der Theologie mit einer bestimmten Lebenspraxis und individuellen Erfahrung zu vermitteln und in ihr zu bewähren sucht. Am Beispiel der Mainzer Kartause läßt sich zeigen, daß die Entfaltung dieses alternativen Wissenschaftsverständnisses sowohl mit einer charakteristischen Lektüre- und Rezeptionsstrategie verbunden ist als auch mit der Aufnahme einer bestimmten philosophischen Tradition, die geeignet ist, Erkenntnisziel und Lebensform stärker miteinander zu verbinden, als es in der universitären Theologie des Spätmittelalters möglich schien. Eine einläßliche Analyse des Mainzer Bibliotheksbestandes könnte zeigen, daß diese Wissenschaftskultur mit der intensiven Rezeption neuplatonischer Texte bzw. der neuplatonisch bestimmten relecture vertrauter Texte verbunden war (z. B. alle erreichbaren Übersetzungen und Kommentierungen des Pseudo-Dionysius sowie Cusanus und Ficino). Vor diesem Hintergrund wird die wissenschaftskritische Bedeutung der Überlieferung jenes Textes greifbar, der als damnatio Parisiensis nicht nur das Wissenschaftsverständnis eines namentlich nicht genannten Pariser Magisters verurteilt, geschweige denn nur als Erinnerung an die Gründung des Kartäuserordens fungiert. Er dient zugleich als Exemplum für eine Wissenschaftskultur, die das neuplatonische Erbe zumal der Literatur des 12. Jahrhunderts und dessen zeitgenössische Fortentwicklung neu und energisch zur Geltung bringt.
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J. Gerson, De libris legendis a monacho (Oeuvres comple`tes IX, n. 464), ed. P. Glorieux, Paris 1973, 609-613, hier 612 sq.
IV. Wirtschafts- und Rechtsgeschichte
„Bien public“ und „raison d’Etat“ Wirtschaftslenkung und Staatsinterventionismus bei Ludwig XI. von Frankreich? Hans-Joachim Schmidt (Fribourg) Das Werk „Herbst des Mittelalters“ von Johan Huizinga behauptet, daß den Menschen drei Wege offenstehen, um die Sehnsucht nach einem guten und schönen Leben zu verwirklichen: der Weg der Weltverleugnung in Askese und im Hoffen auf ein jenseitiges Heil, der Weg, der im „Entfliehen vor der harten Wirklichkeit in eine schöne Illusion“ führt, und schließlich der Weg der Weltverbesserung und -vervollkommnung. Letztere Möglichkeit sei im Mittelalter kaum in Betracht gezogen worden, denn die Lebensbedingungen schienen so, wie sie Gott eingerichtet habe und wurden als Ergebnisse der Sünde der Menschen gedeutet, also ihrer Gestaltung entzogen. Weil bei allen Dingen nach der moralischen Bewertung gesucht würde, zögen die Überlegungen zur Nutzenoptimierung und zur Wohlstandsmehrung schnell das Verdikt der Verfehlung nach sich, insofern sie von der Sorge um das ewige Seelenheil ablenkten. Weil alle Dinge als Repräsentanten jenseitiger Werte gedeutet würden, verlören sie ihren Eigenwert und fielen als Zielobjekte des praktischen Lebens aus. Huizinga schloß folglich den Pfad der aktiv-umgestaltenden Strategie der diesseitigen Lebensumstände aus seiner Darstellung weitgehend aus, um sich um so ausführlicher mit einer hypotrophen Inszenierung von Fest und Kunst zu beschäftigen, die im Rückgriff auf ritterliche Idealvorstellungen eine anachronistische und epigonenhaft wirkende Kultur zur Blüte brachte, welche dann nur noch als Ausklang eben als „Herbst“ - gewürdigt werden konnte 1. Huizinga richtete sein Interesse auf den burgundischen Hof. Die ästhetizistische Inszenierung des höfischen Milieus, als dessen Höhepunkt das Fasanenfest des Burgunderherzogs Philipp des Guten im Jahre 1454 angesehen werden kann und zu dessen Künder die burgundische Hofchronistik eines Georges Chastellain, Olivier de la Marche oder Jean de Molinet wurde, war für Huizinga ganz offensichtlich einem dem beginnenden 20. Jahrhundert vertrauten Phänomen der Dekadenz ähnlich, so daß der große niederländische Gelehrte dem „Herbst“ 1
J. Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, 12. Aufl. Stuttgart 1987, bes. 36-72, 326-356; E. Peters/W. P. Simons, The New Huizinga and the Old Middle Ages, in: Speculum 74 (1999), 587-620, bes. 608.
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zwar eine stilistische Verfeinerung zubilligte, in ihm letztlich aber doch die Zeichen eines Niedergangs sah. Niederlage und Tod Karls des Kühnen, des letzten Vertreters der burgundischen Herzöge aus der Dynastie der Valois, waren damit mehr als nur das Ergebnis politischer Peripetien, sondern waren begründet in einer kulturellen Prägung, die durch den Rückgriff auf bereits obsolete ritterliche Ideale deutliche Spuren einer Kompensationsstrategie einer Familie aufwies, die trotz der großen Machtfülle und des immensen Reichtums von der höchsten Spitze monarchischer Hierarchie, dem König- oder gar dem Kaisertum, ausgeschlossen war 2. War deswegen das burgundische Milieu aber nicht eher eine Ausnahme im ausgehenden Mittelalter? Wies der hohe Einsatz der „magnificences“ du „Grand duc d’Occident“ 3 nicht doch eher auf die Intention eines Aufsteigers und Außenseiters, als daß er zur Kennzeichnung einer ganzen Epoche, dem Ende des Mittelalters, geeignet wäre? Die Fragen ließen sich leicht beantworten, z. B. durch den Hinweis auf die zahlreichen Neuanfänge, die Reformen, Innovationen und Expansionen einschließlich der überseeischen Entdeckungen oder durch den den Nachweis eines Modernisierungsschubs, der das endende 15. Jahrhundert weniger zu einem „Ausklang“ des Mittelalters als vielmehr zu einer Zeit der „Vorbereitung“ und des „Aufschwungs“ machte 4. Es ist jedoch nicht meine Absicht, zu einer allgemeinen Charakterisierung einer Epoche anzusetzen, vielmehr sollen einige Formen von Verhaltensweisen und Zielen vorgestellt werden, und zwar die nach Huizinga auch noch dem späten Mittelalter unbekannten und unbeachteten Werte eines aktiven Eingreifens, um das praktische Leben zu verbessern. Zugleich sollen damit die von Hans Blumenberg postulierten Werte des beginnenden neuzeitlichen Europa vorgeführt werden, die auf der partiellen Substitution jenseitigen Heilsversprechens durch die Verteidigung humaner Gestaltungsautonomie sowie auf dem partiellen Entzug der religiösen Deutungshoheit beruhten, wodurch Individuum und Gesellschaft sich aus den Unberechenbarkeiten eines „Willkürgottes“ befreiten und eigene Betätigungsfelder besetzten 5. Der Vorgang läßt sich nicht allein im philosophischen Diskurs erschließen, sondern verwirklichte sich auch in der Praxis des wirtschaftlichen Handelns, 2
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J.-M. Cauchies, Louis XI et Charles le Hardi. De Pe´ronne a` Nancy (1468-1477): Le conflit, Brüssel 1996; W. Paravicini, Karl der Kühne. Das Ende des Hauses Burgund, Göttingen 1976; Cinq-centie`me anniversaire de la bataille de Nancy (1477), Nancy 1979; W. Blockmans/W. Prevenier, The Promised Lands. The Low Countries under Burgundian Rule, 1339-1530, Philadelphia 1999; H.-J. Schmidt, La bataille de Morat. Un e´ve´nement suisse aux dimensions europe´ennes, in: H. Schöpfer (ed.), Le panorama de la bataille de Morat, Fribourg 2002, 7-28. W. Paravicini, Die zwölf „magnificences“ Karls des Kühnen, in: G. Althoff (ed.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter (Vorträge u. Forschungen 51), Stuttgart 2001, 319-395; T.-H. Borchert, Handel en wandel: Brugge en de Europese kunst, in: A. Vanderwalle (ed.), Hanzekooplui en Medicibankiers. Brugge, wisselmarkt van Europese culturen, Oostkamp 2002, 137-148. H. Schilling, Die neue Zeit - Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250 bis 1750 (Siedler Geschichte Europas), Berlin 1999, 9-18. H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, erw. Aufl., Frankfurt 1996.
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dessen Movens - das Gewinnstreben - nicht mehr allein dem Haushalt vorbehalten wurde, sondern aus ihm heraustretend den gesamten Bereich einer im Königreich koordiniert vorgestellten Wirtschaft antreiben würde. Die Interventionen des französischen Königs Ludwigs XI. in die Wirtschaft seines Königreiches sind ein besonders eindrückliches Beispiel. Der Gegensatz zwischen dem Milieu der burgundischen Herzöge, die mit dem Ende Karls des Kühnen scheiterten, und dem des Zeitgenossen Ludwig XI., der Erfolg hatte, wäre damit der zwischen einem auf Kompensationen und Traditionsstiftungen angewiesenen und dabei Anachronismen kultivierenden Milieu einerseits und einem legitimitätsgesättigten, auf anerkannten Vorbildern basierenden kulturellen Umfeld andererseits, dessen Akteure sich um so besser zur Nutzenoptimierung aus den Fesseln tradierter Leitbilder lösen konnten. Es war letztlich das Legitimitätsgefälle, nicht persönliche Neigung, das den Burgunderherzögen, auch dem letzten unter ihnen, die aufsehenerregende Prachtentfaltung geradezu aufnötigte, dem französischen König Ludwig XI. indes die schon bei seinen Zeitgenossen auffällige Nüchternheit zeremonieller Inszenierung erlaubte und ihm Ressourcen beließ, den status regni, die „bonne police“ oder das „bien public“ durch Eingriffe in die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen zu verbessern oder doch zumindest die Illusion zu erzeugen, sie zu verbessern, also das zu tun und zu konzipieren, was Huizinga für das Mittelalter - auch das späte weitgehend ausschloß. Entgegen der Auffassung, daß im Mittelalter eine Planung der Wirtschaft eines Königreiches nicht versucht wurde, gilt es der Frage nachzugehen, ob es durch das Handeln König Ludwigs XI. Elemente eines staatlichen Interventionismus gab, der im Hinblick auf das Ideal des „bien public“ Optimierung zu erreichen suchte. Gab es also ein Handeln, das Verbesserung des Lebens der Untertanen, der politischen Machtgrundlage und der Ressourcen des Königtums anstrebte? Oder herrschte eine Auffassung vor, die die genannten Ziele für nicht vereinbar hielt, weil sie von der Vorstellung einer stabilen, nicht vermehrbaren Menge von Gütern ausging und damit Verbesserungen in der materiellen Ausstattung für alle nicht für erreichbar glaubte? Es geht also nicht um die Frage, ob es eine Politik der Herrscher gegeben habe, die die Wirtschaft seines Herrschaftsgebietes zum Objekt hatte, es geht nicht um die Bewertung von Zollund Marktprivilegien, nicht um die Erhebung von Abgaben und Steuern, nicht um die Einführung von Standards der Produktion - Maßnahmen, die selbstverständlich zum Handlungsrepertoire des mittelalterlichen Herrschers gehörten und Mittel seiner Machtsteigerung waren 6 -, vielmehr soll eine Konzeption 6
U. Dirlmeier, Mittelalterliche Hoheitsträger im wirtschaftlichen Wettbewerb (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 51), Wiesbaden 1966; E. Miller, Wirtschaftspolitik und öffentliche Finanzen, in: C. M. Dopolla/K. Borchardt (eds.), Europäische Wirtschaftsgeschichte, vol. 1: Mittelalter, Frankfurt - New York 1983, 219-240; J. Fried, Die Wirtschaftspolitik Friedrich Barbarossas in Deutschland, in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte NF 120 (1984), 195-231; W: M. Ormord, The Western European Monarchies in the Later Middle Ages, in: R. Bonney (ed.), Economic Systems and State Finance (The Origins of the Modern State in Europe), London 1995, 123-161.
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untersucht werden, die Wohlfahrtsteigerung zugunsten der Untertanen und Mehrung des materiellen Reichtums für das Königreich zum Ziel hatte, also die Vermehrung von Massen auf die Güterproduktion anzuwenden vorgab. Die Eingriffe Ludwigs XI. in die Wirtschaft seines Königreiches waren ungewöhnlich - zunächst einmal durch ihren bedeutenden Umfang, der sich deutlich von dem der vorangegangenen Epochen unterschied 7. Er erließ Verordnungen zur Verteilung städtischer Lasten, zu Zunftordnungen in den Städten, zu Messestandorten, zu Handelsprivilegien, zu Zöllen. Es waren dies Maßnahmen, die als eine Fortsetzung dessen angesehen werden können, was die Könige Frankreichs schon vor Ludwig XI. unternommen hatten, und die zu den traditionellen Aufgaben des Königs gehörten, der auf Anfragen reagierte, ihm vorgetragene Mißstände abstellte, Bitten erhörte, Vergünstigungen erteilte und den Willen bekundete, eine einzelne Stadt zu fördern 8. Auch die Berufung auf ein „bien public“ stellte kein Novum dar. Aber da die gesteigerte Fiskalisierung dem öffentlichen Wohl so oft als abträglich angesehen wurde, ja die Erhöhung von Steuern mit dem Makel moralischer Verfehlung behaftet war, entstand ein Dilemma, das herrscherliche Nutzenoptimierung als problematisch erscheinen ließ. Die Testamente vieler französischer Könige seit dem 13. Jahrhundert zeigen das Problem einer Unvereinbarkeit zwischen Opportunität und Moralität, welches durch Korrekturen gelöst werden sollte, die indes den jeweiligen Nachfolgern auszuführen überlassen wurde 9. Anders Ludwig XI. Er löste das Dilemma. Indem er in seinem Regierungshandeln und programmatisch vor allem in dem von ihm verfaßten oder angeregten Opus „Rosier des guerres“ den König als Agenten einer Wohlfahrtssteigerung vorstellte, versuchte er, das gute Leben der Untertanen an den Vorteil des Königs zu binden 10. Deswegen bestand nach seiner Auffassung auch kein Gegensatz zwischen der erheblichen Vermehrung der königlichen Einkünfte und den damit verbundenen höheren Steuern, Krediten und Zwangsanleihen einerseits und den Interessen der Untertanen andererseits. Daß diese es anders sahen, ist evident, und sie brachten ihre Sicht der Dinge in 7
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P.-R. Gaussin, Louis XI, un roi entre deux mondes, Paris 1988, 200-225; J. Favier, Louis XI, Paris 2001, 809-862. Ordonnances des rois de France de la troisie`me race, vol. 14-19, Paris 1790-1835, vol. 15, 222, 469; vol. 16, 14 sqq., 22 sq., 273, 566, 586-684; vol. 17, 163-170, 206, 317, 477 sq., 522 sq.; vol. 18, 39, 60, 541; Lettres de Louis XI, roi de France, 11 vol., ed. J. Vaesen/E. Charavay, Paris 1883-1909, vol. 6, 274 sq.; M. G. Fagniez (ed.), Documents re´latifs a` l’histoire de l’industrie et du commerce en France, vol. 2: 14e et 15e sie`cles, Paris 1900, 266-274; R. Gandilhon, Politique e´conomique de Louis XI, Rennes 1940, 167-192; U. Chevalier, La politique de Louis XI a` l’e´gard des bonnes villes: le cas de Tours, in: Le moyen aˆge 70 (1964), 473-504. E. A. R. Brown, Royal Salvation and Needs of State in Late Capetian France, in: W. C. Jordan e. a. (eds.), Order and Innovation in the Middle Ages. Essays in Honor of Joseph R. Strayer, Princeton, N.J. 1976, 365-383. Le rosier des guerres, ed. M. Diamant-Berger, Paris 1925; D. M. Bell, L’ide´al e´thique de la royaute´ en France au moyen aˆge d’apre`s quelques moralistes de ce temps, Paris 1962, 155, 194; J. Krynen, L’empire du roi. Ide´es et croyances politiques en France 13e-15e sie`cle, Paris 1993, 231-238, 486-489; Favier, Louis XI (nt. 7), 313.
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Eingaben um Steuerbefreiungen und -stundungen zum Ausdruck, wenn sie nicht gar gegen die Steuereintreiber revoltierten 11. Aber die Gelder, dem König zur Verfügung gestellt, waren als Mittel zur Sicherung des Friedens ausgegeben und vor allem als Mittel zur Vermehrung des allgemeinen Wohls. Gerade weil der König sein Versprechen, anläßlich der Krönung in Reims gegeben und kurz darauf bei seinem Einzug in Paris wiederholt, die Steuern zu senken, mißachtete, war es vordringlich, als Ausgleich die Sorge um die Wohlstandsmehrung der Untertanen als königliche Aufgabe zu reklamieren 12. Mag die propagandistische Absicht, ja selbst die Verlogenheit eines stets geldhungrigen Herrschers auf der Hand liegen und von dem zeitgenössischen Chronisten Thomas Basin auch angeprangert worden sein, so waren die zur Schau gestellten Intentionen um nichts weniger relevant für ein Maßnahmenhandeln, das die Wirtschaft des Königreiches zum Objekt hatte 13. Der König gab als Ziel an, die wirtschaftliche Prosperität der Untertanen durch seine Maßnahmen zu steigern, und er glaubte, daß er dazu in der Lage sei. Königliche Politik mußte also in diesem Bereich wirksam sein. Daß er bei der Verwirklichung seiner Ziele nicht selten scheiterte, verhinderte nicht die Entstehung eines neuen Typus politischen Handelns des Königs, der sich nicht allein neue Tätigkeitsfelder erschloß und nicht nur seine Machtbefugnisse erweiterte, sondern den Vorgang der Staatsbildung anstieß. Der Staat forderte Loyalität von den Untertanen, diese erwarteten Vorteile. Die Verschränkung beider Momente löste die feudalen Gehorsamspflichten ab, denn nicht persönliche Bindung, sondern Zugehörigkeit zum Aktionsraum herrscherlicher Fürsorge formte einen Verband, der darauf beruhte, daß alle gemeinsamen Verhaltensregeln unterlagen und auf allgemein zugängliche Wohlstandsgewinne hoffen durften. Regulierung war mit Prosperität verbunden - nicht realiter, aber intentional. Aus dieser Verbindung entsprangen neue Quellen der Legitimität 14. Folglich war König Ludwig XI. auch weniger darauf angewiesen, im Konsens der politischen Eliten und in der Wahrung von deren garantierten Rechten seine herrscherliche Position abzustützen. Königliche Interventionen in die Wirtschaft hatten mehr als nur die Gewinnung zusätzlicher finanzieller Mittel zum Ziel - dies natürlich auch -, sondern waren ebenfalls bestrebt, für das Königreich insgesamt und damit für alle Bewohner Wohlfahrt zu mehren. Die Politik Ludwigs XI. von 11
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Philippe de Commynes, Me´moires, ed. J. Calmette/G. Durville, 3 vol., Paris 1924-1925, vol. 2, ll, 221 sq. Der Gesandte des Mailänder Herzogs beim französischen König berichtete über die Unzufriedenheit im Königreich wegen der bedrückenden Steuerforderungen und über die enttäuschten Erwartungen, die der König anläßlich seiner Krönung erweckt hatte; De´peˆches des ambassadeurs milanais en France sous Louis XI et FrancX ois Sforza, ed. D. Mandrot, vol. 1, Paris 1916, 191; A. Leguay, Emeutes et troubles d’origine fiscale pendant le re`gne de Louis IX, in: Le moyen aˆge (1967), 447-487. C. Couderc, L’entre´e solennelle de Louis XI a` Paris (Me´moires de la Societe´ de l’Histoire de Paris 23), Paris 1896. Thomas Basin, L’histoire de Louis XI, ed. C. Samaran, vol. 1, Paris 1963, 14-21, 56-67. J.-P. Genet (ed.), L’Etat moderne. Gene`se, bilans et perspectives. Actes du colloque tenu au CNRS Paris 19-20 sept. 1989, Paris 1990.
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Frankreich führte zur Ausbildung einer umfassenden herrscherlichen Zuständigkeit, die sich als Sorge um das Wohl der Untertanen ausgab, deren ständische Unterscheidung irrelevant wurde, sobald sie zu Objekten von Maßnahmen wurden 15. Im städtischen Bereich war die obrigkeitliche Daseinsfürsorge schon lange vorher üblich, nun wurde sie auch zur Aufgabe des Königs für das gesamte Königreich. In mehreren Briefen u. a. an den Rat von Lyon war die „bonne police“ Inbegriff dieser herrscherlichen Intervention 16. Sie beschränkte sich nicht auf eine einzelne Stadt, überschritt damit das Maßnahmenhandeln spätmittelalterlicher Stadtgemeinden und suchte den status regni insgesamt zu reformieren, um wirtschaftliche Prosperität zu fördern. Der König beanspruchte eine Kompetenz, die ihn aus der Rolle des korrigierenden, des Gerechtigkeit spendenden und garantierenden, Unrecht abwendenden und Gnade gewährenden Herrschers heraushob und zum Gestalter der Lebensumstände, zum Organisator der Wirtschaft, zum Promotor von Verbesserungen machte, womit das statische Modell eines Schützers von Rechten zugunsten desjenigen eines Wegbereiters von Neuerungen verändert wurde 17. Die Interventionen in die Wirtschaft hat König Ludwig XI. ganz erheblich vermehrt. Nicht allein Privilegierungen von Messen, sondern auch Eingriffe in den Bestand bestehender Handelsmessen und damit die Umleitung von Warenströmen hat er initiiert. Abstände zwischen den Messestandorten waren zu berücksichtigen, das Wohl der einen Stadt mit dem der benachbarten abzuwägen 18. Profitiert von den königlichen Maßnahmen hat vor allem die Stadt Lyon, deren Messen er durch weitere vermehrte, vor allem aber von der Konkurrenz von Genf befreite 19. Der Grund für das besondere Interesse an der Wirtschaft und das vermehrte Eingreifen in sie mag in den persönlichen Erfahrungen Ludwigs liegen, der als Thronerbe Zuflucht vor seinem Vater in Genappes fand - als Gast des burgundischen Herzogs - und dort regen Anteil nahm an den Handelsaktivitäten der nahen flandrischen Städte, insbesondere an denen von Brügge und Bergen, Kontakte zu Kaufleuten pflegte und sie nicht allein zur Kreditbeschaffung für seinen prekären Exilierten-Haushalt nutzte, sondern gezielt Informationen zu Produktion und Handel einholte. Nach späteren Aussagen der Ratsherren von Lyon habe er dort „experimente le grant entre-cours, despesche et expedition de marchandise qui se foisait es foyres d’Anvers et de Bergue“. Wie sein Biograph Philippe Commynes schrieb, habe er auch später, nach seiner Thronbesteigung 1461, den Kontakt zu nicht-adligen Personen gesucht, sich von ihnen 15
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M. M. Postan/E. E. Rich/E. Miller (eds.), The Cambridge Economic History of Europe, vol. 3: Economic Organization and Policies in the Middle Ages, Cambridge 1965, 334 sq. Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 8, Paris 1903, 100 sq. Krynen, L’empire (nt. 10), 167-170, 477 sq. Ordonnances (nt. 8), vol. 16, 91 sq., 98 sq., 109; vol. 17, 385. Ordonnances (nt. 8), vol. 15, 571-573, 644-647; vol. 16, 431; vol. 17, 33; vol. 18, 116; Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 3, 71-74; Gandilhon, Politique (nt. 8), 223-235; Favier, Louis XI (nt. 7), 840-843.
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informieren lassen, mit eigenen Augen Werkstätten, Handelskontore, Schiffahrtswege und Hafenanlagen besichtigt und befohlen, von diesen Dingen für ihn Zeichnungen anzufertigen. Nach eigener Aussage habe Ludwig den größten Teil des Königreiches bereist und untersucht und dabei nicht allein Regierung und Verwaltung kontrolliert, sondern auch die Angelegenheiten der Bewohner behandelt, so daß er Maßnahmen zur Besserung von deren Wohlfahrt habe vornehmen können. Untersuchungskommissionen sandte er aus; über Mißbräuche, Fehler, aber auch über gelungene Unternehmungen und mögliche Projekte sollten sie ihm berichten. Die Untersuchungen erfaßten auch den Bereich der Wirtschaft. Der König suchte den Rat von Kaufleuten, berief diese zu Versammlungen an seinen Hof zur Förderung „de toute la chose publique“ des gesamten Königreiches. Auch der Adel sollte Handel treiben, am Wirtschaftsprozeß teilnehmen und sich an der Wohlstandsmehrung beteiligen, vor allem aber sich für die königlichen Projekte der ökonomischen Lenkung einsetzen 20. Das Interesse des Königs an den Finanzen war ausgeprägt, bereitwillig zog er Kaufleute und Bankiers als Mitarbeiter an seinen Hof, die er ebenso als Geldbeschaffer einzusetzen wußte. Es ging um die Finanzierung einer Politik, die sowohl für die Bereitstellung von Truppen als auch für die Abwendung von Kriegen stets auf hohe Geldbeträge angewiesen war. Die permanente Geldnot des Monarchen lag an der Unmöglichkeit, Gelder zu thesaurieren, weil sie stets in politisches Kapital umgesetzt und damit stets in Umlauf gehalten werden mußten. Geld war nicht Objekt der Akkumulation, es war Instrument. Je größer die Umlaufgeschwindigkeit, desto größer der militärische und politische Nutzen. Die Monetarisierung der Politik war nichts Neues für das spätmittelalterliche Königtum, nicht neu war die beständige Suche nach Einnahmequellen, die Ausschöpfung des Kredits, die Erhebung neuer Steuern. Ludwig XI. mag vielleicht in der Formulierung seiner Finanznöte besonders erfinderisch und zugleich fast unhöflich gewesen sein. An seine „gens de finances“ erteilte er im Juli 1472 die Aufforderung, „trouver argent“ - verbunden mit der Bitte, aber natürlich als Befehl zu verstehen - „que faites dilligences“ 21. Der König sollte Nutznießer ökonomischer Gewinne sein, d. h. zugleich sein Hof und seine Dynastie. Eine auf den Hof ausgerichtete Motivation war bisher alleiniger Movens politischen Handelns während des Mittelalters. Die camera war der Kern des Wirtschaftens und des Umganges mit Geld durch den König und seine Umgebung. Wirtschaft und wirtschaftliche Rationalität waren daher stets auf den oikos, das Haus, bezogen und meinten damit auch den königlichen Haus20
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Commynes, Me´moires (nt. 11), vol. 1, 68 sqq.; Georges Chastellain, Oeuvres, 8 vol., ed. K. de Lettenhove, Brüssel 1866, vol. 3, 301-306, Olivier de la Marche, Me´moires, 4 vol., ed. H. Beaune/J. d’Arbaumont, Paris 1883-1888, vol. 2, 423; Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 3, 74 sqq.; vol. 4, 1 sq., 103 sq.; vol. 8, 4 sqq., 20 sq.; Ordonnances (nt. 8), vol. 16, 197-200; Gandilhon, Politique (nt. 8), 87 sq., 103, 119; Favier, Louis XI (nt. 7), 301 sq. Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 5, 38 sqq.
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halt. Mit dem spätmittelalterlichen Königtum, vor allem mit dem der französischen Herrscher und noch spezifischer mit Ludwig XI., trat indes ein Wandel ein hin zu einer zusätzlichen Orientierung, die die Ökonomie auch als Bereich rationalen Handelns für das gesamte Königreich und damit als Wert für den status regni konzipierte. Vom Hof zum Land verschob sich die Intentionalität. Eine Ordonnanz von Ludwigs Vater, Karl VII., vom September 1443 trug die Abwehr von Schäden für das Land und für das Volk - „le pays et le peuple“ als Anliegen vor, dem die Maßnahmen des Königs zur Erhebung von Steuern zu dienen haben; es ging konkret um die Bezahlung der angestellten Kriegsknechte, damit diese von Plünderungen abgehalten würden 22. Die Einrichtung der Ordonnanzkompanien, des ersten stehenden Heeres in der mittelalterlichen Geschichte Europas, stand damit in Zusammenhang. Die Bedürfnisse der Armee zu bedienen, war auch ein von Ludwig XI. häufig vorgetragenes Argument, und zwar ebenfalls mit der Behauptung verknüpft, daß es das Wohl des Landes, das „bien public“, zu mehren gelte. Dieser in der lateinischen Formulierung als utilitas publica bezeichnete Wert war ursprünglich vor allem dem Handeln von Gemeinden und Gemeindeverbänden vorbehalten, fand aber - als Argument im römischen Recht grundgelegt - Eingang in die politisch-ideologische Terminologie des französischen Königtums seit der Wende zum 13. Jahrhundert 23. Intensiviert wurde die Programmatik einer durch wirtschaftliches Handeln ermöglichten Wohlstandsmehrung durch König Ludwig XI. In einem Brief vom 29. September 1470 führte er aus, daß die Angelegenheiten des Warenverkehrs zu den wichtigsten Angelegenheiten gehörten, um das Leben seiner Untertanen zu verbessern 24. Der König hat in mehreren Ordonnanzen an die Städte Bordeaux und Caen die Mehrung des „bien publique“ einer einzelnen Stadt und ihres Umlandes als Ziel vorgegeben, damit aber auch „bien et utilite´ du Roy“ verknüpft, um dann in späteren Ordonnanzen - vor allem nach dem Tod seines Rivalen Herzog Karls des Kühnen von Burgund im Januar 1477 - das ganze Königreich und seine Bewohner als Nutznießer des allgemeinen Wohls vorzustellen 25. Das „bien public“ war ein politisches Schlagwort, wenn man so will, eine Etikettierung, die sehr wohl Absichten maskieren konnte, aber dennoch als wirksamer Kampfbegriff verwendet wurde, wovon Ludwig selbst wenige Jahre 22
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Documents re´latifs a` l’administration financie`re en France de Charles VII a` FrancX ois Ier (14431523), ed. G. Jacueton, Paris 1891, 1, 16. Das bonum commune zu sichern, war das Anliegen des französischen Königs Philipp II. in seinem Testament vom Juni 1190; Chartes et diploˆmes re´latifs a` l’histoire de la France: Recueil des actes de Philippe Auguste, ed. H. F. Delaborde, vol. 1, Paris 1916, 416 sqq.; cf. Brown, Royal Salvation (nt. 9); J. Krynen (ed.), Droit romain, ius civile et droit francX ais, Paris 1994; id., Repre´sentation, pouvoir et royaute´ a` la fin du moyen aˆge, in: J. Blanchard/P. Contamine (eds.), Actes du colloque organise´ par l’Universite´ du Maine 25-26 mars 1994, Paris 1995; P. Hibst, Utilitas Publica Gemeiner Nutz - Gemeinwohl. Untersuchungen zur Idee eines politischen Leitbegriffes von der Antike bis zum späten Mittelalter (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 497), Frankfurt a. M. etc. 1991. Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 4, 146 sq. Ordonnances (nt. 8), vol. 15, 451, 474-478, 604-607.
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nach seiner Thronbesteigung Kenntnis nehmen mußte, als 1465 eine Fürstenopposition, der auch sein jüngerer Bruder angehörte, unter dem Leitgedanken der Verteidigung des „bien public“ gegen den König Krieg führte. Die Absichten waren nur allzu durchsichtig, der Widerstand gegen die Zahlung der steigenden Steuern freilich um nichts weniger geeignet, Anhängerschaften jenseits des exklusiven Kreises der hochadligen Gegner des Königs zu finden, um so wichtiger also für diesen, das Wohl des Landes als Ziel seiner eigenen Politik zu reklamieren 26. Jean Juve´nal des Ursins hatte als Ziel der guten Politik die Bekämpfung der Armut ausgegeben und verband damit einen Katalog von Forderungen an den König, die die Entlastung der Untertanen von Steuern anmahnten, die, mit Geld reichlicher ausgestattet, dieses - als „sang de la chose publiques“ bezeichnet um so besser in Umlauf bringen könnten, wodurch der König profitiere, vor allem aber seiner Rolle als Wohlstandsmehrer und Produktionsförderer gerecht werde 27. Als Ludwig XI. im Februar 1468 für den kommenden April eine Versammlung von Ständevertretern nach Tours einberief, verkündete er die Absicht, das Los der „loiaulx subgez“ zu verbessern und für deren „bien et soulaigement“ zu sorgen und so auch „le bien de nous, de la coronne et due royaume“ zu fördern 28. Die Maßnahmen, die Ludwig anordnete, um den Handel mit Tuchen in Paris, der „ville capitale de tout nostre royaume“, zu fördern, begründete er im Mai 1477 und erneut im November 1479 damit, daß „prouffit de noz aydes et l’utilite´ de toute la chose publique de nostre royaume“ befördert würden, die er damit über die Interessen der einzelnen Stadt stellte. Die zentrale Funktion von Paris für den Tuchhandel ganz Nordfrankreichs mit den Städten Rouen, Lisieux, Bayeux, Bourges, Orle´ans und anderen wurde herausgestellt und die Störung dieses das Königreich erfassenden Handels durch - wie in der Ordonnanz ausdrücklich kritisiert wird - willkürliche Qualitätsanforderungen der Händler in Paris abzustellen befohlen. Produktionsstandards sollten vielmehr von der einzelnen Stadt auf das gesamte Königreich übertragen werden 29. Das allgemeine Wohl des gesamten Landes konnte mit dem einer einzelnen Stadt in Gegensatz geraten. Dann war der König gefordert. Er bestand auf der Herstellung eines großen Marktes; dieser vertrug sich nicht mit den Versuchen der Pariser Kaufleute, den Warenverkehr zu blockieren. Grenzen hat Ludwig freilich auch aufgerichtet, sie sollten aber denen des Königreiches oder zumindest seines Herrschaftsgebietes entsprechen. Kaufleuteversammlungen, wie sie in Tours 1470 und in Lyon 1477 stattfanden, wurden auf das „bien de la chose publique“ verpflichtet. Die Ambivalenz, wer der Nutznießer des allgemeinen Wohls wäre - sei es der König, die Gesamtheit der Bewohner oder ein als 26
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Commynes, Me´moires (nt. 11), vol. 1, 10; Gandilhon, Politique (nt. 8), 99; H. de Surirey de Saint-Remy, Jean de Bourbon, Paris 1944. Ecrits politiques de Jean Juve´nal des Ursins, ed. P. S. Lewis, vol. 2, Paris 1985, 435 sq., 440446. Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 3, 198 sqq. Ordonnances (nt. 8), vol. 17, 323 sqq., 573 sqq.; vol. 18, 512-516; Gandilhon, Politique (nt. 8), 184 sq.
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öffentliche Sache vorgestelltes Abstraktum -, war vermutlich gewollt und erleichterte den Konsens zugunsten einer nationalen Integration, deren ökonomische Basis erst geschaffen werden mußte 30. Wie sehr der Staat als Ganzes und eben nicht mehr einzelne Städte, Gewerbe oder Kaufleute Objekt königlichen Handelns wurde, zeigt sich auch an der Förderung von Gewerben: Hier wurde die Politik der isolierten Privilegierung zugunsten einzelner Wirtschaftsagenten überwunden, wurde das bloße Reagieren auf Suppliken der um Vergünstigungen bittenden Untertanen - also das Regierungshandeln durch Reskript 31- zwar nicht aufgegeben, aber Eingriffe in die Wirtschaft motu proprio vorgenommen. Nur so war das Königreich in seiner Gesamtheit zu fördern. Die Vorteile zu erkennen, wurde zur Aufgabe des Königs. Deutlich wird diese Tendenz einer die Interessen einzelner Städte negierenden und auf das gesamte Königreich orientierten Wirtschaftspolitik in den Versuchen Ludwigs, in seinem Königreich das Seidengewerbe anzusiedeln, um damit den Import italienischer Waren überflüssig zu machen. Es ging hierbei - wie stets bei seinen Interventionen in die Wirtschaft - darum, dem Abfluß von Edelmetall und Geld vorzubeugen. Für dieses Ziel war er auch bestrebt, ausländische Experten zu rekrutieren, selbst gegen erheblichen Widerstand in den Städten, in denen sie sich ansiedeln sollten. Produktionsstandort für die Herstellung von Seidengeweben war nach dem Willen Ludwigs zunächst Lyon: Steuerbefreiungen für die in diesem Gewerbe tätigen Handwerker, Anweisungen an seine Offiziere und an den städtischen Rat, sie zu unterstützen, Verbote konkurrierender Unternehmungen in anderen Städten ergingen seit dem Jahre 1466. Die nicht endende Opposition der städtischen Oberschicht war wohl der Grund für die von Ludwig 1470 angeordnete Übersiedlung der Produktion nach Tours, in die Nähe seiner Lieblingsresidenz, was die Durchsetzung seiner Absichten förderte und die Kontrolle ihrer Umsetzung erleichterte. Diese war notwendig, denn wie auch schon in Lyon gab es Widerstände, vor allem, weil die Stadt 1200 e´cus für die Einrichtung der Werkstätten zur Verfügung stellen mußte; und daß der Betrag zwei Jahre später auf 2000 e´cus erhöht wurde, machte die Angelegenheit nicht einfacher. Ludwig selbst versprach die Entsendung von Material und Experten. Der König hat seine Absichten den Bürgern von Tours genannt: Es ging darum, den Geldumlauf im Land zu halten, damit dem Mangel an Münzen abzuhelfen, ausländische Konkurrenz - wie die der Italiener - auszuschalten und „utilite´ et profit“ im Königreich zu steigern 32. Die Förderung der Messen von Lyon war gekoppelt mit Maßnahmen, den Handelsverkehr von den Messen in Genf abzuziehen. Wirtschaftliche Aktivität 30 31
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Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 4, 146 sq.; vo. 8, 4 sqq. E. Pitz, Papstreskript und Kaiserreskript im Mittelalter (Bibliothek d. Deutschen Hist. Instituts in Rom 36), Tübingen 1971. Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 3, 334 sqq.; vol. 4, 87 sq.; vol. 8, 337 sq.; Gaussin, Louis XI (nt. 7), 206 sq.; J. Heers, Louis XI, Paris 1999, 192-203, 397 sq.; Favier, Louis XI (nt. 7), 831834.
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sollte in das Herrschaftsgebiet des Königs gelenkt werden. Daher war die territoriale Fundierung von entscheidender Bedeutung. Freilich war diese keineswegs von vornherein stabil; die Existenz bedeutender großer fürstlicher Herrschaften und von Apanagen Familienangehöriger entzog weite Teile des Königreiches der unmittelbaren Sanktions- und Regelungsgewalt Ludwigs. Aber in dem Maße, wie die sukzessive Aneignung vieler Kronlehen gelang, erweiterte sich die territoriale Basis der wirtschaftlichen Interventionen und kam am Ende der Herrschaft Ludwigs XI. fast mit den Umrissen des Königreiches zur Deckung mit der gewichtigen Ausnahme des Herzogtums Bretagne. Nur auf der Basis einer gesicherten räumlichen Begrenzung waren die Versuche Ludwigs sinnvoll, Geld und Währung zu standardisieren. Ein einheitlicher Wirtschaftsraum war zu schaffen, in dem idealerweise nur die vom König autorisierten und in seinen Münzwerkstätten geprägten Münzen zirkulierten. Versuche hierzu hat Ludwig wiederholt unternommen. Kurz nach der Thronbesteigung beklagte er, daß viele ausländische Münzen in Frankreich umliefen, daß sie für wertvoller als die vom König ausgegebenen gehalten würden und daß dies den Abfluß von Edelmetall aus dem Königreich befördere und dies zum Schaden aller seiner Untertanen. Freilich mag der Schaden in Wahrheit und anders als Ludwig meinte, wohl nicht so groß gewesen sein, denn in der dispositio der Ordonnanz räumte er ein, daß „par manie`re de tole´rance“ seine Untertanen auch weiterhin fremde Münzen verwenden dürften, wenn sie so besser ihre Geschäfte abwickeln könnten. Ludwig verfügte aber fixe Wertrelationen zu den Währungen. Anordnungen dieser Art wurden wiederholt erlassen, so im Dezember 1473 nach Beratung mit einigen „gens de finance“. Inspektoren setzte er ein, die in ihren jeweiligen Einsatzgebieten - Frankreich wurde hierzu in vier Bezirke aufgeteilt - über die Einhaltung der festen Wechselkurse zu wachen hätten. Die Erwartung, stabile Umrechnungswerte oktroyieren zu können, war aber wohl selbst beim König gering, weswegen Ausnahmen erlaubt wurden, sofern die fremden Währungen höherwertig seien und keinen Schaden anrichteten 33. Offensichtlich ging es darum, möglichst viel Edelmetall im Land zu halten, was durch eine Überbewertung der heimischen Währung erreicht werden sollte. Mit der Ausdehnung der Krondomäne nach dem Tod Herzog Karls des Kühnen schienen sich günstigere Aussichten auf die Durchsetzung einer einheitlichen Währung abzuzeichnen. Um das Währungsgebiet auf ehemals burgundisches Gebiet auszudehnen, befahl Ludwig, in Tournai nach Pariser Vorbild Münzen zu prägen. In den folgenden Jahren erließ er sogar Verfügungen, die den Umlauf fremder Münzen gänzlich untersagten. Freilich, das Ziel, eine einheitliche Währung im Königreich einzuführen, ist nicht gelungen, genausowenig wie die Schaffung einer unter königlicher Kontrolle stehenden Bank, die exklusiv den Zahlungsverkehr mit der Kurie abgewickelt hätte. Der König suchte den 33
Ordonnances (nt. 8), vol. 15, 14 sq., 261 sqq.; vol. 16, 233 sq., 471 sqq.; vol. 17, 24, 597, 619, 659; vol. 18, 143-148, 206, 265; Lettres de Louis (nt. 8), vol. 4, 208 sq.; vol. 5, 241 sq.; vol. 7, 283 sq.; Gandilhon, Politique (nt. 8), 340 sq.; Gaussin, Louis XI (nt. 7), 217 sqq.
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einheitlichen Währungsraum durch die Kooperation der wirtschaftlich Agierenden zu erreichen, war sich also durchaus der Problematik der herrscherlichen Durchsetzungsfähigkeit bewußt 34. Er berief im Mai 1479 eine Versammlung von jeweils zwei Kaufleuten aus den „bonnes villes“ - aus den dem Königtum eng verbundenen großen Städten - ein, die Maßnahmen beraten sollten, um den Export von Münzen einzudämmen 35. Wie sehr die zwei Rationalitäten - die auf die kleinräumige Region bezogene und die das ganze Königreich erfassende - in Konflikt gerieten, erweist sich bei den Reaktionen auf die verheerenden Überschwemmungen und Ernteausfälle zu Anfang der achtziger Jahre. Die Baillis und Se´ne´chaux der betroffenen Gebiete suchten die Lebensmittelversorgung zu sichern, indem sie die Ausfuhr von Getreide außerhalb der ihnen unterstellten Bezirke untersagten. König Ludwig XI. hingegen reagierte mit einem Befehl, am 7. Januar 1482 ausgestellt, der die freie Ausfuhr von Getreide in alle Gebiete des Königreiches erlaubte. Es ging um die Überwindung eines kleinräumigen Austausches zugunsten eines großen, das gesamte Königreich erfassenden Warenverkehrs, der damit einen Wirtschaftsraum konstituierte, der mit dem Herrschaftsraum zur Deckung gebracht werden sollte. Ludwig hat das Ziel eindeutig formuliert: „Voulans esqualite´ estre garde´e entre noz [...] subgetz et iceulx vivre en bonne paix et union et subvenir aux necessite´z les ungs des autres.“ Getreideexport außerhalb Frankreichs war weiterhin verboten 36. Die Vorteile des Handels sollten die Untertanen haben, um Teuerung und Hungersnot abzumildern. Folglich richtete sich der Befehl nicht allein gegen eine kleinräumige Optimierung des Warenaustausches, sondern auch gegen die Hortung von Getreide durch einzelne Kaufleute. Der König hat die Dominanz der Ökonomie eines ganzen Landes gegenüber der von kleinen Einheiten und gegenüber der des einzelnen Haushalts gefordert. Provinzielle Märkte galt es durch einen nationalen Markt zu ersetzen. Die Wirtschaftslenkung sollte von Einzelhaushalt, Kommune und Umland auf den Staat übertragen werden. Die räumliche Basis der Handelsströme sollte erweitert werden. Daher ist die Verordnung Ludwigs zum Getreidehandel nicht mit der Vorratshaltung der Städte zur Versorgung der eigenen Bevölkerung und auch nicht mit der päpstlichen annona des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit gleichzusetzen, genausowenig mit dem vom Deutschen Orden in Eigenregie betriebenen Getreideexport 37. Vielmehr ist die Maßnahme Ludwigs eine genuin wirtschaftspoliti34 35
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Gandilhon, Politique (nt. 8), 329-333, 358 sq.; Favier, Louis XI (nt. 7), 856 sq. Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 8, 4 sqq., 20 sq.; B. Chevalier, Pouvoir central et pouvoirs des bonnes villes en France aux 14e et 15e sie`cles. Renouveau et apoge´e, Paris 1985. Archives municipales de Lyon, HH1, Chappe IV, 383, n. 8; Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 5, 317 sq.; Gandilhon, Politique (nt. 8), 145 sq., 149-156; G. Duby, L’e´conomie rurale des campagnes dans l’Occident me´die´vale, Paris 1962; Gaussin, Louis XI (nt. 7), 294 sq. W. Schoch, Die öffentliche Getreideversorgung in Basel im Spätmittelalter, in: Medium Aevum Quotidianum 34 (1996), 48-67; V. Reinhardt, Überleben in der frühneuzeitlichen Stadt: Annona und Getreideversorgung in Rom 1563-1797 (Bibliothek d. Deutschen Hist. Instituts in Rom 72), Tübingen 1991; J. Sarnowsky, Die Wirtschaftsführung des Deutschen Ordens in Preußen (1382-1454), Köln etc. 1993.
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sche Intervention, die eben mehr bezweckte als die Verteilung von Lebensmitteln, nämlich auf die Durchsetzung eines großräumigen Handelsverkehrs zielte, dessen räumliche Konfiguration sich mit dem Königreich deckte. Ein homogenisierter Wirtschaftsraum sollte das Optimum an Versorgung und Preisgestaltung ermöglichen, freilich nicht prima vista in einer langfristigen Perspektive, sondern als Palliativ in einer Notlage. Auch die Handelsboykotte und Kreditsperren, die Ludwig wiederholt verhängte, und ebenso die Handelsprivilegien, die er ausstellte, waren bestimmt von politischen Konstellationen, um Gegner zu schwächen und Verbündete zu gewinnen 38. In der Summe zielten die Anweisungen aber dann doch auf die Regulierung der Waren- und Geldströme und die Durchsetzung einer Grenze, die einen Wirtschaftsraum umschloß, wodurch eine Rationalität oktroyiert wurde, die Vorteile für die größere Einheit zu erreichen suchte, dabei Nachteile für kleinere Einheiten in Kauf nahm und in kämpferischer Abwehrhaltung sich dem Wirtschaftsraum außerhalb des Königreiches nur öffnete, insofern Regulatorien den Handel begrenzten. Deswegen kann das öffentlich vorgetragene Ziel Ludwigs wie auch schon seines Vaters, eine gleichmäßige Besteuerung in seinem Königreich durchzusetzen, auch nicht allein aus dem Motiv der Einnahmesteigerung erklärt werden, weil verbriefte Steuerbefreiungen und -minderungen delegitimiert werden konnten, sondern ist ein Moment einer angestrebten Homogenisierung, die die Konsistenz des Königreiches als gleich verfaßte und eine unter gleichen Bedingungen handelnde Wirtschaftseinheit zum Ziel hatte, dergegenüber Sonderrechte, d. h. Privilegien, zurückzustehen hatten 39. Daß die angekündigten Maßnahmen mehr Absicht waren, als Wirklichkeit wurden, verweist auf die Defizite der Politik, deren Instrumente sich als unzureichend herausstellten. Vor allem ist das Vorhaben durch Ludwig selbst gründlich konterkariert worden, indem er jegliche rechtliche Basis bei der Erhebung von Einkünften mißachtete und in einer Manier konfiskatorischer Geldbeschaffung Summen einforderte, die mal als Kredite - ohne reale Aussicht, jemals zurückgezahlt zu werden -, mal als Sonderzahlungen wegen besonderer Notlagen oder dringlicher Vorhaben - die aber die Tendenz hatten, sich zu verstetigen -, dann wiederum als Steuervorausleistungen oder als vorenthaltene Pensionen und Gehälter klassifiziert werden können, deren Höhe aber stets von den wechselnden Konstellationen von Macht und Abhängigkeit, also von der Durchsetzungsfähigkeit von Geldforderungen, bestimmt war. Eine gleichmäßige, gar für die Städte und für die Untertanen berechenbare Besteuerung war damit ausgeschlossen, die Rhetorik Lügen gestraft. Ein hastiges und kurzfristigen Zahlungsverpflichtungen nacheilendes Handeln war die Folge, das insofern für die wirtschaftliche Entwicklung schädlich war, als Planungssi38
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Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 3, 251 sq., 263 sq.; vol. 4, 125 sq., 146 sq.; vol. 5, 36 sqq.; vol. 6, 14-21; vol. 7, 265 sq.; vol. 10, 199-291, 356; Ordonnances (nt. 8), 16, 197-200; Gandilhon, Politique (nt. 8), 230 sqq., 375-381, 476; Favier, Louis XI (nt. 7), 847 sq. Documents re´latives a` l’administration (nt. 22), 90 sqq.; Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 6, 1417; vol. 8, 125 sq.
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cherheit für eingesetzte Kapitalien und für wirtschaftliche Unternehmungen unmöglich wurde 40. Als Zielvorgabe war die gleiche Besteuerung im ganzen Königreich gleichwohl von Bedeutung, war damit doch die Einheitlichkeit eines Raumes konzipiert, dessen politische Konsistenz die wirtschaftliche nach sich ziehen sollte, auch wenn sie aus Gründen der Machtsicherung nicht realisiert werden konnte. Die Interventionen Ludwigs in die Wirtschaft waren von Widersprüchen geprägt. Kurzfristige Ziele und Vorhaben überlagerten fast stets langfristige Projektionen. Aber diese bestanden und sie erfaßten die wirtschaftliche Prosperität. Als Ergebnis bleibt freilich ein ernüchterndes Bild: Mochte auch die Konsolidierung der Königsherrschaft gelungen und mochten auch die Einnahmen enorm gesteigert worden sein, so blieb die ökonomische Basis schwach, die nur insofern verbessert wurde, als die Kriegsschäden behoben und neue kriegerische Verwüstungen abgewendet wurden. Hinsichtlich der genuin ökonomischen Eingriffe war das Resultat aber bescheiden. Viele Maßnahmen Ludwigs scheiterten. Sie scheiterten nicht zuletzt deswegen, weil die Bedürfnisse des Königtums wirtschaftliche Aktivität behinderten. Es war für die eigene Ressourcengewinnung auf die Abschöpfung des Reichtums angewiesen und stand der Rationalität der Ökonomie und der Wohlstandsmehrung trotz aller zur Schau gestellten Fürsorge des Königs entgegen. Die Konkurrenz der politischen Akteure verlangte eine Steigerung der monetären Belastung. Möglichst hohe Geldsummen mußten bereitgestellt werden. Indem der König sie für Kämpfe, aber auch für die Vermeidung von Kriegen ausgab, wurden sie als vorteilhaft für das Land ausgewiesen, so insbesondere, nachdem es Ludwig am 29. August 1475 gelungen war, den englischen König Eduard IV. von einem Angriff auf Frankreich durch das Versprechen und auch die tatsächliche Zahlung enorm hoher Geldbeträge abzuhalten, wobei nicht vergessen wurde, den Vertrag mit Handelsabkommen zur Förderung des Warenexports nach England zu verbinden 41. Wohlstandsmehrung hatte vor allem eine symbolische Bedeutung, war aber gleichwohl für die ideologische Fundamentierung des Königtums unentbehrlich, vor allem, um den Einbruch königlicher Zuständigkeit in die Wirtschaft zu rechtfertigen. Daß dieser Einbruch dann für die finanziellen Bedürfnisse des Königs genutzt wurde, war insofern kein Widerspruch, als der König die traditionelle Rolle als Schützer von Land und Leuten nur mittels erweiterter Machtinstrumente wahrnehmen konnte, die die Gestaltung des Wirtschaftslebens einschlossen. Das Scheitern vieler Projekte - von der Ansiedlung neuer Gewerbe über die Einrichtung von Bergwerken und die Schaffung einer königlichen Handelsmarine bis zum Gießen von Kanonen und anderen Vorhaben - ist die Kehrseite einer bis dahin unbekannten Flut von Eingriffen in den Wirtschaftsprozeß. Die 40
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Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 4, 99, 180, 196; vol. 5, 39, 46, 154-158; Postan e. a. (eds.), Cambridge Economic History (nt. 15), 328. Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 6, 14-21; J. Calmette/G. Pe´rinelle, Louis XI et l’Angleterre (1461-1483), Paris 1930; Favier, Louis XI (nt. 7), 847 sq.
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mangelnde Kenntnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge war der zweite Grund für die Fehlschläge, die wirtschaftliche Schwäche Frankreichs im Vergleich zu den wirtschaftlich potenteren und als Vorbild wahrgenommenen Regionen - Norditalien und Flandern-Brabant - ein dritter. Erweitert wurde damit gleichwohl der Bereich des Politischen. Diese Schaffung einer zwar nur rudimentär ausgeprägten, aber intentional durchaus konzipierten „Nationalökonomie“ haben Forscher als modernisierenden Grundzug der Wirtschaftspolitik Ludwigs XI. gedeutet. Dabei ging man bis zu der Auffassung, Ludwig sei Verfechter eines „socialisme d’Etat“, wie es Re´ne´ Gandilhon in seinem 1940 erschienenen Werk und auch Pierre Boissonnade formulierten, oder eines „capitalisme d’Etat“, so der Begriff, den Jacques Heers in seinem 1999 publizierten Werk über Ludwig XI. vorschlug 42. Der Vorwurf des Anachronismus mag naheliegen, die den Begriffen zugrundeliegenden Überlegungen erweisen den König aber tatsächlich als den Wegbereiter eines Neuen, bisher in dieser Intensität nicht Vorhandenen. Neu waren dabei weniger die Einzelmaßnahmen als vielmehr ihre Summierung und ihre Orientierung auf ein Ziel hin, das in der Schaffung einer den Interventionen des Königs offenstehenden und ihrer bedürfenden Wirtschaft des Landes bestand. Das „bien public“ wurde zum Wert erhoben, zu dessen Beförderer der König sich deklarierte. Wollte der König Ludwig XI. sich nicht darauf beschränken, eine Identität von Königtum und allgemeinem Wohl, das a priori bestehen würde, nur zu behaupten, mußte er durch Maßnahmen das Wohl zu fördern suchen. Betätigungsfeld war vor allem, aber nicht nur, die Wirtschaft. Die Ökonomie war auf den Staat zu projizieren, damit vom Haus abzulösen und als gesamthafte Verbindung zu konzipieren. Objekt der wirtschaftspolitischen Maßnahmen war ein Abstraktum, der Staat, für dessen Kennzeichnung es zwar noch keine spezifische Begrifflichkeit gab, vielmehr mit respublica, regnum oder status regni umschrieben wurde, der gleichwohl vermehrt Realität wurde mit immer größeren Auswirkungen auf das Leben der Bewohner Frankreichs 43. Wirtschaftspolitik wurde zum Movens in der Entwicklung frühmoderner Staatlichkeit. Die Verdichtung von Regelungsprozessen erweiterte erheblich den Bereich, der der Einwirkung durch den König und seinen Beauftragten unterstand. Ähnlich wie im deutschen Reichsgebiet, wo analoge, freilich schwächer ausgebildete Vorgänge abliefen, waren es die Bedrohungen von außen - durch die englischen Herrscher und die Burgunderherzöge -, die zur Erhöhung der Regelungsdichte und zur Erweiterung der Interventionen des königlichen Hofes - eben auch in das Wirtschaftsleben - führten. Die Veränderungen werden im Vergleich zwischen Ludwig XI. und seinem Vorgänger und Vater Karl VII. deutlich. Überließ dieser bis 1451 die geschäftlichen Transaktionen, die Ausbeutung von Edelmetallvorkommen und die Ge42 43
P. Boissonnade, Le Socialisme d’Etat, Gene`ve 1977, 3-7; Heers, Louis XI (nt. 32), 192. N. Bulst/R. Descion/A. Guerreau (eds.), L’Etat ou le Roi. Les fondations de la modernite´ monarchique en France (14e-15e sie`cles), Paris 1998.
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winnung von Krediten zugunsten des königlichen Haushalts dem Großkaufmann Jacques Coeur, so erweiterte jener die Eingriffe des königlichen Haushalts auf alle Tätigkeitsfelder, die einst der enteignete und verfehmte Geschäftsmann betrieben hatte 44. Das etwa für die Waffenproduktion erforderliche Kapital war angesichts des technologischen Fortschritts in der Artillerie größer, wurde nun aber vom König selbst zur Verfügung gestellt und blieb unter seiner Kontrolle. Ludwig selbst richtete Produktionsstätten ein 45. Zwar restituierte Ludwig Teile von dem einstigen Besitz von Coeur an dessen Sohn Geoffroy, aber es war der König selbst, der die Geschäfte zu führen gedachte, den Sohn des einst Enterbten sowie dessen wichtigsten Geschäftsführer Guillaume de Varye in seine Dienste nahm und die Beziehung zu ihnen in ein hierarchisches Verhältnis überführte, das eine Mitunternehmerschaft an den Angelegenheiten des Hofes ausschloß und damit eine Herrschaftspraxis zu beenden suchte, die typisch war für das Regierungshandeln im späten Mittelalter. Es entstanden königliche Monopole, u. a. die des Handelsverkehrs in den Orient, betrieben zwar von Kaufleuten und durchaus auf eigene Rechnung, aber eingesetzt vom König. Das Unterdrücken von Konkurrenz und die rigide Abschottung exklusiver Märkte bedienten sich der außer-ökonomischen Macht, waren aber zugleich wichtige Voraussetzungen für die Rentabilität der mit enormen Summen betriebenen Unternehmungen. Gelder, von den Ständen der Languedoc bewilligt, verwendete Ludwig zum Bau zweier Handelsschiffe im Jahre 1464, kurz darauf von zwei weiteren 46. Die „naivgaige de France“ war zu schützen, auch mit politisch-militärischem Druck, so im Juni 1472, als Re´ne´ von Anjou eines der Schiffe beschlagnahmen ließ 47. Der königlichen Handelsmarine wurden nach dem Anfall der Grafschaft Provence 1481 mit der Stadt Marseille neue Stützpunkte zugewiesen und damit günstigere Bedingungen gewährt. Als die Erfolge der hier nur skizzierten Maßnahmen letztlich nicht eintraten, suchte der König nach neuen Lösungen, ließ eine Versammlung von Vertretern von zehn der wichtigsten Städte im Januar 1482 einberufen und konfrontierte sie mit der Forderung, daß die Beteiligten ein königlich geschütztes Monopol des orientalischen Gewürzhandels einrichten sollten. Trotz des Widerstandes der Versammelten beharrte der König auf seiner Forderung. Das neue Monopol blieb freilich umstritten. Kurz vor seinem Tod hat Ludwig nach weiteren Protesten von Städten und Kaufleuten den freien Handel am 10. Juni 1483 erlaubt 48. Der Mißerfolg war hier offensichtlich. Der wirtschaftliche Vorsprung der italienischen Städte, der auch ein Vorsprung des ökonomischen Know-hows war, war dafür ebenso der Grund wie der Kapitalmangel in den französischen Städten, 44
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46 47 48
Ordonnances (nt. 8), vol. 16, 61 sqq.; M. Mollat, Jacques Coeur ou l’esprit d’entreprise au 15e sie`cle, Paris 1988; Heers, Louis XI (nt. 32), 192 sq., 202, 397 sq. Gandilhon, Politique (nt. 8), 199-209; K.-H. Ludwig/V. Schmidtchen, Metalle und Macht 1000-1600 (Propyläen-Technik-Geschichte 2), Berlin 1992, 356-392. Heers, Louis XI (nt. 32), 193 sqq. Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 5, 8 sq. Gandilhon, Politique (nt. 8), 257.
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so daß selbst eine von oben angeordnete Akkumulation die Positionierung gegenüber der Konkurrenz im hart umkämpften Mittelmeerhandel nicht ändern konnte 49. Die zeitgenössische Situation Portugals und Kastiliens war daher insofern eine andere, als die überseeische Expansion auf reservierten Routen erfolgte. Die Praxis war dabei durchaus der französischen ähnlich, freilich mit ganz anderen Folgen, was den Erfolg betraf, und mit Folgen, die Weltgeschichte machten. Da das Königtum zum Promotor wirtschaftlicher Entwicklung wurde, da es die großen Kapitalien schuf und ihnen den großen Markt öffnete, waren die Ergebnisse der Machtkonkurrenz entscheidend, damit entstanden aber neben den ökonomischen weitere Unsicherheiten. Außerhalb Italiens, außerhalb eines florierenden Bankgewerbes also und abseits großer Kapitalkonzentrationen, war wirtschaftliche Dynamik auf die Initiative durch die politische Herrschaft angewiesen. Der Interventionismus war auch Resultat wirtschaftlicher Rückständigkeit, er war Kompensationsstrategie. Ludwig XI. war der letzte, der dies nicht gesehen hätte. In einer Ordonnanz zur Errichtung von Bergwerken zur Edelmetallförderung vom September 1471 erachtete er die Maßnahme für notwendig, um sich der „totalle ruine“ des Königreiches entgegenzustemmen. Ohne die durch ihn verfügte „provision“ würde sie unweigerlich eintreten. Um den Rückstand aufzuholen, war daher die Gewinnung von ausländischen Experten notwendig. Der vom König konstatierte Mangel an Wissen und Fertigkeiten war nur so zu beheben 50. In einer angestrengten und Anstrengung herausfordernden Weise galt es, den Entwicklungsabstand aufzuholen. Letztlich waren es dann doch die großen westeuropäischen Monarchien, die das am Ende des 15. Jahrhunderts so unvergleichlich wirtschaftsstärkere Italien überflügelten und Erfolg hatten, weil sie über einen großen Markt verfügten und damit den Wandel von der Stadtwirtschaft zur Nationalwirtschaft einleiteten. Die Rolle des Königs war im Mittelalter traditionell mit der Vermehrung von Gütern verbunden. Die in der Person des Königs vereinigten drei Funktionen die der Sakralität, der militärischen Aktivität und die der Prosperität - begründeten die Pflicht, für das Wohl der Untertanen zu sorgen. Durch Mildtätigkeit galt es, das Los der Armen zu lindern, durch Wunder Kranke zu heilen, durch numinose Einwirkung gegen Überschwemmungen und Trockenheit vorzubeugen und für reiche Ernten zu sorgen. Die zunehmende Rationalisierung, die weniger auf den privilegierten Zugang des Königs zur religiösen Sphäre, sondern vielmehr auf dessen Ordonnanzen, Reformen und Gesetze vertraute und Maßnahmen gegen ungerechte Zölle, gegen Wucher und gegen den Umlauf minderwertigen Geldes setzte, diese Tendenz läßt sich seit dem 13. Jahrhundert beobachten und verband sich bei König Ludwig IX., dem Heiligen, zwar weiterhin 49
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G. Luzzatto, Storia economica d’Italia, vol. 1: L’Antichita` e il Medio Evo, Rom 31963; P. Jones, Economia e societa` nell’Italia medievale, Turin 1980; R. A. Goldthwaite, The Medici Bank and the World of Florentine Capitalism, in: Past and Present 114 (1987), 3-31. Ordonnances (nt. 8), vol. 17, 446-454.
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mit der Aura gottbefohlener Sorge um das Wohl des Königreiches, verlangte aber eine Revision des Bestehenden, die als Reform ausgegeben wurde, und forderte zur Intervention in die Lebensumstände der Untertanen heraus. Sein Handeln setzte Maßstäbe für alle Nachfolger. Das Ideal bestand in der Abstellung von Mißständen, und nur insoweit waren Eingriffe in die Wirtschaft nötig und denkbar 51. König Ludwig XI. verband am Ende des Mittelalters aber mit der Sorge um den status regni eine wohlstandsmehrende Politik, die zwar eine religiöse Fundamentierung durchaus einschloß und auch Gebete für Frieden und Wohlergehen einsetzte 52, aber für die Begründung des Handelns zusätzlich aus immanent weltlichen, d. h. politischen und wirtschaftlichen Argumenten schöpfte und auf eine diesseitige Verbesserung der Lebensumstände ausgerichtet war. Nicht mehr allein aus den Quellen der „religion royale“, sondern zunehmend auch aus denen der Daseinsfürsorge schöpfte das Königtum seine Legitimität 53. Das „bien public“ wurde zu einem Wert, der ein Handeln erforderte, das dem entstehenden Staat neue Verantwortung auf dem Feld der Wirtschaft übertrug. Nicht mehr allein um Mißstände oder um Katastrophen abzuwehren, sondern um Produktion und Ertrag durch wirtschaftliches Handeln zu mehren, intervenierte der König. Die Regierung von Ludwig XI. von Frankreich war eine wichtige Etappe bei dieser Veränderung des Politischen, die die Geschicke der okzidentalen Gesellschaften bis in die Gegenwart prägen sollte. Die „mission providentielle“ bürdete dem Herrscher Verantwortung auf, die er zu erfüllen zwar nicht in der Lage war, die zu reklamieren aber gleichwohl notwendig erschien, um seiner herrscherlichen Funktion Legitimität zu verleihen und um so überhaupt handlungsfähig zu sein und Handlungsfähigkeit zu demonstrieren 54. Die durch Programmatik und Pragmatik des königlichen Handelns heraufbeschworene Dynamik hinterläßt damit einen anderen Eindruck als den eines elegischen Herbstes, war vielmehr Fortsetzung, nicht Bruch, und war zugleich Neuanfang. Es war die Entfaltung einer neuen Rationalität, die sich weder einer wie auch immer definierten „Renaissance“ zuordnen läßt und auch nicht als Abstoßung des Mittelalterlichen gelten kann. Es handelte sich vielmehr um das Ausgreifen herrscherlicher Zuständigkeit und damit um eine Expansion von deren Legitimität. Traditionsbindung stand dem nicht entgegen, vielmehr ermöglichte sie die Steigerung monarchischer Gewalt, indem auf der Basis gesicherter Macht und Spitzenposition Neuerung gewagt werden konnte 55. 51 52
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J. Le Goff, Saint Louis, Paris 1996. So in einer Anweisung an den Bischof von Mende vom 3. Januar 1477 - also zu einer Zeit, als die Schwächung des Burgunderherzogs die Hoffnung auf eine Wiederherstellung von Frieden und Eintracht im Königreich nährte. Im gesamten Königreich hatten im Mai 1472 Prozessionen und Gebete stattgefunden, die gleichfalls für „paix et union du royaume de France“ baten; Lettres de Louis XI (nt. 8), vol. 6, 34 sq.; Jean de Roye, La Chronique Scandaleuse, ed. B. Mondrot, vol. 1, Paris 1896, 264. O. Guillot/A. Rigaudie`re/Y. Sassier, Pouvoirs et institutions dans la France me´die´vale. Des temps fe´odaux aux temps de l’Etat, vol. 2, Paris 21998, 38-52. Boissonnade, Socialisme (nt. 42), 7. Postan e. a. (eds.), Cambridge Economic History (nt. 15), 333-338.
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König Ludwig XI. - seiner traditionsgesättigten Position sicher - richtete sein Ziel auf die Vermehrung materieller Ressourcen im gesamten Herrschaftsgebiet. Auch dieses Handeln war auf Transzendenz angewiesen: auf die Existenz einer die Generationen überdauernden und von Personen abstrahierenden politischen Formation, auf den Staat. Ihm war die Aufgabe anvertraut, für die Verbesserung des diesseitigen Lebens zu sorgen, und zwar für die Gesamtheit der Untertanen. Mittel hierzu war die Intervention in die Wirtschaft. Rechtfertigung war das allgemeine Wohl. Befördert wurde dieser Wandel, der das französische Königtum zum Agens der Ökonomie machte, erstens durch die politische Stabilisierung nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges, zweitens und damit verbunden durch die enormen finanziellen Belastungen und drittens durch den Wiederaufbau, die Reparatur und die wirtschaftliche Reorganisation eines ruinierten und geschundenen Landes. Das Ergebnis bestand freilich nicht in der Schaffung einer Staatswirtschaft, es ging um etwas viel Grundlegenderes und erst noch zu Schaffendes, um die Entstehung des Staates selbst, der etwas anderes war als die auf Dynastie und Hof zentrierte Herrschaft. Indem sich die Perspektive vom Hof auf das Land verschob, veränderten sich auch die Parameter des herrscherlichen Verhaltens, dessen Sorge um das allgemeine Wohl eine allumfassende Zuständigkeit reklamierte. Es ging aber um mehr als nur um eine quantitative Erweiterung. War bislang die Rolle des Königs vornehmlich reagierend - als derjenige, der Urteile fällt, Bitten und Beschwerden entgegennimmt und Reformen zur Abstellung von Mißständen anordnet -, so kam nunmehr ein zukunftsgewandtes Moment hinzu, bei dem der König - auch unabhängig von Eingaben - Optimierungsstrategien entwickelte. Der Vorgang ordnet sich ein in einen säkularen Prozeß, der die Entstehung des Staates oder, wie die französische Geschichtswissenschaft formuliert, die „ge´ne`se de l’Etat moderne“ antreibt 56. Es handelt sich also bei dem, was sich in der Wirtschaftspolitik König Ludwigs XI. von Frankreich besonders deutlich, aber keineswegs exklusiv abzeichnet, um Vorbereitung und Aufbruch, also um das Gegenteil von Hinscheiden und Ausklang. Es konnte auch gar nicht anders sein, insofern die mittelalterlichen Voraussetzungen keineswegs abgestreift wurden, vielmehr Voraussetzungen darstellten. Die künstliche Epochengrenze setzte keinen Endpunkt, schon gar nicht für die Zeitgenossen - dies ein gewichtiger Unterschied gegenüber dem Ende der Antike 57. Das Neue entstand also nicht auf den Trümmern des hinfälligen Alten, sondern wurzelte in einem kraftvollen Nährboden. Nicht Absterben, sondern Umwandlung, nicht Ausklang, sondern Anfang waren die Kennzeichen des endenden Mittelalters.
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Cf. supra nt. 14. L. Gatto, Viaggio intorno al concetto di medioevo, Rom 1977.
Zur Rezeption des römisch-kanonischen Rechts im spätmittelalterlichen Deutschland im Spiegel von Rechtsgutachten Eberhard Isenmann (Köln) Die von König Maximilian I. und den Reichsständen auf dem Wormser Reichstag von 1495 beschlossene Reform des königlichen Kammergerichts sieht vor, daß die Hälfte der urteilenden Beisitzer aus rechtsgelehrten Personen, d. h. im römisch-kanonischen Recht ausgebildeten Juristen, bestehen solle und daß korrespondierend dazu das Gericht nach „des Reichs gemainem rechten“, aber auch nach vorgebrachten partikularen Ordnungen, Gewohnheiten und Statuten zu richten habe 1. Tatsächlich saßen aber auch schon vor der Wormser Reformordnung im Kammergericht als dem höchsten Gericht des Reichs in beträchtlicher Anzahl gelehrte Räte, die sich in ihren Rechtsauffassungen am römischkanonischen Recht orientierten, das sie studiert hatten. So wurden 1495, abgesehen von den verfassungspolitischen Zielsetzungen der Reform im Hinblick auf eine institutionelle Selbständigkeit des Gerichts und seine Loslösung vom Königshof, lediglich eine Quotenregelung für das Verhältnis zwischen professionellen Juristen und mindestens rittermäßigen Adeligen sowie eine freilich wichtige gesetzliche Deklaration zur Geltung des gemeinen Rechts getroffen, wie dies bereits ein gutes halbes Jahrhundert zuvor in Reformentwürfen der Jahre 1438 2 und 1442 3 vorgeschlagen und zuletzt in der älteren Kammergerichtsreform Kai-
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Deutsche Reichstagsakten. Mittlere Reihe: Reichstagsakten unter Maximilian I., vol. 5: Reichstag von Worms 1495, bearb. von H. Angermeier, vol. I/1, Göttingen 1981, n. 342 (IV), 383-420, hier 384, 388; R. Smend, Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung, Weimar 1911, ND Aalen 1965. - Im folgenden handelt es sich um die leicht erweiterte und mit den notwendigsten Nachweisen versehene Fassung des auf der Kölner Mediaevistentagung gehaltenen Vortrags. Eine Monographie zu dem Themenbereich mit eingehenderen Interpretationen und auf breiterer Quellengrundlage wird vom Verfasser vorgelegt werden unter dem Titel: „Die gelehrten Juristen und das Recht. Zur rationalen und konstruktiven Durchdringung der Rechtsverhältnisse im spätmittelalterlichen Deutschland mit Hilfe des römisch-kanonischen Rechts“. Kurfürstlicher Landfriedensentwurf von 1438; Deutsche Reichstagsakten. Ältere Reihe, vol. 13, ed. G. Beckmann, Stuttgart - Gotha 1925, ND Göttingen 1957, n. 23, 444-450 (Art. 10); cf. den königlichen Entwurf: „ritter und gelerte lute“; ibid., n. 224, 453-458 (Art. 11). Reformvorschlag des Magdeburger Domherrn Dr. theol. Heinrich Toke; L. Weinrich (ed.), Quellen zur Reichsreform im Spätmittelalter (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 39), Darmstadt 2001, n. 30, 248 sq.
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ser Friedrichs III. von 1471 angelegt worden war 4. Schon längst waren jedoch gelehrte Juristen im Dienste von geistlichen und weltlichen Korporationen und Obrigkeiten sowie im Auftrag von Streitparteien beratend und prokuratorisch tätig. Die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts, die im römisch-deutschen Reich mit der Kammergerichtsreform am Ausgang des 15. Jahrhunderts zu einem maßgeblichen, für die Zukunft richtungsweisenden reichsgesetzlichen Einschnitt gelangte, ist eine fundamentale Tatsache der europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, der Kultur- und Bildungsgeschichte sowohl für das Mittelalter als auch darauf aufbauend für die frühe Neuzeit und die Moderne. Der in der Forschung etablierte, nicht unumstrittene, aber derzeit nicht ersetzbare Ausdruck ,Rezeption‘ stellt einen Arbeitsbegriff dar für die vielfältigen Formen des Eindringens und der Übernahme fremden Rechts, rechtspolitischer Zielsetzungen, der Surrogation fehlender normativer Regelungen, der Anpassung von Herkommen an die gelehrten Rechte oder auch nur einer nachträglichen Rationalisierung und Konzeptualisierung bestehender Rechtsinstitute und Rechtsverhältnisse. Die Aneignung von römisch-kanonischem Recht konnte vor allem seit dem 14. und 15. Jahrhundert mit rasch wachsender Intensität zu einer weitgehenden Durchdringung des Rechtslebens und der Rechtspflege führen mit den vielfältigen Aspekten des Rechtsdenkens, der Rechtsidee, des Prozesses, der interpretatorischen Rechtsanwendung und der Rechtsetzung, ferner zur rechtlichkonstruktiven Fundierung von herrschaftlichen Institutionen mit dem neuen Recht sowie zugleich zu einer dominierenden fachlichen Stellung der gelehrten Juristen 5. Die Rechtsgelehrten propagierten in Konkurrenz zu traditionalen Rechten die Geltung der wissenschaftlich durch Glossenapparate und Kommentare bearbeiteten Rechte. Obrigkeiten, Gerichte und Parteien ließen sich auf der anderen Seite von den gelehrten Juristen die Rechtslage und eventuell Prozeßstrategien gemäß den geschriebenen gelehrten Rechten darlegen. Herrschaften und Obrigkeiten nahmen die juristischen Experten in ihre Ratsgremien auf und beauftragten sie mit prokuratorischen und diplomatischen Aufgaben, deputierten sie in Schiedsgerichte und zum Teil vergleichsweise recht spät seit dem 15. Jahrhundert in ordentliche Gerichte und zogen sie zur Mitarbeit bei der 4
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K. Zeumer (ed.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. ed., Tübingen 1913, n. 170; F. Battenberg, Beiträge zur höchsten Gerichtsbarkeit im Reich im 15. Jahrhundert, Köln-Wien 1981, 74-79 (Art. 5). F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. ed., Göttingen 1967, 97-203; id., Zum heutigen Stand der Rezeptionsforschung, in: Festschrift für Joseph Klein zum 70. Geburtstag, ed. E. Fries, Göttingen 1966, 181-201, 200 („Arbeitsbegriff“); P. Bender, Die Rezeption des römischen Rechts im Urteil der deutschen Rechtswissenschaft (Rechtshistorische Reihe 8), Frankfurt a. M. e. a. 1979; W. Sellert, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit: Überblick, Diskussionsstand und Ergebnisse, in: H. Boockmann/L. Grenzmann/B. Moeller/M. Staehelin (eds.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, I. Teil (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, 228), Göttingen 1998, 115-166.
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Gesetzgebung heran. Die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts und die Tätigkeit juristischer Funktionseliten waren eine zukunftsweisende, die Moderne bis heute prägende Erscheinung und erweisen insoweit eine bereits im Mittelalter vorfindliche Modernität 6. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen und staatlichen 7 Fundamentalvorgang, der im Mittelalter seinen Ausgang nimmt, im späten Mittelalter für viele europäische Gemeinwesen und Reiche eine unumkehrbare Dynamik erhält und der im Zusammenhang mit der neuen und umfassenderen Rezeption der Aristotelesschriften und mit Erscheinungen des bereits hochentwickelten frühkapitalistischen Wirtschaftslebens eklatant der Vorstellung eines „Herbstes des Mittelalters“ widerspricht. Die Kombination von Faktoren wie die Wiederbelebung des Studiums der antiken Literatur, die Herausarbeitung des unbeschränkten Eigentumsbegriffs durch Juristen bürgerlichen Standes mit Hilfe römischer Rechtsprinzipien und die kapitalistischen Erscheinungsformen im ausgehenden 15. Jahrhundert war schon von Friedrich Engels als zukunftsweisende Entwicklungsdeterminante für die bürgerliche Welt herausgestellt worden 8 und findet sich in Max Webers triadischem okzidentalem Entwicklungsparadigma der sich auf weite Lebensbereiche erstreckenden Rationalisierung gesellschaftlichen Handelns, des Kapitalismus und des bürokratischen Staats wieder 9. Der entscheidende Durchbruch des auf gleichen methodischen Grundlagen in einem gewissermaßen dialektischen Prozeß wechselseitiger Beeinflussung aus römischem und kanonischem Recht zur Synthese gelangten ius commune, des „gemeinen Rechts“ 10, erfolgte in Deutschland regional und nach Herrschafts6
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E. Isenmann, Die Modernität der mittelalterlichen Stadt, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 99 (2001), 63-82; wirtschaftlich id., Die Bedeutung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte für die Allgemeine Geschichte des Mittelalters, in: G. Schulz e. a. (eds.), Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete - Probleme - Perspektiven. 100 Jahre Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG Beiheft 168), Stuttgart 2004, 469-524. Zu Elementen von Staatlichkeit im Mittelalter cf. E. Isenmann, Art. ,Staat‘, in: Lexikon des Mittelalters, vol. VII, München 1995, col. 2151-2156. Friedrich Engels, Die drei großen Entscheidungsschlachten des Bürgertums gegen den Feudalismus, in: Marx-Engels-Lenin-Stalin, Zur deutschen Geschichte, vol. 1, Berlin/Ost 1953, 179; id., Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie, in: Marx-Engels-Werke, vol. 21, Berlin/Ost 1969, 397, 400. Cf. dazu K. Schreiner, Die mittelalterliche Stadt in Webers Analyse und die Deutung des okzidentalen Rationalismus. Typus, Legitimität, Kulturbedeutung, in: J. Kocka (ed.), Max Weber, der Historiker (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 73), Göttingen 1983, 136-138. Zur Rationalisierungsthese Max Webers und nachfolgend des Rechtshistorikers Franz Wieacker cf. G. Dilcher, Die stadtbürgerliche Gesellschaft und die Verrechtlichung der Lebensbeziehungen im Wandlungsprozeß zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Boockmann e. a. (eds.), Recht und Verfassung I (nt. 5), 93-114, bes. 95 sq., 101 sq., 103 sq.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte (nt. 5), bes. 68-70, 93 sq., 129-133, 151 sq. G. Dolezalek, Art. ,Jus utrumque‘, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, vol. II, Berlin 1978, col. 502-504; U. Wolter, Ius canonicum in iure civili. Studien zur Rechtsquellenlehre in der neueren Privatrechtsgeschichte (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte 23), Köln - Wien 1975. Zur Verflechtung zwischen den Studien der Legistik und der Kanonistik
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trägern unterschiedlich im Spätmittelalter in einem chronologisch noch nicht genau geklärten Zeitraum von etwa 1300/1350 bis 1500 11. Grundlagen waren bekanntermaßen der Aufschwung der legistischen Rechtswissenschaft seit der Wiederentdeckung der Digesten mit der Ausbildung der Glossatoren- und Kommentatorenschulen und die Epoche des sogenannten klassischen kanonischen Rechts vom 12. bis zum 14. Jahrhundert 12 mit legistischen und kanonistischen Zentren der Rechtswissenschaften in Oberitalien (Bologna, Padua, Pavia), Südfrankreich (Montpellier, Orle´ans) und in Paris, ferner die Verbreitung rechtswissenschaftlicher Schriften 13 und der sozial- und bildungsgeschichtliche Vorgang der Entstehung eines gelehrten Juristenstandes schon seit dem 12. Jahrhundert
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cf. W. Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption (Recht und Geschichte 1), Wiesbaden 1962, 102-115. In einem gutachtlichen Urteilsvorschlag von 1456 führt der Glossator des Sachsenspiegels und damalige Ordinarius der Leipziger Juristenfakultät Dr. Dietrich von Bocksdorf aus, daß das weltliche und das geistliche Recht zur Lösung von Rechtsfragen insoweit als eine sich wechselseitig ergänzende Einheit zu betrachten sind, als ein Recht das andere zur Hilfe nimmt, wenn es erforderlich ist; und „wo es an einem felit, mag man daz andern zcu hulffe nehmen“. H. Böhlau, Aus einem Kopialbuche [Volumen ingens consiliorum?] Dieterichs von Bocksdorf, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte 13 (1878), 520. Gesamtübersichten: P. Koschaker, Europa und das römische Recht, 4. ed., München - Berlin 1966; Wieacker, Privatrechtsgeschichte (nt. 5), 97-203; H. Coing (ed.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, vol. 1: Mittelalter (1100-1500). Die gelehrten Rechte und die Gesetzgebung, München 1973; M. Bellomo, The Common Legal Past of Europe 1000-1800, Washington 1995; E. Cortese, Il diritto della storia medievale, 2 vol., Roma 1995; H. Lange, Römisches Recht im Mittelalter, vol. 1: Die Glossatoren, München 1997; H. Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext, 9. ed., Heidelberg 2001, 35-67; O. Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, vol. 2, Braunschweig 1864, 9 sqq.; W. Modderman, Die Reception des römischen Rechts, übersetzt von K. Schulz, Jena 1875; Trusen, Anfänge (nt. 10); H. Coing, Römisches Recht in Deutschland (Ius Romanum Medii Aevi, Pars V, 6), Mediolani 1964; W. Stelzer, Die Rezeption des gelehrten Rechts nördlich der Alpen, in: S. de Rachewiltz/J. Riedmann (eds.), Kommunikation und Mobilität im Mittelalter. Begegnungen zwischen dem Süden und der Mitte Europas (11.-14. Jahrhundert), Sigmaringen 1995, 231-247; O. Hageneder, Die Übernahme kanonistischer Rechtsformen im Norden, in: ibid., 249-260; I. Baumgärtner, Kontinuität und Wandel in Literatur und Praxis des gelehrten römischen Rechts, in: P. Segl (ed.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt, Sigmaringen 1997, 173186. S. Kuttner, The Revival of Jurisprudence, in: R. L. Benson/G. Constable/C. D. Lanham (eds.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, Cambridge Mass. 1982, 299-323; H. G. Walther, Die Anfänge des Rechtsstudiums und die kommunale Welt Italiens im Hochmittelalter, in: J. Fried (ed.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters (Vorträge und Forschungen 30), Sigmaringen 1986, 121-162; P. Landau, Die Durchsetzung neuen Rechts im Zeitalter des klassischen kanonischen Rechts, in: G. Melville (ed.), Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde (Norm und Struktur 1), 1992, 139-155. W. Stelzer, Gelehrtes Recht in Österreich von den Anfängen bis zum frühen 14. Jahrhundert (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Erg.-Bd. 6), Wien - Köln Graz 1982; J. Fried, Die Rezeption Bologneser Wissenschaft in Deutschland während des 12. Jahrhunderts, in: Viator 21 (1990), 103-145.
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in Italien 14, in Deutschland allmählich seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts 15. Die Rechtsstudenten 16 und Juristen waren zunächst durchweg Kleriker mit Weihen unterschiedlicher Art sowie mit Pfründen ohne Residenzpflicht, die in Kirche und geistlichen Korporationen Karriere machten und Pfründen und Amtspositionen fanden. Diese Kleriker als Fach- oder Berufsjuristen 17, die je14
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W. Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, Leipzig 1938, 42 sqq., 53 sqq.; J. Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte 21), Köln - Wien 1974; N. Horn, Soziale Stellung und Funktion der Berufsjuristen in der Frühzeit der Europäischen Rechtswissenschaft, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, vol. IV: Rechtsgeschichte, ed. G. Dilcher/N. Horn, München 1978, 125-144; H. Lange, Vom Adel des doctor, in: Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition. Symposion aus Anlaß des 70. Geburtstages von Franz Wieacker, ed. K. Luig/K. Liebs, Ebelsbach 1980, 279-294; I. Baumgärtner, „De Privilegiis doctorum“. Über Gelehrtenstand und Doktorwürde im späten Mittelalter, in: Historisches Jahrbuch 106 (1986), 298-332; F. Rexroth, Finis scientie nostre est regere. Normenkonflikte zwischen Juristen und Nichtjuristen an den spätmittelalterlichen Universitäten Köln und Basel, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994), 315-344; H. Boockmann, Die Lebenswelt eines spätmittelalterlichen Juristen. Das Testament des doctor legum Johannes Seeburg, in: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag, ed. L. Grenzmann/H. Herkommer/D. Wuttke, Göttingen 1987, 287-305; B. Immenhauser, Iudex id est rex. Formen der Selbstwahrnehmung gelehrter Juristen im späten Mittelalter, in: S. Kwiatkowski/J. Mattek (eds.), Ständische und religiöse Identitäten in Mittelalter und früher Neuzeit, Torun´ 1998, 43-61. Die Chronologie ist noch unsicher. Mit wenigen zeitlichen Daten Coing, Römisches Recht in Deutschland (nt. 11), 77-79; Trusen, Anfänge (nt. 10), 168-235. Zu juristisch gebildeten Klerikern im frühen 13. Jahrhundert in Köln cf. M. Groten, Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung (Städteforschung A, 36), 2. ed., Köln - Weimar Wien 1998, 45-50. H. Coing, Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm, in: id., Handbuch I (nt. 11), 51-128; H. de Ridder-Symoens, Deutsche Studenten an italienischen Rechtsfakultäten. Ein Bericht über unveröffentlichtes Quellen- und Archivmaterial, in: Ius commune 12 (1984), 287-315; J. Verger, Etudiants et gradue´s allemands dans les universite´s francX aises du XIVe au XVIe sie`cle, in: R. Ch. Schwinges (ed.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 18), Berlin 1996, 23-40; A. Sottili, Ehemalige Studenten italienischer Renaissance-Universitäten: ihre Karrieren und ihre soziale Rolle, in: ibid., 41-74; id., Nürnberger Studenten an italienischen RenaissanceUniversitäten mit besonderer Berücksichtigung der Universität Pavia, in: V. Kapp/F.-R. Hausmann (eds.), Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen (Erlanger romanistische Arbeiten 6), Tübingen 1991, 49-103; id., Tunc floruit Alamannorum natio: Doktorate deutscher Studenten in Pavia in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: W. Reinhard (ed.), Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts, Weinheim 1984, 25-44; H. Wachauf, Nürnberger Bürger als Juristen, Diss. iur. Erlangen-Nürnberg 1972; W. Maleczek, Deutsche Studenten an Universitäten in Italien, in: Rachewiltz/Riedmann (eds.), Kommunikation und Mobilität (nt. 11), 77-96; B. Immenhauser, Wiener Juristen. Zur Sozialgeschichte der juristischen Besucherschaft der Universität Wien von 1402 bis 1519, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 17 (1997), 61-102; J. Schmutz, Juristen für das Reich. Rechtsstudenten an der Universität Bologna 1265-1425, 2 Teile, Basel 2000. E. Genzmer, Kleriker als Berufsjuristen im späten Mittelalter, in: Etudes d’histoire du droit canonique de´die´s a` Gabriel Le Bras, vol. 2, Paris 1965, 1207-1236.
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doch meistens zugleich in das Gefüge der Kirche, geistlicher Korporationen und der Herkunft nach in die Adelswelt eingebunden waren, wurden aber auch von weltlichen Mächten in einzelnen Fällen um Rat in Rechtsfragen gebeten und für prokuratorische Dienste verpflichtet oder dauerhafter in Dienst genommen, bis etwa seit der Mitte des 15. Jahrhunderts im weltlichen Bereich Gelehrte aus dem Laienstand, bürgerliche Juristen, als reine, vielfach sehr mobile Funktionselite in besoldeten Dienstverhältnissen begannen, die Oberhand gegenüber den Klerikerjuristen zu gewinnen. Ein bestimmender oder entscheidender Impuls ging für die Rezeption der gelehrten Rechte und die Inanspruchnahme gelehrter Juristen von der Ausbildung des kanonischen Prozesses auf der Grundlage des römischrechtlichen Verfahrens und seiner Übernahme durch die geistliche Gerichtsbarkeit in der Figur des iudex delegatus und vor allem der Einrichtung der Offizialatsgerichtsbarkeit aus, in der gelehrtes Personal in verschiedenen Funktionen vom Richter bis zum Notar tätig war 18. In ihren Auseinandersetzungen mit Klerus und Kirche an der Kurie und vor den Offizialatsgerichten der Bistümer waren nunmehr auch die weltlichen Mächte - Königtum, Fürsten und Städte - genötigt, im Sinne der juristischen Waffengleichheit rechtsgelehrten Beistand zu suchen 19. Könige 20 und Fürsten 21 beschäftigten in ihren Kanzleien gelehrtes Personal und beriefen 18
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Trusen, Anfänge (nt. 10), 13-147; id., Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche, in: Coing, Handbuch I (nt. 11), 467-504; I. Buchholz-Johanek, Geistliche Richter und geistliches Gericht im spätmittelalterlichen Bistum Eichstätt (Eichstätter Studien, NF 23), Regensburg 1988. Eine eindringliche Vorstellung von den rechtlichen Konflikten etwa zwischen Rat und Bürgerschaft auf der einen und der Geistlichkeit und geistlichen Korporationen auf der anderen Seite vermittelt die Edition: Rat und Domkapitel von Hamburg um die Mitte des 14. Jahrhunderts, Teil 1: Die Korrespondenz zwischen dem Hamburger Rat und seinen Vertretern an der päpstlichen Kurie in Avignon 1337 bis 1359, bearbeitet von R. Salomon; Teil 2: Das Prozeß-Schriftgut aus den Streitigkeiten des Hamburger Rates und einzelner Bürger mit dem Domkapitel 1336 bis 1356, bearbeitet von J. Reetz (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg IX), Hamburg 1968/1975. P. Moraw, Gelehrte Juristen im Dienst der Könige des Spätmittelalters (1273-1493), in: R. Schnur (ed.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986, 77147; P.-J. Heinig, Gelehrte Juristen im Dienst der römisch-deutschen Könige des 15. Jahrhunderts, in: Boockmann e. a. (eds.), Recht und Verfassung I (nt. 5), 167-184. H. Lieberich, Die gelehrten Räte. Staat und Juristen in Baiern in der Frühzeit der Rezeption, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27 (1964), 120-189; id., Klerus und Laienwelt in der Kanzlei der baierischen Herzöge des 15. Jahrhunderts, ibid. 29 (1966), 239-258; D. Stievermann, Die gelehrten Juristen der Herrschaft Württemberg im 15. Jahrhundert. Mit besonderer Berücksichtigung der Kleriker-Juristen in der ersten Jahrhunderthälfte und ihrer Bedeutung für das landesherrliche Kirchenregiment, in: Schnur (ed.), Die Rolle der Juristen (nt. 20), 229271; D. Willoweit, Juristen im mittelalterlichen Franken, in: Schwinges (ed.), Gelehrte im Reich (nt. 16), 225-267; I. Männl, Die gelehrten Juristen im Dienst der Territorialherren im Norden und Nordosten des Reiches von 1250 bis 1440, ibid., 269-290; Ch. Hesse, Die Universität Erfurt und die Verwaltung der Landgrafschaft Hessen im Spätmittelalter, in: Personen der Geschichte - Geschichte der Personen. Studien zur Kreuzzugs-, Sozial- und Bildungsgeschichte. Festschrift für Rainer Christoph Schwinges zum 60. Geburtstag, ed. Ch. Hesse e. a., Basel 2003, 269-284.
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für ihre allgemeine rechtliche und politische Beratung, für Vertretung in Schiedsverfahren sowie für diplomatische Aufgaben promovierte Juristen in ihren Rat und in ihre Gerichte. Die Könige beauftragten seit dem frühen 15. Jahrhundert gelehrte Juristen ferner als Prokuratorfiskale mit der Wahrung der Rechte von König und Reich, mit der Verfolgung von Rechtsverletzungen und der Eintreibung der fällig gewordenen Strafgelder 22. Aber auch einzelne deutsche Städte, wie etwa Lübeck, waren nachweislich spätestens seit der Mitte des 13. Jahrhunderts darum bemüht, gelehrte Juristen für Rechtsberatung und rechtlichen Beistand zu gewinnen 23. Für eine kontinuierliche Rechtsberatung des Rates und auch des Stadtgerichts, die allerdings erst im frühen (Nürnberg) oder im späteren 15. Jahrhundert (Frankfurt am Main) üblich wurde, richteten einige Städte das besoldete Dienstamt des Stadtjuristen, Stadtadvokaten, Ratskonsulenten oder Syndicus ein 24. Landesherren und Städte mit eigenen Universitäten verpflichteten Gelehrte aus den Rechtsfakultäten für ihre Rechtsberatung und für prokuratorische und diplomatische Dienste. Außerdem konnte man Juristen mit Einverständnis ihrer Dienstherren für einzelne Fälle ausleihen. Die Tätigkeit von Rechtsgelehrten in den weltlichen Gerichten als Beisitzer oder ihre Funktion als gutachtliche Berater von Laiengerichten waren im Prozeß der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts ein relativ später Vorgang, der etwa seit dem früheren 15. Jahrhundert - bei grundsätzlicher Konkurrenz zwischen ständischen und obrigkeitlichen Rechtshonoratioren und einer überständischen gelehrten Funktionselite - in der königlichen und fürstlichen Herrschaftssphäre durch die Affinität von herrscherlichem Rat und Gericht gefördert und hinsichtlich der städtischen Gerichte vielfach durch Einlassungen der Parteienvertreter, die sich auf die gelehrten Rechte beriefen, provoziert wurde 25. 22
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J. Knolle, Studien zum Ursprung und zur Geschichte des Reichsfiskalats im 15. Jahrhundert, Diss. iur. Freiburg i. B. 1965; id., Art. ,Fiskalat‘, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, vol. I, Berlin 1964, col. 1134 sq.; Moraw, Gelehrte Juristen (nt. 20), 108, 113-115, 127 sq.; E. Isenmann, Kaiser, Reich und deutsche Nation am Ausgang des 15. Jahrhunderts, in: J. Ehlers (ed.), Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter (Nationes 8), Sigmaringen 1989,145-246, hier 235-245. Urkundenbuch der Stadt Lübeck, 2. Teil, Lübeck 1858, n. 25, 19 sq.; F. Keutgen, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte, 1901, ND Aalen 1965, n. 197, 257. In dem Vertrag mit dem Lübecker Ratsnotar Magister Heinrich von Wittenborn von 1270 war vorgesehen, daß dieser auch die Rechtsberatung der Stadt in Sachen des kanonischen Rechts übernehmen sollte. W. Ebel, Lübisches Recht, vol. 1, Lübeck 1971, 251. Cf. die Anstellung eines Juristen in Speyer 1322; Keutgen, n. 198, 257 sq. Trusen, Anfänge (nt. 10), 222-235; K. Wriedt, Das gelehrte Personal in der Verwaltung und Diplomatie der Hansestädte, in: Hansische Geschichtsblätter 96 (1978), 15-37; id., Gelehrte in Gesellschaft, Kirche und Verwaltung norddeutscher Städte, in: Schwinges (ed.), Gelehrte im Reich (nt. 16), 437-452; künftig E. Isenmann, Funktionen und Leistungen gelehrter Juristen für deutsche Städte im Spätmittelalter, in: Pratiques sociales et politiques judiciaires dans les ˆ ge (Collection de L’E´cole FrancX aise de Rome). villes de l’Occident a` la fin du Moyen A Für Frankfurt H. Coing, Die Rezeption des römischen Rechts in Frankfurt am Main (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Reihe 1), Frankfurt a. M. 1939, 187; Trusen, Anfänge (nt. 10), 233 sq.; ferner Isenmann, Funktionen und Leistungen (nt. 24).
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Mit der Anwendung römisch-kanonischen Rechts durch die in Dienst genommenen Juristen gerieten die vielfältigen regionalen und lokalen Gewohnheitsrechte und die Statutarrechte in ein Spannungsverhältnis zur lex universalis des ius commune, das zwar im römischen Recht selbst durch die Anerkennung des örtlichen ius proprium civitatis als ius civile und in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft durch die Statutentheorie grundsätzlich entschärft war 26; doch es resultierte aus der Konkurrenz und Kollision verschiedener Rechte für das Rechtsleben der Rezeptionszeit vielfach eine Rechtsunsicherheit, die man, wie etwa in Lüneburg durch festgelegte Rangfolgen der heranzuziehenden Rechte - „Sachsenspiegel“, „Kaiserrecht“ („Schwabenspiegel“), geistliches Recht und Präzedenzfälle - zu beseitigen versuchte 27. Es bedeutete eine grundsätzliche Option, ob Rat und Gericht für ihre Urteile Rechtsauskünfte bei dem an den gelehrten Rechten ausgebildeten städtischen Syndikus oder aber bei Schöffenstühlen des Oberhofes nach herkömmlichen Rechtsgewohnheiten einholten. Handelte es sich dabei etwa um den Magdeburger Schöffenstuhl, so erhielt man Auskunft nach dem in der Spruchpraxis des eidgenossenschaftlichen Verbandes der Magdeburger Stadtschöffen gewonnenen spezifischen Schöffenrecht, dem Recht von sozial geprägten Rechtshonoratioren 28, die sich durch Lebenserfahrung und empirisch gewonnene Rechtskenntnisse auszeichneten und ein kollektives Gedächtnis formten. Es war dies im Spätmittelalter ein selbstgenügsames Recht, das die auf gemeindliche Selbstregierung, öffentliche Sicherheit, Ordnung, Polizei und Markt abzielenden Willküren des Rates, die nicht dem eigentlichen „Recht“ zugeordnet wurden 29, und die weitgehend mit ihnen gleich26
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Bellomo, The Common Legal Past (nt. 11), 78-111; Schlosser, Grundzüge (nt. 11), 2 sq.; W. Wiegand, Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit (Münchener Universitätsschriften. Juristische Fakultät. Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 27), Ebelsbach 1977. E. Thurich, Die Geschichte des Lüneburger Stadtrechts im Mittelalter, Lüneburg 1960, 47-72, hier 59-61. Zum „Schwabenspiegel“ als „Kaiserrecht“ in einem gerichtlichen Gutachten für den Rat der Stadt Braunschweig von 1419 und in einem Prozeß vor dem Göttinger Rat als Schiedsinstanz im Jahre 1447 cf. J. Merkel, Der Kampf des Fremdrechtes mit dem einheimischen Rechte in Braunschweig-Lüneburg (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 19), Hannover - Leipzig 1904, 13, 16. Merkel selbst ging von einer Abfolge von Stadtrecht Landrecht - Kaiserrecht als römischem Recht einschließlich der Reichsgesetze - kanonischem Recht aus; cf. ibid., 26-28. Zu den Rechtshonoratioren und zur empirischen Lehre der Praktiker cf. M. Weber, Rechtssoziologie, ed. J. Winckelmann (Soziologische Texte 2), Neuwied 1960, 189-201. W. Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 24), 2. ed., Göttingen 1958, 21, 63; D. Willoweit, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: O. Behrends/Ch. Link (eds.), Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse, 3. Folge, 157), Göttingen 1987, 123 sq., 126 sq., 135-145; J. Weitzel, Der Rechtsbegriff der Magdeburger Schöffen, in: D. Willoweit/W. Schich (eds.), Studien zur Geschichte des Magdeburger Rechts (Rechtshistorische Reihe 10), Frankfurt a. M. - Bern 1980, 72-77, 81-84; id., Die Konstituierung der Gemeinde aus der Rechtstheorie, in: P. Blickle (ed.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 36), München 1996, 163-180; E. Isenmann, Gesetzgebung
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gesetzten Gewohnheiten der anfragenden Städte ausschloß, ferner aber auch jedwedes andere auswärtige Recht einschließlich königlicher Gebote ablehnte. Trotz der Möglichkeit des Schöffen, seinen Spruch auch aus der Kenntnis der Rechtsschriften zu finden, wandte sich der Schöffenstuhl tendenziell gegen jede Form schriftlich festgelegten Rechts, die Rechtsaufzeichnungen und Glossen und insbesondere gegen das römisch-kanonische Recht, denn das schriftliche Recht konnte die Rechtsprechung der Schöffen einengen und war dadurch ihrer Autorität, ihrem Rechtsverständnis und ihren durch die Spruchtätigkeit erzielten Einnahmen abträglich 30. Das von den gelehrten Juristen angewandte römisch-kanonische Recht war ein geschriebenes und rationales, um begriffliche Durchformung, Präzision und Abstraktion bemühtes und logisch mit bestimmten Grundsätzen und modi arguendi interpretiertes Recht, während sich die Rechtshonoratioren der Schöffengerichte auf empirisches Rechtswissen, auf Rechtsüberzeugungen vom geltenden Gewohnheitsrecht stützten und dabei ihre Entscheidungsgründe in wenigen Einzelfällen allenfalls rudimentär darlegten. Gleichwohl besaßen die alten irrationalen, formalen Beweismittel 31 und die Schöffensprüche ihre je eigene Rationalität, fanden die Urteile der Schöffen zu einem prägnanten rechtlichen Ausdruck, auch wenn die angewandten Regeln nicht abstrakt formuliert wurden und das Recht unmittelbar und konkret in der Entscheidung eines bestimmten Falles zutage trat 32. Es handelte sich jedoch durchaus um ein in sich folgerichtiges, regelhaft gehandhabtes Recht 33. Da in den mittelalterlichen gerichtlichen Entscheidungen generell Urteilsbegründungen fehlen, geben für die Praxis der streitigen rechtlichen Auseinander-
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und Gesetzgebungsrecht spätmittelalterlicher deutscher Städte, in: Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001), 1-94, 161-261, hier 42-52. Weitzel, Der Rechtsbegriff der Magdeburger Schöffen (nt. 29), 76 sq. K. Nehlsen-von Stryk, Die Krise des „irrationalen“ Beweises im Hoch- und Spätmittelalter und ihre gesellschaftlichen Implikationen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanist. Abt. 117 (2000), 1-38; F. Battenberg, Wege zu mehr Rationalität im Verfahren der obersten königlichen Gerichte im 14. und 15. Jahrhundert, in: D. Simon (ed.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages Frankfurt am Main, 22. bis 26. September 1986 (Ius commune, Sonderheft 30), Frankfurt a. M. 1987, 313-331; D. Willoweit, Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Rationales und traditionales Rechtsdenken im ausgehenden Mittelalter, in: H. Boockmann/L. Grenzmann/B. Moeller/M. Staehelin (eds.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, II. Teil (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, 239), Göttingen 2001, 369-385. G. Gudian, Die Begründung in den Schöffensprüchen des 14. und 15. Jahrhunderts. Ein Leitprinzip der Abfassung spätmittelalterlicher Schöffensprüche, Frankfurt a. M. 1960; id., Der Oberhof Ingelheim, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanist. Abt. 81 (1964), 267-297. G. Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, N. F. 10), Aalen 1968, 5; cf. jetzt den Forschungs- und Problemüberblick von J. Weitzel, Recht und Spruch der Laienurteiler - zumindest eine Epoche der europäischen Rechtsgeschichte, in: H. Lück/B. Schildt (eds.), Recht - Idee - Geschichte. Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 80. Geburtstages, Köln Weimar - Wien 2000, 53-78.
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setzungen die Rechtsgutachten und die Urteilsvorschläge der Juristen, in denen die Rechtsfragen argumentativ und diskursiv dargeboten werden, die beste Auskunft über die mittelalterliche Rezeption des römisch-kanonischen Rechts und seine logisch-methodische Rationalität sowie über die intellektuelle juristische Arbeit auch jenseits der universitären Wissenschaft, die ihrerseits jedoch nach den Glossatoren stark konsiliatorisch geprägt war 34. 34
Cf. G. Kisch, Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter („Die Rechtsgutachten als Quelle der Rezeptionsgeschichte“), in: id., Studien zur humanistischen Jurisprudenz, Berlin - New York 1972, 171. Zu den Rechtsgutachten und ihrer Funktion: J. Kohler/E. Liesegang, Das Römische Recht am Niederrhein. Gutachten Kölner Rechtsgelehrter aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Territorialstaatsrechts, 1. u. 2. Heft, Stuttgart 1896/98, ND Amsterdam 1962; Coing, Römisches Recht in Deutschland (nt. 11), § 79, 208-212; Trusen, Anfänge (nt. 10), 231 sq.; id., Spätmittelalterliche Jurisprudenz und Wirtschaftsethik. Dargestellt an Wiener Gutachten des 14. Jahrhunderts (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 43), Wiesbaden 1961; H. Lange, Die Rechtsquellenlehre in den Consilien Paul de Castros, in: Gedächtnisschrift Rudolf Schmidt, Berlin 1966, 421-440; id., Das Rechtsgutachten im Wandel der Geschichte, in: Juristenzeitung 24 (1969), 157-163; id., Die Consilien des Baldus de Ubaldis (gest. 1400) (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz, geistes- und sozialwiss. Kl., 1973, n. 12), Wiesbaden 1973; A. Erler, Die Mainzer Stiftsfehde 1459-1463 im Spiegel mittelalterlicher Rechtsgutachten, Wiesbaden 1963; C. Schott, Rat und Spruch der Juristenfakultät Freiburg i. B. (Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 30), Freiburg i. Br. 1965; D. Stievermann, Der Jurist Martin Prenninger gen. Uranius, Professor in Tübingen 1490 bis 1501, und seine Tätigkeit für die Herrschaft Württemberg, in: Der Sülchgau 24 (1980), 27-33; G. Kisch, Das Rechtsgutachten als Quelle der Rezeptionsgeschichte, in: id., Studien zur humanistischen Jurisprudenz, Berlin 1972, 163-177; E. Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung in Konsilien reichsstädtischer Juristen (15.-17. Jahrhundert), in: R. Schnur (ed.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986, 545-628; I. Baumgärtner, Martinus Garatus Laudensis. Ein italienischer Rechtsgelehrter des 15. Jahrhunderts, Köln - Wien 1986, 223-234; ead., Stadtgeschichte und Consilia im italienischen Spätmittelalter. Eine Quellengattung und ihre Möglichkeiten, in: Zeitschrift für Historische Forschung 17 (1990), 129-154. Zu mittelalterlich-frühneuzeitlichen Rechtsprechungs- und Konsiliensammlungen cf. G. Kisch, Consilia. Eine Bibliographie der juristischen Konsiliensammlungen, Basel 1970; M. Ascheri (Italien) und H. Gehrke (Deutsches Reich) in: H. Coing (ed.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, vol. II, 2, München 1976, 1113-1221, 1343-1398. Zur Systematik einer künftigen Erschließung cf. M. Ascheri, I consilia dei giuristi medievali. Per un repertorio-incipitario computerizzato, Siena 1982. Neuerdings zu verschiedenen Aspekten der Konsiliarpraxis die Beiträge in: I. Baumgärtner (ed.), Consilia im späten Mittelalter. Zum historischen Aussagewert einer Quellengattung (Studi, Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig 13), Sigmaringen 1995, cf. insbesondere V. Colli, I libri consiliorum. Note sulla formazione e diffusione delle raccolte di consilia dei giuristi dei secoli XIV-XV, in: ibid., 225-235; cf. auch auf nicht ausgeschöpfter Quellengrundlage und mit teilweise unzutreffenden Annahmen und Folgerungen H. G. Walther, Die Rezeption Paduaner Rechtswissenschaft durch die Aufnahme Paduaner Konsilien in die Nürnberger Ratschlagbücher, in: ibid., 207-224; M. Ascheri/I. Baumgärtner/J. Kirshner (eds.), Legal Consulting in the Civil Law Tradition, Berkeley 1999; Isenmann, Gesetzgebung (nt. 29), 161-261; E. Isenmann, Recht, Verfassung und Politik in Rechtsgutachten spätmittelalterlicher deutscher und italienischer Juristen, vornehmlich des 15. Jahrhunderts, in: Boockmann e. a. (eds.), Recht und Verfassung II (nt. 31), 47-245; id., Funktionen und Leistungen (nt. 24); künftig auch id., Der römisch-deutsche König und ,imperator modernus‘ als ,monarcha‘ und ,princeps‘ in Traktaten und in deutschen Konsilien des 15./16. Jahrhunderts, in: Studi in Onore di Manlio Bellomo, ed. K. Pennington/E. Montanos Ferrı´n/O. Condorelli; M. Ascheri,
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Die Gutachten sind in einem vielfach variierten Schema gemäß dem mos italicus 35 scholastisch nach These und Gegenthese aufgebaut, präsentieren häufig entsprechend den Mitteilungen des Auftraggebers den Sachverhalt, die species facti, und die sich daraus ergebenden Rechtsfragen, die quaestiones; sie nennen sodann die Zweifelsgründe, rationes dubitandi, die überlieferten und anerkannten Rechtssätze, auf die sich die Gegenpartei beruft oder sich hätte berufen können, daraufhin die für die anstehende Rechtssache maßgebenden Entscheidungsgründe, die rationes decidendi, um schließlich in einer confutatio rationum dubitandi die ihnen scheinbar entgegenstehenden Erwägungen (ad objectiones) zu widerlegen und zu einem rechtlichen Ergebnis (solutio) zu gelangen 36. Die Konsilien der Universitätslehrer, der rechtsgelehrten Kanoniker, gelehrten Ratsmitglieder und der Inhaber des städtischen Dienstamtes des Stadtjuristen oder Syndicus zeigen, daß das römisch-kanonische Recht keineswegs vor allem einen fertigen Rechtsstoff in Form einer positiven Legalordnung bereitstellte, sondern daß es gleichermaßen die ihm entnommenen Rechtsprinzipien und Rechtsregeln, sodann Rechtsvermutungen, Legaldefinitionen und Interpretationsgrundsätze waren, mit deren Hilfe die Juristen ihre Rechtspositionen formten, bestehende Rechtsverhältnisse nachträglich modifizierten und rationalisierten sowie konstruktive Antworten auf verschiedenartige aktuelle Rechtsfragen fanden, auch auf solche, die bis dahin außerhalb der Welt wissenschaftlich durchdrungenen Rechts noch keine oder zumindest noch keine diskursive Erörterung gefunden hatten. In den Konsilien der Rechtsgelehrten erreichte die rechtspraktische und fallbezogene juristische Arbeit zugleich ihr höchstes Reflexionsniveau. Die Internationalität der Rechtswissenschaft findet ihren Niederschlag nicht nur in der Internationalität der Studenten an den europäischen Universitäten, sondern auch in dem Import von Konsilien. So erhielt etwa die Stadt Elbing im Jahre 1300 aus Paris ein Rechtsgutachten zweier Professoren über das Gründungsprivileg der Stadt 37; die Stadt Köln bezog 1341 ein Konsilium zu ihrem
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I « consilia » dei giuristi: una fonte per il tardo Medioevo, in: Bulletino dell’Istituto per il Medio Evo 105 (2003), 305-334. Für das 16. Jahrhundert cf. H.-R. Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach. Basler Rechtskultur zur Zeit des Humanismus, Basel 1997; H. E. Troje, Bonifacius Amerbach als juristisches Gewissen des Basler Rats - dargestellt anhand von drei seiner Gutachten, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 19 (1997), 1-16. K. Luig, Art. ,Mos gallicus, mos italicus‘, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, vol. III, Berlin 1984, col. 691-698. R. Stintzing/E. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Abt. 1, München Leipzig 1880, 106 sqq.; Coing, Handbuch I (nt. 11), 338 (N. Horn); vol. II (nt. 34) 2, 1266 (G. Walter), 1382 (H. Gehrke); H. Gehrke, Art. ,Konsilien, Konsiliensammlungen‘, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, vol. II, Berlin 1978, 1102-1105; G. Dolezalek, Art. ,Rechtsgutachten‘, in: ibid., vol. IV, Berlin 1990, col. 298 sq.; P. Weimar, Art. ,Consilium (Rechtsgutachten)‘, in: Lexikon des Mittelalters, vol. III, München - Zürich 1986, col. 161 sq.; D. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 11), Köln - Wien 1975, 112 sq.; Hagemann, Die Rechtsgutachten (nt. 34), 16. Codex diplomaticus oder Regesten und Urkunden zur Geschichte Ermlands (Monumenta historiae Warmiensis I,1), ed. C. P. Woelky/J. M. Saage, vol. I: Urkunden der Jahre 1231-1340, Mainz
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von Papst Innocenz IV. 1252 gewährten Nonevokationsprivileg von Rechtsgelehrten des ,Studiums von Montpellier‘ 38; ein englischer Geistlicher aus Rochester, ein Dr. utriusque iuris und Auditor der Kurie, der in Flandern gefangengenommen worden war, bat 1405 das collegium doctorum in utroque der Kölner Universität um ein Rechtsgutachten über die Rechtsgeltung seiner Geleitbriefe 39. Der Nürnberger Rat ließ sich 1442, 1450 und 1467 von der Rechtsfakultät Padua in verschiedenen Streitsachen Konsilien erstatten, die Stadt Lüneburg hinsichtlich einer conventio des Rats mit Salineneignern um 1450. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt. Die Reichsstadt Nürnberg erhielt im 15. Jahrhundert nicht nur eine Vielzahl von auswärtigen Rechtsgutachten aus Padua, von Domherren verschiedener Stifte, Professoren deutscher Universitäten, von dem bayerischen Rat Dr. Martin Mair und dem Augsburger Stadtschreiber Dr. Konrad Peutinger, der einen außerordentlich weiträumigen und vielfältigen Klientenkreis besaß dem Import stand indessen auf der anderen Seite ein beträchtlicher Export von Konsilien und Urteilsvorschlägen rechtsgelehrter Ratsjuristen Nürnbergs für eine Reihe von Reichsstädten und einzelne Adelige gegenüber. Der Wille, sich juristische Klarheit hinsichtlich der Rechtslage und rechtliche Sicherheit im Prozeß zu verschaffen, zugleich die Intensität juristischer Beratung und der Stand, den die Rezeption römisch-kanonischen Rechts im 15. Jahrhundert erreicht hat, werden bereits aus dem quantitativen Sachverhalt ersichtlich, daß der Nürnberger Rat im Jahre 1467 für den schuldrechtlichen Kammergerichtsprozeß und das sich daran anschließende schiedsgerichtliche Verfahren gegen den klageführenden Kaufmann und früheren einflußreichen Ratsherrn Anton Paumgartner nicht weniger als 30 Rechtsgutachten einholte, die von den Rechtsfakultäten und Professoren der Universitäten Erfurt, Heidelberg, Köln, Padua und Bologna, vom Kanoniker des Stifts Freising, Dr. Johannes Heller, von Juristen des Stifts Eichstätt, unter anderem von Dr. utr. iur. Johannes Pirckheimer und Dr. decret. Leonardus in Pontis, vom Kanzler des Erzbischofs von Mainz, Dr. leg. Georg Pfeffer, sowie von einzelnen prominenten Rechtsgelehrten wie Dr. utr. iur. Laurentius Blumenau, Dr. utr. iur. Joachim de Narnia und dem Advokaten des päpstlichen Stuhls, Dr. utr. iur. Andreas de Sancta Crucis, erstattet wurden. Ein spezieller prozessualer Fragenkomplex bezog sich auf die Zeugnisfähigkeit des Nürnberger Rates in eigener Sache und auf allgemeine Fragen von Zeugenschaft und Zeugnis. Von den Universitäten gingen bis zu vier Gutachten ein (Erfurt, Köln), ferner findet sich eine Vielzahl von Mitunterzeichnern, in den Kölner Gutachten unterzeichneten 14 Professoren, so daß
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1860, n. 108, 184-190 (1300 August 16). Gutachter waren die „Magistri Petrus de Bellapertica Altisiodorensis et Hugo de Bisuncio Laudunen[sium] Ecclesiarum, Canonici legum professores“; cf. zwei weitere entsprechende Gutachten Lübecker Kanoniker sowie das Gutachten des Lübecker Juristen Heinrich von Wittenborn; n. 116, 199-202 (um 1300), n. 118, 208-210 (um 1300). StA Köln, Urkunden. Freundlicher Hinweis von Herrn Prof. Dr. Klaus Militzer vom Historischen Archiv der Stadt Köln. H. Keussen, Regesten und Auszüge zur Geschichte der Universität Köln 1388-1559, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 36/37 (1918), 17, nn. 105 sq.
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insgesamt die außerordentlich große Anzahl von 53 Rechtsgelehrten in irgendeiner Weise an dem Fall beteiligt war 40. Dies ist sicher ein markanter Sonderfall, doch holte der Nürnberger Rat häufiger mehrere Gutachten zur selben Sache ein und machte konkurrierende Rechtsauskünfte der Stadtjuristen im frühen 16. Jahrhundert nahezu zum Prinzip bei gutachtlichen Urteilsvorschlägen in wichtigen Appellationssachen für das Ratsgericht 41. Schließlich wurde ein Teil der Konsilien, die örtliche Ratsjuristen und auswärtige Rechtsgelehrte erstattet hatten, in Konsiliensammlungen, von denen sich aus einer unbekannten größeren Anzahl für den Zeitraum von der Mitte bis zum Ende des 15. Jahrhunderts sechs Bände mit überschlägig 3.600 Seiten erhalten haben, teilweise auf Anweisung des Rates als möglicherweise künftig verwendungsfähiges Rechtswissen thesauriert. Die Juristen ordnen in ihren Konsilien die Rechtswelt gemäß der Hierarchie von „göttlichem und natürlichem Recht“, ius gentium als Völkergemeinrecht und menschlichem ius positivum. Sie unterscheiden das öffentliche Recht vom Privatrecht im Sinne der römischrechtlichen Unterscheidung 42 im Hinblick auf die utilitas publica und utilitas singulorum und legen auf der Grundlage dieser Unterscheidung den Vorrang der Bedürfnisse der Gemeinschaft, der utilitas publica, vor den Interessen der Privatpersonen fest; sie regeln das Verhältnis von ius commune, consuetudo und statutum. Sie betonen die Notwendigkeit eines ius certum, setzen aber dem ius strictum oder noch mehr dem rigor iuris die aequitas entgegen, verweisen auch auf das Transitorische im Recht, auf die Veränderung der Rechtsnatur und den Übergang von einer Rechtsfigur in eine andere, vom Gesetz oder Privileg in einen Vertrag, vom Privileg zur Schenkung oder zum ius quaesitum. In den Konsilien scheinen wichtige Grundsätze der Rechtskultur auf wie der nur 40
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Der Fall Paumgartner und die Nürnberger Ratschlagbücher stehen im Mittelpunkt eines von der DFG geförderten und vom Verfasser des Aufsatzes geleiteten Forschungsprojekts an der Universität zu Köln unter der Bezeichnung „Recht und Wirtschaft in Spätmittelalter und früher Neuzeit“. Die Ergebnisse werden in einer Monographie vorgelegt. Der Nürnberger Stadtjurist Dr. Christoph Scheuerl berichtet 1516 in seinem Abriß über die Nürnberger Verfassung („Epistel“) über die sorgfältige Behandlung von Appellationssachen durch den Rat und die Beiziehung von Stadtjuristen: „ein erbar rathe pflegt in kainer appellation handlung ichts zu urthailn, es sei dan das zuvor die gerichtshändl verlesen und zweier, dreier oder wann sie zwispeltig sein noch mer doctor mainung und gutbedunken daruber gehort sein worden.“ Ed. der „Epistel“ von K. Hegel, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis in’s 16. Jahrhundert, vol. 11 (Nürnberg vol. 5), Leipzig 1874, ND Göttingen 1961, Anhang A, 785-804, hier 803. Der Ulmer Gerichtsschreiber Wick, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts beim Nürnberger Rat Erkundigungen über das Stadtregiment eingezogen hatte, berichtet über das Appellationsverfahren am Ratsgericht und gewisse Kontrollmaßnahmen des Rats gegenüber seinen Juristen durch Einholung mehrerer Gutachten. E. Naujoks (ed.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung. Ausgewählte Aktenstücke zu den Verfassungsänderungen in den oberdeutschen Reichsstädten (1547-1556) (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde, Reihe A, Quellen 36), Stuttgart 1985, n. 8, 77. D. 1, 1, 1, 2; D. 2, 14, 38; hinsichtlich der Sachen: D. 1, 8, 1; Inst. 2, 1, 11. Cf. generell zum Problem und mit weiterer Literatur P. Landau, Die Anfänge der Unterscheidung von ius publicum und ius privatum in der Geschichte des kanonischen Rechts, in: G. Melville/P. von Moos (eds.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), Köln - WeimarWien 1998, 629-638.
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durch Notorietät eingeschränkte Anspruch auf rechtliches Gehör und rechtliche Verteidigung gemäß dem ius divinum und ius naturale, die Unschuldsvermutung und das Erfordernis des Tatnachweises im Strafrecht oder der Persönlichkeitsschutz nach dem Tode. Selbst erkenntnistheoretische und ontologische Fragen des Wissens und der Erkenntnisgewinnung sind Gegenstand von Rechtsauskünften städtischer Juristen 43. Unterschieden wird unter Rekurs auf die „Metaphysik“, die „Analytica Posteriora“ und „Physik“ des Aristoteles zwischen der höchsten Form des Wissens, dem kausalen scire propter quid, und gestützt auf das römisch-kanonische Recht und die rechtswissenschaftliche Literatur dem juristisch-prozessualen scire quia, dem auf unmittelbarer menschlicher Sinneswahrnehmung beruhenden Wissen, das vor Gericht von den Zeugen erwartet wird. Eine dritte Art von Wissen, das kein unmittelbares eigenes oder offenkundiges Wissen darstellt, entsteht stufenweise sowie mit gestufter Beweiskraft und Sicherheit im Prozeßgeschehen durch Vermuten (suspicari), durch Zweifel und von den Zweifeln angeregte Erforschungen (investigationes) sowie durch von den Parteien vorgebrachte Argumente und logische Operationen (silogisare) des Richters und wird von der Vermutung und Meinung (opinio) bis zur firma credulitas, plena fides und indubitata scientia gesteigert. Konsilien reflektieren und demonstrieren ferner die juristischen Interpretationsmethoden und Auslegungsregeln, indem sie die eigentliche oder erweiterte significatio der Wörter und Begriffe erörtern, nach mens, sensus, intentio, ratio oder causa impulsiva et finalis hinsichtlich der dispositio iuris fragen, die modi arguendi darstellen, zwischen einer extensiven Interpretation bei einer materia favorabilis und einer strikten bei einer materia poenalis oder odiosa 44 unterscheiden und entsprechende rechtsspezifische Auslegungsregeln anwenden, so etwa die interpretatio larga oder largissima in Fragen des Privilegienrechts 45. Durch die Rechtsstreitigkeiten, wie sie eben das alltägliche Leben hervorrief, waren die Juristen vor allem in den Städten mit den verschiedensten Fällen des „bürgerlichen Rechts“ befaßt. Legen wir hauptsächlich die älteren Nürnberger „Ratschlagbücher“ aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als eine mehr oder weniger mit Bedacht konzipierte, repräsentative und für die Zukunft wichtige Fälle auswählende Sammlung von Konsilien und Rechtsmaterien zu43
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StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. 6*, fol. 342r-344v (Dr. Seyfrid Plaghal). Marginales Rubrum: De scire et scientia (fol. 342r); ibid., fol. 344v (Dr. Ludwig Marburg zum Paradies). Cf. die ähnliche Argumentation mit Rekurs auf Aristoteles bereits in dem „Liber testimoniorum“ des Bartolus; S. Lepsius, Von Zweifeln zur Überzeugung. Der Zeugenbeweis im gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 106), Frankfurt a. M. 2003, 87-89, 127-131, 224-228. Rechtsgutachten des Mainzer Kanzlers Dr. leg. Georg Pfeffer für den Nürnberger Rat von 1468. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2∞ Cod. Aug. 393, fol. 35r-37r (n. 5). Abschriften StA Nürnberg, D-Laden Akten, n. 327, pag. 44v-48r; Germanisches Nationalmuseum, Archiv, Reichsstadt Nürnberg XVIII, Pirckheimer n. 2, fol. 2r-5v. Zeitgenössische deutsche Übersetzung StA Nürnberg, Akten des 7-farbigen Alphabets, n. 168, fol. 155r-161v. Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 117-119.
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grunde 46, so handelt es sich insbesondere um Fragen von Testament und Erbrecht, um familienrechtliche Fragen der Ehe wie etwa versprochene Ehe, Ehebruch und impotentia coeundi, des Ehegüterrechts sowie des Vormundschaftsrechts, ferner des Schuld- und Sachenrechts, insbesondere mit dem Recht der Zwangsvollstreckung, dem Pfandrecht, dem Schuldnergeleit, Kauf und Verkauf, Rentenkauf 47 und unterschiedlichen Aspekten des Wuchers sowie der Sonderstellung der Juden in der Geldleihe. Einen bedeutenden Bereich stellt das Lehnrecht dar mit Fragen des lehnrechtlichen, insbesondere des weiblichen Erbrechts, aber auch der Vasallität mit militärischen Leistungen 48 und der Frage der Felonie. Handels- und Gesellschaftsrecht ist kaum vertreten 49; es finden sich nur eine knappe Notiz zur internen Geschäftsführung einer Handelsgesellschaft, ein Konsilium zur Frage der Eröffnung von Handelsbüchern im Prozeß 50, zur Interpretation von Zollprivilegien, zur Verkehrsfreiheit auf den Reichsstraßen 51 und zu Repressalien mit Personen- und Güterarrest. Stadtrecht, städtisches Verfassungsrecht und die Rechtsbeziehungen zwischen der Stadt und dem Kaiser als dem Stadtherrn und Reichsoberhaupt betreffen Konsilien, Informationen und Notizen zu Fragen des Bürgerrechts, der bürgerlichen Steuerpflicht, des kommunalen Steuerrechts und des Steuerstrafrechts, der städtischen Jurisdiktion und Gesetzgebungsbefugnis, ferner zu verschiedenen Aspekten des städtischen Privilegienrechts wie der Zoll- und Steuerfreiheit, zu den gebietenden und verbietenden Eingriffen des Kaisers in städtische Belange und Rechte, der vertragsrechtlichen Stellung des Kaisers sowie zu der Rechtswirkung von confirmationes, mit denen der Kaiser kommunale Rechtsetzungsakte und privatrechtliche Vereinbarungen bürgerlicher Parteien bestätigt. Über das Privatrecht und in einem weiten Sinne öffentliche Recht hinaus äußern sich die Juristen in Gutachten zum Reichsfriedensrecht, zum universalen Friedensrecht 52 und Kriegsrecht auf der Grundlage des römisch-kanonischen 46
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Cf. dazu auch die besprochenen sowie vollständig oder in Teilen edierten Konsilien bei Isenmann, Reichsrecht (nt. 34), 564-613; id., Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 123-196. Cf. auch Trusen, Spätmittelalterliche Jurisprudenz (nt. 34). StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. 6*, fol. 415r-417r. Gutachten des Dr. Martin Mair. Druck: E. Isenmann, Reichsstadt und Reich an der Wende vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit, in: J. Engel (ed.), Mittel und Wege früher Verfassungspolitik (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 9), Stuttgart 1979, Anhang n. 7, 219-221. Cf. die späteren Gutachten des Bonifacius Amerbach. Die gleiche Beobachtung hinsichtlich der Gutachten des Bonifacius Amerbach bei Hagemann, Die Rechtsgutachten (nt. 34), 13, sowie zu den italienischen Konsilien bei Lange, Das Rechtsgutachten im Wandel der Geschichte (nt. 34), 160 sq. StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. *2, fol. 88v-90r. Gutachten des Dr. Johannes Pirckheimer von 1477. Besprochen und ediert bei Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 188192. StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. 2*, fol. 143r-146r. Rechtsgutachten des Dr. Conrad Schütz von 1477. Ediert bei Isenmann, Reichsstadt und Reich (nt. 48), Anhang n. 4, 207-212. Cf. infra p. 226 sq.
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Rechts, dabei zur Tötung und Gefangennahme im Krieg sowie zur Kriegsbeute 53, ferner zum Bündnisrecht der Städte auf der Grundlage der Goldenen Bulle von 1356, des Konstanzer Friedens von 1183 und dessen Kommentierung sowie der gelehrten Rechte 54. Aber auch Zauberei ist Gegenstand konsiliatorischer Rechtsauskünfte. Relativ wenige Konsilien, wie sich augenscheinlich aus den benutzten Konsiliensammlungen des 15. und 16. Jahrhunderts ergibt, wurden zu Fällen des peinlichen Strafrechts erstattet 55, wobei das homicidium für Gutachten eine besondere Rolle spielte. Hinzu kommen einzelne Fälle von Verbal- und Realinjurien, die vor dem Stadtgericht oder vor einem Spezialgericht des Rates verhandelt wurden. Das herkömmliche materielle Strafrecht erwies sich eher als rezeptionsfeindlich, blieb aber von den gelehrten Rechten nicht unbeeinflußt 56. Es gab aber auch eine explizite Abneigung von Juristen, in Strafsachen Gutachten zu erstatten 57. Neben den prozessualen Erörterungen in den fallbezogenen Gutachten gibt es für den Bereich der Rechtsdurchsetzung vor Gericht eigenständige Konsilien, Informationen und Notizen zu Gerichtsverfassung und Prozeßrecht einschließlich des Schiedsgerichts und der Appellation, zu einzelnen Figuren und Verfahrensabschnitten, zu Actionen, Exceptionen, Eid, Beweis und Zeugen oder zur Figur des Richters. Es wird angenommen, ist aber im einzelnen noch nicht sonderlich gut belegt, daß das gelehrte Recht und die Juristen im europäischen Staatsbildungsprozeß, der sich nicht zuletzt am Vorbild der Papstkirche orientieren konnte, zentrale Elemente darstellten und dem bürokratischen Fürstenstaat juristische Grundlagen geliefert haben 58. Zu den staatsbildenden Doktrinen gehören die Lehren 53
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StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. 6*, fol. 49r-50v; Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 128-131. StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. 6*, fol. 386r-387r. Gutachten des Dr. Seyfrid Plaghal; ediert bei Isenmann, Reichsstadt und Reich (nt. 48), 206 sq. Cf. die Konsilien Amerbachs, die überwiegend erstattet wurden, nachdem die Carolina von 1532 die Einholung von juristischen Gutachten unter bestimmten Voraussetzungen vorgeschrieben hatte, Hagemann, Die Rechtsgutachten (nt. 34), 130-149. Sellert, Zur Rezeption (nt. 5), 145. Der Nürnberger Stadtjurist Dr. Peter Stahel schreibt 1483 in einem Konsilium, er habe „in guter vnd nutzbarlicher meynung“ in derartigen Fällen sich enthalten, zu raten, was „schedlich were dem leben oder den glidern der menschen, das dann das schwerest vnd besorgklichst gericht alhie uff erden vnd doch den menschen auß notturft mit fleissiger bedrachtung der recht zu geben ist“. StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. 3*, fol. 398r. Zu der Abneigung oder Zurückhaltung der Juristen, in Strafsachen Gutachten zu erstatten, cf. auch Hagemann, Die Rechtsgutachten (nt. 34), 130 mit nt. 673 (weitere Lit.). Die in der Forschung angeführte Begründung, daß die Universitäten in der Regel geistliche Anstalten und viele Rechtslehrer geistlichen Standes waren und ihnen nach kanonischem Recht eine Mitwirkung an Bluturteilen untersagt gewesen sei, stellt nur einen partiellen Aspekt dar. D. Willoweit, Rezeption und Staatsbildung im Mittelalter, in: Simon (ed.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages Frankfurt am Main 1986 (nt. 31), 19-44; Stelzer, Die Rezeption (nt. 11), 233 sq.; Sellert, Zur Rezeption (nt. 5), 134 sqq., 151; Hageneder, Die Übernahme kanonistischer Rechtsformen (nt. 11), 253-255.
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von der summa potestas, der plenitudo potestatis, vom merum et mixtum imperium, dem Gewaltmonopol des Princeps und von der römischrechtlichen Delegation der Amtsgewalten nach unten samt ihrer Analogie in den bereits vorfindlichen Leiheformen des traditionalen Rechts. Es sind dies juristische Lehren, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts durch die monarchische, politische und ekklesiologische Theorie mit dem teleologischen Schluß vom Prinzip der unitas auf die unitas pacis und den Frieden schlechthin, durch das aristotelische Postulat des unus princeps und kosmologische Analogien des Einheitsprinzips sowie durch das neuplatonische Prinzip der Ableitung, wonach jedes Wesen seine virtus im Zusammenhang der Hierarchie in einer devolutiven Abfolge vom jeweils Übergeordneten empfängt und in der höchsten, ungeteilten Gewalt alle nach unten gewährten Gewalten enthalten sind, höchst effektvoll ergänzt und verstärkt wurden 59. In diesen Zusammenhängen wurde die Figur des römischen Princeps und Imperators in den Aktualisierungen durch den römisch-deutschen König, den imperator modernus, und den Papst zum Ausgangspunkt der Erörterung der Herrschaftsgewalten und des juristischen Staatsdenkens 60. Die Leistungen der Rechtsgelehrten im Spätmittelalter lagen zunächst durchaus auch auf anderen Gebieten und im auftragsgemäßen Eintreten für die Rechte der subordinierten Gewalten und Korporationen, die Juristen in ihren Auseinandersetzungen mit ihren Oberen und Obrigkeiten zur Absicherung ihrer Rechtspositionen um Konsilien baten. Die päpstliche und kaiserliche summa potestas war in der juristischen Lehre die denkbar höchste Herrschaftsgewalt in der Ausformung der plenitudo potestatis, die im Hinblick auf die Bindung an das menschliche ius positivum als potestas ordinaria und als davon freie potestas absoluta begriffen wurde 61. Inhaltlich handelte es sich um die Jurisdiktionsgewalt in Form des merum et mixtum imperium, aus der Glossatoren und konzeptionell ausformuliert die Kommentatoren, namentlich Bartolus, die Gesetzgebung ableiteten und aus der das ius gladii als besonderes Recht und Kennzeichen der Obrigkeit herausgehoben wurde und die daher den Inbegriff der umfassenden Herrschaftsgewalt darstellte. Hinzu kamen die römischrechtliche Vorstellung, daß der Kaiser das Recht in seiner Brust wie in einem Schrein berge (C. 6, 23, 19), und die eigenständige, nicht aus der Jurisdiktion abgeleitete Gesetzgebungsgewalt durch die Herausstellung des Herrscherwillens als Gesetz in der lex Quod principi placuit (D. 1, 4, 1). Außerdem besaß der Princeps des römischen Rechts das Gewaltmonopol 62, und seine Person 59
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A. Black, Grundgedanken des Konziliarismus und des Papalismus zwischen 1430 und 1450, in: R. Bäumer (ed.), Die Entwicklung des Konziliarismus (Wege der Forschung 279), Darmstadt 1976, 312-318. Künftig eingehend dazu Isenmann, Der römisch-deutsche König und ,imperator modernus‘ (nt. 34); id., Ist der römisch-deutsche König und Kaiser ein Monarch? Das Vexierbild der Reichsverfassung in der Zeit der Reichsreform des 15. Jahrhunderts, in: R. Ch. Schwinges (ed.), Europa im späten Mittelalter. Politik - Gesellschaft - Kultur (Historische Zeitschrift, Beihefte). Zum Folgenden cf. Isenmann, Reichsrecht (nt. 34), 563-597; id., Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 148-156, 210-214. Cf. infra p. 226.
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und seine Rechtssphäre, seine engere Umgebung und mittelbar sogar seine Untertanen standen unter dem strafrechtlichen und friedensrechtlichen Schutz des crimen laesae maiestatis 63. Dies gehörte zum juristischen Fundus überlieferter und anerkannter Rechtssätze, doch konnte der in Frage stehende Einzelfall gravierende Besonderheiten aufweisen. Bereits im römischen Recht selbst stand dem Ulpian-Satz Princeps legibus solutus est (D. 1, 3, 31) die lex Digna vox (C. 1, 14, 4) gegenüber, in der der Princeps bekannte, sich an das Recht zu halten. Freilich blieb der Princeps, der über dem menschlichen ius positivum, dem ius civile, stand, an das Naturrecht und das diesem verwandte ius gentium sowie an eingegangene Verträge gebunden; auf der anderen Seite bestand die Bindung an die menschlichen Gesetze, und damit wurde der Widerspruch aufgelöst, nur de honestate, nicht aber ex necessitate, also nicht rechtsnotwendig. Für den Zweifelsfall ergab sich daraus bei der Interpretation kaiserlicher Verfügungen die Rechtsvermutung, daß der Princeps lediglich seine potestas ordinaria in Anspruch nehme. Wollte der Princeps jedoch von seiner plenitudo potestatis und potestas absoluta Gebrauch machen, so mußte er dies formell durch die Klauseln ex certa scientia und motu proprio zweifelsfrei zum Ausdruck bringen. Formell konnte auch die Spezialität von Rechten gegen eine Generalität abrogierender kaiserlicher Mandate geltend gemacht und deren Wirksamkeit im besonderen Fall in Abrede gestellt werden. Allerdings konnte der Kaiser Vermutungen gegen die Wirksamkeit seiner Verfügungen durch eine secunda iussio, ein zweites Gebot, das seinen Willen formgerecht und deshalb zweifelsfrei formulierte, aus der Welt schaffen. Solange Zweifel möglich waren, gab es allerdings noch weitere, an den psychischen Willen des fernen Kaisers geknüpfte Rechtsvermutungen. So war rechtlich nicht zu vermuten, daß der Kaiser jemandem sein Recht nehmen 64, ferner jemanden in Fallstricke führen 65 oder berechtigte Erwartungen enttäuschen wolle 66, während hingegen die Vermutung galt, daß der Kaiser sich bei Einreden gegen seine Mandate geduldig (patiens) verhalten werde 67. Der italienische Jurist Raynerius de Forli ging im übrigen sogar davon aus, daß die rechtsetzende Gewalt des Volkes auf der patientia des Kaisers beruhe, dem es ein leichtes gewesen 63
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Paduaner Gutachten für den Nürnberger Rat von ca. 1450; Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 204. Zur Stärkung seiner Gebotsgewalt durch Strafsanktionierung mit dem crimen laesae maiestatis durch Kaiser Friedrich III. cf. Isenmann, Kaiser, Reich und deutsche Nation (nt. 22), 241 sq. Gutachten für den Nürnberger Rat von 1462. StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. 1*, fol. 56v; Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 146 sq. Allegiert werden c. 12 X I, 31; C. 1, 19, 2; D. 43, 8, 2, 16. StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. 1*, fol. 55rv; Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 144, nt. 338. c. 5 und 17 X I, 3; Franciscus de Zabarellis zu c. 5 X I, 3; Glosse zu c. 1 in VIto I, 5. StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. 1*, fol. 58r; Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 151, nt. 354. StA Nürnberg, Ratschlagbücher, n. 1*, fol. 55rv; Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 144, nt. 338. Allegiert wird c. 5 X I, 3.
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wäre, diese Gewalt durch ein Gesetz zu annullieren 68. Ferner muß die Intention des Princeps immer auf das bonum commune abzielen, und dies wird auch rechtlich vermutet, denn das Wohl oder der Nutzen der Untertanen werden als das eigene Wohl des Princeps erachtet. Schließlich kommt noch die Auslegungsregel hinzu, wonach die Worte des Princeps immer so verstanden werden müssen, daß sie sich nicht zum Schaden des öffentlichen Wohls auswirken 69. Auf diese Weise wurde die voluntas principis einer abstrakten und fiktiven herrscherlichen Person mit volitiven Rechtsvermutungen und Erfordernissen einer bestimmten Solennität, einer Formgebundenheit, rechtlich eingehegt und auf die auch positivrechtlich beschränkte potestas ordinaria festgelegt. Dies galt, solange sich der existierende Herrscher nicht deklaratorisch ein zweites Mal äußerte, denn seine plenitudo potestatis und absoluta potestas waren im Falle des ius civile juristisch nicht wegzudisputieren. Anders verhielt es sich, wenn es, wie etwa im Falle des Privilegs, gelang, die Rechtsnatur eines Instituts zu verändern und unter Berufung auf vorgängige Leistungen des Privilegienempfängers über das rechtlich geschuldete Maß hinaus das Privileg als einseitigen Akt reiner herrscherlicher liberalitas und des herrscherlichen animus donandi in einen substantiellen Leistungsaustausch zu rücken und zu einem nicht revozierbaren ius quaesitum zu machen, das Privileg im Hinblick auf den Leistungsaustausch in einen naturrechtlich geschützten Vertrag zu transferieren und den Kaiser innerhalb des Vertragsverhältnisses zu einer amtslosen Privatperson zu machen, so geschehen durch einen Nürnberger Ratsjuristen gegen eine Privilegienrevokation Kaiser Friedrichs III. um 1464 70. Im Falle des Privilegs galten außerdem Interpretationsregeln zugunsten des Privilegienempfängers, daß nämlich Privilegien weitgehend oder weitestgehend zu interpretieren seien, und zwar auch zuungunsten des Privilegiengebers. Auf der Grundlage der römisch-kanonischen Reskriptlehre legten Juristen in Nürnberg, Basel oder im Hansebereich vor allem mit Bezug auf die Glosse des Johannes Andreae, die Kommentare Innocenz’ IV. und des Nicolaus de Tudeschis dar, daß dem von korrekter Unterrichtung durch Dritte abhängigen Mandat eines Oberen, des Kaisers oder des Papstes, keineswegs prompt und automatisch Folge geleistet werden mußte, sondern im Falle von Rechtswidrigkeiten und Gravamina, rechtlichen Beschwerungen, begründete Einreden dagegen vorgebracht werden durften, ohne daß wegen der Suspendierung der Gehorsamsleistung Straffälligkeit eintrat. Damit formulierten die Juristen ein fundamentales, systemimmanentes Widerspruchsrecht der Untertanen unterhalb der Schwelle 68
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C. Storti Storchi, Betrachtungen zum Thema „Potestas condendi statuta“, in: G. Chittolini/D. Willoweit (eds.), Statuten, Städte und Territorien zwischen Mittelalter und Neuzeit in Italien und Deutschland (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 3), Berlin 1992, 259. Im Hinblick auf den Herzog von Kleve als Landesherrn dargelegt in einem Gutachten, das um die Mitte des 15. Jahrhunderts Rechtsgelehrte der Kölner Universität für die Stadt Wesel erstatteten: StA Düsseldorf, Hs. K III, fol. 257v; Isenmann, Gesetzgebung (nt. 29), 204. Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 135-156.
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zum Widerstandsrecht. Wer einen Befehl des Oberen, der gegen Recht verstößt, nicht vollzieht, so lehren sie, tut dem Recht und dem gebietenden Herrscher sogar einen „guten Gefallen“. Und: Alle Rechte stellen fest, daß derjenige, der das Gebot seines Oberen durch eine begründete Einrede zum Besseren wendet, nicht für ungehorsam erachtet wird, sondern deswegen Lob und Dank erfahren soll. Es wird sogar die didaktisch-paradoxale Frage gestellt, ob der König für ein rechtswidriges Gebot oder derjenige zu tadeln sei, der einen rechtswidrigen Befehl des Königs erfülle, da der König dies doch untersage. Eine Glosse nennt diejenigen geradezu „kleinmütig“, die es nicht wagen, den Geboten ihrer Oberen zu widersprechen, wenn ihnen etwas Rechtswidriges geboten wird 71. Juristen, darunter Rechtsgelehrte der Kölner Universität, stärkten korporative Rechte unterer Gewalten, indem sie sowohl für Reichsstädte als auch für landesherrliche Städte und Zünfte ein von Wissen, Willen und Konfirmation des Oberen unabhängiges Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht begründeten. Dabei stützten sie sich auf die im 14. Jahrhundert namentlich von Bartolus und Baldus entwickelten Konzepte oder Theorien der Statutengebung. Die potestas condendi statuta war demnach Bestandteil der hohen und niederen Gerichtsbarkeit, des merum et mixtum imperium, oder beruhte auf einer Erlaubnis zur Gesetzgebung, der dem Volk durch das Kaiserrecht erteilten permissio, wie sie im römischen Recht der lex Omnes populi und von den Glossatoren in der näheren Vergangenheit als kaiserliche Konzession dem Konstanzer Frieden zwischen Friedrich Barbarossa und den lombardischen Städten von 1183 entnommen wurde. Die hauptsächlich die Konzeption der iurisdictio bevorzugenden deutschen Juristen unterschieden zwischen dem Erlaß eines statutum, das die Jurisdiktionsgewalt des merum und mixtum imperium voraussetzte und auf einem Akt der verallgemeinerungsfähigen decisio beruhte, und der rechtsgeschäftlichen, vertraglichen conventio, die einen Akt bloßer, sich in der unmittelbaren Zwecksetzung erschöpfender administratio darstellte und der deutschrechtlichen „Willkür“ entsprach. Das merum et mixtum imperium als Inbegriff der Herrschaftsgewalt konnte Städten vom Kaiser verliehen oder durch ungestörten Gebrauch seit unvordenklicher Zeit als Gewohnheit ersessen worden sein. Für subordinierte Territorialstädte ohne diese hohe Jurisdiktionsgewalt und für weitere subordinierte Korporationen, universitates, wie Domkapitel, Zünfte und Vereinigungen der Kaufleute, wurde zumindest ein Recht auf den Abschluß von conventiones in Angelegenheiten der je eigenen res publica und ihrer negotia herausgestellt, vorausgesetzt, die conventiones beeinträchtigten nicht Rechte des Oberen. Gestützt auf Baldus, der den populus und sein inhärentes regimen zum Bestandteil des ius gentium macht, wurde diese Befug71
c. 5 X I, 3 (de rescriptis); Innocenz IV. zu c. 44 X V, 39; Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus) zu c. 5 X I, 3; Additiones des Johannes Andreae zum Speculum iuris, tit. de notorio crimine § 1 versiculus ,quid si iudex‘; C. 1, 19, 7 (de precibus imperatori offerendis); Nov. 17, 4 (de mandatis principum); Nov. 134, 6 (ut nulli iudicum). Isenmann, Reichsrecht (nt. 34), 566-570; id., Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 144, 214-216; id., Der römisch-deutsche König (nt. 34). O. Stobbe, Geschichte des deutschen Rechts, Braunschweig 1865, n. IX, 182 sq.
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nis von den Kölner Rechtsgelehrten sogar letztlich unanfechtbar im ius gentium und ius naturale verankert. Auf diese Weise wurde auch für kleinere Körperschaften innerhalb eines größeren Verbandes das Recht konstatiert, unmittelbare gemeinsame Lebensinteressen der Korporation selbstbestimmt durch eigene Normgebung zu ordnen 72. Damit lieferten namentlich Kölner Universitätsjuristen und Gutachter für Nürnberg im Spätmittelalter für das Reich deutscher Nation nichts anderes als die erstmalige juristische Begründung der Satzungsautonomie der Gemeinden, wie wir sie auch heute kennen. Kölner und Mainzer Juristen vollzogen auch den ergänzenden Schritt, indem sie wenig später in einem anderen Fall das kommunale Selbstverwaltungsrecht gegen Einmischungen des Stadtherrn begründeten 73. Schließlich sind es die spätmittelalterlichen Juristen, darunter auch der juristisch ausgebildete Cusanus 74, die nicht zuletzt im Auftrag gewaltgefährdeter unterer Herrschaften in einer Zeit, die noch immer trotz landfriedensrechtlicher Einschränkungen die eigenmächtige Rechtsdurchsetzung auf dem Wege der Fehde kennt, gestützt auf die Rechtsmacht und das Gewaltmonopol des römischen Princeps gemäß dem Codextitel Ut usus armorum inscio principis interdictus sit (C. 11, 47), den Novellentitel De armis (Nov. 17) und die lex Julia (D. 48, 4, 3) sowie den Rechtsgedanken des römischen Rechts, der nur einen gewaltlosen gütlichen oder gerichtlichen Streitaustrag zuläßt, juristisch die alternative Vorstellung einer künftig grundsätzlich gewaltfreien, zivilen Rechts- und Gesellschaftsordnung entwerfen. Schon Nikolaus von Kues hatte im dritten Buch seiner „Concordantia catholica“ von 1433/34, gestützt auf das kanonische und vor allem auf das römische Recht, die Verabschiedung eines Gesetzes mit allgemeiner Zustimmung, insbesondere der Reichsfürsten, vorgeschlagen, das jede eigenmächtige Rechtsdurchsetzung und jede Fehdeführung untersagte und kriminalisierte, so daß Rechtsstreitigkeiten nur noch durch das Gericht entschieden werden und Zwangsmaßnahmen gegen Widersetzliche auf dessen Gewährung hin erfolgen sollten 75. Ein weiterer Vorstoß in dieser Richtung erfolgte durch 72
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Isenmann, Gesetzgebung (nt. 29), 178-207; id., Städtisches Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht in Rechtsliteratur und in Rechtsgutachten deutscher Juristen des Spätmittelalters, in: J.-M. Cauchies/E. Bousmar (eds.), «Faire bans, edictz et statuz»: Le´gife´rer dans la ville me´die´vale. Sources, objets et acteurs de l’activite´ le´gislative communale en Occident, ca. 1200-1550 (Publications des Faculte´s universitaires Saint-Louis 87), Bruxelles 2001, 411-438. Cf. dazu künftig Isenmann, Die gelehrten Juristen und das Recht (nt. 1). E. Meuthen, Nikolaus von Kues als Jurist, in: Boockmann e. a. (eds.), Recht und Verfassung II (nt. 31), 247-275. „Et statuatur lex, quod nulli liceat sub pena furti et latrocinii violenter propria auctoritate ex quacumque causa alterius bona occupare aut sibi et suis dampna inferre per diffidationes, sed omnia fiant iudicium auctoritate, qui etiam repressalias concedere possint contra contumacem. Qui enim propria auctoritate accipit gladium, gladio feriendus est, 23 q. 1 § 1 [c. 1 C. XXIII, qu. 1]. Qui enim sine iussu principis bellum gerit, tenetur Lege Iulia, ff. Ad legem Iuliam maiestatis l. 3 [D. 48, 4, 3], in Authentica De mandato [mandatis] principis [principum] collat. 3 [Nov. 17], et De armis collat. 6 [Nov. 85], quamvis necessitate imminente sufficiat auctoritas magistri officiorum, C. De fabricensibus l. finali lib. XI [C. 11, 10, 7].“ Nicolai de Cusa, De Concordantia Catholica libri tres, ed. G. Kallen (Opera omnia XIV), Hamburg 1963, lib. III, cap. 34, 440; cf. cap. 35.
Zur Rezeption des römisch-kanonischen Rechts
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Aeneas Silvius de Piccolominibus auf dem Regensburger Tag von 1454, doch lag der Höhepunkt der juristisch-konsiliatorischen Erörterung des Friedensproblems um 1450, als die Stadt Nürnberg mindestens zwei Konsilien von der Paduaner und eines von der Bologneser Rechtsfakultät erhielt, die abweichend vom Reichsfriedensrecht des Reichs, der Frankfurter Landfriedensordnung auch „königliche Reformation“ genannt - von 1442, das universale Friedensrecht des römischen Rechts darstellten. Ein Nürnberger Stadtjurist machte sich noch etwa eine Generation später konsiliatorisch diese Positionen in wörtlicher Bezugnahme zu eigen 76. Vom Rechtsgedanken her bereiteten Juristen den Boden für den Reichslandfrieden von 1467, der zeitlich befristet, aber dann verlängert das erste absolute Fehdeverbot des spätmittelalterlichen Reichsfriedensrechts enthielt, und für den sich mit einer kurzen Unterbrechung von nur fünf Jahren daran anschließenden sogenannten ewigen Landfrieden des eingangs erwähnten Wormser Reformreichstags von 1495. Der Völkerrechtslehrer Emmerich de Vattel wird im 18. Jahrhundert in neuem naturrechtlichem Denken, aber auf der Grundlage von Leistungen bereits des Spätmittelalters die „Socie´te´ civile“, die bürgerliche Gesellschaft, ganz wesentlich dadurch definieren, daß in ihr die „voies de fait“, die Wege außergerichtlicher und außerstaatlicher gewaltsamer Rechtsdurchsetzung, verboten sind 77. Über diese grundlegenden Vorstellungen einer gewaltfreien Gesellschaftsund Rechtsordnung hinaus konnte in Ausschnitten gezeigt werden, wie universitäre und städtische Rechtsgelehrte in Konsilien ihr rationales wissenschaftliches Verfahren darstellten, indem sie sich unmittelbar dem philosophischen und juristischen Wissens- und Erkenntnisproblem widmeten, bei der Erörterung von Rechtsproblemen und Rechtsfällen eingehend die juristischen Interpretationsgrundsätze und Methoden reflektierten und rechtsspezifische Auslegungsregeln einsetzten. Spätmittelalterliche Juristen erarbeiteten neben privatrechtlichen Fallund Problemlösungen auch wichtige Elemente des Verfassungs- und Verwaltungsrechts. Die Rechtsgelehrten erörterten in ihren Konsilien die denkbar höchste weltliche Gewalt, die summa potestas und plenitudo potestatis des Kaisers, stellten mit der kaiserlichen absoluta potestas die auf den herrscherlichen Willen, die volitive nuda voluntas, zugespitzte Rechtsmacht über dem positiven Recht heraus, hegten aber im Interesse ihrer Auftraggeber diese kaiserliche Rechtsmacht legibus solutus mit Rechtsvermutungen zugunsten der ordinaria potestas ein und lehrten zugleich das Recht der Untertanen, im Falle von Gravamina Einreden gegen kaiserliche Mandate und Reskripte vorzubringen. Sie begründeten daneben für das Römische Reich deutscher Nation erstmals juristisch das autonome Satzungsrecht sowie das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen. Erkennbar wird das Bemühen, mit fundamentalen Rechtsgrundsätzen eine gelehrte juri76
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Isenmann, Reichsrecht (nt. 34), 606-612; id., Recht, Verfassung und Politik (nt. 34), 200-210; künftig mit erweiterter Quellengrundlage id., Die gelehrten Juristen und das Recht (nt. 1). Emmerich de Vattel, Le Droit des gens: ou Principes de la loi naturelle applique´s a` la conduite et aux affaires des nations et des souverains, London 1758, l. III, § 290.
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stische Rechtskultur zu implementieren und zu festigen. Die Grenzen zwischen der Aufklärung der Rechtslaien über die Rechtsverhältnisse und dem sekretierten gelehrten Expertenwissen markiert allerdings eine Marginalnotiz in den Sitzungsprotokollen der Frankfurter Ratskommission, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts für die Abfassung der Stadtrechtsreformation gebildet worden war, zu den Worten trebellianica und falcidia: „sollen die leyen nit alle ding wissen, sondern der gelerten rat pflegen darumb sie in eren gehalten werden als billich und erlich ist.“ 78 So wäre es gewißlich gegen die Intention und das überzeitliche Lebensinteresse des Juristenstandes, wenn hier sogleich erläutert würde, was im Erbrecht unter dem „Senatusconsultum Trebellianum“ und dem „falcidischen Viertel“ zu verstehen ist.
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Zitiert nach Coing, Die Rezeption (nt. 25), 164.
V. Architektur
Konformität und Individualität in der deutschen Architektur nach 1350 Norbert Nußbaum (Köln) Schon lange herrscht Einigkeit darüber, daß die Architektur im deutschen Sprachraum nach 1350 neue Wege eingeschlagen habe. Man folgt damit bis heute den älteren Thesen über den in dieser Zeit neu konstituierten Hallenkirchentyp, der als spät gereifter Idealtyp des deutschen Sakralbaus in die nationale Kunstgeschichtsschreibung einging. Gewertet wurde diese Entwicklung entweder als deutscher Sonderweg in die Spätgotik 1 oder - in einem konkurrierenden Modell - als genuine Raumbildung einer „nordischen Renaissance“, die sich dem italienischen Quattrocento als Epochenwende gleichberechtigt zur Seite stellen ließe 2. Diese Kontroverse blieb beileibe nicht die einzige, die der Debatte um einen Herbst in der Architektur des deutschen Mittelalters Nahrung bot. Von den ersten Urteilen des 19. Jahrhunderts, die trotz der Rückbesinnung historistischer Architektur und romantischer Dichtkunst auf das 14. und 15. Jahrhundert deren Bauformen als Zeichen eines allgemeinen kulturellen Niedergangs abwerteten 3, über Klassifikationen jener Zeit als erste barocke Phase der europäischen Kunst 4, als Kunst einer ersten Bürgerzeit im wirtschaftsliberalen 5 oder auch marxistisch-universalhistorischen Verständnis 6, als Ausfluß eines dekorativen, naturentfremdeten Dynamismus 7 oder als manieristisches Krisenphä1
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K. Gerstenberg, Deutsche Sondergotik. Eine Untersuchung über das Wesen der deutschen Baukunst im späten Mittelalter, München 1913. A. Schmarsow, Reformvorschläge zur Geschichte der deutschen Renaissance, in: Berichte der phil.-hist. Classe der Königlichen Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig 1899, 41-76; E. Haenel, Spätgotik und Renaissance, Stuttgart 1899; W. Niemeyer, Der Formwandel der Spätgotik als das Werden der Renaissance, Diss. Leipzig 1904. F. von Schlegel, Grundzüge der gothischen Baukunst, auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz, und einen Theil von Frankreich. In dem Jahre 1804 bis 1805 (Friedrich Schlegel’s sämmtliche Werke. Sechster Band. Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst), Wien 1823, 269-270; C. Schnaase, Niederländische Briefe, Stuttgart - Tübingen 1834. A. Riegl, Salzburg’s Stellung in der Kunstgeschichte (Österreichische Kunstbücher 18), Salzburg 1905. K. H. Clasen, Deutschlands Anteil am Gewölbebau der Spätgotik, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 4 (1937), 163-185. H. Meuche, Architektur in der Zeit der frühbürgerlichen Revolution. Beiträge zur Gestalt und Bedeutung des mittelalterlichen Kirchenraumes um 1500, Diss. masch. Greifswald 1968. G. Weise, Das „gotische“ oder „barocke“ Stilprinzip der deutschen und der nordischen Kunst, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 10 (1932), 206-243.
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nomen 8, bis hin zur Diskussion über Höfisches, Retrospektives, Realismus und Antirealismus, weichen und eckigen Stil 9 hat diese Zeit eine stolze Zahl attributiver Vereinnahmungen mit dem Ziel einer ganzheitlichen Epochendefinition auf sich vereinigt 10. Im Gespräch ist vor allem das erneute Bemühen, die Architektur der italienischen Renaissance und der deutschen Spätgotik auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Hubertus Günther sieht in beiden die gleiche „neue Ratio“ als jenes Prinzip am Werk, das die Kunst leite, in Italien fokussiert auf eine explizite, wissenschaftlich begründete Antikennachfolge, nördlich der Alpen artikuliert durch die sichere Handhabung einer auf komplexen geometrischen Verfahren basierenden Entwurfspraxis 11. Manche Lanze ließe sich für diese Sicht brechen, entgegenzuhalten ist aber, daß jene angeblich neue Ratio der Baugeometrie so alt ist wie die Gotik selbst. Deshalb erklärten schon die Franzosen des mittleren 19. Jahrhunderts ihre Früh- und Hochgotik zum Vorbild der eigenen Bestrebungen nach Rationalität im Bauen. So schrieb der Architekt Jean-Baptiste Antoine Lassus 1845 in den „Annales Arche´ologiques“: „Im 13. Jahrhundert sind zum Beispiel die Basen, die Kapitelle, die Säulchen, die Fenstermaßwerke, die Rippen, überhaupt alle Einzelheiten in der großen Kathedrale und in der schlichten Landkirche genau dieselben […]. Alle unsere Baudenkmäler vermitteln mathematisch genau die Idee dessen, was sie wirklich sind. Was, wenn nicht das, ist Rationalismus.“ 12
Hier ist offenkundig Begriffsverwirrung zu befürchten. Von den konkurrierenden Begriffen zur Verschlagwortung der spätmittelalterlichen Architektur leitet keiner gänzlich fehl, und doch lassen sie alle nur eine Facette des Gesamtbildes aufleuchten. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Die Wahrheit ist wie ein zerbrochener Spiegel, und jeder, der eine Scherbe von ihm findet, glaubt alles zu wissen. Die Scherben der deutschen Spätgotik - sie nehmen Gestalt an in der vielbeklagten Uneinheitlichkeit ihrer architektonischen Erscheinungen. Für das zweite Viertel des 14. Jahrhunderts bereits fällt es schwer, von nur einem Epochenstil, der Gotik, zu sprechen. So konnte im Schatten der bereits zu stattlicher Höhe gewachsenen Straßburger Münsterfassade (Abb. 1) mit ihrem unvergleichlich feinen Gespinst aus zarten Blendpaneelen und filigranem Har8
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E. Bachmann, Zu einer Analyse des Prager Veitsdoms, in: K. Swoboda/E. Bachmann (eds.), Studien zu Peter Parler, Brünn - Leipzig 1939, 36-67. R. Krautheimer, Die Kirchen der Bettelorden in Deutschland, Köln 1925; L. H. Heydenreich, Pius II. als Bauherr von Pienza, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 6 (1937), 105-146; E. Petrasch, „Weicher“ und „Eckiger“ Stil in der deutschen spätgotischen Architektur, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 14 (1951), 7-31. Einen Überblick der kontrahierenden Auffassungen bis 1963 bietet J. Bialostocki, Late Gothic: Disagreements about the Concept, in: Journal of the British Archeological Association 3. S. 29 (1966), 76-105. H. Günther, Die deutsche Spätgotik und die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter Juli/August 2000, 49-68. Annales arche´ologiques II (1845), 71-72. Die Übersetzung folgt G. Germann, Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie, Stuttgart 1974, 134-135.
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fenmaßwerk ein solch bewundernswert sprödes Gebilde wie das Langhaus der Dominikanerkirche in Colmar (Abb. 2) entstehen, um einer rigorosen Forderung der Mendikanten nach gebautem Armutsideal zu entsprechen. Im schärfsten Gegensatz zum Überfluß der Formen an der Kathedralfront wirkt das Langhaus der Bettelordenskirche wie eine nicht mehr zu überbietende Abstraktion des Gotischen. Einzige Binnenformen dieses Raumes sind die schiffstrennenden Arkaden - spitze, zwischen den dünnen Steinstangen der Pfeiler geschlagene Bögen, die in einen brettartigen Wandstreifen einschneiden. Diese fast kulissenhaft labile Konstruktion trägt auf Konsolen die Holzdecke, die in den Seitenschiffen pultartig abfällt. Die Wände ringsum sind nackt, und der Triumphbogen wirkt wie aus der Wandfläche ausgesägt. Das Ganze ist nicht mehr als ein hoher Kastenraum mit sparsamsten inneren Teilungen, der wie im Rohbau belassen scheint. Daß die Architekten solche Antipoden entwickeln mußten, um den ganz unterschiedlichen Ansprüchen und Darstellungsabsichten einer Auftraggeberschaft zu entsprechen, die mittlerweile alle Gruppierungen der entwickelten Ständegesellschaft umfaßte, ist eine Binsenweisheit. Sie erklärt nicht, warum die Zahl der gotischen „Dialekte“ und die Spanne zwischen ihnen im Reich größer war als anderswo. Ursachen sind offenbar die politische Verfassung des Reiches und deren Auswirkung auf die Kunstpatronage. In Frankreich und England förderten und finanzierten die Königshäuser, die königsnahen Dynastien und die aus ihren Reihen stammende hohe Geistlichkeit den aufwendigen, formal höchst differenzierten Gliederbau der Kathedralen über Jahrhunderte hinweg und leiteten aus ihm die Architektur ihrer Residenzen bildenden Höfe ab. Die Dominanz dieses mit gleichem Recht metropolitan wie höfisch zu nennenden Stils war universal. An ihm orientierten sich die Bauten der minderen Bauherren auf je unterschiedlichen, abgestuften Sprachebenen. Im Reich blieb diese Rolle eines architektonischen „mainstream“ infolge der vielbeschriebenen Diskontinuitäten in Herrschaft und Elitenbildung unausgefüllt oder allenfalls sporadisch besetzt, die Neigung zur Konformität in den nachgeordneten Stillagen entsprechend gering. Wenn Friedhelm Fischer in ironischer Anspielung auf Dehios Wort, Württemberg sei ein „gepflegter Garten der Spätgotik“, konstatierte: „Am Mittelrhein blüht alles wild durcheinander“ 13, so ließe sich diese regionale Zustandsbeschreibung beliebig ausweiten, gleichwohl aber auch positiv formulieren: Das Fehlen verbindlicher Konventionen gab Raum für das freie Experiment, für eine bisweilen atemlose Folge individueller Erfindungen, die sich in schöpferischer Konkurrenz gegenseitig in die Schranken wiesen. Diese Erfindungen haben mitunter avantgardistische Züge, denn sie erheben den Systembruch zur Maxime und schaffen das Milieu für eine neue Kunstauffassung. 13
F. W. Fischer, Die spätgotische Kirchenbaukunst am Mittelrhein, 1410-1520 (Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen, N. F. 7) [zugleich Diss. Heidelberg 1959/60], Heidelberg 1962, 248.
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Abb. 1: Straßburg, Kathedrale. Portalgeschoß der Westfassade
Abb. 2: Colmar, Dominikanerkirche. Langhaus nach Osten
Abb. 4: Paris, Bibliothe`que Nationale, ms. fr. 19093. Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt. Fol. 17r: Chorgrundriß der Zisterzienserkirche Vaucelles
I Abb. 3: Paris, Bibliothe`que Nationale, ms. fr. 19093. Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt. Fol. 15r oben: von Villard de Honnecourt und Peter von Corbie entworfener Chorgrundriß. Unten: Chorgrundriß der Kathedrale von Meaux
Konformität und Individualität in der deutschen Architektur nach 1350
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Architektur ist umbauter Raum, Raumbildung die erste und eigentliche Aufgabe des Bauens. Räume werden in Grundrissen vorgedacht. Mit den Chorgrundrissen im 1235 verfaßten Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt - sie zeigen die Kathedralen von Cambray und Meaux (Abb. 3 unten), die Zisterzienserkirche Vaucelles (Abb. 4) sowie einen Chorplan, den Villard und Peter von Corbie nach dem Kommentar des sogenannten Magisters 2 in gemeinsamer Besprechung erfunden haben (Abb. 3 oben) - beginnt die große Tradition orthogonaler Planzeichnungen der Gotik 14. Alle Pläne zeigen als leitende Entwurfsstrategien gleichförmige Jochreihung, Parallelität der Schiffe und als klassisch gotische Organisation des Chorhauptes eine zentrifugale Anordnung aller Teilräume. Viele spätere Grundrisse hielten sich an diesen Kanon, doch uns soll die Geschichte der prominenten Abweichler interessieren. An Hl. Kreuz in Schwäbisch Gmünd (Abb. 5, 6) wurde 1351 nach einem Entwurf Heinrich oder Peter Parlers der Grundstein für einen Hallenchor gelegt. In ihm sind die Reihen der zylindrischen Langhauspfeiler über die romanischen Flankentürme hinaus um drei Joche nach Osten fortgeführt. Im Chorhaupt wird die Arkadenweite des Langchores nahezu beibehalten, und auch das Mittelschiff bleibt gleich breit. Allein das östliche Pfeilerpaar ist nach innen gerückt, so daß sich der Binnenchorschluß drei Seiten eines Fünfecks annähert. Das Umgangspolygon hingegen, in dem die niedrigen Kapellen wie Raumtaschen zwischen den eingezogenen Strebepfeilern sitzen, schließt in sieben Seiten eines Zwölfecks. Etwas Entscheidendes ist hier geschehen: Im zentrifugalen Prinzip des kanonischen gotischen Entwurfs entspricht die Brechung der Umgangswände immer derjenigen der Binnenchorarkaden. Jedem Arkadenintervall gliedern sich nach außen ein Umgangsjoch und eine Kranzkapelle an. Es strahlt die innere Ordnung gleichförmig nach außen aus. In Schwäbisch Gmünd hingegen fehlt der radiale Bezug zwischen den Wandpfeilern des Umgangs und den inneren Freipfeilern, weil auch am Außenpolygon die Chorhalsinterkolumnien als Maß der Pfeilerabstände beibehalten sind. Die Teilräume des Chorhauptes gruppieren sich nicht fächerförmig um eine gemeinsame Mitte, vielmehr treten innere und äußere Ordnung in ein Spannungsverhältnis, dem nicht eine regelhaft geometrische Grundrißfigur, sondern eine freiere Komposition zugrunde liegt: Der Gesamtraum scheint von den Umfassungswänden bestimmt, und der innere Stützenkranz wirkt wie eine sekundäre, nachträglich in diesen Raum eingefügte Arkatur, die den Umgang als eine unregelmäßige, sich im Chorhaupt weitende Raumzone ausgrenzt. Der Grundriß mutet nicht zuletzt wegen des dezimierten Kranzes der Binnenpfeiler vereinfacht an; tatsächlich bewirkt aber das Aufgeben strenger Geometrie zugunsten freier Planung eine Komplizierung des räumlichen Gefüges. Hiermit war für die Umgangschöre eine Auflösung der radialen Grundrißgeometrie eingeleitet. Der Weg war geebnet für eine Radikalisierung der Gmünder 14
H. R. Hahnloser, Villard de Honnecourt. Kritische Gesamtausgabe des Bauhüttenbuches ms. fr. 19093 der Pariser Nationalbibliothek, 2. ed. Graz 1972, fol. 14v, 15r, 17r.
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Abb. 5: Schwäbisch Gmünd, Hl. Kreuz
Abb. 6: Schwäbisch Gmünd, Hl. Kreuz. Mittelschiff nach Osten
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Lösung, forciert durch Hans von Burghausen, der im 1408 begonnenen Chor der Salzburger Stadtpfarrkirche, der heutigen Franziskanerkirche, aus der Gmünder Vereinzelung der Binnenchorpfeiler die schärfste Konsequenz zog (Abb. 7, 8). Hier steht im Chorscheitel nur noch ein Freipfeiler. Er ist so weit nach Osten gerückt, daß er den gegenüberliegenden Wandpfeilern näher steht als seinen Nachbarstützen. Die Positionen der Chorhalspfeiler sind gegenüber den zugehörigen Wandpfeilern leicht verschoben. Alle fünf Rundstützen scheinen wie frei in den Raum gestellt. Die damit verunklärten Joch- und Schiffsgrenzen sind im Gewölbe vollends aufgehoben, denn die Pfeiler sind hier nicht mehr durch Scheidbögen verbunden. Stattdessen verzahnen sich die Sternfiguren zu großen Rautenschirmen, die als Rotationskörper eine auf- und abwogende Deckenlandschaft formen. In Salzburg ist das additive Prinzip gotischer Raumbildung aus gleichförmigen, aneinandergereihten Zellen vollständig aufgegeben zugunsten eines integralen Raumentwurfs, in dem dislozierte Stützen und Gewölbeschirme eine eigene, nurmehr ganzheitlich zu erfassende Ordnung schaffen. Der Bautyp der Halle ist lediglich konstruktive Voraussetzung für solche Räume. Ästhetisch konstituiert werden sie mit der Entscheidung, die Ordnung im Raum nicht mehr vom Unterbau und seinen Teilungen abzuleiten, sondern vom Gewölbe her, das nun erst seiner primär dienenden Funktion der orthogonalen Jochbildung entbunden ist und frei für komplexere Figuren. Den Erfindungsreichtum der deutschen Gewölbe nach 1350 als Ausdruck gesteigerter Dekorationsfreude zu werten, wie es die Konvention will, greift deshalb zu kurz. Konzeptionell entscheidend ist vielmehr die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Unterbau und Gewölbe in ihrer Räume formenden Interaktion (Abb. 9, 10). Dies, und nicht die Präferenz der Halle oder die Differenzierung der Rippenfiguren, wäre als eigentlicher Paradigmenwechsel zu bezeichnen. Diesen Wechsel vollzog nicht etwa eine gotische Baukultur als Ganze. Er ist im Gegenteil Resultat eines nonkonformistischen Habitus. Ihm war der Bruch mit jener Tradition ein Anliegen, die über Jahrhunderte hinweg das Verketten gleichförmiger Glieder und multiplizierbarer Intervalle gepflegt hatte. Nicht nur im Raumentwurf, auch in der Frontbildung verschaffte er sich Geltung. Am Außenbau sprengten jene Dreiecksfiguren, die Hans von Burghausen dazu verhalfen, den Stützenkranz der Chorarkaden aufzulösen, schon deutlich früher die altgewohnten Ordnungen. Portalvorhallen der Gotik sind streng frontale Gebilde. Sie richten sich nach den Gebäudeachsen und ordnen sich so den übergreifenden Prinzipien von Parallelität und Achsialität unter. Nicht so die 1329 gebaute Vorhalle des Nordquerhauses am Erfurter Dom (Abb. 11). Sie ist ein dreieckiger Baukörper, der sich mit einer Seite der Querhausstirn anlehnt und keilartig vorspringt, so daß die beiden großen Wimpergportale jeweils schräg zum Querhaus zu stehen kommen. Die Portale wenden sich voneinander ab, und die Mitte wird durch die scharfe, freistehende Kante des Dreiecks verstellt. Die Wegachse ist gespalten, statt Frontalität herrscht Mehransichtigkeit, statt Staffelung und Hierarchie Gleichheit unter den beiden Außenportalen. Das
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Abb. 7: Salzburg, Franziskanerkirche
Abb. 8: Salzburg, Franziskanerkirche. Chorgewölbe
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Abb. 9: Grundrißentwurf eines Schlingrippengewölbes. Braune Tusche auf Papier, 288 ¥ 416 mm. Wien, Akademie der bildenden Künste, Inv.-Nr. 17003
Abb. 10: Annaberg, Annenkirche. Mittelschiff nach Osten. Schleifensterngewölbe von Jakob Heilmann (nach 1515)
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Abb. 11: Erfurt, Dom. Vorhalle des Nordquerhauses
Abb. 12: Landshut, St. Martin. Musikempore an der südlichen Chorwand
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Verhältnis von Innen und Außen ist damit grundsätzlich neu geordnet, freilich auf eine pointiert unentschiedene Weise, welche die Balance zwischen zwei gleichen Teilen im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spitze treibt 15. Was in Erfurt noch unangetastet bleibt, wird später demontiert: die Einheit des Dekors als Ausdruck und Garant der Stilsicherheit. Der wohl in den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts von Hans Stethaimer gebauten Musikempore an der Chorwand von St. Martin (Abb. 12) fehlt sie in geradezu programmatischer Weise. Die schweren Abkragprofile der Emporenbrüstung werden von einem mittleren Keilstück durchstoßen, das sich leicht und dünnwandig über einem vorschwingenden Kielbogen erhebt. Die zierlichen Schwalbenschwanzenden des kleinen Stützgewölbes unter dem Keilstück, die feinen Nasen an dessen Schildbogen und das zarte Paneel an den Keilwänden stehen in schärfstem Kontrast zu der vollplastischen Maßwerkbrüstung und ihrer wuchtigen Substruktion. Aus einer Ästhetik der harmonischen Formverbindung, wie sie der Gotik bislang eigen war, wird eine Strategie der gesuchten und inszenierten Gegensätze. Eingefleischten Stilhistorikern könnte der Gedanke kommen, hier durchdrängen sich „Weicher“ und „Eckiger“ Stil - die nach dem Willen ihrer Erfinder aufeinander zu folgen hätten - in unverständlicher Gleichzeitigkeit und in einer Art disharmonischer Zwangsehe 16. Doch Hans Stethaimer ging es offenkundig um Kontrastwirkung, nicht um formale und stilistische Einheit. Fragt man nach den Ursprüngen solcherart kalkulierter Verunsicherung, dann erweisen sich die von Peter Parler ausgeführten Teile des Prager Veitsdoms als wahre Fundgrube. Ein Beispiel, das gemeinhin wenig Beachtung findet, wäre etwa der 1372-73 am Südquerhaus aufgeführte Treppenturm (Abb. 13, 14). Er ist das Produkt eines waghalsigen Eingriffs in die überkommene Hierarchie der Bauglieder, denn es wird ein zuvor nur dienendes Bauelement, das zur Zeit einer orthodoxen Handhabung der Moduslehre nie in den Vordergrund gerückt wäre, zum Blickfang und virtuosen Schaustück. Der Treppenlauf ist vollständig in einen der Hauptstrebepfeiler eingearbeitet und höhlt dessen Masse von vorne aus. Der Pfeiler wird im ganz materiellen Wortsinn substanzlos, seine Funktion als Strebe des Querhausobergadens höchst bedenklich. Da der Pfeilerkörper dreifach zurückgestuft ist, stehen die Stiegengeschosse nicht senkrecht aufeinan15
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Hier soll keineswegs der von Paul Frankl vorgebrachten Überzeugung das Wort geredet werden, Diagonalität habe gotische Achsen- und Raumbildung von der Einführung der Kreuzrippe an als dominantes gestaltgebendes Prinzip bestimmt. Vielmehr scheint die Differenzierung frontaler durch mehransichtige Präsentationsstrategien ein im 14. Jahrhundert neu entwickeltes Konzept der Fassaden- und Prospektbildung. Cf. P. Frankl, Gothic Architecture, revised by P. Crossley, New Haven - London 2000, 264-274 und die kritischen Bemerkungen von P. Crossley, „The Soldier of Science“: Paul Frankl and the Gothic Cathedral, in: Magistro et Amico Amici Discipulique. Essays in Honour of Lech Kalinowski on his 80th Birthday, ed. J. Gadomski e. a., Krakau 2002, 23-34. Zur Kritik der hier involvierten Stilbegriffe cf. N. Nußbaum, Stilabfolge und Stilpluralismus in der süddeutschen Sakralarchitektur des 15. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 65 (1983), 43-88.
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Abb. 13: Prag, Veitsdom. Treppenturm am Südquerhaus. Ansicht von Südosten
Konformität und Individualität in der deutschen Architektur nach 1350
Abb. 14: Prag, Veitsdom. Treppenturm am Südquerhaus. Ansicht von Osten
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Abb. 15: Straßburg, Kathedrale. Grundriß von Oktogon und Helm des Nordturmes. Tusche auf Pergament, 625 ¥ 855 mm. Ulm, Stadtarchiv, ev. Gesamt-Kirchengemeinde
Abb. 16: Straßburg, Kathedrale. Grundriß von Oktogon und Helm des Nordturmes
Konformität und Individualität in der deutschen Architektur nach 1350
Abb. 17: Straßburg, Nordturm der Kathedrale. Stiegenhäuser des Turmhelmes
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Abb. 18: Freiberg, Dom. Tulpenkanzel (Hans Witten um 1508-1510)
Abb. 19: Bechyne/Böhmen, Residenz des Ladislaus von Sternberg. Baumsäule und Astwerkgewölbe im großen Saal des Erdgeschosses (um 1515)
Abb. 20: Prag, Hradschin. Gewölbe der Böhmischen Kanzlei
Konformität und Individualität in der deutschen Architektur nach 1350
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der, sondern wachsen schräg übereinander auf. Mit jedem Pfeilergeschoß wechseln die Laufrichtung der Treppe und die Richtung der schräg ansteigenden Maßwerkbrücken am Gehäuse. Eine dreimalige Brechung der senkrechten Achsen und der Steigachsen kennzeichnet daher den gesamten Treppenturm. Die dadurch verursachte optische Destabilisierung läßt das Ganze noch fragiler erscheinen, als seine Konstruktion ohnehin schon ist. Diese riskante Symbiose aus Strebepfeiler und Treppe schert sich nicht im geringsten um die im 13. Jahrhundert erzielte, von den Rationalisten so gefeierte Identität von Form und Funktion, sondern führt deren Gesetze ad absurdum. Postmoderne und Dekonstruktivisten dürften hingegen in ihrer relativistischen Sowohl-als-auch-Attitüde ihre wahre Freude an solchen mehrfach und antithetisch kodierten Gebilden haben, denn sie präsentieren die gotische Entwurfspraxis in einem neuen Zustand verlorener Unschuld, in dem es keineswegs unschicklich scheint, Architekturelemente ihrem Umfeld zu entfremden, sie in ganz unerwartete Milieus zu verpflanzen und mit neuen Wertigkeiten auszustatten. So nimmt die Adelung des Treppenmotivs in Prag erst ihren Anfang. Eine neue Qualität gewinnt sie im Entwurf des Kölners Johannes Hültz für den Helm des nördlichen Straßburger Münsterturmes, der das Straßburger Fassadenprojekt 1437 endlich zu einem - wenn auch nur eintürmigen - Abschluß brachte (Abb. 15-17). Hier wird das Thema „Stiege“ zum alles bestimmenden Modul. Die Stelle der Helmrippen nehmen offene Treppenläufe ein. Alle Helmkanten bestehen aus kleinen sechseckigen Stiegenhäusern, die nach oben hin jeweils eine halbe Gehäusebreite nach innen versetzt sind. Bei jedem Übergang in ein neues Gehäuse wechselt die Wendeltreppe ihre Drehrichtung. Die Stiegen münden paarweise in vier Gehäuse, die die Spitze bilden und in einer Art kleiner Laterne enden. Hültz kann es nicht primär darum gegangen sein, die Turmspitze begehbar zu machen, denn dafür hätte ein einziger Treppenlauf ausgereicht. Nein, er nahm die Bauaufgabe „Treppen-Turm“ wörtlich und bediente sich des Maßwerkhelmes als Hülle für eine Apotheose der Treppe. Man hat den Eindruck, diese Architektur sei auf dem Weg zu neuer Sprachfähigkeit, sie sei Exponent einer „architecture parlante“, die ihre Themen nicht mehr ausschließlich einer scholastischen Himmelsmetaphorik entlehnte, sondern die Architektur selbst als Metier des Kunstschaffens für sich entdeckte. Tatsächlich sind dies die Anfänge einer Dissidenz, die den Blick weit voraus eilen läßt in die Zeit um 1500, als in einer letzten Verwandlung des Steinmetzgliederbaus abstrakte Architektur ins Pflanzenhafte mutiert, so als besinne sie sich eigener, in diesem Fall gänzlich unantikischer Wurzeln (Abb. 18, 19), als Rippengewölbe aus einander scheinbar ungeordnet durchkreuzenden Rippenstücken zusammengeschustert werden, so als handele es sich um verzogene Latten, die ein Bauschreiner als Notschalung für ein absackendes Gewölbe zusammengenagelt hat. Fast könnte man meinen, jener Benedikt Ried, der um 1505 ein solches Gewölbe für die Böhmische Kanzlei auf dem Prager Hradschin (Abb. 20) entwarf, ironi-
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siere die Kunstlehre der eigenen Zunft und distanziere sich in gleicher Weise von ihr wie Peter Parler lange Zeit zuvor. Ob ein solcher nonkonformistischer Habitus als Indikator taugen mag für eine neuzeitliche Kunstauffassung, darüber ließe sich trefflich streiten. Seinen Anfängen im 14. Jahrhundert nachzugehen, war Anliegen dieser kleinen Skizze.
VI. Spätmittelalterliche Moralphilosophie
Analogie im Reich der Freiheit? Ein Skandal der spätscholastischen Philosophie und die kritische Antwort der Neuzeit Theo Kobusch (Bonn) 1. Potentia absoluta und potentia ordinata Der Nominalismus, d. h. das philosophische Denken von Wilhelm von Ockham bis Gabriel Biel, hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Aufwertung erfahren. Das gilt für fast alle Disziplinen und Bereiche, von der Sprachphilosophie bis zur Theologie, von der Erkenntnislehre bis zur Ökonomie, in denen bestimmte, für das 14. und 15. Jahrhundert typische Standards festzustellen sind 1. Eines dieser standardisierten Problemfelder ist das Verhältnis der göttlichen potentia ordinata und der potentia absoluta, die nach der durchgehenden nominalistischen Lehre als zwei Weisen des göttlichen Könnens anzusehen sind, d. h. auch als zwei Weisen des Möglichen 2. Die potentia absoluta meint die absolute Möglichkeit, die ihre Grenze allein im Widerspruchsgesetz hat, so daß das absolut Unmögliche allein in dem in sich Widersprüchlichen besteht. Die potentia ordinata aber bezeichnet jenes Mögliche, das dem ewigen Gesetz und der göttlichen Anordnung gemäß sich verwirklicht, also das, was ist und was sein wird. Unmöglich im Sinne der potentia ordinata ist das, was der göttlichen Anordnung widerspricht. Da diese selbst aber nicht notwendig war, weil Gott auch eine andere hätte geben können, ist das der Anordnung Widersprechende auch nur ein bedingt Unmögliches (ex suppositione), absolut gesehen aber ein Mögliches. Diese Lehre ist in der kurzen Geschichte der Nominalismusinterpretation sehr unterschiedlich eingeschätzt worden. Die ältere Forschergeneration (A. Koyre´, E. Gilson, E. Iserloh, G. Leff, H. Blumenberg) sah in ihr das Fundament einer 1
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Cf. T. Kobusch, Art. ,Nominalismus‘, in: Theologische Realenzyklopädie, vol. 24, Berlin - New York 1994, 589-604. Zur Geschichte des Begriffspaares cf. bes. W. J. Courtenay, Capacity and Volition: A History of the Distinction of Absolute and Ordained Power, Bergamo 1990; id., Art. ,Potentia absoluta/ ordinata‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 7, Basel 1989, 1157-1162; E. Randi, Il sovrano e l’orologiaio. Due immagini di Dio nel dibattito sulla „potentia absoluta“ fra XIII e XIV secolo, Florenz 1987; F. Oakley, Omnipotence, Covenant, and Order, Ithaca 1984; L. Moonan, Divine Power: The Medieval Power Distinction up to its Adoption by Albert, Bonaventure and Aquinas, Oxford 1994.
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Vorstellung vom Willkürgott, der, für den Menschen gänzlich undurchschaubar, jederzeit in den Lauf der Natur und Geschichte eingreifen könnte, so daß alle Gewißheit auf der Seite des Menschen, Erkenntnisgewißheit, moralische Gewißheit, Heilsgewißheit usw., nur scheinbar sein kann. Demgegenüber hat eine jüngere Forschergeneration (H. Oberman, W. Courtenay, B. Hamm, M. A. Schmidt, F. Oakley) nicht nur den Nominalismus im ganzen zu rehabilitieren, sondern auch das Verhältnis der beiden Arten der göttlichen Allmacht als „dialektisches“ Verhältnis zu deuten versucht 3. Potentia ordinata werde danach das genannt, worauf sich Gott aufgrund einer „Selbstverpflichtung“ festgelegt habe. Dieser Versuch der Rehabilitierung verrät deutlich den Einfluß eines Vertreters der Dialektischen Theologie, nämlich K. Barths, der die Ablehnung der Willkürgottvorstellung so zusammenfaßt: „Wir werden also der nominalistischen These auch in der von Luther vertretenen Form gegenüber sagen müssen: daß in dem, was Gott in Freiheit gewollt und getan und also gekonnt hat, gerade seine potestas absoluta als potestas ordinata endgültig und verbindlich sichtbar geworden ist, so sichtbar, daß es uns nicht mehr frei steht, sondern verboten ist, mit einer sachlich anderen Allmacht als eben der, die er in seinem tatsächlichen Wollen und Tun betätigt hat, zu rechnen, als ob Gott auch anders zu wählen, zu tun und zu können vermöchte, als er es nun eben getan hat.“ 4 Was K. Barth in frommem Sinne gegen die „nominalistische These“ sagt, das benutzt der moderne Rehabilitierungsversuch dazu, es als eine nominalistische These selbst zu erweisen. Doch dieser Versuch scheint zum Scheitern verurteilt. Nicht nur, weil in ihm offenkundig, wie besonders klar L. A. Kennedy gezeigt hat, der Wurm des Selbstwidersprüchlichen nistet 5, sondern auch, weil die Umschreibung des Verhältnisses der beiden Weisen der Macht durch den Begriff des „Dialektischen“ den notwendigen Umschlag des einen ins andere impliziert, die nominalistischen Texte aber immer den kontingenten Charakter der potentia ordinata betonen 6. Zudem wird durch diesen Rehabilitierungsversuch das eigentlich Skandalöse dieser Philosophie eher verschleiert als bewußt gemacht. Ähnlich steht es mit jener Verteidigung Ockhams, die auf die rationale Konstante des Widerspruchsprinzips hinweist, als ob diese für sich genommen schon den Will3
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H. Oberman, The Harvest of Medieval Theology: Gabriel Biel and Late Medieval nominalism, Cambridge, Mass. 1963; W. J. Courtenay, Covenant and Causality in Medieval Thought, London 1984; B. Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio: Freiheit und Selbstbindung Gottes in der Scholastischen Gnadenlehre, Tübingen 1977; M. A. Schmidt, Gottes Freiheit, Macht und Güte im spätmittelalterlichen Nominalismus, in: J. Brantschen/P. Selvatico (eds.), Unterwegs zur Einheit (Festschrift H. Stirnimann), Freiburg - Wien 1980, 268-291; Oakley, Omnipotence (nt. 2). K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Zollikon 1958, vol. II 1, 610. Cf. L. A. Kennedy, Peter of Ailly and the Harvest of Fourteenth-Century Philosophy, Lewiston, NY 1986, 199-205. Cf. Wilhelm von Ockham, In I Sent. (Ordinatio), dist. 17, q. 1 (Opera Theologica [= OTh III], St. Bonaventure 1977, 454): „… nisi quia Deus contingenter et libere et misericorditer ordinavit quod …“; 455: „… quamvis de potentia ordinata aliter non possit facere propter leges voluntarie et contingenter a Deo ordinatas“.
Analogie im Reich der Freiheit?
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kürgedanken verhindere 7. Rationalität ergibt noch keine Sittlichkeit. Sie kann vielmehr als solche auch in den Diensten des Unsittlichen stehen. Der Teufel, der den Satz des Widerspruchs beachtet, wird dadurch noch nicht zum Engel. Wenn dann auch noch von der „völligen Unzugänglichkeit“ dieser Ordnung für die menschliche Vernunft gesprochen wird, dann haben wir - unter dem Deckmantel der Rationalität - die Wiederholung jener These von der geheimen oder verborgenen Macht aus dem Umkreis des reformatorischen Denkens vor uns, die ein anderer Name für das Irrationale ist 8. Im Sog solcher Rehabilitierungsversuche haben schließlich jüngste Untersuchungen viel (vergebliche) Mühe darauf verwendet, den für den philosophischen Freiheitsbegriff ruinösen Moralpositivismus bei Ockham hinwegdiskutieren oder verharmlosen zu wollen 9. Ähnlich liegen die Dinge schon bei Duns Scotus. Wie das Beispiel des Isaak-Opfers zeigt, impliziert die Dispensation vom Tötungsverbot die Veränderung einer ganzen Ordnung, die durch die absolute Macht Gottes möglich ist. Mag durch die Dispensation selbst kein Widerspruch entstehen, weil sie mit einer bestimmten, durch eine rationale Struktur gekennzeichneten Ordnung kohärent und konsonant ist, so liegt doch die Gültigkeit dieser Ordnung und ihre Veränderung im dunklen Willen der Allmacht Gottes, für uns nicht einsehbar, also im Irrationalen, begründet 10. Und wenn auch die gegenwärtige Ordnung 7
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J. P. Beckmann, Allmacht, Freiheit und Vernunft. Zur Frage nach „rationalen Konstanten“ im Denken des Späten Mittelalters, in: J. P. Beckmann e. a. (eds.), Philosophie im Mittelalter, Hamburg 1987, 275-293. Cf. J. P. Beckmann, Wilhelm von Ockham, München 1995, 155. Zur Kritik an Beckmann cf. J. Goldstein, Wilhelm von Ockham - Zur Lektüre empfohlen, in: Philosophischer Literaturanzeiger 52,4 (1999), 399-414, hier: 402. Die reformatorische Rezeption der Lehre von der potentia absoluta und ihre Ablehnung durch Calvin ist trefflich dargestellt bei F. Oakley, The Absolute and Ordained Power of God in Sixteenth- and Seventeenth-Century Theology, in: Journal of the History of Ideas 59 (1998), 437-461, hier: 456 sq. Den Moralpositivismus Ockhams hat schon A. Garvens, Die Grundlagen der Ethik Wilhelm von Ockhams, in: Franziskanische Studien 21 (1934), 243-273 und 360-408, herausgestellt und kritisiert. Zur Rehabilitierung Ockhams cf. R. Wood, Göttliches Gebot und Gutheit Gottes nach Wilhelm von Ockham, in: Philosophisches Jahrbuch 101 (1994), 38-54; S. Müller, Handeln in einer kontingenten Welt. Zu Begriff und Bedeutung der rechten Vernunft (recta ratio) bei Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000; I. Mandrella, Das Isaak-Opfer. Historisch-systematische Untersuchung zu Rationalität und Wandelbarkeit des Naturrechts in der mittelalterlichen Lehre vom natürlichen Gesetz (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie im Mittelalter NF 62), Münster 2002. Nach K. Hedwig, Das Isaak-Opfer. Über den Status des Naturgesetzes bei Thomas von Aquin, Duns Scotus und Ockham, in: A. Zimmermann/A. Speer (eds.), Mensch und Natur im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 21), Berlin - New York 1992, vol. 2, 645-661, hier: 651 sqq., ist die Dispensation bei Duns Scotus ein Hinweis auf die Veränderlichkeit des Naturgesetzes selbst. H. Möhle, Ethik als Scientia Practica nach Johannes Duns Scotus (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie im Mittelalter NF 44), Münster 1995, 423 sqq. macht dagegen auf die rationalen Konstanten des Naturgesetzes, aller göttlichen Gesetze aufmerksam. Es ist indes die Kontingenz des „Wechsels“ der göttlichen Gesetze, ihre „Aufhebung“ und „Ersetzung“, was hier das eigentlich sittliche Problem darstellt. Bei H. Möhle (430) heißt es lapidar: „Denn welche Ordnung gültig ist, bzw. welche durch eine andere ersetzt wird, unterliegt ausschließlich dem Willen Gottes.“ Mit anderen Worten: Rationalität und Irrationalität reichen sich die Hand.
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wie M. W. F. Stone richtig feststellt - auf die potentia dei ordinata als ihren bestimmenden Grund zurückführbar ist, so bleibt es doch dabei, daß im Falle des Isaakopfers ein „unerlaubter Akt zu einem erlaubten gemacht wird“ oder allgemein: eine mögliche andere sittliche Ordnung durch den dunklen Willen Gottes konstituiert wird 11. Was in diesem Zusammenhang oft in den Hintergrund gerückt wird, aber nicht vergessen werden darf, ist die Tatsache, daß es hier um die Frage der Macht geht. Die Macht aber ist eine Kategorie des moralischen Seins. Schon Wilhelm von Auvergne hat das logisch Mögliche (possibile) und das Mögliche im Bereich der Naturdinge (potentia) und die Macht als das Mögliche im Bereich des Moralischen, d. h. scholastisch: im Bereich des Willens, also der Freiheit, unterschieden. In diesem Sinne ist der Ring des Bischofs ein Zeichen seiner Macht und daher ontologisch ein ens morale 12. Wenn nun im 13. und 14. Jahrhundert verstärkt die Frage nach dem Wesen und Charakter der göttlichen Macht gestellt wird, dann betrifft diese Frage somit eigentlich Gott als Wesen der Freiheit und das Mögliche im Reich der Freiheit. Wilhelm von Ockham hat in einer berühmten Bestimmung die potentia absoluta und potentia ordinata auch so unterschieden, daß Gott „vieles machen kann, was er nicht machen will“ 13. Tatsächlich ist die potentia ordinata der Ausdruck für das, was Gott aktuell will oder wollte, d. h. schon immer aktuell gewollt hat 14. Dieses Wollen ist selbst kontingenter Natur, also nicht notwendig, obgleich die so kontingent angeordneten Gesetze für Gott den Charakter der Notwendigkeit haben. Nur im Hinblick auf dieses „Nicht-anders-Können“ könnte man von einer Selbstverpflichtung Gottes sprechen 15. Aber auch die potentia absoluta betrifft den göttlichen Willen; sie ist genauer gesagt der Ausdruck für all jenes Mögliche, das Gott hätte wollen können, wenn er nicht eine andere Anordnung getroffen hätte, bzw. jenes Mögli-
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Cf. M. W. F. Stone, Moral Psychology After 1277. Did the Parisian Condemnation Make a Difference to Philosophical Discussions of Human Agency?, in: J. A. Aertsen/K. Emery, Jr. /A. Speer (eds.), Nach der Verurteilung von 1277: Philosophie und Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte (Miscellanea Mediaevalia 28), Berlin - New York 2001, 795-826, hier: 823. Cf. T. Kobusch/L. Oeing-Hanhoff, Art. ,Macht‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 5, Basel - Stuttgart 1980, 588; T. Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 19972, 40 sqq. Wilhelm von Ockham, Quodlibet VI, q. 1 (OTh IX, St. Bonaventure 1980, 586). Id., Quaestiones variae, q. 6, a. 11 (OTh VIII, St. Bonaventure 1984, 295): „… quia hoc est Deum ordinare ,Deum velle‘ “; 296: „Ordinatio autem omnis divina est aeterna“. Die Möglichkeit der Selbstverpflichtung Gottes war allerdings schon von Durandus von SaintPourcX ain bestritten worden. Cf. Durandus, In II Sent., dist. 27, q. 2 (ed. Venedig 1571 [ND Ridgewood 1964], vol. 1, fol. 178ra): „Si quis dicat quod quamvis Deus non constituatur nobis debitor ex aliquo nostro opere, constituitur tamen debitor ex sua promissione … non valet, … quia promissio divina … non sonat in aliquam obligationem sed insinuat meram dispositionem liberalitatis divinae.“ Cf. dazu L. A. Kennedy, Durandus, Gregory of Rimini, and Divine Absolute Power, in: Recherches de The´ologie ancienne et me´die´vale 61 (1994), 69-87, hier: 72.
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che, das auch jetzt noch als Möglichkeit für den göttlichen Willen besteht, wenn sie nicht durch eine entsprechende „Anordnung“, d. h. durch ein entsprechendes aktuelles Wollen, Gottes außer Kraft gesetzt ist. 2. Potentia absoluta und Sitteng esetz Was nun den Inhalt dieses Wollens de potentia absoluta angeht, so sind, wenn man das 14. Jahrhundert besonders in den Blick nimmt, sowohl die Erkenntnislehre wie die philosophische Theologie, die Naturphilosophie, die Jurisprudenz, die Sakramententheologie und manch andere Disziplin davon betroffen. Hier soll es nur um das für die philosophische Vernunft eigentlich Anstößige innerhalb der nominalistischen Konzeption gehen. Das Skandalöse des nominalistischen Denkens betrifft das Sittengesetz, betrifft das Verständnis von Freiheit. Schon bei der bloßen Nennung einiger Beispiele aus der nominalistischen Philosophie kann das Anrüchige spürbar werden. So kann - um mit etwas Harmlosem zu beginnen - Gott nach Ockham einen Menschen, der immer Gott geliebt hat und gute Werke getan hat, vernichten oder der ewigen Strafe überantworten, ohne Unrecht zu begehen 16. Wenn zwei Menschen wie Jakob und Esau in allem ganz gleich wären, so kann er doch den einen annehmen, den anderen verdammen, wenngleich nicht de potentia ordinata 17. Gott kann jemanden hassen, der ohne jegliche Ungerechtigkeit ist, denn Gott ist niemandes Schuldner 18. Und wenn Gott den Befehl gäbe, ihn zu hassen, zu stehlen und Unzucht zu treiben, dann könnte dies nicht mehr Diebstahl, Unzucht usw. genannt werden 19. De potentia absoluta könnte also die sittliche Ordnung pervertiert werden, ohne daß sich ein Widerspruch ergeben kann. Denn Widerspruch zu was? Es soll ja gerade durch den Begriff der potentia absoluta eine mögliche zusammenhanglose, d. h. mit keiner anderen Ordnung in Zusammenhang stehende, obgleich in sich stimmige Ordnung gedacht werden. Nur im Falle des Gotteshasses aus Liebe zu Gott hat wenigstens der späte Ockham einen inneren Widerspruch erkannt und seine frühere Position revidiert. Nicht so in jedem Falle die moderne Ockhamforschung. Sie hat es sich nicht nehmen lassen, auch diesen unsinnigsten aller Grundsätze zu verteidigen und bestätigt so nur das, was sie selbst als Grund für den Eindruck der Immoralität dieses Gebotes anführt: die „mögliche oder faktische Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit“ 20. Man muß sich klarmachen, mit Blick auf die anderen obengenannten Gebote, was hier geschieht. Eine jahrhundertelang gültige philosophische Selbstverständlichkeit - das per se notum für das sittliche Bewußtsein - wird ohne Not aufgegeben. Hatten doch 16 17 18 19 20
Id., In IV Sent., qq. 3-5 (OTh VII, St. Bonaventure 1984, 55). Id., Quaestiones variae, q. 1, (OTh VIII, 22). Ibid., 26. Id., In II Sent., q. 15 (OTh V, St. Bonaventure 1981, 352 sq.). J. P. Beckmann, Wilhelm von Ockham, München 1995, 155.
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schon die Stoiker, allen voran Kleanthes und Chrysipp, aber auch „das ganze Volk der Philosophie“ gesagt, daß Tugend und Wahrheit bei Gott und den Menschen dasselbe sind, daß also die Univozität des Moralischen nicht in Zweifel gezogen werden kann 21. Nach der Tradition unterstehen so Gott und Mensch als Wesen der Freiheit denselben moralischen Gesetzen. Der Nominalismus verläßt in dieser Hinsicht eine breite Straße der philosophischen Überzeugung und begibt sich auf Abwege. Nach Robert Holcot, dem Oxforder Dominikaner, kann Gott den Menschen täuschen, er kann lügen und sein Versprechen brechen, und wenn er es täte, würde er doch um nichts weniger gut sein als vor der Erschaffung der Welt 22. Christus hätte, so bemerkt Holcot an anderer Stelle, als er Zachäus traf und mit ihm nach Hause ging, seinen Besitz wegnehmen und mit seiner Frau schlafen können, ohne Diebstahl und Ehebruch zu begehen, denn er ist als der göttliche Gesetzgeber selbst supra legem 23. Eine weitere breit belegbare - von Gregor von Rimini jedoch bekämpfte - Überzeugung besonders des späteren Nominalismus (Robert Holcot, Ralph Fitzralph, Adam Wodeham, Johannes von Rodington) besteht darin, daß Gott den Menschen täuschen und belügen könne 24. Nach Pierre d’Ailly ist ein doppelter Sinn des Begriffs ,Täuschung‘ auseinanderzuhalten, einer, in dem die Bestimmungen des ,Ungerechten‘, ,Ungeordneten‘ und ,Ungeschuldeten‘ miteingeschlossen sind, und ein anderer, in dem sie nicht eingeschlossen sind, so daß die Täuschung nur das Erzeugen einer falschen Zustimmung oder eines Irrtums bezeichne. Wenn er darüber hinaus meint, nur das erste sei für die „gläubigen Ohren“ in höchstem Maße horribel, dann muß die Philosophie Einspruch erheben 25. Es ist nicht das gläubige Bewußtsein, sondern das philosophische, das diese Zumutung zurückweist, und zwar besonders die in dem zweiten Sinn des Ausdrucks ,Täu21
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Themistius, Orat. II, 27 c: „Xry¬sippow me¡n y«mi˜n kai¡ Klea¬nuhw oyœ sygxvrh¬sei kai¡ oÕlon eunow filosofiaw, o« eœk th˜ w poiki¬lhw xoro¬w, oi« fa¬skontew eiÓnai th¡n ayœth¡n aœreth¡n kai¡ aœlh¬ueian aœndro¡w kai¡ ueoy˜ .“ Stoicorum Veterum Fragmenta, ed. I. v. Arnim, Stuttgart 1968, vol. III, 251 (= K. Hülser, Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker, Stuttgart 1987, vol. I, 328). Procl., In Plat.Tim. II, 106 sq.: „Oi« de¡ a«po¡ th˜ w Stoa˜ w kai¡ th¡n ayœth¡n aœreth¡n eiÓnai uev˜ n kai¡ aœnurv¬pvn eiœrh¬kasin“ (Arnim I 564). Cicero, De legibus I, 8, 25: „iam vero virtus eadem in homine ac deo est neque alio ullo ingenio praeterea“ (Arnim III 245). Cf. J. M. Incandela, Robert Holcot, O. P., on Prophecy, the Contingency of Revelation, and the Freedom of God, in: Medieval Philosophy and Theology 4 (1994), 165-188, hier: 170-172. Cf. das ausführliche Zitat bei F. Hoffmann, Die Theologische Methode des Oxforder Dominikanerlehrers Robert Holcot (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF 5), Münster 1972, 357. Reiche Belege bei T. Gregory, Dio Ingannatore e Genio Maligno, in: Giornale Critica della Filosofia Italiana NS 53/54 (1974), 477-516, hier: 485 sq. Pierre d’Ailly, In I Sent., q. 12 (ed. Straßburg 1490 [ND Frankfurt a. M. 1968], HH [o. P.]): „Unde primitus distinguendum est quod isti termini decipere et fallere et huiusmodi dupliciter possunt accipi. Uno modo ut includunt in suis descriptionibus ista sincathegoreumata, scilicet iniuste, inordinate, indebite. Alio modo ut non includunt ea: sed tantummodo fallere vel decipere est in aliquo causare assensum falsum sive errorem. Accipiendo tamen primo modo istos terminos, sic clarum est quod Deus non potest decipere vel fallere, sicut non potest peccare vel iniuste aliquid facere. Et isto modo apposita sententia est merito auribus fidelibus horrenda; sed secundo modo illud est dubium, nec est clare sacre Scripture contrarium.“
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schung‘ enthaltene. Hier wird ein zweites Mal die breite Bahn der philosophischen Überzeugung verlassen. Denn für die Stoiker wiederum, für die Kirchenväter generell, für die Autoren des frühen Mittelalters war es selbstverständlich, daß die Zustimmung zu etwas der innerste Hort der Freiheit, das Adyton, das eigentliche Zentrum der Freiheit darstellt, das niemals von außen verursacht werden kann und nicht instrumentalisiert werden darf. Wenn schließlich nach Heinrich von Langenstein Gott sogar „das Böse vorschreiben kann“ 26, dann muß solches Ansinnen mit philosophischer Empörung zurückgewiesen werden. Ein weiteres Abweichen von der Landstraße, auf der sich alle traditionelle Moralphilosophie und Gotteslehre bewegte, bedeutet auch die Formalisierung des sittlichen Gebotes der Gottesliebe als eines obersten Moralprinzips, das sozusagen mit jedem Inhalt gefüllt werden kann, der vor der selbst kontingenten praktischen Vernunft Bestand hat, und dazu gehört nach dem frühen Ockham sogar der Inhalt des Gotteshasses 27. Es gibt kein malum oder bonum per se. Gutes und Schlechtes sind das vom göttlichen Willen Gewollte bzw. Verabscheute 28. Die Gottesliebe, das ist das formale Zauberwort bei Ockham, unter dem man vieles versammeln kann. Seit einiger Zeit wird Wilhelm von Ockham auch als Theoretiker der rechten Vernunft gefeiert 29. Man muß jedoch daran erinnern, daß die Aufgabe der rechten Vernunft nach Ockham in der Bestimmung des Willens besteht, nicht nur dasjenige, was der göttliche Wille will, zu wollen, sondern auch allein deswegen es zu wollen, weil er es will 30 - ein Ärgernis für jeden 26
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Heinrich von Langenstein, In I Sent., q. ult. 4, fol. 221v (zitiert bei W. Kölmel, Von Ockham zu Gabriel Biel, Franziskanische Studien 37 [1955], 218-259, hier 234, nt. 74): „Potest tamen precipere malum, quod esset malum, si fieret absque suo precepto …“. Müller, Handeln in einer kontingenten Welt (nt. 9), 88 sq., sucht Ockham zu Hilfe zu kommen mit einer fragwürdigen Unterscheidung zwischen der Gottesliebe als formalem Prinzip und einer konkreten Form der Gottesliebe und entsprechend zwischen dem eigentlich bösen Akt des Gotteshasses und einem „uneigentlichen, schwachen Begriff des Hasses“. Doch scheint dieser Unterschied bei Ockham selbst uneigentlich und schwach ausgebildet zu sein. Ähnlich argumentiert auch Mandrella, Das Isaak-Opfer (nt. 9), 165. Cf. Mandrella, Das Isaak-Opfer (nt. 9), 153. Cf. R. Wood, Göttliches Gebot und Gutheit Gottes nach Wilhelm von Ockham, in: Philosophisches Jahrbuch 101 (1994), 38-54, hier: 43 sqq. Den umfassendsten und intelligentesten Deutungsversuch mit dem Ziel, eine aristotelische Konzeption der praktischen Vernunft mit einer „Gebotemoral“ zusammenzudenken, hat S. Müller mit ihrer o. a. Arbeit (cf. nt. 9) vorgelegt, freilich ohne überzeugen zu können. Denn es bleibt eine gewisse Spannung, wenn nicht gar ein Widerspruch zwischen der 37 behaupteten „eigenständigen Funktion“ der Vernunft und dem ihr zukommenden Charakter des „vorletzten“ Maßstabes (197). Wenn aber die Vernunftstruktur der Welt nicht der letzte Maßstab für das sittlich Gute ist, dann kann auch etwas Unvernünftiges als das sittlich Gute erklärt werden. Deswegen ist es nicht so ganz falsch, wenn L. Urban, William of Ockham’s Theological Ethics, in: Franciscan Studies 33 (1973), 310-350, hier: 346, auf die Beliebigkeit des Inhalts einer Handlung bei Ockham hinweist. Zu Ockhams Ethik des göttlichen Gebots vgl. auch T. M. Holopainen, William Ockham’s Theory of the Foundations of Ethics, Helsinki 1991, 133: „My thesis is that Ockham’s theory primarily represents a normative and deontological Divine Command ethics which is based on God’s absolute power.“ Cf. Wilhelm von Ockham, In I Sent. (Ordinatio), dist. 41 (OTh IV, St. Bonaventure 1979, 610): „Eo ipso quod voluntas divina hoc vult, ratio recta dictat quod est volendum.“
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Aristoteliker und, wie man hier schon hinzufügen kann, für jeden Theoretiker der neuzeitlichen Vernunft. Ganz abwegig ist jener Lösungsversuch - der eigentlich gar keiner ist, sondern die Sache eher verschlimmert -, nach dem zwischen dem Bereich des Religiösen und des Sittlichen, und damit auch zwischen dem Verdienstlichen und Moralischen, nach Ockham zu unterscheiden sei 31. Das ist nicht nur eine unhistorische Anwendung der bekannten Kierkegaardschen Kategorien des Religiösen und Sittlichen auf den Ockham-Text, sondern verkennt auch den umfassenden Charakter des Ethischen im Mittelalter 32. Aber der Zumutungen in diesem Bereich sind noch mehr. Der spätere Nominalismus, allen voran der „letzte Scholastiker“, hat das Verhältnis von sittlicher Gutheit und göttlichem Willen auf den Punkt gebracht: Nicht deshalb will Gott das Gute und Gerechte, weil es gut und gerecht ist, sondern umgekehrt: Weil Gott es will, deswegen ist etwas gut und gerecht 33. Kaum ein anderer Satz könnte deutlicher zum Ausdruck bringen, daß hier wiederum eine uralte philosophische Tradition verlassen wird, ja mehr noch: daß genau die entgegengesetzte Position eingenommen wird. Denn es war schon Platon, der im Euthyphron die Frage stellte, ob das Gute gut ist, weil es die Götter wollen, oder ob sie das Gute wollen, weil es gut ist, und der sie - natürlich - im Sinne des letzten Teils der Alternative für Jahrhunderte gültig beantwortete. In der modernen Ockhamerklärung oder -verteidigung, die weder die historischen Zusammenhänge noch den Unterschied zwischen Willkür und Freiheit zu kennen scheint, ist diese für das sittliche Bewußtsein schlechthin entscheidende Frage als bloße „Scheinfrage“ abgetan und Platons Metaphysik des Guten als eine Form des antiken Nezessitarismus angesehen worden. Die Loslösung davon sei - man traut seinen Ohren nicht - erst durch Ockhams Lehre von der göttlichen Freiheit vollzogen worden, die „das zu tuende Gute festlegen kann“ 34. Also doch Moralpositivismus? Dann aber ist auch der Gedanke der Willkür nicht fern, der doch angeblich durch die Rationalitätsstandards verhindert werde. Was also? Offenkundig führen Ockhams Gedankengänge nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch noch seine modernen Verteidiger in die Verwirrung. 31
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M. McCord Adams, The Structure of Ockham’s Moral Theory, in: Franciscan Studies 46 (1986), 1-36; cf. auch ead., William Ockham: Voluntarist or Naturalist?, in: J. F. Wippel (ed.), Studies in Medieval Philosophy, Washington 1987, 219-247. Zur Kritik an McCord Adams’ Interpretation cf. S. Müller, Die Grenzen einer philosophischen Ethik bei Wilhelm von Ockham, in: J. A. Aertsen/A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (Akten des X. Internationalen Kongresses für mittelalterliche Philosophie der S.I.E.P.M.) (Miscellanea Medievalia 26), Berlin - New York 1998, 1041-1047, und ead., Handeln in einer kontingenten Welt (nt. 9), 39, 135 nt. 2. G. Biel, Collectorium circa quattuor libros Sententiarum, I, dist. 17, q. 1, ed. W. Werbeck/U. Hofmann, vol. 1, Tübingen 1973, 423: „Nec enim, quia aliquid rectum est aut iustum, ideo Deus vult; sed quia Deus vult, ideo iustum et rectum.“ Cf. auch ibid., dist. 43, q. 2, 746: „… et eo quod vult aliquid fieri, iustum est fieri, et eo quod vult aliquid non fieri, non est iustum fieri …“; ibid., II, dist. 37, q. un, vol. 2, Tübingen 1984, 643: „Nec quodcumque extra se ideo vult quia rectum, sed quia vult ideo est rectum; unde impossibile est voluntatem divinam discordare a recta ratione.“ Beckmann, Wilhelm von Ockham (nt. 20), 155 sq.
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Schließlich sollen hier noch zwei Zumutungen für die philosophische Vernunft erwähnt werden, die an anderer Stelle schon in ihrer historischen Entwicklung verfolgt wurden und gerade auch besonders für das kritische neuzeitliche Denken den Anknüpfungspunkt bildeten: das Abrahamsopfer und die Frage nach dem universalen Heil 35. Für das nominalistische, ja für weite Teile des scholastischen Denkens war es keine Frage, daß es aus sittlicher Sicht Gott möglich war, Abraham den Befehl zu geben, seinen Sohn zu töten und andererseits das Heil einiger nicht zu wollen. Deswegen werden beide Beispiele auch in jenem Zusammenhang gebracht, wo es um die seit Johannes Damascenus geläufige Unterscheidung zwischen der göttlichen voluntas signi oder antecedens und der voluntas beneplaciti oder consequens geht. Jene äußert sich in der Form eines Befehls, eines Rates, eines Verbotes, einer Erlaubnis und stellt die natürlichen, zur Durchführung notwendigen Mittel bereit, ist aber wesensmäßig verhinderbar, wie man aus den beiden Beispielen entnehmen kann. Die voluntas beneplaciti oder consequens dagegen kommt in jedem Falle zur Durchführung. In der Frage des universalen Heils hat Gregor von Rimini, der sonst in den Fragen des Betrugs, der Lüge usw. Einspruch gegen die allgemeine nominalistische Lehre (Ockham, Wodeham, Rodington) erhebt, die extreme Gegenposition zu Petrus Aureolis vernünftiger Freiheits- und Allmachtslehre eingenommen, eine Gegenposition, die schließlich den universalen Heilswillen Gottes gänzlich in Frage stellt und die in dem Satz kulminiert: „quod deus non vult omnes homines salvos fieri.“ Wie dieser Satz es zeigt, ist die Lehre Gregors von der göttlichen Prädestination, die auch bei Hugolin von Orvieto, bei Marsilius von Inghen und später auch bei Calvin aufgenommen worden ist, die Perversion der eigentlich christlichen Gottesvorstellung 36. Denn der christliche Gott ist ein Gott der Freiheit, nicht der Willkür. Gerade wenn man sich an diese berühmte Hegelsche Unterscheidung von Willkür und Freiheit hält, dann kann jener Wille, der expressis verbis nicht das Heil aller Menschen, sondern nur ein partikuläres will, nicht wahrhaft frei genannt werden. Denn wahre Freiheit will nichts anderes als Freiheit für alle, d. h. universales Glück oder Heil 37. 3. Die Kritik der Neuzeit Diese nominalistischen Thesen über das Verhältnis von Gott und Sittengesetz sind skandalös. Sie sind ein Skandal in jenem Sinn des Wortes, den uns Heinrich 35
36 37
Cf. T. Kobusch, Paradoxon und religiöse Existenz, in: P. Geyer/R. Hagenbüchle (eds.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992, 455-480; id.: Die Universalität des Heils. Zur Auslegungsgeschichte von 1 Tim 2,4, in: N. Klimek (ed.), Universalität und Toleranz (Festschrift G. B. Langemeyer), Essen 1989, 85-96. Zum IsaakOpfer cf. auch Mandrella, Das Isaak-Opfer (nt. 9). Cf. die Belege bei Kobusch, Die Universalität des Heils (nt. 35), 94-95. Zur Hegelschen Unterscheidung zwischen Willkür und Freiheit cf. Kobusch, Die Entdeckung der Person (nt. 12), 158 sqq. u. 210-216.
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von Gent überliefert hat: „secundum quod et definitur Scandalum activum: quod est dictum vel factum minus rectum praebens occasionem ruinae, et tale est omne dictum vel factum vel non dictum vel non factum: quod … 38. Im Sinne dieses Wortes ist die nominalistische Philosophie des Moralischen skandalös, d. h. für die Philosophie selbst schlechthin ruinös. Und dies, obwohl der Nominalismus selbst das nicht so empfunden hat. Mit Recht sagt I. Mandrella in der neuesten Publikation zu diesem Thema, daß die biblischen Skandalfälle für Ockham „eigentlich nichts Skandalöses“ darstellen 39. Aber es muß zu denken geben, daß „uns“, dem aufgeklärten Bewußtsein, die im Hintergrund stehende Ansicht vom Moralischen als skandalös erscheint. Hier sind wir nicht im „Herbst des Mittelalters“, wie das Motto der Mediaevistentagung dieses Jahres unterstellen könnte, hier sind wir im tiefsten Winter der Philosophie, am Tiefstpunkt, in der Talsohle, im ehernen Zeitalter der Philosophie, denn hier wird nicht mehr und noch nicht wieder gewußt, was Freiheit ist. Doch diese Kritik ist keine Erfindung des Verfassers dieser Zeilen oder des 21. Jahrhunderts. In der Philosophie geht es überhaupt nicht um Erfindungen. Man tut gut daran, sich an den Satz I. Kants zu halten: „Wenn man Erfinder sein will, so verlangt man der Erste zu sein, will man nur Wahrheit, so verlangt man Vorgänger.“ 40 Diese Vorgänger sind der Deismus, sind Leibniz, die Aufklärung, Kant und Hegel. Nicht die Theologen waren es also, die dieses skandalöse Gottesbild des Nominalismus einer kathartischen Kritik unterwarfen. Im Gegenteil: Sie haben teilweise die Züge dieses Bildes noch verschärft. Hält man sich also nur an die Entwicklung des Begriffs der absoluten oder außerordentlichen Macht Gottes, wie das z. B. F. Oakley in seinen gelehrten und informativen Artikeln und Büchern größtenteils tut 41, dann kann möglicherweise der philosophische Empörungsschrei wider die nominalistische Zumutung, der aus Teilen der neuzeitlichen Philosophie zu hören ist, gar nicht wahrgenommen werden. Und doch besteht die neuzeitliche Philosophie, soweit sie die theologischen Implikationen mitbedenkt, weitgehend - wenngleich in ganz anderer Weise als das H. Blumenberg vorgeschlagen hatte - in einer kritischen Auseinandersetzung mit den moralischen, d. h. das Freiheitsverständnis betreffenden Grundlagen jener nominalistischen Thesen. Was die genannten Denkrichtungen und Denker der Neuzeit alle miteinander verbindet, ist die gegen die nominalistische Lehre gerichtete Überzeugung von der Univozität des Moralischen. Daß die ethischen Kategorien nach dem Nominalismus nur für das menschliche Handeln Geltung haben, ist von den modernen Ockhaminterpreten selbst bestätigt worden 42. Die Lehre vom universalen göttlichen Heilswillen, die 38 39 40 41 42
Heinrich von Gent, Quodlibet IV, q. 29 (ed. Badius, Paris 1518 [ND Leuven 1961], fol. 146 G). Mandrella, Das Isaak-Opfer (nt. 9), 166. I. Kant, Reflexionen 2159 (Akademie-Ausgabe, vol. XVI, 235). Cf. bes. Oakley, The Absolute and Ordained Power (nt. 8), 437-461. Cf. Müller, Handeln in einer kontingenten Welt (nt. 9), 66: „Wenn Gottes Handeln jenseits jeder moralischen Bewertung steht und moralische Kategorien nur für menschliches Handeln gelten, …“ und ibid., 126: „…, weil Gott als das höchste Wesen der Maßstab für das Sittliche selbst ist und diesem nicht etwa untersteht“.
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hier verteidigt wird, setzt nämlich notwendig den Begriff von einer universalen Gerechtigkeit voraus, die Gott und Menschen miteinander verbindet. Niemand hat das deutlicher zum Ausdruck gebracht als Leibniz, dessen „Theodizee“ auf diesem Grundgedanken beruht. Schon in der kleinen, um 1700 herum verfaßten Schrift „Unvorgreiffliches Bedencken“ hatte Leibniz die platonische Frage aufgenommen, „ob nehmlich der wille Gottes eigentlich das Recht mache, und ob etwas deshalber allein Guth und Recht sey, weil es Gott will, oder ob es Gott deshalben wolle, weil es an sich guth und recht sey“. Die erste Meinung, die bestimmte reformierte Theologen wie Polano oder Rutherford vertreten haben, basiert auf dem Grundsatz „stat pro ratione voluntas“, d. h. mein bloßer Wille dient mir als Grund. Aber dieser Grundsatz ist nach Leibniz der Wahlspruch eines Tyrannen, der dem christlichen Gott nicht zugeschrieben werden darf, weil sonst „Gott kaum mehr vom Teufel“ unterschieden werden kann. Wer, wie einige Nominalisten, wie protestantische und katholische Theologen, annimmt, Gott könne mit absolutem Recht die Unschuldigen verdammen und tue es und die ohne Taufe gestorbenen Kinder fielen den ewigen Flammen anheim, der hat nach Leibniz nicht nur eine schwache Vorstellung von der Güte und Gerechtigkeit Gottes, sondern der „verletzt … den Kern der Religion“ 43. Was aber diese falsche Gottesvorstellung erst möglich macht, ist die Ansicht, daß es im Bereich des Moralischen eine Analogie der Begriffe geben könne, so als ob Gottes Gerechtigkeit und Güte einem anderen Maßstab, einem anderen Kriterium oder einer anderen Regel unterliege als die entsprechenden Eigenschaften des Menschen. Die Kritik Leibniz’ macht diesen entscheidenden Unterschied zur nominalistischen Gottesvorstellung bewußt. Wenn also die Rede von der Gerechtigkeit und Güte Gottes einen verbindlichen Sinn haben soll, dann muß der Grund dieser Rede, eben das Wesen der Gerechtigkeit selbst, „Gott und dem Menschen gemeinsam sein“. Zwar gibt es ohne Zweifel beträchtliche Unterschiede zwischen der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes und der unvollkommenen des Menschen, aber „dieser Unterschied ist nur ein gradueller“ 44. Im Reich des Moralischen, d. h. im Reich der Freiheit, kann es „Stufen der Freiheit“ geben - von denen schon Duns Scotus und Descartes gesprochen hatten -, aber kein prinzipiell oder qualitativ Verschiedenes, das für ein sittlich Mögliches gehalten werden könnte, und zwar weder de potentia ordinata noch de potentia absoluta. Im Umfeld des deistischen Denkens drückt dasselbe A. Collins in dem 1713 erschienenen „Discourse of Free-Thinking“ so aus: „Diese in der Schrift genannten Eigenschaften kommen also Gott (nach der Meinung vieler Theologen) nicht im eigentlichen und direkten Sinne zu, sondern nur im un43
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Cf. G. W. Leibniz, Unvorgreiffliches Bedencken ueber eine Schrift genannt Kurtze Vorstellung …, abgedruckt in: Text ine´dits, ed. G. Grua, Paris 1948, vol. 1, 428-447, Zitat: 432-433; Theodice´e II 182 (ed. Gerhardt, vol. VI, 223). Cf. auch das Fragment der Schrift „Me´ditation sur la notion commune de la justice“, abgedruckt (ins Deutsche übersetzt) in: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, ed. E. Cassirer, Hamburg 1966, vol. II, 506516, Zitate: 507. Leibniz, Me´ditation (nt. 43), 509.
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eigentlichen oder, wie die Schulen sagen, analogen Sinne zu. Aber wenn die Schrift Gott Verstand, Weisheit, Wille, Güte, Heiligkeit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit beilegt, dann müssen diese Worte im strengen und eigentlichen Sinne, d. h. in ihrer gewöhnlichen Bedeutung verstanden werden. … Wenn wir daher keinen sicheren und festen Begriff von der Güte, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit Gottes hätten, so wäre es ein schlechthin unverständliches Wesen und die Religion, die in der Nachahmung Gottes besteht, wäre völlig verloren.“ 45 Dieselbe These, die auch bei Thomas Chubb nachweisbar ist 46, ist auch in der Moralphilosophie Kants als inneres Element erkennbar, denn das moralische Gesetz ist im selben Sinne notwendig (verstanden als moralische Notwendigkeit) sowohl für den göttlichen wie für den menschlichen Willen, wenngleich es den sinnlich beeinflußten Willen im Modus der „Nötigung“ bestimmt, während der göttliche Wille schon immer will, was es verlangt. Anknüpfend an Leibniz und Kant, hat auch der frühe Hegel den Grundgedanken des Calvinismus kritisiert. Wenn es zuträfe, daß der größere Teil des Menschengeschlechts von jenem Segen ausgeschlossen wäre, der „durch den Glauben auf uns Auserwählte träuft“, dann würde „das moralische Verhältnis der Gottheit zur Welt und den Menschen“ aufgehoben und der Begriff seiner Gerechtigkeit desavouiert. Ja, es würde sogar geleugnet, „daß die moralischen Eigenschaften Gottes irgend in einem Grade für uns erkennbar, bestimmbar seien, daß wir uns irgendeinen Begriff von seiner moralischen Natur machen können“ 47. Denkt man zudem daran, daß auch beim späten Hegel und in der Hegel nahestehenden „Spekulativen Ethik“, wo die Frage der Macht erneut intensiv erörtert wird, die These von der Univozität des Moralischen im Hintergrund steht 48, dann kann kaum ein Zweifel bestehen, daß sie als Wesenselement des neuzeitlichen Philosophierens sich der kritischen Auseinandersetzung mit dem Nominalismus verdankt. Die These von der Univozität des Moralischen ist zugleich auch die Grundlage für die kritische Antwort der Neuzeit auf das, was der Nominalismus, ja die Scholastik generell durch das Beispiel des Abrahamsopfers aussagen wollte. Repräsentativ sei hier auf drei kritische Reaktionen aus dem Bereich der neuzeitlichen Philosophie hingewiesen. Im Bereich des Deismus sind das die Bemerkungen von Thomas Morgan in seinem 1737-1740 erschienenen Werk „The Moral Philosopher“. Abraham glaubte sicher mit subjektiver Gewißheit, den Befehl zur Opferung seines Sohnes von Gott erhalten zu haben. Aber daß Gott in diesem oder einem anderen Fall das Naturgesetz suspendiert und etwas zur moralischen Pflicht gemacht hätte, was allen natürlichen Prinzipien und Gefüh45
46
47 48
A. Collins, A Discourse of Free-Thinking (Faksimile ND der Erstausgabe London 1713), ed., übersetzt und eingel. von G. Gawlick, Stuttgart - Bad Cannstatt 1965, 50*. Cf. Th. Chubb, An Enquiry concerning Infinite Justice and Infinite Satisfaction, in: id., A Collection of Tracts on Various Subjects, London 1730, 155: „Justice may be administered by a finite or by an infinite being, and it may be administered to a finite or to an infinite being, but still justice is the same in either.“ G. W. F. Hegel, Frühe Schriften (Theorie-Werkausgabe 1), Frankfurt a. M. 1971, 94 sq. Cf. dazu Kobusch, Die Entdeckung der Person (nt. 12), hier: 169, 210 sqq.
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len widerspricht, ist nach Th. Morgan absolut unglaubhaft und unbeweisbar. Wenn man es aber für möglich hält - wie es offenbar S. Clark, der Lehrer Morgans, nominalistischen Gottesvorstellungen folgend, getan hat 49 -, dann gibt es kein Recht und Unrecht, kein moralisch Gutes oder Böses, das einem positiven Willen vorgegeben wäre, sondern alles derartige würde erst festgelegt „by mere arbitrary Will and Pleasure“. Die Annahme, Gott habe Abraham den Befehl erteilt, seinen Sohn zu opfern, würde nach Morgan das gesamte System der Natur erschüttern und alle Handlungsregeln aufheben 50. Noch deutlicher ist die Kritik in der deutschen Version des Deismus, in Reimarus’ „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“, die zu großen Teilen von Lessing schon in den siebziger Jahren, die Bemerkungen über das Abrahamsopfer jedoch erst 1787 publiziert wurde. „Kann Gott wohl eine Handlung befohlen haben“ - so kleidet Reimarus seine Kritik in provozierende Fragen -, „die ihm ein Greuel ist, und die in der Schrift so oft verdammt wird? Kann darin eine gottgefällige Handlung gesetzt werden, wenn ein Vater sein eigenes Kind, das nichts verschuldet hat, jämmerlich ermorden soll, gleichsam als wenn es Gott zu Ehren geschähe? … Wer kann die Garstigkeit solcher Tath mit einem göttlichen Befehl zusammen reimen?“ Reimarus argumentiert von der inneren Natur der Dinge her: „Was in sich selbst unmöglich, ungereimt und falsch ist, was in jeder anderen Geschichte Lügen, Betrug, Gewaltthätigkeit und Grausamkeit heißen würde, kann dadurch nicht vernünftig, ehrlich, erlaubt und rechtmäßig werden, daß die Worte hinzukommen: so spricht der Herr!“ Deswegen müssen die in der Erzählung vom Abrahamsopfer enthaltenen Zumutungen für ein sittliches Gewissen als der Güte und Vollkommenheit Gottes widersprechend abgelehnt werden. Denn Gott eines solchen Befehls für fähig zu halten, heißt „ihn zu entehren und ihn zu einem ungerechten, fürchterlichen Wesen zu machen, das sich an der Vergiessung unschuldigen Bluts vergnügte“ 51. Kant hat diese deistische Position nicht nur in seiner Religionsschrift, sondern auch besonders in seiner 1798 erschienenen Schrift „Der Streit der Fakultäten“ übernommen. Nach Kant kann niemals bewiesen werden, daß, wenn der Mensch eine solche Stimme hört, wie im Falle des Abrahamsopfers, es Gott ist, der sich ihm so zu erkennen gibt, denn Gott kann als Gott nie mit den Sinnen erfaßt werden. Daß aber das, was ihm da erscheint, in einigen Fällen ganz gewiß nicht Gott sein kann, dafür gibt es ein absolut sicheres Kennzeichen: „Wenn das, was ihm durch sie (scil. die Stimme) geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch und die ganze Natur 49
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Cf. G. Gawlick, Einleitung zu Th. Morgan, The Moral Philosopher [London 1738-1740], ed. G. Gawlick, Stuttgart - Bad Canstatt 1969, *5-*36, hier: *28. Morgan, The Moral Philosopher (nt. 49), 133 sq. Cf. auch G. Gawlick, Abraham’s Sacrifice of Isaac Viewed by the English Deists, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 56 (1967), 577-600, hier: 594. H. S. Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, ed. G. Alexander, Frankfurt a. M. 1972, in der Reihenfolge der Zitate: II 2,8 (vol. I, 238-239); II 2,7 (I, 237); II 2,8 (I, 239).
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überschreitend dünken: er muß sie doch für Täuschung halten.“ Abraham hätte deswegen mit absoluter moralischer Gewißheit antworten müssen: „Daß ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott seiest, davon bin ich nicht ganz gewiß, und kann es auch nicht werden, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete.“ 52 Hier erst wird die Frage nach der Gewißheit, die das 14. Jahrhundert in Atem hielt, für den Bereich des Moralischen durch die Lehre vom moralischen Gesetz endgültig beantwortet. Aber wie wir seit Schelling und Kierkegaard und der Dialektischen Theologie wissen 53, war auch diese Antwort eine nur vorläufig endgültige.
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I. Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Werke, ed. W. Weischedel, vol. 9, Darmstadt 1968, 333. Zur Rolle Schellings und Kierkegaards in dieser Frage cf. H. Rosenau, Die Erzählung von Abrahams Opfer (Gen 22) und ihre Deutung bei Kant, Kierkegaard und Schelling, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 27 (1985), 251-261. Zu Kierkegaards Lehre von der teleologischen Suspension des Ethischen und ihrer Rezeption in der Dialektischen Theologie cf. Kobusch, Paradoxon und religiöse Existenz (nt. 35), 464-475.
Die Autarkie des mittelalterlichen Naturrechts als Vernunftrecht: Gregor von Rimini und das etiamsi Deus non daretur-Argument Isabelle Mandrella (Trier) In seiner 1625 in Paris erschienenen Schrift „De iure belli ac pacis“ führt Hugo Grotius, der gemeinhin als der Vater des neuzeitlichen Naturrechts- bzw. Völkerrechtsdenkens angesehen wird 1, in den Prolegomena ein Argument an, in dem die Existenz Gottes hypothetisch in Frage gestellt wird, um die Unabhängigkeit des Naturrechtes zu demonstrieren. Nachdem er die Eigenart der menschlichen Natur als eine solche beschreibt, die zur Bemessung des Angenehmen und Schädlichen in der Lage ist und nach dieser Einsicht dem zu folgen vermag, was für richtig erkannt wird, nennt er einige Beispiele naturrechtlich gebotener Handlungen, wie etwa sich fremden Guts zu enthalten oder Versprechen zu erfüllen, um dann zu folgendem Schluß zu kommen: „Diese hier dargelegten Bestimmungen würden auch Platz greifen, selbst wenn man annähme, was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte, daß es keinen Gott gäbe oder daß er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere (etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotio humana).“ 2 Dieses Argument, das ich im folgenden abgekürzt als „etiamsi Deus non dareturArgument“ bezeichnen möchte, gilt vielen als Indiz eines autonomen und säkularisierten Naturrechtes. Grotius - so die Befürworter dieser Auffassung - läßt mit dieser Konzeption die theologischen Fesseln des Mittelalters hinter sich und ist dementsprechend als Vorbote des neuzeitlichen Sittlichkeitsverständnisses anzusehen. Während die mittelalterliche Ethik aufgrund ihrer engen Verknüpfung mit der Theologie bzw. mit einem theologisch verankerten Welt- und Menschenbild zur Begründung sittlicher Normen auf Gott nicht zu verzichten vermag und demnach in ihrem Sittlichkeitsverständnis stets abhängig von theologischen Prämissen bleibt, macht Grotius ernst mit der Annahme eines von Natur aus Guten bzw. Schlechten, das auch dann Gültigkeit zu beanspruchen vermag, 1
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Cf. beispielsweise Art. Grotius, Hugo, in: J. Mittelstraß (ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Vol. 1, Mannheim - Wien - Zürich 1980, 820; W. Schneiders, Art. Naturrecht/Vernunftrecht, in: id. (ed.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995, 283; J. D. Ford, Art. Grotius, Hugo (1583-1645), in: E. Craig (ed.), Routledge Encyclopedia of Philosophy, Vol. 4, London-New York 1998, 185. Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, prolegomena n. 11, ed. P. C. Molhuysen, Den Haag 1919, 7 (deutsche Übersetzung: Walter Schätzel, Tübingen 1950, 33).
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wenn es Gott, geschweige denn einen göttlichen, den Menschen verpflichtenden Willen nicht gäbe. So weit der übliche Befund 3. Die Beurteilung des grotianischen Naturrechtes als autonom, die die als typisch neuzeitlich gedeutete Emanzipation der Vernunft vom Gottesbegriff zum Ausdruck bringt, geschieht indes in Unkenntnis der mittelalterlichen historischen Quellen, was freilich nicht überrascht. Denn gerade jenes etiamsi Deus non daretur-Argument, das als die höchste Demonstration des in der Neuzeit erwachten Emanzipationsstrebens der Vernunft angesehen wird, findet seine erste explizite Ausformulierung zu Beginn des 14. Jahrhunderts bei Gregor von Rimini (ca. 1300-1358) 4. Im folgenden wird deshalb auf die Lehre Gregors einzugehen sein (I). Die Frage nach der Originalität des Gregor’schen Ansatzes impliziert die Frage nach möglichen Vorgängerpositionen eines etiamsi Deus non daretur-Argumentes (II) sowie nach der Wirkungsgeschichte dieses Argumentes (III). Ein systematisches Resümee (IV) soll der Bedeutung des dargestellten Gedankenexperimentes insbesondere für das Verständnis der mittelalterlichen Ethik gewidmet sein. I Der Augustinermönch Gregor, von dem uns nur noch die Kommentare zum ersten und zweiten Sentenzenbuch überliefert sind 5, ist in seinen Werken deutlich von der Absicht geleitet, gegen den mit dem Namen Wilhelms von Ockham 3
4
5
Cf. die Artikel zu Grotius in: The Encyclopedia of Philosophy, Vol. 3, New York - London 2 1972, 394; Metzler Philosophen Lexikon, Stuttgart - Weimar 21995, 330; die Artikel zu Naturrecht in: A. Hügli/P. Lübcke (eds.), Philosophielexikon, Reinbek 1991, 409; A. Ulfig, Lexikon der philosophischen Begriffe, Eltville 1993, 287; Wörterbuch der philosophischen Begriffe (Philosophische Bibliothek 500), Hamburg 1998, 444 sq. Cf. darüber hinaus J. Rohls, Geschichte der Ethik, Tübingen 1991, 205 sq.; D. Berding/D. Klippel, Art. Droit naturel et droits de l’homme, in: M. Delon (ed.), Dictionnaire europe´en des lumie`res, Paris 1997, 350. Kritisch - allerdings abwertend - hingegen schon J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Vol. 2: Neuzeit und Gegenwart, Freiburg - Basel - Wien 81969, 63 sq. in Anlehnung an J. Kohler. Zu den wenigen Ausnahmen der philosophischen Überblicksliteratur, die Gregor als Vorläufer des grotianischen Diktums nennen, zählen D. E. Luscombe, Natural Morality and Natural Law, in: N. Kretzmann/A. Kenny/J. Pinborg (eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. From the Rediscovery of Aristotle to the Disintegration of Scholasticism 1100-1600, Cambridge 1982, 705-719, 719; H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 4 1990, 126 sq. sowie S. Goyard-Fabre, Art. Loi naturelle moderne, in: M. Canto-Sperber (ed.), Dictionnaire d’e´thique et de philosophie morale, Paris 1996, 868-870. Gregor von Rimini, Lectura super primum et secundum Sententiarum, tom. I-VII, ed. A. Trapp/V. Marcolino e. a. (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen VIXII), Berlin - New York 1981 sqq. Die 1934 getroffene Mutmaßung Schülers, daß „verborgen in den Bibliotheken auch Handschriften der letzten beiden Sentenzenbücher vorhanden sind“ (M. Schüler, Prädestination, Sünde und Freiheit bei Gregor von Rimini, Stuttgart 1934, 18), findet durch die Anfang der 80er Jahre entstandene Edition des Sentenzenkommentars leider keine Bestätigung. Offensichtlich ist ein Kommentar zum dritten und vierten Buch nie zustande gekommen.
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verbundenen moralischen Voluntarismus Position zu beziehen. Der in seinen Augen drohenden Gefahr eines omnipotenten Willkürgottes setzt er seine ethische Theorie entgegen, die - auf der Basis der Annahme des Naturgesetzes als Ausdruck natürlicher Moralität - unabhängig vom göttlichen Willen ihren Verpflichtungsgrund findet 6. Im dritten Corollarium der ersten quaestio der distinctiones 34-37 des zweiten Sentenzenbuches behandelt Gregor das klassische Problem, daß der Mensch viele Dinge zu tun in der Lage ist, die Gott ihm aber nicht als zu tuende gebieten kann 7. Die Fragestellung weist schon darauf hin, gegen welche Theorie Gregor hier Position bezieht, nämlich gegen eine solche, die die Existenz in sich guter bzw. schlechter Handlungen negiert und stattdessen - mit einer Theorie der Indifferenz aller Akte im Hintergrund - die Meinung vertritt, Gott könne völlig ungebunden jede Handlung befehlen und der Mensch hätte ihm in allem zu folgen. Diese Position ist unschwer als die des Wilhelm von Ockham zu identifizieren - zumindest dem Sinne nach, in dem Gregor ihn versteht! -, dessen Moralpositivismus in Gregors Augen die göttliche Freiheit so stark einfordert, daß Gott zu einem allmächtigen Willkürgott zu entarten droht, weil er den Menschen sogar befehlen könne, daß es verdienstlich sei, ihn zu hassen 8. Die von Gregor behandelte Frage ist also identisch mit der, ob Gott etwas Böses gebieten kann. Gregor beschreibt das Dilemma, das sich ergibt, wenn man davon ausgeht, daß Gott alles gebieten kann, wozu der Mensch in der Lage ist: Denn der Mensch handelt immer gut, wenn er Gottes Geboten Folge leistet; wenn man aber davon ausgeht, daß Gott alles - also auch das Böse - gebieten kann, wäre es gut, wenn der Mensch Böses tun würde 9. Es gibt aber secundum se mala, zu denen der Mensch durchaus in der Lage ist, die jedoch niemals auf gute Weise vollzogen werden können, weil sie unmittelbar einsichtigen ersten Prinzipien widersprechen, die die rechte Vernunft als zu tuende vorschreibt 10. Würde Gott 6
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Zur Ethik Gregors cf. I. Mandrella, Das Isaak-Opfer. Historisch-systematische Untersuchung zu Rationalität und Wandelbarkeit des Naturrechts in der mittelalterlichen Lehre vom natürlichen Gesetz (BGPhThMA N.F. 62), Münster 2002, 177-198; M. Santos Noya, Die Sündenund Gnadenlehre des Gregor von Rimini, Frankfurt a. M. - Bern 1990. Gregor von Rimini, In II Sent., dist. 34-37, qu. 1, a. 2 (VI, 243): „Tertium corollarium est quod multa potest homo facere, quae deus non potest illi praecipere ut faciat.“ Wilhelm von Ockham, In IV Sent., qu. 16, ed. R. Wood/G. Ga´l, in: Opera philosophica et theologica, cura Instituti Franciscani Universitatis S. Bonaventurae, Opera theologica VII, St. Bonaventure, N.Y. 1984, 352: „… omnis voluntas potest se conformare praecepto divino. Sed Deus potest praecipere quod voluntas creata odiat eum, igitur voluntas creata potest hoc facere.“ Zur Indifferenz moralischer Akte cf. In II Sent., qu. 15, ed. G. Ga´l/R. Wood, in: OTh V, St. Bonaventure, N.Y. 1981, 352 sqq. Cf. Gregor von Rimini, In II Sent., dist. 34-37, qu. 1, a. 2 (VI, 243). Ibid. (VI, 243 sq.): „… multa sunt secundum se mala quae homo potest facere. Talia autem numquam potest bene facere. Alias male faciendo bene faceret, et male facere esset bene facere; quod implicat repugnantiam. …multa sunt, quae non esse facienda est verum necessarium, et per consequens ea esse facienda est falsum impossibile, ac per hoc numquam vera seu recta ratione iudicari possunt esse facienda, et tamen illa potest homo facere, verbi gratia nemini esse iniuriandum […], et multa alia quae circa agibilia ita sunt prima principia et per se nota esse vera …“
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solche gebieten, so verstieße er gegen die recta ratio, was - wie noch näher zu zeigen sein wird - dem Sündigen gleichkommt. Doch ist dies unmöglich, denn Gott kann nicht sündigen 11. Die direkte Konsequenz aus der Annahme, daß Gott sündigen könnte, wäre nämlich die, daß er nicht mehr Gott wäre 12. Gott ist also nicht in der Lage, Böses zu gebieten. Gregor beabsichtigt eine ethische Theorie zu konzipieren, deren Geltungsgrund - in bewußter Ablehnung der Ockham’schen Thesen - unabhängig vom Willen Gottes zu suchen ist. Dies hat eine Stärkung der Position der rechten Vernunft zur Folge, die mit der Definition dessen, was Sünde ist, beginnt: Sünde ist nicht mehr der Verstoß gegen Gottes Willen, sondern wird eindeutig definiert als ein freiwilliges Handeln gegen die rechte Vernunft (peccatum nihil aliud est quam voluntarie agere contra rectam rationem seu contra id quod agendum esset secundum rectam rationem) 13. In der Begründung für sein Vorgehen, den Ausdruck contra rectam rationem dem Ausdruck contra rationem divinam vorzuziehen, spricht Gregor deutliche Worte: Würde man „Sünde“ als agere contra rationem divinam interpretieren, könnte fälschlicherweise die Meinung entstehen, daß etwas „Sünde“ sei, „nicht weil es gegen die göttliche Vernunft, insofern sie recht ist, verstößt, sondern weil es gegen die göttliche Vernunft, insofern sie göttlich ist, verstößt“ 14. Diese Annahme aber ist in Gregors Augen falsch: Ratio recta und ratio divina fallen zwar inhaltlich in eins, doch haben sie aufgrund verschiedener Zuständigkeitsbereiche unterschiedliche Begründungsfunktion; die rechte Vernunft betrifft in sich schlechte oder gute Handlungen, die göttliche Vernunft hingegen solche, die gut oder schlecht sind, weil sie von Gott ge- oder verboten sind. Nachdrücklich aber bevorzugt Gregor die erste Definition. Dies wird nicht zuletzt deutlich an folgendem zentralen Argument, das er in Form eines Gedankenexperimentes einführt: Wenn - was unmöglich ist! - es Gott nicht gäbe oder seine Vernunft irren würde, wären Verstöße gegen die recta ratio immer noch Sünde: „Denn gesetzt den unmöglichen Fall, daß die göttliche Vernunft oder Gott selbst nicht wären (si per impossibile ratio divina sive deus ipse non esset), oder daß jene Vernunft irrig wäre, so würde noch immer sündigen, wer gegen die rechte Vernunft der Engel oder der Menschen oder sonst eine, wenn es sie irgendwie gäbe, verstieße. Und wenn es sogar ganz und gar keine rechte Vernunft gäbe, so würde noch immer sündigen, wer gegen das verstieße, was zu handeln ihm irgendeine rechte Vernunft, wenn es irgendeine gäbe, diktierte. Und deshalb habe ich den Schluß 11
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Ibid. (VI, 245): „… non est possibile deum peccare, igitur nec est possibile eum aliquid agere contra rectam rationem […] cum non sit aliud peccare quam agere contra rectam rationem …“ Ibid. (VI, 247): „… si deus praeciperet, ipse peccaret; ex quo sequitur quod ipse non esset deus.“ Cf. ibid. (VI, 234): „… peccatum nihil aliud est quam voluntarie agere contra rectam rationem seu contra id quod agendum esset secundum rectam rationem.“ Ibid. (VI, 235): „Si quaeratur, cur potius dico absolute ,contra rectam rationem‘ quam contracte ,contra rationem divinam‘, respondeo: Ne putetur peccatum esse praecise contra rationem divinam et non contra quamlibet rectam rationem de eodem; aut aestimetur aliquid esse peccatum, non quia est contra rationem divinam inquantum est recta, sed quia est contra eam inquantum est divina.“
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gezogen ,Sünde ist Handeln gegen die rechte Vernunft‘ oder ,gegen das, was gemäß der rechten Vernunft zu tun wäre‘.“ 15 Kein schärferes Argument hätte Gregor gegen alle positivistisch geprägten Theorien ins Feld führen können. Die rechte Vernunft wird - unabhängig von Gott - als das entscheidende Kriterium eingeführt, wenn es darum geht zu bestimmen, was gut und was schlecht ist, nicht hingegen der Umstand, daß etwas von Gott geboten oder verboten ist 16. Im zweiten Corollarium der eben behandelten quaestio erörtert Gregor seine These, daß viele Sünden Sünden aus sich selbst sind (ex se sunt peccata) und nicht schlechterdings, weil sie verboten sind (et non praecise quia prohibita) 17. Der Mensch ist nämlich in der Lage, auch ohne die entsprechenden Ge- und Verbote gewisse „praktische Wahrheiten“ zu erkennen, wie beispielsweise, daß die Eltern zu ehren sind, niemand zu beleidigen ist etc. 18. Wollte man also davon ausgehen, wie dies laut Gregors Meinung Ockham tut, daß Sünde nur darüber definiert wird, daß sie verboten ist, ließe sich zugespitzt die Meinung vertreten, daß diejenigen, die keine expliziten Gebote erhalten, wie beispielsweise die gentiles philosophi, nie sündigten, wie auch immer sie handelten 19. Auch auf den Gotteshaß kommt Gregor noch einmal zu sprechen: Mit dem Ockham’schen Konzept malum quia prohibitum wäre es nämlich auch möglich, daß Gott zu hassen, den Guten zu beneiden und zu lügen keine Sünden wären, wenn sie eventuell nicht verboten wären. Einen Schritt weitergehend hieße das aber, daß Gott selbst sich hassen, den Guten beneiden und lügen könnte, was Gregor mit einem quod est absurdum dicere quittiert 20. Zur Untermauerung seiner Theorie differenziert Gregor bezüglich der Begriffe von Ge- und Verbot zwischen zwei Bedeutungen, nämlich einer indikativischen und einer imperativischen. Beim indikativisch Gebotenen handelt es sich um jene Fälle, von denen schon die Rede war, nämlich um solche, die wir als Naturgebot begreifen, mit anderen Worten durch ein natürliches Unterschei15
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Ibid.: „Nam, si per impossibile ratio divina sive deus ipse non esset aut ratio illa esset errans, adhuc, si quis ageret contra rectam rationem angelicam vel humanam aut aliam aliquam, si qua esset, peccaret. Et si nulla penitus esset ratio recta, adhuc, si quis ageret contra illud quod agendum esse dictaret ratio aliqua recta, si aliqua esset, peccaret. Et ideo in ponendo conclusionem dixi ,peccatum esse agere contra rectam rationem‘ seu ,contra id quod agendum esset secundum rectam rationem‘.“ Daß Gregor sich der Sache nach mit dieser Meinung nicht viel von Ockham unterscheidet, für den die rechte Vernunft selbstverständlich gleichermaßen entscheidendes Kriterium des Handelns zu sein hat, ist von der neueren Ockham-Forschung überzeugend herausgestellt worden. Cf. S. Müller, Handeln in einer kontingenten Welt. Zu Begriff und Bedeutung der rechten Vernunft (recta ratio) bei Wilhelm von Ockham (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 18), Tübingen 2000. Cf. Gregor von Rimini, In II Sent., dist. 34-37, qu. 1, a. 2 (VI, 237). Ibid. (VI, 238). Cf. auch ibid. (VI, 244), wo Gregor diesbezüglich von Sätzen spricht, „quae circa agibilia ita sunt prima principia et per se nota esse vera“ und diese mit den obersten Prinzipien der spekulativen Dinge parallelisiert. Cf. ibid. (VI, 239). Ibid. Cf. auch ibid. (VI, 245), wo Gregor von „alteri iniuriari, proximo invidere, deum odire et huiusmodi secundum se peccata“ spricht.
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dungsvermögen, „das uns innerlich eingegeben ist“ (quae intrinsecus aspirata est) 21. Sie zeigen an, daß etwas ungerecht oder gerecht, schlecht oder gut und demnach zu lassen oder zu tun ist. Da sie vocaliter per verbum indicativi modi ausgedrückt werden, bedürfen sie keines expliziten Befehls. Dennoch ist es legitim, auch die indikativische oder enuntiative Kenntnis darüber, was der Mensch zu tun oder zu lassen hat, als Ge- oder Verbot zu bezeichnen 22. Anders hingegen das imperativisch Gebotene: Sprachlich formuliert durch ein verbum imperativi modi sind jene Ge- bzw. Verbote gemeint, die ein Untergeordneter von einem Höheren erhält. Sie befehlen, was jemand zu tun hat und was nicht. Gregor will mit dieser Unterscheidung keineswegs leugnen, daß alle Sünde auch von Gott verboten ist! Selbstverständlich gehört zum Begriff der Sünde oder des in sich Schlechten das Verbotensein durch Gott. Die göttliche lex aeterna, so schreibt Gregor, schätzt also „mindestens indikativerweise“ (saltem indicative) die Sünde als nicht zu Tuendes ein. Dieser Bezug ergibt sich zwingend, wenn man davon ausgeht, daß es unmöglich ist, daß in sich schlechte Handlungen wie der Gotteshaß nicht von der lex aeterna verboten seien; verboten allerdings im indikativischen Sinn (sic loquendo de prohibitione), d. h. ohne daß ein expliziter Befehl vonnöten wäre 23. Worauf es Gregor ankommt, ist darzulegen, daß die Sünde als Verstoß gegen die rechte Vernunft, insofern sie recht ist, eben auch dann geschieht, wenn Gott diesbezüglich keine expliziten Befehle erlassen hat. Der Verstoß gegen die lex indicativa ist Sünde, weil in ihr secundum se mala betroffen sind, die wiederum nicht notwendig im imperativischen Sinne verboten sein müssen; aufgrund ihrer indikativischen Funktion, der natürlichen Unterscheidung von „zu tun“ bzw. „du sollst“ und „zu lassen“ bzw. „du sollst nicht“, sind sie ausreichend bekannt und verpflichtend 24. Wenn Gregor dennoch nicht auf Gott als das Fundament aller Moralität verzichtet, insofern erst die Gottesliebe als oberstes Prinzip das moralisch gute 21
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Ibid. (VI, 241). Hintergrund der an dieser Stelle auf Hugo von St. Viktor zurückgehenden Formulierung des in den Menschen eingeschriebenen Gesetzes ist die philosophische Interpretation von Röm 2, 14. Ibid. (VI, 242): „Ex his patet quod omnis cognitio, quam habet homo de agendis vel vitandis, quodammodo praeceptio vel prohibitio dicitur et per consequens indicativa seu enuntiativa cognitio.“ Ibid.: „… omne peccatum, loquendo de prohibitione primo modo [sc. indicativa], est a deo prohibitum. Et si aliquid non esset, stante divina lege quae deus est, prohibitum ipsum non esset peccatum. Nam omne peccatum aeterna lex censet saltem indicative esse non agendum; et si de aliquo non sic censeret, illud non esset contra recta rationem, et per consequens nec peccatum. Dico etiam quod aliqua peccata impossibile est non esse prohibita a deo, sic loquendo de prohibitione. Nam de aliquibus impossibile est quin sint contra legem aeternam, sicut odire deum, alteri iniuriari etc, quae secundum se mala sunt. Sicut enim impossibile est non esse verum, deum non esse odiendum et nemini esse iniuriandum, sic impossibile est quin summa veritas, lex aeterna, censeat quod deus non est odiendus et quod nemini est iniuriandum, ac per hoc impossibile est quod odire deum vel iniuriari proximo non sit aeterna lege prohibitum …“ Ibid.: „Si vero loquatur de prohibitione secundo modo [sc. imperativa], […] dico quod non omnia [sc. peccata] necessario sunt a deo prohibita, immo nullum. Nam possibile est et fuit deo nulli aliquod tale imperium facere, ut certum est; tamen, esto quod nulla essent aut fuissent sic prohibita, adhuc, si quis odiret deum et alia de quibus dictum est, ageret, utique peccaret.“
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Verhalten zu motivieren vermag - eine Ansicht, die ihn, streng fideistisch interpretiert, sogar zu der rigorosen Auffassung führt, daß ein Ungläubiger nicht moralisch gut handeln könne 25 -, wird deutlich, daß der Aussagegehalt des etiamsi Deus non daretur-Argumentes nicht vorschnell in seiner Bedeutung für eine Säkularisierung und Autonomisierung des Naturrechtes im Sinne einer Emanzipation der Vernunft vom Gottesbegriff zu deuten ist 26. Denn dieses Gedankenexperiment will nicht den kühn gewagten möglichen Verzicht auf Gott propagieren, sondern dient lediglich der Stärkung des eigentlich intendierten Argumentes: der Konsolidierung einer allein auf rechter Vernunft basierenden Sittlichkeit. Damit aber läßt sich Gregor mit seiner Position in die lange Reihe der mittelalterlichen Autoren einreihen, die auf spekulativem Niveau die Bedingungen der Möglichkeit der Autarkie praktischer Vernunft aufzuweisen versuchen.
II In Gregors etiamsi Deus non daretur-Argument manifestiert sich die Einsicht, daß die mittelalterliche lex naturalis, das auf der rechten Vernunft basierende natürliche Gesetz, als Vernunftrecht nur als autark zu begreifen ist - eine Einsicht, die als Spezifikum mittelalterlicher Ethik zu betrachten ist 27. Denn nicht erst Gregor diskutiert die Priorität des Vernünftigen vor dem Göttlichen. Schon bei Johannes Duns Scotus findet sich explizit der Ansatz, den notwendig wahren Sätzen des sogenannten strengen Naturrechtes auch dann Geltung zuzuschreiben, wenn jegliches Wollen - also auch das göttliche - nicht existierte. Ausgehend von der Frage, inwiefern die Gebote des Dekalogs, die nach mittelalterlicher Auffassung traditionell als Naturgesetz verstanden wurden 28, wirklich zum Naturgesetz gerechnet werden dürfen, unterscheidet Scotus in Ordinatio III, dist. 37 zwischen einem Naturgesetz im strengen (stricte) und weiteren Sinne (large loquendo) 29. Die lex naturae im eigentlichen Sinne umfaßt - so die scotische Bestimmung - die ersten praktischen, aus den Begriffen heraus erkannten Prinzipien (prima principia practica nota ex terminis) bzw. die aus diesen folgenden notwendigen Konklusionen (conclusiones necessariae sequentes ex eis), de25
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Cf. In I Sent. dist. 1, qu. 1, a. 2 (I, 194); In II Sent. dist. 26-28, qu. 1, a. 3 (VI, 73); In II Sent. dist. 38-41, qu. 1, a. 2 (VI, 311). Gegen F. Ricken, Art. Naturrecht I. Altkirchliche, mittelalterliche und römisch-katholische Interpretationen, in: Theologische Realenzyklopädie, Vol. 24, Berlin - New York 1994, 132-153, 146. Cf. Mandrella, Das Isaak-Opfer (nt. 6), 261-285. Die Identifizierung des Naturgesetzes mit dem Dekalog findet ihre erste Fixierung um 1150 im Dekret Gratians, wo es heißt: „Ius naturale est quod in lege et evangelio continetur “ (Decretum Magistri Gratiani I, dist. 1, prol., ed. E. L. Richter, Leipzig 1879 [Nachdruck Graz 1955], 2). Johannes Duns Scotus, Ord. III, dist. 37, in: A. B. Wolter, Duns Scotus on the Will and Morality. Selected and Translated with an Introduction, Washington, D.C. 1986, 276-278. Zusammenfassend cf. ibid. (Wolter, 280).
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nen eine notwendige Wahrheit (veritas necessaria) innewohnt 30. Konkret meint Scotus damit die erste Tafel des Dekalogs, insbesondere das Gebot der Gottesliebe (Deus est diligendus bzw. summum est diligendum). Der Intellekt ist von Natur aus in der Lage, dieses verum practicum des Naturgesetzes im strengen Sinn, dessen selbstevidente Prinzipien analog zu denen der theoretischen Wissenschaft bestehen 31, zu erkennen, so wie der Wille von Natur aus zur Zustimmung zu den darin enthaltenen Vorschriften hingeneigt ist 32. Aus dieser Bestimmung folgt, daß die Prinzipien der lex naturae stricte loquendo auch für Gott unveränderbar und indispensabel sein müssen, denn was aus sich heraus (ex se) verboten ist, kann durch kein Wollen erlaubterweise bewirkt werden 33. Das strenge Naturgesetz geht folglich insofern jedem Willensakt (also auch dem göttlichen) vorauf, als es auch gültig wäre, wenn jegliches Wollen (also auch das göttliche) beseitigt wäre - was freilich, wie Scotus hinzufügt, unmöglich ist 34. Das Anliegen des Scotus, „das Naturgesetz jenseits der Möglichkeit eines Eingriffs durch den göttlichen Willen aufgrund der in diesem Gesetz enthaltenen washeitlich bestimmten Begriffsinhalte zu konstituieren“ 35, deckt sich mit seiner metaphysischen Grundannahme, daß der Möglichkeit des Kontingenten eine logische Notwendigkeit vorausgeht, die im formalen Gehalt der Gegenstände gründet 36. Dieses formal aus sich (formaliter ex se) Mögliche hat Scotus freilich nicht explizit auf ethische Sachverhalte angewendet. Doch nennt er im Zusammenhang der Erörterung des logische Möglichkeit implizierenden possibile logicum ein zum naturrechtlichen Kontext strukturanaloges Argument. So heißt es in Ordinatio I, dist. 36, die possibilitas logica könne absolut und kraft eigener Bestimmtheit bestehen, selbst wenn - was freilich unmöglich ist - keine Allmacht sich auf sie bezöge 37. Dies erlaubt, zwischen beiden Thesen Parallelen zu ziehen: Wie das logisch Mögliche als Verbindung zweier einander nicht widerstreitender Termini formal aus sich besteht und sein Sein lediglich principiative 30 31 32
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Ibid. (Wolter, 270). Cf. Ord. IV, dist. 17, qu. un. (Wolter, 262). Ord. III, dist. 37 (Wolter, 272): „… prima principia practica nota ex terminis, quae sunt ipsa primaria seminaria veritatis ad quorum veritatem inclinatur naturaliter intellectus ex terminis et ad assentiendum dictamini tali naturaliter inclinatur voluntas.“ Cf. ibid. Ibid. (Wolter, 274): „Item, quae sunt vera ex terminis, sive sint necessaria ex terminis sive sequentia ex talibus necessariis, praecedunt in veritate omnem actum voluntatis, vel saltem habent veritatem suam circumscriptio per [possibile vel] impossibile omni velle.“ H. Möhle, Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus. Eine philosophische Grundlegung (BGPhThMA N.F. 44), Münster 1995, 344. Cf. L. Honnefelder, Art. Possibilien, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Vol. 7, Basel 1989, 1126-1135, 1130 sqq. sowie id., Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns ScotusSua´rez-Wolff-Kant-Peirce), Hamburg 1990, 45-56. Ord. I, dist. 36, qu. un., n. 61, in: Opera omnia, studio et cura Commissionis Scotisticae, Vol. VI, Civitas Vaticana 1972, 296: „… possibilitas logica, absolute - ratione sui - posset stare, licet per impossibile nulla omnipotentia eam respiceret.“
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von Gott hat 38, gilt für das oberste Prinzip der praktischen Vernunft, das Prinzip des Wollens 39, daß seine Gültigkeit nicht in einem göttlichen Willensakt gründet, sondern sich notwendig aus der Nichtrepugnanz der Termini ergibt, insofern also keines göttlichen Willens bedarf. III Insbesondere dieser scotische Gedanke eines dem Willen und Intellekt Gottes voraufliegenden Möglichen ist es, der in der spanischen Spätscholastik bei Autoren wie etwa Gabriel Va´zquez (1549-1604) Eingang in die Ethik findet 40. Das etiamsi Deus non daretur-Argument - freilich immer abgesichert durch Formeln wie concesso impossibili etc., um den hypothetischen Charakter zu unterstreichen wird damit zum festen Bestandteil der philosophischen Argumentation um die sogenannte Natur der Sache (natura rei). Denn das von Natur aus Schlechte (und vice versa Gute) ist nicht darin begründet, daß Gott es verboten hat, sondern entsteht aus der Diskrepanz zur rationalen Natur, insofern sie rational ist. Diese Konvenienz und Diskonvenienz zur rationalen Natur unterliegt ebensowenig einer Veränderbarkeit durch Gott wie die Naturen der Dinge selbst 41. In der disputatio 97 seines Kommentars zur „Summa theologiae“ des Thomas von Aquin, die der Frage gewidmet ist, ob jede Sünde dadurch Sünde ist, daß sie verboten ist, greift Va´zquez die Lehre Gregors von der zweifachen Verbotsweise - verbo imperandi und verbo indicandi - auf und bestimmt Sünde als ein ex se malum; ex se - der Einfluß der scotischen Lehre des formaliter ex se ist hier unverkennbar - bedeutet dabei: vor jedem Verbot, nicht nur dem imperativen, sondern auch dem indikativen, nicht allein dem geschaffenen, sondern auch dem göttlichen. Denn die Dinge erhalten ihre innere Möglichkeit und Natur nicht dadurch, daß sie von Gott erkannt werden; im Gegenteil, das Wissen Gottes (das als Wissen des einfachen Erkennens der möglichen Dinge zu bezeichnen ist) setzt diese Dinge schon als möglich voraus, weit davon entfernt, wie es bei Va´zquez heißt, sie selbst zu ermöglichen. Darum also ist die Sünde auch in ihrem möglichen Sein nicht deshalb Sünde, weil sie von Gott als solche erkannt wird, sondern vielmehr wird sie deshalb von Gott als solche erkannt, 38 39 40
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Cf. Ord. I, dist. 43, qu. un., n. 7 (ibid. 354). Cf. Möhle, Ethik als scientia practica (nt. 35), 380 sqq. Zur Ethik des Va´zquez cf. J. M. Galparsoro Zurutuza, Die vernunftbegabte Natur. Norm des Sittlichen und Grund der Sollensanforderung. Systematische Untersuchung der Naturrechtslehre Gabriel Va´zquez’s, Bonn 1972; Mandrella, Isaak-Opfer (nt. 6), 218-233. Gabriel Va´zquez, Commentariorum et disputationum in I-II S. Thomae, disp. 179, cap. 2, n. 17, tom. II, Ingolstadt 1606, 268b: „… monstravimus ea, quae sunt suapte natura mala, non esse mala, quia voluntate alicuius, etiam Dei prohibita sint; sed quia suapte natura contraria, et dissentanea sunt naturae rationali. … opera aliqua dicuntur suapte natura mala, non quia Deus voluit ea, ut mala prohibere, sed quia ex se ipsis naturae rationali quatenus rationalis est disconvenientia sunt, et contraria. Cum igitur Deus non possit pro voluntate sua variare naturas rerum, non poterit etiam mutare convenientiam, aut disconvenientiam earum inter se, si res eodem modo permaneant …“
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weil sie aus sich heraus oder anderswoher (vel aliunde - etwa durch einen explizit schlechten Zielbezug) Sünde ist 42. Es ist also notwendig, daß Sünde unabhängig von irgendeinem Verbot, sei es befehlend, sei es anzeigend, als Sünde definiert wird. Die ratio formalis der Sünde besteht nämlich darin, daß es der rationalen Natur unangemessen ist, eine Sache, die sie als ihr selber nicht angemessen indiziert hat, zu verfolgen und zu erfüllen; es geziemt sich nämlich für die rationale Natur des Menschen nicht, gegen ihr Vernunfturteil zu handeln. Aber das Urteil der Vernunft darüber, daß etwas schlecht ist, entspringt einer tatsächlichen, aus sich selbst heraus bestehenden Diskonvenienz zur rationalen Natur, völlig unabhängig von jeder Art Verbot 43. Zum Abschluß der Darstellung seiner These unterläßt es auch Va´zquez nicht, das namhafte etiamsi Deus non daretur-Argument Gregors - bejahend! - aufzugreifen: Wenn die ratio divina auch der Maßstab alles Rechten ist, ist sie dennoch weder die Wurzel noch der Grund des Verbotes, aus dem die Schlechtheit hervorgeht, denn wenn - concesso impossibili - Gott nicht so urteilen würde, bliebe die Sünde - vorausgesetzt uns würde der Vernunftgebrauch erhalten bleiben dennoch Sünde 44. IV Das etiamsi Deus non daretur-Argument Gregors markiert in der Philosophiegeschichte eine bedeutende Schwelle. Die Wirkungsgeschichte dieses vermutlich über Gabriel Biel 45 und Francisco Sua´rez 46 tradierten Argumentes war enorm. 42
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Id., Commentariorum ac disputationum in I-II S. Thomae, disp. 97, cap. 1, n. 2, tom. I, Venedig 1606, 544b: „… aliqua peccata ex se esse mala ante omnem prohibitionem, non solum imperantem, sed etiam indicantem, non solum creatam, sed etiam divinam. Nam quemadmodum res non sunt ex eo possibiles, et talis naturae, quia a Deo cognoscantur, imo vero scientia Dei omnium prima, quae dicitur scientia simplicis intelligentiae rerum possibilium, ipsas res iam supponit possibiles, tantum abest, ut eas faciat possibiles esse … eadem ratione neque peccatum, ideo erit peccatum, etiam sub esse possibili, quia cognoscatur a Deo esse peccatum, quin potius ideo a Deo cognoscitur fore peccatum si fieret, aut esse peccatum possibile, quia ex se, vel aliunde peccatum est …“ Ibid. n. 3 (I, 544b): „Ego […] fateor […] formalem rationem peccati non esse in eo, ut actus sit contra iudicium rationis, sed in eo, ut sit inconveniens naturae rationali rem indicatam a se sibi non convenientem persequi, et complecti (dedecet enim naturam hominis, ut rationalis est contra iudicium rationis suae operari) … malum non est malum, quia iudicatur esse malum, sed potius ideo iudicatur esse malum, quia revera ex se disconveniens est [naturae] rationali …“ Ibid. (I, 545a): „… quamvis ratio divina sit mensura omnis recti, non tamen est prima radix, et causa prohibitionis, ex qua malitia oriatur, quia si concesso impossibili intelligeremus Deum non ita iudicare, et ita manere in nobis usum rationis, maneret etiam peccatum, tum etiam quia ut dicebamus, non semper ex eo peccatum est, quia intelligitur a Deo ut tale, sed potius contra.“ Gabriel Biel, Collectorium circa quattuor libros Sententiarum lib. II, dist. 35, qu. un., a. 1, ed. W. Werbeck/U. Hofmann, Vol. II, Tübingen 1973, 612. Francisco Sua´rez, De legibus lib. II, cap. 6, n. 3, ed. L. Peren˜a/V. Abril, Vol. III, Madrid 1974, 80. Cf. R. Feenstra, Quelques remarques sur les sources utilise´es par Grotius dans ses travaux de droit naturel, in: The World of Hugo Grotius (1583-1645). Proceedings of the International Colloquium organized by the Grotius Committee, Amsterdam 1984, 65-81, 78 sqq.
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Doch handelt es sich keineswegs um die ketzerisch-gotteslästerliche Äußerung eines revolutionären Denkers. Zugegebenermaßen ist Gregors Rationalismus schon zu seinen Lebzeiten kritisiert worden. In den moralphilosophischen Debatten des späten Mittelalters sind es stets diese zwei Positionen, die als diametral entgegengesetzte Extreme dargestellt werden: der Moralpositivismus des Wilhelm von Ockham und der Rationalismus Gregors von Rimini. Doch was Gregor als rationalistischer Fehlgriff vorgeworfen wird, bezieht sich nicht auf sein Argument der hypothetischen Nichtexistenz Gottes, sondern auf seine Konzeption eines rein indikativen Naturrechtes, und dies mit der Begründung so etwa bei Sua´rez -, daß das verpflichtende Moment, das als gut Erkannte auch in die Tat umzusetzen, nicht hinreichend erklärt wird 47. Das etiamsi Deus non daretur-Argument, das im Mittelalter seine Wurzeln hat und entscheidende Weichenstellungen in der Entwicklung des neuzeitlichen Sittlichkeitsverständnisses bewirkt hat, ist konstitutiver Bestandteil der genuin mittelalterlichen Diskussion um die Autarkie der menschlichen Vernunft. Zweifellos ist der Hintergrund mittelalterlichen Denkens theologisch geprägt, und die Existenz eines sich offenbarenden Gottes darf für diese Epoche als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Umso deutlicher treten die Bemühungen hervor, in kritischer Reflexion auf die eigenen kontextuellen Bedingungen von diesem Hintergrund zu abstrahieren. Das etiamsi Deus non daretur-Argument in seinen verschiedenen Ausformulierungen läßt dieses Bestreben symptomatisch deutlich werden. Daß es dabei nicht um ein faktisches Ausschalten Gottes, sondern um eine auf der Ebene des Gedankenexperimentes stattfindende Reflexion in Form einer Vergewisserung der Eigenständigkeit der praktischen Vernunft geht, reduziert das Argument nicht im geringsten. Daß die Hypothese der Nichtexistenz Gottes stets mit der Klausel per impossibile erfolgt, bestätigt eher die Gewichtigkeit des Argumentes, als sie zu mindern. Denn wie nicht zuletzt die Interpretation der scotischen Theorie verdeutlicht hat, ist diese Klausel im Bereich jener metaphysischen Disputation zu verorten, die unter Rückgriff auf den aristotelischen Möglichkeitsbegriff um die Possibilien geführt wird, d. h. um Konzeptionen eines rein als solchen Möglichen (und Unmöglichen). Damit ist sie gerade nicht Ausdruck eines „schamhaften“ Empfindens angesichts der Denkungeheuerlichkeit des etiamsi Deus non daretur-Argumentes! 48 Wenn es also überhaupt sinnvoll ist, in einer philosophischen Debatte solchen Ausmaßes die emotionale Betroffenheit der Autoren zur Sprache kommen zu lassen, dann trifft diese Beschreibung eher auf Grotius zu, der die metaphysische Formel per impossibile nicht mehr zu verstehen scheint 49 und 47 48
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Cf. De legibus lib. II, cap. 6, n. 6 (III, 86 sqq.). So T. Ramelow, Gott, Freiheit, Weltenwahl. Der Ursprung des Begriffes der besten aller möglichen Welten in der Metaphysik der Willensfreiheit zwischen Antonio Perez S. J. (1599-1649) und G. W. Leibniz (1646-1716), Leiden - New York - Köln 1997, 28. Cf. R. Specht, Materialien zum Naturrechtsbegriff der Scholastik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), 86-113, 101.
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durch ein den moralischen Aspekt verstärkendes quod sine summo scelere dari nequit ersetzt. Für die Frage nach der Bewertung der Philosophie des 14. und 15. Jahrhunderts im Blick auf die Neuzeit kann zumindest für den Bereich der Ethik die zentrale Bedeutung der in dieser Epoche entstandenen philosophischen Gedankengänge kaum stark genug betont werden. Die in der allgemeinen philosophiehistorischen Überblicksliteratur angenommene Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit und die größtenteils damit verbundene Aufwertung neuzeitlicher philosophischer Reflexionen auf Kosten einer mittelalterlichen Philosophie 50 bedürfen deshalb immer wieder einer kritischen Sichtung. In diesem Sinne möchte ich mich zum Schluß Eberhard Jüngel anschließen, der zur Nichtnotwendigkeit Gottes im etiamsi Deus non daretur-Argument vermerkt: „Und wenn es spezifisch neuzeitlich sein soll, dann beginnt die Neuzeit bereits im Mittelalter.“ 51
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Cf. supra nt. 3. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977, 22.
In the Shadow of Augustine: The Scholastic Debate on Lying from Robert Grosseteste to Gabriel Biel Martin W. F. Stone (Leuven) A marked feature of late medieval moral thought was its widely shared view that all deeds of intentional mendacity are base and sinful acts. Following earlier Christian teaching 1, and its magisterial refinement by Augustine in “De mendacio” and “Contra mendacium” 2, scholastic thinkers argued that deliberate lies were always wrong and could never be justified either by appeal to personal need, or else by concession to wordly expediency. Somewhat surprisingly, the rich debate on mendacity from the thirteenth to the late fifteenth century has received little attention from scholars 3. When viewed from the perspective of a general disinterest in late medieval ethics and casuistry this may not seem so surprising, yet the failure to consider lying and related issues is to be regretted not least for the following reasons. First, attitudes to lying on the part of individual theologians so often reveal important insights on the nature and status of moral rules and their application to concrete cases. Furthermore, the late scholastic debate on lying enables us to clarify several significant features of medieval attitudes towards values such as veracity and its place in moral life. And finally, we can begin to learn something more of the manner in which scholastic thinkers appropriated the moral teaching of auctoritates like Augustine on a specific 1
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For early Christian condemnations of lying cf. Clement of Rome, Epistola ad Corinthios, I, c. 27 (Patrologia Graeca [= PG] 1, col. 267); Pastor Hermae, 2 mand. 3 (PG 11, col. 916); Lactantius, Institutiones divinae, 4 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum [= CSEL] 19, col. 282); Basil of Caesarea, Regulae brevius tractatae, inter. 58, 59, 79 (PG 31, col. 1122, and 1135); St Prosper, Expositio psalmorum, ps. 134, v. 10 (Patrologia Latina [= PL] 51, col. 469), and Liber sententiarum, 155 (PL 51, col. 462); and Eusebius of Caesarea, Preparatio evangelica, 4, c. 6 (PL 21, col. 411). Both texts can be found at CSEL 141, or else PL 40, col. 487-547; due to the corrupt nature of the PL editions, all quotations are from CSEL. The first treatise, “De mendacio” (CSEL 141, 411-466), was written about 397, while “Contra mendacium” (CSEL 141, 467-528) is dated to c. 420. Augustine also raises the question of lying in his “Enchiridion de fide, spe et caritate ad Laurentium”, cf. 18. 6, which was written in 421, cf. PL 40, col. 231-290, and CCSL 46. That said, some coverage of the scholastic debate can be found in W. S. Mackowiak, Die ethische Beurteilung der Notlüge in der altheidnischen, patristischen, scholastischen und neuren Zeit, Freiburg 1933, 58-86; J. A. Dorszynski, Catholic Teaching about the Morality of Falsehood, Washington, DC 1948, 23-29; and G. Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht und die Problematik der Lüge, Freiburg 1962, 94-158.
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issue of ethical interest. Indeed, paying close attention to lying permits us to identify in precise detail the extent of a thinker’s allegiance to Augustinian moral ideas, and how these concepts might then nourish or challenge other elements of that same individual’s moral teaching. Viewed collectively, these reasons support the idea that late scholastic accounts of lying are deserving of much greater comment and scrutiny. There appears to be no good reason to persist in our ignorance of this important area of medieval moral thought. In what follows, I propose to demonstrate that late medieval discussions of lying are more varied and complicated than might be assumed. In particular, I want to explain how despite a common Augustinian heritage, scholastic accounts of mendacity displayed a surprising degree of variability on topics such as the exact moral fault or defect present in a lie, and on the differences that might be said to exist between a lie (mendacium) and a justifiable deception (simulatio). By following the central contours of the debate from Robert Grosseteste to Gabriel Biel, I shall show that the scholastic discussion did develop over time, and that different thinkers at various times and places sought to build upon the resources of Augustine’s arguments in diverse and novel ways. In addition to this, I hope to provide some much needed commentary on the lively medieval debate concerning putative instances of lying and deception in Scripture. The troublesome passages in question concerned the exploits of the Hebrew patriarchs and matriarchs, such as Abraham’s lie to his servants at Genesis 22:4, Joseph’s jocose fib to his brothers at Genesis 42 and 46, Rachael’s deception at Genesis 31:35, and Rahab’s simulation at Joshua 2 and 6:25. Even more problematic were the machinations of the wily Jacob, who cheated Esau of his birthright by a mixture of mendacity and stealth at Genesis 27:30-37. An example of lying which some writers considered to be justified was the deliberate deception of Pharaoh by the Hebrew midwives at Exodus 1:20, as well as the prophetess Judith’s equivocation before Holofernes at Judith 11. Other examples of dissimulation deemed heroic were David’s exploits before Achish at I Samuel 21:14, and Jehu’s feigned worship of the cult of Baal at 2 Kings 10:18-16. The basic problem with these passages, a dilemma which had tested the resolve of Christian moralists from the earlier periods, was whether these incidents and the acts they portrayed could be made compatible with more general biblical prohibitions on lying to be found at Deuteronomy 5:20; Matthew 5:37; John 8:32 and 14:6, and Ephesians 4:25. As we shall see, there were considerable differences of opinion among medieval writers on the mendacity and deceit of the patriarchs, and these differences would serve to season the scholastic debate and its bearing on the subsequent development of Christian teaching about lying. 1. Augustine One should never underestimate the impact which Augustine’s teaching had on the subsequent direction of Christian thinking about lying. In several ways,
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“De mendacio” and “Contra mendacium” introduced a greater precision to the Christian debate, whereby lies were distinguished from acts of deception with ever greater clarity and were condemned with ever greater stringency 4. In this manner Augustine’s thoughts stand in direct contrast to the lenient position of Greek Fathers such as Clement of Alexandria, Origen, John Chrysostom, and especially John Cassian, who had argued in different ways that some lies can be justified and that the prohibition on lying is not absolute 5. At the outset of “De mendacio”, Augustine reflects the view of the early Fathers by admitting that the question of whether or not some lies are licit is one which has provoked much discussion: “There is an important question about lying which often disturbs us in the midst of our everyday affairs; that we should not rashly call something a lie which is not such, or think that we must sometimes tell a lie, that is, a kind of virtuous, officious and merciful lie.” 6
Notwithstanding his recognition of the prickly nature of the topic he was addressing, Augustine offered five reasons for the absolute sinfulness of every lie. First, he held that a lie was an abuse of speech, and because speech was given by God to man for the purpose that he might make known his thoughts to others, it was sinful to use speech to deceive another 7. Second, a lie is contrary to veracity, and as such, prevents human beings from adhering to the truth 8. Third, the psalmist calls the law of God the truth: “Thy law is truth” 4
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Helpful summaries of Augustine’s views on lying can be found in B. Roland-Gosselin, La morale de saint Augustine, Paris 1925, 127-141; Th. D. Feehan, Augustine on Lying and Deception, in: Augustinian Studies 19 (1988), 131-139; id., The Morality of Lying in St Augustine, in: Augustinian Studies 21 (1990), 67-81; Ch. Kirwan, Augustine, London 1989, 196-204; R. D. Ray, Christian Conscience and Pagan Rhetoric: Augustine’s Two Treatises on Lying, in: Studia Patristica 22 (1989), 321-355; and J. Rist, Augustine: Ancient Thought Baptised, Cambridge 1994, 191-198. Cf. Clement of Alexandria, Stromata, 7, c. 9 (PG 9, col. 473-475); Origen, Stromata, 6 (PG 11, col. 101-102); John Chrysostom, De sacerdotio, I, n. 8 (PG 48, col. 629), and Homiliae in Genesim, 53 (PG 54, col. 466-467); and John Cassian, Collationes 17, c. 17 (PL 49, col. 10621063). For further discussion of Patristic attitudes toward lying cf. Mackowiak, Die ethische Beurteilung (nt. 3), 58-86; Dorszynski, Catholic Teaching (nt. 3), 15-23; Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht (nt. 3), 1-93; and B. Ramsey, Two Traditions on Lying and Deception in the Ancient World, in: The Thomist 49 (1985), 437-450. De mendacio, 1 (CSEL 41, 413,3-7; cf. PL 40, col. 487): “Magna quaestio est de mendacio, quae nos in ipsis cotidianis actibus nostris saepe conturbat, ne aut temere accusemus mendacium, quod non est mendacium aut arbitremur aliquando esse mentiendum honesto quodam et officioso ac misericordi mendacio.” Augustine’s use of the term misericordi mendacio carries an association with Cicero’s Pro Ligario, c. 5, where it is argued that an “honest and merciful lie” (honesto et misericordi mendacio) can be permitted. Cicero’s position in this speech can be said to contrast with the view of lying set down in De legibus, I, § v, and De officiis, III, 60, 81, and 102. Enchiridion, 22 (CCSL 46, 62; cf. PL 40, col. 243): “Porro autem omne mendacium ideo dicendum est esse peccatum, quia homo non solum quando scit ipse quid verum sit sed etiam si quando errat et fallitur sicut homo, hoc debet loqui quod animo gerit, sive illud uerum sit siue putetur et non sit.” Traditionally, this was taken to be Augustine’s opinion as reconstructed by his early modern Maurist editors, cf. the passage from Contra mendacium, 17 replicated at PL 40, col. 543: “An
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(Psalm 22:142); and consequently what is contrary to truth can never be just. Since a lie is a flagrant violation of truth, it is always unjust (I John 2:21) 9. Fourth, if some lies were ever permitted, such a license would destroy mutual trust and confidence among human beings, and the teaching of the Christian faith would be impugned 10. And, fifth, if exceptions were granted to the general prohibition on lying, whereby one could tell a lie to avert the physical or spiritual harm pending to another, then such exceptions would multiply to a staggering and most harmful degree 11. As well as providing these reasons against lying, Augustine provided an eightfold classification of mendacity, a taxonomy which would become a staple feature of all scholastic discussions. In this scheme, according to which there are eight decreasing degrees of gravity, the worst possible lie is in matters of religious doctrine, second is the lie told to a person’s detriment but of no use to anybody else. Third is the lie that is profitable to one person in such a way as to be harmful to another, and fourth is the lie told for the sheer pleasure of lying. Fifth is the lie “to season” one’s speech, and sixth is the lie that is useful to one person and not detrimental to another, as when a person misleads a thief as to where someone else’s money is hidden. Seventh is the lie that is spiritually advantageous to one person and not injurious to another, as when someone tells a judge that an individual is innocent of a particular crime (although he is actually guilty) in order to allow that person to repent. Finally, the eighth type of lie is that which is not morally wounding to another but helps to free someone from bodily defilement 12. The first five cases are forbidden by Augustine in the strongest possible terms, while the remaining three are not thought to be as grave but are judged to be sinful.
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mentiendum ut aequo celetur, quod ei mortem afferet. Non timendum ne homicida dicatur veritas. Permissio mendacio in propositio casu, quam difficile mendaciis fines figuntur ne succrescant usque ad perjuria et blasphemias acute contra mendacii doctores.” For something comparable in the actual text of Augustine cf. CSEL 41, 518-519. Contra mendacium, 15 (CSEL 41, 513,10-17; cf. PL 40, col. 540): “ea uero quae contra legem Dei fiunt iusta esse non possunt. Dictum est autem Deo: Lex tua veritas [Ps. 118:142]. Ac per hoc quod est contra ueritatem, iustum esse non potest. Quis autem dubitet contra ueritatem esse mendacium omne? Nullum igitur iustum potest esse mendacium. Item cui non clareat ex ueritate esse omne quod iustum est? Clamat autem Ioannes Omne mendacium non est ex ueritate [I Iohannes 2:21]. Omne ergo mendacium non est iustum.” De mendacio, 8 (CSEL 41, 429,17-23; PL 40, col. 496): “Cum enim doctrina salutaris, partim credendis, partim intellegendis rebus constet nec ad ea quae intelligenda sunt perueniri possit, nisi prius credenda credantur, quomodo credendum est ei qui putat aliquando esse mentiendum, ne forte et tunc mentiatur, cum praecipit ut credamus?” Contra mendacium, 18 (CSEL 41, 522,16-23; cf. PL 40, col. 544): “Cur ergo et, si non possit aliter periclitantibus subueniri, non committo stuprum, quod idoe est contrarium ueritati, quia contrarium est castitati, et ut periclitantibus subueniatur, loquor mendacium, quod ipsi apertissime est contrarium ueritati? Quid nos tantum promeruit castitas et offendit ueritas? Cum omnis ex ueritate sit castitas et sit non corporis, sed mentis castitas ueritas atque in mente habitet etiam corporis castitas.” Cf. De mendacio, 14 (CSEL 41, 444-446; cf. PL 40, col. 505-506).
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By the time he came to write “Contra mendacium”, a work whose stimulus was an adverse reaction to the Spanish followers of the heretical sect founded by Priscillian 13, Augustine was fully committed to his view that acts of lying were always wrong, even in cases when not telling a lie would bring down disaster, as in the infamous “murderer at the door” example discussed in “De mendacio” 14. With regard to this dilemma Augustine asks: “If anyone should flee to you for protection and you were able to free him from death by a single lie, would you not tell the lie?” 15 He elaborates the case still further by stressing that it is a genuine difficulty, for if an interrogator asks you directly where someone resides and if you tell the murderer where the fugitive is, you are betraying the one who came to you for help. Augustine adds that if one says “I do not know” (which is itself a lie), the murderer will surmise that you have something to hide, and therefore one can only have recourse for the outright lie “he is not here” 16. Augustine’s own solution to the case is that one is not permitted to lie to the murderer at the door. If possible one should remain silent, but one can never put one’s own salvation at stake by sinning in the cause of another. Seen thus, Augustine was implacably opposed to arguments of the variety advanced by Cassian who had earlier advanced that one could lie in order to assist another in a case of dire emergency 17. Dismissing such thoughts with the irate retort “Does he not speak perversely who says that one person ought to die spiritually so that another may live corporeally” 18, Augustine contends that if we admit 13
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Priscillian (c. 370) was the bishop of Avila who had been executed by the civil powers in 386 for sorcery. His views led to the formation of a sect known as the “Priscillianists”, which was denounced and persecuted by orthodox members of the early church, cf. H. Chadwick, The Church in Ancient Society: From Galilee to Gregory the Great, Oxford 2001, 328, 349, 373, 507-509, and 657. In “Contra mendacium”, Augustine’s purpose is to dissuade its orthodox addressee, Consentius, from lying about his religious allegiance in order to infiltrate the sect. For further discussion cf. A. Brinton, St Augustine and the Problem of Deception in Religious Persuasion, in: Religious Studies 19 (1983), 437-450. Before Augustine this already had an ancient pedigree and had been discussed by the Greek Fathers; cf. Apopthegmata patrum, Abbot Alonius 4 (PG 65, col. 133). De mendacio, 5 (CSEL 41, 420,9-10; PL 40, col. 491): “Si quis ad te confugiat, qui mendacio tuo possit a morte liberari, non es mentiturus? ” Ibid., 13 (CSEL 41, 440,22-25, 441,1, 8-11; PL 40, col. 502): “Quid ergo? si ad Christianum homicida confugiat aut uideat quo confugit et de hac re interrogetur ab eo qui ad supplicium quaerit hominis interfectorem, mentiendum est? […] An quia non de peccato eius interrogatur, sed de loco ubi lateat? […] Quid si ad judicem ductus de ipso loco ubi se ille occultet, interrogeris, dicturus es aut: non ibi est, ubi eum scis esse, aut: non noui et non uidi, quod nostri et uidicti? ” Cassian, Collationes, 17, c. 17 (PL 49, col. 1062-1063): “Itaque taliter de mendacio sentiendum, atque ita eo utendum est, quasi natura ei insit ellebori; quod si imminente exitiali morbo sumptum fuerit, fit salubre, caeterum absque summi discriminis necessitate perceptum praesentis exitii est […]. Quando igitur grave aliquod imminet de veritatis confessione discrimen, tunc mendaciorum sunt recipienda perfugia, ita tamen ut reatu humilis conscientiae salubriter mordeamur.” Cf. also ibid., 17, c. 19 (PL 49, col. 1069-1070). De mendacio, 6 (CSEL 41, 426,4-6; cf. PL 40, col. 494): “Quomodo ergo non peruersissime dicitur ut alter corporaliter uiuat, alterum spiritaliter mori?”
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that we should lie to save a life, then we should have to admit we should steal, commit adultery, and even suffer defilement for the very same reason 19. The moral basis of Augustine’s repugnance of lying is to be observed in his definition of the liar as “someone who has one thing in his mind but expresses something different verbally or by any other signs” (ille mentitur quid aliud habet in animo et aliud verbis quibuslibet significationibus enuntiat) 20. This line of reasoning was later fortified in “Contra mendacium” where the principal argument asserted that since a lie can be considered to be one of those things which are intrinsically evil, no degree of nobility in a person’s motive or a pressing worldly expediency can atone for the act 21. Augustine’s views on lying are often cited as paradigmatic of a moral absolutism which is concerned to uphold the requirements of veracity at all costs. But such rigorism, particularly if it is painted as either hardhearted or else indifferent to the complex nature of human action, is not to be found in “De mendacio”. For while Augustine certainly condemns the direct and intentional lie, he also supplies a balanced understanding of a whole range of deceptions involving jokes, laughter, and mockery, which he believes to be morally legitimate and humane 22. It is only when he broaches the issue whether it is licit to lie in order to save another person as in “De mendacio”, or else considers whether it is right to deceive heretics such as the Priscillianists in “Contra mendacium”, that his views exhibit ever greater stringency. Contrasting the culpability of the Priscillianists who lie with that of orthodox Christians who lie to them in order to entrap them, Augustine says that the Priscillianists know that they lie deceitfully, but that “we [orthodox Christians] think they should be freed by our lie from the false beliefs by which, in going astray, they are deceived” 23. Augustine contends that the problem with this view 19
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Ibid. (CSEL 41, 426,25-26, 427,1-3, 7-9; PL 40, col. 495): “Enimuero isti qui stomachantur et indignantur si nolit aliquis mendacio perimere animam suam ut alius senescat in carne, quid si etiam furto nostro, quid si adulterio liberari possit de morte? Ideone furandum est aut moechandum? […] Cur animam suam quisque mendacio corrumpat ut alter uiuat in corpore, cum si suum corpus propterea corrumpendum daret, omnino iudicio nefariae turpitudinis damnaretur?” In another passage, comparable in severity to the “murderer at the door” example, Augustine considers the example of a parent who, being dangerously ill, asks whether his dead son is still alive. His resolution of this case is that one must tell “the truth which will kill” (homicida veritas) rather than the “lie which will cure” (salubre mendacium), even if the outcome will be tragic, which Augustine admits it will be, Contra mendacium, 18 (CSEL 41, 519-522; cf. PL 40, col. 543-544). For further discussion cf. Th. D. Feehan, Augustine’s Own Examples of Lying, in: Augustinian Studies 22 (1991), 165-190. De mendacio, 3 (CSEL 41, 414-416; cf. PL 40, col. 488). Contra mendacium, 7 (CSEL 41, 487-491; cf. PL 40, col. 528). For further discussion of this aspect of Augustine’s treatment of lying cf. Mackowiak, Die ethische Beurteilung (nt. 3), 87-105; and A.-M. La Bonnardie`re, Le dol et le jeu d’apres saint Augustine, in: Forma futuri: Studi in onore del cardinale Michele Pellegrino, Turin 1975, 868883. Contra mendacium, 5 (CSEL 41, 479,17-20; cf. PL 40, col. 523): “Sed nunc aduerte quam tolerabilius Priscillianistae in nostra comparatione mentiantur, quando se fallaciter loqui sciunt, quos nostro mendacio liberandos putamus ab eis falsis, in quibus errando falluntur.”
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is the same as that denounced by Paul at Romans 3:7-8, and says to his interlocutor Consentius “You see how much the Apostle hates that” (quod vides quemadmodum detestur Apostolus) 24. He continues: “For what is let us lie so that we may bring the lying heretics to the truth, but let us do evil so that good may come? This is the opinion of the Priscillianists, which they support from Scripture, exhorting their followers to lie, as though the patriarchs, the prophets, the apostles, the angels, had set them that example, not hesitating to add even the Lord Jesus Christ, and thinking that they do not show their falsehood is true unless they say that the truth is a lie.” 25
So in developing his position on lying, Augustine strengthened his earlier position in “De mendacio” and argued in “Contra mendacium” that we should despise all instances of premeditated lying. Truth and lies are as contrary to one another as light and darkness, justice and iniquity, sin and right action, life and death. The cultivation of virtue is the path to truth: the good Christian is to be prevailed upon to speak honestly and to act without recourse to lying 26. 2. T he T heologians of the T hir teenth Centur y Augustine’s position that a lie was a false utterance spoken with the intention to deceive (falsa vocis significatio cum intentione fallendi ) and that all lies were sinful (omne mendacium esse peccatum), became the accepted teaching of the occidental church 27. We find his arguments against all forms of lying upheld by early medieval luminaries such as Isidore of Seville, Gregory the Great, and other 24 25
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Ibid., 1 (CSEL 41, 470,10-13; cf. PL 40, col. 519). Ibid., 2 (CSEL 41, 471,9-17; cf. PL 40, col. 519): “Nonne cernis, quantum adiuuet haec disputatio eos ipsos, quos pro magna uenatione mendaciis nostris capere molimur? Priscillianistarum est enim, sicut ipse monstrasti, ista sententia: cui comprobandae adhibent testimonia de scripturis, exhortantes suos ad mentiendum tamquam exemplis patriarcharum, prophetarum, apostolorum, angelorum, non dubitantes addere etiam ipsum dominum Christum, nec se aliter arbitrantes ueracem suam ostendere falsitatem, nisi ueritatem dicant esse mendacem.” Ibid., 18 (CSEL 41, 520,3-5; cf. PL 40, col. 543): “Nec me mouet contemplantem luminosum bonum, in quo mendacii tenebrae nullae sunt, quod nobis mentiri nolentibus et hominibus uero audito morientibus homicida dicitur ueritas.” For further discussion cf. Roland-Gosselin, La morale (nt. 4), 130-141. For an interpretation of early medieval views on lying cf. the valuable studies by A. Landgraf: Definition und Sündhaftigkeit der Lüge nach der Lehre der Frühscholastik, in: Zeitschrift für katholische Theologie 63 (1938), 50-83, 157-180; Die Stellungnahme der Frühscholastik zur Lüge der älteren Patriarchen, in: Theologisch-praktische Quartalsschrift 92 (1939), 13-32, 218231; Die Einschätzung der Scherzlüge in der Frühscholastik, in: Theologisch-praktische Quartalsschrift 93 (1940), 128-136; and Die Lüge des Vollkommenen und die Lüge aus Bescheidenheit im Urteil der Frühscholastik, in: Divus Thomas (Freiburg) 20 (1942), 67-91; Dorszynski, Catholic Teaching (nt. 3), 22-29; and Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht (nt. 3), 94-116; M. Vincent-Cassy, Recherche sur la mensonge au Moyen Aˆge, in: Actes du 102e congre`s national des socie´te´s savantes, Limoges 1977, philosophie et histoire, 2 vol., Limoges 1979, cf. ii, 165173; and C. Casagrande/S. Vecchio, I Peccati della Lingua: disciplina e etica della parda nella cultura medievale, Rome 1987, 187-212.
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popes and canonists up to the tenth century 28. Throughout the eleventh and twelfth centuries canonists and theologians adopted the position of the Bishop of Hippo as can be observed in the work of Anselm of Canterbury, Ivo Carnutensis (c. 1048-1116), Hugh of St Victor, Bernard of Clairvaux, the author of the “Summa Sententiae”, and the canonist Gratian 29. The influential codification of patristic and early medieval theology provided by Peter Lombard also proved an important stimulus to later scholastic treatments of mendacity. His “Sentences” contain a summary of Augustine’s position on lying supported by biblical illustrations and liberal quotations from several of the Bishop’s works 30. Building on Augustine’s earlier distinction among the classes of lies, Peter then proceeds to introduce a threefold division of lies: jocose, officious, and those in which the lie is told for an evil purpose. All three cases of lying are designated as sinful, although the first variety is said to be merely venial 31. For the Lombard, as for Augustine, a lie is always a sin 32, combining an objective untruth with the speaker’s knowledge that it is untrue, and the intention to deceive 33. The only case he believes to be an instance of an excusable lie, one also accepted by Augustine 34, is the example of Jacob masquerading as Esau in order to obtain his father’s benediction. Peter follows 28
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Cf. Isidore of Seville, Synonyma de lamentatione animae peccatricis, II, 53 (PL 83, col. 857): “Omne quoque genus mendacii summopere fuge; nec casu, nec studio loquaris falsam; nec ut praestas mentiri studeas; nec qualibet fallacia vitam alicuius defendas. Cave mendacium in omnibus, mendacio enim fides tollitur, error inducitur, veritas aboletur; nullum iustum mendacium, omne mendacium peccatum est. Omne quod a veritate discordat iniquitas est.” And, Gregory the Great, Moralia, 18, 3, 5-7 (Corpus Christianorum Series Latina [= CCSL] CXLIIIA, 888-889; cf. PL 76, col. 40-41): “Nam et omne mendacium iniquitas est et omnis iniquitas mendacium, quia profecto ab aequitate discrepat quidquid a ueritate discordant […]. Summopere enim cauendum est omne mendacium, quamuis nonnunquam sit aliquod mendacii genus culpae leuioris, si quisquam praestando mentiatur. Sed quia scriptum est: Os quod mentitur, occidit animam. Et: Perdes eos qui loquuntur mendacium; hoc quoque mendacii genus perfecti viri summopere fugiunt, ut nec vita cujuslibet per eorum fallaciam defendatur, ne suae animae noceant, dum praestare carni nituntur alienae.” For further discussion cf. Dorszynski, Catholic Teaching (nt. 3), 22-25; and Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht (nt. 3), 103-107. Anselm of Canterbury, Cur Deus homo, I, 12 (Opera omnia, ii, 70); and De libero arbitrio, v (Opera omnia, i, 214-215); Ivo Carnutensis, Decretum, XII, De mendacio et periurio (PL 161, col. 779, and 792); and Panormia, VIII, c. 124-134 (PL 161, col. 1333 sqq.); Hugh of St Victor, De sacramentis, I, 12, 7 (PL 176, col. 356D-357C); Bernard of Clairvaux, Sermones in Cantica, sermo XVII 2 (Opera omnia, i, 99); Summa Sententiae, III, 5 (PL 176, 122D-123D); Gratian, Decretum, II, Causa 22, q. 2-4 (ed. Friedberg, i, col. 866-875). For further discussion of these authors cf. Landgraf ’s articles mentioned supra nt. 27; and Casagrande/Vecchio, I Peccati (nt. 27), 195-212. Sentences, III, dist. 38, c. 1-6 (ed. Grottaferrata, iii, 213-218). Ibid., c. 1, 1-3 (ed. Grottaferrata, iii, 213-214). Ibid., c. 3 (ed. Grottaferrata, iii, 215): “Quid sit mendacium. Hic videndum est quid sit mendacium et quid sit mentiri, deinde utrum omne mendacium sit peccatum et quare.” Ibid., c. 4 (ed. Grottaferrata, iii, 215): “Quid sit mentiri. Mentiri vero est loqui contra hoc quod animo sentit quis, sive illud verum sit, sive non. Omnis ergo qui loquitur mendacium, mentitur, quia loquitur contra hoc quod animo sentit, id est voluntate fallendi; sed non omnis qui mentitur, mendacium dicit, quia quod verum est loquitur aliquando mentiendo, sicut e converso falsum dicendo aliquando verax est.” Contra mendacium, 10 (CSEL 41, 497-502; cf. PL 40, col. 533).
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Augustine in saying that this is not a lie but a “mystery”, and that Jacob in any event had been offered a dispensation because he was obeying his mother’s bidding under the direction of the Holy Spirit 35. As we move into the thirteenth century, it is evident that a multitude of theologians continue to draw upon the ideas of Augustine in their treatments of lying. Conjoined to this allegiance, however, we also find a growing speculative interest not only in mendacity as such, but also in the terms and conditions of the eighth commandment of the Decalogue - “non loqueris contra proximum tuum falsum testimonium” - since it was supposed by many thinkers that all agents would encounter issues connected with truth-telling, lying, and dissimulation in their ordinary lives. As well as those usual circumstances in which a person is prevailed upon to tell the truth, quotidian life in the Middle Ages was also concerned with the use and meaning of oaths, since it was important to the good order of all spheres of society that the solemn pronouncements of individuals could be deemed valid and trustworthy. If oaths were ever revealed to be spurious, so many of the practices that bound medieval society would be under threat 36. In the minds of many theologians, the eighth commandment was also directly associated with the person of Christ, who had said at John 14:6 that He was “the way, the truth and the life” (via, veritas et vita). Should one break this divine injunction to speak the truth and follow righteousness, one could be deemed to be taking the Lord’s name in vain 37. This combination of reflection on the attributes of Christ’s human person and an interest in the concrete application of the values enshrined in the Second Tablet of the Decalogue, helps to account for the extraordinary interest among high scholastic theologians in lying and the details of the eighth commandment 38. 35
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Sentences, III, dist. 38, c. 6, 3 (ed. Grottaferrata, iii, 218): “De Iacob, si mentitus fuit. Solet quaeri de Iacob, qui se dixit esse Essau, aliter animo sentiens, utrum mentitus sit. - De hoc Augustinus ait: ‘Iacob quod matre fecit auctore ut falleret patrem, si diligenter attendatur, videtur non esse mendacium, sed mysterium’. Intendebat enim matri obedire, quae per Spiritum noverat mysterium. Et ideo propter familiare consilium Spiritus Sancti quod mater acceperat, a mendacio excusatur Iacob.” For a summary of Peter’s views on lying cf. Landgraf, Definition und Sündhaftigkeit (nt. 27), 60-68; Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht (nt. 3), 111-112; and M. Colish, Peter Lombard, 2 vol., Leiden 1994, ii, 510-514. It is also important to understand the juridical dimension to the medieval institution of oaths. As an invocation of the divine name in witnessing to the truth, three Latin terms were used to designate what we now refer to as an oath: iusiurandum, iuramentum, and sacramentum. The first two deriving from ius (right or law) indicate the legal character to what is attested to in an oath, while sacramentum from sacra (sacred) refers to the religious nature of what was sworn. In many ways the oath secured the bonds of medieval society, and the ceremony of homage by which one became a vassal of a lord was sealed with an oath of fealty. The vassal, laying his hand on the Scriptures or on some relic of a saint, swore to be faithful to his master. For further discussion cf. B. Guindon, Le serment, son histoire, son caracte`re sacre´, Ottawa 1957, 25-175; and for a synthesis of scholastic thinking about oaths cf. Thomas Aquinas, Summa theologiae, IIa-IIae, q. 89, a. 1-10. On the complicated development of high scholastic Christology cf. A. Landgraf, Dogmengeschichte der Frühscholastik, Regensburg 1952-1956; and more recently, R. Cross, The Metaphysics of The Incarnation: Thomas Aquinas to Duns Scotus, Oxford 2002. The interests of theologians aside, one can also find incidental comments on lying written by Masters in the Parisian Arts Faculty when commenting on the texts of Aristotle. For one exam-
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Before considering more mainstream writers it is worthwhile pausing to consider the work of Robert Grosseteste whose account of mendacity in “De Decem Mandatis” is quite different from his peers. In a highly individualistic analysis of lying and the eighth commandment 39, Grosseteste does not make use of standard biblical examples such as Jacob and Isaac, nor does he utilise Augustine’s or the Lombard’s earlier division of lies. Further to this, he does not refer to oaths and perjury, and refrains from posing the expected questions - What is lying? What types of lie exist? Is lying always a sin? - that had become commonplace in treatments of the subject in Sentences commentaries, works of pastoral theology, and texts of canon law. Rather than avail himself of established sources and accepted methods of analysis, Grosseteste simply ploughs his own furrow and treats the subject in an entirely different manner 40. The gulf that separates Grosseteste from other theologians and canonists can be observed in his decision to divide his analysis of lying and the eighth commandment into two parts. The first concentrates on the subject of witnessing in general while the second focuses upon mendacity. Within each section, Grosseteste asks three questions: What kind of sin is attached to the bad act of lying? Why is good behaviour important? and, What punishment ought to accrue to individuals who lie and bear false witness? False witness (falsum testimonium), he thinks, is a mortal sin; it is to be avoided lest it mitigate against the interests of justice and good judgement 41. Whilst not all cases of lying are mortally sinful, some can be venial 42, Grosseteste uses colourful language to explain why lying is especially pernicious. Lies, he exclaims, twist the proper use of words, and he describes liars as illusionists or conjurers (prestigiatores) who can make black white or the dead seem living 43. Lies are immoral because they induce incredulity, which in turn increases the need for oaths and provides
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ple cf. Pseudo Boethius of Dacia, Quaestiones Super Sophisticos Elenchos, ed. S. Ebbesen (Corpus Philosophorum Danicorum Medii Aevi 7), Hauniae 1977, 52-53. Grosseteste’s brief but interesting discussion of lying can be found at “De Decem Mandatis”, cf. De octavo mandato (ed. Dales/King, 80-84). For his general approach to the moral teaching of the Decalogue cf. J. McEvoy, Robert Grosseteste on the Ten Commandments, in: Recherches de The´ologie ancienne et me´die´vale 58 (1991), 167-205. This point is stressed by L. Smith, The De Decem Mandatis of Robert Grosseteste, in: M. O’Carroll (ed.), Robert Grosseteste and the Beginnings of a British Theological Tradition (Biblioteca Seraphico-Capuccina 69), Rome 2003, 265-288. De Decem Mandatis, De octavo mandato 1 (ed. Dales/King, 80): “Sub iudice autem falsum testificari, aut contra seipsum aut contra proximum, est mortale peccatum, quia falsus testis iudicem fallit et ipsum iudicium, licet forte non ex parte iudicantis, tamen ex parte eius cui iudicatum est, corruptum et iniquum efficit.” Cf. ibid., De octavo mandato 6 (ed. Dales/King, 82). Ibid., De octavo mandato 7 (ed. Dales/King, 82): “Qui autem immunda loquuntur et nociva, sunt sicut qui loco cibariorum et potuum in vasis deferunt sordes et venena. Viri quoque mendaces prestigiatoribus sunt similes, quia sicut hii oculo corporis apparere faciunt vel allo nigrum, vel de mortuo vivum, vel de nonmoto motum, sic mendaces oculo mentes de falso faciunt videri verum, cum non minus distet verum a falso quam album a nigro, preciosiorque sit intelligencia veri quam visio albi vel nigri, et sensus interioris quam exterioris sit peior deceptio.”
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further opportunities for perjury 44. Citing Augustine’s “Commentary on St. John’s Gospel”, Grosseteste states that liars imitate the devil and exclude Christ, and then describes the ghastly punishments doled out to liars in starkly verdictive biblical passages 45. His treatment of the sin concludes with a passage from Augustine’s De civitate Dei XIV which exclaims the self-defeating character of human immorality: all sin is a lie because it involves deceiving ourselves about what is our appropriate good 46. The “Summa aurea” of William of Auxerre 47 uses well worn distinctions and much cited authorities to construct an account of lying which, in four flat chapters, is based around the core teaching of Augustine and the additional refinements of Gregory the Great, Peter Lombard, and Gratian 48. William regurgitates Augustine’s definition of a lie in the first chapter 49, endorses his teaching that all lying is mortally sinful in the second 50, squeezes like Peter Lombard the gist of Augustine’s eightfold division of lies into a triadic taxonomy of vicious, jocose and officious in the third 51, and concludes in the final chapter with a quartet of questions that address the issue of lying in Scripture 52. His discussion of the deceptions of the patriarchs holds few surprises since Jacob is exonerated from lying to Esau since he is judged to have acted under influence of the Holy Spirit who never deceives 53. A more detailed discussion of all facets of lying and dissimulation is to be found in the writings of Alexander of Hales 54. There, we find a stout reiteration of the Augustinian tradition since Alexander (like countless others) not only 44
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Ibid., De octavo mandato 8 (ed. Dales/King, 82-83): “Horum igitur prava consuetudo induxit primo incredulitatem, et ex hoc iurandi necessitatem et ex necessitate consuetudinem, et ex consuetudine iurandi vicium periurii.” Ibid. (ed. Dales/King, 83). The biblical passages are taken from Wisdom 1:11, Psalm 5:7, and Ecclesiasticus 20:27. Ibid., De octavo mandato 10 (ed. Dales/King, 84): “Quam autem latum malum sit mendacium, ex eo patet quod, sicut dicit Augustinus in libro De civitate Dei: ‘Non frustra dici potest omne peccatum esse mendacium. Non enim fit peccatum nisi ea voluntate qua volumus ut bene sit nobis, vel nolumus ut male sit nobis. Ergo mendacium est quod, cum fiat ut bene sit nobis, hinc pocius male est nobis’.” Guillelmi Altissiodorensis Summa aurea, 4 books in 5 vol., ed. J. Ribaillier (Spicilegium Bonaventurianum XVI-XIX), Grottaferrata 1982-1985. Cf. Summa aurea, lib. III, tract. XLV, c. 1-4, q. 1-4 (XVIIIb, ed. Ribailler, 848-872). For a brief discussion of William’s account of lying cf. Landgraf, Definition und Sündhaftigkeit (nt. 27), 75-81, and Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht (nt. 3), 116-117. Ibid., c. 1 (XVIIIb, ed. Ribailler, 848-850). Ibid., c. 2 (XVIIIb, ed. Ribailler, 850-860). Ibid., c. 3 (XVIIIb, ed. Ribailler, 860-866). Ibid., c. 4 (XVIIIb, ed. Ribailler, 867-873). Ibid., c. 4, q. 1 (XVIIIb, ed. Ribailler, 868): “Dicimus quod Iacob non est mentius. Dixit enim se esse Esau instinctu Spiritus Sancti, mater enim sua instinctu Spiritus Sancti fecit ipsum sic dicere, et in Spiritu Sancto non est duplicitas.” For discussion of Alexander’s views cf. Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht (nt. 3), 117-120, and for his subsequent influence on the discussion of lying in the “Summa Alexandri” cf. Landgraf, Definition und Sündhaftigkeit (nt. 27), 75-85.
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endorses Augustine’s definition of a lie as an utterance spoken with the intention to deceive 55, and holds that a lie may never be told even in the most pressing of circumstances 56, but contends that all intentional lies are mortal sins 57. Tackling the slippery issue of putative cases of lying in Scripture, Alexander follows the teaching of Ambrose and absolves Abraham at Genesis 22:5 of lying 58, and repeats Augustine’s view that Joseph told but a jocose fib at Genesis 44 59. Even the Hebrew midwives are deemed (by the authority of Augustine) to have only venially sinned by deceiving Pharaoh 60. On the subject of a general biblical prohibition on all acts of lying, Alexander stands shoulder to shoulder with Augustine and Gregory the Great in their view that the Hebrew Scriptures and New Testament afford no succor to the liar and his ugly deeds 61. While adding little by way of innovation to the high scholastic discussion of lying - Alexander adopts Peter Lombard’s triadic distinction of officious, jocose and pernicious lies - 62 his own remarks on officious lies are not without interest 63. Appropriating Augustine’s definition and taxonomy of various types of officious lies at De mendacio 6-8, Alexander mulls over cases in which one might think that one had a reasonable excuse for lying in order to avert some impending danger to oneself or to another; the example being Augustine’s own of preserving one’s chastity. Affirming the Augustinian position that to lie in such circumstances is always sinful 64, Alexander attempts to sweeten the force of this rigoristic draft by asserting that agents of a less exalted state (imperfecti ) may succumb to lying in order to preserve their virtue or else to prevent disaster 55
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Alexander of Hales, Summa theologiae, III, tract. 3, § 2, q. 2, c. 1 (ed. Quarrachi, iii, 402): “Ad quod dicendum quod plus pertinet ad esse mendacii intentio fallendi quam falsa vocis significatio. Falsa enim vocis significatio est sicut materiale in mendacio, complementum autem est intentio fallendi, et ideo, ubi remanet intentio fallendi, plus dicitur mendacium; nihilominus tamen utrumque est mendacium secundum quid.” Cf. In Sent., III, dist. 38, 1. Ibid., c. 2 (ed. Quarrachi, iii, 402-403); cf. In Sent., III, dist. 38, 2-4. Ibid., c. 3 (ed. Quarrachi, iii, 404-405); cf. In Sent., III, dist. 38, 9. Ibid., c. 6, a. 1 (ed. Quarrachi, iii, 408): “Unde ad hoc respiciens Abraham non intendebat mentiri: unde etiam, quia mentiri non intendebat, Dominus ita disposuit ut nec etiam secundum litteram dixerit nisi verum: ipse enim reversus est cum Isaac, sicut dixerat, ut patet Gen. 22, 19.” Cf. Ambrose, De patriarchis, I, c. 8, n. 70 sq. (PL 14, col. 446 sqq.). Ibid., c. 6, a. 2 (ed. Quarrachi, iii, 409): “Ad primum posset solvi quod verbum augurandi aliquando sumitur stricte, et tunc sonat in malum tantum; aliquando autem communiter, et ad bonum et ad malum, et tunc bene verum est quod Ioseph habuit scientiam augurandi: fuit enim præscius aliquorum futurorum, sicut patet Gen. 40 et 41. Tamen, ut solvatur communiter utrumque obiectum, possumus solvere per Augustinum, in V libro Super Genesim, ubi dicit sic, loquens de verbis Ioseph: ‘Hoc non serio, sed ioco dictum est, ut exitus docuit, et ideo non est habendum mendacium; mendacia enim a mendacibus serio aguntur, non ioco’.” Ibid., c. 6, a. 3 (ed. Quarrachi, iii, 409-410); cf. In Sent., III, dist. 38, 8, b. Accepting Augustine’s argument at De mendacio 15 (PL 40, col. 540), Alexander writes “et ex hac auctoritate accipitur quod peccatum obstetricum fuit veniale”. Ibid., c. 6, a. 4-5 (ed. Quarrachi, iii, 410-411). Summa theologiae, IV (ed. Quarrachi, iv, 580): “mendacium est triplex, officiosum, iocosum et perniciosum.” Ibid., III, tract. 3, § 2, q. 2, c. 7, a. 1. De mendacio, 9 (CSEL 41, 444-446; cf. PL 40, col. 499).
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descending upon another. While not condoning the behaviour of such persons - he thinks they still sin venially by lying - Alexander appears mindful of their plight even though he is keen to point out a contrast between their deeds and those of more virtuous agents (perfecti ) who resist lying even in the most dire situations 65. With regard to the perfecti, persons among whom are included priests, preachers, and others who hold illustrious office in the church, Alexander reserves his harshest criticism for those who lie. Their sin is always worse than those who do not enjoy their favoured state, for should they lie they impugn the very nature of their office and of their divinely appointed function to proclaim and exemplify the teaching of God 66. The remarkable Sentences commentary of the Dominican Richard Fishacre one of the very first to be written at Oxford - contains a lengthy discussion of lying which like Alexander draws upon Augustine 67. Treating the question of what is mendacity, Fishacre expends much energy in attempting to clarify and defend Augustine’s definition of a lie as well as his division of eight modes of lying 68. Following established lines of argument, Fishacre also holds that all lying is sinful since it is opposed to the truth which is good, and whatever is bad is 65
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Summa theologiae, III, tract. 3, § 2, q. 2, c. 7, a. 2 (ed. Quarrachi, iii, 412): “Ad quod dicimus quod duplex est immunditia: una corporis tantum, et pro hac vitanda neminem oportet mentiri, quia, sicut dicit Augustinus, ibidem ‘nullus recte agens immundus fieri potest quolibet contagio corporali’; est autem alia immunditia non solum corporis, sed et spiritus, et haec dupliciter potest fieri: vel respectu perfecti vel respectu imperfecti. Dicimus ergo quod perfectus ita fortis debet esse ut confidat se nulli tentationi succumbere. Unde, etiam si violentia inferretur illi, debet sperare quod ipse nullo modo consentiet corruptioni violenter illatae, sed sustinebit meritorie tantum, et ideo talis non debet mentiri etiam in tali casu. Imperfectus autem, utpote infirmus, debet timere ne succumberet, si veniret ad illum statum, et ideo tali propter infirmitatem suam conceditur redimere periculum maioris peccati per minus peccatum, et in hoc casu loquitur dicta auctoritas Augustini. Nec propter hoc est intelligendum quod, si in hic casu tunc mentiatur, quod mendacium illud non sit peccatum. Et quod dicit Augustinus, ‘Non sunt peccata dicenda’, non est intelligendum simpliciter, sed comparative, hoc est sunt quasi non reputanda peccata respectu illorum pro quibus vitandis ista fiunt, quae longe maiora sunt istis.” Cf. In Sent., III, dist. 38, 8, I (ed. Quaracchi, Bibliotheca Franciscana Scholastica Medii Aevi 14, 497): “Illud autem Augustini super I Ex., 19, intelligendum est quod officiosum mendacium est mortale perfectis, et illud idem imperfectis potest esse veniale. - Ad illud de mendacio (officioso), dicendum quod dupliciter potest esse intentio in mentiente: si enim praeponitur utilitas proximi summae veritati, mortale est; si non, veniale est.” The distinction between the perfecti and imperfecti is derived from Augustine, De mendacio, 17 (CSEL 41, 453-456; cf. PL 40, col. 510), and refers to those who have reached a higher state of moral and spiritual life because of their progress in Christian charity. Summa theologiae, Inq. III, tract. III, § 2, q. 2, c. 5, 1 (ed. Quarrachi, iii, 406-408). Cf. Peter of Poitiers, Sententarium Lib. IV, iv, 5 (PL 211, col. 1154): “Perfectis autem non licet mentiri potest quidem verum tacere, sed mendacium dicere prohibetur alioquin moraliter peccat.” The arguments of Peter and Alexander on this issue were eventually to fall foul of Thomas Aquinas, cf. Summa theologiae, IIa-IIae, q. 110, a. 4, ad 5, who argues that a sin is not made worse by a specific set of circumstances (cf. infra). For a discussion of this work cf. R. James Long/M. O’Carroll, The Life and Works of Richard Fishacre OP. Prolegomena to the Edition of his commentary on the Sentences, Munich 1999, esp. 39-48. A critical edition of the relevant texts has been prepared by K. Rodler (ed.), Richard Fishacre. In tertium librum Sententiarum. Teil 2: Dist. 23-40, Munich 2003; cf. dist. 38, 193216. In tertium librum Sententiarum, dist. 38 (ed. Rodler, 197-200).
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punishable and sinful. Since a lie is a depraved act, it is always sinful and punishable as such 69. On the question whether all lies are mortally sinful, Fishacre argues that most instances of lying are gravely errant, although he reserves his strongest condemnation for those acts of lying perpetrated by those such as the perfecti and religious who have been entrusted with the teaching of Scripture 70. These considerations lead him to endorse the Augustinian view that there are no lies in Scripture and that to hold otherwise is to demean its authority. On the lying of the patriarchs Fishacre has little to add to existing discussions and absolves Abraham of any wrongdoing, as well as Jacob who is taken to have acted under the inspiration of the Holy Spirit 71. Perhaps Fishacre’s most important contribution to the subject is to be found in his remarks on deception and its relationship to lying. Drawing a distinction between simulatio, an act which involves making a false assertion, and dissimulatio, a practice which involves concealing or hiding something from somebody, Fishacre argues that simulatio is always illicit while dissimulatio can sometimes be justified 72. The permissibility or otherwise of both practices is determined by the intention of the agent performing the act. As simulatio is concerned with a deliberate intention to deceive, Fishacre includes it within the practices of lying (mendacium operis), a category of acts which do not include dissimulatio which is an altogether different practice. This last point is illustrated with reference to the deeds of Joshua, whose story, Fishacre claims, does not teach us that he simulated out of fear (simulasse metum), but rather that he dissimulated or concealed his fear audaciously (dissimulasse audacium) 73. The strict Augustinianism which is at the core of the treatment of lying to be found in Alexander of Hales and Richard Fishacre can also be identified in the writings of other thirteenth-century scholastics whose close association with Augustine’s moral teaching is not always observed. This is especially true of Albert the Great, who is recognised as making a significant contribution to the reception and influence of Aristotelian ethics. In Albert’s discussion of lying, a subject treated at length in his Sentences commentary, “Summa theologiae”, and 69
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Ibid., dist. 38 (ed. Rodler, 201-202): “Quod est verum, est bonum. Ergo falsum est malum. Sed multo peius est mendacium. Ergo mendacium est malum. Ergo aut malum poenae, aut culpae. Non poenæ tantum, mendacium enim est malum quod agimus. Sed, ut dicit Augustinus, sicut malum poenae est quod patimur, sic malum quod agimus est malum culpæ. Ergo mendacium est malum culpae. Ergo est peccatum.” Ibid. (ed. Rodler, 202-206). Ibid. (ed. Rodler, 211-212). Ibid. (ed. Rodler, 214): “Asserere autem falsum facto, cum hoc intenditur, simulatio est, sive sit affirmatio sive negatio. Cum autem facto intenditur veri occultatio, dissimulatio est, sive sit affirmatio sive negatio. Hinc patet quod simulatio et dissimulatio sola intentione distinguuntur, et unum est licitum in casu, ut supra dixi, et aliud scilicet simulatio illicitum semper et mendacium operis.” Ibid. (ed. Rodler, 215): “Quod vero quaestionem est de simulatione et dissimulatione, iam patet ex dictis, quia non sunt species mendaci operis et, ut dixi, concedendum est simulationem omnem esse peccatum. Ad contra obiecta dicendum quod, cum simulatio sit falsi assertio et dissimulatio veri occultatio, tamen, pro reliquo, licet improprie, frequenter ponitur. Unde quod dicitur Iosue simulasse metum, hoc intelligo dissimulasse audacium.”
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“Commentary on the Nicomachean Ethics” (“Super ethica”) 74, the shadow of the Bishop of Hippo looms large and provides him with a repertoire of ideas and concepts with which to tackle the subject. Augustine’s definition of lying as a false utterance spoken with the intention to deceive (mendacium est falsae vocis significatio cum in intentione fallendi ) is adopted in his “Summa theologiae” 75, while in his Sentences commentary 76, Albert classifies lies according to the Lombard’s threefold division (although the term libidinosum is preferred to jocosum) 77. Following established tradition he argues that all lies are sinful 78, although not all lies are mortally sinful since some are venial 79. In his discussion of the Hebrew midwives, Albert argues, reiterating the earlier teaching of Augustine and Gregory the Great, that they are guilty of a venial sin, although when he comes to assess the moral duties of more elevated persons such as the perfecti, he is severe, like Alexander of Hales, and exhorts them to avoid all lies, even the most venial, lest they impugn the dignity of their office 80. Significantly, even in the context of the “Super ethica” the general orientation of Augustine is maintained, although the opportunity to expound the teaching of Aristotle provides Albert with a further occasion in which to clarify many points of interest. One such concerns his discussion of the types of lie. For Albert, working from Augustine’s general definition yet using the vocabulary of Aristotelian metaphysics, the formal aspect of an act of lying is the intention to deceive (intentio fallendi ), while its material aspect is the false meaning of the utterance (falsa vocis significatio) 81. Specifying the moral turpitude of pernicious 74
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Cf. Commentarii in III Sententiarum, dist. 38, a. 1-9 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxvii, 712727); Summa theologiae, tract. 20, q. 125 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxxiii, 411-417); Super ethica, Lib. IV, lectio xiv, 337-339 (Opera omnia, ed. Coloniensis, xiv, pars 1, 287-289). For brief surveys of Albert’s views on lying cf. A. H. Lauer, Die Moraltheologie Alberts des Großen, Freiburg 1911, 220-222; Mackowiak, Die ethische Beurteilung (nt. 3), 112-115; and Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht (nt. 3), 177-178. Summa theologiae, tract. 20, q. 125, mem. 1 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxxiii, 412): “Mendacium est falsa significatio vocis cum intentione fallendi. Ut ergo mendacium sit, necesse, ut falsum proferatur, et cum intentione fallendi. Hoc enim malum est proprium mentientis, aliud habere clausum in corde, aliud promptum in lingua”; cf. Super ethica, Lib. IV, lect. xiv (Opera omnia, ed. Colon., xiv/i, n. 337, 287). Commentarii in III Sententiarum, dist. 38, A-D, a. 1-9 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxviii, 712-727). Ibid., dist. 38, a. 3 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxviii, 716-717), cf. Summa theologiae, II, tract. 20, q. 125, mem. 3 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxxiii, 413-415). However, at Super ethica, Lib. IV, lect. xiv (Opera omnia, ed. Colon., xiv/i, n. 338, 287), Albert uses the more standard term iocosum. Ibid., dist. 38, a. 1 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxviii, 714-715), cf. Summa theologiae, II, tract. 20, q. 125, mem. 2 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxxiii, 412-413). Ibid., dist. 38, a. 2 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxviii, 715-716). Ibid., dist. 38, a. 6 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxviii, 719-720); cf. Summa theologiae, II, tract. 20, q. 125, mem. 4 (Opera omnia, ed. Borgnet, xxxiii, 415-416), and Super ethica, Lib. IV, lect. xiv (Opera omnia, ed. Colon., xiv/i, n. 339, 288) where the same point is given an Aristotelian veneer by reference to the civic virtues. Super ethica, Lib. IV, lect. xiv (Opera omnia, ed. Colon., xiv/i, n. 338, 287): “In diffinitione enim mendacii est aliquid materiale, scilicet falsa vocis significatio, et aliquid formale, scilicet intentio fallendi. Cum
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lies, Albert argues that the fault in these acts can be said to reside in the deceptive force of the spoken utterance and the speaker’s intention to get his interlocutor to believe something other than is the case. The very success of such a lie is to be found in the extent of the deception perpetrated 82. Officious and jocose lies, however, are not as severe since being predicated on a deception brought about by false words, they differ in moral quality from the intention of an individual perpetrating a deception in a pernicious lie 83. The very fact that all lies are opposed to truth will entail, he thinks, that they are sinful (albeit of differing degrees) and to be avoided 84. What is interesting for our purposes is that Albert upholds these Augustinian views in the context of commenting on Aristotle. In the writings of Alexander of Hales’s fellow Franciscans a slightly different emphasis on the moral status of lying and deception began to emerge. Bonaventure, for instance, in his commentary on the Sentences, book III, dist. 38, endeavoured to find some answers to questions he believed left open by Augustine’s account 85. He considered and rejected two efforts to identify the basis on which lying might be deemed to be wrong. The first is that in lying one places oneself directly against God who is the Truth 86. Bonaventure’s response to this argument is that the verities negated by lies are merely created truths. There is nothing we can do, he thinks, to oppose the uncreated truths of the law of God 87. The second argument is that the source of the sinfulness of lying resides in the discord between speech and understanding 88. Again, Bonaventure rejects the claim adding that discord or lack of comprehension is already extant in human life without the sin of lying, for in lying there is always disorder (deordi-
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autem talis fallacia fiat per vocem, vox autem est significativa rei, potest esse deceptio vel quantum ad vocem tantum vel quantum ad rem, secundum quod significatur per vocem.” Ibid. (Opera omnia, ed. Colon., xiv/i, n. 338, 287): “In mendacio igitur pernicioso est et falsa vocis significatio et deceptio et quantum ad vocem, in quantum intendit facere credere id quod significatur per vocem, cuius contrarium est apud mentem dicentis.” Cf. ibid. (Opera omnia, ed. Colon., xiv/i, n. 338, 288). Ibid. (Opera omnia, ed. Colon., xiv/i, n. 338, 288): “Et quia dicta mendacia consistunt in falsa significatione vocis, quae opponitur veritati, quae est in complexione, ideo nullum illorul est mendacium, de quo hic agitur, nisi vox large accipiatur, scit supra dictum est, pro omni significatione quocumque modo.” A summary of Bonaventure’s views can be found in Waffelaert, Dissertation (nt. 126), 490504; Landgraf, Die Lüge des Vollkommenen (nt. 27), 67-80; Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht (nt. 3), 121-124; and J. F. Quinn, Bonaventure and our Natural Obligation to Confess Truth, in: Franciscan Studies 35 (1975), 194-211. Cf. Augustine, Contra mendacium, 17 (CSEL 41, 453-456; cf. PL 40, col. 453). Bonaventure, In librum Sent. III, dist. 38, q. 2 (ed. Quarrachi, iii, 843): “Sed haec ratio non videtur sufficere, quia non omne mendacium est contra veritatem increatam. Sicut enim est bonitas creata et increata, ita etiam et veritas; et sicut Deus est supra creatam bonitatem, ita etiam est supra creatam veritatem: ergo sicut potest dispensare, ut aliquis destruat aliquod bonum creatum ita tamen quod nullum fiat praeiudicium suae bonitati, ita videtur similiter de veritate.” On created and uncreated truths in Bonaventure cf. J. F. Quinn, The Historical Constitution of Bonaventure’s Philosophy, Toronto 1973, 465-468, and 513-516. Cf. Augustine, Enchiridion, VII, 22 (CCSL 46, 62; cf. PL 40, col. 243).
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natio) which is due to the discrepancy (discordia) between what is said and what is thought; that is, between the speech act and the act of thinking 89. It is interesting that in this instance, Bonaventure appears to have little sympathy for one of Augustine’s more general arguments that lying is wrong because it violates the purpose for which God established language. Bonaventure’s preferred view as to why lying is base is worth quoting at length. He says: “There is still a third kind of argument, namely that something is said to be evil in two ways: either evil stems from the generic nature of an act, in so far as it has to do with some unsuitable matter, or it stems from a bad intention. Now, when it has to do with unsuitable matter, this can be understood in two ways, either with respect to God, or with respect to a neighbour. If it is with respect to God, then it is evil in itself and is so intrinsically such that it in no way can become good; such, for instance, would be hatred of the highest good or the act of blaspheming God. If it is with respect to one’s neighbour, such as harming him as a person or the things that belong to him, then though evil in itself, it could be still be done for some good end, because given a dispensation one could do it for a right intention. However, if something is evil because of an evil intention, then whether it be with respect to God or with respect to one’s neighbour it is simply evil, and no end for which it is done can make it good, because a fitting purpose is by stipulation wanting in such a case. Hence, to make this evil thing good means nothing more or less than making something to be at once good and evil. Now, lying is this sort of thing, for a lie implies something evil not only in so much as the act has to do with unfitting matter, but also on account of the indirect intention, in so far as in the essence of a lie the two things concur, namely a false statement and the intention to deceive. And the first is evil in itself, and it can become good if stated by one who unknowingly says something false. In the second, however, it is evil on its own account and in no way can become good, and in this case dispensation is impossible; just as it can in no way become morally good to have carnal knowledge of another’s wife with the intention of committing adultery or for some other wicked motive. One must concede, therefore, all those reasons that show that it is essential to a lie that it be a sin and that a lie is evil in itself, as Augustine says, for the very noun ‘lie’ refers to something that includes an inordinate intention, as was shown.” 90 89
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Bonaventure, In librum Sent. III, dist. 38, q. 2 (ed. Quarrachi, iii, 843): “Ideo est alius modus dicendi, quod mendacium nullo modo potest bene fieri, nec aliquo fine nec aliquo praecepto dispensativo, quia semper manet in eo deordinatio, quae quidem est ex discordia vocis et intellectus; non sic autem est reperire in aliis.” Ibid.: “Et ideo adhuc est tertius modus dicendi, quod dupliciter dicitur aliquid esse malum: aut ex genere actus, utpote cum transit actus super materiam indebitam, aut ex malitia intentionis. Cum autem transit actus super materiam indebitam, hoc potest esse dupliciter: vel respectu Dei, vel respectu proximi. Si respectu Dei, sic est malum in se et secundum se, nec ullo modo potest bene fieri, sicut est odire summum bonum et blasphemare Deus. Si respectu proximi, sicut et nocumentum inferre proximo in persona vel in rebus; sic est malum in se, et potest aliquo fine bene fieri, quia potest recta intentio supervenire ex dispensatione. Cum autem aliquid est malum ex malitia intentionis, tunc sive sit respectu Dei, sive respectu proximi, simpliciter malum est et nullo fine potest bene fieri, quia dicit privationem debiti finis. Unde facere, hoc malum esse bonum, nihil aliud est facere, quam aliquid simul esse bonum et malum. Tale autem est mendacium. Nam mendacium non solummodo dicit malum ex hoc, quod actus transit super materiam indebitam, sed etiam ex intentio indirecta; quoniam ad esse mendacii ista duo concurrunt, videlicet dicere falsum et intentio fallendi. Et primum est malum in se et potest bene fieri ab eo qui ignoranter dicit falsum; ratione vero secundi est malum secundum se et nullo fine
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Some acts are depraved, then, by virtue of something inherent in them and so are wrong ex genere, and other acts are immoral because of the intention with which they are done. In the case of the former, the feature that makes the act intrinsically evil or iniquitous is the fact that the “act has to do with undue matter” (actus transit in materiam indebitam) 91. Significantly, Bonaventure includes lying in this class of acts, presumably because of the falsity of the language used in uttering a lie. His conclusion is that this aspect reveals lying to be sinful and always wrong. That said, it is important to remember that for Bonaventure the act of lying involves two distinguishable components: (i) telling an untruth; and (ii) the intention to deceive. Now, instances of (i) can be done in a morally licit manner, and whenever such instances occur they are not classifiable as “lies”, since these acts require (i) and (ii). It remains, however, that the ground for the wrongness of a lie must be in the intent to deceive (intentio fallendi ), which he notes is part of the ordinary meaning to the term ‘lie’ as determined by Augustine 92. For Bonaventure, any lie whatsoever told by the perfecti is always a grave fault. By the perfecti, he means like Alexander and Augustine before him, the holy man, who can forfeit eternal life even by telling an officious lie. Bonaventure also includes within the class of perfecti rulers of a state, for such persons are to be believed in everything they say, so that, if they lie in any way, they will not be believed, and thus would surrender the faith or trust by which they govern their subjects 93. Bonaventure argues that any person holding public office (perfecti publici ) has a special obligation not to lie because of the danger of scandal and the dictates of conscience. As custodians of the truth they are bound not to lie by reason of public trust. When such persons are discovered to have lied, no one will again believe them or accept anything they say, since they have perpetrated scandal. Those in public office ought to have a conscience that moves them not to say knowingly, for any reason, what is false. Whenever they deliberately utter a falsehood, they commit the gravest sin, both by flouting the requirements of conscience and by actively scandalising others. Rulers, and other public servants, are bound to avoid every lie no matter how trivial it may be lest they bring the truth into contempt and their office into disrepute. For Bonaventure, this is the kernel of Augustine’s teaching, and anyone who seeks to follow him
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potest bene fieri, nec circa ipsa potest dispensari; sicut nullo modo potest bene fieri, quod aliquis cognoscat alienam intentione adulterandi sive ex improbitate voluntatis. Concedendae sunt igitur secundum hoc rationes ostendentes, quod essentiale est ipsi mendacio esse peccatum, et quod ipsum mendacium est malum secundum se, sicut dicit Augustinus, quoniam de ratione sui nominis includit inordinatam intentionem sicut ostensum est.” For further discussion of the medieval debate about intrinsically evil acts cf. G. de Broglie, Malice intrinse`que du pe´che´ et pe´che´s heureux pars leurs conse´quences, in: Recherches de Sciences Religieuse 24 (1934), 302-383, and more recently, J. F. Dedek, Intrinsically Evil Acts: The Emergence of a Doctrine, in: Recherches de The´ologie ancienne et me´die´vale 50 (1983), 191-226. For a spirited criticism of Dedek’s interpretation of the medieval tradition cf. J. Finnis, Moral Absolutes, Washington, DC 1991, 33-57. Bonaventure, In librum Sent. III, dist. 38, q. 2 (ed. Quarrachi, iii, 843). Ibid., dist. 38, un. 4, arg. 2 and 4 (ed. Quarrachi, iii, 847-848).
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in this noble allegiance to a love of truth must hate a lie with all their heart 94. It hardly needs remarking that the view of political morality emanating from the Seraphic Doctor’s Franciscan cloister is quite different in tone and substance from Plato’s “Republic” or Cicero’s court of law 95. A particular obligation to tell the truth even extends to teachers of philosophy and theology. In this respect, Bonaventure compares truth and falsity to knowledge of good and evil in the tree of Eden (Genesis 2:17). Castigating the socalled “Latin Averroists” as false teachers, he maintains that those who love Scripture also love philosophy, which they use to fortify the verities of the faith 96. But philosophy is a tree of the knowledge of good and evil because the philosophers have mixed falsehood with the truth. Any person emulating them and propagating error is not a lover of Scripture 97. Bonaventure warns those studying philosophy to flee from everything which is contrary to the teaching of Christ. Any teacher, moreover, disseminating falsehoods to his students opens them up to “a pit of error”, and such a teacher should be bound to make restitution for his sin. Every instructor, then, has an obligation to know the truth that he professes to instruct, or else he must seek guidance and learned counsel from someone more learned than him in the requisite discipline 98. Seen thus, Bonaventure’s aversion to lying and falsity stems from a theological outlook that seeks to pursue and uphold truth, be it natural or supernatural, in every facet of human life. Next in our story is Thomas Aquinas. When he came to summarise traditional teaching on mendacity, he chose to build upon Augustine’s doctrine by adopting the now standard distinction between officious, jocose, and pernicious lies 99. 94
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Ibid. (ed. Quarrachi, iii, 849): “Potest igitur concedi secundum Augustinum, quod viris perfectis, quorum perfectio publica est, mendacium quantumcumque parvum imputatur in mortale peccatum, quoniam propter scandalum vitandum dictare debet eis conscientia, nullatenus esse mentiendum, ne faciant veritatem venire in contemptum. Et hoc videtur senisse Augustinus, qui fuit praecipuus veritatis amator; et omnis vit, qui veritatem amat, vehementer odit mendacium.” Cf. also ibid., iii, 859. Cf. Republic, III, 389B-C where Plato puts into the mouth of Socrates the idea that a falsehood can be used as a medicinal remedy (pharmakon) in those cases where it is appropriate for rulers to lie in the interests of the city. This is combined with the further claim at 414C that a “noble lie” is licit if it is told by a ruler for the good of the city. Cicero had also claimed in his speech Pro Ligario, c. 5, that a “honest and merciful lie” (honesto et misericordi mendacio) can be permitted in extraneous political circumstances. For further discussion of Bonaventure’s attack on “Averroist” views, specifically on the eternity of the world and rational soul cf. R. C. Dales, Medieval Discussions of the Eternity of the World, Leiden 1990, 45-64, 80-96, 100-116 and 254-261; and my The Debate on the Soul in the Second half of the Thirteenth Century: A Reply to William Charlton, in: R. W. Sharples (ed.), Whose Aristotle, Whose Aristotelianism, Aldershot 2001, 35-89. On his ideas concerning the attainment of wisdom (sapientia) through the study of philosophy and sacra doctrina cf. A. Speer, Bonaventure and the Question of Medieval Philosophy, in: Medieval Philosophy and Theology 6 (1997), 25-40. Sermones de tempore, Dominica III Adventus. Sermo II (ed. Quarrachi, ix, 62-63). Ibid. (ed. Quarrachi, ix, 63). Summa theologiae, IIa-IIae, q. 110, a. 1-4. For further discussion of Thomas’s general views on truthfulness and lying cf. A. J. McSweeney, The Social Role of Truth According to St. Thomas
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An officious lie (mendacium officiosum) is intended to benefit another party; a jocose lie (mendacium jocosum) is told in jest (without an intention to benefit or harm); while a pernicious lie (mendacium perniciosum) is intended to harm. Thomas condemned all lying as sinful, but held that only pernicious lying was a mortal sin 100. Although lying is invariably wrong, “the fault (culpa) is lightened if the purpose [of the lie] be to some good, whether pleasurable, as in the case of the humorous lie; or something useful, as in the case of the officious lie, which is intended for another’s advantage or protection” 101. For Thomas, as for Augustine, lies are opposed to truthfulness. Developing this thought further than many of his contemporaries, he took the view that veracity should govern all assertions, and that the social goods underlying this virtue cannot be generally specified so as to provide determinate moral norms for all cases of human communication. Given this proviso, he believed that the truthful person will understand and abide by the established conventions of language. Such an individual will know what to say, and how much to say according to the circumstances and the needs of his interlocutor. Here one may further espy the influence of Aristotle’s Nicomachean Ethics, IV, 7 on Thomas’s work 102. Because of its opposition to truth, Thomas held that lying can never assist the needs and requirements of ordinary human discourse 103. Verbal propositions or assertions for Thomas are acts of reason in which signs are related to the things signified (enuntiatio est rationis actus conferentis signum ad signatum) 104. Signs are either true or false and all speakers can be mistaken about which they are. Such errors are not lies. But as these assertions are voluntary, they are also moral acts in which one can either state what one believes to be true or false. In addition to this, whatever further purpose one might have for lying, including the necessary purpose of deceiving someone, a lie involves
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Aquinas, Washington, DC 1943; Dorszynski, Catholic Teaching (nt. 3), 4-7, 25-27, 80-82; Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht (nt. 3), 124-176; J. Finnis, Aquinas, Oxford 1998, 154-163, 165-167, 181-185, 197-199, 286-287; and J. Boyle, The Absolute Prohibition on Lying and the Origins of Mental Reservation: Augustinian Arguments and Thomistic Developments, in: American Journal of Jurisprudence 44 (1999), 43-65. For Thomas a mortal sin is any act or thought which is against charity which gives the soul life by uniting it to God (“dicendum quod peccatum mortale proprie est quod repugnat caritati, per quam anima vivit Deo conjuncta”). Cf. Summa theologiae, IIa-IIae, q. 110, a. 4; cf. Ia-IIae, q. 72, a. 5; and IIa-IIae, q. 24, a. 12; and q. 35, a. 3. Cf. Albert the Great, Super Ethica, Lib. IV, lect. xiv (Opera omnia, ed. Colon., xiv/i, n. 338, 288). Summa theologiae, IIa-IIae, q. 110, a. 2: “Diminuitur autem culpa mendacii, si ordinetur ad aliquod bonum, vel delectabile, et sic est mendacium jocosum; vel utile, et sic est mendacium officiosum, quo intenditur iuvamentum alterius vel remotio nocumenti.” For further discussion cf. L. Dewan, St. Thomas, Lying and Venial Sin, in: The Thomist 61 (1997), 279-299. Cf. especially Thomas’s comments on Nicomachean Ethics, IV, 7, 1127a13-1127b32, at In Ethicorum, IV, lectio XV (ed. Leonina, xlvii/ii, 251-254). For further discussion of this point cf. McSweeney, The Social Role (nt. 99), and Finnis, Aquinas (nt. 99), 154-159. Summa theologiae, IIa-IIae, q. 110, a. 1.
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a volition to assert what one believes to be false 105. This last thought can be clarified by quoting an extract from Thomas’s earlier commentary on the Sentences, dist. 38, a. 1, the very same part of Lombard’s text commented upon by Alexander of Hales, Albert the Great, and Bonaventure. There he writes: “Whoever speaks an untruth does what is, considered in itself, a deceiving act, although someone is not always deceived through his words. Therefore, whoever knowingly speaks what is false intends deception in so far as it is in the deceiver. Therefore, this intention of deceiving is common to all lies.” 106
Because they are voluntary false assertions lies are inherently deceptive. For Thomas this feature is intrinsic to the practice lying, independent of whether anyone is deceived and of the liar’s further intent to deceive. Here the point of significance is that whatever moral bearing the intentio fallendi may have, voluntarily asserting what is false specifies the moral failing in any act of lying. On the question whether lying is always a sin Thomas says: “There is no way in which something inherently bad can become good and lawful. For anything to be good requires that all its elements be present together in right order. As Pseudo-Dionysius says, ‘the good consists in an integrity of elements; evil in any of them being missing’ 107. Now lying is inherently evil (malum ex genere), an action that involves a disordered objective. Words by their nature are signs of thought, it is contrary to their nature and out of order for anyone to convey in words something than what he thinks. This is why Aristotle in the Ethics [NE, IV, 7, 1127a28] teaches that ‘the lie is evil in itself and to be shunned, while truth is good and worthy of praise’. Therefore, ‘every lie is sinful’ as Augustine 108 maintains.” 109
Applying this view to a consideration of the deeds of the patriarchs, Thomas adheres to the views of Augustine and Peter Lombard. In saying Sarah was his sister, Abraham wished to conceal the truth rather than lie, and in any case his statement was true because she was his “sister” being related to him on his 105
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Ibid.: “Inquantum tamen hujusmodi manifestatio sive enuntiatio est actus moralis oportet quod sit voluntatis et ex intentione voluntatis dependens. Objectum autem proprium manifestationis sive enuntiationis est verum vel falsum. Intentio vero voluntatis inordinatae potest ad duo ferri. Quorum unum est ut falsum enuntietur; aliud est effectus proprius falsae enuntiationis, ut scilicet aliquis fallatur.” In Sent., III, d. 38, a. 1 (ed. Moos, 1265): “Quicumque enim falsum loquitur, quantum est in se, fallit, quamvis non semper aliquis per eius verbum fallatur. Quicumque ergo sciens falsum loquitur, fallaciam intendit secundum quod est in fallente. Unde ista intentio fallendi communis est omni mendacio.” De divinis nominibus, 4, 30. Contra mendacium, 1 and 21 (CSEL 41, 469-471, and 526-528; cf. PL 40, col. 519 and col. 547); and Enchiridion, 18 and 20 (CCSL 46, 85-87, and 89-92; cf. PL 40, col. 240, and col. 243). Summa theologiae, IIa-IIae, q. 110, a. 3: “Dicendum quod illud quod est secundum se malum ex genere, nullo modo potest esse bonum et licitum, quia ad hoc quod aliquid sit bonum requiritur quod omnia recte concurrant. Bonum enim est ex integra causa, malum vero est ex singularibus defectibus, ut Dionysius dicit. Mendacium autem est malum ex genere; est enim actus cadens super indebitam materiam. Cum enim voces naturaliter sint signa intellectuum, innaturale est et indebitum quod aliquis voce significet id quod non habet in mente. Unde Philosophus dicit in Ethic. quod mendacium est per pravum et fugiendum; verum autem est bonum et laudabile. Unde omne mendacium est peccatum, sicut enim Augustinus asserit.”
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father’s side 110. Jacob’s false assertion to his father Isaac that he was Esau is deemed to have a mystical sense, in that he was acting under the tutelage of the spirit of prophecy, pointing, so Thomas claims, to the eventuality that a “younger people” (the gentiles) would eventually supercede a “first born people” (the Jews) as the chosen people of God 111. Likewise, Judith’s lie to Holofernes is to be praised, not as a virtuous act in itself, but rather as an act performed out of a sense of virtue (indoles virtutis), this being devotion to her people, a concern that led her to so heroically expose herself to danger. On Judith’s actions Thomas satisfies himself with the claim that her words may have contained a modicum of truth according to a more rarefied understanding of their meaning 112. The deception of Pharaoh by the Hebrew midwives should also be commended, Thomas thinks, for its indoles virtutis even though their external act (exteriorum actum), the lie, can never be an object of moral approval meriting eternal life 113. Thomas’s allegiance to an Augustinian position on lying and deception is yet further entrenched by his remarks on dissimulation in his commentary on Galatians 2:11-14. Considering the disagreement between Peter and Paul and the different exegesis of that incident by Augustine and Jerome 114, he clearly sides with Augustine whom he proceeds to exonerate in some detail. For Thomas, the case of the former is won by his stronger arguments (validius argumentum) which reveal that the auctoritates that seemingly bolster Jerome’s case do not exude pristine orthodoxy 115. By virtue of this, he claims that it is unlawful to 110
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Ibid., ad 3: “Dicens Saram esse suam sororem, veritatem voluit celari, et non mendacium dici: soror enim dicitur, quia patris erat. Unde et ipse Abraham dicit Gen., ‘vere soror mea est, filia patris mea, et non matris meae filia’, quia scilicet ex parte patris ei attinebat.” Ibid.: “Jacob vero mystice dixit se esse Esau primogenitum Isaac, quia videlicet primogenita illius de jure ei debebantur. Usus autem est hoc modo loquendi per spiritum prophetiae ad designandum mysterium, quia videlicet minor populus, scilicet gentilium, substituendis erat in locum primogeniti, scilicet in locum Judaeorum.” Ibid.: “Quidam vero commendantur in Scriptura non propter perfectam virtutem, sed propter quandam virtutis indolem; scilicet quia apparebat in eis aliquis laudabilis affectus ex quo movebantur ad quaedam indebita facienda. Et hoc modo Judith laudatur, non quia mentita est Holoferni, sed propter affectum quem habuit ad salutem populi, pro qua periculis se exposuit. Quamvis etiam dici possit quod verba ejus veritatem habent secundum aliquem mysticum intellectum.” Ibid., q. 110, a. 4, ad 4: “Dicendum quod mendacium obstetricum potest dupliciter considerari. Uno modo quantum ad affectum benevolentiæ in Judaeos et quantum ad reverentiam divini timoris, ex quibus commendatur in eis indolens virtutis; et sic debetur eis remuneratio aeterna […]. Ali modo potest considerari quantum ad ipsum exteriorem actum mendacii. Quo quidem non potuerunt aeternam remunerationem mereri, sed forte aliquam remunerationem temporalem, cujus merito non repugnabata deformitas illius mendacii, sicut repugnabat merito remunerationis aeternae.” For their respective exegesis of this incident cf. Augustine, Epistolae ad Galatas Expositionis Liber Unus (PL 35, col. 2112-2114), and Jerome, Commentariorum in Epistolam ad Galatas Tres Libri (PL 26, col. 331-467). For further discussion cf. A. Oddone, La dottrina di Sant’ Agostino sulla menzogna e la controversia con San Girolamo, in: Revista di Filosofia Neoscolastica 23 (1931), 264-284; and E. Plumer, Augustine’s Commentary on Galatians, Oxford 2003, 1-121. Thomas clearly is influenced by the fact that many of the authorities whom Jerome cites in support of his case, theologians such as Origen, had been condemned for heresy, and being heretics their exegesis of Sacred Scripture was not to be trusted.
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say that anything false is contained in Sacred Scripture, and that it is appropriate to concur with Augustine’s opinion that Peter was deserving of Paul’s rebuke 116. Those who tackled the subject of lying in the years after Thomas’s death in 1274, did not always replicate his arguments although like him they kept faithful to the spirit and letter of Augustine’s strictures 117. The Franciscan William de la Mare (d. 1298) who penned the celebrated “Correctorium fratris Thomae” in 1279 and who remained one of Thomas’s most virulent posthumous critics, found himself in general agreement with the Angelic Doctor’s treatment of lying, although his own brief treatment of the topic looked almost entirely to the writings of Augustine and Bonaventure 118. William repeats long passages from Augustine’s works, affirms his definition of lying, and the general principle that lying is a mortal sin 119. The focus and brevity of William de la Mare’s work can be said to contrast with that of another Franciscan, Richard Middletown (1249-1307) (Richardus Mediavilla) 120, whose discussion of lying not only draws heavily on the work of standard authorities like the ubiquitous Augustine but also shows evidence of a familiarity with Aristotle’s writings and moral teaching 121. While many of Richard’s observations are by no means novel - the standard taxonomies of lying, the argument that it is a mortal sin, and the exoneration of the deeds of patriarchs like Jacob are all on display 122 - his remarks at the end of his treatment present an interesting synthesis of Augustinian and Aristotelian themes. There, Richard argues that the disposition to lie is against truth and so against justice. 116
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Super Epistolam ad Galatas, Caput II, Lectio III, n. 88-89 (ed. Marietti, i, 584): “Et validius argumentum Augustini contra Hieronymum est, quia Hieronymus adducit pro se septem doctores, quorum quatuor, scilicet Laudicensem, et Alexandrinum, Origenem et Didymum excludit Augustinus, ut pote de haeresi infames. Aliis vero tribus opponit tres, quos pro se et pro sua opinione habet, scilicet Ambrosium, Cyprianum, et ipsum Paulum, qui manifeste dicit, quod reprehensibilius erat Petrus. Si ergo nefas est dicere in Scriptura Sacra aliquod falsum contineri, non erit fas Petrum reprehensibilem non fuisse.” While not replicating Thomas’s exact position, most late thirteenth-century scholastics repeated standard Augustinian views. For a representative sample cf. Henry of Ghent, Quodlibet, III, q. 25 (ed. Paris 1518, fol. 84 H-I); and Quodlibet, V, q. 30 (ibid., fol. 208 A-D); and Giles of Rome, De regimine principium, lib. II, pars II, cap. 10. Other masters and theologians who treated lying are recorded by P. Glorieux, La Litte´rature Quodlibe´tique de 1260-1320, vol. I (Bibliothe`que Thomiste 5), Le Saulchoir 1925; vol. II (Bibliothe`que Thomiste 21), Paris 1935; namely, Adenulf of Anagni, Quodlibet, I, q. 18 (Glorieux, I, 99); Bernard of Trilia, Quodlibet I, q. 23 (Glorieux, I, 102); Godfrey of Fontaines, Quodlibet XII, q. 16 (Glorieux, I, 151); and Herveus Natalis Brito, Quodlibet X, q. 16 (Glorieux, I, 208). Cf. Guillelmus de la Mare, In III Sent., dist. 38, qq. 1-3 (ed. H. Kraml, Munich 2001, 165169). Ibid., dist. 38, q. 1; q. 3; and q. 4 (ed. Kraml, 166-169). Super quatuor Libros Sententiarum Petri Lombardi, 4 vol. (ed. Brescia 1591/Reprint Frankfurt a. M. 1963). Cf. Sent. III, dist. 38, a. 1, q. 1-6 (ed. Brescia 1591, iii, 458-466). For further discussion of Richard’s moral teaching cf. E. Hocedez, Richard de Middleton. Sa vie, ses œuvres, sa doctrine, Louvain - Paris 1925, 211-220, 298-311. Cf. ibid.
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Clearly influenced by Aristotle’s remarks at Nicomachean Ethics, IV, 3 of the relationship between truth and justice, Richard proceeds to specify that lying is not simply contrary to any legal duty but is rather founded on a moral requirement to uphold the truth, a duty which is enshrined in the cardinal virtue of justice 123. This last point coheres neatly with the substance of Augustine’s dictum at De mendacio 8 that any violation of truth is always unjust. The next significant treatment of lying was advanced by Duns Scotus. He can be said to have drawn upon the reserves of the Franciscan tradition constructed by Alexander of Hales and Bonaventure, and consolidated around the time of his studies and early teaching career by the likes of Matthew of Aquasparta, Richard Middletown, Peter Olivi, and William de la Mare 124. Scotus divides his account into two main articles 125. The first is a critical resume´ of the various opinions as to why lying is sinful, while the second analyses the nature of the sin. This discussion leads him to argue that the extent of the badness of any individual act of lying will depend upon the type of lie an agent tells 126. In the first article Scotus argues, echoing the earlier thought of Bonaventure, that a lie is opposed immediately not to Deus qua veritas, but rather to some specific created truth. Because of this, a lie cannot irrevocably turn one from God even though it is a sinful act 127. Concerning the locus of the malice of lying, Scotus again reflects the earlier thinking of Bonaventure by arguing that 123
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Ibid., a. 1, q. 6 (ed. Brescia 1591, iii, 465): “Respondeo quod eo modo virtus veritatis est pars iustitiae habitus mentiendi, cum directe opponatur veritati, opponitur iustitiae; proprie autem loquendo non potest dici, quod veritas directe sit iustitia: quia non est aliqua species iustitiae, accipiendo iustitiam prout est una de quattuor virtutibus cardinalibus, reducetur tamen ad iustitiam, sicut potentialis eius pars; cum iustitia enim convenit in hoc, quod utraque est ad alterum, et in hoc, quod sicut iustitia constituit aequalitatem in operationibus ad alterum, ita veritas in significationibus, quae sunt ad alterum significando, quod est esse; et quod non est non esse: iustitia autem deficit in hoc, quod non respicit debitum legale, sed tantummodo debitum morale, quod non tenetur homo reddere ex necessitate legis: habitus ergo mentiendi iustitiae opponitur per quandam reductionem in quantum sic se habet ad iniustitiam, sicut virtus veritatis ad iustitiam.” Cf. Matthew of Aquasparta, Quaestiones de legibus, q. 4 (Bibliotheca Franciscana scholastica medii aevi XVIII), Grottaferrata 1959, 191-194; and Peter Olivi, Quodlibet, IV, q. 8, and q. 10, in: S. Defraia (ed.), Petri Iohannis Olivi Quodlibeta quinque (Collectio Oliviana VII), Grottaferrata 2002, 228-230, and 235-239. Ordinatio, III, suppl. dist. 38 (ed. Wadding-Vive`s, xv, 859-992, also contains commentary by Franciscus Lychetus (d. 1520) and Joannis Poncius (c. 1599-1672/3)/ ed. Wolter 1986, 480500). The Latin text cited is Wolter’s revision of Wadding’s edition based on Codices A (ff. 180va) and S (ff. 222rb-23va). For concise discussion of Scotus’s views on lying cf. G. J. Waffelaert, Dissertation sur le malice intrinse`que du Mensonge, in: Nouvelle Revue de The´ologie 13 (1881), 479-504, esp. at 490491, 494-504; and A. B. Wolter, Duns Scotus on the Will and Morality, Washington, DC 1986, 106-110. Cf. also R. Cross, Duns Scotus on Goodness, Justice, and What God Can Do, in: Journal of Theological Studies, n. s. 48 (1997), 48-76, and his Duns Scotus, Oxford 1999, 8995, for an overview of several important ideas that condition Scotus’s moral theory. Ordinatio, III, suppl. dist. 38, a. 1 (ed. Wolter 1986, 482; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 865-866): “Quidam dicunt quo ideo necessario mendacium est peccatum, quia necessario avertit a Deo, qui est veritas, et mendacium est contra veritatem. Sed contra hoc est quod non opponitur veritati primae immediate, sed veritate alicuius rei, de qua mentitur loquens; sicut igitur malitia opposita alicui bono creato non necessario avertit a primo bono increato, ita nec falsitas opposita cuilibet veritati impertinenti priae veritati, avertit a prima veritate.”
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the bad purpose or intention one has in not telling the truth stems essentially from a depraved will. He says: “To lie by nature implies an intention which is bad, namely an intention to deceive, and although some acts which do not include a bad intention can be good by reason of some good circumstance, nevertheless an act that includes a bad intention can never be good (bonus), because it formally includes bad will (malum velle); and so it is in the present case.” 128
Going on to develop this thought much further Scotus says: “This can be explained in the following way. Although the positive act and its malice do not represent anything that is one per se neither a reality nor in the concept, a noun can still be imposed which signifies not just the act or its deformity, but the entire combination at once. The noun ‘adultery’ is in a sense imposed to signify not just the natural act of copulation, but also the impropriety that it is not done with one’s own wife. The noun ‘theft’ has been imposed to signify not just the taking of this thing, but also the illegal appropriation of what belongs to another against his will or that of any higher owner. It does not seem that the sort of combinations signified by such nouns could possibly be good, though it is possible for the underlying act to exist without the deformity, for instance, the act of intercourse or that of taking such a thing. Such is the case in this instance. Although the utterance of such and such words with or without such signification could be sinless, nevertheless, to speak them knowing the opposite to be the case, and hence with the intention of deceiving, could not occur without sin, because it implies that in addition to the underlying act there are such circumstances as necessarily deform it. The assumption is evident, because Christ uttered the words ‘I know him not; and I will be like you a liar’ ( John 8:55). Also a Greek could utter any Latin words, no matter how false, without committing a sin.” 129
Lying with the intention to deceive is always bad, and no further mitigating circumstance could ever make it good. Yet given Scotus’s views on God’s abso128
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Ibid. (ed. Wolter 1986, 486; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 870): “Mentiri ex ratione sua dicit intentionem malam, quia intentionem decipiendi, licet igitur aliqui actus qui non includentes intentionem malam possint aliquando esse boni ex aliqua circumstantia bona, tamen actus includens secum intentionem malam numquam potest esse bonus, quia includit formaliter malum velle; ita est in proposito.” Syntax corrected in Wolter 1986, 468-487, by Cross, Duns Scotus on Goodness (nt. 126), 67 on the basis of Assisi, MS 137, f. 180vb. Ibid. (ed. Wolter 1986, 486; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 870-871): “Istud potest exponi sic, quod licet actus positivus et malitia non sint aliquid unum per se, nec in re nec in conceptu, tamen potest aliquod nomen imponi, quod non tantum significet actum vel illam deformitatem tantum, sed totum simul, - quodammodo impositum est hoc nomen ‘adulterium’ ad significandum non tantum actum naturalem coeundi, sed deformitatem cum aliena, et hoc nomen ‘furtum’ non tantum est impositum ad significandum acceptionem huius re, sed aliud significandum contrectationem huius rei alienae contra voluntatem eius et cuiuscumque domini superioris. Talia tota non videntur quod possint esse bona, quae scilicet importata per talia nomina, sed illud quod est ibi substratum, possibile est esse sine tali deformitate, puta actus coeundi vel accipiendi rem talem. Ita in proposito, licet prolatio talium vel talium verborum quorumcumque significatorum vel non significatorum, possit esse sine peccato; tamen prolatio istorum cum scientia oppositi, et per consequens, cum intentione fallendi, non potest esse sine peccatio, qui includit actum substratum cum circumstantiis actum necessario deformantibus. Assumptum patet, quia verba illa, ‘Nescio eum, et ero vobis similis mendax’, protulit Christus, sed non assertive. Verba etiam latina quaecumque quantumcumque falsa, posset unus Graecus proferre sine peccato.”
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lute power to dispense with the second tablet of the Decalogue (a set of divine commands which includes the prohibition on lying), it is possible that God could, if He so wished, make an act of lying licit for any reason He deemed appropriate 130. However, many later interpreters of Scotus, especially in the early modern period, took it that while God could grant a dispensation for all the other precepts of the second tablet of the Decalogue, lying was always wrong and the positive injunction enshrined in the eighth commandment could never be rescinded. In other words, Scotus was never construed to hold to the view that lying is wrong as long as God wills it to be so 131. In his treatment of the category of sin under which acts of lying are to be classified, Scotus follows established precedent and distinguishes between pernicious, officious and jocose lies 132. Discussing the type of sin that inheres in each of these acts, Scotus alludes to Alexander of Hales’s remarks about the perfecti and the imperfecti by arguing that the question as to whether or not all acts of lying are either mortally or venially sinful is best decided with reference to the character and duties specific to that individual. In the case of a person exercising an exalted office such as sacred teaching, preaching and judging (cf. Augustine’s and Alexander’s perfecti ), an officious or jocose lie would be mortally sinful Scotus thinks because it destroys the authority and utility of the message being preached (quia auferrentur auctoritas et utilitas doctrinae quam praedicat). Consequently, if in the course of preaching a prelate were to deploy a jocose lie or some other jolly ruse, the substance of his sermon would lack solid authority (soliditas in doctrina), because one could doubt the truth of what he said as much as one might doubt the word of anyone else 133. Here, Scotus reveals himself to be in full accord with Augustine’s earlier retort to Jerome that if lies, no matter 130
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On Scotus’s teaching on natural law and the second tablet of the Decalogue cf. R. Prentice, The Contingent Element Governing the Natural Law on the Last Seven Precepts of the Decalogue, According to Duns Scotus, in: Antonianum 42 (1967), 259-292, and H. Möhle, Ethik als Scientia practica nach Johannes Duns Scotus: eine philosophische Grundlegung, Münster 2003, 312-331. Cf. J. Cacheranus, Theologia assertiva, tract. VI, cap. 3, § I (Lyons 1691), 23: “Scotistae volentes omnia praecepta secundae tabulae esse a Deo dispensabilia […]; plures etiam ex Scotistis a dispensabilitate praeceptorum secundae tabulae excipiunt praeceptum non mentiendi”; cf. Armandus Hermann, Ethica sacra ad mentem Joannis Duns Scotus, pars II, q. 6 (Würzburg 1698). On this aspect of Scotus’s ethics, an aspect which does not readily commit the Subtle Doctor to a divine command theory of morality cf. Cross, Duns Scotus on Goodness (nt. 126). If one is looking for a late medieval version of this theory, one need look no further than Scotus’s fellow Franciscan Andreas de Novocastro, Primum Scriptum Sententiarum, dist. 48, q. 2, secunda conclusio (ed. Idziak, 8891). Ordinatio, III, suppl. dist. 38, a. 2: “Quale peccatum sit mendacium” (ed. Wolter 1986, 486; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 938). Ibid., a. 2, re. 1 (ed. Wolter 1986, 490; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 948): “Hoc potest dici distinguendo quod persona perfecta quaedam est in statu perfectionis exercendæ, sicut praelatus, quaedam in statu perfectionis acquirendo, sicut religiosus. De primo potest concedi quod exercendo actus, qui competunt sibi ratione talis status perfectionis, puta docere, iudicare, praedicare, utrumque mendacium esset in eo peccatum mortale, quia auferentur auctoritas et utilitas doctrinae quam praedicat.”
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how jocose, are to be admitted in Scripture or else exclaimed by those entrusted with the authority to proclaim it, they will dilute the authority of the Christian teaching 134. On the subject of persons who have yet to acquire an exalted state, Scotus claims that such individuals do not mortally sin, should they tell jocose and officious lies; they are not beholden to the same obligations as the perfecti. Still, they are enjoined to be mindful of the scandal that may ensue as a result of their perpetration of such acts, and whenever right reason (recta ratio) deems that scandal would result from single or repeated acts of jocose lying, then they are bound by charity to avoid such practices 135. In his consideration of examples of lying in the Hebrew Scriptures, Scotus makes several revealing observations. He holds that Abraham, being of exemplary character, can be exonerated from saying at Genesis 21:4 something that he did not believe in his own mind (non dixit contra illud quod habuit in mente). For even though he intended to sacrifice Isaac, he had previously entertained the thought that God would miraculously restore his son to life and that Isaac would return with him when they left the mountain 136. Joseph too is cleared of any sinful repercussions that may have arisen from his jocose lie to his brothers, for “in the end he revealed the truth to them, and if he instilled fear into them for a time, he only punished as they deserved”. Scotus clearly believes this to be an appropriate punishment for the sons of Jacob since in “their treachery in selling their brother into Egyptian slavery they not only deserved to be frightened, but merited a much greater punishment” 137. On the subject of Jacob’s lie to Esau Scotus reveals himself to be more sanguine. Noting that countless theologians before him had attempted to excuse both Jacob and other patriarchs of the sin of lying, Scotus concludes that it is unreasonable (non multum rationabile negare) to deny that at times they lied or could have lied. Adopting a more balanced view on the patriarchs as moral exemplars, Scotus argues that just as we praise their good deeds as worthy of emulation this need not lead us to obstinately defend or excuse them whenever their behaviour falls short of their own high standards. Drawing back from fully prosecuting the implications of his argument, Scotus then remarks that such 134 135
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Cf. Augustine, Epistolae (PL 33, col. 112). Ordinatio, III, dist. 38, a. 2, re. 1 (ed. Wolter 1986, 492; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 952-953): “Quantum autem est ex natura mendacii iocosi vel officiosi in factis secundo modo dictis, non videtur quod talis obligetur ex professione sua ad vitandum tale sub aliqua ratione vel districtione praecepti quam quicumque alius Christianus. Verumtamen si recta ratio dictet quod actus unicus eius vel frequentatus, sit scandalum audientibus cum similis actus in alio non esset scandalosus, iste tentetur ex caritate vel salutem proximi vitare scandalum.” Ibid., a. 2, ad 1 (ed. Wolter 1986, 494; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 954-955): “Ipse igitur licet intenderet immolare Isaac, tamen intendebat illum miraculose resuscitandum a Deo et secum reversurum ad pueros. Unde etiam quod dixit: ‘Revertemur ad vos’, dixit secundum quod sentit in corde. Nec faciliter Abrahae aliquod mendacium fuit imponendum, cuius vita fuit valde exemplaris.” Ibid. ad 3 (ed. Wolter 1986, 494; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 956): “In fine enim aperuit eis veritatem et interim, dum eos terruit, punivit eos sicut meruerant puniri. Illa enim proditio eorum qua vendiderant fratrem suum in Aegyptum, bene meruit non tantum tali timore sed etiam maiori poena puniri.”
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biblical passages can be understood figuratively (intelligi figurative), or assigned a different meaning from that which appears to present itself in any initial reading of the text 138. This is not so, however, in the case of Rahab, who, despite her prudence, is condemned by Scripture as indeed were the Hebrew midwives and Rachael 139. In his discussion of Judith and Holofernes ( Judith 11), Scotus appears to rule out the possibility of deploying the means of equivocation earlier extolled by Raymund of Pen˜afort and other canonists 140. Replying to the argument that Judith did not deceive because the additional words said in the presence of Holofernes were directed to God rather than the king, Scotus argues that such equivocation is never permissible. In speaking to a ruler or a legitimate authority to whom one is bound to reply in good faith, Judith did not speak truthfully and cannot be excused from doing so by the claim that her words were intended for only God. If such practices were ever permitted, Scotus adds, nothing would be certain in human speech and nobody would ever have certainty about the words of their neighbour 141. If one is bound to speak truthfully to a ruler then one is obliged to tell the truth. Thus, despite Judith’s honest intention and religious devotion, Scotus reiterates his earlier view that one must acknowledge the fact that some of the deeds of the patriarchs are neither praiseworthy nor licit 142. With regard to the probity or otherwise of dissimulation Scotus argues that whenever it conceals hypocrisy it is morally sinful. In those instances when it pertains to indifferent matters such as making oneself perspire when one has not been toiling in extremis (Scotus’s example!), the sin is not so grave but by no means praiseworthy. On David’s pretense of madness before Achish Scotus is indulgent, yet he reserves more stringent criticism for Jehu’s actions before the priests of Baal. The crucial factor for Scotus is that Jehu did not merely feign allegiance to the cult but added the lie “I have a great sacrifice to offer 138
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Ibid., ad 2 (ed. Wolter 1986, 494; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 955): “Non videtur multum rationabile negare illos quandoque mentitos fuisse vel posse mentiri. Et si ita est, etsi laudemus bona facta eorum, et illa accipimus in exemplum, mala tamen in exemplum non accipimus, nec pertinaciter defendimus vel excusamus. Dicitur tamen quod tales sermones eorum possunt intelligi figurative vel sub aliis intellectibus quam verba primo exprimat […].” Ibid., ad 4 (ed. Wolter 1986, 494; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 956): “Ad alia argumenta de Raab et obstetricibus et Rachele, non oportet eas excusare; nec factum earum in Scriptura commendatur quantum ad mendacium, sed prudentia Raab, qua sibi et suis providebat et procurabat salutem commendatur.” For a full discussion of the medieval origins of the casuistical theory of equivocation cf. my The Subtle Arts of Casuistry: Volume 1. The Casuistical Tradition from Aristotle to Kant, Oxford 2006 (forthcoming). Ibid., ad 4 (ed. Wolter 1986, 496; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 966): “Sed isto posito, nihil videtur certum loquela humana, nec aliquis videretur habere certitudinem de loquela proximi loquentis, saltem nullus videtur mentiri quidquid dicat in secunda persona.” Ibid. (ed. Wolter 1986, 498; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 966): “Et ita factum eius in Scriptura narretur et recitetur in Ecclesia tamquam laudabile quantum ad aliqua quæ ibi erant religiositatis, licet nec laudentur nec liceant aliqua alia ibi annexa.”
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Baal”, a lie which was pernicious in itself not only because it occasioned the death of others but also because it exclaimed devotion to Baal. These facts, as well as Jehu’s later failure to extricate himself from the worship of the golden calves of Jeroboam, cast a shadow over his motives and reveal him to be a less than genuine worshiper of the true God 143. Scotus is far from impressed with this and other examples of seemingly justifiable simulation in the Hebrew Scriptures. 3. Late Scholastic Discussions Fourteenth-century discussions of the ethics of lying hold few surprises since the orthodox teaching of Augustine as it had been defended and clarified by the thirteenth-century thinkers such as Bonaventure, Thomas Aquinas, and Duns Scotus, is resolutely upheld albeit with subtle variations. Many thinkers such as Durandus of Saint-PourcX ain, Pierre de la Palud, Nicholas Lyra, and Walter Chatton, all restate Augustine’s definition of a lie and follow his teaching on its sinful nature 144. Unlike these authors, William Ockham did not confront serious moral questions attached to lying and telling the truth, although he did make several important observations on issues concerning the logical appreciation of truth and falsity, and the notion of a mental language, an idea which would become indispensable to later casuistical theories such as restrictio mentalis 145. The view that some cognitive activity constitutes a “mental language” came down to scholastic writers like Ockham from Aristotle and Augustine 146. One passage at De 143
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Ibid., ad 5 (ed. Wolter 1986, 500; cf. ed. Wadding-Vive`s, xv, 971): “Similationem Iehu non oportet excusare, quia praeter illam simulationem, quae forte excusari posset, adduxit mendacium. ‘Sacrificam magnam mihi est Ball’, quod mendacium, licet ex intensione sua esset quodammodo officiosum, quia destrictivum cultus Baal, tamen ex ratione sui erat perniciosum non solum ex ratione sui, quia procurativum mortem aliorum, sed etiam provocativum quantum erat ex se ad cultum Baal; et licet iste commendetur de detestatione cultum Baal, et prosecutione eius, tamen vituperantur, quia non recessit a vitulis Ieroboam, nec fuit cultor Dei.” Cf. Durandus of Saint-PourcX ain, III Sent., dist. 38, q. 1, resp. 1: “Mentiri secundum suum nomen, est contra mentem ire, quod fit dum aliquis asserit esse credit non esse, vel negat esse quod credit esse.” Cf. also Pierre de la Palude, In IV Sent., dist. 21, q. 3, a. 3; Nicholas of Lyra, Biblia sacra cum Glossa ordinaria, 5 vol. (Antwerp 1634), iii, 486; Adam Wodeham, In III Sent., dist. 14, q. 5, diff. 3; and Walter Chatton, Reportatio super Sententias, 2 vol., ed. J. Wey/G. Etzkorn, Toronto 2002; cf. Liber I, dist. 47-48, a. 2 (ii, 456). Cf. Ramon Lull, Ars brevis, IX, 18: “mendacium est habitus, cum quo mendax fatur, sive tentatur contra rei veritatem.” Cf. William Ockham, Scriptum in I Sent, dist. 27, q. 2 (Opera theologica, iv, 209-211), for a brief discussion of lying and falsehood which draws heavily on the teaching of Augustine. Cf. C. Normore, Some Aspects of Ockham’s Logic, in: P. V. Spade (ed.), The Cambridge Companion to Ockham, Cambridge 1999, 31-53 for a commentary on these issues. For more detailed commentary on medieval treatments of semantic paradoxes connected with the issues of lying cf. P. V. Spade, Lies, Language and Logic in the Late Middle Ages, Aldershot 1988. Cf. Aristotle, De Interpretatione, I, 16a3-18; and Augustine, Sermo 288 (PL 38, col. 13041306), and De Trinitate, lib. 15, cap. 10, n. 19 (CCSL 50, 486). For commentary on these works as they were interpreted by medieval writers cf. N. Kretzman, Aristotle on Spoken Sound Significant by Convention, in: J. Corcoran (ed.), Buffalo Symposium on Modernist Inter-
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interpretatione, I, 16a3-8 was taken by medieval philosophers to mean that there are three kinds of language: spoken, written, and mental. The argument for a mental language then went as follows: spoken and written words are not the same for all persons since their meaning and usage is imposed by convention. Yet underlying these conventional signs, however, and giving them genuine semantic value, thereby making translation possible, is another kind of language, a mental language. As such, this is a language of thought shared by every rational being, and it is naturally, not merely conventionally, significant. Further to this, since such a language is shared by all humans, it must in some sense be independent of particular thinkers and speakers 147. Ockham is vitally important to the story of the development of the theory of mental language by reason of his view that it was an ideal logical language 148, and his progression from a “fictum theory” in which the constituents of mental language had only objective being, to an “intellectio theory” in which they had subjective being 149. Further to this, we know a good deal about how Ockham’s views developed in the context of a heated debate with his fellow Franciscan Walter Chatton. As has been documented, Chatton objected to the fictum theory and to Ockham’s proposal that mental propositions are genuine objects of knowledge 150. Other thinkers such as the Dominican Hugh Lawton also advanced detailed criticisms of the theory 151.
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pretations of Ancient Logic, 21 and 22 April 1972, Dordrecht 1974, 3-21; and G. Nuchelmans, Theories of the Proposition: Ancient and Medieval Conceptions of the Bearers of Truth and Falsity, Amsterdam 1973, 192-194. For a general history of the concept and its attendant issues cf. C. Panaccio, Le discours inte´rieur de Platon a` Guillaume d’Ockham, Paris 1999. For discussion of the development of the idea of a mental language in medieval philosophy cf. Nuchelmans, Theories of the Proposition (nt. 146), 192-194; and Panaccio, Le discours (nt. 146), 153-253. Cf. J. Trentman, Ockham on Mental, in: Mind 79 (1970), 586-590, which takes issue with the interpretation of P. Geach, Mental Acts: Their Content and Their Objects, London 1957, 102104. Cf. also P. V. Spade’s pithy but instructive comments in Peter of Ailly: Concepts and Insolubles: An Annotated Translation (Synthese Historical Library 19), Dordrecht 1980, 2-3. For more detailed philosophical commentary on Ockham’s thinking on this issue, as well as differing assessments of its contemporary relevance, cf. C. Normore, Ockham on Mental Language, in: J.-C. Smith (ed.), Historical Foundations of Cognitive Science (Philosophical Studies Series 49), Dordrecht 1990, 53-70, and Material Supposition and the Mental Language of Ockham’s Summa Logicae, in: Topoi 16 (1997), 27-33; and Panaccio, Le discours (nt. 146), 253278, and Semantics and Mental Language, in: Spade (ed.), The Cambridge Companion (nt. 145), 53-75. Cf. Ph. Boehner, The Relative Date of Ockham’s Commentary on the Sentences, in: id., Collected Articles on Ockham, St. Bonaventure, NY 1958, 96-110; and The Realistic Conceptualism of William Ockham, in: ibid., 168-174. On this debate cf. G. Ga´l, Gualteri de Chatton et Guillelmi de Ockham controversia de natura conceptus universalis, in: Franciscan Studies 27 (1969), 191-212; and E. A. Moody, A Quodlibetal Question of Robert Holkot, O.P. on the Problem of the Objects of Knowledge and Belief, in: Speculum 39 (1965), 53-74. On Lawton’s critique cf. H. Gelber, I Cannot Tell a Lie: Hugh of Lawton’s Critique of William of Ockham on Mental Language, in: Franciscan Studies 44 (1984), 141-179. Cf. also Panaccio, Le discours (nt. 146), 279-304, for further commentary.
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Ockham’s brief treatment of lying provides us with a means of illustrating the essential characteristics of his doctrine of mental language. Augustine had asserted that when we lie, we willingly and knowingly hold a false proposition or verbum in place of the one we know to be true. In other words, we can know both that our lie is false and the true proposition that contradicts it, because we can acknowledge that we lied 152. Now in order for this position to be credible, Ockham believed that Augustine must have meant an externalised spoken verbum rather than any sort of mental verbum, when he used the term verbum to describe the false proposition of a lie. He argued that Augustine could not have meant that anyone knowingly lies in such a way that the false spoken proposition or verbum is ever a component of mental language. For Ockham there were only two ways that the false spoken proposition of a lie could be conceived to enter mental language, either with or without adherence to it, and both ways he deemed to be absurd. If the lie is apprehended without adherence, then to lie is nothing more than to apprehend a false proposition. But this he deems silly, since by this argument the very apprehension of false propositions proffered as lies would not differ from the apprehension of false propositions in general. The point here is that if lying was the same as apprehending a false proposition, then every time a person dissented from a false proposition he would be lying, a consequence which Ockham judges to be clearly false. Another way in which one might conceptualise how the false propositions of lies might arise in mental language, would be a case in which someone might apprehend a false proposition and also adhere to it. The act of adherence would distinguish lying from cases in which false propositions are apprehended neutrally or with dissent. But for Ockham, such a case entails a proposition because to adhere to what one believes to be false involves a contradiction, and knowing or believing that what one says in a lie is false is part of what it entails to tell a lie, or at least one that purports to be a successful deception. For this reason, the Venerable Inceptor concluded that no one can knowingly lie and have the lie situated in mental language precisely as in a spoken utterance. Lies are false verba of external speech, and in external speech they are simply false because they are false signs 153. 152
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Augustine, De Trinitate, lib. 15, cap. 15, n. 24 (CCSL 50, 497), cited by Ockham, Scriptum in I Sent., d. 27, q. 22 (Opera theologica, iv, 209). Scriptum in I Sent., d. 27, q. 2 (Opera theologica, iv, 211-212): “Ad istud respondeo sine praeiudicio quod Augustinus vario modo accipit verbum. Quia cum dicit quod, cum scientes et volentes mentimur, falsum verbum habemus, accipit ibi ‘verbum’ pro verbo vocali, quia sistendo praecise in verbo mentali, nullo modo possumus mentiri scienter. Quia mentiri scienter, praecise sistendo in verbo mentali, aut dicit praecise locutionem falsi scienter, sine omni adhaesione illi falso, et tunc non est aliud quam apprehender unum falsum. Aut dicit licutionem falsi cum adhaesione. Tamen si promo modo, tunc scienter mentiri non est nisi scienter apprehendere falsum, et per consequens quicumque dissentiret falso mentiretur, quod est manifeste falsum. Si secundo modo, sic includit contradictionem. Quia quod aliquis adhaereat illi quod sicit vel credit esse falsum, est contradictio. Quia ex hoc quod scit vel credit illud esse falsum, dissentit; ex hoc quod adhaeret, sibi assentit. Sed eidem assentire et dissentire includit contradictionem. Igitur nullo modo potest aliquis scienter mentiri, sistendo praecise in verbo mentalis. Et ita beatus Augustinus accipit ibi verbum falsum pro verbo vocali, quia illud simpliciter est falsum ex hoc quod est signum falsi.”
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But if this is correct, how might we know about our lies? In answer to this, Ockham argued that we can have a true mental verbum about the false spoken verbum through which we lie, for the reason that we can have a true verbum in which we know that this verbum of our speech is false and that whoever utters it, lies 154. By this Ockham intends that someone who lies, first judges the proposition p is false, then asserts p in spoken form, and finally understands that the spoken proposition is false. As an uttered lie, the proposition p exists without an assertion of its falsity, yet in the process of lying, p never exists in mental language without such an assessment. Seen thus, what distinguishes cognisance about a lie from knowledge of other false propositions is that it is knowledge that a particular spoken sentence is false. A concept corresponding to the words hoc verbum represents the spoken lie in the mind, rather than the proposition exactly as spoken with its implicit implication of being true. The complicated issues of a mental language aside, many fourteenth-century thinkers found themselves moved to address the topic of lying from the perspective of philosophical theology, a topic that has also been invigorated by the reception and reaction to Ockham’s work 155. In authors such as the Dominican Robert Holcot, there is evidence on the basis of testimony by contemporaries, that he was prepared to advance the view that God could by an act of his potentia absoluta make an instance of lying licit, although this view is not always easy to reconcile with Robert’s own highly suggestive and brief comments on lying 156. In the writings of Peter d’Ailly, more specific questions as to whether God ever sins by perpetrating a deception are ventilated. Peter claimed that God could not lie and deceive a rational creature by means of false words according to His potentia ordinata, but that He could do so by the use of His potentia absoluta 157. A slightly different approach to the subject is to be found in the writings of thinkers who directly looked to the intellectual heritage of Augustine and the 154
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Ibid. (Opera theologica, iv, 212): “Et tamen de isto verbo vocali potest esse verbum verum, quia potest vere sciri quod hoc verbum est falsum et quod proferens mentitur.” On Ockham’s philosophical theology cf. M. McCord Adams, William Ockham, 2 vol., Notre Dame 1987, ii, 1151-1256; and A. Maurer, The Philosophy of William of Ockham in the light of its Principles, Toronto 2000, 103-159, and 266-295. An informative discussion of Ockham’s theology as it bears on his ethics is essayed by S. Müller, Handeln in einer kontingenten Welt: zu Begriff und Bedeutung der rechten Vernunft (recta ratio) bei Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000, esp. 20-41, and 53-98. Cf. Quaestiones magistri Petri de Aylliaco cardinalis cameracensis super librum sententiarum I, q. 12, dub. 3. Cf. Robert’s own views can be found at Super libros sapientiae (ed. Hagenau 1494), cap. I, lectio x. Quaestiones super libros Sententiarum cum quibusdam in fine adjunctis (ed. Strasbourg 1490, repr. Frankfurt a. M. 1968); cf. lib. I, q. 12, dub. 3: “Deus non potest de potentia ordinata rationali creaturae falsum dicere vel eam decipere. Deus potest de potentia absoluta rationali creaturae falsum dicere et eam decipere etiam per seipsum immediate et directe.’ Although Peter then adds the caveat, ‘intentio fallendi debet intelligi de intentione deordinata fallendi qualis in Deo esse non potest.” For further discussion of Peter’s views of potentia absoluta and their bearing on his moral thought cf. L. A. Kennedy, Peter of Ailly and the Harvest of Fourteenth-Century Philosophy, Queenston-Lewiston 1986, 83160.
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texts of his moral teaching 158. Gregory of Rimini, for instance, upholds in its entirety Augustine’s definition to lying as well as his insistence that all lies are sinful, and adds that God never says anything that is false. It is significant that Gregory is provoked to repeat Augustine’s well worn arguments against contemporary opponents, such as Adam Wodeham and Hibernicus 159, who in his mind had departed from the substance of Augustine’s doctrines 160. Importantly, Gregory is eager to stress that under no circumstances God could lie, not even by means of His potentia ordinata nor by the exercise of His potentia absoluta, and this claim is supported by arguments gleaned (as always) from Augustine 161. Other theologians of the Augustinian order like Hugolinus of Orvieto OSA (d. 1373), can be seen to make measured use of Augustine’s thoughts on lying even though it is difficult to find anything of real interest or innovation in their treatment of the topic 162. Jean Gerson, perhaps the greatest moralist of the late fourteenth century, expressed himself quite forcefully on lying, yet relied on earlier teaching in order to frame his occasional remarks 163. As a pastoral writer, 158
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On the ethical teaching of the Augustinian friars during this period cf. E. Saak, High Way to Heaven. The Augustinian Platform Between Reform and Reformation, 1292-1524, Leiden 2002, 345-466. The specific texts that Gregory texts issue with are Adam Wodeham, In III Sent., q. 5 (cod. Paris, Bibl. Mazarine 915, f. 182va; Paris, Bibl. Universite´ 193, f. 141rb/va; and Vatican, vat. lat. 1110, f. 60v); and Hibernicus, In quaestione de revelatione in responsione ad tertium, quoted by Wodeham at lib. 3, q. 5. Cf. Gregory Ariminensis OESA, Lectura Super Primum Secundum Sententiarum, ed. A. D. Trapp/V. Marcolino, 6 vol., Berlin 1984, In I Sent., dist. 42-44, q. 2 (iii, 392-393): “Ad hanc rationem video dupliciter responderi secundum dicta quorundam doctorum modernorum: Et primo quidem negando consequentiam, et ad probationem dicendo quod illa definitio mendacii, quod est falsa significatio cum intentione fallendi, deberet intelligi de intentione deordinata fallendi, qualis deo esse non potest, nec quod talis possit in eo esse, probatur, sed solum quod intentio fallendi.” Ibid. (iii, 395-396): “Nam quod conceditur deo impossibile esse mentiri de ordinata potentia tantum, non autem impossibile de absoluta, expresse repugnat intentioni Augustini in praeallegata auctoritate.” Gregory then sets down three considerations distilled from Augustine’s “De symbolo ad catechumenos” (CCSL 41, 185-186; cf. PL 40, col. 627) and concludes by stating that “si Augustinus in auctoritatibus istis loquitur de posse absolute, habetur propositum; si non absolute, sed de compossibili ordinationi divinae, quod dicitur posse secundum potentiam dei ordinatam, quaero, an deus absolute potest ordinare se mentiturum aliquando, vel non. Si non, igitur nec absolute potest mentiri; quod est propositum. Patet consequentia, quia, licet non secundum hanc ordinationem deus possit, quidquid absolute et simpliciter potest, nihil tamen absolute potest, quin possit ordinare se illud facere, et per consequens quin possit illud secundum aliquam potentiam ordinatam possibilem ad bonum intellectum communis dicti de potentia ordinata dei. Si vero dicatur quod absolute posset ordinare etc, ponatur quod ita ordinet, et tunc sequitur secundum probationem Augustini quod ipse non erit omnipotens, quia non tunc erit minus verum dicere quod, quia potest mentiri, non fuit dignus ut esset [reading esset instead of esse] omnipotens, quam nunc hoc vere dicatur, sicut cuilibet est in promptu. Cum igitur absolute sit impossibile deum non esse omnipotentem, sequitur quod absolute impossibile est eum posse mentiri.” Hugolinus de Urbe Veteri OESA, Commentarius in Quattuor Libros Sententiarum, ed. W. Eckermann, 4 vol., Würzburg 1980-1986; cf. In III Sent., dist. 24, q. 2, a. 1 (iii, 307-310). Cf. De Contractibus, 13 (Oeuvres Comple`tes, ed. Glorieux, ix, 329); and Compendium theologiae, tract. II (Opera omnia, ed. Du Pin, i, 251-252). Cf. Definitiones terminorum ad theo-
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Gerson was much more interested in the causes of sin, and of attempting to remedy its injurious effects on human life by means of the sacrament of confession. For this reason, we tend to find a greater emphasis in his moral writings on the antecedent causes of vice and the practical requirements of the Second Tablet of the Decalogue in Christian life rather than a more speculative interest in lying as such 164. The substance of Augustine’s view on lying, as refracted through the glass of late fourteenth-century northern European Thomism, is set down with little fuss and without embellishment by the Dominican theologian Henry of Gorkum (1378-1431) 165. Relying almost entirely on Augustine’s “De mendacio”, “Contra mendacium”, and “Enchiridion”, Henry reiterates the threefold and eightfold division of lies, upholds Augustine’s definition of a lie, and argues that lying is always a sin 166. In his treatment of the patriarchs, Rahab and the Hebrew midwives are scolded for telling a lie, although they are judged to have sinned venially 167, while the fortunate Jacob’s deception of the feckless Esau is deemed, in accordance with time honoured tradition, to be a mystery and thus the work of the Holy Spirit 168. While reading Henry’s treatment of lying is much like reading any other jobbing scholastic of the late fourteenth-century, his work is enlightening in so far as it stands as testimony to the fact that Augustine’s teaching was by this time almost proverbial. In the fifteenth century several attempts were made to present detailed syntheses of traditional teaching, with the consequence that many authors now drew upon a much wider set of resources of auctoritates and arguments than their thirteenth- and fourteenth-century predecessors. In the “Summa theologica” of the imposing Dominican moralist Antoninus of Florence, we find a lengthy treatment of mendacity that is conditioned not only by the precepts of Augustine, but also by the restatement of his principal views by Peter Lombard, as well as the thought of Thomas Aquinas, and numerous patristic authorities 169. Antoninus paraphrases the Augustinian definition of a lie as a false statement
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logiam moralem pertinentium (Opera omnia, ed. Du Pin, iii, 121; and Oeuvres Comple`tes, ed. Glorieux, ix, 135), for Gerson’s neo-Augustinian remarks on the importance of truth. Cf. D. C. Brown, Pastor and Laity in the Theology of Jean Gerson, Cambridge 1987, and my Initium omnis peccati est superbia. Jean Gerson’s account of Pride in his Mystical Theology, Pastoral Thought, and Hamartiology, in: R. Newhauser (ed.), In the Garden of Evil: The Vices and Their Culture in the Middle Ages, Toronto 2004. Henry of Gorkum, In Quatuor Libros Sententiarum (ed. Basel 1498); cf. In III Sent., dist. 38, a-d. Ibid., b-c. Ibid., a. Ibid., d. Antoninus of Florence, Summa theologica (ed. Verona 1740), cf. pars II, titulus x, caps. i-viii, col. 1042-1106. Significantly, Antoninus’s account of lying is prefaced by a more general discussion of the use and abuses of speech. Cf. II, tit. VII, cap. 3 for “De clamore”; tit. VII, cap. 5 for “De maledictione”; tit. VII, cap. 6 for “De contumelia”; tit. VIII cap. 3 for “De detractione”; tit. VIII, cap. 7-8 for “De blasphemia”.
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uttered with the intention to deceive as that position had been compressed by Peter Lombard 170. He then proceeds to determine three general classes of mendacity after the fashion of the Lombard and Thomas 171, as well as upholding Augustine’s eightfold division among the types of lie 172. Of particular interest is his argument that every lie is a sin and can never be excused because it is ex genere an evil act. Here, Antoninus’s use of the principal auctoritates of Christian moral teaching is instructive since it displays the manner in which fifteenthcentury scholastic thinkers, influenced by the developing techniques of humanist criticism, were minded to draw upon the resources of a well documented tradition in order to construct a coherent position 173. While this dialectical strategy leads Antoninus in many instances to simply restate the views of earlier luminaries, especially Thomas Aquinas (hence his assured place in the chronicles of late medieval Thomism), he is always eager to plead that the position of the Angelic Doctor is concordant with Augustine, Gregory the Great, Gratian, and Bonaventure, and that there is a striking unanimity in Christian teaching concerning lying. For this reason his use of the tradition is not as slavish as it first appears, since his contrived yet careful arrangement of divergent sources to engineer agreement is the mark of an open and generous mind ever willing to construct concord on important matters of moral principle. Antoninus’s discussion of those passages of Scripture where acts of lying and deceit are thought to occur yet further reveals his fundamental commitment to the core of Augustine’s and Thomas’s work. Abraham and Jacob are exonerated from lying 174, the opinion that there are no lies in Scripture is reaffirmed, while the more murky deeds of other patriarchs and prophets are contextualised so as to ensure their conformity with the moral law 175. Like others before him, Antoninus reserves his harshest condemnation for those individuals like the 170
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Ibid., II, x, cap. 1, col. 1042E: “Dicitur enim mendacium dicere contra mentem. Unde magister in 3. Sententiarum dist. 38 diffiniens ipsum dicit, quod mendacium est falsa vocis significatio cum intentione fallendi. In qua notantur duo, quae complete constituunt mendacium, scilicet falsitatis expressio, et intentio fallendi.” The triadic division of lying into pernicious, jocose and officious lies is adopted from Thomas’s earlier appropriation (cf. Summa theologiae, IIa-IIae, q. 110) of Lombard’s distinctions. Cf. Antoninus, Summa theologica, II, x, cap. 1, col. 1049-1050: “Triplex autem divisio ponitur de mendacio secundum diversas considerationes ejus secundum Thomam 2. 2. quaest. 110.” Ibid., II, x, cap. 1, 1050A-D-1051A-C. Cf. also Augustine, De mendacio, 15 (CSEL 41, 446-449; cf. PL 40, col. 505-506). Antoninus, Summa theologica, II, x, cap. 1, col. 1053A-B: “Nullo igitur casu licet mentiri. Ratio hujus, secundum Thomam ubi supra, est, quia illud, quod secundum se est malum ex genere suo; nullo modo potest esse bonum et licitum; quia ad hoc, quod aliquid sit bonum, requiritur, quod omne recte concurrant ad ipsum; bonum enim est ex integra caussa, secundum Dionysium. Mendacium autem est malum ex genere: est enim actus cadens super indebitam materiam: quum enim voces sint signa naturaliter intellectuum; innaturale est et indebitum, quod aliquis voce significet, quod non habet in mente. Unde et philosophus dicit in 4 ethicorum, quod mendacium est de se pravum et fugiendum. Ad hoc etiam facit decretum, Super eo, extra, De usur., ubi dicitur, quod non licet pro alterius vita mentiri. Ide; Bonaventura.” Ibid., col. 1051D-E. Ibid., col. 1052A-C; and 1053E-1054A-C.
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perfecti, who degrade the dignity of their office whenever they lie. In this instance, the teaching of Thomas is taken to be identical to that of Bonaventure 176. On the subject of simulation, a practice Antoninus believes to be different from lying, he follows the arguments of Thomas and sides with Augustine against Jerome 177. Paying close attention to delicate biblical passages in which occasions of legitimate simulation are thought to occur, as well as to the actual arguments of Th