Sabine Hess Globalisierte Hausarbeit
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Sabine Hess Globalisierte Hausarbeit
Geschlecht & Gesellschaft Band 38 Herausgegeben von Beate Kortendiek Ilse Lenz Michiko Mae Sigrid Metz-Göckel Michael Meuser Ursula Müller Mechtild Oechsle Paula-Irene Villa Mitbegründet von Marlene Stein-Hilbers (†) Koordiniert durch Netzwerk Frauenforschung NRW, Beate Kortendiek Geschlechterfragen sind Gesellschaftsfragen. Damit gehören sie zu den zentralen Fragen der Sozialwissenschaft; sie spielen auf der Ebene von Subjekten und Interaktionen, von Institutionen und Organisationen, von Diskursen und Policies, von Kultur und Medien sowie auf globaler wie lokaler Ebene eine prominente Rolle. Die Reihe „Geschlecht und Gesellschaft“ veröffentlicht herausragende wissenschaftliche Beiträge, in denen die Impulse der Frauen- und Geschlechterforschung für die Sozial- und Kulturwissenschaften dokumentiert werden. Zu den Veröffentlichungen in der Reihe gehören neben Monografien empirischen und theoretischen Zuschnitts Hand- und Lehrbücher sowie Sammelbände. Zudem erscheinen in diese Buchreihe zentrale Beiträge aus der internationalen Geschlechterforschung in deutschsprachigen Übersetzungen.
Sabine Hess
Globalisierte Hausarbeit Au-pair als Migrationsstrategie von Frauen aus Osteuropa 2. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.
.. 1. Auflage 2005 2. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Bettina Endres VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15677-4
Inhalt
1. Einführung ........................................................................................................................9 1.1. Unsichtbare Frauen? .......................................................................................................9 1.2. Zum Forschungsansatz ................................................................................................14 1.3. Zur theoretischen Perspektive ....................................................................................17 1.4. Zum Aufbau ...................................................................................................................20 2. Aufbrüche.........................................................................................................................23 2.1. Der eigene Aufbruch nach „Drüben“ – situierter Blick.........................................23 2.2. Traveling not dwelling ..................................................................................................26 Den Spuren folgen Zwei Forschungsreisen Selbst im Netz der Globalisierung: Bestätigungen und Behinderungen 2.3. Junge Frauen (in) der slowakischen Transformation ..............................................35 Ich habe einen Traum Stillgelegtes Land... ...Inseln des Aufschwungs 2.4. „Transformation“ als neoliberales Projekt................................................................49 Gate-keeper: „Transformationskonzept“ Wolf im Schafspelz: Transformationsforschung als (neoliberale) Modernisierung Modernisierung als Fortführung des „backwardness project“ Kulturanthropologische und europäisch-ethnologische Transformationsforschung: In den Kinderschuhen Transformation als Katalysator für interne Differenzierungen 2.5. Gender matters ..............................................................................................................71 Eine gendersensible Herangehensweise Feminisierungsprozesse (in) der Transformation Au-pair als individuelle Bewältigungsstrategie des Transformationsprozesses 3. Wege und Stationen ......................................................................................................83 3.1. Europäisches Migrationsregime..................................................................................83 „Au-pair – was sonst?!“ Sprungbrett in den Westen – deutsche Migrationspolitik EU-Mehrfachgrenzraum Schengen als Motor einer neuen europäischen Mobilitätsordnung Au-pair als Migrationsstrategie junger Frauen
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3.2. Transnationale Vermittlungslandschaft .................................................................. 100 Ein Boomgeschäft mit „Schutzbedürftigen“ Vertrauen statt Regulation – der institutionelle Kontext „Jede dritte Au-pair hat Glück“ – kommerzielle Vermittlungspraktiken Zwischen Hilfe und Kontrolle – nicht-kommerzielle Vermittlungspraktiken 3.3. Von der Immigration zur Transmigration ............................................................. 121 Au-pair als Paradigma der „neuen Ära“ transnationaler Migration Die Fixiertheiten der Migrationsforschung Gendering migration Transnationalisierung der Migration Transnationalized Gender – transnationale Haushaltsstrategien und Geschlechterverhältnisse 3.4. Transnationale Migrationen in Europa – Transnationalisierung Europas ....... 142 „Is there an European space for transnationalism?“ Europäischer Wanderungsraum Gehen, um zu bleiben 4. Am Arbeitsplatz „Privathaushalt ........................................................................... 151 4.1. Leben und Arbeiten in einer Familie ...................................................................... 151 „Ich habe eine Familie geheiratet“ Sozial mobile Forschung oder Eintauchen ins Interaktionsfeld „Familie“ 4.2. Nähe und Distanzen .................................................................................................. 157 Mitglied und/ oder Dienerin? „Ich bin nur eine Arbeitskraft“ Kinderkoller und Außenorientierung Helferinnen-Logik Pokern um Dankbarkeit: verloren 4.3. Zur Spezifik von Familien-Arbeit............................................................................ 175 Au-pair als unreguliertes Arbeitsverhältnis Au-pair als domestic work Die moralische Ökonomie des Carings Kontrollierte Privatsphäre....................................................................................... 4.4. Arbeitgeberinnen im Privaten – zur Nachfrage nach bezahlter Hausarbeit..................................................................................................................... 183 „Der Traum von einer Au-pair“ Au-pair als Lückenfüller: live-ins 4.5. Krise der privaten Arbeit oder auf dem Weg zu einem neuen Regulationsmodus der Privatsphäre ....................................................................... 191 Hausarbeitsforschung quer gelesen Gemeinsame strukturelle Notlage oder die Liebe zur Arbeit Die spätmoderne Hausmanagerin – intrageschlechtliche Arbeitsteilung
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Erwerbsarbeit macht Spaß – unregulierter Arbeitseinsatz im Haushalt Corporate Identity „Familie“ – Unkenntlichmachung des Arbeitsaspekts Erwerbsorientierung und ethnisierende Hausfrauisierung 5. Orientierungen im transnationalen Raum ......................................................... 209 5.1. Migrationsverläufe – Enttäuschungen, Anpassungen, Erweiterungen ............. 209 „Was danach?“Der Arbeitslosigkeit entkommen Neue Motivationen – Freiheiten genießen Sich bewegen Rückkehr impossible 5.2. Lebenspraxis der zwei Standbeine........................................................................... 226 Auf dem Weg zum Ziel? Soziales Risiko transnationalisieren Eigendynamische Effekte – Fortsetzung der Migration 5.3. Feminisierte transnationale Räume in der Ambivalenz von Staatlichkeit und Selbstermächtigung.................................................................................... 233 Remigranten, Immigranten oder Transmigranten? Transnationalisierung als Effekt staatlicher Migrationsbeschränkung Die Produktivität des Grenzregimes: Feminisierte transnationale Räume Ausblicke: Mit oder ohne Papiere ... Literatur.............................................................................................................................. 249
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1. Einführung
1.1. Unsichtbare Frauen? „Tod im gelobten Land“ titelte „Der Spiegel“ in seiner Januarausgabe 2003. In Bayern hatte sich ein junge Frau aus Rumänien im Alter von 21 Jahre erhängt. Doch nicht der Freitod an sich brachte Ramona Radulovici in die Schlagzeilen des Nachrichtenmagazins und im Anschluss in Reportagesendungen privater und öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten. Ebenso wenig war dies der Tatsache geschuldet, dass sie eine junge osteuropäische Migrantin war, die seit geraumer Zeit ohne Papiere in Deutschland arbeitete. Geschätzte 1,5 Millionen Migranten und Migrantinnen arbeiten und leben ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland, darunter viele aus Osteuropa. Die Lebensbedingungen in der „Illegalität“, das heißt vor allem ohne soziale, ökonomische und politische Rechte, produzieren ein Höchstmaß an Abhängigkeit, Ausbeutbarkeit und Unsicherheit. Doch was mit ihnen passiert, ist den Zeitungen üblicherweise allenfalls eine Kurznachricht wert, wenn sie bei Razzien auf Baustellen, in Kneipen oder auf den Straßen Deutschlands verhaftet und abgeschoben werden. Was war also passiert, dass der Selbstmord Ramonas in einem Einfamilienhaus in einer ruhigen fränkischen Vorortsiedlung öffentlich verhandelt wurde? Die Unterüberschrift des „Spiegel“-Artikels verriet mehr: „In Bayern erhängte sich ein Au-pair-Mädchen nach schweren Misshandlungen. Ein neues Gesetz macht die jungen Frauen zum Freiwild.“ Quasi über Nacht wurde Au-pair zum Politikum und die Umstände, die Ramona den Freitod wählen ließen, zum Skandal. Denn die Geschichte, die Ramonas Selbstmord erzählte, passte nicht zu dem öffentlich vorherrschenden Bild von Au-pair als beliebter Form des Auslandsjahres insbesondere für junge Frauen, um „Land und Leute“ kennen zu lernen, die Sprache zu lernen und die Zeit bis zum nächsten Qualifizierungsschritt mit interessanten Erfahrungen zu überbrücken. Au-pair, was auf Französisch so viel heißt wie „zu gleichen Teilen“, kommt gegenüber Individualreisen der Vorteil zu, in einer Gastfamilie zu wohnen und als Gegenleistung für die Mithilfe im Haushalt ein Taschengeld von aktuell 205 Euro zu erhalten. Noch heute werben große und kleine Au-pairAgenturen in Hochglanzbroschüren und vermehrt auch im Internet mit dem Slogan: „Mit Au-pair Land und Leute kennen lernen!“ (vgl. www.euraupair.com, 2003) Dieses Bild vom Auslandsaufenthalt im Sinne eines Kulturaustausches bestimmte auch meine Wahrnehmung der Institution Au-pair als ich 1998 begann, meine Doktorarbeit über die neueren Entwicklungen im Migrationsbereich seit dem Ende des Kalten Krieges und den darauf folgenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüchen und Veränderungen in Europa zu planen. Eine Irritation des Bildes
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brachte auch mich dazu, mich mit dem Thema wissenschaftlich zu beschäftigen. Auslösendes Ereignis war ein Gespräch mit einer Lehrerin, die Deutsch als Fremdsprache unterrichtete. Sie meinte eines Abends: „Mit den Au-pairs wird es immer schlimmer, entweder kommen sie total übermüdet in den Unterricht oder gar nicht mehr.“ Und sie endete mit der Feststellung: „Das ist wie ein postmodernes Sklavenverhältnis. Die deutschen Frauen machen ihre Karriere auf den Rücken der jungen Frauen.“ Die Lehrerin merkte auch an, dass seit einigen Jahren zunehmend Frauen aus osteuropäischen Ländern kommen. Was sie mir an diesem Abend so nebenbei erzählte, packte mein Interesse, die Veränderungen der Institution Au-pair von einem binnen-westlichen Kulturaustausch zu einer zunehmend von osteuropäischen Frauen genutzten Aufenthaltsmöglichkeit in Deutschland näher zu untersuchen. Dabei weckte insbesondere der Aspekt des intrageschlechtlichen Machtverhältnisses zwischen deutscher Arbeitgeberin und Aupair meine Aufmerksamkeit, da ich mich in den vergangenen Jahren wissenschaftlichen Arbeitens zunehmend mit den vergeschlechtlichten Aspekten von Alltagswelten und Subjektformierung in ihrer Verknüpfung mit anderen Kategorien von sozial-kulturellen Zuschreibungen und gesellschaftlichen Platzanweisern beschäftigt hatte (vgl. u.a. S. Hess/ A. Linder: 1997). So begann ich mit ersten Vorrecherchen. Ich erkundigte mich bei nichtkommerziellen und kommerziellen Au-pair Agenturen1 im Raum Süddeutschland sowie bei Arbeits- und Ausländerbehörden. Auch hier stieß ich zunächst auf das in der Öffentlichkeit dominierende Bild, welches Au-pair als interkulturelles Auslandsprogramm für junge Frauen darstellt. Erst auf gezielte Nachfrage hin räumten alle an der Organisation und Regulation beteilig-ten Institutionen ein, dass sich ihr Klientel mit dem Ende des Kalten Krieges und den Umbruchsprozessen in den osteuropäischen post-sozialistischen Ländern verändert hat: Über achtzig Prozent der Bewerberinnen kämen mittlerweile aus Ost-, Südosteuropa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die Mitarbeiterinnen der nicht-kommerziellen Au-pairVermittlung berichteten mir darüber hinaus, dass sich mit der neuen Herkunftsregion der Au-pairs auch neue Problemkonstellationen in ihrer Vermittlungs- und Beratungsarbeit ergeben haben. So versuchten einige Au-pair-Frauen nach dem Ende des einjährigen Visums „illegal“ zu bleiben, was sie in ihrer bisherigen Vermittlungspraxis nicht kannten. Selbst daran interessiert, das Phänomen der „neuen Aupair-Generation“ (Zitat einer nicht-kommerziellen Vermittlerin 1998) zu ergründen, erlaubten sie mir, ihr Vermittlungsbüro mit angeschlossenem Treffpunkt für Aupairs zum Ausgangspunkt meiner Feldforschung zu machen. Doch jenseits des engen Kreises der engagierten nicht-kommerziellen Vermittlerinnen in Süddeutschland erntete ich mit meiner These nur Unverständnis, dass Aupair vor dem Hintergrund der Umbruchprozesse in den post-sozialistischen Staaten und angesichts der Verschärfungen der deutschen Einwanderungs- und Ausländerpolitik während des vergangenen Jahrzehnts zu einer Strategie der Migration für osteuropäische Frauen geworden ist. Auch der mit der Institution Au-pair auf engste verbundene Problemkomplex von bezahlter Hausarbeit von Migrantinnen, die wie in allen west-, nord- und südeuropäischen Ländern auch in Deutschland ab 1 Aufgrund der Sensibilität des Themas werde ich soweit wie möglich die AkteurInnen und Orte meiner Forschung anonymisieren.
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Mitte der 80er Jahre zunahm, wurde gesellschaftlich kaum wahrgenommen, geschweige denn diskutiert. Während die Problematik der Vereinbarung von Familie und Beruf für erwerbstätige Frauen aufgrund des geschlechtshierarchisch strukturierten Arbeitsmarkts und des sogenannten deutschen wohlfahrtsstaatlichen Systems, welches die Versorgungsarbeiten zur Chefsache von Frauen macht, schon lange ein alltagspolitisches Thema war, schienen die individuellen Lösungsansätze „Privatsache“ zu sein. So blieb über Jahre unthematisiert, dass immer mehr deutsche Mittelschichtsfamilien einen Teil ihrer Versorgungsarbeiten kommerziell outsourcen an Putzkräfte, Bügelfrauen, Babysitter, Tagesmütter, Gärtner, Haushaltshilfen und eben Au-pairs. Dies hat sich seit 1998 als ich mit meiner Forschung anfing auf äußerst paradoxe Weise verändert. Zum einen gibt ein neuer „konservativer Feminismus“ a la Ursula von der Leyen den Ton im Familienministerium der Großen Koalition an. Auch wenn die Einführung des sogenannten „Elterngeldes“ und die neuen Zuschüsse zum Ausbau von Grippenplätzen nur Tropfen auf dem heißen Stein bleiben und von einigen Stimmen auch als große Umverteilung kritisiert werden, haben diese Maßnahmen das öffentliche Problembewusstsein für die absolut mangelhafte Versorgungsinfrastruktur in Deutschland doch erheblich gestärkt. Allerdings bleiben in Ursula von der Leyens Darstellung die „dienstbaren Geister“ des 21. Jahrhunderts, die die staatliche Versorgungsmisere abfedern helfen, weiterhin entnannt. So wird politiköffentlich immer noch nicht thematisiert, dass überwiegend migrantische Frauen diese Tätigkeiten ausführen. Zum anderen hat das Thema „migrantische Hausarbeit“ jedoch in den letzten Jahren im deutschen öffentlichen Diskurs eine „prekäre Sichtbarkeit“ via Forschung (u.a. M. Rerrich 2006; H. Lutz 2007; S. Metz-Göckel 2008) und öffentlicher Berichterstattung erlangt. Während Bridget Anderson (1997) in ihrer fünf europäische Länder vergleichenden Studie 1997 noch von „unsichtbaren Frauen“ sprechen konnte, deutet eine Sichtung von Reportagen in den großen Tages- und Wochenzeitungen, wie auch von Fernseh- und Hörfunkfeaturen über das Problem eher auf eine „Explosion des Wissens“ hin. Als prekär bezeichne ich diese neue Sichtbarkeit jedoch deshalb, da die Art des „Redens über“ nicht immer nur als „Fortschritt“ im Sinne der migrantischen Akteure bewertet werden kann. So hat sich schon in Folge des Spiegel-Artikels 2003 ein viktimisierender Diskursstil entwickelt, der für meine Forschung selbst zum Teil des Problems wurde. Angesichts der Verzweiflung und der Isolation Ramonas am Arbeitsplatz „Kleinfamilie“ sowie der darin verübten Gewalt, die sie den Freitod wählen ließen, fokussierten die Medien und infolge auch einige institutionellen Akteure zweierlei: das „Opfer“ Ramona und das „Schlupfloch Au-pair für illegale Einwanderung“, so der Spiegelartikel. Die Berichte skandalisierten die „sklavenähnlichen Zustände“ in den Gastfamilien, die die Au-pair-Politik durch die vollständige Liberalisierung der Vermittlungstätigkeit 2002 möglich gemacht habe. Die Au-pairs, beschrieben als Töchter verarmter Familien in Osteuropa, die zum „Geldverdienen ins gelobte Land geschickt“ würden, seien zum „Freiwild“ für skrupellose Vermittler vor allem im anonymen Internet geworden. Während sich Agenturen früher von den Arbeitsämtern lizenzieren lassen mussten, habe die Gesetzesnovelle das Betreiben einer Au-
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pair-Agentur auf die Ebene einer Kioskeröffnung gestellt – ein Gewerbeschein reicht. Diese rechtliche Situation sei ein „Traum für jeden Mädchenhändler“. Auch eine nicht-kommerzielle Vermittlungsagentur teilte mir in einem Brief (2003) mit: „Es ist richtig und eine beklagenswerte Tatsache, dass in letzter Zeit aus Osteuropa viele billige Arbeitskräfte unter dem Decknamen ‚Au-pair’ angeworben werden.“ Und nachdem sie die Vermittlungstätigkeit ihrer Stelle als seriöses Gegenbeispiel beschrieben hatte, schloss sie, man müsse denen „das Handwerk legen, die unprofessionell und unter Umständen sogar illegal billige Arbeitskräfte als Au-pairs meinen vermitteln zu müssen.“ Das Arbeitsministerium reagierte prompt und kündigte an, die Kontrollen zu intensivieren. So wurde überlegt, die Au-pairs zu verpflichten, sich in regelmäßigen Abständen bei den örtlichen Arbeitsämtern zu melden. Hatte die öffentliche Debatte infolge des Selbstmords von Ramona zunächst noch die veränderte Organisation des Arbeitsplatzes „Kleinfamilie“ und die damit einhergehende Ausnutzung von legalen und illegalen Au-pairs fokussiert, mündete sie schließlich in eine Diskussion von Kontrollmaßnahmen und zwar nicht gegenüber den „TäterInnen“, sondern gegenüber den „Betroffenen“ – ein diskursiver Effekt, den man auch im Kontext der Anti-Frauenhandelsdebatte beobachten kann. Während dies den gesellschaftlichen und diskursiven Rahmen darstellte, in dem ich meine Forschungsarbeit begann, hat sich mittlerweile vor allem in Folge des „Pflegenotstands“ und vielleicht ja auch in Reaktion auf die differenzierenden Ergebnisse der jüngsten Forschungsprojekte zu diesem Thema noch eine zweite Diskursposition ergeben. Diese Diskursposition würde ich als „verstehenden Ansatz“ in der sogenannten „Schwarzarbeitsdebatte“ bezeichnen (vgl. SZ 5.9.07; 9.5.08 oder Taz 19.6.2007). Sie geht sowohl auf der Arbeitgeberseite als auch auf der Arbeitnehmerseite von den Not- und Motivationslagen beider betroffenen Parteien aus und betont die agency sowohl der arbeitgebenden Familien wie auch der undokumentiert arbeitenden Pflege- und Sorgekräfte. So steht unter einem großen Bild einer einseitigen Reportage auf Seite drei der Süddeutschen Zeitung, in dem eine in „schwarz“ gehaltene, nicht-erkennbare Frau eine alte Frau gerade füttert: „Selbst Ärzte empfehlen Schwarzarbeit.“ (SZ 9.5.08) Während diese Artikel sicherlich den Arbeitssektor ( zu vorderst die deutschen Familien) zu entkriminalisieren versuchen und die differenzierte und verstehende Darstellung der Motivlagen im Vergleich zur ersten Diskursposition angenehm überrascht, bekommt die Betonung der agency der migrantischen Frauen hier angesichts des ausbleibenden politischen Drucks in Richtung struktureller Verbesserungen wiederum einen schalen Beigeschmack. So könnte man fast glauben, dass die papierlosen „Billigkräfte aus Osteuropa“, so die Süddeutsche, als Inkarnation des neoliberalen „Arbeitskraftunternehmers“ keiner Schutzvorschriften und Rechte bedürften, da sie selbst so geschickt Überlebenstaktiken entwickelt hätten. Diese Diskursposition, die die agency der Handelnden in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, konnte ich 1998 als ich meine mehrortige Feldforschung zwischen Deutschland und der Slowakei begann, noch nicht absehen. Allerdings fordert dies die sozial- und kulturwissenschaftliche, am Akteur orientierte Forschungsrichtung dazu auf, die auch in der politischen linken Debatte gängige Annahme der „Unsichtbarkeit“ und die daraus abgeleitete Perspektive der Sichtbarmachung zu überdenken.
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1998 startete ich meine Forschung mit dem kulturanthropologischen Erkenntnisinteresse, die Veränderungen der Institution Au-pair mit Blick auf die Beweggründe, Praktiken und Selbstdeutungen der beteiligten Akteure unter einem doppelten Fokus zu analysieren: Zum einen konzentrierte ich mich auf die „Angebotsseite“. Hier legten mir meine Beobachtungen und Gespräche mit Au-pairs nahe, Au-pair als kreative Strategie junger Frauen zu verstehen, sich den Verschlechterungen der heimischen Lebensverhältnisse temporär zu entziehen und sich hierzu Au-pair als eine der wenigen legalen Möglichkeiten der Einreise nach Deutschland zunutze zu machen. Zum anderen nahm ich die „Nachfrageseite“ in den Blick, die deutschen Doppelverdiener-Familien. Hier interessierte mich, inwiefern die Anstellung von Au-pair als Strategie einer Art „Outsourcing“ verstanden werden kann, durch die berufstätige Mittelschichtsfrauen Beruf und Familie miteinander vereinbaren. Dabei beabsichtigte ich, beide Foki und Akteure, die Au-pairs und die deutschen Arbeitgeberinnen, durch eine Erforschung der Interaktionen am Arbeitsplatz „Familie“ aufeinander zu beziehen und die Lebens- und Arbeitsverhältnisse sowie die Orientierungen und Einstellungen beider als Resultat von Aushandlungsprozessen zu begreifen. Die damalige plötzliche öffentliche Aufmerksamkeit hatte mir jedoch noch ein weiteres Anliegen eingehandelt, den beginnenden Kontrolldiskurs mit den Ergebnissen meiner ethnografischen Forschung zu konfrontieren und kritisch zu hinterfragen. Dabei stelle ich nicht in Abrede, dass die strukturellen Bedingungen, die ich in den folgenden Kapiteln analysieren werde und die weit über die Liberalisierungsnovelle der Vermittlungstätigkeit hinaus reichen, eine nahezu grenzenlose Ausbeutbarkeit und Verletzlichkeit der Au-pairs mit sich bringen. Während meiner zweijährigen Forschung habe auch ich von ähnlich dramatischen Fällen gehört, wie sie nach dem Selbstmord Ramonas vermehrt ans Licht gekommen sind. Doch ein Fokus auf die „Spitze des Eisbergs“ verunsichtbart meines Erachtens den breiten Bodensatz der Au-pair-Anstellungen, die im Verhältnis als „normal“ und unproblematisch erscheinen. Solcherart mündet ein Skandalisierungs- und Kontrolldiskurs in eine Normalisierung und folglich Verharmlosung der scheinbaren Norm(alität) alltäglicher Machtverhältnisse. Mich aber interessierte, inwieweit nicht auch die als „gelungen“ bzw. „normal“ geltenden Au-pair-Verhältnisse mit strukturellen Fallen, Hindernissen und Widersprüchen gespickt sind, die deutlich machen, dass der Arbeitsplatz „Kleinfamilie“ nicht einfach als ein üblicher Lohnarbeitsplatz zu betrachten ist. Darüber hinaus kann eine kulturanthropologische Forschungsperspektive auf die Praktiken und Strategien der AkteurInnen in diesem von verschiedenen Machtregimen wie dem Gender- oder dem europäischen Migrationsregime durchzogenen dem nachgehen, wie sich die AkteurInnen in diesen Verhältnissen bewegen, Entscheidungen treffen und Strategien verfolgen, um ihre Hoffnungen auf Arbeit, Auskommen, Selbständigkeit und Glück zu erfüllen. In diesem Sinne werde ich im Folgenden kurz meinen Forschungsansatz und meine theoretischen Perspektiven umreißen, wohl wissend, dass ein spezifisches Forschungsdesign eine spezifische Beobachterposition und folglich verschiedene Erkenntnisse ermöglicht bzw. verunmöglicht.
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1.2. Zum Forschungsansatz Einleitend ist zu sagen, dass ich mit meinem Forschungsdesign keine quantitative, oftmals verstanden als „repräsentative“ Forschung anstrebe. Dies betrifft auch die Entscheidung für ein einziges Herkunftsland. So habe ich mich aus dem höchst vielfältigen Feld osteuropäischer Herkunftsländer von Au-pairs für die Slowakei entschieden; dies auch deshalb, weil Ende der 90er Jahre viele slowakische Au-pairs in Süddeutschland anzutreffen waren. Die sehr wechselvolle Geschichte der Slowakei im letzten Jahrhundert verband sie mit der NS-Geschichte Deutschlands unter dem Vorzeichen der klerikal-faschistischen Regierung unter Tiso von 1938 bis 1944 (vgl. K. Schwarz 1993: 130-145), doch mit der Loslösung von Tschechien 1993 schien sie aus dem westdeutschen Blick entschwunden zu sein. Auch dies motivierte mich, mich den Umbruchprozessen in der Slowakei zuzuwenden, die wie die anderen osteuropäischen Anrainerstaaten Polen, Tschechien, Ungarn und Slowenien, bekannt als die Visegrad-Länder, 1999 aufgenommen wurde in die Gruppe der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union und 2004 endgültig beitreten durften. In diesem Sinne besteht unter den Visegrad-Ländern trotz historischer, ökonomischer und kultureller Unterschiede eine gewisse Ähnlichkeit hinsichtlich der Transformationsbedingungen, die insbesondere durch die Aufnahmekriterien zur Europäischen Union geprägt werden. Die EU-Mitgliedschaftsperspektive markiert jedoch einen entscheidenden Unterschied zu postsozialistischen Ländern der ehemaligen Sowjetunion wie der Ukraine, Russland und Kasachstan oder auch zu südosteuropäischen Ländern wie Serbien oder Moldawien, aus denen ebenfalls Au-pairs nach Deutschland kommen. So sind für die Frauen aus der Slowakei mit dem Beitritt ihres Landes trotz siebenjähriger Aussetzung der sogenannten Arbeitnehmerfreizügigkeit durch Deutschland und Österreich die migrationspolitischen Bedingungen in ihrer Schärfe entfallen, was auch zu einem Rückkgang der Au-pair Zahlen führte. Dagegen dominieren nun Au-pairs aus der Ukraine oder Weißrußland das Bild. Während meiner Besuche des Au-pair-Treffs habe ich mit zahlreichen Frauen aus diesen Herkunftsländern sprechen können und auch die Expertengespräche mit Agentur-Mitarbeiterinnen haben mir einen Eindruck von Gemeinsamkeiten wie auch Unterschieden vermittelt. Im Zentrum meiner Forschung steht jedoch eine Gruppe von sechs Au-pair-Frauen aus der Slowakei, die ich zwei Jahre ausgehend von ihren Herkunftskontexten in der Slowakei über ihre Migrationswege nach und Aufenthaltsverläufe in Deutschland bis hin zu ihren Nachfolgestrategien nach Ablauf des Au-pair-Visums begleitet habe. In regelmäßigen Abständen habe ich mich mit ihnen zu Gesprächen getroffen und versucht, auch an ihren Arbeits- und Lebensorten in den Familien teilnehmend zu forschen. Allerdings bekam ich nur zu den Gastfamilien einen forschenden Zutritt, die von sich behaupteten, eine gute Beziehung zu ihren Au-pairs zu haben. Mit vier deutschen Frauen konnte ich in längeren Interviewgesprächen über ihren Lebens- und Berufsalltag sowie ihre Beweggründe, ein Au-pair zu beschäftigen, reden. Ferner habe ich auf meinen Busreisen hin und zurück aus der Slowakei, bei meinen Forschungsbesuchen in verschiedenen slowakischen Dörfern und Städten als auch des Au-pair-Treffs in Deutschland insgesamt mit 32 slowakischen Frauen mal längere, mal kürzere Gespräche geführt. Darüber hinaus habe ich verschiedene beteiligte institutionelle Akteure, die das transnationale Au-pair-Business betreiben und
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verwalten, interviewt und in unterschiedlichem Ausmaß ihre Praktiken teilnehmend beforscht. Meine mobile, mehrortige Feldforschung, auf die ich im zweiten Kapitel im Kontext neuerer kulturanthropologischer Diskussionen über ethnografische Forschungsmethoden im Globalisierungszeitalter näher eingehen werde (vgl. G. Marcus 1995; M. Burawoy 2000; A. Gupta/ J. Ferguson 1996), erlaubte mir dabei nicht nur eine Gegenüberstellung der Herkunftskontexte und Aufbruchsmotivationen der Au-pair-Frauen mit dem Migrations-kontext und den dort realisierbaren und realisierten Möglichkeiten. Auch konnte ich selbst mobil forschend die Wege und Stationen (auch körperlich) in Erfahrung bringen, die die Au-pairs in ihrer grenzüberschreitenden Lebensführung zurückzulegen hatten, was Thema des dritten Kapitels sein wird. Während der Busfahrten von Deutschland in die Slowakei und wieder zurück konnte ich sowohl einen Eindruck davon bekommen, welche subjektiv unterschiedlichen Gewinne, aber auch welche Erniedrigungen und Gefahren für die Au-pairs mit dem Grenzübertritten über die Schengen-Außengrenze der Europäischen Union verbunden waren. Meine Forschung über den Zeitraum von zwei Jahren mit den regelmäßig stattfindenden Gesprächen ermöglichte mir ferner, der Prozesshaftigkeit von Lebens- und Migrationsverläufen gerecht zu werden und Veränderungen von Motivationsspektren, Einstellungen und Subjektpositionen zu studieren. Ebenso machte mir die Langzeitperspektive den Blick frei für Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten der verschiedenen AkteurInnen zwischen Hoffnungen und Erwartungen einerseits und eingeschlagenen Strategien und Praktiken andererseits. Vor allem der klassisch kulturanthropologische Blick auf die gesamte Lebensführung bzw. das Alltagsleben der Au-pairs vom Herkunftskontext über ihren Arbeitsplatz und ihr Freizeitverhalten in Deutschland bis hin zu ihren Migrationsstrategien ermöglichte mir dabei, ein Verständnis für situatives Handeln vor dem Hintergrund der Komplexität widersprüchlicher Subjektpositionen und -orientierungen im transationalen Raum zu entwickeln. So konnte ich feststellen, dass „Armutsmigration“, wie sie „Der Spiegel“ und andere Publikationen den osteuropäischen Au-pairs als Motivation unterstellen, ein weitergefasstes Motivspektrum wie beispielsweise das Begehren nach größerer Selbstständigkeit und Autonomie nicht ausschließt. Auch erniedrigende Arbeitsverhältnisse verunmöglichten es den jungen Frauen nicht, dennoch Glückserwartungen realisieren zu können. In diesem Sinne fordert eine derartige praxisorientierte Forschung, die die subjektiven Dimensionen der AkteurInnen ins Zentrum stellt, die Viktimisierungsperspektive des öffentlichen Diskurses erheblich heraus. Dabei stellt die Methode ethnografischer Wissensgenerierung, insbesondere durch die Mischung von teilnehmender Beobachtung von Interaktionen oder Arrangements (wie dem Wohnumfeld) und Interviews, eine intersubjektive, dialogische und selbst interaktive Wissenspraxis dar, die Elemente von Reflexivität und Kulturvergleich schon auf der Ebene der Forschung enthält. „Reflection and self-reflection become essential components of fieldwork as communicative venture“, schreibt die Kulturanthropologin Gisela Welz und folgert: „This type of ‚intersubjective’ exchange (…) in fieldwork has the capacity to engender actual ‚objectivity’ (…) - in the sense of mutually acknowledging the cultural meanings of the other as well as introspectively re-considering one´s own cultural perception“ (G. Welz 1997: 117
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f.). In dem historisch überdeterminierten Verhältnis zwischen West- und Osteuropa, auf das ich im zweiten Kapitel eingehen werde, zeigte sich diese Praxis des kommunikativ-vergleichenden Forschens, welche in verschiedenen Nuancen Vertrautheit und Fremdheit, Näherung und Selbst-Fremdmachung einschloss, als eine der wenigen möglichen Annäherungsweisen, Praktiken in ihrer eigenen Rationalität und Situiertheit verstehen zu lernen. Die ethnografische Methode ermöglichte mir nicht nur, die Praktiken der Au-pairs mit deren häufig abweichenden Selbstdeutungen zu konfrontieren, auch erlaubte sie mir, meine Erkenntnisse bereits im Dialog zu überprüfen und zu hinterfragen. So veränderte ich während der Forschung mehrmals meine Interpretationsperspektive. Darüber hinaus war mit dem mehrmaligen Ein- und Austritt aus dem Feld, der meinem Anstellungsverhältnis an der Frankfurter Universität geschuldet war, auch eine Prozesshaftigkeit der Erkenntnisgenerierung zwischen Feld und Theorie verbunden, die sich gegenseitig herausforderten, in Frage stellten, aber auch vorantrieben und ergänzten. Diese erfahrungsbasierte, dialogische Praxis der Wissensgenerierung baute dabei gerade auf einer gewissen Nähe zwischen mir und den verschiedenen beforschten AkteurInnen auf. Insbesondere hinsichtlich der Gruppe der sechs begleiteten Aupairs war mir von Anfang an bewusst, dass eine gewisse Nähe eine zentrale Voraussetzung für die Etablierung eines Vertrauensverhältnisses wie grundsätzlich für ihre Beteiligung an diesem langen Forschungsprozess sein würde. Vor allem aufgrund der Länge des Forschungsprozesses, aber sicherlich auch aufgrund der Isolation der meisten Au-pairs in den Familien und ihres geringen Kontakts zu anderen Deutschen, entstanden zu einigen Frauen intensive Beziehungen, die freilich durch unterschiedliche Grade von Intimität gekennzeichnet waren. Dabei wäre es zu einseitig, eine Abhängigkeit nur auf Seiten der Au-pairs zu sehen, denn auch ich war in gewisser Hinsicht von ihrer „Zuneigung“ abhängig, was sich vor allem dann herausstellte, wenn eine Au-pair-Frau sich nicht mehr bei mir meldete oder sich nicht mehr mit mir treffen wollte. In gleichem Maße wäre es zu einseitig, nur auf ihrer Seite den „Zwang“ zur Offenheit in der Forschungssituation anzunehmen. Denn auch sie verlangten von mir Einblicke in meine Lebenseinstellungen und -praxen als Voraussetzung für ihre eigenen Erzählungen. Mit der Zeit verhielt ich mich dann auch nicht mehr nur als „Forscherin“, wie auch sie mich nicht mehr nur in der Rolle der „Forscherin“ wahrnahmen und behandelten. Angesichts der äußerst ungleich machtvollen Ausgangsbedingungen, der unterschiedlichen Interessen und Lebensperspektiven wäre es jedoch zu viel gesagt, die entstehenden Beziehungsverhältnisse als Freundschaften zu beschreiben. Andererseits wäre es auch zu wenig, die Beziehungsverhältnisse nicht als freundschaftlich zu bezeichnen, was sich unter anderem auch darin ausdrückt, dass einige der Frauen bis heute zu mir Kontakt halten. Henk Driessen, Kulturanthropologe an der Universität in Nijmegen, meint dann auch in einer kritischen Reflektion der Bezeichnungspraxis des im Zentrum der ethnografischen Methode stehenden Interaktionsverhältnisses als „Freundschaft“: „There is an element of mystification in the use of the notion of friend in the field, which, to my view, functions to counterbalance the strains involved in the unequal power balance between fieldworkers and informants and in the impossible task to
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accommodate the conflicting demands of involvement and detachment. Moreover the notion of friendship may claim ethnographic authority“(H. Driessen 1998: 59). Vor diesem Hintergrund würde ich meine Beziehungsverhältnisse zu den Au-pair Frauen als freundschaftlichen Kontakt kennzeichnen, der jedoch äußerst brüchig und ständig wieder herzustellen war. So stellte vor allem meine Interaktionsperspektive auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse in den Familien, die mich auch Gespräche mit den Arbeitsgeberinnen suchen ließ, eine schwere Prüfung der Beziehungen zu den Au-pairs dar, da sie meine bis dato antizipierte Parteilichkeit hiermit in Frage gestellt sahen. Doch nicht nur die Au-pairs mussten mit dieser doppelten Forschungsperspektive umgehen, auch ich selbst war durch sie, die nur situative „Parteilichkeiten“ zu ließ, herausgefordert, beide Standpunkte in ihren jeweiligen Rationalitäten neben einander stehen lassen zu können. Dabei war es zu meinem eigenen Erstaunen so, dass ich auch zu den berufstätigen deutschen Frauen eine empathische Haltung einnehmen und Beziehungen aufbauen konnte. Vor allem eine beidseitige Wahrnehmung, mit einer Subjektposition der „Berufstätigkeit“ und den damit einhergehenden Schwierigkeiten einer Familienplanung wie auch den darin liegenden Potentiale der „Selbstständigkeit“ und „Selbstverwirklichung über Erwerbsarbeit“ vertraut zu sein, schaffte oftmals recht schnell eine Kommunikationsbasis. Die multiple soziale Forschungsperspektive ließ mich oft irritiert zurück und erschwerte mir eindeutige Zuschreibungen und Positionierungen. Meine expliziten und impliziten theoretischen Bezüge halfen mir jedoch, meine im Dickicht sozialer Interaktionen generierten Wahrnehmungen zu ordnen und zu verstehen. 1.3. Zur theoretische Perspektive Wie schon mehrfach erwähnt, bestimmte eine auf Praktiken und Selbstdeutungen fokussierte Perspektive meinen Forschungsansatz, welche sich durch alle Kapitel und die darin diskutierten themenbezogenen Theorie- und Forschungsansätzen hindurchzieht. Gelenkt durch einen praxiologischen Turn der internationalen Kulturanthropologie und die seit den 70er Jahren entstehende „Anthropology of Practice“ wie auch durch Umorientierungen im Feld der kultur- und sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung von integrations- und identitätstheoretischen Studien hin zu an transnationalen Strategien interessierten Forschungen, stellte ich den Begriff der Praxis ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit. In Anlehnung an die USamerikanische Kulturanthropologin Sherry Ortner verstehe ich Praxis „in terms of pragmatic choices and decision making, and/or active calculating and strategizing“ (S. Ortner 1984: 149f.; siehe auch S. Beck 1997). So beabsichtigte ich, die Veränderungen der Institution aus den Handlungen, Motivationen und Zielsetzungen der an diesem System beteiligten AkteurInnen, vor allem der osteuropäischen Au-pair-Frauen und der deutschen Gastfamilien, zu erklären. Nur so schien es mir möglich, verstehbar zu machen, wie sich eine Institution bei gleichbleibendem Regelwerk hinter den Rücken der institutionellen Akteure verändern konnte. Zum anderen schien es mir nur so möglich nachzuvollziehen, wie sich mit dem neuenn Herkunftskontext der Bewerberinnen auch die Bedeutung von Au-pair für die AkteurInnen verändert. Ferner war ich damit konfrontiert, dass
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Au-pair ein äußerst gering formalisiertes und verrechtlichtes Beschäftigungsverhältnis darstellt. Daher waren die konkreten Beziehungsverhältnisse als Resultat von Aushandlungen und Interaktionen zwischen den ungleich mächtigen Frauen, den Au-pairs und ihren Gastmüttern, zu begreifen. In Anlehnung an Michel Foucaults Macht- und Subjekttheorie sah ich diese jedoch weder als völlig autonom und zweckrational handelnde Subjekte (die ‚böse Ausbeuterin’ oder die ‚kreative Migrantin’) noch als von fremden Mächten dominiert und unterdrückte „Subjekte“ (vgl. M. Foucault 1986). Dabei geht es nicht darum, Zwangsverhältnisse, repressive Strukturen und ungleiche Machtallokationen zu vernachlässigen. Jedoch habe ich von Foucault und an ihn anschließenden Arbeiten gelernt, Macht nicht als Negation der Möglichkeiten der Individuen, sondern als Schaffung, Formung und Verwendung von Menschen als Subjekte zu denken: „Macht arbeitet durch, nicht gegen Subjektivitäten“ (N. Rose 2000: 9). Zudem interveniert Foucaults Macht- und Subjektverständnis gegen gängige Verständnisse von politischer Macht in Begriffen einer Opposition zwischen „Staat“ und „Privatleben“, die die Subjekte innerhalb letzterem verorten, wie Nicolas Rose herausstellt: „Aber Foucault begreift Macht als etwas, das sich durch alle Praktiken durchzieht – von Makro bis Mikro –, durch die Personen regiert, beherrscht, administriert, geführt werden, durch die sie von anderen geführt werden oder ihre eigenen Handlungen führen“ (ebd.). In diesem Sinne gab es für mich auch keine „unschuldigen Praktiken“, die meist auf der Ebene der AlltagsakteurInnen angenommen werden, bzw. „böse Strukturen“ als ihr Gegenteil. Vielmehr müssen Macht, Staatlichkeit und Institutionen „zur Praxis gebracht“ werden. Sie sind selbst als Praktiken zu verstehen, wobei nach Foucault auch Diskurse und Wissensordnungen hierunter zu fassen sind. Insofern spreche ich auch vom Gender-, Migrations-, oder Arbeitsregime, um diese Felder als Ensemble von Programmen, Institutionen, Technologien, Praktiken und Diskursen zu begreifen (vgl. auch H. Lutz 200: 35 ff.). Hierbei sind jedoch die Verbindungen verschiedener Kategorien der vermachteten Zuschreibung wie Geschlecht, Klasse, Nation oder Ethnizität, Alter etc. zu berücksichtigen, wie es vor allem schwarze und/oder migrantische Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen in ihrer Kritik an eindimensionalen Macht-Ansätzen entwickelt haben (siehe u.a. B. Fuchs/ G. Habinger 1996). Dabei weisen Foucault und darauf aufbauende TheoretikerInnen darauf hin, dass die moderne Regierungsweise (Gouvermentalität) gerade darin bestehe, die Individuen als autonome, freie und rationale Subjekte anzurufen und sie darin zu fördern wie auch zu fordern, im neoliberalen Sinne „Freiheit“ und „Selbstverwirklichung“ als privatisiertes und individualisiertes Unterfangen zu mehren und sich selbst wie ein Unternehmen zu managen (vgl. N. Rose 2000). Vor diesem theoretischen Hintergrund verstehe und untersuche ich die Bedingungen der Institution Au-pair von den institutionellen Arrangements bis hin zu den konkreten Arbeits- und Lebensverhältnissen als Resultat von ungleich vermachteten Praxen bzw. von Praxen, die durch unterschiedliche Machtregime sehr verschieden abgestützt, angerufen, gefordert und verhindert wurden. Jedoch scheint mir auch Michel Foucaults Macht- und Subjettheorie zu selbstreferentiell zu sein. Durch sein Hauptaugenmerk auf die Modifikationen der Technologien der Macht legt er eine Perspektive nahe, die Technologien der Macht wie auch die Technologien des Selbst letztlich ‚nur’ auf den Machterhalt hin zu denken. Eine
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derartige Perspektive unterschlägt jedoch situatives Handeln in komplexen Situationen, die einen Überschuss an Kontingenz wie auch Begehren enthalten. In dieser Hinsicht möchte ich den Begriff der Praktiken „kulturanthropologisieren“, indem ich ihn kleinteiliger und situativer verstehe. Dazu scheint mir der Praxis-Begriff, wie ihn Pierre Bourdieu in seinem Buch „Entwurf zu einer Theorie der Praxis“ (1976) entwickelt hat, geeignet zu sein, hält dieser an einer Vorstellung von Subjekten fest, die in und über gegebene Strukturen hinaus nach einem „guten Leben“ trachten. So meint Bourdieu in Abgrenzung zu gängigen sozialwissenschaftlichen Handlungstheorie, dass, um Praxis als Praxis zu denken, alle Theorien aufgegeben werden müssten, die „explizit oder implizit die Praxis zu einer mechanistischen, durch die vorhergehenden Bedingungen unmittelbar determinierten Reaktionsform stempeln“. Zum anderen sei aber auch von all jenen essentialisierenden und zweckrationalen Handlungstheorien Abstand zu nehmen, die Handeln voluntaristisch als freien Wille eines autonomen Individuums begreifen (vgl. ebd.: 143/ 158 f.). Stefan Beck (1997: 318 f.) beschreibt diese doppelte Abkehr bzw. die von Bourdieu vorgeschlagene Zwischenposition als „ausreichende, aber nicht überschießende Handlungsfreiheit“. Insbesondere durch den Fokus auf die jeweilige Handlungssituation, in der sich Praxis aus dem „Spannungsverhältnis zwischen objektiven, situativ gegebenen Handlungsoptionen (...) und dauerhaften, durch den Habitus erzeugten Handlungsdispositionen“ entwickle, könne Bourdieu Handeln als mehr als strukturreproduzierend denken. Auch wenn Bourdieu sein Habitus-Konzept vor allem aus der sozialen Klassenstrukturierung heraus entwickelt und die Multiplizität und Verknüpfung der verschiedenen Kategorisierungen von Vergeschlechtlichung, Nationalisierung oder Rassifizierung unterschlägt, ist dieser Entwurf doch geeignet, situativ(e) Handlungsumstände zu fokussieren, die von den AkteurInnen auch genutzt werden können. Vor allem auf dem Gebiet der Konsumption haben Forschungen der Cultural Studies und der Kulturanthropologie in den Praxen des Schauens, Kaufens und Umgehens mit Waren Strategien der Aneignung, der Umformung und der Umcodierung aufzeigen können, die die ProduzentInnen und WerbestrategInnen nicht in die Waren eingeschrieben hatten (vgl. u.a. M. de Certeau 1986). Ferner lässt sich auch die übliche Hierarchie des Struktur-Handlungs-Schemas umkehren. Struktur und Ordnung lassen sich selbst als Resultat von Praktiken begreifen, denn auch das, was als Struktur und Ordnung erscheint, ist kontingent, widersprüchlich, brüchig und letztlich un(ter)determiniert. So schreibt die USamerikanische Kulturanthropologin Sally Falk Moore (1975: 220): „Order never fully takes over, nor could it. The cultural, contractual, and technical imperatives leave gaps, require adjustments and interpretations to be applicable to particular situations.“ Infolgedessen sei dann auch eher nach den Strategien zu fragen, „by means of which people arrange their immediate situations ... by exploiting the indeterminancies in the situation or by generating such indeterminancies, or by reinterpreting or redefining the rules or relationships“(ebd.: 234). Ansätze im Kontext der „Transnational Anthropology“, wie sie vor allem im anglophonen Raum seit gut zehn Jahren entwickelt und diskutiert werden (u.a. A. Appadurai 1996; U. Hannerz 1996; L. Bash/ N. Glick Schiller/ C. Szantos Blanc 1994), haben diesen praxiologischen Turn innerhalb der globalisierungstheoretischen Debatte vollzogen, was sie für mein Forschungsvorhaben besonders interessant machte. Entgegen der weitverbreiteten Lesart der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse
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als mächtigem „Naturereignis“, welches über die Welt hereinbricht, können Transnationalisierungsforschungen durch die Verbindung der Perspektiven von Makro und Mikro, von Structure und Agency demonstrieren, wie Akteure in dem Globalisierungsgeschehen ihre Wege gehen, viele von seinen negativen Auswirkungen getrieben, doch auch die neuen Möglichkeiten und Risse des neoliberalen Regimes zur Verbesserung der eigenen Lebensperspektive ausnutzend selbst zu AkteurInnen von Globalisierungen werden. So lässt sich zeigen, dass selbst in dem überdeterminiert wirkenden Feld des europäischen Migrationsregimes, sich die jungen slowakischen Frauen Widersprüche, Lücken und Nischen zu Nutze machen, sie zu ihren Zwecken einsetzen und subjektiven Erwartungen und Hoffnungen trotz aller Widrigkeiten erfüllen können. Damit verändern sie aber auch den Rahmen, die Inhalte und die Bedeutungen des Migrationsregimes, und lassen es auf ihre Praktiken reagieren. Doch bedeutet dies nicht, sie außerhalb des Migrationsregimes zu denken. Vielmehr legt eine derartige Perspektive den Blick frei für Ambivalenzen in jeder Handlungssituation zwischen Strukturierung und Selbsttätigkeit. So können wir auch im Bereich der Arbeits- und Lebensverhältnisse im Haushalt sehen, wie Ambivalenzen und die impliziten Logiken von Versorgungsarbeiten zu Positivem wie Negativem genutzt, gegen ihre Intentionen gewendet und Unbestimmtheiten im Sinne von „Gleichheit“, aber auch im Sinne einer „Emanzipation im Singular“, die ihre Realisierungsbedingungen vergisst, verwendet werden können (vgl. B. Rommelsbacher 1998). In diesem Sinne ist die Kategorie Gender für meine Arbeit eine weitere zentrale theoretische Perspektive, die sich durch die gesamte Arbeit zieht und mir in mehreren Themenfeldern zum zentralen theoretischen Handwerkszeug wurde. 1.4. Zum Aufbau Ich habe meine Arbeit in vier thematische Kapitel unterteilt. In jedem der Kapitel werde ich das jeweilige methodische Vorgehen des spezifischen Forschungsschritts reflektieren sowie Forschungs- und Theoriebestände der Kulturanthropologie und der Sozialwissenschaften in Bezug auf meine dargestellten Forschungsergebnisse befragen und weiterentwickeln. Die Kapitelaufteilung folgt nahezu chronologisch den Wegen der slowakischen Au-pair Frauen: Im zweiten Kapitel stehen die „Aufbrüche“ der jungen Frauen im Zentrum und ihre Motivationen, Erwartungen und Umsetzungspraktiken vor dem Hintergrund der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in der Slowakei. Als Folie zum Verständnis und zur Einordnung ihres Schrittes in die Migration werde ich daher den Transformationskontext ihres Alltagslebens in der Slowakei skizzieren und diesen an politik-, sozial- und kulturwissenschaftliche Transformationsforschungen zurückbinden. Nachdem der hegemoniale neoliberale Wissenschaftsdiskurs über die Transformationsprozesse in Osteuropa jedoch nur eingeschränkt die Praktiken der jungen Frauen zu interpretieren hilft, werde ich ihn mit gendersensiblen Theorie- und Forschungsansätzen quer lesen und erweitern. Im dritten Kapitel analysiere ich die „Wege und Stationen“ der jungen Frauen, die sie angesichts der restriktiven deutschen und EU-europäischen Migrationspolitik verfolgen, um nach Deutschland zu kommen. Neben der deutschen und EU-
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europäischen Migrationspolitik untersuche ich, wie sich die Institution Au-pair über Praktiken und Einstellungen der beteiligten Institutionen als transnationales Vermittlungsgeschäft und spezifische Migrationsform etabliert hat. Im Mittelpunkt stehen Vermittlungspraktiken der nicht-kommerziellen Agenturen in Deutschland und der Slowakei. Dabei zeigt sich, dass die Strategie der Au-pair-Migration sowie die Nachfolgepraktiken der Frauen anderen mobilen Migrationsmustern sehr ähnlich sind, die den europäischen Wanderungsraum seit den Wendejahren verstärkt kennzeichnen. Die deutschsprachige Migrationsforschung begann erst vor kurzer Zeit, sich diesen mobilen und mehrortigen migratorischen Existenzweisen zuzuwenden. Jedoch kommen vor allem aus dem amerikanischen Raum eine Reihe neuerer wissenschaftlicher Ansätze, die mir halfen, diese transnationalen Migrations- und Lebensweisen zu verstehen. Das vierte Kapitel wendet sich dem „Am Arbeitsplatz Privathaushalt“ zu, wobei ich den Schwerpunkt auf die Arbeits- und Beziehungsverhältnisse zwischen den Aupair-Hausarbeiterinnen und den deutschen Arbeitgeberinnen lege. Hierbei werde ich die Sichtweisen und Strategien der Au-pairs, sich in diesem Interaktionsfeld zu bewegen, den Motivationen und Anstellungspraktiken der deutschen Frauen gegenüberstellen. Mit dieser Vorgehensweise versuche ich auch, das noch junge Forschungsfeld zu bezahlter Hausarbeit in Deutschland um den Aspekt einer arbeitstheoretischen Perspektive auf die Subjekt- und Lebensentwürfe weiblicher Erwerbstätigkeit zu erweitern. Denn neben der Spezifik von Au-pair als live-inHausarbeitsverhältnis und den Logiken der moralischen Ökonomie des Carings sind es auch die Erwerbsarbeitspraktiken und Selbstverständnisse der deutschen Frauen, die die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Au-pairs zu deren Ungunsten strukturieren. In diesem Sinne wird die Entstrukturierung von Lohnarbeit im Kontext flexibilisierter Produktions- und Arbeitsverhältnisse auch als Katalysator für eine Neuorganisation der Privatsphäre lesbar. Im Mittelpunkt des fünften und letzten Kapitels stehen die „Orientierungen“ der Aupair-Frauen, welche sie während ihres Aufenthalts in Bezug auf ihre weitere Lebensplanung wie auch im Rückbezug auf ihre Ausgangsmotivationen entwickelt haben. Die Mehrzahl der Frauen der von mir begleiteten Gruppe von Au-pairs setzte ihre Migration in Deutschland oder einem anderen westeuropäischen Land fort. Viele schafften dies über Jahre, indem sie zwischen der Slowakei und Deutschland als Touristinnen hin- und herpendelten. Die transnationalen Migrationsstrategien reflektierten dabei nicht nur ihre verschiedenen und durchaus widersprüchlichen Motivationen und Orientierungen, sondern auch die Möglichkeiten und Beschränkungen, die beide Kontexte – die Slowakei und Deutschland – wie auch die restriktiven Migrationspolitiken den Frauen eröffneten. Daher werde ich abschließend der Frage nachgehen, wie diese transnationalen Migrationspraktiken in Europa mit der auf „Abschottung“ ausgerichteten europäischen Migrationspolitik zusammen zu denken sind. Diese kulturanthropologische Perspektive auf cross-boderPraktiken stellt das in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild von der „Festung Europa“ in Frage. Zum anderen möchte ich mit dieser verschränkten Sichtweise auch das im Zuge des kulturanthropologischen Transnationalisierungsparadigmas entwickelte Konzept des „transnationalen Raums“ zurückbinden an das europäische Migrationsregime und seine sozialen und rechtlichen „Untiefen“. Nur durch diese soziale Erdung des Konzepts wird deutlich, warum so viele Migrantinnen, so
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lange ihnen Rechte in der Mobilität nicht gewährt werden, sich das Recht auf Mobilität nehmen.
Ich bedanke mich bei meiner Betreuerin Gisela Welz für die Ermutigungen und Ratschläge, bei meinem sozialen Umfeld – insbesondere bei Christian, Ramona und Stefan – für die Geduld und tatkräftige Unterstützung meiner Forschung, sowie bei allen bekannten und unbekannten Menschen, die mir die hier eingenommene Perspektive durch ihre Aktionen und Lebensstrategien nahe legten und möglich gemacht haben, sie weiter zu denken.
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2. Aufbrüche
„Das mitteleuropäische Gesicht war nur für den Westen osteuropäisch. Verzweifelt drückte es über vier Jahrzehnte die fahlen Backen in den Stacheldraht, immer blickten seine Augen Richtung Westen. Der Westen, eine kokette Primaballerina, tanzte gekonnt, autistisch, brauchte die Augen der anderen Welt höchstens zur Selbstbespiegelung. Jetzt hält der Westen inne und dreht sich Richtung Osten um, wird für eine Weile zum Publikum, das verzückt klatscht. Ein freundliches Lächeln für die Mitteleuropäer, (...) die den Westeuropäern frontal, liebend zugewandt stehen, immer mit offenen Händen zugewandt standen.“ (I. Brezná 1996: 21)
2.1. Der eigene Aufbruch nach „Drüben“ – situierter Blick Als ich mich 1998 auf der Suche nach einem Dissertationsthema Mittelosteuropa zuwandte, hatte ich gute zwanzig Jahre meines Lebens knapp dreißig Kilometer entfernt von der Grenze gewohnt, ohne dass das „Drüben“, wie es zu der Zeit der Blockkonfrontation noch hieß, für mich eine direkt erfahrbare Größe gewesen wäre. In der Schule lernten wir Englisch und Französisch, nicht aber die Sprache unserer tschechoslowakischen NachbarInnen. Das „Drüben“ spielte erstmals mit Beginn meiner politischen Auseinandersetzungen eine Rolle. Die einen sahen im „Drüben“ eine Systemalternative zur kapitalistischen Vergesellschaftung, an der ohne genauen Blick über die Grenze auf die Lebensrealitäten im realexistierenden Sozialismus krampfhaft festgehalten wurde. Die anderen schickten uns geistig schon mal „rüber“, wenn sie in ihrer festgefahrenen politischen Auseinandersetzung mit einer aufmüpfigen Jugend nicht mehr weiterwussten und auf oppositionelle Positionen nur mit Ausschluss reagieren konnten. In dieser Hinsicht waren meine ersten 20 Jahre in der Bundesrepublik also tief vom Systemgegensatz, dem „Kalten Krieg“ geprägt. Dieser hat dabei nicht nur den öffentlichen Diskurs und die Bilderwelten im Westen entscheidend beeinflusst. Vielmehr hat er als Wissensordnung, wie die US-amerikanische Kulturanthropologin Katharine Verdery (1996) festhält, auch die wissenschaftliche Wissensproduktion und Forschungslandschaft entscheidend mitstrukturiert. Dabei nahm „Osteuropa“ in der wissenschaftlichen Wahrnehmung der Systemkonfrontation eine ambivalente Stellung ein: Es galt, so Katharine Verdery (ebd.: 4-8), als „unbekannter, weißer Fleck“, als „gefährlich, abenteuerlich und fast verbotenes Terrain“ – doch auch als faszinierendes Objekt ethnografischen Forschens, dessen wissenschaftliche Durchdringung vor allem unter dem Imperativ stand, strategisch verwertbares Wissen über den „Feind“ zu erlangen. 2 2 Katharine Verdery begann als eine der ersten US-amerikanischen Kulturanthropologinnen schon in den siebziger Jahren während des „Kalten Krieges“ in Osteuropa zu forschen. Sie führt weiter aus, dass es vor diesem Hintergrund unmöglich war, den „Sozialismus“ neutral zu analysieren, da nur die Position
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Dass ich von dieser „kognitiven Organisation der Welt“ selbst zehn Jahre später noch geprägt sein würde, realisierte ich erst langsam. Auch meine Blicke hatten noch mit dem Schatten zu ringen, den der sogenannte „Eiserne Vorhang“, eine Wortschöpfung Winston Churchills aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, über vier Jahrzehnte auf die Länder dahinter geworfen hatte. Der im Topos „Eiserner Vorhang“ behauptete Mythos einer strikten Trennung von „Ost“ und „West“ und einer Undurchdringlichkeit der sozialistischen Länder schien nicht nur eine Legitimation für WesteuropäerInnen, nicht genau hinschauen zu müssen, wie auch Larry Wolff (1995: 2) in seiner historischen Rekonstruktion des Osteuropa-Bildes bemerkt: „Throughout the Cold War the iron curtain would be envisioned as a barrier of quarantine, separating the light of Christian civilization from whatever lurked in the shadows, and such a conception was all the more justification for not looking too closely at the lands behind.” Der „Eiserne Vorhang“ eignete sich auch bestens, einen klaren Trennungsstrich zwischen Zivilisation hier und Barbarei dort zu symbolisieren. Doch dann kamen Perestroika und Glasnost und auch wir „entspannten uns“. Die „Wende“, die sich langsam abzeichnete, mit der dennoch niemand gerechnet hatte, erlebten wir wie ein unvorhersehbares „Naturereignis“. Und mit ihr kamen auch die ersten lebensbiografischen Zeugnisse aus dem realsozialistischen Leben über die Grenze. Ich erinnere mich noch an die kurze Zeit der Runden Tische in der ehemaligen DDR und der „velvet revolution“, der „sanften Revolution“ in Prag, wo ein „dritter, zivilgesellschaftlicher Weg“ denkbar schien. Einige 100 Kilometer entfernt fieberten wir an unseren Fernsehern mit. Doch bald wurde das „Ende der Geschichte“ (F. Fukuyama 1989) eingeläutet, was von den einen als Chance gelesen wurde, den Segen der freiheitlich, demokratischen Marktgesellschaft über die ganze Welt zu verbreiten, und für die anderen das Ende vorzeigbarer und denkbarer Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise bedeutete. Nun war die Rede von der „Rückkehr Osteuropas“ (u.a. R. Dahrendorf 1990) in den Schoß der europäisch-abendländischen Gesellschaft, von dem es durch die „Wirren“ des Zweiten Weltkrieges abgetrennt worden war, und von seiner „Integration in das europäische Haus“, an dem die Strategen der Europäischen Union nun mit Nachdruck werkelten. So plötzlich wie der „Osten“ als Projektionsfläche für meine heimlichen alternativen Lebensvisionen und stille Revolutionsromantik aufgetaucht war, so rasch verlosch er wieder im grauen Einerlei kapitalistischer Durchdringung und neuer EU-Hegemonie. Das neue Grau vermischte sich dabei mit den alten Imaginationen „sozialistischer Gräue“. Als ich 1998 das erste Mal zu einem zweiwöchigen Forschungsaufenthalt in die Slowakei aufbrach, stimmte es folglich nicht ganz, dass das Land für mich ein weißer Fleck auf der Landkarte war – auch wenn ich nicht genau wusste, wo es lag, war es in meiner Vorstellung schon vor der Abreise grau. Bald tauchte jedoch ein anderer Bilderschatz in der medialen Öffentlichkeit auf. Nach und nach, als sich die ersten Folgen der Umstrukturierungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in den osteuropäischen Ländern abzeichneten und gewaltförmige nationalistische Konflikte die Neuaufteilung des Balkan und der ehemaligen Sowjetunion begleiteten, veränderte die Figur des Ostens abermals ihre Gestalt in der Kritik im Westen als legitimer Standpunkt zugelassen war (vgl. K. Verdery 1996: 4 ff.).
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den westlichen Diskursen: Von den einen wurden nun die VerliererInnen des Siegeszugs des Kapitalismus im Osten als bedrohliche Massen imaginiert, die denWesten zu überschwemmen drohten; von den anderen wurden sie zu unzivilisierten, nationalisierten irrationalen Haudegen und kriminellen Mafiabanden stilisiert, die man die modernen Lektionen erst noch lehren müsse. So wurden für die einzelnen osteuropäischen Länder kollektive Kriminalitätsprofile erstellt: Die Polen klauen Autos, die Russen Frauen... (Gerhard Schröder während des Bundestagswahlkampfs 1998). So oder so, nur ein paar Jahre nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ wurden wieder neue-alte – diesmal modernere, flexiblere – Mauern in den Köpfen, auf den Straßen und entlang der Grenzen errichtet, mit Infrarotlicht, Schleierfahndung, Grenzschleier und verdachtsunabhängigen Personenkontrollen (vgl. B. Leuthardt 1995: 147-154). Die altbekannte Wissensordnung über den Osten Europas schien – zwar entstaubt und „upgedated“ – auch die Neue zu sein. Und dies, obwohl oder besser weil wir noch gar nicht richtig Zeit gefunden hatten, die verworrenen, doch ineinander verstrickten Geschichten von kolonialer Eroberung und Krieg, Antisemitismus, Antislawismus und Vertreibung, von Herr und Opfer zu entwirren.3 „The iron curtain is gone, and yet the shadow persists“, schreibt Larry Wolff (1995: 3), der die Zeichnung der mentalen Landkarte Europas in West und Ost zurück bis ins 18. Jahrhundert verfolgt: „The shadow persists, because the idea of Eastern Europe remains, even without the iron curtain.” Doch es gab noch einen dritten Blick, jenen, der die Menschen in Osteuropa als weitere Opfer der postkolonialen neoliberalen Weltordnung betrachtet. Zwar entzieht sich dieser den vorherrschenden pejorativen Bedeutungsgebungen, doch auch er ist problematisch. Denn auch er degradiert die Menschen – auch das keine Neuheit in den westlichen Bildern von Osteuropa – zu Objekten des Mitleids und gut gemeinter Ratschläge, sich nicht dem goldenen Schein der westlichen Verlockungen hinzugeben. Mit derartigen Bildern in meinem „mentalen Gepäck“ glaubte ich, eines bereits im Voraus zu wissen: Die Slowakei würde mir keine Projektionsfläche für positive Exotisierungsversuche bieten, eine in der reflexiven Kulturanthropologie im Zuge der „Writing Culture“-Debatte vielfach thematisierte ethnografische Versuchung, die Anderen als „edle Wilde“ erscheinen zu lassen. Vielmehr fürchtete ich das Gegenteil, nämlich an einem Malorisierungs- und Verelendungsdiskurs mitzustricken, der die „Gräue“ noch gräuer, das „Elend“ noch elendiger und die sozialen AkteurInnen zu passiven Opfern der Geschichte macht. So kann ich nicht behaupten, dass ich frohgemut aufbrach. Mir war eher beklommen zu Mute, nach über zwanzig Jahren Bildersegen nun die ersten vorsichtigen Schritte in die postsozialistischen Lebenswelten zu unternehmen. Im deutschsprachigen Fächerverbund der Kulturanthropologie und der Europäischen Ethnologie fand ich leider auch keinen Ret3 Siehe den Konflikt um die Benesch-Dekrete. Josef Börösz weißt in seiner Analyse der EUIntegrations-Politik auf die unaufgearbeitete Geschichte der westlichen „Osteroberung“ und des damit einhergehenden kolonialen Bewusstseins in Westeuropa gegenüber den osteuropäischen Bevölkerungen hin. Im Unterschied zu den Dekolonisationsbewegungen, die von dem afrikanischen Kontinent ausgingen und in Westeuropa breit rezipiert wurden und zur Formierung einer kritischen internationalistischen Bewegungen führten, waren die kolonialen Politiken und Bilder der vergangenen 500 Jahre gegenüber den östlichen NachbarInnen nicht Gegenstand einer selbstreflexiven Aufarbeitung.
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tungsanker, da eine gegenwartsorientierte Transformationsforschung in osteuropäischen Ländern erst in den Kinderschuhen steckt. Mich führten dann zwei zweiwöchige Reisen in den Jahren 1998 und 1999 in die Slowakei, die mir von Mal zu Mal mehr die Gegensätze, Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten der postsozialistischen Gesellschaft angesichts rasanter ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Entwicklungen in den vergangenen zehn Jahren Nach-Wendezeit vor Augen führten. 2.2. Traveling not dwelling Den Spuren folgen In ein fernes, „fremdes“ Land zur Feldforschung zu reisen, ist eine traditionelle Kultur- und Wissenschaftstechnik der Kulturanthropologie und der Europäischen Ethnologie. Wissenschaftsgeschichtlich stellt das tiefe Eintauchen an einem abgeschiedenen, überschaubaren Ort und die teilnehmende Beobachtung der sozialen, kulturellen und symbolischen Interaktionen einen wesentlichen Schritt zur Etablierung des Faches als Wissenschaftsdisziplin dar (vgl. u.a. E. Berg/ M. Fuchs 1993). Im Laufe der Zeit hat sich die Feldforschungspraxis zur zentralen distinktiven Methode des Faches entwickelt, die die kulturanthropologische Praxis der Wissensgenerierung und die disziplinäre, intellektuelle Identität des Faches wesentlich ausmacht. Mit ihr aufs Engste verbunden ist die schon „mythisch“ zu nennende Figur des einsamen und von der Außenwelt zurückgezogenen Feldforschers, umgeben von „curious natives“, wie es der US-amerikanische Kulturanthropologe Michael Burawoy in seinen Ausführung über die historische Genese der Feldforschungspraxis schreibt (vgl. M.Burawoy 2000: 1-40; A. Gupta/ J. Ferguson 1996). Für den disziplinären Karriereweg wurde der einjährige Feldaufenthalt ein zentrales Initiationsritual zur Aufnahme in die Wissenschaftscommunity. Jedoch wurde der kulturanthropologisch forschende Rück- und Einzug ins symbolisch gewordene Zelt Malinowskis in einem abgelegenen Dorf, meist im Süden der Erdkugel gelegen, schon durch die Antikolonisierungsbewegungen und ihre Kritik problematisiert. Mit dem in der internationalen Kulturanthropologie in den letzten zehn Jahren stärker werdenden Fokus auf Globalisierungs- und transnationale Vernetzungsprozesse nicht nur auf ökonomischer und politischer Ebene, sondern auch auf alltagsweltlichem, kulturellem Terrain, wird das traditionelle Feldforschungsparadigma erneut zunehmend in Frage gestellt. Kritisiert wird dabei nicht nur die zugrundeliegende „Feld“-Konstruktion. Auch werden die damit verbundenen Effekte der Lokalisierung und Verräumlichung von Kultur und Differenz problematisiert. Wie die US-amerikanischen Kulturanthropologen Akhil Gupta und James Ferguson (1996: 5) schreiben, ist das Feld „a highly overdetermined setting for the discovery of difference“. So galten der Kulturanthropologie auf ihrer Suche nach „authentischen“, „natürlichen“ Gemeinschaften nur ganz spezifische Räume als geeignete Untersuchungsfelder: Sie wurden weit weg von der eigenen, schnelllebigen modernen Welt in „einfachen Gesellschaften“ und hier in isolierten, ländlichen, abgrenzbaren Orten vermutet. Akhil Gupta und James Ferguson (ebd.: 8) beschreiben die
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Vorstellung folgendermaßen: „(...) that those most other, and most isolated from ‚ourselves’, are those most authentically rooted in their ‚natural’ settings.“4 Diese Methode der Wissensgenerierung führte zum einen zu einer räumlichen Spezialisierung und Konstituierung der „Cultural Area Studies“, einer „KulturregionenForschung“. Zum anderen fixierte diese Praxis, die auf der Vorstellung von räumlich gebundenen Gemeinschaften und Kulturen beruhte, die Lokalisierung von Kultur auf der Repräsentationsebene. Dies überbetonte Differenzen und kappte selbst dort Verbindungen, wo sie zum Beispiel seit vielen Generationen in Form von Land-Stadt-Migration und anderen Wanderungsbewegungen bestanden. In diesem Sinne meinen Akhil Gupta und James Ferguson (ebd.: 35): „To challenge this picture of the world, one made up uf discrete, originally separate cultures, is also to challenge the image of fieldwork (…).” Die Globalisierungsprozesse haben das ihre dazu beigetragen, dass das Lokale nicht länger als die statische, homogene fixierte Größe konzipiert werden kann, wie es EthnologInnen fern ab vom hektischen Treiben ihrer Universitäten und Großstädte lange Zeit imaginierten. Mit der grenzenüberschreitenden Mobilität und Migration, den Waren- und Bilderflüssen und den Globus umspannenden medialen Vernetzungen und Kommunikationsinfrastrukturen sei auch der lokale Ort, so der schwedische Sozialanthropologe Ulf Hannerz (1995: 68; 1996: 25 ff.), in seiner globalen Vernetztheit und Durchdrungenheit zu denken. Auch durch die zunehmenden politischen, ökonomischen und ökologischen Interdependenzen seien die Lokalitäten von weit entfernt stattfindenden Ereignissen in einem bisher nicht bekannten Maße beeinflusst, seien es Umweltkatastrophen wie die Klimafrage, Finanzkrisen oder Kriege (vgl. auch A. Giddens 1995: 30). Angesichts des globalen Ausbaus der Informations- und Kommunikationstechnologien und des Warenhandels sind Menschen zudem selbst dort, wo sie relativ seßhaft bleiben, via Satellit, Mobiltelefon, Internet oder den guten alten Printmedien mit entfernten Menschen, Orten, kulturellen Szenen, Diskursen und Ereignissen verbunden. Das alltägliche Leben, so Ulf Hannerz (1996: 25 ff.) zusammenfassend, sei weniger ortsgebunden geworden. Zwar löse sich das Lokale nicht auf, doch habe es eine neue Qualität und einen anderen Stellenwert im Alltagsleben der Menschen angenommen. Er sieht darin jedoch weniger eine Gefahr für das soziale Zusammenleben, denn das Lokale bleibe als sinnlich und körperlich erfahrbare und erfahrene Realität weiterhin wichtig. Es träten neben den lokalen jedoch weitere Handlungskontexte hinzu, so dass die lokale Verortung und der lokale Horinzont nur noch ein Handlungsfeld neben anderen darstelle (vgl. ders. 1995: 77 f.). 5 4 Die zugrunde gelegte radikale Separierung von „Feld“ und „Zuhause“ ist, so Gupka und Fergusson, auch in Textualisierungsstrategien eingegangen. „Narratives of entry and exit“ legten den Eindruck des Ankommens in einer absolut anderen Welt nahe und dethematisierten schon auf diese Weise Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen „Feld“ und „Zuhause“. Damit sei eine „hierarchy of purity of field sites“ einhergegangen, in der Osteuropa als europäisch und damit nicht so „fremd“ definierter Teil der Welt weiter unten auf der Rangliste der kulturanthropologisch interessanten Forschungsfelder eingeordnet wurde (vgl. A. Gupka/ J. Ferguson 1996: 12 f.). 5 Giddens sieht diese Entwicklung wie auch die bedeutsamer werdende Rolle von ExpertInnen und Medien für das Alltagshandeln der AkteurInnen kritisch. Denn die global wirksamen Kräfte stellten „Entbettungsmechanismen“ dar, die lokale Handlungskontexte als die bekannte und konkrete Seite sozialer Praxen zunehmend entleerten (vgl. A. Giddens 1995: 33).
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Dass die Entwicklungen höchst ungleich über den Globus verteilt sind und die weltweiten Umstrukturierungen der Ökonomien, die neuerlich forcierte Liberalisierung und Deregulierung von Produktions- und Arbeitsverhältnissen unter dem Hohen Lied des „freien Welthandels“ und einer neoliberalen Modernisierungstheorie für die meisten Menschen und Regionen der Welt dramatische ökonomische und soziale Verschlechterungen bedeuten, darauf weisen transnational argumentierende Sozial- und KulturanthropologInnen hin. „Globalisierung“, u.a. orchestriert vom Internationalen Währungsfond (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO), offenbart sich als ein Prozess, der neue-alte Ausbeutungs- und Ungleichheitsverhältnisse entlang von Zentren- und Peripherien, Geschlecht, nationaler Zugehörigkeit und Klasse verschärft (vgl. u.a. C. Wichterich 1998; S. Sassen 1998a). Für die als „Transformation“ bezeichneten Umstrukturierungsprozesse in Osteuropa werde ich dies im Folgenden zu zeigen versuchen. Auch die Globalisierung von Handlungsmöglichkeiten und Wissensressourcen im Zusammenhang mit neuen Kommunikations- und Informationstechnologien stellt eine neue Ungleichheitsrelation dar, da sie immer noch an das Know-how und die Finanzen, die in den metropolitanen Ländern weiterhin zentriert sind, geknüpft sind (vgl. Baumann zitiert in U. Beck 1997: 104).6 Doch dies ist nur die eine Seite der Globalisierungsprozesse. Auf der anderen Seite verlassen immer mehr Menschen ihre Geburtsorte – sei es selbstgewählt oder aufgrund von direktem und indirektem Zwang im Zuge von Kriegen, Umweltkatastrophen, politischer Verfolgung, sozioökonomischer Verschlechterung der Lebensbedingungen oder auf der Suche nach der Einlösung des Glücksversprechens der kapitalistischen Moderne. Teils über Generationen unterhalten jene Exilierten, MigrantInnen oder AuswandererInnen Kontakte quer über den Globus und organisieren trotz der Distanzen gemeinsam familiäre Angelegenheiten (vgl. u.a. L. Pries 1997; kea 1997). So meinen Peter J. Bräunlein und Andrea Lauser in ihrem Einführungstext „Zu einer Ethnologie der Migration in der Spätmoderne“ (1997: II) unsere gängigen Lebensvorstellungen auf den Kopf stellend: „Migration ist der Normalfall im globalen Alltag und gehört z.B. in Mexiko, auf den Philippinen und in vielen anderen Ländern zum kulturellen Muster, zum biografischen Projekt.“ Auf diese leicht euphemistisch wirkende Einschätzung wird im dritten Kapitel zurückzukommen sein. Doch möchte ich in Bezug auf die kulturanthropologische Forschungspraxis mit dem US-amerikanischen Kulturanthropologen Arjun Appadurai (1996: 48) festhalten: „(...) the ethno in ethnography takes on a slippery, non-localized quality, to which the descriptive practices of anthropology will have to respond. The landscapes of group identity – the 6 Zygmunt Baumann spricht in diesem Zusammenhang von einer neuartigen Polarisierung in „globalisierte Reiche und lokalisierte Arme“. Denn nicht alle könnten die Freiheiten des Raums genießen, für die „lokalisierten Armen“ werde der Ort zur „Fessel“. Sie lebten im realen Raum – „er ist schwer und unverwüstlich (...) und bindet die Zeit fest, entzieht sie der Kontrolle der Bewohner“. Die Zeit der „strukturell Überflüssigen“ sei eine leere Zeit. Der Raum habe nur für die Besitzenden seine einschränkenden Qualitäten verloren und sei nur für sie auf seinen realen und virtuellen Wegen leicht zu durchqueren. In diesem Sinne sei Globalisierung vor allem als Konzentration von Handlungsfreiheit in den Händen der Reichen zu verstehen. Grundlegend bei dieser neuen Hierarchisierung entlang der RaumZeit-Parameter sei jedoch, dass die „neuen Reichen“ die lokalisierten Armen nicht mehr bräuchten (vgl. U. Beck 1997: 102 ff.). Sasskia Sassen weist jedoch in ihrer Analyse der Globalisierung in den World Cities darauf hin, dass die mobilen „Reichen“ strukturell verstärkt auch die „Armen“ für anfallende „niedere“ insbesondere personenbezogene Dienstleistungen bräuchten (vgl. S. Sassen 1998b)
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ethnoscapes – around the world are no longer familiar anthropological objects, insofar as groups are no longer tightly territorialized, spatially bound, historically unselfconscious or culturally homogenous.”
Arjun Appadurai fragt in seinen „Notes and Queries for a transnational Anthropology” (ebd.: 52) weiter: „Put another way, the task of ethnography now becomes the unraveling of a conundrum: what is the nature of locality as a lived experience in a globalized, deterritorialized world?” In diesem Sinne plädiert auch Micheal Burawoy (2000: XII) für eine „global ethnography“, die die gelebten Erfahrungen von Globalisierung auf der Akteursebene untersucht – die Globalisierung des Alltags und den Alltag der Globalisierung. Die Perspektive sei dabei nicht länger auf „kulturelle Räume“, sondern auf die „Verbindungen“ und vieldimensionalen Prozesse zwischen einzelnen Schauplätzen zu richten (vgl. M. Burawoy 2000: XII/ 2; U. Hannerz 1998: 247; A. Gupta/ J. Ferguson 1996: 38 f.).7 Der US- amerikanische Kulturanthropologe James Clifford (1997) geht noch einen Schritt weiter und plädiert in seinem jüngsten Buch mit dem programmatischen Titel „Routes. Travel and Translation in the late twentieth Century“ für einen Perspektiven- und Paradigmenwechsel von der Kategorie der „Sesshaftigkeit“ kulturanthropologischen Forschens zu der der „Reise“. Auch wenn ihm dabei aus gutem Grund nicht alle in Gänze folgen werden, hat sich eine „transnational“ zu bezeichnende kulturanthropologische Forschungsrichtung formiert, die die makrostrukturelle und gelebte Seite der Globalisierung in ihren wechselseitigen Bezügen fokussiert. Dabei zeichnet sich der „transnational approach“ dadurch aus und steht insofern im Gegensatz zu vielen sozial- und kulturwissenschaftlichen Globalisierungsansätzen, als dass es ihm nicht um einen „space of flows“ von Geld, Waren oder Menschen und die Auflösung sozialräumlicher Bezogenheiten wie der nationalstaatlichen Formation geht, sondern um eine handlungsund subjektorientierte Perspektive auf die Wechselwirkungen zwischen globalisierten Prozessen und ihrer Lokalisierung in den Alltagswelten (vgl. M. Smith/ L. Guarnizo 1998). Um die Vieldimensionalität und die Machtrelationen auf den unterschiedlichen Ebenen zwischen „global“ und „lokal“ im Auge zu behalten, plädiert Burawoy dann auch dafür, die klassische mikrokulturelle Perspektive kulturanthropologischen Forschens auf die Makroebene zu erweitern. Dies bedeutet für Burawoy und sein ForscherInnenteam (2000: 29), die Vernetzungsprozesse entlang dreier Foki zu analysieren: So sei den „external forces“, den globalen Machtwirkungen nachzugehen, die die AkteurInnen entweder annähmen, inkorporierten bzw. mit ihnen kollaborierten oder gegen die sie widerständige Taktiken entwickelten. Nachdem aber die globalen Kräfte selbst nur als Produkt kontingenter sozialer Prozesse zu verstehen sind, sind auf einer weiteren Ebene die „connections“, an denen soziale AkteurInnen selbst teil haben bzw. nehmen, zu betrachten. Und schließlich sind die „imaginations“ und Diskurse zu analysieren, die die externen Kräfte und Verbindungen mitkonstituieren. So besteht für Burawoy (ebd.: XII/ 2) eine „global ethnography“ gerade in der Verbindung von „dwelling“, also der lokalisierten Forschung, und „traveling“ und der konsequenten Umsetzung eines auch im sozialstrukturellen Sinne mehr-ortigen Forschungsdesigns.8 7 Hannerz meint paradigmatisch: „Ethnography has to be between the sites“ (1998: 247). 8 Burawoy plädiert für eine „historically grounded, theoretical driven macro ethnography“. Allerdings thematisiert er die Gefahren, die in einer derartigen Erweiterung liegen, selbst mit: So sieht er das Risiko
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Das Paradigma der multi-sited ethnography und die Metapher des „traveling“, „tracing“ oder „following“ wurde schon bei Georg M. Marcus’ Abhandlung über ethnografisches Forschen im Globalisierungszeitalter zum Leitbegriff. „Multi-sited research is designed around chains, paths, threads, conjunctions, or juxtapositions of locations“, schreibt Marcus (1995: 95) und fährt fort, die Kontinuität teilnehmender Beobachtung herauszustellen, „in which the ethnographer establishes some form of literal or physical presence“ (ebd.: 117). Dabei seien gerade die konkreten, medialen, kommunikativen oder imaginierten Verbindungen durch Menschen und ihre Biographien, durch Objekte, Geschichten und Konflikte zum Ausgangspunkt des Erkenntnisinteresses zu machen.9 Dies bedarf, so Arjun Appadurai (2000), der „research imagination“, die nicht mehr vorgegebene Felder im Sinne von Orten beforscht, sondern die Feldkonstruktion selbst zum Ausgangspunkt des Erkenntnisinteresses erhebt und prozessual in der Forschung entwickelt. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten im Zuge des globalen Kapitalismus die Verdichtungsprozesse und Interdependenzen sicherlich zugenommen haben, weisen Ulf Hannerz u.a. zu Recht darauf hin, dass dem diskursiven Duktus des „brand new“ in der Transnationalisierungsdebatte mit Vorsicht zu begegnen ist. So zeigen nicht nur historische Migrationsstudien für die europäischen Regionen, dass „Wandern“ eine traditionelle Überlebenstechnik darstellt (vgl. S. Sassen 1996) und Handelsnetze schon unmotorisiert Kontinente überspannten. Ebenso können wissenschaftsgeschichtlich argumentierende Darstellungen aufzeigen, dass ethnologischethnografisches Forschen und Arbeiten nicht schon immer und überall seine Objekte unter einem lokalisierenden Fokus analysiert hat. Vielmehr können Burawoy und Hannerz zeigen, dass die lokalisierende Feldforschung ein historisch kontigentes Resultat wissenschaftspolitischer Bestrebungen darstellt und es parallel immer wieder Ansätze gab, die im Sinne der neueren transnationalen Kulturanthropologie trans-nationale Verbindungen und Einflüsse im Blick hatten. Ganz abgesehen von der Modernisierungstheorie oder dem Weltsystemansatz verweist Hannerz auf kulturanthropologische Schulen wie den Diffusionismus gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts oder das Akkulturationskonzept in Kulturkontaktstudien in den dreißiger bis fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. U. Hannerz 1998: 236; ders. 2002). Dennoch halte ich es für verfrüht, einfach zur alten Tagesordnung nach dem Motto, „haben wir schon immer gemacht“, zurückzukehren. So haben sich transnationale Vernetzungen nicht nur qualitativ über die letzten Jahrzehnte verdichtet. Auch hat sich in der westdeutschen – nur für sie kann ich sprechen – sozial- und kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung der Nachkriegszeit, um eines der prominentesten Felder des Transnationalisierungsansatzes zu nennen, eine raumgebundene und -bindende Konzeptualisierung von Migration durchgesetzt, des „silencing“, des Ausschlusses sozialer AkteurInnen in der Situationsbezogenheit teilnehmender Beobachtung enthalten. Die Erweiterung von Mikro auf Makro berge die Gefahr der Verdinglichung, der „objectification“, der Strukturen; ferner könne die Theoriegeleitetheit zur „Normalization“ führen, zur Anpassung des Forschungsfelds an die Theorie (vgl. M. Burawoy 2000: 27 f.). 9 Marcus schlägt sechs mögliche Zugänge vor, wie die globale Kontextualität lokaler Schauplätze ethnografisch erfasst werden kann: following the people, the thing, the metaphor, the story, the biography, the conflict (vgl. G. Marcus 1995: 106 ff.).
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welche entweder den Herkunfts- oder den Zielkontext, also nur eine Seite des Migrationsprozesses fokussierte. Migration wurde als uni-direktionaler Prozess des Verlassens des Herkunfts- und der Neu-Integration ins Aufnahmeland vorgestellt und vielfach in Anlehnung an kulturökologische Konzepte als Entwurzelung und Wiedereinpflanzung beschrieben (vgl. u.a. P. Bräunlein/ A. Lauser 1997: II; N. Cyrus 2000). Damit wurden transnationale, mehrortige Lebensweisen von MigrantInnen entnannt bzw. zwangsweise vereindeutigt. Dort, wo sich Praxen dieser Vereindeutigung widersetzten, wie das Festhalten an oder die Reinszenierung von herkunftsbezogenen kulturellen Praktiken, wurden sie als traditionell und defizitär abgewertet und zum Objekt der „Ausländer“-Pädagogik erklärt. Nur wenige Forschungen aus den letzten vierzig Jahren deutscher Migrationsgeschichte fokussierten beide Seiten (vgl. W. Schiffauer 1991; C. Giordano 1984). Die meisten taten dies jedoch unter der Perspektive, Migrationsgründe oder Rückkehrbedingungen zu analysieren. So hielten sie selbst dann noch an der Terminologie der Rückkehr fest, als sie bereits erkennen mussten, dass die als „RückkehrerInnen“ bezeichneten sich gar nicht fest in ihrer „alten Heimat“ niederlassen wollten, sondern wie viele ArbeitsmigrantInnen lieber zwischen ihrem Herkunftsland und Deutschland pendelten (vgl. W. Neef 1986: 399-428).10 Vor diesem Hintergrund stellen die Ansätze der neueren transnationalen Kulturanthropologie meiner Meinung nach einen überfälligen „Normalisierungsdiskurs“ mehrortiger, uneindeutiger migrantischer Praktiken dar. Sie öffnen uns nichtmigrantischen WissenschaftlerInnen die Augen für, so würde ich es nennen, das transnationale Kontinuum migrantischer Lebensstrategien. Ich bezeichne dies als „Kontinuum“, um der zeitlichen und räumlichen Prozesshaftigkeit und Veränderlichkeit der Positionierungen zwischen Ziel- und Herkunftskontext Ausdruck zu verleihen. MigrantInnen verorten sich zeitlich variabel mehr auf der einen oder anderen Seite oder unterhalten auch über Jahre imaginative, virtuelle Verbindungen zu ihren Angehörigen, FreundInnen und sozialen Kontexten, die neben dem Herkunftsland weitere Migrationsdestinationen miteinschließen können (vgl. u.a. R. Salih 2000: 75-92). Für meine Arbeit stellt die Transnationalisierung kulturanthropologischer Forschung und Theorie mit ihrem Plädoyer für ein mehrortiges, offenes Forschungsdesign eine wichtige erkenntnistheoretische und methodologische Voraussetzung dar, um mobile Migrationsformen in den Blick zu nehmen, die nicht auf dauerhafte Einwanderung abzielen, wie die der jungen slowakischen Frauen, die als Au-pairs nach Deutschland kommen. Derartige Akteursgruppen und Praktiken fielen bislang durch das Raster des lokalisierten und lokalisierenden Feldforschungsparadigmen hindurch. Dabei bleibt die Frage zentral, wie auch in der multilokalen Forschung Standards des tiefen Eintauchens und der intensiven Teilnahme am sozialen Prozess erfüllt werden können. So hat die ForscherInnengruppe um Burawoy feststel10 So ist es sehr interessant zu sehen, dass Giordano und seine Studierenden schon Migrationsphänomenen zwischen Deutschland und Sizilien auf der Spur waren, die heute als transnationale Existenzweisen oder als Pendelmigration gefaßt würden. Doch der damalig hegemoniale Fokus und die Bezeichnungspraxis ließen Giordano und seine Studierende weiter von „Remigranten oder pendelnden Emigranten“ reden, obwohl sie selbst feststellten, dass sich die Re-bzw. Emigranten weder auf das eine noch auf das andere festlegen ließen, sondern aufgrund der schlechten Lebensbedingungen in Sizilien zwischen Deutschland und ihrem Herkunftsland hin- und herpendelten (vgl. W. Neef 1986: 525 f.).
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len müssen, dass die Forschenden in einer multi-sited ethnography nicht allen Schauplätzen ähnlich intensiv ihre Aufmerksamkeit widmen können. Eine weitere Problematik besteht sicherlich darin, wie das ausfransende und erst durch das Aufspüren der vielfältigen Verbindungen im Laufe des Forschungsprozesses sich konstituierende „Feld“ zu bestimmen ist. Doch, um mit Hannerz (1998: 248) pragmatisch zu erwidern, haben wir keine andere Wahl in einer sich globalisierenden Welt, als „to experiment with the distribution of attention“. Im Folgenden werde ich das Experiment nachzeichenen, Spuren von migrierenden Frauen in der Slowakei aufzunehmen und sie während ihres Au-pair-Aufenthaltes in Deutschland zu begleiten. Ich beginne mit meinen zwei Reisen in die Slowakei. Zwei Forschungsreisen Im Winter 1998 machte ich mich, James Clifford und Georg Marcus beim Wort nehmend, das erste Mal auf die Reise, um von der Au-pair Vermittlung in Süddeutschland aus den Au-pair Frauen zurück in ihre Herkunftsorte in der Slowakei zu folgen. Die kirchliche Au-pair-Agentur, die zu meiner Hauptanlaufstelle in Deutschland werden sollte, hatte mich freundlicherweise mit Adressen von ehemaligen Au-pairs ausgestattet. Auch hatte sie mir den Kontakt zu ihrer Partnervermittlungsagentur mit Sitz in Bratislava vermittelt, deren einzige Mitarbeiterin mir während meines zweiwöchigen Aufenthalts in der Slowakei zu einer hilfreichen und einfühlsamen Reiseführerin wurde. Eva Siklová11 begleitete mich auf meinen Reisen zu den Frauen, öffnete mir Türen in Familien, wie sie mir andererseits auch zahlreiche verschlossen hielt und mich gekonnt an manchen Problemfällen vorbeischleuste. So konnte ich schon während meiner ersten Reise neben den Rückkehrerinnen eine junge Frau treffen, die gerade ihre Abreise nach Deutschland organisierte. Sie war nach Bratislava gekommen, um ihr lang ersehntes Au-pair-Visum von der deutschen Botschaft entgegenzunehmen. Ich schloss mich ihren wiederholten Gängen zur Botschaft an und konnte so den zermürbenden Prozess des langen Wartens vor dem Botschaftsgebäude miterleben. Auch hatte ich die Chance, an zwei Vermittlungsgesprächen im Büro von Eva Siklová teilzunehmen und ihre Gesprächsführung zu studieren. Die erste Reise stand so ganz unter dem Vorzeichen, erste Erfahrungen und Eindrücken von den Lebenswirklichkeiten, Ängsten und Hoffnungen der Au-pair Frauen, die über die ganze Slowakei verstreut lebten, zu gewinnen. Auch versuchte ich, das Geschäft mit den Wünschen der jungen Frauen und die Vermittlungspraxen der verschiedenen kommerziellen sowie der zwei kirchlichen Au-pairAgenturen vor Ort zu recherchieren. Teilweise hatte ich Adressen von Au-pairAgenturen schon von Frauen in Deutschland erfahren, teilweise traf ich zufällig auf sie während meiner Streifzüge durch die Städte. Zusätzlich bemühte ich mich darum, zur Ethnologischen Akademie und zu unabhängigen Forschungseinrichtungen Kontakt zu bekommen, um mein frisch gewonnenes Bild von der Slowakei mit slowakischen WissenschaftlerInnen zu diskutieren.
11 Namen geändert.
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Daneben stellte sich heraus, dass schon meine Fahrten in die und aus der Slowakei ein ergiebiges Forschungsfeld waren, so dass ich meine Forschung auf die Verkehrsmittel Zug und Bus erweiterte. Denn hier traf ich „by the way“ ehemalige und aktuellen Au-pairs, die mit einem Au-pair-Visum, als „Touristin“ für drei Monate oder ganz ohne gültige Papiere in Deutschland arbeiteten. Vor allem die Bus-Linie, die zwei Mal in der Woche Bratislava mit Städten in Süddeutschland verband, wurde für mich zu einer interessanten Forschungsstrecke, da sich in der zeitlich befristeten Anonymität und dem Übergang zwischen der Slowakei und Deutschland, der für viele mit Ängsten vor Grenzkontrollen und vor der Rückkehr hier- oder dorthin verbunden war, intensive Gespräche ergaben. Meine zweite Forschungsreise im September 1999, die mit der Abfahrt des Busses in Deutschland anfing, stand unter umgekehrten Vorzeichen. Diesmal beabsichtigte ich, gezielt Frauen in der Slowakei aufzusuchen, die kurz davor waren, zu ihrem Aupair-Aufenthalt in Deutschland aufzubrechen. Ausgehend von ihren familiären, lokalen Kontexten beabsichtigte ich, ihnen bis in ihre Gastfamilien in Deutschland zu folgen und sie während ihres mindestens einjährigen Au-pair-Aufenthalts zu begleiten. Von einer derartigen Langzeitperspektive auf einen Au-pair-Aufenthalt, angefangen bei den Herkunftskontexten der migrierenden Frauen, erhoffte ich, ein intensives Bild von ihren Hintergründen, Erwartungen und Zielsetzungen zu bekommen, zu erfahren, welche Strategien sie entwickeln und auf welche Ressourcen sie zurückgreifen können, diese angesichts der restriktiven Bedingungen entlang ihrer Migrationsstrecke umzusetzen. Auch versprach ich mir hiervon, Veränderungen und Anpassungen ihrer Motivationen und Positionierungen im Verlauf ihres Aufenthalts mitverfolgen zu können. Zum anderen wollte ich damit ihre schon vor der Migration und durch sie noch mal vertieften transnationalen Bezügen und Verbindungen erfassen. Adressen von Au-pair-Frauen in spe bekam ich auch diesmal von der kirchlichen Agentur, wobei sich herausstellte, dass ich von der Gruppe angeschriebener Frauen nur vier noch in der Slowakei antreffen konnte. Viele waren überraschenderweise schon vorher aufgebrochen. Jedoch konnte ich während meiner Besuche bei weiteren Vermittlungsstellen zusätzlich mit zwei zukünftigen Aupair-Frauen reden, die in der Slowakei ihren Au-pair-Aufenthalt zu organisieren versuchten. Mein Basislager in der Slowakei konnte ich dies Mal bei einer deutsch-slowakischen Bekannten aufschlagen, welche ich über meine Forschungsarbeiten in Deutschland kennengelernt hatte. Sie war im gleichen Zeitraum auf Familienbesuch in der Slowakei und lud mich ein, bei ihren Eltern in Kosice zu übernachten. Diese Konstellation erlaubte mir im Vergleich zur ersten Reise, mich unabhängiger in der Slowakei zu bewegen. Selbst im Netz der Globalisierung: Bestätigungen und Behinderungen Während meiner zwei Forschungsreisen konnte ich nicht nur am eigenen Leib die Untiefen und machtvollen Ungleichheiten der Transnationalisierungsprozesse erfahren, sondern wurde selbst zur „Trägerin“ und „Übersetzerin“ von sich zunehmend transnationalisierenden Lebenswelten zwischen Ost- und Westeuropa. So konnte ich nicht nur während meiner zweiten Forschungsreise im September 1999
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meine Kontakte zu den unabhängigen Forschungseinrichtungen intensivieren, sondern nahm zu zusätzlichen Frauengruppen und Nichtregierungsorganisationen, dem viel beschworenen zivilgesellschaftlichen „3. Sektor“ (vgl. M. Bútora/G. Mesezniko/ Z. Bútorová 1999) in den post-sozialistischen Reformländern, Kontakt auf. Manche dieser Treffen entwickelten sich zu einem intensiven Austausch und gegenseitigen Verständigungsprozess über die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Folgen der eingeschlagenen Transformationspolitiken für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und über die positiven und negativen Einflüsse und Interessen Westeuropas. Viele GesprächspartnerInnen zeigten sich sehr informiert über den Stand der politischen Debatte in den EU-Länder und interessiert an der Entwicklung alternativer Visionen zur Hegemonie der freien Marktwirtschaft, ohne die europäischen demokratischen Errungenschaften aufgeben zu müssen. Hieraus ergaben sich dann auch erste lose Zusammenarbeiten und gemeinsame Projektideen bezüglich des Phänomens Frauenmigration. Trotz informationeller und kommunikativer weltweiter Vernetzung und geteilter diskursiver, wissenschaftlicher Wissenssphären, ein zentraler Topos des kulturanthropologischen Transnationalisierungsdiskurses, erwies sich die Kommunikation und somit die Planbarkeit meiner Kontakte zu den Au-pair-Frauen als schwierig. Die Transnationalisierungsprozesse scheinen insofern auch innerhalb der Länder differenzierte und hierarchisierte Landschaften zu generieren, wo sich großstädtische Konglomerate und eine gehobene Dienstleistungsklasse in die globale Netzwerkgesellschaft integrieren können, während es die ländliche Bevölkerung um einiges schwieriger hat und proportional mehr Ressourcen investieren muss, um daran zu partizipieren. So stellten Briefe und das Festnetztelefon die einzige kommunikative Verbindung zu den Frauen dar. Dabei brauchten Briefe über zwanzig Tage von Deutschland in die Slowakei und umgekehrt, das Telefonnetz reichte nicht in jeden Haushalt und selbst dort, wo ein Anschluss bestand, funktionierte er oft nicht. Viele der Au-pairs griffen erst während ihres Aufenthalts in Deutschland zum Mobiltelefon, um ein von den Gastfamilien unabhängiges Medium zu haben, und zunehmend auch zur Internetkommunikation, die sie in den deutschen Haushalten kennen lernten. So platzten einige Termine, weil die zukünftigen Au-pair-Frauen, wie mir ihre Eltern mitteilten, entweder meine Briefe zu spät bekommen hatten und sie schon nach Deutschland abgereist waren. Oder ich hatte ihre Briefe nicht mehr erhalten, in denen sie mir mitteilten, dass sie doch schon schneller ihr Visum bekommen hatten und aufbrechen konnten. Auch Mobilsein ist in der Slowakei kein Zuckerschlecken. Zwar gibt es ein gut ausgebautes Busnetz und einige Zugverbindungen, doch die öffentlichen Verkehrsmittel sind aufgrund ihres Alters in einem zugigen Zustand und nicht mehr die schnellsten. Darüber klagten auch die jungen Frauen vor allem aus der Ostslowakei, die für ihr Visum manchmal drei Mal zur deutschen Botschaft in die westliche Hauptstadt fahren mussten. Für die Slowakinnen kam noch hinzu, dass für sie Mobilsein immer teuerer wurde, da die Preise für die einst subventionierten öffentlichen Verkehrsmittel kontinuierlich stiegen. Ich selbst war daher, um von einem Dorf in der Südostslowakei ins nächste in der Nordostslowakei zu kommen, manchmal Tage unterwegs und musste meine Besuche somit zum Teil auf einen Tag beschränken.
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Das Gefühl von Dichte und Intensität der Beobachtungen, welches im traditionellen Feldforschungsparadigma der Langzeitaufenthalt an einem konkreten Ort gewährleisten sollte, musste ich somit durch ein dichtes Mosaik verschiedenster intensiver Eindrücke selbstreflexiv herstellen. Mit fortschreitendem Reisen sättigten sich jedoch meine Eindrücke von den verschiedenen Lebensrealitäten auf dem Land oder in der Stadt, aus der West- oder Ostslowakei, aus den verschiedenen sozialen Schichten der sich stark differenzierenden slowakischen Gesellschaft und den unterschiedlichen Strategien, mit den Herausforderungen der Umbruchphase umzugehen. Ich bin eingetaucht in das stille, karge dörfliche Leben der kleinen Einfamilienhäuser mit Subsistenz-Landwirtschaft. Ich habe in jenen Plattenbauvierteln bei Familien gewohnt, die vor Jahren noch stolz in diese Wahrzeichen sozialistischer Modernisierungsanstrengungen eingezogen sind, die nun in grauen Wällen die Innenstädte umgeben. Auch war ich bei Frauen zu Besuch, die in kleinen Städten im Grünen wohnen, die um die großen Industrieanlagen errichtet wurden. Heute sind es trostlose Industriebrachen, wobei die städtische Infrastruktur mit den Fabriken weitgehend stillgelegt zu sein scheint.12 Vor allem der wiederholte Rückbezug auf sich dabei auch konkretisierende Theorieansätze half mir, die einzelnen Fragmente zusammen zu puzzeln. Hierüber bekam ich zunehmend Verbindungslinien und Gegensätze in den Blick, wie sie mir auch von den verschiedenen GesprächspartnerInnen angedeutet, aber auch desartikuliert wurden. Im Folgenden werde ich die Hintergründe und Motivstrukturen der Au-pair-Migration aus den Gesprächen13 mit den Frauen und den Beobachtungen ihrer familiären und sozialen Kontexte in drei Blöcken entwickeln. 2.3. Junge Frauen (in) der slowakischen Transformation Ich habe einen Traum „Ich will nach Deutschland und wenn ich kann, dann will ich dort etwas bleiben. Ich weiß zwar nicht gut Deutsch, aber dort kann man die Kronen bekommen und die Sprache lernen. Aber nein, die anderen Jugendlichen bleiben hier und bekommen ihr kleines Arbeitslosengeld. Und dann kommt ein Junge und sagt, heirate mich, und dann kommen die Kinder. Und das soll das Leben sein?“
Nein, Magdalena, die ich auf meiner zweiten Reise im Spätsommer 1999 bei ihrer Familie besuchte, wollte mehr vom Leben als es ihr in dem kleinen ostslowakischen Dorf möglich schien. Dabei hatte das knapp 2.000 EinwohnerInnen zählende Dorf im Vergleich zu anderen sozialistischen Industriestädtchen, die im Zuge der spät, aber dann gewaltig einsetzenden Industrialisierungsanstrengungen des tschecheslowakischen Staates in den fünziger Jahren mitten im Grünen aus dem Boden gestampft wurden, noch Glück. 12 In Folge der Anonymisierung der Au-pair Frauen werde ich auch die Namen der Städte und Dörfer nicht genau nennen. 13 Bei den Gesprächen handelt es sich sowohl um aufgenommene offene Interviews von eineinhalb bis zweieinhalb Stunden Länge sowie um weitere unstrukturierte Gespräche, die ich im Anschluss an den Besuch im Feldtagebuch festhielt.
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Die Papierfabrik, die einzige Arbeitgeberin weit und breit, wurde nach der Wende 14 nicht geschlossen, sondern von einem ausländischen Investor aufgekauft. Auf einem stark reduzierten und rationalisierten Niveau wurden weiter Schulhefte und Schreibblöcke produziert. Während Menschen der älteren Generationen, wie Magdalenas Mutter, hier noch Arbeit fanden, sah die Arbeitsmarktsituation für die Jüngeren trostlos aus. Das Städtchen gehört zu den Regionen in der ehemals von großen Schwerindustriewerken dominierten Ostslowakei, dem heutigen Armenhaus, mit Ende der neunziger Jahre über zwanzig Prozent Arbeitslosigkeit – jede/r Siebte ein/e Schulabgänger/in (vgl. M. Bútora/ T. Skladony 1998: 104). Doch auch ein Arbeitsplatz bedeutete seit den Umbruchsjahren nicht mehr Existenzsicherung. So hatte Magdalenas Mutter, um die Familie mit den zwei Töchtern zu versorgen, einen weiteren Job als Bedienung annehmen müssen (vgl. zur Lebensund Arbeitssituation von Frauen, Unicef 1999: 3). Ihr Vater war schon vor Jahren als Ernährer der Familie ausgefallen, da er aufgrund einer schweren Krankheit in Frührente gehen musste. Als wir in der frisch renovierten Küche saßen und Magdalenas Mutter uns in Windeseile ein Mittagessen auf den Tisch zauberte, erzählte sie mir – von Magdalena übersetzt –, was für Anstrengungen es sie koste, ihren beiden Töchtern unter diesen Bedingungen eine gute weiterführende Ausbildung zu ermöglichen. Den zweiten Job habe sie vor allem aufgenommen, um der älteren in der nächsten großen Stadt eine Krankenschwester-Ausbildung mit Internatsplatz zu finanzieren. Jetzt sei noch Magdalenas weitere Ausbildung dran, für die sie eine Hotelfachschule am besten finde. Magdalena hatte vor einem Jahr mit Bestnote ihr Abitur in der Kreisstadt abgelegt und war seitdem arbeitslos zu Hause. Das kleine Arbeitslosengeld, 3.000 slowakische Kronen, 1999 ca. 150 Mark, trat sie als Unterstützungszahlung an ihre Mutter ab. Es reiche sowieso nicht weit angesichts der rasanten Preissteigerungen der Lebenshaltungskosten – Strom, Wasser, Mieten, öffentliche Verkehrsmittel seien erst kürzlich um zwanzig Prozent gestiegen –, die vor allem seit der Abwahl des Autokraten Meciars mit seiner „Bewegung für eine demokratische Slowakei“ (HZDS) 1998 und dem Transformationskurs der neuen sozialdemokratisch, liberalen Koalition unter Mikulas Durinda rasant in die Höhe schnellten.15 Mutter und Tochter 14 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in dem landwirtschaftlich dominierten Land eine extensive industrielle Entwicklung von der Zentralregierung eingeschlagen, die gekennzeichnet war durch die Errichtung großer Industriekomplexe im schwerindustriellen Bereich (Rüstungsproduktion und Landwirtschaftsmaschienen) oft in kleinen Dörfern. Abgesehen von diesen Industrieanlagen blieb die Slowakei stark landwirtschaftlich geprägt (vgl. J. Podoba 1998: 290 f.; K. Schwarz 1993). 15 Nach der Aufgabe der sozialistischen Regierung 1989 und der von Meciar betriebenen Lostrennung der Slowakei von Tschechien 1993, welche ihre Nationalstaatsgründung bedeutete, nahmen die „Reformen“ in Tschechien und der Slowakei unterschiedliche Ausrichtung: Während in Tschechien eine neoliberale Strömung die Oberhand gewann und zügig eine Privatisierung anging, schlug Meciar einen verhaltenen Reformkurs ein. Die Privatisierung und Westöffnung traf jedoch die slowakischen Gebiete aufgrund ihrer einseitigen Industriestruktur nachhaltiger. Die Industrieproduktion fiel in den ersten drei Jahren um vierzehn Prozent und die Arbeitslosigkeit war drei Mal so hoch wie in den tschechischen Gebieten (vgl. J. Juchler 1994: 345). Nach seiner Wiederwahl 1994 beschleunigte Meciar den Privatisierung, wobei Korruptions- und Klientelismusvorwürfe zunahmen. Das Institute for Public Affairs schrieb: „1996 featured a continuation of the granting of economic favors to individuals and firms closely connected to the govering coalition at the expense of other domestic and foreign investors“ (M. Bútora/ T. Skladony 1998: 124). Insgesamt wird die Regierungszeit Meciars als hausgemachter Ausschluss aus der Gruppe der zentraleuropäischen Visegrad-Länder bewertet. Die neue Koalition unter Durinda forcierte die neoliberale Reformpolitik (vgl. u.a. I. Samson 1999), so dass Ende 1999 ein öko-
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hatten die neue auf EU-Integration setzende Öffnungspolitik der Koalitionsregierung nach den nationalistisch-autoritären Regierungsjahren Meciars als Neuanfang begrüßt (vgl. zur Bedeutung der Wahlen von 1998 M. Bútora/ G. Meseznikov/ Z. Bútorova 1999). Doch die forcierte Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik sowie die als notwendige Rationalisierung des öffentlichen Sektors legitimierte harte Haushaltspolitik war für sie nur als weitere Verschlechterung der Lebensbedingungen lesbar. Nach dem Festessen für die deutsche Wissenschaftlerin, das die Knappheit der finanziellen Ressourcen durch den Rückgriff auf den eigenen Garten und Eingekochtes kunstvoll kaschierte, gingen wir in Magdalenas kleines Zimmer, das sie sich mit ihrer Schwester zu teilen hatte. Dort aus dem Zimmerfenster auf die schlammigen Trampelpfade schauend, die die renovierungsbedürftigen Wohnblocks miteinander verbanden, machte sie sich Luft: „Ich will nicht in diesem Loch enden, den ganzen Tag rumlungern und nur trinken.“ In der Tat, die Infrastruktur des Dorfes war in den neun Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems auch in sich zusammengefallen: eine Haltestation für den Zug, ein Triebwagen der das Dorf drei Mal am Tag mit der Außenwelt verband, ein kleiner Einkaufsladen, einem Kiosk gleich, und eine verrauchte Gastwirtschaft, in der vor allem die männliche Dorfjungend und die älteren Männer die Zeit bei Bier und einem Tischkicker totschlugen. „Was kann man hier schon machen? Hier ist es langweilig, doch ich habe einen Traum, einen großen Traum und wenn ich will, kann ich ihn erreichen“, kommentierte Magdalena ihre Lebenssituation. Über ihre AltersgenossInnen und FreundInnen, die keine Initiative ergriffen, etwas aus ihrem Leben zu machen, war sie sichtlich erbost. Es klang wie ein Vorwurf: „Sie bleiben ihr Leben lang hier, bekommen ihr Arbeitslosengeld und jeden Tag gehen sie ins Café – aber das ist nicht genug für mich. Das ist kein Leben.“ Vor allem über die scheinbar selbstläufige Normal-Biografie junger Frauen war sie aufgebracht, die so lange bei ihren Eltern wohnten, bis sich plötzlich das erste Kind ankündige. Hals über Kopf werde dann sehr jung, mit achtzehn oder zwanzig Jah16 ren, der Kindsvater geheiratet. Manche lebten dann noch über Jahre bei ihren Eltern, da sie weder eine Ausbildung noch einen Beruf vorweisen könnten und die Eltern zur Kinderaufsicht herangezogen würden. Viele junge Familien versuchten alsbald ihre Konflikte mit Alkohol zu verdrängen, was oft in einer Scheidung ende. Das Nachsehen hätten die jungen Frauen, die mit den Kindern zurückblieben. Magdalena, derartige Schicksale von Freundinnen vor Augen, schreckte diese Vorstellung ab. Zwar beabsichtige sie auch, zu heiraten und Kinder zu bekommen, doch zunächst wolle sie etwas aus ihrem jungen Leben machen: „Ich bin noch jung und habe die ganze Welt noch vor mir. Erst möchte ich die Welt probieren und mein Leben leben.“ Sie erzählte mir dann auch, dass sie selbst einen Freund habe, nomisches Wachstum von erstmals 1,8 Prozent seit der Wende erzielt wurde. Doch der Lebensstandard nahm mit Preissteigerungen und zunehmender Arbeitslosigkeit weiter ab (vgl. M. Kopanic 1999). 16 Die Slowakei war lange Jahre das europäische Land mit dem niedrigsten Heiratsalter von 21 Jahren. Dies führen slowakische SoziologInnen vor allem auf den Einfluss der katholischen und evangelischen Kirche, geringe Kenntnisse über Verhütungsmethoden und die sozialistische Bevölkerungspolitik zurück. Aufgrund der ökonomischen und sozialen Krise und der neuen Aufklärung sei es jedoch in den letzten Jahren auf 23 bis 25 Jahre gestiegen (vgl. P. Gurán/ J. Filadelfiová 1998). Auch zeigten die Statistiken, dass zwar der Institution Ehe mehrheitlich immer noch ein großer Wert beigemessen wird, doch sei die Zahl von Single-Haushalten und von alleinerziehenden Eltern am Steigen (ebd.: 286).
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mit dem sie jedoch große Probleme habe. Sie wolle sich von ihm trennen, doch schaffe sie es nicht, es ihm ins Gesicht zu sagen. Vor allem fühle sie sich von ihm eingeengt und bevormundet: „Er möchte mich und er hat mich. Doch er sagt ständig, das musst du so und so machen und du kannst nicht dahin gehen.“ Doch sie pochte auf ihre Freiheit und auf Geschlechtergerechtigkeit: „Ich habe mein Leben, ich bin noch jung und habe meine Träume und warum sagt er mir so ständig Sachen? Er macht alles, was er möchte, und ich soll es nicht dürfen?“ Magdalena war froh, dass sie bald nach Deutschland gehen konnte, was ihr Freund allerdings nicht gutheiße: „Er tut mir weh, doch jetzt gehe ich weg. Ich möchte und ich muss, ich möchte und ich muss,“ wiederholte sie. Ihre Migration nach Deutschland klang in diesem Zusammenhang fast wie eine Flucht, wie ein Ausbruch in eine imaginierte freie Welt. Eigentlich wollte sie nach dem Gymnasium studieren, doch die finanzielle Situation der Familie gestattete es ihr nicht. Eine Arbeitsstelle hatte sie gleich gar nicht gesucht, denn sie war der Überzeugung: „Mein Gymnasiumsabschluss ist wertlos, was jetzt zählt sind Berufserfahrung und Sprachen.“ Diese pessimistische Einschätzung des Werteverfalls von Bildungsabschlüssen begegnete mir auf meiner Forschungsreise öfters. Jirina, eine weitere junge, lebensfrohe Frau, die mich einen Nachmittag lang mit zwei Bekannten besuchen kam, wurde bei der Schilderung der Hintergründe ihres Au-pair-Jahres richtig düster. Sie hatte eine derartige Abwertung von Berufsqualifikationen und damit einhergehende Deklassierung schon bei ihren Eltern miterlebt. So seien beide Elternteile mit der Privatisierung ihrer Betriebe – mal früher, mal später – nach Monaten von Kurzarbeit gekündigt worden. Sie hätten zwar nun – im Falle ihres Vaters nach vier Jahren Arbeitslosigkeit – wieder eine Arbeitsstelle gefunden, doch nicht in den gelernten Berufen. Der Verdienst sei auch nicht mehr üppig, so dass sie sich für den Unterhalt der drei Kinder sehr plagen müssten. Nun seien ihre Eltern froh, dass sie wieder ein Ziel habe, nachdem sie nach dem Abitur ein gutes Jahr lang arbeitslos war: „Ich habe erst gar nicht versucht, nach dem Abi eine Arbeit zu finden. Bei uns in der Stadt ist es nicht leicht, eine Arbeit zu finden, viele Leute sind arbeitslos“ rechtfertigte Jirina mir gegenüber ihre mangelnde Suchbereitschaft und fuhr fort: „Und mit meinem Gymnasiumsabschluss finde ich sowieso keine Arbeit. Die Arbeitgeber wollen ein Zertifikat sehen, sie wollen eine berufliche Ausbildung, eine Fremdsprache oder Computerkenntnisse.“ Ihre zwei Bekannten, Studenten der Germanistik, beeilten sich mit eigenen Beispielen dieses Bild zu unterstreichen. So hätten sie zwar die Aufnahmeprüfung zur Universität geschafft und danach auch noch einen der knappen Studienplätze bekommen, doch ihre Zukunftsaussichten als Lehrer seien nicht rosig. Staatliche Schulen zahlten so ein geringes Gehalt (2.500 Kronen 1999, ca. 500 Mark), dass die meisten LehrerInnen nebenher noch Privatunterricht anböten. Im Privatsektor hätten sie allerdings als DeutschlehrerInnen gute Chancen, da die Nachfrage nach Deutschkenntnissen im Zuge der Westorientierung von Politik und Wirtschaft am Steigen sei. Doch auch in den Schulen seien DeutschlehrerInnen gefragt, da immer mehr Fächer, auch Biologie oder Geschichte, an Gymnasien auf Deutsch unterrichtet werden sollten.
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So verwunderte es mich auch nicht, dass Jirina und Magdalena beide erklärten, vor allem nach Deutschland gehen zu wollen, um die Sprache besser zu lernen, die sie schon in der Schule als Unterrichtsfach hatten. „Deshalb möchte ich die Sprache lernen, dann ist es leichter, eine Stelle zu finden“, ist sich Jirina sicher. Und Magdalena: „Als erstes möchte ich nach Deutschland, weil ich die deutsche Sprache gut lernen will. Wenn ich an die Hotelfachschule gehe, dann brauche ich die slowakische, die englische und die deutsche Sprache. Ich arbeite dann im Hotel und spreche mit fremden Leuten.“ Auch Jirina stellte zum Teil den anvisierten Spracherwerb in einen Zusammenhang mit ihren späteren Berufsabsichten: „Ich möchte Lehrerin werden und auf die Uni gehen.“ Beide fügten jedoch hinzu, dass sie auch die Zeit in Deutschland nutzen wollten, um etwas Geld für ein späteres Studium auf die Seite zu legen. Magdalena und Jirina wussten, dass ihre Eltern sie dabei nur schwer unterstützten könnten. So meinte dann auch Magdalena: „Das ist schwer für sie. Das ist so. Und wenn ich die Kronen bekomme, dann kann ich studieren oder auch was anderes machen, was ich will.“ Im Verlauf des Gesprächs kam Magdalena immer wieder auf den finanziellen Aspekt zu sprechen und als würde das erhoffte Geld ihre Motivation, nach Deutschland zu gehen, moralisch untergraben, betonte sie: „Ich möchte dort gehen und die Sprache lernen, die Kronen sind nicht wichtig. Aber hier bekomme ich keine Kronen, aber dort, wenn ich die Kronen bekomme, dann kann ich sparen, und wenn ich zurückkomme, studieren.“ Und ein drittes Mal: „Für mich sind die Kronen wichtig, weil ich dann studieren möchte und ich weiss,“ betonte sie, „meine Mutter kann mir das Geld nicht geben.“ Bei Jirina schienen zudem die Eltern aufgrund der finanziell angespannten Situation der Familie, ihren Schritt ins Ausland sehr zu unterstützten. Sie sei jetzt „erwachsen“ und ihre Eltern wollten sich jetzt mehr um ihre zwei jüngeren Brüder kümmern. In meinen Ohren klang dies fast wie ein Rauswurf. Jirina antwortete: „Nein, sie wollen mich nicht loshaben, doch ich soll selbstständig werden und lernen, unabhängig zu leben.“ Später im Gespräch griff sie diesen Faden selbst noch einmal auf und verwandelte es in eine eigene Motivation: „Ich möchte selbstständig werden und selbst leben und arbeiten. Ich möchte machen, was ich will!“ An einen Auszug aus dem elterlichen Haus denke sie jedoch auch nach der Rückkehr nicht. Dies werde angesichts der ökonomischen Situation für junge Leute immer schwerer, da die Preise so hoch seien, dass sich nur wenige ein eigenständiges Leben leisten könnten. Beide Frauen waren im letzten Jahr nicht untätig. Schon während der letzten zwei Jahre im Gymnasium, erzählte mir Magdalena, sei der Wunsch immer größer geworden, nach der Schule ins Ausland zu gehen. Durch den Kontakt zu ihrem Dorfpfarrer, der zufälligerweise aus Deutschland kam, hatte sie auch schon einiges über Deutschland gehört und es richtig „ins Herz geschlossen“. Als sie dann ein Plakat der Diakonie aus Bratislava sah, das für ein Au-pair-Jahr in Deutschland warb, stand ihr Entschluss fest. Seitdem bereitete sie mit Nachdruck ihren Au-pair-Aufenthalt in Deutschland vor. Soweit sie ihr Dorf überblicken konnte, war sie bis dato die einzige junge Frau, die als Au-pair nach Deutschland gehen wollte. Doch sie war nicht die Einzige, die ihre Zukunftsperspektive transnational zu gestalten versuchte. Vier andere junge Frauen waren bereits zwei Jahre früher als Au-pair nach England
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gegangen und kamen bisher nur zum Urlaub zurück: „Sie beginnen als Au-pair und dann fangen sie zu studieren an, haben die Arbeit und die Freunde“, kommentierte Magdalena lachend die Migrationsbiografien. Sie selbst zeigte sich gegen Ende meines Aufenthalts sehr im Unklaren über ihre weitere Lebensperspektive: „Was nach dem Jahr Deutschland kommt, weiß ich noch nicht.“ Denn die Hotelausbildung sei nicht ihr größtes Ziel, vielmehr das ihrer Mutter, die wolle, dass Magdalena wieder zurückkäme: „Für mich ist die Slowakrepublik sehr, sehr langweilig“, erklärte sie und hinter vorgehaltener Hand meinte sie zu mir: „Ich möchte nach Deutschland gehen und wenn ich kann, dann möchte ich auch dort bleiben.“ Im Kopf hatte sie sich schon eine Möglichkeit zurechtgelegt, wie es funktionieren könnte. Dabei kam ihr geringer Informationsstand über den Au-pair-Aufenthalt und die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen ans Licht, die eine Verlängerung des einjährigen Au-pair-Visums ausschließen. Der Plan sah folgend aus: Das Kind der Au-pair Familie sei noch sehr klein. Daher bräuchten die Eltern sicherlich über mehrere Jahre ein Au-pair, welches auf den Sohn aufpasse. Und danach könne sie eine Arbeit suchen. Ihre Devise lautete: „Wenn ich nett bin, dann ist die Familie auch nett. Und wenn ich ihr auch noch helfe, Ordnung zu machen, oder an meinen freien Tagen das Kind nehme, dann...“ Sie machte den Satz nicht fertig, doch brachte sie hier eher eine Vorstellung von Au-pair als familiärem Zusammenhang des gegenseitigen Helfens zum Ausdruck, als dass sie Au-pair klar als vertragliches Arbeitsverhältnis verstand, was ihr im Verlauf des Aufenthaltes noch auf die Füße fallen sollte (siehe viertes Kapitel). Dabei kannte Magdalena schon Geschichten über die teilweise schlechte Behandlung von Au-pairs in England. Sie hoffte, dass dies in Deutschland anders sei: „Die slowakischen Mädchen werden in England so klein gehalten und die englischen Leute sind so hoch und die slowakischen Leute kann man so klein machen.“ Sie stampfte mit dem Fuß auf dem Boden, um ihrem Satz Nachdruck zu verleihen. Auch bei Jirina fiel mir auf, wie unwissend sie nach Deutschland ging. Zwar habe sie auch von einigen Ex-Au-pairs gehört, dass „es nicht in Ordnung war“, doch wusste sie nichts über Bezahlungsmodalitäten, Rechte und Pflichten des Au-pairArbeitsvertrags oder über Beratungsangebote der deutschen Agenturen. So dachte sie, dass die Entlohnung eine Sache der Aushandlung sei bzw. sich nach der Zahl der Kinder und der zu leistenden Arbeit richte. Andererseits überraschte mich sehr, wie klar Jirina und ihre Begleitung die Motivationen der deutschen Gastfamilien einschätzten. So fragte Jirina mich gegen Ende unseres Gespräches: „Warum nehmen deutsche Familien ein Au-pair? Ist das nicht ein schönes Wort für Dienstmädchen? Ausländische Frauen sind billiger.“ Als mich Magdalena nach einem langen Tag zurück zum Zug brachte, fasste sie ihre Beweggründe noch einmal ganz einfach zusammen: „Ich möchte gehen und meinen Traum einfangen.“ Stillgelegtes Land... „Das ist ein Loch“, meinte meine Gastgeberin über Magdalenas Heimatstädtchen, als ich von meiner Reise zu ihr zurück nach Kosice kam: „Die Slowakei hat viele solcher Löcher. Kosice und Bratislava sind die zwei Großstädte, wo man leben
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kann. Dann gibt es vielleicht noch Zilina oder Lucenec, doch dann nur Löcher.“ Ich war frappiert, ob der Metaphorik, mit der diese postsozialistischen, ländlichen Industriewüsten im kollektiven Zeichenschatz gedeutet wurden. Viele der ehemaligen Au-pairs und jungen Frauen, die ich kurz vor der Abreise traf, kamen aus jenen kleinen Industriestädtchen wie Magdalena oder aus Dörfern in ländlichen Gegenden. Meist von ein oder zwei großen Fabriken abhängig, traf sie die Deindustrialisierung, Schließung oder Rationalisierung der veralterten Anlagen im Zuge der Restrukturierung nach 1993 hart. Maria und Tanya wie auch ihre Eltern gehörten zu den „freigesetzten“ TransformationsverliererInnen. Beide aus Dörfern in der Ostslowakei, versuchten sie seit Beendigung der Mittelschule, vergleichbar dem deutschen Hauptschulabschluss mit Berufsausbildung, eine Arbeit zu finden – egal wo. Während Tanya nach Monaten des Suchens zu ihrem Bruder in die Tourismusregion der Hohen Tatra zog und dort in Kneipen und einem Sportbekleidungsgeschäft Arbeit fand, bemühte sich Maria über Jahre vergeblich. Maria, in deren Familie ich schon während meiner ersten Reise in die Slowakei im Winter 1999 drei Tage lang bleiben durfte, traf ich während meiner zweiten Forschungsfahrt im Sommer wieder: Die Situation war die gleiche. Sie war im Jahr 1998 bereits als Au-pair in Deutschland gewesen, hatte aber in Folge sexualisierter Annäherungen des Gastvaters die Stelle abgebrochen und war ins elterliche Haus zurückgekehrt. Seitdem bemühte sie sich wieder, nach Deutschland zu kommen, denn in der dörflichen und familiären Umgebung sah sie für sich keine große Zukunft. Das Dorf und vor allem seine männlichen Bewohner fand Maria, ähnlich wie Magdalena, „langweilig“ und „roh“. Sie tränken viel Schnaps und dann sei die Kommunikation tot. So sei sie meistens auf’s Haus verwiesen: „Ich will in eine Pizzeria gehen, sprechen, sitzen oder z.B. in die Oper, aber die Jungs wollen nicht, die Mädchen auch nicht. Das ist sehr schwer für mich. Ich bleibe lieber zu Hause und lese Bücher, schaue Fernsehen und backe – immer!“ Bücher und ein Satellitenfernseher, den sie sich von ihrem ersparten Geld aus dem ersten Au-pair-Aufenthalt leisten konnte, stellten die einzige erfreuliche Verbindung nach außen dar. Hier könne sie von Reichtum und häuslichem Glück träumen und sich Wunschorte imaginieren. In unzähligen Feierabendserien und Soap-Operas, aus dem US-amerikanischen übersetzt, MTV und Werbung werden die westliche Konsumkultur, fröhliche und unbeschwerte Jugendliche und glückliche Paare in die slowakischen Wohnzimmer geliefert. Vor allem die deutschen Programme, die in den Fernsehzeitschriften ebenso abgedruckt sind, liebe sie: „Die sind gut – die Romantik, Action, Tragödie, die vielen Serien.“ Auch viele andere Leute im Dorf schauten deutsche Programme, selbst wenn sie der deutschen Sprache nicht mächtig seien. Die eigene Filmproduktion galt als unmodern: „Die Schauspieler sind viel moderner“, begründete Maria die Programmwahl und meinte: „Das gefällt allen Leuten.“ So war den meisten Frauen der westliche Lebensstil schon vor ihrer Abreise nach Deutschland bekannt und längst antizipiert. Natürlich wusste Maria um den feinen Unterschied zwischen TVWelt und wirklichem Leben auch auf westeuropäischen Straßen, doch nach wie vor bekam sie glänzende Augen, wenn sie mir von den Freiräumen und Freizeitmöglichkeiten in Süddeutschland berichtete. Dort sei sie in schöne Cafes gegangen oder einfach nur in den Einkaufsmeilen spazieren gewesen und habe geschaut: „Das war
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wunderbar“, meinte Maria trotz der traumatisierenden Erfahrungen in der Gastfamilie Früher sei es ihrer Familie gut gegangen, erzählte Maria mir während des ersten Besuchs. Vor der Wende habe ihr Vater in der nahen Fabrik Arbeit gehabt und ihre Mutter habe ein kleines Wirtshaus im Dorf geführt. Sie hatten schon damals ein Flachhaus mit dahinter liegendem Garten und kleiner Tierhaltung besessen, wie es für die ostslowakischen gewachsenen Dörfer (im Unterschied zu den in den sechziger und siebziger Jahren errichteten Industriestädten) typisch ist. Bei meinem ersten Besuch im Winter hatte ihr Vater zwar noch Arbeit als Nachtwächter in der Fabrik, ihre Mutter jedoch hatte das Wirtshaus wegen ihrer Krankheit bereits aufgeben müssen. Beim zweiten Besuch im Sommer war dann auch ihr Vater entlassen worden. Nun seien sie sehr froh, dass sie das Haus mit Gemüse- und Obstgarten und Hühner- und Schweineställe hätten. So beurteilte Maria die familiäre Lage: „Wir sind zwar arm, doch uns geht es nicht schlecht. Wir haben kein Geld, aber ein Haus.“ Seit ihrer Rückkehr griff Maria ihren alternden Eltern bei der Aufrechterhaltung der Hausökonomie stark unter die Arme: „Ich bin immer mit meiner Mama und meinem Dad, ich wasche alles, ich mache alles.“ Nachdem sie keine Lohnanstellung fand, hatte sie sich zudem etwas einfallen lassen, um ein bisschen eigenes Geld zu verdienen. Die häusliche Küche verwandelte sie auf Bestellung in eine kleine Backstube und fabrizierte Bässekuchen, der weit über das Dorf hinaus bekannt war. In der Woche ergab das Backgeschäft ca. zehn Mark: Es sei ein gutes Geschäft, meinte Maria, um zu Hause auszukommen, doch es reiche ihr nicht wirklich, um ihren Interessen nachzugehen oder sich eine neue Jacke zu kaufen. Neben der Subsistenzproduktion aus den eigenen Gärten, die schon während des Sozialismus eine wichtige zusätzliche Grundlage für die Familienküchen war und die in den Post-Wende-Jahren eine neue Bedeutung erhielt, wurden informelle Einkommensstrategien überlebenswichtig. So machte eine Frau im Dorf aus ihrem Wohnzimmer einen Frisiersalon, und eine weitere Bekannte fertigte regionale Kunstprodukte an. Während Maria langsam die Zuversicht verlor, dass die formelle Wirtschaft ihre Arbeitskraft nachfragen könnte, war sie – unverheiratet, zu Hause mitwohnend – zu einem wichtigen Pfeiler in der Familienökonomie geworden. Selbst ihre verheiratete, lohnarbeitende Schwester in der Großstadt Bratislava unterstützte sie über Nahrungslieferungen aus dem eigenen Garten. Maria erfüllte dies teils mit Stolz, teils mit Zukunftsängsten. Dabei setzte sie immer noch auf Fremdsprachenkenntnisse, die sie aufgrund des Abbruchs ihres ersten Deutschlandaufenthalts nur bruchstückhaft hatte erwerben können. Mit Deutschkenntnissen erhoffte sie sich, wie auch ihre ehemalige Freundin Tanya, einen Vorteil angesichts der starken Konkurrenz von Frauen, die im expandierenden Dienstleistungssektor, in der Gastronomie oder im Tourismus eine Anstellung suchten: „Vor allem die Restaurants“, meinte Maria zu wissen, „wollen die Mädchen aus Deutschland, auch wenn sie nur ein Jahr lang dort waren. Die hier aus der Schule sprechen nicht gut Deutsch.“ Für sie stand fest: „Wenn du eine Sprache weißt, dann bekommst du eine gute Arbeit und eine gute Bezahlung.“ Auch Tanya, die ich ebenso während meiner ersten Reise aufsuchte, war sich sicher: „Fremdsprachen sehen die Besitzer gerne, die nehmen bald keine mehr, die nicht nett zu Touristen sein können.“ Ich war verwundert, dass ‚selbst’ von Verkäuferin-
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nen derartige Qualifikationen erwartet werden. Doch sie beharrte darauf, dass Deutschkenntnisse eine „Voraussetzung für eine Arbeit“ auch im Bereich von Bekleidungsgeschäften darstelle und das nicht nur in touristischen Regionen: „Dann müssen wir Deutsch lernen, das also ist überhaupt eine Bedingung, unbedingt!“ Die Idee, nach Deutschland zu gehen, hatte sie nicht erst nach den schlechten Erfahrungen mit der Arbeitsuche entwickelt. Schon in der Schulzeit habe sie davon geträumt, ins Ausland zu gehen und etwas Neues kennen zu lernen. Dann habe sie letzten Sommer, als sie als Aushilfskraft jobbte, zufällig Maria im Dorf ihrer Eltern getroffen, die ihr von der Vermittlungstätigkeit der Kirche erzählt habe. Von einer anderen Freundin hatte sie noch von zwei weiteren Agenturen erfahren, von denen ihr allerdings abgeraten wurde. So habe ihre Freundin eine „schlechte Familie“ bekommen, die sie nach einem Streit, in dem sie geschlagen wurde, verließ: „Dann habe ich von der guten Möglichkeit erfahren, Au-pair bei der Kirche zu machen, und dann musste ich mich entscheiden, was ich arbeiten möchte, und dann habe ich mich dazu entschieden.“ Diesen Mix aus lang angelegten Grundorientierungen Richtung Ausland, akuter Arbeitslosigkeit und zufälligen Kontakten zu einer Agentur oder Familie haben wir schon bei Magdalena gesehen. Aus eigener Erfahrung wusste Maria jedoch, dass die Frauen, die einmal in Deutschland waren, nur ungern wieder zu den Hungerlöhnen in der Slowakei arbeiten wollten: „Dort arbeiten sie nur fünf Stunden und bekommen 400 Mark Taschengeld. Das ist gut.“ Für dieses Geld müsse man in der Slowakei schon viele Stunden arbeiten. Daher zögen es viele vor, auch ohne Visum nach Deutschland zu gehen. Eine Bekannte, die mit ihr damals als Au-pair in Deutschland gewesen sei, sei wieder dort, allerdings „nicht mit Visum, sondern heimlich“. Organisatorisch sei die „heimliche“ Migration kein Problem, da Zeitungen Anzeigen für Stellen inserierten. Sie selbst wolle dies jedoch nicht machen, da nicht nur der heimliche Grenzübertritt gefährlich sei. Auch wisse man oft nicht, welche Arbeit einen wirklich erwarte. Ich wunderte mich, warum Maria angesichts ihrer Situation nicht versuchte, in Bratislava bei ihrer Schwester eine Arbeit zu finden. Doch das stand ganz außer Frage: „Bratislava ist groß und teuer, Wohnungen sind schwer zu finden, die Mieten sind hoch und das Essen kannst du nicht bezahlen“, entgegnete mir Maria und fing an, die Großstadt Bratislava zu kritisieren. Dabei kam ein weiteres Argumentationsmuster zum Vorschein, das verdeutlichte, warum sie, wie einige andere junge Frauen aus den ländlichen Gegenden auch, auf der Suche nach Arbeit und ein bisschen Glück lieber gleich nach Westeuropa wollten. Das ferne Bratislava galt nicht nur als teuer, sondern auch als eine schlechte Kopie des Westens, wo sich vor allem die gefährlichen Begleiterscheinungen der Westöffnung versammelten wie „Drogen, Kriminalität und Schmutz“, so Maria. Dagegen erschien der Schritt nach Deutschland in eine Familienanstellung weniger riskant. Die Arbeitsstelle „Familie“ versprach Sicherheit und die Haushaltstätigkeiten erschienen als geübte Praxis. Aus diesen Gründen war auch Vesna vor drei Jahren aus einem Dorf in der Mittelslowakei nicht nach Bratislava zur Arbeitssuche gegangen, sondern als Au-pair nach Deutschland gefahren: „Hier wissen alle, in Deutschland gibt es ein besseres Leben, das wissen alle“, gab Vesna das kollektive Wissen wieder: „Das sehen wir und das war schon immer so.“ Und Vesna stieg ein in einen Diskurs über Moderne und
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Tradition wie keine andere der Au-pair-Frauen, die sie jenseits und diesseits des ehemaligen „Eisernen Vorhangs“ verortete. Das „gute Leben“ machte sie dabei vor allem an der Existenz „moderner Sachen“ im Westen fest, die jedoch auch langsam in der Slowakei Einzug hielten: „Solche Sachen gibt es jetzt hier auch langsam, aber vorher gab’s nicht so moderne Sachen. Jetzt gibt es hier zwar langsam alles, doch kostet es dann auch viel Geld und nur wenige können es sich leisten.“ Das Versprechen von modernem Glück schien Vesna vor drei Jahren wesentlich beeinflusst zu haben: „Wir jungen Mädchen haben gedacht, das wird gut, wir sehen viel und verdienen auch noch ein bisschen.“ In Deutschland angekommen sei sie dann in zweifacher Hinsicht sehr überrascht gewesen. Zum einen hätten ihr viele Menschen totales Unwissen entgegengebracht, wenn sie erzählt habe, sie komme aus der Slowakei: „Viele Leute wussten gar nicht, wo die Slowakei ist. Sie fragten mich, ob ich zu Hause einen Fernseher habe oder eine Waschmaschine.“ Noch nachträglich war sie über diese westliche Unkenntnis empört: „Das war sehr überraschend für mich, denn wir sind doch auch in Europa.“ Zum anderen hatte sie in der deutschen Familie mitbekommen, welche sozialen Kosten die modernen Familienverhältnisse produzierten. Die doppelte Berufstätigkeit der Eltern hätten zur Vernachlässigung der Kinder geführt. Sie rationalisierte es folgendermaßen: „Die Kinder waren so böse, weil die Eltern keine Zeit für sie hatten. Da war keine Liebe, die sie sehr gebraucht haben.“ Diese Erscheinungen von Individualisierung und Doppelberufstätigkeit zögen jetzt auch in der Slowakei ein. Auch hier gebe es immer mehr Familie, die keine Zeit für die Kinder hätten: „Jetzt ist alles modern“, beurteilte Vesna die Entwicklungen mit einem kritischen Unterton, während sie zu Anfang „modern“ noch durchweg positiv konnotiert hatte: „Die Kinder sitzen vor dem Fernseher und die Eltern sind viel weg und die Kinder wissen nicht wohin.“ Die anfangs positive Bedeutung von „modern“ und ihre Verortung im Westen schien Vesna zunehmend zu entgleiten und sie wechselte das Thema; sie erzählte, warum sie Au-pair gemacht habe. Dabei sprach sie eine weitere Motivstruktur an, die ich ebenso in dieser Zuspitzung von keiner anderen gehört hatte. So meinte sie, dass Au-pair als Arbeit in einer Familie eine günstige Möglichkeit insbesondere für unverheiratete Frauen sei, die Phase von Arbeitslosigkeit und Nichtstun nach Beendigung der Ausbildung zu überbrücken und eigenes Geld zu verdienen, bis man heirate. Rückblickend betonte Vesna, die eine Krankenschwesterausbildung absolviert hatte, vor allem die große Bedeutung des Geldverdienens, mochte es auch nur um ein Taschengeld von 400 Mark gehen. Für slowakische Verhältnisse sei dies dennoch ein guter Lohn gewesen. Nachdem 400 Mark in Deutschland aber schnell ausgegeben seien, sei sie möglichst viel im Haus der Gasteltern geblieben, um Geld auf die Seite zu legen. Daneben hatte sie auch die Handlungsspielräume in Punkto Freizeitaktivitäten als Freiraum zu schätzen gelernt: „Ich denke immer an Deutschland, doch ein Jahr war dann auch genug.“ ...Inseln des Aufschwungs Dem von meinen Gesprächspartnerinnen immer wieder evozierten Gegensatz zwischen Stadt und Land konnte ich auf meiner Forschungsreise selbst als kulturelle und sozioökonomische Kluft gewahr werden. Dabei ging es mir gemäß dem mittel-
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alterlichen Ausspruch „Stadtluft macht frei“. Von meinen Besuchsfahrten in die Dörfer zurück in Kosice, das sich während der letzten Jahre unter dem alten Bürgermeister und heutigen slowakischen Präsidenten Schuster anschickte, zur heimlichen Hauptstadt zu werden, genoss ich das städtische Treiben. Die großzügige und frisch in Stand gesetzte Fußgängerzone präsentierte sich mir mit ihren Straßencafés und Läden als Einladung zum Bummeln. Die Fremdheit wich, die mich im Sog des düsteren Stimmungsbilds in den Dörfern beschlichen hat. Hier in der Fußgängerzone fühlte ich mich wie „zu Hause“. Mit der Präsentation der Waren und Marken wurde hier das schillernde westeuropäische Vorbild gut in Szene gesetzt. Nur, die Preise waren auch die Gleichen. Ein paar Schuhe konnten gut einen halben Monatslohn eines Lehrers/ einer Lehrerin kosten. Jetzt verstand ich auch, warum mich die Kühlschränke in den großstädtischen Haushalten relativ leer anschauten. Bei meinem Supermarkteinkauf durch die vollen Regale, die alle erdenklichen Markenprodukte enthielten – jedoch oft in halbgroßen Verpackungen – gab ich 500 Kronen aus. Einen derartig teueren Einkauf hätte meine Gastgeberin gerade fünf Mal im Monat tätigen können, dann hätte sie aber noch nicht die Kosten für die Miete und den Strom beglichen. Dennoch bestaunte ich vor allem unter den jüngeren Menschen eine Stilvarianz und Modesicherheit, seien sie elegant gekleidet oder mit den verschiedenen jugendkulturellen Szene-Codes versehen gewesen. Die gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse seit den Wendejahren ließen sich auch im Stadtbild ablesen: Kinder, Erwachsene und ältere Menschen – viele aus der stark diskriminierten Minderheit der Roma (vgl. M. Bútora/ T. Skladony 1998: 41 f.)17 – die, aus der Fußgängerzone vertrieben, mal verschämter, mal aufdringlicher ihre verwelkten Blumen und Äpfel an der Ecke zum Verkauf anpreisen. Daneben machte sich auch in Kosice eine „neue Mittelschicht“ vor allem von jungen, flexiblen DienstleisterInnen und Selbstständigen in der Konsum- und Freizeitkultur bemerkbar. Dazwischen bewegte sich ein breites Spektrum der ex-sozialistischen „Mittelschicht“, die ihren Lebensstandard mit Müh und Not zu halten versuchte. Auch wenn die größeren Städte wie Kosice aufgrund ihrer besseren Infrastruktur(-anbindung) und des wachsenden Dienstleistungssektors Inseln eines relativen Aufschwungs darstellten, machten sich auch hier junge Frauen auf ihren Weg ins westeuropäische Ausland.
17 Über den quer durch alle Schichten durchgehenden Rassismus gegenüber Roma war ich sehr konsterniert. Auch ist die gesellschaftliche Segregation der Roma in der Öffentlichkeit, auf dem Arbeitsmarkt und in Sachen Wohnung, meist außerhalb von Dörfern und Städten in regelrechten Ghettos, sehr offensichtlich. So waren zu meinem Erstaunen in den Überlandbussen die hintersten Plätze für Roma reserviert, woran auch meine kirchliche Begleiterin keinen Anstoß nahm. Dabei funktioniert der rassistische Diskurs ähnlich wie in westlichen Ländern: So werden die Roma zum einen beschuldigt, selbst schuld an ihrer Armut zu sein, da sie nicht arbeiten und nur von staatlichen Sozialleistungen leben wollten. Andererseits wird auch die Konkurrenz zu den ethnischen Minderheiten der Roma und vor allem zu den meist hoch qualifizierten Ungarn auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt bemüht. So schreiben die AutorInnen des Slovakia Report 1998 des Instituts for Public Affairs, welcher die Arbeitslosigkeit von Roma auf 17 Prozent aller Arbeitslosen schätzt: „Romanies also claim that employers favor white applicants, but specific allegations of job discrimination are hard to prove.“ Nachdem auch in der Slowakei die rassistisch motivierte Gewalt gegen Roma in den neunziger Jahren zunahm und wohl auch angesichts der Richtlinien über Minderheitenschutz der Europäischen Union verabschiedete das slowakische Parlament Ende 1996 einen Aktionsplan zur sozialen Integration der Roma (vgl. M. Bútora/ T. Skladony 1998: 42).
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In einem der riesigen Plattenbauviertel, die Kosice in mehreren Ringen umgeben, traf ich Anna zu Hause bei ihrer Familie. Rausgespült mit der Menge anderer Busgäste, die aus der Stadt zurück in die Trabantensiedlung fuhren, suchte ich mit meiner Dolmetscherin über Trampelpfade entlang einiger Kioske den Weg zu ihrem Wohnblock. Zerbrochene Scheiben und abbröckelnder Putz ließ die verschiedenen Wohnblöcke als graue Masse erscheinen, doch innen begrüßte uns Anna in einer frisch geweißten Wohnung. Sie, die jüngste von drei Töchtern, hatte ihre Fachschulausbildung als Konditorin seit einigen Monaten beendet und bereitete seitdem ihre Migration nach Deutschland vor. Trotz ihres geringen Wortschatzes und ihrer anfänglichen Beklommenheit, ob des Interesses an ihrer Person, erzählte sie mit leuchtenden Augen, dass sie etwas Besseres arbeiten und mehr Geld verdienen wolle, als es in ihrem gelernten Beruf möglich sei. Angesichts der Preissteigerungen werde es schwierig, mit dem Einkommen einer Konditorin zu überleben. Darüber hinaus sei es auch eine sehr anstrengende Arbeit. Um einen anderen Beruf ausüben zu können, müsse sie aber eine fremde Sprache erlernen. Wie die anderen jungen Frauen auch ist sich Anna sicher: „Die Firmen suchen immer jemanden mit der Sprache“, sie meinte westeuropäische Sprachkenntnisse, „und wer jetzt keine Sprache weiß, der wird langsam keine Möglichkeit mehr haben, eine Arbeit zu finden.“ Auch ihre Eltern teilten diese Auffassung und unterstützten daher ihren Schritt, nach Deutschland zu gehen: „Weil sie sehen“, begründete Anna, „dass du ohne Sprache hier keinen Beruf mehr findest, dass es ohne Sprache nicht geht, dass es jetzt sehr wichtig ist.“ Anna konnte sich dabei glücklich schätzen, denn beide Eltern hatten noch eine relativ gute Arbeit, ihr Vater als Ingenieur und ihre Mutter als Verkäuferin, und sie legten großen Wert auf eine weiterführende Ausbildung ihrer drei Töchter. Doch sie wusste auch, wie hart und lang ihre Eltern dafür arbeiten müssen, um den Töchtern einen Platz in dem abfahrenden Transformationszug zu ermöglichen. Eine einfache Übersetzung und Konvertierung von Ausbildung in Beruf und vor allem Lebensstandard war unter den Transformationspolitiken nicht mehr möglich. Das hatte Anna bei ihren Eltern erfahren müssen, die nur noch mit Mühe den gewohnten Lebensstandard in der sich neu differenzierenden post-sozialistischen Gesellschaft halten könnten. Dabei nahm das Gespräch eine interessante Wendung, als ich Anna auf ihren TShirt Aufdruck „Rock to Vote“, einen Slogan der zivilgesellschaftlichen Wahlkampagne gegen Meciar 1998, ansprach. Sie erzählte, dass die letzten Wahlen für ihre Familie von sehr großer Bedeutung gewesen seien, denn es „ging um die Abwahl Meciars. Wir wollten etwas Neues, nicht mehr das alte System, das mit Meciar hier war“. Das Meciaristische System hätten ihre Eltern vor allem für die schlechte ökonomische und soziale, aber auch familiäre Entwicklung verantwortlich gemacht. Sie meinte: „Die Nationale Partei Meciars war so eine Art Mafia, da hat man nur schwierig eine Arbeit gefunden, wenn du nicht zu ihnen gehört hast. Sie haben geklaut und kaputt gemacht.“ Die letzten Wahlen haben dann auch für Anna klar den Stadt-Land-Gegensatz als gesellschaftliche Teilung zu Tage gefördert, wobei sie ihre Familie auf der Seite der „Modernisierer“ verortete: „Es gibt so eine Trennung im Land, die niedrig gebildeten Leute aus den Dörfern waren eher für Meciar, die Städte, die jungen und gebildeten Leute gegen ihn.“ Daher habe sie sich, zwar nicht aktiv, doch als Mitläuferin, an der Wahlkampagne der Nicht-Regierungs-Organisa-
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tionen beteiligt. Auch die Familie habe große Erwartungen in die neue Koalitionsregierung gesetzt. Die ersten politischen Handlungen der neuen Regierung – eine rigide Haushalts- und Preispolitik – hatten jedoch auch Anna enttäuscht. Vor allem die Preissteigerungen während des letzten Jahres hätten noch einmal die Abhängigkeit der Kinder von den Haushaltsökonomien und den finanziellen und sozialen Ressourcen der Eltern verstärkt. So wohnte ihre älteste Schwester, obwohl sie schon selbst verdiente, weiter bei der fünfköpfigen Familie. Die Mieten und die Lebenshaltungskosten seien zu hoch, um sich eine eigenständige Existenz aufzubauen. Ihre zweitälteste Schwester, die studiere, lebte ebenso noch zu Hause. Sie überlegte sich jedoch gerade, als Au-pair nach England zu gehen. So meinte Anna nach der Schilderung der Familiensituation zu uns: „Ich freue mich, dass ich jetzt alleine verdiene und meine Eltern mir kein Geld mehr geben müssen, dass ich endlich alleine werde.“ Neben dem Erwerb von zusätzlichem Wissenskapital machte sie im weiteren Gespräch, wie bereits Jirina, den Motivationsaspekt, Selbstständigkeit zu lernen und sich auf die eigene Füße zu stellen, stark. Denn sie wisse, dass nach ihrem Auslandsjahr ein Lebensabschnitt komme, in dem sie derartige Kompetenzen gut brauchen werde: „Dann muss ich alleine die Arbeit erledigen und vielleicht von meinen Eltern wegziehen.“ Als jüngste Tochter in der Familie werde ihr bisher viel abgenommen und sie müsse sich nur um wenig kümmern, doch so ginge es nicht weiter. Auch die Eltern würden dies nicht länger tolerieren. Während des Au-pair-Aufenthalts hoffte sie daher, eine größere Selbstständigkeit zu erlernen. Dass dies der Au-pair-Aufenthalt bestens garantiere, wusste sie von Rückkehrerinnen: „Die Mädchen erzählen alle, dass man da unabhängig wird und auf sich gestellt, und das brauche ich auch.“ Dieses Argumentationsmuster hörte ich später auch noch mal von Iona in Bratislava. Iona war die einzige junge Frau, die ich traf, die sich aus einer Anstellung heraus für ein Au-pair-Jahr in Deutschland bewarb. Sie hatte über soziale Beziehungen einen Arbeitsplatz bei einer Bank bekommen, an der ein deutsches Kreditinstitut beteiligt war: „Es ist besonders gut in dieser Bank, weil eine deutsche Bank einen Anteil an ihr hat und die Deutschkenntnisse für mich nur ein Vorteil sind. Mit einer Fremdsprache kann ich hier gut als Sekretärin arbeiten.“ Doch die Sprachschulen in der Slowakei seien zu schlecht und eine Privatschule in Deutschland zu teuer. So entschied sie sich aus taktischen Überlegungen für Au-pair, obwohl sie die Tätigkeiten als „Dienstmädchen“, wie sie es formulierte, schon im Voraus als „erniedrigend“ empfand: „Dennoch, bei Au-pair kann ich die Sprache lernen und dazu Geld verdienen, anders kann ich es mir nicht leisten.“ Wie Iona hatte sich Anna zunächst über verschiedene Agenturen informiert und war durch ihre kirchliche Anbindung auf die Vermittlungstätigkeiten der Kirche gestoßen. Doch auf die Idee, Au-pair zu machen, hatte Anna bereits eine Lehrerin in der Schule gebracht, die selbst nach ihrem Studium als Au-pair in Deutschland war. Von ihr hatte sie gehört, dass Au-pair eine günstige Möglichkeit sei, die Sprache zu lernen und nebenher noch eigenes Geld zu verdienen. Die Lehrerin habe ihr dann auch einige Adressen von Agenturen gegeben. Nachdem Anna die Werbung der Diakonie gesehen hatte, bewarb sie sich dort schriftlich um eine Stelle. Hier fühle sie sich sicherer als bei den kommerziellen Agenturen, von denen sie von Freundinnen, die bereits in England oder Deutschland waren, schon viel Schlechtes
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gehört habe. Denn als sie in ihrem Freundeskreis bekannt gab, dass sie ein Au-pairJahr machen wolle, habe sie „plötzlich so viele Leute getroffen, die Bekannte hatten oder Freunde, die Au-pair waren, oder sie selbst waren schon“. So habe sie vor allem von Frauen aus England erfahren, dass sie dort als „Dienstmädchen“ behandelt worden seien. Auch aus Österreich kenne sie derartige Vorfälle, wo Frauen den ganzen Tag hätten arbeiten müssen und nichts extra bekommen hätten. Für Deutschland habe sie solche Geschichten jedoch noch nicht zu Ohren bekommen – eine ähnlich schützende Verschiebung der Problematik wie bei Magdalena. Als Erfahrung nahm sie jedoch aus den weitererzählten Geschichten mit: „Man muss Glück mit der Familie haben“, außerdem fügte sie an: „Ich bin bereit, alles zu machen, was sie wollen, und ich hoffe, dass es klappt.“ In dieser Haltung, sich vorher klein zu machen und die Bereitschaft zu signalisieren, den Familien entgegenzukommen, drückt sich wie bei Magdalena die Einschätzung aus, sich mit Nettigkeit einen guten Aufenthalt garantieren zu können. Auch Iona hatte die Vermittlung ihrer Kirche den kommerziellen Agenturen vorgezogen. Denn auf mehrmaliges Nachfragen bei Bekannten, die schon als Au-pair in Westeuropa waren, hätten sie ihr „Schauergeschichten“ von langen Arbeitstagen, sexueller Anmache und körperlicher Gewalt erzählt. Iona ist erbost, dass in den informellen Netzwerken negative Geschichten lange zurückgehalten und ungern erzählt würden. Es sei ein Tabuthema und Au-pair werde gesellschaftlich in die Ecke von Prostitution geschoben. Auch in der Presse habe sie bislang noch keine Informationen darüber gelesen. Vor allem hofften beide, dass die kirchlichen Partnerorganisationen in Deutschland sie unterstützten würden, wenn sie mit der Familie Probleme bekämen. Hoffnung war scheinbar das Einzige, woran sich die zukünftigen Au-pair-Frauen festhalten konnten, denn auch Anna zeigte sich schlecht über ihre Rechte und Pflichten informiert. So hatte sie keine Informationen darüber, dass der Au-pairTätigkeit ein Regelwerk bezüglich Arbeitsstunden und Tätigkeitsprofil zu Grunde liegt. Die Kommunikation mit der kirchlichen Agentur ging bisher auch nur brieflich vonstatten. Sie bekam ein Formular zugeschickt, auf dem sie ihre biografischen Angaben eintragen und ihre Deutschkenntnisse und pädagogischen Qualifikationen einschätzen sollte. Dazu hatte sie einen Bewerbungsbrief auf Deutsch zu schreiben, der der zukünftigen Familie als Entscheidungsgrundlage überstellt wurde. Den Brief hatte sie jemand anderen mit guten Deutschkenntnissen formulieren lassen. Nun bekam sie doch wenige Tage vor Abreise Angst, dass sie den Aufgaben und der Situation in einer fremden Familie nicht gewachsen sei, und drehte den Spieß um. Jetzt war ich es, die Fragen bezüglich der Au-pair-Anstellung und der Situation in der Stadt, in deren Nähe ihre Gastfamilie wohnte, zu beantworten hatte. Vor allem wollte sie wissen, ob und wie sie schnell ihre Sprachkenntnisse verbessern könne. Zum Abschied zeigte sie sich wild entschlossen, die ersten sicherlich schwierigen Wochen durchzustehen, um am Ende mit guten Sprachkenntnissen und um einige Erfahrungen reicher zurückzukehren. Abschließend meinte sie noch einmal zu mir den Motivationsradius erweiternd: „Ich freue mich auf die neue Stadt, neue Erfahrungen, neue Freunde, ja, auf ein neues Leben!“ Die Geschichten und Deutungen von Magdalena und Jirina, Maria, Tanya und Vesna, Anna und Iona zeigen schon, dass ihr Weggang als Au-pair nach Deutsch-
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land nicht eindimensional als Arbeits- oder Bildungsmigration – klassische Typologisierungen der Migrationsforschung – zu verstehen ist. Die Erzählungen der Frauen zeugen alle von einem Motivbündel aus sozio-ökonomischen, geschlechtsspezifischen und kulturellen Motivationen und gesellschaftlichen, familiären und individuell-biografischen Begründungen. Allerdings ziehen sich relativ durchgängig drei Migrationsmotive durch die Erzählungen: Spracherwerb, Geldverdienst und Selbstständigkeit für ein späteres, unabhängiges Leben als berufstätige Frau. Da alle Frauen quer durch die sozialen Schichten mir gegenüber die Hoffnung äußerten, mit Fremdsprachenkenntnissen entweder überhaupt eine Arbeit im expandierenden Dienstleistungssektor oder eine bessere Arbeit und Bezahlung vor allem im ausländischen Firmensektor zu finden bzw. sich hiermit bessere Chancen für ein späteres Studium ausrechneten, wurde ich hellhörig. Der Glaube an das Kultur- und Wissenskapital Fremdsprachenkenntnisse schien auch die Eltern zu motivieren, den Auslandsaufenthalt ihrer Töchter trotz Sorgen aktiv oder passiv zu unterstützten. In dieser Hinsicht scheinen mir „Qualifikation“ und „Geschlecht“ von besonderer Bedeutung im und für den Transformationsprozess zu sein. Hierauf werde ich im Folgenden die Forschung über die Umstrukturierungsprozesse in den osteuropäischen Ländern unter die Lupe nehmen. Ich werde die Forschungsdiskurse über die Umstrukturierungen und Umbrüche in den osteuropäischen Ländern mit besonderem Augenmerk auf die Slowakei und die von den jungen Frauen und ihren Familien beschriebenen Phänomene skizzieren. Dabei werde ich zunächst auf die dominanten sozial- und politikwissenschaftlichen Forschungszugänge und ihre Wechselwirkungen mit politischen Programmatiken gegenüber den Transformationsländern eingehen, auch um die soeben beschriebenen Entwicklungen und Deutungen besser kontextualisieren zu können. 2.4. „Transformation“ als neoliberales Projekt Gate-keeper: „Transformationskonzept“ In Anlehnung an Arjun Appadurais Kritik am kulturanthropologischen „Area Studies“-Ansatz hebt der britische Geograph Alisdair Rogers (2001: 5) die Bedeutung von „gate keeping“ Konzepten für die wissenschaftliche Konstruktion differenter „Kultur-Regionen“ heraus. So entwickelte sich beispielsweise in der Mittelmeerethnologie der „Ehre und Scham“-Komplex zur anerkannten hegemonialen Beobachterperspektive und zentralen Interpretationsfolie für die verschiedenen Länder des Mittelmeerraums. Er diente nicht nur als paradigmatische Klammer, die Region zu typisieren und als kulturell homogene Einheit vorzustellen.18 Er wurde auch zum Hauptinterpretament und zur Zentralperspektive, welche jeglichen analytischen Zugang bestimmte. Folglich wurde der „Ehre und Scham-Komplex“, wie Alisdair 18 Arjun Appadurai sieht folgende Problematiken in dem Area-Studies Ansatz immanent enthalten: „However sophisticated these approaches, they all tend to see ‘areas’ as relatively immobile aggregates of traits, with more or less durable historical boundaries and with a unity composed of more or less enduring properties. (…) Put more simply, the large regions that dominate our current maps for area studies are not permanent geographical facts” (2000:7).
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Rogers bemerkt, zum Repräsentanten für die Mittelmeerregion schlechthin. Für die südostasiatische Region können wir sehen, wie das Konzept der „Kaste“ zum Torhüter ethnologischen Forschens und Denkens über Südostasien wurde. Meiner Ansicht nach trifft diese konzeptuelle Vorgehensweise auf die gesamte sozialwissenschaftliche Wissenschaftspraxis zu. In diesem Sinne ist die Wissensgeografie der Welt als Produkt konzeptueller Praxen und in den westlichen Wissenschaftslandschaften verankerter, historisch gewachsener, hegemonialer Blicke zu verstehen (vgl. A. Appadurai 2000: 6 ff.).19 Für die mittelost- und osteuropäischen Länder hat sich in dieser Hinsicht in den letzten zehn Jahren postsozialistischer Wissensordnung das Konzept der „Transformation“ oder „Transition“ zum hegemonialen Torhüter entwickelt (vgl. P. Niedermüller 2000: 294 f.; L. Kürti 1997). Vor allem unter der Dominanz der soziologischen, politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Osteuropaforschung, die in ihrer Funktion als Politikberatung konkurrenzlos blieb, hat das meist modernisierungstheoretisch fundierte Konzept Deutungsmacht über die Umbruchprozesse seit den Wendejahren Ende der Achtziger des letzten Jahrhunderts errungen. Dabei homogenisiert es nicht nur die kulturell, ökonomisch und politisch unterschiedliche Geschichte der nordost-, mittelost-, ost- und südosteuropäischen Länder und konstruiert einen Raum „Osteuropa in der Transformation“. Es formiert auch eine spezifische Perspektive auf die Umstrukturierungsprozesse. Dabei rücken ganz bestimmte Entwicklungen und AkteurInnen als legitime TransformationsagentInnen in den Blick, während eine Vielzahl anderer Phänomene und AkteurInnen verkannt und entnannt werden. Am Beispiel des Sprechens und Forschens über die Länder des Südens hat uns die postkoloniale Theorie gelehrt, dass derartige Auslassungen als „strategisches Schweigen“ zu verstehen sind. In derartigen Beobachtungs-Operationen artikulieren sich Machtansprüche, die wirkmächtige Ein- und Ausschlüsse begründen (vgl. E. Gutiérrez Rodríguez 2001: 37 ff.; G. Spivak 1990). Bevor ich im Weiteren die Forschungslandschaft unseres Fächerverbunds skizziere, werde ich zunächst die politik- und sozialwissenschaftliche Transformationsforschung zum osteuropäischen Raum auf derartige strategische Auslassungen befragen. Dabei geht es mir nicht darum, die jeweiligen Arbeiten in ihren Einzelheiten zu diskutieren. Vielmehr werde ich die transformationstheoretischen Ansätze als spezifische Diskurse analysieren und sie auf ihre impliziten Normen und programmatischen Annahmen hin befragen, d.h. untersuchen, inwieweit sie Teil eines bestimmten diskursiven Horizonts sind, der sich auch in politischen Programmatiken und historisch sedimentiertem Alltagswissen über den Osten Europas wiederfinden 19 So analysiert auch Larry Wolff die Konstruktion der Idee „Osteuropa“ als einen intellektuellen und wissenschaftlichen Vorgang, in dem vor allem Philosophen während des 18. Jahrhundert die kulturelle bzw. mentale Landkarte Europas neu zeichneten. Während in der Renaissance die Teilung Europas noch als Nord-Süd-Gegensatz konstruiert wurde, wobei das geistig-intellektuelle Zentrum im Süden, insbesondere Italien, verortet wurde und der Norden als das Land der Barbaren galt, verschob sich mit der Aufklärung die Blickrichtung in eine West-Ost-Achse. Wolff zufolge inthronisierten westeuropäische Aufklärer „den Westen“ als neues Zentrum der Entwicklung und des Fortschritts. Als „rückständig“ galt fortan nicht mehr der „Norden“, sondern der „Osten“. Dieses Projekt der konzeptionellen „Neuausrichtung“ Europas in einen fortschrittlichen, modernen, zivilisierten Westen und einen rückständigen, vormodernen Osten bezeichnet Larry Wolff als „philosophische Geographie“, womit er den kulturalistischen Konstruktionsmechanismus der Einteilung der Welt in distinkte Regionen hervorheben will (1995: 4 ff.).
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lässt. Besonders die politologische und sozialwissenschaftliche Transformationsforschung scheint mir dabei nicht nur eine besondere Affinität und Nähe zu den politökonomischen Restrukturierungsprogrammen zentraler AkteurInnen wie der Europäische Union aufzuweisen und ihnen die nötigen Perspektiven, Kategorien und Zahlenreihen zu liefern, sondern selbst zur sozialen Akteurin der gegenwärtig errichteten neokolonialen Wissensordnung „Osteuropa in der Transformation“ zu werden (vgl. J. Böröcz 2003). In diesem Sinne interessiert mich im Folgenden, wie sich die unterschiedlichen Diskurstypen stützen und ineinander greifen und jene Wissensordnung mit sehr materiellen Effekten hervorbringen. Wolf im Schafspelz: Transformationsforschung als (neoliberale) Modernisierung Im Zuge des Zusammenbruchs der sozialistischen Systeme des „Warschauer Paktes“ und den darauf folgenden, teilweise gewaltförmigen Umstrukturierungsprozessen eilten nicht nur PolitikerInnen westlicher Länder und ExpertInnen von internationalen Organisationen wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung20 in die osteuropäischen Staaten. Sie wurden begleitet von einer wachsenden Zahl von ÖkonomInnen, JuristInnen, Politik-, Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen, die die Umbruchprozesse in Statistiken aufzubereiten und die gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen Bedingungen für Reformen und Stabilisierung zu erschließen versuch(t)en (vgl. L. Kürti 1997: 30). Auch vor Ort entstanden aus dem anfänglichen Mangel an „unabhängigen“ Daten und der großen politischen Nachfrage nach Prognosen kleinere und größere Forschungseinrichtungen im zivilgesellschaftlichen Sektor, wie 1997 das Institute of Public Affairs (IVO) in der Slowakei. Dabei scheint die Richtung der Prozesse für west- und osteuropäische ExpertInnen schnell klar gewesen zu sein. Es schien um eine „Transformation“ hin zu einer liberalen Demokratie und freien Marktwirtschaft zu gehen, die als „Rückkehr nach Europa“ und Integration in die westliche, „europäische“ Werte- und Kulturgemeinschaft definiert wurde. Modernisierungstheoretische Konzepte von „nachholender“ bzw. „einholender“ Entwicklung und gesellschaftlichem Wandel, die in den sechziger und siebziger Jahren schon einmal einer kritischen Sichtung von Seiten der Dependenztheorie unterzogen und angesichts der zunehmenden Krisenerscheinungen der kapitalistischen Naturaneignung und der Verschuldungskrise der sog. Entwicklungsländer im Süden als zumindest problematisch erklärt wurden, wurden wieder als Interpretationsfolie hervorgeholt. Jedoch scheint der politologische, ökonomische und soziologische Mainstream seinen einstigen Leitbegriffen selbst nicht mehr treu zu sein und wesentliche Paradigmen und Leitvorstellungen der klassischen soziologischen Modernisierungstheorie entsorgt zu haben, die als umfassende Theorie der „Gesamtgesellschaft“ im Kontext der rasanten Nachkriegsmodernisierung der westlichen Gesellschaften entstand (vgl. T. Parsons 1966: 9). Auf diesen feinen, doch entscheidenden Unterschied zwischen klassischer Modernisierungstheorie und ihrer reduzierten Neuauf20 Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) wurde 1991 von den EU-Staaten speziell für die Unterstützung der Reformprozesse in den osteuropäischen Staaten durch Kredite und Know-how gegründet.
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nahme und selektiven Anwendung in Bezug auf die osteuropäischen Transformationen weist Klaus Müller, Sozialwissenschaftler und Osteuropaforscher, in seiner Analyse des Forschungsfeldes hin. Unter der Dominanz neoklassischer, neoliberaler Reformkonzepte, die den gesamtgesellschaftlichen Wandel auf die „Selbstorganisation“ entfesselter Marktkräfte und darauf zugeschnittener Institutionen reduzieren, kann von nachholender Entwicklung im Sinne des klassischen Modernisierungsmodells nicht mehr die Rede sein. Das Versprechen auf gesamtgesellschaftliche Entwicklung, das dieses Modell noch implizierte, wird in neoliberalen Ansätzen zugunsten einer einseitigen wirtschaftlichen Liberalisierung und eines „minimalistischen Staates“ gerade aufgegeben. Nach Klaus Müller vernachlässige die „neoliberalistische Reformideologie“, in der sich Politik mit sozialwissenschaftlichen sowie polit-ökonomischen Standardtheorien treffe, zentrale Leitvorstellungen der klassischen Modernisierungstheorie wie etwa die der Notwendigkeit einer regulierten Ökonomie und politischen Steuerung, d.h. die Notwendigkeit von institutionellen Reformen beispielsweise im Bildungs- oder Infrastrukturbereich und einer redistributiven Sozialpolitik. Beide Aspekte hätten gerade zu dem „Wirtschaftswunder“ und den diesem zugrundeliegenden keynesianistischen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements der westlichen Industriestaaten geführt (vgl. K. Müller 1998: 181/ 227 ff.). Auch werde der veränderte weltpolitische Kontext zum Ende des 20. Jahrhunderts, der von Globalisierung und einer „offenen Weltmarktkonkurrenz“ gekennzeichnet ist, von den neoliberalen Reformkonzepten nicht als Schwierigkeit der Transformationsprozesse in den osteuropäischen Ländern berücksichtigt. Diese, von Klaus Müller kritisierte „neoliberalistische Reformideologie“ bezeichne ich als „neoliberale Modernisierungstheorie“. Denn auch wenn sie von regulativen Ansätzen, die die klassische Modernisierungstheorie noch beinhaltete, entschlackt ist, operiert sie weiterhin mit normativen Konzepten des modernisierungstheoretischen Diskurses. So werden weiterhin die in den westlichen Gesellschaften herausgebildeten institutionellen Differenzierungen und normativen Modelle wie „liberale Demokratie“ auf die osteuropäischen Transformationsländer übertragen und zum Maßstab der Entwicklung gemacht. Ein solcher eurozentrischer Blick ist jedoch auch in politik- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen zu finden, die weniger neoliberal argumentieren wie etwa der von Klaus Müller selbst vertretene „Neo-Modernisierungsansatz“. So propagiert Müller (1998) eine „konflikttheoretische Variante der Modernisierungstheorie“, die die Kritik am unilinearen Fortschrittsgedanken der klassischen Modernisierungstheorie einbeziehe. Die Transformationen müssten als ein multifaktorieller und kontingenter Prozess analysiert werden, der nicht unbedingt in Modernität münde. Diese Perspektive setzt dem Primat der Ökonomie des neoliberalen Modernisierungsdiskurses vor allem das Primat institutioneller Reformen und politischer Steuerung der Transformationsprozesse im Sinne eines Neo-Keynesianismus entgegen. Diese entstünden, so die Annahme, nicht automatisch, quasi im Schlepptau der Marktreformen, wie der neoliberale Ansatz funktionalistisch behauptet, sondern seien durch politische Aushandlungsprozesse und soziale Normen vermittelt, die verstärkt in den Blick zu nehmen seien (vgl. K. Müller 1998: 182f./ 204 ff.; ders. 1997; E. Tiryakian 1998: 31 ff.; V. Jalusic 1998: 463 ff.; P. Niedermüller 2000: 300).
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Doch basiert meines Erachtens auch diese abgeschwächte Form der Modernisierungsperspektive auf problematischen normativen Konzepten und Analyserastern. Obwohl in den meisten dieser Arbeiten die Vieldimensionalität der Umbruchprozesse in den Einführungen als große Herausforderung der Theoriebildung beschrieben wird, werden die Entwicklungen im Folgenden zumeist doch auf einen makrostrukturellen Systemwandel – sprich auf Institutionalisierung, Formalisierung, Verrechtlichung ökonomischer und politischer Strukturen und Verhaltensweisen – reduziert. Auch werden aus der anfangs problematisierten Gleichzeitigkeit von Demokratisierung, ökonomischer Liberalisierung und sozialer Restrukturierung dann doch einzelne Elemente prioritär gesetzt. Im Sinne des Konzepts der „nachholenden Modernisierung“ werden in beiden hier skizzierten modernisierungstheoretischen Ansätzen Pfade beschrieben und Stufenleitern des Entwicklungsstandes ausgelegt – mit all ihren normativen Setzung bezüglich des zu erreichenden neuen Zustands und ihren spiegelbildlichen Bedeutungszuschreibungen und Wertungen des Alten. Dabei entsprechen die makroökonomischen Kriterien, auf die derartige quantifizierende Analysen21 strukturell zurückgreifen müssen, den Maßeinheiten zur Messung des Entwicklungsfortschritts, welche maßgebliche politische AkteurInnen im Transformationsgeschehen wie die Europäische Union anlegen und in harten Währungen entgelten. Angesichts einer dramatischen Auslandsverschuldung der osteuropäischen Transformationsstaaten und eines steigenden Finanzierungsbedarfs für den Ausbau der Infrastruktur ist ihre Abhängigkeit von den Bewertungen durch internationale Organisationen wie der Weltbank oder der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung groß (vgl. L. Kürti 1997: 36; K. Müller 1998: 201 f.). Auch Klaus Müller (1998: 185) sieht den Einfluss der sogenannten Geberorganisationen, den er folgendermaßen beschreibt: „Der IMF, die Weltbank und die 1991 gegründete Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung üben mit den an ihre Kredite geknüpften Konditionalitäten direkten Einfluss auf die osteuropäische Reformpolitik aus.“ Darüber hinaus hat die Europäische Union mit ihrem 1993 ausgesprochenen Erweiterungsversprechen und ihren 1998 aufgenommenen Beitrittsverhandlungen einen weiteren Preis für „good governance“22 ausgeschrieben und ein RankingSystem für die Erfüllung der von ihr festgeschriebenen Transformationsleistungen eingeführt. Insbesondere mit den „Kopenhagener Kriterien“, ein aus 31 Kapiteln und 20.000 Gesetzeswerken bestehender Rechtsbestand, der noch über den „acquis communautaire“ hinausgeht und nicht verhandelbar ist, hat die EU gewichtigen Einfluss auf den von den osteuropäischen Beitrittsländern einzuschlagenen Entwicklungsweg genommen (vgl. D. Bohle 2002: 353-376). So sind die osteuropäischen Transformationsländer Estland, Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn (Zypern und Malta sind ebenfalls dabei), deren ökonomische Makrostrukturdaten 21 Ein gutes Beispiel ist hier die Analyse der postsozialistischen Krisen von Klaus Müller selbst, in der er die „Krisen“ lediglich aus makroökonomischen Strukturdaten exploriert. 22 Nicht allein die Europäische Union knüpft den Beitritt der osteuropäischen Länder an demokratische Reformen und ihre Institutionalisierung. Der Terminus „good governance“ ist schon Ende der 80er Jahre im Kontext der Kreditvergabe der Weltbank als Konditionalität entstanden. Auch der IWF hat seine Konditionalitäten 1997 um politische Auflagen erweitert (vgl. K. Müller 1998: 239 f.).
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den festgesetzten Kriterien entsprachen, 1998 in die erste Beitrittsrunde aufgenommen worden. Während des EU-Gipfels in Helsinki 1999 wurden dann die Slowakei und die baltischen Staaten Lettland und Litauen in die Beitrittsverhandlungen integriert.23 Bis dahin hatten die EU und einzelne westeuropäische Staaten vor allem über bilaterale Assoziierungsabkommen und EU-Strukturprogramme Einfluss auf die Umstrukturierungsprozesse der postsozialistischen Länder ausgeübt, in deren Zentrum Maßnahmen zur Handels- und Marktliberalisierung standen (vgl. ebd.: 360). Diese Politik der bilateralen und differenzierten Behandlung setze sich, so Dorothee Bohle, Politikwissenschaftlerin an der Central European University in Budapest, auch in den Beitrittsverhandlungen gemäß dem Ranking-System fort. Laut dem Kulturanthropologen Laszlo Kürti (1997: 36) produzierte dieses Vorgehen ein „race to restructure“ zwischen den Kandidatenländern und setzte die Länder gegenseitig in Konkurrenz um beste Bewertungsnoten. Neben der Machtasymmetrie und der Abhängigkeit der osteuropäischen Beitrittskandidaten von der Bewertung ihrer Entwicklungsprozesse durch die Europäischen Union arbeitet Dorothee Bohle (2002: 357) ein weiteres Strukturmerkmal der EUErweiterungspolitik heraus, das der Rationalität der neoliberalen Modernisierungstheorien hundertprozentig folgt: Während der neoliberale Umbau der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion durch redistributive Politiken wie Subventionszahlungen und Strukturfonds abgefedert wurde und weiterhin wird, beruhe die Einbindung der osteuropäischen Länder auf einer selektiven Übertragung des „europäischen Modells“ in einer „viel ‚marktradikaleren’ Variante des Neoliberalismus“. So würden Deregulierungspolitiken auf die osteuropäischen Staaten ausgedehnt, redistributive Elemente hingegen zurückgeschraubt. Ein Beispiel hierfür sei die weitgehende Zurückhaltung hinsichtlich finanzieller Transferleistungen für die osteuropäische Agrarwirtschaft. Bohle (ebd.: 363) kommt zu folgendem Schluss: „Insgesamt ist es der EU über die 1990er Jahre mittels einer Mischung von Peitsche (Macht und Konditionalität) und Zuckerbrot (Mitgliedschaftsperspektive) gelungen, die osteuropäischen Transformationsprozesse in wachsendem Maße zu beeinflussen.“ In diesem Sinne forcieren die differenzierten und selektiven EUBeitrittspolitiken nicht nur eine peripherisierende Integration der osteuropäischen Staaten in die EU, sie erzeugt auch neue Hierarchisierungsprozesse im osteuropäischen Raum. Dies sind nur einige zentrale Beispiele für den engen „programmatischen“ Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen Konzeptionen der nachholenden Moderni23 Die EU-Erweiterung ist seit Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der politischen Diskussion und Vorbereitung. Schon im Europäischen Abkommen im Dezember 1991 wurden Polen, Ungarn und die damalige Tschechoslowakei zum „ersten Kreis“ der EU-Erweiterung bestimmt. 1994 haben Polen und Ungarn offiziell die Aufnahme in der EU beantragt. Während des Madrider Gipfels im Dezember 1996 wurde dann von der EU die Absicht zur Einleitung von Aufnahmeverhandlungen ab 1998 bekräftigt. Nach den Maastrichter-Kriterien 1992 und dem Amsterdamer-Vertrag 1997, mit denen sich die EU strukturell und politisch für die Erweiterung „fit“ machen wollte, wurden im November 1998 die Aufnahmegespräche mit den ersten sechs der mittlerweile 12 Beitrittskandidaten begonnen. Seitdem prüft die Europäische Kommission jährlich, inwieweit die Beitrittskandidaten Fortschritte hinsichtlich der Umsetzung des acquis gemacht haben. 2004 wurden die Kandidaten offiziell in die Europäische Union mit einer Reihe von Übergangs- und Ausnahmeregelungen aufgenommen, wie beispielsweise mit der Aussetzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die nächsten sieben Jahre durch die meisten alten EU-Mitgliedsstaaten.
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sierung und politischen Entscheidungsprozessen, wie sie etwa von der Weltbank, dem IWF oder dem acquis communautaire der EU verfolgt werden. So scheinen sich neoliberale modernisierungstheoretische Analyseansätze nahezu direkt in politische Programmatiken übersetzen zu lassen.24 Hierauf weist auch die Politikwissenschaftlerin Vlasta Jalusic (1998: 464) hin. Sie meint, dass die sich als Modernisierungstheorie konstituierende sozialwissenschaftliche Transformationsforschung als „handelnde Wissenschaft“ selbst zur „sozialen Praxis“ wird und aktiv die Prozesse und Eliten mitgestaltet, die sie lediglich zu analysieren vorgibt. Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Umstrukturierungsprozessen in Osteuropa nicht „neutral“ ist, zeigt sich auch bei ihren Antworten auf die Frage, wer die AkteurInnen der Modernisierung sind bzw. sein sollten. Dabei wird das Akteursprofil wie folgt beschrieben: Gesucht wird nach individualisierten, „rational“ operierenden, „risikobereiten“, doch rechtsstaatlich orientierten und „sozial verantwortlich“ handelnden wirtschaftlichen Subjekten, die in den nationalen Eliten vermutet werden. Dabei sind zwei Aspekte interessant. Erstens sind die Anrufungen und Anforderungen an die Transformationssubjekte durch und durch männlich konnotierte Eigenschaften. Folglich wundert es nicht, dass Frauen als Trägerinnen der Transformationsprozesse in den meisten Forschungen vernachlässigt werden. Zweitens fällt auf, wie die stark makrostrukturell orientierten Modernisierungsansätze – meist ohne es zu explizieren – kulturalistisch argumentieren, als ob die makroökonomischen Eckdaten die Entwicklungsprozesse eben doch nicht völlig erklären könnten. Dabei baut diese letztinstanzlich auf „Kultur“ als Erklärungsmuster zurückgreifende Argumentation zum einen auf einen stark verengten, statischen und traditionellen Kulturbegriff auf. Gemeint sind „historisch gewachsene Verhaltensschemata und Normen- und Wertesysteme“ (vgl. u.a. K. Müller1998: 179). Zum anderen wird meist in einem spezifischen Argumentationszusammenhang auf kulturelle Faktoren verwiesen, nämlich dann, wenn es um die Erklärung des Scheiterns des vorgesehenen Entwicklungswegs geht. Der Kulturbegriff wird in diesem Sinne auf persistente Verhaltensmuster reduziert und erscheint als Modernisierungsblockade. Und genau an diesem Punkt sind die als differenzierte Neuauflage der Modernisierungstheorie sich konstituierenden Neo-Modernisierungsansätze nach Klaus Müller selbst tief verstrickt in dem, wie ich es nennen würde, modernisierungstheoretischen Kulturalismus, was ich im Folgenden zeigen werde. Modernisierung als Fortführung des „backwardness project“ Klaus Müller und Edward A. Tiryakian betrachten beide explizit „Einstellungen und Dispositionen (oder Mentalitäten)“ als bedeutende Variablen im Modernisierungs24 Klaus Müller leitet die unhinterfragte Übertragung der Strukturanpassungsprogramme, die für die Länder des Südens gut zehn Jahren zuvor entwickelt wurden, auf die osteuropäischen Transformationsländer auch aus der Dominanz der neoliberalen wissenschaftlichen Konzepte im Transformationsdiskurs ab, die „den Platz einer soziologischen Theorie des osteuropäischen Wandels besetzt halten. (...) Zuständig für die osteuropäischen Transformationen sind demnach schlicht die in aller Welt zur Anwendung gebrachten Strukturanpassungsprogramme, ordnungspolitisch flankiert durch den Transfer eigentumsrechtlicher und rechtsstaatlicher Institutionen“ (1997: 17).
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prozess, was zunächst aus einer kulturanthropologischen Perspektive schlüssig klingt. Auch betonen sie, dass das „sozialpsychologische Bündel“ sowohl Modernisierung erleichtern als auch beeinträchtigen kann und kulturelle Kontinuitäten nicht gleich als „Antimodernität“ zu verstehen seien (vgl. E. Tiryakian 1998: 35 f.; K. Müller 1998: 179). In diesem Sinne kritisiert auch Klaus Müller die neoliberalen Ansätze, Blockaden des Transformationsprozesses auf „zivilisatorische Inkompetenzen” und „passive Versorgungsmentalitäten” zurückzuführen (1997: 50 f.). So weit, so gut. Doch scheinen auch in den Arbeiten dieser Autoren in der westlichen Moderne tief verankerte normative Vorstellungen von Modernisierung und antikommunistische Reflexe durch. So schreibt Tiryakian (1998: 45): „Ein anderes großes Problem oder Hindernis der Modernisierung liegt darin, jene kollektiven Mentalitäten abzubauen, die durch Generationen einer de facto autokratischen, obrigkeitsstaatlichen Herrschaft genährt worden sind.“ Tiryakian nennt hier vor allem die „geförderten Mentalitäten des Sicherheitsstrebens und der Risikovermeidung“. Gleichzeitig konstatiert er einen „großen Mangel“ im „Fehlen jener sozial verantwortlichen Unternehmer, die einen wesentlichen Aspekt der Modernisierung bilden“ (ebd.). Diesen Mangel führt er auch auf die „Ideologie des Kollektivismus“ zurück, der „Individualität“ sanktionierte und „den Nutzen von Profitstreben und unternehmerischem Engagement und Verdienst“ degradierte (ebd.: 46). Diese Ausführungen münden schließlich in das lehrmeisterliche Resümee: „Aber eine Werthaltung, die sich zum Vorteil des ganzen Landes für wirtschaftliche Neuerung engagiert und nicht lediglich mit dem Ziel des persönlichen Gewinns und eines aufwendigen Lebensstils, muss ihnen noch beigebracht werden“ (ebd.: 47). Die Wertungen in solchen „Analysen“ sind eindeutig: „Mentalitäten des Sicherheitsstrebens“, „kollektive Orientierungen“ und falsch verstandene „soziale Gleichheit“, welche auf die Kommandowirtschaft des Sozialismus zurückgeführt werden, gelten ModernisierungstheoretikerInnen als Ausdruck von irrationalen Beharrungstendenzen, als vor-moderne und defizitäre Muster, die im Sinne des vorgezeichneten Modernisierungsverlaufs zu überwinden seien. Die Persistenz-Perspektive, wesentlich Kontinuitäten im Wandel anzunehmen und zu erforschen, ist jedoch auch ein zentraler und prominenter Forschungsansatz der Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie. In dieser Hinsicht scheinen sich soziologische, politikwissenschaftliche und kulturanthropologische Ansätze trotz ihrer proklamierten gegensätzlichen disziplinären Ausrichtung bestens zu ergänzen und eine unausgesprochene Arbeitsteilung zu praktizieren. Während sich kulturanthropologische Forschungen auf einer argumentativen Ebene von Makrostrukturanalysen wie etwa der Modernisierungstheorie abgrenzen, produzieren sie doch gerade in ihrem spezifischen mirkoanalytischen, ethnografischen Forschungsfokus ein kulturelles Wissen mit, das anschlussfähig ist an einen modernisierungstheoretischen Kulturalismus. So gelangen der Kulturanthropologe Christian Giordano aus Fribourg in der Schweiz und die bulgarische Kulturanthropologin Dobrinka Kostova (1997) in ihrer Analyse des Agrarreformprozesses in Bulgarien zu der Feststellung, dass in den Umstrukturierungsprozessen Kontinuitäten aus der sozialistischen Ära überwiegen. So argumentieren sie, dass die neuen Eliten die alten blieben. Die Lokalnomenklatura des alten Systems hätten heute auch wieder die Monopolstellung inne – eine
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Feststellung, die in vielen osteuropäischen Ländern in unterschiedlichen Ausmaßen zutreffend ist (wobei immer unterschlagen wird, dass auch der deutsche Wiederaufbau nach 1945 vor allem mit FunktionsträgerInnen des NS-Systems bewerkstelligt wurde). Auffällig ist, dass sich Giordano und Kostova zwar einerseits von soziologischen Modernisierungstheorien distanzieren, sie andererseits aber selbst in deren Wertmaßstäben verhaftet zu sein scheinen. So beschreiben sie die Mitglieder der neuen Elitegruppen zwar als „aktiv und initiativreich“, also ganz und gar nicht verfangen in kontinuierlicher Risikovermeidung, doch letztlich auch als „schlechte Kapitalisten“: „Die arendatori bilden im Moment die Wirtschaftselite auf dem Lande und lassen sich durch ihre meist aggressive, oft skrupellose sowie rein profitorientierte ‚Wirtschaftsethik’ charakterisieren.“ (ebd.: 128 f.). Der slowakische Kulturwissenschaftler Jurja Podoba (1998: 291) führt die Probleme der Transformationsprozesse explizit auf den Konflikt zwischen „Modernismus und Traditionalismus“ zurück. So beklagt Podoba das Fehlen individueller und marktwirtschaftlicher Strategien sowie das Festhalten an gewachsenen sozialen Netzwerken als überkommenes Erbe des Sozialismus, das einer erfolgreichen Modernisierung im Wege stehe: „Ausdruck der sozialen Dimension der überwiegend nationalen Mentalität ist vor allem das starke Bewußtsein der sozialen Solidarität, die vom Paternalismus des sozialistischen Staates und völligen Fehlen einer individualistisch fundierten Lebensphilosophie mit einem hypertrophierten Wert der sozialen Gleichheit. Das Ergebnis ist der Widerstand gegen alles, was die Konstanten der Lebensstereotype des normalen Menschen bedroht (...) und die Unfähigkeit, offensivere Lebensstrategien zu entwickeln“ (ebd.: 294).
Damit wertet er nicht nur die während der sozialistischen Planwirtschaft in den sozialen Netzwerken entwickelten Überlebenstechniken ab, die heute weiterhin überlebenswichtig sind. Auch AkteurInnen, wie die von mir interviewten jungen Frauen und ihre Eltern, die offensiv eigene Bewältigungsstrategien entwickelt haben, haben in diesem Blickregime keinen Platz. Analysen des historischen Konstruktionsprozesses der Idee „Osteuropa“ zeigen, dass der modernisierungstheoretische Kulturalismus hierbei auf wohletablierte Zuschreibungen und Images zurückgreifen und aufbauen kann, die eine lange Tradition in den westlichen Diskursen und Selbstbildern haben. So schreibt Tiryakian (1998: 43) ohne den zugrundeliegenden Konstruktionsprozess zu thematisieren: „Osteuropa (...) bildet als historische und kulturelle Region eine doppelte Peripherie. Historisch gesehen, steckte es den Randbereich zweier Zivilisationen ab: des imperialen Moskaus und des Osmanischen Reichs. Aber es war zugleich die Peripherie der uns vertrauten westlichen Zivilisation.“ Die auf historische Konstrukte aus zwei Jahrhunderten zurückgreifenden Dichotomisierungen, die auch in öffentlichen Diskursen und medialen Inszenierungen über Osteuropa hierzulande tief eingeschrieben sind, stellen – wie soeben dargestellt – das kulturelle Rückgrat der Modernisierungsansätze dar. Gängige Gegenüberstellungen sind: Individualismus hier, Kollektivismus dort; Wandel hier, Persistenz dort; mobile Gesellschaften hier, statische dort; Urbanität hier, unverbrauchte Natur dort (vgl. K. Salein 2003). Dabei kann Larry Wolff (1995) zeigen, dass bereits in der Etablierungsphase im 18. Jahrhundert Aufklärer wie Voltaire und Herder die Idee „Osteuropa“ aufs Engste mit dem Gegensatzpaar westliche „Zivilisation“ und östliche „Rückständigkeit“
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verkoppelt hatten. Seiner These nach benötigte Westeuropa, das sich als Hort von Aufklärung, Zivilisation und Moderne verstand, zu dieser Selbstdefinition ein komplementäres Gegenüber, welches u.a. in „Osteuropa“ gefunden wurde. Dabei wurde „Osteuropa“ vor allem mittels des Diskurses der Rückständigkeit als homogenes Gegenüber konstruiert. Die „Rückständigkeit“ wurde jedoch weniger in harten ökonomischen Kategorien vermessen, sondern kulturell begründet (vgl. ebd.: 8 f.; vgl. auch L. Kürti 1997: 31 ff.). Wolff fasst diese intellektuelle Operation, welche als Macht-Wissens-Regime im Sinne von Foucault zu deuten ist, folgendermaßen zusammen: „It was also the Enlightenment, with its intellectuel centres in Western Europe, that cultivated and appropriated to itself the new notion of ‚civilization’, an eighteenth century neologism, and civilization discovered its complement, within the same continent, in shadowed lands of backwardness. Such was the invention of Eastern Europe”(ebd.: 4)
Dabei wurde Osteuropa zwar als asiatisch und orientalisch in Ausdrücken wie „l’orient de l`Europe“ bezeichnet. Gleichzeitig jedoch wurde ihm in der neu konstituierten „philosophischen Geographie der Welt“ eine Zwischen- und Vermittlungsposition zwischen dem „Europa der Moderne“ und dem „Orient“ zugeschrieben, dessen Konstruktionsgeschichte Edward Said als Orientalismus beschreibt. Osteuropa war innerhalb Europas, „but not fully European“. In diesem Sinne wurden ihm auch Entwicklungspotenziale entlang der vorgezeichneten Fortschrittswege zugestanden (vgl. ebd.: 9). So ähneln sich Wolff zufolge die Konstruktionsgeschichte „Osteuropas“ und die des „Orients“, allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: „Eastern Europe defined Western Europe by contrast, as the Orient defined the Occident, but was also made to mediate between Europe and Orient. One might describe the invention of Eastern Europe as an intellectual project of demi-Orientalization” (ebd.: 7). Der Topos der Rückständigkeit, so kann auch Laszlo Kürti (1997: 34 f.) in seiner Analyse der „backwardness literature“ der vergangenen zwei Jahrhunderte zeigen, stellte auch während der Blockkonfrontation eine wesentliche Metaphorik für die Bewertung des Sozialismus dar, welcher höchstens als partielle Modernisierung verstanden wurde. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Variante von Modernisierung scheint die Ikonographie des „modernen“ Westens’ und des „rückständigen Ostens“ zum entscheidenden Maßstab der Selbst- und Fremdpositionierung im Ost-West-Verhältnis geworden zu sein. In Anlehnung an Edward Saids Orientalismus bezeichnet die Sprachwissenschaftlerin Maria Todorova (1994) den Rückständigkeitsdiskurs als „Balkanismus“, als „orientalist variation project for the Balkans“. Auch Larry Wolff schreibt (1995: 9) über den Rekurs der „Rückständigkeit“, der sich in der modernisierungstheoretischen Lesart der osteuropäischen Transformationsgeschichten zu bewahrheiten scheint: „The revolution of 1989 has certainly dramatized the issue of ‘backwardness’ in Eastern Europe (...) The recourse to expert advice and economic assistance from abroad will certainly be construed as the ultimate vindication of our own economic success and the backwardness of Eastern Europe (...) In the Europe of the 1990s Eastern Europe will continue to occupy an ambigous space between inclusion and exclusion, both in economic affairs and in cultural recognition.”
Definitionen bzw. Konstruktionen von Fortschrittlichkeit und Rückständigkeit legitimieren im Kontext der Transformationsprozesse immer wieder distinktive Politiken. Deutlich sichtbar wird dies in der Erweiterungspolitik der EU, etwa in der
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Art und Weise, wie welche Staaten in welche Gesprächsrunden einbezogen werden (vgl. Müller 1998: 231 ff.). So umfasst die Zusammenstellung der ersten Beitrittsrunde nicht zufällig all jene angrenzenden osteuropäischen Staaten zur EU, die sich selbst als „zentraleuropäische“ Gesellschaften verstehen. Über bilaterale Abkommen und EU-Entwicklungsprogramme wie PHARE (EU-Report 2001) bekamen sie seit Anfang der neunziger Jahre im Unterschied zu den restlichen osteuropäischen Staaten Aufbauhilfen im großen Umfang, die sie enger an EU-Europa heranführten und ihre ökonomische Entwicklung im Sinne der EU-Kriterien forcierten. Insofern ist ihre „bessere“ ökonomische Performance im Vergleich zu den restlichen osteuropäischen Staaten Ergebnis differenzierter EU-europäischer Entwicklungspolitiken und nicht verwunderlich. Wie Claire Wallace (1999) herausstellt, beruht dieser differenzierende Umgang und die Zusammenstellung der ersten Beitrittsrunde auf ökonomischen, politischen und migrationsstrategischen Eigeninteressen der EU. Neben dem Interesse an einer wirtschaftlichen Stabilisierung und spezifischen Platzierung der Region in der neuen europäischen Arbeitsteilung als „verlängerte Werkbank“ für die Auslagerungsstrategien EU-europäischer Unternehmen kommt den benachbarten Staaten zur EU vor allem die Funktion einer „Puffer-Zone“ gegenüber den weiter östlich liegenden Gesellschaften zu. Wie wir im nächsten Kapitel noch sehen werden, liegt diesen hierarchisierten politisch-ökonomischen Zuwendungen die Vorstellung einer in mehrere konzentrische Kreise differenzierten Landkarte Europas zugrunde. Diese „Landkarte“ ist auch die entscheidende Folie dafür, welche Gesellschaften und Menschen wie viel Freizügigkeit und Mobilität zugestanden bekommen. Die distinktiven Politiken der EU manifestieren sich dann auch vor allem in wachsenden Hierarchisierungsprozessen zwischen den einzelnen osteuropäischen Staaten. So ist die Kluft zwischen den dreizehn Kandidatenländern und den fünfzehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Union trotz der massiven finanziellen und beratenden Zuwendungen nur um Millimeter kleiner geworden – der Abstand, gemessen am durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen, hat sich von 1995 bis 2000 nur um 0,7 Prozent auf durchschnittlich 35,2 Prozent des westlichen Durchschnitts verringert. Doch der Beitrittsreport der EU von 2001 zeigt, dass das Entwicklungsgefälle zwischen den Ländern der ersten Beitrittsrunde – allen voran Slowenien, Estland und Ungarn – und dem Rest kontinuierlich zunimmt: Während Slowenien nur knapp unter 75 Prozent des EU-Durchschnitts lag, erreichten Litauen oder Lettland noch nicht einmal die 30 Prozent-Marke (vgl. EU-Report 2001). Bezeichnenderweise werden solche sozio-ökonomischen Hierarchisierungsprozesse zwischen den einzelnen osteuropäischen Staaten von einem kulturalisierenden Differenzdiskurs in den Gesellschaften selbst begleitet. So diagnostiziert László Kürti (1997) einen komplementären diskursiven Hierarchisierungsvorgang innerhalb der osteuropäischen Gesellschaften. In den neuerlich aufkommenden Selbstdefinitionen der an die EU angrenzenden Staaten als „Zentral“- oder „Mitteleuropa“25 sieht er 25 Der Begriff „Mitteleuropa“ geht auf Friedrich Naumanns Publikation von 1915 mit dem gleichlautenden Titel zurück. Als liberaler Vordenker des imperialen Zeitalters entwickelte er in seinem Buch die Vorstellung eines „Kerneuropas“, wobei Deutschland mit dem Begriff „Mitteleuropa“ ins Zentrum rückte und vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht eine Vormachtstellung einzunehmen hatte. Die „informelle“ imperiale Machtstellung Deutschlands über die angrenzenden osteuropäischen Länder betrachtete er als Kompensation für den Verlust der Übersee-Kolonien. Im NS-Expansionismus und seiner Kriegs-
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den Versuch, sich von den weiter östlich gelegenen Nachbarn abzugrenzen und dem westlichen Europa als schon immer dazugehörender Teil „anzudienen“.26 Gekonnt spielten diese Länder die Klaviatur der neuerlich errichteten kulturalistisch-dichotomen Unterscheidungsmerkmale „West“-„Ost“. In seiner Diskursanalyse zeigt Kürtli, dass besonders die Medien und die Eliten der „zentraleuropäischen Länder“ die Figur des „rückständigen Ostens“ aufgreifen und scheinbare kulturelle Differenzen mittels eines Rückgriffs auf die Geschichte fixieren. Maria Todorova (1994: 478) schreibt über die Zentraleuropa-Metaphorik: „East Central Europe has been relegated to the nebulous realm of ‚Western Values’ while the Balkans with Russia are, if not strictly Asian, then semi-Asian, (…) ‚Savage Europe’, ‚The Other Europe’ or the newly coined and ostensibly neutral ‚Eurasia’.“ In diesem Sinne scheint jedes osteuropäische Land weiter östlich seinen „wahren“ Osten zu entdecken – im Falle der Slowakei etwa die Ukraine. Auch die slowakische Literatin Irena Brezná (1996: 21) thematisiert die neu Bedeutung erlangende WestMittel-Ost-Ikonografie: „Das mitteleuropäische Gesicht war nur für den Westen osteuropäisch. (...) Mitteleuropäer, Menschen, die ohne Spiegel gelebt haben, den einzigen, aufgezwungenen Spiegel des östlichen Nachbarn mit Abscheu abwehrend.“ Kulturanthropologische und europäisch-ethnologische Transformationsforschung: In den Kinderschuhen „Wandel“ in der Kulturanthropologie Im Gegensatz zur soziologischen Modernisierungstheorie, die die makrostrukturelle Ebene der Transformationsprozesse in den Blick nimmt und Entwicklungen vorwiegend auf der Basis quantitativer Daten erfasst, zeichnet sich der kulturanthropologische und europäisch-ethnologische Forschungszugang durch den Fokus auf die alltagsweltliche Ebene aus. In diesen Kontexten sind eine Reihe sehr detaillierter ethnografischer Forschungen von Transformationssituationen meist auf lokaler Ebene entstanden, die das Alltagshandeln und die Sinngebungen der AkteurInnen dicht beschreiben. Der Fokus auf die Mikroebene sozialen und kulturellen Alltagshandels stellt dabei zentrale Paradigmen modernisierungstheoretischer Perspektiven in Frage. Ihr induktiver Zugang fördert Bewältigungsstrategien und Selbstdeutungen der AkteurInnen zu Tage, die sich der normativen und funktionalistischen Übertragung von im Westen etablierten Institutionen und Verhaltensmustern versperren.27 Darüber hinaus hat die reflexive Auseinandersetzung mit der Verstricktrhetorik spielte der Begriff „Mitteleuropa“ wieder eine entscheidende Rolle. 26 Dabei thematisiert Kürti jedoch nicht, dass der Diskurs der „Rückkehr nach Europa“ und des Einschreibens in eine „europäische“ Geschichte auch als taktischer Versuch analysiert werden kann, damit die Einlösung des Versprechens auf Entwicklung und „Wohlstand“ von den westeuropäischen Ländern einzufordern. 27 Katharine Verdery plädiert deshalb für eine Verbindung zwischen Mikro- und Makroebene, was sie selbst in ihrer differenzierten Analyse des sozialen und kulturellen Systems der Knappheitsökonomie am Beispiel Rumäniens umsetzte. Peter Niedermüller dagegen nimmt vor allem die Meso-Ebene von Symbolen und Diskursen als Wahrnehmungsraster und Interpretationsfolie der Transformationsprozesse in den Blick.
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heit grundlegender kulturanthropologischer Konzepte und Methodologien im westlichen Kolonialismus und der hegemonialen Moderne zu einer Infragestellung abendländischer Wissenschaftstraditionen und -praxen beigetragen. Angestoßen von postkolonialen Bewegungen und von durch sie geprägte WissenschaftlerInnen wurden beispielsweise in der „Writing Culture“-Debatte Kernstücke kulturanthropologischen Arbeitens – der Kultur-Begriff, die Feldforschungsmethode und Textualisierungsstrategien wie sie in den Gründerjahren der Disziplin formiert wurden – einer kritischen Sichtung unterzogen. Dabei war und ist auch die Kulturanthropologie mit der Frage konfrontiert, wie soziokultureller Wandel konzeptionell in der Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Diskontinuitäten verstanden werden kann. Dabei war – etwas schematisch ausgedrückt – im Gegensatz zum Modernisierungsparadigma der Soziologie für die Kulturanthropologie das Paradigma der Traditionalität bestimmend, worin lange Zeit wesentlich die disziplinäre Differenz gesehen wurde. Wie in den vorausgehenden Ausführungen dargelegt, scheint es sich hierbei jedoch nur um einen vordergründigen Gegensatz zu handeln, der letztlich einen gemeinsamen Fluchtpunkt hat, wenn ModernisierungstheoretikerInnen wie KulturanthropologInnen gleichermaßen traditionale Praxen als Beharrungstendenzen fassen. Sie sind Teil der gleichen Diskurs-Matrix, auf die Peter Niedermüller (2000: 288 ff.) in seiner Analyse der unterschiedlichen Konzeptualisierungen von soziokulturellem Wandel hinweist. So betont er, dass die Konzepte und die „Art und Weise, wie wir heute über Wandel und Veränderung denken“ selbst als „kulturelle Erfindung“ und „kognitive Innovation“ der Moderne zu verstehen sind. Während die soziologische Modernisierungsforschung die rasanten Industrialisierungsprozesse der westlichen Gesellschaften gegen Mitte und Ende des vorletzten Jahrhunderts, die die Gesellschaften der ForscherInnen selbst betrafen, zu ihrem zentralen Thema machte, konstituierte sich die US-amerikanische Kulturanthropologie auf der Suche nach den letzten „authentischen Kulturen“ als Wissenschaft der Erforschung außereuropäischer, sogenannter „primitiver“ Gemeinschaften. Sie wurden „außerhalb der Geschichte der europäischen Moderne“ als „modernity’s other“, als vor-modern definiert (vgl. G. Welz 2000: 6; P. Niedermüller 2000: 288). Dies prägte auch den frühen Kultur-Begriff der Kulturanthropologie und Ethnologie: Am Gegenstand des „abgeschiedenen“ Dorflebens fremder „Stammes“Gemeinschaften entwickelt, erschien „Kultur“ – im Gegensatz zum soziologischen Paradigma der „Gesellschaft“ zur Beschreibung der westlichen Industrienationen – für Kontinuität und Tradition, für Zeitlosigkeit und räumliche Gebundenheit zu stehen. In dem Maße wie sich die Kulturanthropologie im Wesentlichen auf „exotische Gemeinschaften“ der sogenannten „Dritten Welt“ als „the most other of ourselves“ konzentrierte, waren die osteuropäischen Länder kaum von Forschungsinteresse. Die Wissensordnung des Kalten Krieges tat ein Übriges, so dass, wie Verdery ausführt, insgesamt nur wenige kulturanthropologische Forschungen in der sogenannten „Zweiten Welt“ durchgeführt wurden. Auch in der Kulturanthropologie wurden die Staaten jenseits des „Eisernen Vorhangs“ als triste und von Unterdrückung dominierte Gesellschaften imaginiert (vgl. K. Verdery 1996: 5 ff.; L. Jakubowska
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1993: 153).28 Bei den Forschungsarbeiten, die es dennoch gab, dominierte bis in die achtziger Jahre hinein der klassische Zugang über Dorfstudien in abgeschiedenen, ländlichen Gegenden.29 Diese Gegenstandskonstruktion, so die US-amerikanischpolnische Kulturanthropologin Longina Jakubowska (ebd.: 154), „fits well with the anthropological tradition of studying isolates“. In ihrem Vergleich der in den osteuropäischen Ländern etablierten Ethnografie, als Wissenschaft der eigenen „Volkskultur“, mit der US-amerikanischen kulturanthropologischen Forschung in diesen Ländern kritisiert sie die Unzulänglichkeiten vieler Arbeiten: „ The more compelling explanation for such choices of research sites, at least from the point of view of indigenous ethnographers, is the lack of preparation and ability to analyze historical complexities. The seeming ignorance of Eastern European history and social reality among many Western (...) scientists, is indeed a source of irritation in general to many native intellectuals. (...) Furthermore extrapolating only the essential features of the context, anthropologists frequently fail to present the complexity of the issue raised.“ (ebd.).
Johannes Fabian fragt in seiner Abhandlung „Time and the other“ (1983) nach den Voraussetzungen von solchen simplifizierenden Analysen. Seiner These nach liegt einem solchen „Othering“, also einer Reduktion der sozialen historischen Komplexität und dem Leugnen einer Zeitlichkeit, ja einer Zeitgleichheit der beforschten Gesellschaften mit den Gesellschaften der Forschenden, ein gewaltiger Konstruktionsakt zugrunde. Während nämlich noch in der Face-to-face-Situation der Feldforschung die Forschende selbst Teil des gesellschaftlichen Prozesses war, kommt dieser auf der Ebene der Verschriftlichung zum Erliegen. Dabei, so kann Fabian an einer Reihe klassischer Monographien über nicht-europäische Gesellschaften aufzeigen, ließen die sich aus dem Text selbst rausschreibenden ForscherInnen ihre Forschungsobjekte in einer Vor-Zeit einfrieren und brächten den Wandel im Schwarz auf Weiß zum Stillstand. Auch wenn Kultur in den letzten Jahrzehnten zunehmend als prozessuale Kategorie und als Alltagspraxis der Sinndeutung, des Handelns und der kulturellen Produktion im weiteren Sinne reformuliert wurde, leben die Drei-Einigkeit der Zentralperspektiven auf „Gruppe“, „Kultur“ und „Raum“ sowie die damit verbundenen klassischen Bedeutungsgehalte von Persistenz und Homogenität weiter. Vor diesem Hintergrund sind auch spezifische Konzepte und Interpretationen von Wandlungsprozessen in der Kultur- und Sozialanthropologie dominant geworden. Meines Erachtens vermögen diese jedoch kaum, die gegenwärtigen Umbruchprozesse in osteuropäischen Gesellschaften in ihrer Tiefe und Breite analytisch zu erfassen. Einer der wesentlichen Zugänge ist die Perspektive der „longue durée“. 28 Die kultur- und sozialanthropologische Forschung über die Wandlungsprozesse in den ehemals sozialistischen Staaten in den anglophonen Ländern, den USA und Großbritannien kann sie jedoch durchaus sehen lassen. Dort kann sie nicht nur eine längere Geschichte vorweisen, die bis in die sozialistische Ära zurückreicht. Ebenso sind über Migration und eine intensive Stipendien- und Stiftungspolitik schon vor der Wende wissenschaftliche Netze zwischen Forschungseinrichtungen im Westen und osteuropäischen WissenschaftlerInnen entstanden (siehe beispielsweise den Newsletter des kulturanthropologischen Instituts in Cluj, Budapest). 29 Longina Jakubowska stellt ferner fest, dass sich die kulturanthropologischen Forschungen in osteuropäischen Ländern in zwei Gruppen einteilen lassen: In Anlehnung an den sozial strukturellen Ansatz, der von der vorübergehenden Natur politischer Systeme ausgeht, studierten die einen vor allem „Community“ und „Familie“, während sich die anderen der politischen Ökonomie des Sozialismus auf lokaler Ebene zuwandten (vgl. 1993: 154).
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Dabei wird Wandel als allmählich stattfindende Veränderungen der sozialen Strukturen und des kulturellen Gefüges im Spannungsfeld zwischen Persistenz und Veränderung betrachtet, wobei die Perspektive auf die Stabilität bzw. Restabilisierung der kulturellen Ordnung gerichtet ist. Abrupt stattfindende, von internen und externen Kräften herbeigeführte Umwälzungen wie der Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaftsordnung lassen sich mit diesem Konzept allerdings nur eingeschränkt theoretisieren.30 Auch der Begriff des „Übergangs“, wie ihn Victor Turner (1995) in seinen ethnologischen Untersuchungen über Statuspassagen von Individuen geprägt hat, scheint mir kaum auf die osteuropäischen Länder übertragbar zu sein. Turner hat in seinen Studien in traditionellen und modernen Gesellschaften herausarbeiten können, dass derartige „liminale Phasen“ konstitutive Bestandteile jeder sozialen Ordnung sind und sie - durch symbolische und rituelle gesellschaftliche Praxen „abgesichert“ – zu einer beständigen Restrukturierung beitragen. In diesem Sinne impliziert dieser Ansatz einen sehr klaren Anfangs- und Endpunkt und ritualisierte Strategien des Übergang von A nach B – beides ist angesichts der unabsehbaren Entwicklungen in den von mir beforschten Gesellschaften nicht gegeben. In diesem Sinne schreibt auch Zygmunt Bauman (1993: 159) bezogen auf die Transformation in Osteuropa: „Keiner weiß wie lange sie dauert, wo sie endet und was man von ihr halten soll.“ Trotz solcher Schwierigkeiten strukturieren das Konzept der „longue durée“ und das Turnersche „Übergangs“-Konzept die Blicke auf die Veränderungen in Osteuropa, wodurch spezifische Deutungslinien der Umbruchprozesse in kultur- und sozialanthropologischen Studien dominieren. So ist zum einen eine Verengung auf jenes Themenspektrum feststellbar, das schon die Forschungspolitik während des Sozialismus prägte, wie Jakubowska (1993: 154) herausgearbeitet hat. Demnach fokussieren die meisten kulturanthropologischen Transformationsforschungen, die ich studieren konnte, entweder Transformationsprozesse wie Privatisierungsabläufe in Dörfern und ländlichen Städten oder sie sind im weiten Feld von Minderheitenkulturen und Ethnisierungsprozessen angesiedelt (vgl. ebd.: 156). Bislang greifen nur wenige Studien – wie die Arbeiten von Katharine Verdery und von WissenschaftlerInnen aus einigen osteuropäischen Fakultäten (z.B. an der Central European University in Budapest, Ungarn, oder des Departments für Kulturanthropologie in Cluj und Bukarest, Rumänien) – andere Themen wie Veränderungen der Konsumptionspraxen und soziokultureller Differenzierungsprozesse auf oder beschreiben Prozesse im Sinne einer Urban Anthropology. Diese Verengung der Themenwahl ist nicht zufällig. Sie hat ihren Hintergrund in der eingeübten (kleinräumigen) ethnografischen Forschungsmethode und in Konzepten von „Ethnos“ und „Dorfkultur“. Dieser Forschungsfokus scheint aber auch eine Antwort auf die gesellschaftlichen und medialen Rezeptionsmuster von osteuropäischen Problemlagen im Westen zu sein. Schließlich ist der „Nachrichtenwert“ von Minderheiten- und Nationalitätenkonflikten ungebrochen hoch.
30 Dem entgegen steht das Bild vom radikalen Bruch als Zerstörung und Ende der alten Ordnung, die eine „ultimative Veränderung“ einleite und einen Verlust traditioneller Praxen und Verhaltenssicherheiten bedeute.
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Zum anderen lässt sich beobachten, dass viele Studien ihre methodischen und konzeptionellen Probleme haben, die soziokulturellen Wandlungsprozesse in ihrer Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und überregionalen, ja globalen Kontextualität zu erfassen. Statt Wandel in einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität zu erfassen, überbetonen sie entweder das Eine oder das Andere. Wie bereits gezeigt, akzentuieren viele Studien die Kontinuitäten im Wandel und heben Momente der Persistenz von Akteursgruppen, alltagskulturellen Praktiken und Wissen hervor. Solche „BeharrungstheoretikerInnen“ rekurrieren bevorzugt auf die vergangenen 40 Jahre sozialistischer Alltagsorganisation oder verfolgen Praktiken gar noch weiter zurück in die vorsozialistische Zeit und verlängern diese ungebrochen bis in die Gegenwart (z.B. J. Podoba 1998). Damit einher geht oftmals eine negative Bewertung der als persistent erscheinenden Praktiken. Die andere Richtung dagegen interpretiert die Umstrukturierungen als radikalen Bruch mit der Vergangenheit, der die AkteurInnen überfordere und sie in die Orientierungslosigkeit treibe. Peter Niedermüller führt dieses Interpretationsschema auf die Adaption des Turnerschen „Übergangs“-Begriffs und seine Übertragung auf die Entwicklungen der post-sozialistischen Gesellschaften zurück. Der Übergang erscheine so als „Leere zwischen den alten (zerbrochenen) und den neuen (noch nicht gefestigten) Strukturen“, als bedrohlicher Zustand, als Normen- und Sicherheitsverlust. Dieses Argumentationsmuster werde gerne bemüht, um auftretende Konflikte in den betreffenden Gesellschaften wie die neu entfachten Nationalisierungsprozesse und Ethnonationalismen zu rationalisieren (vgl. P. Niedermüller 2000: 299). Bislang entziehen sich nur wenige Arbeiten diesem dichotomen Interpretationsmuster von soziokulturellem Wandel. Insbesondere praxiologisch ausgerichtete Ansätze stellen eine Ausnahme dar. Auch sie beschäftigen sich zwar vorwiegend mit traditionellen Praktiken, im Gegensatz zu den strengen BeharrrungstheoretikerInnen thematisieren sie aber deren Anpassungen und Neuausrichtungen im gegenwärtigen Kontext. In diesem Sinne erscheinen kontinuierende Praxen auch weniger als fixe, statische Traditionen, sondern mehr als funktionale Bewältigungsstrategien (vgl. hierzu J. Kandert 1994; H. Haukanes 1993; P. Niedermüller 2000: 296).31 Doch selbst diese Forschungen haben meines Erachtens große Schwierigkeiten damit, die Transformationen mit dem gegebenen Feldforschungsinstrumentarium der teilnehmenden Beobachtung erfassen zu können. Hierbei liegt das Problem weniger in der Lokalisierung der Feldforschung, denn auch sie würde es erlauben, den lokalen Kontext durchziehende, transnationale Einflüsse und exterritoriale Entwicklungsfaktoren sowie aus ihm herausführende Verbindungen in den Blick zu bekommen. Das Problem liegt vielmehr in der raschen „Vergänglichkeit“ der Beobachtungen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die sehr einfühlsame und komplex angelegte Studie der norwegischen Sozialanthropologin Haldis Haukanes (1993) über Strategien tsche31 Wolfgang Kaschuba weist hierbei noch auf einen weiteren Faktor bei der Interpretation von Kontinuität und Wandel hin. Er macht deutlich, dass es „kein absolutes Maß“ für beide Kategorien gebe, „sondern nur ein relatives Empfinden, in dem bereits Interpretationen enthalten sind und wesentlich auch gesellschaftliche Zeitstimmungen mitschwingen“. Es handle sich hierbei eher um „kognitive Strategien der Wirklichkeitsdeutung“, die „uns vieles über soziale Zwecke und Ziele solcher Interpretationen“ verrieten. Ob etwas als traditional empfunden werde, sage daher mehr über den „Beobachter aus als über das Beobachtete“ (W. Kaschuba 1999: 165 f.).
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chischer DorfbewohnerInnen, mit dem politisch induzierten Wandel umzugehen. In ihrer Forschung von 1990 bis 1991 über die Einflüsse der soziopolitischen Transformationen auf das Alltagshandeln der Bewohner des kleinen tschechischen Dorfes Lipina versucht sie, den Zusammenhang von Makro- und Mikroebene und hierbei die Perzeption der soziopolitischen Situation durch die BewohnerInnen und ihr konkretes Alltagshandeln zu ergründen. Während der Zeit ihres einjährigen Forschungsaufenthalts konnte Haukanes feststellen, dass die meisten DorfbewohnerInnen vor allem an bekannte und bewährte lokale Strategien anknüpften, um die Umbruchsituation zu meistern. So nutzten sie, zum Erstaunen der Forscherin, nicht den transnational erweiterten Horizont, obwohl er Gegenstand vieler Gespräche unter den BewohnerInnen war. Vielmehr bauten sie ihre Subsistenz- und Gartenwirtschaft aus, die schon während des Sozialismus eine notwendige und von vielen praktizierte zusätzliche Versorgungsquelle dargestellt hatte. So kam Haukanis (ebd.: 140) am Ende ihres Forschungsaufenthalts 1991 zu der Feststellung: „ (...) it seems that lived experiences from daily life in the village and its near surroundings are the most important ones for the people of Lipina.” Doch schon kurze Zeit danach musste sie einräumen, dass sich die Situation enorm gewandelt hat, und revidierte ihre Aussagen: „ (...) changes have occured that suggest that I should redraw my picture. People gradually seem to take advantage of the new possibilities.” (ebd.: 141). Denn als sie 1992 das Dorf zum zweiten Mal besuchte, sah sie, dass viele DorfbewohnerInnen nun den überregionalen und transnationalen Raum nutzten und kleine private Geschäfte aufgemacht hatten. So konstatiert sie am Ende ihres Aufsatzes: „And my findings indeed emphazise the problem of temporaryness in the social sciences. It seems that most scientific assumptions are short-lived in todays’ changing Europe”(ebd.). Diese Schwierigkeit, Wandel zu analysieren und die Zeitlichkeit der Forschung transparent zu halten – ganz zu schweigen von der Möglichkeit, prognostische Aussagen zu treffen – scheint die Kulturanthropologie angesichts ihres Forschungsrepertoires besonders zu treffen. So schreibt auch die Kulturanthropologin Gisela Welz (2000: 6): „We are much more willing to explain how the present became what it is today, recovering lines of persistence, than to (…) trace the trajectory of cultural change into the future.” Gisela Welz führt diesen paradigmatischen Blick vor allem auf die Methode der Feldforschung zurück. So zitiert sie Sally Falk Moore: „In the thick of fieldwork how is the anthropologist to distinguish the transitory from the durable, cultural change from cultural persistence?“ (ebd.: 6; S. Falk Moore 1987: 728). “Moderne” in der Europäischen Ethnologie/Volkskunde Die skizzierten Problematiken, Wandel in seiner widersprüchlichen Komplexität zu verstehen, spitzen sich für Transformationsforschungen zu Osteuropa in dem Fächerverbund Europäische Ethnologie/Volkskunde im deutschsprachigen Raum noch einmal zu. So wie die Kulturanthropologie in ihrer US-amerikanischen Prägung ihre problematische Vergangenheit der Erforschung der Anderen fern der eigenen Gesellschaft in den letzten Jahren weitgehend aufarbeitete, hatten auch die Nachfolgeinstitute der deutschen Volkskunde, die sich als erfindungsreiche Suche nach traditionalen „Volkskulturen“ in der eigenen Gesellschaft konstituierte, ihre
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Geschichtsarbeit zu machen (vgl. u.a. W. Kaschube 1999). Hierbei weist der Europäische Ethnologe Reinhard Johler (2000) in seiner Spurensuche „Ost/WestEthnographie: Volkskundliche Perspektiven auf Europa“ auf eine nahezu umgekehrte Entwicklung volkskundlicher Beschäftigung mit osteuropäischen Ländern hin. Denn entgegen dem zwar immer wieder reformulierten, letztlich jedoch konstanten Selbstverständnis als „Wissenschaft vom Eigenen“ hat die Volkskunde laut Johler vor allem in ihrer Etablierungsphase im ausgehenden 19. Jahrhundert an der Konstruktion „Osteuropas“ stark mitgewirkt. Vor dem Hintergrund der mentalkulturellen Landkarte von West- und Osteuropa haben sich zahlreiche VolkskundlerInnen auf die Suche nach „traditionellen, archaischen und ursprünglichen Lebensformen“ in osteuropäische Länder begeben und Beschreibungen von als unveränderlich interpretierten „nationalen Volkskulturen“ geliefert (ebd.: 190 f.). In „Volkskulturstudien“, kulturvergleichenden Forschungen im Sinne des evolutionistischen oder diffusionistischen Paradigmas im 19. Jahrhundert und der volkskundlichen „Kulturraumforschung“ im 20. Jahrhundert, ist, so Johler, „volkskundliches Othering“ betrieben worden. Sein Resümee: „Derart war die Ost-West-Deutung in die inhaltliche Programmatik der Volkskunde im ausgehenden 19. Jahrhundert eingeschrieben worden“ (ebd.: 192). Hierüber habe die Volkskunde auch einen Teil ihrer Bedeutung als Wissenschaftsdisziplin in Deutschland erlangt. Nach dem Ersten und verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg habe der Osten als Untersuchungsgebiet zwar seine bedeutende Stellung verloren, doch als „imaginäres und manchmal sogar noch äußerst konkretes Gegenüber (...) sollte er weiterhin – gerade in der ‚Sprachinselvolkskunde’ bzw. der ihr folgenden, oft interethnisch konzipierten ‚ostdeutschen Volkskunde’ – präsent bleiben“ (ebd.). Dass dieser Entstehungskontext der Volkskunde als Ausdeutungsdisziplin von „Osten“ und „Westen“ in der Fachgeschichte weitgehend in Vergessenheit geraten ist, führt Reinhard Johler (ebd.: 191) vor allem auf die zunehmende Fokussierung des Faches auf die eigene Gesellschaft im Zuge der fachbezogenen Modernisierungsanstrengungen in den sechziger und siebziger Jahren zurück. Wie der Sozialwissenschaftler József Böröcz (2002) zeigen kann, ist dieser Verdrängungsvorgang jedoch eingebettet in eine gesamtgesellschaftliche Erinnerungs-(un)kultur bezüglich der deutschen imperialen Vergangenheit in Osteuropa, die ganz im Unterschied zur Beteiligung an kolonialen Unternehmungen in Afrika bis heute weitgehend unaufgearbeitet ist. Noch heute scheint der Zugang des Fächerverbunds Europäische Ethnologie/ Volkskunde zu osteuropäischen Gesellschaften von der traditionellen Perspektive der Sprachinselforschung, die letztlich eine Erforschung der deutschen Minderheiten in den osteuropäischen Ländern bedeutet, dominiert zu werden, wobei die Vertriebenenforschung neu hinzugekommen ist (siehe auch die bestehenden Kommissionen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde). Daneben liegen in den deutschsprachigen Ländern erst einige Forschungsarbeiten und -projekte32 vor, die sich den gegenwärtigen Umbruchsprozessen in den osteu32 Christian Giordano, Fribourg; Peter Niedermüller am Institut für Europäische Ethnologie in Berlin; Doktorarbeiten am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie Frankfurt am Main; Forschungsprojekte am Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde in München unter der Leitung von Prof. Klaus Roth (Forschungsprojekt Alltagskulturen im Sozialismus. Praktiken und Strategien des Alltagshandels in den sozialistischen Ländern und ihre Folgen für die Transformation); einzelne Forschungen des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie an der Viadrina Universität Frankfurt an
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ropäischen Ländern unter einer Transformationsperspektive zuwenden. Für diesen stockenden gegenwartsorientierten Zugang würde ich in Anlehnung an 33Reinhard Johler neben der institutionalisierten deutschen Wissenschaftsförderung fachgeschichtliche Gründe geltend machen, die scheinbar auch von den in den sechziger Jahren im Zuge der Debatte um eine Neuausrichtung der Volksunde nach 1945 neugegründeten Instituten weiter fortgeschrieben werden. Auch wenn mit der Modernisierung des Faches „Volkskunde“ in den sechziger Jahren eine Abkehr vom deutschen „Volksleben“ und der deutschen „Volkskultur“ eingeläutet wurde und sich einige Institute auf sozialwissenschaftliche Alltagskulturforschung bzw. wie das Frankfurter Institut in Anlehnung an die US-amerikanische Cultural Anthropology, auf Kulturanthropologie und gegenwartsorientierte Europäische Ethnologie neu ausrichteten, ist bei vielen Instituten der regionale und nationale Fokus weiterhin vorherrschend. Diesem Blick entgehen Transnationalisierungsprozesse unserer Alltagswirklichkeiten, beispielsweise wie die Migration von OsteuropäerInnen oder Politiken der EU deutsche Alltagswelten mit osteuropäischen in Beziehung setzen. Obwohl mittlerweile nicht mehr die „Moderne“ schlechthin ignoriert wird, so scheint die offenkundig nur halbherzig erneuerte Volkskunde vor einer Auseinandersetzung mit Modernisierungsprozessen immer noch zurückzuschrecken. Die aus den Gründerjahren des Faches übernommene Dichotomie von Tradition und Moderne scheint zwar mit den Neubewertungen von Tradition als moderne reflexive (Re)-Traditionalisierung/ Folkorismus überwunden zu sein. Doch wie Gisela Welz (2000: 5) konstatiert: „European ethnology remained haunted by its predilection for cultural continuity.“ Transformation als Katalysator für interne Differenzierungen Im Folgenden werde ich versuchen, aus meinen Beobachtungen und Interviews mit den jungen Frauen und ihren Familien sowie mit zahlreichen WissenschaftlerInnen und „ExpertInnen“ aus slowakischen Nicht-Regierungsorganisationen im Sinne einer alltagsweltlich fundierten Wissensproduktion Perspektiven auf und Kategorisierungen für die Transformationsprozesse in der Slowakei zu entwickeln, die die Dynamiken des von mir fokussierten Phänomens migrierender Frauen im jungen Alter vor dem Hintergrund der Transformationsprozesse verstehbar machen sollen. In den Gesprächen dominierten zwei, auf den ersten Blick konkurrierende Interpretationsmuster der sozialen Realitäten der Transformationsgesellschaft – oft wurden sie gar von derselben Personen vertreten: zum einen wurden immer wieder die der Oder u.a. in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Institut für Transformationsforschung (Bankwirtschaftliches Wissen und postsozialistische Ordnung. Zu Bankkulturen in entstehenden Marktgesellschaften) und am Max Planck-Institut in Halle, das von dem britischen Sozialanthropologen Chris Hann geleitet wird. 33 So finanziert das Auswärtige Amt wie auch der Bundesbeauftragte der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien vor allem Forschungsprojekte, die sich auf die „Erforschung deutscher Kultur und Geschichte des östlichen Europas“ beziehen. Aus einem Förderprogramm von 2001 zitiert liest sich das so: „Erst durch die Geschichte wird ein Volk seiner selbst vollständig bewußt; diese Erkenntnis verdanken wir Arthur Schopenhauer. Sie ist das Paradigma für die Neuauflage des Universitätsprogramms zur Erforschung der deutschen Kultur und Geschichte des östlichen Europas“ (Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien 9. 11. 2001).
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Schwierigkeiten der Slowakei als Ergebnis der gesellschaftlichen Traditionalität thematisiert. Ein anderer Diskursstrang betonte demgegenüber die sozialen und kulturellen Dynamiken und Desintegrationsprozesse der Transformationspolitiken. In einem waren sich jedoch nahezu alle Befragten einig: Die Slowakei sei ein „hartes traditionelles Land“ mit ihren „drei harten traditionellen Institutionen“: Kirche, Familie und Dorfleben. Vor allem das dominierende Genderregime wurde mir von Kirchenfrauen und unabhängigen Frauengruppen als stark traditionell und binär beschrieben. Der Druck insbesondere auf junge Frauen, ein den herkömmlichen Geschlechterrollen entsprechendes Leben zu führen, sei enorm. Bereits während des Sozialismus sei der Geschlechterdualismus als Ausdruck von Natur und Gottes Willen zentral betont worden, heute werde er refixiert und Überschreitungen gesellschaftlich sanktioniert. Besonders die ländlichen Gegenden, in denen die Kirche nach der Wende zu einer dominanten Deutungsmacht aufgestiegen sei, seien von einem starken Konservatismus geprägt. Dieses Interpretationsraster fiel bei mir, zugegebenermaßen, während meiner ersten Reise auf fruchtbaren Boden. Hiermit schien ich relativ gut, die Aufbrüche und Motivationen der jungen Frauen, als Aupair nach Deutschland zu gehen, als Ausbrüche aus engen, traditionellen Geschlechterverhältnissen deuten zu können. Doch was bedeutet Traditionalität und Tradition im slowakischen Kontext, einem Land, in dem sich in den letzten hundert Jahren mehrfach die Staatsform und die dominanten Gesellschaftskonzepte änderten? Zunehmend wurde mir unklar, ob meine GesprächspartnerInnen damit auf die vorsozialistische oder auf die sozialistische Zeit rekurrierten – oder meinten sie beides? In diesem Sinne ist die sozialistische soziale und kulturelle Ordnung selbst schon als außerordentlich hybride Konfiguration aus Kontinuitäten und Wandel zu verstehen (vgl. u.a. H. Havelkova 1993: 64)34. So lösten sich auch während des Sozialismus Institutionen, die klassischerweise als traditionell betrachtet werden, wie die Familie oder die Subsistenzwirtschaft, nicht auf, jedoch bekamen sie unter sozialistischen Vorzeichen eine andere Bedeutung. So zeigt beispielsweise der tschechische Kulturwissenschaftler Josef Kandert (1994), dass der Familie in der realsozialistischen Gesellschaft eine neue, herausragende Bedeutung zukam. Auch wenn einige Reproduktions- und Versorgungsaufgaben verstaatlicht wurden, tastete die sozialistische Organisierung der Gesellschaft – und der Geschlechterverhältnisse – die heterosexuelle Familienkonstellation nicht an. Alltagskulturell wurde das Familienleben als eines der wenigen privat verbliebenen Sphären zum Bollwerk gegenüber den Anforderungen des sozialistischen Systems aufgewertet und als widerständiger „Rückzugsort“ mythologisiert.35 Auch im ökonomischen Sinne nahm die Familie eine wichtige Rolle ein, da familiäre informelle ökonomische Aktivitäten einen wesentlichen Zuverdienst darstellten. Diese ökonomische Bedeutung hat die Familie auch im Transformationsprozess nicht verloren (vgl. ebd.: 103). Durch solche Erfahrungen schärfte sich allmählich mein Blick für Brüche und Ungleichzeitigkeiten. Mehr und mehr nahm ich z.B. in der Einrichtung, im Kleidungsstil, in Lebensentwürfen und Einstellungen der als traditionell vermuteten 34 Auch mehrere ethnografische Arbeiten wie die von Havelkova von 1993 über sozialistische Kultur und Alltagswelten weisen auf die ungleichzeitigen und ambivalenten kulturellen Horizonte hin. 35 Die starke Bedeutung, die dem Familienzusammenhang weiterhin zugesprochen wird, erschwert die Thematisierung häuslicher Gewalt bis heute.
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AkteurInnen klassisch als „modern“ bezeichnete Momente wahr. Bezeichnenderweise waren es auch immer die Anderen, die traditionell waren, nie aber die SprecherInnen selbst. Vor allem während meiner zweiten Reise wurde mein Blick zunehmend auf die sozio-kulturellen Dynamiken und Effekte der Transformationsprozesse gelenkt. Zum einen entdeckte ich immer häufiger verschiedene Spielarten, Artikulationen und Folgeerschienungen von als „modern“ geltenden Praktiken auf den Straßen und Plätzen in den slowakischen Städten. Zum anderen, unterstützt von den Deutungen meiner GesprächspartnerInnen, fing ich an, die Transformation als Katalysator für weitreichende Differenzierungsprozesse und Hierarchisierungen zu begreifen. Diese Dynamik umfasst auch Institutionen und Verhältnisse wie das Genderregime, die mir vorher als Kontinuitäten erschienen. Auch sie wurden in den Transformationspolitiken neu formiert und positioniert, worauf ich im Anschluss näher eingehen werde. In diesem Sinne sind die im vorausgegangenen Abschnitt beschriebenen Hierarchisierungsprozesse nicht nur zwischen Staaten festzustellen. Der eingeschlagene Modernisierungsweg forciert vielmehr auch, wie die geschilderten Lebensgeschichten der slowakischen Frauen deutlich machen, die Stadt-Land-Gegensätze, verdichtet in einigen wenigen „Inseln des Aufschwungs“ und sonst „stillgelegtem Land“ (vgl. K. Müller 1998: 210). Diese Konsequenz neoliberaler Modernisierung, in der sich der Staat von seiner ehemaligen Funktion des Ausgleichs der freien Kräften des Marktes auf einige wenige regulative Funktionen zurückzieht, wird auch für andere Weltgegenden beschrieben. Wirtschaftliches Wachstum findet selektiv noch dort statt, wo vor allem ausländisches Kapital investiert wird. Dies geschieht meist an jenen Orten, an denen eine gut ausgebaute Infrastruktur und qualifizierte, gleichzeitig jedoch billige Arbeitskräfte vorhanden sind. So entstehen auch in Polen und der Slowakei vor allem entlang größerer Städte an der Grenze, wie Bratislava, exportorientierte Wirtschaftszonen, die den aus Entwicklungsländern des Südens bekannten „Maquiadoras“ ähneln. Diese ungleiche Entwicklung innerhalb der Länder scheint ihre Korrespondenz in politischen Einstellungen der Bevölkerung der wirtschaftlich „abgehängten“ Gebiete zu finden. Bei den letzten slowakischen Wahlen 1998 haben überdurchschnittlich viele der zunehmend deklassierten Teile der Bevölkerung für Meciars Bewegung für eine demokratische Slowakei (HZDS) votiert. Hierzu die AutorInnen des Instituts for Public Affairs in ihrer Wahlauswertung: „The HZDS predominantly represented the older, less educated, rural and less reform-minded part of the population“ (vgl. M. Bútora/ G. Meseznikov/ Z. Bútorová 1999: 9). Der Wahlerfolg36 der Koalitionsregierung wurde dagegen als Mehrheitswille zum „Wandel“ und als Ausdruck von „cultural modernization“ interpretiert (ebd.: 9 f.). So ist es nicht erstaunlich, dass das Wahlergebnis und seine Interpretationen, so auch die Meinung vieler meiner GesprächspartnerInnen, noch einmal verstärkt gegenseitige Abgrenzungen beförderte: So meinten StädterInnen, die Landbevölkerung sei rückständig, während diese in den Zentren einen Werteverfall auszumachen glaubten. 36 Der Wahlerfolg der Koalitionsregierung wurde auf den großen Einsatz von Medien und NGOs zurückgeführt, welche sich im Vorfeld zu einer „Civic Campaign OK“ gegen Meciars HZDS zusammengeschlossen hatten: „The word change became one of the key buzzwords of pre-election clashes.“ (M. Bútora/ G. Meseznikov/ Z. Bútorová 1999: 9).
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Der Einzug der privaten Marktwirtschaft und die fortschreitende Kapitalisierung der Gesellschaft verstärkt jedoch nicht nur altbekannte Gegensätze, sondern schafft auch ganz neue Differenzierungen, die in den Erzählungen meiner GesprächspartnerInnen mal explizit als solche gedeutet und mal nur implizit erwähnt wurden. So sei „Alter“ zu einem neuen strukturierenden sozialen Faktor geworden und zwar nicht nur in Sinne einer steigenden Altersarmut. Der Bruch beginnt weit früher. Zu den TransformationsgewinnerInnen zählt jene Generation von Endzwanzigern bis Mitdreißigern, die während des Sozialismus noch eine qualifizierte Ausbildung genossen hatten, doch nicht mehr in den Apparaten und Fabriken ihren „Karriereweg“ begannen. Für die im alten System sozialisierten und situierten Generationen, wie die Eltern vieler Au-pairs, stellte die politische Wende oft eine sehr materielle „Wende“ in ihren Arbeits- und Lebensbiografien dar. Es sind die „Jungen“, die die kleine aufstrebende Gruppe der neuen gehobenen DienstleisterInnen, der leitenden AkademikerInnen, Selbstständigen und UnternehmerInnen stellen. Einige von ihnen haben mindestens einen Teil ihrer Ausbildung und Qualifizierung im Ausland absolviert und können nun im Rahmen der Liberalisierungs- und Öffnungspolitiken ihr transnationales soziales und kulturelles Kapital erfolgreich einbringen. Vor allem sie wurden zu einer wichtigen sozialen Basis und zentralen Akteursgruppe der (westeuropäischen) Transformationspolitiken, die sie sich zu Eigen machen, wie auch Dorothee Bohle in ihrer Analyse der sozialen Restrukturierung der internen Kräfteverhältnisse zeigt. Ihre zentrale soziale Rolle wird dabei durch die westeuropäischen Transformationspolitiken unterstützt, was Bohle (2002: 369 ff.) von einer „transnationalen Klassenformierung“ sprechen lässt. Diese junge Generation hat dann auch auf ein Ende der nationalistischen Ära unter Meciar und eine WestÖffnung der Slowakei gebaut, was sich in Wahlanalysen spiegelt, die den Erfolg der Koalitionsregierung vor allen Dingen auf die Wahlentscheidungen dieser sozialen Gruppe zurückführen (vgl. M. Bútora/ G. Meseznikov/ Z. Bútorová 1999: 15). Es schien mir, als hätten sie die kapitalistischen Tugenden und den kapitalistischen Arbeitsethos stark verinnerlicht. Aussprüche von GesprächspartnerInnen dieser Altersgruppe wie „Jetzt müssen wir die Ärmel hochkrempeln“, oder: „Wer will, der kann auch was erreichen, man muss sich nur anstrengen“, begleiteten mich auf meinen Wegen. Die jungen Frauen, die als Au-pair nach Deutschland gehen wollten, kamen zwar nicht aus dieser sozialen Schicht, doch auch sie hatten diese individualistische Lektion des sozialen Aufstiegs gelernt und strebten ihn an. Vor dem Hintergrund der knappen familiären sozialen Ressourcen und Möglichkeiten schien ihnen dies im Land nur schwer realisierbar, so dass sie sich für den „Umweg“ einer temporären Migration entschieden. Einen weiteren entscheidenden Faktor der neuen gesellschaftlichen sozialen Strukturierung und Differenzierung stellt die Kategorie „Geschlecht“ dar. Auch wenn das sozialistische Regime die Organisation der Geschlechterverhältnisse zu einem gewissen Grad anders zu gestalten versuchte als in den westlich kapitalistischen Ländern üblich, war Geschlecht auch im Sozialismus eine zentrale Differenzierungskategorie. Doch die Umstrukturierungen hin zu einer freien Marktwirtschaft, die Privatisierung der Wirtschaft, von öffentlichen Einrichtungen und Teilen des Sozialsystems haben weitreichende Auswirkungen auf die postsozialistische Geschlechterordnung. Dies soll im folgenden Abschnitt näher beleuchtet werden. Dabei wird auch deutlich werden, wie problematisch alle Forschungsarbeiten zu den
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Transformationsprozessen in Osteuropa sind, die die Kategorie Geschlecht nicht berücksichtigen. Tatsächlich sind die meisten der Arbeiten entsprechend dem modernisierungstheoretischen Akteursbegriff von einem androzentristischen Blick geprägt. Auch wenn auf der Analyseebene Geschlecht als soziales und kulturelles Ordnungsschema unbezeichnet bleibt, entpuppen sich die Arbeiten in ihrer einseitigen Fokussierung der öffentlichen Sphäre und der formalen Entwicklung der Arbeitswelt als höchst vergeschlechtet, da unzählige Praktiken und AkteurInnen in anderen Sphären ausgeblendet bleiben. Der androzentrische Charakter der Modernisierungstheorien zeigt sich vor allem in der Beschreibung der TrägerInnen der Transformation als männliche Subjekte. Gendersensible Forschungen der Entwicklungsdynamiken in den osteuropäischen Ländern zeigen jedoch nicht nur, wie Geschlecht als Differenzierungskategorie neu artikuliert wird und sich in Hierarchisierungsprozessen materialisiert. Sie können auch deutlich machen, wie die scheinbar ausgeschlossenen Akteurinnen und als vormodern abgewerteten informellen Praktiken, die als das Andere des sich zu institutionalisierenden Kapitalismus bezeichnet werden, gerade durch ihren diskursiven Ausschluss zu einer wichtigen Entwicklungsressource im globalen Kapitalismus wurden. 2.5. Gender matters Eine gendersensible Herangehensweise „Auch wenn der Sozialismus Frauen sichtlich nicht befreite“ (H. Havelkova 1993: 65), so zielte die Organisation der Geschlechterverhältnisse in den realsozialistischen Gesellschaften wesentlich stärker als das westlich-kapitalistische binäre Ernährer-Hausfrauen-Modell darauf, Frauen über die Teilhabe an der Lohnarbeit in der „öffentlichen Sphäre“ zu emanzipieren (vgl. K. Verdery 1996: 61).37 Zwar wurde eine geschlechtsspezifische Segmentation der Berufe und eine entsprechende hierarchische Lohn- und Rangordnung nicht überwunden (vgl. Z. Bútorová/ J. Filadelfiová/ P. Gurán 1999), so blieben die Staatsapparate und Kernsektoren wie die Schwerindustrie durch und durch maskulin besetzt. Gleichwohl zeichneten sich die sozialistischen Gesellschaften teilweise durch enorme Anstrengungen aus, Frauen schulisch und beruflich zu qualifizieren (vgl. ebd.: 298) – und dies erfolgreich.38 37 Abgesehen von Aussagen von SozialistInnen wie Rosa Luxenburg etc., die die Gleichstellung der Geschlechter im Sinne einer Befreiungsperspektive formulierten, werden die realsozialistischen Geschlechterpolitiken der Emanzipation durch Arbeit auf die Notwendigkeiten der Industrialisierungsprogramme zurückgeführt. Verdery sieht die Gleichstellungspolitik Rumäniens vor allem in der kapitalarmen, doch arbeitsintensiven Produktion begründet, die der Arbeitskraft von jedem und jeder bedurfte (1996: 64). Auch für die Slowakei wird dies so beispielsweise im ersten vorliegenden Bericht zur Lage der Gesellschaft beschrieben, der ein Kapitel der sozialen Situation von Frauen widmet (vgl. Z. Bútorová/ J. Filadelfiová/ P. Gurán 1999). Hinzuzufügen ist, dass die Geschlechterpolitiken in den verschiedenen osteuropäischen Ländern unterschiedlich institutionalisiert wurden und auch historischen Wandlungsprozessen unterlagen. 38 So konnten 1993 in der Slowakei 32,6 Prozent der ausgebildeten Frauen einen full secondary professional Abschluss vorweisen gegenüber 20,5 Prozent der Männer, und 11,9 Prozent der Frauen einen Hochschulabschluss gegenüber 13,9 Prozent der Männer (vgl. Z. Bútorová/J. Filadelfiová/ P. Gurán 1999: 298).
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In den meisten Staaten erreichte die Frauenerwerbstätigkeit annähernd sechzig Prozent aller Frauen im berufsfähigen Alter. Um die Frauen für die Arbeitswelt „freizustellen“, wurden Erziehungsaufgaben kollektiviert und verstaatlicht. Von Feministinnen wurde dies nach der Wende als Gleichstellungsvorsprung z.B. bei der ganztägigen Kinderbetreuung gegenüber den westlichen Gesellschaften bewertet. Daneben aber blieb auch in der sozialistischen Genderordnung die häusliche geschlechtshierarchische Arbeitsteilung weitgehend unangetastet und die Versorgungsarbeiten feminisiert. So stoppte die sozialistische Variante einer Sozialtechnologie der Geschlechterverhältnisse vor der „Haustür“ und überließ die Frauen damit einer Doppelbelastung: dem staatlich geförderten Druck zur Arbeit und der gleichzeitig anfallenden Familien- und Versorgungsarbeit. Katharine Verdery weist ferner darauf hin, dass die Versorgungsarbeiten zudem „generationalisiert“ wurden, indem neben der berufstätigen Frau die Großeltern für die unbezahlten Hausarbeiten zuständig gemacht wurden (K. Verdery 1996: 64 ff.; Z. Bútorová/ J. Filadelfiová/ P. Gurán 1999: 287 ff.). In vielen post-sozialistischen Texten von Frauen wird diese Ambivalenz der sozialistischen Geschlechterordnung vor allem unter dem Topos der Zweifachbelastung, die angesichts der „Knappheitsökonomie“ zur totalen Erschöpfung von Frauen führte, stark negativ thematisiert (E. Farkashová/ Z. Kiczková 1993: 86 ff.; H. Havelková 1993: 70 f.; J. Siklová 1993, 75; K. Verdery 1996: 65). Im Vergleich zur westdeutschen Geschlechterpolitik möchte ich dennoch die inhärente Ambivalenz und Gleichzeitigkeit verschiedener Geschlechteranforderungen im sozialistischen Genderregime hervorheben: Denn die auf sexueller bzw. geschlechtlicher Differenz aufbauende und sie reproduzierende Geschlechterordnung in der privaten Sphäre war begleitet von – zwar brüchigen – Diskursen und Praktiken, die auf eine Gleichstellung in der öffentlichen Sphäre der Arbeit zielten.39 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum einige osteuropäische Feministinnen die herausragende Bedeutung des an den und für die westlichen Gesellschaften entwickelten Konzepts der geschlechtsdichotomen Trennung von öffentlicher und privater Sphäre für die Analyse ihre sozialen Realitäten zurückweisen. In ihren Gesellschaften hätten die Sphären vielmehr eine gegenteilige Bedeutung gehabt: „Nicht der Mann in der Familie, sondern die kommunistische Partei (als Übervater) verkörperten Paternalismus und Patriarchat“ (H. Havelková 1993, 69). Der Trennungsstrich zwischen privater und öffentlicher Sphäre sei vor allem von den AkteurInnen selbst, und zwar als Schutz gegenüber den Zugriffen des Staates, gezogen worden. Gleichzeitig jedoch hätten die sozialistischen Emanzipationspolitiken und die starke Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit diese Trennung unbedeutend gemacht. Frauen betätigten sich in beiden Sphären. Wie diese zwei Aspekte in den Selbstkonstruktionen der AkteurInnen aufgegriffen, verbunden und wie sie im alltäglichen Leben ausagiert wurden, schimmert auch in meinen Gesprächen mit den jungen Frauen und ihren Müttern und in ihrem Alltagshandeln durch. Tatsächlich waren alle Mütter weiterhin berufstätig und ihre 39 Auch Verdery thematisiert diese Ambiguität, wenn sie hervorhebt, dass die sozialistische Geschlechterpolitik die Sozialisierung der Reproduktion versuchte, diese jedoch im Spannungsverhältnis stand zu Faktoren, die die partriarchalen Familiennormen verstärkten (vgl. 1996: 68). Alena Heitlinger argumentiert ebenfalls in diese Richtung, wenn sie hervorhebt, dass im Sozialismus Frauen „gleichzeitig als gleiche und doch different“ z.B. auch in Arbeitsschutzbestimmungen behandelt wurden (1993: 95).
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Töchter, die jungen Au-pair-Anwärterinnen, dachten meist nicht daran, ein Leben als Nur-Hausfrau zu führen. Wie wir sehen konnten, waren ihre Migrationsabsichten von dem Wunsch geprägt, nicht nur irgendeine Arbeit zur Lebenssicherung auszuführen, sondern sich für eine qualifizierte Arbeit fortzubilden. Von den meisten modernisierungstheoretischen Ansätze werden diese Akteurinnen der Transformation und ihre Bewältigungsstrategien völlig ausgeblendet – und dies in doppelter Hinsicht. Erstens werden Frauen als Handelnde verunsichtbart, indem sie in den Konzepten und Studien entweder gänzlich unbenannt bleiben oder nur als passive Verliererinnen der sozialistischen Plangesellschaft bzw. als Opfer der Umbruchprozesse wahrgenommen werden. Zweitens wird Geschlecht – im Sinne von Gender – als grundlegende Kategorie sozialer, kultureller Klassifizierung und als gesellschaftlicher Platzanweiser desartikuliert. Indem die meisten Transformationsstudien die soziokulturellen Konstruktionsmechanismen von Geschlechtlichkeit ignorieren, tragen sie zu den Naturalisierungseffekten bei, denen biologisierte Annahmen einer körperlich begründeten Geschlechterdifferenz zugrunde liegen. In unzähligen Studien hat die Geschlechterforschung jedoch herausgearbeitet, dass Geschlechtlichkeit, die normative Geschlechterordnung der Zweigeschlechtlichkeit und die sich sozial und kulturell manifestierenden Geschlechterverhältnisse, der andauernden Reproduktion in Diskursen, auf symbolischer Ebene, durch Institutionen und auf dem Feld der Alltagspraktiken bedürfen, deren Artikulationen ein spezifisches Genderregime40 begründen. Denn als kulturelle und soziale Konstruktionen sind sie eigentlich offen für Veränderungen und Wandel, erst durch den soziokulturell eingeübten Umgang – die Philosophin Butler spricht von zwanghafter Performanz – werden sie zu einer sozial manifesten, „realen“ Größe und erscheinen als „natürlich“ gegebene Verhältnisse (vgl. u.a. J. Butler 1999; K. Verdery 1996: 62; H. Nickel 1999: 9 f.). Eine Theorie der Transformation sollte daher die vergeschlechtlichte Strukturierung gesellschaftlicher Prozesse und ihre vergeschlechtlichenden Effekte nicht unberücksichtigt lassen. Hinzu kommt, dass Geschlecht als symbolisches System und als Alltagspraxis im Sinne einer „alltäglichen Existenzweise“ (A. Maihofer 1994) es vor allem für eine kulturanthropologische Forschung auf Akteursebene notwendig macht, seine symbolischen und kulturellen ReProduktionen – das „doing gender“ im Alltagsleben – zu studieren. Umgekehrt beginnt jedoch auch die Geschlechterforschung gerade erst, sich dem Thema der „Transformation“ und den osteuropäischen „Transformationsgesellschaften“ zuzuwenden, wie Hildegard Maria Nickel (1999: 9) bedauernd feststellt. So sind über die spezifischen Konsequenzen der Umstrukturierungsprozesse für Frauen sowie über die Geschlechterverhältnisse in den osteuropäischen Gesellschaften bislang nur wenige Untersuchungen erschienen. Dabei steht ein großer Teil der Forschungen in der Tradition der klassischen Frauenforschung und ist auf ein relativ enges Themenspektrum reduziert (vgl. u.a. C. Einhorn 1993; N. Funke/ M. Mueller 1993; C. Lemke/ V. Penrose/ U. Ruppert 1996). Viele der frühen Ab40 Genderregime sind institutionalisierte Geschlechterpraktiken, Organisationsformen der Geschlechterverhältnisse, die als ein Geflecht von Normen, Regelungen und Prinzipien in den Strukturen gesellschaftlicher Praktiken verankert sind (vgl. H. Nickel 1999: 10).
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handlungen aus den Ländern selbst widmen sich dabei der Aufarbeitung der Folgen der – wie oft gesagt wird – „pseudo“ oder „falschen“ sozialistischen Emanzipationsverordnungen für Frauen (vgl. E. Farkashová/ Z. Kiczková 1993; H. Havelková 1993: 65). Hierbei wird nicht nur das reduktionistische Verständnis von Emanzipation durch Partizipation an der Arbeitswelt sowie das darin eingebettete Kollektivideal kritisiert. Auch wird im differenzfeministischen Sinne das Paradigma der „Gleichheit mit Männern“ einer Kritik unterzogen, da es ein „androgynes Konzept“ impliziere, welches die „natürliche“ weibliche Identität ignoriere (vgl. E. Farkashová/Z. Kiczková 1993: 87).41 In anderen Arbeiten werden die sozio-ökonomischen Folgen der kapitalistischen Umstrukturierungsversuche untersucht (vgl. u.a. P. Watson 2001; V. NikolicRistanovic 2001; C. Lemke 1996; E. Heitlinger 1993). Dies alleine wäre jedoch nicht problematisch, da auf diesen Gebieten sicherlich viel zu diskutieren und analysieren ist. Dabei dominiert jedoch eine spezifische Interpretation der Transformationsprozesse und Geschlechterverhältnisse, die als feministische Variante der Modernisierungstheorien bezeichnet werden kann. Denn auch in dieser Perspektive erscheinen Frauen vor allem als die Verliererinnen und passiven Opfer der über sie hereinbrechenden Prozesse. Tatsächlich können die dramatischen negativen Auswirkungen der Durchkapitalisierung der Lebensverhältnisse in den osteuropäischen Ländern nicht negiert werden. Doch die Perspektive der meisten mir vorliegenden Frauenstudien hat den problematischen Effekt, die Geschlechterverhältnisse diskursiv zu re-fixieren, sie also erneut festzuschreiben und damit letztlich zu naturalisieren – ebenso wie es die vermeintlich geschlechtsneutralen männlichen Konzepte tun. So werden die Geschlechterverhältnisse häufig in einer Weise beschrieben, als gebe es nur die Alternative „Modernisierung“ oder „Verschlechterung“ und die Geschlechterordnung strukturell und symbolisch gleich asymmetrisch bliebe. Dies ent-historisiert nicht nur die als sozial und kulturell zu verstehende Kategorie Geschlecht, es versperrt auch den Blick auf die Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten der Geschlechterdynamiken. Feminisierungsprozesse (in) der Transformation Meines Erachtens können geschlechtersensible Transformationsforschungen von entsprechenden Vorarbeiten in globalisierungskritischen Ansätzen lernen. Hier wird die oben beschriebene und kritisierte Perspektive gewendet und gezeigt, wie gerade die neoliberale Modernisierung und Durchkapitalisierung der Lebensverhältnisse unter den Bedingungen einer von den westlichen postindustriellen Metropolen 41 Diese nicht unbedeutende Gruppe von Frauenforscherinnen, vor allem in Tschechien, meinen dann auch, dass sich Frauen nach der Wende nach einer reinen Hausfrauenrolle und einem Rückzug in die Familie sehnten: „As soon as the false ideology is vanishing many people will welcome the new freedom to go back to traditions which were formally forbidden“ (J. Silková 1993: 76). Oder Farkashová (1993) schreibt: „Real equality must start with sexual differences as given. It should articulate the specific female subjectivity.“ Doch auch jene Kritikerinnen kommen nicht umhin festzuhalten, dass die sozialistische Geschlechterordnung zur finanziellen Unabhängigkeit von Frauen beitrug und Frauen aus ihrer Arbeit Selbstbewusstsein herausziehen konnten, etwa Havelková: „Die Arbeit außerhalb des Hauses wurde zu einem persönlichen Wert“ (1993: 70 f.).
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abhängigen Entwicklung ungeahnte vergeschlechtlichte Effekte für periphere Regionen mit sich bringen. So ist auch in post-sozialistischen osteuropäischen Ländern einerseits eine Refeminisierung, eine Neuinszenierung von geschlechterdifferenten Symboliken und Bedeutungszuschreibungen in der Öffentlichkeit und im expandierenden Privatsektor festzustellen. Meine Gesprächspartnerinnen erzählten nicht ohne Bitterkeit, dass insbesondere im letztgenannten Bereich geschlechtshierarchische Zuschreibungen zunähmen. Sekretariatsstellen würden in weiblicher und Posten als leitende Angestellte in männlicher Form ausgeschrieben. Angesichts des während des Sozialismus errungenen hohen Qualifikationsgrads von Frauen und dem Vordringen von Frauen in männlich konnotierte Berufsfelder bedeutet dies eine massive geschlechtsspezifische Abwertung und Neukonstituierung des Arbeitsmarkts, bei der der Privatsektor als stark „maskulinisierter Raum“ neu entsteht. Einige meiner Gesprächspartnerinnen beklagten in ihren Unternehmen bereits eine zunehmende anti-weibliche Stimmung bis hin zu Androhungen von „Deprofessionalisierung“ und Entlassung. Hinzu kommt, dass die Lohnunterschiede zwischen öffentlichem und privatem Sektor anwuchsen. Der durchschnittliche Lohn im von Frauen dominierten noch überwiegend staatlichen Gesundheitswesen ist z.B. um 75 Prozent niedriger als im Banken- und Versicherungswesen (vgl. J. True 1999: 365). Eine geschlechterdifferente Ordnung hält jedoch nicht nur auf dem Arbeitsmarkt verstärkt Einzug. Wie die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Jacqui True (1999) in ihrer Analyse der Neukonstituierung der tschechischen Öffentlichkeit im engeren Sinne zeigt, ist auch hier Geschlecht ein entscheidender Faktor. True argumentiert, dass die Vermarktung von geschlechterdifferenten Codes und Begehren durch die globalisierten Kulturindustrien und vor allem durch die Werbung maßgeblich zur Expansion der kapitalistischen Marktökonomie in den osteuropäischen Ländern beigetragen hat. Produkte, die Geschlechterdifferenz symbolisch eingeschrieben haben, und Firmen, die geschlechtsspezifisch KonsumentInnengruppen anvisierten, hätten einen strategischen Vorteil. Denn trotz fallender Einkommen sei der private Konsum in den osteuropäischen Ländern stark angestiegen. Angesichts der niedrigen Einkommen komme es dabei vor allem auf die Werbestrategien an, die folglich nicht auf Einkommensunterschiede, vielmehr auf Geschlechterunterschiede zielten. True zufolge kann „Marketing Gender“ jedoch nur dadurch wirksam werden, dass es im post-sozialistischen Diskurs auf einen Resonanzboden trifft. Da die Geschlechterdifferenz im Sozialismus, wie auch osteuropäische Forscherinnen kritisiert haben, heruntergespielt worden sei, werde ihre populäre Inszenierung unter dem Deckmantel des „freien Marktes“ nun als „befreiend“ und als Inbegriff von Individualität gelesen (ebd.: 368-373). Doch auch wenn dies zu einer Omnipräsenz von inszenierter Femininität und weiblicher Nacktheit führe, über die auch ich in slowakischen Städten erstaunt war, sei der Prozess als durchaus ambivalent zu beurteilen. Denn aus den diversen neuen Bilderwelten von Magazinen wie Cosmopolitan würden Frauen jenseits der Kommodifizierung Anteile und Anregungen für sich herausziehen, die auf ein neues feministisches Bewusstsein hindeuteten (vgl. ebd.: 374-378; M. Nicolaescu 2001). Ein weiterer Bereich, auf den Gender-Studien hinweisen, sind die Folgen der spezifischen Logik des wirtschaftlichen, staatlichen und sozialen Umbaus, die ebenso eine feminisierende Tendenz aufweisen. So werden die sozialen „Folgekosten“ der Privatisierungspolitik und des Abbaus einst staatlicher Aufgaben auf die Familien
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abgewälzt. Die Aktivierung familiärer Netzwerkstrukturen ist im neoliberalen Programm einkalkuliert, was vor allem zu Lasten von Frauen geht (vgl. C. Lemke 1996: 29). So ist es nicht verwunderlich, dass der Kahlschlag in den sozialen Sicherungssystemen ideologisch von lauten Rufen wie: „Frauen zurück an den Herd!“ begleitet ist. Diese antifeministischen und hausfrauisierenden Diskurse sind auch in der slowakischen Öffentlichkeit wahrnehmbar. Neben ihrer Funktion als ideologische Begleitmusik zum Rückbau der Sozialsysteme sind sie auch als Versuch zu lesen, nach der Ära sozialistischer Geschlechterpolitik die öffentliche Sphäre nach dem Vorbild der hegemonialen westlichen Männlichkeit zu remaskulinisieren. So interpretiert Vlasta Jalusic (1998: 455 f.) diese antifeministischen Diskurse und das Zurückdrängen von Frauen aus dem politischen Bereich in Tschechien als Versuch, die in der kapitalistischen Moderne dominante Trennung in einen „öffentlichen Mann“ und eine „private Frau“ zu verankern. Entgegen den prognostizierten Auswirkungen des totalen Ausschlusses und der „Verhäuslichung“ von Frauen nehmen die Entwicklungen jedoch eine viel widersprüchlichere Gestalt an: denn gerade die Abwälzung der sozialen Folgekosten auf die Familien, nimmt Frauen verstärkt in die Pflicht, zum Familieneinkommen beizutragen. Auch scheinen sie die neuen bevorzugten Arbeitskräfte der Reindustrialisierungsstrategien zu sein. Wie das Beispiel der jungen Au-pair-Frauen und ihrer Eltern zeigt, genießen diese Frauen keineswegs den „Luxus“, sich an den Herd zurückzuziehen. Vielmehr versuchen sie, ihren Arbeitsplatz in der formalen Wirtschaft zu halten, und sind zu Zusatzverdiensten im informellen Sektor gezwungen, um sich und ihre Familie versorgen zu können. Die Folge sind „pluri-aktive“ Haushalte. Darüber hinaus waren in nicht wenigen Familien, in die ich Einblicke erhielt, oft die Männer verrentet oder arbeitslos, weil sie in den stillgelegten Fabriken nicht mehr gebraucht wurden. Die einseitige sozialistische Industriestruktur mit der Dominanz des schwerindustriellen Sektors, als auch die geschlechtliche Segmentation des Arbeitsmarktes mit einer überproportionalen Beschäftigung von Männern in der Schwerindustrie während des Sozialismus scheint nun vor allem Männern zum Nachteil zu gereichen. Eine solche, den Mythos des männlichen Ernährers sprengende Tendenz, stellt die Sozialwissenschaftlerin Marina Blagojevic (2002) auch für die Transformationsprozesse in Serbien fest. Bereits die negativen ökonomischen Entwicklungen in den achtziger Jahren und dann vor allem die Deindustrialisierung in den neunziger Jahren hatten, so Blagojevic, massive Auswirkungen auf die kulturellen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie auf die sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Während die traditionelle Rolle des Mannes als Vorstand und Versorger der Familie an gesellschaftlicher Bedeutung verloren habe, hätten sich Frauen aufgrund ihres Selbstverständnisses als „aufopferungsvolle Versorgerin“ schneller und flexibler an die neue ökonomische Situation anpassen können und wohl auch müssen. Hinzu kommt, dass in den neu entstandenen Sektoren der Wirtschaft, insbesondere im informellen Bereich, vor allem weibliche Arbeitskräfte nachgefragt wurden. Diese Situation eines, so Blagojevic, „aus den Fugen geratenen Patriarchats“ führe, wie der Krieg in Serbien zugespitzt zeigen kann, ohne ihn dar-
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aus eindimensional ableiten zu wollen, viel eher zu einem Problem hegemonialer Männlichkeit als zu einem Frauenproblem.42 Auch in der Slowakei lässt sich beobachten, dass die Ressourcen, Versorgungsnetzwerke, Qualifikationen und die Kreativität von Frauen zunehmend entscheidend werden für den sozialen Status und Lebensstandard der ganzen Familie.43 Diese Tendenz schlägt sich nicht unbedingt in offiziellen Arbeitslosenstatistiken nieder, da die formelle Anstellung nur eine von vielen Einkommensmöglichkeiten in pluriaktiven Haushalten darstellt. Für die Slowakei habe ich auch keine aktuellen Daten über Neuanstellungen von Frauen finden können. Doch ein Blick in die Arbeitsmarkt- und Arbeitslosenstatistiken, die im EU-Report vom November 2000 vorgelegt wurden, zeigt, dass die offizielle Erwerbslosenquote bei Frauen (18,6 Prozent) nur minimal unter der von Männern (19,5 Prozent) lag. Insgesamt ist die Arbeitslosigkeit jedoch kontinuierlich auf 18,5 Prozent angestiegen (EU-Report 2000: 32 f.; siehe auch M. Bútora/ G. Meseznikov/ Z. Bútorová 1999: 290 ff.).44 In diesem Zusammenhang lässt sich für osteuropäische Länder von einer äußerst prekären Feminisierung von Arbeit und Verantwortung sprechen. Eine solche Tendenz spätkapitalistischer peripherer Entwicklungsprozesse haben GlobalisierungstheoretikerInnen bereits für sogenannte „Dritte Welt“-Länder festgestellt. Ein Blick in den Süden kann in diesem Sinne auch hilfreich sein, um Entwicklungstendenzen in den osteuropäischen peripherisierten Ländern zu interpretieren. Die neue internationale Arbeitsteilung, die Flexibilisierung und Dezentralisierung der Produktion im Sinne einer Auslagerung von Fertigungsschritten sowie ihres Subcontracting an einheimische UnternehmerInnen in Billiglohnländer hätten, so Christa Wichterich, zu einem doppelbödigen Jobwunder bei Frauen geführt. In den exportorientierten Weltmarktfabriken und in den Freihandelszonen sind sie es, die als billige, doch schnelle und flinke Arbeitskräfte stark nachgefragt werden (vgl. u.a. C. Wichterich 2000: 13-36; M. von Osten 2001; S. Sassen 1998b). Dabei ist der Gewinn, den diese Art der Feminisierung von Arbeit in niedrigentlohnten Sektoren häufig ohne gewerkschaftliche und staatliche Regulation für Frauen mit sich bringt, durchaus zwiespältig: Wie ethnografische Studien aufzeigen, 42 Ruth Seifert bezieht sich in ihrer feministischen Analyse von Kriegen auf Marina Blagojevics Analyse der vergeschlechtlichten Auswirkungen der Transformationsprozesse. Denn Blagojevic fährt in ihrer Analyse fort, den Krieg als kompensatorische Strategie von Männern zur Rückeroberung und Stabilisierung hegemonialer Männlichkeit zu begreifen. Männliche Macht habe nur noch als Phantasma existiert und keiner Realität im sozioökonomischen Raum entsprochen. Nachdem die traditionelle Männerposition als Ernährer verloren gegangen war und keine anderen lebbaren zur Verfügung standen, sei der weitgehende Kriegskonsens und die subjektive Neigung zur kriegerischen Konfliktbewältigung auch darauf zurückzuführen. Die Alternative des „Soldaten fürs Vaterland“ sei eine der wenigen übrig gebliebenen traditionellen Männlichkeitspositionen gewesen (taz 5. 3. 2001). 43 Auch Studien in Ostdeutschland zeigen diesen Entwicklungsverlauf, der viele Frauen zu Haupternährerinnen gemacht hat (siehe H. Nickel 1999: 6). 44 Auch im Slovakia Report von 1998 konstatieren die AutorInnen, dass die Arbeitslosenquote von Frauen 1997 nahezu gleich hoch war wie die von Männern (16,4 Prozent bei Männern gegenüber 16,5 Prozent bei Frauen). Die Statistik zeigt weiterhin, dass zwar der Anteil von Frauen an der Gesamtheit der Berufstätigen zwischen 1989 und 1997 von 45,5 auf 41,6 Prozent nicht so dramatisch sank wie angenommen, die geschlechtsspezifische Segmentation zwischen öffentlichem und privatem Sektor stieg jedoch: Während 1997 54,3 Prozent der Erwerbstätigen im öffentlichen Sektor Frauen waren, betrug ihr Prozentsatz im privaten Sektor nur 34,6 Prozent.
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führt die Lohnarbeit einerseits nicht nur zu einer stärkeren finanziellen Selbstständigkeit der meist jungen Frauen. Oft ist mit der Arbeitsaufnahme auch der Wegzug aus dem familiären Umfeld verbunden, was den Einstieg in eine eigenständige Lebensführung bedeuten kann. Andererseits aber belegen die Studien, dass mit dieser Loslösung auch neue Risiken verbunden sind. So entstehen aufgrund der prekären Arbeitsverhältnisse in den Weltmarktsfabriken und ihren Zulieferbetrieben neue, gewaltförmige Abhängigkeitsverhältnisse. Für das „Frauen-Job-Wunder“ in der mexikanischen Maquiadora-Zone an der US-amerikanischen Grenze zeigt Ursula Biemann ferner, wie in der Region die männliche häusliche und außerhäusliche Gewalt gegen Frauen exponentiell anstieg. Dies analysiert sie als Reaktion auf das gestiegene Selbstbewusstsein der Frauen (vgl. U. Biemann 1999: 37-41; P. Dannecker 2000: 49-74; B. Musiolek 1999: 582). Auch in den neuen Billiglohnproduktionen in Osteuropa ist, wie erwähnt, die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften gestiegen. In diesem Zusammenhang spricht Bettina Musiolek (1999: 591) in ihrer historischen und gegenwartsorientierten Untersuchung der Entwicklung der Textil- und Bekleidungsindustrie im osteuropäischen Raum von einer „Maquiladorisierung Osteuropas“. Ein Grund hierfür seien die verstärkt globalisierte Produktionsweise und die Auslagerung von Näharbeiten in osteuropäische Länder, welche mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Produktion und der Durchsetzung neoliberaler Transformationsstrategien zu einem „wohlfeilen Hinterhof Westeuropas“ geworden sei. Aufgrund der geografischen Nähe zu den Absatzmärkten im Westen, den technologischen und infrastrukturellen Voraussetzungen45, den Währungsabwertungen und Austauschrelationen sowie aufgrund des privilegierten Zugangs Osteuropas zum EU-Markt infolge der EUOsterweiterung sei Osteuropa nach 1989 zu einem begehrten Outsourcing-Standort geworden und habe südostasiatische Länder in dieser Funktion abgelöst (ebd.: 590). Am Beispiel der bulgarischen Textilproduktion, die nach der Wende mit ausländischem Kapital (u.a. von Calida und Adidas) neu aufgebaut wurde, kann Musiolek zeigen, dass dabei vor allem das „weibliche Arbeitsvermögen und seine Unterbezahlung“ eine erhebliche Rolle spielt. Achtzig bis – neunzig Prozent der Beschäftigten sind Frauen, die 1997 für einen nicht existenzsichernden Durchschnittslohn von sechzig Euro im Monat die Markenprodukte fertigten (ebd.: 593). Auch in der Slowakei stellt die Textilproduktion einen der wenigen ex-sozialistischen Industriezweige dar, die als „arbeitsintensive“ Hilfsindustrien für die ausdifferenzierten Fertigungsketten transnationaler Konzerne wieder aufgebaut wurden. Dies bettet sich ein in eine spezifische Reindustrialisierungspolitik der westeuropäischen Staaten und der EU gegenüber Osteuropa, die, so Claire Wallace (1999), den sozialistischen Industrialisierungsstandard als arbeitsintensive Verarbeitungsindustrie neu zementiert.
45 Am Beispiel der Textilindustrie lässt sich zeigen, wie ein während des Sozialismus funktionierender und weit entwickelter Industriezweig, der ehemals binnenmarktorientiert und in den Mitgliedsländern des RGW arbeitsteilig organisiert war, durch die marktwirtschaftliche Transformation und die Auflösung des RGW-Verbunds zusammenbrach (vgl. B. Musiolek 1999: 591 f.). Diese industrielle Basis stellte jedoch die Voraussetzung für ihre marktwirtschaftliche Neuausrichtung durch transnational operierende Konzerne dar, wobei sie auch von der Aussetzung staatlicher Regulation profitieren wie Sozialgarantien und arbeitsrechtliche Standards.
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Globalisierierungskritische Studien machen aber noch einen anderen Trend deutlich. Sie zeigen, dass die voranschreitende Informalisierung der Wirtschaftsaktivitäten zwar an altbekannten Praktiken und Taktiken anknüpft, nicht jedoch als vormoderne Erscheinung, sondern als Entwicklungsmodus des Spätkapitalismus zu betrachten ist. Informelle Aktivitäten dürften nicht als parasitärer Sektor abgewertet werden, sondern seien als Stabilisierungsversuch des Sozialen und als ein Regulationsprinzip angesichts fortschreitender Unsicherheit zu analysieren.46 In Russland oder Rumänien partizipieren mittlerweile über fünfzig Prozent der Haushalte nicht mehr an der monetären Zirkulationssphäre (für die Slowakei liegen hierzu keine Schätzungen vor). Doch sie überleben und bauen Häuser mit Hilfe der „barter economy“, einem Naturalienhandel, der in Russland Ende der neunziger Jahre über 45 Prozent des Güteraustauschs bestimmte (vgl. L. Heller/ S. Nuss 1999: 569). Die Studien zeigen jedoch auch, dass die Informalisierung gar als intendierter Effekt der neuen flexibilisierten Produktionsweisen verstanden werden kann. Gerade der spezifische Modus der Transnationalisierung von Wirtschaftsbeziehungen führe in Ost-Mitteleuropa zu informalisierten Arbeitsverhältnissen, da der Druck auf die Produktionskosten über das Zuliefernetzwerk hinunter bis zu den Hinterhofwerkstätten weitergegeben werde. Bettina Musiolek (1999) demonstriert an den unterschiedlichen Produktionsverhältnissen im Bereich der Textilindustrie in Bulgarien, wie durch kleine private Betriebsgründungen ein wachsender Graubereich entstehen konnte, der sozusagen Bulgariens Standortvorteil ausmacht. Im historischen Rückblick stellt Musiolek fest, dass die kapitalistische Entwicklung den informellen Sektor keineswegs automatisch verdrängt, im Gegenteil. Immer wieder würden ungeregelte un- und unterbezahlte Arbeiten hervorgebracht: „Die flexible abrufbare Teilzeitarbeit in der Heimindustrie subventionierte die Verlags-Großbetriebe in den Städten. Heute subventioniert die unterbezahlte, deregulierte Fabrik- und Heimarbeit osteuropäischer Näherinnen ‚Weltkonzerne’ wie Adidas, H&M oder C&A“ (ebd.: 599). Insofern ist der informelle Sektor, so Musiolek (ebd.), „eine kontinuierliche Bedingung kapitalistischer Rationalität. Verdrängt wurde die informelle Arbeit allerdings in der Tat aus dem öffentlichen Bewusstsein.“ 47 Diese gleichzeitigen Entwicklungen von formaler und informeller Wirtschaft bis hin zur erneuerten Bedeutung der familienbasierten Subsistenzproduktion führen zu einer Mix- oder hybriden Ökonomie, die für die Transformationsgesellschaften kennzeichnend ist. Sie basiert, wie ich darzustellen versuchte, dabei auf einem spezifisch neu zu konstruierendem Genderregime mit höchst ambivalenten Implikationen. Denn die weibliche Arbeitskraft spielt bei ihrer gleichzeitigen Entnennung auf der Ebene modernisierungstheoretischer Analysen und öffentlicher refeminisieren46 Auch Klaus Müller (1998: 211) charakterisiert den informellen Sektor letztlich nur negativ, wenn er schreibt: „Die Tugenden, die hier einsozialisiert werden, sind alles andere als liberal, sondern weit eher solche der Steuervermeidung, der Schutzgeldzahlung und ausgehandelter Marktzugänge. (...) Informalisierung betrifft also nicht allein einen ökonomischen Sachverhalt, sondern die Tatsache, dass sich beträchtliche Teile der Bevölkerung und zahlreiche Amtsträger in außer- und illegalen Bereichen betätigen.“ 47 Marion von Osten (2001) oder Saskia Sassen (1998a) zeigen zudem, dass auch die westliche Wirtschaft von Informalisierung und Hinterhofwerkstätten gekennzeichnet ist. Gerade die Expansion gehobener Dienstleistungen führe auch dort zu einer Zunahme niedrigentlohnter Dienstleistungstätigkeiten, die weitgehend dereguliert, informalisiert bis illegalisiert abgewickelt werden, wie im Falle der Unterauftragsvergabe im Reinigungsgewerbe und bei personenbezogenen Dienstleistungen zu sehen sei.
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der Inszenierungen eine herausragende Rolle für die ökonomischen Restrukturierungen. Dabei schaffen gerade die dargestellten antifeministischen Diskurse die Voraussetzungen für den sozioökonomischen Einschluss von Frauen als unterbezahlte Arbeitskräfte. Denn der mit der neu konzipierten Rollenzuschreibung der „Hausfrau“ – womit Erwerbsarbeit höchstens als „Zuverdienst“ betrachtet werden kann – einhergehende Abbau ehemaliger sozialistischer Genderstandards in der Arbeitswelt stellt die Vorbedingung für ihren verstärkten ökonomischen Einschluss dar. Au-pair als individuelle Bewältigungsstrategie des Transformationsprozesses Aus diesem Blickwinkel entpuppt sich auch die informelle bzw. informalisierte Praxis der Au-pair-Migration nicht nur als individuelle und zum Teil familienbasierte Bewältigungsstrategie, um als junge Frau mit den Dynamiken und Auswirkungen der Transformationsprozesse umzugehen. Vielmehr verweist die Wahl des Weges „Au-pair“ mit den daran geknüpften Vorstellungen direkt auf die neuen Herausforderungen der Umstrukturierung, wie sie die Frauen auch antizipieren. Denn sie wollen nicht, wie es die antifeministischen Diskurse fordern, zurück an den Herd und in die Fabriken, sondern träumten von einer qualifizierten Berufstätigkeit, die Selbstständigkeit und ein besseres Leben verspricht. Diese Aussichten werden durch die voranschreitende Liberalisierungspolitik allerdings erheblich erschwert, geht diese doch mit massiven Verschlechterungen der Lebensbedingungen einher. Hinzu kommt die Erfahrung, wie aus der sozialistischen Ära sozial bedeutsame und anerkannte berufliche Qualifikationen, Bildungstitel, soziale Netzwerke und Statushierarchien entwertet werden. Von derartigen Erfahrungen der Eltern konnten alle Au-pairs berichten. Auch die eigene Arbeitslosigkeit nach Erlangung eines höheren Bildungsabschlusses interpretierten sie als Dequalifizierung: „Der Gymnasiumsabschluss ist wertlos“, waren die meisten von mir interviewten Frauen überzeugt. Neue Fähigkeiten, Strategien, Wissens- und Kapitalformen im Bourdieuschen Sinne sind gefragt. Dabei stehen im Zuge der Öffnungs- und Liberalisierungspolitik insbesondere Westerfahrungen und die Kenntnis westlicher Fremdsprachen hoch im Kurs. Zudem schienen die ehrgeizigen jungen Frauen wie Magdalena, Jirina und Anna zu wissen, dass sie sich angesichts der geringen ökonomischen und sozialen Ressourcen ihrer Eltern eigenständig Zukunftsperspektiven aufbauen müssen. Nachdem sie nicht auf ausreichendes familiäres soziales und ökonomisches Startkapital zurückgreifen können, um in der Transformationsgesellschaft eine erwünschte Position einzunehmen, setzten sie auf weitere Qualifizierung und Wissenskapital, was ihrer Ansicht nach nur im westlichen Ausland zu erwerben ist. Das staatliche slowakische Bildungssystem könne ihnen nichts mehr bieten, es sei schlecht und korrupt. Und private Ausbildungsinstitutionen können sie sich nicht leisten. So versuchen sie, mit einer zeitlich befristeten Perspektive auf den transnationalen Raum auszuweichen, der sich seit Ende der 1990er Jahre zwischen Ost- und Westeuropa entfaltete, und ihn für zusätzliche Qualifizierungsschritte und finanzielle Ressourcen zu nützen. Hiervon versprechen sich alle interviewten Frauen, nach der Rückkehr in die Slowakei bessere Chancen auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu haben. Die meisten Au-pairs gaben daher als wesentliche Motivation ihrer
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Migration den Spracherwerb an mit der Hoffnung, das erworbene Wissenskapital zu Hause in ökonomisches Kapital konvertieren zu können. Und eine Anekdote, die ich in der Slowakei öfters zu hören bekam, gab ihren Hoffnungen Recht: Selbst auf Zeitungsanzeigen für Reinigungskräfte stehe mittlerweile dabei: „Deutschkenntnisse erwünscht“. In diesem Sinne ist die Migration eine Strategie, mit der die jungen Frauen versuchen, sich den spezifischen Herausforderungen der sich verändernden Arbeits- und Lebensverhältnisse zu stellen. Dabei stoßen sie jedoch auf weitere Hürden, die ihnen durch die Migrationspolitik Deutschlands und der Europäischen Union in den Weg gestellt werden und ihre Migration wesentlich mitstrukturieren. Ein sich formierendes, in weiten Teilen auf Abschottung zielendes europäische Migrationsregime, welches mit dem Ende des Kalten Krieges sowohl die Einwanderungsbestimmungen verschärfte als auch die Abwehr von Migrationsbewegungen an den Außengrenzen der Europäischen Union forcierte, fordert von den slowakischen Frauen Erfindungsreichtum bei der Suche nach Wegen in den Westen. Diese Suche, die Schwierigkeiten, mit denen die jungen Frauen konfrontiert werden, und ihre Strategien, die sie im Umgang damit entwickeln, sind Thema des nächsten Kapitels.
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3. Wege und Stationen
„Was hätte ich tun sollen? Was soll ich tun?, fragte ich meinen Vater, der am Wochenende erschöpft aus der Hauptstadt kam, wo er Arbeit gefunden hatte. Was soll ich tun?, fragte ich meine Mama. Sie ist Sekretärin, und ich sehe noch ihren Blick, wenn das Keuchen des Kühlschranks unsere Küche füllte, den Raum zwischen unseren Blicken, die sagten: sei still, wir können uns keinen neuen leisten. Was ich tat? Ich ging. Meine Schwester war bereits gegangen, um in Prag, im Schatten der Burg, die heißgelaufenen Füße von Touristen in elegantes Schuhwerk zu zwängen. So ging ich auch und kam, mit dem Kopf voller Lügen, in dein Land (...) Ich quartierte mich ein, bei der Familie der Mittelschicht.” (S. Riedel 2002)
3.1. Europäisches Migrationsregime „Au-pair – was sonst?!” Bratislava Busbahnhof, Mlynské Nivy: Ich bin auf der Rückreise von meinem ersten zweiwöchigen Forschungsaufenthalt in der Slowakei im Winter 1999. Dieser stand ganz unter dem Vorzeichen einer ersten Annäherung an die slowakischen Lebensverhältnisse und einer Exploration des Au-pair-Kontexts. So traf ich auf der Reise vor allem mit ehemaligen Au-pairs, insgesamt mit sechs jungen Frauen, zusammen. Zudem konnte ich mit zwei Vermittlerinnen von Agenturen der katholischen und evangelischen Kirche längere Gespräche führen. Auf meinen Stadtrundgängen in der Hauptstadt wie auch in den kleineren und größeren Städten der Ostslowakei gewann ich darüber hinaus ein eindrückliches Bild von der öffentlichen Präsenz von Au-pair-Vermittlungsangeboten in der Slowakei. Insbesonders in Bratislava recherchierte ich die Agentur-Szene, wobei ich drei der umsatzstärksten kommerziellen Vermittlungsagenturen besuchte und Gespräche mit VermittlerInnen führte. Parallel dazu nahm ich für einen ersten Gedankenaustausch über meine Eindrücke und Interpretationsansätze Kontakt zu Forschungseinrichtungen auf, wie etwa zu dem Institut für Ethnologie der Slowakischen Akademie der Wissenschaft sowie zu nicht-staatlichen Forschungsinstitutionen wie dem Institute of Public Affairs. Mit einem Puzzle verschiedener Gedanken und Empfindungen im Kopf und auf Tonband begab ich mich zur vorerst letzten Station meines Slowakei-Aufenthalts, dem zentralen Busbahnhof, Knotenpunkt der regionalen und transeuropäischen Busverbindungen. Meine Begleiterin der evangelischen Vermittlungsagentur hatten mich auf diese Reisemöglichkeit in das westeuropäische Ausland hingewiesen, die von vielen SlowakInnen aufgrund der geringeren Kosten gegenüber dem Zug vorgezogen wird. Von der Hoffnung motiviert, auch die Rückfahrt noch zu Forschungszwecken nutzen zu können und vielleicht eine junge Frau zu treffen, die als
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Au-pair nach Deutschland geht, verzichtete ich auf die bequemere Zugfahrt und reihte mich ein in die lange Schlange vor dem Ticket-Schalter. Meine Erwartungen wurden bei weitem übertroffen. Die knapp zwölfstündige Reise zwischen der Slowakei und Deutschland, die von dem Busunternehmen Euroline (Tochterunternehmen von Touring, Deutsche Bahn) zwei Mal pro Woche angeboten wird, sollte zu einem der wichtigsten Kontexte meiner mehr-ortigen Feldforschung werden. Denn aus der anfangs bunt gemischten Schlange aus Koffern, Taschen und Menschen kristallisierten sich hauptsächlich junge Frauen und nur einige Männer heraus, die auf die Abfahrt der zwei Busse warteten. Einige von ihnen standen alleine herum und wirkten sehr routiniert. Es war wohl nicht ihre erste Fahrt nach Deutschland, vermutete ich. Andere wurden von ihren Großmüttern begleitet, die ihrem Enkelkind alles Gute für die Reise ins Unbekannte wünschten – als wüssten sie nicht, wann sie sich wiedersehen werden. Tränenreich war so mancher Abschied. Ich war überrascht von dieser Szenerie und versuchte die Minuten vor der Abfahrt noch für kleine Gespräche darüber zu nutzen, aus welchen Gründen sich die jungen Frauen auf den Weg nach Deutschland machten. Das Ergebnis meiner Fragen war so eindeutig, dass die Buslinie auch in Au-pair-Express umbenannt werden könnte. Denn von den meisten erhielt ich wortwörtlich zu Antwort: „Au-pair – was sonst?!“ Nur einige wenige der Angesprochenen berichteten mir, dass sie auf der Fahrt zu einem Ferienjob in einer Kneipe, einer Saisonarbeit als Pflückerinnen oder zu ihrem Studium seien. Auch wenn die Antwort der jungen Frauen häufig nicht viel länger ausfiel, wurde sie für meine Beschäftigung mit der Au-pair-Praxis osteuropäischer Frauen zu einem Schlüsselsatz. Denn, wie ich lernen sollte, verwies sie nicht nur auf den von mir im vorausgegangenem Kapitel skizzierten Herkunftskontext der jungen Frauen. Auch fassten sie mit diesen knappen Worten den migrationspolitischen Kontext zusammen, in dem sie sich mit ihrer transnational ausgreifenden Lebensstrategie zu bewegen hatten. Vor dem Hintergrund meiner noch frischen Forschungseindrücke in der Slowakei und den dabei gewonnenen Einblicken in die Motivstrukturen der jungen Frauen, die als Au-pair nach Deutschland gingen, glaubte ich zunächst, die Frauen wollten mit ihrer einsilbigen Antwort zum Ausdruck bringen: Was sollten wir angesichts der Lebensverhältnisse in der Slowakei sonst machen? So erinnerte mich die Au-pair-Geschichte von Nadja, mit der ich während der Busfahrt ins Gespräch kam, an die Erzählungen der von mir bereits besuchten Frauen. Auch Nadja hatte nach Beendigung des Gymnasiums ihre Erfahrung mit der Arbeitslosigkeit gemacht und sah für sich nur schlechte berufliche Zukunftsaussichten in der Slowakei. Der Wunsch zu studieren, hatte sie bereits vor zwei Jahren als Aupair nach Deutschland geführt. Doch Nadjas Schilderungen ihrer Migrationsgeschichte wiesen mich auf die Notwendigkeit hin, die Aussage „Au-pair- was sonst!“ nicht nur auf die Lebensverhältnisse in der Slowakei zu beziehen, sondern auch auf den vor ihr liegenden Weg und die Möglichkeit, in die Europäische Union und insbesondere nach Deutschland zu gelangen: Angesichts der restriktiven Migrationspolitiken der EU-europäischen Länder wie Deutschland, die seit Beginn der neunziger Jahre als Bau der „Festung Europa“ in der kritischen Öffentlichkeit beschrieben werden, ist Au-pair als kreative Strategie junger Frauen aus Osteuropa zu verstehen, ins westeuropäische Ausland zu gelangen.
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In den folgenden Abschnitten werde ich daher die Migrationspolitik Deutschlands und der Europäischen Union, die seit den neunziger Jahren nationalstaatliche Regulationsversuche ergänzt und teilweise ersetzt hat, skizzieren und zeigen, wie sich die Au-pair-Praxis der jungen Frauen innerhalb dieser Rahmenbedingungen herausgebildet hat. In einem weiteren Schritt werde ich mich der Vermittlungslandschaft und den verschiedenen Institutionen zuwenden, die den Au-pair-Weg organisieren und zu regulieren versuchen. Denn parallel zu der steigenden Zahl von Au-pairBewerberinnen aus osteuropäischen Ländern seit Anfang der neunziger Jahre ist auch eine Veränderung der Vermittlungslandschaft in Deutschland und in osteuropäischen Ländern wie der Slowakei zu beobachten. Daher werde ich auf die nationalen und europäischen Regelungen der Institution „Au-pair“ eingehen und sie mit der Praxis und Deutung der involvierten Behörden wie der Arbeitsämter und der kommerziellen und nicht-kommerziellen Vermittlungsagenturen in der Slowakei und in Deutschland kontrastieren. Vor allem für die nicht-kommerziellen Stellen, die mit der Vermittlung auch einen Beratungs- und Betreuungsauftrag verbanden, brachten die zunehmende Zahl osteuropäischer Au-pairs sowie die Veränderung der Vermittlungslandschaft neue Problemfelder und Konfliktlinien hervor. Vor diesem Hintergrund wurde mein Forschungsinteresse von der evangelischen Vermittlungsstelle in Süddeutschland, die zu meinem zentralen Beobachtungsraum wurde, anfänglich sehr begrüßt, da sich die engagierte Vermittlerin durch meine Forschung Aufschluss über die veränderte Situation erhoffte. So half sie mir auch, Kontakt zu ihrer Partnerorganisation in der Slowakei aufzubauen, deren Vermittlungstätigkeit ich während meiner zwei Reisen alltagsnah studieren konnte. Traf ich auch bei kommerziellen Agenturen in der Slowakei mit meiner Forschung auf offene Ohren, war mir eine ethnografische Erforschung kommerzieller Agenturen in Deutschland nicht möglich. Die von mir hier kontaktierten Agenturen waren zu einer Zusammenarbeit nicht bereit. Da ich mich deshalb in Deutschland auf die Vermittlungsarbeit der evangelischen Kirche konzentrieren musste, wird die Darstellung dieses Kontexts im Folgenden den meisten Raum einnehmen. Trotz der restriktiven Migrationspolitik der EU-europäischen Länder lassen sich die jungen Frauen aus der Slowakei nicht von ihrem Ziel abbringen, als Au-pair in Deutschland zu arbeiten. In einem weiteren Schritt werde ich daher nachzeichnen, zu welchen Strategien und Taktiken die Frauen greifen, um selbst nach Ablauf des einjährigen Au-pair-Visums in Westeuropa bleiben zu können, wobei sie meist auf inoffizielle Wege verwiesen sind. Dabei lässt sich zeigen, dass der gesamte Au-pairMigrationskomplex viele Ähnlichkeiten zu anderen neuen Migrationsmustern des Wanderungsraums Europa aufweist, wie sie von transnational argumentierenden MigrationsforschungerInnen auch schon seit einigen Jahren für den amerikanischen Raum beschrieben werden. Dabei werde ich ein Hauptaugenmerk auf die geschlechtliche Strukturiertheit und Strukturierung der Migrationsstrategie „Au-pair“ legen. In Anlehnung an die im vorausgegangenem Kapitel kurz skizzierte Geschlechtertheorie werde ich versuchen, Geschlecht als eine der zentralen Ordnungskategorien zu thematisieren, die auf allen Ebenen der Migration vom Herkunftskontext über den Migrationsverlauf bis hin zum Aufnahmekontext wirksam ist.
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Sprungbrett in den Westen – deutsche Migrationspolitik Bereits kurz nach der Wende bauten die westeuropäischen Länder und die Europäische Union enge Wirtschaftsbeziehungen zu den osteuropäischen Ländern, vor allem zu den Anrainerstaaten, auf. Und bald stand einer EU-Osterweiterung auf dem Gebieten der wirtschaftlichen und institutionellen Integration der osteuropäischen Visegrad-Staaten nichts mehr im Wege. Ganz im Gegensatz dazu war die sogenannte Freizügigkeit von Personen aus osteuropäischen Staaten in die EU von Anfang an aufs Engste limitiert und blieb dies auch nach dem offiziellen Beitritt der Länder 2004 zur Europäischen Union. So blieb die Arbeitnehmer-Freizügigkeit infolge von Interventionen insbesondere Deutschlands nach dem Beitritt auf sieben Jahre ausgesetzt, während andererseits jedoch die sogenannte „Dienstleistungsrichtlinie“ die Führung eines Gewerbes für OsteuropäerInnen in Deutschland möglich macht. Mit ihrer restriktiven Migrations- und Mobilitätsspolitik folgte die EU Ländern wie Deutschland, welches seit Mitte der siebziger Jahre eine Zero-Einwanderungspolitik offiziell betreibt. Seit dem offiziell erklärten „Anwerbestopp“ der Arbeitsmigration von sogenannten „Gastarbeitern“48 1973 und den wiederholten Verschärfungen der Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen gibt es in Deutschland nur wenige, zeitlich befristete Möglichkeiten der legalen Arbeitsaufnahme und des Aufenthalts (H. Rudolph 1994: 230 f.; F. Hillmann 1997: 18-34; N. Cyrus 1997). Der Anwerbestopp, der in diesem Sinne den Richtungswechsel in der deutschen Migrationspolitik symbolisiert, markiert für Klaus Bade (2002: 320), „erstmals einen Konsens der Abwehr”. Hier begann „die historische Spur, die nach dem Ende des Kalten Krieges in die ‚Festung Europa’ enden sollte.“ 49 Im Folgenden werde ich die deutsche Migrationspolitik hinsichtlich ihrer Effekte auf die Migrationsstratgien und -muster nachzeichnen, die seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend durch suprastaatliche Maßnahmen EUeuropäischer Länder und der Europäischen Union begleitet, ergänzt und zum Teil abgelöst wurde. Nach Klaus Bade lässt sich diese Politik als „dreifache Abschließung Europas auf nationaler Ebene“ zusammenfassen: Nach der Verschärfung der 48 Bei dem Begriff „Gastarbeiter“ handelt es sich zwar um keinen offiziellen Terminus, gleichwohl etablierte er sich im öffentlichen Diskurs als am häufigsten gebrauchte Bezeichnung für die EinwanderInnen jener Tage. Wiederholt haben WissenschaftlerInnen auf die Vielzahl negativer Konnotationen des Begriffs hingewiesen. So schrieb Marios Nilolinakos 1973: „Der Name Gastarbeiter ist trotz aller Erklärungen über die Notwendigkeit der Ausländerbeschäftigung mit Schmutz, Brutalität und Antipathie etc. verbunden. Trotz der in im Begriff Gastarbeiter versteckten Verschönerungsabsichten bekam dieser Name die Bedeutung all dessen, was ablehnbar ist und mit Menschen zweiter Kategorie zusammenhängt“ (zitiert nach M. Terkissidis 2000: 15). 49 Klaus Bade u.a. weisen dabei darauf hin, dass bereits lange vor dem offiziell erklärten Anwerbestopp Forderungen nach Verschärfung und Drosselung der Arbeitsmigration laut geworden waren, die auch teilweise umgesetzt wurden (K. Bade 2002: 316/329). Bereits mit der ersten wirtschaftlichen Stagnation 1966/67 – lange bevor es zu der Hochphase der Arbeitsmigration kam – wurde die Anwesenheit von „Gastarbeitern“ öffentlich als Problem diskutiert (M. Terkissidis 2000: 22 ff.). Der Anwerbestopp ist demnach, so Bade (2002: 316/329), nur teilweise auf den „Ölpreisschock von 1973 und das verlangsamte Wirtschaftswachstum zurückzuführen“. Es entscheidende Rolle spielte auch die „verstärkte Abwehrhaltung“ gegenüber der feststellbaren Verstetigung der Arbeits- in Daueraufenthalte, die sich vor allem gegen die große Gruppe türkischer ArbeitsmigrantInnen richtete. Terkissidis (2000: 26) sieht in der Ölkrise „kaum mehr als die Rolle eines willkommenen Anlasses“.
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Einreisemöglichkeiten und der Erlangung des staatsbürgerlichen Status für postkoloniale MigrantInnen vor allem durch die ehemaligen Empires wie Frankreich, Spanien und England, dem Zuwanderungsstopp gegenüber europäischen und außereuropäischen ArbeitsmigrantInnen in den sechziger und siebziger Jahren50, der bis heute anhält, erfolgte in den achtziger und neunziger Jahren die sukzessive Schließung gegenüber asylsuchenden Flüchtlingen (vgl. ebd.: 336-368). Die deutsche Migrationspolitik folgte dabei, ähnlich wie in anderen EUeuropäischen Ländern zu beobachten ist, seit den achtziger Jahren der doppelgleisigen Logik der Verschärfung der Einwanderungsbedingungen einerseits und der Integrationsforderung für die bereits im Land sich befindenden Migrationsbevölkerung andererseits. Die seitdem institutionalisierten Arbeitsmigrationsformen in Deutschland sind bezeichnenderweise als „Ausnahmen“ von der Norm der Nicht-Einwanderung klassifiziert und in der „Anwerbestoppausnahmeverordnung“ reguliert. So wurden grundsätzlich mit der Verschärfung des Ausländerrechts Einreise- und Aufenthaltsbewilligungen zeitlich befristet. Sie sind vom Herkunftsland aus zu beantragen, werden lediglich gegen Vorweis eines Arbeits- bzw. Studienplatzes vergeben und sind somit an Dauer und Zweck der Arbeit oder des Studiums gekoppelt. Sobald also die Voraussetzung z.B. durch vorzeitige Kündigung erlischt, erlischt auch die Aufenthaltsbewilligung. Die Norm der Ausnahme bedeutet vor allem, dass innerhalb dieser Migrationspolitik kein Niederlassungsrecht mehr vorgesehen ist. Eine Konsequenz dieser Politik ist eine gesunkene Nettozuwanderung. So sind in den vergangenen drei Jahren zwar im Schnitt 670.000 AusländerInnen registriert worden, die nach Deutschland kamen. Da im gleichen Zeitraum aber rund 538.000 Menschen Deutschland wieder verlassen haben, betrug die Nettozuwanderung nur 132.000. Dabei stellten NichtEU-EuropäerInnen, vornehmlich Menschen aus osteuropäischen Ländern, mit 442.278 Zuzügen und 298.193 Wegzügen die größte Wanderungsgruppe dar (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2001: 8). Ferner handelt es sich bei 340.000, also bei über der Hälfte der Zuzüge, um „befristete“ – im offiziellen Sprachgebrauch „vorübergehende“ – Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse, von denen 219.000 auf Saisonarbeitskräfte entfielen (ebd.: 111).51 Verglichen mit der „alten Zuwanderung“ des „Gastarbeitersystems“ lässt sich sagen, dass diese trotz aller Diskriminierungen (Wohnen, Arbeit, Anwerbung) in den sechziger und siebziger Jahren „erwünscht“ war. Menschen wurden durch Außen50 Ende der 70er Jahre kam es in BRD zur ersten großen politischen und öffentlichen Diskussion um die rechtliche Anerkennung der De-facto-Einwanderungssituation und um Integrationskonzepte, die sich mit rassistischen Begründungsmustern vor allem gegen die türkischen ArbeitsmigrantInnen richtete und von einer Gewaltwelle begleitet war. Der bevorstehende Bundestagswahlkampf, der zum Wechsel von der sozial-liberalen zur konservativ-liberalen Koalition führte, wurde erstmals vornehmlich mit der „Ausländerproblematik“ geführt. Die neue Koalitionsregierung intensivierte die von SPD-FDP bereits diskutierten Verschärfungen auch unter Einschluss, so Bade (2002: 337), von „Rückkehrprämien“. 51 Sowohl die niedrige Nettozuwanderung, als auch die Befristetheit des Aufenthalts verweisen auf eine hohe Temporalität und Mobilität der Migration. In der öffentlichen Diskussion hat jedoch dieser Sachverhalt lediglich zu neuen Zahlenspielen geführt, mit denen die unterschiedlichen Lager in der Migrationsdebatte ihre jeweiligen Standpunkte zu untermauern versuchen. Die dahinterliegenden Veränderungen von Migrations- und Aufenthaltsmustern, die mit einer Feminisierung der Migration Hand in Hand gehen, wurden bislang auch in der deutschen Migrationsforschung nur von wenigen sozial- und kulturanthropologischen Studien thematisiert.
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stellen deutscher Arbeitsämter in den Anwerbestaaten52 rekrutiert und erhielten sofort in Deutschland einen, wenn auch mit verminderten Rechten ausgestatten, geregelten Aufenthaltsstatus. Die zunächst befristeten Verträge konnten auch entgegen der gängigen Annahme eines strikten Rotationssystems problemlos verlängert werden. Von dieser Regelung waren jedoch von Anfang an türkische, marokkanische und tunesische ArbeitsmigrantInnen ausgeschlossen. Dabei ist offensichtlich, dass der Sonderstellung der Arbeitsmigration aus den süd-mediterranen, nicht zu „Europa“ dazugehörig betrachteten Länder ein rassistisches Muster zugrunde liegt (vgl. K. Bade 2002: 335). Seit Ende der siebziger Jahre existieren nur wenige Immigrationswege nach Deutschland, über die ein dauerhaftes Niederlassungsrecht erlang werden kann. Von größtem Gewicht ist dabei der Zuzug als „SpätaussiedlerIn“ mit – laut offizieller Migrationsstatistik –104.916 Zuzügen im Jahre 1999 und 95.615 im Jahre 2000 (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2001: 101). Daneben bleibt der Familiennachzug mit leicht steigender Tendenz von 54.886 Visaausstellungen in 1996 auf 75.888 in 2000 (ebd.: 25) und die mit der Grundgesetzänderung von 1992 erheblich eingeschränkte Asylantragstellung (vgl. ebd.: 105; F. Hillmann 1997: 19 f.). Vor allem das Asylrecht wurde nach den sukzessiven Verschärfungen der Einwanderungsbedingungen Ende der achtziger Jahre zu einem „zentralen Komplex“ der gesamten Einwanderungsthematik. Als eines der wenigen noch offenen Tore wurde es auch von MigrantInnen in Anspruch genommen, die sich in früheren Jahren als ArbeitsmigrantInnen niedergelassen hätten (vgl. K. Bade 2002; M. Terkissidis 2000: 30 ff.). Mitte der 80er Jahre stieg die Zahl von Asylanträgen zum ersten Mal über die Grenze von 100.000, worauf sich fortan der öffentliche Migrationsdiskurs konzentrierte (vgl. K. Bade 2002: 360-377). „In dieser Zeit“, so Mark Terkissidis (2000: 34), „verschärfte sich die überzogene Darstellung dieser Zuwanderung auf Regierungsseite bis zum Gedanken an die Ausrufung des ‚Staatsnotstands’ durch den Bundeskanzler.“ Mit der Grundgesetzänderung und weiteren Verschärfungen53 sanken die Zahlen kontinuierlich. Während im Jahr 1996 noch 116.367 Anträge auf Asyl registriert wurden, waren es im Jahr 2000 nur noch 78.564 (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2001: 105). Kaum war 1992 das Grundgesetz auf Asyl geändert und damit faktisch abgeschafft, konzentrierte sich die Migrationsdebatte auf die durch die Öffnung des „Eisernen 52 Deutschland schloss Anwerbeabkommen mit Italien1955, mit Spanien und Griechenland1960, mit der Türkei 1961, mit Portugal 1964 und zuletzt mit Jugoslawien1968. Verträge mit Marokko 1963 und Tunesien 1965 blieben vergleichsweise unbedeutend. Westeuropa rekrutierte um die zwanzig Millionen ausländische Arbeitskräfte (vgl. R. Münz 1997: 228), davon war nahezu ein Fünftel Frauen (vgl. E. Kofman/ R. Sales1998: 386). 53 Die Asylpolitik ist auch jenes migrationspolitische Politikfeld, auf welchem EU-Vereinheitlichungen als erstes initiiert und verabschiedet wurden. So wurde mit dem Dubliner Abkommen 1990 die „one chance rule“ eingeführt, die Asylsuchende dazu verpflichtet, im ersten europäischen Land, welches sie betreten, ihren Antrag zu stellen. Mit der Asylrechtsnovellierung 1992 kamen folgende Verschärfungen in Deutschland hinzu: die „sichere Herkunftsland“-Regelung, die alle AntragstellerInnen aus Ländern ausschließt, die nach der internationalen Menschenrechtsdeklaration als „sicher“ gelten können; die sog. „Drittstaatenregelung“, die den Fluchtweg kontrolliert und vorschreibt, dass der Asylantrag im ersten sicheren Land zu stellen ist. Nachdem alle Nachbarländer der Europäischen Union mittlerweile als „sichere Drittstaaten“ gelten, hätten Transit-Flüchtlinge, dort schon ihren Antrag zu stellen. Wird der Fluchtweg in Deutschland rekonstruiert, können die Asylsuchenden in die Transitländer zurückgeschoben werden, was zu Kettenabschiebung bis zurück in die Herkunftsländer führt (vgl. K. Bade 2002: 391).
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Vorhangs“ erleichterte Möglichkeit über osteuropäische Länder nach Westeuropa zu gelangen. Hiervon machten nicht nur OsteuropäerInnen Gebrauch, sondern auch MigrantInnen aus der sogenannten „Dritten Welt“. Dies sollte sich fortan in einer verschärften Kontrolle der EU-europäischen Außengrenzen niederschlagen, auf welche ich im Anschluss zu sprechen komme. Die von Deutschland seit dem Anwerbestopp betriebenen Formen der Arbeitsmigration sind ebenso durch bilaterale Abkommen mit den jeweiligen Herkunftsstaaten geregelt und kontingentiert wie ihre Vorgänger des „Gastarbeiter-Systems”.54 Hierbei sind vor allem zwei Typen zu nennen: Saisonarbeit (für max. drei Monate) meist im Bereich von Landwirtschaft und Bau55 und Werkverträge (für max. drei Jahre) für Beschäftigte von Firmen mit Sitz im Ausland56, die beide stark männlich geprägte Migrationsformen darstellen. Darüber hinaus gibt es die Grenzgängerbeschäftigung57, die zahlenmäßig zu vernachlässigende Einreisemöglichkeit für Krankenund Altenpflegepersonal (1999 kamen auf diesem Weg lediglich 74 Personen vor allem aus Kroatien), für WissenschaftlerInnen und Fachkräfte mit Hochschulabschluss (ca. 1.000-2.000 pro Jahr) sowie für „Künstler, Artisten und Fotomodelle“ (ca. 4.000 bis 5.000 pro Jahr), wohinter sich oftmals eine Beschäftigung im Bereich von Animation und Prostitution verbirgt. Bleibt das einjährige Au-pair-Visum. Es firmiert als weitere „Ausnahme“ vom Anwerbestopp offiziell unter dem Titel „Aufenthalte für Aus- und Weiterbildung“ (§2 Abs.2 AAV). Für das Jahr 2000 entfielen von den insgesamt 16.908 Arbeitserlaubnissen unter diesem Titel 13.268 auf Au-pairs, 11.299 davon an Frauen (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2001: 59).58 Angesichts der vielfältigen Schließungen ist ein Au-pair-Aufenthalt demnach insbesondere für Frauen zu ei54 Die Begründung der Bundesregierung über die zeitlich befristeten Arbeitsmigrationsformen für OsteuropäerInnen liest sich wie eine „entwicklungspolitisch” motivierte Hilfestellung: „Ein wesentliches Element, mit dem Deutschland die marktwirtschaftliche Umgestaltung in Osteuropa, aber auch die damit verbundene wirtschaftliche Zusammenarbeit unterstützt, ist die befristete Beschäftigung von Arbeitnehmern aus mittel- und osteuropäischen Staaten“ (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2001: 52). 55 Seit 1991 werden Saisonverträge in den Bereichen Land- und Forstwirtschaft, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Obst- und Gemüseverarbeitung sowie in Sägewerken für eine maximale Dauer von drei Monaten ausgestellt (§4Abs.1ASAV). Zur Zielsetzung heißt es: „Mit der Saisonbeschäftigung soll ein vorübergehender Arbeitskräftebedarf zu Spitzenzeiten überbrückt werden“ (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2001: 54 f.). 56 Die Werkverträge werden zwischen deutschen und ausländischen Unternehmen „zur Erstellung eines Werkes“ abgeschlossen, das der/die ausländische Subunternehmer/in mit eigenen Arbeitskräften durchführt. ArbeitnehmerInnen aus den Vertragsstaaten dürfen so bis zu zwei, maximal drei Jahre in Deutschland arbeiten. Um als WerksvertragsarbeitnehmerInnen wieder kommen zu können, muss jedoch eine ebenso lange Zeit im Heimatland verbracht werden (§3Abs.1AAV). Dabei ist die Höhe des Kontingents direkt an die Arbeitsmarktlage in Deutschland gekoppelt. Für 2001 wurde das Gesamtkontingent auf 56.690 festgelegt (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2001: 52). 57 Als Grenzgängerbeschäftigung werden Arbeitsverhältnisse von Staatsangehörigen aus benachbarten Staaten wie Polen, Tschechien oder der Schweiz gefasst, die täglich an ihren Wohnsitz im Heimatstaat zurückkehren bzw. einer auf längstens zwei Tage in der Woche begrenzten Beschäftigung nachgehen (§6 AAV). Die Arbeitserlaubnisse, im Jahre 2000 waren es insgesamt 9.375, werden für einen näher definierten Grenzbereich ausgestellt. Der Großteil der Erlaubnisse ging an BürgerInnen der Tschechischen Republik (ca. 90 Prozent). Da GrenzgängerInnen jedoch „ihren Wohnsitz nicht über die Grenze verlagern“, fällt diese Arbeitswanderung „nicht unter den Begriff der Migration“ und geht auch nicht in die „Wanderungsstatistik“ ein (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2001: 57 f.). 58 Der Rest entfiel auf Praktika von HochschulabsolventInnen.
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nem der zentralen legalen Wege nach Deutschland geworden. Auch der stellvertretende deutsche Botschafter in der Slowakei realisierte die große Bedeutung von Aupair als Migrationstrategie für junge osteuropäische Frauen. In einem Gespräch während meiner ersten Forschungsreise sagte er, Au-pair sei für viele Frauen das „Sprungbrett in den Westen“. Auch er wisse, dass die meisten versuchten, länger dort zu bleiben. Für 1999 rechnete die Botschaft mit 2.500 Visa-Anfragen (2001 waren es 1.785). Damit würde die Au-pair-Migration knapp ein Viertel der offiziell registrierten Arbeitsmigration aus der Slowakei nach Deutschland ausmachen – würde sie offiziell als Migration interpretiert. Tatsächlich aber beziffert der Migrationsbericht der Bundesregierung für 1999 die Migration von slowakischen BürgerInnen auf lediglich 1.348 Werkverträgen und 6.158 Saisonvisa (vgl. ebd.: 110 f.). Insgesamt wurden für 1999 9.131 Zuzüge von slowakischen Staatsangehörigen erfasst, die 6.823 Fortzügen gegenüberstanden. Die Begrifflich des „Sprungbretts“ deutet dabei noch auf einen weiteren Begründungszusammenhang hin. Offenkundig bekam der legale Au-pair-Weg mit dem Ausbau der Festung Europa noch eine weitere Bedeutung zu. Denn die von den EU-europäischen Ländern betriebene Ausdehnung der Migrationskontrollen an die EU-europäischen Außengrenzen hat die Frage nach der Eintrittskarte zum Sprung über die verschiedenen Grenzringe entscheidend gemacht. EU-Mehrfachgrenzraum 1989 wurden die sanften Revolutionen in Osteuropa, die zum Ende des Ost-WestKonflikts und zur Öffnung des Eisernen Vorhangs führten, von westeuropäischer Seite begeistert aufgenommen. Doch verwandelte sich die Begeisterung über das Ende des Kalten Krieges in den westeuropäischen Anrainerstaaten in Kürze in eine neue „Kälte“ gegenüber den Neuankommenden. Bereits etablierte Topoi des öffentlichen Migrationsdiskurses in Deutschland wie „Fluten“, „Wogen“ und „Völkerwanderungen“ wurden zur Beschreibung des „Migrationsdrucks“ aus dem Osten aufgegriffen und die Errichtung „neuer Deiche“, diesmal mit Infrarotlicht und beweglichen Grenztruppen, gefordert (siehe Bundesgrenzschutz im Hamburger Abendblatt 10.1.200). Gestützt wurden derartige Szenarien, so Klaus Bade (2002: 386 f.), von „voreiligen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen ‚Migrationsszenarien’“, die sich jedoch als „falsch, grob vereinfacht oder bei weitem überzeichnet“ erweisen sollten. Unter dem halluzinierten Eindruck, EU-Europa stehe unter einem „abrupten Wanderungsdruck“ aus dem Osten, wurden fortan nationalstaatliche Migrationskonzepte durch EU-europäische und suprastaatliche Maßnahmen zur Einwanderungsbeschränkung verstärkt flankiert und teilweise abgelöst. In dieser Entwicklung kommt ein Paradigmenwechsel in der Konzeptualisierung der europäischen Migration wie auch der zu treffenden politischen Maßnahmen zum Ausdruck: Migration wird in ihrer Gesamtheit unter den Illegalitätsvorbehalt gestellt und illegale Einreise und Migrationswege rücken ins Visier der MigrationsstrategInnen.59 59 Dies geht auch schon aus den Titeln hervor, mit denen die verschiedenen Papiere und Maßnahmenkataloge überschrieben sind, welche von EU-Ländern seit Anfang der 90er Jahre fast jährlich herausge-
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So beginnen für slowakische MigrantInnen, wie die Au-pair-Frauen, die ich auf den Busfahrten traf, die Einreisekontrollen nach Deutschland bereits an der slowakischösterreichischen Grenze – und damit ihre Unsicherheit, ob sie den Grenzübertritt (auch diesmal) schaffen werden. Während für mich als deutsche Staatsbürgerin Passkontrollen und Schlagbäume mit der Errichtung des „gemeinsamen europäischen Markts“ an den EU-Binnengrenzen aufgehoben wurden, ist das für slowakische Reisende anders: Sie stehen an der slowakisch-österreichischen Grenze vor dem ersten sichtbaren migrationspolitischen Hindernis des neuen EU-europäischen Mehrfachgrenzraums für sogenannte Drittstaatsangehörige. Als Kompensation für die Verwirklichung der „Vier Freiheiten des Personen-, Waren-, Dienstleistungsund Kapitalverkehrs“ innerhalb der EU wurde die Abwehr von unerwünschten MigrantInnen ab Mitte der neunziger Jahre einerseits von den nationalen Grenzlinien an die Außengrenzen der Gemeinschaft verlegt, andererseits wurde sie in den Raum jenseits und diesseits der nationalstaatlichen Grenzen erweitert. Insofern greift die Rede von einer Verlagerung der Kontrollen von den Binnen- an die Außengrenzen der Europäischen Union zu kurz, da es sich vielmehr um eine Multiplizierung und Flexibilisierung von Grenzsituationen und die Expansion nationalstaatlicher Grenz-Linien in differenzierte und selektive Grenzräume handelt. Von selektiven Grenzräumen spreche ich, da das EU-nationalstaatliche Grenzregime für mit unterschiedlichen, meist von der jeweiligen Staatsangehörigkeit abhängenden Rechtsstati ausgestattete Personengruppen unterschiedlich lokalisiert ist und bemerkbar wird.60 Während ich an der slowakisch-österreichischen Grenze nur meinen roten Deutschlandpass schwenken muss und von diesem Moment an bis nach Hause Freizügigkeit genieße, müssen sich meine Mitreisenden einer erniedrigenden Prozedur unterziehen. Als seien sei sich ihrer migrationspolitischen Rolle als Vorposten des EUeuropäischen Grenzregimes bewusst, traten die österreichischen Grenzbeamten bei meinen Überquerungen mürrisch und entschieden auf: Während einer die Pässe der slowakischen Mitreisenden anschaute, mehrfach drehte und wendete und auf ihre Echtheit prüfte, unterzog ein anderer Kollege die Reisenden einem inquisitorischen Interview: „Wohin? Was machst du?“ Kleinlaut wurde gemurmelt: „Arbeiten.“ Der Grenzer: „Und wo ist dein Schein?“ So mancher, der keinen Einladungsbrief oder geben wurden: Die meisten sind als „Aktionsplan der EU zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität“ betitelt, worunter „Schleuserkriminalität“ und „illegale Einwanderung“ verstanden wird, so beschlossen auf dem Dubliner EU-Gipfel 1996; der Tagung der Staats- und Regierungschefs der EU in Cardiff 1997; der Ministerkonferenz der EU zur „Bekämpfung illegaler Einwanderung“ in Budapest 1997 und in Tampere 1999 (vgl. B. Leuthardt 1994; 1999: XIV). Ihre Fortsetzung findet diese Politik mittlerweile in Regionaltreffen wie der „Regional Ministerial Conference on Illegal Migrations and Migration-related Crime“ im Oktober 2002 in Slowenien, auf der MinisterInnen aus Österreich, Bulgarien, Kroatien, Italien, Ungarn, Rumänien, Slowenien, Jugoslawien und Albanien anwesend waren. 60 Bei Kontrollgängen gehen PolizeibeamtInnen dabei immer noch meist von „phänotypischen“ Merkmalen der „Fremdheit“ aus, was mir zwei freundliche Herren auf meiner ersten Zugfahrt in die Slowakei einige Kilometer vor der österreichischen Grenze demonstrierten. Nachdem sie, unauffällig nach rechts und links blickend, an mir vorbeigelaufen waren, wurden sie auf ihrem Rückweg einige Sitze vor mir fündig. Ein Paar auf der Reise in die Wiener Oper hatte ihren Verdacht erregt, was auf Nachfragen meinerseits auf die schwarze Haarfarbe und den dunkleren Teint des Mannes zurückgeführt wurde. Unter Protest musste er sich ausweisen. Darauf hin erklärten sie mir, dass die zivile Fahndung durchgeführt werde, da sonst illegale EinwandererInnen auf der langen Zugfahrt beim Erscheinen der GrenzbeamtInnen einfach aussteigen und sich verstecken könnten.
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kein Visum zu Arbeitszwecken vorzuweisen hatte, musste an dieser Stelle den Bus verlassen. Die Pässe wurden zur Fahndungsabfrage beim EU-Schengener Informationssystem und im jeweiligen nationalen Fahndungscomputer mitgenommen. Minuten des bangen Wartens. 61 Doch für MigrantInnen ist die Grenzüberquerung damit noch lange nicht abgeschlossen. So können sie auch noch dreißig Kilometer nach jeder Binnengrenze zu einer verdachtsunabhängigen Personenkontrolle angehalten werden, die mit Verweis auf professionelle Schleusermethoden als weitere Kompensationsmaßnahme für die Aufhebung der Schlagbäume eingeführt wurde. Dabei geht es nicht mehr um die Überwachung der eigentlichen oder besser: einstigen Grenze, sondern um die Kontrolle von „grenzüberschreitendem Verkehr“ und von „Schleichwegen“, welche bis tief in den Binnenraum hinein kontrolliert werden sollen.62 Für MigrantInnen hat sich die Grenze damit in die Alltage hinein verlängert. Während die Schaffung des Binnenmarktes im Rahmen der EU-Gremien stattfand, wurde die Abgrenzung nach außen, als sicherheitspolitisch definiertes Politikfeld, lange Zeit auf bi- und multilateraler Ebene zwischen den Innen- und JustizministerInnen der EU-Staaten ausgehandelt – in Gremien wie der Schengen-Gruppe oder Konferenzserien wie der als „Budapester-Prozess“ bekannten Expertenrunde aus Innen-, JustizministerInnen und Polizeichefs.63 Einer parlamentarischen Diskussion und Kontrolle waren sie damit lange Zeit weitgehend entzogen (vgl. B. Leuthardt 1994; H. Dietrich 1995; T. Müller 2000). Richtungsweisend für die Entwicklung der EU-Migrationspolitik wurde vor allem das Abkommen von Schengen, das ein abgestuftes System selektiver Migrationskontrollen nach außen und innen zu etablieren versuchte und dabei weit über das EU-Gebiet hinaus Zonen mit unterschiedlichen Mobilitätsrechten formulierte – mit weitreichenden Folgen für die osteuropäischen Nachbarstaaten (B. Leuthardt 1999: XXVI; N. Cyrus 1997: 36; T. Müller 2000; W. Weidenfeld 1994; H. Dietrich 2000/ 2001; A. Rogers 2001).
61 In dieser differenzierten Aufmerksamkeit, die die GrenzbeamtInnen je nach Pass und Einreisemodi walten lassen, drückt sich nicht so sehr eine hermetische Abschottung aus, als vielmehr höchst selektive Schließungsversuche gegenüber denjenigen, die nicht in die legalisierten Einreiseformate passen. 62 In der Novellierung des Bundesgrenzschutzgesetzes von 1994 werden dem BGS weitreichende Befugnisse zugesprochen, um „im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von dreißig Kilometern die Abwehr von Gefahren, die die Sicherheit der Grenze beeinträchtigen“, sicherzustellen. Damit geht auch ein verändertes Einsatzkonzept der GrenzschützerInnen einher, nämlich ein Wechsel von der Linienpatroullie zu kleinen, mobilen operativen Einheiten, die sich durch den erweiterten Grenzraum bewegen. In der Folge haben sukzessive alle Bundesländer Polizeigesetze erlassen, in denen nicht nur zentrale Wege des bundesweiten Verkehrsnetzes als „grenzrelevante“ Räume definiert werden, wie Bundes- und Europastraßen, Bahnhöfe, Flugplätze oder Tankstellen. Auch Landstraßen wurden mittlerweile als „Schleichwege“ der Migration entdeckt (vgl. B. Leuthartd 1994). 63 Sowohl an der Konferenz-Serie des Budapester Prozesses, als auch an anderen Tagungen, beispielsweise der in Paris vom Juli 2000 gegen „Schlepperkriminalität und illegale Einwanderung“ nehmen neben den EU-Mitgliedsstaaten und -Beitrittskandidaten, Europol und Interpol auch Länder teil, die selbst in enormem Ausmaß Flüchtlings- und Migrationsbewegungen produzieren wie die Türkei oder die Balkanstaaten. Hier wird der Bock zum Gärtner gemacht und die Länder in eine EU-VorfeldFlüchtlingsabwehr ab Entstehungsort eingebunden (vgl. taz 24.7.2000; H. Dietrich 1995: 30 ff.).
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Schengen als Motor einer neuen europäischen Mobilitätsordnung Bereits 1985 hatten sich Deutschland, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg im Schengener Abkommen verpflichtet, ihre Einreisekontrollen an die EU-Außengrenzen zu verlegen, Visaregelungen und Einreisebestimmungen anzugleichen und Maßnahmen gegen illegale Einreise zu treffen. Dieser Dreischritt wurde richtungsbestimmend für die EU-europäische Migrationspolitik, wobei das Schengener Vertragswerk erst 1990 mit dem Durchführungsabkommen offiziell und erst 1995 von sieben EU-Staaten (Portugal und Spanien waren dazugekommen) umgesetzt wurde. Doch erst der Vertrag von Amsterdam 1997 überführte das Schengener System, insbesonders die Visa- und Asylpolitik, aus der Zuständigkeit der einzelnen Staaten auf EU-Ebene (vgl. K. Bade 2002: 392; B. Leuthardt 1999: XXVI ff.). Damit setzte sich ein langer und nicht ganz gradliniger Weg der Vereinheitlichung der EU-Migrationspolitik fort, wobei nicht nur die unterschiedlichen EU-Gremien wie die Kommission oder die jährlich stattfindenden Ministerkonferenzen der EU-Mitgliedsländer unterschiedliche Ansätze und Interessen verfolg(t)en, was beispielsweise an der wiederholten Kritik der Justiz- und InnenministerInnen der Mitgliedsstaaten an den für sie zu liberalen Positionspapieren des EU Kommissars für Justiz und Inneres, Antonio Vitorino, zu sehen war.64 Auch scheinen die Nationalstaaten besonders auf diesem Politikfeld ihre nationale Souveränität trotz anderslautender Bekenntnisse nur ungern zugunsten einer EUMigrationspolitik aufgeben zu wollen.65 Allerdings wurde das Schengener Vertragswerk mit seiner EU-Institutionalisierung in Amsterdam Teil des acquis communautaire, den die ost- und südeuropäischen Beitrittskandidaten zu erfüllen haben. Dies brachte die Migrationspolitik ins Zentrum der Beitrittsverhandlungen und machte den Assoziations-Ländern die Übernahme der restriktiven Einwanderungspolitik der EU zur Pflicht. Dabei wurde sie mit anderen Politikfeldern wie der Entwicklungs- oder Wirtschaftspolitik junktimiert.66 Somit wurde die europäische Migrationspolitik zu einem Querschnittspoli64 Nachdem schon im Vertrag von Amsterdam 1997 eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik festgeschrieben wurde, mit dem Ziel fünf Jahre später ein Ergebnis zu haben, wurde der Kommission während des Ratstreffens der EU-MinisterpräsidentInnen in Tampere 1999 das Mandat erteilt, konkrete Schritte dahingehend zu formulieren. Doch der Entwurf von Antonio Vitorino verschwand wieder in den Schubladen, da er wohl einen Paradigmenwechsel der bis dato auf Abschottung zielenden EUPolitik darstellen würde: „Es sollte festgehalten werden, dass die Kommission glaubt, dass eine NullEinwanderung ganz einfach unrealistisch ist.“ Restriktive Gesetze hätten in der Vergangenheit nicht dazu beigetragen, die klandestine Einwanderung zu beschränken. So schlägt Vitorino vor, Illegalisierten soziale Rechte zukommen zu lassen und eine europaweite Regularisierung einzuleiten (vgl. Communication from the Commission to the Council and the European Parlament from Vitorino in agreement with Mrs. Diamantopoulou 12. 2000) 65 Bundeskanzler Schröder weigerte sich beispielsweise während des EU-Gipfels in Nizza im Dezember 2000, die Asyl- und Flüchtlingspolitik stärker der Gemeinschaft zu unterwerfen und auf das nationale Veto zu verzichten. So sollte ein informeller Rat der Justiz- und Innenminister im Februar 2001 in Stockholm noch retten, was in Tampere an gemeinschaftlicher Immigrationspolitik verabredet worden war (vgl. Tagesspiegel 8.2.2001; Die Presse Wien 8.2.2001) 66 In dem EU-Strategiepapier von 1998 heißt es unter den Punkten 61-63: „Man wird etwa die Wirtschaftshilfe mit Visafragen, Grenzerleichterungen mit Rückübernahmeabkommen, (...) wirtschaftliche Kooperationsbereitschaft mit wirksamen Maßnahmen zur Reduktion von push-Faktoren junktimieren müssen. Hier kann ein Modell konzentrischer Kreise die Basis einer differenzierten Außenstrategie setzen (...) Die Erfüllung der sich in der jeweiligen Rolle ergebenden Pflichten soll im Gesamtsystem
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tikfeld, an dem die Beitrittskandidaten von nun an gemessen wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt fand die „Zusammenarbeit“ auf migrationspolitischem Feld bzw. die Weitergabe der nationalstaatlichen Verschärfungen der Einreisebestimmungen an die osteuropäischen Nachbarstaaten EU-Europas vor allem über bilaterale Abkommen statt. Vor allem die Asylrechtsverschärfungen mit der Einführung der sicheren Drittstaatenregelung bedeutete für die Anrainerstaaten eine Fülle neuer Aufgaben. Die Visegrad-Länder wurden zu sicheren „Drittstaaten“ definiert und zur Aufnahme von MigrantInnen verpflichtet, die über ihr Gebiet in den Westen eingereist und dort aufgegriffen worden waren.67 So unterzeichnete Deutschland erstmals 1991 ein sogenanntes Rückführungsabkommen von bis zu 10.000 Menschen pro Jahr mit Polen, weitere solcher Abkommen mit Staaten wie Tschechien, Rumänien oder Bulgarien folgten.68 In einer Art Dominoeffekt forcierte diese „Verschiebepolitik“ der westeuropäischen Länder die Implementierung restriktiver Regelsysteme im Ausländer- und Asylbereich in den osteuropäischen Ländern und die Militarisierung ihrer Ostgrenzen.69 Sie führte auch zu Kettenabkommen mit weiter östlich gelegenen Staaten und in der Folge zu Kettenabschiebungen. So haben Ungarn, Polen und Tschechien Anfang der 90er Jahre jeweils mit Slowenien, Kroatien und Rumänien Verträge über die Rückführung illegal eingereister MigrantInnen abgeschlossen (vgl. S. Sassen 2000: 132 ff.). Diese Migrationspolitik folgt dabei einer Konstruktion des sich neu formierenden Europas, wie sie in dem EU-Strategiepapier unter der österreichischen EUPräsidentschaft 1998 oder während der Tagung der EU-Regierungschefs und InnenministerInnen im finnischen Tampere 199970 zum Ausdruck kam. Um ein Kerneuropa herum, welches die west- und nordeuropäischen EU-Mitgliedsstaaten bilden, wird die Weltkarte in „drei konzentrische Kreise“ mit unterschiedlichen Graden von Freizügigkeit und wirtschaftlichen Beziehungen zum EU-Kern aufgeteilt. Die Assoziationsländer Osteuropas bilden den zweiten Ring um Kerneuropa, was sie einerseits in den Genuss stärkerer wirtschaftlicher Zusammenarbeit und erhöhter Mobilitätsrechte wie der visafreien Einreise als TouristInnen oder der positiv, die Nichterfüllung negative Konsequenzen für das jeweilige Land haben“ (vgl. T. Müller 2000). 67 Dieser Prozess wurde auf Konferenzen wie der „Ministerkonferenz über Maßnahmen zur Eindämmung illegaler Einreise aus und über Mittel- und Osteuropa“ in Berlin 1991 oder der sog. „Zweiten Ministerkonferenz“ in Budapest 1993 vorangetrieben, an der über 34 europäische Staaten teilnahmen. Vor allem diese Konferenz verpflichtete die Teilnehmerstaaten, soweit noch nicht geschehen, zum Abschluss von Rückübernahmeabkommen und verschärfter Grenzsicherung (vgl. H. Dietrich 1995: 32). 68 Dabei wurden die Rückführungsabkommen auch auf Betreiben der osteuropäischen Staaten an Zusagen von Ausbildungs- und Finanzhilfen, z.B. für Polen in Höhe von 120 Milliarden Mark, gekoppelt (vgl. S. Sassen 2000: 123 f.) bzw. konnten unter Androhung des Rückzugs von Finanzhilfen erzwungen werden. 69 Diese Politik der Problemabschiebung führte die osteuropäischen Staaten, die mit ihren eigenen Transformationsprozessen nach dem Niedergang des Sozialismus beschäftigt waren, vor große finanzielle, logistische, institutionelle, gesetzliche und gesellschaftliche Probleme, da die meisten über keine institutionelle Aufnahmebedingungen verfügten. So wurden in Eile nationale Rechtssysteme gebastelt bzw. der Polizei und dem Militär die Aufgabe übertragen (vgl. B. Leuthardt 1999; H. Dietrich 2000). 70 Auch in Tampere wurde die doppelte Strategie, mehr Rechte für EU-BürgerInnen bei gleichzeitiger Verschärfung der Asyl- und Einwanderungspolitik beschlossen. Während EU-BürgerInnen durch eine europäische Grundrechts-Charta bessere und durchgreifendere Rechte genießen sollen, beschlossen die Regierungschefs binnen fünf Jahren ein „gemeinsames europäisches Asylsystem“ zu schaffen, die „illegale Einwanderung“ an den „Wurzeln“ zu bekämpfen und zu diesem Zweck gemeinsame Ermittlungsgruppen gegen „Menschenhändler“ zu gründen.
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wenigen Möglichkeiten befristeter Arbeitsmigration kommen lässt.71 Im Gegenzug müssen sie gleichwohl die Funktion einer „Puffer-Zone“ gegenüber weiter östlich gelegenen Staaten übernehmen (vgl. C. Wallace/ E. Sidorenko 1999: 123 ff.). Dies hat restriktive Maßnahmen der Anrainerstaaten gegenüber ihren weiter östlich gelegenen Nachbarn zur Folge wie die Einführung von Visabestimmungen zwischen Tschechien und der Slowakei oder zwischen der Slowakei und der Ukraine, was historische grenzüberschreitende soziale Netzwerke und den für manche Regionen überlebenswichtig gewordenen Grenzhandel zu zerstören droht (vgl. B. Leuthardt 1999; C. Wallace/ E. Sidorenko 1999). Insofern ist die Herausbildung der osteuropäischen Nachbarstaaten zu Transit- und Zielländern der Migration aus dem Fernen Osten und aus der „Dritten Welt” auch auf die Migrationspolitik der EU zurückzuführen. Sie werden zu einer Art „Wartesaal“ für MigrantInnen auf dem Weg in den Westen, der sich jedoch für eine wachsende Zahl „Gestrandeter“ in einen Daueraufenthaltsraum verwandelt. In diesem Zusammenhang hat sich auch der Wandel der ehemals südeuropäischen Aus- in Einwanderungsländer durchgesetzt, der bereits in den 80er Jahren mit der wachsenden Zahl von „Dritt-Welt“-MigrantInnen bzw. aus dem euro-mediterranen Raum eingeläutet wurde (vgl. S. Hess/ R. Lenz 2001, F. Anthias/ G. Lazaridis 2000: 2 f.).72 Denn mit der Verschärfung der Einreisepolitik in die Europäische Union greifen MigrantInnen zunehmend auf die leichter zugängliche Ost-Süd-Richtung aus. Doch auch diese Routen sind verstärkt in den Fokus der EU-Migrationspolitik geraten. In dem EU-europäischen Migrationsregime sieht der britische Sozialgeograf Alisdair Rogers (2001: 14) eine weitergefasste „europäische Mobilitätsordnung“ über den Raum der EU hinaus angelegt: „Elements of a common European migration regime – legislation, training, protocols etc. – may therefore be built into a wider mobility order, which extends from technical assistance for border policing through to regional co-operation in security and law enforcement. It is driven by a hegemonic European Union, but not without countervailling influences.“
Au-pair als Migrationsstrategie junger Frauen Nachdem Deutschland seit Mitte der 70er Jahre sukzessive die Einwanderungs- und Arbeitsmöglichkeiten für MigrantInnen bis auf einige wenige befristete Formen 71 Der dritte Ring umfasst die Länder Nord-Afrikas, Ex-Jugoslawiens, die GUS-Staaten, Russland und die Türkei, die als „Transit-Länder“ von strategischer Bedeutung für die EU-Migrationspolitik sind und durch Kooperationsverträge zunehmend in sie eingebunden werden. Auch über ihre Mitgliedschaft in dere OSCE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, und dem Europarat, sind die meisten Länder von der Europäisierung der Migrationspolitik erfasst. Den vierten Ring bildet der Rest der Welt, welcher als Quelle unerwünschter Migration konzipiert ist und gegen den sich all jene Migrationsabwehrmaßnahmen richten, die ausgehend von Kerneuropa über die zwei weiteren Ringe implementiert werden (vgl. A. Rogers 2001: 13 f.). 72 In Italien werden über eine Millionen MigrantInnen aus verschiedenen Ländern vermutet, in Spanien über 850.000, wobei die Hälfte aus der EU und die andere aus der „Dritten Welt“ kommen. In Griechenland halten sich schätzungsweise eine halbe Millionen MigrantInnen vor allem aus Albanien, Osteuropa und der „Dritten Welt“ auf, wobei nur 70.000 über einen legalen Status verfügen; in Zypern werden um die 30.000 legale und weitere 10.000 illegalisierte MigrantInnen geschätzt (vgl. F. Anthais/ G. Lazaridis 2000: 2).
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begrenzt hat, setzt die multilaterale und supranationale Migrationspolitik der Europäischen Union vor allem auf die Kontrolle der Einreise und der Mobilitätswege in die Europäische Union. Wie in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt, steckt sie insbesondere über das Schengen-Instrumentarium und die Koppelung der Migrationspolitik an den Beitrittsprozess der osteuropäischen Länder den Rahmen für eine über ihr Hoheitsgebiet hinausgreifende europäische Mobilitätsordnung. Dabei generieren sowohl die nationalen Migrationspolitiken als auch die EU-europäischen eine Feminisierung der Migrationsbewegungen, wie es Geschlechterforscherinnen Eleonore Kofman und Rosemarie Sales oder Bridget Anderson herausstellen. So lässt sich, auch wenn die nationalstaatlichen Migrationspolitiken der einzelnen EUeuropäischen Staaten variieren, als ein wesentliches Strukturierungsmoment deuten, dass die wenigen verbliebenen legalen Arbeitsmigrationsformen vornehmlich auf Migrationen von Männern ausgerichtet sind. Sehr deutlich ist dies an der deutschen Politik zu sehen (vgl. E. Kofman/ R. Sales 1998). Dies hat zur Folge, dass migrierende Frauen zunehmend inoffizielle und illegalisierte Wege gehen müssen. Hierzu stellt die britische Sozialanthropologin Bridget Anderson in ihrem Aufsatz „Overseas Domestic Workers in the European Union“ (1999: 122) fest: „That current female labour migration is more likely to be unregulated, i.e. undocumented, and therefore likely to be channelled into unregulated sectors.“ Diese Situation forciert demnach die Suche nach und den taktischen Umgang mit den wenigen verbliebenen offenen Toren in den Westen. Wie auch die britische Soziologin Floya Anthias hervorhebt, strukturiert die überdurchschnittliche Illegalisierung der Migrationen von Frauen spezifische weibliche Migrationsmuster und folglich Beschäftigungsmöglichkeiten vor allem im sogenannten „gering qualifizierten“ und informalisierten Dienstleistungssektor. Neben kleineren Branchen sind in Europa die Sexindustrie und der Privathaushalt zu den zwei wesentlichen Beschäftigungssektoren für Migrantinnen geworden. Auch weltweit ist dieser Trend zu beobachten. Während die Migration in die Sexindustrie, insbesondere unter der Perspektive auf Frauenhandel, in der deutschen Öffentlichkeit und Wissenschaft mittlerweile ein weitreichend beachtetes Phänomen darstellt, ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit migrantischer Hausarbeit noch marginal. Dabei weisen neuere Forschungen im Bereich Prostitutionsmigration auf die Schwierigkeit der vorherrschenden Thematisierungsweise dieser Migration unter dem Fokus des „Frauenhandels“ 73 hin. Sie sehen darin einen Victimisierungsdiskurs begründet, der ein aktives, selbstbestimmtes Handeln der Frauen entnennt und sie zum Opfer-Objekt stigmatisiert (vgl. E. Niesner/ E. Anonuevo 1997: 12ff; C. Karrer/ R. Turtschi u.a. 1996). Ramona Lenz hat in ihrer ethnografischen Forschung „An den Außengrenzen der Europäischen Union. Arbeitsmigration und Sexindustrie in der Republik Zypern“ (2002: 22-25) die Gratwanderung, Doppelbödigkeit und Ambivalenz von Selbsttätigkeit, eingeschränkter Freiwilligkeit, strukturellen 73 Voraussetzungen für Menschenhandel sind gegeben, „wenn Personen unter den Prämissen ihrer strukturellen Benachteiligung in ein fremdes Land (...) gebracht werden und sie in dieser Situation von anderen ausgenutzt, von ihnen fremden Interessen bestimmt werden“ (E. Niesner/ E. Anonuevo 1997: 15). Der deutschen Gesetzgebung nach ist hingegen erst dann von Menschenhandel zu sprechen, wenn diese Personen unter Anwendung von Gewalt, Zwang oder Täuschungsmanövern ihres sexuellen Selbstbestimmungsrechts beraubt werden (vgl. ebd.).
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Zwängen bis hin zur gewaltvoll erzwungenen Unfreiwilligkeit herausgearbeitet. Geht man von einer Gleichzeitigkeit von verschiedenen Motiven und Zwängen aus, lässt sich die hohe Zahl von Migrantinnen in der Prostitution nicht allein auf Täuschung und die skrupellose Tätigkeit von Frauenhändlerringen zurückführen, so wie es in öffentlichen medialen Darstellungen häufig getan wird. Vielmehr können die empirischen Forschungen zeigen, dass Vermittlungsagenturen, sogenannte Trafficker, als Reiseorganisation aufgrund der Verschärfungen der Einreisepolitiken eine wachsende Bedeutung für Frauen erlangen, die diese vor diesem Hintergrund von sich aus aufsuchen. Zudem haben Interviewuntersuchungen beispielsweise unter Moskauer Studentinnen ergeben, dass der Schritt in die Prostitution selbsttätig erwogen wird, da Prostitution als einer der wenigen aussichtsreichen Berufe gilt (vgl. C. Karrer/ R. Turtschi u.a. 1996: 142 ff.).74 Neben der Sexarbeit ist jedoch die migrantische Haushaltsarbeit zu einer der „Wachstumsindustrien“ in Europa geworden, in der Frauen aus Lateinamerika, Südostasien, Afrika und zunehmend auch aus Osteuropa je nach Migrationsgeschichte der Aufnahmeländer in unterschiedlichem Ausmaß eine Anstellung finden (vgl. B. Anderson 1999). „The role of migrant women as domestic workers“, schreiben etwa Floya Anthias und Gabriella Lazaridis (2000: 7), „constitutes one of the main forms and characteristics of the feminization of migration flows to southern Europe“. Doch nicht nur die südeuropäischen Länder sowie die ehemaligen Kolonialstaaten wie Großbritannien und Frankreich mit einer kontinuierlichen Praxis von bezahlter Hausarbeit verzeichnen eine wachsende Nachfrage nach kommerzialisierten häuslichen Diensten.75 Auch für die nord- und westeuropäischen Staaten wie Deutschland ist diese Tendenz im letzten Jahrzehnt feststellbar, wobei der Anteil von Migrantinnen steigt. Bridget Anderson (1999: 121) bezeichnet diese als eine „racialication“ von bezahlter Hausarbeit. Dabei benennen die wenigen Forschungen dazu wie die vom Parlament der Europäischen Union in Auftrag gegebene ländervergleichende Studie von Bridget Anderson und Annie Phizlackea (1997) oder der „Bericht über eine gesetzliche Regelung der Hausarbeit in der Schattenwirtschaft vom Ausschuss des Europäischen Parlaments für die Rechte der Frauen und Chancengleichheit“ (Okt. 2000) die Illegalität und damit verbundene Informalität und Verletzlichkeit der Arbeitnehmerinnen als grundsätzliches Charakteristikum dieser Arbeitsmigrationsform. So heißt es in dem Bericht: „Die Situation der Illegalität, in der diese Arbeit geleistet wird, führt jedoch dazu, dass jegliche Bewertung äußerst schwierig ist. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass die Hausarbeit in Privathaushalten eine der wichtigsten Tätigkeiten der in Europa eingereisten oder bereits niedergelassenen Migrantinnen darstellt“ (2000: 17). 74 Auf den Zusammenhang zwischen Verschlechterungen der Lebensverhältnisse und restriktiver Einwanderungspolitik der EU-Staaten macht auch eine breit angelegte Studie des UN-Kinderhilfswerks UNICEF, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit OSZE und des UN-Kommissariats für Menschenrechte UNOHCHR aufmerksam, die die Entwicklung des Menschenhandels von über hunderttausend Frauen jährlich über die Balkanländer in die EU untersuchte. Die Studie verweist auch auf die große Nachfrage nach käuflichen sexuellen Diensten, die dort vor allem durch die stationierten Soldaten der internationalen „Schutztruppen“ angekurbelt wird (vgl. B. Kanzleiter 2002). 75 So besagen in Italien Angaben der Arbeitnehmergewerkschaft, dass von den eine Million Hausangestellten 1995 480.000 Migrantinnen waren. Für Frankreich zeigt eine Studie bereits von 1984, dass über die Hälfte der „illegalen Wanderarbeitnehmer“ Hausangestellte waren (vgl. Bericht des Ausschusses des Europäischen Parlaments 2000: 17).
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Neben der geringen politischen und arbeitsrechtlichen Regulation und dem finanziellen Eigeninteresse der ArbeitgeberInnen an informalisierten Arbeitsverhältnissen ist die „Informalität“ vor allem auf die Illegalisierung der migrantischen ArbeitnehmerInnen zurückzuführen, die entweder undokumentiert ins Land kommen oder nicht über eine Arbeitserlaubnis verfügen. Mit Ausnahme von entsprechenden Regelungen in Spanien, Italien, England und dem EU-Beitrittskandidaten Zypern gibt es in den EU-Staaten keine Einreise- und Arbeitserlaubnis für Hausarbeit (vgl. Anderson 1999, 122).76 Auch Deutschland kennt bislang kein offizielles Migrationsformat für Migrantinnen in der Hausarbeit. Die zu Beginn des Jahres 2002 verabschiedete „Ergänzung der Anwerbestoppausnahmeverordnung“ für osteuropäische Migrantinnen, die bis zu 100.000 Frauen aus den osteuropäischen Beitrittsländern – allerdings nur für Haushaltstätigkeiten in Familien mit einem Pflegefall – eine auf maximal drei Jahre befristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in Aussicht stellte, lief bereits Ende 2002 wieder aus. Sie war auch nicht von Erfolg gekrönt – nur 1.300 Genehmigungen wurden in diesem Jahr erteilt – was Wohlsfahrtsverbände vor allem auf die bürokratisch aufwändige Anmeldung seitens der deutschen Arbeitgeberfamilien zurückführten (Frankfurter Rundschau 23.11.01; Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.8.2003).77 Zusammenfassend betrachtet ist die Tätigkeit von Hausangestellten in der EU als ein höchst unregulierter, gering formalisierter und aufenthaltsrechtlich unabgesicherter Arbeitsbereich zu bezeichnen. Vor diesem strukturellen Hintergrund einer breiten Illegalisierung von Frauen in der Migration scheint Frauenmigration in der öffentlichen Rezeption auch in den Herkunftsländern der Migrantinnen, wie wir noch sehen werden, unter dem Illegalisierungs- und Prostitutionsvorbehalt zu stehen und negativ – zwischen gefahrvoll und unmoralisch – konnotiert zu sein. In diesem Sinne generiert nicht nur die „männerzentrierte“ Migrationspolitik Deutschlands und der Europäischen Union einen taktischen Umgang von Frauen mit den wenigen legalen Wegen nach Westeuropa. Auch durch den Migrationsdiskurs in den Herkunftsländern gewinnt die Suche von Frauen nach risikoarmen und legalen Möglichkeiten der Migration an Bedeutung. Der Zusammenhang von eingeschränkten Einreisemöglichkeiten und dem taktischen Nutzen der verbliebenen Chancen ist der Migrationsforschung nicht unbekannt. So habe ich bereits den steigenden Rückgriff auf das Asylrecht in diesen Kontext gestellt (vgl. auch K. Bade 2002: 361). Qualitative Studien über Heiratsund Prostitutionsmigration zeigen ebenfalls, dass viele Frauen diese Wege einschla76 Jedoch sind auch diese Arbeitsmigrationsmodi befristet und knüpfen die Arbeitserlaubnis an den Arbeitsplatz, wobei eine Verlängerung von der/dem Arbeitgeber/in abhängig ist und nur ein Arbeitsplatzwechsel pro Aufenthalt erlaubt ist. Dies eröffnet ein Prinzip des „hire and fire“ und legt die Existenzmöglichkeiten der Migrantinnen in die Hände der ArbeitgeberInnen. Die Studie von Anderson und Phizlackea macht deutlich, zu welchen Abhängigkeits- bis hin zu sexuellen Ausbeutungsverhältnissen dies führen kann (B. Anderson 1999: 123). 77 Die ohne große politische Diskussion verabschiedete Regelung ist vor allem auf „bürgerschaftliches Engagement“ und publizistisches Wirken eines HR-Redakteurs zurückzuführen. Dieser war im Zuge einer großangelegten Razzia in Frankfurt am Main 2001, bei der erstmalig auch in Privathaushalten nach „schwarzarbeitenden“ MigrantInnen gesucht wurde, neben 200 weiteren Haushalten ertappt worden, für die Pflege seines Schwiegervaters eine Slowakin ohne Papiere und Sozialabgaben beschäftigt zu haben (vgl. Stiftung Warentest 2002).
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gen, da sie für sich keine Alternative sehen, ihre Migrationsabsichten in die Tat umzusetzen. Das breite Motivspektrum dieser Frauen wird in der öffentlichen Wahrnehmung, die stark von einer Viktimisierungsperspektive geprägt ist, jedoch nur selten gesehen (vgl. C. Karrer/ R. Turtschi u.a. 1996; E. Niesner/ E. Anonuevo 1997). Auch wenn osteuropäische Frauen von der Institution „Au-pair“ Gebrauch machen, ist dieser Schritt angesichts ihres breiten Motivspektrums von Geldverdienst, über den Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen bis hin zur Selbstständigkeit, welches der restriktiven europäischen Mobilitätsordnung mit ihrem gender bias gegenübersteht, in diesen Zusammenhang zu stellen. Dies steht jedoch dem klassischen Bild von Au-pair als maximal einjährigem „Kulturaustausch“ diamentral entgegen. Insofern spreche ich hier von einer „verkleideten“ 78 Strategie der Migration, da sie in den öffentlichen kategorialen Migrationsmustern der Einwanderungsländer und damit auch in den offiziellen Migrationsstatistiken nicht als solche eingeordnet wird. Vielleicht liegt für die Frauen genau darin der große Vorteil von Aupair, dass es unter dem Deckmantel des Kulturaustauschs nicht als Migration kenntlich wurde. Dabei ergeben sich Parallelen zur Organisation und den transnationalen kommerziellen und informellen Vermittlungsnetzwerken beispielsweise im Bereich der Heiratsmigration. So boomen auch im Au-pair-Sektor die kommerziellen Agenturen in Deutschland und Osteuropa, die – marktwirtschaftlichen Kriterien von Angebot und Nachfrage folgend – von den Einwanderungsverschärfungen und der Angewiesenheit von Migrantinnen auf die letzten verbliebenen legalen Tore profitieren. Dabei werden die Agenturen, die die Vermittlung und Organisation der Reise durch die Nadelöre in den Westen anbieten, zu wichtigen privaten DienstleisterInnen im transnationalen Raum. Für die langjährig tätigen nicht-kommerziellen Agenturen bringt diese Entwicklung jedoch massive Probleme mit sich, und zwar sowohl hinsichtlich der immer unklarer werdenden Unterscheidung zwischen dem klassischen Au-pair als Kulturaustausch und der taktischen Nutzungsweise als Migrationsstrategie durch osteuropäische Frauen als auch durch die wachsende Konkurrenz von kommerziellen Vermittlungsagenturen. Auf beide Aspekte werde ich im Folgenden näher eingehen. Die beschriebene Entwicklung hat auch Folgen für die klassische Typologisierung der Migrationsforschung in Bildungs-, Arbeits- und Kulturmigration. Auch wenn bezweifelt werden kann, dass diese Typologisierungen für frühere Migrationsbewegungen je in Reinform zutreffend waren (vgl. S. Castels/M. Miller 1993; F. Anthias 2000: 20 f.), machen sie für das Verständnis gegenwärtiger Migrationsphänomene immer weniger Sinn. Für eine gegenwartsbezogene Migrationsforschung bedeutet dieser Sachverhalt, dass nur ausgehend von den Praxen und Selbstdeutungen der Migrierenden Migrationsmuster adäquat verstehbar werden, was ethnografische und mikrostrukturell angelegte Forschungen neue Bedeutung zukommen lässt.
78 Ich verwende bewusst den Terminus „verkleidet“ und nicht etwa „versteckt“, da verkleidet zwar Trickreichtum intendiert, aber keine Assoziationen wie „Dunkelheit“ und „Heimlichkeit“ weckt. Diese Dunkelheits- und Schattenmetaphorik ist im bundesdeutschen Diskurs eine gängige Repräsentationspraxis von „illegaler“ Migration wie, in Begriffen von „Schattenmenschen“ oder „twilightzone“ zum Ausdruck kommt, welche den AkteurInnen auch auf der Repräsentationsebene ihre Sichtbarkeit als handelnde Menschen nimmt.
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3.2. Transnationale Vermittlungslandschaft Ein Boomgeschäft mit „Schutzbedürftigen” Auch auf meinen weiteren Fahrten in die Slowakei und zurück erwies sich die Buslinie von „Euroline“ als „Au-pair-Express“, der stark von jungen Frauen frequentiert wurde, die teils zufrieden, teils aber auch traurig und verängstigt blickten, als würden sie ihren Weg nicht immer aus freien Stücken oder hoffungsvoll in die eine oder andere Richtung antreten. Zu Urlaubszeiten wie Weihnachten, Ostern und Sommerferien war der Andrang auf die Buslinie so groß, dass zu manchen Abfahrtszeiten bis zu sechs Busse bereit gestellt wurden. Auch die Abschiedsszenarien wiederholten sich auf meiner Reise im Sommer 2000, wenn auch zum Teil mit leichten Variationen. So nahmen bei der Abfahrt in Süddeutschland männliche Freunde die Rolle der Eltern und Großmütter ein, die ihre Liebsten zum Bus begleiteten. Dagegen war die Präsenz von Gasteltern, die ihre Au-pairs in den Urlaub oder zur endgültigen Heimreise verabschiedeten, auffällig gering. Gab es nur so wenige glückliche Abschlüsse von Au-pair-Aufenthalten und wehmütige Abschiede in guter Erinnerung? Vor allem während dieser Busfahrten erfuhr ich von zahlreichen negativen Erlebnissen mit Agenturen und Gasteltern bis hin zu Gewalterfahrungen, von Abbruchgeschichten und den energischen Versuchen der Au-pairs, für sich in der Slowakei oder/und in Deutschland eine zumindest kurzzeitige Perspektive aufzubauen. Die Anonymität der „Busgesellschaft“, die sich während der zwölfstündigen unbequemen Fahrt in eine „Leidensgemeinschaft“ verwandelte, wenn man sich nachts auf der Autobahnraststätte mit verlegten Gliedern zur Pause einfand, schien eine Offenheit mir gegenüber möglich zu machen, die mit festem Boden unter den Füßen in meinem Forschungsraum Süddeutschland nur über lange Zeit herzustellen war. Auch schien die Übergangszeit zwischen dem Zurücklassen und dem noch nicht wieder Ankommen bei den Frauen eine Erzählbereitschaft und Erinnerungslust auszulösen, bei der ich zum letzten neutralen Ohr wurde, bevor sie wieder vertrauten Boden betraten. So erzählte mir Nadja, die während meiner ersten Rückfahrt meine Sitznachbarin war, ihre mittlerweile zweijährige Migrationsgeschichte. Zunächst sei sie über Europair, eine der größten Agenturketten mit Niederlassungen in Tschechien und der Slowakei, in eine Familie bei Stuttgart vermittelt worden. Doch die Familie sei „schrecklich“ gewesen, die Frau „eine hochnäsige Dame“. Deshalb habe sie die Familie wechseln wollen. Doch die deutsche Partneragentur der slowakischen Agentur habe ihren Ausführungen nicht geglaubt und sich ungerührt gezeigt von ihrem Hilfegesuch. Nachdem sie von dieser Seite keine Unterstützung bekam, jedoch auch nicht zurückkehren wollte, ohne etwas Geld gespart zu haben, suchte sie mit Hilfe einer Freundin und über Zeitungsinserate selbsttätig eine neue Familie. Nach den Erfahrungen mit der ersten Familie hätte sie eigentlich lieber eine besser regulierte Arbeit aufgenommen oder gar eine Ausbildung angefangen. Sie hatte jedoch schon in der Slowakei gehört, dass dies für Nicht-EU-Europäer sehr schwierig sei. In Deutschland habe sie dann herausgefunden, dass es gänzlich unmöglich ist. So blieb ihr nichts anderes, als eine weitere Au-pair-Anstellung anzunehmen, diesmal jedoch
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informell. Mit ihrer neuen Familie, bei der sie zum Zeitpunkt unseres Gesprächs eineinhalb Jahre gearbeitet hatte, war sie relativ zufrieden. Auch auf meinen weiteren Fahrten waren negative Erlebnisse, Familienwechsel und endgültiger Abbruch des Au-pair-Aufenthalts meist mit der Vermittlungspraxis der kommerziellen Agenturen in der Slowakei und in Deutschland verbunden. So beklagten die nichtkommerziellen Vermittlungsstellen bereits Ende der 90er Jahre, dass „der Bedarf an Begleitung und Krisenintervention für fremdvermittelte Jugendliche gestiegen ist“ (vgl. vij 1999). Dies führten sie vor allem auf die Privatisierung der Vermittlungstätigkeit mit der Änderung der Arbeitsvermittlungsverordnung von 1994 zurück, die den Sektor, der bislang in der Hand einiger weniger privatwirtschaftlicher AnbieterInnen und nicht-kommerzieller Vermittlungsstellen der evangelischen und katholischen Kirche lag, auch für kommerzielle AnbieterInnen öffnete. In der Folge schossen in Deutschland wie auch in den osteuropäischen Staaten größere und kleinere Agenturen „wie Pilze aus der Erde“, wie es eine kirchliche Vermittlerin ausdrückte. Auch MitarbeiterInnen in Arbeitsämtern sprachen mir gegenüber von einer „neuen Unübersichtlichkeit“ des Au-pair-Marktes seit der Privatisierung, wobei sie die Seriosität der neu lizenzierten kommerziellen Agenturen unterstrichen. Allein in Baden-Württemberg waren 111 Agenturen im Jahr 2000 registriert, die auch aus osteuropäischen Ländern Au-pairs vermitteln durften. Darüber hinaus war auch den Arbeitsämtern bekannt, dass „illegale Vermittlungen“ vor allem über das Internet, nicht lizenzierte Agenturen und informelle Kontakte zunahmen. Angesichts der bekannt gewordenen Mißbrauchsfälle und der schlechten Presse schlossen sich 2004 einige kommerzielle und nicht-kommerzielle Au-pair-Agenturen zu dem „Gütezeichen Au-pair“ zusammen und verpflichten sich damit zur Einhaltung der bestehenden Bestimmungen und ihrer unparteiischen Überprüfung. Generell hat die Ausbreitung des Internets zu einer verstärkten Präsenz von Vermittlungsagenturen im Netz geführt.79 Dabei ähnelt die Ästhetik der FrauenAngebote auf den Au-pair-Webseiten derer von internationalen Heiratsvermittlungen. In „Fotogalerien“ können sich interessierte Familien nicht nur über das Aussehen ihrer zukünftigen Arbeitnehmerin erkundigen, auch Informationen über Hobbies, Vorlieben, Berufskompetenzen etc. werden mitgeliefert. Die Anonymität des Internets scheint jedoch unlauteren Vermittlungsangeboten Tür und Tor zu öffnen, die mit der Vortäuschung einer Au-pair-Stelle Frauen für ganz andere Arbeitsbereiche wie die Gastronomie oder die sexualisierte Unterhaltungsindustrie ködern, wodurch Au-pair in die Nähe von Frauenhandel gerückt wird. Meine Anfrage im Jahr 2001 bei Beratungsstellen in Deutschland und in osteuropäischen Ländern, die im Bereich Frauenhandel und Prostitution tätig sind, hat jedoch ergeben, dass es sich hierbei bislang nur um Einzelfälle zu handeln scheint. Initiativen wie agisra in Frankfurt oder La Strada in Prag berichteten von einzelnen Missbrauchsfällen, in denen statt der erwarteten Au-pair-Familie ein Job im Sexgeschäft auf die Frauen wartete. In einem anderen Fall musste die Au-pair in einer Kneipe arbeiten und wurde zudem zu sexuellen Diensten genötigt. Ein ähnlicher Betrug wurde auch in Süddeutschland bekannt, nachdem die betroffene Frau gegen ihren Zuhälter Anzeige erstattet hatte (Schwäbisches Tagblatt 6. 7. 2000; vgl. agisra/ Ökumenische A79 Ein Suchdienst zählte 2001 5.000 Au-pair-Seiten, die in Deutsch für ihre Dienste warben.
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siengruppe 1996: 38). Für die meisten Frauen lagen die Probleme mit der Vermittlungspraxis der Agenturen auf einer weit weniger spektakulären Ebene zumeist im Bereich „unterlassener Hilfeleistung“, wenn sich die Au-pair-Frauen im Zuge von Konflikten mit den Gastfamilien an sie wandten. Bevor ich jedoch die Vermittlungspraktiken der kommerziellen und nichtkommerziellen Agenturen in der Slowakei und in Deutschland beschreibe, die ich während meiner Forschung aufsuchte, möchte ich zunächst den institutionellen Kontext näher betrachten, in welchen die Institution Au-pair und die Vermittlungstätigkeit eingebettet ist. Denn die neue „Unübersichtlichkeit der Vermittlungsszene“ trifft auch auf ein unübersichtliches und widersprüchliches Regelwerk von arbeitsund ausländerrechtlichen Verordnungen und Institutionen zu, die den regulativen Rahmen für den Au-pair-Markt bilden. So sind zahlreiche deutsche Behörden für die Organisation und Regulation der Institution Au-pair zuständig, etwa die bereits erwähnten Landesarbeitsämter, die örtlichen Arbeitsämter und die Bundesanstalt für Arbeit, die lokalen Ausländerbehörden und die jeweiligen deutschen Botschaften. Während jedoch die Au-pair-Arbeitnehmerinnen einer restriktiven ausländerrechtlichen Kontrolle unterliegen, wurde das Vermittlungsgeschäft mit Au-pairs für Agenturen und „Gastfamilien“ ab Mitte der neunziger Jahre zunehmend liberalisiert. Zudem scheint der Diskurs vom Kulturaustausch in Deutschland die arbeitsrechtlichen Aspekte so weit zu überlagern, dass deren Formalisierung sowie die Kontrollpraxis der betreffenden Institutionen äußerst gering ist. Im Folgenden werde ich den institutionellen Kontext und die Verfahrenspraktiken der zuständigen Institutionen skizzieren und zeigen, wie diese die Au-Pair-Frauen oftmals nur wenig schützen. Vertrauen statt Regulation – der institutionelle Kontext Während Au-pair in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin als Kulturaustausch und nicht als Beschäftigungsverhältnis betrachtet wird – auch die Bundesregierung betonte dies im März 2001 in einer Stellungnahme zu den Auswirkungen von Aupair auf den Arbeitsmarkt (Ibv 2001, 1169 ff.) –, waren und sind für die Regulation des Au-pair-Aufenthalts sowie des Vermittlungsgeschäfts vor allem die Bundesanstalt für Arbeit und ihre untergeordneten Arbeitsämter zuständig. Die rechtliche Basis für die Ausstellung einer Arbeitserlaubnis für eine Au-pair bildet die Anwerbestoppausnahmeverordnung §2 Abs.2 Nr. 4 (1997) sowie die Arbeitsaufenthaltsverordnung (1994), welche AusländerInnen unter 25 Jahren die Au-pairBeschäftigung in Familien für die maximale Dauer von einem Jahr gestattet. Die Genehmigung wird durch die örtlichen Arbeitsämter erteilt. Die Regulation der Aupair-Vermittlungstätigkeit oblag ebenfalls bis zum Jahr 2002 der Bundesanstalt für Arbeit. Eine gewisse Kontrolle konnte sie bis dato vor allem über die Lizenzierung der Agenturen ausüben. Allerdings räumten zuständige MitarbeiterInnen80 in örtli80 Mit den MitarbeiterInnen der Bundesanstalt für Arbeit, der Landes- und der örtlichen Arbeitsämter führte ich vor allem Telefoninterviews. Ich werde sie anonymisieren, da sie mit ihren Aussagen auf die Kluft zwischen Gesetzeslage und behördlicher Praxis hindeuteten.
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chen und Landes-Arbeitsämtern mir gegenüber bereits Ende der neunziger Jahre ein, dass der Au-pair-Markt aufgrund der „riesigen Zuwachsraten“ kaum noch zu überblicken sei. Von jedweder formalen behördlichen Kontrolle „befreit“ wurde der Sektor dann durch die Aufhebung der Lizenzierungspflicht im März 200281, in deren Folge ein neuerlicher Agentur-Boom festzustellen war. Mussten die Agenturen bis 2002 zur Lizenzierung gegenüber den Arbeitsämtern ihre Vertriebsnetze und Partneragenturen offen legen, reicht heute ein Gewerbeschein, um in das Vermittlungsgeschäft einsteigen zu können. Vor allem die nicht-kommerziellen kirchlichen Stellen kritisieren in neueren Stellungnahmen diese staatliche Deregulierung scharf (vij 2002). Die dürftige Datenlage zu Au-pair zeigt allerdings, dass die Bundesanstalt für Arbeit dem Sektor auch schon vor 2002 nicht die größte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Die Statistiken weisen erhebliche Lücken auf und beruhen auf der freiwilligen Auskunft der lizenzierten Agenturen. So wurden bis zur Privatisierung der Vermittlungstätigkeit die Herkunftsländer der Au-pairs nicht angegeben. Nach der Zulassung privater ArbeitsvermittlerInnen wurde auf eine Ausweisung von Au-pair in den Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit über „private Arbeitsvermittlung“ gänzlich verzichtet, obwohl Au-pair in den Ausführungen über die Berufssparten gut ein Drittel der gesamten Vermittlungstätigkeit der Privaten ausmachte (siehe Statistik des Landesarbeitsamtes Baden-Württemberg 1999). Erst ab 1998 wurde der Au-pair-Vermittlung in den Statistiken des Bundes wieder eine eigene Kategorie eingeräumt und Vermittlungen aus Nicht-EU/EWR-Ländern gesondert erfasst, die für den Zeitraum von 1998 bis 2000 knapp die Hälfte der Gesamtvermittlungen nach Deutschland ausmachten (Bundesanstalt für Arbeit 1998).82 Waren die Agenturen erst einmal lizenziert, fand auch vor 2002 die konkrete Vermittlungstätigkeit, vor allem die „Auswahl“ der Gastfamilien durch die Agenturen und deren Prüfung zur Erteilung einer Arbeitsgenehmigung seitens der Arbeitsämter, in einem weitgehend unregulierten Feld statt. Wenngleich es sich bei Au-pair, wie wir sahen, juristisch um ein Arbeitsverhältnis handelt, scheint die offizielle Einordnung von Au-pair als Kulturaustausch die Notwendigkeit einer entsprechenden Regulierung verdeckt zu haben. Die wenigen Richtlinien sahen vielmehr die Selbstregulation der Agenturen und der sich bewerbenden Gastfamilien vor. Ein Fragebogen diente als Grundlage zur Prüfung der Geeignetheit einer Familie durch das örtliche Arbeitsamt. Auch diese Maßnahme setzte auf die Selbstregulation der Agenturen und die Redlichkeit der antragstellenden Gastfamilien, die unter anderem Fragen wie „Soll pflegebedürftige Familienmitglieder betreuen?“ oder „Wird täglich nicht mehr als fünf Stunden eingesetzt?“ richtig zu beantworten hatten. Seit der jüngsten Liberalisierung 2002 und der damit einhergehenden Entbindung der Agenturen von einer Lizenzierung durch die Arbeitsämter ist der Fragebogen die einzige Entscheidungsgrundlage, die die Arbeitsämter zur Genehmigung einer Au-pairVermittlung haben. Bis heute hat Deutschland das „Europäische Abkommen des Europarats über die Au-pair Beschäftigung“ von 1969, welches ein weiteres Mal 1984 von der Europäi81 Im März 2002 liberalisierte der Bundestag die Vermittlung junger Familienhelferinnen aus dem Ausland, was vor allem über die Institution Au-pair abgewickelt wird. 82 Von 17.831 Vermittlungen 1998 waren 9.776 aus Nicht-EU-Ländern; 1999 waren es 13.900 von insgesamt 27.376; im ersten Halbjahr 2000 waren es 6.057 von insgesamt 11.617.
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schen Kommission ihren Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung empfohlen wurde, nicht unterzeichnet. Dabei weist das Abkommen dezidiert auf die besondere „Schutzbedürftigkeit“ von Au-pairs hin: „Die Au-pair-Beschäftigten stellen eine Sondergruppe dar, da sie zugleich als Arbeitnehmer und als Studenten zu betrachten sind. Deshalb sind für diese Gruppe geeignete Bestimmungen vorzusehen“ (Empfehlung der Kommission vom 20. 12.1984). Auch die Begründung der wiederholten Bemühungen der Europäischen Kommission, dieses Abkommen zur EU-Norm zu erheben, ist bemerkenswert. So heißt es unter Punkt 2: Der Schutz der Personen, die einer Au-pair-Beschäftigung nachgehen, weist zwischen den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft erhebliche Unterschiede auf, was zu einer Vielzahl von Problemen führt, die sowohl durch eine unzureichende Unterrichtung der Betroffenen (Aupair und Gastfamilien) als auch durch das Fehlen genau festgelegter und einheitlicher Bestimmungen entstehen können“ (ebd.).
Regelungsbedarf sieht die Kommission in folgenden Bereichen: Grundnormen seien für die Lebens- und Arbeitsbedingungen, den Sprachunterricht, die soziale Sicherung und die Rechte und Pflichten der Gastfamilien und Au-pair-Beschäftigten festzulegen und einzelstaatliche Beratungs- und Informationsstellen einzurichten. Ferner sei das Beschäftigungsverhältnis durch einen Vertragsabschluss zwischen Au-pair und Arbeitsgeberfamilie zu formalisieren. In den arbeitsrechtlichen Eckpunkten wie der täglichen Arbeitsdauer von maximal fünf Stunden, zwei bis drei Abendseinsätzen und sechs Arbeitstagen mit einem zugesicherten freien Tag in der Woche folgen die deutschen Ausführungsbestimmungen zwar dem Europäischen Abkommen (vgl. Durchführungsanweisung für die Landesarbeitsämter 5.1998). Doch sehen sie z.B. keinen schriftlichen Vertrag zwischen Gasteltern und Au-pair vor, der der Agentur als Grundlage für eine Vermittlung vorliegen muss. 1998 wurden die Landesarbeitsämter in einer „Durchführungsanweisung“ auf die „Schutzbedürftigkeit“ von Au-pairs hingewiesen. Die Durchführungsanweisung machte vor allem den Agenturen einige Auflagen zur Vermittlung von Au-pairs, wie die Verteilung von Merkblättern über Rechte und Pflichten sowohl an die Au-pairs als auch an die Gastfamilien. Die Überprüfung der Geeignetheit der Gastfamilie sollte neben dem Fragebogen durch einen persönlichen Besuch von AgenturmitarbeiterInnen besser gewährleistet werden.83 Während meiner Forschung habe ich jedoch von keinem einzigen derartigen Familienbesuch gehört. Auch ist mir nur von den nicht-kommerziellen kirchlichen Vermittlungsstellen bekannt, dass sie die zukünftigen Gasteltern zu einem obligatorischen Beratungsgespräch zu sich bitten. Diese Verfahrenspraxis, letztlich lediglich auf die Redlichkeit der Beteiligten zu vertrauen, setzt sich auch in der Informationsvermittlung zwischen Gastfamilie und zukünftiger Au-pair fort. So erhalten die Gastfamilien nach der Bewerbung von der Agentur Unterlagen von mehreren Au-pairs mit Lichtbild, Lebenslauf und Referenzen zur Auswahl. Haben sie sich für eine entschieden und dies der Agentur mitgeteilt, sprechen die Gastfamilien ihre zukünftige Au-pair in Form eines Einladungsbriefes an, der Angaben zu Familiensituation, Unterbringung und Arbeitsaufgaben 83 In der Begründung heißt es: „Die Au-pair Beschäftigten bedürfen aus einer Reihe von Gründen (Alter, längere Abwesenheit von der Familie, Aufenthalt in einem fremden Land, Unerfahrenheit, Informationsdefizit, Gefahr der Ausnutzung etc.) eines besonderen Schutzes.“ (Durchführungsanweisung 1998).
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enthalten sollte. Dieser Einladungsbrief ist für die Au-pairs nicht nur notwendige Voraussetzung, um ein Visum beantragen zu können. Er ist meist auch die erste und einzige Information über ihren zukünftigen Arbeitsplatz, auf deren Grundlage sie ihre Entscheidung treffen können und müssen. Während meiner Forschung erzählten einige Au-pairs, dass ihnen ein helles und geräumiges Zimmer versprochen wurde, sie sich jedoch in einem dunklen und kleinen Kellerraum wiederfanden. Die Arbeitsämter selbst sind in den Vermittlungsablauf erst involviert, wenn sie von den örtlichen Ausländerbehörden, die aufenthaltsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem Visumsantrag klären, eine Anfrage bekommen, ob eine Arbeitsgenehmigung für die betreffende Au-pair-Frau zu erwarten ist. Wenn den Arbeitsämtern ein Vermittlungsauftrag mit den Unterlagen der Gastfamilie (dem Fragebogen) von einer lizenzierten Agentur vorliegt, geben sie ohne eigene Überprüfung der Gastfamilie ihre Zustimmung. Denn bei der Vermittlung durch lizenzierte Agenturen, so versicherte mir ein Sachbearbeiter eines örtlichen Arbeitsamts, gingen sie davon aus, dass die Agentur diese bereits hinreichend kontrolliert habe. Sollte jedoch kein Vermittlungsauftrag durch eine Agentur vorliegen, obwohl für osteuropäische Au-pairs bis 2002 eine Agenturpflicht bestand, war und ist der Fragebogen das einzige Instrument, die Geeignetheit der Gastfamilie zu kontrollieren. Vor dem Hintergrund dieses behördlichen Ablaufs ist die Arbeitsweise und Vermittlungspraxis der Agenturen entscheidend. Sie sind die zentralen Kontrollstellen, die Gastfamilie und Au-pair zueinander bringen. Die Agenturen entziehen sich jedoch weitgehend der Kontrolle durch die Arbeitsämter. Vielmehr kam in den Gesprächen mit MitarbeiterInnen der Arbeitsämter eine Verfahrenspraxis zum Ausdruck, die von der Maxime „Vertrauen statt Kontrolle“ geprägt ist. So verwies ein Mitarbeiter eines örtlichen Arbeitsamtes auf die Frage, wie er nach der Lizenzierung der Agenturen deren Vermittlungspraxis begutachten könne, auf seinen persönlichen Kontakt zu den InhaberInnen: Missstände würden seitens der Arbeitsämter verfolgt, doch zu Gesetzesverstößen komme es nur selten. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Familien kein Interesse an einer Selbstanzeige haben und sich kaum eine Au-pair traut, bei der Polizei eine Anzeige zu erstatten. Wo keine Klägerin, da auch keine Beklagten. Auch Kontrollgänge durch die Gastfamilien, so der Arbeitsamtsmitarbeiter weiter, habe es bisher nicht gegeben, da man sich auf die Beratungspraxis der Agenturen verlasse. Im Unterschied zu dem niedrigen Regulationsgrad und der auf Selbstregulation setzenden Verfahrenspraxis der Arbeitsämter gegenüber den deutschen Agenturen und Gastfamilien müssen sich die Au-pair-Frauen einer mehrstufigen, durch Anfragen bei zentralen Behörden abgestützten ausländerrechtlichen Prüfung unterziehen. So stößt der Visumsantrag bei den deutschen Botschaften in den Herkunftsländern der Au-pair-Frauen eine Reihe von Vorabprüfungen durch die Botschaft und die deutschen Ausländerbehörden an. So prüft die Botschaft mit einer Anfrage beim Schengener-Informationssystem und beim Ausländerzentralregister in Köln, ob Verstöße gegen das Ausländergesetz vorliegen und ob von der gleichen Person früher oder parallel ein anderer Antrag auf Visumserteilung gestellt wurde. Dann leitet die Botschaft den Antrag an die zuständige örtliche Ausländerbehörde weiter, die der Visumserteilung zustimmen muss. Der Schwerpunkt dieser Prüfung liegt
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wiederum bei ausländerrechtlichen Fragen, d.h., ob sich die Au-pair-Frau schon einmal in Deutschland aufgehalten hat oder ob sie als „illegal eingereist“ gemeldet ist. Da eine Einreisegenehmigung an einen Arbeitsplatz gekoppelt ist, klärt die Ausländerbehörde durch eine Anfrage beim Arbeitsamt, ob eine Arbeitsplatzzusage vorliegt und mit der Genehmigung zu rechnen ist. Diese Prozedur kann einige Monate dauern. Deshalb warten Au-pairs und Gasteltern die Visumserteilung oftmals nicht ab. Vielmehr reisen die Au-pairs häufig bereits vorher für drei Monate als Touristin ein und nehmen die Arbeit auf. Diese Praxis kommt in vielen Fällen auch den Au-pairs entgegen, gleichzeitig eröffnet sie den Gastfamilien die Gelegenheit, die zukünftige Au-pair zu testen und gegebenenfalls ohne Probleme wieder zurückzuschicken, bevor das Arbeitsverhältnis formal überhaupt in Kraft getreten ist. Auf diese Praxis wies mich nicht nur die Vermittlerin der Kirche hin, auch in meinen Gesprächen mit Au-pairs habe ich wiederholt davon gehört. In Deutschland angekommen stehen für die Au-pairs weitere Ämtergänge an, um sich Aufenthalt und Arbeit für ein Jahr legalisieren zu lassen: Beim Einwohnermeldeamt sowie der zuständigen Ausländerbehörde muss sich die Au-pair binnen einer Woche nach Ankunft melden und beim örtlichen Arbeitsamt die Arbeitserlaubnis beantragen. Allerdings bekommt sie als Aufenthaltsbescheinigung zunächst nur eine dreimonatige „Aufenthaltsgenehmigung“ gemäß „Arbeitsaufenthaltsverordnung“ ausgestellt. Erst nach einer amtsärztlichen Untersuchung und der vorliegenden Arbeitserlaubnis wird die endgültige Aufenthaltsgenehmigung für maximal ein Jahr erteilt, eine Verlängerung ist ausgeschlossen. Angesichts des deregulierten Kontexts der Vermittlungstätigkeit, was mit der Liberalisierung noch gesteigert wurde, verwundert es nicht, dass – wie die nichtkommerziellen Agenturen immer wieder kritisieren84 - die Au-pair-Vermittlung zu einem lukrativen Geschäft wurde, bei dem der Umsatz zählt und nicht die Qualität der Beratung und Betreuung von Gasteltern und Au-pairs während des Aufenthalts. Die Liberalisierungspolitik des transnationalen Au-pair-Markts steht in einem scharfen Gegensatz zu der in den vorausgegangenen Abschnitten beschriebenen restriktiven Migrationspolitik. Insofern könnte man fast meinen, dass die deutsche Aupair-Politik selbst zu dem Phänomen der steigenden Zahlen osteuropäischer Frauen beigetragen hat, die Au-pair angesichts der wenigen Migrationsmöglichkeiten als eine Strategie hierzu nutzen. Die zwei ineinandergreifenden Entwicklungen unterlaufen und untergraben das offizielle Bild von Au-pair als Form des Kulturaustauschs. Trotzdem herrscht es, wie bereits erwähnt, auch in offiziellen Stellungnahmen weiterhin vor. Dieses Spannungsverhältnis taucht als ein wesentlicher Konfliktpunkt in den Aussagen und Praktiken vor allem der nicht-kommerziellen Agenturen in Deutschland wie in der Slowakei auf. Aber auch für einige kommerzielle Agenturen, die ich in der Slowakei aufsuchte und mit denen ich über ihre Vermittlungspraxis sprach, stellt 84 Während der Jubiläumstagung der evangelischen Vermittlungsstellen im Juni 2002 erklärte hierzu die stellvertretende Bundesvorsitzende: „Durch die Lockerung des staatlichen Arbeitsvermittlungsmonopols 1994 sei unseriösen Au-pair-Vermittlungen Tür und Tor geöffnet worden, seit März dieses Jahres sei die schützende Reglementierung für Au-pair Verhältnisse völlig außer Kraft. Dadurch sei die Gefahr, dass Au-pair-Verhältnisse als Fassade für sexuelle und wirtschaftliche Ausbeutung, für Illegalität und Frauenhandel missbraucht würden, enorm gestiegen“ (vij 2002: 5).
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es einen Konfliktpunkt dar. Im Folgenden werde ich mich zuerst den kommerziellen Agenturen, ihren Praktiken und Deutungen, und anschließend den nichtkommerziellen kirchlichen Stellen zuwenden. Ich habe diese Reihenfolge der Darstellung gewählt, um die Probleme, die die Kommerzialisierung der Vermittlungstätigkeit mit sich brachte, besser einordnen zu können. „Jede dritte Au-pair hat Glück” – kommerzielle Vermittlungspraktiken Während der obligatorischen Rast auf der Busreise in die Slowakei im Sommer 2000 gesellte ich mich zu einer Gruppe junger Frauen, die rauchend beieinander standen: Wie sich herausstellte, waren drei von ihnen als Au-pair in Deutschland gewesen und die vierte war auf der Rückkreise von einem dreimonatigen Kellnerinnenjob. „Jede dritte Au-pair hat Glück in Deutschland“, sagte eine der jungen Frauen, die ihren Namen nicht nennen wollte. Tatsächlich berichtete nur eine der vier Frauen von einem zufriedenstellenden Aufenthaltsverlauf. Eine der drei Au-pairs hatte ihren Aufenthalt über eine deutsche Agentur in Köln organisiert, auf die sie im Internet gestoßen war. Die beiden anderen ließen sich über zwei große Agenturen – SAPA und Student Agency – aus Bratislava vermitteln. Da ich in Süddeutschland schon einige Au-pairs getroffen hatte, die über SAPA nach Deutschland gekommen waren, hatte ich diese Agentur bereits bei meinem letzten Aufenthalt aufgesucht. Über Student Agency war ich bei meinen Streifzügen durch Bratislava zufällig gestolpert, da sie sich durch ein Hinweisschild auf der Straße als Sprachreiseanbieterin und Au-pair-Agentur anpries. Au-pair schien in der Slowakei zu einem Verkaufsschlager geworden zu sein. Neben den großen Agenturen in guter Lage wie Lotty, SAPA und Europair und den zwei nichtkommerziellen Vermittlungsstellen der großen Kirchen schossen immer neue EinMann-Agenturen aus dem Boden. Allerdings schlossen viele auch sehr rasch wieder, wie mir Kenner der Szene berichteten. Allein in Bratislava gab es im Jahr 2000 acht offizielle Vermittlungsagenturen. Daneben traf ich auf meinen Stadterkundungen auf weitere Sprachreiseanbieter wie auch auf Reisebüros, die neben MallorcaAngeboten Werbung für Au-pair-Stellen – „nur 2.900 Kronen“ – in ihren Schaufenstern hängen hatten. Darüber hinaus waren im Internet zahlreiche slowakische Au-pair-Anbieter zu finden, die ihre Bewerberinnen mit Passbild und kurzem persönlichen Profil zur Vermittlung anboten. Von Beteiligten wurde mir der Wettbewerb um Marktanteile, d. h. um die Träume und Wünsche der jungen Frauen, als harter Kampf mit bisweilen kriminellen Methoden beschrieben. So war mir bewusst, dass ich während meiner Besuche und Gespräche mit MitarbeiterInnen von Lotty, SAPA und Student Agency über ihre Vermittlungspraktiken und Einschätzungen vor allem mit den offiziellen, auf „Hochglanz“ getrimmten Selbstdarstellungen konfrontiert sein würde. Umso mehr überraschte mich die Offenheit, die mir zum Teil begegnete. Überrascht wurde ich auch von der Bandbreite der Vermittlungspraktiken, die sich bei den drei von mir näher erforschten kommerziellen Agenturen zeigte. Im Folgenden werde ich sie kontrastierend darstellen. Bei den Gesprächen interessierte mich nicht nur die Art der Beratung, Aufklärung und Auswahl der Au-pair-Bewerberinnen und die Erfahrungen der VermittlerInnen mit der Motivationslage ihrer Klientel. Auch wollte ich einen Einblick
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gewinnen in die Organisation des transnationalen Vermittlungsgeschäfts. Es interessierte mich, wie gezielt die Agenturen in der Slowakei ihre Partnerorganisationen aussuchen und welche Kommunikation zwischen ihnen besteht. Quantität zählt – Lotty Die umsatzstärkste der drei besuchten Agenturen war Lotty. Nach Deutschland, das hinter England, Holland und den USA auf Platz vier der betriebsinternen Länderhitliste rangierte85, vermittelten sie dreißig bis fünzig Au-pairs im Monat. Pro Vermittlung verlangten sie 2.800 Kronen, was pro Jahr rund 1.008.000 slowakische Kronen, also ca. 500.000 Mark (Umrechung im Jahr 2000) einbrachte. Im Vergleich dazu vermittelte SAPA im ganzen Jahr nur 150 Frauen nach Deutschland, hier Platz drei der Länderliste, zu je 2.900 Kronen (insg. 215.000 Mark). Die Student Agency, die zwei Agenturen in der Slowakei und ihren Hauptsitz in Prag betreibt, vermittelte fünfzig Au-pairs im Jahr für jeweils 1.900 Kronen nach Deutschland.86 Die hohe Vermittlungsfrequenz von Lotty hat jedoch ihren Preis. Nachdem ich das Büro der Agentur im zentralen Busbahnhof gefunden hatte, trat ich in einen kleinen dunklen Raum und stand vor einer „Empfangstheke“, die an einen Verkaufsschalter erinnerte. Wie auch die an Au-pair interessierten Frauen musste ich meine Fragen hier im Stehen vorbringen. Angesichts der kühlen Verkaufsatmosphäre lud hier nichts zum längeren Verweilen ein. Die junge Frau hinter dem Schalter gab mir die Formulare87, die sie auch an Au-pairs in spe aushändigt, und beantwortete einige Fragen zu Vermittlungsumfang und Praxis. Offenkundig wird hier im Vorfeld sehr wenig Information gegeben und kaum Aufklärung geleistet. So muss ein kleingedrucktes Informationsblatt genügen. An Sprachkompetenzen werden kaum Anforderungen gestellt. Die Quantität zählt. Geworben wird über Zeitungen und Zeitschriften. Angesichts des großen Umsatzes, so die Mitarbeiterin, hätten sie Probleme mit den deutschen Partneragenturen, die nicht genügend Familien „beibringen“ würden. Die Partneragenturen fänden sie vor allem über das Internet, wobei es häufige Wechsel gebe. Die Namen der drei bis vier Agenturen, mit denen sie gerade im Raum Süddeutschland zusammenarbeiteten, wollte sie mir nicht nennen. Mit 85 Darüber hinaus bietet Lotty Vermittlungen nach Frankreich, Spanien, Belgien und Island an 86 Student Agency vermittelt ferner nach Australien, Neuseeland, Malta, Frankreich, Italien, Spanien, Mexiko und in die USA. 87 Bei den Bewerbungsformularen scheint es eine weitgehende Übereinstimmung zwischen allen von mir beforschten Agenturen zu geben: So müssen die Au-pair-Bewerberinnen in allen Fällen einen Fragebogen ausfüllen, der folgende Angaben erfragt: persönliche Daten (Name, Beruf des Vaters, der Mutter, Religion, Anzahl der Geschwister), Schulbildung, Umfang/ Jahre des Fremdsprachenunterrichts, Stand der Sprachkenntnisse nach Selbsteinschätzung, Kenntnisse im Bereich der Kindererziehung; Selbstbeurteilung der Fähigkeiten bei Arbeiten wie „Hausarbeit“, „Kochen“, „Wäsche“, „Bügeln“, „Staubsaugen“, „Nähen/ Flicken“; Vorlieben hinsichtlich Familiengröße, Wohnsitz (Land/ Kleinstadt/ Großstadt); weitere Qualifikationen wie „ Autofahren“, „Schwimmen“; Hobbies und Freizeitaktivitäten; Wunsch, einen Sprachkurs zu besuchen. Der Fragebogen von Student Agency fragt ferner nach Essgewohnheiten, Allergien, Krankheiten; Tierliebe, musikalischen Kompetenzen. Daneben enthält er differenzierte Fragen zum angestrebten Betreuungsprofil: „Sind sie bereit, ein behindertes Kind zu betreuen?“ oder „ mit einer alleinerziehenden Mutter oder Vater zu leben?“ Darüber hinaus müssen die Bewerberinnen ein Gesundheitszeugnis, ein Empfehlungsschreiben von einer qualifizierten Person für die Arbeit als Au-pair und einen Brief an die zukünftigen Gasteltern abliefern. Diese Unterlagen werden dann an die Partnerorganisationen bzw. die Gasteltern weitergegeben.
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den Problemen in Deutschland, darauf wies sie mich abschließend hin, habe ihre Agentur nichts zu tun. In solchen Fällen müssten sich die Au-pair-Frauen an die deutschen Partneragenturen wenden, die dann die Neuvermittlung vornähmen. Auf meine Nachfrage, ob sie Partneragenturen aus dem Programm nähmen, sollten sich Beschwerden häufen, meinte sie nur: „Das gibt es nicht, auch werden wir nicht informiert.“ Keine Arbeitsvermittlung im klassischen Sinne - SAPA Der Mitarbeiter von SAPA zeichnete mir ein anderes Bild einer Au-pairVermittlung. SAPA, in der Nähe des Busbahnhofs in Bratislava gelegen, residiert mit ihren vier bis fünf MitarbeiterInnen in einem der grauen Mietsblöcke, welche die breiten Ausfallstraßen aus der Innenstadt säumen. Von außen wies nichts außer einem kleinen, goldenen Schildchen darauf hin, dass sich hinter der grauen Fassade eine der größten Au-pair-Agenturen verbarg. Im Eingangsbereich, der als Wartezimmer genutzt wurde und freundlich eingerichtet war, fand ich einige Ringmappen mit Erlebnisberichten, Briefen und Ansichtskarten ehemaliger Au-pairs, deren Volumen bereits einiges über den Vermittlungsumfang der Agentur vermuten ließ. Dies war ein Serviceangebot, welches ich bei keiner anderen Agentur fand. Nach kurzer Wartezeit wurde ich in ein Zimmer gebeten, wo mich ein junger Angestellter, selbst Student, empfing. SAPA sei Mitglied im Internationalen Verband der Au-pair-Agenturen und arbeite konstant mit Partneragenturen in Deutschland zusammen, die sie auch regelmäßig besuchen würden. Ihre Vermittlungsarbeit nähmen sie sehr ernst, was dazu führe, dass sie auch zeitaufwendig sei. Nachdem eine Frau schriftlich oder telefonisch ihr Interesse signalisiert habe, werde sie zu einem obligatorischen Bewerbungsgespräch eingeladen. Dies diene zum einen dazu, die Sprachkompetenzen, Erwartungen und Motivationen zu prüfen. Zum anderen vermittelten die MitarbeiterInnen in diesen halbstündigen Sitzungen auch wichtige Informationen über Ablauf, Rechte und Pflichten und händigten den zukünftigen Au-pairs schriftliches Material dazu aus. Eine weitere Informationsmappe, die auch Adressen von wichtigen Anlaufstellen für Notfälle in Deutschland enthält, bekommen die Au-pairs kurz vor ihrer Abreise überreicht. Im Folgenden konnte ich ein Bewerbungsgespräch, das der Mitarbeiter mit einer jungen Frau aus der Ostslowakei führte, beobachten. Da er das Gespräch auf Deutsch zu führen versuchte, konnte ich anfangs gut folgen. So antwortete die Frau auf die Frage, warum sie Au Pair machen wolle, dass sie arbeitslos sei und das schon mehrere Jahre. Für eine ausführlichere Beschreibung ihrer Situation wechselte sie jedoch auf Slowakisch. Auch auf die nächsten auf Deutsch formulierten Standardfragen, wie lange sie Deutsch gelernt habe und was sie über die Arbeits- und Lebenssituation einer Au-pair wisse, antwortet sie auf Slowakisch. Es entwickelte sich ein längeres Zwiegespräch zwischen Vermittler und Bewerberin, bis sie plötzlich aufstand und sich verabschiedete. Darauf erklärte mir der Vermittler, dass er sie mit ihren geringen Deutschkenntnissen nicht nehmen konnte und ihr geraten hatte, doch erst noch mal einen Deutschkurs zu machen. Überrascht über diese Wendung fragte ich, ob dies gängige Praxis oder nur meiner Anwesenheit geschuldet sei. Er betonte, dass dies sein übliches Vorgehen sei, und meinte, dass sie auch Bewerbe-
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rinnen ablehnten, von denen sie den Eindruck hätten, dass sie „rein zur Arbeit“ nach Deutschland wollten. Au-pair sei ja keine „Arbeitsvermittlung im klassischen Sinne“, argumentierte er und berief sich hierbei auf das traditionelle Bild von Aupair als Kulturaustausch, welches zumindest ein kleines Interesse an Land und Menschen seitens der Au-pairs voraussetze. Allerdings wisse er auch, dass der sozioökonomische Hintergrund der meisten slowakischen jungen Frauen und der wenigen Männer den Zweck des Kulturaustauschs in den Hintergrund treten lässt. Er zeichnete ein Soziogramm der Bewerberinnen, welches sich mit meinen Eindrücken weitgehend deckte: Die Mehrzahl der Bewerberinnen kämen vom Land, etwa die Hälfte seien Abiturientinnen, die andere Hälfte Mittelschulabgängerinnen. Die meisten würden sich aus der Arbeitslosigkeit heraus bewerben oder weil sie nur einen schlecht bezahlten Job gefunden oder die Aufnahmeprüfung zur Universität nicht bestanden hatten. Allerdings gebe es auch StudentInnen, die ihre universitäre Laufbahn unterbrächen, um über ein Au-pairJahr ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen. Unter dem Strich verfolgten die Frauen jedoch das Interesse, mit Au-pair „das Jahr oder Jahre produktiv zu überbrücken” bis sie in der Slowakei wieder eine Perspektive finden. Er lacht, denn es sei für mich ja kein Geheimnis mehr, dass viele länger blieben. Das Märchen vom Kulturaustausch – Student Agency Auch die zwei Mitarbeiterinnen der Student Agency, die mich in einem geräumigen und modern eingerichteten Großraumbüro in der Innenstadt begrüßten, zeigten sich über die Motivationslage ihres Klientel gut informiert. Zunächst, wohl bemüht dem klassischen Au-pair-Bild zu entsprechen, gaben sie mir gegenüber Spracherwerb und Auslandserfahrungen als zentrale Motive an. Als ich ihnen von meinen ersten Rechercheergebnissen berichtete, räumten sie jedoch ein, dass die Fremdsprachenkenntnisse für die Frauen vor allem hinsichtlich besserer Jobaussichten später von Interesse seien, was vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit auch verständlich sei. Dies sei auch der Grund, warum sich einige Frauen mehrmals hintereinander für Au-pair bewarben. Student Agency, so versicherten mir die Mitarbeiterinnen, führte im Normalfall ein kleines Bewerbungsgespräch durch. Alle wichtigen Informationen seien auch in der Infomappe, die sie mir, bunt und auf Hochglanzpapier gedruckt, anschließend aushändigten. Derzeit arbeiteten sie mit drei bis vier Agenturen in Deutschland zusammen, die sie selbst allerdings nicht kannten, da die Vermittlung und der Kontakt über das Internet laufe. Ihr Chef habe die Agenturen jedoch selbst besucht und die Zusammenarbeit funktioniere sehr stabil. Zwischen Hilfe und Kontrolle – nicht-kommerzielle Vermittlungspraxis Wie die kommerziellen Agenturen in der Slowakei, so waren auch die nichtkommerziellen kirchlichen Vermittlungsstellen in der Slowakei und in Deutschland seit Mitte der 90er Jahre damit konfrontiert, dass die Grenzen zwischen Migration und klassischem Au-pair zunehmend verschwammen. Während die kommerziellen slowakischen Agenturen mir gegenüber diesen Trend zwar konstatierten, doch nur
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der Mitarbeiter von SAPA anscheinend versuchte, entlang von Sprachkompetenzen und Motivationen klassische Au-pairs von Arbeitsmigrantinnen zu unterscheiden, mussten die nicht-kommerziellen Vermittlungsstellen in Deutschland und der Slowakei zu dieser Entwicklung Stellung beziehen. Ihre jeweiligen Positionen deckten dabei eine ganze Bandbreite an Möglichkeiten ab – von dem Versuch, „echte Aupairs“ von „falschen“ zu trennen und die Unterscheidung zwischen Au-pair und Migration aufrecht zu erhalten, bis hin zu dem bewussten Angebot von Au-pair als Hilfe zur legalen Migration. Letztere Position wurde vor allem von slowakischer Seite vertreten. Doch zunächst werde ich auf die „deutsche Seite” zu sprechen kommen, da die Praktiken der slowakischen nicht-kommerziellen Vermittlungsstellen in vielerlei Hinsicht eine Reaktion auf die Tätigkeit der deutschen Stellen darstellen. Verständnis und Kontrolle – nicht-kommerzielle Agenturen in Deutschland Die deutschen nicht-kommerziellen Vermittlungsstellen des „Vereins für internationale Jugendarbeit“ der evangelischen Kirche (Diakonie)88 sowie des Fachverbands „In Via“ der katholischen Kirche (Caritas)89 sind seit den 60er Jahren auf dem Gebiet der Au-pair-Vermittlung tätig. Da die Au-pair-Vermittlung des „Vereins für internationale Jugendarbeit“ ganz im Zeichen des Kalten Krieges als Maßnahme des „internationalen Jugendaustauschs“ und christlicher „Friedens- und Versöhnungsarbeit“ verstanden wurde, war die Vermittlungsarbeit des Vereins von Anfang an begleitet von einem breiten pädagogischen Betreuungsangebot und von Freizeitprogrammen für die überwiegend jungen Frauen aus westeuropäischen und amerikanischen Ländern. Auch bei „In Via“ lag der Schwerpunkt der Au-pairVermittlungsarbeit auf einem pädagogisch abgefederten Kulturaustauschprogramm für junge Frauen. Die zwei pädagogisch geschulten Mitarbeiterinnen des „Vereins für internationale Jugendarbeit“ in Süddeutschland boten neben der Einzelfallberatung für Au-pairs und Gasteltern und „Gastelternabenden” auch einen offenen „Au-pair-Club“ mit Freizeitprogramm an. Vor allem der „Club“, der drei Mal in der Woche geöffnet war, stellte als niedrig schwellige Anlaufstelle ein wichtiges Angebot für Au-pairs dar, um aus der Vereinzelung in den Familien herauszukommen, andere junge Frauen kennen zu lernen, sich auszutauschen und nebenbei Probleme mit den anwesenden Mitarbeiterinnen zu besprechen. Ende der neunziger Jahre war der Club als einzige derartige Stelle in der Region zu einer weit über den Kreis der vom Verein vermittelten Au-pairs hinaus bekannten Institution geworden. Das Betreuungsangebot sprach sich in den informellen Au-pair-Netzwerken herum, so dass auch durch kommerzielle Agenturen vermittelte Au-pairs den Club aus Geselligkeitsgründen aufsuchten und sich in Konfliktsituationen an dessen Mitarbeiterinnen wandten, wenn sie von ihrer Agentur keine Unterstützung erhielten. Ebenso stellte der Club für illegalisierte Au-pairs einen der wenigen halböffentlichen Räume dar, in die sie sich problemlos begeben konnten. Nachdem der Beratungsaufwand für derartige Fälle stark zugenommen hatte, beschloss die evangelische Vermitt88 Der Verein ist seit 1956 in der Au-pair-Vermittlung tätig. 89 „In Via“ ist ein Fachverband innerhalb des deutschen Caritasverbands, der sich der Sozialarbeit für Mädchen und junge Frauen verschrieben hat (vgl. Zeitschrift für Kinder und Jugendwohl 1995).
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lungsstelle während meiner Forschungszeit gar einen Aufnahmestopp für „fremdvermittelte“ Au-pairs. In der Praxis halfen die Mitarbeiterinnen jedoch immer wieder auch Au-pairs von anderen Agenturen. So saßen an den Club-Abenden, die ich begleiten konnte, über fünfzig Frauen im Raum, wohl sortiert nach Sprachverwandschaften – in einer Ecke Frauen aus der Slowakei und aus Tschechien, in einer anderen Frauen aus der Ukraine und aus anderen ehemals oder immer noch russischsprachigen Ländern. Sie bildeten während meines Forschungszeitraums die beiden Hauptgruppen. Frauen aus westeuropäischen Ländern hingegen waren die Ausnahme.90 Neben dem gewachsenen Beratungsaufwand für fremd-vermittelte Au-pairs, welchen die Mitarbeiterinnen auf die mangelhafte Betreuung und unseriöse Vermittlungspraxis der kommerziellen AnbieterInnen zurückführten, sahen sie sich auch bei ihrer eigenen Klientel osteuropäischer Frauen zunehmend mit bislang unbekannten Problemen konfrontiert. In ihrem Arbeitsresümee 1998, überschrieben mit „Die neue Au-pair-Generation“, setzte sich eine langjährige Mitarbeiterin der evangelischen Vermittlungsstelle dezidiert mit der seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs steigenden Zahl osteuropäischer Au-pairs auseinander. Auch die katholische Vermittlungsstelle befasste sich ab Mitte der neunziger Jahre in ihren Publikationen mit dem starken Zuwachs osteuropäischer Au-pairs, die 1998 zwei Drittel ihres Klientels in Baden-Württemberg stellten (vgl. Zeitschrift für Kinder und Jugendwohl 1995). Dabei beschrieben beide Stelle relativ gleichlautend zwei Konfliktlinien, die mit dieser Entwicklung verbunden seien: Zum einen stellten sie fest, dass die Motivstruktur und das Sozialprofil der osteuropäischen Frauen anders sind, als sie es von ihrer früheren westeuropäischen und amerikanischen Klientel gewöhnt waren. So thematisierte die evangelische Vermittlerin das Problem, dass neben der wachsenden Zahl von Akademikerinnen, „die selbstständig und kritisch hinsichtlich Arbeitszeiten und Familienintegration“ seien, auch die Zahl von „Bäckerinnen und Verkäuferinnen“ gestiegen sei. Diese, so die Wahrnehmung der Vermittlerin, „wissen überhaupt nicht mehr, warum sie hier sind“. Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen und interkultureller Austausch, Essentials des klassischen Au-pairs, würden zunehmend in den Hintergrund treten. Abgesehen davon, dass mit der neuen Klientel der zentrale Aspekt des Kulturaustauschs an Bedeutung verliere und klassische Betreuungsangebote nicht mehr griffen, führe das veränderte Sozialprofil auch zu verstärkten Konflikten in den Familien. Die evangelische Vermittlerin warnte in dem Artikel: „Die Erwartungen der Gastfamilien einerseits und der jungen Menschen andererseits könnten in Zukunft mehr und mehr auseinander klaffen.“ Zum anderen sahen sich die Vermittlerinnen mit einem ganz neuen Problemfeld im Zusammenhang mit der Nutzung von Au-pair als Migrationsstrategie durch viele Osteuropäerinnen konfrontiert. Jedoch wurden die neuen Konfliktpunkte von 90 Weitere Herkunftsländer von im Club anwesenden Au-pairs während meiner Forschung waren Polen, Rumänien, Litauen, Kasachstan und die Mongolei. Dabei verzeichnete die Vermittlungsstelle gegen Ende der neunziger Jahre einen starken Rückgang von Au-pairs aus Polen und Tschechien, was die Mitarbeiter sich damit erklärten, dass diese Länder einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebten und die Frauen mittlerweile über andere Migrationswege verfügten.
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ihnen selbst oftmals nicht mit dem Migrationskomplex in Verbindung gebracht, sondern als Problem von Delinquenz verhandelt. So schrieb die evangelische Vermittlerin, dass sie in den letzten Jahren zunehmend „mit falschen Angaben, gekauften Papieren, gefälschten Zeugnissen, falschen Anruferinnen, die Deutschkenntnisse vorspielen sollen“, konfrontiert sei, was in der Vermittlungsarbeit neue Wachsamkeit erfordere (Clubresümee 1998). Die katholische Vermittlungsstelle brachte den Kontext für derartige Taktiken folgendermaßen auf den Punkt: „Bei den Jugendlichen aus Mittel- und Osteuropa kommt die Hoffnung hinzu – bedingt durch die verbreitete wirtschaftliche Not und berufliche Perspektivlosigkeit –, in Deutschland arbeiten und viel Geld verdienen zu können oder auf Dauer in Deutschland zu bleiben“ (Zeitschrift für Kinder und Jugendwohl 1995). Darüber hinaus wurden die Vermittlerinnen auch zunehmend mit migratorischen Folgestrategien nach Ablauf des regulären Visums konfrontiert wie „Schein“-Heirat, Illegalisierung oder Prostitution. Diese Praktiken, die nicht mehr in den klassischen Betreuungsbereich von Au-pair fallen, stellten für die Vermittlerinnen eine starke Verunsicherung dar, ob sie ihr „Mandat“ hierauf ausdehnen sollten bzw. durften. Vor allem die „Illegalität“ der meisten nachfolgenden Praktiken wurde als neue Herausforderung wahrgenommen, die sowohl in moralischen als auch in juristischen Kategorien diskutiert wurde. Während einige Vermittlerinnen den ehemaligen Au-pairs selbstverständlich auch weiterhin halfen, stellte das Wissen um die Straffälligkeit der „Unterstützung illegalen Aufenthalts“ (Ausländergesetz §73) für andere ein großes Problem dar. So wurde mir davon nur hinter vorgehaltener Hand berichtet. Folgerichtig plädierte die evangelische Vermittlerin in ihrem Artikel dafür, in der Beratungsarbeit den Schwerpunkt auf „Rückkehrberatung“ zu legen, die „ab dem ersten Tag in Deutschland“ angeboten werden müsste. Denn die neue Problemkonstellation erfordere „nicht nur Verständnis, sondern auch Kontrolle“ (vgl. Arbeitsresümee 1998). Auch auf der Jahrestagung der evangelischen Vermittlerinnen 1999 wurde die von einigen wenigen vorgetragene Forderung, den Au-pair-Schritt der Osteuropäerinnen im Zusammenhang mit Migration zu sehen, zu meinem Erstaunen sehr kontrovers bis ablehnend diskutiert. Zu meinem Erstaunen deshalb, weil die Vorgängerorganisation der evangelischen Vermittlung, auf die sich in den Vereinspublikationen auch immer wieder bezogen wurde, dezidiert als Hilfsangebot für migrierende Frauen vor rund hundert Jahren gegründet worden war. Der kirchliche Verein war damals als Bahnhofsmission ins Leben gerufen worden, um alleinreisenden Frauen und Mädchen vom Lande oder dem damaligen Ausland auf der Suche nach einer Anstellung eine seriöse Hilfe anzubieten und sie vor FrauenhändlerInnen und falschen Verdienstversprechungen zu schützen. Auch die katholische Au-pair-Vermittlung steht in dieser Tradition. Nach ihrer Vereinsgründung 1895 in Deutschland schlossen sich in Reaktion auf die starke Land-Stadt-Wanderung katholische Frauenverbände in Europa 1897 zum „Internationalen Verband zum Schutze der weiblichen Jugend“ zusammen, um länderübergreifende Hilfsangebote bereitzustellen. Die Unterstützungsangebote waren damals notwendig geworden, da „geschäftstüchtige Arbeitsvermittler die Situation der Arbeitsmigrantinnen ausnutzten und sie oft lukrativ in ungeschützte Arbeitsverhältnisse vermittelten“ (vgl. Zeitschrift für Kinder- und Jugendwohl 1995). Obwohl diese Tradition in den Publikationen der Or-
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ganisationen auch heute noch betont wird, scheint sie nur bei wenigen Vermittlerinnen für ihre derzeitige Praxis von Bedeutung zu sein. Au-pair als Ost-West-Integrationshilfe... – slowakische nicht-kommerzielle Agenturen Die mehrheitliche Skepsis auf der Fachtagung gegen eine historische Lesart des neuen Phänomens als Migration und gegen eine dementsprechende inhaltliche Ausweitung des Betreuungsauftrags stellt einen wesentlichen Unterschied zum Selbstverständnis der slowakischen kirchlichen Vermittlerinnen dar, die ihr Au-pairAngebot zum Teil explizit als Hilfe zur legalen Migration darstellten. Dabei haben die deutschen Organisationen die Zunahme osteuropäischer Au-pair-Frauen durchaus gefödert. Denn sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche haben nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Partnerschaften mit den jeweiligen Kirchen in den osteuropäischen Ländern aufgebaut und den Aufbau von Diakonie- und Charitas-Strukturen beratend und finanziell unterstützt. Anknüpfend an das klassische Au-pair-Verständnis als „Jugendaustausch und Friedensarbeit“ wurde auch die Ausweitung der Au-pair-Arbeit in die osteuropäischen Länder als „Ost-WestIntegrations- und Friedensarbeit“ von Seiten der deutschen Kirchen betrieben. So gehen sowohl die katholische als auch die evangelische Vermittlungstätigkeit in der Slowakei auf die Initiative der deutschen Partnerorganisationen zurück. In diesem Sinne erklärte auch die einzige Vermittlerin der evangelischen Kirche in der Slowakei, die Pfarrerin Eva Siklová91, ihre Engagement in diesem Bereich ab Mitte der neunziger Jahre als Resultat zufälliger Kontakte und des Drängens der deutschen Kirche: „Ich habe einmal eine Diakonisse aus der Schweiz kennen gelernt und sie erzählte mir, was sie mit den Frauen aus anderen Ländern macht. Ein Jahr später, als sie starb, habe ich einen Brief bekommen, dass anstatt der Blumen zur Beerdigung sie um Spenden gebeten hat für den Aufbau eines Au-pair Referats in der Slowakei, weil sie durch mich die Slowakei kennen gelernt hat und sie wusste, dass ich die Leiterin der Jugend bin.“
Darauf wurde Eva nach Süddeutschland zur Kirche eingeladen, die sie ebenfalls darin bestärkt hätte, eine Au-pair-Vermittlung – verstanden als kirchlichen Beitrag zur “Ost-West-Integration” – aufzubauen: „Die haben gesagt, das wäre eine gute Möglichkeit, der Slowakei was zu geben und von der Slowakei was zu bekommen.“ So habe sie noch in ihrer Funktion als Pfarrerin und Jugendreferentin der evangelischen Kirche nebenher und relativ improvisiert die Au-pair-Vermittlung begonnen. Als Grundlage diente der energischen Pfarrerin das deutsche Informationsmaterial, welches sie ins Slowakische übersetzt hatte. Auf einen ersten Ankündigungstext in einer kirchlichen Zeitschrift hätten sich nur wenige junge Frauen, fünfzehn bis zwanzig pro Jahr, gemeldet. Erst nachdem sie vor einem Jahr in die Diakoniezentrale nach Bratislava befördert wurde, konnte sie daran gehen, die Au-pair-Arbeit mit der Gründung des Referats „Internationale Sozialarbeit für Mädchen“ zu institutionalisieren und eigenes Werbematerial anzufertigen. Doch weiterhin managte sie die 91 Eva verließ 2001 ihre Stelle in der slowakischen Diakonie, was für die Vermittlungstätigkeit des deutschen Vereins erst einmal eine Lücke riss. So wurde mir erzählt, dass erst 2002 mit einer professionellen Ansprechpartnerin auf slowakischer Seite die Au-pair-Vermittlung wieder im größeren Umfang aufgenommen wurde.
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Vermittlung neben all den anderen anfallenden Aufgaben der Diakoniestelle nebenher und alleine. Dies führte unter anderen dazu, dass die Beratung der Bewerberinnen wie die Betreuung der Rückkehrerinnen oftmals zu kurz kam, wie sie selbst bedauernd feststellte. So reichte es meist nicht zu einem persönlichen Beratungsgespräch und der Kontakt zu den Bewerberinnen blieb auf den notwendigen schriftlichen Austausch beschränkt. Nach schriftlicher oder telefonischer Kontaktaufnahme mit der Diakoniestelle bekamen die Frauen den Fragebogen92, ein Merkblatt zu Rechten und Pflichten und ein Informationsblatt über die Beibringung folgender Unterlagen zugeschickt: Gesundheitszeugnis, Empfehlungsschreiben von ArbeitgeberIn, LehrerIn oder PfarrerIn, Nachweis über Erfahrungen in der Kinderbetreuung sowie über Haushaltskenntnisse, Brief an Gasteltern und handschriftlich verfassten Lebenslauf. Für die Erstellung der beiden letztgenannten Unterlagen wurde auch schon mal die Mutter oder Freundinnen hinzugezogen, die des Deutschen mächtiger waren, wie mir die Au-pair-Frauen berichteten. Wie auch bei den kommerziellen Agenturen wurde dieses Paket dann über die slowakische Vermittlungsstelle an die deutsche Partnerorganisation weitergeleitet. Wie mir Eva Siklová jedoch in einem Interviewgespräch am Ende meiner zweiwöchigen begleitenden Beobachtung ihres Berufs- und Lebensalltags versicherte, stellte dies nicht den von ihr angestrebten Ablauf dar. Vielmehr habe sie schon das Interesse, die jungen Frauen zu einem Kontaktgespräch nach Bratislava einzuladen. Oftmals scheitere dies aber nicht nur an ihrem engen Zeitbudget sondern auch aus finanziellen Gründen. Viele Bewerberinnen würden vor den Kosten einer langen Anreise in die Hauptstadt und einer notwendigen Übernachtung zurückschrecken. Auch die Vermittlerin der slowakischen Caritas schildert die Entstehungsgeschichte ihrer Vermittlungstätigkeit im Interview im Februar 1999 in ähnlicher Weise. Auch sie sei auf Anfrage der Caritas Deutschland in die Vermittlungsarbeit eingestiegen, die sie in ihrer Hauptfunktion als Auslandsreferentin der Caritas Slowakei ebenso wie Eva Siklová nebenher und alleine durchführt. So habe auch sie nur das Informationsmaterial der deutschen Sektion in Übersetzung vorliegen und vermittle im Jahr ca. fünzehn Au-pairs vorwiegend in den süddeutschen Raum. Auch wenn sich beide in ihrem offiziellen Werbematerial an den klassischen Aupair-Diskurs vom Kulturaustausch anlehnten, wussten sie, dass die Vermittlungsrealität vor dem Hintergrund des Migrationskomplexes in der Slowakei eine andere war. So meinte die Vermittlerin der Caritas in dem Interviewgespräch zu mir, dass ihr erster Artikel, mit dem sie für ihre Au-pair-Vermittlung werben wollte, „keine gute Idee“ war, denn: „Ich habe unheimlich viele Briefe bekommen, auch von jungen Menschen, die überhaupt kein Deutsch sprechen und eigentlich als Au-pair nicht arbeiten wollten. Sie wollten nur nach Deutschland, um eine Arbeit zu finden. 140 Briefe.“ Vor allem aus der ländlichen Bevölkerung habe sie reichlichen Reso92 Der Fragebogen der evangelischen Kirche: Name, Adresse, Geburtstag und -ort, Religion, Anschrift und Beruf der Eltern, Angaben zu Geschwistern, Schulbildung und Beruf, augenblickliche Beschäftigung, bevorzugter Wohnsitz, Selbsteinschätzung der Sprachkenntnisse, Fragen zu Spracherwerb, zu Kenntnissen in Hausarbeiten, Kinderbetreuung, zu Interessen und Hobbies, zu Rauchgewohnheiten, Tierliebe, Führerschein und Fahrpraxis, zu Krankheiten und Allergien, Essgewohnheiten (Vegetarismus), Grund und Motiv für den Au-pair-Aufenthalt, Einverständniserklärung.
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nanz auf ihren Artikel erhalten, die sich doch nur in zwei bis drei Fällen als kompatibel mit Au-pair erwiesen, viele waren einfach schon zu alt. Doch verstehe sie die Hoffnung der BriefeschreiberInnen und rekurrierte dabei nicht nur auf die ökonomischen Verhältnisse, sondern deutete auch auf die historisch-politische Situation des post-sozialistischen Landes hin: „Vor zehn Jahren, also vor der Wende, bis dahin hatten die Menschen fast keine Möglichkeit ins Ausland zu gehen, also nach Westen meine ich. Auch die Arbeitslosigkeit trägt dazu bei. Und die jungen Männer auf dem Land, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, dann träumen sie davon, dass sie im Ausland eine bessere Zukunft haben, vorübergehend, aber natürlich auch die Mädchen, die aber nicht als Au-pair arbeiten wollen.“
Vor diesem Hintergrund habe sie dann auch einigen, die sie nicht als Au-pairs aufnehmen konnte, dennoch mit einer weiterführenden Information geholfen. So sei ihr kurz zuvor zufällig die Anzeige einer Agentur in der slowakischen Presse aufgefallen, die Pflegekräfte für SeniorInnen, aber auch zur Betreuung von Kranken und Behinderten vor allem nach Österreich vermittle. Diese habe sie den Absagebriefen hinzugefügt. Doch auch bei den jungen Menschen, überwiegend junge Frauen, die alle harten Kriterien wie Alter erfüllten, verschwämmen allgemeine Migrationsmotive mit einem Au-pair-spezifischen Begründungsmuster derart, dass es für sie in der Vermittlungspraxis äußerst schwierig sei, „wahre“ von „falschen“ Bewerberinnen zu trennen. So würden die meisten ihrer Bewerberinnen zwar auch als ersten Grund den Spracherwerb angeben. Doch wusste die Vermittlerin der Caritas, dass dieses Begründungsmuster vor dem Hintergrund der ökonomisch schwierigen Situation in der Slowakei etwas anderes bedeutete als im klassischen Au-pair. Der Versuch, „wahre“ von „falschen“ Au-pairs zu unterscheiden Trotz des Verständnisses für die allgemeinen Migrationsmotive der jungen Menschen versuchte die katholische Vermittlerin deshalb mit Hilfe eines Fragebogens, die Vermittlungsvoraussetzungen der Bewerberinnen zu testen, wobei sie ihre eigenen Bewertungskriterien entwickelt hatte, nicht-Au-pair-spezifische Motivationen zu erkennen. Sie frage unter anderem danach, „was sie Kindern zum Essen zubereiten können, welche Spiele sie spielen können, ob sie Hausaufgaben machen können und ob sie überhaupt Erfahrungen im Haushalt haben. Die wichtigste Bedingung ist jedoch, dass sie kommunikativ sind und nicht zu attraktiv aussehen.“93 Ich war verwundert. Letzteres Auswahlargument hatte ich bislang noch nicht gehört. Zunächst nahm ich an, dass sie hierbei das konservative kirchliche Frauenbild und die strikten kirchlichen Moralvorstellungen über Weiblichkeit und Sexualität zum Ausdruck brachte. So hatte sie mir vorher im Interview ihre Klientel als Mädchen, „die streng katholisch erzogen“ wurden, beschrieben. Unter einem klassischen katholischen Lebensweg von Frauen verstand sie dabei: „Also es kann nur selten passieren, dass sie vor der Ehe ein Kind bekommt. Es passiert schon, dass das Kind nicht neun Monate danach, sondern vier oder drei Monaten nach der Heirat geboren wird. Daher heiraten auch die Frauen früher als in Deutschland mit 22 oder 23.“ 93 Ferner fragt die Caritas-Mitarbeiterin ab, welche Speisen sie zubereiten können, welche Hobbies sie haben, welche Wünsche sie an die Gasteltern haben und was sie glauben, was die Familie von ihnen erwartet. Darüber hinaus müssen die Interessentinnen fünf Sätze ins Deutsch übersetzen und demonstrieren, wie ein gedeckter Tisch aussehen soll.
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Allerdings räumte sie auf Nachfrage ein, dass sich bei der jungen Generation schon viel verändert habe: „Die ist nicht mehr so, die wollen reisen, Erfahrungen machen, studieren.“ Ihre weiteren Ausführungen zur Bedeutung des Kriteriums „Aussehen“ legten jedoch den Schwerpunkt auf einen anderen Zusammenhang: „Wenn eine Frau mit viel Make-up, sexy, kommt. Also das Vorhaben scheint mir nicht ganz o.k. zu sein, verstehen Sie, ich kann mich auch irren, aber sie hofft wohl, nach Deutschland zu gehen, um zu heiraten. Kein Wunder.“ Sie verstehe natürlich auch eine derartige Motivation, doch Au-pair sei etwas anderes, warum sie auch Frauen mit einem derartigen Auftreten ablehne. Dabei wisse sie, dass sich viele Frauen, oftmals von ihren Eltern begleitet, an ihre kirchliche Vermittlung wandten, weil sie bei ihr sicher gehen konnten, dass sie hier „in guten Händen seien“. Angesichts der zahlreichen Geschichten in der slowakischen Presse von Frauen, die ins westliche Ausland gingen und zur Prostitution gezwungen wurden, sei die Angst unter Eltern und jungen Frauen groß, an unseriöse Arbeitsvermittlungen zu geraten. Au-pair als Hilfe zur legalen Migration Auch die evangelische Vermittlerin stellte die Bedeutung von Au-pair als legaler und abgesicherter Migrationsmöglichkeit für junge Frauen heraus. Doch entgegen dem Anliegen der deutschen evangelischen Vermittlungsstelle, die Migrationsabsichten zu kontrollieren, vermittelte sie explizit im Bewusstsein der Migrationsabsichten und bezog sich dabei auf die historische Genese des Vereins: „Weil ich habe die Geschichte gelesen. Also der Verein [die deutsche Vermittlungsstelle, die Verf.] hat sich gegründet als ein Helfer für Frauen, die nach Deutschland gekommen und auf der Straße geblieben sind, ohne Mittel und Finanzen. Und nach der Wende haben auch wir gesehen, dass die jungen Menschen, aber auch ältere, hinter die Grenzen gehen wollen in ein besseres Leben. Und es ist nicht legal und deswegen nehmen sie den illegalen Weg und wenn sie schon das nehmen, dann haben sie schon das Problem.“
Dabei seien Frauen in der Migration mit spezifischen Probleme konfrontiert, warum sie sich auch bewusst für eine frauenspezifische Arbeit entschieden habe: „Weil die Mädchen nicht so stark wie die Männer sind, sie können vergewaltigt werden und ausgenutzt. Sie sind schwächer als die Männer, dann ist das ein Auftrag für die Diakonie.“ Darunter fiel für sie auch ihre Unterstützung für fremdvermittelte Aupairs, die sich meist nach Abbruch des Aufenthalts und in einem illegalisierten Status mit der Bitte um weitere Unterstützung an sie wandten: „Zum Beispiel ist das manchmal so: Ich habe den deutschen Verein angerufen und gesagt: Dieses Mädchen war schwarz in Deutschland, sie hat schlechte Erfahrungen gemacht, sie will trotzdem noch mal gehen und bitte, suchen sie eine Familie.“ Das habe, so fährt Eva Siklová fort, „natürlich geschmeichelt“, jemandem helfen zu können, „das ist der diakonische Auftrag.“ Vor dem Hintergrund zahlreicher negativer Geschichten über Schicksale von migrierenden Frauen in der slowakischen Öffentlichkeit, welche sich zu einem gesellschaftlich hegemonialen Narrativ verdichtet zu haben schienen, in dem Frauenmigration mit Prostitution gleichsetzt wird, sah sich auch Eva Siklová mit der Notwendigkeit konfrontiert, Au-pair von Frauenmigration im Allgemeinen abzugrenzen. Jedoch tat sie dies nicht mit der Intention, Au-pair „rein“ zu halten von migrationswilligen Frauen. Vielmehr betonte sie gerade den Vorteil der relativen
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Abgesichertheit von Au-pair als Migrationsstrategie, die sie vor allem in der kirchlichen Vermittlungstätigkeit sah. Insbesondere aus Kirchenkreisen habe es zu Beginn ihrer Arbeit starke Widerstände und Befürchtungen gegen den Aufbau der Au-pairVermittlungsstelle gegeben, wobei sich die Skeptiker vor allem auf die schlechten Erfahrungen von migrierten Frauen berufen hätten: „Zuerst waren die Pfarrer und Senioren dagegen, weil es war erst kurz nach der Wende und da sind viele slowakische Mädchen nach Österreich, Deutschland oder nach Jugoslawien gegangen und sie sind manchmal mit den Kindern zurückgekommen oder haben sehr viele schlechte Erfahrungen gemacht. Das wurde damals alles im Fernsehen gezeigt, auch Geschichten gab es in der Zeitung über schreckliche Erfahrungen.“
Auch wenn Frauenmigration aus gutem Grund als risikoreicher Schritt bewertet wird, kommt hier ein vergeschlechtetes Diskursmuster und eine Doppelmoral zum Tragen, mit der sich auch die Au-pair-Frauen konfrontiert sahen. So wird die Aupair-Migration, wie wir auch in den Erzählungen der Au-pair-Frauen sahen, zwar vielfach von den Eltern unterstützt und kann in diesem Sinne als Familienstrategie gelten, vor allem für die Töchter im transnationalen Raum zusätzliches finanzielles Kapital und Wissenskapital zu akkumulieren. Gleichzeitig aber wird dieser Schritt junger Frauen mit moralischen Vorbehalten belegt, die sich auf die Reinheit des weiblichen Körpers und weiblicher Sexualität beziehen – und dies nicht nur hinsichtlich seiner Unversehrtheit.94 So berichteten auch einige Au-pair-Frauen, dass sie sich anzügliche Bemerkungen anhören mussten, in denen ihnen sexuell ausschweifendes Verhalten in der Ferne unterstellt wurde. Angesichts dieses Prostitutionsvorbehalts gegenüber Frauenmigration bemühte sich Eva Siklová, die Unterschiede zwischen dem abgesicherten Au-pair-Aufenthalt und anderen Migrationsmustern deutlich zu machen: „Damals hatte ich noch nicht den Kontakt zu den Pfarrern und konnte ihnen nicht sagen, dass bei uns die Versicherungen besser sind und eigentlich ganz stark sind.“ Neben der Motivation, „Hilfe zur legalen, abgesicherten Migration für Frauen“ zu leisten, wies Eva Siklová auf ein weiteres Spezifikum der Institution Au-pair hin. So habe sie nach der Wende in der Slowakei viele Stipendien für Theologiestudienplätze von der deutschen Kirche bekommen können. Doch aufgrund mangelnder Sprachqualifikationen hätten nur wenige diese Chance ergreifen können. Daher sei Au-pair eine gute Vorbereitung: „Der Au-pair-Aufenthalt ist doch eigentlich ein Sprachkurs, ein Sprachkurs, den das Mädchen nicht bezahlen muss, vielmehr bekommt sie dafür was.“ Auch eine andere junge evangelische Pfarrerin, die in ihrer Freizeit Au-pairs vermittelt hatte, begründete ihre Motivation ähnlich. Sie habe ihre Vermittlungstätigkeit vor allem als „Hilfe und Unterstützung für junge Frauen“ nach der Ausbildung gesehen, die angesichts der hohen Frauen-Arbeitslosigkeit nur geringe Zukunftsperspektiven im Land selbst hätten. Zu der Perspektive, arbeitslos und ohne eigene finanzielle Mittel zu Hause zu sitzen, früh zu heiraten oder auf unsicheren Wegen 94 Der Topos des weiblichen Körpers und weiblicher Sexualität taucht dabei auf verschiedenen Ebenen im Migrationskomplex auf. So können Ramona Lenz und Floya Anthias zeigen, wie nationalistische Diskurse in Einwanderungsländern wie Zypern gerade um die Reproduktivität von MigrantInnen kreisen, wobei sie zu gefährlichen „fremden“ Objekten stilisiert werden (vgl. R. Lenz 2002; F. Anthias 2000). Dem weiblichen Körper kommt jedoch auch in politischen Abschottungsdiskursen eine herausragende Rolle zu, da die Verschärfungen der Grenzkontrollen als Kampf gegen Frauenhandel legitimiert werden können, wie es beispielsweise die Internationale Organisation für Migration propagiert.
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zu versuchen, ins Ausland zu kommen, sei Au-pair eine empfehlenswerte Alternative, zumal sich Geldverdienst und Spracherwerb hierbei miteinander verbinden ließen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Eva Siklová eine größere Toleranzschwelle an den Tag legte, was die Vermittlungsvoraussetzungen betraf, und bis dato noch keine Frau abgelehnt hatte. So helfe sie bei manchen Mädchen schon mal nach, ihre Angaben zum Beispiel hinsichtlich ihrer Sprachkompetenzen kohärent erscheinen zu lassen. Es falle deutschen Gastfamilien auf, wenn die Frauen zwar sechs Jahre Deutsch in der Schule gehabt hätten, doch im Fragebogen nur „geringe Sprachkenntnisse“ ankreuzten. Außerdem meinte sie: „Wenn die Mädchen auf der Lehrschule oder dem Gymnasium vier Jahre Deutsch hatten, dann weiß ich, dass es ausreichend ist. Die Mädchen sprechen nicht, aber verstehen viel.“ Diese Vermittlungspraxis führte immer wieder zu Kontroversen mit der deutschen Vermittlungsstelle, wobei Eva Siklová ihre Position mit dem Verweis auf ihre „authentischen“ Kenntnisse des slowakischen postsozialistischen Kontexts zu untermauern versuchte.95 Auch in ihrer Vorbereitung der Bewerberinnen auf den Deutschlandaufenthalt ging Eva Siklová recht unorthodox vor. Angesichts ihrer eigenen Erfahrungen mit Aufenthalten in Deutschland während ihres Theologiestudiums erzähle sie den jungen Frauen Geschichten, die nicht ins vorherrschende Bild von Deutschland passten. Ein Beispiel: „Ich erzähle ihnen, dass die Diakonissen immer gespart haben, mit Heizung, Wasser und auch Essen.“ Durch solche Hinweise wolle sie den Frauen vor allem dabei helfen, Irritationen einordnen zu können. So verweise es weder auf Armut oder den Geiz einer Familie, wenn diese nur so viel Stück Fleisch kaufe, wie Familienmitglieder anwesend seien: „Das ist einfach üblich, sie muss vom Taschengeld mehr für sich kaufen.“ Sie weise die Frauen auch darauf hin, dass Menschen in Deutschland nicht alle und immer so schön angezogen seien wie es beispielsweise der OTTO-Katalog suggeriere. Wie zum Beweis zog sie während des Interviews ein Exemplar aus der Schublade: „Weil da sind viele moderne Menschen abgedruckt und dass es für sie [die Au-pairs, die Verf.] vielleicht ein Schock ist, wenn die Deutschen so schöne Sachen, die für deutsche Verhältnisse ja auch nicht teuer sind, nicht anziehen und bei uns – ich denke, du hast es gesehen, dass sich die Mädchen gerne elegant anziehen. Dann sage ich ihnen, dass ist eben der Stil der Generation in Deutschland.“
Daher rate sie den zukünftigen Au-pairs auch, nicht ihre schönsten und neusten Sachen einzupacken, sondern legere Kleidung mitzunehmen. Der OTTO-Katalog spielt in Eva Siklovás Vorbereitungskonzept nicht nur eine führende Rolle in Sachen Konsumentinnenberatung, sondern auch zum informierten Preisvergleich: Anhand des Katalogs zeige sie den Frauen, wie teuer eine günstige Hose oder ein Pullover sind, und wo man in deutschen Großstädten Sonderangebote erwerben 95 So meinte sie beispielsweise, dass es die Menschen in der Slowakei nicht gelernt hätten, sich gut zu bewerben: „Wir können uns nicht verkaufen, wir wissen nicht, wie das geht.“ Erst mit dem Einzug von Kapitalismus und Konkurrenz würden die Menschen langsam lernen, sich selbst dazustellen. Ein anderer Bereich, in dem sie starke Kulturunterschiede ausmacht, ist die Kinderbetreuung. Diese müssten slowakischen Mädchen erst als pädagogisches Programm lernen. In der Slowakei habe „Kreativität“ nie im Vordergrund gestanden: „Bei uns ist es normal, wenn die Mutti kocht, dass das Kind vor dem Fernseher sitzt, man malt nicht, man bastelt nicht.“ Und sie führte eine interessante Begründung an, die eher auf die sozioökonomischen Verhältnisse verweist: „Und wenn man malt, dann nur ganz vorsichtig, denn bei uns sind die Sachen sehr teuer.“
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könne. Häufig würden sich die Frauen solche Ratschläge notieren. „Und dann sage ich ihnen auch, dass sie sich von diesem Geld wirklich viel, viel für sich kaufen können, Sportblusen, Jeans und dass sie wirklich die Sachen nehmen, die sie brauchen.“ Jedoch hatte auch die unkonventionelle und lockere Vermittlungspraxis Eva Siklovás Grenzen. Diese lagen jedoch weniger im Bereich der Migrationskontrolle als vielmehr im Bereich weiblicher Körperpraktiken, die sie in Konflikte mit ihrer Funktion als Pfarrerin brachten. Insbesondere bei Rückkehrerinnen führte ihre Doppelfunktion als Mitarbeiterin der Kirche einerseits und als Au-pair-Vermittlerin andererseits zu problematischen Situationen und bereitete ihr Schwierigkeiten, eine parteiliche Unterstützung für die Au-pairs zu leisten. So erzählte sie auf einer unserer Busreisen von der Mittel- in die Ostslowakei, dass sie mir eine ehemalige Aupair aus dem Dorf nicht vorgestellt habe. Sie schäme sich zu sehr, was mit der jungen Frau nach ihrer Rückkehr passiert sei. Die Frau sei von den Gasteltern vorzeitig zurückgeschickt worden, weil sei schwanger geworden war. Schon dies dürfe einer evangelisch vermittelten, gläubigen Frau nicht passieren. Damals sei sie, Eva, noch Pfarrerin im besagten Dorf gewesen und habe daher Angst vor dem dörflichen Gerede gehabt. Als die Frau dann aber auch noch ein „farbiges“ Kind zur Welt gebracht hatte, sei es um ihre Integration gänzlich geschehen. Dies habe es auch ihr, als junger Pfarrerin um Akzeptanz der Gemeinde bemüht, verunmöglicht mit der „gestrandeten“ Frau solidarisch sein. Diese lebte, so viel wisse sie, seitdem zurückgezogen bei ihrer Familie. In einem anderen Fall konnte Eva Siklová gerade noch den gesellschaftlichen Schaden von sich und der Au-pair abwenden, die nach ihrer Rückkehr nichts mehr von ihrem vor ihrer Abreise eingegangenen Eheversprechen habe wissen wollen. Sie könne zwar verstehen, dass die Reintegration in den alten Familienverbund für die Rückkehrerinnen nicht leicht sei, denn: „Nach einem Jahr mit einem ganz anderen Leben, mit anderen Wertungen, sie kommen zurück in die Realität, in die Familien und sie sind wieder die kleinen Mädchen und die Mutter sagt, du sollst dies und du sollst das machen. Dann können sie wieder nicht für sich selbst entscheiden. Es kann sein, wenn sie dann in die Hochschule gehen oder das Geld haben, allein zu leben und es schaffen, den Eltern zu sagen: Ich bin jetzt anders, bitte nehmt mich so, ich habe Geld gespart und so. Dann geht das.“
Dennoch erwarte sie, dass sich die jungen Frauen „wie gläubige Mädchen“ verhalten – gerade dann, wenn sie durch eine kirchliche Agentur vermittelt worden sind. Dabei schien Eva Siklová trotz der eigenen Karriere und unkonventionellen Rolle als Hauptverdienerin der Familie den strikten heteronormativen kirchlichen Diskurs über die weibliche Normalbiografie zu teilen, den sie folgendermaßen beschrieb: „Bei uns ist das Frauenbild als Mutterbild vorgeschrieben und natürlich die Heirat – das Ziel der Mädchen war heiraten und wenn sie nach Hause kommen, dann ist es nicht mehr ihr erstes Ziel.“ Eva Siklová hieß die Orientierung der jüngeren Frauen an Studium, Auslandserfahrungen, Beruf und späte Heirat zwar für gut und stellte ihre Au-pair-Arbeit auch explizit in diesen Ermächtigungszusammenhang. Doch in konkreten Konflikten, mit denen sie konfrontiert wurde, stand dies in einem unversöhnlichen Spannungsverhältnis zu ihrer Position und Reputation als Pfarrerin. Allerdings wurde die Reintegration von Rückkehrerinnen für Eva Siklová nicht nur vor dem Hintergrund ihres religiös motivierten Geschlechterkonzepts zu einer heiklen Phase. So habe sie erst bei ihrem letzten Austauschtreffen in Deutschland
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erfahren, was manche Frau im Falle einer gescheiterten Reintegration tue: „Dort habe ich gehört, dass auch meine Mädchen zurückgehen mit touristischen Visum, dass sie wieder nach Deutschland gehen, weil sie es hier nicht ertragen haben.“ Anfangs sei sie darüber schockiert gewesen: „Ich dachte, die gläubigen Mädchen, dass sie keine Angst haben, wieder nach Deutschland zu fahren, obwohl ich ihnen gesagt habe, das ist illegal und sie sollen es nicht machen.“ Vor diesem Hintergrund stimmte Maria dem deutschen Anliegen, eine Rückkehrbegleitung auch in der Slowakei anzubieten, zwar zu, doch sah sie sich dazu als einzelne Person nicht im Stande. Vielmehr meinte sie, dezidiert den migrationspolitischen Diskurs in Deutschland und Europa ansprechend: „Wir müssen das Risiko annehmen, wenn wir den Mädchen die Türe öffnen, dass wir kein Recht haben, sie wieder zu schließen. Ich denke, das ist das Problem von Europa: Wenn wir die Grenzen geöffnet haben und jetzt sagen, wir sind nicht vorbereitet, alle anzunehmen.“
3.3. Von der Immigration zur Transmigration Au-pair als Paradigma der „neuen” Ära transnationaler Migration In den vorausgegangenen Abschnitten habe ich deutlich gemacht, dass angesichts der nationalen und EU-europäischen Schließungsversuche der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gegenüber Migrationsbewegungen Au-pair eines der wenigen verbliebenen Sprungbretter in den Westen darstellt. Dieses wird von osteuropäischen Frauen – aus unterschiedlichen Gründen – taktisch genutzt, womit die klassische Definition von Au-pair als Kulturaustausch weit überdehnt wird. Wie die anderen verbliebenen Arbeitsmigrationsmöglichkeiten ist jedoch auch das Au-pairVisum in Deutschland auf ein Jahr – in England sind es beispielsweise zwei Jahre – befristet. Die enge Fristsetzung zog verschiedene Effekte nach sich, nicht jedoch den intendierten, dass die Au-pair-Migrantinnen fristgerecht zurückkehrten bzw. sich wieder dauerhaft in der Slowakei niederließen. Denn für viele erfüllten sich die Erwartungen an den Aufenthalt in den zwölf Monaten nicht – vor allem wenn Probleme und Konflikte mit den Gastfamilien auftraten. Oder aber neue, während des Aufenthalts aufgekommene Motive kamen im Sinne eigendynamischer Verstärkungseffekte der Migration hinzu (vgl. D. Massey u.a. 1987). Das führte dazu, dass viele Au-pairs sich früher oder später während ihres Aufenthalts Nachfolgestrategien überlegten. Diese Nachfolgestrategien, auf die ich im letzten Kapitel ausführlich zu sprechen komme, entgrenzen die Institution Au-pair und verknüpfen sie mit einem Komplex von mobilen, trans-nationalen und zu weiten Teilen undokumentierten Migrationsstrategien, welche die europäische Migrationslandkarte seit dem Ende des Ost-West-Konflikts prägen. Diese Situation konfrontierte die beteiligten Institutionen mit neuen Problemen, wie ich am Beispiel der deutschen nicht-kommerziellen Vermittlungsstelle, die vor allem kontrollpolitisch zu reagieren versuchte, aufgezeigt habe. Der Migrationsforschung in Deutschland sind derartige Migrationspraktiken lange Zeit durch ihr Ordnungsraster gefallen und wurden als solche nicht wahrgenommen. Scheinbar standen keine adäquaten Beschreibungsmodi bereit, mit denen die mobilen und temporären
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Praktiken insbesondere allein-migrierender Frauen als Migration hätten gefasst werden können. Und dies, obgleich es sich bei den eingeschlagenen Migrationsverläufen der Au-pair-Frauen nicht nur um Migrationspraktiken handelt, die im Wanderungsraum Europa seit 1989 zunehmend anzutreffen sind, wie die wenigen ethnografischen Forschungsarbeiten hierzu deutlich machen. Vielmehr betten sie sich ein in neuere Beschreibungsweisen transnationaler vergeschlechteter Existenzweisen, wie sie im Zusammenhang mit dem Transnationalisierungsparadigma vor allem von Forschungen im amerikanischen Raum entwickelt wurden. In den nächsten Abschnitten werde ich daher den erweiterten Praxiszusammenhang „Au-pair“ in den Blick nehmen. Konkret werde ich Nachfolgestrategien über das Au-pair Jahr hinaus skizzieren, wie ich sie auf meinen Busfahrten und anhand der Aufenthaltsverläufe derjenigen sechs Au-pairs kennen lernte, die ich über ihre gesamte Zeit in Deutschland begleitete. Nach einer Sichtung der Kategorien und der Genese von Aufmerksamkeitsschwerpunkten der für meine Arbeit relevanten deutschen sozial- und kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung, werde ich zwei theoretische Weiterentwicklungen der Migrationsforschung vorstellen, die mir weiterhalfen, die Migrationspraktiken der Au-pairs analytisch zu verstehen. Mit einem Blick auf die Entwicklungsdynamiken des Wanderungsraums Europa werde ich im daran anschließenden Abschnitt zeigen, wie die Entgrenzung der Institution Au-pair paradigmatisch für die Migrationsmuster der Ost-West-Migration nach 1989 steht, die trotz oder wegen der Errichtung der Festung Europa – dies wird noch im letzten Kapitel zu diskutieren sein – einen höchst mobilen und grenz-überschreitenden Charakter aufweist. Nachdem ich mich mit Nadja während meiner ersten Rückreise aus der Slowakei die halbe Nacht über ihre Au-pair-Geschichte unterhalten hatte, meinte sie plötzlich, sie müsse mir noch etwas sagen. Bei ihrer zweiten Familie sei sie nun schon seit eineinhalb Jahren. Da das Au-pair-Visum nur für die Dauer von einem Jahr ausgestellt wird und es keine Möglichkeit zur Verlängerung gibt, konnte ich mir zusammenreimen, was sie damit ausdrücken wollte. Sie ist wie viele andere auch nach Ablauf des einjährigen Visums nicht in die Slowakei zurückgekehrt, sondern hat ohne Papiere weiter in der Familie gearbeitet. Damit ist sie wie etwa 500.000 weitere OsteuropäerInnen undokumentiert in Deutschland (vgl. Cyrus 1997, 35-56). Ob sie damit illegal sei, frage ich sie? „Ja und nein“, entgegnete sie mir. Sie lebe wie viele andere, die länger bleiben wollten, im Drei-Monats-Rhythmus der visafreien Einreise als Touristin in Deutschland. Das aber untersage es ihr eigentlich, eine Arbeit anzunehmen. Nach drei Monaten Aufenthalt in der Familie müsse sie wieder zurück in die Slowakei, um wenige Wochen später das Gleiche wieder zu versuchen. So pendele sie schon seit einiger Zeit zwischen der Slowakei und Deutschland. Wie auch Norbert Cyrus und Mirjana Morokvasic, mit die ersten ForscherInnen zur Ost-West-Migration nach der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“, in ihren Studien am Beispiel der polnischen Migration herausarbeiten, ist die visafreie Einreise als Touristin eine häufig genutzte Einreisemöglichkeit für undokumentierte Arbeitsmigrantinnen aus den angrenzenden osteuropäischen Ländern. Es ist in diesem Sinne eine weitere „verkleidete“ Migrationsstrategie: „The most characteristic of the post-1998 migrations, and the least known in the West“, schreiben Mirjana Morokvasic und Anne de Tingy (1993: 253 f.), „are the circulatory migrations or commut-
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ing of tourists (…); these involve various types of income-generating activities. (…) These tourists stay for periods ranging from several hours to several months.“ 96 Daneben stellt Nadjas Migrationsverlauf – mit einer befristeten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu starten und nach deren Ablauf länger zu bleiben – einen der häufigsten Wege in die Illegalität dar, wie Norbert Cyrus in seiner Analyse der facettenreichen Illegalisierungsverläufe feststellt (vgl. 1997: 43 ff.). Auch Nadjas HalbLegalität bzw. -Illegalität ist typisch für die vorfindbaren Mischungsverhältnisse illegalisierter Zuwanderungssituationen – beispielsweise legaler Aufenthalt, jedoch keine Arbeitserlaubnis wie im Falle der meisten AsylbewerberInnen. Derartige Verläufe und zweideutige Zuwanderungssituationen werden jedoch in dem quasijuristischen Begriff „illegal“, der das Phänomen nicht nur auf eine ordnungsrechtliche Dimension reduziert, sondern vorgeblich eindeutig legale von illegalen Situationen zu trennen vermag, unsichtbar gemacht (vgl. ebd.: 41).97 Schätzungen variieren daher zwischen 500.000 bis weit über eine Million Illegalisierten in Deutschland.98 Während meiner Fahrten von Deutschland in die Slowakei und zurück traf ich solche Pendelmigrantinnen wie Nadja immer wieder, die unter der ordnungspolitischen Kategorie „Touristin“ ihren Migrationsabsichten umzusetzen versuchten. Auch zwei der sechs von mir begleiteten Au-pairs entschieden sich zu einer solchen Verlängerungsstrategie und die anderen konnten mir von zahlreichen Freundinnen erzählen, die ebenso nach Ablauf des legalen Aufenthalts weiter hin- und herpendelten. So kritisierte Tanya zwar nach sieben Monaten Au-pair-Aufenthalt immer vehementer die Arbeit, die sie in der Familie zu verrichten hatte. Doch verfestigte sich andererseits auch bei ihr der Wunsch, über das Jahr hinaus in Deutschland zu bleiben. Während eines Treffens mit mir spielte sie die verschiedenen Möglichkeiten 96 Die Praxis der Touristenmigration ist kein neues Phänomen der Ost-West-Migration. Vielmehr handelt es sich bei ihr um eine in südeuropäischen Ländern übliche Praxis der Einwanderung. In Italien z.B., das sich bereits Anfang der achtziger Jahre von einem Emigrations- in ein Immigrationsland vor allem aus dem euro-mediterranen Raum verwandelte, seien Grenzübertritte und irreguläre Arbeitsaufnahmen in der Schattenwirtschaft bis weit in die neunziger Jahre hinein relativ unkompliziert gewesen, wobei die Einreise als TouristIn ein offenes Geheimnis darstellte (vgl.K. Bade 2002: 325): „Die irreguläre Beschäftigung von Ausländern ohne Aufenthalts- und/oder Arbeitserlaubnis trug (...) bis in die späten 1980er Jahre hinein in der Regel nicht den Charakter gesetzeswidrigen Grenzübertritts. Es handelte sich vielmehr überwiegend um legale Einreise von ‚Touristen’, die dann die – in Italien z.B. meist dreimonatige – Aufenthaltsgenehmigung überschritten und irreguläre Beschäftigungsverhältnisse eingingen, die die Aufnahmeländer, ähnlich Frankreich, zumeist durch Amnestie- und Regularisierungsangebote zu legalisieren strebten“ (ebd.: 326). 97 Mit den Begriffen illegale Einreise, illegaler Aufenthalt und illegale Beschäftigung sind Tatbestände bezeichnet, die als Straftat oder Ordnungswidrigkeit definiert werden. Nach Paragraph §92, 92a, 92b Ausländergesetz vom Juli 1990 kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bestraft werden, wer ohne Aufenthaltsgenehmigung nach Deutschland einreist. Doch schon diese Aufgliederung zeigt, dass sich mehrere Muster und Mischungsverhältnisse von legaler bis illegalisierter Zuwanderungssituation ergeben und im Verlauf einer Migrationsbiografie verschiedene Stati durchlaufen werden können. Neben den in die „Illegalität“ reingerutschten, gibt es noch die Gruppe, deren Aufenthalt von Anfang an statuslos war, wie auch eine große Gruppe von langansässigen MigrantInnen, die eine erforderliche Verlängerung ihres Aufenthaltstitels versäumten (N. Cyrus 1997: 37 ff.). 98 So enthält sich der Migrationsbericht der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000 von Zahlenangaben: „Es liegt in der Natur der Sache, dass es keine verlässlichen Angaben über die Zahlen gibt.“ Als Indikatoren gelten in der Forschung: Die Festnahme von Menschen bei illegalem Grenzübertritt sowie der Anstieg von Verfahren wegen Urkundenfälschung gegen „Tatverdächtige“ ohne Aufenthaltsstatus plus einen Faktor „x“.
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durch. Es schien wie die Quadratur des Kreises: Sie wusste, dass eine Heirat die einzige Option wäre, ihren Aufenthalt legal zu sichern. Doch wollte sie weder ihren Freund noch einen anderen Mann heiraten und sich in Abhängigkeit von ihnen begeben. Eigentlich wollte sie eine Ausbildung in Deutschland machen, doch ihre Erkundigungen hatten ergeben, dass dies sehr schwierig ist. Sie hätte auch ihren Aufenthalt in der Familie überziehen und illegal länger bleiben können. „Das machen doch viele“, meinte sie, verwarf diese Option jedoch sogleich wieder mit dem Verweis auf das angespannte Verhältnis zu ihrer Gastfamilie. Wir gingen auseinander, ohne dass sie sich für eine der Optionen entschieden hatte. Bei unserem letzten Treffen vor Ablauf des Visums im März 2000 verkündete sie mir jedoch stolz, dass sie sich mit Hilfe einer Freundin eine Anschluss-Familie organisiert habe: „Ich fahre jetzt für ein Monat nach Hause und komme mit Touristenvisum wieder. Dann muss ich wieder fahren.“ Während sich die Au-pairs untereinander die Praxis des DreiMonats-Pendelns als Nachfolgestrategie weitererzählten und Erfahrungen darüber austauschten, bat sie mich, gegenüber dem Au-pair-Verein Stillschweigen zu wahren. Die Mitarbeiterinnen sähen dies nicht gerne. Doch für ihre neue Familie, so berichtete mir Tanya nach ihrer Rückkehr, sei dies kein Problem, dass sie als Touristin da sei. Vielmehr vermutete sie, dass der Familie ihre Überziehung des Aufenthalts entgegenkomme, da sie sich hier mittlerweile gut auskenne und Deutsch spreche. Als wolle sie mir gegenüber ihre halblegale Praxis rechtfertigen, erinnerte sie sich noch mal an ihre auswegslose Situation vor drei Monaten: „Es war die einzige Möglichkeit für mich, länger zu bleiben. Keiner hat mir geholfen, nur meine Freundinnen haben mir eine neue Familie vermittelt. Das ist halt illegal.“ Auch Magdalena, die ich ebenfalls während der gesamten Aufenthaltszeit begleitete, griff auf die Pendelpraxis zurück. Nach Monaten andauernder Konflikte mit der Familie, gescheiterten Lösungsversuchen und der Weigerung der kirchlichen Agentur, ihr eine neue Familie in Deutschland zu suchen, brach sie den Aufenthalt schließlich ab. Bei unserem letzten Gespräch vor ihrer Abreise erklärte sie mir jedoch fest entschlossen: „Ich komme wieder.“ Dies dauerte jedoch Monate lang, da sich alle anvisierten Möglichkeiten als nicht praktikabel herausstellten, was ich im letzten Kapitel ausführlich darstellen werde. Sie habe schon aufgeben wollen, als ihre beste Au-pair-Freundin aus Deutschland angerufen und ihr mitgeteilt habe, dass sie eine Agentur gefunden hätte, die die Visumsfrage nicht so ernst nehme. So begab sich Magdalena als Touristin wieder in eine deutsche Au-pair-Familie, wo sie kurz nach ihrer Ankunft prompt eine Polizeikontrolle überstehen musste. Die Polizei sei nicht wegen ihr gekommen, sondern habe sich nach der vorherigen Au-pair der Familie erkundigt: „Ich hatte schon Angst“, sagte sie am Telefon, „aber ich sagte einfach, ich bin auf Besuch. Ich weiß, ich bin hier unlegal, aber ich weiß auch, dass ich nichts Böses mache.“ Der Privathaushalt scheint in dieser Hinsicht eine günstige Arbeitsstelle für Undokumentierte zu sein, da das Arbeitsverhältnis nicht klar ersichtlich ist. So gab sich Magdalena auch optimistisch, dass ihr TouristenBesuchs-Status keine weiteren Probleme machen werde. Auf die Motivationen und Begründungszusammenhänge der Au-pair-Frauen für eine solche transnationale Lebenspraxis der „zwei Standbeine“ und auf die Art, wie sie sie konkret praktizierten, werde ich im letzten Kapitel näher eingehen. Was mich im Folgenden interessiert, sind die verschiedenen Formen mobiler Migrationsstrate-
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gien, durch die es nicht wenigen jungen Frauen, die ihre Migrationsbiografie als Aupair begonnen hatten, gelang, fünf Jahre und länger in Deutschland zu arbeiten. Vierka, eine weitere junge Frau, die ich während ihres Aufenthalts in Deutschland begleitete, konnte von vielen derartigen Beispielen berichten. Fast mit Stolz führte sie dabei immer wieder den Fall einer Freundin an, die Meisterin des längsten Aufenthalts sei: „Sie ist gerade die Längste unter uns. Eigentlich muss sie alle drei Monate nach Hause, doch macht sie das nicht mehr. Sie meint, die Slowakei muss sie sowieso immer wieder aufnehmen, dann kann sie auch solange hier bleiben, bis sie auffliegt.“ Stenka, die ihre letzten fünf Jahre pendelnd zwischen Deutschland und der Slowakei verbracht hatte, entschloss sich schließlich zu einer anderen Strategie der Verstetigung. Ich traf sie auf meiner ersten Zugfahrt in die Slowakei, wo sie sich die notwendigen Formulare besorgen wollte, um in Deutschland zu heiraten. Das Leben als Touristenmigrantin, welches sie darauf festlegte, undokumentiert zu arbeiten, hatte sie zermürbt. Nach ihrem Au-pair-Jahr hatte sie zwar immer wieder Stellen als Putzkraft oder als Kindermädchen gefunden, was ihr ermöglicht hatte, ein eigenes kleines Zimmer zu mieten. Doch die Arbeitsbedingungen und der Lohn waren so schlecht, dass sie sich einen stärker regulierten und längerfristigen Arbeitsplatz wünschte. Doch ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis konnte sie auf keinen regulären Arbeitsplatz hoffen. Nun hatte sie einen Mann kennen gelernt – sie blieb vage, ob er auch ihr Freund ist –, der sie heiraten wollte. Vor allem Frauen aus weiter entfernten Ländern, wie der Ukraine oder Rumänien, die bis dato von der Möglichkeit der visafreien Einreise als Touristin in die EU-Staaten ausgeschlossen waren, griffen auf diese Methode der Legalisierung des Aufenthalts zurück, in dem sie in Zeitungen Anzeigen lancierten und sich auf Ehepartnersuche begaben. Nur wenige Frauen schafften es, ein Visum zu Studienzwecken zu erhalten, da dies nicht nur eine Aufnahme an einer heimischen Universität voraussetzt. Darüber hinaus muss man glaubhaft machen können, im Monat 500 Euro zur Verfügung zu haben und nicht auf Sozialhilfe oder BAföG angewiesen zu sein. In manchen dieser Fälle sprangen die „Gastfamilien“ ein, die den Ausländerbehörden gegenüber die erforderliche Bürgschaft vorlegten. Die Motive hierfür reichten von gerne geleisteter Hilfe bis zu Eigeninteresse. So waren mit der Bürgschaft immer wieder Arrangements zwischen Gasteltern und Au-pairs verbunden, die die Frauen dazu verpflichteten, die Bürgschaft abzuarbeiten. Dies bedeutete nicht nur fortgesetzte Abhängigkeit von der Gunst der Familien und Bindung der Au-pairs an den Arbeitsplatz „Haushalt“, sondern konnte im Extremfall bis zu Formen der „Schuldknechtschaft“ führen. Neben der Einreise als Touristin hatte sich während meines zweijährigen Forschungszeitraums das „Freiwillige Soziale Jahr“ (FSJ) zu einer weiteren Strategie unter Au-pairs entwickelt, den Aufenthalt legal um ein Jahr zu verlängern.99 Nach99 Die Sozialeinrichtungen haben in den letzten Jahren mit einer sinkenden Zahl von deutschen Bewerberinnen auf FSJ-Stellen zu ringen. Teils dadurch bedingt, teils aber auch aufgrund der zwischenstaatlichen kirchlichen Zusammenarbeit mit osteuropäischen Ländern sind auf diesem Feld bilaterale Abkommen mit Partnerkirchen in Osteuropa geschlossen worden, die es osteuropäischen Frauen ermöglichen, ein FSJ in Deutschland zu machen. So unterhält auch die evangelische Kirche ein Abkommen mit der Slowakei, über das im letzten Jahr elf Frauen eine FSJ-Stelle vermittelt bekamen. Darunter waren auch einige ex-Au-pairs.
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dem viele Institutionen wie Altenheime oder Behinderteneinrichtungen, in denen FSJ-Stellen angeboten werden, auch in kirchlicher Trägerschaft sind, schien es für kirchlich vermittelte Au-pairs relativ einfach, diesen Stellenwechsel vornehmen zu können. Doch auch einige Frauen, die ich kennen gelernt hatte, kehrten nach Ablauf des einjährigen Visums regulär nach Hause zurück. Wie ich bereits beschrieben habe, fällt es vielen Rückkehrerinnen aufgrund von Arbeitslosigkeit, Konflikten mit der Familie etc. jedoch schwer, „zu Hause“ wieder Fuß zu fassen. So ging Maria, die ich ein Jahr nach ihrer Rückkehr ziemlich resigniert über die dortigen Lebensverhältnisse in der Ostslowakei antraf, im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahrs drei Jahre später wieder nach Deutschland zurück. Diese unsteten und pendelnden Arbeitsmigrationsformen quer zu den offiziellen Einwanderungsformaten entziehen sich nicht nur den offiziellen Statistiken und bis heute einer differenzierten öffentlichen Debatte. Sie wurden auch von der klassischen Migrationsforschung lange Zeit als Migrationsformen übersehen. Der Fixiertheiten der Migrationsforschung Die Genese und Ausrichtung der deutschen Migrationsdebatte und -forschung hängt eng mit der deutschen Migrationsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen, die offiziell mit den Anwerbeabkommen im Rahmen des „Gastarbeitssystems“ Ende der fünfziger Jahre begann und mit dessen Aufhebung für beendet erklärt wurde. Die Fixiertheit der Migrationsforschung auf das „Gastarbeitssystem“ scheint dazu beigetragen zu haben, dass mit dem offiziellen Anwerbestopp auch eine schwindene Aufmerksamkeit für neuere Entwicklungen von Migrationsbewegungen einherging. Dies ist meines Erachtens auch auf das raum-zeitlich-gebundene paradigmatische Ordnungsraster von Forschung und öffentlicher Rezeption von Migration in Deutschland zurückzuführen, welches Migration als Einbahnstraße, als unidirektionalen Ortswechsel vom Herkunfts- ins Zielland fasste. Eine solche Vorstellung, in der Migrierende von einem nationalen „Behälterraum“ in einen anderen wechseln, rekurriert, wie der Sozialwissenschaftler Ludger Pries und die Kulturanthropologin Regina Römhild beschreiben, auf im deutschen Diskurs klassische Kultur- und Gesellschaftskonzepte, die sich als „Containermodell“ beschreiben lassen (L. Pries 1997: 29 ff.; R. Römhild 2003: 65). Hierbei wurde sowohl in der Soziologie wie lange Zeit auch in den Ethnowissenschaften eine Kongruenz von geografischem Raum, insbesondere in der hegemonial gewordenen Figur des Nationalstaats, und sozialen bzw. kulturellen Räumen angenommen (vgl. G. Welz 1994: 49). Auch wenn in zum Teil gewaltsamen Konstitutionsprozessen der modernen „Nationalgesellschaften“ diese Kongruenz von Raum, Staat und kultureller Identität erst herbeigeführt werden musste, wurde sie im Diskurs der nationalisierten Moderne zur notwendigen Basis von Gesellschaftlichkeit mythologisiert. Gesellschaftliche Fragmentierungs- und Differenzierungsprozesse mussten folglich als Bedrohung erscheinen, was noch heute beispielsweise im Diskurs um ethnisierte „Parallelwelten“ oder „Gettoisierung“ transportiert wird (vgl. L. Pries 1997: 16-29/ 35 f.; E. Tschernokoschewa 2000: 50-69; S. Hall 1994). In diesem modernen Wahrnehmungsmuster galt Migration als Ausnahmeerscheinung von der Regel eines sesshaften Lebens,
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welche nur durch (stillen) Zwang oder rationale Berechnung von ökonomischen push- und pull-Faktoren motiviert sein könne (vgl. R. Römhild 2003: 65). So stand dem Bild des „homo migrant economicus“ das Bild vom Migranten als Opfer der Verhältnisse, materialisiert in den Gruppen von Vertriebenen, Flüchtenden und besonders von migrierenden Frauen gegenüber. Es stimmt in diesem Sinn auch nicht gänzlich, dass migrierende Frauen kein Thema der Forschung waren, wie die frühe Frauenmigrationsforschung kritisierte. Vielmehr wurden sie unter einer spezifischen Perspektive thematisch, auf die ich kurz näher eingehen will. Bildergeschichte von Frauen in der Migration Wie die britischen Wissenschaftlerinnen Umut Erel und Eleonore Kofman (2000: 1f.) in ihrer detaillierten Analyse der deutschen Migrationsforschung zeigen, fehlt es nicht an öffentlichen Bildern von Frauen in der Migration. Insbesondere in der Figur der Mutter und Ehefrau oder/und als Opfer „partiarchaler Ehre“ seien auch sie in die Repräsentation der Migration nach Deutschland eingegangen, wobei beide Figuren Unfreiwilligkeit und Abhängigkeit implizieren. Die Soziologin Mirijana Morokvasic (1983: 16), eine der Pionierinnen der Frauenmigrationsforschung, beschrieb schon in den 80er Jahren die Bildergeschichte folgendermaßen: „In important works on migration, the symbolic references to women as migrants’ wives and their stereotypical presentation as wives and mothers has led to a conceptualization of migrant women as followers, dependents, unproductive persons, isolated, illiterate and ignorant.“
Vor allem die hohe Forschungsdichte über türkische Migrantinnen in den 70er Jahren100, so die beiden Forscherinnen, habe für die Bebilderung der Frauenmigration das Paradigma des „Kopfstoffs“ (Emine Sefgir Özdamar) generiert als Ausdruck der Rückständigkeit und der patriarchalen Unterdrückung, wie sie in dem Film „40qm Deutschland“ von Tevfik Baser massenmedial zum Ausdruck gebracht wurde. Angesichts der Fixierung auf das Stückchen Stoff verschwanden junge alleinstehende Frauen wie auch Frauen, die als Familienmitglieder nach Deutschland migrierten und vor allem in der verarbeitenden Industrie (Textil- und Elektroindustrie) eine Anstellung als „unqualifizierte Hilfsarbeiterinnen“ am untersten Ende der Lohnskala bekamen, aus dem Blick (E. Kofman/ R. Sales 1998: 386 f.; C. Karrer/ R. Turtschi u.a. 1996: 68 ff.). Obwohl mehr als ein Fünftel der ArbeitsmigrantInnen Frauen waren und der Anteil erwerbstätiger Frauen in manchen nationalen Gruppen prozentual höher war als bei Deutschen, beschäftigten sich nur wenige Studien101 mit den Arbeitsalltagen der Arbeitsmigrantinnen (vgl. U. Erel/ E. Kofman 2000). Neben dem Forschungsfokus auf die „rückständige Ausländerin“ wurde in den achtziger Jahren die Figur der flüchtenden und der gehandelten Frau, sei es über Zwangsprostitution oder Heiratsmigration, für den bundesdeutschen FrauenMigrationsdiskurs bestimmender (vgl. u.a. C. Karrer/ R. Turtschi u.a. 1996; C. Schöning Kalender 1989; beiträge zur feministischen theorie und praxis 1993). In 100 Zwischen 1976 und 1980 erschienen hierzu 52 Publikationen, während nur acht über Spanierinnen und nur drei über griechische Migrantinnen erschienen (vgl. U. Erel/ E. Kofmann 2000: 1). 101 Zu nennen wären hier die Forschungen von Annie Phizacklea „One Way ticket“ (1983) für Großbritannien; die UNESCO Publikation „Women on the move“ (1980) und der Artikel von Morokvasic „Birds of Passage are also female“ (1984) (vgl. U. Erel/ E. Kofman 2000).
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diesen Figuren ist die Opfer- und Passivitäts-Metaphorik in zugespitzter, gleichzeitig jedoch höchst ambivalenter Weise artikuliert. Zum einen produziert die Gewaltförmigkeit des internationalen Geschäftszweigs „Menschenhandel“, der auf einer gesellschaftlichen Verobjektivierung des weiblichen Körpers beruht, jährlich über eine halbe Million Opfer (vgl. F. Helwes 1998; Europäische Kommission 1999; UNKinderhilfswerk UNICEF/OSZE/UNOHCHR 2002). Andererseits lässt das Narrativ der Viktimisierung nur wenige Spielräume für eine differenzierte Betrachtung der Wege und Motivationen von Frauen in die Prostitution (vgl. C. Karrer/ R. Turtschi u.a. 1996; R. Lenz 2002).102 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Frauen in der Wahrnehmung seitens der hiesigen Migrationsforschung entweder hinter dem Rücken ihrer männlichen Kollegen verschwanden oder aber als passiv und unfreiwillig migrierende Menschen und als Opfer galten. Diese Bildergeschichte sollte auch Rückwirkungen auf die vermeintlich geschlechtsunspezifische Migrationsforschung haben, wie ich im Folgenden zeigen werde. Raumbindendes Ordnungsraster – von der Migrations- zur Integrationsforschung Das oben beschriebene Wahrnehmungsmuster von Migration als unidirektionalem Weg führte auch dazu, Migration als raum-zeitlich begrenzten Prozess zu fassen, der mit der Integration in die Aufnahmegesellschaft zum Abschluss kommt bzw. kommen soll – wenn nicht gar eine Rückkehr als bessere Lösung dargestellt wird, wie im Falle des Diskurses über gehandelte Frauen oder Flüchtlinge. Die Aufrechterhaltung einer dualen Orientierung, die Herkunfts- und Migrationskontext verband, wie sie in den Anfangsjahren der Arbeitsmigration feststellbar war, wurde als ein Übergangsphänomen auf dem Weg zur Integration verstanden. Wie Überblicke über die Genese der deutschen (geschlechtsunspezifischen) Migrationsforschung zeigen, bezog sich dann auch das Gros der Forschung in den 60er bis 90er Jahren thematisch und regional auf die Ankunftsregionen, wobei zunehmend der Fokus auf die „individuelle Eingliederung von Arbeitsmigranten in die Aufnahmegesellschaft“ gerichtet wurde (vgl. L. Pries 1998: 70 f.). Neben der fortgesetzten Beschäftigung mit sozialen und kulturellen Nachfolgephänomenen des Gastarbeitersystems wurden als weitere Gruppen von MigrantInnen in den achtziger und neunziger Jahren SpätaussiedlerInnen sowie Flüchtlinge und Vertriebene verstärkt in den Blick genommen. Diese Aufmerksamkeitsverschiebung scheint dabei auch der öffentlichen Migrationsdiskussion des letzten Jahrzehnts zu folgen, die von einer kontinuierlichen Debatte über Asylsuchende und über die Aufnahmebedingungen von deutschstämmigen AussiedlerInnen gekennzeichnet war (vgl. K. Bade 2002: 360-377; M. Terkissidis 2000: 34 ff.; F. Becker 2001: 50 ff.).103 102 Zudem, wie bereits erwähnt, lässt sich die Aufforderung zu einer restriktiveren staatlichen Kontrollpolitik auch dazu instrumentalisieren, andere Migrationsformen zu verhindern. 103 Nach der Debatte um die sich verstetigende Niederlassung der ArbeitsmigrantInnen, wurde, nach Klaus Bade (2002: 367), ab Mitte der achtziger Jahre das Feindbild des „asylsuchenden Wirtschaftsflüchtling“ Diskurs bestimmend: „An der Spitze stand die Warnung vor dem Untergang Europas in den ‚Fluten’ neuer ‚Völkerwanderungen’.“ Auch die Aufnahme „deutschstämmiger Spätaussiedler“ wurde ab 1988 mit steigenden Zahlen zunehmend als problematisch wahrgenommen. Seit Ende der achtziger Jahre wurde der „illegale Einwanderer“ als neues Feindbild im Zusammenhang mit dem Topos der „Ausländerkrminalität“ zunehmend thematisch (vgl. ebd.: 368; M. Terkissidis 2000: 35).
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Die Fortführung der Arbeitsmigrationsforschung unter dem Integrationsparadigma markiert jedoch eine kulturalistischen Wende in der Migrationsforschung mit ambivalenten Effekten. Nachdem zu Anfang primär sozioökonomische Push- und PullFaktoren und arbeitsmarktrelevante Fragen – vor allem in der männerzentrierten soziologischen Migrationsforschung – diskutiert wurden, hat sich mit der Feststellung der Dauerhaftigkeit der Einwanderungssituation in Deutschland und der berechtigten Kritik an der Einseitigkeit des ökonomischen Ansatzes ein Perspektivenwechsel hin zu gesellschaftlich-kulturellen Integrationsfragen und Hintergründen der MigrantInnen vollzogen. Auch für die Frauenmigrationsforschung zeichnen Umut Erel und Eleonore Kofman eine derartige Entwicklungslinie mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für soziale und kulturelle Faktoren wie Familien- und Geschlechterverhältnisse oder Emanzipationspotentiale ab Mitte der achtziger nach, was auch in einer Zunahme biografischer Forschungen zum Ausdruck kam. Andererseits könnte man fast meinen, dass die Frauenmigrationforschung für die kulturalistische Wende der Migrationsforschung eine Vorreiterrolle spielte. So operierte die Figur der „rückständigen Frau“ schon auf kulturalistischem ethnozentrischen Terrain, welches im Sinn eines „von-der-Tradition-zur-Moderne“-Modells in Richtung Emanzipation als Integration ausgelegt war. An diese Figur knüpfte sich ferner die Annahme ihrer „Wurzellosigkeit” sowie die Vorstellung des konflikthaften Aufeinanderprallens der „eigenen“ und der „fremden“ Kultur, welche kulturelle Differenzen zu zentralen Schablonen werden ließen (vgl. u.a. J. Andall 2000, 12; M. Morokvasic 1983, 20; S. Gümen 1996; E. Gutiérrez Rodríguez 1996). In diesem Zusammenhang wurden die Kategorie der ethnisch-kulturellen Identitätsund Gruppenbildung, eine Minderheitenperspektive und der Diskurs des Multikulturalismus immer forschungsbestimmender. Das in der Volkskunde und Ethnologie vorherrschende Paradigma des „Kulturkonflikts“ und der „kulturellen Differenz“ gewann fortan auch in soziologischen Forschungen an Bedeutung (vgl. G. Welz 1995: 98 ff.; W. Schiffauer 1996; S. Hess/ R. Linder 1997: 27 ff.; E. Tschernokoshewa 2000). Hiermit sollten Integrationsproblematiken, die insbesondere auf die vor-modernen, agrarischen Kulturen der EinwanderInnen zurückgeführt wurden, verständlich gemacht werden. Während in der Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie der differentialistische Kulturbegriff einer Kritik unterzogen wurde, scheint er in anderen Feldern der Migrationsforschung weiterhin ein wirkmächtiges Paradigma darzustellen. Mit der kulturalistischen Wende war jedoch auch eine Fokusverschiebung auf einzelne AkteurInnen in der Migration, ihre Biografien und Bewältigungsstrategien verbunden, was an der sozialen und kulturellen Praxis der Migration interessierte Arbeiten hervorbrachte. Vor allem kulturanthropologische und europäische ethnologische Forschungsarbeiten haben diesen akteurszentrierten und praxisorientierten Ansatz stark gemacht, der Selbstbiografisierung und Identitätsbildung in der Migration als konfliktive „kulturelle Praxis im sozialen Kontext“ versteht (vgl. F. Becker 2001, 24). Doch konzentrieren sich auch diese Forschungen vornehmlich auf eine Seite des Migrationsverlaufs, den sie intensiv über eine längere Zeitspanne hinweg ethnografisch begleiten (vgl. F. Becker 2001; W. Schiffauer 1991; B. Wolpert 1995; R. Römhild 1998).
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Diesem kategorialen raum-zeitlichen Ordnungsraster in Deutschland scheinen bis weit in die 90er Jahre hinein Veränderungen der internationalen Wanderungsbewegungen im Kontext der forcierten ökonomischen und kulturellen Globalisierungsprozesse und ihrer Ausprägungen im europäischen Wanderungsraum entgangen zu sein, die Migrationsforscher wie Stephan Castles und Mark Miller (1993), Ludger Pries (1997), aber auch Peter J. Bräunlein und Andrea Lauser (1997) von einem „neuen Zeitalter“ oder einer „neuen Ära“ der Migration sprechen lassen. Neben einer beachtlichen quantitativen Zunahme der Wanderungsbewegungen schon seit den sechziger Jahren104 konstatieren die ForscherInnen auch hinsichtlich von Wanderungswegen, Migrationsformen und Aufenthaltsmustern markante Veränderungen bzw. Verallgemeinerungen von Phänomenen, die historisch nicht unbekannt waren, jedoch in der modernen Migrationsforschung unberücksichtigt blieben. Diese Entwicklungen werden zum einen auf die kontinuierliche Geschichte politischer Unterdrückung und Verfolgung sowie ethnisierter und religiöser Konflikte zurückgeführt, die die Nationalstaatsgründungen in der postkolonialen Ära wie auch den Zerfall von Nationalstaaten nach dem Ende der Blockkonfrontation begleiteten. Zum anderen führten sowohl globale ökonomische Restrukturierungsprozesse (u.a. R. Grillo 2001; L. Bash/ N. Glick Schiller/ C. Szanton Blanc 1994/ 1997; S. Sassen 1995) als auch Prozesse kultureller Globalisierung – wie die zunehmende Verbreitung von Informations- und Kommunikationsnetzen, medialen Ressourcen und Bilderwelten – zu neuen Migrationsformen (vgl. A. Appadurai 1996). Dass Migrationsbewegungen in einem engen Zusammenhang zu politischen, ökonomischen, kulturellen historischen Austauschbeziehungen zwischen Ländern stehen, hat der „Migrationssystem“-Ansatz hinlänglich gezeigt. Migration sei weder als isoliertes Phänomen noch als frei motivierte Bewegung zu verstehen. Vielmehr folgten Migrationsmuster und -routen jenen strukturellen Brücken, die Wirtschaftsbeziehungen, Direktinvestitionen, aber auch historische Verbindungen geprägt haben. In diesem Sinne führt deren Intensivierung und Verdichtung unter der flexibilisierten internationalen und regionalen Arbeitsteilung – wie sie beispielsweise die EU institutionalisiert – zu veränderten internationalen und regionalen Migrationsmustern (vgl. S. Sassen 1995; M. Kritz/ H. Zlotnik 1992). Im Folgenden werde ich mich auf zwei Entwicklungstendenzen und deren Theoretisierungen konzentrieren, die auch den Migrationskomplex „Au-pair“ betreffen. So stellen MigrationsforscherInnen wie Castels/ Miller (1993), Annie Phizacklea (1996) oder Floya Anthias (2000) zum einen übereinstimmend fest, dass Arbeitsmigration heute nicht mehr „männlich“ geprägt ist. Sie sprechen vielmehr von einer weltweiten „Feminisierung der Migration“. Zum anderen konstatieren ethnografische Migrationsforschungen, dass sich Wanderungs- und Aufenthaltsmuster in Richtung einer erhöhten transnationalen Mobilität von MigrantInnen dynamisiert haben und Existenzmuster zunehmend von mehrortigen, grenzüberschreitenden Lebensweisen geprägt werden. Bevor ich hierauf näher eingehe, werde ich mich dem Phänomen der Feminisierung zuwenden, das auch mit einer Neuausrichtung der Frauenmigrationsforschung verbunden ist. 104 Zu Beginn der achtziger Jahre lebten laut UNO etwa 77 Miollionen Menschen außerhalb ihres Herkunftslandes, für 1990 schätzte die International Organisation für Migration die Zahl auf 80 Miollionen, 1992 auf 100 Miollionen (vgl. L. Pries 1998: 55 f.).
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Gendering migration Wie ich im vorangehenden Abschnitt zu zeigen versucht habe, stimmt es nicht, dass Frauen in der Migrationsforschung gänzlich verschwanden, vielmehr wurden sie spezifisch konzipiert und verbildlicht. Dennoch entwickelte sich wie in anderen Forschungsfeldern auch ab den 70er Jahren eine Frauen-Migrationsforschung, die ausgehend von der Kritik ihrer Nicht-Thematisierung in der geschlechtsunspezifischen Migrationsforschung, Frauen additiv den bisherigen Erzählungen hinzufügte. Diese Thematisierungsweise vervollständigte zwar das Akteursbild, es griff jedoch insofern zu kurz, als dass Geschlecht als eine sozial-kulturell, politisch und ökonomisch hergestellte Kategorie zu verstehen ist, die den gesamten Migrationskomplex strukturiert, wie Pierrette Hondagneu-Sotelo in ihrer Forschung über mexikanische Migration in die USA Anfang der 90er Jahre herausgearbeitet hat (P. HondagneuSotelo 1994, 3; vgl. auch R. Salih 2000; P. Pesar/ S. Mahler 2001): „Gender is not simply a variable to be measured, but a set of social relations that organize immigration patterns. The task, then, is not simply to ask the same questions of immigrant women that are asked of immigrant men, but to begin with an examination of how gender relations facilitate or constrain both women’s and men’s immigration and settlement.“
Diese Neufassung der Frauenmigrationsforschung unter der Kategorie gender als sozial-kulturellem Strukturierungsfaktor stellte (auch methodisch) eine wichtige Erweiterung dar, da sie fortan den Blick auf die Prozesse der Vergeschlechtlichung der Migration und ihrer AkteurInnen richtete. Dabei ist es zunächst offen und wird zum erkenntnisleitenden Frageinteresse, wie Geschlecht angerufen, zugeschrieben und zur Praxis gebracht wird. In diesem Sinne plädiert auch Floya Anthias (2000: 15) für einen Ansatz des „gendering migration“, welcher nicht nur den Anteil von Frauen in der Migration zählt, sondern verstärkt vergeschlechtete und vergeschlechtlichende Prozesse und Diskurse betrachtet: „This requires looking at the new processes that give rise to the feminisation of migration as well as the particular forms of insertion and mobilization that this involves.“ Dabei ist die Tatsache, dass Frauen migrieren, keineswegs neu. So schrieb Ernest Georg Revenstein schon 1885: „Frauen wandern mehr als Männer“ (vgl. M. Schöttes/ A. Treibel 1997: 101). Gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts war die Frauenmigration in Europa gar so stark angestiegen, dass sie zu einem öffentlich diskutierten Thema wurde, wie die Gründung der kirchlichen Vereine zum „Schutze von Frauen und Mädchen“ in der Migration vor gut einem Jahrhundert in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern demonstrieren. Vor allem aus den verarmten Regionen Polens, Rumäniens oder dem Balkan, aber auch aus Deutschland und Österreich machten sich Frauen alleine oder mit ihren Familien auf den Weg. Dabei etablierten sich bereits geschlechtsspezifische Migrationswege und -praxen, wie Heiratsmigration, selbsttätige und erzwungene Prostitution sowie die Migration als Dienstmädchen. 105 In diesem Zusammenhang entstand auch der Berufszweig des 105 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts florierte der Handel besonders mit „hellhäutigen Mädchen“ äußerst gut, die in Länder außerhalb Europas gebracht wurden. Eine Schweizer Forscherinnengruppe stellt für die Zeit fest: „Frauenhandel war (...) ein gut organisiertes Geschäft und Deutschland der Umschlagplatz in alle Welt“ (C. Karrer/ R. Turtschi u.a. 1996: 45 ff.). Durch die öffentliche Diskussion sahen sich die Regierungen um die Jahrhundertwende genötigt, erste Schritte gegen den boomenden Frauenhandel zu ergreifen.
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„Werbers“ und Vermittlungsagenturen wurden gegründet, so dass sich rasch ein blühender Wirtschaftssektor entwickelte. Andererseits wurde die Auswanderung deutscher Frauen in die Kolonien als „Bräute“ und „Haushaltshilfen“ seit Ende des 19. Jahrhunderts von den Regierungen als rassifizierte bevölkerungspolitische Maßnahme gefördert. Angesichts der miserablen Arbeits- und Lebensverhältnisse von Dienstmädchen unter der Gesindeordnung im Deutschen Reich bedeutete die Auswanderung in die Kolonien oder nach Amerika häufig besser bezahlte Arbeitsmöglichkeiten, sozialen Aufstieg und Emanzipationschancen (vgl. M. Friese 2002; R. Engelsing 1978, C. Karrer/ R. Turtschi u.a. 1996: 35 ff.). Neben der Frauenmigration in die Kolonien etablierten sich insbesondere bürgerliche Haushalte in der Stadt und bäuerliche Betriebe auf dem Land als Hauptbeschäftigungssektoren für migrierende Frauen aus den ländlichen Unterschichten innerhalb Deutschlands und darüber hinaus. Hierbei ergänzten sich zwei Entwicklungsstränge, die in einen Aufschwung des Dienstmädchenarbeitsmarkts im 19. Jahrhundert mündeten. Während auf dem Land aufgrund des allgemeinen Bevölkerungswachstums, des Erbrechts oder der Landwirtschaftspolitik die Arbeitslosigkeit zunahm, generierte die sich entfaltende bürgerlich-kapitalistische Kultur in den Städten eine spezifische Nachfrage nach Dienstleistungspersonal. Vor allem die mit der Industrialisierung einhergehenden Veränderungen des Haushalts von einer Produktionseinheit des „ganzen Hauses“ zum bürgerlichen Privathaushalt mit seiner typischen Geschlechterordnung erzeugte eine ethnisierte und klassenspezifische Aufsplitterung der Frauenrollen. Hierbei wurden die Belastungen für die hausfrauisierte bürgerliche Frau insofern abgefedert, als ihr weitere Haus-Arbeiterinnen zur Seite gestellt wurden. Während die „Haus-Frau“ aufs Engste mit der neuen Kultur der „Privatheit“ verbunden wurde, erledigten Dienstboten die anfallenden körperlichen Haus-Arbeiten (vgl. C. Harasser 1996, 30 ff.).106 Das Phänomen alleine bzw. im Familienzusammenhang migrierender Frauen scheint am Ende des 20. Jahrhunderts neue Brisanz erlangt zu haben. Laut Weltbevölkerungsbericht der Vereinten Nationen von 1993 waren von den hundertmillionen MigrantInnen mehr als die Hälfte Frauen. Auch für die Europäische Union lässt sich, so Eleonore Kofman und Rosemary Sales (1998: 382), ein derartiges Verhältnis nachweisen: Von den sechs Millionen Nicht-EU-BürgerInnen, die sich Anfang der neunziger Jahre legal in der Europäischen Union aufhielten, waren 45 Prozent Frauen. In einigen Ländern, wie den Philippinen oder Sri Lanka, scheint Migration gar eine Frauenangelegenheit geworden zu sein. Von den 6,5 Millionen registrierten MigrantInnen von den Philippinen machten Frauen 1995 beinahe die Hälfte aus. In Sri Lanka erreichte der Frauenanteil fast zwei Drittel der fünf Millionen Migrierenden. Davon migrierten nahezu neunzig Prozent als Hausarbeiterinnen in angrenzende Länder Südostasiens, in die USA und nach Europa (vgl. C. Karrer/ R. Turtschi u.a. 1996: 73). Dabei stellt die weibliche Arbeitskraft für Länder wie die Philippinen eines der wichtigsten Exportgüter dar, die mehr Devisen ins Land 106 Claudia Harassers „Bibliografie zu (fast) vergessenen Berufen“ (1996) stellt einen einzigartigen Überblick über die Dienstbotenforschung dar. Dabei stellt sie heraus, dass bis weit in die siebzigerr Jahre hinein das Thema „Dienstmädchen“ weder in der Geschichtswissenschaft noch in der historischen Arbeiterforschung eine Rolle spielte. Allein die historische Frauenforschung behandelte die Thematik unter dem Topos „Dienstmädchen als ökonomisches und sexuelles Ausbeutungsobjekt“ (vgl. ebd.: 28 f.).
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bringt als die formale Exportwirtschaft. So unterhalten die Staaten selbst Vermittlungsbüros als nationale Arbeitsmarktpolitik und betreiben offensiv den Export der Ware „weibliche Arbeitskraft“ im Austausch für die notwendigen Devisen und die private Unterstützung von Familien und ganzer dörflicher Gemeinschaften (vgl. ebd.). Die Feststellung einer weitgehenden „Feminisierung der Migration“ verweist jedoch nicht nur auf eine gestiegene Anzahl von weiblichen Migrantinnen, sondern auch auf sich verändernde strukturelle Bedingungen in Herkunfts- und Zielländern, die anscheinend zunehmend feminisierte Migrationsmuster und -praktiken hervorbringen. So führen die wenigen Studien hierzu, wie die von Floya Anthias und Gabriella Lazaridis (2000) oder Ruba Salih (2000) und Jacquline Andall (2000a), die Feminisierung der Migration auf die geschlechtsspezifischen Auswirkungen der ökonomischen Restrukturierungsprozessen in den Ländern des Südens und Ostens zurück, die Frauen im besonderen Maße mobilisieren. Globalisierungskritische Genderforschungen demonstrieren, wie zum einen die soziale und kulturelle Reproduktion angesichts von Strukturanpassungsprogrammen und des Abbaus sozialer Sicherungssysteme immer schwieriger wird. Zum anderen zeigen sie, wie Frauen angesichts ihrer gesellschaftlichen Rollenzuschreibung vor allem die Pflicht zukommt, mit geringen Ressourcen das Überleben zu sichern. In diesem Sinne habe ich von einer Feminisierung von Arbeit und Verantwortung gesprochen, Saskia Sassen (2000,1) spricht von einer „Feminisierung des Überlebens“. Wie bereits im vorausgehenden Kapitel gezeigt, haben die flexibilisierten Produktions- und Arbeitsverhältnisse zudem die Nachfrage nach billiger weiblicher Arbeitskraft in der Industrie wie im Dienstleistungssektor sowohl in den Ländern des Südens wie in den postindustriellen Gesellschaften des Nordens steigen lassen. Die gesellschaftliche Entwertung von Frauenarbeit sowie die fortdauernde Mythologisierung des Mannes als Familienernährer stellen nun einen „komparativen Vorteil“ für Frauen auf den globalen Arbeitsmärkten dar (vgl. C. Wichterich 2000: 25 f.). Dabei weisen ethnografische Arbeiten über das prekäre Frauenwirtschaftswunder im Trikont darauf hin, dass es nach dem ersten Schritt vom Land in die städtischen Produktionszonen für Frauen nur noch ein kleiner ist, den Glücksversprechungen jenseits der nationalen Grenze zu folgen (vgl. u.a. C. Wichterich 1998/ 2000; C. Mohanty 1998; S. Randeria 1998; Prokla 1998). Dieser Sachverhalt gilt für die postsozialistischen Gesellschaften in besonderer Weise und scheint vor allem die Migration aus Osteuropa zu feminisieren, wie ich im letzten Kapitel über Geschlecht und die Bedeutung von Qualifikation im Transformationsprozess herausgearbeitet habe. In „Das Comeback der Dienstmädchen“ haben Ramona Lenz und ich (2001: 140) dies folgendermaßen beschrieben: „Hatte die ‚sozialistische Organisation der Geschlechterverhältnisse’ (vgl. Verdery 1996) zu einer zwar einseitigen, doch relativ weitgehenden Gleichstellung von Frauen in der Arbeitswelt und hoher Qualifizierung geführt, haben sie jetzt mit Arbeitslosigkeit, Verarmung und vor allem beruflicher Dequalifizierung und sozialer Abwertung zu kämpfen.“
An eine relativ gleichgestellte Position in der sozialistischen Arbeitsgesellschaft gewöhnt, die ein durchschnittliches Auskommen garantierte, und vor allem das soziale wie kulturelle Kapital und die Kompetenzen zur Migration besitzend, erobern sich Frauen den transnationalen Raum quasi „selbstverständlich“. Dies führt dazu, dass viele Migrantinnen aus Osteuropa – alleinstehende, aber auch verheirate-
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te Frauen und Mütter, die gut bis hoch qualifiziert sind – ein „solo-migrationproject“ anstreben (vgl. F. Anthias 2000: 20). In den postindustriellen Ländern, den wesentlichen Zielländer der Migrationen, haben die ökonomischen Restrukturierungsprozesse selbst eine Logik der Feminisierung der Migration entfaltet. Hier sind es weniger die Industriearbeitsplätze wie zu Zeiten der klassischen Arbeitsmigration unter fordistischem Produktionsregime als vielmehr der expandierende Dienstleistungssektor wie auch wachsende informalisierte Sektoren im Bereich der Güterproduktion, die eine große Nachfrage nach weiblicher migrantischer Arbeitskraft generieren. Insbesondere für die Entwicklungsdynamik der südeuropäischen Ökonomien Italiens und Griechenlands können Floya Anthias und Gabriella Lazaridis (2000: 4 ff.) zeigen, wie die Expansion des informellen Sektors im Zuge von Flexibilisierung und lean production, der von kleinen Familienunternehmen bis hin zu ausgelagerten Werkstätten großer Unternehmen reicht, eine unerschöpfliche Nachfrage nach billiger, flexibler Arbeitskraft produziert. Hierbei sind es vor allem die „raum-gebundenen“ Dienstleistungen (siehe dazu S. Sassen 1998: 200 ff.), die sich nicht auslagern lassen wie alle personenbezogenen Dienste von Sexarbeit, über das Reinigungswesen, die Gastronomie, Hundeausführen bis hin zur bezahlten Hausarbeit, die einen steigenden Bedarf an weiblicher migrantischer Arbeitskraft aufweisen. Zum anderen hinterlässt die wachsende Partizipation nationaler Frauen am Arbeitsmarkt Lücken in den kontinuierlich geschlechtshierarchisch organisierten familiären Versorgungsarbeiten, die die im Abbau befindlichen wohlsfahrtstaatlichen Systeme nicht auffangen. Darüber hinaus hat die Flexibilisierung der Produktion zu einer forcierten Hierarchisierung der Arbeitsmärkte entlang von Alter, Geschlecht und ethnischer bzw. nationalstaatlicher Zugehörigkeit beigetragen (F. Anthias 2000: 22 f.; vgl. Young 1998). Dies hat neben nationalen qualifizierten Frauen in kleinem Umfang auch hochqualifizierten Migrantinnen die Türen in die oberen Wirtschaftsetagen geöffnet, wie zum Beispiel im Falle der Migration von IT-SpezialistInnen (vgl. U. Erel/ E. Kofmann 2000). Doch hat die Segmentation in einen ersten, zweiten und dritten Arbeitsmarkt, die durch eine abnehmende soziale Sicherheit bis hin zu den „working-poor“ gekennzeichnet ist, vor allem in den unteren, sogenannten „geringqualifizierten“ Segmenten zu neuen Qualitätsanforderungen an die Arbeitskraft geführt, die Anthias und Lazaridis (2000: 4) folgendermaßen beschreiben: „Available when needed, cheap, flexible, non-demanding; in other words a labour force that is squeezable.“ Besonders migrantische Frauen mit unsicherem Status, geringen sozialen Rechten und einer potentiellen zusätzlichen Reproduktionsbasis in den Herkunftsländern weisen in dieser Hinsicht jene Flexibilität auf, die das globale Kapital benötigt. Hierbei wirkt, wie Ramona Lenz und ich in „Das Comeback der Dienstmädchen“ (2001: 141) bereits über die Inkorporationsmechanismen von migrantischen Frauen in den postindustriellen Staaten skizziert haben, die geschlechtsspezifische Zuschreibung als „zuverdienende Hausfrau“ in Verschränkung mit der Entrechtung und Unsichtbarmachung als migrantische Akteurin. Die Präsenz bzw. Kanalisierung von Migrantinnen in sogenannte „gering qualifizierte“ Berufe führt auch Annie Phizacklea auf ihre besondere kulturell-politische Zurichtung zurück: „Migrant and female labour share many characteristics, both have been ‚produced‘ by the demand for labor in certain low-wage sectors of the economy and they are confined to those
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sectors, often by specific policies and practices which are partially justified by the ascription of inferior characteristics...“(1983: 5 zitiert nach J. Andall 2000: 13).
Ein zentrales Politikfeld der Zurichtung weiblicher migrantischer Arbeitskraft sind, wie bereits gezeigt, die Migrationspolitiken, welche eine spezifisch weibliche Arbeitskraft für die unteren Segmente des Dienstleistungssektors produzieren. So stehen Nicht-EU-Bürgerinnen keine berufsadäquaten Migrationsmöglichkeiten nach Deutschland offen. Während die Au-pair-Vermittlung liberalisiert wurde oder über Nacht im Rahmen der Anwerbestoppausnahmeverordnung Ausnahmeregelungen für Pflegekräfte aus osteuropäischen EU-Beitrittsländern getroffen wurden, muss die Mehrheit der Frauen ohne Papiere im informalisierten Sektor überleben. Für die Migration von Frauen vor allem aus den ehemaligen Sowjetrepubliken nach EU-Europa, die nicht einmal in den Genuss kleiner Mobilitätsrechte wie der visafreien Einreise als Touristin kommen, kann Cornelia Einhorn (1993: 136 f.) zeigen, dass ihnen oftmals nur noch ihr Körper als letzte Ressource bleibt, den sie auf den westeuropäischen Arbeitsmärkten anbieten können. Dabei deuten alle neueren Studien darauf hin, dass haushaltsnahe und sexualisierte Dienstleistungen weltweit die zwei wesentlichen Sektoren sind, in denen migrantische Frauen ein Auskommen finden (E. Kofman/R. Sales 1998: 387; F. Anthias 2000). So hebt Jacquline Andall (2000: 19) hervor: „It is largely uncontested that where female migrants are employed, their principle employment occupation is that of domestic work.“ Die von der Öffentlichkeit nicht-registrierte Veränderung von Au-pair zu einer Migrationsstrategie von Osteuropäerinnen, die in deutschen Familien als Haushaltshilfen und in der Kinderbetreuung tätig sind, ist in diesem Feminisierungszusammenhang von Migrationsprozessen zu sehen. Transnationalisierung der Migration Neben der Feminisierung der Migration haben empirisch und ethnografisch arbeitende Migrationsforschungen ferner auch Prozesse einer zunehmenden bzw. sich verdichtenden Transnationalisierung von migrantischen Lebenszusammenhängen und Migrationsstrategien festgestellt. Diese Beobachtungen gehen auf Forschungsansätze vor allem im Kontext der US-amerikanischen Sozial- und Kulturanthropologie zurück, die verstärkt die Meso-Ebene von Migrationsnetzwerken in den Blick nahmen und hierbei die Entwicklung zu neuen sozialen Vergemeinschaftungsformen beobachten konnten, die sich plurilokal über mehrere Nationalstaaten hinweg aufspannen. Hierfür wurde der Terminus „trans-national“ bzw. „transnationalism“ geprägt, der über die Migrationsforschung hinaus für die Neuausrichtung des kulturanthropologischen Forschungsinteresses auf grenzüberschreitende Verbindungen namens gebend wurde. Die transnationale Perspektive stellt hierbei eine praxiologische Neuausrichtung der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung dar, wobei die Ebene der Alltagspraktiken zurückgekoppelt wird an die Meso- und Makroebene sich verändernder Rahmenbedingungen. Die US-Sozialanthropologinnen Nina Glick Schiller, Linda Bash und Cristina Szantons Blanc, die zu den zentralen Mitbegründerinnen des TransnationalisierungsParadigmas in der Migrationsforschung zählen, schrieben bereits Anfang der neunziger Jahre, dass eine wachsende Zahl von MigrantInnen nicht mehr als Immigran-
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tInnen, sondern als TransmigrantInnen zu bezeichnen sei: „Transmigrants are immigrants whose daily lives depend on multiple and constant interconnections across international borders, and whose public identities are configured in relationships to more than one nation-state.“ Transnationale Migration ist dabei der Prozess, so die Forscherinnen, „by which immigrants forge and sustain simultaneous multi-sited social relations that link together their societies of origin and settlement“(1997: 121; vgl. 1994: 7). Die Transnationalisierung findet dabei sowohl auf der Ebene der ökonomischen, sozialen und kulturellen Alltagspraktiken und individuellen, familiären bis kollektiven Entscheidungsfindungen statt wie auch bei der Formierung von Subjektpositionen und Identitätsartikulationen. Diese Forschungsrichtung fragt nicht mehr, so Ludger Pries (1997: 33), nach den jeweiligen Folgewirkungen der Migration für Ankunfts- und Herkunftsregionen, sondern „welche neuen transnationalen sozialen Wirklichkeiten sich dazwischen aufspannen”. Auch wenn viele der jüngeren Transnationalisierungsforschungen die Neuheit dieser beschriebenen Tendenzen mit dem Verweis auf zirkuläre Arbeitsmigrationsformen und mehrortige Alltagspraxen früherer MigrantInnengruppen in Europa und Amerika wieder relativieren, konstatieren Forscher wie Luis Eduardo Guarnizo und Michael Peter Smith in „Transnationalism from below“ (1998: 11) doch einen qualitativen Unterschied: „Intermittent spatial mobility, dense social ties, and intense exchanges fostered by transmigrants across national borders have indeed reached unprecedented levels.“ Die beiden Forscher weisen ferner darauf hin, dass es sich bei der Feststellung der Transnationalisierung von Migrationspraxen keineswegs um die kultur- und sozialanthropologische Unterfütterung von globalisierungseuphorischen Konzepten und Begrifflichkeiten wie die Rede vom „neuem Nomadentum“ (U. Beck 1997: 127 ff.) geht. 107 Denn transnationale Migrationstrategien finden nicht „zwischen“ Staaten und nicht (nur) in imaginären, virtuellen Räumen statt, wie Begriffskonstruktionen von Deterritorialisierung und „Fluss“-Metaphern vermuten lassen könnten, sondern sind mehrfach verortet.108 In diesem Sinne beschreibt die US-amerikanische Kulturanthropologin Aihwa Ong (1999: 4) auch in Abgrenzung zu Globalisierungsdiskursen, die das Globale und das Lokale als dichotomen Gegensatz konstruierten, die Vorzüge des Prefix „trans“ folgendermaßen: „But a model that analytically defines the global as political economic and the local as cultural does not quite capture the horizontal and relational nature of the contemporary economic, social, and cultural processes. (...) Trans denotes both moving through space and across lines, as well as changing the nature of something. Besides suggesting new relations between nation-states and capital, transnationality also alludes to the transversal, the transactional, the 107 So schreibt Beck (1997: 129): „Mit mehreren Orten verheiratet zu sein ist das Einfallstor der Globalisierung im eigenen Leben. (...) Das Leben ist kein ortsgebundenes mehr. Es ist ein Leben ‚auf Reisen’ (im direkten und übertragenen Sinn), ein Nomaden-Leben (...).“ 108 Michael Peter Smith und Luis Eduardo Guarnizo sowie das Forscherinnenteam um Linda Bash grenzen sich dezidiert von kulturanthropologisch- kulturwissenschaflichen Ansätzen ab, wie sie im Umfeld von Arjun Appadurai und Ulf Hannerz formuliert würden. So kritisieren Smith und Guarnizo (1994: 4 ff.) nach einer kurzen Würdigung der Beiträge von Arjun Appadurai, James Clifford oder Ulf Hannerz: „Their leadership has imprinted the field with a particular cultural bent and a distinctive normative, postmodern discursive flavor“, worunter sie zum einen die Tendenz fassen, die transnationalen Praxen als „subversive popular resistance from below“ zu verstehen. Bash et. al. formulieren ihren Transnationalisierungsansatz ebenfalls in deutlicher Abgrenzung zu Ansätzen von Appadurai u.a., die sie als „transnational cultural studies“ bezeichnen. Diese würden den Terminus „transnational“ dazu benutzen, „to signal the fluidity with which ideas, objects, capital, and people now move across borders and boundaries“ (vgl. 1994: 27 ff.; A. Ong 1999: 4 f./11).
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translational and the transgressive aspects of contemporary behavior and imagination that are incited, enabled, and regulated by the changing logics of states and capital.“
Ähnlich formulieren auch Smith und Guarnizo (1998: 11): „Transnational practices cannot be construed as if they were free from the constraints and opportunities that contextuality imposes. Transnational practices, while connecting collectivities located in more than one national territory, are embodied in specific social relations established between specific people, situated in unequivocal localities, at historical determined times.“109
Transnationale Praktiken müssen sich nicht nur mit den spezifischen ökonomisch und kulturell durchwirkten und regulierten Lokalitäten in den Herkunfts- und Zielgebieten auseinandersetzen, auch das „trans“ sei spezifisch konstruiert (vgl. ebd.: 11 f.). Dabei ist Geschlecht, wie wir sahen, auf allen Ebenen ein wesentlicher Strukturierungsfaktor. Doch auch in dem sich herausbildenden transnationalen Forschungsfeld droht die Bedeutung von Geschlecht vernachlässigt zu werden. Patricia R. Pesar und Sarah J. Mahler (2001: 5) sprechen von „gendered geographies of power”, um darauf hinzuweisen, dass „gender operates simultaneously on multiple spatial and social scales (e.g. the body, the family, the state)“. So zeigen gendersensible Transnationalisierungsforschungen wie die von Sarah Mahler und Patricia Pesar, Bridget Anderson (2001) oder Ruba Salih (2000), dass als begrenzende bzw. ermöglichende Faktoren für Transnationalisierungspraktiken Körperpolitiken, die Regulation der Privatsphäre und der Familienverhältnisse sowie kulturell hegemoniale Geschlechternormen und -diskurse im Herkunfts- wie im Zielland in die Analyse einzubeziehen sind. Der transnationale soziale Raum sei eben nicht nur durch Ökonomie und staatliche Praktiken bestimmt, so Anderson, sondern auch auf der Ebene alltäglicher Arbeits- und Lebensverhältnisse ein umkämpftes Terrain. Als wesentlichen Entstehungszusammenhang der Transnationalisierungsprozesse auf migrantischer Alltagsebene nennen die Forschungen übereinstimmend die Vertiefung der ökonomischen, politischen und kulturellen Globalisierungsprozesse wie auch die Verbesserung der weltweiten Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur (u.a. L. Bash/ N. Glick Schiller/ C. Szantons Blanc 1994; R. Grillo 2001; A. Appadurai 1996). Dabei betrachten sie zum einen die Kontinuität unsicherer Existenzperspektiven auf der ganzen Linie von Herkunfts- bis Zielkontext als ausschlaggebendes Moment der Transnationalisierung. Zum anderen sehen sie die Transnationalisierung migrantischer Existenzweisen gerade in dem fortgesetzten nationalstaatlichen Souveränitätsanspruch über Territorien und Bevölkerungen begründet. Die globalisierten ökonomischen Prozesse führten nicht nur auf Seiten der Herkunftsländer zu einer stetigen Verschlechterungen der Lebensverhältnisse – ein wesentlicher push-Faktor –, auch die restrukturierten Ökonomien in den postindustriellen Ländern gewährten ihren NeuzuwanderInnen immer weniger Lebenssicherheit. Dies erfordere von den MigrantInnen neue Modi und Praktiken der sozialen und kulturellen Lebenssicherung, die eben genau in der Kombination beider Kon109 Smith und Guarnizo unterscheiden einen „global neoliberal contextual space“, hauptsächlich hergestellt durch die unterschiedlichen globalisierten Kapitalfraktionen; einen politischen „transnational space“, reguliert auf den verschiedenen Ebenen von internationalen und supra-nationalen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, der WTO, aber auch durch global agierende Nichtregierungsorganisationen und nationalstaatliche AkteurInnen sowie die lokalen-transnationalen Strategien von TransmigrantInnen (vgl. 1998: 6 f.; A. Ong 1999: 10 ff.).
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texte bestehe. Auf diesen ursächlichen Zusammenhang globalisierter Restrukturierung der Ökonomien und der Entstehung transnationaler Migrationsstrategien von Familien und ganzer Dorfgesellschaften in Mexiko weist auch der USamerikanische Stadtsoziologe und Ökonom Mike Davis (1999, 121) hin: „Transmigration ist ein neuer Modus der sozialen Reproduktion unter den Bedingungen globaler Restrukturierung, die die Communties zwingt, Besitz und Bevölkerungen zwischen zwei unterschiedlichen örtlichen Existenzen auszubalancieren.“ In der Konsequenz steigert dies, wie der US-amerikanischen Kulturanthropologe R. Rouse an der mexikanischen-US-amerikanischen Migration studieren konnte, die Abhängigkeit von transnationalen Netzwerken als eine der wenigen verbliebenen Ressourcen und als wichtiges soziales Kapital für beide Kontexte. In der Folge entstünden „transnational migration circuits“, auf die die MigrantInnen als „transnational semiproletariat“ verwiesen seien (R. Rouse 1992: 45). Hinzu kommt jedoch ein weiterer, zunächst als Gegensatz erscheinender Faktor: Während die Globalisierung der Ökonomien unter der Losung des „freien Welthandels” von supranationalen Organisationen wie der WTO forciert wird, wird die transnationale Mobilität von Menschen bis heute in starkem Maße sowohl nationaltstaatlich wie auch supra-national durch verschiedene Gremien (EU, UNO) reguliert und eingeschränkt. Das Forscherinnenteam um Linda Bash (1997: 136) sieht insbesonders auf Seiten der führenden Industrieländer eine „bunker mentality“ entstehen: „National borders have to be defended against immigrants“. Ulrich Beck (2000) beschreibt diesen Widerspruch als „schizophrenen Liberalismus“: „Da wird auf der einen Seite alles dafür getan die Grenzen für Kapital durchlässig zu machen, während auf der anderen Seite die Grenzen für Arbeit nur dosiert geöffnet, ansonsten verbarrikadiert werden. (...) Diese fundamentale Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit ist in der Tat bemerkenswert. (...) Wenn die Rede von Globalisierung ist, meine die Befürworter ausschließlich Kapital-Globalisierung, während die Globalisierung der Arbeit den meisten als krimineller Akt gilt.“
In diesem Sinne ist es auch nicht verwunderlich, dass zwar die Mobilität von InländerInnen als neues soziales und kulturelles Kapital und Ressource im Neoliberalismus gefordert, die Globalität und transnationale Mobilität von MigrantInnen jedoch mit Termini wie „Überschwemmung“, „Penetration“ oder „Grenzübertretung“ delegitimiert wird. In dieser Bildsprache drückt sich nicht nur ein fortgesetzter nationalstaatlicher Anspruch auf das Definitions- und Gewaltmonopol aus, darüber zu entscheiden, wer zum Staatsvolk gehört und wer nicht, sondern auch darauf, die Reichweite, Bedeutung und die legitimen AkteurInnen von „Transnationalität” zu bestimmen. Es sind Begrifflichkeiten aus dem Zeitalter der nationalen Territorialisierung von Bevölkerungen, in dem soziale und politische Rechte nur über die Zugehörigkeit zu einem territorialen Nationalstaat als Staatsbürgerrechte zuerkannt wurden. Diese symbolisch und juristisch fixierten Ordnungen rufen weiterhin die Subjekte an und fordern Migrantinnen nach wie vor Akte der eindeutigen Reterritorialisierung als Integrationsleistungen ab. Dies wurde etwa in der Diskussion um eine „doppelte Staatsbürgerschaft“ in Deutschland sichtbar. In diesem Sinne halten Transnationalisierungsforschungen wie die von Linda Bash und Nina Glick Schiller (1997: 124) der Annahme einer abnehmenden Bedeutung von Nationalstaaten, wie sie in einigen Globalisierungsdiskussionen vertreten wird, entgegen: „However, the task of creating capitalist subjects, and the task of governing populations, who will
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work in and accept the world of vastly increased inequalities of wealth and power, continues to reside primarily in different and unequal states.“ Die transnationalen Migrations- und Aufenthaltsmuster führen die Forschungen folglich auf die Asymmetrie zwischen globalisierter Ökomomie und nationalisierenden Migrationspolitiken zurück, die den MigrantInnen individuelle Strategien abverlangen, um sich in diesen Ungleichzeitigkeiten bewegen zu können (vgl. L. Bash/ N. Glick Schiller/ C. Szanton Blanc 1997: 123 ff.; M. Smith/ L. Guarnizo 1998: 10 f.). So versteht das Forscherinnenteam um Linds Bash (1997: 126) migrantische Transnationalisierungspraktiken als Reaktion auf die Tatsache, dass in „a global economy contemporary migrants have found full incorporation in the countries within which they resettle either not possible or not desirable“. Indem sie ihre sozialen Netzwerke über nationale Grenzen hinweg knüpften – in den Forschungen von Linda Bash und Nina Glick Schiller zwischen karibischen Inseln bzw. Haiti und den USA – können Familien ihre Arbeitskräftepools und sonstige verfügbare Ressourcen auf beiden Seiten des transnationalen Kontinuums maximal nutzen und so in Situationen sozioökonomischer Unsicherheit überleben. Dadurch seien die Familie in der Lage, ihre soziale Position in den Herkunftsregionen zu behaupten und oftmals sogar auszubauen (vgl. ebd.: 129). Transnationalized Gender – transnationale Haushaltsstrategien und Geschlechterverhältnisse Solche „transnationalen Haushaltsstrategien“ wie die oben beschriebenen können auch über den ganzen Globus verstreute „Niederlassungen“ umfassen, die über dichte mediatisierte und kommunikative Netzwerkstrukturen miteinander verbunden sind (vgl. R. Parrenas 2001). Wie Felicitas Hilmann am Beispiel der somalischen, peruanischen und philippinischen Frauenmigration oder Ruba Salih für die Migration von Frauen aus Marokko nach Italien zeigen, sind die transnationalen Haushalte nicht weniger geschlechtsspezifisch strukturiert als lokalisierte. Dabei werden unterschiedliche transnationale Bewegungen gerade aufgrund der geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen hinsichtlich der häuslichen Versorgungsund Care-Ökonomie hervorgerufen oder blockiert. Insofern stellt das soziale Geschlecht der AkteurInnen einen entscheidenden Faktor für Transnationalisierungspraxen dar, was vielfach zur Feminisierung der transnationalen Migration beiträgt. So zeigen beide Forscherinnen, wie gerade die Migration von Frauen und ihre Transnationalisierung von transnationalen Haushalten unterstützt und gar gefordert wird, nicht nur weil ihnen eine größere Verantwortlichkeit und Aufopferungsbereitschaft für die zurückgebliebenen Familienmitglieder zugeschrieben wird (F. Hillmann 1997: 25 ff.; R. Salih 2000). Ebenso werden Versorgungsarbeiten in solchen Haushalten auch transnational erweitert geleistet, was Frauen mehrortige Verpflichtungen insbesonders im Krankheitsfall oder bei der Alterspflege auferlegt und sie zwingt, zwischen Herkunftsfamilie und Migrationskontext hin- und herzupendeln (vgl. R. Salih 2000: 83). Anderseits kann die Transnationalisierung von Haushaltsstrategien auch zu einem männlichen Projekt werden, welches Frauen als „stay-at-home-wives“ spezifische Funktionen im transnationalen Haushaltsgefüge zuweist und sie somit lokalisiert. Diese Praxis schließt die Multiplizierung von Ehen und die lokalisierte Aufspaltung
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der Dreieinigkeit von Mutter, Ehefrau und sexueller Partnerin an den verschiedenen Lokalitäten mit ein, wie es Aihwa Ong (1999, 20) für das transnationalisierte chinesische Genderregime beschreibt. Beide „Pole“ der Geschlechterpolitik im migratorischen transnationalen Raum – die Lokalisierung von Frauen wie ihre erhöhte Transnationalisierung – zeigen, dass auch die reproduktive Sphäre spezifische Transnationalisierungsprozesse bedingt und sich selbst transnational erweitert, was Ruba Salih als „transnational sphere of reproductive und care activities“ bezeichnet (R. Salih 2000: 83; vgl. R. Parrenas 2001: 82 ff.). Hierbei entstehen neue Geschlechterordnungen und Rollenanforderungen und es ist zu erwarten, dass es über die Dauer der Migration und entlang des transnationalen Kontinuums zu Neuaushandlungen und Veränderungen der Genderregimes kommt. Ein besonderes soziales und emotional herausforderndes Phänomen im Zuge der Single-Migration von Frauen bzw. der „solo income producing women migrants“, wie sie Rhacel Salazar Parrenaz nennt (2001: 85 ff.), nimmt hierbei die Entwicklung zur „transnationalen Mutterschaft“ ein. Sie ist dadurch charakterisiert ist, dass zu den zurückgelassenen Kindern und Ehepartnern soziale Beziehungen fernräumlich hergestellt und aufrechterhalten werden. Dabei werden die Kinder zum Teil der Obhut des zurückgebliebenen Vaters oder der Großeltern überlassen. Größtenteils werden hierzu die weiteren familiären Netzwerke hinzugezogen bzw. auch Versorgungsarbeiten eingekauft, etwa, indem eine Nanny beschäftigt wird (vgl. ebd.: 81 f.). So dehnt sich der Kreis transnationaler Communities auch auf die sesshaft gebliebenen aus, die ein wichtiges Rückgrat für die transnationalen Praktiken einzelner Familienmitglieder darstellen. Die Entwicklung zu transnationaler Elternschaft steht im engen Zusammenhang mit den weiter oben beschriebenen ökonomischen und politischen Verunsicherungen und migrationspolitischen Verschärfungen vor allem auf dem Gebiet des Familiennachzugs, so dass die Mütter bzw. Eltern ihre Kinder nicht mitnehmen oder nachholen wollen oder können. Den Abzug von Versorgungsleistungen und die hierdurch häufig entstehenden Versorgungsengpässe und -defizite in den Herkunftsgesellschaften bezeichnet Helma Lutz als „care drain“ (2007: 33). Zum anderen tragen jedoch auch die ungleichen Entwicklungen zwischen Sende- und Zielland zur dieser globalisierten Familienkonstitution bei. Mögen Einkommen in den Zielländern auch um das 500-fache höher sein als im Herkunftsland, sind sie doch nicht darauf ausgelegt, die soziale Reproduktion einer ganzen Familie zu gewährleisten. Andererseits sind die Reproduktionskosten im Herkunftsland meist niedriger, so dass die Rücküberweisungen eine soziale Aufstiegsmobilität der Kinder ermöglichen (vgl. ebd.: 80 ff.). In ihrer empirisch-ethnografischen Forschung über die Praxis transnationaler Mutterschaft von philippinischen Domestic Workers in Italien und den USA kann Perrenaz die tiefgehenden emotionalen Spannungen und Krisen aufzeigen, die eine derartig zur Transnationalität gezwungene Existenzweise von Frauen abverlangt. Andererseits berichtet sie auch von Praktiken und Strategien, mit denen die transnationalen Mütter versuchen, die emotionalen und materiellen Bedürfnisse der Kinder und ihrer selbst auszubalancieren (vgl. ebd.: 86 ff.). Das Phänomen transnationaler Mutterschaft erfährt noch eine weitere Zuspitzung dadurch, dass viele der transnationalen Mütter von ihren eigenen Kindern getrennt sind, in der Migration jedoch eine Anstellung als Hausarbeiterinnen finden und sich hier um
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Kinder kümmern müssen. Diese intrageschlechtliche Arbeitsteilung der Versorgungsarbeiten im transnationalen Raum kann, wie wir sahen, eine bis zu dreistufige Hierarchie zwischen Frauen nach Klasse und rassistischen Kategorien produzieren, entlang derer die Versorgungsarbeiten an eine andere Frau kommerzialisiert weitergegeben werden. In Analogie zur neuen internationalen Arbeitsteilung spricht Rhacel Salazar Perrenaz diesbezüglich von der Entwicklung zu einer „new international division of reproductive labor“ (vgl. ebd.: 62 ff./ 72 ff.). Derartige grenzüberschreitende soziale, ökonomische und kulturelle Interaktionszusammenhänge lassen sich, so der Organisationssoziologe Ludger Pries, nur noch schwer in klassischen sozialräumlichen Kategorien wie dem „Community“-Begriff fassen. Während u.a. die AnthropologInnen Michael Kearney und Carol Nagengast in Anlehnung an Andersons „imagined community“ auch von „transnational communities“ (1989, zitiert nach Pries 1998: 74) sprechen, sieht Ludger Pries mit den transnationalen Praxen eine neue Qualität von sozialer Vergemeinschaftung entstehen, die über die Nationalgesellschaften hinausweist. Sie generierten vielmehr neue soziale Verflechtungszusammenhänge, die die Kongruenz vom nationalstaatlichen Flächen- und Sozialraum des Containermodells zunehmend auflöse. Auch die im Community-Begriff implizierte Nahräumlichkeit der Beziehungsstrukturen werde Pries zufolge den neuen Existenzweisen nicht gerecht, die oftmals zwar über weite Entfernungen funktionieren müssen, imaginär und virtuell jedoch sehr nah aufeinander bezogen seien. Für solche „geografisch-räumlich diffusen bzw. delokalisierten“, gleichzeitig jedoch verstetigten sozialen Räume entwickelte Pries den Begriff des „transnationalen sozialen Raums“. Dieser bilde eine wichtige Referenzstruktur sowohl für soziale Positionen und Positionierungen als auch für die alltägliche Lebenspraxis, für (erwerbs-)biografische Projekte und für die Identitäten der Menschen (vgl. ebd.: 75). Die Begrifflichkeit des „transnationalen sozialen und kulturellen Raums“ scheint auch eine Perspektive zu skizzieren, die die im CommunityBegriff angelegte Zentrierung auf ethnische Vergemeinschaftung zu überwinden vermag und offen ist, hybride Formen der Subjektpositionierung und -repräsentation beschreiben zu können, die quer zu Fremd- und Selbstethnisierungspraktiken verlaufen. Denn auch wenn mit der Transnationalisierungsperspektive der sozialen und kulturellen Mehrortigkeit migrantischer Existenzweisen Rechnung getragen wird, fokussieren die meisten Studien weiterhin monoethnische migrantische Netzwerke – die „Anderen“. So rücken Querverbindungen und hybride, nicht-ethnisierte kulturelle Praktiken von MigrantInnen in den sich globalisierenden lokalen Kontexten wieder aus dem Blickfeld und die Vorstellung eines kulturellen Mosaiks abgrenzbarer sozialer kultureller Räume – die klassische Behälterordnung – wird auf transnationaler Ebene reproduziert. Auch wird der gesamtgesellschaftliche Globalisierungskontext nur als Entstehungszusammenhang für eine migrantische Transnationalität thematisiert, ganz so, als ob sich Alltagspraktiken der weiterhin als sesshaft imaginierten Mehrheitsbevölkerungen hierdurch nicht auch verändern würden. Vor diesem Hintergrund möchte ich zwei notwendige Kriterien für einen reflektierten Transnationalisierungsansatz formulieren: Erstens bedarf er einer erneuten kulturellen Globalisierungs-Lesart, welche die transnationalen Räume als plurikulturelle, verfranste und durchkreuzte Räume im Sinne von Stuart Hall oder Homi Bhabha versteht (vgl. S. Hess/ R. Lenz 2001; S. Hall 1994: 180 ff.; K. Nghi Ha
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1999: 114 ff.; Römhild 2003). Zweitens ist der Transnationalisierungsansatz auf die Mehrheitsbevölkerungen zu erweitern, die nicht nur transnationale kulturelle Produkte in ihre Alltagspraktiken einbauen, sondern selbst aktiv transnationale Räume herstellen bzw. daran partizipieren. Am Beispiel migrantischer Hausarbeit werde ich genau dies im nächsten Kapitel herausarbeiten. 3.4. Transnationale Migrationen in Europa – Transnationalisierung Europas „Is there an European space for transnationalism?” In der US-amerikanischen und britischen Migrationsforschung scheint das Transnationalisierungskonzept – zehn Jahre nach Erscheinen der ersten Beiträgen – zu einem der prominentesten Forschungsparadigmen der „neue Ära der Migration“ geworden zu sein. Dies legt auch der Überblicksartikel von Ludger Pries „Transnationalisierung der sozialen Welt“ (2002) nahe. In der deutschsprachigen kulturanthropologischen, ethnologischen und sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung wird es hingegen erst seit wenigen Jahren rezipiert und nur wenige publizierte Forschungen operieren bislang damit (vgl. u.a. Pries 1997/ 2002; AJEC 2000). Allerdings weisen die Rezeptionen in der europäischen Forschungslandschaft darauf hin, dass die wesentlich im amerikanischen Kontext entstandenen Transnationalisierungsansätze nicht bruchlos auf andere Räume übertragen werden können, sondern ihrerseits zu verorten und zu lokalisieren sind. Alisdair Rogers von der School of Geography an der Oxford University fragt in seinem gleichlautenden Aufsatz (2001), ob es einen „european space for transnationalism“ überhaupt gibt. Denn nicht nur die beschriebenen global wirksamen Prozesse bedürften einer Lokalisierung, vielmehr gebe es auch spezifisch europäische Entwicklungen wie jene, die ich im zweiten Kapitel beschrieben habe. Hierbei ist vor allem die Formierung der Europäischen Union zu nennen, die sowohl die Umstrukturierungsprozesse in den postsozialistischen Ländern als auch das europäische Migrationsregime wesentlich strukturiert. Außerdem, so auch Alisdair Rogers, stellt der geopolitische, krisenhafte und teils gewaltförmige Niedergang der sozialistischen osteuropäischen Staaten einen zentralen Prozess dar, der offensichtlich kein Pendant in Amerika hat (ebd.: 8).110 Dieser hat nicht nur die Problematik von Vertreibung wieder auf die Tagesordnung in Europa gesetzt. Die Neuziehung nationalstaatlicher Territorien hat auch transnationale Gesellschaften wider Willen hervorgebracht. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Grenzen seien in Bewegung geraten (vgl. ebd.). Diese zwei Entwicklungen markieren Rogers zufolge deutliche Unterschiede zu anderen Welt110 Darüber hinaus listet Rogers weitere Einflussfaktoren für den Verlauf der europäischen Migrationsbewegungen auf, die in Europa eine andere Genese als in den Amerikas genommen haben: das Erbe von Imperialismus und Kolonialismus; der Zusammenbruch der multiethnischen Empires wie des Osmanischen Reichs, die Donaumonarchie oder das Zarenreich, die eine Reihe von ethnisierten Nationalitätenkonflikten nach sich zogen In diesem Sinne hätte auch der Nationsbildungsprozess in Europa eine viel stärker nationalisierte und ethnisierte Ausrichtung gehabt als der von Siedlergesellschaften in den USA, die Volk und Nation gewaltvoll zur Deckung zu bringen versuchten, was bis heute in den Staatsbürgerschaftsprinzipien zwischen ius solis und ius sanguinis und einer kontinuierlichen Exklusion und in Rassismen gegen MigrantInnen zum Ausdruck komme (vgl. A. Rogers 2001).
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regionen und bringen spezifisch europäische Transnationalisierungs- und Mobilitätsmuster hervor. In diesem Sinne werde ich abschließend die neue Ära der Migration in Europa unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungen auf dem Feld der Ost-WestMigration skizzieren und die Strategien der slowakischen Au-pair-Frauen in diesem Migrationsspektrum kontextieren. Dabei wird deutlich, dass die temporären und mobilen Praxen der Au-pair-Migrantinnen kein randständiges Phänomen darstellen. Vielmehr sind sie eingebettet in einen Praxiszusammenhang mobiler Migrationsstrategien, der die Post-1989-Migrationslandschaft in Europa wesentlich kennzeichnet. Europäischer Wanderungsraum Für Europa haben vor allem der Niedergang des Sozialismus und das Ende der Blockkonfrontation eine „qualitativ neue Situation“ hervorgebracht (vgl. L. Pries 1998: 56). Die partielle Integration der osteuropäischen Staaten in den Weltmarkt, ihre selektive Integration in die Europäische Union mit den im vorausgegangenen Kapitel geschilderten Verschlechterungen der Lebensbedingungen111, die neu entstandenen Nationalitätenkonflikte und ethnisierten Kriege mit dem darauffolgenden militärischen Eingreifen der EU-Staatenhaben den europäischen Raum erneut zu einem pulsierenden Wanderungsraum werden lassen. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden die osteuropäischen Staaten zu wesentlichen Sendeländern von Migration nach West- und Südeuropa112, wie auch auf den amerikanischen Kontinent. Sie selbst wurden aber auch im zunehmenden Maße zu Transit- und Zielländern für MigrantInnen aus den GUS-Staaten sowie für MigrantInnen aus dem globalen Süden sowie dem Nahen und Fernen Osten auf deren Reise nach Nord- und Westeuropa. In den westeuropäischen Anrainerstaaten wie Deutschland hat die einsetzende Ostmigration die Zusammensetzung der Migrantionsbevölkerung insofern verändert, als dass heute Menschen aus mittelost- und osteuropäischen Ländern und den GUS-Staaten gut „2/3 der Neuzuwanderer“ ausmachen (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 1999).113 Darüber hinaus sind auch 111 Marek Okólski (1994: 142 f.) führt u.a. die gestiegene Ost-Migration auf die erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen mittel- und osteuropäischen Staaten zurück, die nicht nur durch die unterschiedlichen Zeitpläne und eingeschlagenen Transformationspfade entstanden seien, sondern durch die selektive Integrationspolitik der EU gegenüber den osteuropäischen Staaten: „Bezüglich Wirtschaftsentwicklung, Lohn- und Preisniveau, Marktungleichgewichten, Beschäftigungsmöglichkeiten usw. sind inzwischen die Unterschiede so groß wie nie zuvor.“ Daneben habe sich eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit herausgebildet, die vor allem jüngere Menschen, insbesondere SchulabgängerInnen, die erstmals Zugang zum Arbeitsmarkt suchten, hart treffe. Andererseits sei aber auch das Niveau wirtschaftlicher Kooperationen und unternehmerischer Investitionen in beide Richtungen gestiegen, was auch zu einer wachsenden Arbeitskräftebewegung beigetragen habe. 112 Südeuropa, vor allem der mediterrane Raum, war schon seit den 80er Jahren Transitraum und Zielland von MigrantInnen aus dem globalen Süden und dem Nahen Osten. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der EU Migrationspolitik wurde er auch für osteuropäische MigratInnen sowie aus den GUS-Staaten zunehmend zu einer wichtigen Zielregion, was die Zentralität Westeuropas als Zielregion von Migrationsbewegungen immer mehr verringert und zu einer neuen europäischen Migrationslandkarte führt. 113 Hierunter fallen auch die „deutschstämmigen SpätaussiedlerInnen“ aus Polen, Rumänien und der ehemaligen Sowjetunion (vgl. R. Römhild 1998), die einen Rechtsanspruch auf deutsche Staatsbürgerschaft besitzen sowie „jüdische Kontingentflüchtlinge“ (vgl. F. Becker 2001) und asylsuchende Flüchtlin-
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neue Aufenthaltsmuster und soziale, ökonomische und kulturelle Praktiken entstanden, die nicht nur in Großstädten wie Berlin neue Formen informeller Überlebensökonomien hervorgebracht haben. Jedoch ist die vielbeschworene „Zäsur“, die in der Öffentlichkeit mit dem Ende des Kalten Krieges für die Migration und Migrationspolitik in Westeuropa gesehen wurde, nur zum Teil auf die tatsächlichen Wanderungsbewegungen zurückzuführen. Vielmehr trugen zu dieser Wahrnehmung, wie Klaus Bade konstatiert (2002: 379), die „in öffentlichen und politischen Migrationsdiskursen umlaufenden Beschreibungen und die mit diesen sozialen Konstruktionen in Verbindung gebrachten Visionen von einem Europa unter abruptem ‚Wanderungsdruck’“ zu einem erheblichen Maße bei.114 Denn die neuen Wanderungsbewegungen blieben zum großen Teil auf die osteuropäischen Länder beschränkt bzw. wandten sich nach Südost- und Südeuropa und eine Massenauswanderung fand insgesamt nicht statt. So konstatiert auch das „Schlüsseldokument der Europäischen Kommission von Mai 2000 über die arbeitsmarktpolitischen Folgen der Osterweiterung für die EU-Länder“, dass die „gegenwärtigen Bestände an Einwohnern und Arbeitskräften aus den MOEs in der EU (...) im Hinblick auf das hohe Einkommensgefälle recht gering“ sind (vgl. Frankfurter Rundschau 27.6.2000). In dem Dokument wird die Zahl osteuropäischer EinwohnerInnen in der EU im Jahre 2000 auf 85.000 und die von Arbeitskräften (inklusive SaisonarbeiterInnen) auf 300.000 geschätzt, was einem Anteil von 0,2 respektive 0,3 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Ferner wird in dem Dokument festgehalten: „Seit 1993 ist die Nettoimmigration aus den MOEs aufgrund der zunehmenden Beschränkungen der Zuwanderung vernachlässigbar“ (vgl. ebd.). Allerdings weisen ethnologische Migrationsforschungen von Mirjana Morokvasic oder Norbert Cyrus darauf hin, dass auch in Europa gegenwärtige Wanderungsbewegungen durch ihre hohe Mobilität gekennzeichnet sind. Diese mobilen Migrationsmuster sind jedoch nur zum Teil in den offiziellen Einwanderungsstatistiken dokumentiert, wie z.B. im Falle gemeldeter GrenzgängerInnen, Saison- oder WerkvertragsarbeiterInnen. Darüber hinaus seien auch die hohen Zahlen osteuropäischer TouristInnen hinzu zu ziehen – für 1990 wurden beispielsweise 22 Millionen polnischer Reisender gegenüber 1,5 Millionen Visaanträgen nach Deutschland gezählt (vgl.M. Morokvasic/ A. de Tingy 1993: 247 f.) –, die unzähligen informellen Beschäftigungen in Westeuropa nachgingen. Darunter fällt sowohl undokumentierte Arbeit auf dem Bau, in der Landwirtschaft, in der Gastronomie, in der Sexindustrie und in Privathaushalten als auch temporäre Beschäftigungen als ScheibenwischerInnen, StraßenverkäuferInnen und andere Formen des Kleinhandels.115In diesem Sinne ist auch kein großer Anstieg der Einwanderungszahlen festzustellen, sondern ge hauptsächlich aus Ex-Jugoslawien und den GUS-Staaten sowie Verwandte von ArbeitsmigrantInnen der sechziger und siebzihger Jahre aus Jugoslawien, das ein Anwerbeabkommen mit Deutschland hatte. 114 So sind die Szenarien von einer „neuen Völkerwanderung aus dem Osten“, die auch die Festungsmentalität der neueren EU-europäischen Migrationspolitik angetrieben hat, als „Angst vor der Normalität“ von Migration und Flucht in Europa zu verstehen (vgl. K. Bade 2002: 385). 115 In Großstädten und in der Grenzregion sind hierbei Formen des „Arbeitsstrichs“ und der spätmodernen „Tagelöhnerei“ entstanden, wobei MigrantInnen an spezifischen Straßenzügen in aller Früh darauf warten, dass ein Auto anhält und sie für einen Arbeitsauftrag anheuert (vgl. Jungle World 22. 12.1999).
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vielmehr eine „regelmäßig grenzüberschreitende Mobilität“. Saison- und Pendelwanderung, so viele ForscherInnen, stellen heute das Hauptcharakteristikum der Ost-Migration dar (vgl. A. Rogers 2001; M. Morokvasic 1994; F. Hillmann 1997; N. Cyrus 1997; S. Sassen 2000: 131; K. Bade 2000: 387). So lassen sich entgegen den nationalstaatlichen, supranationalen und EUeuropäischen „Abschottungsbemühungen“, die einen differenzierten europäischen Mehrfachgrenzraum installiert haben, wie ich ihn in den ersten Abschnitten skizziert habe, auf der Ebene von Migrationspraktiken vielfältige und multidirektionale cross-border-movements feststellen. Auch Alisdair Rogers (2001: 15) konstatiert, dass sich die Zielsetzungen der westeuropäischen migrationspolitischen Kontrollmaßnahmen, die auf den ersten Blick als „Abschottung“ eines „Intra-EUTransnationalismus“ gegenüber einem vor den Mauern gehaltenen „Extra-EUTransnationalismus“ interpretiert werden können, nicht erfüllten. In diesem Sinne werde ich mich im Folgenden zunächst auf eine Darstellung der Entwicklungen der Ost-West-Migration konzentrieren, um im letzten Kapitel ausgehend von den Migrationspraktiken der Au-pair-Frauen die Frage aufzugreifen, wie die EUeuropäischen migrationspolitischen Maßnahmen und die dennoch stattfindenden Migrationsbewegungen zusammengedacht werden können. In empirischen Migrationsforschungen wird häufig suggeriert, mobile und temporäre Praktiken der Ost-West-Migration seien gänzlich neue Phänomene, ohne historische Vorläufer. Doch ein Blick in die Geschichte Europas und Deutschlands zeigt, dass sie dies keineswegs sind. So durchquerten bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts und verstärkt im frühen 20. Jahrhundert Millionen von AuswandererInnen Westeuropa auf ihrem Weg nach Amerika. Mit der rasch voranschreitenden Industrialisierung im Westen setzte auch eine weiträumige Binnenmigration innerhalb Europas ein. Neben den frühen ArbeitsmigrantInnen in der Industrie, wobei die Gruppe der „Ruhrpolen“ einen relativen Bekanntheitsgrad erreicht hat, hat auch die beginnende Industrialisierung der Landwirtschaft die Nachfrage nach Saisonarbeitskräften steigen lassen. Anfangs des 20. Jahrhunderts, so schreibt Sasskia Sassen (2000: 70 ff.), „kamen jährlich 250.000 Männer, Frauen und Kinder aus dem damals russischen Mittelpolen und dem österreichischen Galizien“, die als „willig und billig“ galten: „Deutschland besaß also ein hochmobiles Potential ausländischer Arbeitskräfte, deren Wohnsitz und Arbeitserlaubnis streng kontrolliert wurden.“116 Für die folgende Phase über die zwei Weltkriege hinweg kann Mark Terkissidis (2000: 10 ff.) zeigen, wie flexibel der Rückkehrzwang von SaisonarbeiterInnen in „Zwangsarbeit“ umgewandelt wurde. So blieb auch die Zahl von „Ostarbeiterinnen“ bis 1945 relativ hoch, wobei der rassistisch-eliminatorische Charakter des nationalsozialistischen Zwangsarbeitssystems betont werden muss.117 Dass als Zwangsarbeiterinnen auch Tausende Frauen und Mädchen vornehmlich aus Polen 116 In diesem Zeitraum wurden auch erste Maßnahmen der Befristung und der „sonderrechtlichen“ Kontrolle von der preußischen Verwaltung eingeführt (vgl. S. Sassen 2000: 72). 117 Bereits im Ersten Weltkrieg wurde aus dem Gebot zur Rückkehr ein Verbot der Ausreise (vgl. U. Herbert 1986). Während des Zweiten Weltkriegs etablierten die Nationalsozialisten ein gigantisches System der sog. „Fremdarbeit“ von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen. 1944 arbeiteten fast acht Millionen Ausländer im Reich – in der Landwirtschaft war jeder zweite Beschäftigte kein Deutscher ( M. Terrkesidis 2000: 14).
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in den Haushalten eingesetzt wurden, ist nahezu gänzlich aus der öffentlichen Erinnerung verschwunden (vgl. A. Mendel 1994). 118 Doch auch nach 1945 und der baldigen Errichtung des „Eisernen Vorhangs“ riss die Migration in den Westen wie innerhalb der Ostblockstaaten nie vollkommen ab. Während jedoch die Menschen, die als Flüchtlinge aus den sozialistischen Staaten während des Kalten Krieges in den Westen kamen, im Rampenlicht standen, blieben andere Migrationspraktiken mit Ausnahme der Arbeitsmigration aus Jugoslawien weitgehend unerkannt. Neben dem offiziellen Anwerbevertrag mit Jugoslawien in den sechziger Jahren und dessen relativ offenen Grenzen, waren auch die Reisebestimmungen in Polen liberal, was viele für Westaufenthalte unterschiedlicher Dauer nutzten.119 Gehen, um zu bleiben Die veränderten Bedingungen in Ost- und Westeuropa nach dem Ende des Kalten Krieges haben neben der Politik der Vertreibung vor allem das Phänomen der Pendelmigration verstärkt. Während sie im öffentlichen Diskurs in Deutschland wenn überhaupt, dann unter dem Topos der Kriminalität oder Illegalität thematisiert wurde und als Migrationsphänomen lange Zeit verkannt blieb, kann Morovasic in ihren Studien zeigen, dass sich hinter der Gestalt des Pendelmigranten/der Pendelmigrantin eine „große, vielfältige Gruppe, mit äußerst flüssigen Konturen“ (1994: 167) verbirgt. Laut Marek Okólski (1994: 138), Ökonom an der Universität Warschau, sind damit Personen gemeint, „die – zumeist auf Touristen-Visa – systematisch und häufig zwischen östlichen und westlichen Ländern hin- und herreisen. Sie betreiben Handel mit im Osten knappen Konsumgütern oder sind illegal erwerbstätig – oder beides. Der besondere Anreiz liegt in den enormen Wechselkursdifferenzen zwischen harten und weichen Währungen.“ „Ihr gemeinsamer Nenner“, so fasst Morokvasic (1999: 167) zusammen, „ist die grenzüberschreitende Zirkulation zum Zwecke des Handels oder der Arbeit“. Die PendlerInnen, die sie während ihrer zweijährigen Forschung von 1991-92 in Deutschland und Polen antraf, kamen aus allen Altersgruppen und Schichten. Sie arbeiteten zu Hause als IngenieurInnen, ÄrztInnen, als VerkäuferInnen oder waren arbeitslose ElektrikerInnen oder LehrerInnen. Auch andere Studien bestätigen den hohen Prozentsatz von gut bis hoch 118 Parallel dazu gab es seit 1880 mehrere große Flüchtlingsströme, die durch die zwei Weltkriege und die damit einhergehende Neuaufteilung und Nationalstaatenbildungen in Europa noch einmal gesteigert wurden: 2,5 Millionen Juden flohen aus Osteuropa; der Zerfall des Osmanischen Reiches, der Donaumonarchie und des Zarenreiches machten Hunderttausende zu Flüchtlingen. Von den geschätzten sechzig Millionen Flüchtlingen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie jedoch bei weiten übertroffen (S. Sassen 2000: 93 f.). So zogen nach dem Zweiten Weltkrieg, laut Mark Terkissidis (2000: 16), acht Millionen „Fremdarbeiter“ fort, während die Bundesrepublik gleichzeitig etwa zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten aufnahm. Dieser großangelegte Bevölkerungsaustausch scheint die Erinnerung an die ZwangsarbeiterInnen sowie die vorausgegangenen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen im kollektiven Gedächtnis überschrieben zu haben. 119 Das Passgesetz von 1959 erlaubte jedem/jeder die Ausreise, der/die eine Einladung aus dem Ausland vorlegen konnte. Angesichts der großen polnischen Diaspora war dies, so Morokvasic, eine einfache Sache. Auch Reisen nach West-Berlin bis zu einem Monat waren ab den achtziger Jahren visafrei. So wurden in Polen bereits ein Jahr vor allgemeiner Reiseerlaubnis schon acht Millionen Auslandsreisen gezählt, darunter 1, 7 Millionen Westreisen (vgl. M. Morokvasic 1994: 170 ff.).
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qualifizierten MigrantInnen (vgl. auch O. Shamshur/ O. Malinovska 1994: 159). Viele mobile PendlerInnen sind Frauen, was die türkische Künstlerin und Forscherin Gülsun Karamustafa nicht nur auf die besonderen Marktkenntnisse und die Flexibilität von Frauen zurückführt, ihre Produktpalette schnell auf die neuesten Modeentwicklungen und die Nachfragen in ihren Herkunftsregionen abzustimmen. Auch komme Frauen hierbei die geschlechtsspezifische Zuschreibung zugute, welche sie weniger strikten Kontrollen an der Grenze oder an öffentlichen Plätzen aussetze als ihre männlichen Kollegen (vgl. G. Karamustafa 2001; C. Wichterich1998). Ein Raum, in denen diese handeltreibenden TouristInnen, auch „EinkaufstouristInnen“ genannt, in Deutschland öffentlich in Erscheinung traten, waren die Polenmärkte, die seit Ende der achtziger Jahre vor allem in Berlin und anderen grenznahen Städten die städtische Markt-Landschaft um Ost-Produkte erweiterten.120 Die Rückfahrt traten die HändlerInnen nicht ohne voll gepackte Taschen an, diesmal mit Produkten, die auf dem polnischen Markt entweder legal sehr teuer waren oder immer noch Mangelware darstellten. Diese Form des kleinen Handels wird auch als „Kofferökonomie“ bezeichnet, da so viele Waren geschmuggelt werden, wie in eine oder mehrere Taschen passen, die noch als Privatgepäck durch den Zoll gehen. Dabei profitiert dieser informalisierte Handel von der Existenz nationaler Grenzen und unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklungen (vgl. A. Öncü/ G. Karamustafa 1999). Ausdifferenzierte Händlerstrategien konnten in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch den An- und Verkauf von Waren über mehrere Länder hinweg Profite akkumulieren, die in den Herkunftsländern nur schwer zu erzielen waren, so dass sich auch zunehmend organisierte und mafiös arbeitende Gruppen an diesem Handel beteiligten und ihn mehr und mehr übernahmen. Daneben haben es auch einzelne Frauen, wie Christa Wichterich (1998) für russische Händlerinnen belegen kann, zu Kleinunternehmen gebracht, die inländische Märkte mit im Westen gekauften Waren beliefern und Geschäfte betreiben. In der Folge gaben vor allem die Entwicklung von Preis- und Lohnunterschieden sowie das Warenangebots und die Arbeitsmöglichkeiten den Ausschlag für die Wanderungsrichtungen der HändlerInnen. Während Anfang der neunziger Jahre der Handel vor allem zwischen angrenzenden ost- und westeuropäischen Ländern florierte, verschoben sich die Routen mit den zunehmenden Differenzen zwischen osteuropäischen Ländern im Zuge der verschiedenen eingeschlagenen Transformationswege auf den ost- und südosteuropäischen Raum.121 Mittlerweile erstrecken sich die Netzwerke der HändlerInnen quer durch Osteuropa bis weit in die Türkei und in südostasiatische Länder hinein. Dabei tragen sie an den diversen Knotenpunkten und Destinationen, wie die türkischen Forscherinnen Öncü und Kara120 Anfang der 90er kamen, so Morokvasic (1994), bis zu 100.000 Polen wöchentlich nach Berlin, um in Polen billig aufgekaufte Gegenstände wie Zigaretten, Alkohol, Kleidungsstücke, Pelzmänteln, Schmuck bis hin zu alten Uniformen zu verkaufen, was zwar illegal war, doch bis 1990 toleriert wurde. 121 Insbesondere für Bürgerinnen aus den ehemaligen Sowjet-Republiken, Rumänien und Bulgarien wurde er fortan attraktiv. So zeigen Oleg Shamshur und Olena Malinosvka (1994: 159) in ihrer Studie über die Entwicklungen der Migration aus der Ukraine, dass die größte Gruppe derer, die ins Ausland fahren wollten, für ihre immer noch zu beantragende Ausreisegenehmigung „persönliche Gründe“ angaben. Ihre Hauptreiseziele waren Polen, Rumänien, Tschechien, Jugoslawien und die Türkei. Unter dem Vorwand „persönlicher Gründe“ überquerten sie als „kommerzielle TouristInnen“ die Grenze in die Länder, wo Waren billig zu haben und die Kursbewegungen auf dem Devisenmarkt günstig seien.
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mustafa für die Westtürkei zeigen können, im erheblichen Maße zur Globalisierung der lokalen Märkte bei, insofern sie dort eine auf ihre Nachfrage ausgerichtete Warenproduktion und Verkaufsinfrastruktur entwickelt hat (vgl. A. Öncü/ G. Karamustafa 1999). Diese mobilen Handels- und Arbeitsstrategien sind jedoch keine neue Erfindung der Post-1989-Phase, sondern stellten bereits während des Kalten Krieges eine bekannte und weitverbreitete Praxis dar, mit der der „Eisernen Vorhang“ unterlaufen wurde, wie die interregionale Forschung über Einkaufstourismus der ungarischen Soziologin Anne Wessely zeigt (1999). Insbesondere für Jugoslawien und Polen waren wandernde HändlerInnen und pendelnde ArbeiterInnen AkteurInnen, denen eine wichtige kompensatorische Funktion in den „Knappheitsökonomien“ der realexistierenden sozialistischen Gesellschaften zukam. 122 So haben Ana Barbic und Inga Miklavcic-Brezigar (1999) die Spuren von Frauen aus dem ländlichen Slowenien, die tage- oder wochenweise als Hausarbeiterinnen nach Italien aufbrachen, von vor dem Zweiten Weltkrieg aufnehmen bis über die sozialistische Ära hinaus verfolgt. Ähnliche Geschichten verbinden auch andere osteuropäische Anrainerstaaten mit ihren reicheren Nachbarn im Westen. Die EinkaufstouristInnen und pendelnden ArbeiterInnen aus der Zeit des Kalten Krieges knüpften ein weit verzweigtes Migrationsnetz innerhalb des Ostblocks, das heute trotz aller migrationsverhindernden Maßnahmen verstärkt weiter praktiziert wird. Die Entwicklung der Pendelmigration zur bestimmenden Migrationsform nach dem Ende des Ost-West-Konflikts führen ForscherInnen auf eine Vielzahl von Faktoren und individuellen Begründungsmustern zurück. So erleichtert nicht nur die Nähe von Herkunfts- und Zielland diese Art der mobilen und temporären Migration. Auch die mit dem Ende des Kalten Krieges historisch neue Möglichkeit, selbst über die Dauer der Abwesenheit entscheiden zu können, führe zu dieser Art der Migration – einer Migration, die nicht gleichzusetzen ist mit Auswanderung. Denn, so Morokvasic (1993: 246): „It does not – as before – exclude return.“ In ihren Fallstudien kann sie zeigen, dass trotz der mit der Illegalisierung verbundenen Risiken und der schlechten Lebensverhältnisse für MigrantInnen ohne Papiere in Deutschland die Praxis des Pendelns und des temporären Aufenthalts eher den Lebensentwürfen der Menschen entspricht als dauerhaft auszuwandern. Hiermit ließe sich die sozioökonomische Situation zu Hause verbessern, ohne für lange Zeit wegziehen und die sozialen Bezüge aufgeben zu müssen. Vielmehr sei es heute umgekehrt, man breche angesichts der sozioökonomischen Verschlechterungen zwar auf, doch um zu Hause im gewohnten sozialen Kontext bleiben zu können und diesen aufrecht erhalten zu können (vgl. dies. 1994:176 ff.). Dies entspreche auch einer realistischen Einschätzung der MigrantInnen, dass dauerhaftes Überleben in Westeuropa für sie äußerst schwierig ist. In dieser Hinsicht stellt die Pendelmigration eine Strategie dar, sich den bekannten Deklassierungen und Diskriminierungen im Immigrationskontext teilweise zu entziehen und gleichzeitig eine Verbesserung des Lebensstandards zu Hause zu erreichen (vgl. dies. 1993: 248). 122 So wurde 1987 die Flugverbindung Belgrad-Peking eröffnet, welche nach Beschreibungen von Morokvasic (1994: 171) so viele jugoslawische TouristInnen nach China führte, dass die Summe ihrer Ausgaben in China im Jahr 1990 der Größenordnung des offiziellen Wirtschaftshandels beider Länder entsprach.
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In der Arbeit „Schmugglerzug in den Westen“ zeichnet die Ethnologin Malgorzata Irek ein dichtes Bild der PendlerInnen-Gemeinschaft, die sie zwei Jahre lang zwischen Berlin und polnischen Städten vor allem in den Pendlerzügen teilnehmend beobachtete. Hier lernte sie Frauen kennen, die im regelmäßigen Turnus für drei Monate legal als Touristin einreisten, um undokumentiert in Haushalten zu arbeiten oder/ und als Touristin ihr „Gepäck“ in Berlin verkauften. Häufig kombinierten Frauen geschickt die verschiedenen Möglichkeiten und nicht wenige prostituierten sich, um ihr Startkapital zusammen zu bekommen (vgl. auch G. Karamustafa 2001). Dabei konnten die Post-1989-Migrantinnen auf die etablierten Netzwerke der langjährigen polnischen Migration nach Deutschland aufbauen, die je nach Migrationszyklus ihre eigenen Hierarchien herausgebildet haben. So konnten die Neuankommenden zwar mit Hilfe rechnen, doch hatten sie für Adressen von „guten“ Arbeitsstellen, für Wohnungsvermittlungen oder für Informationen über Verhaltensregeln und Infrastruktur zu zahlen. Andererseits konnte Irek auch kollektive Strategien der „Putzfrauengesellschaft“ verfolgen, die die Frauen auf der Basis der Netzwerkstrukturen entwickelten, um ein Maß an Autonomie von den ArbeitgeberInnen zu erringen. So strebten die meisten Frauen, die Irek antraf, danach, als „selbstständige Unternehmerinnen“ möglichst mehrere Arbeitsstellen gleichzeitig zu haben, was bei manchen dazu führte, dass sie den ganzen Tag unterwegs waren. Ebenso taten sich Frauen zu JobSharing-Gemeinschaften zusammen, wobei sich eine Gruppe mehrere Arbeitsplätze teilte. Dies ermöglichte es ihnen, eigene Arbeitsstrukturen zu entwickeln und sich im Sinne eines Rotationssystems bei den ArbeitgeberInnen abzuwechseln, wenn die Dreimonatsfrist des Touristenvisums auslief. Somit ließen sich Familie und sonstige Geschäfte in Polen mit der temporären Arbeit in Deutschland vereinbaren. Mit dem Putzfrauenlohn von damals acht bis fünfzehn Mark pro Stunde konnten es sich manche Frauen auch leisten, in speziell für PendlerInnen angebotenen Wochenendkursen in Polen zu studieren oder sich ein Geschäft aufzubauen (vgl. M. Irek 1998; M. Rerrich 2002b). Auf ihren Fahrten in den Pendlerzügen bekam Irek auch Geschichten von jungen Frauen zu hören, die zunächst als Au-pair angefangen hatten. Dabei stellte sich heraus, dass Au-pair unter den polnischen Pendel-Arbeiterinnen äußerst schlecht angesehen war und nur von jenen nachgefragt wurde, die noch keinen Zugang zu den Netzwerken hatten. Als in der Familie mitwohnendes Arbeitsverhältnis hatte Au-pair den Ruf, „Sklavenarbeit“ rund um die Uhr in den Haushalten der „Gastfamilien“ zu sein. Sobald die Frauen Zugang zu den Netzwerken der „Freischaffenden“ bekamen, die an drei Tagen so viel verdienten wie ein Au-pair in einem ganzen Monat, quittierten dann viele ihre Au-Pair-Stelle (vgl. M. Irek 1998: 64/ 100 f.). Wie Irek am Beispiel der fließenden Übergänge zwischen Au-pair- und Pendelmigration in die Hausarbeit feststellen konnte, fügt sich die Nutzungsweise von Au-pair in einen Praxiszusammenhang ein, der für die Post-Wende-Migration charakteristisch zu sein scheint: temporär, flexibel in Orts- und Arbeitsplatzwahl und mobil wie die wandernden Händlerinnen und Arbeiterinnen nutzen die jungen Frauen die legale Einreise- und Arbeitsmöglichkeit des Au-pairs, um sich anschließend in die
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Gruppe der TouristenmigrantInnen einzureihen und weiter in den Haushalten zu arbeiten – verkleidet in der Halblegalität des TouristInnenstatus’. Manche praktizieren dies, weil sie für sich keine Alternativen – weder in der Slowakei noch in Deutschland – sehen. Andere, wie Nadja, nutzen das touristische Pendelarbeiten selbstbewusst, solange sie daraus mehr Vorteile als Nachteile zu ziehen glauben. Auch reisen sie, wie bereits von slowakischen Agenturmitarbeiterinnen angedeutet, in andere europäische Länder, wenn sie von einer besser bezahlten Stelle in Italien oder der Schweiz erfahren. Sicherlich versuchten einige, wie beschrieben, ihren Aufenthalt in Deutschland zu verstetigen, doch bedeutet auch dies nicht ein Ende des Pendelns zwischen der Familie in der Ukraine bzw. der Slowakei und Deutschland. Mit ihren transnational ausgreifenden Praktiken haben die osteuropäischen MigrantInnen ein weitschweifiges Netz über Europa gesponnen und durchschreiten einen transeuropäischen Raum, der quer zu den beschrieben hegemonialen EU„Europa“-Strategien liegt. Sie unterwandern die Festung Europa und tragen an Knotenpunkten der Migration zur „Osteuropäisierung“ von Straßen und Plätzen, Ökonomien und Kulturangeboten bei, wie es Uwe Rada (2002) für Berlin beschreibt. Sie bilden einen transnationalen Interaktionszusammenhang, wie ihn Pries als transnationalen sozialen Raum fasst, in dem nicht nur Menschen zirkulieren, sondern auch Informationen, Images, Ideen und Produkte, von denen ich so manche in slowakischen Wohnzimmern entdecken konnte. Alisdair Rogers Frage, ob es einen europäischen Raum für Transnationalismen gibt, ist in dieser Hinsicht eindeutig mit ja zu beantworten. Allerdings hat die Transnationalisierung ihren Preis. Sie ist, wie wir bereits in vorausgehenden Abschnitten sahen, mit spezifischen höchst vergeschlechteten Konditionen der Einreise und des Aufenthalts verbunden. Dabei macht Ruba Salih (2000: 77) in ihrer Forschung über marokkanische Transmigrantinnen deutlich, dass die „Leistungen“ der Migrationspolitik eben nicht nur darin bestehen, hierarchische soziale, rechtliche und ökonomische Bedingungen festzulegen, sondern auch „kulturelle Rollen“ in der Aufnahmegesellschaft zu strukturieren. So konfrontieren die infolge der Halblegalität des Touristenstatus’ offenen Arbeitssektoren wie Hausarbeit Migrantinnen mit der Nachfrage nach einem spezifischen Arbeitsvermögen sowie entsprechenden Rollenzuschreibungen und Köperpraktiken. Vor diesem Hintergrund werde ich im nächsten Kapitel der Frage nachgehen, mit welchen Subjektivierungsprozessen die Au-pair-Migration in den konkreten Alltagssituationen und Interaktionszusammenhängen verbunden ist. Hierfür werde ich die Arbeits- und Lebensverhältnisse beschreiben, wobei ich ein besonderes Augenmerk auf die intrageschlechtliche Beziehung zwischen deutscher Arbeitgeberin und slowakischer Aupair richten werde. Durch diesen sozial-mehrseitigen Forschungsansatz möchte ich die in der transnationalen wie auch in der Frauenmigrationsforschung übliche einseitige Fokussierung auf die „Anderen“, die MigrantInnen vermeiden. Der transnationale Raum hat mindestens zwei Seiten.
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4. Am Arbeitsplatz „Privathaushalt“
„ Die Väter der Mittelstandsfamilien sind selten zuhause. Sie gehen früh und kommen spät. Ihre Frauen sind freundlich, sie fragen: „Möchtest du Tee, möchtest du Kaffee?, während ich schon das zweite oder dritte Hemd ihrer Mittelstandsmänner über das Bügelbrett ziehe. Manchmal höre ich Musik, und immer gehe ich mit leisen Sohlen über ihr helles Parket, während die Frauen seufzend in den Polstergarnituren sitzen. Sie sind freundlich, doch wir sind keine Freunde. Freunde bezahlt man nicht. Die Frauen verstehen zu rechnen.“ (Riedel 2002)
4.1. Leben und Arbeiten in einer Familie „Ich habe eine Familie geheiratet“ Es schneite und ich musste auf die Straßenbahn warten, die mich im Winter 2000 in eine der vornehmen Vorortsiedlungen bringen sollte, die die süddeutschen Ballungsgebiete umgeben. Hier, in einem der großen Einfamilienhäuser arbeitete Anna seit vier Monaten bei Familie Wagner. Seit ich sie das erste Mal in der Slowakei getroffen hatte, war ein halbes Jahr vergangen. Damals saß Anna noch, nur wenige Worte deutsch sprechend, in ihrem heimatlichen Wohnzimmer und erzählte mir von ihrem großen Plan, als Au-pair nach Deutschland zu gehen, um die Sprache zu lernen, Geld zu verdienen und die Welt zu sehen. Vor allem aufgrund ihrer geringen Deutschkenntnisse flößte mir ihr Wille, ein Jahr lang bei einer deutschen Familie zu wohnen und zu arbeiten, großen Respekt ein und gleichzeitig beschlichen mich Zweifel, wie dies funktionieren könne. Als ich sie vor zwei Monaten in Deutschland das erste Mal wieder sah, war ich über ihre Fortschritte sehr überrascht. Die ersten Wochen, erzählte sie mir während des vierstündigen Gesprächs, waren sehr „hart“. Doch mittlerweile habe sie sich „eingewöhnt“ und mit der vierköpfigen Familien ginge es ihr sehr gut. Zunächst hatte sie großes Heimweh gehabt, was nicht nur daran lag, dass alles neu, die Familiensituation unbekannt war und sie noch keine Freundinnen hatte. Vor allem ihre mangelnden Deutschkenntnisse hätten es allen Beteiligten sehr schwer gemacht. Die Familie hatte sich bei der Agentur über ihre Entsendung beschwert und wollte sie nach zwei Wochen eigentlich wieder zurückschicken. Die Agentur habe jedoch darauf hingewirkt, Anna noch eine Chance zu geben und es einige Wochen länger zu versuchen. Das machte die Familie dann auch. Anna war sehr dankbar, dass sich die Familie so viel Mühe gegeben hatte, ihr zu helfen und die Sprache zu lernen: „Ich habe Glück mit der Familie“, wiederholte sie während unseres ersten Treffens in Deutschland immer wieder. Vor allem wenn sie ihre Lebens- und Arbeitssituation in der Familie mit der ihrer Schwester verglich, die als Au-pair zeitgleich in England war, schätzte sie sich mit den Wagners glücklich.
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Ihre Arbeitsaufgabe bestand vor allem darin, sich um die sechsjährige Tochter zu kümmern. Der fünfzehnjährige Sohn brauchte keine Betreuung mehr. „Ich habe nur die Kinder“, meinte sie. Das Arbeitsprogramm, das sie mir hierauf schilderte, umfasste jedoch den ganzen Tag und enthielt neben der Kinderbetreuung auch andere Haushaltsaufgaben. So müsse sie um sieben Uhr aufstehen und das Frühstück für die Familie vorbereiten. Danach ziehe sie die Tochter an und bringe sie zur Schule. Wenn die Kinder in der Schule seien, räume sie die Wohnung auf oder bügele die Wäsche. Mittags war sie aufgefordert, Frau Wagner beim Kochen zu helfen. Der Nachmittag war ganz der Tochter gewidmet: Hausaufgaben betreuen, mit ihr spielen oder sie zu ihren Freizeitaktivitäten bringen. Abends brachte sie die Tochter ins Bett und musste, wenn die Eltern weg gingen, auch babysitten. Da ihre Gastmutter als Freiberuflerin ihren Arbeitsplatz im Haus hatte, war sie tagsüber nicht allein mit den Kindern. So könne ihr Frau Wagner auch immer sagen, wie sie die Arbeiten zu erledigen habe, was Anna sichtlich störte: „Ich muss es so machen, wie sie es immer macht, auch wenn ich zum gleichen Ergebnis komme, nur anders.“ Diese Haltung kritisierte sie als „konservativ“. Andererseits war sie aber auch stark davon beeindruckt, wie ihre Gastmutter Arbeit, Haushalt und Kinder gut zu organisieren vermochte. Letztlich schätzte Anna die Bindung zur Familie, vor allem zur Gastmutter, sehr: „Wir sind viel gemeinsam im Haus. Ich bin richtig in der Familie.“ Den Familienvater sah sie nur am Wochenende, da er in einem anderen Ort arbeitete. Es schien, als würden es sich die zwei Frauen mit den Kindern gut gehen lassen: „Wir gehen oft essen und da nimmt mich Frau Wagner mit. Letzte Woche hat sie mir auch einen Pullover geschenkt.“ Auch zu ihrem Deutschkurs, den Anna seit einigen Wochen machte, zahlte ihr Frau Wagner was dazu. Seitdem sie mit dem Kurs angefangen habe, ginge es ihr generell besser, da sie nun nicht mehr „alleine“ sei. Für die Wochenenden kenne sie nun Frauen, mit denen sie zusammen was unternehmen könne. Anna zeigte sich erstaunt, dass vor allem Frauen aus osteuropäischen Ländern den Deutschkurs – ein spezieller Kurs für Au-pairs – besuchten. Die zwei weiteren Kursteilnehmerinnen aus der Slowakei nannte sie mittlerweile ihre Freundinnen. Derartig gut integriert in die Familie und zufrieden über ihre ersten Freundschaften, war es für Anna dann auch sichtlich kein Problem, als ich sie fragte, ob ich sie in ihrem temporären Zuhause besuchen dürfe. Nur in Bezug auf den Termin, müsse sie noch mit Frau Wagner Rücksprache halten. Denn ihre Gastmutter wolle, dass sie ihre Termine eine Woche im Voraus mit ihr abspreche. Ein ganz normales Aupair-Verhältnis? Vor dem Hintergrund dieses Gesprächs war ich dann sehr gespannt, was mich an ihrem Wohn- und Arbeitsplatz erwarten würde. Anna und Frau Wagner öffneten mir die Türe und baten mich, im Esszimmer Platz zu nehmen, wo Anna noch ihr Mittagessen zu sich nahm. Das Telefon klingelte und Frau Wagner entschuldigte sich, dass sie nicht viel Zeit habe, doch wenn wir später Kaffeetrinken wollten, käme sie dazu. Ihr kurzer Auftritt in einem schwarzen Kostüm und hohen Stiefeln bestätigte Annas Erzählungen von Frau Wagner als energischer, betriebsamer Frau, die in ihren vier Wänden das Zepter in der Hand hatte. Das Esszimmer ging in ein großes, helles Wohnzimmer über, einige moderne Gemälde an der Wand, Vasenund weitere Schmuckgegenstände auf dem blank polierten Parkettboden, daran schloss sich Frau Wagners Arbeitszimmer an. Die „Kleine“ hatte Anna gerade zu einer
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Freundin gebracht, so dass sie zwei Stunden Zeit hatte, sich mit mir zu unterhalten. Nur der Sohn kam immer mal wieder vorbei auf dem Weg zu seiner Mutter, um mit ihr die Fahrt zu seinem Tennisunterricht abzuklären. Ich war sehr neugierig, wo Anna ihre Privatsphäre leben konnte und bat sie, mir ihr Zimmer zu zeigen. Wir gingen in den Keller des zweistöckigen Hauses – ein gängiger Ort für Au-pair Zimmer –, wo sie den ehemaligen kleinen Solariumraum ihr Eigen nennen durfte. Ihr Bett war die Solariumliege. Neben ihrem Zimmerchen stand die Tür zur Waschküche und Bügelstube offen, wo sich die Kleider türmten. Wie praktisch, meinte ich zu ihr und erkundigte mich, ob sie auch die Wäsche machen müsse: „Ja, das ist mein Arbeitszimmer“, entgegnete sie schmunzelnd. In ihrem Zimmer halte sie sich jedoch nicht so häufig auf, es sei so klein und dunkel. So gingen wir spazieren und tranken anschließend Kaffee mit ihrer Gastmutter. Auch der Sohn kam kurz dazu, witzelte mit Anna und wollte schon verschwinden, als Frau Wagner ihn dazu aufforderte, den Tisch abzudecken. Sie selbst bestritt das Tischgespräch, Anna dagegen schwieg. Unterbrochen von geschäftlichen Telefonaten erzählte sie mir und Anna ihre Arbeitsbiografie und -philosophie von „Leistung“ und „Erfolg“. Herzlich von beiden verabschiedet ging ich mit gemischten Gefühlen. Einerseits konnte ich Annas Deutung, mit der Familie Glück gehabt zu haben, nun sehr gut nachvollziehen: Wie im klassischen Au-pair-Bild schien sie in der Familie integriert zu sein und wenn auch nicht gleichwertig wie die leiblichen Kinder doch als weiteres Mitglied behandelt zu werden. Alle anderen fünf Au-pairs, die ich über die Dauer ihres Aufenthalts begleitete, konnten nicht annährend über eine derartige Integration in die Familie und ein so freundschaftliches Verhältnis zur Gastmutter berichten. Dabei wünschten es sich alle. Jirina hatte das andere Extrem getroffen. Sie war in einer Pfarrersfamilie mit drei älteren Kindern angestellt, die keine Betreuung mehr brauchten. So war sie rein für Haushaltsarbeiten und das Mittagessen zuständig, was klare Arbeitszeiten von morgens bis Mittags bedeutete. Dann hatte sie frei, war aber auch aus der Familie freigesetzt und sich selbst überlassen. Schon bei unserem ersten Treffen stellte Jirina bedauernd fest: „Ich bin kein richtiges Au-pair, ich bin ein Dienstmädchen im Haushalt.“ Und leicht ironisch fügte sie an: „Ich habe auf einen Schlag fünf Leute geheiratet, jetzt weiß ich, wie es ist, eine Familie zu haben.“ Die Arbeits- und Beziehungsverhältnisse der anderen vier Au-pair-Frauen, deren Aufenthalt ich mitverfolgen konnte, bewegten sich dazwischen. Im Gegensatz zu Jirina schien Anna nicht die Rolle einer „Haushaltshilfe“ für die Familie inne zu haben, zumindest sorgte Frau Wagner während meiner Anwesenheit dafür, dass ihr Sohn sich an kleinen Haushaltsarbeiten beteiligte. Doch andererseits schien mir gerade in dieser Familienintegration und liebenswürdigen Dominanz der Gastmutter, die dem klassischen Au-pair Bild entsprach, reichlich Konfliktstoff enthalten zu sein. Vor diesem Hintergrund werde ich in den folgenden Abschnitten die Entwicklungen der Arbeits- und Beziehungsverhältnisse zwischen Au-pair und Gastmutter nachzeichnen, wobei ich zunächst den Schwerpunkt auf die Veränderungen in den Deutungen und Selbstpositionierungen der Au-pair-Frauen legen werde. Hierbei wird zum einen offensichtlich, dass die Arbeitssituation mit der Dauer des Aufent-
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haltes zu einem immer bestimmenderen Topos in den Zustandsbeschreibungen der Au-pairs wird. Zum anderen kommt den langsam sich entwickelnden Freundeskreisen und Au-pair-Netzwerken eine wachsende Bedeutung zu, die nicht nur das Handeln der Au-pairs in den Familien mitstrukturiert. Auch für die Überlegungen und Strategien der Au-pairs, was sie nach Ablauf des Jahres machen wollen, sind die Netzwerkkontakte und die Handlungsmöglichkeiten außerhalb der Familie entscheidend, worauf ich im letzten Kapitel eingehen werde. Nachdem es sich bei Au-pair um ein weitgehend unreguliertes, informelles und privatisiertes Arbeitsverhältnis handelt, ist es den jeweiligen ArbeitgeberInnen überlassen, wie sie dies gestalten. Dies führt dann auch dazu, dass die individuellen Arbeits-Arrangements der Familien eine große Bandbreite umfassen und dem Arbeitseinsatz der Au-pairs keine Grenzen gesetzt sind. Auch wenn der Au-pairAnstellung ein Regelwerk (siehe drittes Kapitel) zugrunde liegt, das dreißig Wochenstunden, fünf Arbeitsstunden pro Tag und maximal zwei Abendtermine vorschreibt, klagten viele Au-pairs, die ich im Lauf meiner Forschung sprach, über längere Arbeitstage. Hinzu kommt, dass das Regelwerk hinsichtlich der Definition der zu verrichtenden „leichten“ Hausarbeiten und des als „Mithilfe“ beschriebenen Arbeitseinsatzes zusätzlich zur Kinderbetreuung auch nur gering formalisiert ist. So hatten einige Au-pairs, wie Jirina, klar zugewiesene und abgrenzbare Arbeitsbereiche, während andere für die Kleinkindbetreuung und die gesamte tägliche Haushaltsführung zuständig waren. Andere wurden zu zusätzlichen Arbeiten im Garten, der Landwirtschaft oder dem eigenen Gastronomiebetrieb hinzugezogen. Auch sind mir Fälle bekannt geworden, wo der einen Au-pair zur Entlastung noch eine weitere an die Seite gestellt wurde, da die Eltern ganztags oft bis in den Abend hinein ihren Berufen nachgingen. Dies verweist auf den engen Zusammenhang von Arbeitssituationen, in denen sich die Au-pairs wiederfinden, und Arbeits- und Lebensstilen der oftmals in akademischen Berufen tätigen Gasteltern. Daher werde ich in einem weiteren Schritt die Beschreibungen der Au-pairs mit den Arbeits- und Lebensverhältnissen und Aussagen der deutschen Frauen kontrastieren, die zu ihrem wesentlichen Gegenüber wurden. Diese ethnografische Forschungsperspektive auf die Interaktionen zwischen Arbeitgeberfamilien und Arbeitnehmerinnen stellt eine wichtige Ergänzung der bisherigen Forschung zu bezahlter Hausarbeit dar, die sich meist nur einer Seite des Arbeitsverhältnisses widmet. Die Gegenüberstellung beider Seiten macht dann auch deutlich, dass ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt des Beziehungsverhältnisses die Auseinandersetzungen um die innergeschlechtliche Arbeitsteilung zwischen Au-pair und Gastmutter und die Bewertung von Hausarbeit respektive Erwerbsarbeit darstellen. Bevor ich jedoch in die einzelnen Aufenthaltsverläufe einsteige, möchte ich diese Forschungsphase im Rahmen meiner mobilen ethnografischen Feldforschung charakterisieren. Sozial mobile Forschung oder eintauchen ins Interaktionsfeld „Familie“ Auf dem Weg zu Annas Wohn- und Arbeitsplatz, dem ersten Besuch bei einer Aupair zu Hause, war es mir nicht wohl in meiner Haut. Zum einen beschlich mich das Gefühl kultureller Distanz in Bezug auf die imaginierten Wohn- und Lebensver-
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hältnisse der gut situierten Mittelschichtsfamilien, die sich eine Au-pair leisten konnten. Alle Gastfamilien, die ich kennen lernte, waren Doppel-Verdiener-Haushalte mit einem Eigenheim und hatten zwischen einem und drei Kindern (vgl. S. Odierna 2000 zum Sozialprofil der Arbeitgeberfamilien).123 Dabei hatte sich bei mir aus den Erzählungen der Au-pairs über ihre Gastfamilien das ambivalente Bild verfestigt, dass aufgrund der Erwerbsarbeits-intensiven Alltage der Gasteltern zwar ihre zeitlichen Ressourcen für Kinder und Haushalt limitiert waren, jedoch die finanziellen Ressourcen durch die meist anzutreffende doppelte Berufstätigkeit gesichert schienen und einen luxuriösen Lebensstil ermöglichten. Die Rückgewinnung von Zeit durch die partielle Delegation von Versorgungsarbeiten an Au-pairs war dann auch das Begründungsmuster, was ich von allen deutschen Frauen als erstes zu hören bekam (vgl. S. Odierna 2000: 118). Den Eindruck finanzieller Freizügigkeit und luxuriösem Lebensstil einerseits und Zeitknappheit andererseits hatte mir auch Anna hinsichtlich ihrer Gastfamilie wiederholt vermittelt, die mit ihr zum 14. Mal ein Au-pair angestellt hatte. In diesem Sinne bedeutete diese Phase meiner begleitenden Forschung, in der ich die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Au-pairs als Interaktionsverhältnisse zwischen ihnen und ihren Gastfamilien über die Dauer des Aufenthaltes nachvollziehen wollte, auch in gewissem Maße „studying up“ (L. Nader 1969). Als berufstätige Akademikerin waren mir die Berufsbiografien der „Gastmütter“ zwar vertraut, doch fühlte ich mich in Bezug auf Alter und Etabliertheit der Kleinfamilien sozial und kulturell (noch) weit von ihnen entfernt. Zum anderen implizierte diese neue Phase der teilnehmenden Beobachtung in den Familien nach der geografisch mobilen Forschung zwischen der Slowakei und Deutschland nun auch forschende Mehrortigkeit in sozialer Hinsicht zwischen den slowakischen Au-pair-Arbeiterinnen und den deutschen arbeitgebenden Familien. Ich hatte mittlerweile alle Au-pair-Frauen, mit denen ich bereits in der Slowakei gesprochen hatte, ein bis zwei Mal in Deutschland getroffen und mehrmals mit ihnen telefoniert, was ein gewisses Vertrauensverhältnis entstehen ließ. Im weiteren Verlauf versuchte ich die Au-pair-Frauen alle zwei Monate zu treffen. Das Aufnahmegerät legte ich dann auch beiseite, da ich das distanziert sachliche Niveau, welches mit dem technischen Gerät einherging, nicht mehr dem Stand der Kontakte für angemessen hielt. Vielmehr versuchte ich, mich in meinen Erinnerungsleistungen zu trainieren und einprägsame Zitate während des Gesprächsverlaufs schriftlich festzuhalten.124 Parallel zu der Begleitung der sechs Au-pairs, besuchte ich mehrmals den Au-pair-Treff der evangelischen nicht-kommerziellen Agentur, wo ich immer wieder von neuen Geschichten und Zwischenfällen durch die anwesenden Au-pairs und Agentur-Mitarbeiterinnen erfuhr und mir ein Bild über das Networking der Au-pairs machen konnte. Ferner machte ich zwei Gruppendiskussionen mit vier und fünf Au-pairs über ihre Aufenthaltsverläufe, die in meine weiteren Ausführungen einfließen werden.
123 Nachdem das Au-pair-Regelwerk vorschreibt, dass Au-pairs nicht länger als fünf Stunden in den Haushalten der Gastfamilien allein sein sollten, waren Alleinerziehende bei voller Berufstätigkeit als Gastfamilien offiziell ausgeschlossen, was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht auch Au-pairs beschäftigen. 124 Die Technik des Protokollierens hatte jedoch zur Folge, dass meine Aufnahmekapazitäten nach zwei Stunden intensivem Zuhören erloschen waren und ich die Gespräche meistens beenden musste.
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Für die Gruppe begleiteter Frauen war ich zu Beginn ihres Aufenthaltes die einzige deutsche Ansprechperson außerhalb ihrer Gastfamilien, die sich dezidiert für sie interessierte und sie zudem noch aus ihren familiären, slowakischen Kontexten kannte. In dieser Hinsicht schienen sie zum einen mit der Zeit mein beruflichforschendes Anliegen zu vergessen. Zum anderen wurde ich von ihnen als auf ihrer „Seite stehend“ antizipiert. Ich war dies sicherlich auch, imprägniert durch ihre Geschichten über ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse in den deutschen Familien. Nun befürchtete ich, dass ich durch mein Interesse, sie an ihrem Wohn- und Arbeitsplatz „Familie“ aufzusuchen und auch mit den Gastfamilien zu reden, meinen Vertrauensbonus verlor und für sie nicht mehr eindeutig positioniert erfahrbar blieb. In umgekehrter Weise galt dies auch für die Gasteltern, die mich als einseitig durch ihre Au-pairs vorinformiert wahrnehmen mussten. Zudem ist eine ethnografische Erforschung der Beziehungsverhältnisse am Arbeitsplatz „Familie“ mit den immanenten Logiken der Privatsphäre konfrontiert, welche als harmonischer Ort und abgeschlossene Gegenwelt zur öffentlichen Sphäre kulturell aufgeladen ist und hierzulande auch räumlich verborgen hinter Mauern und Vorhängen inszeniert wird. So fühlte ich mich immer wieder als Eindringling. Doch erstaunlicherweise zeigten sich beide Parteien kompetent und selbstbewusst im Umgang mit meiner Doppelperspektive. So ließen mich Magdalena und Tanya nicht bis in ihren temporären privaten Wohn- und Arbeitsplatz vordringen, sondern fingen mich sozusagen schon vorher in der öffentlichen Sphäre von Kneipen und Plätzen ab. Magdalena begründete es mit den Verbindungen des öffentlichen Nahverkehrs in das Dorf ihrer Gastfamilie, die so schlecht seien, dass ich nur schwer wieder zurück käme. Allerdings war ihr Verhältnis zur Familie von Anfang an angespannt, dass sie auch jede Situation zu nutzen schien, das Haus zu verlassen. Tanya verschob den Besuchstermin immer wieder, bis ich das Signal verstand und mich fortan mit ihr nur noch im öffentlichen Raum traf. Auch ihre Gastmütter verweigerten mir ein Interview, wobei Magdalenas Arbeitgeberin mich explizit auslud, da sie zu starke Konflikte mit ihr habe. Tanyas Gastmutter kündigte mir wie ihr Aupair aus zeitlichen Gründen, wie sie meinte, die ausgemachten Treffen immer wieder auf. Auch wenn Tanyas Gastmutter als Inhaberin eines Ladens sicherlich viel zu tun hatte, schienen beide Seiten verhindern zu wollen, dass ich in den Nahbereich ihres Lebens- und Arbeitsverhältnisses eintrat. So bekam ich forschenden Zugang nur zu vier Au-pair-Familien, die für sich reklamierten, dass sie keine großen Konflikte hatten bzw. die ihre Konflikte offen aussprechen und begründen wollten. Die vier interviewten Gastmütter schienen dann auch ein Eigeninteresse daran zu haben, ihren Schritt, ein Au-pair anzustellen, einer fremden, doch interessierten Person gegenüber begründen zu können – ein Akt, zu dem sie sich wohl immer wieder angesichts des hegemonialen Bildes von der „liebenden und aufopfernden Mutter“ genötigt sahen, wenn ihre Anstellung einer Aupair mit entrüsteten Blicken von Kindergärtnerinnen oder Großeltern quittiert wurde. Dabei war meine eigene Berufstätigkeit sicherlich dazu angetan, bei den Interviewten das Gefühl zu evozieren, dass sie mit mir eine frauen-bündische Situation aufbauen könnten. In der Folge entwickelte sich meine Erforschung der Interaktionen und Beziehungsverhältnisse in den Au-pair-Familien in eine Konfliktforschung, die beide Seiten auch zur Legitimation ihrer Positionen und Handlungsweisen nutzten.
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4.2. Nähe und Distanzen Mitglied und/oder Dienerin? „Ich denke nicht, dass es ein Beruf ist, wo ich jetzt die Dienerin der Familie sein soll, sondern ein Mitglied, zwar schon in Grenzen, aber ein Mitglied.“ Mit diesen Worten beschrieb Jirina während unseres Interviews in der Slowakei, was sie von ihrer zukünftigen Au-pair Stelle erwartete. Auch die anderen Frauen, die ich in der Slowakei sprechen konnte, kannten alle negative Beispiele von Rückkehrerinnen. So machte hier bereits die Rede vom „Dienstmädchen“ und der „Dienerin“ die Runde. Doch aufgrund ihrer Vermittlung durch eine kirchliche Agentur hofften sie, in „gute Familien“ zu kommen, die ihnen die Möglichkeiten bieten würden, ihre Ziele zu realisieren. Die meisten hatten jedoch, wie im zweiten Kapitel beschrieben, nur sehr vage Vorstellungen davon, was sie in ihren Familien konkret zu leisten hätten. Nachdem sie zudem nur gering über das zugrunde liegende Regelwerk und ihre Rechte und Pflichten informiert waren, reisten sie vor allem mit der Hoffnung auf „nette Familien“ im Gepäck. Ebenso sahen die meisten Frauen ihre zukünftigen Tätigkeiten in den Gastfamilien nicht als Beruf oder Arbeit an, wie es Jirina formulierte. Auch Tanya meinte noch in Bratislava: „Nein, das ist keine Arbeit, ich helfe mit in der Familie.“ Diese Erwartungshaltung, die den Arbeitsaspekt ihres zukünftigen Einsatzes in den Familien dethematisierte, war dabei nicht nur auf ihren geringen Informationsgrad und den offiziellen Diskurs über Au-pair als Kulturaustausch zurückzuführen. Es verweist auch auf die kulturelle, feminisierte Kodierung von Haus-Arbeit als Nicht-Arbeit, die ‚naturgemäß’ von Frauen ausgeführt wird, die die dazu notwendigen Fähigkeiten beiläufig in der weiblichen Sozialisation erwerben. In diesem Sinne blieb Hausarbeit auch in den slowakischen Familien ein unbefragt weibliches Arbeitsvermögen, welches die jungen Au-pair-Frauen ‚selbstverständlich’ praktizierten. Derartig naturalisiert scheint Hausarbeit auch für ihre Akteurinnen als Arbeit verunsichtbart und nicht explizierbares Wissen zu sein. Als die slowakischen Frauen im Herbst 1999 in ihren deutschen Familien ankamen, bestimmte auch ein anderes Thema ihre ersten Gespräche: der Kontakt zu den Familien – für die meisten Au-pair-Frauen gleichzeitig ihre erste große Enttäuschung. Alle sechs Frauen beschrieben ihre ersten Wochen als „harte Zeit“, in der sie vor allem das „Alleinsein“ plagte und sie in Folge großes „Heimweh“ hatten. Nicht nur war die Familiensituation gänzlich neu und unbekannt. Auch waren alle sechs Frauen in Familien untergekommen, die entweder in Vorortsiedlungen von Großstädten wohnten oder in Neubausiedlungen, die die Dörfer des Ballungsgebiets umgaben. Noch unsicher sich im öffentlichen Raum zu bewegen und den Nahverkehr zu benutzen, saßen sie in den atomisierten Eigenheimen in den Dörfern und Vorortsiedlungen fest und klagten über ihre „Isolation“. Sie waren auf den Kontakt zu den Familien angewiesen, wobei die meisten alsbald feststellen mussten, dass dem enge Grenzen gesetzt waren. Dies ließ sie alle, die einen früher, die anderen später, sich mit ihrer Rolle als Familien-Arbeiterin auseinander setzen. Im Folgenden werde ich die verschiedenen Familien-Arbeits-Verhältnisse aus der Sicht der Au-pair-Frauen skizzieren und die Entwicklungen darstellen, die die verschiedenen Interaktionen nahmen.
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„Bin nur eine Arbeitskraft“ Für Jirina waren die Grenzen des Familienkontakts schnell offensichtlich. Zum wesentlichen Teil lag dies in dem spezifischen Arbeitsarrangement begründet, welches sie auf die Rolle der „Haushaltshilfe“ festschrieb. Nachdem die drei großen Kinder der Pfarrersfamilie keine Betreuung oder Aufsicht mehr brauchten, hatte Jirina von neun Uhr morgens bis 14 Uhr die groben Haushaltsarbeiten zu machen: aufräumen, putzen, bügeln, kochen, Küche sauber machen. Die räumliche Trennung ihres Zimmers von der Wohnung der Gasteltern, die sie nur für ihre Arbeitsstunden und das Abendessen betrat, verstärkte die Distanz. Darüber hinaus war die ganze Familie sehr aktiv und Gastvater und -mutter beruflich sehr eingespannt: „Sie haben nie Zeit und sind immer unterwegs“, klagte Jirina schon im ersten Monat. Die schwierige Kontaktaufnahme mit der Familie löste bei Jirina nicht nur Selbstzweifel aus: „Ich fragte mich schon“, meinte sie rückblickend nach einem halben Jahr Aufenthalt, „ob sie mich nicht leiden konnten. Ich wollte schon mehr dazugehören.“ Nach einem dreiviertel Jahr räsonierte sie abermals bitter, dass die Familie zu ihr überhaupt keine Beziehung aufgebaut habe, was sie als Degradierung ihrer Person auf die Funktion der „Arbeitskraft“ erlebte: „Für die Familie bin ich halt doch nur eine Arbeitskraft und eine billige dazu.“ Auch wenn sie die Arbeiten als „leicht“ und „nicht viel“ klassifizierte, hatte Jirina während der gesamten Dauer ihres Aufenthalts in der Familie mit dieser reduzierten, doch klaren Zuweisung als „Haushaltshilfe“ zu ringen. Nachdem sie jedoch die Grenzen des Au-pair-Aufenthalts in der Familie und ihre Positionierung als „Arbeitskraft“ binnen weniger Monate klar realisiert hatte und sich im gewissen Maße damit abfand, begann sie, ihre freie Zeit positiv als „Freizeit“ umzudeuten und zu organisieren: „Wenn ich mit der Arbeit fertig bin, habe ich frei und kann machen, was ich will.“ In der Folge trat das Thema Familienkontakt und Arbeit mit jedem Schritt, den sie aus der Familie heraus unternahm, in den Hintergrund. Während sie in den ersten Monaten nichts mit ihrer freien Zeit anfangen konnte und sich vor allem in ihrem Zimmer aufhielt, bedeutete für sie der Besuch des Deutschkurses – wie für alle anderen Au-pairs – vor allem in sozialer Hinsicht eine wichtige Zäsur. Hier traf sie auf andere Au-pairs, mit denen sie anfing, die Kleinstadt zu entdecken. Darüber hinaus lernte sie noch drei slowakische Frauen kennen, die im nahen Altenheim ein „Freiwilliges soziales Jahr“ (FSJ) machten. So meinte sie im fünften Monat: „Mir geht’s gut“, und zeigte sich glücklich darüber, Frauen mit derselben Muttersprache kennen gelernt zu haben, mit denen sie fortan ihre Freizeit verbrachte. „Ich habe viele Pläne“, berichtete sie bei unserem zweiten Treffen und erzählte mir ihr zukünftiges Freizeitprogramm: Sie wollten in die Landeshauptstadt fahren, Museen und Kinos besuchen und natürlich auch zum nächsten McDonald`s gehen. Jirina entwickelte sich zu einer wahren Meisterin der Außenkontakte und begann auch als einzige der mir bekannten Au-pairs, in kirchlichen Jugendgruppen und Vereinen aktiv zu werden. Bei unserem letzten Treffen beschrieb sie ihre Außenorientierung rückblickend folgendermaßen: „Das war mein Glück. Habe das Beste aus der Situation gemacht, sonst hätte ich meine Koffer gepackt. Ich war am Anfang so viel alleine.“ Auch wenn Jirina aufgrund der formalen Beziehung zur Familie, die sie fast nur über die Arbeit herstellte, eine relative Autonomie von der Gastfamilie lebte, traten
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drei Monate vor Ende ihres Visums noch einmal verstärkt Konflikte auf, die sie ihre Abhängigkeit deutlich spüren ließen. So war sie bei unserem Juni-Treffen sehr negativ auf die Familie zu sprechen, die sie nach langem Hin und Her vorzeitig entlassen wollte. Da das Ende ihres legalen Aufenthalts nahte, war Jirina verstärkt auf der Suche nach einer Anschlussstelle, was sie auch der Familie mitteilte. Diese habe sie dann über Wochen im Unklaren darüber gelassen, ob sie sie noch ein Jahr länger beschäftigen wollten, sie mindestens für die Visumsdauer bis nach den Sommerferien hier bleiben ließen oder sie schon vor den Ferien entlassen werde. Die Familie entschied sich für Letzteres, da sie über die Ferien im Urlaub seien und daher keine Haushaltshilfe bräuchten: „Ich war für sie nur eine Arbeitskraft und jetzt brauchen sie mich nicht mehr“, stellte Jirina enttäuscht fest. Doch sie war nicht untätig und schaute sich außerhalb der Familie nach einer anderen Möglichkeit um, um noch mindestens ein Jahr länger in Deutschland bleiben zu können. Hierbei kamen ihr ihre Netzwerkkontakte zugute. Zufällig erfuhr sie bei einem kirchlichen Ausflug in eine Missionsstation, dass diese noch freie Stellen für Frauen hätten, die ein „Freiwilliges soziales Jahr“ machen wollten. Jirina meldete sich und wurde als erste „ausländische“ Frau genommen. Sie war glücklich: „Das ist meine einzige Chance: FSJ.“ Über den Sommer musste ich warten, bis ich wieder etwas von ihr hören würde, was ich nach eineinhalb Jahren forschender Begleitung mittlerweile gewöhnt war. Im September erhielt ich eine Postkarte mit ihrer neuen Adresse und der Bitte, sie in der Missionsstation zu besuchen. Doch erst nach mehreren gescheiterten Anläufen, sie telefonisch zu erreichen, konnte ich mit ihr einen Termin vereinbaren. Am Telefon meinte Jirina: „Ja, das ist nicht so leicht mich zu erreichen. Ich muss von acht Uhr morgens bis 14 Uhr 30 und von 17 bis 21 Uhr arbeiten. Aber es ist toll hier mit den vielen anderen jungen Frauen.“ Jirina war in der Kantine angestellt, fünf Tage Arbeit, manchmal auch das Wochenende: putzen, spülen, das Essen ausgeben, aufräumen, dekorieren und basteln. Als ich sie an ihrem neuen Arbeitsplatz wieder sah, war sie sichtlich aufgeblüht. Trotz der vielen und anstrengenden Arbeit mache es ihr hier sehr viel Spaß. Vor allem die Freizeit mit den anderen zehn jungen FSJlerinnen, mit denen sie zusammen ein Haus bewohne, sei sehr lustig. Es sei immer was los. Daneben besuche sie einen weiteren Deutschkurs, bei dem sie ein Zertifikat bekomme, das in der Slowakei ausreiche, um in Grundschulen Deutsch zu unterrichten. Dann habe sie wenigstens etwas in der Tasche, wenn sie zurückkehre. Rückblickend fragte sie sich jetzt, warum die Familie, bei der sie vorher war, überhaupt ein Au-pair wollte: „Die hatten doch eine siebzehnjährige Tochter, die hätte doch auch im Haushalt mithelfen können?“ Und als ob sie mir deutlich machen wollte, dass die Anstellung von Aupairs durch deutsche Frauen als Spleen und Luxus interpretiert werden kann, erzählte sie mir wieder Geschichten von anderen Au-pairs, die in eine ähnliche Richtung wiesen. So habe ihre ehemalige Freundin den umgekehrten Weg genommen und sei nach ihrem „Freiwilligen sozialen Jahr“ nun bei einer sehr reichen Familie als Au-pair. Die Frau sei mit ihrem zweiten Kind schwanger und ganztags zu Hause. Doch sie hätten als zusätzliche Betreuungskraft für die kleine Tochter das Au-pair eingestellt: „Meine Freundin fühlt sich total bescheuert, zwei Frauen, die auf so ein kleines verzogenes Mädchen aufpassen. Doch die Frau befiehlt ihr ständig, was sie machen soll. Letztes Mal beim Spazieren gehen musste sie z. B. aus einem fremden
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Garten Blumen für das Kind klauen, weil sie die unbedingt haben wollte.“ In dieser Hinsicht fragte sie sich und mich abschließend: „Ich weiß nicht, was besser ist, kein Kontakt [zur Familie, die Verf.] oder ein schlechter?“ Das konnte ich auch nicht beantworten, denn auch die anderen Au-pair Frauen, die anscheinend besser in ihre Familien integriert waren, hatten ihre Mühen und Sorgen. Kinderkoller und Außenorientierung Vanessa, Vierka und Tanya hatten es im Vergleich zu Jirina viel schwieriger, die Grenzen der Integration in die Familien und ihre zugeschriebene Positionierung auszuloten. Alle drei waren in Familien mit einem bis drei kleinen Kindern untergebracht, für die sie hauptsächlich zu sorgen hatten. In diesem Sinne lebten und arbeiteten sie in den Familien und hofften, dass sie darüber auch in das Familienleben integriert würden. Vierka, die ich nicht mehr in der Slowakei antreffen konnte, da sie überraschenderweise schon viel früher nach Deutschland aufgebrochen war, schilderte ihre ersten Monate als düstere Phase: „Die Zeit war schrecklich. Im Dorf war ich die einzige Au-pair, jetzt sind es schon fünf. Und ich war die ganze Zeit allein mit dem Baby. Ich war kurz davor, abzubrechen.“ So hatte sie sich den Au-pair-Aufenthalt in einer Familie und die Arbeit als Babysitterin nicht vorgestellt. Nur während der ersten Woche in der Familie habe sich ihre Gastmutter nachmittags frei genommen, um ihr wichtige Hinweise zur Kinderbetreuung zu geben und die sonstigen Aufgaben zu erklären: wo sie was in der Küche finde könne zum Kochen, wie sie die Küche sauber halten oder das Bad und die Toiletten putzen solle. Dann habe sie wieder angefangen zu arbeiten und sie mit dem Kind tagsüber sich selbst überlassen: „Schaffe, schaffe, Häusle baue,“ meinte Vierka sei das Motto der ganzen Familie und fing an, zu lachen: „Selbst die Oma arbeitet noch, die sind wahnsinnig!“ Der Ehemann komme erst spät abends nach Hause und am Wochenende verschwinde er wieder, um seinen Hobbys nachzugehen. Da sie ihn nur selten sehe, kommuniziere er mit ihr im Wesentlichen über Zettel: „Er hat sich kein einziges Mal mit mir unterhalten. Er schreibt mir nur Sachen wie: Du hast vergessen, die Blumen zu gießen, obwohl ich ihm am Anfang gesagt habe, dass Blumen nicht meine Sache sind.“ Die Arbeitsintensität des Gastvaters war für Vierka jedoch kein großes Thema, vielmehr konzentrierte sie ihre Kritik auf die Arbeitspraxis der Gastmutter, die sie in einen kausalen Zusammenhang mit ihrer Situation in der Familie sah. Ihre Gastmutter habe eine Halbtagsstelle in ihrem Beruf als Pädagogin: „Du kannst es dir nicht vorstellen“, meinte Vierka, „doch sie hatte noch zu viel Freizeit und hat noch eine weitere Stelle angenommen. Sie kann mit dem Kind einfach nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen. Sie hält es nicht aus, dafür hat sie ja die Oma und mich.“ So hätten sich ihre Kontakte zu ihr auf fünfzehnminütige Gespräche am Tag reduziert und auch ihre Gastmutter sei dazu übergegangen, ihr täglich Arbeitslisten zu schreiben: „Sie traut mir nichts zu“, kommentierte Vierka diese Praxis. Zusammen mit anderen Vorfällen, bei denen ihre Gastmutter ihre Arbeit kritisierte, was sie auf „Missverständnisse“ zurückführte, erlebte sie den familiären Umgang mit ihr als „erniedrigend“.
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Doch es kam noch heftiger als die Familie traditionellerweise im Herbst über mehrere Wochen hinweg eine Gartenwirtschaft eröffnete: „Da war ich den ganzen Tag und Nacht mit dem Kind allein und habe eine große Krise bekommen“, erinnerte sie sich. Dabei kritisierte sie nicht nur die Länge ihrer Arbeitstage, sondern auch den monotonen Inhalt der Arbeit. Vor allem die Sorge-Arbeit mit dem Kleinkind, das rund um die Uhr Zuwendung und spielerische Unterhaltung verlangte, schilderte Vierka einerseits als langweilig. Andererseits fühlte sie sich aber auch überfordert. Zunehmend stärker habe sie eine erwachsene Person vermisst, mit der sie kommunizieren konnte. „Am Ende“, meinte Vierka, „habe ich einen Kleinkindkoller gehabt und hätte am liebsten meine Sachen gepackt.“ Sie hatte sich jedoch anders entschieden: „Seitdem bin ich jede freie Minute weg.“ Nachdem sie feststellen musste, dass sich keine Änderung einstelle und der Kontakt zur Familie sich weiterhin auf ein Minimum beschränke, habe sie angefangen, klare Arbeitszeiten einzufordern und in ihrer freien Zeit das Haus zu verlassen. Den Mut zu dieser Umorientierung und Konfliktstrategie, so erzählte sie mir rückblickend während eines Treffens nach 15-monatigem Aufenthalt im Februar 2000, hätte sie durch ihre beginnenden Kontakte zu anderen Au-pair-Frauen bekommen, die sie wie Jirina in ihrem ersten Deutschkurs kennengelernt hatte: „Ich habe von denen mitbekommen, wie viel sie arbeiten, wie viel sie bekommen und habe dann in meinen Unterlagen nachgeschaut und bin mit denen zur Familie gegangen.“ Aufgrund der aufenthaltsrechtlichen Abhängigkeit von der Familie sei es ihr jedoch nicht leicht gefallen und sie hätte allen Mut zusammen nehmen müssen, um diese heiklen Punkte anzusprechen: „Über Geld spricht man nicht und nicht aus meiner Position heraus.“ Anfangs habe sie vor allem Angst gehabt, dass sie die Familie vor die Türe setzen würde: „Und man weiß ja nicht, wie die nächste Familie ist.“ Auf der sozialen Basis ihrer Au-pair-Kontakte, wagte sie dann den befreienden Schritt aus der Familie heraus: „Ich bin energetisch und kann nicht nur zu Hause rumsitzen“, rechtfertigte sie ihre Außenorientierung, die fortan immer wieder zu Konflikten mit der Gastmutter führte. Doch sie schienen regelmäßig Kompromisse gefunden zu haben, so dass Vierka in ihrer Freizeit viel unterwegs war und mit ihren vier Au-pair-Freundinnen jedes Wochenende Fahrten zu regionalen Sehenswürdigkeiten und Städten unternahm. Zur Halbzeit ihres Aufenthaltes schienen die Freizeitaktivitäten für Vierka zur zentralen Motivation ihres Deutschlandjahres geworden zu sein. Am Ende ihres Aufenthalts in der Familie zeigte sie mir stolz ihre zwei dicken Fotoalben voller Bilder von fröhlichen jungen Frauen, die sie an ihren Wochenendausflügen knipste. Auch hatte sich in den letzten Wochen ihres Aufenthalts ein deutlicher Stimmungsumschwung bezüglich ihrer Gastfamilie ergeben. Denn aufgrund der baldigen Geburt ihres zweiten Kindes sei ihre Gastmutter im Mutterschutz und die letzte Zeit mit ihr zu Hause gewesen. Zu zweit gingen die Hausarbeiten leichter von der Hand: „Wir haben zusammen gekocht und viel miteinander geplaudert. Jetzt teilen wir uns auch die Aufsicht über die Tochter. Ich versteh mich jetzt gut mit ihr. Schade, dass die Zeit jetzt vorbei ist.“ Auch Vanessa und Tanya fingen nach drei, vier Monaten an, die Familienkonstellationen, in die sie hineingeraten waren, vor allem hinsichtlich der geringen Zeit zu kritisieren, die die Gasteltern für sie und ihre eigenen Kinder aufbrachten. So lang
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dauert es anscheinend, bis die Au-pair-Frauen ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse nicht nur als augenblickliche Situation oder Ausnahmefall wahrnahmen und ihr Unwohlsein auf ihre anfängliche Orientierungslosigkeit in der Fremde zurückführten, sondern begannen, sie als strukturell zu realisieren. Dazu trugen sicherlich auch ihre Gespräche mit mir bei, in denen sie auch angeregt durch meine Zwischenfragen, ihre Lebens- und Arbeitssituationen nach und nach vor mir ausbreiteten. Wie bei Vierka mündete dies auch bei Vanessa und Tanya in eine Kritik an den Arbeits- und Lebensstilen der berufstätigen Gastmütter, die sie für ihre eigene Situation als ausschlaggebend empfanden. Vanessa beschrieb das Verhältnis ihrer Arbeitgeberin ihr gegenüber als distanziert und angespannt. Wenn sie im Haus anwesend sei, wie die halbe Stunde mittags und abends ab 19 Uhr, sei sie mürrisch und reizbar: „Sie hat wenig Zeit und ist ständig im Stress mit ihrer Arbeit. Sie ist immer auf Hundertachtzig.“ Nachdem ihre Arbeitgeberin selbst nur wenig im Haushalt mache, empfand Vanessa die Kritik, die sie immer wieder an ihrer Arbeit äußere, als besserwisserisch und beleidigend: „Sie traut mir nicht. Selbst hat sie zwei linke Hände.“ Und sie erzählte mir die Pullovergeschichte als Ausdruck des hierarchischen Verhältnisses zwischen ihnen. Ihre Gastmutter kümmere sich überhaupt nicht um die Wäsche, habe sie aber letzte Woche kritisiert, dass sie Pullover nicht in den Trockner tun solle: „Ich habe ihr gesagt, dass ich Pullover nicht in den Trockner gebe, das weiß ich. Doch sie machte weiter: ‚Ich weiß, dass der Pullover im Trockner war.’ Was kann ich da sagen? Nur ‚Entschuldigung’, obwohl ich weiß, dass ich nichts falsch gemacht habe.“ Dabei handelte es sich bei ihrer Familie um einen Ausnahmefall, da der Gastvater als einziger Mann der interviewten Familien zweimal in der Woche nachmittags zu Hause war, um auf die Kinder aufzupassen und die Wäsche zu machen. Doch Vanessa fühlte sich in der Anwesenheit des Gastvaters unwohl und ging auf Distanz zu ihm, da sie seine Witze als beleidigend und anzüglich empfand. So würde er ständig ihre Figur und ihr Essverhalten kritisch kommentieren: „Ich habe ihm gesagt, dass er das lassen soll, doch er macht ständig weiter.“ Als absolut unverschämt beschrieb Vanessa seinen jüngsten Witz, nachdem er ein Bild von ihr im Bikini gesehen hatte. Er habe zu ihr in einem komischen Ton gesagt: „Oh, wann ziehst du hier mal einen Bikini an?“ Auch beim nächsten Treffen erzählte Vanessa von dem sexualisierten Witz, der sie sichtlich nicht in Ruhe ließ. Als weiteres Beispiel für die mangelnde Integration auf Augenhöhe führte Vanessa einen Zwischenfall an, den sie als endgültiges Indiz der Abwertung las. Bevor ihre Gasteltern das Essen wegschmissen fragten sie sie, ob sie es noch haben wolle: „Sie selbst sagen, es schmeckt nicht und fragen mich, ob ich es noch haben will. Warum bieten sie mir Essen an, das sie selbst nicht wollen?“ Infolge zog sich Vanessa mehr und mehr aus der Familie in ihr Zimmer im Keller des Hauses zurück, sobald ein Teil der Gasteltern nach Hause kam. Dennoch beklagte sie den geringen Kontakt und die mangelnde Kommunikation noch ein dreiviertel Jahr später, die sie vor allem als Nicht-Anerkennung ihrer Persönlichkeit wahrnahm: „Meine Gasteltern gehen nicht auf mich ein und nehmen keine Rücksicht auf meine Gefühle. Sie haben auch keine Zeit, mich zu verstehen.“ Nachdem Vanessa ebenfalls über den Deutschkurs weitere Au-pair-Frauen kennen gelernt hatte, unter anderen Jirina, mit der sie eine innige Freundschaft anfing, war auch sie nicht mehr im Haus zu halten. Der Kontakt zu Jirina über mehrere Ecken
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und trotz der großen räumlichen Distanz zwischen ihren Dörfern, ist dabei ein gutes Beispiel für die weitverzweigten Au-pair-Netze. Als sie dann noch ihre Cousine Anna in eine Nachbarsfamilie vermitteln konnte, deren vorherige Au-pair zurück in die Slowakei gegangen war, unternahmen die Zwei in jeder freien Minute etwas gemeinsam und versuchten, sich so oft mit Jirina zu treffen, wie es ihre drei Arbeitspläne erlaubten. Auch zu den Treffen mit mir erschienen sie in der Folge oft als Gruppe. Die neuangekommene Katinka konnte von dem Wissen und den Kenntnissen der beiden anderen viel lernen. Auch Vanessa profitierte von den Erfahrungen, die Jirina als fortgeschrittenste gemacht hatte. So trat sie in Jirinas Fußspuren und suchte sich nach Ablauf ihrer Visumszeit auch eine Stelle als FSJlerin. Bei Tanya schien im Gegensatz zu Vanessa anfangs alles nach einer guten Beziehung zur Gastfamilie auszusehen. Sie beschrieb dies bei einem unserer ersten Treffen als „Glück gehabt“. Sie müsse vor allem auf das kleine Kind aufpassen und werde von der Familie auch zu ihren Freizeitaktivitäten eingeladen. So sei sie jüngst vom Gastvater nachts in eine Disco mitgenommen worden, was ihr besonders gefallen hatte. Daneben hatte sie von Beginn an genügend Spielraum, in die nahe gelegene Großstadt zu fahren und den dortigen Au-pair-Treff einmal in der Woche zu besuchen. Sie schien mit ihrem Verhältnis von Arbeiten und Familienanbindung einerseits und Freizeitaktivitäten andererseits zufrieden zu sein. Doch schon zwei Monate später meinte sie bei einem zufälligen Zusammentreffen im Au-pair-Treff: „Nochmal mache ich das nicht mehr. Die Arbeit in der Familie nervt.“ Zwar müsse sie nicht so viele Stunden arbeiten, doch die Arbeit sei sehr monoton. Darüber hinaus kritisierte sie das sich allmählich verfestigende hierarchische Verhältnis zwischen ihr und der Gastfamilie, welches ihr die Rolle der Dienerin zuwiese. Dazu käme noch die Abhängigkeit von der Atmosphäre in der Familie und den Launen der Gasteltern, die sich in der letzten Zeit zunehmend streiten würden. In dieser Hinsicht sei sie sehr froh, dass sie einen großen Freundeskreis aus Au-pairs und einigen deutschen Jugendlichen habe, mit denen sie in ihrer Freizeit viel unternehme. Vor kurzem waren sie beim Skifahren. Sie habe auch das zweite Mal einen Freund, der ihr angeboten habe, sie zu heiraten, damit sie hier bleiben könne. Doch von einem Mann, der jetzt schon wie eine Klette an ihr klebe, wolle sie sich nicht abhängig machen: „Ich bin noch jung und möchte meine Freiheiten genießen.“ Drei Monate später beklagte sie sich wieder bei mir: „Auf keinen Fall bleibe ich länger in der Familie, selbst wenn sie mir anbieten, noch weiter bei ihnen arbeiten zu können. Dann ziehe ich zu einer Freundin. Sie hat eine eigene Wohnung.“ Seit die Gastmutter wieder schwanger sei, sei sie noch reizbarer und die Atmosphäre in der Familie sehr angespannt. Andererseits berichtete mir Tanya auch bei diesem Treffen von gemeinsamen Unternehmungen und zahlreichen Geschenken der Gasteltern. Hierbei deutete sich noch stärker als bei den letzten Treffen an, dass sie ihre Kritik vor allem auf die Arbeitgeberin konzentrierte, während sie gleichzeitig über nette Abende mit dem Gastvater berichtete, der sie weiterhin zu Ausflügen ins Nachtleben mitnahm. Bis zum Schluss ihres Aufenthalts in der Familie, den sie um drei Monate überzog, blieb diese Ambivalenz von einerseits Kritik an der Familienarbeit und andererseits
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Freude an gemeinsamen Aktivitäten bestehen. Dabei konnte ich ihr Verhältnis zu ihrer Gastmutter respektive ihrem Gastvater bis zum Ende nie wirklich durchschauen, wobei ihre Erzählungen immer wieder Hinweise erhielten, dass sie das zwischengeschlechtliche Verhältnis zum Gastvater zumindestens spielerisch genoss. Inwiefern Eifersucht eine Rolle dabei spielte, dass Tanya ihre Gastmutter zunehmend negativ antizipierte und das Verhältnis der beiden Frauen eingetrübt war, erfuhr ich nicht. Jedoch wäre dies nicht so abwegig, da einige Au-pairs, die ich traf, von einer unterschwellig wahrnehmbaren oder offen ausgesprochenen Eifersucht der Gastfrauen berichteten, wobei die meisten Au-pairs eine aktive Rolle dabei weit von sich wiesen. Doch schien Tanya immer so viel Freiraum zu haben bzw. sich zu nehmen, dass sie die Familiensituation hinter sich lassen und in ihrem Freundeskreis aufleben konnte. Über so entstandene Kontakte fand sie dann auch ihre nächste Familie, die sie nach Ablauf ihres Visums und nach einem kurzen Urlaub in der Slowakei nun ohne Papiere weiter beschäftigte. Tanya versprach mir zwar, sich bei mir nach ihrer Rückkehr zu melden, doch erfuhr ich erst über ihre Bekannte, dass sie wieder im Lande war. Ich traf sie dann noch einmal für ein zweistündiges Gespräch, bevor wir uns aus den Augen verloren. Bei einem Anruf ein knappes Jahr später konnte ich in Erfahrung bringen, dass Tanya immer noch bei der Familie arbeitete und lebte. Helferinnenlogik Für Magdalena und Anna waren ihre Familien zunächst alles. Und beide empfanden große „Dankbarkeit“ darüber, dass die Familien sie „eingeladen“ hatten, „sich wie ihre Tochter zu fühlen“, wie es Magdalena im vierten Monat ihres Aufenthalts ausdrückte. Auch Anna beschrieb noch zur Halbzeit ihres Au-pair-Jahres ihre Position in der Gastfamilie als „Teil der Familie“: „Ich bin wie ihre Tochter.“ Dass ein derartig guter Kontakt für Au-pairs nicht selbstverständlich war, wusste Anna durch die Telefonate mit ihrer Schwester in England und anderen Au-pairs, mit denen sie im Deutschkurs zusammensaß. Vor allem war Anna der Familie sehr dankbar, dass sie sie trotz ihrer anfänglichen Sprachprobleme nicht nach Haus geschickt hatte. So meinte sie: „Sie sind nett zu mir und helfen mir, dann helfe ich ihnen auch.“ Diese Einschätzung aus dem zweiten Monat ihres Aufenthalts schien ihre Wahrnehmung ihres Verhältnisses zur Familie in der Folgezeit wesentlich zu bestimmen und den Grundstein für ihr Selbstverständnis als Au-pair zu legen. Die Deutung der Arbeitsbeziehung als ein auf Reziprozität aufbauendes Hilfe-Verhältnis ließ Anna auch anfangs ihre sonstigen Arbeitsaufgaben, wie Bügeln und Aufräumen, und ihre lang gedehnten Arbeitstage von sieben Uhr früh bis Abends und manchmal in die Nacht hinein als nicht erwähnenswert erscheinen. Die Haus-Arbeiten seien keine „schwere Arbeit“ und bei unserem Halbzeittreffen schienen sie ihr nur noch wenige Worte wert. Auch die Beziehungs-Arbeit zur Tochter, der sie sich anfangs nicht gewachsen fühlte und die sie als emotional anstrengend empfand, hatte sich in ein inniges Verhältnis verwandelt, das sie als nette Freundschaft beschrieb. In den ersten Monaten hatte Anna es mir folgendermaßen geschildert: „Die tanzt mir auf der Nase rum. Doch ich darf es mir mit ihr ja nicht verderben, muss immer nett sein.“ Mittlerweile nehme sie die Kleine auch an ihren freien Wochenenden zu ihren Au-
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pair-Ausflügen mit, „sie bittet mich so lieb.“ Auch ihre Beziehung zur Gastmutter, deren energisches Auftreten sie zu Beginn noch irritiert und das sie als „Befehlston“ erlebt hatte, schilderte sie nun positiv. Nun schien sie ihre Gastmutter wegen ihres strengen, aber herzlichen Verhaltens zu bewundern. Von ihr könne sie in Sachen Haushaltsorganisation und Ordnung viel lernen, meinte sie: „Sie ist so energisch und freundlich zugleich. Und auch ihren Kindern sagt sie, wo es lang geht.“ Während sich Annas Arbeits- und Wohnsituation als „Tochterverhältnis“ zu routinisieren schien, wurden zur Halbzeit vor allem ihre zunehmenden Außenkontakte Gesprächsthema. Mit voller Begeisterung berichtete sie mir von ihrer jüngsten Entdeckung. Ausgehend von ihren zwei slowakischen Au-pair-Freundinnen, die sie über den Deutschkurs kennen gelernt hatte, seien sie mittlerweile eine Gruppe von fünf Frauen, vier Au-pairs aus der Slowakei und eine aus Tschechien, die vor allem am Wochenende viel miteinander unternähmen. So verbrachten sie die letzten schönen Frühlingstage in der Landeshauptstadt an den Treffpunkten der Au-pairs: „Das ist wie ein großer Kreis“, erzählte sie erstaunt, „da waren zwanzig bis dreißig Mädchen, alles Au-pairs.“ Bei unserem nächsten Treffen im neunten Monat ihres Aufenthalts schien sich die nette Atmosphäre jedoch sichtlich einzutrüben. Anna sprach das erste Mal länger von ihrer „Arbeit“, die sie nun als „langweilig“ zu kritisieren begann: „Ein Jahr in der gleichen Familie, mit den gleichen Arbeiten, die ich immer gleich ausführen muss. Mir langt´s langsam.“ Auch das anfangs innige Verhältnis zur Gastmutter beschrieb sie nun als hierarchische Beziehung. Dabei thematisierte sie nicht nur die Art der Arbeitsteilung zwischen ihnen. Da sie alle praktischen Tätigkeiten im Haushalt erledige, habe ihre Gastmutter „nur noch mit netten Dingen“ zu tun, wie Geldangelegenheiten mit den Kindern zu regeln und ihnen Ratschläge zu geben. Auch sei sie es leid, ständig Befehle zu empfangen und auf Anweisungen zu handeln, wobei Frau Wagner immer genau wisse, wie sie ihre Aufgaben auszuführen habe und immer „Recht haben muss“: „Ich bin in der Familie und muss immer machen, was sie sagen.“ Vor allem zeigte sich Anna dadurch eingeschränkt, dass sie ihre Freizeit nicht genau planen könne, da Frau Wagner sie immer wieder bitte, länger auf die Tochter aufzupassen, da sie Überstunden mache oder plötzlich zu Arbeitstreffen am Wochenende weg müsse: „Ich muss ihr meine Termine eine Woche vorher sagen und sie ruft an und meint: Bleib länger!“ Und etwas sarkastisch, doch mit einem Unterton von Ernsthaftigkeit, meinte Anna nun: „Ich kann hier viel lernen: meinen Mund halten, Geduld haben und Anweisungen ohne Protest ausführen, selbst wenn sie für mich keinen Sinn machen. Am Anfang war das schwierig, da habe ich immer widersprechen müssen.“ Darüber hinaus entpuppte sich für Anna auch der Kontakt zu ihrer Gastmutter als einseitige Kommunikation: „Sie redet viel und hört nie zu.“ Nur die Beziehung zur Tochter beschrieb Anna weiterhin als „innig“: „Sie ist so süß und klebt an mir und will immer mit mir Spielen.“ Doch hoffte sie, dass die Rückkehr des Gastvaters in die Familie, der einen Arbeitsplatz in der Nähe bekommen habe, sich positiv auf ihre Freizeit auswirke. Vor allem abends könne er von nun an für die Kinder da sein, was für Anna weniger Babysitting bedeuten würde. Auch Frau Wagner sei seitdem viel häuslicher geworden und führe wieder mehr Haus-Arbeiten selbst aus. Bei unserem nächsten Treffen im September hatte sich die Lage jedoch eher noch zugespitzt. Über den Sommer war Anna zwei Wochen bei ihrer Familie in der Slo-
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wakei gewesen, das dritte Mal nach den Weihnachtsferien und Ostern: „Es war Urlaub zu Hause und ich habe wieder viel gemacht mit meinen Freundinnen. Wir sind schwimmen gegangen und Eis essen.“ Die Zeit zu Hause habe ihr gezeigt, „wie fertig ich mit der Familie bin.“ Doch im Anschluss an ihre schönen Ferien in der Slowakei wurde sie von der Gastmutter zwei Wochen alleine mit Haus, Hund, Tochter und Mann zurückgelassen, während sie sich in den Urlaub aufmachte: „Mir reicht es jetzt. Mir ist die Decke total auf den Kopf gefallen.“ Der Gastvater habe „keine Verantwortung übernommen“ und sei die ganze Zeit außer Hauses gewesen, so dass sie im Endeffekt mit der Tochter alleine ans Haus gebunden war. Vor allem habe sie sich einsam und gelangweilt gefühlt: „Zwei Wochen im Haus, was kann ich da schon machen. Aufräumen und fernsehen und spielen. Es ist halt doch nicht mein Haus, zu Hause hätte ich gewusst, was ich machen kann.“ Nach der Rückkehr der Gastmutter hätte sie ihr Freizeitausgleich versprochen, doch habe sie sich wieder nicht daran gehalten: „Ich hatte noch zwei Tage frei, da rief sie an und bat mich, ob ich nicht doch ihre Tochter von der Schule abholen kann und auf sie aufpassen kann. Das ist immer das Gleiche“, beschwerte sich Anna lauthals. Ich kannte sie nicht mehr wieder. Über die letzten Monate hatte sie immer besser Deutsch gelernt und mit jedem neuen Ausdrucksvermögen schien sie auch selbstbewusster geworden zu sein. Nun wiederholte sie nicht nur die Kritikpunkte des letzten Treffens mit neuer Beharrlichkeit, auch begann sie den Sinn ihres Tagesablaufs zu hinterfragen und ihn als fremdbestimmt zu dekodieren: „Ich habe wirklich nicht viel zu tun und es ist keine schwierige Arbeit. Die Tochter ist viel unterwegs bei Freundinnen und anderen Terminen und trotzdem muss ich zu Hause auf sie warten. Ich kann nicht meinen Tag gestalten und weggehen, wann ich will.“
Die Zeit in der Familie, die sie anfangs als gelungene Integration bewertet hatte, empfand sie nun als „Muss“ und als „sinnloses Warten“: „Ich muss immer da sein, obwohl ich nichts zu tun habe.“ In diesem Zusammenhang verwandelte sich auch die Absprache ihrer Termine mit der Gastmutter in einen Akt der Fremd-Kontrolle, denn: „Zu Hause ist das normal, da erzähle ich immer meiner Mutter, was ich mache, aber hier? Warum soll ich ihr das alles erzählen?“ Das Gefühl mangelnder Souveränität über ihre eigentlich freie Zeit hatte sich bei Anna noch durch einen weiteren Akt der Bevormundung verstärkt. So hatte sie versucht, in ihrer Freizeit Putzstellen zu finden, um noch etwas zu ihrem Taschengeld dazu zu verdienen: „Ich habe viel Zeit und warum soll ich da nicht noch was dazuverdienen können? Das machen viele, wenn die Kinder in der Schule sind.“ Sie hatte schon eine Stelle in der Nachbarschaft gefunden: „Das wäre doch praktisch gewesen“, kommentierte sie ihren Versuch, beide Arbeitsplätze gut miteinander verbinden zu können. Doch Frau Wagner habe dies nicht gewollt und die Familie so lange schlecht gemacht, bis Anna absagte: „Sie meinte, dass ich genug Geld bekomme und dies nicht nötig habe. Was weiß sie schon! Und sie wollte auch nicht, dass ich unter der Woche weggehe.“ Doch Anna wollte den Versuch, ihre Zeit selbst zu gestalten und für ihr späteres Leben in der Slowakei noch Geld zu verdienen, nicht so schnell aufgeben. So suche sie von nun an heimlich nach Putzstellen und sage es Wagners erst, wenn sie die Stelle schon angetreten habe. Sie war sich sehr unschlüssig darüber, ob sie nach Ablauf des Au-pair-Visums weiter in Deutschland bleiben, in England weiter als Au-pair arbeiten oder lieber zurück in die Slowakei gehen solle. Für eine etwaige Rückkehr wollte sie jetzt die
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letzten Monate ihres Aufenthalts nutzen, nicht nur zum Geldverdienen. Sie hatte wie Jirina vor, noch einen weiteren Deutschkurs zu absolvieren, der mit einer Zertifikatprüfung abschließt: „Die letzten Monate muss ich jetzt noch durchhalten, damit ich das Zertifikat bekomme. Damit kann man in der Slowakei schon in Grundschulen Deutsch unterrichten.“ Bei unserem Treffen im November, das auch unser letztes sein sollte, nahm die Geschichte noch einmal eine neue Wendung. Jetzt kam sie über das ganze Gesicht strahlend in das Lokal und zeigte sich unternehmungslustig wie nie zuvor: „Ich habe die letzten drei Wochen noch so viel vor, bevor ich in die Slowakei zurückgehe“, meinte sie zur Eröffnung des Gesprächs. Sie hatte sich entschlossen, gegen den Willen ihrer Eltern nach Hause zurückzukehren und sich um einen Studienplatz zu bewerben. Auch die Verhältnisse in der Gastfamilie hatte sie zum Ende hin geklärt und sich aus der Familienumarmung befreit. Leicht stolz erzählte sie immer wieder, wie sie es geschafft hatte, eine klare Grenze zwischen dem Arbeitsplatz „Familie“ und ihrer freien Zeit zu ziehen: „Jetzt warte ich nicht mehr den ganzen Tag auf Arbeit, sondern gehen, sobald ich frei habe. Ich musste erst lernen, dass ich keine Dienerin bin und den ganzen Tag in der Familie sitze und auf Arbeit warte.“ Und als ob sie sich doch rechtfertigen müsste, erzählte sie mir rückblickend, wie sie die Haus-Arbeit zunehmend gelangweilt habe und der öffentliche Raum für sie immer mehr zum „Freiraum“ wurde: „Draußen ist es klasse“, zog sie abschließend Bilanz, „doch die Arbeit in der Familie ist todlangweilig.“ Pokern um Dankbarkeit: Verloren Magdalena hatte am stärksten mit dem Nähe-Distanz-Problem in der Gastfamilie zu kämpfen, was immer wieder zu Konflikten führte. Im zehnten Monat brach sie ihren Aufenthalt endgültig ab. Nach den ersten Orientierungsschwierigkeiten und Konflikterfahrungen mit der Familie in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft fühlte sich Magdalena zwei Monate später wie zu Hause: „Jetzt lebe ich hier“, meinte sie stolz zu mir. Auch nach ihrer Rückkehr aus den Weihnachtsferien, die sie in der Slowakei verbracht hatte, schilderte sie ihre Situation in der dreiköpfigen Gastfamilie als „sehr gut“: „Die Familie steht zu mir“, erzählte sie beruhigt, „und letztes Wochenende haben wir zusammen einen Ausflug gemacht. Sie zeigen mir jetzt die Umgebung und die Kultur.“ Vor diesem Hintergrund empfand sie auch die Situation auf dem Dorf und ihre mangelnden Bekanntschaften zu Gleichaltrigen als nicht mehr „so schlimm“, auch wenn sie sich sehr bemühte, Kontakte außerhalb der Familie aufzubauen. Sie hatte zwar ein polnisches Au-pair und einige deutsche Jugendliche kennen gelernt, die sie auch paar Mal zu Discotheken mitgenommen hätten. Doch seien ihr die Deutschen zu „blöd“ und kleinkariert gewesen und das Au-pair habe die Familie gewechselt und wohne jetzt weit weg. Sie gehe zwar ab und zu alleine in die nächstgrößere Stadt, doch ohne jemanden zu kennen sei dies nicht schön. Und sie fragte mich resigniert: „Welches deutsche Mädchen will mit einem Au-pair Freundschaft haben? Die deutschen Mädchen habe die Nase hoch, ich kenne sie mittlerweile.“ Daher sei sie die meiste Zeit zu Hause, wo sie sich intensiv um den kleinen Sohn kümmere und der Gastmutter Haushaltsarbeiten wie kochen und putzen abnehme.
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Die Gastmutter habe nur wenig Zeit, da sie an ihrer universitären Abschlussarbeit sitze. Zunächst habe der kleine Sohn immer geweint, wenn seine Mutter das Zimmer zum Arbeiten verlassen habe, doch in der Zwischenzeit habe er sich gut an Magdalena gewöhnt. Ihre Gastmutter vertraue ihr auch mittlerweile und könne beruhigt ein Stockwerk höher ihren Arbeiten nachgehen. Die Anfangsschwierigkeiten, die sie mir bei unserem ersten Treffen geschildert hatte, schienen vergessen. Damals zeigte sie sich sehr irritiert darüber, wie sie in ihre Gastfamilie eingebunden wurde und sie empfand es als schwierig, sich darin zu orientieren. So hatte sie mit ihrer Gastmutter Arbeitszeiten von sieben Uhr dreißig bis 16 Uhr ausgemacht, wobei sie mir gegenüber nie ansprach, dass dies die Regelarbeitszeit von fünf Stunden grundsätzlich überzog. Jedoch hielt sich die Gastmutter nicht an die vereinbarten Arbeitsstunden und kam immer wieder später von ihrem Schreibtisch zurück. Doch dies schien für Magdalena nicht das wesentliche Problem gewesen zu sein, denn sie meinte: „Ich mache es gerne, der Frau zu helfen, sie muss ja so viel für die Uni arbeiten. Doch will ich auch in die Stadt gehen können und Leute treffen.“ Was Magdalena vor allem problematisch empfand, waren widersprüchliche Aussagen und nicht explizierte Erwartungen bezüglich ihrer Arbeitsleistungen, die es ihr immer wieder abverlangten, das „richtige“ Verhalten zu erahnen und die Grenze zwischen Arbeitszeit und freier Zeit zu definieren: „Was soll ich tun? Da sagt sie, ich soll mehr weggehen und nicht so viel alleine rumsitzen. Und dann fragt sie, ob ich nicht noch länger auf das Kind aufpassen kann.“ Vor allem habe sie das Gefühl, dass ihre „Mithilfe“ immer erwartet wird, was sie in eine schwierige Situation brachte, denn: „Ich will schon helfen, weil ich nett sein will, doch sollen sie nicht glauben, dass das selbstverständlich ist.“ Eine derartige Haltung, die Au-pair-Arbeit als Mithilfe in der Familie zu verstehen, hatte bereits Anna eingenommen, doch im Unterschied zu ihr forderte Magdalena als Belohnung für ihre Hilfe aus Nettigkeit reziprok eine moralische Anerkennung ein, was fortan immer wieder Auslöser für Konflikte sein sollte. Als belastend kam hinzu, dass Magdalena sich von der Atmosphäre in der Familie abhängig fühlte und daher zu Beginn lieber nichts ansprechen wollte. Die Gastmutter sei sowieso schon so angespannt und leicht gereizt durch ihre Abschlussarbeit. Was sie zudem sehr verletzt zu haben schien, war der familiäre Diskurs darüber, welche Kosten sie verursache. So sei die Familie generell sehr auf Sparen aus und hätte ihr auch gleich zu Anfang gewisse Regeln des sparsamen Umgangs mit Licht, Wasser und Strom nahe gelegt, doch der Disput um ihr Essverhalten hatte sie gekränkt. So habe die Gastmutter ihr beim letzten Großeinkauf, als sie noch ein Glas Honig in den Einkaufswagen legen wollte, zu verstehen geben: „Du bist teuer, unser ganzes Geld geht in dein Essen.“ Auch wenn diese Konfliktlinien mit der engeren Integration in die Familie gelöst schienen bzw. sich für Magdalena im Gefühl der Familienintegration aufgelöst hatten, traten sie wenige Monate später mit neuer Intensität wieder an die Oberfläche. Während eines Telefongesprächs im Februar zeigte sich Magdalena wieder sehr geknickt. In der Familie sei richtig „dicke Luft“ und die Gasteltern würden nur noch sehr wenig mit ihr sprechen, was sie nur als „Strafe“ deuten konnte: „Am Anfang haben wir so viel miteinander gesprochen und jetzt. Das schmerzt. Wofür bestrafen sie mich?“ Die angespannte Situation versuchte sich Magdalena während des Telefonats immer wieder aufs Neue zu erklären, wobei sie wiederholt mit der
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Feststellung endete, dass sie als „Fremde“ einfach nicht zur Kleinfamilie gehöre. Zum einen hätte die Familie selbst nicht absehen können, dass ein Jahr mit einer fremden Person sehr lang werden kann. „Am Anfang akzeptieren sie die Sachen, doch dann kommt es zum Streit“, räsonierte Magdalena, als ob es naturgesetzlich so angelegt sei: „Es ist immer so dicke Luft. Die merken das gar nicht, doch ich merke das oft, dass ich nicht zur Familie gehöre. Du kannst auch nicht zur Familie gehören, das ist anderes Blut.“ Nun tadelte sie sich selbst, sich überhaupt auf die angebotene Familienintegration eingelassen zu haben: „Am Anfang hilft die Familie einem, um das Heimweh zu vergessen, doch dann... Ich habe mir am Anfang immer gesagt, ich bin nur ein Au-pair, ich bin nur ein Gast. Gerade als ich das vergessen habe, zeigt die Familie: Da ist die Grenze. Das ist sehr schmerzlich für mich. Vielleicht soll ich die Familie wechseln.“
Auf meine Rückfrage, wie sie dies organisieren wolle, merkte sie wohl, dass dies nicht so einfach ist. Abschließend meinte sie dann auch, es weiter in der Familie versuchen zu wollen, jedoch mit einer neuen Positionierung: „Tiefer Kontakt ist nicht gut. Normaler Kontakt und dann sehe ich, wo die Grenzen sind.“ Nun fühlte sie auch wieder die Isolation im Dorf: „Ich bin manchmal so traurig. Das doofe Dorf, von dem ich nicht wegkomme. Hier kann ich zwischen Kühen und Schafen spazieren gehen.“ Das einzig Positive sei ihr Deutschkurs, wo sie viel über die Situationen in den Familien sprächen und worüber sie wieder eine polnische Au-pair-Frau kennen gelernt hatte. Wir verabredeten uns zwei Wochen später. Als wir uns in Magdalenas Stammlokal trafen, war sie nicht mehr zu halten und erzählte wie ein Wasserfall von den kleineren Konflikten, die zu einem ersten grossen Streit geführt hatten. Vor allem das Schwiegen schien ihr zunehmend auf die eigene Stimmung zu drücken: „So viel Schweigen und immer diese dummen Gesichter. Ich muss sprechen, reden, kommunizieren.“ Den Gastvater, der sich von ihr nur noch bedienen lasse, könne sie schon nicht mehr anschauen. Auch über das Verhalten der Gastmutter, welches sich direkt auf sie auswirke, fand Magdalena nur noch negative Worte: Sie sei „faul“, „unordentlich“, habe „zwei linke Hände“ und keine „praktische Intelligenz“: „Den ganzen Tag lernt sie nur und spielt ab und zu mit dem Kind. Den Rest erledige ich. Bei denen sieht es oft aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.“ Angesichts der atmosphärischen Spannungen verdammte Magdalena den anfänglich engen Kontakt und ihr Gefühl des Aufgehobenseins in der Familie, was sie veranlasst hätte, aus „Dankbarkeit“ mehr zu tun als notwendig. Sie fühlte sich über den Tisch gezogen und ausgenutzt: „Ich war echt dumm. Habe gebügelt, obwohl das nicht meine Aufgabe war. Habe ihr angeboten, länger auf das Kind aufzupassen, damit sie noch lernen kann und habe in meiner freien Zeit im Haushalt aufgeräumt.“ Sie wiederholte es immer wieder, als ob sie sich verteidigen müsse und die Schuld an der negativen Dynamik von sich weisen wolle: „Ich weiß, ich mache meine Aufgaben gut. Ich sehe selbst, wann und was ich aufräumen und machen muss.“ Dafür hatte sie aber im Umkehrschluss auch von ihren Gasteltern Entgegenkommen, Freundlichkeit, ja „Dankbarkeit“ erwartet und dies bliebe nun gänzlich aus. Vielmehr fühlte sie sich auf die Rolle einer Dienerin reduziert: „Ich bin halt doch nur ein Au-pair und eine Ausländerin“, meinte sie enttäuscht: „Das geben sie mir immer wieder zu verstehen. Sie sind höher und ich nur gering.“ Die ausbleibende Anerkennung ihrer Leistungen und ihrer Hilfe decodierte sie als Geringschätzung aus „Hochnäsigkeit“ und „Arroganz“. Vor allem den „Spartick“ der Familie,
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welcher sich ihr gegenüber insbesondere in einer ständigen Kontrolle ihres Essverhaltens manifestierte, stellte sie in diesen Zusammenhang. So sei es während ihrer einwöchigen Grippe zu einem Streit um Mandarinen gekommen, welchen sie als einschneidendes Erlebnis schilderte, der das Fass zum Überlaufen brachte. Davor hatte es, so erzählte sie mir, auch schon einzelne kleinere Konflikte um Essen gegeben: Der Honig, der plötzlich versteckt war; die Süßigkeitenpackung, auf der plötzlich ein Zettel steckte: „Nur für Markus“ – den Sohn, nachdem Magdalena verdächtigt worden war, die letzte Packung aufgegessen zu haben; der Inhalt der Keckspackung, auf dessen Verbleib Magdalena angesprochen wurde, oder die Pralinen, die auf dem Wohnzimmertisch standen und einen „Aufstand“ auslösten, als Magdalena sich einmal davon bediente. Vor wenigen Wochen lag sie nun krank im Bett und habe außer Mandarinen nicht viel essen können. Als sie die Familie bat, beim nächsten Einkauf einen weiteren Beutel mitzubringen, habe der Gastvater ihr zu verstehen geben, dass dies nicht ginge, so viele Mandarinen in so kurzer Zeit zu essen: „Das war schrecklich, ich habe mich so klein gefühlt.“ Daraufhin habe sie sich sehr traurig zurückgezogen und ihre Arbeiten fortan schweigend verrichtet. Ihre Gastmutter sprach sie wenig später auf ihr Verhalten an, worauf sie von dem Mandarinenstreit berichtete und dass sie sich sehr „gedemütigt“ gefühlt habe. Ihre Gastmutter habe ihren Mann hinzugerufen und beide hätten ihr uneinfühlsam gesagt, dass sie nicht so beleidigt sein solle. Es kam zum Streit, dem sich ihre Gastmutter mit Türenknallen entzog. Seitdem knistere es, doch sie habe verstanden, was die Familie im Grund genommen wolle: „Sie wollen ein Au-pair, das nicht isst und nicht duscht, schön billig. Aber ich bin auch ein Mensch, keine Dienerin, und sie die Prinzessin.“ Dabei schien Magdalena großen zeitlichen Druck zu empfinden, angesichts der Visabeschränkung die letzten Monate im Sinne ihrer Migrationsziele zu nutzen. Sie müsse schnell handeln, denn: „Ich will noch was erleben und sehen, sie fressen meine Zeit. Das Beste ist, ich wechsle doch die Familie bevor es zu spät ist.“ In die Slowakei zurückzukehren stand überhaupt nicht zur Debatte. Doch auch dieses zweite Mal schien es ihr nicht leicht zu fallen, den Entschluss endgültig zu fällen und ihn dann auch ihrer Familie mitzuteilen. Vor allem quälten sie Bedenken im Sinne „unterlassener Hilfeleistung“, wobei sie mich zu einer moralischen Instanz ihrer Überlegungen machte: „Wenn ich jetzt gehe, wie kann dann Ulla ihre Arbeit machen? Sie muss dann ja noch auf ihre Prüfungen lernen.“ Auch wenn sie die Auseinandersetzung in Bezug auf die Gastmutter durch den Verweis sich selbst gegenüber entkräften konnte, dass sie ja hilfsbereit gewesen war, doch die Gastmutter ihr keine Anerkennung dafür entgegengebracht hatte, scheiterte sie mit dieser reziproken Helferinnenlogik im Verhältnis zum Sohn. Zu ihm hatte sie eine innige Beziehung aufgebaut, fühlte sich gar als Mutterersatz und damit auch in die Pflicht genommen. Ich konnte ihr dabei nicht viel helfen, doch wusste ich, dass ich von nun an aufpassen müsste, mich nicht noch strärker in den Konflikt hineinziehen zu lassen. Die Pros und Contras eines Familienwechsels lagen auf dem Tisch als wir auseinander gingen. Ich war gespannt, was ich als Nächstes von ihr erfahren würde. Sie blieb noch einmal und in den folgenden zwei Monate schien es ihr wieder besser zu gehen: „Ich habe einen Weg gefunden, zu bleiben“, berichtete Magdalena beim nächsten Treffen. Dieser Weg schien, Annas befreiendem Schritt gegen Ende ihres Aufenthaltes sehr nahe zu kommen. Nun versuche sie, ihre Aufgaben in der Familie
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zu machen und dann sofort außer Haus zu gehen. Dies sei nun auch einfacher, da sie außerhalb wieder ein Ziel habe. Die polnische Au-pair aus dem Deutschkurs habe sich zu ihrer engen Begleiterin entwickelt, die ihr den nötigen sozialen Rückhalt biete. Darüber hinaus habe sie zwei Slowakinnen kennen gelernt, die schon seit ein paar Jahren hier lebten und arbeiteten: „Es ist wie eine Kette, du kennst erst eine und dann lernst du mehr Leute kennen.“ Die eine Slowakin habe erst kürzlich einen Mann geheiratet, um hier zu bleiben. Über sie habe sie auch zwei Jobs vermittelt bekommen, einen in einer Kneipe, den anderen in einer Disco. Das Leben fange jetzt an. Doch dieser erneute Aufschwung fand wenig später sein jähes Ende. Und Magdalena begann zum dritten Mal die alte Kritik in neuer Heftigkeit vorzutragen. Sie ließ kein gutes Haar mehr an ihren Gasteltern. Ihr Verhältnis zu ihnen hatte sich in eine Hass-Beziehung verwandelt: „Sie sind Schweine.“ Im Sinne moralökonomischer Kategorien ging es ihr nicht nur darum, dass sie sich in Sachen Arbeitsleistung ausgenutzt fühlte: „Es geht nicht nur um Arbeit, auch um Gefühle und sie trampeln auf mir rum.“ Nun entwarf sie ein Bild von sich selbst, in welchem sie den ganzen Haushalt organisiere und die Einzige sei, die wisse, wie Ordnung zu halten sei, und die das Kind richtig betreuen könne. Der Spartick und Geiz der Gasteltern machten aber gerade diese Tätigkeiten zu einem schwierigen Unterfangen. Das Kind habe nur wenige Spielsachen, was Magdalena dazu nötige, sich immer neue Beschäftigungsideen einfallen lassen zu müssen. Dies habe dazu geführt, dass der Sohn lieber zu ihr gehe als zu seiner Mutter, was diese wiederum sehr eifersüchtig mache. Auch dürfte sie nicht so oft die Kleidung waschen, so dass der Kleine immer schmutzige Sachen anhabe und sie selbst ihre Kleidung per Hand waschen müsse. Die Stimmung sei verheerend gewesen. Die Gastmutter habe ihr dann einen Brief geschrieben, in dem sie ihr noch einmal die Familienphilosophie von Sparsamkeit, Fleiß und stillem füreinander Dasein auseinander legte. Diesen Brief empfand Magdalena empörend, da er ihrer Meinung nach wieder ihre Mithilfe unterschlug und nicht anerkannte. Dann kam es zu einem großen Familiengespräch, wo ihr nun der Gastvater einen Zehn-Punkte-Katalog überreichte, was ihre Aufgaben und Pflichten seien und in welchen Punkten sie sich der Familienphilosophie zu beugen habe.125 Neben der Aufzählung ihrer Arbeitsaufgaben, wobei die Betreuung des Sohns oberste Priorität habe, aber auch kleinen Mithilfen im Haushalte wie kochen, putzen, ihr Zimmer und das des Sohnes sauber halten erwartet wurden, waren Sachen festgehalten wie: „Das Sparbewusstsein ist auch wichtig für dich. Davon kannst du viel für später lernen.“ Nun reiche es ihr und sie habe letzte Woche mit der kirchlichen Au-pair-Agentur telefoniert in der Hoffnung, dass sie ihr eine neue Familie vermitteln würden. Doch die Ansprechpartnerin hatte nicht viel Zeit und forderte sich dazu auf, es doch mit der Familie noch einmal zu versuchen. Es sei auch nicht einfach, für die verbliebenen Monate eine neue Familie zu finden. Dieses Gespräch hatte Magdalena fürs Erste wieder den Mut genommen, die Familie zu wechseln. Dabei glaubte sie zu wissen, dass auch ihre Gastmutter des Öfteren bei der Agentur angerufen habe und diese nun einseitig informiert der Familie mehr Glauben schenke: „Die hält zur 125 Dieser Zehn- Punkte-Katalog liegt mir vor.
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Familie.“ Nun bat sie mich, doch für sie bei der Agentur anzurufen, da ich sie kenne und mit meinem besseren Deutsch ihren Fall der Agentur differenzierter darlegen könne. Ich konnte ihr diesen Wunsch nicht abschlagen, doch wies ich sie darauf hin, dass es besser wäre, wenn sie zu der Agentur fahre und das direkte Gespräch suche. Ich schilderte ihr die Agentur, so wie ich sie bisher selbst erlebt hatte, als vertrauenswürdig und hilfsbereit. Auch fragte ich sie, ob sie sich nicht selbstorganisiert eine neue Familie suchen wolle. Und ich erzählte ihr von den zahllosen Fällen, die ich mitbekommen hatte, wo Au-pairs selbst Anzeigen in Zeitungen geschaltet oder über Freundinnen eine andere Familie gefunden hatten. Doch dazu hatte sie entweder keinen Mut oder ihr fehlten die Kontakte. So versuchte sie es ein weiteres Mal mit der festen Absicht: „Jetzt werde ich nach mir schauen, nachdem ich mich die letzten Monate um die Familie gekümmert habe. Ich mache nur noch meine Pflicht und nehme auf sie keine Rücksicht mehr.“ Und es schien beinahe so, als ob beide Parteien mit dieser neuen Grenzziehung leben könnten und vor allem Magdalena mit der Vereindeutigung ihrer Position als Arbeiterin und ihrem Bemühen, das Verhältnis zur Familie als Arbeitsbeziehung zu versachlichen, nun ganz zufrieden sei. So berichtete sie mir telefonisch ein Monat später im Mai: „Wir tolerieren uns.“ Auf jeden Fall wollte sie in Deutschland bleiben. Mit Gelegenheitsarbeiten hoffte sie, wenigstens noch so viel Geld zu verdienen, dass sie etwas für ihr späteres Studium in der Slowakei auf die Seite legen könnte. Einen Monat darauf lernte sie einen Mann kennen, in den sie sich verliebte. Doch nur vier Wochen später war alles wieder anders. Magdalena hatte es nicht durchgehalten auf der Ebene einer versachlichten Arbeitsbeziehung mit der Familie zu verkehren. Und dieses vierte Mal war es ihr Ernst, die Familie zu verlassen. Die Koffer seien, so erzählte sie mir bei dem von ihr einberufenen Treffen, schon gepackt und übermorgen ginge ihr Bus. Der Abschied sei jedoch nicht endgültig, denn sie komme wieder nach Deutschland zurück. Allerdings schien sie auch dieses Mal ihren Entschluss, das Arbeitsverhältnis bei der Familie abzubrechen, fortwährend rechtfertigen zu müssen. Vor allem die Zukunft des kleinen Jungen, dem sie nun ihre Hilfe entzog, lag ihr sehr am Herzen: „Jetzt bin ich mal egoistisch. Die ganzen zehn Monate haben sie mich gedrückt, ausgenutzt, kein warmes Wort. Jetzt denke ich mal an mich.“ Bei ihrem letzten großen Gespräch hatten sie ihr zwar das Versprechen abgenommen, bis September zu bleiben, doch es sei ihr jetzt egal, dass sie dies breche: „Sie haben mich auch fertig gemacht und ausgenutzt.“ Ausschlaggebendes Erlebnis für die erneute Verschlechterung des Verhältnisses sei ihre Entdeckung gewesen, dass die Familie sie über ihre Aktivitäten zu Pfingsten angelogen habe: „Die haben mir eine Fahrkarte in die Slowakei zu Pfingsten geschenkt, das fand ich sehr nett von ihnen. Sie erzählten mir, dass sie selbst auf ein Kirchenfest fahren.“ Als Magdalena wieder zurückkam, sei ihr die sonnengebräunte Haut der Familie aufgefallen und sie habe sie gefragt, ob sie viel im Freibad gewesen seien: „Da hat sich die Kuh verplappert. Die haben mich angelogen. Haben wohl gerechnet, wie viel eine Fahrkarte in die Slowakei kostet und wie viel eine nach Italien.“ Diese erneute Erfahrung des Zurückgestoßenseins fielen auf beackerten Boden und Magdalena ging in die Luft: „Und dann reden die immer: Ach Magdalena, wir sind doch eine Familie, du gehörst zu uns. Und dann verreisen die heimlich.“
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Nachdem die Stimmung wieder merklich angespannt war, hätte sich wieder eins zum anderen gefügt und die alte Konfliktlinie um Hilfe und Dankbarkeit sei wieder aufgerissen. Ihre Gastmutter habe sich nach einem Wochenende, an dem Magdalena abwesend war, geweigert, sie aus der nächstgelegenen Stadt abzuholen mit der Begründung: „Du hast doch sonst auch gute Freunde.“ Am nächsten Tag habe ihre Gastmutter ihr dann den wahren Grund ihrer Verärgerung verraten: „ ‚Warum hast du für meinen Mann am Samstag nicht gekocht’, hat sie mir mit so einem Gesicht gesagt: ‚wir sind doch eine Familie und wir machen doch auch viel für dich’.“ Auf dem Ohr der moralischen Anrufung ihrer Arbeitskraft als familiäre Hilfe war Magdalena mittlerweile taub und pochte, so erzählte sie, erst einmal auf ihre Arbeitstunden und -inhalte. Sie sei für die Betreuung des Kindes eingestellt, jedoch nicht für Wochenenddienst für den Gastvater in ihrer Freizeit. „Und außerdem“, in der gleichen Logik entgegnend, „helft ihr mir ja auch nicht, sondern lasst mich alleine nachts durch den Wald laufen.“ Aufs neue derartig verstrickt in einem moralischen Diskurs über ihre FamilienArbeit, sah Magdalena den einzigen Ausweg im Familienwechsel und telefonierte ein weiteres Mal mit der Au-pair-Agentur. Doch auch diesmal habe sie die Antwort der Betreuerin sehr enttäuscht, die sie wieder zum Durchhalten aufgefordert habe. Darüber hinaus habe sie das Gefühl bekommen: „Sie hat mich für die Situation schuldig gemacht. Ich war psychisch ganz unten und sie hat mir nicht zugehört.“ Auch mein Anruf bei der Agentur, in dem ich kurz Magdalenas Situation aus meiner Perspektive geschildert hatte und die Mitarbeiterin mir gegenüber erklärte, sie werde sehen, ob sie eine neue Gastfamilie finden könne, stellt sich nun als nachteilig für Magdalena heraus. Denn die Agentur-Mitarbeiterin vermutete nun mich als Drahtzieherin hinter Magdalenas Begehren. Nicht nur ich war sehr enttäuscht, dass die Betreuerin mir trotz unserer längeren Bekanntschaft eine derartige Rolle zuschrieb und auf die Familie nichts kommen lassen wollte. Auch Magdalena hatte das Telefonat in ihrer Einschätzung bestätigt, dass sie von dieser Seite keine Unterstützung erwarten konnte. So gab sie auf und organisierte sich einen Sitzplatz im EurolineBus in die Slowakei. Doch mit jedem Tag, mit dem die Abfahrt näher rückte, verließ sie die Vorfreude auf Zuhause und Angst und Zweifel beschlichen sie: „Ich hoffe, ich tue das richtige, ich hoffe, es ist gut.“ Denn Abbrechen sei eigentlich nicht ihre Sache, aber so weiterleben wie bisher könne sie auch nicht mehr: „Sie haben mich verrückt gemacht, immer das gleiche, jeden Tag das gleiche. Ich kann nicht mehr.“ Das Einzige, was sie zu trösten schien, war die Gewissheit, dass sie, sobald es ginge, ihrem heimatlichen Dorf wieder den Rücken kehren würde. Die Gründe ihres Weggangs hätten sich nicht geändert: Arbeitslosigkeit, Langeweile, keine Entfaltungsmöglichkeiten, soziale Kontrolle durch die Familie. Jedoch sollte dies ein halbes Jahr dauern bis ich eines Tages von ihr eine Postkarte bekam: „Bin wieder in Deutschland. Mir geht’s toll.“ Und eine Adresse in einem kleinen Dorf am Rande des Schwarzwaldes mit einer Telefonnummer standen dabei. Ich freute mich für sie, dass ihre Rückkehr endlich geklappt hatte, denn ihre Briefe in der Zwischenzeit klangen von Monat zu Monat düsterer. Bei meinem ersten Anruf erzählte sie mir dann auch voller Begeisterung, dass sie nach vielen verschiedenen Anläufen, die ich im späteren Kapitel ausführlicher schildern werde, von ihrer polnischen Freundin die Adresse von einer deutschen Agentur bekom-
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men hatte, die nicht nach ihrem Visum fragte. Darüber habe sie ihre neue Familie, ein alleinstehender Mann mit Tochter, vermittelt bekommen. Sie habe trotz eines mulmigen Gefühls, zu einem alleinstehenden Mann zu ziehen, die Gelegenheit am Schopf ergriffen. Nun sei sie schon seit zwei Wochen bei der Familie, in der es ihr sehr gut gefalle. Denn ihr Gastvater habe ihr gleich mitgeteilt, dass sie nicht die „Dienerin“ der Familie sei und ihr genügend Freizeit eingeräumt. Als ich sie nach einer kleinen Odyssee mit den verschiedensten öffentlichen Verkehrsmitteln in ihrem neuen Zuhause besuchte, musste ich jedoch sehr schlucken ob der häuslichen Verhältnisse. Magdalena macht mir die Türe zu einer kleinen, dunklen und etwas miefigen Wohnung unterm Dach auf, in der sie mit der Tochter das Kinderzimmer teilen musste. Anscheinend war es ihr selbst auch nicht viel anders ergangen als sie das erste Mal den Fuß über die Türschwelle setzte: „Mich hat der Schlag getroffen. Es war nicht nur Unordnung, es war ein totales Chaos. Ich habe erst mal alles geputzt und sauber gemacht.“ Doch sie fügte entschuldigend hinzu: „Ein Mann alleine kann halt keine Ordnung halten.“ Auch sei sie schockiert gewesen, als sie ihren Gastvater das erste Mal zu Gesicht bekam: „Das war ein Schock, als ich ihn das erste Mal sah. Oh Scheiße, er verkauft mich.“ Doch ihre ersten Bedenken hätten sich schnell gelegt. Den Haushalt zu führen und sich um die Tochter zu kümmern, der sie erst einmal beibringen müsse, ihre Sachen in Ordnung zu halten, sei zwar schon viel Arbeit. Doch genieße sie die neue Situation: „Hier bin ich die Frau im Haus, keiner redet mir rein und der Herbert hat mir auch gesagt, dass ich das Putzen nicht machen muss.“ Da die Eltern schon länger getrennt lebten, würde die schulpflichtige Tochter einerseits zwar immer wieder bokkig ihre Anweisungen ablehnen, doch andererseits auch die Anwesenheit einer weiteren Frau im Haus genießen. Magdalena meinte: „Ich bin nun das Vorbild für sie und Ersatz für ihre Mutter.“ Dabei schien sie gar nicht die auch emotional anspruchsvolle Situation gewahr zu werden, sondern sie inszenierte sich als gute Erzieherin und Ersatzmutter. Angesichts dieser vielfältigen Anforderungen, die wieder jede Grenze zwischen Arbeits- und Wohnverhältnis negierten, fragte ich sie, ob sie sich überfordert fühlte. Dies wies sie entschieden zurück. Vor allem schienen die neuen Freiheiten sie für die Arbeitsleistung zu entschädigen: „Ich kann essen so viel ich will und wann ich will. Und der Herbert fragt mich auch, ob er mich wo hinfahren soll oder ob ich mit ihm abends ausgehen will.“ Sie schien mit ihrer neuen Familie zufrieden und lenkte das weitere Gespräch in Richtung Migrationsgründe – auch, um ihre jetzige Situation sich immer wieder selbst zu erklären und aushaltbar zu machen? So erzählte sie mir ausführlich über die Interimszeit in der Slowakei und ihren immer drängender gewordenen Wunsch, wieder nach Deutschland zurückkehren zu können: „Ich habe geweint, ich will wieder nach Deutschland, und gesagt, ich nehme alles.“ Dieses Mal verabschiedeten wir uns im Glauben, dass Magdalena es in dieser ungewöhnlichen Familiensituation noch lange aushalten würde. Die nächsten Telefonate schienen dies zu bestätigen, bis ich ein halbes Jahr später aus der Slowakei eine Mitteilung auf meinem Mobiltelefon fand: „Ich bleibe jetzt in der Slowakei, habe eine Arbeit gefunden. Mir geht’s gut. Deine Freundin Magdalena.“
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4.3. Zur Spezifik von Familien-Arbeit Au-pair als unreguliertes Arbeitsverhältnis Die hier beschriebenen Familiensituationen sind sicherlich nicht repräsentativ für die Bandbreite unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse, mit denen Au-pairs konfrontiert werden. So hatte keine über körperliche Gewalt, sexuellen Missbrauch und Zwang zu gänzlich anderen, schweren oder unzumutbaren Arbeitseinsätzen geklagt, wenn auch in einigen Fällen Ansätze dazu zu finden waren. Von derartigen Erlebnissen erfuhr ich während meiner zweijährigen Forschung vor allem auf den Busfahrten und in der Slowakei von Rückkehrerinnen wie Maria, die nach einem sexuellen Übergriff aus ihrer Familie flüchtete. Auch erzählten die von mir begleiteten Frauen immer wieder derartige Geschichten von anderen Au-pairs, die sie in den Netzwerken kennen lernten. Andererseits schilderte auch keine der sechs Au-pairs ihren Aufenthalt in den Familien als eine rundweg positive Zeit, was auch immer wieder vorkommen mag. Doch auch die hier beschriebenen Beziehungen variieren erheblich und stellen in ihrer relativen „Gewöhnlichkeit“ wohl das breite Mittelfeld relativ gut gelaufener Aufenthaltsverläufe dar, die nichtsdestotrotz von zum Teil extremen Schwierigkeiten für die Au-pair-Frauen geprägt waren. Zusammenfassend möchte ich die beschriebenen Konfliktlagen im Folgenden einer analytischen Sichtung unterziehen. Die Probleme und Konflikte, mit denen die sechs Au-pairs zu ringen hatten, müssen zum einen im Zusammenhang mit der Institution Au-pair selbst gesehen werden, wie sie vertraglich formuliert und von den machtvoll beteiligten AkteurInnen, wie ich sie im vorausgegangenen Kapitel dargestellt habe, kommuniziert und in die Praxis umgesetzt werden. Doch verweisen eine Reihe der Schwierigkeiten zum anderen auch auf die spezifischen Logiken von Haus- und Sorge-Arbeit, die in ihrer kommerzialisierten Variante nicht aufgelöst sind, sondern sich gerade verstärken. Die Kenntlichmachung und Erforschung von Haus-Arbeit als Arbeit stellte eine der wesentlichen Interventionen der feministischen Bewegung und Wissenschaft in den siebziger Jahren in Westeuropa dar. Wissenschaftsgeschichtlich war dies eine zentrale Zäsur, wie über Hausarbeit als weiblich naturalisierte, angeblich unproduktive Tätigkeit und die in die „Privatsphäre“ zurückgedrängten „dienstbaren Geister“ nachgedacht wurde. Das mittlerweile klassisch zu nennende Wortspiel, Hausarbeit als „Arbeit aus Liebe“ und „Liebe als Arbeit“ zu dekonstruieren (G. Bock/ B. Duden 1977), markierte dabei eine zentralen Wegweiser der beginnenden Hausarbeitstheorie. Hausarbeit wurde nun als gesellschaftlich notwendige Arbeit dargestellt und im Begriff der Reproduktionsarbeit als für die kapitalistische Gesellschaftsformation strukturbildend sichtbar gemacht. Gleichzeitig wurde mit „Arbeit aus Liebe“ auch auf ihren spezifischen Charakter verwiesen, welcher in der Figur der „Hausfrau“ und „liebenden Mutter“ kulturell eingeschrieben ist. Dabei handelt es sich um historisch relativ junge kulturelle Konstrukte, welche erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den westlichen Gesellschaften Gültigkeit erlangten und für viele Familien bis heute wirkmächtige Mythen sind (M. Rerrich 1990). Im westdeutschen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit wurde das Konzept des Ernährer-Mannes und der von ihm abhängigen Nur-Hausfrau institutionell fundiert: Liebes-Arbeit gegen
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sozialfinanzielle Absicherung, wobei der Arbeitscharakter der Haus-Arbeit dethematisiert wurde (I. Oster 1995). In der Folge wurde die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in der feministischen Debatte als wesentliches Moment der Geschlechterungleichheit und als soziokulturelle Grundlage geschlechtsdifferenter Subjektivierungsprozesse und Positionszuschreibungen begriffen, welche sich bis in die öffentliche Sphäre der Erwerbsarbeit hinein verlängern – zu sehen am Konstrukt der höchstens dazuverdienenden EheFrau (K. Hausen 1980; B. Sauer 1998). Vor diesem Hintergrund fragen nun die Herausgeberinnen des ersten in Deutschland vorliegenden Sammelbandes zu bezahlter Hausarbeit gut dreißig Jahre nach der beginnenden Diskussion um die Arbeit der „Haus-Frau“: „Ist die Arbeit aus Liebe minus Liebe einfach Erwerbsarbeit wie jede andere Erwerbsarbeit? Oder ist sie etwas qualitativ anderes (...) etwas Drittes, das wir theoretisch noch nicht benennen können?“ (C. Gather/ B. Geissler/ M. Rerrich 2002: 8). Wir werden sehen, ob bezahlte Hausarbeit ohne „Liebe“, das heißt ohne affektive Anteile und Empathie überhaupt vorstellbar ist oder ob diese ihr gerade zur Falle wird. Au-pair als domestic worker Die Aufenthaltsverläufe und geschilderten Arbeitssituationen haben deutlich gemacht, dass Au-pairs zu einem wichtigen Glied der Fürsorgekette wurden, die vor allem Doppelverdienerfamilien um sich herum aufbauen, um Beruf, Haushalt, Kinder und Freizeit koordinieren zu können. In den meisten interviewten Familien waren sie die einzigen hinzugezogenen Hilfen zur Kinderbetreuung und Hausarbeiten, nur Familie Wagner hatte zusätzlich zur Au-pair noch eine Putzkraft beschäftigt und Vierka wurde von der Oma der Familie manchmal abgelöst. Erst die Anwesenheit der Au-pair-Frauen versetzte die deutschen Gastfamilien in die Lage, ihren Berufen und ihrer Lebensführung nachgehen zu können. Vor allem hinsichtlich der Kinderbetreuung ersetzten in den meisten Fällen die Au-pairs die Hausarbeitskraft der deutschen Frauen und setzten sie damit frei, am primären Arbeitsmarkt zu partizipieren.126 Dabei handelt es sich bei Au-pair um eine sehr spezifische Form bezahlter migrantischer Hausarbeit, die sich von der in Deutschland am häufigsten auftretenden Form, den stundenweisen bezahlten Putz- oder Bügelkräften, durch ihren live-in Charakter wesentlich unterscheidet. Gerade hierbei wirken sich der geringe Formalisierungsgrad von Au-pair (als Arbeitsverhältnis) und seine öffentliche Rezeption als Kulturaustausch jedoch negativ aus. Angesichts des öffentlich reproduzierten Bildes von Au-pair als Kulturaustausch scheinen die staatlichen Akteure nicht die Notwendigkeit zu sehen, das Au-pairArbeitsverhältnis stärker zu formalisieren, wie es der Europarat in seinen Resolutionen angemahnt hatte. In diesem Zusammenhang scheinen selbst die fixierten arbeitszeitlichen Minimalstandards und inhaltliche Bestimmungen, die die Arbeit von Au-pairs im Wesentlichen auf die Kinderbetreuung und daneben auf die Mithilfe im 126 Diese kompensatorische Beschäftigung von Au-pairs stellt einen entscheidenden Unterschied zum historischen Beschäftigungsverhältnis von „Dienstmädchen“ um die Jahrhundertwende dar, die meist als zweite Hausarbeiterin zusätzlich zur Haus-Frau angestellt worden. Heute scheinen Au-pairs oftmals die Haus-Frauen temporär zu ersetzen.
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Haushalt festlegen, in der/für die Praxis an Relevanz zu verlieren und von den beteiligten AkteurInnen nicht zur Geltung gebracht zu werden. Dabei setzt sich die Praxis der geringen Regulation, wie wir im letzten Kapitel sahen, von den Arbeitsämtern zu den Agenturen fort, die wiederum mehr oder minder auf den guten Willen der Arbeitgeberfamilien vertrauen und kein Kontrollverfahren durchführen. Da die Privatsphäre bislang aus guten und weniger guten Gründen als Tabuzone öffentlicher Kontrolle und als (datenrechtlich) geschützter Bereich galt, sind die konkreten Arbeitssituationen der Au-pairs den ungleich mächtigen AkteurInnen zur Aushandlung überlassen, was durchaus für Migrantinnen ohne Papiere auch von Vorteil ist. Aufgrund des geringen Informationsgrads und der starken Abhängigkeit von ihren ArbeitgeberInnen ist die Verhandlungsposition der meisten Au-pairs zu Beginn des Aufenthalts jedoch äußerst schlecht. Sie können nicht mehr als auf eine „gute Familie“ hoffen, wobei die Au-pairs mit ihrem Ausspruch „Glück gehabt“ ihre rechtlose Position und das informalisierte Verhältnis antizipieren, was ihnen nicht das „Recht auf“ eine gute Arbeitssituation in einer angenehmen Familie zusichert. Vielmehr sind sie, wie auch die US-amerikanische Kulturanthropologin Rhacel Salazar Perrenas (2001: 164) in ihrer vergleichenden Forschung über philippinische domestic workers in Italien und den USA aufzeigen kann, aufgrund des geringen Formalisierungsgrades arbeitsrechtlicher Standards primär vom Verhalten, der „Kooperation“ und „Sensibilität“ der Arbeitgeber abhängig.127 Erst nachdem die slowakischen Frauen meist über die Deutschkurse Kontakte zu anderen Au-pairs geknüpft haben und hierüber nicht nur einen sozialen Rückzugsraum gefunden haben, sondern auch Wissen um Rechte und Pflichten sowie Erfahrungswissen über Lösungsstrategien vermittelt bekamen, fingen sie wie Vierka an, sozusagen Tarifverhandlungen zu führen. Vor allem lernten sie erst durch den Vergleich mit anderen, ihre eigene Situation einzuschätzen und sie nicht als gegeben oder als „normal“ hinzunehmen. Vor diesem Hintergrund wird auch die Unterschiedlichkeit der Arbeitsverhältnisse, in denen sich die sechs Au-pairs zu Recht finden mussten, erklärbar. Dabei lässt sich Jirinas klar strukturiertes und abgrenzbares Arbeitsverhältnis als „Haushaltshilfe“ vor dem Hintergrund der übrigen Au-pair Erzählungen als Ausnahme nicht nur in meinem Sample bewerten. Die gängigste Arbeitssituation scheint ein Mix aus in erster Linie Kinderbetreuung und nebenher zu erledigenden Hausarbeiten zu sein, wie sie auch Salazar Perrenas für live-ins als charakteristisch beschreibt (ebd.: 160). Helma Lutz kann in ihrer empirischen Studie (2007) diese Entgrezung und vielfältigen Arbeitsanforderungen auch zunhemend für live-outs in Deutschland nachweisen. So übernehmen auch Frauen, die „nur“ als Putzkraft eingestellt sind, zunehmend andere, auch affektive Arbeiten. Dies nimmt bei den Au-pairs unterschiedliche Ausmaße an, die weit über die „Mithilfe bei leichten Haushaltstätigkeiten“ hinausreichen: Kochen und Küche sauber halten, die Wohnung staubsaugen und wischen, sich um die Pflanzen kümmern, waschen und bügeln, den Sanitärbereich sauber halten bis zu Gartenarbeiten und der Mithilfe in Betrieben. Angesichts der geräumigen Eigenheime und des gestiegenen Lebensstandards, welcher sich in den 127 So kann auch Perrenas (2001: 164) zeigen, wie die HausarbeiterInnen mit dem Topos der „guten“ und „netten“ Arbeitgeberin die infolge der mangelnden Arbeitsstandards herrschenden Willkür antizipierten und ihr begegneten.
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Gastfamilien in herumstehenden Accessoires, Stilmöbeln oder großen Fensterfronten ausdrückt, aber auch der Verwissenschaftlichung und Ökologisierung des Haushalts vom Mülltrennen, Energiesparen bis hin zum Einsatz des „richtigen“ Putzmittels waren die nebenher zu erledigenden Aufgaben nicht nur zeit-, sondern auch wissensintensiv. Darüber hinaus hatten die Au-pairs, wie Anna oftmals beklagte, den häufig impliziten Vorstellungen ihrer Gastmütter in der Ausführung der Tätigkeiten zu folgen. Dabei wurden sie den Au-pairs im unterschiedlichen Ausmaß von Mithilfe bis hin zur völligen Übertragung überlassen: Während Magdalenas Schilderungen den Eindruck erwecken, als wäre sie allein für die tägliche Haushaltsführung zuständig, schienen die Gastfamilien – überwiegend die Gastmütter – von Anna, Vierka und Vanessa selbst noch Hand anzulegen und auch ihre Kinder nicht davon zu befreien, ihre Sachen selbst aufzuräumen. Vor allem bei der Betreuung kleiner Kinder führte diese Doppelbelastung wie bei Vierka zu einer massiven Überforderung, die meist darauf hinauslief, dass die Aupairs die Hausarbeiten oftmals nichtbewusst im Sinne eines Bummelstreiks schleifen ließen, was viele Gastfamilie als „Faulheit“ betrachteten. So meinte Vierkas Gastmutter während unserer ersten Begegnung, dass sie zu Beginn schon dachte, dass ein Au-pair „mehr arbeiten“ könne und sichtlich enttäuscht war, dass einige Arbeiten liegen blieben. Da ihr aber die sorgfältige Betreuung ihrer kleinen Tochter sehr am Herzen liege, wie sie erklärte, habe sie sich damit abgefunden und habe wieder selbst mehr im Haushalt gemacht. Dieses Begründungsmuster habe ich auch von Vanessas Gastmutter gehört, die ihre Enttäuschung über Vanessas Arbeitsleistung im Haushalt dadurch kompensiert sah, dass Vanessa sich intensiv mit ihrer kleinen Tochter beschäftige. Dieser Mix und insbesondere die Kinderbetreuung implizierten aber auch ein hohes Maß an Unreguliertheit, die durch die Arbeitsstile der arbeitgebenden Familien noch gesteigert wurde. Während Jirina nach Beendigung ihrer Hausarbeiten gehen konnte, konnten die anderen Au-pairs ihre zu betreuenden Kinder nicht einfach stehen lassen, wenn ihre vereinbarten Arbeitszeiten, so es sie gab, überschritten wurden. Auch wurden sie abends und am Wochenende, so es für die Familien erforderlich wurde, zum Babysitting hinzugezogen. Annas Situation, die dem klassischen Bild eines in die Familie gut integrierten Au-pairs am ehesten entsprach, war in dieser Hinsicht die schwierigste, da sie mit nicht formulierten Arbeitszeiten und unklar definierten Aufgaben zurecht kommen musste: Kinderbetreuung rund um die Uhr, abrufbereit wartend bis ihr Einsatz wieder erforderlich wurde. Die moralische Ökonomie des Caring Anna und die anderen Au-pairs wurden nicht nur damit konfrontiert, dass Familienarbeit zeitlich höchst entgrenzt ist. Vor allem die kinderbetreuenden Au-pairs hatten alle damit zu ringen, dass die Beziehungs- und Sorgearbeiten ihre ganze Person anriefen und auch eine emotionale Involviertheit und ein hohes Maß an affektiver Zuwendung erforderten und begründeten (vgl. auch H. Lutz 2007: 88 ff. und 202). Ohne eine „innige“, affektive, liebende Bindung zu den Kindern wurde ihre Betreuung zu einem nervenaufreibenden Drahtseilakt. So fühlte sich nicht nur Anna zur „Nettigkeit“ verpflichtet, damit die zu betreuende Tochter sie akzeptiere.
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Doch die Beziehung aus Not entwickelte sich in den meisten Fällen in eine Bindung aus Zuneigung, die eine klare Grenzziehung zwischen Arbeit und sozialer Verantwortung nicht mehr zuließ. So nahm Anna die Kleine auch in ihrer freien Zeit mit und Magdalena sah sich unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck gegenüber dem Kleinsten der Familie, als sie sich überlegte, die Familie zu wechseln. In diesem Zusammenhang übersetzten sich die Au-pairs die Überforderung, die die Ganztagsbetreuung besonders von Kindern im Krabbelalter bedeutete, oftmals in „Verantwortung“ und inszenierten sich als die „wahren“ und „besseren“ Mütter. Diese Dimension der Beziehungs- und Sorgearbeiten reicht weit über die funktionale Organisation eines reibungslosen Ablaufs des Mikrokosmos Kleinfamilie hinaus, wie es der Begriff der „Reproduktion“ in Spiegelung der „Produktion“ der Lohnarbeitssphäre impliziert. Um diese Dimension mit einzubeziehen, hat sich in der internationalen sozial- und arbeitswissenschaftlichen Hausarbeitsdebatte der Begriff „care work“ verbreitet (vgl. B. Geissler 2002, 31; M. Madörin 1999). Neuere Ansätze verweisen auf die multiplen Leistungen und Kompetenzerwartungen der Familienarbeit, die neben den Haus-, Versorgungs-, Betreuungs-, Pflege- und Erziehungsarbeiten auch ästhetische, administrative und repräsentative Tätigkeiten umfasst (vgl. M. Resch 2002; S. Odierna 2000; B. Geissler 2002; H. Lutz 2007). In diesem Sinne schreibt auch Bridget Anderson (1999: 118): „Domestic work is extremely difficult to define (…), reproductive work is not confined to the maintenance of physical bodies nor to the maintenance and reproduction of some abstract labour power: people are social, cultural and ideological beings. Reproductive work, mental, physical and emotional labour, create not simply labour units, but people.”
Darüber hinaus baut die Arbeit im Privaten und am Privaten auf komplexen kulturellen Grundlagen auf, die sie in ganz spezifischer Weise strukturieren und sie auch zwischen Haushalten differieren lässt. Hier nennt die Arbeitssoziologin Birgit Geissler, die die Handlungslogiken von Haushaltsarbeit mit denen von Erwerbsarbeit vergleicht, nicht nur soziokulturelle, normative Muster von Partnerschaft, Familienleben und Erziehungsleitbildern, die in Deutschland vom Bild der „guten Mutter“ und der „privaten Kindheit“ geprägt sind. Dabei ist vor allem die Erziehungsnorm einer „privaten Kindheit“ im Schoß der Kleinfamilie im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten, die beispielsweise eine Ganztagsbetreuung vom Kindergarten bis zum Schulalter anbieten, in Deutschland noch gesellschaftlich stark verankert. Ferner seien die Handlungslogiken von Haushaltsarbeit durch Reinlichkeitsstandards, ästhetische Präferenzen, Konsumnormen oder zeitökonomische Vorstellungen von Tagesabläufen bis hin zu biografischen Entwicklungsstufen und Geschlechterkonzeptionen geprägt. In diesem Sinne bestehe ein zentraler Unterschied zwischen Erwerbs- und Haushaltsarbeit darin, dass erstere formalisiert ist und auf rationalisierten Vertragskriterien aufbaut,128 während letztere strikt kontextgebunden ist und auf „normativ fundierten und interaktiv“ auszuhandelnden gegenseitigen Ansprüchen und implizitem Wissen beruht. Das heißt nicht nur, dass Hausarbeiterinnen diese impliziten Normen zu erfassen haben. Vor allem bedeutet 128 Aus kulturanthropologischer Sicht ist jedoch auch diese Grundlegung von Erwerbsarbeit um weitere kulturelle Dimensionen zu erweitern wie kulturell hergestellte Normen sozialer Interaktion, implizite und inkorporierte Wissensressourcen oder professionsspezifische Wissenskulturen, die höchst vergeschlechtlicht sind. Ebenso scheint im zunehmenden Maße affektive Arbeit auch einen immer bedeutsameren Anteil in der Erwerbsarbeit insbesonders in den wachsenden personenzentrierten Dienstleistungen und der steigenden Bedeutung der „Service“-orientierung auch in anderen Sparten auszumachen.
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dies, dass die Arbeitsebene bei Haushaltsarbeit nicht von der Beziehungsebene zu trennen ist und nicht nur die Definition von Bedürfnissen und die Art und Weise ihrer Befriedigung im Sinne einer moral economy – einer sittlichen Ökonomie – reguliert ist, sondern darüber auch die Sinnhaftigkeit, Anerkennung und sozusagen die Entlohnung vermittelt ist. Unter dem Strich, so Geissler, stelle die Empathie (soziale, emotionale Bindungen) und Unentgeltlichkeit die zentralen Handlungslogiken von Familienarbeit dar (vgl. B. Geissler 2002: 39 f.). Was bedeutet dies aber für bezahlte Arbeit in der Privatsphäre, welche Handlungslogik setzt sich durch bzw. wie werden die unterschiedlichen Handlungslogiken kommuniziert und ausgehandelt? Da Au-pair offiziell nicht als Arbeitsverhältnis codiert ist und auch von den slowakischen Frauen nicht als solches betrachtet wurde als sie nach Deutschland gingen, handelt es sich bei Au-pair strukturell um ein undefiniertes Zwischenverhältnis, dessen ambivalenten Arbeitscharakter die Au-pair-Frauen erst im sozialen Kontext realisierten. Dabei wird offensichtlich, dass auch die jungen slowakischen Frauen die impliziten Handlungslogiken von Hausarbeit kennen und inkorporiert haben. Denn ihre ersten Schritte in die Familienarbeit hinein waren von der Haltung gekennzeichnet, sich in die Familien als Mitglied integrieren zu wollen und folglich auch selbstverständlich mitzuhelfen, wie es Anna und Magdalena zugespitzt zum Ausdruck bringen. Die geringe Definition von Au-pair und die anfänglich geringe Klarheit der Au-pairs über ihre zukünftiges Arbeits- und Lebenssituation verstärkt diese kulturell eingeübte Haltung – man könnte fast sagen: nutzt sie aus. So reproduzieren die Au-pairs selbst die auf gegenseitige soziale Bindungen aufbauenden Handlungslogiken von Hausarbeit bzw. sind von der ersten Minute in den Handlungslogiken eines auf Reziprozität aufbauenden Hilfe-Verhältnisses verfangen: „Ich helfe der Familie“ oder gar personifiziert „der Gastmutter, weil sie mir helfen“, wie es Anna und Magdalena formulierten. Im Sinne der moral economy erwarteten die Au-pair-Frauen jedoch, dass ihnen Nettigkeit, Dankbarkeit und Anerkennung für ihre Arbeit in der Familie, letztlich eine gleichwertige Behandlung als Mitglied der Familie, entgegengebracht wird, womit die meisten allerdings scheiterten. Dabei ist die von allen zu Beginn ihres Aufenthalts ersehnte Familienintegration und der Wunsch, „Mitglied der Familie“ oder „wie eine Tochter“ zu werden, auch als nicht-bewusst eingesetzte, doch widerständige Verweigerungshaltung zu verstehen, die von vielen bereits in der Slowakei befürchtete Rolle einer Dienerin einzunehmen. Auch wenn sie selbst wie Magdalena und Anna damit ihr Arbeitsverhältnis dethematisierten und sich somit ausbeutbar machten, stellte dieses Bestreben eine Art Normalisierungsstratgie aus einer unterlegenen Position dar, die auf eine gleichwertige Behandlung, wie sie anderen Familienmitglieder zuteil wurde, abzielte und einen respektvollen Umgang anrief. Diese Strategie, sich als „Familienmitglied“ darzustellen, ist dabei nicht auf Au-pair beschränkt, wie Rhacel Salazar Parrenas in ihrer Studie über philippinische Live-ins zeigen kann. Sie demonstriert ebenfalls, dass diese Selbstdarstellung nicht nur negativ als Verkennungszusammenhang zu verstehen ist, welcher die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Arbeitgeberfamilie und Live-ins perpetuiert und der Ausbeutbarkeit Tür und Tor öffnet, sondern auch als Gegenstrategie: „(...) the women in my study still use intimacy to deemphasize servitude“ (R. Parrenas 2001: 179 f.).
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Hier zogen die Gastfamilien jedoch eine Grenze bzw. die Rolle, die sie den Au-pairs aufgrund ihrer eigenen beruflichen Lebensführung zuschrieben, war die einer Arbeitskraft, die im Einschluss in die Familie doch ausgeschlossen blieb. Derart konnten die Arbeitgeberinnen die Zuschreibung als „Untergebene“ aufrechterhalten, die weisungsgebunden für die Familie zu arbeiten hatte. Diese Haltung kritisierten die Au-pairs, wenn sie beklagten, dass ihre Gasteltern nur wenig Zeit für sie hätten und immer im „Stress mit der Arbeit“ seien. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen, stellte die Zeitknappheit und der „Stress“ aufgrund der erwerbsarbeitsintensiven Alltage auch eine wesentliche Motivation der deutschen Familien dar, warum sie zur Erledigung gewisser Teile der Haushaltsarbeiten zusätzliche Dienste einkauften. Insofern gründete das Verhältnis der Gasteltern zu den Au-pair-Frauen von Anfang an auf einer monetarisierten Beziehung, die darin auch ihren Sinn erfuhr. Diese Verletzungen der Logiken der moral economy verstärkten bei den Au-pairs das Gefühl der Abwertung und des emotionalen Ausgenutztwerdens seitens der Gastfamilien, welches durch Praktiken wie die Delegation von Arbeiten über Arbeitslisten oder rechthaberisches Verhalten der Gastmütter im Konfliktfällen verstärkt wurde. So klagten zwar einige über lange Arbeitszeiten und überfordernde Arbeitsinhalte, aber alle kritisierten, erniedrigend behandelt zu werden. Alle Aupairs außer Jirina hatten vor allem mit der in der Institution Au-pair strukturell angelegten Uneindeutigkeit ihrer Positionierung in der Familie zwischen „Mitglied“ und „Tochter“ versus „Arbeiterin“ zu ringen, bis sie sie in Richtung „Arbeitskraft“ vereindeutigen konnten. Magdalena, die bis zuletzt versuchte, ihre Position in die andere Richtung hin aufzulösen, scheiterte. Kontrollierte Privatsphäre Eine weitere Schwierigkeit, mit welcher die Au-pair-Frauen als am Arbeitsplatz mitwohnende Hausarbeiterinnen konfrontiert waren, war das Ineinsfallen von öffentlichem und privatem Raum am Arbeitsplatz „Familie“ und die damit zusammenhängende Intimität der sozialen Arbeits-Beziehungen. So betonten alle befragten Au-pairs, dass ihr Wohlbefinden zentral von der Atmosphäre in der Familie und den Launen der Gasteltern abhängig war. Da die Privatsphäre der Gastfamilie sowohl ihren Arbeitsplatz als auch ihren Lebensmittelpunkt darstellte, unterlagen sie in ihren gesamten Lebensvollzügen der Kontrolle der Gasteltern. Diese konnte wohlwollend gestaltet, aber auch unberechenbar restriktiv ausgeübt werden. Dabei erstreckte sich die Kontroll-Macht der ArbeitgeberInnen von den zeitlichräumlichen Handlungsfeldern der Au-pairs bis in intimste Bereiche ihrer Lebensführung. So artikulierte sich die Kontrolle in der Definitionsmacht über die Nutzung des häuslichen Raums und der reduzierten Gewährung von Privatheit und Eigen-Orten, wobei die Unterbringung vieler Au-pairs im Keller neben der Waschküche Bände sprach (vgl. hierzu R. Parrenas 2001: 165; B. Anderson 2001). Diese „spatial inequality“, wie es Parrenas nennt, konnte soweit gehen, dass Au-pairs nicht am Tisch der ArbeitgeberInnen mitessen oder die Waschmaschine nicht mitbenutzen durften und auf Handwäsche verwiesen waren. Somit wurde die „Privatsphäre“ für die von mir begleiteten Au-pairs über kurz oder länger zu einem fremdbestimmten Terrain, was sie zum einen den Rückzug in ihr eigenes kleines Zimmer und zum
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anderen die Flucht in die „öffentliche Sphäre“ antreten ließ, wo sie ihre Privatheiten im Kreis der Au-pair-Netzwerke leben konnten. Doch auch die Möglichkeiten des zeit-räumlichen Außenkontakts wie die Nutzung des Telefons oblagen dem „good will“ der Gastfamilie. So bekam ich von Anna, Magdalena und Jirina am Telefon einige Male zu hören, dass sie jetzt nur kurz telefonieren könnten, da sie ihre Hausarbeiten bis zum Eintreffen der ArbeitgeberInnen fertig stellen müssten bzw. ihre Gastfamilie anwesend sei und sie nicht offen sprechen könnten. Andererseits erzählten mir alle, dass ihre Telefonate vor allem in die Slowakei auf einmal pro Woche oder Monat begrenzt waren. Dies führte dazu, dass sich alle Au-pairs bis auf Jirina ein Mobiltelefon leisteten, um kommunikativ unabhängig von ihren Gastfamilien zu werden. Vor allem die Möglichkeit der Kurzmitteilung nutzten viele intensiv, um ein Lebenszeichen an ihre Familien zu Hause zu senden. Die Kontroll-Macht der ArbeitgeberInnen reichte jedoch auch bis in die intimsten Bereiche von Körperpraktiken wie Essgewohnheiten, Körperhygiene, körperliches Erscheinungsbild und Sexualität, was vor allem Magdalena und Vanessa beschrieben. Die Wahrnehmung von Kontrolle, insbesondere was die Quantität und Qualität der Nahrungsaufnahme anbelangt, war ein weitverbreitetes Phänomen, wovon mir auch viele andere Au-pairs erzählten. Auch hörte ich in den Gesprächen mit Au-pairs auf den Busfahrten oder im Au-pair-Treff weniger von tätlichen Übergriffen als immer wieder von der Problematik sexualisierter Diskurse, sei es in Form von anzüglichen Witzen oder in Form von anerkennenden oder aberkennenden Bemerkungen über das körperliche Erscheinungsbild der Au-pairs. Ebenso berichteten einige von Kontrollversuchen ihrer Sexualität, vor allem dann, wenn sie eine Beziehung anfingen. Es scheint, als würde domestic workers eine eigene, selbstbestimmte Sexualität abgesprochen, da sie als Bedrohung des feminisierten Arbeitsvermögens „Versorgungsarbeiterin“ für die arbeitgebende Familie gilt. Auch hierbei wird das Interesse der arbeitgebenden Seite an der „reinen“ Arbeitskraft „Au-pair“ ersichtlich, die inkorporiert, in den Körper der Hausarbeiterinnen eingelassen ist. In diesem Sinne ist der Arbeitsplatz „Privatsphäre“ als äußerst sexualisierter Raum zu beschreiben, der angesichts der emotionalen und arbeitsorganisatorischen Verletzlichkeit sowie aufenthaltsrechtlichen Abhängigkeit der Au-pairs offen ist für verbalen bis hin zu tätlichen Missbrauch und vor allem die Angst davor und in Folge Unsicherheit permanent produziert. Dabei sind die Anrufungen, wie wir sahen, durchaus ambivalent. Während in anzüglichen Witzen und Bemerkungen über das Aussehen die Sexualität der jungen Frauen für den männlichen Blick auffordernd adressiert wird, werden eigenständige sexuelle Beziehungen der Frauen ungern gesehen und unterbunden. Die Wahrnehmung der Abhängigkeit von der Atmosphäre in der Familie bei gleichzeitigem Wissen um ihre Kontroll-Macht führte dann auch dazu, dass sich die Aupairs, solange sie noch kein eigenes soziales Standbein in den Au-pair-Netzen gefunden hatten, nicht trauten, Kritik zu üben. Nur Magdalena und Vierka beschritten nach längerem Aufenthalt den Weg, offen Konflikte in ihren Familien anzusprechen. Die anderen schienen eher den stillen Rückzug als Konfliktstrategie gewählt zu haben. Die starke Außenorientierung von Vanessa, Vierka und Tanya und gegen Aufenthaltsende auch von Anna ist in dieser Hinsicht als Widerstandspraxis zu
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verstehen. Sie koppelten sich mit ihrem Privatleben von den Familienlogiken ab und behandelten die Familie vor allem als Arbeitsplatz. Magdalena versuchte auch immer wieder ihr Verhältnis zum Arbeitsplatz Familie zu versachlichen, doch holten sie die Handlungslogiken der care economy ein. Für die anderen schien die Außenorientierung die einzige Möglichkeit gewesen zu sein, klare Grenzen zwischen Arbeiten und Leben, zwischen Arbeitsplatz und Lebensort zu ziehen. Dafür mussten sie allerdings auch die sozialen Bindungen zu den Kindern wieder lockern und sie als Objekt ihrer Tätigkeit begreifen, was für Anna sehr schwierig war und wohl ihren Ablösungsprozess so lang hinauszog. Diese multiple und schwer in arbeitswissenschaftlichen Kategorien zu fassende Grundkonzeption von Familienarbeit erschwert, bezahlte Hausarbeit zu definieren, wie Bridget Anderson generell für live-ins feststellt (1999, 120): „Thus, it would seem that a domestic worker is not just a person who performs a job, but like ‚mother’ and ‚wife’, she is fullfilling a role within the family. (…) So, in the final analysis, domestic work is not definable in terms of tasks, nor permanent availability, but in terms of a role which constructs and situates the worker within a certain set of social and economic relationships.“
Dabei scheinen Au-pairs nicht nur mit dem geringen Formalisierungs- und Definitionsgrad der Institution Au-pair bezüglich der zu verrichtenden Arbeiten zu kämpfen, sondern vor allem auch mit den Uneindeutigkeiten und emotionalen wie sozialen Spannungen, die die Haus- und Sorgearbeiten in der live-in-Situation produzieren. Die Schwierigkeiten der Au-pairs mit dem geringen Regulationsgrad des Arbeitsverhältnisses „Au-pair“ und den Handlungslogiken bezahlter Arbeit in der Familie sind jedoch nicht ohne die jeweiligen Interaktionen und aufeinander wirkenden Praktiken der im konkreten Fall beteiligten AkteurInnen zu verstehen. Denn die Offenheit von Au-pair stellt auch eine Chance zur positiven Gestaltung dar. Da die Logiken privater Arbeit, ihre Interpretation und Umsetzung in Praxis ebenso kontextgebunden und eben nicht formalisiert sind, sind sie der Aushandlung überlassen und immer offen für Veränderungen und Kompromisse. Dies verweist aber auch darauf, dass den Akteuren unterschiedlich machtvolle Handlungsräume zur Verfügung stehen, die sie im positiven wie negativen Sinne nutzen können. Daher werde ich mich nun der anderen Seite des Interaktionsverhältnisses zuwenden und die Aussagen und Deutungen der Gastmütter denen der Au-pairs gegenüberstellen. Diese wechselseitige Sicht wird noch einmal neue Problemlagen für die Au-pairs erschließen. Denn das live-in Verhältnis, welches den Au-pairs am meisten zu schaffen machte, scheint den deutschen Frauen Au-pair gerade lukrativ zu machen. 4.4. Arbeitgeberinnen im Privaten – zur Nachfrage nach bezahlter Hausarbeit „Der Traum von einer Au-pair“ Frau Schuler, Vierkas Gastmutter, war Mitte dreißig und arbeitete halbtags in einer Betreuungseinrichtung für Kinder. Daneben hatte sie noch für einige Stunden in der Woche eine weitere Arbeit angenommen. Erst vor wenigen Tagen hatte sie ihr
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zweites Kind zur Welt gebracht und war daher zu Hause und hatte etwas Zeit, mir ein Interview zu geben. Sie empfing mich in ihrem geräumigen Haus, welches sie zusammen mit ihrem Mann oberhalb des Hauses ihrer Mutter vor einigen Jahren gebaut hatte. Ihr Mann war jüngst in eine höhere Managerposition aufgestiegen und seitdem noch mehr unterwegs und noch seltener zu Hause als schon zuvor. Da Vierka schon vor einem Monat abgereist war, sprang die eineinhalbjährige Tochter um uns herum, während Frau Schuler sichtlich erfreut über einen Besuch und Abwechslung sofort in medias res ging und mir ihre Au-pair-Geschichte zu erzählen begann: „Jetzt merke ich erst, wie viel mir Vierka doch abgenommen hat.“ Auch wenn sie in den ersten Wochen ihres Aufenthalts viele Konflikte mit ihr gehabt habe, da Vierka nicht alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt habe, meinte sie nun: „Hoffentlich haben wir auch so viel Glück mit dem neuen Au-pair, was bald kommen soll.“ Denn auch nach der Geburt ihres zweiten Kindes wollte Frau Schuler bald wieder arbeiten gehen und ohne Hilfe könne sie dies nicht bewerkstelligen. Die Gründe seien die gleichen wie vor eineinhalb Jahren als sie nach längerer vergeblicher Suche nach einer Betreuungsmöglichkeit für ihre Tochter schon ganz verzweifelt endlich auf das Au-pair-Angebot gestoßen war. Eigentlich hatten sie und ihr Mann geplant, auf ihre Mutter zurückzugreifen, als sich das erste Kind ankündigte. Dies wäre sehr praktisch gewesen, da sie in der unmittelbaren Nähe wohnte, was eine enge und unproblematische Koordination möglich gemacht hätte. Doch ihre Mutter wurde plötzlich krank und Schulers standen ohne Kinderbetreuung da. In dem Dorf, dreißig Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt, schimpfte Frau Schuler, gebe es zwar zwei Kindergärten, doch keine Krabbelstuben für unter dreijährige Kinder: „Was hätte ich tun sollen? Doch ich habe keine Minute daran gedacht, meine Arbeit aufzugeben. Dann bin ich zum Arbeitsamt gelaufen, ich wusste nicht sonst wohin, dachte, dass sie vielleicht Tagemütter vermitteln oder sonst was wissen. Doch die haben mir auch nicht weiterhelfen können. Sie meinten nur, da gibt es Au-pair.“
Sie habe aufgehorcht und sich sofort nach einer Au-pair-Agentur erkundigt und die Vermittlung ins Rollen gebracht. Denn mittlerweile war die Tochter schon da und die ersten Wochen waren ein „wahnsinniger Aufwand“: „Das war richtig viel Aufwand, wenn ich weg wollte, die Termine, das Kind und die Babysitter aus meinem Bekanntenkreis oder der Nachbarschaft unter einen Hut zu bekommen.“ Und rückblickend meinte sie: „Vierka war die beste Lösung. Ich brauchte jemanden, der ständig da war und auf den ich zurückgreifen konnte.“ Frau Schuler zählte mir aus der Perspektive einer arbeitenden Mutter die Vorteile auf, die sie an einem Au-pair im Vergleich zu anderen kommerziellen Betreuungsmöglichkeiten zu schätzen gelernt hatte: „Bei einer Tagesmutter oder bei Pflegeeltern hätte ich mein Kind außer Haus geben müssen. Ist schon praktisch mit dem Au-pair im Haus. Bei meiner Arbeit weiß ich auch nicht immer, ob ich nicht einfach länger brauche (...) Und es kam halt doch immer wieder was dazwischen. Ich will flexibel sein.“
„Flexibilität“ wurde im weiteren Gesprächsverlauf zum roten Faden, an dem entlang sie ihren Lebens- und Berufsalltag zu organisieren trachtete und der „notwendigerweise“ auch den Einsatz der Au-pair bestimmte. Ihr „Au-pair-Betreuungsmodell“ habe mittlerweile in der Nachbarschaft Schule gemacht. Nachdem ihre Nachbarin gesehen hatte, dass es unter dem Strich erfolgreich verlief, wolle sie auch bei ihrem zweiten Kind auf ein Au-pair zurückgreifen.
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Nun hätten sie sich beide um „Mädchen aus demselben Land“ beworben. So hätten auch die Au-pairs gleich eine Freundin in der Nachbarschaft und seien nicht so alleine: „Diesmal bekommen wir Mädchen aus der Mongolei.“ Auch Familie Opitz, Vanessas Gastfamilie, hatte über informelle Kontakte von der Möglichkeit erfahren, Au-pairs zur Kinderbetreuung und Hausarbeiten heranzuziehen: „Die Idee so als Traum oder Hirngespinst hatte ich schon lange, schon als ich meine Diplomarbeit gemacht habe. Und dann hatte ein Freund von meinem Mann ein Au-pair-Mädel gehabt. Und als das dann auch noch gut geklappt hat, hat sich mein Mann erkundigt. Und das Au-pair-Mädchen hat daraufhin erzählt, dass ihre Cousine auch gerne als Au-pair kommen würde. Die Cousine ist die Vanessa.“
So seien sie jetzt schon drei Familien in dem 10.000 Einwohner zählenden Dorf, die angesichts der lokalen desolaten Betreuungsinfrastruktur Au-pairs für ihre kleinen Kinder beschäftigten. Erst kürzlich habe die andere Familie ebenfalls die Cousine ihrer Vorgängerin nachgeholt. Das Dorf, in dem Opitzs eine kleines Häuschen gekauft und ausgebaut haben, sei zwar ideal für Kinder zum Spielen, doch der einzige Kindergarten am Ort habe Öffnungszeiten, die mit normalen Berufsarbeitsrhythmen nicht korrelierten. Frau Opitz meinte dann auch im Vergleich zu ihrer Freundin, die in einer Universitätsstadt wohne, wo Kinderkrippen ab dem sechsten Monat angeboten würden: „Was soll man hier tun? Unser Kindergarten ist mittwochs morgens nur für große Vorschulkinder und es gibt ja manchmal auch berufstätige Mütter, die dann mittwochs immer nach jemanden gucken müssen. Ich habe mal vorsichtig anklingen lassen, dass ich das eigentlich schlecht finde, doch dann wird man sofort als Rabenmutter abgestempelt.“
Der Rabenmutter-Diskurs, den sie dann auch gleich zu hören bekam, als sie ihr Aupair dem Kindergarten und Nachbarinnen vorstellte, wies Frau Opitz weit von sich: „Und auch die anderen Mütter, die höre ich dann immer so denken. Und wenn ich über Probleme erzähle, dann bekomme ich das wieder reingedrückt, dass ich arbeiten gehe. Also bei uns hier ist das so, da muß man sich ständig rechtfertigen. Am Anfang habe ich das auch noch gedacht, aber jetzt ist es mir einfach egal. Weil verstanden werde ich eh nicht.“
Eine Rabenmutter wollte sie nicht sein und eigentlich hatte sie ihre Mutterbiografie und Kindererziehung zusammen mit ihrem Mann auch so geplant gehabt, dass sie als Kleinfamilie Kinder haben und beide auf ihren Beruf nicht verzichten müssen: „Das war so, dass ich mir das zeitlich genau abgestimmt hatte mit den zwei Jungs.“ Das erste Kind war geplantermaßen kurz nach ihrer Zwischenprüfung zur Welt gekommen, da sie der Meinung war, dass ein Studium im Gegensatz zur Berufstätigkeit mehr Spielräume zur Kindererziehung einräume; das zweite Kind hatte sie ebenfalls im Plan kurz vor ihrer Diplomprüfung bekommen, damit es im Kindergartenalter sein würde, wenn sie zu arbeiten anfinge. Doch aus dem Plan, Kinder und Beruf relativ gut vereinbaren zu können, wurde zunächst nichts, da sich ein drittes Kind ankündigte: „Das hat mich total frustriert damals, ich war also richtig traurig während der Schwangerschaft“, erinnert sich Frau Opitz und stellte die Entscheidung, einer fremden Person die Kinderbetreuung zu übertragen, in diesen Begründungszusammenhang: „Das war dann auch der Entschluss zum Au-pair. Also beim Jürgen habe ich noch gesagt, das möchte ich nicht, so jemand fremdes ins Haus zu nehmen für die Kinder – das ist einfach schlecht für die Kinder. Das war eigentlich nicht so das gewesen, was ich mir unter Kindererziehung vorgestellt habe.“
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Und als ob sie sich auch mir gegenüber für diesen Schritt rechtfertigen müsse, schilderte Frau Opitz wie sie unter enormem zeitlichen und organisatorischen Aufwand zusammen mit ihrem Mann ihre zwei Söhne erzogen habe: Doch ihr ungeplantes drittes Kind habe sie in eine Situation manövriert, mit der sie – es scheint als würde es ihr sehr schwer fallen, dies einzugestehen – nicht „zurechtgekommen sei“. Diese Zwangslage habe sie dann letztendlich dazu gebracht, sich nach einer externen Betreuung umzuschauen, die jedoch dem Kindswohl nicht abträglich sein durfte und eng an das Konzept „privater Kindheit“ und „Mutter-Fürsorge“ angelehnt sein sollte: „Ich wollte die Kinder nicht außer Hauses geben, ich wollte sie schon in der gewohnten Umgebung lassen.“ Dies gab den Ausschlag, sich nach einer Au-pair umzusehen. Als sie dann auch noch von Bekannten erfuhren, dass es bei ihnen mit der Au-pair gut funktioniere, wurden sie in die Richtung tätig. Rückblickend sah Frau Opitz ihre Entscheidung für eine Au-pair anstelle einer Tagesmutter bestätigt: „Ich habe mich zwar gar nicht richtig informiert, aber ich glaub’, allein von den Kosten ist eine Tagesmutter teurer. Aber eine Tagesmutter stand sowieso nicht zu Debatte, da wir alle drei Kinder nicht zu einer hätten geben können. Dann wären sie noch getrennt gewesen. So ist es schon idealer.“
Die zeitlichen und arbeitsorganisatorischen Vorzüge einer Au-pair, die durch ihren live-in Charakter gegeben sind, haben Opitzs ähnlich wie Schulers in dem Entschluss bestätigt, trotz zahlreicher Konflikte und Meinungsverschiedenheiten mit ihrer derzeitigen Au-pair auch nach Ablauf ihres Arbeitsvertrages die Zukunft der Kinderbetreuung in Au-pairs zu sehen: „So lange ich arbeite, möchte ich auf jeden Fall Au-pairs haben und dann später, wenn die Marie im Kindergarten ist und ich dann selbstständig bin, dann kommt es darauf an, wie ich es zeitlich regle.“ Auch die anderen zwei Gastmütter und der alleinerziehende Gastvater von Magdalena stellten ihre Nachfrage nach Au-pairs für Kinderbetreuung und Haushaltsarbeiten in den selben Begründungszusammenhang, angesichts der mangelnden öffentlichen Betreuungsinfrastruktur129 und des eigenen Arbeitswunsches, der nie in Frage stand, eine externe Kraft hinzuziehen zu müssen. Dabei wurde Au-pairs im Vergleich zu Tagesmüttern, Pflegefamilien oder stundenweise beschäftigten Babysittern aus freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen Netzwerken der Vorteil zugeschrieben, als live-ins am „Mutter“-ähnlichsten die Kinderbetreuung in der familiären Umgebung gewährleisten zu können. Dies ermöglichte den deutschen Familien weiterhin am Leitbild der „privaten Kindheit“ festzuhalten. Au-pairs als live-ins versprachen darüber hinaus immer anwesend und einsetzbar zu sein, was eine höchstmögliche arbeitsorganisatorische und zeitliche Kompatibilität mit den eigenen Arbeits- und Lebensstilen garantierte. Dies war vor allem für in zeitintensiven, flexibilisierten Berufen tätige Gastmütter eine wichtige Voraussetzung.
129 Laut Angaben der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ besuchen in Westdeutschland nur vier Prozent der Kleinkinder im Alter bis zu drei Jahren eine Krippe, davon 40 Prozent ganztags, während in Ostdeutschland 14 Prozent einen Krippenplatz haben, über zwei Drittel ganztags. Im Alter von drei bis sechs Jahren haben 77 bis 85 Prozent der Kinder einen Kindergartenplatz, wobei 17 Prozent der Kinder in Westdeutschland und 85 Prozent in Ostdeutschland einen Ganztagsplatz haben. Der Artikel „Flexible Kinderbetreuung verzweifelt gesucht“ folgert: „Eltern machen mit unter verzweifelt Jagd auf die wenigen Plätze“ (FAZ 1. Juni 2003, 43). Im Rahmen eines Sofort-Programms seit 2002 zum Ausbau der Ganztagsbetreuung will der Bund jährlich eine Milliarde Euro an die Länder geben.
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Während Frau Wagner, die mit Anna ihr vierzehnte Au-pair beschäftigte, Frau Schuler und Frau Opitz Au-pair vor allem wegen der live-in Situation als beste Möglichkeit der externen und doch ‚privat verbleibenden Kinderbetreuung’130 hochschätzte, betonte Jirinas Gastmutter, Frau Schulz, die zeitliche Flexibilität bei gleichzeitig ständiger Verfügbarkeit einer Au-pair. Auch sie hatte Au-pair durch Mundpropaganda vor fünf Jahren als Hilfe empfohlen bekommen, als sie mit ihrem Mann eine neue Pfarrei übernahm und selbst halbtags zu arbeiten begann: „Natürlich habe ich mich auch umgetan bei anderen, die Au-pairs hatten, weil die Überlegungen gingen schon in Richtung Haushaltshilfe oder Putzkraft oder Au-pair.“ Auch wenn sie von negativen Erlebnissen mit Au-pairs von Bekannten erfuhr, die meinten: „Oh, da bekommst du ein viertes Kind“, könne sie eine positive Bilanz ihrer mehrjährigen Au-pair Beschäftigung ziehen: „Am Anfang hatten wir eine Putzkraft, die aber oft unregelmäßig kam. Man hat halt doch gemerkt für einen regelmäßigen Dienst, wenn man doch über Mittag eine braucht oder mal auch nachmittags, so...“ Sie beendete den Satz nicht, sondern nannte einen weiteren Vorteil, der Au-pairs im Unterschied zu Reinigungskräften und Haushaltshilfen auszeichne: „Wenn man für die ganze Zeit, wo man Au-pair nimmt, eine Haushaltshilfe für die ganzen Stunden beschäftigen würde, das wäre echt viel [Geld, die Verf.].“ Au-pairs als Lückenfüller: Live-ins Während die Institution Au-pair in der Öffentlichkeit immer noch als Form des Kulturaustausches betrachtet wird, zeigen die Aussagen der deutschen Frauen, dass sie längst gerade wegen ihres live-in Charakters als ein attraktiver Bestandteil der informellen Unterstützungsstruktur für Doppelverdienerfamilien und Alleinerziehende gehandelt wird. Angesichts der Unterversorgung mit öffentlichen Betreuungseinrichtungen, die zudem oftmals den Bedürfnissen von Berufstätigen nicht gerecht werden, sind berufstätige Eltern darauf verwiesen, Kinderversorgung und Haushaltshilfe privatisiert zu organisieren. Die wenigen Studien und Statistiken, die in Deutschland zum Thema bezahlte Hausarbeit entstanden sind, stellen fest, dass neben verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Hilfen131 in den letzten fünfzehn Jahren zunehmend auf kommerzialisierte Dienste zurückgegriffen wird. Neben der Kommerzialisierung von Hausarbeiten ist dabei der Trend zur Globalisierung in Form einer Ethnisierung und rassistischen Stratifikation des Arbeitssegments feststellbar, welche Hochschild (2001) von einer „global care chain“ sprechen lässt. Die ländervergleichende Studie von Bridget Anderson und Annie Phizacklea sowie der Vergleich mit empirischen Untersuchungen, die vor allem zur Situation von domestic workers in Südeuropa in den letzten Jahren durchgeführt wurden, 130 Vergleiche mit anderen kulturellen und institutionellen Familienordnungen und Genderregimen ergeben, dass in Westeuropa in Deutschland die Kindererziehung am stärksten der Familie anheim gestellt ist. Dies deckt sich mit dem Befund von Ilona Oster, die die deutsche wohlfahrtsstaatliche Genderordnung als starkes Ernährer-Modell beurteilt (vgl. B. Geissler 2002). 131 Maria Rerrich fand in einer Studie heraus, dass in einer Familien bis zu dreizehn, überwiegend weibliche, Personen zusammengearbeitet hatten, „um den häuslichen Alltag am Laufen zu halten“ (2002: 24).
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weisen auf eine Besonderheit des deutschen Hausarbeitssektors hin (u.a. B. Anderson/ A. Phizacklea 1997; F. Anthias/ G. Lazaridis 2000; J. Andall 2000). So sei zwar europaweit die Situation eine große Varianz der Arbeitsverhältnissen von live-ins über Tageskräfte, die außerhalb der Familie wohnten, bis hin zu stundenweisen Beschäftigten festzustellen. Im Unterschied zu südeuropäischen Ländern dominierten in Deutschland aber Teilzeitarbeitsverhältnisse das Marktsegment Haus- und Familienarbeit, wobei Putzkräfte den größten Anteil ausmachten, gefolgt von WäschepflegerInnen, BabysitterInnen, Tagesmüttern, GartenarbeiterInnen, HundeausführerInnen etc. Auch die Bezahlung variiere erheblich von ehemals fünf bis zwanzig Mark die Stunde zuzüglich Naturaliengeschenke und in wenigen Fällen Urlaubsoder Krankengeld, je nach Verhandlungsgeschick, Dauer des Arbeitsverhältnisses und Vertrauensbasis.132 Auch hierarchisiert rassistische Zuschreibungen spielen bei der Höhe der Bezahlung eine Rolle, wobei Polinnen in Deutschland den obersten Rang zugeschrieben bekommen (vgl. S. Odierna 2000; O. Hatzold 1988; B. Anderson 1999; H. Lutz 2000). Dabei deuten die Aussagen der berufstätigen Frauen darauf hin, dass das gängige Dienstleistungsangebot von stundenweisen Jobs ihren spezifischen Arbeits- und Lebensstilen und Vorstellungen von Kindererziehung nicht entspricht. Diese Lücke scheinen nun Au-pairs zu schließen, die jedoch aufgrund der Fokussierung der bisherigen Studien über bezahlte Hausarbeit im deutschen Raum auf Stunden-Jobs unthematisiert blieben.133 Diese scheint sich mittlerweile geändert zu haben und Aupair wird von den neueren Forschungen selbstverständlich als Hausarbeitsverhältnis mitthematisiert. So hat Helma Lutz in ihrer jüngst publizierten empirischen Forschung eine sog. Au-pair angetroffen, die mit neunzehn Jahren in die Familie kam und dort neun Jahre lang beschäftigt blieb (2007: 109 ff.). Die Studien deuten darauf hin, dass in den Nachbarschafts- und Bekanntenkreisen mittlerweile reichlich Wissen darüber akkumuliert worden ist, welche Hausarbeitskräfte welche Leistung erbringen. Alle von mir interviewten deutschen Arbeitgeberinnen haben über Mund-zu-Mund-Propaganda von Au-pair als günstiger Möglichkeit erfahren, Kinder, Arbeit, Haushalt und Ehe organisieren zu können. Es scheinen sich auch auf der Seite der ArbeitgeberInnen informelle Netzwerksstrukturen herauszubilden, in denen Kontakte zu Agenturen oder direkt zu Au-pairs vermittelt werden, wohl auch aufgrund der Erfahrung, die Frau Schuler machen musste, dass von öffentlicher Seite keine Hilfe zu erwarten ist. So kommt auch Odierna in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass der Arbeitsmarkt für Hausarbeitskräfte vor 132 In einer der wenigen und ersten veröffentlichten Studien „Private Haushalte als Arbeitgeber“ kommt Ottfried Hatzold 1988 auf der Grundlage von Fallstudien und einer schriftlichen Befragung von Privathaushalten zum Ergebnis, dass der größte Teil, 70 Prozent der Beschäftigten, in Teilzeitarbeitsverhältnissen zwischen einer und sechs Stunden pro Woche tätig waren und nur vier Prozent der Beschäftigten als Vollzeitkraft arbeiteten. Von insgesamt 166 Personen arbeiteten 120 für Einkommen unter 500 Mark pro Monat. Der zeitliche Umfang der in Anspruch genommenen kommerzialisierten Haushaltsarbeit stieg mit den Einkommen der Privathaushalte an: Bei einem Einkommen unter 3.000 Mark waren es durchschnittlich drei Stunden, bei einem Einkommen zwischen 3.000 und 5.000 Mark durchschnittlich neun Stunden und bei einem Einkommen über 5.000 Mark wurden durchschnittlich neunzehn Stunden kommerzialisierte Familienarbeitsdienste beansprucht. 18 Prozent der befragten Haushalte beschäftigten dann auch mehr als eine Person (vgl. O. Hatzold 1988: 19-24). 133 So beschränkt sich auch die empirische Dissertationsforschung von Simone Odierna „Die heimliche Rückkehr der Dienstmädchen“ (2000) auf den Einsatz von Reinigungs- und Bügelkräften und übergeht, dass eine ihrer befragten Familien neben der Putzkraft noch ein Au-pair beschäftigte.
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allem über Zeitungsanzeigen und Mund-zu-Mund-Propaganda strukturiert ist, was auf seinen überwiegend informalisierten Charakter verweist. Maria Rerrich spricht in diesem Zusammenhang von einem doppelten „Niemandsland“ im arbeitsrechtlichen wie im politischen Sinne, in denen sich vor allem migrantische HausarbeiterInnen bewegen (vgl. M. Rerrich 2002b: 10). Auch wenn auf dem Papier gesetzliche Reglungen über die Arbeit im Haushalt bestehen und Tarifverträge134 existieren, werden diese nicht beachtet: „Geputzt wird in aller Regel“, so Rerrich, „ohne Sozialversicherung, ohne Krankenversicherung, weder mit Tariflohn noch mit gesetzlich gesichertem Kündigungsschutz – das ist gewissermaßen der Regelfall der ‚ganz normalen Illegalität’ des Putzens als Beruf“ (ebd.: 8). Die aktuelle Arbeitssituation ist dabei weitgegehend als Resultat einer höchst ambivalent zu bezeichnenden Politik in Bezug auf den Arbeitssektor „Haus- und Sorgearbeit“ zu verstehen. So bestimmte nach dem 2. Weltkrieg eher eine arbeitsmarktpolitische Informalisierung des ehemals weit verbreiteten Berufs des „Dienstmädchens“ das politische Handeln. Während bis in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts noch ca. zehn Prozent der weiblichen Beschäftigten hauptberuflich in „häuslichen Diensten“ tätig waren, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in den Privathaushalten nur noch stundenweise Beschäftigungsverhältnisse angeboten, die auch nicht mehr gemeldet wurden. 1957 verschwanden Hausarbeitskräfte wegen ihres geringen Anteils am Arbeitsmarkt dann vollständig aus der offiziellen Statistik (vgl. S. Odierna 2000: 68). Von der Sozialversicherungspflicht für geringfügig Beschäftigte, die 1990 neu eingeführt wurde, wurden Arbeitsverhältnisse in Privathaushalten ausgenommen. Seit Mitte der 1990er Jahre lassen sich neben fortgesetzten Kriminalisierungsaktionen verschiedene Versuche beschreiben, die auf eine gezielte prekäre, doch reguläre Ausweitung des Arbeitssektors Privatshaushalt abzielten. Mone Spindler und Ramona Lenz haben in ihrem „Mapping Survey: Political Strategies regarding female migrant domestic workers in Germany“ (2008) jedoch herausarbeiten können, dass letztlich alle bisherigen Versuche als halbherzig zu bezeichnen sind und scheiterten. So blieb die erwartete Ausweitung regulärer Beschäftigung in Privathaushalten in Folge der seit Beginn der 1990er Jahre immer wieder aufs neue beschlossenen Ausweitung der Steuervorteile für Arbeitgeber aus (Schupp 2001). Auch der Versuch mit Hilfe des 1997 eingeführten „Haushaltsscheckverfahren“ die Registrierung und die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern von Beschäftigten in Haushalten zu entbürokratisieren und hierdurch mehr Arbeitgeberfamilien für eine Anmeldung zu gewinnen, verfehlte seine Wirkung. Allerdings brachte auch die letzte große Offensive in diese Richtung, die Einführung der sogenannten „Minijobs“ 2003, nur geringfügig mehr sozialversicherungspflichig gemeldete Arbeitsplätze im Privathaushalt (142.000 laut SZ 134 Tarifverträge bestehen über die Hausfrauenverbände verschiedener Bundesländer und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Das tariflich festgelegte Monatsbruttoentgeld für eine in Vollzeit beschäftigte Hauswirtschafterin lag im Jahr 2003 zwischen 1.486 und 1.783 Euro, der Tarifbruttostundenlohn lag bei 8 Euro. Odierna (2000: 70) stellt für Bayern im Jahr 1997 die Rechnung auf, dass die Vollzeitbeschäftigung (Fünf-Tage-Woche) einer kinderlosen und nicht ausgebildeten Haushaltshilfe der untersten Gehaltsgruppe die ArbeitgeberInnenseite 1.866 Mark Bruttogehalt plus 391,86 Mark Sozialversicherungsanteil, insgesamt also 2.257,86 Mark gekostet hätte. Bei einem dreißigjährigen verheirateten Regierungsrat mit Kind, der 5.911,93 Mark verdient, würden die Ausgaben für eine sozialversicherte Haushaltskraft fast die Hälfte des Gehalts ausmachen.
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vom 5.9.2007). Ebenso verfehlte jedoch auch die andere Richtung, die auf Professionalisierung der Arbeit durch die Etablierung staatlich subventionierter „Dienstleistungspools“ (B. Thiessen 2003) setzte, ihre durchschlagende Wirksung, da die wenigsten Agenturen ohne staatliche Föderung auf dem Markt bestehen konnten, wie es Spindler und Lenz herausstellen (2008: 10). Neben diesen arbeitsmarktpolitischen Regulationsversuchen, gab es in den letzten Jahren nur einen migrationspolitischen Ansatz, ein Arbeitsvisum für Hausarbeiterinnen auszuloben: die sogenannte GreenCard für Haushaltshilfen in Familien mit Pflegebedürftigen für Frauen aus den osteuropäischen Beitrittsländern zur EU (vgl. N. Cyrus 2007). Angesichts der restriktiven Ausführungsbestimmungen ist es dann auch nicht verwunderlich, wenn die Bundesanstalt für Arbeit als zentrale Rekrutierungsstelle 2005 ganze 1700 Bewerberinnen zählte (vgl. ebd.: 11 f.). Spinlder und Lenz führen das weitgehende Scheitern dieser Maßnahmen in Bezug auf eine Erhöhung der regulären Beschäftigungsverhältnisse nicht nur auf ihren jeweiligen bürokratischen Mehraufwand zurück, sondern vor allem darauf, dass sie an den Bedürfnissen und Interessen beider betroffenen Seiten vorbei gehen und das Gros der papierlos arbeitenden MigrantInnen nicht berücksichtigen. Die Informalität des Gros der Beschäftigungsverhältnisse ist dann auch auf die finanziellen Vorteile zurückzuführen, die insbesondere ArbeitgeberInnen aus nichtangemeldeten Beschäftigungsverhältnissen erzielen können. Sie sparen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung, Steuern, sowie Urlaubs und Weihnachtsgeld. Für HausarbeiterInnen bedeutet die Informalität dagegen, dass sie keine Sozialversicherungsansprüche wie Rentenleistungen erwerben. Jedoch kann die Informalität auch für HausarbeiterInnen lukrativ sein, wenn sie BezieherInnen von Sozialhilfeleistungen oder Rentenzahlungen sind, worauf der Lohn aus einer Erwerbsarbeit angerechnet würde. Das vorhandene Zahlenmaterial ist aufgrund der Informalität des Sektors und des hohen Anteils von MigrantInnen ohne Papiere nicht nur dünn, sondern divergiert auch stark. Jürgen Schupp (2002) hat für einen ersten Überblicksartikel im jüngst erschienenen Sammelband „Weltmarkt Privathaushalt“ das statistische Material gesichtet und kommt zur Differenz von 39.800 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Juni 2000 laut Beschäftigungsstatistik, welche der Zahl von 2,9 Millionen Privathaushalten gegenübersteht, die laut Sozioökonomischem Panel135 angaben, regelmäßig eine Putz- oder Haushaltshilfe zu beschäftigen. Dies sind 7,6 Prozent der bundesdeutschen Haushalte, die im Jahr 2000 regelmäßig und weitere vier Prozent, die gelegentlich auf eine bezahlte Kraft zurückgreifen, was insgesamt vier Millionen Haushalten entspricht. Das Sozioökonomische Panel stellt weiterhin einen Anstieg der Beschäftigungszahlen zwischen 1991 und 1994 von 6,1 Prozent auf 7,3 Prozent fest, wobei die Zahlen seitdem relativ konstant blieben. Ein anderes Erhebungsverfahren ermittelte Schupp zufolge eine fünffache Steigerung der Zahlen von sozialversicherungsfrei Beschäftigten im Privathaushalt im Zeitraum von 1987 bis 1997 (vgl. J. Schupp 2002: 58 ff.). Marianne Friese und Barabara Thiessen 135 Die Erhebung des Sozioökonomischen Panels enthält im Haushaltsfragebogen eine Frage zur Beschäftigung Dritter. Das heißt, dass nicht die ArbeitnehmerInnenseite nach ihrer Erwerbstätigkeit gefragt werden, sondern private Haushalte in ihrer Rolle als Arbeitgeber, wobei das Anstellungsverhältnis nicht abgefragt wurde. Die Frage lautete: „Beschäftigen sie in Ihrem Haushalt regelmäßig oder gelegentlich Putz- und Haushaltshilfen?“ (J. Schupp 2002: 58 ff.)
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(1997) stellen in ihrer Untersuchung in Bremen fest, dass jeder achte Privathaushalt Teile von Hausarbeiten an Dritte outsourct. 4.5. Krise der privaten Arbeit oder auf dem Weg zu einem neuen Regulationsmodus der Privatsphäre Hausarbeitsforschung quer gelesen In der beginnenden, überwiegend sozial- und hauswirtschaftswissenschaftlichen Forschung zu bezahlter Hausarbeit wird die gestiegene Nachfrage entsprechend der bislang gehörten Aussagen der deutschen Gastmütter auf ein Set von kulturellen und sozioökonomischen Transformationen der deutschen Gesellschaft zurückgeführt, deren Ungleichzeitigkeit vor allem deutsche berufstätige Frauen treffe und die Nachfrage nach kommerzialisierten Diensten steigen lasse. In diesem Sinne wird die Anstellung von domestic workers als individuelle Notlösung deutscher Familien analysiert, Berufstätigkeit, Kinder, Ehe und Freizeit zu organisieren. Verwiesen wird zum einen auf den demografischen Wandel mit einer wachsenden Zahl alternder, hilfsbedürftiger Menschen und zum anderen auf Individualisierungsprozesse, die zu einer Zunahme von „Patchworkfamilien“ und alleinerziehenden Eltern – meist Frauen – führten, die gekoppelt mit der erhöhten räumlichen Mobilität nicht mehr auf die traditionellen familiären Fürsorgeketten zurückgreifen könnten. Auch nimmt seit den siebziger Jahren der Anteil von Frauen am Arbeitsmarkt in West-Deutschland zu,136 wobei die Flexibilisierung und Tertiärisierung der Arbeitsmärkte zunehmend den Eintritt gut qualifizierter Frauen in mittlere und obere Ränge von Dienstleistungs- und Wissensberufen zu ermöglichen scheint (vgl. B. Thiessen 2000; H. Lutz 2000; B. Young 1999; C. Gather / B. Geissler/ M. Rerrich 2002; S. Odierna 1999). Das geschlechtshierachisierende Lohngefälle und die vergeschlechtlichte Segmentierung des Arbeitsmarkts blieben jedoch von diesen Entwicklungen weitgehend unberührt, so dass die Lohnschere nach wie vor männliche Berufskarrieren lukrativer erscheinen lässt.137 Andererseits haben die Entwicklungen das klassische Geschlechterrollen-Modell vom männlichen Brotverdiener und seiner Nur-Hausfrau kulturell wie materiell mit einer steigenden Zahl von Frauen als Allein-Versorgerinnen der Familie ins Wanken gebracht und zur Veränderung ehemals polarer vergeschlechtlichter Normen und Praxen in der öffentlichen Sphäre geführt, wozu die Gleichheitsforderungen und politischen Interventionen der westdeutschen Frauenbewegung sicherlich beigetragen haben (vgl. H. Nikkel 1999). Das Bild von der „Karriere-Frau“ als beruflich erfolgreichen Mutter und Ehegattin ist nicht nur in der Werbung zu einem wirkmächtigen Image geworden. 136 1995 gingen 45 Prozent der westdeutschen und 66 Prozent der ostdeutschen Frauen im berufsfähigen Alter einer Erwerbsarbeit nach. Dieser Unterschied ist ein Überbleibsel der verschiedenen Genderordnungen in Ost- und Westdeutschland, wobei Erwerbsarbeit von Frauen in Ostdeutschland bei beiden Geschlechtern nach wie vor eine Selbstverständlichkeit darstellt (vgl. 1999: 13). 137 So sind auch Teilzeitarbeitsplätze, als Instrument einer paritätischen geschlechtlichen Arbeitsteilung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf vielfach beschworen, letztlich doch zu einem feminisiert sexuierten Sektor geworden und oftmals zu einer Armutsfalle.
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Während sich die kulturellen Grundlagen der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung zunehmend verflüssigen und flexibler von Frauen und Männern gelebt werden, hat sich an der institutionellen Grundlegung der hierarchisierenden Genderordnung nur wenig verändert. Vor allem der westdeutsche Wohlfahrtstaat der Nachkriegsära, den Ilona Oster (1995) als „strong breadwinner-Modell“ bezeichnet, hat über Sozial- und Steuerpolitik eine rigide asymmetrische Genderordnung mitstrukturiert.138 Nur wenig hat auch die sozialdemokratisch-grüne Politik bis heute dafür getan, die Zuweisung unbezahlter Haushaltsarbeit an Frauen aufzubrechen, auch wenn deren Berufstätigkeit bis weit in konservative Kreise hinein nicht mehr in Frage gestellt wird (vgl. B. Sauer 1998; I. Oster 1995). So kommt auch der Politikwissenschaftler Peter Grottian in seiner jüngsten Untersuchung von 25 jungen Paaren, die Erwerbsund Familienarbeit egalitär zu teilen versuchen, zum Ergebnis, „dass partnerschaftliche Lebensentwürfe auch nach rot-grünen Reformen weitgehend gegen [Hervorhebung durch die Verf.] die vorherrschenden Strukturen gelebt werden müssen“ (Grottian 2003). Das Problem der Vereinbarung von Beruf und Familie bleibt weiterhin bestehen, wobei es, wie es auch meine Interviewpartnerinnen problematisierten, politisch-strukturell individualisiert den privaten Beziehungen zur Aushandlung überlassen wurde. Dabei scheint die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in den Haushalten außerordentlich persistent, wenn man die seit Jahren stagnierende geringfügige Beteiligung von Männern an Haushaltsarbeit oder Erziehungsurlaub betrachtet (vgl. M. Rerrich 2002: 19). In diesem Zusammenhang ist auch der Paradigmenwechsel der westeuropäischen bürgerlichen Frauenbewegungen noch systematisch zu analysieren, welche spätestens seit den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheitsvorstellungen gänzlich auf die öffentliche Sphäre zuspitzte und die Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“ aus den sechziger und siebziger Jahren zugunsten der Forderung nach „gleichem Lohn auf den Erwerbsarbeitsmärkten“ aufgab (vgl. M. Madörin 1999: 132-155). Der Teilsieg von Frauen im Bereich öffentlicher Präsenz und Partizipation in der Erwerbsarbeit hat die einstmals laut gestellte Frage nach der Vergesellschaftung der Versorgungsarbeiten über Jahrzehnte in den Schatten gestellt, was sich nun als Phyrrussieg entpuppt (vgl. S. Hess/R. Lenz 2001). Unter dem Strich sieht Maria Rerrich (2002: 19) das Projekt der Gleichverteilung der Versorgungsarbeiten als so gut wie gescheitert an. Die Bedingungen des „globalisierten Wettbewerbsstaats“ seit Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts, der unter dem Diktum einer globalisierten Konkurrenz der nationalen Wirtschaftsstandorte zu aller erst die Sozialsysteme ab- und umbaut (vgl. J. Hirsch 1996), treffen Frauen im besonderen Maße. Die Kürzung und Privatisierung einst staatlich garantierter sozialer Leistungen zurück in den Schoß der Kleinfamilie (z. B. Altersversorgung und Altenpflege) erhöhen faktisch 138 Hauptinstrumente der Familienpolitik, in die gut zwei Drittel der gesamten Mittel gehen, sind das Kindergeld, der Kinderfreibetrag und das Ehegattensplitting, die nicht nur reichere Familien stärker entlasten, sondern eine traditionelle geschlechtshierarchische Arbeitsteilung subventionieren. Einzig der „Erziehungsurlaub“ wurde mit der Novellierung des Bundeserziehungsgeldgesetzes 2001 in „Elterzeit“ umbenannt und dahingehend geschlechtsegalitärer gestaltet, dass nun beide Elternteile ihn parallel nehmen können und nebenher bis zu 30 Stunden in Teilzeit erwerbstätig sein können. Jedoch stellt die Höhe des Erziehungsgelds von 307 Euro für drei Jahre bzw. 460 Euro für ein Jahr keine eigenständige Existenzsicherung jenseits der Erwerbsarbeit dar.
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den Druck auf Frauen, Beruf und Versorgungsarbeiten zu vereinbaren (vgl. B. Sauer 1998: 38). Familien bzw. Frauen müssen zunehmend auf informelle Strategien zurückgreifen, Haushaltsarbeiten an Dritte und Vierte delegieren, wenn sie ihren Beruf nicht aufgeben wollen. Stehen keine verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Fürsorgenetze und Nachbarschaftskontakte zur Verfügung, können BesserverdienerInnen auf ein Pool deklassierter deutscher und migrantischer Frauen zurückgreifen, um sich häusliche Dienste einzukaufen. Die Organisationsleistung hierfür liegt, wie meine Interviews zeigten, meist in der Hand von Frauen, die weiterhin als die Verantwortlichen für die Privatsphäre gelten bzw. weiter so agieren. Auch wenn alle von mir interviewten Frauen ganztags berufstätig waren oder als Selbstständige mit höchst flexiblen Arbeitszeiten jonglieren mussten, lebten die meisten in ihren Partnerschaften eine traditionelle Arbeitsteilung. Sie verwalteten den Haushalt und waren in diesem Zusammenhang auch für die Einstellung der Au-pairs zuständig. Nur bei einer Familie kam der Mann zweimal pro Woche nachmittags nach Hause, um sich an Haushaltsarbeiten zu beteiligen. Die drei anderen Familien würde ich als klassische Frauenfamilien bezeichnen, in denen die Anwesenheit der Ehemänner sich auf spät abends und am Wochenende beschränkte. Auf die innerfamiliäre Arbeitsteilung kamen jedoch nur wenige zu sprechen und nur die Frau, deren Ehemann sich an der Hausarbeit partnerschaftlich beteiligte, stellte das Modell des von den Versorgungsarbeiten befreiten Familienvaters in Frage. Selbst wenn sich andere wie Frau Schuler darüber beklagten, dass sie ihren Gatten erst ab zehn Uhr abends und dann auch noch müde von der Arbeit zu Gesicht bekamen, schien der Karriereweg der Partner und die in Hochlohngruppen üblichen flexiblen und langen Arbeitszeiten ohne Überstundenausgleich von den Frauen selbstverständlich abgestützt zu werden. So kommentierte Frau Schuler den Aufstieg ihres Mannes folgendermaßen: „Wir waren schon froh, dass er eine bessere anspruchsvollere Arbeit bekommen hat. Doch jetzt kommt er erst ab 20, 21 Uhr nach Hause und ist am Wochenende oft weg. Dann verzieht er sich erst Mal, will seine Ruhe haben. Die Tochter wartet aber auf ihn und geht erst spät ins Bett. Das ist schon frustig. Dann sind wir total kaputt und haben auch nichts mehr voneinander.“
Ihr Mann habe sich zwar regelmäßig bei der Geburt der Kinder angeboten, auch Erziehungsurlaub zu nehmen, doch sei dies angesichts seines höheren Einkommens kein wirkliches Diskussionsthema gewesen – nach seiner Beförderung schon gar nicht, meinte Frau Schuler. Es sind jedoch nicht nur scheinbar strukturelle, „objektive“ Faktoren wie das Lohngefälle, geschlechtsspezifische Berufswahl, Arbeitsmarktstrukturen beispielsweise hinsichtlich Teilzeitangeboten oder die Sozial- und Steuerpolitik, die die Frage, wer nach der Geburt eines Kindes temporär die Erziehungsaufgaben übernimmt, zu einer rhetorischen Frage macht. Denn selbst in den Familien, in denen die Frau einer gleich hoch bezahlten Erwerbsarbeit nachging wie im Fall von Familie Wagner oder gar eine höher dotierte Stelle hatte wie im Fall von Familie Opitz, wurde die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung weitgehend reproduziert. Die häusliche Arbeitsteilung scheint derartig in die „Tiefenstrukturen unserer Gesellschaft“ eingelassen zu sein ist, dass sie weitgehend unbefragt, selbstverständlich bleibt. So weist Maria Rerrich (2002: 21) darauf hin, dass Privatsphäre und Haushaltsarbeit auch in emotionaler und identitärer Hinsicht einen besonderer Ort des
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doing gender abgeben, da sie „hochgradig mit Bedeutungen und Interpretationen darüber verbunden“ sind, wer wir als Frauen und Männer sind und wer wir sein wollen. So kann auch Arlie Russel Hochschild in ihrer ethnografisch orientierten Studie über die Vergeschlechtlichung von Praxen im Haushalt zeigen, wie nach außen hin feministisch auftretende Frauen in der Partnerschaft mit Hilfe verschiedener Strategien Ungleichheit in Gleichheit uminterpretieren. Eine der Strategien nennt sie „Fetischhandlung“, wenn die marginale Mithilfe des Mannes – wie Sonntags Frühstück machen – als ganz besondere Leistungen umgedeutet wird (zitiert nach M. Rerrich ebd.: 21 f.). Die Frauen, deren Partner die meiste Zeit abwesend waren, schilderten jedoch die Organisation von Kindern, Haushalt, Beruf, Ehe und Freizeit als äußerst „anstrengendes“ Unterfangen, wie es Frau Wagner ausdrückte. Auch Frau Opitz sah sich angesichts ihrer 42-Stunden-Woche, die sich oftmals in 45 Wochenstunden und mehr ausdehnte, immer wieder mit Familie und Versorgungsarbeiten „überfordert“: „Mir ist schon oft alles zu viel, wenn dann auch noch so Diskussionen zu Hause dazu kommen und ich im Geschäft trouble habe....“ Auch wenn ihr Mann mithelfe, trage sie doch die Last der Verantwortung für den Haushalt und das Wohl und die Erziehung der Kinder: „Wenn man dann die ganze Verantwortung hat mit den Kindern“, fährt Frau Opitz fort, „also die ganzen Entscheidungen und grundsätzlichen Fragen, die immer anstehen: Lassen wir sie impfen oder nicht? In welche Schule? Und wenn man da dann immer so alleine gelassen wird, dann ist das schon insgesamt recht viel.“ Und abschließend räsoniert sie: „Also da muss man schon einen gewaltigen Willen haben, dass man es auch hinbekommt.“ Den Willen bringt auch Frau Wagner tagtäglich auf: „Ich mache den Spagat mit Salto und Drehung, ohne mich zu beklagen. Obwohl das schon sehr anstrengend ist, ist das aber trotzdem die wesentlich bessere Lösung für mich.“ So nennt dann auch Odierna (2000: 118) „Überforderung“ und „Zeitknappheit“ als die zwei ausschlaggebenden Gründe für die Anstellung einer Haushaltshilfe auf Seiten deutscher Frauen. In diesem Sinne interpretiert sie die Delegation von Versorgungsarbeiten vor allem als Strategie berufstätiger Frauen, Eigen-Zeit zurückzugewinnen. Auch Maria Rerrich (2002b: 11; 2006) meint, dass die Kommerzialisierung von Haushaltsarbeiten nicht als „Luxus“ betrachtet werden könne, sondern eine naheliegende Strategie von deutschen Frauen sei, die keine andere Alternative finden, um einen komplizierten Alltag zu organisieren. Anstelle einer Umverteilung von Versorgungsarbeiten zwischen den Geschlechtern zeichnet sich so eine steigende Umverteilung der privaten Arbeiten zwischen Frauen entlang von Klasse und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit ab, durch die die Erwerbsarbeit nationaler Frauen und Männer abgefedert wird (vgl. B. Thiessen 2000: 10). Gemeinsame strukturelle Notlage oder die Liebe zur Arbeit Die wachsende Nachfrage nach kommerzialisierten häuslichen Diensten als alternativlose Lösungsstrategie nationaler Mittel- und Oberschichtsfrauen darzustellen, um vor dem Hintergrund staatlicher Versorgungsdefizite und geschlechtshierarchischem Genderregime Familie und Beruf gleichzeitig realisieren zu können, entspricht dem von Jacquline Andall analysierten Diskurs über bezahlte Hausarbeit in
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Italien, den sie als „common victim view“ kritisiert (vgl. J. Andall 2000: 158-163). Für die feministische Debatte um domestic work in Italien, die ihre Ursprünge in den fünfziger Jahren hat und mit zwei großen kirchlichen Organisationen für Haushaltsarbeiterinnen auch institutionell verankert ist,139 kann Andall zeigen, wie sich zu Beginn der neunziger Jahre ein theoretischer Paradigmenwechsel vollzog, der wie in der deutschen Hausarbeitsdebatte die Nachfrageseite ins Zentrum der Debatte des intrageschlechtlichen Arbeitsverhältnisses stellte. Ausgelöst wurde die neue Diskussion und Theoretisierung von bezahlter Hausarbeit in Italien einerseits durch eine veränderte soziale und ethnisierte Zusammensetzung der Hausarbeitskräfte mit der steigenden Präsenz von migrantischen domestic workers, die überwiegend als liveins arbeiteten, während italienische Hausarbeiterinnen zunehmend als Selbstständige part-time tätig wurden. Andererseits führten die sozioökonomischen Transformationsprozesse in Italien wie in Deutschland zu einer sozialen Ausdehnung der Nachfrage nach Hausarbeiterinnen auf die Mittelschicht, was dazu beitrug, dass auch von den Hausarbeiterinnen-Organisationen bezahlte Hausarbeit „vom Luxus zur Notwendigkeit“ uminterpretiert wurde (vgl. ebd.: 161). Vor diesem Hintergrund setzte sich das Erklärungsmuster einer „doppelten strukturellen Notlage“ durch, wonach Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmerinnen gleichermaßen als Opfer patriarchaler gesellschaftlicher Strukturen betrachtet wurden. Die Nachfrage nach billigen Hausarbeiterinnen, welche eine Notlösung nationaler Frauen darstelle, und das Angebot, zu welchem Migrantinnen aufgrund der Bedingungen in ihren Herkunftsgesellschaften gezwungen seien, würden sich bestens ineinander fügen und ein für beide Seiten nützliches Zusammenkommen der Bedürfnisse darstellen. Jacquline Andall, die derzeit am Department für European Studies und Modern Languages der Universität in Bath, Großbrintannien, unterrichtet, kritisiert an diesem Diskurs nicht nur, dass Machtungleichheiten und Ausbeutungsverhältnisse zwischen Frauen nach Klasse und Ethnizität desartikuliert werden und hiermit auch die Frage von hierarchisierten Subjektpositionen verkannt wird. Außerdem wertet sie die Personifizierung des Nutzens bezahlter Hausarbeit in der Person der Arbeitgeberin kritisch, da hiermit die gesellschaftlichen und strukturellen vergeschlechtlichenden Verhältnisse dethematisiert werden, in deren Kontext das Haus-Arbeitsverhältnis steht. Vor diesem Hintergrund stehe auch ich dem in der deutschen Haushaltsarbeitsdebatte sich verfestigenden Argumentationsmuster der „strukturellen Notlage“ skeptisch gegenüber. Ich bezweifle, dass die bislang aufgeführten wissenschaftlichen Erklärungsansätze das Phänomen hinreichend erfassen, da sie sich vorwiegend auf die Veränderungen in der geschlechtlichen Organisation der Haushaltsarbeiten unter einer immanent zu nennenden Perspektive konzentrieren. Diese geht weiterhin von der in der feministischen Hausarbeitstheorie herausgearbeiteten dichotomischen Logik von Hausarbeit und privater Sphäre versus Erwerbsarbeit und öffentlicher Sphäre aus. Die ökonomischen und kulturellen Verschiebungen im Bereich der Erwerbsarbeit werden zwar als Hintergrund genannt, doch nicht in einen systemischen Zusammenhang mit den Veränderungen der Arbeitsorganisation im Privaten 139 So haben sich bereits 1946 zwei kirchliche Organisationen, ACLJ und COLF herausgebildet, die nicht nur Hausarbeiterinnen soziale und juristische Unterstützung anboten, sondern zu einer gewerkschaftsähnlichen Organisierung führten.
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gebracht und für die Analyse bezahlter Hausarbeit von überwiegend MigrantInnen fruchtbar gemacht. Die Selbstdeutungen der berufstätigen Frauen in den Interviews weisen jedoch weit über die strukturelle Notlage als Grund für die Beschäftigung von domestic workers hinaus auf einen Wandel der Bedeutungen und Praxen von „Zuhause“ und „Hausarbeit“ respektive „Erwerbsarbeit“, die mit einer Ökonomisierung des „Privaten“ einhergehen. Die kommerzialisierte Delegation von Hausarbeiten an sozial und ausländerrechtlich schlechter gestellte Frauen scheint auch Ausdruck kultureller Bedeutungsverschiebungen von Erwerbsarbeit und veränderter Geschlechterpraxen deutscher Mittelschichtsfrauen zu sein.140 Auch eine ganze Reihe von Konflikten, die aus den wechselseitigen Bedeutungszuschreibungen der erwerbstätigen deutschen Frauen und der im Haushalt arbeitenden Au-pairs entstanden, verweisen auf diesen Nexus und sind erst vor diesem Hintergrund zu verstehen. In diesem Zusammenhang ist auch das gesellschaftliche Paradigma der Dichotomie von privater und öffentlicher Sphäre zu hinterfragen, wobei das traute Heim als Ort von Muße und Fürsorge, als das Außerökonomische konstruiert den männlichen Konnotationen der öffentlichen Sphäre von ökonomischer Rationalität, Konkurrenz und Durchsetzungsvermögen entgegengestellt wurde (vgl. u.a. K. Hausen 1980). Die Aufrechterhaltung dieses im Laufe des 19. Jahrunderts entstandenen bürgerlichen Paradigmas über die letzten Jahre rasanter sozioökonomischer Entwicklungen hat zu der Sonderstellung der feminisierten Privatsphäre als Hort von Persistenz beigetragen und den Blick auf die Transformationen auch dieses Arbeitsbereichs wie den Einzug bezahlter Hausarbeiterinnen versperrt. Dabei ist fraglich, ob es überhaupt je so differente Bereiche waren. Denn die Geschichte der modernen Haus-Frau sowie der Hausarbeit kann auch als eine Geschichte der Durchlässigkeit und Übertragung der formellen Ökonomie der Erwerbsarbeit auf den privaten Raum der Haus- und Familien-Arbeit gelesen werden, wie Marion von Osten (2003) und Judy Wajcman (1994) zeigen. So haben fordistische Arbeitsorganisationsformen und Rationalitätsvorstellungen auch eine Technologisierung und Mechanisierung der Hausarbeit vorangetrieben und die „moderne Haus-Frau“ geschaffen, die als rationell-zeitsparende Hauswirtschafterin – durchaus auch ein Wunschbild der frühen Frauenbewegung – zu agieren hat. Dabei zeigen Zeitbudgetstudien, dass Hausarbeit trotz der Technisierung des Haushalts ganz entgegen dem damit neu entstandenen Bild von der in quantitativer und qualitativer Hinsicht „leichten Hausarbeit“ weiterhin zeitlich umfangreich und körperlich belastend blieb (vgl. M. Resch 2002, 78 ff.). Wie Judy Waycman (1994) ausführt, hat bezeichnenderweise vor allem der Rückgang bezahlter und unbezahlter Haushaltshilfen in den zwanziger bis vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts und die Übertragung der gesamten Arbeit auf die Haus-Ehefrau die Mechanisierung des Heims forciert.
140 Siehe dazu auch Hildegard Maria Nickels Kritik an der feministischen Transformationsforschung (1999), die bei der Beschreibung der sozio-ökonomischen Auswirkungen für Frauen stehen bleibt, so als ob sich die Geschlechterverhältnisse entweder modernisieren oder verschlechtern würden, in ihren Grundkoordinaten jedoch gleich blieben. Sie weist darauf hin, dass sich die Dynamik der Vergeschlechtlichung und somit Geschlecht als symbolisch-kulturelles Ordnungssystem selbst in seinen Artikulationen verändere.
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Zum Verständnis der neuen internationalen Arbeitsteilung im Privathaushalt halte ich es daher für lohnenswert, die gegenwärtigen Entwicklungen hin zu einem neuen postindustriellen „Arbeitsregime“141 näher zu beleuchten. Denn die neoliberalen Umstrukturierungsprozesse der Produktions- und Arbeitsverhältnisse – Flexibilisierung, informationstechnologische Entwicklungen usw. – haben nicht nur die Arbeitswelt in den Büros und Fabrikhallen verändert. Studien über neue Zumutungen und Chancen zeigen deutlich, dass sie auch neue Arbeits- und Alltagspraxen von den Erwerbstätigen fordern und höchst ambivalente Subjektivierungsprozesse generieren (vgl. K. Pühl/ S. Schulz 2001; K. Gottschall 2000). Sie demonstrieren, dass die Umstrukturierungen von einer Intensivierung des Diskurses um „Arbeit“ sowohl in repressiver Hinsicht als „Pflicht zur Arbeit“ wie auch in „emanzipatorisch ermächtigender“ Hinsicht als „Selbstverwirklichung“ begleitet sind. Diese strukturellen und kulturellen Verschiebungen lassen die höchst vergeschlechteten Praktiken der Privatsphäre, lange Zeit als „außerökonomischer“ Ort, als das Andere, komplementär zur kapitalistischen Produktionssphäre konzeptualisiert, und die Organisation der im Inneren des Hauses geleisteten Tätigkeiten nicht unberührt. Vielmehr generieren sie neue vergeschlechtlichte Bedeutungen und Praxen im Privaten und des Privaten bzw. machen sie notwendig, beispielsweise in Bezug auf das Zeitmanagement von Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit, sei es Freizeit oder Versorgungsarbeit. So weisen neuere arbeitssoziologische und kulturwissenschaftliche Studien über die Konsequenzen der Informatisierung von Arbeit und zunehmender Selbstständigkeit auf eine Entgrenzung und gegenseitige Durchdringung von Erwerbsarbeit, Freizeitgestaltung und Privatsphäre hin (vgl. K. Schönberger 2003; V. Hielscher 2000). Sie sehen einen Typus gesellschaftlicher Arbeit vor allem im Bereich der „gehobenen“ Dienstleistungs- und Wissensökonomie im Entstehen begriffen, den/die Arbeitskraftunternehmer/in, der/die nicht mehr seine/ihre Arbeitskraft pro Zeiteinheit verkaufe, sondern die termin- und qualitätsgerechte Ablieferung vereinbarter Arbeitsergebnisse in Selbstverantwortung durchführt. Dieses neue Arbeitsparadigma greife dabei nicht nur auf Freizeit und soziale Kontakte als soziales und kulturelles Kapital aus. 142 In Anlehnung an Studien der Arbeitssoziologen Günther Voß und Hans-Joachim Pongratz (1998: 134 ff.) schreibt der Kulturwissenschaftler Klaus Schönberger (2003: 151): „Eine Folge davon sei, dass der gesamte Lebenszusammenhang verbetrieblicht werde und im Blick auf die Verwertung der Ware Arbeitskraft hin systematisch organisiert werden müsse.“ Die „Projektgruppe Alltägliche Lebensführung“ von Voß und Pongratz weist bereits darauf hin, dass neben konkreten Arbeitsverhältnissen auch die außerbetriebliche Lebenswelt und praktizierte Lebensformen entscheidende Faktoren dafür sind, wie die Entdifferenzierung praktiziert und als erschwerlich oder förderlich empfunden werden kann. So zeigen erste Untersuchungen, dass vor allem für Frauen in ent141 Den Regime-Begriff verwende ich, um auf das Zusammenwirken und die Vieldimensionalität von institutionalisierten Praktiken und Diskurse hinzuweisen, die die neuen Arbeits- und Lebensverhältnisse mitstrukturieren. 142 In der kultur- und arbeitsoziologischen Forschung wird vor allem darüber diskutiert, in welchem Verhältnis Autonomiezugewinne der Subjekte und neue Formen kapitalistischer Nutzung und Aneignung der Arbeitskraft stehen bzw. wie ambivalent Fremdführung und Selbststeuerung nach dem Motto „Erwerbsarbeit ist mein ganzes Leben“ ineinander greifen.
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strukturierten Arbeitsbereichen die traditionale familiale Arbeitsteilung eine enorme Hürde darstellt, eine zufriedenstellende Zeitstrategie zu entwickeln, um Versorgungs- und Erwerbsarbeit zu vereinbaren. Klaus Schönberger folgert: „Das Privileg, ungestört zu arbeiten, ist demnach ein männliches. Während Frauen disponibel sein müssen, können Männer disponieren“ (ebd. 2003: 154). Auch wenn diese Studien auf die zunehmende Interdependenz von Erwerbsarbeits- und Privatssphäre verweisen, tun sie dies primär mit dem Fokus auf die Veränderungen der Erwerbsarbeit und fragen davon ausgehend, wie die Flexibilisierungsanforderungen in alltagspraktische Arrangements umgesetzt werden. Strukturelle Veränderungen der Organisation der häuslichen Sphäre, wie sie sich beispielsweise in den neuen intrageschlechtlichen Hausarbeitsarrangements ausdrückken, werden in den Studien hingegen nicht analysiert. Meine Interviews machen deutlich, dass (berufstätige) Frauen, gerade angesichts der Tatsache, disponibel sein zu müssen, Strategien entwickeln, das Verhältnis bzw. die Verhältnissetzung zwischen Erwerbsarbeit und häuslichen Tätigkeiten neu auszuhandeln und zu gestalten. Dabei sind die Strategien eben nicht nur auf strukturelle Notwendigkeiten zurückzuführen, sondern auch als Ausdruck veränderter kultureller Bedeutungszuschreibungen und Haltungen hinsichtlich von Erwerbs- respektive Versorgungsarbeiten zu verstehen. Arlie Roussel Hochschild (1999) spricht in ihrer Studie über Arbeits- und Lebensalltage US-amerikanischer Kleinfamilien gar von einer Umdrehung der Wertigkeiten bei berufstätigen Frauen, die sich nun bei der Arbeit Zuhause und Zuhause bei der Arbeit fühlten. Diese Umwertung und Verschiebung der Praxen von Erwerbs- und Privatsphäre lassen sich mit dem klassisch modernen Bild der „Nur-Hausfrau“ nicht mehr adäquat beschreiben. Vielmehr scheint damit auch eine „spätmoderne Hausmanagerin“ die Bühne zu betreten, die ihren Haushalt unter Effizienz- und Rationalitätsgesichtspunkten wie einen kleinen Betrieb führt, was Auswirkungen auf die Angestellten im Haushalt hat. Den Begriff der spätmodernen Haushaltsmanagerin benutze ich in Anlehnung an Judith Stacey, die in ihrem Buch „The brave new Families“ (1991) die Verschiebung von der modernen Kleinfamilie mit ihrer starren Arbeitsteilung zwischen Ernährer-Mann und Nur-Hausfrau zu „postmodernen“ Familienkonstellationen beschreibt, die sich infolge der Dekonstruktion des männlichen Normalarbeitsverhältnisses sich in einer gestiegenen familiären Abhängigkeit vom Einkommen der Frauen und einer Diversifizierung von familiären Formen ausdrükke. Das Präfix „post“ legt jedoch, meiner Meinung nach, zu viel Gewicht auf die Neuartigkeit dieses Verhältnisses. Meine Forschung zeigt hingegen, dass es zahlreiche Kontinuitäten gibt, die weiterhin bestimmend sind. Vor diesem Hintergrund werde ich nun die Beziehungs- und Konfliktdynamiken zwischen den deutschen Arbeitgeberinnen und den Au-pairs in Form einer Kontrastierung betrachten. Die spätmoderne Hausmanagerin – intrageschlechtliche Arbeitsteilung Eine wesentliche Kontinuität besteht darin, dass die deutschen Frauen trotz ganztägiger Berufstätigkeit weiterhin für die häusliche Sphäre und Versorgungsarbeiten zuständig sind. Dabei nahmen sie jedoch nicht mehr die Rolle einer für alles zuständigen Haus-Frau ein, sondern bestimmten ihre sozialen Bezüge und Tätigkeits-
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felder unter dem Diktat des beruflichen Zeitmanagements neu. So organisierten sich Opitzs ihre Teilung der Versorgungsarbeiten in Form eines Familiensharing und arbeiteten in Schichtdiensten zu Hause, wobei sie ihre häuslichen Anwesenheiten im Wechsel fein aufeinander abstimmten. Die anderen Frauen, deren Partner tagsüber abwesend waren, lebten ein „straffes“ häusliches Zeitmanagement mit dem Ziel, die Haushaltstätigkeiten weitgehend zu rationalisieren und zu delegieren, um abends ein bis zwei „Qualitätsstunden“ für die Kinder Zeit zu haben. Die Beziehung zu den Kindern nach Aufnahme der Erwerbsarbeit stellten die Frauen durchweg positiv dar: „Solange ich nicht arbeitete,” meinte Frau Wagner, „wurde ich immer ungenießbarer und das schadet jedem. Jetzt, wo ich arbeite, kann ich mich wieder zwei intensive Stunden mit den Kindern beschäftigen.” Auch Frau Opitz und Frau Schuler benutzten das Adjektiv „intensiv“, um ihre Beziehung zu ihren Kindern nach Feierabend zu beschreiben. Während Frau Opitz vor allem positiv anmerkte, dass seit ihrer Arbeitsaufnahme die Kinder viel selbstständiger geworden seien, meinte Frau Schuler: „Nachdem ich arbeiten gegangen bin, konnte ich mich wieder viel intensiver auf meine Tochter einlassen. Nach der Arbeit spiele ich jetzt gerne mit ihr zwei, drei Stunden.“ 143 Und im Sinne des Mottos, „raus zu gehen, um zu Hause bleiben zu können“ verglich sie ihre jetzige Part-time-Beziehung zur Tochter mit einer Teilzeit-Erwerbsarbeit: „Das ist wie bei einer halben Stelle, da schafft man auch viel konzentrierter und effektiver. Da freut man sich auf den Job, weil man weiß, dass man auch wieder gehen kann.“ Diese Intensivierung der Beziehungsarbeit nach Feierabend erforderte aber auch eine rationelle Umverteilung der übrigen Hausarbeiten, was beispielsweise in der speziellen intrageschlechtlichen Arbeitsteilung zwischen Hausmanagerin und Aupair zum Ausdruck kommt. Die konkreten, manuellen und repetetiven HausArbeiten wie Aufräumen, Putzen, Wäsche machen, Bügeln, das normale Essen vorbereiten und gleichförmige funktionale Versorgungs- und Betreuungsarbeiten wurden an die Au-pairs delegiert – oft in Form von Arbeitslisten. Diese Arbeitsteilung war nicht zufällig. Wie Simone Odierna (2000: 125) in ihrer Untersuchung über kommerzialisierte Haushaltsarbeit zeigen kann, werden Arbeiten abhängig vom Grad ihrer „Unbequemlichkeit“ und ihrer gesellschaftlichen Bewertung an Dritte delegiert, wohingegen verantwortungsvolle und kreative Erziehungs- und Beziehungsarbeiten in eigener Regie verbleiben. So bewerteten die deutschen Frauen die Hausarbeiten als „monotone“ und „langweilige“ Sisyphostätigkeiten, die dennoch sehr „zeitintensiv, mühselig und undankbar“ seien, wie sie Frau Wagner charakterisierte. „Es ist halt einfach so, dass man im Haushalt immer im Kreis rum arbeitet und irgendwie trotzdem nie fertig wird“, meinte Frau Opitz. Dies sei zwar in ihrem Beruf oft auch nicht anders, doch hier habe sie wenigstens „Kontakt zu anderen, mit denen man sich nicht nur über Blähungen unterhält.“ Darüber hinaus stellte sie ihre Unlust auf Hausarbeiten in den gesellschaftlichen Aberkennungszusammenhang: „Wenn sie als wertvoll erachtet würde, überhaupt mal beachtet würde, dann wäre es ja auch wieder okay.“
143 Wohl auch als Entgegnung auf den „Raben-Mütterdiskurs“ definierten alle Frauen gerade ihre Erwerbsarbeit als „hilfreich“ für die Kinder (um).
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Frau Schuler beschrieb dann die Zeit, in der sie ganztags mit ihrer kleinen Tochter ans Haus gebunden war, als fast traumatische Erfahrung: „Da wurde ich total wirr im Kopf, die Tage krochen so dahin. Mit war soo langweilig“ Vor allem der immer gleichförmige Tagesablauf mit ihrer Tochter habe sie „fast wahnsinnig“ gemacht: „Das war so eintönig. Ich muss einfach etwas zu tun haben und rumwurschteln.“ Alle interviewten deutschen Frauen waren froh, diese Phase hinter sich gelassen zu haben. Doch die Arbeitsleistungen der Au-pairs, die nun die ungeliebten Haushaltstätigkeiten zu verrichten hatten, wurde von den deutschen Frauen nicht mit gleicher Elle gemessen. Vielmehr reproduzierten die meisten deutschen Frauen die gesellschaftliche Abwertung der Hausarbeiten nun ihrerseits in der mangelnden Anerkennung der Arbeitsleistungen der Au-pairs: „Es sind ja keine schweren Arbeiten. Was ist Hausarbeit bei all den Geräten von der Geschirrspülmaschine angefangen”, meinte Frau Wagner. Mit dem Verweis auf die Technisierung des Haushalts schrieb sie dann auch die langen Arbeitszeiten der Au-pairs ihrem Unvermögen zu, ihre Arbeit effizient organisieren zu können: „Und dass es manchmal viel ist, liegt daran, dass sie viel zusammenkommen lassen. Wenn man jeden Tag bügelt“, ist sich Frau Wagner sicher, „dann ist es nicht viel.“ Auch Frau Schuler scheint erst im Nachhinein die Arbeitsleistungen ihrer Au-pair zu erkennen, denn in den ersten Monaten war sie von ihr „sehr enttäuscht“ und es habe viele Konflikte mit ihr gegeben bis hin zur Drohung, sie wieder zurückzuschicken: „Das Einzige was sie gut machte, war bügeln und die Küche aufräumen. Jetzt merk ich, das war auch schon eine große Erleichterung.“ Doch anfangs hatte sie den Eindruck, dass Vierka schlampig arbeite, oberflächlich putze und nur sehr ungern koche: „Man bewirbt sich um ein Au-pair und denkt halt, es kommt und macht gleich ihre Arbeit. Ich wollte halt nach der Arbeit in eine saubere Wohnung kommen.“ Alle Au-pair-Frauen haben die häusliche Arbeitsteilung zwischen ihnen und ihren Arbeitgeberinnen dann auch zunehmend als Ausnutzung und Abwertung ihrer Person verstanden, die sie mit einem niedrigen Anforderungsgrad und auf die Dauer langweiligen Inhalt belastete. Doch es dauerte einige Zeit, bis die Au-pair-Frauen dies wahrnahmen und dann nochmal einige Zeit, bis sie sich trauten, diese Arbeitsteilung als ungerecht zu kritisieren. Dies ist, wie wir sahen, zum Teil auf den geringen Informationsstand der migrierenden Frauen zurückzuführen, was „Au-pair“ an Arbeiten beinhaltet und auf welche Rechte sie sich berufen können. Gleichzeitig befanden sie sich aufenthaltsrechtlich in einem Abhängigkeitsverhältnis von ihren Gasteltern, was sie eine unterlegene Verhandlungsposition einnehmen ließ. Erst im Vergleich mit anderen Au-pairs, die sie in den Au-pair-Netzwerken kennenlernten, konnten die Frauen ihre Situation einschätzen lernen. Dabei waren die Netzwerke oft der einzige soziale Ort außerhalb der Familie, der ihnen auch emotional Rückhalt bot, Konflikte mit den Familien auszutragen. So beklagten sie nach einigen Monaten Aufenthalt nicht nur, durch Haushalt und Kinderaufsicht überfordert zu sein, sondern vor allem die Monotonie, Redundanz und Langeweile der Tätigkeiten.144 Vierka, das gleiche Bild wie ihre Arbeitgeberin 144 Auch in den Interviews, die Parrenaz (2001: 162) mit philippinischen Hausarbeiterinnen führte, war
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bemühend, kritisierte nach vierwöchiger Dauerbetreuung der kleinen Tochter: „Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen, immer das Gleiche, immer das gleiche spielen und machen mit der Kleinen jeden Tag, ich wusste schon nicht mehr, was ich machen sollte. Und dann auch niemand zum Reden.“ Nach einiger Zeit lehnten die meisten Au-pairs die Hausarbeit ebenso wie ihre Managerinnen als eintönige und unkommunikative Arbeit ab. Im Zusammenhang mit ihrer kritischen Distanzierung von ihrer bis dahin zufriedenstellend wirkenden Familienintegration führte Anna dann auch an: „Immer die gleichen Routinen, die gleiche Arbeit, die ich immer gleich ausführen muss, langt mir jetzt.“ Vor allem kritisierte sie im neunten Monat ihres Aufenthalts die ihrer Arbeit zugrunde liegende Aufgabenteilung: „Ich nehme Frau Wagner die ganze praktische Arbeit ab. Ich putze, räume auf, bügle und kümmere mich um die Tochter. Sie ist nur noch für gute Ratschläge und die materielle Versorgung der Kinder zuständig.” Auch Magdalena schilderte mir während ihrer ersten großen Krise mit der Familie die Arbeitsteilung in diesem Sinne. Während die Gastmutter nur noch mit dem Kind spiele, erledige sie den liegengebliebenen „Rest“, die materielle Grundversorgung. Dagegen fokussierte Tanya zur Halbzeit in ihrer Kritik insbesondere den Arbeitsinhalt: „Ich muss zwar nicht so viele Stunden arbeiten, aber die Arbeit nervt total: Immer das Gleiche machen, ist total langweilig.“ Und sie schimpft weiter: „Ein Au-pair muss immer helfen und hinterherputzen, während sie alles stehen und liegen lassen. Die wissen ja: Das Au-pair kommt und macht alles wieder weg. Sie sind immer im Stress mit ihrer Arbeit” Erwerbsarbeit macht Spaß – unregulierter Arbeitseinsatz im Haushalt Den Stress und die Zeitknappheit, die ihre Berufstätigkeit für sie mit sich brachten, beklagten die deutschen Frauen alle. Verglichen mit ihrer Zeit als Nur-Hausfrauen, die sie immer wieder in ihren Schilderungen als Kontrastfolie heranzogen, schienen sie die Doppelbelastung jedoch gerne in Kauf zu nehmen. So meinte Frau Opitz: „Nach dem Studium war ich jetzt drei Jahre zu Hause und war also nur im Haushalt, sag ich mal, und da war ich schon ganz schön ausgehungert nach Arbeit.“ In Folge inszenierten sie sich, wie auch die anderen drei berufstätigen Frauen, als „starke“ und „disziplinierte” Person, die während der Kinderpause nur „immer grätiger“ geworden war. Auch Frau Wagner stellte sich als „effektiv“ und leistungsbewusst dar und beschrieb, wie ihre erste und einzige Erziehungspause ihr zur Qual wurde: „Ich habe immer gearbeitet. Ich habe immer gearbeitet und dann bei meiner Tochter das erste Mal über ein Jahr nichts gearbeitet.“ Trotz eines ausgefüllten Daseins als Nicht-Erwerbstätige habe sie schon nach einem Vierteljahr ihre Erwerbsarbeit „sehr vermisst“: „Ich habe dann gemerkt, dass ist nicht gut (...), dass ich ohne Arbeit nicht genießbar war.“ Frau Schuler schildert in ähnlicher Weise ihre damalige Situation, als sie mit ihrer Tochter zu Hause war, so dass sie sich schon ein Jahr vor Ablauf ihrer beantragten Erziehungszeit nach einer Lohnarbeit umzueiner der wesentlichen Diskurse über die Qualität der zu verrichtenden Hausarbeiten, dass sie vor allem aufgrund des mangelnden Kontakts zu Erwachsenen „langweilig“ seien: „Domestic work is described as painstakingly boring by all of the women in my study but more so by live-in workers.“
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schauen begann: „Egal, was es war, ich wollte nur arbeiten.” Nachdem sie auf die Schnelle keinen Arbeitsplatz in ihrem erlernten Beruf fand, arbeitete sie dann für ein halbes Jahr als Verkäuferin: „Das war immer noch besser als den ganzen Tag zu Hause sitzen.“ Viele vermissten vor allem den Kontakt zu Nicht-Vollzeit-Müttern und Gesprächsthemen, die nicht nur um Kindererziehung kreisten, so dass Frau Opitz meinte: „Am Anfang hat mir die Arbeit dann auch total Spaß gemacht und ich hätte ohne Weiteres immer noch länger arbeiten können.” Auch wenn sie in einer „harten Branche“ tätig sei, „wo voller Einsatz“ und Überstunden von ihr verlangt werde, stellte sie fest: „Arbeit macht wahnsinnig Spaß, davon profitieren alle!” Auch Frau Wagner beschrieb den Zugewinn, den sie aus ihrer Erwerbstätigkeit schöpfe, mit dem Begriff des „Spaßes“, welcher bis in die Privatsphäre zurückwirke: „Und das war mir dann klar, dass hilft unglaublich meinen Kindern, dass ich einen Job hab, der mir unheimlich Spaß macht.“ Und obwohl die Organisation ihres Berufes als Selbstständige neben Kindern und Haushalt trotz einer Au-pair „anstrengend“ bliebe, resümierte sie: „Aber ich sage, ich fühle mich wohl.“ Die Berufspraxis der deutschen Frauen erforderte jedoch, dass die Au-pairs oft ganztags im Haus waren und ihre Freizeit eng in Absprache mit der Hausmanagerin zu planen hatten, um die alltägliche Grundversorgung zu gewährleisten. Au-pair als live-in Arbeitsverhältnis mit gering formalisierten Tätigkeitsbereichen war dafür hervorragend geeignet. So begann vor allem Anna, die im Sinne des klassischen Aupairs gut in die Familie integriert schien, sich im letzten Drittel ihres Aufenthalts am stärksten über die lang gedehnten und unregulierten Arbeitstage und die mangelnde eigene Zeitsouveränität zu beklagen. Auch Magdalena thematisierte immer wieder die ausgedehnte Inanspruchnahme ihrer Eigenzeit, wobei sie sie in den ersten Monaten als Form der Nettigkeit und des Entgegenkommens im Austausch für eine gute Familienintegration akzeptierte. Dabei war es nicht unbedingt die viele Arbeit, die die beiden zu Überstunden zwang. Auch lässt sich die ausgedehnte Inanspruchnahme nicht nur auf die entgrenzten Handlungslogiken von Sorge- und Beziehungsarbeit zurückführen, wie ich sie eingangs ausgeführt habe. Vielfach basierte die zeitliche Ausdehnung auf einer aktiven Entstrukturierung seitens der Arbeitgeberinnen, die ihre eigenen Flexibilitätsanforderungen und -bedürfnisse kraft ihrer dominanten Stellung an die Au-pairs weiterdelegierten. Erst die dauerhafte Lokalisierung der Au-pairs im Haus ermöglichte den deutschen Frauen „Flexibilität“ als Ressource zu nutzen. So hatte sich Anna wartend auf den nächsten Einsatz bereitzuhalten, bis das Kind vom Musikunterricht abzuholen war oder für den Fall, dass Abendtermine und Überstunden der Arbeitgeberin dazwischen kamen. Nicht nur in der Sinnlosigkeit ihres Arbeitsinhalts, der häufig im Warten auf Arbeit bestand, sondern vor allem in der ausgedehnten und selbstverständlichen Inanspruchnahme ihrer Eigenzeit artikulierte sich für Anna und Magdalena am stärksten die Verfügungsmacht der deutschen Frauen über sie und die Hierarchie zwischen ihnen. Die Nichteinhaltung bzw. das Fehlen klarer zeitlicher Vorgaben von Arbeits-, Ruheund Eigenzeiten, welches ein allgemeines Charakteristikum von live-in domestic work zu sein scheint, beschrieben auch die von Rhacel Salazar Perrenaz interviewten Hausarbeiterinnen als ein wesentliches Artikulationsfeld von Machtungleichheit (vgl. R. Perrenaz 2001: 164). So zielten viele Konflikte, die die Au-pairs mit den deutschen Familien austrugen, darauf ab, Zeitautonomie zurückzugewinnen.
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Corporate Identity „Familie“ – Unkenntlichmachung des Arbeitsaspekts Von den deutschen Frauen wurde die weitgehende Verfügung über die Arbeitskraft der Au-pair-Frauen gar nicht gesehen. Zum Teil ließ er sich in dem Diskurs der „Familienintegration“ verstecken, zum Teil wurde er durch ethnisierende und auch klassenspezifische Legitimationsstrategien unsichtbar gemacht, in dem der Arbeitsaufenthalt beispielsweise als „Entwicklungshilfe“ umgedeutet wurde. Obwohl mir gegenüber alle deutschen Frauen zunächst die Einstellung einer Au-pair damit begründet hatten, dass sie eine Arbeitskraft im Haushalt brauchten, die ihre eigene Berufspraxis ermöglichen sollte, wurde diese Funktionszuschreibung in der Betrachtung und Behandlung der Au-pairs von den meisten deutschen Frauen nicht thematisiert und reflektiert. Vielmehr bedienten sich alle Gasteltern bis auf Jirinas Familie des offiziellen Bildes von Au-pair als „Familienmitglied“ und berichteten, dass sie ihre Au-pairs als Mitglied oder gar „Tochter“ in die Familie zu integrieren versucht hätten. Darüber konnten sie jedoch, auch wenn sie in der Tat eine wohlgemeinte Familienintegration anstrebten, das Arbeitgeberinnen-ArbeitnehmerinnenVerhältnis unkenntlich machen und es in eine Dynamik überführen, wie ich sie im Abschnitt „Moralische Ökonomie des Caring“ als Handlungslogiken von Haushaltsarbeiten skizziert habe. So knüpften auch die meisten Arbeitgeberinnen an die impliziten Logiken von Haushaltsarbeiten wie der Reziprozitätsvorstellung an. Diese Umdeutungs- bzw. Verkennungspraxis kann sicherlich auf den ungelernten Umgang mit der Rolle als Arbeitgeberin im Privaten – die jedoch bei wiederholter Anstellung von Au-pairs nicht mehr gelten kann – und den Ambivalenzen des Arbeitsplatzes „Privatsphäre“ zurückgeführt werden, wie ich sie bisher für die Aupairs schilderte. Ferner lässt sich mit dem Diskurs der „Familienintegration“ auch das Unbehagen, Arbeiten zu delegieren, die man selbst nicht machen will, positiv überschreiben und den Ausbeutungszusammenhang in der Familienintegration wegretuschieren. Dabei kam den deutschen Frauen die offizielle Definition von Aupair als Kulturaustausch sowie der geringe Formalisierungsgrad des Arbeitsaspektes sehr entgegen. So inszenierten sich die deutschen Frauen, die eine relativ enge Integration mit ihren Au-pairs praktizierten, als „Mütter“, die aus empathischem Verantwortungsgefühl heraus wissen wollten, wohin, wie lange und mit wem „ihre“ Au-pairs weggingen. Dieser erweiterte Kontrollanspruch über die ganze Person verkennt nicht nur den oftmals hohen Qualifikationsgrad und Selbstständigkeit der Migrantinnen. Er erinnert auch an das in der historischen Gesindeordnung festgehaltene Aufsichts- und Züchtigungsrecht gegenüber Dienstmädchen, welches mit einem Erziehungsauftrag der bürgerlichen Haushalte gegenüber den unteren Klassen verbunden und verbrämt war (vgl. M. Friese 2002). Die Kontrolle durch ihre Arbeitgeberinnen wurde für die Au-pairs infolge von Konflikten, in denen sie unterlagen, schnell als Machtausübung dechiffrierbar, was wiederum die deutschen Frauen verständnislos als Vorwurf erachteten, beispielsweise wenn Frau Opitz das Selbstbewusstsein von Vanessa als „freches“, „dominantes“ Verhalten abtat. Abgesehen von den Untiefen des Un- und Nicht-Bewussten, riefen die Frauen diese Handlungslogiken auch strategisch auf. So schilderte Magdalena einen Satz ihrer Gastmutter, mit dem sie ihre Loyalität auch im Konfliktfall erfolgreich einforderte:
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„Du wirst uns doch jetzt nicht im Stich lassen, du siehst doch, wie viel Arbeit wir gerade haben.“ Oder, wie es Anna im Konflikt um eine weitere Putzstelle schilderte: „Warum willst du mehr Geld, wir geben dir doch alles, du bist doch wie unsere Tochter.“ Dieser moral-ökonomisch argumentierende Diskurs stieß vor allem bei Au-pairs wie Magdalena und Anna, die selbst die Integration in die Gastfamilie anstrebten, lange Zeit auf offene Ohren. In diesem Sinn wendet sich das Begehren der Au-pairs, als Mitglied der Familie zu gelten, gegen sie selbst und macht sie noch verwundbarer. Denn die Haltung und Umdeutungspraxis der Arbeitgeberinnen machte es den unterlegenen Au-pairs zur Aufgabe, die Grenzen zwischen „Arbeiten gegen Lohn“ und „Mithelfen aus Nettigkeit“, zwischen Arbeitszeit und Eigenzeit bzw. zwischen Arbeitsplatz und Lebensort immer wieder aufs Neue zu ziehen und in die eigene Praxis zu überführen. Nur für Jirina war ihre Beziehung zur Familie von Anfang an als „reines“ Arbeitsverhältnis verstehbar, was ihr auch relativ schnell ermöglichte, selbst diese Positionierung und Selbstidentifikation einzunehmen und dementsprechend ihr Leben in Deutschland zu gestalten. Dagegen stieß Vanessas und Vierkas Strategie des stillen Rückzugs aus der Familie, sobald ein „Elternteil“ sie ablösen konnte, bei ihren Gastmüttern auf Unverständnis. So führten beide Arbeitgeberinnen den Rückzug ihrer Au-pairs, den Arbeitsaspekt von Au-pair gänzlich ausblendend, auf ihre geringe Integrationsbereitschaft zurück: „Integriert hat sie sich nicht“, kritisierte Frau Schuler, „bei uns in der Familie saß sie nur ganz selten.“ Zum anderen interpretierte sie Vierkas Rückzug als klaren Ausdruck davon, dass sie „ihre Rechte gekannt und auf ihre Arbeitszeit aufgepasst“ hätte: „Da war sie selbstbewusst und es kam häufig zu kleinen Wortgefechten, wenn sie mir vorhielt, dass sie zu lang gearbeitet hat.“ Auch Vanessas Gastmutter konnte ihr auf eine Arbeitsbeziehung reduziertes Verhalten nicht wirklich verstehen: „Also ich denk schon, dass sie es bei uns recht gut hat, sie ist halt ziemlich selbstbewusst und das sind dann halt so Sachen, wo man ihren Charakter zu spüren bekommt, die ist halt schon auch recht dominant. Das ist ja auch okay, aber dann haben wir schon immer wieder Auseinandersetzungen gehabt um ihre Zeiten.“
Vanessas und Vierkas Gegenstrategien gegen die völlige Indienstnahme ihrer gesamten Zeit und Person scheinen die Arbeitgeberinnen im Privaten sehr zu irritieren. Sie konnten sie nur auf den „dominanten“ Charakter ihrer Au-pairs – die negative Wendung von „selbstbewusst“ – zurückführen. Wenngleich Selbstbewusstsein sicherlich ein entscheidender Faktor für eine derartige Widerstandspraxis ist, verkennt diese Perspektive doch den Arbeitscharakter der Au-pair-GastfamilienBeziehung und verschiebt die Problematik auf eine persönliche Ebene. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass in den beiden Fällen, in denen die Au-pairs in den Familien mitlebten, die ausgedehnte Inanspruchnahme mit Hilfe eines ethnisierenden und bürgerlich-klassistischen (leistungsrassistischen) Legitimationsmusters ausgeblendet wurde. Von Frau Wagner und, so wie ich es von Magdalena geschildert bekam, auch von ihrer Gastmutter wurde die Indienstnahme der Au-pairs als „Entwicklungshilfe“ oder „Bildungsprogramm“ für die „armen“, „rückständigen“ Osteuropäerinnen umgedeutet. Hier konnte und wurde die den Beziehungen zugrundeliegende geopolitisch und kulturalistisch begründete Ungleichheit im West-Ost-Verhältnis, wie ich sie im zweiten Kapitel skizziert habe, in
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den Interaktionen aufgerufen. So schilderte Frau Wagner ihre Beziehung zu ihren 14 Au-pairs in Form eines in den westdeutschen bürgerlich-universalistischen Emanzipationsidealen gründenden Erziehungs- und Unterstützungsverhältnisses, das jedoch keine Widerrede duldet: „Da rufen mich immer wieder die Eltern an und sagen: Meine Tochter, die hat ja sooo gewonnen, die ist so selbstbewusst geworden. Klar, das freut mich, aber ich gehe noch weiter bei den Mädels, ich versuche ihnen klar zu machen, dass sie weiter machen sollen mit ihrer Ausbildung. Also, ich versuche sie stark zu machen, dass sie sich nicht nur auf das Privatleben konzentrieren und eventuell gleich einen Mann finden.“
Diese Hilfestellung zur Emanzipation, in der Frau Wagner ihre eigene berufliche Erfolgsgeschichte – für die sie „viele Opfer“ bringen und Leistung zeigen musste – immer wieder spiegeln konnte, kippt spätestens in Paternalismus um, wenn sie sagt: „Und ich sag dann auch den Mädchen, wie ich sie einschätze, was sie schaffen können und was sie nicht schaffen.“ Sie rate dann auch den meisten jungen Frauen ab, in Deutschland zu studieren, denn „das schaffen wirklich nur außergewöhnlich starke Leute“. Dabei beklagte sie vor allem die pessimistische und defätistische Einstellung, die ihr vor allem Au-pairs aus osteuropäischen Ländern vermittelten: „Die sagen immer, ich krieg nichts [keine Arbeit, die Verf.], wobei ich dann sage: Ach komm, probier doch diese Schiene.“ Und an den historischen bürgerlichsozialreformerischen Erziehungsauftrag im Sinne einer „Kulturalisierung“ des weiblichen Proletariats anknüpfend145, wie es Marianne Fries in „Beruf als Weib“ nachzeichnet (2002: 230 ff.), meinte Frau Wagner weiter auf die Situation Osteuropas übertragen: „Man weiß doch, dass großes geistiges Potenzial auch in diesen Schichten da ist, das einfach so nicht zum Tragen kommt, weil die Mädchen nicht wissen, was sie machen können und dann eben in die Frühehen reingehen und dann ist es gelaufen.“ Hierbei scheinen sich emanzipativ-bürgerliche Erziehungsvorstellungen gegenüber „Frauen“ mit einer Konstruktion von „Osteuropa“ zu verschränken, welches als kollektives Anderes zur westeuropäischen Moderne konstruiert wird, das ebenso eine fremde erzieherische Hand bedürfe. Der Topos der „Kulturmission“ zur Hebung der Zivilisation in den Ländern des Südens ist in den kolonialistischen Diskursen der Jahrhundertwende tief verankert. So beklagte sich Anna dann auch immer wieder, dass Frau Wagner pauschalisierend über „den Osten“ und „den Balkan“ spreche und keine Bemühungen zeigte, die Slowakei differenziert zu betrachten. Sie berichtete mir ferner von Äußerungen über die Slowakei, die sie als empörend empfand, beispielsweise als Frau Wagner anzweifelte, dass sie ihre neue Jacke dort erworben hatte. Anfangs habe Frau Wagner ihr auch mehrmals erklärt, wie die technischen Geräte im Haushalt funktionierten, bis Anna diese freundlichlästige Ratschläge zurückwies: „Was glaubt sie? Wir sind doch auch in Europa und wohnen nicht mehr in Höhlen.“
145 Marianne Fries zeichnet in ihrer historischen Rekonstruktion des Dienstboten-Verhältnisses nach, wie der Prozess der Pädagogisierung des weiblichen Proletariats zur hauswirtschaftlichen Ausbildung Anfang des letzten Jahrhunderts auch die Weichen für die Freisetzung der bürgerlichen Frauen für Bildung und Beruf stellte: „Wenn sich dieses Gefüge von Pädagogisierung, rechtlicher Normierung, Sozialfürsorge und Verberuflichung für Dienstmädchen auch als umfassendes Instrument polizeilicher Kontrolle (...) erweist, drückt sich auch ein doppeltes Herrschaftsverhältnis aus, indem neben der patriarchalen Ordnung zwischen Hausherrn und Dienstmagd auch die soziale und politische Differenz zwischen Frauen (...) eingeschlossen ist“ (M. Friese 2002: 230).
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Auch Magdalena erzählte von derartigen kulturalistisch-stereotypen Vorstellungen ihrer Gasteltern gegenüber ihrem Land. Dabei argumentierten ihre Gasteltern insbesondere mit dem hohen Stand ökologischen Bewusstseins, welches in Deutschland vorherrsche. So wurden Anweisungen zu einer Nachhilfe in ökologischer Haushaltsführung umgedeutet: „Du sollst versuchen, dich an unser Energie und Wasser Sparen anzupassen”, lautete eine gutgemeinte Aufforderung, „das ist auch später nützlich für dich”. Auf einem Elternabend, den die kirchliche Au-pair-Agentur zwei Mal im Jahr einberuft, konnte ich beobachten, wie vor allem das Narrativ vom zurückgebliebenen Osten die Interaktionen und Selbstvergewisserungen der deutschen Gasteltern strukturierte, womit das moderne und progressive Selbstbild stabilisiert blieb.146 So erzählten sich die Gasteltern leicht amüsiert bis zuweilen in einem ärgerlichen Ton Geschichten wie diese: „Da habe ich am Anfang unsere Maria erwischt, wie sie alle Äpfel aus dem Korb gegessen hatte“, kolportierte eine Gastmutter, „sie muss halt auch erst lernen, dass es bei uns immer Äpfel gibt.“ Erwerbsorientierung und ethnisierende Hausfrauisierung Ein zentraler Mechanismus, wie sich die Arbeitgeberinnen und die Au-pairs begegneten und sich wechselseitig auf- bzw. abwerteten, funktioniert – wie bereits angedeutet – über das Frauenbild entlang der Achsen Berufstätigkeit und klassische Hausfrauenrolle. Die Kategorie Geschlecht wurde in diesem Sinne von den Akteurinnen ständig thematisiert und angerufen, wobei vor allem die Au-pairs dies als Messlatte der Bewertung der deutschen Frauen einsetzten. Sie nahmen die Berufstätigkeit der deutschen Frauen zum Ausgangspunkt ihrer eigenen „Selbstbehauptung“ und qualifizierten diese als Rabenmütter und schlechte Hausfrauen ab. Die deutschen Frauen könnten nicht kochen, was sie an der Küchenausstattung, an Tütensuppen und Tiefgefrorenem festmachten, und hätten „zwei linke Hände“, wie es Magdalena und Vierka beschrieben. Auch konstatierten sie, dass ihre Gastmütter keine Zeit für die Kinder hätten und nicht fähig seien, Mutterliebe aufzubringen. Vor allem im Konfliktfällen zogen sie dieses Argumentationsmuster hervor. Dabei reproduzierten sie als Gegendiskurs gegen die Lebensführung der berufstätigen deutschen Frauen das klassische Frauenbild und inszenierten sich als die wahren, besseren Mütter. Diese Gegen-Inszenierung war jedoch äußerst brüchig und situativ auf ihr dominantes Gegenüber im Kontext der Interaktionsverhältnisse in den Gastfamilien bezogen, da andererseits alle Au-pair-Frauen den Ausbruch aus den engen Familienverhältnissen und traditionalistischen Rollenvorstellungen in der Slowakei als Migrationsmotiv angaben. Insofern sind die Versorgungsarbeiten angesichts der immer noch höchst feminisierten Bedeutungszuschreibung von Caring als 146 Das Interpretationsmuster, Konflikte zwischen Au-pairs und Gasteltern auf kulturelle Differenzen zurückzuführen und mit Hilfe „interkultureller Verständigung“ Konflikten vorzubeugen, scheint weit verbreitet zu sein. So lautet auch ein Kursprogramm einer Volkshochschule für Au-pairs: „Wegen mangelnder Kenntnisse der deutschen Mentalität und Gewohnheiten sind Missverständnisse vorprogrammiert. Durch Informationen und Austausch sollen die Konflikte in den Familien verstanden und reduziert werden.“ (2003).
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„weiblicher Tugend“ als äußerst vergeschlechtlichende Tätigkeiten zu verstehen, die diejenigen sozial und kulturell hausfrausieren, die sie überwiegend ausführen. Auch die ganz wenigen männlichen Au-pairs, die ich im Au-pair Club hin und wieder antreffen konnte, behaupteten, dass sie die besseren „Hausfrauen“ seien. Dagegen legitimierten die deutschen Frauen ihre Lebenspraxis über ihre Berufstätigkeit und bezogen sich dabei auf die neuen Arbeitsparadigmen. Sie werteten die Arbeitswelt als zentralen Ort auf, wo sie Anerkennung, Erfüllung und Selbstverwirklichung erführen und folglich Ausgeglichenheit und eine positive Identität herausziehen könnten: „Ich habe den ganz berühmten positiven Stress und keinen Diss-Stress. Ja, ich habe die Ausschüttung von Glückshormonen, wo ich sage, dass hilft mir enorm, das bringt mich weiter”, bewertete Frau Wagner ihre Arbeitsmotivation. Insgesamt erschienen mir die deutschen Frauen als wahre Organisationstalente und Inkarnationen der „flexiblen Arbeitskraftunternehmerin“, die sich flexibel im permanenten Multitasking zwischen Beruf, Kindern, Haushalt, Ehe und Freizeit hin- und herbewegen mussten, konnten und wollten. Mit ihren Schritten hinaus in die öffentliche Sphäre haben sie die geschlechtsdichotome Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit überwunden, womit sie im Umkehrschluss auch den Haushalt den Arbeitsmaximen der Produktionssphäre unterwarfen, zu sehen an ihren Bemühungen, die Haushaltstätigkeiten zu rationalisieren, Erziehungszeiten zu optimieren und den Rest zu delegieren. Während sich die spätmodernen Geschlechterpraxen in postindustriellen Gesellschaften soweit flexibilisieren, dass die Arbeitswelt für Frauen, wenn auch weiterhin gebrochen, ein „Zuhause“ wurde, bleibt die geschlechtliche Zuschreibung von Hausarbeit persistent. Allerdings hat sich auch in dieser Hinsicht das spätmoderne Frauenbild soweit liberalisiert, als dass „Arbeit“ und „Liebe“ im Privaten arbeitsteilig organisiert werden könnten. Wie wir sahen, haben diese spätmodernen Lebens- und Arbeitsarrangements höchst ambivalente Effekte hinsichtlich der Neukonstitution der Hausarbeit als Erwerbsarbeit: Der „ökonomisierte Haushalt“ ist als widersprüchlicher, halböffentlicher Raum informalisierter, privat auszuhandelnder prekärer Arbeitsverhältnisse zu verstehen. Dabei scheinen zum einen die impliziten Logiken von Beziehungs- und Sorgearbeiten mit ihrem großen Anteil emotionaler und affektiver Arbeit sich einer vollständigen „Verbetrieblichung“, wie es die neuen arbeitssoziologischen Studien prophezeien, zu versperren. Zum anderen reproduziert sich die gesellschaftliche Abwertung von Hausarbeit im intrageschlechtlichen Machtverhältnis zwischen außerhäusig arbeitenden deutschen Frauen und migrantischen Hausarbeiterinnen. So bleibt auch der aus den postindustriellen Arbeits- und Lebensstilen sich ergebende Rückgriff auf die ethnisierte Unterstützungsstruktur von Migrantinnen und das darin ausagierte Machtverhältnis unbefragt selbstverständlich, womit der eigene Zugang zu prestigeträchtiger Erwerbsarbeit gesichert wird. In diesem Sinne bleibt ebenso unthematisiert, dass die flexibilisierten Arbeits- und Lebensstile nicht nur selbst auf der Globalisierung der Ökonomien und Alltagswelten aufbauen und von den entstehenden transnationalen migrantischen Räumen profitieren, sondern auch, dass sie sie selbst mit hervorbringen. Was die migrantischen Transnationalisierungspraktiken von denen der relativ sesshaften Mehrheitsbevölkerung unterscheidet, ist ihre Positionierung in den globalisierten Machtver-
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hältnissen: Während die einen die Macht haben zu bleiben, ermächtigen sich die anderen, zu gehen. Dabei trägt die deutsche und EU-europäische Migrationspolitik wesentlich zur Regulation dieser „international division of reproductive labor“ bei (R. Parrenas 2001: 69 ff.). Im Zusammenhang mit den beschriebenen geschlechtshierarchischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken generiert sie einem neuen Modus, wie gender und race ineinandergreifen: Migrantische Arbeitskraft wird feminisiert und Versorgungsarbeiten ethnisiert
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5. Orientierungen im transnationalen Raum
„Ein Jahr war um, mein Visum wertlos. Was sollte ich tun? Ich zog von den Rändern ins Zentrum. Wo ich heute wohne, macht sich die Stadt nicht mehr die Mühe, schön zu sein. Hier hat die Stadt schon morgens einen schlechten Atem. Hierher zog ich und war nicht mehr gemeldet. Da ich nicht mehr existierte, beschloss ich zu leben.” (S. Riedel 2002)
5.1. Migrationsverläufe – Enttäuschungen, Anpassungen, Erweiterungen Was danach? „Ein Jahr ist sehr kurz. Wir müssen jetzt schon überlegen, was wir danach machen wollen.“ Das sagte Jirina bereits im zweiten Monat ihres Aufenthalts zu mir und setzte damit einen Topos, der sich durch all unsere Gespräch hindurchziehen sollte. Dabei verwies die Wahl des Plurals nicht nur auf die große Bedeutung, die ihr Freundschaftskreis während des Aufenthalts einnahm, sondern auch auf die Kollektivität des Diskurses über die unsichere Zukunft. Nachdem die ersten Wochen voller Heimweh überwunden und Kontakte meist über die Deutschkurse zu anderen Au-pair-Frauen überwiegend aus dem gleichen Land geknüpft waren, begannen alle von mir begleiteten sechs Au-pairs, sich Gedanken über die Zeit danach zu machen. Keine äußerte definitiv die Absicht, unmittelbar nach Beendigung des Aupair-Visums nach Hause zurückzukehren. Andererseits hatte auch keine zu Beginn ihres Aufenthalts einen konkreten Plan über das Au-pair-Jahr hinaus: „Soweit im Voraus kann ich noch nicht planen, ich werde sehen“, erwiderte etwa Jirina auf meine Gegenfrage, ob sie denn schon wisse, in welche Richtung es gehen solle. Diesen Satz hörte ich von allen sechs Frauen immer wieder. Die Zurückweisung der Forderung nach Festlegung einer bestimmten Zukunftsperspektive war dabei nicht nur ihren geringen Kenntnissen darüber geschuldet, welche konkreten Verlängerungsmöglichkeiten es gab. So hatte Magdalena in der Slowakei noch die Hoffnung geäußert, wenn die Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft weiter bestehe, auch länger bleiben zu können: „Der Sohn ist doch noch so klein, da brauchen sie [die Gastfamilie, die Verf. ] mich vielleicht länger. Dann bleibe ich auch.“ Andere glaubten gehört zu haben, dass wenn sie einen Ausbildungsplatz fänden, auch ein entsprechendes Visum bekommen würden. In Deutschland mussten sie jedoch alsbald feststellen, dass eine legale Verlängerung sehr schwierig sein würde. Mit dem Ausspruch: „Mal sehen“ antizipierten die Frauen jedoch auch die Unsicherheit auf der ganzen transnationalen Linie zwischen Deutschland und der Slowakei. So stellte sich nicht nur für die meisten der Aufenthalt in den deutschen Familien und das Leben in den Au-pair Netzwerken als ein Wechselbad der Gefüh-
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le zwischen Distanz und Nähe, Kritik und „Freude“ dar. Die Veränderungen in den Beziehungs- und Arbeitsverhältnissen zu den Familien als auch nach „draußen“ – vor allem zu den jeweiligen Freundeskreisen – erforderten ständige Akte des Neujustierens und Neuorientierens, wobei Enttäuschungen verarbeitet und Erwartungen an die vorgefundene Realität angepasst werden mussten, aber auch neue Motivationen für eine Verlängerung hinzukamen. So versuchte Magdalena trotz der Konflikte mit der Familie ihre Ziele umzusetzen, die sie an den Au-pair-Aufenthalt geknüpft hatte, und brach erst nach langem Ringen ihren Aufenthalt ab. Aber auch die negativen Entwicklungen in der Slowakei wurden anhand familiärer Ereignisse und Geschichten von Freundinnen aufmerksam verfolgt und zu einer zentralen Folie der Entscheidungsfindung. In diesem Sinne kristallisierten sich sowohl die Arbeits- und Lebensverhältnisse in Deutschland als auch die Entwicklungen der Transformationsprozesse in der Slowakei als wesentliche Referenzpunkte der weiteren Lebensplanung der jungen Frauen heraus. Zwischen diesen beiden Polen und Handlungsfeldern wägten die Frauen ab, was bei ihnen zu einer Entscheidungspraxis des Vergleichens und einem gedanklichen Hin- und Herpendeln führte. Für Jirina war zu Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland noch alles offen. Mit ihren slowakischen Freundinnen aus dem Deutschkurs als auch den drei Frauen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr machten, spielte sie die verschiedenen Möglichkeiten immer wieder durch: „Wir reden viel über die Zeit danach: Vielleicht in ein anderes Land gehen; vielleicht weiter in Deutschland bleiben als Au-pair; vielleicht gehe ich auch zurück in die Slowakei und versuche zu studieren.“ Vor allem die entstehenden Freundeskreise erlangten, als oftmals einzige Gelegenheit während des Aufenthalts zu sozialem Austausch, eine entscheidende Rolle, welche Orientierung die Frauen einschlugen. Sie wurden zum zentralen Raum der Wissensproduktion und -aneignung. Im Sinne von Kettenfreundschaften wurden Kontakte zu anderen Au-pairs an die eigene Nachfolgerin in der Familie weitergegeben, die damit sogleich in das Netz erfahrener Au-pairs hineinwuchs. Hier bekamen die Neuankommenden erste Eindrücke davon vermittelt, was bzw. wie wenig offiziell möglich ist. Die kolportierten Geschichten von anderen Frauen, ihre Strategien und zum Teil verworrenen Wegen, um länger in Westeuropa zu bleiben, wurden in der Folge zu einem weiteren wichtigen Referenzpunkt der Entscheidungsfindung. Hierüber veränderte sich auch bei den meisten Frauen ihre Einstellung zu illegalisierten und nicht-offiziellen Praktiken. Fürchteten sie zu Beginn selbst häufig, das gesellschaftlich und rechtlich Erlaubte zu verlassen, veränderte sich diese Haltung mit der Erfahrung, dass es sich hierbei um ein massenhaftes Phänomen handelt. Der Verweis darauf, dass es „alle so machen“, war eine häufige Legitimationsstrategie, mit der auch die zunehmende Einsicht verbunden war, dass die restriktive Migrationspolitik legale Wege versperrte. So erzählte mir Jirina während unseres Treffens, was sie schon in Erfahrung gebracht hatte. Von ihrer Gastmutter habe sie gehört, dass eine Verlängerung des Aupair-Visums ausgeschlossen sei. Auch hätten ihr andere Au-pairs erzählt, dass ein Studienvisum für Deutschland schwierig zu bekommen sei. Nun habe sie in ihrem Deutschkurs eine rumänische Au-pair getroffen, die einen Mann zum Heiraten suche, um hier zu blieben. Jirina lachte: „Das ist komisch, so was will ich nicht
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machen.“ Und sie fragte mich, was ich davon halte. Ich erzählte ihr, dass für viele MigrantInnen eine Heirat mit einem Deutschen die einzige Möglichkeit darstellt, den Aufenthalt zu verfestigen. Auf diese Art und Weise banden mich alle sechs Aupair Frauen in ihre Überlegungen ein, wobei sie mir meist Geschichten von anderen Frauen erzählten und mich nach meiner Einschätzung des Realitätsgehalts und der Realisierungschancen fragten. Dabei musste ich sie jedoch meist enttäuschen, da mir die Bestimmungen des Ausländerrechts und der Arbeitserlaubniserteilung weitgehend bekannt waren, ich auf dem Gebiet möglicher Taktiken und der Ausnutzung von Spielräumen jedoch selbst Lernende war. Doch erschien es mir hinsichtlich eines Vertrauensverhältnisses wichtig, ihnen gegenüber zu signalisieren, dass ich um undokumentierte Wege wußte und sie nicht als illegitim verwarf. In den folgenden Abschnitten werde ich die Migrationsverläufe der sechs begleiteten Au-pair-Frauen nachzeichnen und ihre unterschiedlichen Orientierungen im transnationalen Raum skizzieren. Dabei werde ich in einem ersten Schritt die Entwicklung der Motivspektren und Argumentationsverläufe der einzelnen Frauen rekonstruieren, welche verschiedenen Nachfolgemöglichkeiten sie sich überlegten, welche sie verwarfen und welche sie in die Tat umsetzten. Manche Frauen knüpften sehr stringent an ihren ursprünglichen Zielsetzungen an, die sie mir bereits vor ihrer Abreise nach Deutschland dargelegt hatten. Bei anderen schienen sie zunehmend in Vergessenheit geraten zu sein und neue Motivate wurden prioritär, die jenseits sozioökonomischer Begründungsmuster lagen. Hierbei wird noch einmal deutlich, dass Migrationen – entgegen der Annahme der traditionellen sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung – nicht im Sinne einer unidirektionalen Bahn verstanden werden können, welche sich quasi selbstläufig aus Push- und Pull-Faktoren des Herkunfts- respektive Ziellands ergibt. Die multiplen und facettenreichen Suchbewegungen der Frauen sperren sich auch gegenüber gängigen Typologisierungsversuche in Bildungs-, Arbeitsmigration und Flucht. Vielmehr zeigt eine solche akteursorientierte Langzeitstudie, dass AkteurInnen im transnationalen Raum zwischen strukturellen Begrenzungen einerseits und neuen Handlungsmöglichkeiten andererseits Wege finden, die zum Teil sehr verschlungen und unentschlossen wirken, und unvorhersehbare Wendungen nehmen. Darüber hinaus demonstrieren die Praktiken der Au-pair-Migrantinnen, dass der transnationale soziale Raum nicht nur als äußerst heterogenes Gebilde zu betrachten ist, sondern höchst dynamisch mit und in den Praxen der AkteurInnen entsteht. Daher werde ich im zweiten Schritt die Nachfolgestrategien und Wege der Au-pair-Frauen vergleichend analysieren, um mich im Anschluss noch einmal der Frage nach der Konstitution “transnationaler Räume” in Europa zuzuwenden, wie ich sie in Anlehnung an Ludger Pries im dritten Kapitel bereits skizziert habe. Der Arbeitslosigkeit entkommen Bei unserem zweiten Treffen im fünften Monat ihres Aufenthalts kam Jirina – nachdem sie mir erzählt hatte, wie sie mit ihren Freundinnen ihre Freizeit zu organisieren und zu genießen begann – wieder zu der Frage zurück, wie es nach dem Aupair-Jahr weitergehen solle. Vor allem jüngste Nachrichten ihrer Eltern aus der Slowakei schienen bei ihr erneut Überlegungen ausgelöst zu haben, wie es weiter
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gehen soll: „In der Slowakei wird alles schlechter“, versicherte sie mir: „Dort bin ich nur arbeitslos und Studieren ist teuer.“ Das Beispiel ihrer Eltern zeige dies. So hätten zwar beide Elternteile nach längerer Arbeitslosigkeit und Umschulungen wieder Stellen als Lastkraftwagenfahrer und als Schneiderin gefunden. Doch hatte sie - wie im zweiten Kapitel dargelegt - mir bereits in der Slowakei berichtet, dass das Einkommen ihrer Eltern so knapp sei, dass sie ihr ein Studium nicht finanzieren könnten und daher ihren Schritt, als Au-pair nach Deutschland zu gehen, unterstützten. An dieser Ausgangslage hatte sich für Jirina wenig verändert, vielmehr sei ihr Vater wieder akut von Arbeitslosigkeit bedroht und ihrer Mutter schlage die Arbeit in der Textilfabrik auf die Gesundheit: „Alles wird schlimmer“, meinte sie abschließend noch einmal. Hierauf erzählte sie mir wieder von andere Au-pairs, wohl auch, um anhand der Geschichten von anderen sich selbst über ihre weiteren Schritte klarer zu werden. So berichtete sie mir, dass sie nun schon mehrere ehemalige Au-pairs kennen gelernt habe, die nach Ablauf des Visums weiter in Deutschland geblieben sind. Auch ihre Vorgängerin in der Familie sei nun schon das zweite Jahr in Deutschland. Sie pendle zwischen der Slowakei und Deutschland im Dreimonatsrhythmus der visafreien Einreise als Touristin hin- und her. Sie selbst habe jedoch zu solchen halblegalen Praktiken nicht den Mut. Als wir uns zwei Monate später das nächste Mal zusammen mit Vanessa trafen, hatte sie ihren Entschluss gefasst: „Ich bleibe hier, irgendwie wird das schon gehen.“ Dabei war ihre Entscheidung weniger dadurch motiviert, dass ihr die Arbeit in der Gastfamilie Spaß machte. Ganz im Gegenteil. Auch wenn sich die Arbeitsverhältnisse bei beiden Au-pair-Frauen routinisierten und sie sich mit den Situationen in den Gastfamilien arrangiert zu haben schienen, hatten sie dennoch nur Ironie für ihre Tätigkeit als Au-pair. So witzelten sie, dass „Au-pair“ von der Lautsprache her auf slowakisch „ó per“ so viel bedeuten würde wie „die, die die Wäsche macht“. Dies wiederholten sie in unzähligen Variationen über „die, die bügelt“, „die, die putzt“ etc. Auslösendes Ereignis für die Entscheidung, länger in Deutschland zu bleiben, war vielmehr ihr Familienbesuch über Ostern in der Slowakei. Die Konfrontation mit den Verhältnissen dort im Vergleich zu ihren Möglichkeiten in Deutschland ließen die Frage „unnormal“ erscheinen, so Jirina die Logik der Normalität eines Lebens im heimatlichen Kontext umdrehend, was sie in die Slowakei solle: „Wenn man Deutschland gesehen hat und das mit der Slowakei vergleicht, dann ist das unnormal, wieder dahin zurück zu wollen.“ Vor allem die Situation ihrer Freundinnen, die immer noch arbeitslos zu Hause säßen, hätte ihr demonstriert, welche Zukunft auch auf sie warte: „Zu Hause gibt es nichts für mich,“ meinte Jirina ernst, „nur rumsitzen möchte ich auch nicht und jede Woche auf dem Arbeitsamt Schlange stehen und nach einer Arbeit fragen.“ Vanessa pflichtete ihr zu. Auch sie kannte diese vergleichende Praxis der Entscheidungsfindung, bei der die heimatlichen Verhältnisse ihre negativen Erlebnisse in der Gastfamilie in den Schatten stellten: „Ich habe nun Deutschland gesehen und es mit der Slowakei verglichen.“ Und sie gab ein Beispiel: „Wenn man nach Bratislava mit dem Bus reinfährt, weiß man sofort, dass man wieder in der Slowakei ist.“ Im Vergleich zu Deutschland sei dort alles alt und runtergekommen, nichts würde renoviert: „Das ist immer wie die Rückkehr in die Vergangenheit. In Deutschland ist für mich die Gegenwart.“ Auch sie hatte ihre Entscheidung getroffen: „Nach dem Besuch zu Hause weiß ich jetzt, dass ich hier noch länger bleiben werde.“
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Allerdings wussten beide mittlerweile auch, dass dies angesichts der begrenzten legalen Einreise- und Arbeitsmöglichkeiten nicht leicht sein würde. Doch um den slowakischen Verhältnissen noch einige Zeit auszuweichen und die schlechte sozioökonomische Phase dort in Deutschland zu überbrücken, waren sie auch bereit, eine geringqualifizierte Arbeit anzunehmen: „Ich will doch nur eine einfache Arbeit, wo man nicht viel verdient. Die wollen die Deutschen doch nicht,“ erklärte Jirina ihr Anliegen und zeigte sich irritiert darüber, wie schwierig sich selbst dies gestaltete. Nun habe sie sich überlegt, da das Pendeln für sie nichts sei, es ihren Freundinnen gleich zu tun und eine Stelle im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) zu suchen. Dabei baute sie auf die Kontakte ihrer Gasteltern zu kirchlichen Einrichtungen. Diese enttäuschten sie jedoch in zweifacher Weise: Zum einen teilten sie ihr kurzerhand vor den Sommerferien mit, dass sie Jirina vorzeitig entlassen würden, da sie während der Ferien keine Haushaltshilfe bräuchten. Zum anderen halfen sie ihr nicht, eine Anschlussstelle zu finden. So war Jirina auf ihre eigenen Netzwerke und Kontakte zu Au-pairs und deutschen Jugendgruppen angewiesen. Doch letztlich entschied der Zufall. Auf einer Jugend-Freizeit in einem Kloster erfuhr sie von einer freien FSJ-Stelle in der Einrichtung. Sie sprach sofort bei der Klosterleitung vor und konnte sie dazu überreden, zum ersten Mal eine FSJ-Stelle an eine „Ausländerin“ zu vergeben. Mit dem Einladungsschreiben des Klosters im Gepäck machte sich Jirina bald darauf in die Slowakei auf, um dort bei der deutschen Botschaft ein Visum zu beantragen. Auch wenn sie dies erhielt, hatten die Erlebnisse bei der Botschaft als auch während der Busfahrten sie hinsichtlich weiterer Migrationsabsichten erheblich ernüchtert. Insbesondere empörte sie die strikte Praxis der Visavergabe der Botschaft: „Ich musste zwei Tage Schlange stehen, bis ich endlich dran war. Warum ist Deutschland so streng?“ Und weiter meinte sie: „Das ist scheinheilig. Die Deutschen wollen Dienstmädchen. So drängen sie ja Menschen zu illegalen Schritten.“ Es schien mir, als hätten die Erfahrungen der Kluft zwischen der sozialer Migrationswirklichkeit und der Migrationspolitik Jirina die letzte „Ehrfurcht“ vor der deutschen Politik genommen. Andererseits berichtete sie von Erlebnissen beim Grenzübertritt, die ihre „Angst“ selbst mit „sauberen Papieren“ verstärkt hatten: „Die Zöllner laufen rum als wären wir im Krieg. Diese Befragungen. Und wieder mussten einige aus dem Bus aussteigen. Hatten wohl nicht die richtigen Papiere.“ Nach dieser Erfahrung konnte sie sich eine weitere Verlängerung ihres Aufenthalts immer weniger vorstellen. So erzählte sie mir während unseres ersten Treffens nach ihrer gelungenen Rückkehr ins Kloster: „Jetzt kann ich mir langsam vorstellen, zurückzukehren. Langsam weis ich, was ich danach machen will, was ich studieren will.“ Und sie meinte, dass sie nun das Freiwillige Soziale Jahr vor allem dazu nutzen wolle, noch eine Deutsch-Zertifikat-Prüfung abzulegen, um nach der Rückkehr in die Slowakei als „Deutschlehrerin“ in einer Grundschule Geld für das Studium zu verdienen. Trotz anstrengender Arbeitseinsätze im Kloster genoss sie das weitere Jahr in Deutschland und das soziale Leben mit den anderen FSJ-Frauen. Während ihres verlängerten Aufenthalts bereitete sie jedoch schon ihren Neustart in der Slowakei vor. So bewarb sie sich bei verschiedenen Universitäten, die ein Pädagogik-Studium anboten, und lernte für die Aufnahmeprüfungen. Doch so ganz wollte sie sich nicht auf die Reintegration in die Slowakei verlassen und ihre Zukunftsplanung gänzlich darauf aufbauen, denn sie fuhr fort: „Wenn es mit dem Studium in
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der Slowakei nicht funktioniert, dann kann ich ja versuchen, weiter in Deutschland als Putzkraft zu arbeiten.“ Doch es klappte und Jirina bekam einen Studienplatz in der Slowakei. Auch ging ihr Arbeitsplan zur Finanzierung des Studiums auf. So ging kurz nach ihrer Rückkehr eine Deutschlehrerin der Grundschule am Ort ihrer Eltern in Erziehungsurlaub und sie wurde angefragt, den Deutschunterricht zu übernehmen. Einige Monate später schrieb sie mir glücklich: „Ich wurde über Nacht zur Deutschlehrerin. Mein Studium gefällt mir, doch ich muss viel arbeiten und lernen.“ Auch Vanessa, motiviert durch Jirinas Vorbild, suchte und fand eine Stelle im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres. Sie wusste jedoch bei unserem letzten Treffen noch nicht, ob sie danach zurück in die Slowakei gehen würde, denn neben den sozioökonomischen Abwägungen hatte sie zunehmend Gefallen an der in Deutschland erfahrenen Selbstständigkeit gefunden, was in ihren Gesprächen mit mir einen immer größeren Raum einnahm. Auch hatte sie das negative Beispiel einer misslungenen Rückkehr ihrer Cousine vor Augen, die nach einem Jahr in der Slowakei immer noch keine Arbeit gefunden hatte: „So rumsitzen wie meine Cousine, den ganzen Tag bei den Eltern, möchte ich nicht. Dann mache ich lieber das stressige Leben in Deutschland weiter.“ Denn auch wenn sie das Leben in Deutschland als „stressig“ empfand, eröffnete es ihr andererseits auch Möglichkeiten: „Ich möchte auch Erfahrungen machen, die Welt sehen und nicht auf einer Stelle treten, sondern mich bewegen.“ Der Diskurs des Weltsehens und des Sichbewegens wird uns in den nächsten Abschnitten noch verstärkt begegnen. Und ähnlich wie bereits Magdalena in ihrem Gespräch vor ihrer Abreise nach Deutschland, grenzte sich Vanessa von ihren Altersgenossen in der Slowakei klar ab: “Die anderen sind nur zu Hause, die sind nie aus dem Dorf gekommen.“ Die kulturell-soziale Distinktion noch steigernd, fuhr sie fort: „Die wollen nur Geld sehen, ihnen ist nur Geld wichtig.“ Ihr ging es dagegen auch um die eigene sozial-kulturelle Entwicklung und um eine Erweiterung ihrer Handlungsoptionen, die sie durch eine Rückkehr gefährdet sah. So erzählte sie mir nach einem Jahr Bekanntschaft plötzlich, wie stark sie das Leben mit ihrer Familie in der Slowakei, die ihr mageres Einkommen durch Nebenerwerbslandwirtschaft aufzubessern versuchte, negativ erlebt hatte: „Zu Hause, das war schrecklich, die ganze Zeit musste ich Sachen machen, die haben mich rumkommandiert: ‚Tu dies und tu das’.“ Daneben sei auch die Beziehung zu ihrer Mutter sehr schlecht gewesen. Wenn sie nun wieder in die Slowakei zurückkehren würde, müsste sie aufgrund der finanziellen Bedingungen wieder bei ihren Eltern leben. Als mittellose junge Frau schien Vanessa dagegen den transnationalen Raum, so unsicher und „stressig“ er auch sein mochte, einem Leben in der Slowakei vorzuziehen, denn abschließend sagte sie: „Hier kann ich frei atmen.“ Neue Motivationen - Freiheiten genießen Auch für Anna und Vierka waren Kontakte zu ihren Familien, insbesondere Besuche zu Weihnachten oder Ostern, zentrale Momente, die stärker noch als die Erfahrungen in den Gastfamilien, ihre Zukunftspläne beeinflussten. Die Kontakte und
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Besuche zu Hause vermittelten ihnen nicht nur Einblicke in die Entwicklungsprozesse in der Slowakei, die sie mit ihren Handlungsmöglichkeiten und -begrenzungen als Au-pair in Deutschland verglichen. Auch schienen sie erst in der Konfrontation mit dem Herkunftskontext zu realisieren, wie sie sich selbst in der Zwischenzeit verändert hatten und was ihnen an neuen Handlungsoptionen in Deutschland lieb und teuer geworden war. Im Vergleich zu den vier anderen Au-pairs sprachen Anna und Vierka am stärksten neue Motivationen an, die ihre ursprünglichen Zielsetzungen – Qualifikations- und Gelderwerb – zunehmend überlagerten. Erinnern wir uns, dass Anna ihren Weggang als Au-pair im Wesentlich damit begründet hatte, eine Fremdsprache erlernen zu wollen, um nach ihrer Rückkehr in der Slowakei eine bessere Arbeit als die in ihrem erlernten Beruf als Konditorin zu finden. Allerdings hatte sie bereits in ihrem Erstgespräch in der Slowakei am Rande auch erwähnt, über den Auslandsaufenthalt finanzielle und emotionale Selbstständigkeit von den Eltern erlangen zu wollen. Für Anna waren die Familienkontakte während der Osterferien, als ihre zwei älteren Schwestern sie in ihrer deutschen Gastfamilie besuchten, auslösendes Ereignis, sich mit ihrer Zukunftsplanung zu beschäftigen. Sie habe plötzlich gemerkt, so erzählte sie mir bei unserem Treffen einige Wochen später, dass ihre Zeit in Deutschland ablaufe und sie sich daher schnell darüber klar werden müsse, was sie im Weiteren machen wolle. Dabei bildeten die Biografien ihrer Schwestern den Hintergrund, vor dem sie sich selbst positionieren konnte. Während ihre älteste Schwester eine feste Arbeitstelle habe und in einer festen Beziehung lebe, was es ihr sehr schwer machen würden, noch flexibel und mobil zu sein, habe ihr mittlere Schwester nicht vor, sich in Bälde wieder fest in der Slowakei niederzulassen. Sie arbeitete als Au-pair bereits bei ihrer zweiten Familie in England und überlegte, noch ein weiteres Jahr als Aupair in einem anderen westeuropäischen Land anzuhängen: „So wie meine älteste Schwester möchte ich nicht leben“, meinte dann auch Anna zu mir, „für sie geht ein Auslandsjahr nicht mehr, immer der gleiche Trott: Arbeit, Wohnung und Beziehung.“ In diesem Sinne folgerte Anna für sich: „So lange ich noch jung und ungebunden bin, muss ich die Zeit noch nutzen, um Erfahrungen zu machen und die Welt zu sehen.“ Sie wolle zwar später studieren, um eine gute Arbeit in der Slowakei zu finden, dies aber habe Zeit. Denn momentan seien die sozioökonomischen Verhältnisse in der Slowakei zu schlecht: „Ich weiß sowieso nicht, wo ich eine Arbeit finden soll. So viele sind arbeitslos.“ Daher dachte sie laut darüber nach, die Kontakte ihrer Schwester zu Familien in England zu nutzen und dorthin zu migrieren. Noch ein Monat vor Ablauf ihres Visums in Deutschland wiederholte sie mit Nachdruck ihre unterschiedlichen Motivationen, noch nicht in die Slowakei zurückzukehren. Neben dem negativen Begründungsmuster, in der Slowakei nur arbeitslos zu sein, sprach sie auch ihre alte Zielsetzung des Qualifikationserwerbs für ein späteres Studium an. Hierbei war sie sich sicher: „Englisch ist jetzt auch wichtig. Das wird jetzt überall gesprochen.“ Darüber hinaus wisse sie, dass angesichts der großen Zahl von Au-pair-Frauen, die eine derartige Qualifikationsstrategie verfolgten, eine Fremdsprache alleine kein ausreichend starker Wettbewerbsvorteil mehr auf dem slowakischen Arbeitsmarkt sei: „Mit zwei Fremdsprachen habe ich mehr Chancen. Dann mache ich noch was mit Computer. Und mit 25 oder so, dann kann ich eine Arbeit suchen.“ Obendrein habe sie jetzt auch nur wenig von den 200 Euro Taschengeld auf die Seite legen können. Und nachdem ihre Gastmutter ihre Versuche
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unterbunden hatte, zusätzliche Putzstellen zu finden, hoffe sie nun auch in dieser Hinsicht auf England: „In England gibt es viel mehr Geld für Au-pair und meine Schwester meinte, dass es auch kein Problem ist, nebenher zu arbeiten.“ Auch ihre Eltern rieten ihr, so lange wie möglich in Deutschland oder England zu bleiben,: „Sie wollen nur mein Bestes. Mein Vater versteht gar nicht, warum ich überhaupt für einige Monate nach Hause will. Er meint, ich soll gleich nach England weiter gehen.“ Doch Anna folgte noch einer weiteren Rationalität, die von den sozioökonomischen und familiären Kalkülen abwich. So sprach sie gegen Ende unseres Gesprächs erneut an, dass sie „noch jung sei“ und es sich daher leisten könne, noch nicht in die strukturierten, heimatlichen Kontexte zurückzukehren. Noch könne sie die Zeit nützen, bevor es kein Zurück mehr vor dem Einstieg in die gängige Normalbiografie gäbe. So meinte sie unvermittelt: „So wie meine Eltern jeden Tag acht, neun, zehn Stunden und länger schuften, möchte ich nicht leben.“ Ihre Eltern seien zwar sehr nett und förderten ihre Kinder so gut sie es könnten, doch duldeten sie auch keinen Müßiggang: „Nur zu Hause rumsitzen und keine Arbeit haben, mögen sie nicht.“ Bei unserem Treffen zwei Wochen vor ihrer Abreise aber hatte Anna sich zu meiner völligen Überraschung anders entschieden: Nun hatte sie gegen den erklärten Willen ihrer Eltern vor, nicht weiter zu migrieren, sondern in die Slowakei zurückzukehren. Vor allem die weiteren Arbeitsaussichten als Au-pair, die sie in den letzten Monaten mehr und mehr zu nerven begonnen hatten, ließen sie von einem weiteren Jahr als Haushaltsarbeiterin Abstand nehmen. Andererseits schienen die negativen sozioökonomischen Seiten einer Rückkehr angesichts ihrer neuen Lebenseinstellung nicht mehr so ins Gewicht zu fallen: „Ich habe die Nase voll, immer das Gleiche in den Familien zu machen, jeden Tag acht Stunden. Und zu Hause brauche ich auch keine gute Arbeit, ich komme mit wenig Geld aus.“ Positiv gewendet formulierte sie: „Ich möchte nur glücklich sein! Ich will machen, was mir Spaß macht – nichts Langweiliges mehr.“ Dabei grenzte sie sich wieder scharf vom arbeitsamen, materialistischen und konsumorientierten Lebensstil ihrer Eltern ab: „Meine Eltern arbeiten hart. Dafür haben sie Geld und kaufen sich jedes Jahr was Neues für die Wohnung. Sie leben um zu arbeiten, doch so möchte ich nicht leben!” Dabei schien sie nun kurz vor ihrer Abreise doch Angst vor der eigenen Courage zu bekommen und schaute ihrer Rückkehr in die Familie bange entgegen: „Die 15 Monate hier waren schon eine lange Zeit. Wenn ich jetzt nach Hause gehe, ist das wieder eine ganz andere Welt.“ Vor allem habe sie während des Aufenthalts in Deutschland gelernt, selbstständig zu leben. Auch habe sie nach ihrer Abgrenzung von der Gastfamilie in den letzten Monaten Freiheiten besessen und schätzen gelernt, die sie in ihrer eigenen Familie zu Hause nicht mehr praktizieren könne: „Hier habe ich meine Freiheiten. Ich kann jedes Wochenende unternehmen, was ich will, bei meinen Freundinnen schlafen und so. Zu Haus muss ich wieder fragen und aufpassen.“ Und später meinte sie: „Ich bin jetzt gewohnt, ohne Familie zu leben. Ich bin erwachsen geworden, zu Hause bin ich wieder das Kind.“ Dabei hob sie, ihre Migrationsgeschichte in ein neues Licht rückend, hervor: „Unter dem Strich würde ich sagen, dass ich Selbstständigkeit hier gelernt habe. Deswegen bin ich ja
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auch weggegangen.“ In diesem Sinne zog sie dann auch trotz ihres langen Ringens mit den Vereinnahmungsbestrebungen ihrer Gastfamilie eine positive Bilanz: „Ich habe hier gut gelebt und alles mir gekauft, was ich wollte, Kleider, Kino... Das war eine wunderschöne Zeit. Die Arbeit war totlangweilig, doch draußen ist es klasse. Ich bin so froh, dass ich das gemacht habe, das sind gute Erfahrungen, die kann mir keiner mehr nehmen.”
Aus ihren Briefen erfuhr ich jedoch, dass der Neustart in der Slowakei nicht einfach war und sie sich Monate später immer noch ergebnislos bemühte, eine Arbeit zu finden. Parallel bereitete sie sich für die Aufnahmeprüfung in Architektur vor, über deren Ergebnis ich nicht mehr unterrichtet bin. In Vierkas Begründungsmuster zeichnete sich eine ähnliche Entwicklung wie bei Anna ab, wobei der höchst vergeschlechtlichte Diskurs um Selbstständigkeit die sozioökonomischen Motive zunehmend in den Hintergrund treten ließ, sie aber nie ganz zum Verschwinden brachte. Auch wenn sie ihre Absicht, irgendwann in die Slowakei zurückzukehren, nicht aus den Augen verlor, verlängerte sie im Gegensatz zu Anna ihre Zeit im Ausland. So stand für sie bereits zu Hälfte ihres Aufenthalts fest, dass sie nach den zwölf Monaten nicht nach Hause zurückkehren werde. Dabei argumentiert sie ähnlich wie Anna mit ihrem Alter: „Jetzt bin ich noch jung und kann das noch machen. Ich habe nie mehr so eine Möglichkeit, so viel zu sehen und zu reisen.“ Dieses neue, an das klassische Au-pair erinnernde Argumentationsmuster der Kultur- und Bildungsreise hatte dabei vor allem mit einer frühen Enttäuschung eines ihrer primären Zielsetzungen zu tun. So hatte sie ebenso wie ihre Eltern an den Aupair-Aufenthalt die Hoffnung geknüpft, Geld für ein späteres Studium auf die Seite legen zu können. In der Slowakei habe sie noch gedacht: „Oh, ich werde viel verdienen und ich werde sparen.“ Doch in Deutschland musste sie schon nach den ersten Monaten feststellen, dass dies nicht funktionierte, da das Leben zu teuer sei: „In Deutschland ist das Geld ein Witz! Es geht eigentlich nicht, hier zu sparen.“ Das habe ihr erhebliches Kopfzerbrechen bereitet und vor allem ihren Eltern gegenüber habe sie es nur schwer rechtfertigen können, da ihr Vater in der Elektrofabrik im Monat so viel verdiene, wie sie Taschengeld bekam. Mit dem Gehalt ihrer Mutter, die als Ökonomin in einer anderen Firma arbeitete, kämen sie gerade so über die Runden. Anfangs waren ihre Eltern dann auch nicht glücklich darüber, dass der Aufenthalt der Tochter keine Entlastung für die familiäre Kasse bedeutete: „Ich musste lange mit ihnen reden, doch dann haben sie es auch verstanden, dass es nicht geht.“ Nachdem sie sich damit abgefunden hatte, nichts sparen zu können, habe sie sich dazu entschieden, das Taschengeld gleich gänzlich in Deutschland für Freizeitaktivitäten auszugeben. Nie mehr bekäme sie die Chance, so viel zu erleben. Dabei war für Vierka mit der Möglichkeit des “Weltsehens” unmittelbar die Erfahrung von Selbstständigkeit verbunden. Und ähnlich wie Anna sah sie vor allem in ihrer neu gewonnenen Selbstständigkeit ein großes Konfliktpotential im Falle ihrer Rückkehr liegen: „Hier bin ich so selbstständig. Ich kann machen, was ich will und alles. Das wird ein großes Problem, wenn ich nach Hause zurückkomme.“ Denn während ihres letzten zweiwöchigen Familienbesuchs habe sie deutlich erfahren, was es heißt, wieder unter der sozialen Kontrolle der Eltern zu stehen: „Ich wollte irgendwo hingehen und alle, wohin gehst du, mit wem, wann kommst du und all diese Fragen und so. Hier packe ich meine Sachen nach Arbeitsschluss und gehe
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einfach.“ Einer derartigen familiären Kontrolle wollte sich Vierka noch nicht aussetzen und plante daher, mindestens ein weiteres Jahr im Ausland zu verbringen: „Also, ich will noch nicht nach Hause kommen. Vielleicht gehe ich nach Holland oder nach Belgien als Au-pair. Mal sehen!“ Dabei saß ihr jedoch nicht nur der elterlich Druck im Nacken zurückzukommen, sondern auch das eigene Wissen um die weibliche Normalbiografie in der Slowakei, der sie mit jedem weiteren Monat in der Migration zuwider handelte. So meinte sie zu mir: „Du musst wissen, Sabine, dass man bei uns sehr früh heiratet, so mit zwanzig, und dann bekommt man die Kinder. Ich bin schon fast zu alt dafür. Meine Eltern sagen mir das schon seit drei Jahren.“ Sie stelle zwar nicht gänzliche diesen Werdegang in Frage, denn auch sie wolle heiraten und einmal Kinder haben, nur: „Das hat Zeit, mit 26 oder 28, dann ist es o.k..“ Und sie fügte, ihre eigene Lebensplanung legitimierend, hinzu: „Leute, die studieren, die heiraten heute auch später. Das ist mittlerweile normal.“ Neben dem Studium scheint auch die Migration für Frauen wie Vierka oder Vanessa eine Möglichkeit darzustellen, nicht offen und laut gegen die weibliche Normalbiografie zu revoltieren oder aus ihr gänzlich auszusteigen, sie jedoch um Jahre hinauszuzögern. Ein halbes Jahr später berichtete sie mir freudestrahlend, dass sie von der Agentur eine positive Antwort erhalten hatte und ab Mai in Holland als Au-pair anfangen könne. Und sie erzählte mir noch einmal, welche unterschiedlichen Motive sie dazu gebracht hatten, zurzeit nicht in die Slowakei zurückzukehren: „Fünf Preisanstiege allein in der Zeit, wo ich in Deutschland bin“, meinte sie entrüstet. Nun fänden es auch ihre Eltern gut, dass sie noch nicht zurückkehre. Doch nicht nur die Arbeitsmarktsituation spräche gegen eine Rückkehr, auch sei es immer schwieriger, einen Studienplatz zu bekommen, was sie selbst schon zwei Mal erlebt habe. Denn die Aufnahmeprüfungen würden immer komplizierter und die Korruption an den Universitäten nähme angesichts der großen Nachfrage und der knappen Kapazitäten zu: „Für 200 Bewerber gibt es zwanzig Plätze und zehn gehen an die, die zahlen. Und unter die anderen zu kommen, ist schwierig.“ Sie folgerte: „Daher wollen auch so viele junge Frauen ins Ausland gehen.“ Neben den sozioökonomischen Begründungsmustern kam Vierka aber auch dieses Mal auf weiche, kulturelle Faktoren zu sprechen, die sie an Deutschland im Vergleich zur Slowakei zu schätzen gelernt habe. Dabei hob sie hervor, dass es ihr bei ihrem letzten Besuchen zu Hause schon nach einer Woche „langweilig“ und „eng“ geworden sei: „Dort kann man überhaupt nichts machen. Die Leute sind so eng. Und immer nur rumsitzen und Fernsehen glotzen, das kann ich nicht.“ Dagegen könne sie in Deutschland „was erleben, sehen und mit Leuten weggehen“. Und sie meinte: „Wenn das mit Holland nicht geklappt hätte, dann würde ich versuchen, wie die anderen hier länger zu bleiben.“ Allerdings hatte Vierka nicht vor, sich dauerhaft im Ausland niederzulassen, da sie weiterhin an ihrem Plan festhalten wollte, ein Studium aufzunehmen. Und dies sei, so glaubte sie, aufgrund der Visabestimmungen und der Sprache im Ausland sehr schwierig. Von ihrem weiteren Auslandsjahr versprach sie sich vielmehr, ihre Rückkehrchancen zu erhöhen: „Zwei Fremdsprachen sind besser als eine“, begründete Vierka wie Anna dann auch ihren Schritt, nach Holland zu gehen: „Dann habe ich eine gute Grundlage, dann sollte ich es schaffen“, zeigte sie sich selbstsicher.
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Vierka mailte mir dann noch zwei Mal von ihrem neuen Arbeits- und Lebensplatz in Holland, dass es ihr dort gut gehe und sie von ihren Au-pair-Erfahrungen in Deutschland profitieren könne. So habe sie gleich Arbeitsverhandlungen geführt und ihre Grenzen gezogen. Seit dem habe ich von ihr nichts mehr gehört. Sich bewegen Magdalena sah, wie wir bereits im vorausgegangenen Kapital verfolgen konnten, nach nicht enden wollenden Konflikten mit ihrer Gastfamilie und der mangelnden Unterstützung von Seiten der Agentur für sich keine andere Chance, als den Aufenthalt frühzeitig abzubrechen und in die Slowakei zurückzukehren. Allerdings hatte sie gleich angekündigt, dass sie die Rückkehr nur als Zwischenstopp verstehe, von dem aus sie sich wieder eine Arbeit in Deutschland organisieren wolle. Denn die Wünsche, die sie an ihren Au-pair-Aufenthalt geknüpft hatte, hatten sich für sie bis dahin noch nicht erfüllt. Dabei waren ihre Motivationen ähnlich breit gefächert, wie bei Anna und Vierka. Auch für Magdalena war ihre berufliche Zukunft in der Slowakei ein primärer Faktor, der ihre Überlegungen stärkte, in Deutschland zu bleiben. Da ihre alleinverdienende Mutter nicht genug Geld hätte, um ihr ein Studium zu finanzieren, und sie angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit für sich in der Slowakei keine Möglichkeit sah, eigenes Geld zu verdienen, war sie – wie sie mir immer wieder erklärte – nach Deutschland gekommen. Auch wenn sie im zweiten Monat ihres Aufenthalts ähnlich wie Vierka feststellen musste, dass sie von ihren 200 Euro Taschengeld nichts auf die Seite legen konnte, verblieb ihr noch die Hoffnung zu lernen: „Ich weiß, dass es in Deutschland schwer ist, nach Au-pair eine andere Arbeit zu finden“, meinte sie damals schon zu mir, „doch ich habe so große Lust zu lernen und später zu studieren. In der Slowakei bleibe ich dumm.“ Nach ihrem Besuch zu Weihnachten in der Slowakei wiederholte sie diese Argumentation mit Nachdruck. Denn obwohl ihr die Zeit mit ihrer Familie gefallen hatte, habe sie doch wieder realisieren müssen, dass „es dort nichts für mich gibt“: Und wie bereits vor ihrer ersten Abreise nach Deutschland distanzierte sie sich von ihrem slowakischen Umfeld: „Es gibt einen großen Unterschied zwischen jungen Leuten hier und in der Slowakei. Hier haben junge Leute ein Ziel, doch bei uns trinken sie nur und sind arbeitslos. Ich habe ihnen gesagt, geht raus, ihr habt die Möglichkeit! Doch sie sind zu bequem und tun nichts für ihre Zukunft.“
Magdalena hatte ihre Zukunft jedoch klar vor Augen und wollte sich auch durch die Konflikte mit ihrer Gastfamilie nicht davon abbringen lassen, in Deutschland zu bleiben. Allerdings banden die Konflikte so viel Zeit und Energie, dass sie kaum dazu kam, sich um eine weiterführende Perspektive zu kümmern. Nicht nur, dass sie aufgrund des „Sparticks“ der Gastfamilie ihr ganzes Taschengeld für Essen ausgeben musste, sie fände obendrein kaum noch Gelegenheit, Deutsch zu lernen, da ihre Gedanken immer bei den Konflikten seien. So überlegte sie nach sechs Monaten zum ersten Mal, die Familie zu wechseln: „Ich muss was tun, die Zeit rennt. Ich will nicht nur leiden, sondern noch was erleben.“ In dem Maße, wie sich die Situation in der Familie entspannte, wurde Magdalena auch wieder aktiv, sich nach Anschlussmöglichkeiten zu erkundigen. Zum einen wollte sie nun beim Arbeitsamt nachfragen, ob sie nicht doch eine Ausbildung oder
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eine andere Arbeit machen könne. Zudem aber hatte sie in Erfahrung gebracht, was sie tun müsse, um in Deutschland studieren zu können: Sie müsse zunächst die Aufnahmeprüfung zu einer slowakischen Universität bestehen und danach etwa 500 Euro pro Monat als Lebensunterhalt nachweisen, um ein Studienvisum zu erhalten. Über ihre neuen Kontakte zu slowakischen Netzwerken hatte sie mittlerweile zwei weitere Jobs gefunden, von denen sie hoffte, etwas sparen zu können. So stellte sich die Situation bei ihrer nächsten großen Auseinandersetzung mit ihrer Gastfamilie auch in einem etwas anderen Licht dar. Nun verfügte sie über eine gewisse eigene soziale Basis, so dass sie trotz der Probleme nicht daran dachte, den Aufenthalt abzubrechen. Vielmehr wand sie sich nun an die Vermittlungsagentur in der Hoffnung, dass sie ihr helfen werde, eine neue Familie zu finden. Nachdem die Agenturmitarbeiterin sie jedoch dazu aufgefordert habe, es bei der Familie weiter zu versuchen, da eine Umvermittlung angesichts ihrer vorgerückten Visazeit schwierig sei, war sie sehr enttäuscht. Vor allem verlor sie den Glauben an die Unparteilichkeit der Agentur und deren Unterstützungsrolle für Au-pairs. Auch wenn sie sich nun auch von dieser Seite alleingelassen fühlte, wollte sie nicht aufgeben. Von einer Ausbildung zur Hotelfachfrau in der Slowakei, was sie mir vor ihrem Weggang nach Deutschland als Ziel geschildert hatte, wollte sie nichts mehr wissen. Ein Monat später hatte sie auch einen Mann kennen gelernt, in den sie sich verliebte. Und sie begann, sich eine Zukunft in Deutschland, die aufgrund ihres AusländerInnenstatus nicht leicht sein würde, mit ihm zusammen auszumalen. Zudem beklagte sie sich nun über ihre slowakischen Netzwerk-Kontakte, die ihrem Freund, einem Schwarzen, mit offenem Rassismus begegneten. Auch von dieser Seite her könne sie nun keine Unterstützung mehr erwarten. Nachdem sich die Konflikte in der Familie ein drittes und viertes Mal zugespitzt hatten, sie von der deutschen Agentur enttäuscht worden war und sie in Folge ihrer Liebesbeziehung auf Distanz zu den slowakischen Freundeskreisen gegangen war, sah Magdalena keine andere Option mehr, als ihren Aufenthalt ab- bzw. zu unterbrechen, um von der sicheren Basis der Herkunftsfamilie aus einen erneuten Anlauf zu starten: „Die Leute machen mich fertig, ich brauche erst mal Ruhe.“ In dem Sinne zog sie sich aus der deutschen Gastfamilie zurück und fuhr zu einem Zwischenaufenthalt zurück in die Slowakei. Auch andere Abbruchgeschichten147, die mir während meiner zweijährigen Forschung erzählt wurden verliefen nach einem ähnlichem Muster. Meist war die Untätigkeit der deutschen Agenturen bzw. der Vertrauensverlust der Au-pairs in ihre unterstützende Rolle Katalysator für die Entscheidung der jungen Frauen, ihren 147 So erinnerte mich Magdalenas Geschichte an die einer Au-pair-Frau, die ich auf meiner zweiten Busfahrt in die Slowakei kennengelernt hatte. Nach Konflikten mit ihrer ersten Gastfamilie über ihren als zu anstrengend empfundenen Arbeitsalltag war sie nach drei Monaten von ihr „abserviert“ worden. Dies war scheinbar so schnell gegangen, dass sie froh gewesen sei, ihre Sachen noch aus dem Haus holen zu können. Der Bleibe beraubt, war sie mit der Hoffung in die Slowakei zurückgekehrt, dass ihr die Agentur eine neue Familie suchen würde. Jedoch musste auch sie die Erfahrungen machen, dass die Agentur sie nicht unterstützte, da sie der Version der Gasteltern mehr Glauben schenkte. Ihr blieb lediglich der Kontakt zu einer Au-pair-Freundin, die ihr half, eine neue Stelle zu finden. So war sie nach zwei Monaten ohne die Vermittlung einer Agentur nach Deutschland zurückgekehrt. Doch auch bei der neuen Familie schmiss sie nach nur wenigen konfliktreichen Wochen endgültig das Handtuch, da sie weder eine Stelle wusste, an die sie sich ohne Papiere wenden konnte, noch es ein drittes Mal mit einer Familie versuchen wollte.
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Aufenthalt in der Gastfamilie abzubrechen. Verfügten die Au-pair Frauen über gute Netzwerkkontakte, organisierten sie sich mit deren Hilfe informell einen Familienwechsel. Hatten sie jedoch nur geringe Kontakte zu Netzwerken – oder waren sie wie Magdalena aufgrund negativer Erfahrungen auch zu ihnen auf Distanz gegangen –, blieb ihnen häufig nur die Rückreise, um von der Slowakei aus eine erneute Einreise zu versuchen. Magdalena hatte sich jedoch vor ihrer Rückkehr noch bei der deutschen Botschaft erkundigt, ob sie ein weiteres Visum bekommen würde. Diese habe ihr als ungelernte Kraft ein Dreimonatsvisum für Arbeiten in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft in Aussicht gestellt. Wenn alle Stricken rissen, meinte sie ernst, käme sie halt als Touristin und suche sich über Inserate in Zeitungen eine Putzstelle. Allerdings machte sie sich auch keine Illusionen mehr, was eine Zukunft in Deutschland bedeuten würde: „Hier bin ich immer eine Ausländerin und unten, muss die niedrigen Jobs machen. Das geht eine Zeit lang, doch habe ich größere Ziele. Ich will studieren.“ Doch um studieren zu können, benötige sie Geld. Dies sei auch der wesentlich Grund, warum sie noch mal nach Deutschland zurückkommen müsse. Dieses Begründungsmuster schien mir jedoch der rationalisierte Ausdruck dessen zu sein, was sie darüber hinaus motivierte, als würde seine Sachlichkeit ihm mehr Legitimation verleihen als ihren anderen Motiven. So meinte sie nicht zum ersten Mal. „Ich bin noch so jung. Mit 25, dann kann ich studieren anfangen. Ich will noch mit der Welt spielen, mal hier mal dort. Und wenn mein Freund sagt, komm mit nach England, würde ich gehen.“ In diesem Sinne verbuchte sie auch ihren bisherigen Aufenthalt, zu meiner großen Überraschung, nicht nur negativ: „Es war auch eine gute Zeit, ich habe viel erlebt und gesehen – es sind nicht nur negative Gefühle, mit denen ich jetzt nach Hause gehe. Ich kann schon für mich sagen: ich habe was erreicht.“ Andererseits konnte sie sich aber auch auf Zuhause nicht richtig freuen. So erzählte sie mir während unseres Treffens wenige Tage vor ihrer Abreise, dass sie in der Slowakei den Grund für ihre frühzeitige Rückkehr nicht offen legen werde. Auch bislang habe sie ihrer Mutter nur wenig von den Konflikten mitgeteilt: „Die macht sich sonst nur noch mehr Sorgen. Die haben jetzt schon viele Probleme.“ Außerdem würde sowieso niemand zu Hause verstehen, dass es in Deutschland „nicht nur rosig“ ist: „Es ist, wenn man jemanden über Schokolade erzählt und der hat noch nie selbst Schokolade gegessen.“ Darüber hinaus befürchtete Magdalena, dass ihre Mutter sie nicht mehr weggehen lasse, wenn sie ihr die Wahrheit sage. Vor allem vor der Kontrolle in der Familie und der sozialen Enge des dörflichen Lebens habe sie Angst. Denn trotz aller Konflikte in Deutschland habe sie nun zehn Monate lang die Freiheit kennengelernt, „für sich selbst zu entscheiden.“ Nun könne sie sich nicht mehr vorstellen, wieder unter die Obhut ihrer Mutter genommen zu werden. Aus Magdalenas Vorhaben, in Kürze wieder nach Deutschland zurückzukommen, wurde nichts, da sie auf Anhieb keine legale Möglichkeit dazu fand. In ihren Briefen schilderte sie mir mehr und mehr verzweifelt, was sie alles unternahm, um ihren Plan umzusetzen. So hatte sie in Erfahrung gebracht, dass die Au-pair-Agenturen aufgrund ihrer vorgerückten Visumszeit sie nicht mehr in eine deutsche Familie vermitteln würden. Um ein Visum für eine andere Arbeit zu beantragen, müsste sie
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jedoch drei Monate verstreichen lassen. Dann wollte sie versuchen, als Au-pair nach England zu kommen. Zwei Monate später schrieb sie mir, dass ihr Pfarrer ihr vielleicht helfen könne, eine Stelle im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres in Deutschland zu vermitteln. Einen weiteren Monat später teilte sie mir mit, dass auch dies nicht funktioniert habe. Sie habe jedoch zufällig einen „Katalog“ mit Arbeitsangeboten im Ausland in die Hände bekommen, der für Männer Arbeitsplätze auf Baustellen inseriere und für Frauen Stellen in der Gastronomie. Und sie endete: „Hoffentlich bin ich bald zurück. Die Zeit kriecht so langsam und ich bin hier so alleine.“ Allerdings sollte es noch einmal drei Monate dauern, bis sie wieder einen Arbeitsplatz in Deutschland fand. Letztlich hatte der Kontakt zu ihrer alten Au-pair-Freundin eine Rückkehr möglich gemacht. Die Freundin hatte eine Hinterhofagentur in Süddeutschland gefunden, die – ohne nach einem Visum zu fragen – Magdalena eine Gastfamilie vermittelte: ein alleinstehender Mann mit schulpflichtiger Tochter. So machte sie sich zwei Wochen später, dieses Mal als Touristin, auf den Weg zu ihrer zweiten Au-pair-Familie. Als wir uns das nächste Mal an ihrem neuen Arbeitsplatz trafen, berichtete mir Magdalena ausführlich, wie es ihr Zuhause ergangen war. Die Andeutungen in den Briefen, dass sie sich in ihrem gewohnten sozialen Umfeld zunehmend mit ihrem Lebensentwurf unverstanden und isoliert gefühlt hatte, bestätigten sich nun. Auch hatte es ihr viel Überzeugungskraft gekostet, ihrer Mutter den Sinn einer erneuten Migration zu vermitteln – zumal diese für ihre Tochter Zukunftspläne vor Ort gemacht hatte: zum einen hätte Magdalena in einer Grundschule Deutsch unterrichten können, zum anderen hatte ihr auch eine Computerfirma, die mit deutschen Unternehmen Geschäfte abwickelte, eine Sekretariatsstelle angeboten. Doch Magdalena hatte abgelehnt: „Ich musste einfach nach Deutschland, sonst werde ich verrückt, weil ich habe dieses Bedürfnis gehabt: Ich will deutsch sprechen, ich will mehr lernen, ich will einfach ...“ Während unseres dreistündigen Gesprächs kam Magdalena immer wieder auf das Bild des „Verrücktwerdens“ im slowakischen Kontext zurück, dem sie den Wunsch nach Mobilität und nach damit verbundener Selbstständigkeit entgegen hielt. So meinte sie: „Ich habe meiner Mami gesagt, wenn du willst, dass ich glücklich bin, dann musst du mich nach Deutschland fahren lassen, ich muss einfach nach Deutschland, sonst werde ich verrückt.“ Denn nicht nur die erneute finanzielle Abhängigkeit und Erfahrung von Untätigkeit hätten sie zermürbt. Auch die möglichen Freizeitaktivitäten der anderen Jugendlichen in ihrem Dorf empfand sie „zum verrückt werden“: „Die Leute haben mich so runtergezogen, sie trinken den ganzen Tag nur. Ich habe mich so unwohl mit ihnen gefühlt. Ich passe einfach nicht zwischen diese Leute.“ Doch auch die familiären Umgangsweisen und Verhältnisse erlebte sie als sozialen Normierungsdruck, dem sie möglichst bald wieder entfliehen wollte: „Mein Leben ist weit weg von dem meiner Eltern. Meine Mutti ist so der Zu-Hause-Typ, alles pendantisch und pünktlich machen.“ Dies hatten dann auch in der Interimszeit, wie sie bereits vor ihrer Rückkehr befürchtet hatte, zu zahlreichen Mutter-TochterKonflikten geführt: „Sie hat einfach nicht akzeptiert, dass ich selbstständig sein will. Ich will mein Leben in meine Hände nehmen.“ Aus ihrer durchaus konfliktreichen Zeit in Deutschland habe sie die Erfahrung mit genommen, dass sie das auch könne: „Ich fühle mich schon mehr selbstständig, ich fühle mich groß geworden und
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habe größere Bedürfnisse bekommen und mich daran gewöhnt. Ich kann mit meinen Eltern nicht mehr leben.“ Dabei schien für Magdalena ein unabhängiges Leben als junge Frau in der Slowakei schwieriger realisierbar zu sein, als es jenseits der Landesgrenzen zu versuchen: „In der Slowakei ist das nicht so, dass du mit zwanzig eine Wohnung und dein eigenes Leben hast. Da hast du nicht die Möglichkeiten, alleine zu leben. Ich habe das jedoch in Deutschland gesehen.” Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen während der Interimszeit in der Slowakei verstärkte sich bei Magdalena das Motiv des Ausbruchs aus den als begrenzt erlebten sozialen und familiären Verhältnissen. Distinktionsbewusst beschrieb sie sich selbst als „ehrgeizig“ wie auch „abenteuerlustig“: „Ich liebe, spontan zu sein und ich brauche immer was Neues, neue Herausforderungen.“ Und an mich gewandt: „Du bist doch auch so ein Frauentyp: du musst doch auch immer in Bewegung sein.“ Doch schnell schwenkte sie wieder zu einer realistischen Einschätzung der Situation: „Ich wäre sehr glücklich, wenn ich die Schule hier in Deutschland machen könnte, aber ich weiß, das ist schwer. Ich weiß einfach, wenn ich meine Bildung machen will, dann muss ich wieder in die Slowakei.“ Entschlossen, ihre Zukunftspläne – sei es hier oder dort – zu realisieren, wog sie am Ende unseres Gespräches ab: „Auf der einen Seite will ich nicht wieder in die Slowakei, aber ich will auch nicht in Deutschland bleiben und mein ganzes Leben nur Au-pair und Putzfrau sein. Das kann ich nie in meinem Leben machen. Ich habe größere Ziele. Ich will meinen Hochschulabschluss machen und eine richtige Arbeit finden, die mir Spaß macht. Das kann ich hier nicht.“
Und sie endete, die gängige Perspektive umdrehend, die ein Leben im hineingeborenen Kontext als Normalität definiert: „Ich weiß, dafür muss ich mich für eine kleine Zeit von Deutschland verabschieden.“ Vorläufig wollte sie jedoch noch einige Monate als Au-pair in der Familie des alleinstehenden Mannes verbringen. Auch weigerte sie sich, „so weit nach vorne [zu] denken“, denn ihre bisherigen Migrationserfahrungen hätten klar gezeigt: „Vielleicht kommt etwas, was die Situation umdreht. Das war so, als ich jetzt zu Hause war und schon keine Hoffnung mehr hatte, wegzukommen. Und dann ist der Zufall gekommen, ich weiß, das war einfach nur Zufall.“ Wie schon bei Jirina, die ihre FSJStelle „zufällig“ bei einem Ausflug mit einer Jugendgruppe fand, hatte auch Magdalena im Laufe der Zeit eine realistische Einschätzung davon bekommen, dass die Angewiesenheit auf informelle Kanäle und Kontakte auch bedeutete, flexibel und spontan sein zu müssen, um jede Gelegenheit zu nutzen, sobald sie sich bot. So meinte sie auch bei unserem nächsten Telefonat, dass sie einer Heirat nicht länger abgeneigt sei. Dazu kam es jedoch nicht, denn nach vier Monaten bekam ich von ihr eine Botschaft per Handy vermittelt, dass sie nun in der Slowakei bleibe, da sie sich auf die nächste Aufnahmeprüfung zur Universität vorbereiten wolle und das während der Arbeit in der Familie nur schwer gehe. Etwas Geld würde sie sich nun über Deutschunterricht an einer Grundschule verdienen. Doch auch dies war nicht das Ende ihrer Migrationsbiografie und ihrer Zukunftsplanung im transnationalen Raum, dessen Spannbreite sie zu nutzen gelernt hatte. Denn zwei Jahre später als ich in der Schlussphase dieser Arbeit saß, meldete sich Magdalena wieder bei mir. Nun teilte sie mir mit, dass sie in Deutschland einen Studienplatz bekommen habe für “Deutsch als Fremdsprache”. Während der vorlesungsfreien Zeit müsse sie
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jedoch weiterhin in die Slowakei fahren, um dort mit Deutschkursen das Geld für ihr Studium zu verdienen. Rückkehr impossible Magdalenas Migrationsbiografie und vor allem ihr vehementes Pochen auf eine selbstständige Lebensführung erinnerten mich an Dobrinka, die es geschafft hatte, direkt im Anschluss an ihr Au-pair-Jahr ein Studienvisum in Deutschland zu erhalten. Als ich sie als studentische Mitarbeiterin im Au-pair-Club kennen lernte, studierte Dobrinka bereits im vierten Jahr. Wie sie mir immer wieder beteuerte, hatte sie auch nach Beendigung ihres Studiums und der damit verbundenen Aufenthaltserlaubnis nicht vor, in die Slowakei zurückzukehren: „Vielleicht gehe ich nach Prag. Vor Prag habe ich keine Angst, aber vor der Slowakei schon.“ Auf meine Rückfrage, was ihr denn Angst bereite, erwiderte sie: „Die Leuten, die Mentalität mehr als die ökonomischen Schwierigkeiten. Eben das ganze traditionelle, das Ganze, dass sie mich versuchen, wieder in diese Strukturen reinzupressen, und dass ich das gar nicht mehr bin und auch nicht mehr sein will.“ Prag dagegen sei wie der „Westen“: „Prag war immer schon wie Paris, da kümmert sich niemand um dich.“ Denn während der Besuche bei ihren Eltern, die sie auf zwei Mal pro Jahr reduziert habe, würde sie immer wieder feststellen, dass sie aus der weiblichen Normalbiografie „herausgewachsen“ sei. Schon allein mit ihrem saloppen Kleidungsstil würde sie als Frau auffallen, ganz zu schweigen davon, dass sie mit 26 Jahren immer noch ledig sei: „Wenn ich zu Hause bei meinen Eltern wäre, dann würde ich bei ihnen wohnen oder ich würde mir schon einen Mann suchen – nur so wegen der Situation, damit ich meine Ruhe von meinen Eltern habe. Puh, dann wäre ich verheiratet.“ Selbst die Nachbarn fragten immer wieder interessiert nach, wann sie endlich zu heiraten gedenke. So wollten ihr die Nachbarn während ihres letzten Besuchs beispielsweise schon gratulieren. Denn ihre Eltern hatten mit ihrer Hilfe die Wohnung renoviert und neue Vorhänge aufgehängt, was die Nachbarn so interpretierten, dass die Tochter nun endlich „unter der Haube“ sei, wie sie lächelnd erzählte. Dobrinka, die regelmäßig in dem kirchlichen Au-pair-Club aushalf, sah ihre Migrationsmotive in Gesprächen mit vielen anderen Au-pairs bestätigt. So antwortete sie mir auf die Frage, ob Au-pair als Migration zu beurteilen sei: „Nicht im Sinne für immer, aber für die Situation. Und die Frauen wissen nicht, wie lange sie bleiben. Aber die Struktur [in der Slowakei], sie drückt unterbewusst, man fühlt sich nicht wohl, man weiß und manchmal spürt man das ganz stark, irgendwie will ich das nicht mehr, ich will jetzt nicht heiraten. Von jeder Seite kommt aber: du musst. Und dann will man nur weg. Viele sagen das nicht direkt, sie sagen, für die Freiheit will ich noch in Deutschland bleiben, was anderes erleben.“
Auch wenn Tanya keinen vergleichbaren Bildungsgrad wie Dobrinka vorweisen konnte, mit dem sie in Deutschland hätte studieren können, richtete auch sie ihre Zukunftsperspektive während des Au-pair-Aufenthalts eindeutig auf Deutschland aus. Obwohl sie die bevorstehende Arbeitslosigkeit in der Slowakei immer wieder zur Sprache brachte, waren es nicht primär die sozioökonomischen Gründe, die sie in Deutschland hielten. Vielmehr wurde auch bei ihr während des Aufenthalts ein anderer Argumentationsstrang bestimmend. Vor allem nach der Rückkehr aus ih-
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rem ersten längeren Familienbesuch in der Slowakei meinte sie zu mir: „Ich bin so froh, wieder hier zu sein. Ich habe meine Freunde vermisst. Hier sind jetzt meine Freunde, in der Slowakei ist fast niemand mehr.“ Und auch während unseres nächsten Treffens wiederholte sie: „Hier habe ich so viele Freunde gefunden, die kann man nicht so einfach leicht zurücklassen.“ Im Vergleich dazu fragte sie mich rhetorisch: „Was soll ich in der Slowakei?“ – und gab sich sofort die Antwort: „Nichts!“ Wie die anderen Au-pair-Frauen spielte sie bei unseren Treffen immer wieder die verschiedenen legalen und nicht-offiziellen Möglichkeiten durch, hier zu bleiben. Sie träumte bis zum Schluss unseres Kontakts von einem Ausbildungsplatz in Deutschland, obwohl sie in Erfahrung gebracht hatte, dass dies eigentlich unmöglich ist. Andererseits schlug sie die Möglichkeit für sich aus, zu heiraten, um einen Aufenthaltstitel zu bekommen, auch wenn ihr Freund dies mehrmals angeboten hatte. Doch wollte sie sich in ihrem Alter noch nicht von einem Mann abhängig machen. Auch die Arbeit als Au-pair-Hausarbeiterin in der Familie kritisierte sie immer heftiger, so dass sie ein Angebot ihrer bisherigen Gastfamilie abgelehnt hätte, ohne Papiere weiter zu arbeiten. Dabei schrecke sie nicht vor der Illegalität der Handlung zurück, als vielmehr vor der Abhängigkeit von der Arbeitgeberfamilie: „In der Familie bleibe ich keinen Tag länger. Ich werde schon irgendeine andere Arbeit finden.“ Sie könne sich vorstellen, meinte Tanya im neunten Monat ihres Aufenthalts, mit einer Au-pair-Freundin zusammen, die ebenfalls länger bleiben wolle, eine Wohnung zu nehmen und als „Selbstständige“ putzen zu gehen. Allerdings hätten sie für eine eigene Wohnung noch zu wenig Geld. So war Tanya letztlich doch auf die Arbeit als live-in- Hausarbeiterin in Form von Au-pair angewiesen, wenn sie länger in Deutschland bleiben wollte. Von einer Freundin hatte sie von einer Familie erfahren, die eine Au-pair suchte. Bereits zwei Mal habe sie die Familie zum gegenseitigen Kennenlernen besucht: „Das ist ein großer Vorteil zur ersten Au-pair-Familie“, meinte sie dann auch, „jetzt habe ich sie mir anschauen können und weiß, dass sie o.k. sind.“ Doch die Nachfrage nach dem freien Arbeitsplatz war so groß, dass Tanya bis zur Zusage der Familie sehr darum bangen musste, ob sie die Stelle bekommen würde. Auch ihre Freundin hatte über Netzwerkkontakte eine neue Anschlussfamilie gefunden. So meinte sie während unseres letzten Treffens, dass sie nun ohne Bedenken für einige Monate in die Slowakei zurückkehren könne, um im Anschluss ihre neue Migrationsphase als Touristin zu beginnen. Ich wisse ja sicherlich wie dies funktioniere. Dabei habe sie keine Angst vor dem halblegalen Unterfangen, erwiderte sie auf meine Frage, denn sie habe in Erfahrung gebracht, an welchen Grenzübergängen die Überquerung als Touristin problemlos sei. Jetzt komme es darauf an, möglichst keine Grenzübertrittsstempel in den Pass zu bekommen: „Dann weiß keiner, wie lange ich in Deutschland war.“ Bei Überziehung der dreimonatigen Aufenthaltszeit als Touristin bekomme sie ansonsten ein „N“ in den Pass gestempelt. Damit sei man, wusste Tanya zu berichten, für einen bestimmten Zeitraum gesperrt. Bei wiederholter Überziehung bekomme man ein fünfjähriges Einreiseverbot in die EU. Bei unserem nächsten Treffen nach ihrer Rückkehr nach Deutschland erzählte sie jedoch, dass sie schon Angst habe, als „Illegale“ entdeckt zu werden. Doch solange die Familie „mitspiele“, sei das Risiko gering. Denn, so wie bereits Magdalena eine Polizeivisite in der Wohnung ihrer Gastfamilie überstand, verwies auch Tanya darauf: „Ich kann immer sagen: Ich bin zu Besuch. Mich können eigentlich nur die
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Nachbarn verpfeifen.“ Ansonsten habe sie für das erste halbe Jahr die Zeitintervalle genau ausgerechnet, wie lange sie in Deutschland bleiben könne und wann sie wieder zurück in die Slowakei müsse. So würde sie gerne noch viel länger in Deutschland bleiben, eine Deutsch-Prüfung ablegen und eine Ausbildung anfangen. Nach Hause ziehe sie nichts mehr. Auch ihre Mutter sei mittlerweile in die Schweiz gegangen, um sich dort eine Arbeit in einem Hotel zu suchen. Von ihr habe sie schon länger nichts mehr gehört. Darüber hinaus weihte sie mich nun, nach eineinhalb Jahren Kontakt, in einen Konflikt mit ihren Eltern ein, der ihr eine Rückkehr zu versperren schien: „Meine Eltern halten mir immer noch vor, dass ich meine Schule nicht bestanden habe und abgebrochen habe“, erzählte Tanya. Ein Jahr später erfuhr ich durch einen Anruf, dass sie noch im Lande war. 5.2. Lebenspraxis der zwei Standbeine Auf dem Weg zum Ziel? Im zweiten Kapitel habe ich vor dem Hintergrund einer geschlechtssensiblen Analyse des Transformationsregimes in der Slowakei den Aufbruch der jungen Frauen mit Hilfe von Au-pair als gezielte Bewältigungsstrategie der Umstrukturierungsprozesse analysiert. So haben alle Au-pair-Frauen am Beispiel ihrer Eltern erfahren müssen, dass unter dem vorherrschenden neoliberalen Transformationsregime und der sich rapide nach Westen öffnenden Wirtschaft traditionelle Bildungstitel entwertet und die sozialen Positionen unsicher wurden. Die Abwertung der Berufe und in Folge die Deklassierung ihrer Eltern waren für alle Au-pair-Frauen ein Referenzpunkt ihrer eigenen Lebensgestaltung. Auch die eigene Arbeitslosigkeit nach Beendigung ihrer höheren bzw. gymnasialen Schulbildung wurde als biografischer Bruch erlebt. Mit einem Bildungstitel, der plötzlich nichts mehr wert war, und ohne tragfähige staatliche Sicherungssysteme im Rücken waren sie auf ihre eigenen kreativen Kompetenzen und (familiären) knappen Ressourcen verwiesen. Die wenigen Ressourcen, auf die die jungen Frauen zurückgreifen konnten, waren ihre Ungebundenheit und in der Mehrzahl der Fälle hohe Bildungsabschlüsse. Darüber hinaus hatten sie den neoliberalen transformatorischen „Zeitgeist“ klar diagnostiziert, dass für die wirtschaftliche Teilhabe am Transformationsprozess spezifische Kompetenzen und Wissensbestände, wie „Westerfahrungen“ und westeuropäische Sprachkenntnisse, von zentraler Bedeutung sind. Vor diesem Hintergrund hatten die von mir interviewten Frauen mit ihrem Fortgang nach Deutschland – zwar in unterschiedlicher Gewichtung – alle die doppelte Perspektive verbunden, sowohl zusätzliches Wissenskapital mit dem Spracherwerb als auch finanzielle Mittel zu erwerben, welche ihnen ein „Aufstiegsszenario“ in der Slowakei eröffnen sollten. Einige Frauen wie Magdalena, Jirina und Anna hatten noch in der Slowakei einen Diskurs der Selbstständigkeit angestimmt: Die einen im Sinne eines Aufbruchs, die anderen eher als Ausbruch aus dem als zu eng empfundenen elterlichem und gesellschaftlichem Umfeld. Dennoch war die Rückkehr in die Slowakei für die allermeisten erklärtes Ziel.
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Wie wir gesehen haben, ist aus der von mir kontinuierlich begleiteten Gruppe von sechs Au-pairs definitiv nur eine Frau, Anna, nach Ablauf des einjährigen Au-pairVisums zurückgekehrt. Eine zweite, Jirina, konnte eine legale Anschlussstelle finden und ging nach Ablauf ihres zweiten Visums zurück. Die anderen blieben alle länger bzw. kamen nach einer Zwischenphase in der Slowakei wieder zurück nach Deutschland. Wir haben auch gesehen, dass Frauen trotz relativ ähnlicher Motive dennoch sehr unterschiedliche Wege einschlugen. Am stärksten ist dies wohl bei Anna und Vierka der Fall, die beide im Verlauf ihres Aufenthalts immer vehementer ihre in der Migration neu erfahrenen „Freiheiten“ und Handlungsoptionen betonten und sich zunehmend von ihrem familiärem Umfeld in der Slowakei distanzierten. Doch während Vierka aus diesen Gründen nach dem Au-pair-Jahr noch weiter im Ausland bleiben wollte, machte gerade diese neu eingenommene Haltung Anna eine Rückkehr in die Slowakei möglich, was darauf hinweist, dass sich Migrationsstrategien nicht direkt von den Motivationslagen ableiten lassen. Nachfolgend werde ich die verschiedenen Migrationsverläufe der Frauen zusammenfassend vergleichen, wobei der Fokus auf der Frage liegt, zu welchen Strategien sie gegriffen haben, um ihre Erwartungen angesichts der vorgefundenen Situationen zu erfüllen. Dabei wird deutlich werden, dass sich die Frauen zwar in vielerlei Hinsicht mit den gegebenen Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen arrangieren mussten, sie dies jedoch nicht im Sinne einer „Unterwerfung“ taten. Vielmehr gelang es ihnen zu meiner Überraschung selbst in sehr enttäuschenden Situationen immer wieder, Risse und Lücken des Migrationsregimes auszunutzen und dem Aufenthalt trotz widriger Arbeits- und Lebensbedingungen einen Überschuss an Glück abzuringen. In diesem Sinne greift eine Migrationsforschung, die „lediglich“ Arbeitsverhältnissse von Migrantinnen fokussiert, zu kurz, um die heterogenen Lebenswelten von MigrantInnen in ihrer Widersprüchlichkeit und Komplexität zu erfassen. Eine derartige Perspektive kann nur ungenügend erklären, warum MigrantInnen trotz erniedrigender und deklassierender Arbeitsbedingungen dem Aufenthalt in der Migration dennoch etwas abgewinnen können. Denn die Perspektive unterschlägt wesentliche Momente einer Migration, die ich im Folgenden als “eigendynamische Effekte der Migration“ bezeichnen werde. Durch diesen Überblick möchte ich im Anschluss noch einmal auf die im dritten Kapitel angesprochene Transmigrationsforschung zurückkommen und das überwiegend an ethnografischen Beispielen im amerikanischen Raum entwickelte Konzept der „Transmigration“ anhand meines empirischen Befunds für den europäischen Wanderungsraum konkretisieren. Hierbei wird sich zeigen, dass auch wenn die klassischen Termini von „Remigration“ oder „Immigration“ die sozialen Wirklichkeiten Europas nicht mehr erfassen, auch das Konzept des/der „Transmigranten/in“ zu differenzieren ist. Dies führt mich in einem weiteren Schritt dazu, das Konzept des transnationalen Raums näher zu betrachten, und es mit den herausgearbeiteten Rahmenbedingungen des europäischen Migrationsregimes zu verbinden. Soziales Risiko transnationalisieren Magdalena, Vierka, Anna und Jirina hatten ihre Au-pair-Migration am eindeutigsten als eine Qualifizierungsstrategie beschrieben, von der sie sich zusätzlich erhofften,
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etwas Geld für ihr späteres Studium sparen zu können. Auch während ihres Aufenthalts hielten sie an dieser Zielsetzung fest und entwickelten angesichts der vorgefundenen Situation in Deutschland Strategien, ihre Absichten in die Tat umzusetzen. Eine wesentliche Strategie von den meisten bestand dabei in der Fortsetzung der Migration. Zumeist taten sie dies jedoch nicht, um von einer Rückkehr gänzlich abzurücken. Eher wurde die Rückkehr aufgeschoben, um die (sich verändernden) Wünsche doch noch realisieren zu können. Denn alle mussten angesichts der strukturellen Bedingungen des Au-pair-Aufenthalts und der Beschäftigungspraktiken der deutschen Gastfamilien, die mit der Anstellung einer Au-pair ihre Versorgungsarbeiten „nach unten“ delegierten, Abstriche von ihren gesteckten Zielen machen und sie an die vorgefundenen Situationen anpassen. Neben der Kontrollmacht der Arbeitgeberfamilien haben es auch die Fallen der moralischen Ökonomie des Caring den migrantischen Akteurinnen schwer gemacht, sich den Logiken der ganzheitlichen Inanspruchnahme ihrer Person durch die Versorgungsarbeiten zu entziehen und Grenzen zu definieren, um eigenen Interessen in ausreichendem Umfang nachgehen zu können. Wie im dritten und vierten Kapitel deutlich wurde, hatten darüber hinaus sowohl die Agenturen als auch die deutschen Arbeitgeberfamilien – sicherlich auch aufgrund des offiziellen Bildes von Au-pair als Kulturaustausch – nur ein mangelndes Verständnis von den Nutzungsweisen der osteuropäischen Frauen von „Au-pair“ als Migrationsstrategie. Zum anderen waren alle mit den strukturellen Rahmenbedingungen der Institution Au-pair konfrontiert. So stellten die meisten binnen kurzer Zeit fest, dass sie von den 200 Euro Taschengeld nur wenig für später auf die Seite legen konnten. Angesichts der angespannten finanziellen Situation der Eltern war dies, wie es Vierka formulierte, zwar schmerzlich. Für keine der Frauen war es jedoch ein hinreichender Grund, den Aufenthalt zu beenden. Vielmehr schienen sie sich sehr flexibel auf die neue Situation einzustellen. Einige versuchten weitere Arbeitsstellen als Putzkraft oder Babysitterin zu finden, was ihnen jedoch von den Arbeitsgebern oftmals erschwert bzw. verboten wurde. So war die finanzielle Seite auch einer der Gründe, warum Vierka, Magdalena und zunächst auch Anna eine Verlängerung ihrer Migration anstrebten. So hoffte Anna, dass sie in England als Au-pair mehr verdienen, und Vierka, dass sie während eines weiteren Jahres in Holland doch noch Ersparnisse auf die Seite legen könne. Doch die Enttäuschung über den geringen finanziellen Outcome kompensierten die Frauen auch dadurch, dass sie ihre weiteren Absichten wie den Spracherwerb in den Vordergrund rückten und neue Motivationen den Aufenthalt an sich wertvoll erscheinen ließen. Diese Umstellung vollzog Vierka am radikalsten, indem sie dazu überging, die wenigen Ersparnisse bei Freizeitaktivitäten auszugeben und auf diese Weise den Aufenthalt kulturell auszukosten. Magdalena half sich über ihre Enttäuschung hinweg, indem sie den Lernaspekt ihres Au-pair-Aufenthalts betonte. Den Fremdsprachenerwerb mit einer Zertifikatprüfung besiegeln zu können, war für viele Frauen ein weiterer Grund dafür, länger in Deutschland zu bleiben. Diese reichte als Qualifikationsnachweis aus, um eine Stelle als Deutschlehrerin an einer Grundschule zu erhalten, wie es Jirina und Magdalena nach ihrer Rückkehr in die Slowakei auch schafften. In diesem Zusammenhang sahen andere eine Migration in ein anderes westeuropäisches Land als förderlich an. Denn angesichts der großen Zahl von Au-pairs in Deutschland mussten sie feststellen, dass viele slowakische Frauen mit dem Au-pair-Aufenthalt die Strategie verfolg-
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ten, Deutsch zu lernen, was ihre Chancen auf einen späteren Arbeitsplatz wieder schmälerte. So begründete Vierka und Anna ihre Überlegungen, als Au-pair in ein weiteres westeuropäisches Land zu gehen, damit, dass die Kenntnis zweier Fremdsprachen ihnen mehr Wettbewerbsvorteile bringen würde. In diesem Sinne verfolgten die Frauen während ihres Aufenthalts weiterhin ihre Zielsetzungen, ihr Wissenskapital zu erweitern, um damit eine berufliche Reintegration in den Transformationsprozess möglich zu machen. Nachdem dies binnen eines Jahres aufgrund der limitierten finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten, die die Anstellungspraxis als „Au-pair“ bot, nicht funktionierte, optierten die meisten für eine Verlängerung. Die Beschäftigung von Jirina und Magdalena als Deutschlehrerin in der Slowakei demonstrieren dann auch, dass einige mit ihrer Migration im Sinne der berufsorientierten Qualifikationsstrategie „erfolgreich“ sein konnten. Angesichts des von den meisten gehegten Rückkehrwunsches reflektierten die Aupair Frauen jedoch auch kontinuierlich die familiäre und gesellschaftliche sozioökonomische Situation in der Slowakei und verglichen sie mit ihren Möglichkeiten als „Ausländerinnen“, wie sie sich selbst beschreiben lernten, in Deutschland. Dabei erlebten die jungen Frauen einerseits immer stärker, dass sich die Situation zu Hause nicht verbesserte. Nicht selten drängten aus diesen Gründen auch die Eltern ihre Töchter dazu, noch nicht nach Hause zurückzukehren und die momentan schwierigen ökonomischen Verhältnisse in Deutschland zu überbrücken. Dies stellte einen weiteren wesentlichen Grund dar, warum viele eine sofortige Rückkehr umgingen. Andererseits aber lernten sie auch die Schwierigkeiten und Hürden zunehmend besser einzuschätzen, welche die Fortsetzung der Migration mit sich brachte. So setzte sich die Erkenntnis durch, dass sie in Deutschland vorrangig auf informelle Hausarbeit festgelegt wären. Während Anna sich deshalb und vor dem Hintergrund ihrer veränderten Lebenseinstellung in letzter Minute doch gegen einen weiteren Aufenthalt in Westeuropa entschied und in die Slowakei zurückkehrte, ohne dort eine konkrete Perspektive zu haben, entwickelten andere gegen dieses doppelte Risiko der Deklassierung auch eine zweigleisige bzw. mehrortige Strategie – eine Lebenspraxis der zwei Standbeine. So begann Jirina beispielsweise, sich parallel zu ihrem Job in Deutschland um eine Lebensperspektive in der Slowakei zu kümmern, indem sie schon für Aufnahmeprüfungen zur Universität lernte und einige Male nach Hause fuhr, um Prüfungen zu absolvieren. Der Job in Deutschland stellte hierbei ein sicheres soziales Standbein dar, von dem aus sie ihre Rückkehrmöglichkeiten aufbauen und ausprobieren konnte. Dies tat sie mit dem Bewusstsein, dass sie auch ein weiteres Jahr in Deutschland bleiben könnte, sollten ihre Versuche, in der Slowakei wieder mit beiden Füßen auf den Boden zu kommen, scheitern. Sie hielt sich beide Optionen im transnationalen Raum offen und baute die zwei sozialen Kontexte in ihre Zukunftsplanung ein. Im Unterschied zu Anna, die noch Monate nach ihrer Rückkehr keine Arbeit finden konnte, ging Jirinas Strategie der aufgeschobenen Rückkehr auf. Sie arbeitete solange in Deutschland weiter und verbesserte gleichzeitig ihre Sprachkenntnisse, bis sie wusste, dass sie auch in der Slowakei wieder Fuß fassen und eine ihren Wünschen entsprechende Zukunftsperspektive haben würde. Vierka begründete ihre Weiterwanderung nach Holland u.a. ähnlich, nämlich sich noch weitere Kompetenzen aneignen zu wollen, um sicher gehen zu können, dass eine Rückkehr gelinge.
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Am konsequentesten praktizierte Magdalena eine Lebensplanung der zwei Standbeine, da ihr beide Kontexte jeweils spezifische Optionen eröffneten bzw. verunmöglichten. Während sie den heimatlichen Kontext bei ihrer ersten Rückreise als sicheren Rückzugsort nutzte, dem sie jedoch bald wieder entfliehen wollte, brach sie das zweite Mal in die Slowakei im Glauben auf, dort einfacher als in Deutschland studieren zu können. Wie sich später herausstellte, konnte sie dies jedoch auch in Deutschland studieren und sie kam wieder zurück. Allerdings fuhr sie weiterhin in den Semesterferien zurück in die Slowakei, da sie dort als Deutschlehrerin genug Geld für ihr Studium verdienen konnte. In diesem Sinne erscheint ihr unstetes Migrationsverhalten in einem anderen Licht. Magdalena hat gelernt, den transnationalen Raum in seiner Breite taktisch auszunutzen und jeweils abzuwägen, wo die Chancen gerade am günstigsten sind. Mit je einem Fuß in einem Land stehend, konnte sie die jeweiligen Vorteile für sich nutzen und die Nachteile durch ihr weiteres Standbein abfedern. Eigendynamische Effekte – Fortsetzung der Migration Jenseits dieser auf die Transformationsprozesse gerichteten Überlegungen veränderte sich im Prozess des Aufenthalts und des Abgleichens der Chancen in der Slowakei und Deutschland aber das Kategoriensystem der Frauen. Und auch sie selbst veränderten sich in diesem Prozess. Neue Motivationen kamen hinzu bzw. bereits vorhandene wurden dominanter und begannen die sozioökonomischen Rationalitäten zu überlagern. So generierte die Migration selbst Gründe dafür, sie fortzusetzen. Douglas Massey hat dieses Phänomen bereits 1987 – allerdings mehr im Sinne einer Verbreitung und Verstärkung der Migrationsbewegungen – als „kumulative Verursachungsdynamik“ bezeichnet (vgl. D. Massey/ R. Alarcón u.a. 1987).148 Mein empirisches Beispiel zeigt jedoch, dass ein ähnlicher Zusammenhang auch für individuelle Migrationsbiografien besteht. Ich würde jedoch eher von eigendynamischen Effekten der Migration sprechen. Migration ist eben auch als subjektiver Prozess und transformatorische Bewegung zu verstehen und lässt sich nicht auf sozioökonomische Rationalitäten reduzieren. Vielmehr produziert sie in und durch die Bewegung selbst einen Überschuss an immateriellen Gewinnen, die die AkteurInnen dazu veranlasst, die Migration aufrecht zu erhalten. So waren die Familienbesuche zu Hause für die Frauen auch Gelegenheiten, sich in ihre familiären Kontexte zurück zu imaginieren und dessen bewusst zu werden, dass sie aus dem elterlichen und soziale Umfeld herausgewachsen waren bzw. sich ihre Bedürfnisse verschoben hatten. Damit wurde ein weiterer Diskursstrang vorherrschender, der bei Magdalena, Jirina, Vierka, Vanessa oder Anna bereits vor ihrer Abreise schon in Ansätzen angelegt war, nämlich um Selbstständigkeit und „Autonomie“, dem ein breites und heterogenes Motivspektrum zu Grunde lag. Während 148 Am Beispiel der etablierten mexikanisch-us-amerikanischen Migration konnten die Forscher Motivationsaspekte herausarbeiten, die durch und in dem Migrationsprozess selbst entstehen wie beispielsweise die Etablierung einer auf die Community ausgerichtete Ökonomie, die ihrerseits eine gesteigerte Nachfrage nach Arbeitskräften produziert und die somit wiederum beschleunigend und verstärkend auf die Migrationsbewegungen zurückwirkt.
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des Aufenthalts bekamen diese Motive trotz und neben den begrenzenden Au-pairArbeitsverhältnissen nicht nur durch das Erleben sozialer Ungebundenheit und Freiheit, sich mit Freundinnen zu treffen etc., neue Nahrung. Auch „kulturelle Faktoren“ spielten dabei eine Rolle, wie die „Freiheit zum Konsum“ von Freizeitmöglichkeiten, Bilderwelten und Waren, die von den Frauen auch als visueller Konsum und als soziale Räume genossen wurden. So wollten die einen, wie es Jirina und Anna bereits im Erstgespräch in der Slowakei äußerten, durchaus im Sinne des klassischen Au-pair-Aufenthalts ihren Weggang zur emotionalen Ablösung und Abnabelung von ihren Familien nutzen. Angesichts des sozial eng integrierten Familienlebens, dessen Enge zusätzlich durch die sozioökonomischen Verschlechterungen und hierüber wachsenden Abhängigkeiten gesteigert wurde, stellte das Aupair-Jahr für viele die erste, auch finanziell einzige Möglichkeit dar, das Elternhaus zu verlassen und in der Fremde Eigenständigkeit zu erlernen. Dieser Schritt in die Eigenständigkeit führte trotz der beschränkenden Au-pair-Arbeitsverhältnisse angesichts der in der Abwesenheit von zu Hause erfahrenen Freiheitsgrade jedoch dazu, dass die Frauen ein gesteigertes Begehren nach Selbstständigkeit und Autonomie entwickelten, welchem zum großen Teil geschlechtsspezifische Aspekte zu Grunde lagen. Die Frauen sahen in Folge klar, dass ihre Rückkehr zu Problemen führen würde, die sie in diesem Umfang vor ihrer Migration noch nicht gekannt hatten bzw. gewahr waren. Die gesteigerten Autonomiewünsche, gekoppelt an eine verstärkte Wahrnehmung der Normativität der heimatlichen Kontexte, die auf einer Einhaltung der weiblichen Normalbiografie insistierten, waren für Vierka und andere Frauen letztlich ein wesentlicher Grund, ihre Migration fortzusetzen. Für andere wie Magdalena, Vanessa und Tanya war der Aufbruch nach Deutschland von Anfang an mehr ein Ausbruch aus den familiären Kontexten, die durch starke Konflikte mit den Eltern geprägt waren – über die sie jedoch erst im Verlauf ihres Aufenthalts mir gegenüber zu reden begannen. Dabei bedienten sie sich ähnlicher Bezeichnungspraktiken wie Vierka und Anna von „Freiheit“, „Selbstständigkeit“, „jung“ und „ungebunden“ sein, das „Leben in die eigenen Hände nehmen“. Auch vom sozialen Umfeld, den gängigen Alltagspraktiken und Lebensstilen der anderen Jugendlichen, die sie als „langweilig“, „eng“ und „dumm“ beschrieben, distanzierten sich die Frauen im Laufe der Zeit immer stärker und reklamierten für sich eine andere Zukunftsperspektive. Die Erfahrungen während der Besuche zu Hause interpretierten sie denn auch genau in diesem Raster. Hierbei wurde ihre transnationale Mobilität und die hieran geknüpften Vorstellungen und Begehren von die „Welt probieren“, so Magdalena, auch zum entscheidenden Distinktionskriterium gegenüber ihren Herkunftskontexten, welche im sozialen Raum der Slowakei angesichts des Transformationsregimes sicherlich auch einen funktionalen und materiellen Hintergrund hatte. Für Tanya hatte sich das Bezugssystem angesichts des Weggangs vieler FreundInnen aus der Slowakei gänzlich verschoben. Während sie sich in Deutschland einen neuen Freundeskreis aufgebaut hatte, schien in der Slowakei niemand mehr auf sie zu warten. Dennoch ist hierbei erstaunlich, wie Magdalena und Vanessa die schlechten, weitgehend begrenzenden und entwürdigenden Erfahrungen ihrer Au-pair-Arbeits- und Lebensverhältnissen durch den Überschuss an realisierten Glückserwartungen und Freiheitsgraden überschrieben. Selbst Magdalenas Konflikte mit der Gastfamilie
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und ihre Erfahrungen der unterlassenen Unterstützung seitens der Agentur hatten sie nicht entmutigen können, es noch einmal in Deutschland zu versuchen. Ganz im Gegenteil hatte ihr der Zwischenstop in der Slowakei wieder deutlich vor Augen geführt, was die Gründe ihres ersten Aufbruchs waren, die sich durch ihre Erfahrungen in der Migration noch gesteigert hatten. Vanessa drückte diesen Überschuss in einer klassischen Metapher der Flucht aus den spätfeudalistischen Verhältnissen auf dem Land in die sich kapitalistisch konstituierenden Städte aus, als sie meinte: „Hier [in der Migration, die Verf.] kann ich frei atmen.“ Während die Slowakei die „Vergangenheit“ darstelle, sei die Migration in Deutschland ihre „Gegenwart“. Vor dem Hintergrund dieses in der Migration dominanter werdenden Diskurses von „Selbstständigkeit“ und „Autonomie“ geriet für die Frauen das ursprüngliche Ziel, den Au-pair-Aufenthalt als Aufstiegsplattform in der Slowakei zu nützen, mehr und mehr in den Hintergrund. Dieses gegensätzliche Motivspektrum zwischen Rückkehr und Fortsetzung der Migration brachte die jungen Frauen immer stärker in eine ambivalente, dilemmatische Situation: Ihnen war bewusst, dass sowohl der slowakische als auch der deutsche Kontext ihnen etwas verwehrte. Die Strategien, mit dieser auch emotional nicht einfachen Situation umzugehen, variierten. Während Vierka und Magdalena versuchten, der Entscheidung zwischen Migration und Rückkehr für eine Weile auszuweichen und den Schwebezustand so lange wie möglich beizubehalten, entschieden sich Tanya, Vanessa, Anna, Jirina und Dobrinka nach Ablauf des Au-pair-Visums für die eine oder andere Seite der Grenze. Entgegen Anna und Jirina, die an ihrer Rückkehr bastelten, versuchten Vanessa, Tanya und Dobrinka immer eindeutiger, sich eine Lebensperspektive fern der Slowakei aufzubauen. In diesem Sinne ist jedoch auch von den in aktuellen Migrationsforschungen positiven Konnotationen eines neuen Nomadentums pendelnder Migrationsexistenzen Abstand zu nehmen. Meines Erachtens übergeht dieses Bild die Vereindeutigungswünsche migrantischer AkteurInnen, die durchaus Erwartung an ein sozial, ökonomisch und kulturell abgesichertes Leben haben. Im Kontext der modernen Rechtspraxis ist dieses immer noch an die Staatsbürgerschaft gekoppelt, die wiederum eine nationale Verortung voraussetzt. Dennoch zeigen Magdalenas Versuche, teilweise gezwungenermaßen, teilweise aber auch eigenwillig einen dritten Weg zu beschreiten und explizit eine mehrortige Lebensperspektive zu entwickeln, dass transnationale Lebensführungen auch als Chance zu begreifen sind. Allerdings bedeuteten die Vereindeutigungsversuche der anderen Frauen nicht, dass sie nicht auch zu transnationalen Existenzweisen gezwungen waren und Strategien entwickelten, diese zu bewerkstelligen. Denn neben ihren auf die Herkunfts- und Zielkontexte bezogenen Wünsche und Erwartungen hatten sie auch noch das europäische Migrationsregime zu berücksichtigen. Und dieses scheint auch im europäischen Kontext das Phänomen der Transmigration spezifisch zu forcieren, was ich nun abschließend diskutieren will.
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5.3. Feminisierte transnationale Räume in der Ambivalenz von Staatlichkeit und Selbstermächtigung Remigranten, Immigranten oder Transmigranten? Im Sinne der klassischen Migrationsforschung lassen sich aus der kontinuierlich begleiteten Gruppe von sechs Au-pairs nur Anna und Jirina als „Remigrantinnen“ verstehen, die nach spätestens zwei Jahren wieder nach Hause in die Slowakei zurückkehrten. Doch auch Anna und Jirina haben sich die Möglichkeit einer Fortsetzung ihrer Migration und eines mehrortigen Lebens offen gehalten. Dabei ist Anna nach anfänglichen Überlegungen, weiter nach England zu gehen, letztlich gegen den erklärten Willen der Eltern, die eine bessere Zukunft für ihre Tochter in der Migration als im Herkunftsland sahen, nach Hause zurückgekehrt. Für gängige ökonomische Erklärungsmuster des Push- und Pull-Modells von Migration verhielt sich Anna antizyklisch. Denn gerade eine zunehmend immaterielle Einstellung zu ihrem zukünftigen Leben hat es ihr wünschenswert erscheinen lassen, nicht länger als Hausarbeiterin in Deutschland zu arbeiten, sondern in der Slowakei zu leben, selbst wenn dies mit schlechteren wirtschaftlichen Perspektiven verbunden war. Jirina glaubte, nach zwei Jahren in Deutschland ihre Zielsetzungen soweit realisiert zu haben, dass sie eine Rückkehr in die Slowakei und die Aufnahme eines Studiums versuchen wollte. Die unsicheren sozioökonomischen Verhältnisse in der Slowakei hatten jedoch auch sie veranlasst, sich die Option eines fortgesetzten Aufenthalts in Deutschland offen zu halten, sollten ihre Rückkehrversuche scheitern. Dieser Rationalitätshorizont ließ sie während ihres letzten Jahres in Deutschland eine Strategie der zwei Standbeine entwickeln, die ihrerseits im erhöhten Maße eine transnationale Flexibilität erforderte, zurückzukehren sobald sich für sie eine gute Chance böte bzw. in Deutschland zu bleiben, sollte eine Reintegration scheitern. So wurde Jirina zu einer Pendelmigrantin auf Zeit. Die anderen Frauen sind alle länger im Ausland geblieben als ursprünglich beabsichtigt. Trotz gewisser Varianzen ähnelten sich die jeweiligen Strategien zur Fortsetzung der Migration insofern, als sich alle zwischen der Slowakei und Westeuropa hin- und her bewegten. Neben dieser Mobilität lässt sich auch die Tatsache, dass sich alle Frauen ihren Anschlussaufenthalt mit Hilfe informeller Kontakte, meist basierend auf Netzwerken, selbsttätig organisierten, als gemeinsames Merkmal festhalten. Die den ersten Aufenthalt vermittelnden Au-pair Agenturen als formal zuständige Institutionen leisteten in keinem der Beispiele Unterstützung – oft wandten sich die Frauen nicht mehr an sie, weil sie in Konfliktsituationen mit den Gasteltern die Erfahrungen gemacht hatten, dass die Agenturen auf Seiten der Arbeitgeber standen. Die Agenturen als Anlaufstelle bzw. Hilfsstruktur schieden aber auch deshalb aus, weil die Frauen bei ihnen eine ablehnende Haltung gegenüber der halblegalen Verlängerungspraktiken antizipierten. Die Beispiele offenbaren ferner auch die Kontingenz von Migrationsbiografien. Oftmals waren die Frauen auf den „Zufall“ angewiesen und mussten dann zugreifen, wenn sich ihnen eine Gelegenheit bot - wie im Falle Jirinas die plötzliche Entdeckung während einer Jugendfreizeit, dass die Einrichtung noch freie Stellen im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres anbot; oder wie Magdalena, die auf die
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informelle Vermittlung ihrer Freundin angewiesen war. Zudem lässt sich feststellen, dass alle Frauen mit vorrückendem Aufenthalt in Deutschland eine genauere Vorstellung von den begrenzten migrationspolitischen Möglichkeiten bekamen. So wussten sie, dass die Konstellation aus Arbeitsmarkt und rechtlichen Bedingungen ihnen, wenn überhaupt eine geringqualifizierte Tätigkeit ermöglichte und sie sich als „Dienstmädchen“ und „Au-pairs“ verdingen mussten. Dennoch schienen sie bereit, eine damit einhergehende Deklassierung zumindest temporär in Kauf zu nehmen. Als Gegenpol zu den „RemigrantInnen“ lassen sich Tanyas und Dobrinkas Migrationsverläufe beschreiben, die eine Strategie des dauerhaften Aufenthalts, der Immigration nach Deutschland anstrebten. Während Dobrinka noch ein Studienvisum vorweisen konnte, blieb Tanya nur die mobile Migrationsstrategie als „Touristin“, um sich in Deutschland aufzuhalten. Bezeichnenderweise bedeutete der Wunsch, sich in Deutschland niederzulassen, für sie gerade nicht, ihr Standbein im Herkunftsland aufzugeben. Wie bereits im dritten Kapitel geschildert, hatte die migrationspolitische Kategorisierung zur „Touristin“ zur Folge, dass Tanya auf dem offiziellen Arbeitsmarkt keine Chancen hatte und weiterhin informell als live-in Hausarbeiterin arbeiten musste – ein Teufelskreis, aus dem nur wenige ausbrechen können. Auch Dobrinka musste mit Beendigung ihres Studiums mit dem Ablauf ihrer Aufenthaltserlaubnis rechnen und überlegte, was sie im Anschluss machen sollte, da sie nicht in die Slowakei zurückkehren wollte. In diesem Sinn lässt sich keine der interviewten Frauen, selbst die Studentin Dobrinka nicht, als Immigrantin definieren, der eine dauerhafte Niederlassung in Deutschland möglich war. Denn beiden, die einen Aufenthalt in Deutschland anstrebten, blieb dieser ausländerrechtlich verwehrt. Die Schwierigkeiten, sich in Deutschland niederzulassen, hält auch Norbert Cyrus für einen der wichtigsten Gründe für Pendelmigrationsformen (vgl. N. Cyrus 2001). Wahrscheinlich hat Vanessas Migrationsbiografie eine ähnliche Entwicklung genommen, denn auch sie hatte gegen Ende ihres Aufenthalts immer nachdrücklicher geäußert, angesichts der sie erwartenden familiären Umstände noch nicht zurück in die Slowakei zu wollen. Im Unterschied zu Tanya hatte sie jedoch das Glück, zunächst eine legale Anschlussstelle im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres zu bekommen. Nach Ablauf dieser Stelle wären jedoch auch ihr keine anderen Möglichkeiten des fortgesetzten Aufenthalts verblieben, als sich weiter als touristische Pendelmigrantin oder als vollkommen Undokumentierte, eine Arbeit zu suchen. Magdalena, die für sich explizit das Recht einklagte, sich frei bewegen zu wollen, hat eine der brüchigsten Migrationsverläufe aufzuweisen. Sie pendelte nicht nur gedanklich am stärksten zwischen einer Lebensperspektive in Deutschland und in der Slowakei, sondern auch faktisch hin und her. Nachdem sie das erste mal aus einer Konfliktsituation heraus notgedrungen in die Slowakei zu einem Zwischenstop zurückkehrt war, war ihre zweite Rückreise selbsttätig erwogen. Doch auch diese zunächst endgültig wirkende Rückkehr machte sie nicht zur Remigrantin. Denn zwei Jahre später hatte sie ein Studienvisum für Deutschland bekommen. Jedoch war sie aus finanziellen und ausländerrechtlichen Gründen immer noch zum Pendeln gezwungen, um während der Semesterferien in der Slowakei als Deutschlehrerin Geld für ihr Studium zu verdienen. Diese mehrortige Existenzweise, die die Realisierung der Lebensperspektiven funktional auf mehrere Länder verteilt, hat
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Mirijana Morokvasic auch bei den polnischen Pendelmigrantinnen als taktische, selbstermächtigende Existenzweise im mit Hindernissen durchzogenen transnationalen Raum beschrieben. Der transnationale Raum zwischen ost- und westeuropäischen Ländern scheint, einmal „kennengelernt“, zu einem alltagsweltlichen Referenzpunkt für Lebensplanungen werden zu können. Veränderten sich die Lebensbedingungen, machten sich ehemalige Au-pair-Frauen auch nach jahrelanger Sesshaftigkeit wieder auf, um auf der anderen Seite der Grenze ihr Glück zu versuchen. In diesem Sinne geht der Begriff der „Rückkehr“ auch über die Prozesshaftigkeit von Lebens- und Migrationsverläufen hinweg und gerinnt schnell zu einem statischen Begriff. Dass dabei wichtige Migrationsschritte aus dem Blick geraten können, zeigt folgendes Beispiel: Von Maria, die wir im zweiten Kapitel als unglückliche Rückkehrerin von einem vorzeitig abgebrochenen Au-pair Aufenthalt kennen gelernt hatten, erfuhr ich, dass sie drei Jahre später wieder in Deutschland war. Nach mehreren Versuchen, eine Stelle im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres bei einer kirchlichen Einrichtung zu bekommen, hatte sie endlich Erfolg gehabt. Ihr Leben im Rahmen der familiären Überlebensökonomie in dem kleinen ostslowakischen Dorf waren schon während meiner Reisen 1999 für sie nur dadurch auszuhalten, dass sie sich ins Ausland träumte und medial vor allem über das Satellitenfernsehen weiter mit Deutschland verbunden war. Damals hatte ich es jedoch nicht für möglich gehalten, dass sie – eingebunden in die Haushaltsökonomie und Pflege ihrer Eltern – den Schritt nach Deutschland noch einmal wagen würde. Nachdem aber die Mutter gestorben war, hielt sie keine familiären Verpflichtungen mehr davon ab. Sie wurde wieder zur „Migrantin“.149 Angesichts der herrschenden Migrationspolitik ist eine Immigration im klassischen Sinne von Niederlassung nur den wenigsten möglich. Doch auch die im Kanon der klassischen Migrationsforschung als Gegenbegriff gebrauchte Bezeichnung der „Remigration“ trifft die Wirklichkeiten allenfalls in Momentaufnahmen. Schließlich lässt sich jedoch auch keine der Frauen als Transmigrantin bezeichnen, wenn man die Definition von Linda Bash, Nina Glick-Schiller und Cristina Santoz Balnce (1997: 121) im engen Sinne zugrunde legt. Diese beschreiben “transmigrants” als “immigrants [kursiv, Verf.] whose daily lives depend on multiple and constant interconnections across international borders.” Von diesem Idealtypus eines/einer „erfolgreichen Transmigranten/in“, der in beiden Kontexten über dauerhafte und institutionelle Verankerungen verfügt und gleichermaßen zu Hause ist, weichen die Praktiken der Au-pairs wie sicherlich vieler illegalisierter osteuropäischer MigrantInnen ab. Im Sinne von Norberts Cyrus Typologisierung entlang des Kontinuums von dauerhafter Niederlassung an einem Ort als einem Pol und stetiger Mobilität als dem anderem, sind die Au-pair-Migrantinnen eher zu der Kategorie des/der „Pendelmigranten/in“ zu zählen, die weiterhin „sozial und kulturell in die Herkunftsge149 Auch Vesna, die im gleichen Zeitraum wie Maria von ihrem Au-pair-Aufenthalt zurückgekehrt war, hatte nur kurze Zeit später eine Pendelmigrationskarriere als Altenpflegerin nach Österreich aufgenommen. Nachdem sie im Umkreis ihrer elterlichen Wohnung keine Anstellung in ihrem Beruf als Krankenschwester gefunden hatte, zog sie das vierzehntägige Pendeln der Arbeitslosigkeit in der Slowakei vor.
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sellschaft integriert und nur beruflich (teils temporär, teils dauerhaft) in die Aufnahmegesellschaft integriert sind“ (N. Cyrus 2001: 10). Doch auch diese Typologisierung halte ich hinsichtlich der zur Grundlage gemachten Perspektive der “Integration” für zu statisch und fehlleitend. So zeigen die Geschichten der Frauen, wie brüchig ihre soziale und kulturelle Integration in die slowakische Gesellschaft war. So hatten Frauen wie Vanessa oder Magdalena gerade aufgrund ihrer Ablehnung der gesellschaftlich hegemonialen Lebensweisen und normativen Erwartungen ein Leben fern der Herkunftsgesellschaft gesucht. Auf der anderen Seite dokumentieren die Migrationserzählungen der Frauen auch, dass sie sich sozial-kulturell als „Teil“ des deutschen „Lebens“ fühlten, ja gerade dies einer der positivsten Aspekte ihrer Au-pair-Migration darstellte, auch wenn sie im Sinne des klassischen Integrationsbegriffs über keine institutionalisierten Formen der gesellschaftlichen Teilhabe verfügten. In diesem Sinne scheint mir diese Unterscheidung in „TransmigrantInnen“ und „PendelmigrantInnen“ eine Unterscheidung um ihrer selbst willen zu sein. So zeigen die Migrationsverläufe und hieran geknüpften kulturellen Orientierungen der Frauen vielmehr, dass sie ihr Handeln, ihre Entscheidungen und Selbstidentifikationen je nach „Thema“ und „Situation“ an beiden Kontexten ausrichteten und beide Kontexte somit zu Referenzpunkten ihrer Lebensplanung wurden. Nach Linda Bashs Definition kennzeichnet genau das aber TransmigrantInnen. Dennoch ist auf den Unterschied hinzuweisen, dass es sich bei den Migrationsstrategien der Au-pairs wie vieler osteuropäischer MigrantInnen nach 1989 um unstetere, temporärere und mobilere Migrationsverläufe handelt, als es die empirischen Beispiele vieler Transnationalisierungsstudien für die USA darlegen. Die amerikanischen Beispiele sind meines Erachtens eher mit transnationalen Lebensentwürfen der ArbeitsmigrantInnen der sechziger und siebziger Jahre vergleichbar, die sich über die Jahre – mal mehr und mal weniger – in beiden Kontexten beheimateten. In diesem Sinne würde ich die mobilen Migrationsstrategien der osteuropäischen Frauen eher der Kategorie der „permanenten Transmigranten“ zurechnen, die eine Pendel- und Zirkelmigration zum Teil bis ins hohe Alter praktizieren, wie es auch Maria Rerrich bei polnischen Hausarbeiterinnen mitverfolgen konnte (M. Rerrich 2002b). Mit der Kategorie der „permanenten Transmigranten“, die der britische Sozialanthropologe Ralph Grillo aus einem Vergleich von Transmigrationsverläufen marrokanischer und senegalesischer MigrantInnen in Italien entwickelt, bezieht er sich auf das in Europa zunehmende Spektrum von Migrantinnen, die „as a transnational semiproletariat [are] cought chronically astride borders“ (R. Grillo 2001: 3; vgl. R. Rouse 1992). Dieser Aspekt des Gehaltenseins zu permanenten „cross-border-movements“ scheint mir eine viel zentralere Beschreibungskategorie für die neuen, mobilen Migrationsbewegungen nach 1989 in Europa abzugeben, als die Perspektive, den Integrationsgrad zur zentralen Meßlatte zu erheben. Denn wie die Beispiele dieser Studie zeigen, überschreiten manche Frauen selbst die gängige Auslegung des Transnationalisierungsansatzes, die Transnationalisierung als lebensweltliche Verbindung zweier Kontexte versteht. So entwickelte nicht nur Vierka einen noch flexibleren Bezug auf den sozialen Raum und wanderte, als sie keine weitere legale Möglichkeit in Deutschland sah, in ein anderes westeuropäisches Land weiter. Während meiner zweijährigen Forschung habe ich auf den Busfahrten und Treffpunkten
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der Au-pairs Frauen mit regelrechten transeuropäischen Migrationsbiografien getroffen: von Deutschland über die Schweiz, von England über Holland nach Deutschland und zurück in die Slowakei als Au-pairs, Zimmermädchen, Bedienung oder Putzfrau. Auf der Suche nach einem besser bezahlten, regulierteren und sichereren Arbeitsplatz ergriffen die Frauen die Chance dort, wo sie sich ihnen gerade bot. Die Feststellung, dass eine zunehmend große Menge von MigrantInnen eine erhöhte grenzüberschreitende Mobilität quer durch Europa praktiziert, scheint zu meinen Analysen der Verschärfungen des europäischen Migrationsregimes im Widerspruch zu stehen. Sind die Verschärfungen der nationalstaatlichen und EU-europäischen Migrationspolitiken, wie ich sie im dritten Kapitel dargestellt habe, doch nicht so durchgreifend wie die regelmäßigen Presseerklärungen, illegale Migration bekämpfen zu wollen, suggerieren? Oder sind die MigrantInnen kreative ÜberlebenskünstlerInnen, die die Abwehrmaßnahmen geschickt zu umgehen wissen? In der bisherigen sozialwissenschaftlichen und politischen Migrationsdebatte in Deutschland werden beide Fragestellungen meist in unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen verhandelt, wobei die einen den repressiven Charakter der Migrationspolitiken hervorheben und die anderen die kreativen transnationalen Taktiken der Migration erforschen. Beide Themenfelder sind jedoch, so meine These, aufs engste miteinander verknüpft. Daher werde ich abschließend der Frage nachgehen, wie das europäische Migrationsregime und die Transnationalisierung von Migration zusammen gedacht werden können. Eine derartig verschränkte Sichtweise auf den europäischen Migrationsraum wird dabei auch zu einer weiteren Klärung beitragen, wie der europäische Raum für Transnationalisierung beschaffen ist und wie er vergeschlechtlichend wirkt. Transnationalisierung als Effekt staatlicher Migrationsregulation Ethnografische Forschungen, die vielfältige grenzüberschreitende und -unterwandernde Migrationspraktiken aufzeigen, lassen zunächst an der Evidenz des von sozialwissenschaftlichen Analysen und antirassistischen Zusammenhängen konstruierten Bildes der „Festung Europa“ zweifeln (vgl. H. Dietrich 1995). Praxisorientierte empirische Studien, wie diese, zeigen nicht nur die Löcher und den brökkelnden Putz der Festung Europa, sondern auch Lücken in den Theoriekonzepten, die die Reißbrett-Entwürfe aus den Brüsseler-EU-Etagen in die Realität verlängern. Die migrationspolitischen Abwehrmaßnahmen der westeuropäischen Staaten können sicherlich als Versuche interpretiert werden, die Migrationsbewegungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wieder unter Kontrolle zu bekommen und die EU-Raumordnung zu steuern. Doch bleibt man bei dieser strukturellen Beschreibung und einem top-down-view stehen, läuft die Analyse des europäischen Migrationsregimes Gefahr, selbst aus einer Position der Kritik Konzepte von der Kontrollierbarkeit und Abschottung als wahr zu behaupten. Eine derartige Kritik verkennt auch die Wirkungsweisen des europäischen Grenzregimes, wie sie von mir in Bezug auf die Au-pair-Migration skizziert wurden, die eben nicht in der absoluten Schließungsfunktion nationaler Grenzen besteht. Andererseits sind auch die transnationalen Praxen keine bewusst widerständigen Strategien des „Kleinen Mannes“
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gegen die „Globalisierung von Oben“, wie manche Transnationalisierungsansätze nahe legen, indem sie von einem „counter-hegemonic political space“ sprechen (M. Kearney 1991; A. Appadurai 2000; siehe Kritik A. Ong 1999; M. Smith/ L. Guarnizo 1998). Vielmehr sind aus der Perspektive einer transnationalen Kulturanthropologie die nationalstaatlichen bzw. supranationalen Migrationsregulationsversuche und Transnationalisierungsprozesse gerade in ihren Wechselwirkungen zu verstehen. MigrationsforscherInnen mit einer europäischen Perspektive wie Alisdair Rogers, Mirjana Morokvasics, Eleonore Kofmans und Rosemary Sales haben bereits darauf hingewiesen, dass die nationale und transnationale Politik der Europäischen Union seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts als Migrationsregime zwischen Abschottung und „flexiblen Einwanderungsquoten“ zu beschreiben ist. Hierbei werden üblicherweise zwei Mechanismen hervorgehoben: die Selektivität der Einwanderungspolitik und die Prekärisierung der Migration mit der Einschränkung des Rechts auf Niederlassung. Kofmann und Sales (1998: 387) fassen diese Politik folgendermaßen zusammen: „European states promoted greater selectivity in the skills and the geographical origin of potential immigrants. New forms of labour migration have been introduced which seek to retain the economic benefits of migrant labour while divesting itself of its social cost‘ (…). A common feature has been the casualization of labour contracts with the removal of permanent rights of residence and the reduction in social rights (…).“
Diese Analyse widerspricht dem öffentlich reproduzierten Bild in Deutschland, der Anwerbestopp der Arbeitsmigration in den 60er Jahren sei das Ende der offiziellen Arbeitsmigration gewesen. Jedoch werden auch in dieser Analyse wesentliche Mechanismen des neuen europäischen Migrationsregimes übersehen, welche schon in der zugelassenen, zeitlich befristeten Arbeitsmigration eingeschrieben sind und vielfältige Effekte hervorbringen. So forciert die Reduktion auf Kurzaufenthalte eine Temporalisierung von Migration. Hierdurch wird Migration jedoch nicht verhindert, sondern vielmehr flexibilisiert, etwa indem auf die zeitliche Befristung von Arbeit und Aufenthalt mit Ausweichen auf andere Länder und mit dokumentierten oder undokumentierten Nachfolgestrategien reagiert wird, was eine erhöhte transnationale Mobilität von den AkteurInnen voraussetzt und bedingt. Zudem wurde in dem vorausgehenden Abschnitten deutlich, dass die Verschärfung der EU-europäischen Migrationspolitiken auf eine weitgehende Illegalisierung von Migration hinausläuft, nachdem das Gros in den offiziellen Einwanderungsformaten keinen Platz findet bzw. noch einen Platz sucht, was auch Morokvasic (1993: 249) bei vielen osteuropäischen PendlerInnen feststellen konnte. So werden Migrantinnen wie Tanya, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren wollen, auf undokumentierte Wege abgedrängt und auf verkleidete Migrationsstrategien wie das Touristenvisum verwiesen, die wiederum Strategien und Kulturen der Mobilität nach sich ziehen (vgl. auch A. Rogers 2001: 14 f.; N. Cyrus 1997). In diesem Sinne treiben die Verschärfungspolitiken, insbesondere die von der Europäischen Union betriebene Migrationspolitik der Militarisierung und Ausdehnung der Grenzen in den Raum hinein, den Preis der Migration physisch, psychisch und materiell in die Höhe. Dies wirkt auf die soziale Zusammensetzung der MigrantInnengruppen zurück. Um überhaupt eine Migration ins Auge fassen zu können und
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im ersehnten Land anzukommen, wird soziales, ökonomisches und Wissens-Kapital zur unabdingbaren Voraussetzung. 150 Trotz der mit der Migration verbundenen sozialen und rechtlichen Prekärisierung und trotz des hohen Risikos beispielsweise gefasst zu werden, halten beide Konsequenzen der restriktiven Einwanderungspolitiken – Temporalisierung und Illegalisierung – MigrantInnen jedoch nicht ab. Sie führen vielmehr zu einer erhöhten Mobilität, zu beständigem „border-crossing“ und gerade zu transnationalen Lebensweisen über die Grenzen hinweg. In diesem Sinne ist die permanente Transmigration als Effekt des EU-europäische Grenzregimes zu lesen. Sie steht nicht außerhalb des europäischen Migrationsregimes und bildet auch nicht dessen Gegenpart, sondern ist Teil desselben. Dabei ist sie nicht identisch mit ihm. Sie geht nie gänzlich in der Reaktion auf, sondern ist bestimmt durch Eigenlogiken wie der taktischen Nutzung von Au-pair als Qualifizierungsstrategie und alltagskontextuelle Motivationen wie dem Ausweichen von rigiden lokalen Genderregimen. Dies verweist auf eine nicht zu unterbindende „Autonomie der Migration“, womit Yann Moulier Boutang (2002), Dozent für Ökonomie in Paris, gegenüber der klassischen soziologische Migrationsforschung den Akteursstatus von MigrantInnen und das Moment ihrer Unkontrollierbarkeit betont: „Die Autonomie der Migration zeigt sich in ihrer Selbstständigkeit gegenüber politischen Maßnahmen, die darauf zielen, sie zu kontrollieren. Migration unter dem Gesichtspunkt ihrer Autonomie zu betrachten, bedeutet, die sozialen und subjektiven Dimensionen der Migrationsbewegungen zu betonen.“
In den migrantischen Netzwerken wird Wissen darüber akkumuliert, wie Arbeiten und Leben an mehreren Orten organisiert oder wie nationale und EU-europäische Grenzen unterwandert werden können. Zudem dokumentieren die Erzählungen der Au-pairs, dass die Akteurinnen selbst die illegalisierten Praktiken als Ergebnis der verschärften Migrationspolitik deuten und nicht ihre Praxis, sondern die Migrationspolitik als illegitim beurteilen. Dabei steigt sowohl im materiellem wie auch im sozialem Sinne ihr Angewiesensein auf Netzwerke und Migrationsagenturen, die das Leben ohne Papiere organisieren. In der wachsenden Bedeutung der meist ethnisch-national organisierten Netzwerke für die europäische Migration sieht Alisdair Rogers denn auch eine wesentliche Gemeinsamkeit mit amerikanischen transnationalen Migrationsmustern ( A. Rogers 2001: 10). Andererseits stellen die wiederholten Regularisierungen des US-amerikanischen Staates eine andere Perspektive hinsichtlich einer Verstetigung des Aufenthalts als Basis für dauerhafte transnationale Lebensentwürfe dar. Dagegen ist das deutsche Migrationsregime, das bislang keine breite Legalisierung vorgenommen hat, ein Mobilisierungsmotor par excellence. Die Verunmöglichung einer Verstetigung und Verrechtlichung des Aufenthalts hält MigrantInnen auf „trapp“ bzw. lässt sie auf andere europäische Länder ausweichen.
150 Die militarisierten Außengrenzen der Europäischen Union zu überschreiten, wird auch immer mehr zu einem lebensgefährlichen Unterfangen. So ergeben die Recherchen der antirassistischen Initiative in Berlin, veröffentlicht unter “Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen”, dass im Zeitraum 1.1.1993 bis 31.12.2001 130 Flüchtlinge auf dem Weg in die Bundesrepublik oder an der Grenze starben, allein 100 an der deutschen Ost-Grenze; 334 Flüchtlinge beim Grenzübertritt Verletzungen erlitten, davon 209 an der deutschen Ost-Grenze (vgl. ARI 2001)
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Wie eine Gegenüberstellung der ethnografischen Forschungen des Trios um Linda Bash, von Ruba Salih in Italien und Bridget Anderson in Großbritannien zeigt, lassen sich jedoch verschiedene Wirkungsverhältnisse diagnostizieren und Migrationspolitiken hinsichtlich ihrer (un)intendierten bzw. strategisch-bewussten Hervorbringung transnationaler Existenzweisen unterscheiden. Eine ganze Reihe von Sendeländern, wie beispielsweise Polen, praktizieren mittlerweile eine dezidiert auf transnationale Citizenship hin ausgerichtete Politik gegenüber ihren MigrantInnen. Sie unterstützen durch die Gewährung einer doppelten Staatsbürgerschaft, staatliche Einrichtungen und Vergünstigungen z.B. im Versicherungswesen oder Erbschaftsrecht mehrortige Lebensweisen und transnationale Subjekte. Diese neuen transstaatlichen Konzepte von Herkunftsländern nennt das Trio um Linda Bash „deterritorialized nation-states“ (1997: 124) und Aihwa Ong spricht von „transterritorialized nation-states“ (1999: 8-15). Dagegen scheint die Politik von Einreiseländern gerade in ihrer größtenteils unintendierten Hervorbringung von transnationalen Räumen zu bestehen, wobei sich auch hierbei verschiedene Wirkungsweisen beschreiben lassen. Bridget Anderson’s Untersuchung über den Zusammenhang von staatlicher Legalisierungspolitik in Groß Britannien und der Praktizierung transnationaler Räume durch migrantische Hausarbeiterinnen von den Philippinen macht deutlich, dass häufig erst ein legaler Status MigrantInnen ermöglicht, am transnationalen Raum teilzuhaben. Die Studien über nahräumliche transnationale Migrationsformen wie die zwischen ost- und westeuropäischen oder nordafrikanisch-südeuropäischen Ländern zeigen einen entgegengesetzten Zusammenhang auf, der auf eine zunehmende Entrechtlichungsund Verschärfungspolitik zurückzuführen ist. So demonstriert Bridget Anderson, dass der frühere undokumentierte Status der philippinischen Hausarbeiterinnen ihren Bewegungsradius stark auf private Sphären im Zielland reduzierte, welche auch einen Schutz vor Kontrollen boten. Transnationale Beziehungen beschränkten sich ihr zufolge in dieser Zeit auf virtuelle bzw. kommunikative Kontakte und imaginäres Brückenbauen. Erst nachdem sie einen rechtlich abgesicherten Status zuerkannt bekamen, der das Recht auf Rückkehr einschloss, konnten die Hausarbeiterinnen daran denken und konkret daran gehen, sich transnational zu bewegen (vgl. B. Anderson 2001: 22 ff.). Ruba Salih wiederum arbeitet in Übereinstimmung mit den Ergebnissen von Linda Bash u.a. sowie Mirjana Morokvasic heraus, dass die politische, ökonomische und soziale Unsicherheiten im italienischen Migrationskontext – z.B. durch schnelle Veränderungen der Ausländerpolitik, der Aberkennung des legalen Status im Falle von Arbeitslosigkeit, und die alltagsweltlichen Diskriminierungserfahrungen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt – die marokkanischen MigrantInnen dazu veranlasste, ihren Lebenszusammenhang im Herkunftsland aufrecht zu halten bzw. ihn wieder dorthin auszudehnen. Dabei kann sie auch zeigen, wie sich die Schwerpunktsetzungen entlang des transnationalen Kontinuums über die Zeit hinweg aufgrund unterschiedlicher biografischer und familiärer Notwendigkeiten verlagerten und welche durchaus anstrengenden Strategien dies von den AkteurInnen verlangte, beide Kontexte sozial aufrecht zu halten (vgl. R. Salih 2000: 84 ff.). Für Ruba Salih sind transnationale Praxen in Anlehnung an Bash, Glick Schiller und Santoz Blanc auch als symbolische und materielle Optimierungsstrategien knapper und unsicherer Ressourcen zu verstehen, aber auch als sozial-kulturelle Versuche, ange-
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sichts der Verunsicherungen eine Subjektposition und Identität zu konstruieren (vgl. ebd.: 85). Sie weist auch auf die Doppelbödigkeit von und Ambivalenzen zwischen kreativer Taktik und Reaktion hin (ebd.: 87 f.): „While, on the one hand, transnational practices may represent a challenge and constitute creative reactions to nation-states assimilationist tendencies, more often transnational movements are contingent upon migrant womens’ vulnerability which derives from the transformation of the global economy but are also inscribed in specific cultural and normative constraints.“
Ich würde jedoch noch einen Schritt weiter gehen und am vorliegenden Beispiel transnationale Praxen auf die fast vollständige Illegalisierung der Einwanderung, die Verweigerung eines rechtlichen Status und damit die Verunmöglichung einer zukunftsfähigen Subjektkonstitution zurückführen. Die auf Temporalität setzende und illegalisierende Migrationspolitik seit dem Ende des Arbeitsmigrationssystems der „Gastarbeit“ zwingt MigrantInnen dazu, ihren Herkunftskontext nicht völlig aufzugeben. Vielmehr steigt bei undokumentierter Einwanderung die Angewiesenheit auf eine einigermaßen verlässliche sozial-kulturelle Reproduktionsbasis im Herkunftslands wie etwa im Krankheitsfall und im Alter – oder wie es Magdalenas Migrationsverlauf zeigt, als Rückzugsbasis, wenn alle Stricke im Migrationskontext reißen. Die Pendelmigration baut gänzlich darauf auf. In diesem Fall erscheinen die transnationalen Praktiken jedoch als kontrafaktisches Resultat einer Migrationspolitik, die vorgibt, sie unterbinden zu wollen (vgl. auch Miera 1997, 239 ff.). Doch auch hier findet die Transnationalisierung von Migration nicht jenseits nationalstaatlicher Kontroll- und Regulationsansätze statt. Vielmehr drückt sich in ihr gerade die fortgesetzte nationalstaatliche Souveränität aus, den nationalen sozialen Raum und seine Bevölkerung juridisch, sozial und kulturell zu erfassen. Gerade dieser Kontrollanspruch führt zu seiner trans-nationalen Unterwanderung und zum teilweisen „Verlust“ der Souveränität, indem die transnationalen Existenzweisen über ihn hinausweisen und neue post-nationale alltagskulturelle Lebenszusammenhänge hervorbringen. Auf der Ebene von Citizenship bleiben die transnationalen Lebensweisen gleichwohl ausgegrenzt. In dieser Ambivalenz von weiterbestehender und gleichzeitig durch die transnationalen Migrationsstrategien unterwanderter staatlicher Souveränität liegt auch die weitere Herausforderung für eine Konkretisierung des Konzepts „transnationaler sozialer Raum“. Dafür halte ich es für notwendig, das Konzept des transnationalen sozialen Raums, wie es das Trio um Linda Bash und Ludger Pries entworfen haben, mit einer Analysen des europäischen Grenzregimes und der nationalstaatlichen Strukturierungen zu verknüpfen. Denn transnationale Räume bilden sich, wie aufgezeigt, nicht „komplementär zu bzw. jenseits von staatlichen Organisationsformen heraus“, wie es Michael Bommes (2002, 92) dem Transnationalisierungsparadigma entgegenhält. Sie sind daher auch nicht als „Negation des nationalstaatlichen Bezugsrahmens“ zu verstehen. Auch wenn seiner Kritik am Transnationalisierungsansatz aufgrund der fälschlicherweise unterstellten Prämisse, der Ansatz würde von einem Souveränitätsverlust des Nationalstaats ausgehen (ebd., 91), nicht in allen Punkten zuzustimmen ist, ist jedoch seine Problemstellung dahingehend aufzunehmen, wie in das Konzept des transnationalen Raumes wieder soziale Strukturierungsbegriffe eingezogen werden können.151 Dabei kann es sich meines Erachtens 151 So kritisiert er, dass das Konzept der „transnationalen Räume“, in Reaktion auf das offensichtlich
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jedoch nicht mehr länger um eine nationalstaatliche Perspektive handeln, da sich, wie gezeigt, die Regulationsweisen des Sozialen wie die Migrationspolitik im Zusammenhang mit der Formierung der Europäischen Union selbst längst supranationalisiert haben. Die Produktivität des Grenzregimes: Feminisierte transnationale Räume Bislang habe ich argumentiert, dass das europäische Migrationsregime Migrationen nicht verhindert, sondern Effekte zeitigt, die permanente „cross-bordermovements“ forcieren und als Katalysator für transnationale Lebensweisen zu verstehen sind. Dabei habe ich bislang vorsichtig davon gesprochen, dass es auf den ersten Blick so scheint, als seien die transnationalen Strategien als sein „kontrafaktisches Produkt“ zu deuten. Im Folgenden möchte ich noch einen Schritt weitergehen und die Frage aufwerfen, ob die in Folge der weitgehenden Illegalisierung der Migrationen entstehenden transnationalen Räume nicht doch als neuer Modus globalisierter Regulation für die sich herausbildende europäische Raumordnung zu verstehen sind. Denn auch wenn das europäische Migrationsregime Migrationen nicht verhindert, ist es gleichwohl nicht als ineffektiv zu bewerten. Wie wir auch an den Migrationsverläufen der Au-pairs sehen konnten, ist es äußerst produktiv, die Bevölkerungen zu hierarchisieren und Migrierenden unterschiedliche Pfade und Rechte bis zur „Illegalität“ zuzuweisen. So schreibt auch der US-amerikanische Kulturanthropologe Michael Kearney (1991: 58) über die Wirkweise der aufgerüstetsten Grenze der Welt, die auch Vorbildcharakter für die Festung Europa hat: „Rhetoric aside, and as noted above, the de facto immigration policy of the unitedstatesian government is not to make the U.S.-Mexican border impermeable to the passage of ‚illegal‘ entrants, but rather to regulate their flow, while at the same time maintaining the official distinctions between (...) kinds of people, that is to constitute classes of peoples.”
So schaffen es MigrantInnen wie Tanya und viele der anderen Frauen, die ich während meiner zweijährigen Forschung traf, nach Ablauf der Visumszeit immer wieder, die Grenzhürden zu überwinden, doch zwingt sie das in der Grenze institutionalisierte und mit ihr ausagierte Ordnungsraster dazu, sich zu definieren und, auch wenn nur taktisch, sich dennoch die offizielle „Identität“ einer Touristin zu zulegen. Die vom Grenzregime abverlangte Statuszuschreibung als Saisonarbeiterin, Au-pair, Touristin oder „Illegale“ bestimmt bzw. verunmöglicht selbst bei taktischer Nutzung während des gesamten Aufenthalts Wege und rechtliche, soziale, politische und ökonomische Handlungsoptionen, kulturelle Strategien und Subjektentwürfe (vgl. R. Salih 2000: 77). In diesem Sinne sieht auch Michael Kearney (1991: 58) die wesentliche Wirkungskraft der US-amerikanischen Grenze darin bestehen: „It is this border area that identities are assigned and taken, withheld and rejected. The state seeks the monopoly on the power to assign identities to those who enter this space.“ beschränkte territoriale Grenzziehungsvermögens des Nationalstaats formuliert, nun „Raum“ zur Zentralkategorie zur Beschreibung sozialer Grenzziehung erhebe: „Es tritt an die Stelle des verworfenen Gesellschaftsbegriffs, ohne ihn strukturtheoretisch ersetzen zu können“ (vgl. M. Bommes 2002: 94 f.).
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Bridget Anderson weist dabei auf eine Ambivalenz des neuen Migrationsregimes hin, welche vor allem mit der forcierten Illegalisierung der Migration einhergehe. So werde die staatliche Macht über den geographischen Raum durch die praktizierten transnationalen Strategien in der Tat begrenzt, jedoch sei sie über den Zugang zum nationalstaatlichen sozialen Raum weiterhin groß: „The more migration is illegalised, the less controll the state has, (...) but the state does controll citizenship and legal presence“ (B. Anderson 2001: 8). Die Migrationsverläufe der TouristenmigrantInnen und pendelnden ArbeiterInnen zeigen dann auch, dass vor allem die Illegalisierung ein bedeutender Faktor der Strukturierung ihres Verhältnisses zum Markt, der Gesellschaft und sich selbst darstellt. Ohne Papiere sind Migranten und Migrantinnen vor allem auf private, unregulierte und informalisierte Segmente des Dienstleistungssektors und anderer Wirtschaftszweige angewiesen. Für Migrantinnen konnten wir sehen, dass dies auf dem geschlechtlich und rassistisch hierarchisierten westeuropäischen Arbeitsmärkten vor allem Sexarbeit oder personenbezogene Dienste wie Hausarbeit bedeutet. Insbesondere in der Illegalisierung sehen folglich gendersensible Migrationsforschungen das ausschlaggebende Strukturierungsprinzip weiblicher Migration in die Hausarbeit: Migrantinnen finden vor allem im unregulierten Sektor „Privathaushalt“ ein Auskommen, weil sie illegalisiert ins Land kommen. Andererseits ist der Privathaushalt, den öffentlichen Kontrollblicken weitestgehend entzogen, auch als taktische Nische für undokumentierte Frauen zu verstehen. Dies trifft zudem auf eine große gesellschaftliche Nachfrage nach privatisierten personenbezogenen Dienstleistungen, wobei Au-pair als live-in-Arbeitsverhältnis eine spezifische Lücke des deutschen personenbezogenen Dienstleistungsmarkts ausfüllt, in dem bislang Stunden-Jobs überwiegen. In diesem Sinne produziert das EU-europäische Grenzregime eine weibliche migrantische Arbeitskraft, die eine Unterversorgung mit entsprechenden Dienstleistungsangeboten für Doppelverdienerhaushalte und eine mangelnde Abfederung einer nationalen weiblichen Berufstätigkeit durch die nationale sozialstaatlichen Regulation ausgleicht. Die Gleichzeitigkeit von Unterwanderung und kontinuierlicher staatlicher Regulation über den nationalen sozialen Raums stellt für die theoretische Weiterentwicklung des Konzepts vom „transnationalen sozialen Raum“ einen wichtigen Einspruch dar. In dieser Hinsicht ist der transnationale Raum nicht als lineare Bahn von migrantischen trans-nationalen Interaktionen zu verstehen, sondern als mehrfach verschachtelter Raum aus nationalstaatlich regulierten Feldern und transnationalen (Alltags-)Sphären, was zu einer widersprüchlichen Aufsplitterung von Existenzrechten und Handlungsmöglichkeiten führt. Laut Kearney (1991: 58) ist die Funktion des Grenzregimes im Kontext neoliberaler Globalisierung dann auch vor allem darin zu sehen, zwar die Nachfrage nach niedrig zu entlohnender migrantischer Arbeitskraft für die neuen flexibilisierten Produktions- und Arbeitsverhältnissen zu decken, die soziale und kulturelle Reproduktion der Menschen aber vor der Grenze zu halten: „The task of effective immigration policy is to separate labor from the jural person within which it is embodied, that is, to disembody the labor from the migrant worker.“ Die neu entstehende Figur der „transnationalen Mutter- oder Elternschaft“ macht deutlich, dass sich gerade diese Separierung durch das Grenzregime im Transnationalisierungszeitalter verschärft:
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„Namely the separation of the site of the purchase and expenditure of labor from the sites of its reproduction, such the locus of production and reproduction lies in two different national spaces“ (ebd.: 59). Auch wenn diese Analyse ihrerseits wieder die vielfältigen Strategien unterschlägt, mit denen MigrantInnen versuchen, ihre soziale Reproduktion in der Illegalität – insbesondere über die Aktivierung von Netzwerken – zu organisieren, zeigen die Migrationsverläufe der Au-pair-Frauen doch, dass ihnen dies im Migrationskontext tatsächlich nur partiell und nur mit erheblicher Kraftanstrengung und Wendigkeit gelingt. Ihr soziales Leben ist fragil und unsicher. Dieser Modus des Grenzregimes, die soziale Reproduktion auszulagern und zu transnationalisieren, verweist auf die Produktivität des transnationalen Raums für Kapital und Politik der westlichen Länder. Auch für die osteuropäischen Transformationsländer und Länder des Südens schafft die Transnationalisierung von Existenzweisen ein Surplus. Denn solcherart lässt sich nicht nur die Arbeitslosenproblematik und damit sozialer Konfliktstoff „outsourcen“. Angesichts ihres hohen Verschuldungsgrades kann man darin auch eine Art entwicklungspolitischer Strategie sehen, die auf den Rücküberweisungen der MigrantInnen aufbaut (vgl. L. Bash u.a. 1997: 134). In diesem Sinne wären transnationale Räume nicht nur als Effekt des EU-europäischen Migrationsregimes verstehbar, sondern sie ließen sich gar als neuer Modus der Zurichtung und Verfügbarkeit einer globalisierten flexiblen Arbeitskraft beschreiben. Zugespitzt formuliert: Gerade dadurch, dass immer mehr MigrantInnen undokumentiert wandern und mehrortige Existenzweisen aufbauen, kann Arbeitskraft den neuen globalisierten Bedingungen entsprechend regiert werden. Betrachtet man diese Konstitutionsbedingungen transnationaler Räume zwischen Ost- und Westeuropa, wobei auch die Lebensverhältnisse in den osteuropäischen Transformationsländern mit zu berücksichtigen sind, dann wird der Faktor der „Flexibilität“ zu einer zentralen Beobachtungsperspektive. Wie im zweiten Kapitel gezeigt, erfordern die sozialen und ökonomischen Verhältnisse unter dem Transformationsregime in der Slowakei hohe familiäre und individuelle Kompetenzen, flexibel und kreativ Arbeit und Auskommen zu finden. Wie ich auch dargestellt habe, sind Frauen hierzu besonders gefordert. Auch das europäische Migrationregime setzt flexible und mobile AkteurInnen voraus und produziert sie in einem fort. Es verlangt nicht nur Spontanität, Kreativität, Durchhaltewillen und Flexibilität, die Nischen im Immigrationskontext zu finden und sich darin zu bewegen. Es generiert darüber hinaus einen transnational bis transeuropäisch flexibilisierten Umgang und Bezugnahme auf Raum. Auf Dauer gestellte Verortungsversuche werden unter diesen Bedingungen für einen großen Teil der neuen MigrantInnen zu einem mühevollen Unterfangen. Auch erschwert es eine Zukunftsplanung, was sich auch in Formulierungen der Au-pair-Frauen ausdrückt wie: „Soweit im voraus kann ich nicht denken.“ Dies schränkt das soziale Spektrum von Migrierenden, die derartige Migrationsformen praktizieren können, erheblich ein. Das Phänomen von singelmigration-projects, von allein migrierenden Menschen ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen, die dennoch zuhause Familien haben. In diesem Sinne sind die jungen Au-pair-Frauen nach Beendigung ihrer Schullaufbahn und vor dem Einstieg in eine Familiengründung prädestinierte migrantische Akteure. Damit geraten je-
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doch auch die Selbstbehauptungsstrategien der Frauen in ein anderes Licht, ihre Migration fortsetzen zu wollen, weil sie „noch jung sind und die Welt sehen wollen“. Gerade diese Konstitution entpuppt sich als Voraussetzung, mit dem europäischen Migrationsregime Schritt halten zu können. Dies zusammengenommen mündet in höchst feminisierte transnationale Räume. Ausblicke: Mit oder ohne Papiere... Neben der Verschränktheit der transnationalen Räume mit nationalstaatlichen und europäischen Regulationsversuchen des Sozialen zeigt meine ethnografische begleitende Forschung, dass eine Ausdifferenzierung der Koordinaten und Perspektiven auf die Konstitution transnationaler Räume notwendig ist. Ihre Analyse muss Alltags-, Mikro- und Biopolitiken aus dem Herkunfts- und Zielkontext unter einer gendersensiblen Perspektive umfassen, wie meine Untersuchung der vergeschlechtlichten Motivspektren sowie der Arbeits- und Lebensverhältnisse im Herkunftsund Zielkontexte demonstriert. Nur so ist die Ambivalenz von Ausbeutung und Selbstermächtigung verstehbar, die die transnationale Existenzweise der Au-pairFrauen kennzeichnet. Auch die „Alltagsakteure“ auf Seiten der Mehrheitsgesellschaften, die die Wirkmächtigkeit des Grenzregimes bis in die kleinsten, intimsten Alltagsbereiche der MigrantInnen hinein verlängern, kommen nur so in das Blickfeld der Forschung. Vor allem am Arbeitsplatz mitwohnende Hausarbeiterinnen wie die Au-pairs erfahren den verlängerten Arm des Grenzregimes in der den Arbeitgeberfamilien zugestandenen Machtfülle nicht nur über ihr Arbeitsvermögen, sondern auch über ihre Privatsphäre und Subjektkonstitution. So erzwingt die Struktur der Versorgungsarbeiten und die innerhäusliche Arbeitsteilung, wie sie die Arbeitgeberfamilien implementierten, nicht nur die Performanz einer spezifisch feminisierten geschlechtlichen Identität, was zum Beispiel in der Inszenierung vieler Au-pairs als wahre und bessere Mütter zum Ausdruck kommt. Auch zeigt meine ethnografische Analyse der Interaktionsmuster am Arbeitsplatz Privathaushalt, dass der transnationale Handlungsradius der Au-pair-Migrantinnen von der Nutzung von Kommunikationsmedien, über Ausgeherlaubnisse bis in die intimsten Bereiche von Körperpraktiken und Sexualität der Kontrolle der ArbeitgeberInnen unterliegt. So ist der transnationale Raum selbst auf alltagsweltlicher Ebene ein umkämpftes Terrain, wobei konkrete Handlungsspielräume gerade hier ausgehandelt werden. Wie dargestellt, entwickelten die Migrantinnen allerdings Strategien, sich in diesem vermachteten Terrain zu bewegen und ihm einen Überschuss an realisierbarem Glück abzuringen. Nachdem die von den meisten Au-pairs anfänglich an den Tag gelegte Strategie scheiterte, sich über die erniedrigende Zuweisung als „Dienerin“ hinwegzusetzen, indem sie sich als gleichberechtigtes „Mitglied der Familie“ verstanden sehen wollten, suchten jedoch nur wenige die direkte Konfrontation mit ihren ArbeitgeberInnen. Vielmehr verliefen die widerständigen Praktiken der Aupairs überwiegend nach dem Muster des „Ausweichens“, indem sie die Familien so schnell wie möglich nach Arbeitsschluss verließen und sich in ihre Freundeskreise begaben, im Konfliktfall die Familie wechselten oder sogar ins Herkunftsland zurückkehrten. Viele transnationale Migrationsstrategien sind in diesem Sinne als Ausweichmanöver zu deuten. Die Strategie des „Ausweichens“ trägt hierbei ihrer
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marginalisierten Position Rechnung, die sie angesichts des kaum formulierten Aupair Regelwerks und angesichts der ihnen als Migrantinnen entsagten sozialen und ökonomischen Rechte haben. Hierbei ist jedoch der Besonderheit der live-in-Hausarbeitsverhältnisse Rechnung zu tragen, dass sich insbesondere für osteuropäische Migrantinnen die Bedeutungen und Funktionen der privaten und öffentlichen Sphäre nahezu ins Gegenteil verkehren: Während der Arbeitsplatz „Privatsphäre“ sich als ein durch die ArbeitgeberInnen weitgehend fremdbestimmtes Terrain darstellt, wird die öffentliche Sphäre, so unsicher sie auch ist, zum „Freiraum“. Gängige Bezeichnungen von MigrantInnen ohne Papiere als „Schattenmenschen“, die den öffentlichen Raum aufgrund häufiger Kontrollen als Gefahrenzone für illegalisierte MigrantInnen stilisieren, übersehen diese Umdrehung der Verhältnisse. Doch gerade die positiven Erfahrungen im öffentlichen Raum ließen die Frauen die einengenden Verhältnisse in den Haushalten der Gastfamilien überschreiben. In diesem Sinne greift eine Skandalisierungsperspektive dieser Arbeits- und Lebensverhältnisse zu kurz, wie sie in der jüngsten öffentliche Debatte um die Veränderungen der Institution „Au-pair“ und um bezahlte Hausarbeit überwiegend eingenommen wird. So bleiben all jene Diskursansätze, die striktere Kontrollen der Institution Au-pair wie insgesamt des Arbeitsplatzes „Haushalt“ fordern, nicht nur eine Antwort auf die in dieser Forschung skizzierte Perspektive schuldig, dass angesichts des EU-europäischen Migrationsregimes und der rassistischen Stratifikation des Arbeitsmarkts Frauen ohne Papiere hier wenigstens ein mageres Auskommen finden. Regulierungsansätze – auch jene, die den Arbeitsplatz Haushalt aus seiner Informalität herausholen und ihn als Lohnarbeitsplatz normalisieren wollen – müssen sich daher der Frage stellen, welche Konsequenzen dies für das Gros der undokumentierten Hausarbeiterinnen hat. Ebenso nehmen derartige Regulierungsversuche als auch weitergehende Forderungen nach offiziellen Einreisemöglichkeiten für Hausarbeiterinnen im Sinne von Green-Cards – die immer kontingentiert sein werden – nicht die Autonomie der Migration und ihre letztinstanzliche Unkontrollierbarkeit zur Kenntnis, welche sich, wie meine Forschung zeigt, auch auf der Ebene der informellen Strategien der deutschen Haushalte wiederfinden lässt. Die Skandalisierungsperspektive argumentiert darüber hinaus über die Köpfe der Arbeiterinnen hinweg, als dass sie sie auch auf der Ebene der Repräsentation in dem ihnen zugewiesenen Opferstatus zum Schweigen bringt. Damit möchte ich nicht sagen, dass alles beim Alten bleiben soll. Vielmehr zeigen die Dilemmata der Regulierungsansätze, dass die Perspektive der Migration einzunehmen und der Akteursstatus der Arbeitenden zu stärken ist, indem man an ihren vielfältigen (subversiven) Strategien anknüpft. Dies würde vor allem bedeuten, ihre Sprecherinnenposition am Arbeitsplatz „Privathaushalt“ dadurch zu stärken, dass sie – ganz egal ob sie Aufenthaltsund Arbeitserlaubnisse besitzen – mit den gleichen Rechte ausgestattet werden, wie sie in anderen Lohnarbeitsverhältnissen selbstverständlich sind. Das Phänomen migrantischer bezahlter Hausarbeit zeigt ferner, dass nicht nur MigrantInnen transnationale Räume über ihre Migrationsstrategien aufspannen, sondern die sesshafte Mehrheitsbevölkerung selbst darin involviert ist und sie mit ihren Alltagspraktiken mitproduzieren. Dies macht es jedoch vordringlich, die Forschungsperspektive des Transnationalisierungsparadigmas auch auf die Mehrheits-
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bevölkerungen zu richten und hiesige Umstrukturierungsprozesse auch unter diesem Fokus zu analysieren. So ließen sich die Subjektpositionen im Rahmen des neoliberalen Arbeitsregimes, welches weibliche Erwerbsarbeit zunehmend fordert als auch fördert, nicht mehr lösgelost erforschen von deren Kehrseite, nämlich der Ethnisierung der Versorgungsarbeiten und der Etablierung einer neuen internationalen Teilung der Reproduktionsarbeit. In diesem Sinne gehören die Figur der erwerbstätigen Mittelschichtsfrau, die aus Liebe zur Erwerbsarbeit auch die Privatsphäre nach Rationalitätsgesichtspunkten zu managen beginnt, und die Figur der migrantischen Hausarbeiterin als deren notwendige Unterstützungsstruktur im transnationalen Raum zusammen. Sie stehen für einen neuen globalisierten Regulationsmodus auch der Privatsphäre, der die Frage nach einer geschlechtergerechten Um- und Neuverteilung von Erwerbs- und Versorgungsarbeiten durch die feminisierte Ethnisierung der Letzteren umgeht. In diesem Sinne könnte man auch hier von einer Transnationalisierung sozialen, intergeschlechtlichen Konfliktpotentials sprechen. Angesichts dieser transnationalen Restrukturierungen und Alltagspraktiken, die in zunehmendem Maße Citizenship-Rights von der Staatsbürgerschaft entkoppeln, sind neue postnationale Modelle zu entwickeln, die der Multiplizierung von Lebensorten Rechnung tragen und Rechte nicht an den Herkunfts-, sondern an den jeweiligen Lebensort knüpfen. Statt die Transnationalisierung als Abweichung von der in der Moderne herausgebildeten Normierung eines ortsansessigen Lebens zu skandalisieren, sollte ihrer Entrechtung entgegengewirkt werden. In diesem Sinne steht eine neue Runde von sozialen Kämpfen an, wobei die transnationalen Räume zu prädestinierten Austragungssphären werden, da sie die Spitze des Eisbergs postnationaler Lebensverhältnisse darstellen, in denen Ausbeutung und Selbstermächtigung nah beieinander liegen.
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