UTB 2145
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UTB 2145
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Wilhelm Fink Verlag München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Paul Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Hüthig Fachverlage Heidelberg Verlag Leske + Budrich GmbH Opladen Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen Quelle & Meyer Verlag Wiebelsheim Ernst Reinhardt Verlag München und Basel Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen und Zürich WUV Wien
Wolfgang Schmale
Geschichte Frankreichs 16 Karten
Verlag Eugen Ulmer Stuttgart
Wolfgang Schmale (geb. 1956 in Würzburg) ist ordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Geschichte der Universität Wien.
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Schmale, Wolfgang: Geschichte Frankreichs / Wolfgang Schmale. – Stuttgart : Ulmer, 2000 (UTB für Wissenschaft : Uni-Taschenbücher ; 2145) ISBN 3-8252-2145-8 ISBN 3-8001-2747-4
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2000 Eugen Ulmer GmbH & Co. Wollgrasweg 41, 70599 Stuttgart (Hohenheim) Printed in Germany Lektorat: Matthias Alexander Herstellung: Thomas Eisele Satz: Typomedia Satztechnik GmbH, Ostfildern Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 3-8252-2145-8 (UTB) ISBN 3-8001-2747-4 (Ulmer)
Inhaltsverzeichnis
Teil I: Von Vercingetorix bis Clemenceau: Entstehung und Ausformung des Körpers „Frankreich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Abschnitt A: Kulturelle Ursprünge und fundamentale Integrationsprozesse von den Anfängen bis zu Heinrich IV. . . . .
20
1 1.1 1.2 1.3 1.4 2
2.1 2.2 2.3 2.4 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7
Die kulturellen Ursprünge: Von den Kelten bis zu Karl dem Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wann begann die Französische Geschichte? . . . . . . . Die gallo-römische Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die konstruktive Krise des 3. und 4. Jahrhunderts . . . Die Entstehung des merowingischen Gallien . . . . . . Die Bauern als Füße, die Finanzleute als Eingeweide: Die Imagination der Gesellschaft als Körper – Die erste Integration (9. bis 12. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . Herrschaftsgeschichte von Karl d.Gr. bis zu Philipp II. August . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein ,Bodensatz’ kultureller Integration? . . . . . . . . . . Die Gesellschaft im 12. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . Integration durch Imagination: die Vorstellung vom Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
20 20 26 32 36
. . .
44
. . . . . . . . .
44 49 54
. . .
59
Die zweite Integration: Das Werden des französischen Staats (1180 – 1483) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Krondomäne zum Staat: Strategien zur Identifizierung von Sanktions- und Legitimationsbereich . . . . Französisch-französische und französisch-englische Konflikte: der „Hundertjährige Krieg“ . . . . . . . . . . . . Herrschaftssymbolik und Königstheologie . . . . . . . . . Institutionalisierungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . Regieren durch Institutionalisieren . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaftliche Institutionalisierungsprozesse . . . . . . Popularer Widerstand und Adelsligen . . . . . . . . . . . .
. . . . .
. .
66
. .
66
. . . . . .
. 75 . 85 . 88 . 93 . 97 . 100
6
Inhaltsverzeichnis
4
Die dritte Integration: Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühe Anfänge der Nationswerdung: Kulturelle Referenz „Francia“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Generalstände, Repräsentanten der nation . . . . . . . . Die Generalstände von 1484 bis 1614 und die politische Philosophie des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . Widerstandsrecht und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Profile des 16. Jahrhunderts: Demographie, perfekte Monarchie, Protestantismus, Heinrich IV. . . . . .
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
. 106 . 107 . 111 . 116 . 120 . 124
Abschnitt B: Die Politische Zivilisation des Absolutismus: Monarchie – Nation – Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Vorbemerkung zu Abschnitt B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 7 7.1
„Perfekte Monarchie“ und „Theaterstaat“ (1610 – 1776) . Politik und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Absolutismus“ und „perfekte Monarchie“ . . . . . . . . . . Ludwig XIII. und Richelieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ludwig XIV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Krise der Monarchie unter Ludwig XV. und Ludwig XVI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaft, Demographie, Wirtschaft und Geschlechterbeziehungen im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . Die Französische Revolution: Kulturelle Ursprünge und Kulturelle Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einberufung der Generalstände: Basisdemokratisches Experiment? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „vierte Gewalt“: Die öffentliche Meinung . . . . . . . . Radikale Republik, Terreur und bürgerliche Republik (1791 – 1799) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Die Heilige Verfassung, das Evangelium des Tages“: Entchristianisierung und politische Religion . . . . . . . . . Napoleon: Synthese von Revolution und „Absolutismus“ (1799 – 1814) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Französische Revolution und der Körper der Nation .
. . . . .
129 129 131 135 138
. 153 . 162 . 167 . 169 . 173 . 178 . 181 . 185 . 187
Der Neoabsolutismus: Zwischen Monarchie und Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Die konstitutionelle Monarchie als Sicherung der Revolution und die Abwehr der Republik (1814 – 1848) . . 195
Inhaltsverzeichnis
7.2 7.3 7.4 8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
7
Desintegration und Integration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Das Second Empire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Der deutsch-französische Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Die Dritte Republik (1870 – 1918) . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg in die Dritte Republik (1870 – 1879) . . . . . . . Nationalkörper: Dritte Republik und der Centenaire der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krisen und Affären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die radikale Republik (1899 – 1914) . . . . . . . . . . . . . Wirtschaft und Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg . Frankreich und der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . .
. . 227 . . 227 . . . . .
. . . . .
232 235 239 243 248
Teil II: Der schwierige Weg zu einer neuen politischen Zivilisation (1918 – 1944) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Abschnitt A: Von Krieg zu Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8
Politische und nationale Krise (1918 – 1944) . . . . . . . . . . Vom „Bloc national“ zur „Union nationale“ . . . . . . . . . . Die strukturelle Vorbereitung der Volksfrontregierung und des Vichy-Regimes: die 1930er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . Kriegserklärung und Ende der Dritten Republik (1939/40) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gab es 1940 Alternativen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Verfassung“ des État français (1940 – 1944) . . . . . . . Die Kollaboration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Résistance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kriegsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255 255 259 265 267 272 275 278 281
Abschnitt B: Kulturelle Referenzen und interkulturelle Geschichte Frankreichs: (Spätmittelalter bis erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 10
Frankreich und die außereuropäische Welt – Außereuropa in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 10.1 „Die Barbaren müssen in Zukunft die süße Milde der französischen Herrschaft spüren.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 10.2 Die französische Expansion (16. Jahrhundert bis 1931) . . . 286
8
Inhaltsverzeichnis
10.3 Kulturelle Rückwirkungen der Expansion auf Frankreich . 301 10.4 Kolonialismus als kulturelle Referenz in der Bevölkerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 11 Frankreich und Europa vom Mittelalter bis 1945 . . . . . . 11.1 Drei Säulen: Europa als politische Praxis und Idee von Bouvines (1214) bis Dubois (1306) . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Marinis Europa der Nationen und der zwei Geschwindigkeiten (1462/63) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Das Habsburg-Syndrom (1515 – 1715) . . . . . . . . . . . . . 11.4 Vom Renversement des alliances zum Syndrom eines österreichischen Komplotts (1756 – 1792) . . . . . . . . . . . 11.5 Europäische Integration revolutionär und napoleonisch . 11.6 Förderung des Nationsprinzips versus „Vereinigte Staaten von Europa“ (1815 – 1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7 Zwischenkriegszeit: die Briand-Initiative . . . . . . . . . . . 11.8 Zweiter Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
12.1 12.2 12.3 12.4 12.5
. 309 . 309 . 313 . 315 . 321 . 322 . 324 . 328 . 332
Kulturtransfers: England, Vereinigte Staaten von Amerika und Deutschland als kulturelle Referenzen in Frankreich (ca. 1700 – 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verhältnis von außereuropäischen und europäischen kulturellen Referenzen in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . Ein Beispiel: Preußen in Burgund 1784 und 1789 . . . . . . . Die kulturelle Referenz England . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Referenz Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschland in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil III: Der Nationskörper im Netz: Nachkriegsgeschichte 13 Der Weg zu einer neuen politischen Zivilisation (1944/45 bis 1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Libération und Épuration (1944/45) . . . . . . . . . . . . 13.2 Die politische Entwicklung seit 1945 . . . . . . . . . . 13.3 Transformation des Kolonialismus und Entkolonialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Kultur und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.7 Die Europäisierung Frankreichs . . . . . . . . . . . . .
340 340 341 343 345 347
. . . . . 361 . . . . . 362 . . . . . 362 . . . . . 364 . . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
369 372 375 378 381
14 Schlußbetrachtung: Frankreich im interkulturellen Netz . 386 Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Personen-, Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Einleitung
1.
Grundprobleme einer „Geschichte Frankreichs“
Ambivalenz einer „Geschichte Frankreichs“ Nichts erscheint selbstverständlicher, als die Geschichte eines Landes zu schreiben, ja, sie von Zeit zu Zeit, entsprechend dem Fortgang der Forschung, neu zu schreiben. Und dennoch ist dies im Grunde nichts weniger als selbstverständlich. Aus verschiedenen Gründen. Heute, wo für einen Teil Europas die Frage nach dem Ende der Nation und der Nationalgeschichte zu stellen ist, wäre es vielleicht besser, nur noch europäische Geschichte darzustellen. Früher, als sich bestimmte, mentale Grenzen setzende, Rücksichtnahmen aufdrängten, bedurfte es besonderer Begründungen, die Leopold von Ranke anläßlich seiner zwischen 1852 und 1861 verfaßten „Französischen Geschichte“ formulierte. Der allererste Satz des ersten Buches lautet: „Ich wage es, ein Deutscher, das Wort über die französische Geschichte zu ergreifen.“ In diesem Satz schwingt die implizite Anerkenntnis mit, daß die Geschichte eines Landes vielleicht vorrangig eine nationale Angelegenheit sei, eine Einstellung, die dem 19. Jh. anstand, die heute aber keine Daseinsberechtigung mehr hat. Und dennoch ist es nicht ganz leicht, auch heute nicht, eine von einem Deutschen verfaßte Geschichte Frankreichs ins Französische übersetzt zu finden, von der Verwendung als Standardwerk im französischen Schul- und Universitätsbetrieb ganz zu schweigen. Genauer gesagt: ich kenne kein solches Buch. Ohnehin hat seit längerem außer Heinz-Otto Sieburg (Sieburg 1975/1995) kaum ein deutschsprachiger Historiker eine einbändige Geschichte Frankreichs von den Ursprüngen bis Heute verfaßt. Monographien von Einzelautoren umfassen in der Regel „nur“ eine bestimmte Epoche, Gesamtdarstellungen hingegen sind oft mehrbändig und wurden von mehreren Autoren verfaßt wie die Geschichten Frankreichs des Kohlhammer-Verlags oder der Deutschen Verlagsanstalt (s. Bibliographie 1.1). Schon deshalb bedeutet die Tat-
10
Einleitung
sache dieser UTB-Geschichte Frankreichs keine Selbstverständlichkeit. Im übrigen stellt natürlich eine einbändige Geschichte Frankreichs, die dem Wunsch des Verlages entsprechend nur 400 Seiten, nicht aber 500 oder 1000 umfaßt, immer ein Wagnis dar. 400 Seiten würden nicht ausreichen, auch nur in Stichworten all das anzugeben, was in dieser Geschichte auf begrenztem Raum nicht erzählt werden kann! Diese französische Geschichte ist also selektiv, wie freilich jede andere umfangreichere auch, aber die Selektion folgt bestimmten Leitlinien.
Ländergeschichte – Nationalgeschichte Ländergeschichten verstehen sich nach Auffassung des Verfassers grundsätzlich nicht (mehr) von selbst, obwohl deren Produktion in den letzten 20 Jahren allenthalben zugenommen hat. Ländergeschichten zehren vom Nationalgedanken, sie zehren davon, daß die Nationen etwas kulturell und politisch bzw. staatsrechtlich von Anderem und Anderen deutlich Abgegrenztes darstellen, ein Etwas, ein Subjekt, dessen Geschichte geschrieben werden kann. Ländergeschichte als Geschichte der objektiven oder auch, je nach Glauben, subjektiven Verwirklichung eines „nationalen Projekts“ wird sich jedoch nur auf eine sehr begrenzte Epoche beziehen können, denn dieses „nationale Projekt“ reicht im Fall Frankreichs nicht von Vercingetorix bis zu Jacques Chirac, sondern, grob vereinfacht, von Ludwig XIV. über die Französische Revolution bis Charles de Gaulle, jeweils mit Unterbrechungen des „Projekts“. Und auch unter dieser Einschränkung bleibt die Prämisse, daß die Geschichte eines Landes die Geschichte der Verwirklichung eines nationalen Projekts sei, fragwürdig. Dagegen könnte argumentiert werden, daß gerade in Frankreich die Nationswerdung weit ins Mittelalter zurückreicht und eng mit der Ausbildung von Staatlichkeit verbunden war. Das ist richtig; für die historiographische Darstellung folgt daraus, daß „Nation“ und „Nationalstaat“ nicht als Darstellungskategorien vorausgesetzt werden dürfen, sondern vielmehr entsprechend den historischen Prozessen am richtigen chronologischen Ort eingeführt werden müssen. Sie dürfen nie als pure Selbstverständlichkeit hingenommen werden. Der erste Abschnitt des ersten Kapitels fragt deshalb auch nach dem „Beginn der französischen Geschichte“ (Kapitel 1.1).
Einleitung
11
Nation: Körper – Gedächtnis Freilich würde der nicht genau bestimmbaren Zukunft vorausgegriffen, wollte man tatsächlich an der Schwelle zum 21. Jh. das Ende der Nationen und der Nationalgeschichte in (West)Europa verkünden. Nationen bilden auch in diesem Raum weiterhin eine vorstellungsweltliche Realität. Würden wir aufgefordert, aus dem Kopf Frankreich zu zeichnen, so würden wir wahrscheinlich annähernd jenes berühmte Hexagon – das keines ist – zu Papier bringen, außerdem Korsika und irgendwie die DOM-TOM (Départements bzw. Territoires d’outre mer) hinzusetzen. Das Hexagon in unserem Kopf bezeichnet den Nationalstaat Frankreich, die DOM-TOM die Erinnerung an Kolonialismus und Imperialismus, den die Nationalstaaten betrieben, Korsika symbolisiert den Widerstreit zwischen dem Herrschafts- und Besitzanspruch des Nationalstaats einerseits und den Forderungen von Minderheiten, die sich als eigenständige Ethnie, wenn nicht Nation, verstehen. Die Konstituenten dieser mental map von Frankreich bestehen folglich aus Zeichen des Nationalen. Wir fahren fort, uns geordnete Vorstellungen dadurch zu verschaffen, daß wir Nationen in der Vorstellung durch leibliche und/oder geographische Körper abbilden. Das Bild des Körpers, heute also in bezug auf das Frankreich der Marianne und des Hexagons, ermöglicht es, Politisches, Kulturelles, Soziales, Technisches, Wirtschaftliches, Wissenschaftliches, Weibliches, Männliches, Landschaftliches, Kunstgeschichtliches usf. mit ein und derselben Hülle, der französischen Nation alias Marianne und Hexagon zu umkleiden. Dieses Verfahren ermöglicht es uns, uns bei uns selbst wie bei Nachbarn oder in unserer Vorstellungswelt zurechtzufinden und zu situieren. Daran kann und sollte eine Geschichte Frankreichs nicht vorbeigehen. Zugleich kann nicht übersehen werden, daß es sich bei diesen Körpervorstellungen im Grunde nur noch um Embleme handelt, die der Synthetisierung komplexer Zusammenhänge dienen, ohne sich selbst tatsächlich noch als Körper zu meinen wie dies im Mittelalter und der Frühen Neuzeit der Fall war. Die „Nation“ der 1990er Jahre, jedenfalls in Teilen Europas, unterscheidet sich deutlich von der der Geschichte bis in die ersten beiden Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Pierre Nora (1986/1997) charakterisiert diese ,neue’ Nation als nation mémoire, als „Gedächtnisnation“. Darauf wird im Schlußkapitel (Kapitel 14) zurückzukommen sein.
12
Einleitung
Nation – Netz Vorstellungsweltliche Ordnungen sind geschichtliche Phänomene, d. h. sie verändern sich mit der Zeit. Neue Bilder drängen sich in diese Vorstellungswelten hinein, die nicht mehr auf der Körpermetapher aufbauen, sondern auf der des Netzes, insbesondere des „InternetNetzes“. Im Internet verschwinden physisch wahrnehmbare Grenzen. Je mehr unsere Wahrnehmungskategorien vom Bild des Netzes geprägt werden, in das man sich hineinbegeben kann, ohne Verletzungen zu verursachen – in einen Nationalkörper wurde hingegen gewaltsam eingedrungen, oder es bedurfte der Akkulturation, der kulturellen Einverleibung, die ihrerseits eine Variante von Gewaltausübung darstellt –, um so mehr wächst der Bedarf nach adäquaten historischen Darstellungen, nach vernetzenden, statt nach abgrenzenden Darstellungen. Wir befinden uns in einer Art Zwischenzeit. Noch ist die Vorstellung vom nationalen Körper nicht verschwunden, noch ist die Vorstellung des Netzes nicht die einzige herrschende. Wir haben es mit Netzen rund um resistente Körperkerne zu tun. Veranschaulichen läßt sich dies mit der gängigen Europaikonographie: Die zwölf Sterne als abstraktes Symbol verweisen für sich nicht mehr auf nationale Körper, sondern eher auf das Bild der Vernetzung, während ihre Applikation auf kartographische Repräsentationen der Nationalstaaten, die die EU bilden, die Tradition des geographisch verdeutlichten Nationalkörpers aufgreift. Aus vorstehenden Erwägungen ergibt sich die Anlage des Buches: Der erste Teil ist der Entstehung und Ausformung des Körpers „Frankreich“ gewidmet (Von Vercingetorix bis Clemenceau: Entstehung und Ausformung des Körpers „Frankreich“), der zweite Teil der Entstehung einer neuen politischen Zivilisation, in der die Grundlagen für die Vernetzung historischer Abläufe im interkulturellen, europäischen, bilateralen, im weltgeschichtlichen Kontext gelegt wurden (Der schwierige Weg zu einer neuen politischen Zivilisation – 1918 bis 1944). Dieser zweite Teil enthält als Abschnitt B mehrere Rückblenden (Abschnitt B: Kulturelle Referenzen und interkulturelle Geschichte Frankreichs: Spätmittelalter bis erste Hälfte des 20. Jahrhunderts). In diesem letzteren Zusammenhang beginnt sich Nationalgeschichte aufzulösen, ein Phänomen, dem aufgrund seiner fundamentalen Bedeutung ein eigener, wenn auch kurzer Teil, gewidmet wurde (Der Nationskörper im Netz: Nachkriegsgeschichte). Das Weitere erbringt die Zukunft – der Historiker ist Historiker und nicht Prophet.
Einleitung
2.
13
Selektionskriterien
„Zeichen“ und „performative Handlungen“ Eine Ländergeschichte muß der allgemeinen Erwartung nach einen allgemeinen Zugang ermöglichen, der bei Bedarf durch Spezialliteratur vertieft werden kann. Aber was ist heute unter „allgemeinem Zugang“ zu verstehen? Was „allgemein“ ist, hängt von den Veränderungen der Orientierungen innerhalb der Geschichtswissenschaft ebenso ab wie von den Verschiebungen im Interesse an unseren Nachbarn. Früher war es gut, die Daten der Dynastien, der Kaiser, Könige und Präsidenten, der Schlachten, in denen die werdenden Nationen ihre Körper chirurgisch formten, sowie die sogenannten Hauptereignisse der Nationalgeschichte und die Nationaldichter zu kennen. Heute, wo wir solche Daten und „Fakten“ nicht mehr als Ausdruck teleologischer, sinnerfüllter historischer Prozesse, z. B. als „gesta Dei per Francos“ verstehen, sondern als ,Zeichen’ (im weitesten Wortsinn) vielfältiger Konstruktionsprozesse, ist es gut zu wissen, wie solche Zeichenbildungen und Konstruktionsprozesse – sei es in Frankreich, sei es anderswo – vonstatten gegangen sind. Ich gehe solchen Zeichenbildungen und Konstruktionsprozessen nach, in denen sich ein später als Nationalkörper verstandenes Frankreich formierte, tue dies jedoch nicht im Sinne des Konzepts einer klassischen politischen Geschichte, an das sich etwa das neuere Gemeinschaftswerk von Schneidmüller, Hinrichs, Haupt und anderen anlehnt (Hinrichs 1994). Ich konzentriere mich auf „performative Handlungen“ und ihre jeweiligen menschlichen und materiell-physischen Wirkungsräume. Ein Beispiel hierfür wäre die Dreiständelehre, wie sie in Frankreich seit dem 9. Jh. entwickelt wurde. Sie bildete nicht so sehr tatsächliche Verhältnisse ab, als daß sie recht heterogene menschliche Verhältnisse vereinfachte und interpretierte und daraus ein Gesellschaftskonzept formte, das schließlich selber die Wirklichkeit transformierte. Die französische Ständelehre stellte eine Art performativer Infrastruktur bereit, deren Wirkung darin bestand, höchst heterogene menschliche Verhältnisse unter sehr heterogenen räumlichen und materiellen Bedingungen vorstellungsweltlich und zunehmend praktisch zu integrieren. Ein Vielzahl performativer Handlungen schloß sich im Lauf der Jahrhunderte an, in denen Wort, Macht, Ikonographie und Medien im Verbund zum Entwurf verschiedener Integrationsbilder eingesetzt wurden. Die letzten in dieser Hinsicht überwiegend erfolgreichen
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Einleitung
Integrationsbilder entwickelte die Dritte Republik, die die Jahrhundertfeier der Französischen Revolution zur Selbststabilisierung intensiv nutzte. Die Zeit des Zweiten Weltkrieges, des Vichy-Regimes, der deutschen Okkupation, der Kollaboration und des Widerstandes hingegen setzte einen tiefen Einschnitt, sie beendete eine politisch-zivilisatorische Epoche. Anders ausgedrückt: Die in diesem Buch angebotene Periodisierung der französischen Geschichte weicht von der üblichen ab, folgt aber einer Tendenz in der Geschichtswissenschaft. Die tradierten Epochengrenzen werden zunehmend kritisch hinterfragt, da sie die Erkenntnis eher hemmen als vorantreiben.
Transnationale wissenschaftliche Kategorien Die im ersten Teil verwendeten wissenschaftlichen Kategorien sind für sich genommen nicht nationalgeschichtlich. Sie sind ebenso auf die deutsche wie die englische oder andere Nationalgeschichten in Europa anzuwenden. Hierin liegt ohne jeden Zweifel ein Stück Europäisierung der National- oder Ländergeschichte, weil das Nationalindividuelle oder Länderindividuelle im notwendigen Maß transnational objektiviert wird. Eine solche Kategorie stellt beispielsweise „Institutionalisierung“ dar (Kapitel 3.4 bis 3.6). Was damit konkret gemeint ist, wird im dritten Kapitel erläutert. Hier genügt der Hinweis, daß die Institutionalisierung von Gerichten, Behörden, aber auch bestimmter Rechtsprinzipien usw. einen fundamentalen Prozeß darstellte, der im wesentlichen schon dem Mittelalter zuzuordnen ist. Die dort gelegten Grundlagen gelten im Grunde bis heute. Das heißt in bezug auf die Inhalte dieser „Geschichte Frankreichs“, daß „Institutionalisierung“ als fundamentaler Prozeß am richtigen chronologischen Ort dargestellt wird, während später nur signifikante Modifizierungen aufgegriffen werden. Es gibt folglich nicht für jede historische Epoche ein eigenes Institutionalisierungskapitel. Sinngemäß gilt das für alle diejenigen historischen Phänomene, die in einer bestimmten Zeit grundgelegt wurden und später nur noch Modifizierungen erfuhren.
Von Ranke zur „interkulturellen Geschichte“ Nach dem Eingeständnis gewisser Skrupel fuhr Ranke in seiner erwähnten „Französischen Geschichte“ fort: „Große Völker und Staaten haben einen doppelten Beruf, einen nationalen und einen welthistorischen, und so bietet auch ihre Geschichte eine zweifache Seite dar. Inwiefern sie ein wesentliches Moment in der allgemeinen Ent-
Einleitung
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wicklung der Menschheit bildet oder in dieselbe beherrschend eingreift, erweckt sie eine weit über die Schranken der Nationalität hinausreichende Wißbegierde und zieht die Aufmerksamkeit und die Studien auch der Nichteingeborenen auf sich.“ Es wäre also die weltgeschichtliche Bedeutung Frankreichs, die damals den Nicht-Franzosen Ranke zur Verfassung einer französischen Geschichte legitimierte. Die Legitimation ist das an der französischen Geschichte, das nicht einfach national war, sondern eben auch andere Nationen mehr oder weniger erheblich und tiefgreifend betraf. Ranke hat einen sicherlich wesentlichen Unterschied benannt: den Unterschied zwischen der nationalen und der internationalen Dimension ein- und derselben Geschichte. Weiter schrieb er dazu: „Vielleicht läßt sich behaupten, daß der vornehmste Unterschied zwischen den griechischen Historikern, welche die Geschichte des alten Roms in der Zeit seiner Blüte und vollen Kraft behandelten, und den römischen selbst eben darin lag, daß jene die welthistorische Seite ergriffen, diese die nationale Aufgabe festhielten und ausbildeten. Der Gegenstand ist derselbe; durch die Gesichtspunkte unterscheiden sich die Schriftsteller, zusammen unterrichten sie die Nachwelt.“ Ranke hatte noch über einen weiteren Unterschied Klarheit gewonnen. Zwar waren ihm „Nation“ und „nationale Geschichte“ eine feste Kategorie, aber er sah zugleich, daß es mit dieser Kategorie alleine nicht getan war. Wir lesen weiter: „Unter den neueren Völkern hat aber keines einen mannigfaltigeren und anhaltenderen Einfluß auf die übrigen ausgeübt als das französische. Man hat wohl sagen hören, die französische Geschichte, wenigstens in den neueren Jahrhunderten, sei schon die Geschichte von Europa. Ich bin weit entfernt, diese Meinung zu teilen. Von den vier anderen großen Nationen der europäischen Kulturwelt umgeben, hat sich die französische gegen die Anregungen, die ihr von diesen kamen, keineswegs verschlossen. Literarische und künstlerische Kultur empfing sie aus Italien; den vornehmsten Begründern der Monarchie des siebzehnten Jahrhunderts stand das Muster von Spanien vor Augen; die Tendenzen der religiösen Reform schlossen sich an Deutschland, die der politischen an das Beispiel von England an.“ Statt so vorsichtig wie Ranke von Muster und Beispiel zu reden, findet sich in der heutigen Forschung ein etwas anderes Vokabular; da ist die Rede von „Kulturtransfer“ und „kultureller Referenz“, es gibt eine sog. „Imagologie“, ich selber benutze den Begriff der „inter-
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Einleitung
kulturellen Geschichte“. Während Ranke die Kategorie des Nationalen nicht in Frage stellte, ermöglicht die interkulturelle Geschichte eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Nationalgeschichte auf einer pragmatischen Ebene. Hinzu tritt heute das Bewußtsein, daß die Nationen und ihre Geschichte intellektuelle Konstruktionen sind, die von älteren Mythen und Stereotypen ihren Ausgang genommen haben. Ein nicht unwesentlicher Teil der aktuellen Geschichtsforschung ist der Dekonstruktion dieser Mythen, Stereotypen und intellektuellen Konstruktionen gewidmet. Die interkulturelle Geschichte geht vom Bild des Netzes aus, in dessen Innern sich freilich weiterhin ein Nationalkörper bzw. eine Gedächtnisnation (Pierre Nora) als Kern befindet. „Interkulturelle Geschichte“ hat als Kategorie besonderen Sinn in bezug auf das „Europa der Nationen“, das Europa nationaler Kulturen, und in bezug auf die Universalgeschichte.
Zum Stellenwert der Nachkriegsgeschichte In den gängigen Überblickswerken zur Geschichte Frankreichs oder zu Einzelproblemen der Geschichte wird in aller Regel der Nachkriegsgeschichte breitester Raum zugestanden. Das ist verständlich, aber letztlich nur schlecht zu begründen. Auch die Nachkriegsgeschichte läßt sich aus der Distanz betrachten und entsprechend raffen; sie steht uns zwar zeitlich näher, wir haben einen Teil davon miterlebt, aber dennoch sollte man sich bemühen, fundamentale Prozesse von eher oberflächlichen Details zu unterscheiden. Wie im ganzen Buch konzentriere ich mich auch bezüglich der Nachkriegsgeschichte auf die fundamentalen Prozesse, die die Geschichte seit 1945 auszeichnen. Ich lasse mich deshalb nicht über jedes einzelne Nachkriegskabinett aus, nicht über jedes einzelne Sozialgesetz und seine Reform nach zehn Monaten Geltung, nicht über jeden Spitznamen, der einem Politiker zugelegt wurde usf. Das mag alles seine Bedeutung haben, aber ein Überblick sollte sich auf Fundamentalprozesse konzentrieren. Der augenblicklich entscheidende Prozeß ist in der Europäisierung Frankreichs zu sehen. Dieser Prozeß ist offen, ist nicht abgeschlossen.
3.
Zur Handhabung des Buches
Zweck des Buches ist es, die Geschichte Frankreichs von den Anfängen bis heute in geraffter und zuverlässiger Form darzustellen, dabei nicht einfach Fakten aneinanderreihend, sondern einem roten
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Faden folgend. Die Kapitel sind chronologisch aufgebaut, wichtige Ereignisse und Personen mit Lebensdaten sind im fortlaufenden Text angegeben. Eine Reihe von Karten hilft, die historischen Entwicklungen zu veranschaulichen. Die Bibliographie bietet weiterführende Überblicks- und Spezialliteratur zur Vertiefung der einzelnen Kapitel und führt eine Reihe gedruckter Quellen auf, die die selbständige Nacharbeit des Textes am zitierten Quellenmaterial erleichtern sollen. Die Bibliographie wurde sehr bewußt kurz gefaßt. Sogenannte „Auswahlbibliographien“ oder „Bibliographische Hinweise“ von 40 bis 80 Seiten Länge wie in den einzelnen Bänden der Geschichte Frankreichs aus der Deutschen Verlagsanstalt sind in einem einbändigen Überblick gewiß fehl am Platz. Der Zwang zu rigoroser Literaturauswahl in der Bibliographie, den eine auf knappen Raum bemessene Ländergeschichte mit sich bringt, sollte unter keinen Umständen als Mißachtung der nicht erwähnten Arbeiten und Namen interpretiert werden. Allein in der deutschsprachigen Forschung ist das Feld „Französische Geschichte“ sehr gut bestellt, die Auswahlbibliographie sollte aber auch englische und französische und einige einschlägige italienische Titel bieten. Über viele Forschungskontroversen, deren sich der Verfasser bewußt ist, mußte im Text hinweggegangen werden. Das heißt, es wurden Entscheidungen für oder gegen eine Position getroffen, ohne daß dies im einzelnen ausgeführt werden kann. Eine Überblicksdarstellung ist für solche Debatten der falsche Ort. Einziger Trost mag da sein, daß Überblicke und Einführungen ja Appetit auf mehr machen sollen, und bei diesem „mehr“ kommen die Kontroversen und die wissenschaftlichen ,Kombattanten’ zu ihrem Recht. Der Versuch, eine „Geschichte Frankreichs“ unverkennbaren Zuschnitts und Charakters zu verfassen, sollte nicht in Vergessenheit bringen, daß es nicht um neue Archivforschungen ging, sondern um eine Darstellung, die sich dem Stand der publizierten Forschung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (1. Halbjahr 1998) unterwirft. Allerdings wurde im Kontext des zweiten Teils, in dem das relativ junge Konzept einer interkulturellen Geschichte eingesetzt wurde, auch auf Archivmaterial zurückgegriffen, um Mängel bzw. Lücken der vorliegenden Sekundärliteratur auszugleichen. Gelegentlich war es notwendig, auf noch unveröffentlichte Forschungsarbeiten zurückzugreifen, die mit Fußnoten an Ort und Stelle belegt sind. Wien, den 7. November 1999
Abschnitt A: Kulturelle Ursprünge und fundamentale Integrationsprozesse von den Anfängen bis zu Heinrich IV. 1
Die kulturellen Ursprünge: Von den Kelten bis zu Karl dem Großen
1.1 Wann begann die Französische Geschichte? Geographie und Geschichte Am Anfang war Caesar. Am Anfang war Vercingetorix. Am Anfang war Chlodwig. Am Anfang war Karl der Große. Am Anfang war die Jungfrau von Orléans. . . Jeder dieser Sätze hat einmal Gültigkeit beansprucht oder beansprucht sie noch. In den meisten Fällen bediente man sich ihrer, um die Geschichte Frankreichs bzw. der französischen Nation möglichst früh ansetzen zu lassen, um Integrationseffekte zu erzielen. Die Mehrzahl solcher Sätze ist sowohl falsch als auch wahr. „Wahr“ sind sie, insoweit sie aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu unterschiedlichen Zeiten performative Akte knapp resümieren, die „Frankreich“ entstehen ließen. Zu allen Zeiten haben Menschen kollektiven Gebilden Namen erteilt und Geschichten dazu erzählt. Sie haben auf diese Weise den mit Namen versehenen Gebilden eine historische Identität, metaphorisch gesprochen, einen Körper gegeben. Dieses historische Handeln durch benennen, sprechen und erzählen ist mit „performativen Akten“ gemeint. Die ganze Gelehrsamkeit der Ur- und Frühgeschichte, der Altertumskunde, der Mediävistik, der Frühneuzeithistorie, der Spezialisten des 19. Jahrhunderts sowie der Experten der Zeitgeschichte wird nicht genügen, diese Art mythischer Wahrheit zu widerlegen, die in den Namensgebungen und Erzählungen steckt. Ebensogut möglich wären auch Sätze wie: am Anfang war Massilia (auch: Massalia; d. i. Marseille), am Anfang war der Vertrag von Verdun 843, am Anfang war die Schlacht von Bouvines (1214), am Anfang war der 8. Oktober 1453 (Niederwerfung der Stadt Bordeaux als militärischem Ende des Hundertjährigen Krieges mit England), usw. – also komplexe historische Ereignisse, die auf eine kollektive (mythische) Schöpfung „Frankreichs“ verweisen.
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Ab wann ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht „Frankreich“ als Frankreich zu betrachten und anzusprechen? Ab wann kann mit Fug und Recht von „französischer Geschichte“ gesprochen werden? Karl-Ferdinand Werner (1995) sowie Jean Carpentier und François Lebrun (1992) beginnen jeweils mit der Ur- und Frühgeschichte. Sie sprechen dabei vom „Hexagon“ als einem geographischen Raum, in dem sich im Laufe der Jahrtausende eine Zivilisation entwickelte, die die Grundlage des heutigen Nationalstaats Frankreich bildet. Fernand Braudel (1986) stellte die Frage, ob ,die Geographie Frankreich erfunden’ habe? Der als „Hexagon“ wahrgenommene geographische Teil Westeuropas verdankt seine „Gestalt“ zwei erdgeschichtlichen Epochen der Gebirgsbildung. Im Zuge der herzynischen Gebirgsbildung, d. h. vor 350 bis 225 Millionen Jahren, wurden das armorikanische Gebirge, die Ardennen sowie die Vogesen aufgeworfen, also gewissermaßen eine westliche, nordöstliche und östliche „Begrenzung“. Die alpidische Orogenese setzte im Osten vor ca. 12 Millionen Jahren die Alpen und im Südwesten vor ca. 37 Millionen Jahren die Pyrenäen hinzu. Im „Innern“ entstanden schon während der herzynischen Zeit das Zentralmassiv (Massif Central) und das Pariser Becken. Freie Zugänge zum Meer waren zwischen Alpen und Pyrenäen (Mittelmeer) sowie zwischen Pyrenäen und armorikanischem Gebirge (Atlantik) und schließlich im Norden zwischen armorikanischem und variskischem Gebirge (vor 8000 v. Chr. bestand noch eine Festlandverbindung zu Britannien) verblieben. Der Oberrheingraben zwischen Vogesen und Schwarzwald hielt das „Hexagon“ nach Osten hin offen. Diese natürlichen Gegebenheiten kanalisierten eindeutig die historischen Zivilisationsströme, die in das „Hexagon“ hinein und heraus führten; die inneren Gegebenheiten führten in historischer Zeit zur Ausbildung bestimmter kulturgeschichtlicher Konturen, die bis heute spürbar geblieben, im Bild von der France de langue d’oc bzw. de langue d’oïl fixiert und in der Rede von der Frankreich kulturgeschichtlich in einen nördlichen und südlichen Teil trennenden Linie Saint-Malo-Genf zum Schlagwort geronnen sind. Antike Schriftsteller wie Flavius Josephus (37 bis ca. 100 n.Chr.) oder Ammianus Marcellinus (330 bis 395 n.Chr.) verglichen diesen zu ihrer Zeit Gallien genannten Raum wegen des umfassenden Gürtels aus Meeren und Gebirgen mit einer natürlichen Festung, ohne zu übersehen, daß das Gebiet über Flüsse, Meeresküsten und Durchbrüche gut zugänglich, ja, ausgesprochen verkehrsgünstig gebildet war – kurz, als ein Gebilde, das spätestens seit der römischen Antike
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aufgrund geographischer Beschreibungen als etwas Zusammengehöriges vorgestellt wurde, und das sich schon lange zuvor trotz westlicher Randlage, aber begünstigt durch seine Flußsysteme, zu einem kultur- und zivilisationsgeschichtlichen Verkehrsknotenpunkt des europäischen Subkontinents entwickelt hatte. Es sollte dies nicht so verstanden werden, als habe dies alles spätere politische Grenzen präjudiziert. Wenn sich antike Schriftsteller mit dem Bild von natürlichen Festungsmauern behalfen, dachten sie nicht an lineare Grenzen. Und selbst Caesar, der in performativer Hybris den Rhein zur Grenze zwischen Gallia und Germania erklärte, dürfte dies wider bessere Beobachtung getan haben. Caesar benötigte eine militärisch zu haltende Grenze, mit der Migrationsströme unterbrochen werden sollten. Es waren Römer, die einerseits auf der performativen und imaginativen Ebene, andererseits auf der militärischen, wirtschaftlichen, kultischen, Verwaltungs- und anderen Ebenen ein politisch-kulturelles Gebilde mit Namen „Gallia“ herstellten und es durch ihre vergleichsweise akribischen Beschreibungen mit einer Identität versahen. Sie eroberten also nicht nur militärisch und politisch, sondern brachten auch neue Kategorien der Wirklichkeitswahrnehmung und -ordnung nach „Gallien“.
Kulturelles Gedächtnis und Beginn der Geschichte Frankreichs „Die“ Kelten, die die Römer dann als „Galli“ benannten, verfügten über eine hochentwickelte Kultur, die im Lebens- und Kriegsalltag lange Zeit durch technische Hochleistungen brillierte. „Kelten“ und „Kultur“ sind pauschale Bezeichnungen, hinter der sich Menschengruppen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlich langer Ansässigkeit im „Hexagon“ und ein Amalgam aus unterschiedlichen Kulturen verbergen. Schwerpunkte lagen in Burgund und in der Champagne, d. h. im Osten des „Hexagons“. Bei „der“ keltischen Kultur handelt es sich nicht um eine Schriftkultur. Ihre Selbstzeugnisse sind materieller Art oder linguistisch, hingegen existierte kein dichtes Netz schriftlicher literarischer, historiographischer oder politisch-philosophischer Überlieferungen, das das kulturelle Gedächtnis der Kelten wie bei den Griechen und Römern potenziert und den Zeitläuften gegenüber resistent gemacht hätte. Die Beschreibungen der Kelten stammen von Griechen und Römern, nicht von den Beschriebenen selbst. Selbst wenn Schriftlichkeit nicht als conditio sine qua non von „kulturellem Gedächtnis“ angesehen wird, so erleichtert sie das Zusammenwachsen heterogener Räume und Kulturen, sie erleichtert
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die Objektivierung subjektiver (z. B. Caesar) empirischer Beobachtungen und damit die Behauptung und Tradierung von Identitäten. Spätere Generationen konnten nicht auf eine genuin keltische Bewußtseinsgeschichte zurückgreifen, sondern nur auf eine überwiegend römische, die im Zuge der nach der Eroberung „Galliens“ einsetzenden Akkulturations- und Kulturtransferprozesse wirksam wurde. Schon früher hatten die Kelten Akkulturationsprozesse durchlaufen, diesmal kam jedoch die Akzeptanz von Schriftlichkeit neben anderen gesellschaftlichen, religiösen oder ,politischen’ Assimilationsprozessen hinzu. Entscheidend für die Frage, ab wann von „französischer Geschichte“ gesprochen werden kann, ist nicht ein genetischer Zusammenhang der Generationen oder das Vorhandensein einer homogenen Ethnie von einem bestimmten Zeitraum an. Das hat es nie und nirgendwo gegeben, entscheidend ist die Frage nach dem kulturellen Gedächtnis. Durch den zunächst griechischen (Massalia), dann römischen Kulturtransfer entstand im Hexagon ein kulturelles Gedächtnis neuer Qualität, das mit dem heutigen kulturellen Gedächtnis Frankreichs im übertragenen Wortsinn genetisch verkettet ist. Die Vielfalt der Geschichte wird dadurch nicht auf eine farblose Einheit reduziert, Brüche werden dadurch nicht kaschiert. Jahrhundertelang bildete der Osten um die Verkehrsachse RhôneSaône mit Lyon als Kapitale einen verdichteten Kulturraum, ebenso ˆ de France, wo sich früh Paris das Pariser Becken, noch genauer die Ile als Schwerpunkt herausbildete. Diese beiden räumlich-kulturellen Schwerpunkte lassen sich schon in der keltischen Zeit erkennen, auch wenn sich Lyon erst in römisch-gallischer Zeit zu einer ausgesprochenen Kapitale entwickelte. Was schließlich die allmähliche ˆ de France aus kulturelle „Kolonisierung“ des „Hexagons“ von der Ile seit der ersten nachchristlichen Jahrtausendwende ermöglichte, war die Gemeinsamkeit des in der gallo-römischen Epoche transformierten kulturellen Gedächtnisses und seine neuerliche Transformation aus diesem Raum heraus auf der Grundlage des Königskultes. Aus Sicht der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung spricht somit einiges dafür, von der Formierung bzw. Transformierung eines kulturellen Gedächtnisses auszugehen und die Betitelung „Geschichte Frankreichs“ daran zu knüpfen. Freilich ist auch der pragmatische Standpunkt legitim, vom heutigen Staat Frankreich auszugehen, und die in diesem Raum verbliebenen Zeugnisse vergangenen Lebens unter „Geschichte Frankreichs“ zu subsumieren. Der erste Band von Jacques Dupâquiers Bevölkerungsgeschichte (1995) setzt
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mit dem Altpaläolithikum (1.000.000 bis 80.000 v. Chr.) ein und heißt „Histoire de la population française: Des origines à la renaissance“. Damit wird weder behauptet, daß die heutigen Franzosen in mehr oder weniger direkter Folge vom Cromagnon-Menschen abstammen, noch daß die Geschichte der französischen Nation in der Höhle von Lascaux um 15.500 v. Chr. begonnen habe. Karl-Ferdinand Werners Formulierung von den „Ursprüngen“ (von der Ur- und Frühgeschichte bis zum Ende der Karolinger) hat auch in der französischen Forschung weitgehend Anklang gefunden.
Mythographie und Historiographie Bis die Wissenschaft zu diesen pragmatischen Haltungen vorgedrungen war, galt es, einen langen Weg zurückzulegen. Vor der wissenschaftlichen Historiographie stand die Mythographie. Zu unterscheiden sind die Ursprungsmythen, die die Frage nach dem Beginn der französischen Geschichte beantworteten, von den Integrationsfiguren (Vercingetorix, Chlodwig, Karl d. Gr., Ludwig d. Hl. usw.) und ihrer mythischen Ausformung, die Frankreich und seine Identität im wahrsten Sinn des Wortes verkörperten. Diese zweite, auf individuelle Gestalten bezogene Mythographie wird in den Folgekapiteln jeweils im Kontext ihres chronologischen Auftretens behandelt. Im 7. Jh. n.Chr. entstand ein eindrucksvoller Abstammungsmythos für die Franken, der das Nachleben des römischen Zeitalters in (Nord-) Gallien reflektiert. Die Franken stammten, so lautete es in der „Chronik des sogenannten Fredegar“ (zwischen 613 und 658; mehrere Autoren), von den Nachfahren trojanischer Flüchtlinge ab. Der trojanische König Priamus wurde in die Rolle des ersten Königs der Franken gedrängt. Spuren dieses Mythos fanden sich im Rolandslied (Ende 11. Jh.), und der Name der Stadt Colonia Traiana (abgeleitet von Trajan; d. i. heute Xanten) wurde als Colonia Troiana gelesen – Hauptstadt der Franken am Rhein, benannt in Erinnerung an ihre Herkunft aus Troja! Damit wurden die Franken auf eine Stufe mit den Römern gehoben, die Vergil zufolge von Aeneas abstammten. Ein keltischer bzw. gallischer Ursprung war in der fränkischen Mythographie nicht gefragt. Immerhin hielt sich dieser Abstammungsmythos bis ins 16. Jh., z. B. bei Jean Lemaire de Belges (1473? bis nach 1515) in seinen „Illustrations de Gaule et singularitez de Troye“ (1512/13). Zugleich wurde im 16. Jh. der trojanische Abstammungsmythos zu Grabe getragen – um von einem plausibleren, aber letztlich nicht weniger angreifbaren Konstrukt abgelöst zu werden. Es war der
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Moment des gallischen Ursprungsmythos. Die Franken wurden mit den Galliern gleichgesetzt: die Römer hätten die Gallier besiegt und vertrieben, diese seien aber im 5. Jh. n.Chr. zurückgekehrt und hätten ihr altes Land zurückerobert. Die Rückkehrer, das wären dann die Franken gewesen. François de Belleforest (1530 bis 1583) sei mit seinem Werk „Les chroniques et annales de France“ (Bd. 1, 1579) stellvertretend für viele andere Mitwirkende an dieser Phase mythographischer Feinarbeit genannt. Der gallische Ursprungsmythos fand bis ins 18. Jh. manche Anhänger, wurde jedoch ein Opfer der kritischen Historiographie der Aufklärung, bevor das 19. Jh. noch einmal Gefallen daran fand. Die Wirkungen der humoristischen AsterixVariante des Mythos heute sind nicht zu unterschätzen. Der trojanische und der gallische Ursprungsmythos besaßen den Vorteil, die gesamte Bevölkerung des westfränkischen Reiches bzw. später Frankreichs auf eine einzige, für alle gleiche Herkunft zurückzuführen. Dies war schließlich der Sinn des Mythos. Andere Erklärungen, vor allem seit dem 16. Jh., sahen die Franken als Eroberer Galliens. Der Adel sei Fränkisch, die Masse der Untertanen, der dritte und vierte Stand (letzterer Begriff wurde seit dem 16. Jh. verwendet) jedoch bestehe aus Nachkommen der unterworfenen Gallier. Damit konnten z. B. die Steuerprivilegien des Adels legitimiert werden. Mit Rücksicht auf die politischen Ambitionen französischer Könige des 16. und 17. Jh., römischer Kaiser zu werden, scheute man sich nicht, die Franken als germanisches Volk zu bezeichnen. Heftige Reaktionen von deutscher Seite löste der Jurist und talentierte Pamphletist Antoine Aubery 1679 aus, der juristisch und ethnogenetisch für die französische Seite argumentierte. Sein wichtigstes ethnogenetisches Argument bestand in dem ,Nachweis’, daß Deutsche und Franzosen eigentlich ein Volk seien. Mit seinem Pamphlet schrieb er sich publizistisch erfolgreich in die Annalen eines deutsch-französischen Gegensatzes ein, der sich später zur sogenannten Erbfeindschaft auswuchs. Trotz mythographischer Elemente handelte es sich bei Aubery und anderen eher um Ursprungstheorien denn um Ursprungsmythen, die einerseits den Anfang einer historisch-kritischen Auseinandersetzung um den Beginn der französischen Geschichte bedeuteten, andererseits schon im 18. Jh. rassistische Theorien begünstigten. Henri de Boulainvilliers (1658 bis 1722) legte seiner „Histoire de l’Ancien Gouvernement de la France“ (postum 1727 veröffentlicht) die These zugrunde, daß es in Frankreich zwei Rassen, die fränkische und die
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gallische, gebe. Sowohl der Adel wie der Dritte Stand in der Revolution kamen mit dieser Rassen-Theorie auf ihre Rechnung. Nachdem sich der Dritte Stand zur „nation“ erklärt hatte, war der Weg für die von notablen Literaten und Historiographen des 19. Jh. gepflegte Auffassung geebnet, daß die „nation“, d. h. die Masse der Bevölkerung, von den Galliern abstamme. „Nationale Eigenschaften“ wurden jetzt als gallisch bezeichnet. Amédée Thierry (1797 bis 1873), Jules Michelet (1798 bis 1874), Honoré de Balzac (1799 bis 1850), LouisPhilippe (1773 bis 1850; der „Bürgerkönig“ 1830 bis 1848) gewöhnten die Franzosen daran, daß sie Nachfahren der Gallier seien. Die Elementarschule der Dritten Republik sorgte für eine flächendeckende Verbreitung dieser Anschauung. In dieser Atmosphäre stieg Vercingetorix zum gallischen/französischen Nationalhelden auf. Damit besaß Frankreich wie die meisten anderen Nationen des späten 19. Jh. seinen – in sich stimmigen und deshalb wirkungsvollen – Nationalmythos. Wie wurde aus den tapferen gallischen Vorfahren, die sich der Römer erwehren mußten, die französische Nation? Bei der Beantwortung dieser Frage traten die zu Beginn dieses Kapitels erwähnten Ereignisse wie die Schlacht von Bouvines, der Sieg über die Engländer im Hundertjährigen Krieg etc. ins Blickfeld der nationalistischen Mytho- und Historiographie. Die Nation schmiedete sich im Kampf gegen die Römer, die Hegemoniebestrebungen des ostfränkischen bzw. Heiligen Römischen Reiches, die Eroberungspolitik der Normannen und der englischen Könige, im revolutionären Kampf gegen die Hydra der europäischen Despotien am Ende des Ancien Régime.
1.2 Die gallo-römische Epoche Von der La-Tène-Zeit zu Caesar In der Hallstattzeit (um 800 bis um 500 v.Chr.) erreichte eine größere keltische Einwanderungswelle die Rhône und den Süden des Hexagons. Als Griechen aus Phokaia um 620 v. Chr. Massalia gründeten, kamen sie mit Kelten aus dieser Einwanderungsphase in Kontakt. Im 5. Jh. v. Chr. (La-Tène-Zeit) setzte eine sehr viel umfassendere keltische Wanderungsbewegung ein, die Kelten bis nach Ankara, aber auch bis in den Westen des „Hexagons“ führte. Demographischer Druck sowie Wanderungsbewegungen von Germanen, die wegen
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ungünstiger werdender klimatischer Verhältnisse im Baltikum den Weg ins Innere Europas suchten, mögen diese Wanderungen ausgelöst haben, die bekanntermaßen Rom 386 v.Chr. hautnah zu spüren bekam. Zu Caesars Zeiten zählte der Raum zwischen Seine und Garonne zum keltischen Kerngebiet im „Hexagon“, er umfaßte namentlich die Beauce, den Pariser Raum, die Charente, das Limousin, den Poitou, die Dordogne, den Bordelais, im Osten den Berry, das Juragebiet, die Helvetier, Burgund und das Zentralmassiv, wo die Arverner siedelten, deren berühmtester Sohn eben jener Vercingetorix wurde. In der Bretagne und in Aquitanien sowie im gesamten Süden hatten sich ältere Bevölkerungen gehalten. Den Raum nördlich der Seine, den Caesar Belgien nannte und der das Gebiet um Rouen, den Beauvaisis, die Picardie und die Champagne einschloß, erreichte die keltische Wanderungsbewegung der Belger (Belgae) erst im 3. und 2. Jh. v.Chr., dicht gefolgt von ersten germanischen Völkern, die dem römischen Eroberer als besonders kriegerisch galten. Politisch lebten die keltischen Völker im Hexagon unabhängig voneinander, zu Zeiten bekriegten sie sich gegenseitig. Soziopolitische Verfassung jedoch, Religion, Wirtschaft und Kultur wiesen neben vielen lokalen Besonderheiten – bisher wurden beispielsweise über 4.000 keltische Gottheiten identifiziert – weitgehende gemeinsame Merkmale auf. Die einzelnen Völker lebten in abgegrenzten Territorien, die mit den Römern civitates genannt werden. Das Element der Be- bzw. Abgrenzung ist hervorzuheben. Viele Ortsnamen wie Ingrandes, Aigurande usw. gehen auf das keltische Wort für Grenze – equoranda – zurück. Lutetia als Zentrum der Parisii befand sich auf der Île de la Cité, die heute jeder Parisbesucher kennt, ihre civitas wurde von Wäldern, Flüssen und Sumpfgebieten begrenzt. Im Innern war die civitas in Distrikte oder pagi aufgeteilt, das Land wurde z. T. durch große landwirtschaftliche Betriebe (aedificium), wie Luftbildaufnahmen der Somme erwiesen haben, strukturiert. Typisch für die Verfassung der keltischen civitas seit dem 2. Jh. v.Chr. ist das oppidum, ein befestigter städtischer Kern von durchschnittlich 90 bis 160 Hektar Ausdehnung, den die Römer allerdings nur als Dorf erachteten. Bei den Biturigern z. B. fanden sich mehrere oppida: Avaricum (Bourges), Argentomagus (Saint-Marcel), Levroux und Châteaumeillant. In der keltischen ,Stadt’ befanden sich das Heiligtum, erhöht wie in Bibracte auf dem Mont Beuvray bei Autun, dem Gebiet der Häduer, ein Adelsviertel und verschiedene Handwerkerviertel. In Bibracte durchschritt man das Haupttor, gelangte durch die Handwer-
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kerviertel zum Adelsviertel und schließlich zum Heiligtum. Diese Anordnung scheint die hierarchisierte soziopolitische Verfassung widerzuspiegeln, mit denen die Römer konfrontiert wurden. Für die Wanderungszeit wird von einer Verbindung zwischen freiem Volk und einem ,König’ ausgegangen. Nur so konnten die Arverner (Auvergne) nach politischer Hegemonie in ,Gallien’ streben, ein Versuch, der mit der Niederlage ihres Königs Bituit 121 v.Chr. gegen die Römer endete. Im Lauf der Zeit bildete sich eine vermögende aristokratische Schicht heraus, die bewaffnete Berittene als Klientel um sich scharte und zudem Handel und Gewerbe beherrscht haben dürfte. Die Volksversammlung dürfte sich in der Aristokratie (equites) erschöpft haben. Sie wählte zur Ausübung der politischen Macht einen vergobretos. Es wird angenommen, daß mit dem Zerfall der Institution des Königtums die religiösen Funktionen der früheren Könige auf die Druiden übergingen, die sich aus dem Adel rekrutierten. Sie waren vom Kriegsdienst und Steuern befreit, sie konnten zugleich die Funktion eines vergobretos ausüben und waren für die Erziehung des Adels verantwortlich. Einmal im Jahr trafen sie sich im Wald der Carnuten (im Gebiet von Chartres-Orléans), um ihr eigenes Oberhaupt zu wählen und richterlichen Aufgaben nachzukommen. Die Opferrituale einschließlich ritueller Menschenopfer wurden selbstverständlich von den Druiden zelebriert. „Im Nordwesten der keltischen Welt wurde die Erziehung der Elite also von Druiden besorgt, nicht aber in Italien. Davon ganz unabhängig erzielte sie offenbar ein bemerkenswertes Ergebnis; Redefreudigkeit und Ausdrucksfähigkeit. Schon Cato der Ältere (234 bis 149 v.Chr.) bestätigt die besonderen Fähigkeiten der italischen Galli im Kampf und in ihrer Redeweise, ihr argute loqui. Sie waren also Menschen mit Geist. Das ist ein beachtliches Kompliment des großen Römers und ein kulturelles Element ersten Ranges im keltischen Erbe. ( . . . ) Kommunikationsfähigkeit und Geselligkeit waren die kennzeichnenden Merkmale der keltischen Gesellschaft und der ihrer Erben, auch wenn sie sich nicht mehr in keltischer Sprache ausdrückten.“ (Karl-Ferdinand Werner) Ob dies nun ein Verdienst der Druiden war oder nicht, auch Madame de Staël (1766 bis 1817) hob rund 2000 Jahre später dieselben Eigenschaften zur Unterscheidung der Franzosen von den Deutschen hervor (Staël 1810). Die Kelten im Hexagon betrieben mehr als Subsistenzwirtschaft. Ein gut ausgebautes Wegenetz, das nicht zuletzt Caesar die militärischen Operationen erleichterte, zeugte von der Bedeutung des Han-
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dels und beförderte die Verbreitung neuer kultureller Elemente wie der Münze, die über Massalia eingeführt und von den einzelnen Völkern akzeptiert und lokal adaptiert wurde. Exportiert wurden Weizen, Vieh, Salz und Leder; Käse und Bier gehörten zur Nahrung, berühmt waren die Schweinemast und der Schinken. Gallien war aus Sicht der umgebenden europäischen Welt ein wichtiger und interessanter Markt, da dort zu Caesars Zeit nach den Berechnungen der Demographen ca. 6.800.000 Millionen Menschen (+/- 1⁄2 Mill.) lebten und – nicht zu Unrecht – ein solider Reichtum unterstellt wurde. Die erwähnte technische Brillanz erwies sich bei der Fertigung von Eisengeräten und -hilfsmitteln für die Landwirtschaft (u. a. zweirädriger Pflug mit Eisenpflugschar), für Verkehrsmittel (u. a. gehärtete Eisenbänder für Wagenräder; Schiffsnägel) und für den Krieg (u. a. zweischneidiges Langschwert, Lanze). Was diesen Kelten fehlte, war ein systemisches Denken, wie es die Römer aufgrund ihres verschriftlichten kulturellen Gedächtnisses aufgebaut hatten, und das sie nach Gallien mitbrachten. Die Übernahme der griechischen Schrift beispielsweise bei den Helvetiern änderte daran nichts Grundsätzliches.
Caesar und Vercingetorix Der Anlaß für Caesars Auftreten in Gallien im Jahr 58 v.Chr. war die Übertragung der Verwaltung Dalmatiens, der Gallia Cisalpina und der Gallia Transalpina an ihn durch den Senat. In den beiden gallischen Provinzen saßen die Römer fest im Sattel. Die Gallia Transalpina mit Narbonne als Hauptstadt besaß eine strategisch wichtige Lage. Sie sicherte die Landverbindung zwischen den iberischen Besitzungen (seit dem Sieg über Hannibal) und Italien über Massalia, mit dem seit Jahrhunderten wichtige Handelsbeziehungen bestanden. Wiederholte Hilferufe der Stadt 154 und 125 v.Chr. hatten zum Bleiben der Römer geführt: 122 v.Chr. wurde Aquae Sextiae (Aix-enProvence), 118 v. Chr. wurde Narbonne gegründet. Im keltischen Toulouse wurde ebenfalls 118 v.Chr. eine Garnison eingerichtet. Narbonne wurde zum Zentrum der politisch betriebenen italischen Kolonisation, die Italien mit der iberischen Halbinsel verbindende neue via Domitia führte über Narbonne und bildete dort mit den Handelsrouten nach Aquitanien einen Verkehrsknotenpunkt. Die ansässige Bevölkerung wurde tributpflichtig, die aristokratische Oberschicht langsam integriert. Keramik, Öl und Wein fanden über „die Provinz“ (wird zu „Provence“) Eingang in den gallischen Markt.
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Caesars Aufgabe bestand darin, die ihm anvertrauten Provinzen und damit den römischen Herrschaftsbereich vor den eindringenden Germanen zu schützen. Daß er die dem Druck der Germanen ausweichenden keltischen Helvetier mit Gewalt daran hinderte, nach Westgallien überzusiedeln, nutzte nicht nur Rom, sondern bewahrte auch den Frieden im Innern Galliens; daß er Ariovist besiegte, verhinderte die Errichtung eines germanischen Herrschaftsbereichs in Gallien; daß er im Norden die Belgae und die mit ihnen verbündeten Germanen besiegte, verhinderte ebenfalls die Errichtung eines eigenständigen Herrschaftsbereichs. Mit anderen Worten: er verhinderte eine Dreiteilung Galliens. Dies dürfte es aber den Galliern erleichtert haben, sich im Widerstand gegen die umfassende römische Herrschaft zu vereinen. Aus einem Massaker an italischen Kaufleuten im Winter 53/52 v.Chr. in Cenabum (Orléans) entwickelte sich eine breit angelegte Widerstandsbewegung, die den beherzten Arverner Vercingetorix in Bibracte an die Spitze der Gallier trug. Er unterlag dem militärischen Genie Caesars im Zuge der Belagerung von Alesia (Alise-Sainte-Reine auf dem Mont Auxois) und wurde 46 v.Chr. in Rom hingerichtet. Dennoch war die Beherrschung Galliens noch lange nicht gesichert. Erst als die akkulturierte gallische Aristokratie 70 n.Chr. den Plan eines unabhängigen gallischen Reiches verwarf und ihre Treue gegenüber Kaiser Vespasian bekundete, begann eine säkulare Phase von Frieden und Wohlstand.
Die Romanisierung Galliens Die Romanisierung Galliens verlief nicht überall gleichmäßig. Die Narbonensis erfuhr in dieser Hinsicht einen sofortigen Entwicklungssprung, während das nördliche Gallien später folgte, als es als strategisches Hinterland der Eroberung Britanniens fungierte. Nach der Niederwerfung Galliens durch Caesar setzte ein nicht unerheblicher Exodus von Kelten in Richtung Osten und Nordeuropa ein. Es blieb eine Mehrheit zurück, die die römische Zivilisation den ungewissen Alternativen des Exodus vorzog. Die einzelnen Etappen der Romanisierung und die Heterogenität des Prozesses sollen nicht im Detail berichtet werden. Die Romanisierung ist für sich genommen bedeutsam genug, wenn der Blick auf die unvollkommene Romanisierung der Germania gelenkt wird. Die strategische Lage Galliens im Kalkül Roms bezüglich der Germania einerseits und der Britannia andererseits sowie gegenüber der iberischen Halbinsel begünstigte die innere Integration Galliens. Für die strategische Lage konnten weder die
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Römer noch die Gallier etwas, die Geographie des „Hexagons“ bestimmte sie – allerdings in so glücklicher Weise, daß sich die natürlichen Verkehrswege wie ein Bogen um das „Hexagon“ legten und eine breitflächige Romanisierung mit Ausnahme des Innern des Zentralmassivs begünstigten. Was heißt Romanisierung? Es entstand nach und nach ein dichtes städtisches Netz, dem das Stadtnetz des heutigen Frankreich immer noch weitgehend entspricht. Dennoch ist nur mit Vorsicht von „Urbanisierung“ zu reden, da bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 7 bis höchstens 9 Millionen deutlich unter 10% der Bevölkerung in Städten lebten. Die Oberschichten akkulturierten sich sehr schnell, erhielten das Bürgerrecht. Viele Städte erhielten das Latinerrecht. Die römische Architektur überzog das Land mit ihren Aquädukten, Thermen, Tempeln, Theatern, Amphitheatern, Odeen, Foren, villae usf. Familien latinisierten sich, stiegen in Ämter auf. Mit dem Latein übernahmen die Kelten eine Schriftsprache, die bezeichnenderweise aber nicht genutzt wurde, um dem vorrömischen Gallien eine Geschichte zu geben, sondern die eine Neuformierung des kulturellen Gedächtnisses in der römischen Zeit provozierte. Drusus gelang es 12 v.Chr., eine gemeinsame Kultstätte (Roma- und Augustuskult) bei Lyon, der neuen Kapitale ganz Galliens, einzurichten, ein Kult, der von den Vertretern der gallischen Völker angenommen und im Land lokal verbreitet wurde. Gallien wurde zu einem Stützpfeiler des Römischen Reiches, ein Umstand, der bis in die letzten Winkel verspürt wurde. 10 v.Chr. wurde der spätere Kaiser (41 bis 54 n.Chr.) Claudius in Lyon geboren; er setzte sich dafür ein, daß die gallischen römischen Bürger in den Genuß des passiven Wahlrechts für den römischen Senat kommen sollten. Die Bautätigkeit und die wachsende wirtschaftliche Verflechtung mit dem ganzen Römischen Reich wirkten wie ein gewaltiges Konjunkturprogramm. Die Landwirtschaft wurde umstrukturiert, es fügten sich Abhängigkeiten, die die spätere Grundherrschaft präjudizierten. Mit den Römern und ihrer Vermessungstechnik entstanden auch im Norden die villae, landwirtschaftliche Anwesen und Gebäudekomplexe, die z. T. mehrere Tausend Hektar Land umfassen und einige Hundert Personen aufnehmen konnten (villa von Chiragan bei Martres-Tolosane im Garonne-Tal). Es gab Sklaven, wenn auch in begrenzter Zahl. Die Bauern lebten überwiegend in Weilern und Dörfern, eine persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit entwikkelte sich erst allmählich. Ein weiterer ländlicher Siedlungstyp war
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der vicus, ein ansehnlicher Flecken, der sich an einen großen Betrieb (villa), an eine Straßenkreuzung, an ein bestehendes Heiligtum oder an ein lokales Handwerk anlehnte. Hier fanden sich Theaterbauten, Kultstätten, ggf. Thermen, ein Forum und Wohnhäuser. Die Fundorte verteilen sich über das ganze „Hexagon“: das läßt auf eine dichte demographische, wirtschaftliche und kulturelle Durchdringung des Raums schließen. Kaum war das gallo-römische „Hexagon“ im 2. Jh. n.Chr. zur Reife gelangt, erfuhr es eine neue tiefgreifende Transformation durch Germanen und das Christentum.
1.3 Die konstruktive Krise des 3. und 4. Jahrhunderts Apokalypse oder konstruktive Krise? Die folgenden Jahrhunderte galten lange Zeit als Epoche der Verwüstungen und des Niedergangs. „Barbareneinfälle“, Räuberbanden, die das Land wie Seuchen heimsuchten, wirkliche Seuchen und Pestepidemien (250 bis 265), daraus resultierend ein Rückgang der Bodenkultur, der Ernteerträge, des demographischen Potentials, kurz ein circulus vitiosus oder, schlimmer noch, den antiken erzählenden Quellen folgend, ein fast apokalyptisches Zeitalter. . . Die neuere Forschung vermag sich diesem Bild nicht mehr anzuschließen. Sie differenziert geographisch die Rückschläge und analysiert hartnäckiger das Neue und Konstruktive, das sich Bahn schuf oder durch expliziten politischen Willen wie im Fall der Ansiedlungspolitik in die Tat umgesetzt wurde. Ein allgemeiner demographischer Rückgang läßt sich nicht belegen; bei aller Vorsicht der Demographen wird ein langsamer Bevölkerungsanstieg für möglich gehalten. Es erscheint angemessen, von einer „konstruktiven Krise“ des 3. und 4. Jh. zu sprechen. Die Reformen Diokletians und Konstantins an Haupt und Gliedern des Reiches ließen Gallien selbstredend nicht unberührt. Seit dem 4. Jh. war Gallien zusammen mit Spanien und Britannien in einem Präfekturbezirk zusammengefaßt; der praefectus praetorio Galliarum residierte zunächst in Trier, später in Arles. Gallien selber wurde in zwei Diözesen geteilt, die Diözese Vienne mit sieben Provinzen und die Diözese Galliae mit zehn Provinzen (die vielen Änderungen können hier nicht berücksichtigt werden). In dieser Diözesenaufteilung läßt sich annähernd die noch Jahrhunderte später spürbare Nord-SüdDifferenzierung Galliens/Frankreichs erkennen, die Provinzen ste-
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hen wenigstens zum Teil am Beginn einer ebenfalls Jahrhunderte und bis heute reichenden Regionalisierung. Die alte Provinz Narbonensis wurde aufgeteilt, u. a. entstanden daraus die Narbonensis I mit Toulouse und Languedoc sowie die Narbonensis II mit dem Gebiet der Provence. Ebenso einschneidende wie vereinheitlichende Folgen zeitigte die Bürokratisierung der Verwaltung, vor allem eine Steuerverwaltung im Dienst der Heere. Konstantin und seine Nachfolger nahmen systematisch „Barbaren“ in die Heere auf. Zugleich dislozierten sie ansehnliche Teile der Truppen von den unmittelbaren Grenzen in das Innere Galliens und stationierten sie bei den Städten. Dies trug mehr zu einer Vermischung der Bevölkerung vorzugsweise mit Germanen bei als die eigentlichen kriegerischen Einfälle. Nicht zu vergessen, daß Waffen in großen Mengen hergestellt und große Mengen von Soldaten zu bekleiden waren: von Tournai im Norden bis nach Arles im Süden finden sich entsprechende Produktionsstätten. Die Vervielfachung von „Spitzenjobs“ in Heer und Verwaltung begünstigte die Vergrößerung der Oberschichten, oft verbunden mit einem realen Machtzuwachs wie im Fall des Senatorenadels, aus dem sich bereits viele der frühen Bischöfe Galliens rekrutierten. In der zweiten Hälfte des 4. Jh. wurde Paris zeitweilig politisches Zentrum in Gallien. Julian, den sich Constantius II. als Caesar gewählt hatte, erkor Paris in den Jahren, in denen er Gallien gegen die Alemannen zu verteidigen hatte, zum Winterquartier. 360 wurde er dort von seinen Truppen zum Kaiser erhoben. Paris war eine wichˆ de la Cité war leicht zu verteidigen, tige militärische Etappe, die Ile auf der Seine bei Paris lag die einzige Binnenkriegsflotte. Der Nahrungsmittelbedarf des Heeres konnte in der näheren Umgebung gedeckt werden, schließlich kreuzten sich mehrere Fernstraßen wie jene nach Lyon und Italien bei Paris. All dies steht für strukturelle Weichenstellungen, die mit den Invasionen des 5. Jh. keineswegs hinweggeschwemmt wurden.
Die ersten Franken Im 3. Jh. n.Chr. führte die Bedrohung des römischen Reiches durch die Parther wiederholt zur Entblößung des Limes. Für wenige Jahre, zwischen 260 und 274, kam es deshalb zur Bildung eines „gallischen Sonderreiches“ unter eigenen Kaisern (der erste war Postumus im Jahr 260). Dabei ging es nicht vorrangig um eine Abspaltung von Rom, sondern um eine effektive Verteidigung des Raumes gegen die
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zunehmenden Einfälle von verschiedenen Stämmen aus dem Norden und Osten Europas. Allerdings wurde das romtreue Autun, ein Zentrum der Bildung und Kultur, von einem dieser Kaiser (Victorinus) zerstört. Während 235 n.Chr. erstmals Alemannen im Straßburger Raum auftauchten, lebten am rechten niederrheinischen Ufer zwischen der Einmündung der Lippe in den Rhein im Süden und den Batavern im Norden mehrere Stämme, die die Römer nicht hatten unterwerfen können und die deshalb, abgeleitet vom germanischen frank (= frei) unter dem Namen franci zusammengefaßt wurden. Der vom hl. Hieronymus (um 348 bis 420) verwendete Name Francia bezog sich noch nicht auf Gallien, sondern auf dieses Gebiet. Diese franci fielen gleichfalls nach Gallien ein. Die von Alemannen und franci unabhängig voneinander verursachten Zerstörungen führten zu neuen städtebaulichen Konzepten in Gallien. Viele Städte wurden mit gewaltigen Mauern umzogen, z. T. verkleinerte sich der Stadtkern. Eine Reihe von Städten wurde umbenannt, indem der römische Name mit dem des ortsansässigen Stammes ausgetauscht wurde: „Poitiers“, römisch Limonum, leitet sich von den dort lebenden Pictonen ab. Sinngemäß dasselbe geschah im Fall von „Amiens“, „Rennes“, „Paris“ usf. Kaiser Aurelian baute Cenabum (Orléans, aus: civitas Aurelianensis) zur Festung aus und schuf damit einen neuen städtischen Schwerpunkt gegenüber dem bisher bevorzugten Osten Galliens. Auch das ist nur ein Beispiel für mehrere. Dies sind Zeichen einer Reorganisation des Landes, die sich schließlich in der Ansiedlung und Integration der zunächst als Feinde erschienenen „Barbaren“ fortsetzte. Um 360 wurden die Salfranken als dediticii aufgenommen, d. h. sie erhielten Land, für das die Männer als Gegenleistung zum Kriegsdienst verpflichtet waren. Andere Franken wie die Chamaven wurden hingegen nicht aufgenommen, stellten dennoch hochqualifizierte Hilfstruppen. Es ergab sich die nicht nur für Gallien typische Situation, daß „Barbaren“ im römischen Heer dienten und eigene Stammesgenossen, die das Reich attackierten, bekämpfen mußten. Dabei bildeten sich durchaus bemerkenswerte Loyalitäten heraus: Constantius II. hatte Julian zum Caesar im Westen ernannt. Julian machte sich um die Abwehr der Alemannen verdient. Seine Truppen, neben Galliern vorwiegend Franken, verweigerten Constantius den Gehorsam, als dieser sie in den Osten des Reiches beorderte. Eine Reihe von Franken stieg in die höchsten militärischen Ämter auf, die damals zu vergeben waren, in die Positionen eines Heermei-
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sters (magister militum). Gelegentlich konnte daraus eine mächtige Dynastie entstehen. Theudomer, Sprößling einer dieser fränkischen Heermeisterdynastien, starb im Jahr 421 und wurde in der Überlieferung mit dem Titel „rex Francorum“ aufgeführt. Dies verweist auf die Ausbildung eines faktischen eigenen Machtbereichs. Unter Eingeständnis einer gewissen Überspitzung könnte vermutet werden, daß die Einfälle des 3. und 4. Jh. die innere Kohäsion in Gallien verstärkten – parallel zur aufsteigenden neuen geistig-religiösen Kraft, dem Christentum.
Die ersten Christen Seit der zweiten Hälfte des 2. Jh. n.Chr. fand das Christentum Anhänger in Gallien, wo es anfangs nicht weniger verfolgt wurde als anderswo. Die ersten Märtyrer sind für Lyon im Jahr 177 belegt. Diese frühen Christen auf gallischem Boden rekrutierten sich kaum aus Römern oder gar Kelten („Galliern“), sondern aus Syrern und Hebräern mit griechischen Namen. Unter Constantius Chlorus, Vater Konstantins (d.Gr.) herrschte Ende des 3. Jh. ein toleranteres Klima, in dem sich das Christentum leichter ausbreiten konnte. Der innere Weg Konstantins zum Monotheisten und Christen wird gerne mit einem visionären Erlebnis des Kaisers in einem Apollo-Tempel in den Vogesen, d. h. in Gallien, im Jahr 310 in Verbindung gebracht (Konstantin war 306 von seinen Legionen in Britannien und Gallien zum Augustus proklamiert worden). Größere historische Aussagekraft hat jedoch der Umstand, daß 314 in Arles das erste Konzil auf gallischem Boden abgehalten wurde. Es waren 16 Gemeinden vertreten, allesamt an den bekannten Verkehrsachsen im Westen (Rouen, Bordeaux), im Süden (Arles, Marseille) bzw. von Süd nach Nord an der Rhône entlang gelegen (Vienne, Lyon, Reims, sowie Trier und Köln). Schnell verbreitete sich das Christentum im Lauf des 4. Jh. in Gallien. Zunächst ein städtisches Phänomen, wurde es im Zuge der ersten Klostergründungen durch den hl. Martin (317 bis 397) ins Land getragen. Der hl. Hilarius, Bischof von Poitiers und Lehrer des konvertierten pannonischen Soldaten Martin, kann als der erste geistigreligiöse Führer des christlich werdenden Galliens bezeichnet werden. Er führte den Widerstand der gallischen Bischöfe gegen den Arianismus an. Martin hatte dann 361 in Ligugé nahe Poitiers das erste Kloster gegründet, nach seiner Wahl 371 zum Bischof von Tours errichtete er in Marmoutier sein zweites Kloster. Der Biograph des hl. Martin, Sulpicius Severus (gest. um 420 n.Chr.) macht darauf auf-
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merksam, daß in einem langsamen aber unaufhaltsamen Prozeß Kirchen auf dem Land entstanden. Missionierungssprache war das Latein. Das Christentum trug zur fortschreitenden kulturellen Integration bei und setzte einen Gemeindebildungsprozeß in Gang, der nicht weniger politisch als religiös war. Neben vielen moralischen Vorschriften für die Lebensführung brachte die ,neue’ Religion dezidierte sexuelle Vorschriften mit sich, die zwar auf bedeutsamen Widerstand stießen, aber im entstehenden kanonischen Recht und in der sich bereits als politischer Machtfaktor etablierenden verfaßten Kirche durchaus wirkungsvolle Exekutions- und Sanktionsinstrumente besaßen. Dennoch hielten selbst viele Kleriker sich nicht an die Gebote, von einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation konnte noch keine Rede sein.
1.4 Die Entstehung des merowingischen Gallien Der Weg zu Chlodwigs Herrschaft Die Tragfähigkeit der beschriebenen Weichenstellungen sollte sich im 5. Jh. erweisen und das Fortbestehen Kohärenz erzeugender Kräfte trotz der Invasionen garantieren. Zu Beginn des 5. Jh. (406/7) strömten Vandalen, Alanen und Sueben nach Gallien, zogen jedoch nach Spanien und Nordafrika weiter. Die Hunnen – keine Unbekannten in Gallien, denn hunnische Truppen hatten unter dem Heermeister Aëtius in der ersten Jahrhunderthälfte einiges zur Verteidigung Galliens beigetragen! – wurden 451 in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (bei Châlons-sur-Marne) gestoppt. Sie kehrten nie wieder, wendeten sich allerdings nach Italien. Der ephemere Charakter der Hunneneinfälle steht im Gegensatz zu seinen Folgen für das kulturelle Gedächtnis im „Hexagon“: Die hl. Genovefa hatte die Verteidigung von Paris organisiert und zählte bald mit den Heiligen des 4. Jh., Hilarius und besonders Martin, zu jenen Gestalten, die im Lauf der folgenden Jahrhunderte mit mythischer Aura umgeben wurden. Die heterogene Bevölkerung aus Galloromanen und „Barbaren“ hatte sich ihre gegenseitige Loyalität bewiesen. ,War dies der Anfang der französischen Nation?’, fragte man sich in der Mythographie. Weniger ephemer nahmen sich die Invasionen der Burgunden und Westgoten aus, denen die Bildung eigener Reiche gelang. Die Burgunden beherrschten ein großes Gebiet südlich der Linie Konstanz– Basel bis nach Vienne und zur Rhône, die Westgoten errichteten das
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Königreich von Toulouse, das sich zwischen Loire und Pyrenäen von Westen bis zur Provence einschließlich im Osten erstreckte. Die Armorica nahm in mehreren Wellen im 5. und 6. Jh. Bretonen auf (der Name „Bretagne“ leitet sich daraus ab), die den Angeln und Sachsen in Britannien auswichen, und führte seitdem ein Eigenleben, das noch in der Frühen Neuzeit andauerte, ein Eigenleben, das sich nicht so sehr auf Eigenherrschaft denn auf Eigen-Artigkeit gründete. Im restlichen Gallien etablierten sich die Franken als Macht. Die Burgunden und Westgoten besaßen den Status Verbündeter des Römischen Reiches, d. h. sie anerkannten die Oberhoheit des Reiches, ohne deshalb Machtchancen ungenutzt verstreichen zu lassen. Die Bildung dieser Reiche war kein plötzlicher Vorgang, sie war mit der bekannten traditionellen Ansiedlungspolitik eng verbunden, die letztlich immer dem Herrschaftserhalt des Römischen Reiches dienen sollte: die Burgunden wurden für die Abwehr der Alemannen gebraucht, die Westgoten unterstützten Aëtius im Kampf gegen Attila und dessen Hunnen. Die vorhandene kulturelle und politische Infrastruktur wurde gewahrt bzw. intelligent modifiziert. Westgoten und Burgunden waren arianisch-christlich, was sie in Gegensatz zur gallo-römischen Kirche brachte. Dennoch ließen sie sich leichter akkulturieren als die heidnischen Salfranken des 5. Jh., die ebenfalls in den Genuß der Ansiedlungspolitik kommen sollten, nachdem sie Aëtius 448 im Artois besiegt hatte. Während die Sprachgrenze im Nordosten am Rhein um 50 bis 100 km nach Westen verschoben wurde, erwies sich die etablierte gallo-römische Kultur im Süden als wesentlich resistenter. Dies blieb auch so, als die merowingischen Franken unter Chlodwig (geb. um 466; 481 bis 511) erfolgreich die Alemannen und Westgoten bekämpften. Die Bekehrung Chlodwigs, die den vereinten Kräften seiner zweiten Frau Chrodechilde (Clotilde) und des hl. Remigius zugeschrieben wurde, und seine Taufe an vermutlich Weihnachten 496 in Reims verschafften ihm einen entscheidenden Akzeptanzvorteil gegenüber den arianischen Westgoten. Als Nachfolger des letzten Königs der ebenfalls christlich gewordenen Rheinfranken bewerkstelligte Chlodwig die Einheit der Franken. Seine Söhne unterwarfen 532 bis 534 das Burgundenreich und eroberten 536 die Provence, so daß der größte Teil des „Hexagons“ unter fränkisch-merowingischer Herrschaft stand. Chlodwig hatte Paris zur Hauptstadt und zur Begräbnisstätte gewählt. Reims als Ort seiner Taufe und der Wirkungsstätte des hl. Remigius hob später Gregor von Tours in seiner „Geschichte der Franken“ hervor.
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Soweit die nicht allzu reichen Quellen Schlüsse zulassen, hat Chlodwig seinen Entschluß zur Annahme des katholischen Christentums langsam reifen lassen, um die Tragweite eines solchen Schrittes wohl wissend. Immerhin war er nach fränkischer Überlieferung göttlicher Abstammung, die Taufe konnte unter keinen Umständen als individueller Akt verstanden werden. Wieviele Franken sich zugleich mit Chlodwig taufen ließen – ob 3.000 oder mehr – ist eher unerheblich, erheblich ist der kollektive Akt selbst. Das Nebeneinander von Christen und Nicht-Christen fand damit kein schnelles Ende, aber die Tatsache, daß Chlodwig neben dem oströmischen Kaiser der einzige katholische König im Römischen Reich war, wurde von den Zeitgenossen hervorgehoben und verschaffte Gallien eine besondere Stellung. Diese Entwicklung war keineswegs zwangsläufig gewesen; aber Alternativen – es wäre zu Zeiten u. U. ein Sieg des Arianismus denkbar gewesen – hatten sich nicht entfaltet. So bot die Geschichte des katholischen Christentums im „Hexagon“ reichlich Raum für die spätere Mythographie, die dem Königtum über gefährliche Schwächeperioden hinweghalf. Chlodwig und seine Nachfolger förderten Christentum und Kirche nach Kräften.
Kultureller und gesellschaftlicher Wandel Die angesprochene intelligente Modifizierung der kulturellen Infrastruktur kann nicht im einzelnen dargelegt werden. Als Beispiel diene das Zusammenspiel von Lex Burgundionum und Lex Romana Burgundionum. Burgunden, Westgoten und Franken besaßen ein je eigenes Recht, das sie jedoch nicht unterschiedslos in ihren Herrschaftsgebieten anwendeten. Vielmehr blieb das römische Recht für die alteingesessene Bevölkerung, die schon vorher im Genuß dieses Rechts gestanden hatte, gültig. Nacheinander kodifizierten die Westgoten, die Burgunden und die Salfranken (Lex Salica, um 500) ihr eigenes Recht in Latein. Die Besonderheit am Burgundenreich war, daß neben der Lex Burgundionum auch das Recht der römischen Bevölkerung in der Lex Romana Burgundionum kodifiziert wurde. Dazu wurde der sachkundige Rat römischer Ratgeber im Königreich eingeholt. Geschaffen wurden zwei Ämter, die eines römischen comes für die römische Bevölkerung und die eines burgundischen comes für die burgundische und sonstige germanische Bevölkerung. Überhaupt entwickelte sich im Burgundenreich eine Art Verwaltungsmodell, ein Modell der Kohabitation zweier Rechts- und politischer Kulturen, das die Franken unter Chlodwigs Söhnen nach der Eroberung dieses
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Reiches in wesentlichen Teilen übernahmen. Generell blieb die Macht- und Ämterhierarchie des Römischen Reiches in Kraft, letztlich auch der Gedanke seiner Einheit. Seit 476 gab es nur noch einen Kaiser in Ostrom, der von den Mächten im „Hexagon“ anerkannt wurde. Umgekehrt wurde Chlodwig nach seinen Siegen über die Westgoten und die Burgunden vom oströmischen Kaiser als rex anerkannt und zum Ehrenkonsul erhoben. Die damit verbundenen Rechte nutzte der merowingische Herrscher. Dies unterstreicht, daß die Idee vom einen Römischen Reich noch wirkmächtig war. Chlodwig übernahm in seinem erweiterten Herrschaftsbereich die römischen Verwaltungsinstitutionen und das Steuerwesen, die Goldmünzen trugen weiterhin das Bild des Kaisers, die Zusammensetzung des Heeres war weiterhin gemischt römisch-fränkisch-germanisch. Der alte Senatorenadel, aus dem viele Bischöfe stammten, konnte seine gesellschaftliche Position halten, die politische Funktion der Bischöfe scheint ebensowenig geschmälert worden zu sein. Seitdem die Franken zumindest äußerlich das katholische Christentum angenommen hatten, entfaltete dies neue soziokulturelle Integrationskräfte, wie beispielsweise aus der sprunghaft ansteigenden Zahl von Klostergründungen zu ersehen ist. Auf dem Land wurden immer mehr Gemeinden eingerichtet, städtisches Leben erhielt seinen Rhythmus durch die liturgischen Zeremonien. Die Gräber der Heiligen zogen Pilger an, die zunehmenden Pilgerreisen von Britannien nach Rom bildeten einen der Gründe, warum in der Merowingerzeit immer mehr Hospize und Hospitäler entstanden und der Gedanke einer institutionalisierten Fürsorge (nicht nur für Pilger) Platz griff. Weit mehr als die politische Herrschaft, die instabil war, schuf das Christentum einigende Bande in der immer noch multiethnischen Bevölkerung, es verhinderte den Bruch mit der antiken Schrift- und Rechtskultur und Kunst. Es hieße aber die Geschichte verzerren, wenn der oftmalige Zwangscharakter dieses Bandes übersehen würde. Er traf vor allem die Juden. Nach Bezeugung des Gregor von Tours lebten die Juden noch im späten 6. Jh. nach römischen Recht, ihre Sprache war Latein, ihre Namen lateinisch und auch von denen der Christen in der Regel nicht zu unterscheiden, ihre Grabsteine waren denen der Römer im „Hexagon“ sehr ähnlich. Juden waren vielfach im Orienthandel tätig und bildeten in Städten wie Arles, Narbonne, Vienne, Lyon, Bordeaux, Paris und vielen mehr eine demographisch wie soziopolitisch ins Gewicht fallende Gruppe. Erst durch das kanonische Recht, das christlich-jüdische Ehen verbot, und
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durch die Veranstaltung von Zwangstaufen wurden sie in die Rolle einer abgegrenzten Gruppe gedrängt, deren Rechtsstatus sich in einem von großen regionalen Divergenzen gekennzeichneten Prozeß unaufhörlich verschlechterte. Bis weit ins 6. Jh. gehörten Syrer und Griechen zu den prägenden Gruppen der städtischen Gesellschaft im „Hexagon“, nicht nur im Süden, sondern auch in Orléans oder Tours. Sie waren Händler, sie fanden sich im nächsten Umkreis der Mächtigen, sie waren Bischöfe. Wenn sie seit dem 7. Jh. immer seltener Erwähnung fanden, dann wohl deshalb, weil die muslimischen Araber als Herren in Syrien und auf dem Mittelmeer die Handelsverbindungen sehr erschwerten und die demographische Erneuerung der Gruppen in Gallien aus dem Orient ausblieb. Die historische Demographie hält sich mangels geeigneter Quellen mit Zahlen zur Bevölkerung zurück. Sie kann jedoch auf der Grundlage der Ortsnamenforschung und Ausgrabungen von Gräbern, Friedhöfen und profanen Einrichtungen mit weiterführenden Ergebnissen aufwarten. In groben Zügen kann für die Epoche vom fünften bis zum siebten Jahrhundert ein Bevölkerungsanstieg diagnostiziert werden, dem eine demographische Baisse sowie ein neuerlicher Anstieg bis Anfang des 9. Jh. folgten. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag in dieser Zeit nicht weit unter jener, die sich für die Franzosen der Zeit um 1800 errechnen läßt: zwischen 25 und 30 Jahren. Wird die Kindersterblichkeit herausgerechnet, so konnte ein Erwachsener damit rechnen, im Durchschnitt zwischen 40 und 45 Jahre alt zu werden. Der römische Typus der patriarchalen Familie konnte sich nicht halten, ebensowenig das Recht des pater familias über Leib und Leben von Familienangehörigen: soweit überhaupt etwas über die Familie (mit Ausnahme der Aristokratie) gesagt werden kann, bestand die Familie aus den Eltern und zwei bis drei im Haushalt lebenden Kindern, was auf eine Gesamtkinderzahl von fünf bis sechs pro Elternpaar schließen lassen könnte. Neben der vor Zeugen geschlossenen Ehe hatte das Konkubinat trotz der dagegen gerichteten Anstrengungen der Kirche Bestand. Dasselbe gilt für die Vielfalt individueller sexueller Praktiken, die Kenntnis kontrazeptiver Maßnahmen, die Praxis von Abtreibung und evtl. der Kindstötung – das ist in der Forschung umstritten. Die Vielzahl von Ethnien, die sich im Lauf des ersten nachchristlichen Jahrtausends im Hexagon ansiedelten, bildeten anfangs einen melting pot. Vielfach akkulturierten und assimilierten sich die Neu-
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ankömmlinge. Z. T. ließen sie sich in früher schon einmal bewohnten, aber dann verlassenen Landstrichen nieder, oder es folgte ihrer Ankunft die Rodung neuen Landes oder sie verdrängten eine angesessene Bevölkerung, die sich anderswo, ggf. neues Land rodend, niederließ. Was früher „Völkerwanderung“ hieß und als ein ebenso brutaler wie abrupter Vorgang interpretiert werden konnte, fächert sich bei genauerer Betrachtung in einen langen und differenzierten Prozeß aus, der sicher Phasen der Beschleunigung, Massierung und auch Brutalisierung kannte, oftmals aber eher einem strukturellen Wandel glich. In manchen Regionen – dies erbringt die Toponymik – kam es durchaus zu einer Art point zéro wie in Teilen der Armorica, oder in der später so benamten Gascogne, der die Basken ihren Stempel aufdrückten, oder in der Somme und in Teilen der Provence. Die darin sichtbar werdende Regionalisierung akzentuierte die Differenz zwischen dem stärker romanisch gebliebenen Süden und dem stärker fränkisch-germanischen bzw. später auch nordischen (Normannen) Einfluß ausgesetzten Norden des „Hexagons“. Aquitanien, das damals wesentlich mehr Gebiete umfaßte als in jüngerer Zeit, erhielt durch Westgoten und Basken eine eigene Prägung. Über die Armorica/Bretagne war schon berichtet worden, aus dem ehemaligen Burgundenreich entstand die Region Burgund (später: Freigrafschaft und Herzogtum Burgund). Andererseits wäre auch von Generalisierung zu sprechen: Fast überall auf dem Land verschwanden die villae; statt dessen ,organisierten’ sich die Menschen auf dem Land in Dörfern und persönlichen Bindungen an Herren und Beschützer. Die Entstehung eines neuen Gesellschaftstyps zeichnete sich ab (s. Kapitel 2).
Von den Merowingern zu den Karolingern Fränkischem Recht folgend wurde beim Tod Chlodwigs 511 die Herrschaft unter seine drei Söhne aufgeteilt. Das heißt nicht, daß aus einem Reich drei selbständige Reiche entstanden, denn unter Chlodwigs letztem Sohn Chlothar I. (555 bis 561) wurden die Herrschaftsbereiche wieder zusammengefaßt. Dasselbe geschah unter Chlothar II. im Jahr 613 und wiederum unter dessen Sohn Dagobert zwischen 629 und 639. Bis zu Karl d.Gr. zeitigte das Frankenreich einen kontinuierlichen Erweiterungsprozeß, dem erst der Vertrag von 843 ein äußerliches Ende setzte. Es waren vor allem weitreichende kulturelle Gemeinsamkeiten auf der Grundlage des katholischen Christentums,
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die die Bestandteile des Reichs miteinander verklammerten. Die spätere Teilung in Neustrien und Austrien sowie in ein Mittelreich (Lotharingien) von geringerer Beständigkeit war dennoch von Beginn an vorgezeichnet, das Frankenreich war grundsätzlich eine monarchia trium regnorum. Die Benennung des Gebiets der Rheinfranken als austrisch stammt aus dem späten 6. Jh. Um 600 wurden das nunmehr fränkische Burgund und Austrien römischem Sprachgebrauch folgend als patria bezeichnet. Der Name Neustrien wurde seit dem 7. Jh. gebräuchlich für die dritte patria, auch kurz Francia genannt. Namensgebungen sind performative Akte: etwas wird zu einem Etwas, zu einer Entität aus einem bestimmten Blickwinkel heraus. Für Neustrien/Francia/Frankreich wurde das Regierungsjahrzehnt Dagoberts zur Epoche der Identitätsbildung. Chlodwig II. (639 bis 657) als Nachfolger in Neustrien regierte einer Quelle zufolge das regnum Francorum, was nichts anderes als die Begrenzung dieses bisher umfassenden Begriffs auf den westlichen, nördlich der Loire gelegenen Teil des Frankenreiches anzeigt. Die anderen Franken wurden nicht mehr uneingeschränkt als Franken angesehen, und deshalb ist die Entstehung des Mythos von der trojanischen Abstammung der (neustrischen) Franken in dieser Zeit so symptomatisch. Die historische Wirkmächtigkeit von Mythen und Legenden ist keine Frage von Realitätsnähe oder -ferne bzw. von Wahrheit oder Erfindung. Man muß sich darüber im klaren sein, ohne daß dies hier im einzelnen ausgeführt werden könnte, daß in der merowingischen und karolingischen Zeit trotz der zeitweise erfolgreichen Bestrebungen, ein einheitliches fränkisches Reich zu halten, immer mehr lokale und regionale politische Machtbereiche entstanden, die zur Unabhängigkeit strebten. Die Idee eines umfassenden Königtums stützte sich zeitweise vor allem auf die Macht von Mythen, die in Frankreich immerhin so bedeutend war, daß sie die fehlende militärische Macht ausgleichen konnte. Zunächst aber bedeutete der Aufstieg der Pippiniden als Hausmeier ,unter’ den Merowingern die Chance zur Bildung eines großen einheitlichen fränkischen Reiches. Besonders Karl, der im 9. Jh. den Beinammen martellus erhielt, war ein unerschrockener und erfolgreicher Krieger, der die Entwicklung zum politischen Sezessionismus aufhielt. Ausgehend von der Schlacht bei Moussais (zwischen Tours und Poitiers gelegen) am 25. Oktober 732 drängte er die muslimischen Araber Schlacht für Schlacht aus dem „Hexagon“ zurück, so wie er auch andere Mächtige im fränkischen Machtbereich unter-
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warf. Die Schlacht von Tours und Poitiers wurde früher mit der Rettung des Abendlandes vor den Arabern identifiziert, eine gewiß übertriebene Interpretation, die sich aber auf zeitgenössische Sichtweisen zurückführen läßt, die überwiegend im Süden Europas entstanden. Konstantinopel war 717 von Arabern belagert worden, hier wußte man die Siege Karls sehr zu schätzen, und auch aus Rom wurde mit Erleichterung auf die Entwicklung im nördlicheren Europa geblickt. Ein christlicher Chronist in Córdoba bezeichnete die Krieger Karls als europenses, was gerne als Identifizierung des Karolingerreiches mit Europa interpretiert wird. Die faktische Macht lag bei den Hausmeiern, und so sah Karl 737 beim Tod des merowingischen Königs keinen Anlaß, den vakanten Thron wieder zu besetzen. Seine Söhne holten dies allerdings 743 nach, der Merowinger Childerich III. wurde zum König erhoben, bis sich Pippin 751 mit Einverständnis des Papstes Zacharias selbst zum König wählen und mit dem heiligen Öl salben ließ. Zacharias Nachfolger Stephan II. ,wiederholte’ die Zeremonie 754 in Saint-Denis, wo er Pippin, seine Frau Bertrada und deren beide Söhne Karl und Karlmann salbte. Ziel des Papstes war es, den fränkischen Herrscher als militärischen Arm gegen die Langobarden in Italien zu gewinnen. Der Frankenkönig wurde zum patricius Romanorum, zum Beschützer der römischen Kirche. Der symbolische Gehalt dieser Handlungsweisen war unendlich weittragend, zeigte er doch an, daß an die Stelle des Imperium Romanum, in das sich die ersten merowingischen Herrscher in ihrem Selbstverständnis noch eingegliedert hatten, nunmehr faktisch wie ideell ein neues Reich getreten war. Kennzeichnend waren neben den erwähnten Handlungen die bis zu Karl d.Gr. andauernde kriegerische Dynamik, verbunden mit einer Dynamik des Gebets, die Pippin auf der Synode in Attigny im Jahr 762 institutionalisierte. „Alle beteiligten Bischöfe und Äbte beteten . . . für das Seelenheil der anderen und verpflichteten sich für jene zu beten, die vor ihnen sterben sollten. Überall legten die Königsklöster Listen derer an, für die sie sich zum Gebet verpflichteten. (. . .) Die karolingischen Könige und ihr Gefolge besuchten Kirchen und bevorzugt Klöster, um Geschenke zu hinterlegen und um sich in libri memoriales eintragen zu lassen, die ihr »Gebetsgedächtnis« sicherten. Der DavidKönig, der ja auch gesalbt war, erneuerte so seinen Bund mit Gott, und der Gottesdienst vereinte im Gebet der Gläubigen die Kirche, den Herrscher und sein Heer: Der Gottesstaat trat sichtbar in Erscheinung.“ (Karl-Ferdinand Werner)
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Wir sind an dem Punkt angelangt, der uns anfangs des Kapitels beschäftigte: die Transformation des kulturellen Gedächtnisses unter den ersten karolingischen Königen. Es soll hier nicht einfach Christentum durch den Begriff der Kultur vereinnahmt werden, aber es geht nicht um subjektive Glaubensleistungen, sondern um die allgemeinen kulturellen Objektivierungen des Christentums. Neben das „Gebetsgedächtnis“ traten eine Historiographie im Dienste der Herrscher und eine Vielzahl von Annalen, die abgesehen von den sogenannten Reichsannalen in den Klöstern fortgeschrieben wurden, sowie die ,neue’ Zeitrechnung seit der Menschwerdung Christi, die sich in den Kanzleien und Klöstern verallgemeinerte.
Die Imagination der Gesellschaft als Körper – Die erste Integration (9. bis 12. Jahrhundert) 2.1 Herrschaftsgeschichte von Karl d.Gr. bis zu Philipp II. August Strukturelle Sedimentierungen zwischen Lokalitäts-, Regionalitäts-, Zentralitäts- und Universalitätsprinzip Der Wechsel von der karolingischen zur robertinischen (d. i.: kapetingischen) Dynastie nimmt in der Herrschaftsgeschichte des Hochmittelalters breiten Raum ein. Dieser Vorgang ist mit der Sedimentierung zweier Reiche im Schoß des einen Reiches unter Karl d.Gr. verwoben. Das Mittelreich konnte sich als solches nicht halten, ein beträchtlicher Teil gelangte unter das Dach des (Heiligen) Römischen Reiches, was nicht heißt, daß diese Teile „deutsch“ waren bzw. wurden. Sie bewahrten sich eigene kulturelle Züge, die trotz der romanischen Sprache der Bevölkerung ebensowenig mit westfränkisch bzw. „französisch“ gleichzusetzen waren. Das Mittelreich wurde im Vertrag von Meersen 870 zunächst durch ein Königreich Italien (an Ludwig II.) ,ersetzt’, lebte aber 879/80 wieder als Königreich Arelat auf, das im wesentlichen aus Niederburgund bestand, einem durchaus ansehnlichen Gebiet mit der Rhône als Nord-Süd-Achse und der Provence als kulturellem Kernstück. Die Karolinger legten spätestens seit der Kaiserkrönung Karls Wert auf die Verwendung von Zeichen, die das bewußte Eintreten in die Einheitssymbolik des römischen Kaiserreichs visualisierten. Dies bedeutete sicher keine pure ikonographische Rhetorik, sondern stützte
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sich auf eine kulturelle Durchdringung des beherrschten Raumes, der der Name „karolingische Renaissance“ gegeben wird. Damit ist nicht nur die Renaissance des Bildungswesens und die Rezeption antiker Schriften gemeint, sondern auch die rationale und rationelle Verwaltungsstruktur, die sich auf die Bistümer, die Klöster, die Königshöfe und -pfalzen sowie auf die missi dominici stützte, desweiteren auf eine höchst effektive Militärorganisation und eine die Herrschaftsgewalt vor Ort durchsetzende Elite (an der Spitze der Graf – comes –, dann der Herzog – dux – als zeitlich jüngere Erscheinung, sowie der Fürst – princeps – als Erscheinung des 10. Jh.; der burgundische Graf Richard wurde 895 offenbar als erster als princeps tituliert), die mobil war, d. h. überwiegend noch nicht durch ethnische oder andere, nämlich kulturell-geographische Wurzeln an bestimmte Orte oder Räume gebunden war, obwohl sie auftragsgemäß „vor Ort“ agierte. Das politische und kulturelle Zentrum war der Hof Karls d.Gr. (Zentralitätsprinzip). Weder waren die Ämter der Elite erblich noch die Güter, die sie zur materiellen Absicherung während ihrer Amtsausübung erhielt. Immer wieder ergab sich im Lauf der Geschichte diese Situation, daß sich die wichtigsten Funktionsträger auf diese Art von Mobilität einließen, aber niemals hielt ein solches System über längere Zeit an, irgendwann kam es doch zur „Pfründenbildung“, zur Immobilisierung von Amt und Besitz, zu Erblichkeit, kurz: zur strukturellen Sedimentierung. Das Lehnswesen war ein solcher Vorgang struktureller Sedimentierung, der freilich viele Wurzeln hatte. Ob er mit den Merowingern schon einsetzte oder erst mit den Karolingern, ist nicht leicht zu entscheiden. Karl der Kahle, der 838 im westfränkischen Teilreich die Macht übernahm, steuerte unter dem Druck der tatsächlichen Verteilung der Macht auf ein Vertragsverhältnis mit den ,Fürsten’ hin, die die Reichsteilung von 843 (Verdun) mit bewerkstelligt hatten und deren Amtsrechte zu vererbbaren Rechten mutierten. Doch die Weichen hatte der Vater Karls, Ludwig der Fromme, 825 gestellt. Im großen und ganzen handelte es sich um einen Prozeß, in dessen Verlauf Lokalitätsprinzip, Regionalitätsprinzip sowie Universalitätsprinzip und Zentralitätsprinzip in ein neues Verhältnis zueinander gebracht wurden. Dazwischen lagerte sich etwas, was mit aller Vorsicht und der Entwicklung etwas vorausgreifend „Nationsprinzip“ genannt werden könnte. Dies bezieht sich auf die politische Ausdifferenzierung zweier Geschichten, die im Kern als Beginn einer „französischen“ und einer „deutschen“ Geschichte interpretiert wer-
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den können, auf die Ausdifferenzierung der Sprachen und Literaturen (auch außerhalb der karolingischen Reiche), um nur zwei wesentliche Aspekte zu nennen. Seit dem zweiten Drittel des 9. Jh. wurde das westfränkische Reich massiv durch die Normanneneinfälle bedroht, geschädigt und zu tiefgreifenden Veränderungen gezwungen. Hierzu zählt die Tatsache, daß sich die Städte nach 870/880 materiell und vorstellungsweltlich einmauerten, ebenso geschah es mit vielen Klöstern. Vielfach wurden Stadtmauern und Städte den Bischöfen vom König übergeben, da die Bischöfe die Verteidigung vor Ort organisierten. Im Süden zwangen die Sarrazeneneinfälle die Bevölkerung zu ähnlichen Verteidigungsstrategien, die machtpolitisch das Lokalitätsprinzip förderten. Die Verteidigung größerer Räume, der Regionen, entglitt mehr und mehr der Hand des Königs und oblag den regionalen Machthabern, die sich zu „Fürsten“ (principes) aufschwangen (Regionalitätsprinzip). Ihnen gelang es, die Macht und die materiellen Güter in der Familie zu halten und die Unabhängigkeit vom König zu steigern. Sie schlugen regionale Wurzeln, sie identifizierten sich zunehmend mit einem regionalen Raum. Die Robertiner verdankten ihren Aufstieg dieser allgemeinen Tendenz. Die permanenten Machtkämpfe zwischen den neuen Fürsten trugen ihrerseits dazu bei, daß das Lokalitätsprinzip immer größere Bedeutung erlangte, zumal die vielen Kriegszüge, was auch immer im einzelnen ihre Ursache war, einen Teil der Verkehrsinfrastruktur und der großräumigen soziopolitischen und sozioökonomischen Verflechtung unterbrachen. Einigen Fürsten wie den Grafen von Poitiers, die zu Herzögen von Aquitanien wurden, den Grafen von Flandern oder eben den Robertinern, die zu Herzögen der Franken wurden, gelang es, großräumige befestigte Verteidigungslinien aufzubauen, innerhalb derer ein funktionierendes politisches Gemeinwesen Form annahm. Grundsätzlich hätte dies zu einer Entwicklung wie im (späteren) Heiligen Römischen Reich führen können, aber die karolingischen und robertinischen (kapetingischen) Könige hielten immer, selbst in aussichtsloser Lage, am Prinzip der ,monarchischen Zentralität’ fest und kämpften dafür militärisch. In der Tat blieben sie, selbst in Zeiten größter politischer Schwäche, die eigentliche Schlüsselfigur im westfränkischen System der Machtbeziehungen unter den Großen. Jeder von ihnen scheint, und das blieb so über etliche Jahrhunderte, gehofft zu haben, den ganzen Kuchen für sich gewinnen zu können; ihre Ambitionen richteten sich folglich nicht auf die Schaffung mehr oder weniger
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kleiner, aber souveräner Fürstentümer oder Königreiche, sondern auf das Ganze. Es lag in der Logik des Systems, an einem einzigen, sakral überhöhten König festzuhalten. Deshalb blieb die Königsidee immer mit der Vorstellung von einem ganzen politischen, christlichen Gemeinwesen verbunden. Dies eröffnete taktische und strategische Spielräume und gab auch dem Zufall eine Chance. Die Biographien und Persönlichkeitsmerkmale von „starken“ Herrschern wie Philipp II. August alleine können die Permanenz und schließlich historische Wirkmächtigkeit des ,monarchischen Zentralitätsprinzips’ nicht erklären.
Die Robertiner (Kapetinger) In dem Jahrhundert zwischen 888 und 987 wechselten sich Herrscher aus der karolingischen und robertinischen Dynastie ab. Die Großen des Reichs nutzten ihre Macht, um das prinzipiell existierende Recht der Königswahl auszuspielen. Auf Karl den Einfältigen (893 bis 923) folgte zunächst Rudolf von Burgund (923 bis 936). Von 936 bis 987 hielten sich Karolinger auf dem Thron, reduziert auf einen nur noch kleinen Besitz zwischen Reims und Laon. Daraus resultierte der Versuch, Lotharingien unter karolingische Herrschaft zu bringen, um die Machtbasis zu erweitern. Der erste Robertiner auf dem Thron war Graf Odo von Paris (888 bis 893), sein Bruder Robert I. regierte nur kurze Zeit (922/23). Dessen Sohn Hugo (der Große) bevorzugte jedoch die auf dem politischen Schachbrett einflußreichere und einträglichere Position eines Grafen. Als 987 Ludwig V. ohne direkten männlichen Erben starb, wählten die Großen des Reichs auf Betreiben des Bischofs Adalbero von Reims den Sohn Hugos d.Gr., ebenfalls mit Namen Hugo, zum König. Seinen Beinamen Capet, aus dem der dynastische Name der Kapetinger entstand, wird man wohl aus der capa, die Hugo als Laienabt trug, ableiten müssen. Die seinerzeitige Abneigung Hugos d.Gr., die Königswürde anzustreben, war berechtigt gewesen, denn Hugo Capet ging es kaum anders als den Karolingern. Der umfassende robertinische Besitz zwischen Seine und Loire wurde nach und nach in mehrere Grafschaften aufgeteilt, aus der die Grafengeschlechter der Grafen von Maine, von Anjou und Blois hervorgingen. Hugo Capet blieben schließlich nur noch die Grafschaften Paris, Senlis, Dreux und Orléans, also in ˆ etwa die Ile-de-France und der Orléanais. Seine Nachfolger Robert II. (der Fromme; 996 bis 1031), Heinrich I. (1031 bis 1060) sowie Philipp I. (1060 bis 1108) hatten sich wie früher die letzten Karolinger gegen
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die übermächtigen Positionen eines Herzogs von Aquitanien, eines Herzogs der Normandie oder eines Grafen von Flandern zu erwehren. Aber als Könige waren sie gesalbt, und der Umstand, daß sie alle, erstens, Söhne hatten, und diese, zweitens, jeweils zu Lebzeiten zum Mitkönig erhoben, sicherte Kontinuität. Sie hielten ihr Stammgut zusammen und erwarben weiteres hinzu, wie das Herzogtum Burgund, das Robert der Fromme einem seiner Söhne zuwies, oder den Gâtinais, den Vexin und Bourges unter Philipp I. Letzterem sowie seinem Sohn Ludwig VI. (1108 bis 1137) gelang es, nach Selbständigkeit strebende Vasallen im Stammgut zu unterwerfen und wirklicher Herr im eigenen Haus zu werden. Sie machten sich zu Architekten des pyramidalen-hierarchischen Lehnswesens, an dessen Spitze der König, niemandes Vasall, stand. Sie verbanden sich mit der monastischen Bewegung und dem Papst. Die wichtigste Gestalt in diesem Kontext war Abt Suger von St. Denis (Abt 1122 bis 1151). Suger war wichtigster Berater Ludwigs VI. und Regent des Königreichs von 1147 bis 1149, als Ludwig VII. am zweiten Kreuzzug teilnahm. Neben Reims, wo die Ampulle mit dem hl. Salböl aufbewahrt wurde, entwickelte sich St. Denis zum wichtigsten symbolischen Zentrum des Königtums: es war nicht nur die Grablege der Könige, sondern dort wurde die Krönungskrone aufbewahrt – daneben die oriflamme, ein rot- oder purpurfarbenes Banner, das zunächst Zeichen der Abtei gewesen war, dann aber seit dem 12. Jh. bis ins 15. Jh. von den Königen als Standarte gewählt und vor Kriegszügen feierlich in St. Denis abgeholt wurde. Dort entstand schließlich die offizielle Chronik der französischen Könige, deren Anfang Suger selbst mit einer Lebensbeschreibung Ludwigs VI. machte. Es entstand ein Hof mit Hofrat und Hofämtern, die Verwaltung der Krondomäne wurde Vögten (prévôts) anvertraut, deren Ämter vor der Vererblichung geschützt werden konnten. Am Königshof vertreten zu sein, zu bestimmten Anlässen als Ratgeber hinzugezogen zu werden, an Familienzeremonien teilzunehmen wurde (wieder) wichtig. So wie sich kapetingische Könige seinerzeit von der Welle der monastischen Bewegung mittragen ließen, nutzten sie auch die städtische Kommunebildung für sich.
Heinrich Plantagenêt Trotz allem blieb die Situation paradox, weil einer ihrer Vasallen, der Herzog von Normandie, viel mächtiger als sie selbst war. Nach der Eroberung Englands 1066 bildete sich ein beidseits des Kanals an-
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gelegter Herrschaftsbereich heraus, in dem nach dem Aussterben der direkten Nachkommenschaft Wilhelms des Eroberers eine der erstaunlichsten Karrieren des 12. Jh. begann. 1151 erbte Heinrich Plantagenêt von seinem Vater die Grafschaft Anjou und das Herzogtum Normandie, 1152 heiratete er Eleonore von Aquitanien, Erbin der Herzöge von Aquitanien und verstoßene Gemahlin Ludwigs VII. 1154 wurde er König von England, er eroberte sich zudem die Grafschaften von Nantes und der Bretagne. Diese Machtkonstellation wirkte rund drei Jahrhunderte bestimmend für die Entwicklung des französischen Königreiches und mündete in den als „Hundertjähriger Krieg“ bekannten Konflikt.
2.2 Ein „Bodensatz“ kultureller Integration? Latein und Kultur Trotz der Verdichtung lokaler und regionaler Beziehungsgeflechte und Identitäten zu Lasten des Königreichs betrachtete sich spätestens seit den Kapetingern der Großteil der Bevölkerung als „françois“. Ausnahmen blieben die Bewohner der Bretagne und der baskisch besiedelten Gascogne. Selbst die Normannen integrierten sich in das Königreich, nachdem sie als regionale Macht anerkannt, aber eben dadurch in das politische Ganze eingebunden worden waren. Karl der Einfältige überließ den Normannen 911 die Grafschaft Rouen, aus der sich das Herzogtum Normandie entwickelte, gegen das Versprechen, Christen zu werden. Daß das katholische Christentum auch kulturelle Folgen zeitigte, scheint selbstverständlich. Es mangelte durchaus nicht an Universalitätsvorstellungen, die nebenbei bemerkt auch das römisch-rechtliche Erbe betreffen. Die karolingische Renaissance war in mancher Hinsicht janusköpfig, d. h. sie förderte einerseits Universalitätsprinzipien, andererseits untergrub sie diese auch, mußte sie zwangsläufig untergraben. In der merowingischen Zeit war das aus der römischen Spätantike überkommene Bildungswesen morbide geworden. Grammatik und Rhetorik als Rückgrat des spätantiken Bildungswesens wurden nur noch punktuell gepflegt, die Rezeption heidnisch-antiker Schriften verlor an Bedeutung, ohne ganz aufzuhören. Es ist sinnlos, diese Vorgänge als Niedergang zu bezeichnen. Die intensive Christianisierung der Menschen in Europa erschöpfte sich nicht in der Massentaufe, sondern erforderte die Institutionalisierung einer christlichen Bildung und Glaubenslehre. Die Kleriker mußten vom
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Volk verstanden werden. Die Grenzen zwischen Schriftlatein und gesprochenem Latein waren immer sehr flexibel gewesen und hatten sich nach dem Publikum gerichtet. Die verschiedenen Stilebenen (niederer, mittlerer und hoher Stil) trugen dem Rechnung. Man kann davon ausgehen, daß die akkulturierte und assimilierte Bevölkerung zu Beginn der Merowingerzeit sehr wohl noch lateinisch sprach, allerdings ein phonetisch und regionalspezifisch schon deutlich verändertes und diversifiziertes Sprechlatein. Schnittstellen, an denen sich das Verhältnis von Sprech- und Schriftlatein überprüfen läßt, waren die Predigten und vor allem die Heiligenviten, die dem Lokalitätsprinzip folgend örtliche Identitäten schufen. Aus Sicht der Sprachpuristen frönten Heiligenviten und Predigten einem fehlerhaften und verdorbenen Latein. Aus der Sicht der Sprachhistoriker bezeugen diese Quellen jedoch die Veränderungen des Sprechlateins – Predigten und Heiligenviten, die am jährlichen Fest des Heiligen dem Publikum vorgelesen wurden, sollten schließlich verstanden werden –, außerdem bezeugen sie, daß ein Teil der Kleriker nicht mehr die Kunst beherrschte, einen stilistisch reinen lateinischen Text während des Vorlesens oder Sprechens aus dem Stehgreif in ein vom Publikum verstandenes Sprechlatein zu ,übersetzen’. Sie benötigten entsprechend modifizierte Textvorlagen. Als Karl d.Gr. versuchte, dem Zentralitäts- und Universalitätsprinzip im kirchlichen Ausbildungswesen, dem einzigen institutionalisierten bzw. institutionalisierbaren Ausbildungswesen, erneut zum Zuge zu verhelfen, war die Entwicklung des Romanischen aus dem Sprechlatein und seine Auffächerung in mehrere romanische Sprachen schon nicht mehr aufzuhalten. Dennoch wurde alle Anstrengung darauf verwandt, die reine grammatische und rhetorische Lehre des Lateins wieder zum Maßstab der Bildung und des Lateins als Kirchensprache zu erheben. „Noch schwerer wiegt, daß die dem Ohr und dem Gedächtnis der Ungebildeten vertrauten Heiligenviten umgeschrieben werden: Der Ton verändert sich jetzt hin zum hohen Stil, die Diktion des Vorlesers unterscheidet sich jetzt von der vulgären Sprechweise. Die schmalen Stege, über die ein Minimum an Information vom Vorleser zu den Zuhörern gelangte, brechen zusammen. Die Zuhörer sind desorientiert angesichts der Bearbeitungen, die für sie den Bruch mit Traditionen bedeuten, die von alters her bestanden und um deren Aufrechterhaltung sie sich immer bemüht hatten.“ (Michel Banniard) An diesem zentralen Beispiel zeigt sich die Transformation des kulturellen Gedächtnisses unter den Karolingern am deutlichsten.
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Soziokulturelle Grenzziehungen und Volkssprachen Die dezidierte Bildungspolitik hatte in einer Hinsicht durchschlagenden Erfolg: sie legte die Grundlage für die europäische Gelehrtenrepublik bis in die frühe Neuzeit. Natürlich waren die Gelehrten der karolingischen Zeit allesamt Kleriker, aber diese Grundlegung hielt auch in einer seit dem Spätmittelalter zunehmend von weltlichen Gelehrten bevölkerten Republik des Gelehrtentums, des Wissens und des Suchens nach neuer Erkenntnis. Auf der anderen Seite beförderte sie soziokulturelle Grenzziehungen. Es herrschte ein klares Bewußtsein von der Verbindung des Lateins als Gelehrtensprache mit der Klerikerelite und von seiner Abgrenzung gegenüber der ,Volkssprachigkeit’ des Großteils der Bevölkerung, dessen Schriftsprachlosigkeit. Dies implizierte ein hierarchisches Gesellschaftsdenken, in dem sich außerdem der Gegensatz zwischen Stadt und Land verschärfte. An dieser Stelle soziokultureller Grenzziehung, die zunächst das gesamte karolingische Reich betraf, nährte sich zugleich das sprachliche Auseinanderdriften West- und Ostfrankens. Latein war als Massenkommunikationsmedium nicht mehr geeignet. In dieser Funktion traten an seine Stelle die Volkssprachen. In Britannien entwikkelte deshalb Beda Venerabilis (672 oder 673 bis 735) Ende des 7. Jh. eine scripta für das Altenglische, um es den vielen Klerikern, die Latein schlecht oder gar nicht beherrschten, zu ermöglichen, das Evangelium auf Altenglisch vorzulesen. Das heißt, daß auch Bibeltexte ins Altenglische übersetzt wurden. Das Ziel, „die orthodoxe christliche Lehre fehlerfrei (zu) verbreiten“ (Banniard) führte zur Entwicklung von Schreib- und Grammatikregeln der Volkssprachen, nicht nur in Britannien, sondern auch, angestoßen durch Bonifatius (672 oder 675 bis 754), der von Wessex kommend die Germanen auf dem Kontinent missionierte, für das Fränkische, das Sächsische etc. Hier wurde der Grundstein für die Entwicklung neuer Literatursprachen gelegt, die nun aber, genauso wie das Latein der Gelehrten, von den Nichtmuttersprachlern gelernt werden mußten und die den Gegensatz zwischen Oralität und Literalität nicht aufhoben, sondern auf die Volkssprachen übertrugen. Zurecht wird immer wieder auf die Straßburger Eide vom 14. Februar 842 verwiesen: Sie symbolisieren die Existenz und Bedeutung des Althochdeutschen und des Altfranzösischen im 9. Jh.; für das Altfranzösische handelt es sich zugleich um die älteste überlieferte schriftliche Fixierung eines Textes. Die Zeit des 9. Jh. war folglich jene Zeit, in der innerhalb der Gesellschaft mindestens zwei soziokulturell voneinander unterschie-
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dene Kommunikationskreise entstanden, die auf Oralität bzw. Literalität beruhten, und in der die unterschiedlichen Stadien der Literarisierung der Sprechsprachen die politischen Grenzziehungen, vornehmlich die zwischen West- und Ostfrankenreich, unterstützten, selbst wenn die entstehenden Sprachgrenzen nie einfach mit den politischen Grenzen in eins zu setzen waren. Im „Hexagon“ entwickelte sich eine zusätzliche Sprachgrenze zwischen der nördlichen langue d’oïl und der südlichen langue d’oc, die mit dem zeitweiligen, das heißt immerhin einige Jahrhunderte andauernden politischen Auseinanderdriften des Nordens und des Südens verknüpft war.
Recht: Einheit und Vielfalt – das Beispiel der Gemeindebildungen Was das Recht angeht, war schon im ersten Kapitel auf die Parallelität von römischem Recht für die römischen Bürger und beispielsweise burgundischem oder salischem Recht für die Burgunden oder Salfranken hingewiesen worden. Das römische Bürgerrecht der Kaiserzeit war dem Territorialitätsprinzip, nicht aber dem Ethnizitätsprinzip gefolgt. Die Akkulturation im römischen Gallien brachte es mit sich, daß Rechtsfragen zu regeln waren, die sich in der fränkisch-germanischen Kultur vor ihrer Einbettung in die gallo-römische Kultur nicht gestellt hatten. Im großen Bereich des Vertragsrechts wurde praktisch römisches Recht angewendet, weil nur dieses die erforderlichen Normen bereithielt. Daneben ergab sich für die merowingischen Herrscher und ihre Nachfolger die Notwendigkeit, Rechtsfragen unabhängig von der Ethnizität zu regeln. Chlothar I. schrieb im 6. Jh. für den Strafprozeß, ein prinzipiell der Rechtspluralität überlassenes Feld, einheitlich vor, daß ohne Anhörung des Beschuldigten keine Verurteilung erfolgen dürfe. Das durch die politischen Machtverhältnisse begünstigte Lokalitäts- und Regionalitätsprinzip förderte die Ausbildung lokaler und regionaler Gewohnheitsrechte, ein Vorgang, der nicht nur für den Norden gilt, sondern prinzipiell auch für den Süden, der aber aufgrund seiner hochgradigen Romanisierung seit Einrichtung der Provinz Gallia Transalpina mit den Normen des römischen Rechts porentief imprägniert war. Jede Vorstellung scharfkantiger und linearer Gegensätze zwischen Norden und Süden wäre jedoch verfehlt, Sprach- und Rechtsgrenze fielen nicht in eins, sie konnten teils mehr als 20, teils weniger als 20 Kilometer, mithin eine Tagesreise, von einander entfernt sein. Zu den ,neuen’ Rechtsphänomenen der karolingischen Zeit, die sich einerseits an vielen Orten des Reichs als (im Reichskontext)
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vermutlich universell nachweisen lassen, die aber andererseits ihrer Natur nach das Lokalitätsprinzip stärkten, zählen die Frühformen der Gemeindebildung. Der Begriff der Kommune (commune) stammt zwar erst aus der Zeit um 1100, aber neue Forschungen haben zutage gebracht, daß die Rechtsform der Kommune wesentlich älter war und offensichtlich zuerst auf dem Land entstand. Die Grundform war die der coniuratio, der Schwureinung, die sich mit Sicherheit seit den 820er Jahren z. B. im westfränkischen Flandern nachweisen läßt. Grund dieser und späterer Schwureinungen waren die Normannenund andere Bedrohungen, gegen die sich die Bauern dort, wo kein Schutz durch den Herrn gewährleistet war, in Eigenregie zur Wehr setzten. Ludwig der Fromme sprach 821 das Verbot von Schwureinungen höriger Bauern aus; daher wissen wir überhaupt, daß es solche Einungen gegeben hatte. Der entscheidende Punkt war dabei, daß es sich nicht nur um „rein personal bestimmte Schwureinungen“ handelte, sondern um eine „»örtlich radizierte« Gruppenbildung. . ., d. h. eine Form der Vergesellschaftung, die auf dem Substrat eines örtlichen oder regionalen Bereichs aufruht. (. . .) Deren Ziel war gewissermaßen die Aufrechterhaltung der ,öffentlichen Ordnung’, auch mit einem bewaffneten Aufgebot, in einer Zeit, in der die Sicherung des Friedens vom König und seinen Grafen und auch von den Bischöfen nicht mehr wahrgenommen werden konnte.“ (Otto Gerhard Oexle) Trotz der Verbote setzte sich die Gemeindebildung fort und entwickelte sich auf dem Land wie in der Stadt zur Grundform der rechtlichen, politischen und ökonomischen Verfassung örtlicher Gesellschaften, oft, aber nicht zwangsläufig, in enger Verbundenheit mit der Kirchengemeinde. Die coniuratio bzw. Kommune stellte eine Rechtsform dar, die auf örtliche Bedürfnisse zielte; insofern stützte sie das Lokalitätsprinzip; andererseits entstand sie nicht nur in einem begrenzten geographischen Raum, sondern nahm den Charakter eines allgemeinen Phänomens schon im Mittelalter an. Selbst wenn sich diese Rechtsform durch kulturelle contagion (kulturelle Berührung und Nachahmung) ausgebreitet haben sollte – realistischer ist die Annahme, daß sie sich in Variationen an unterschiedlichen Orten parallel ausgebildet hat –, so verweist das Phänomen auf eine große Räume übergreifende Mentalität der Bevölkerung – aller durch die Zeitumstände bedingten und erzwungenen lokalen Fokussierung zum Trotz. Dieser Umstand ist deshalb so wichtig, weil das lokale und regionale Recht nicht einfach dem allgemeinen Recht, das immer durch die lex, das Gesetz,
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ausgedrückt wurde, gegenübergestellt werden darf. Universelle gesellschaftliche Zusammenhänge rechtlicher oder anderer Natur kamen auch im Rahmen des Lokalitäts- und Regionalitätsprinzips zum Ausdruck.
2.3 Die Gesellschaft im 12. Jahrhundert Städte, Münzgeld, höfische Gesellschaft und Sinnenfreude Das gesamte Kapitel über den Zeitraum vom 9. bis zum 12. Jh. trägt in der Überschrift das Wort von der „ersten Integration“. Da auch zur Vorgeschichte im römisch-kaiserzeitlichen Gallien die Integration vieler Ethnien gehörte, klingt dies widersprüchlich. Die Formulierung bezieht sich, erstens, auf das 9. Jh., als die Aufteilung des einmal rund eine Million Quadratkilometer großen Reiches Karls d.Gr. in zunächst drei, dann zwei Teilreiche (zum Mittelreich vgl. oben 2.1) vollzogen war und sich neben dem ,Nationsprinzip’ vor allem Lokalitäts- und Regionalitätsprinzip breit machten. Die Formulierung bezieht sich, zweitens, auf eine gedachte gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Imagination der Gesellschaft als hierarchisch-ständisch gegliederter Gesellschaftskörper integrierte auf der Ebene gedachter Wirklichkeiten, was auf der Ebene der politischen Wirklichkeit oft der Desintegration anheimfiel. Das Denkmodell der Ständegesellschaft war in weiten Teilen Europas radiziert, aber seine tatsächliche Ausbildung variierte ungemein. Von einer Gesellschaftstheorie im modernen Wortsinn kann in der fraglichen Zeit (9. bis 12. Jh.) keine Rede sein. Die meisten Quellen, die etwas dazu aussagen, wie sich jemand die Gesellschaft seiner Zeit als Ganzes vorstellte, entstanden in sehr spezifischen Situationen, aus einer Position der Verteidigung heraus, der Verteidigung einer bestimmten Machtstellung, die als bedroht galt. Es handelt sich um im weitesten Wortsinn literarische Quellen, in denen Bischöfe, Mönche und andere Kleriker ihre Sicht der Gesellschaft innerhalb eines bestimmten Interessenhorizontes mitteilten. Dazu kommen Urkunden oder allgemein rechtlich relevante Schriftstücke, die keine umfassenden Gesellschaftsvorstellungen enthielten, aber die rechtlich handelnden Personen einem Status zuordneten. So wurden in Urkunden der Abtei Cluny (910 gegründet) des ausgehenden 10. Jh. die Einwohner von Cluny als „bourgeois“ bezeichnet – einer der frühesten Belege für dieses Wort. Mit „bourgeois“ ist noch lange nicht der Stadtbürger, wie er im 12./13. Jh. auftritt, gemeint, vielmehr zeigt der
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Begriff eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft an, die in unserem lokalen Beispiel vordergründig auf die immense Bautätigkeit des Klosters zurückzuführen ist. Der Bedarf an Handwerkern war so groß, daß die parallel zum Kirchenbau wachsende Ortschaft Cluny sich ganz augenfällig von den sonstigen agrarischen Siedlungen unterschied und es eines neuen Wortes bedurfte, um die Einwohner adäquat zu benennen. Was am Beispiel Cluny als keimende Ausdifferenzierung der Gesellschaft beobachtet werden konnte, führte im großen Maßstab zur Entwicklung einer städtischen Gesellschaft, in der Menschen „niederer“ Herkunft reich wurden und im 12. Jh. aufgrund ihres Reichtums Einfluß und Macht an den Fürstenhöfen gewannen. Die alten Städte verzeichneten laufend Zuwanderungen aus dem Umland – Chartres etwa aus einem Umkreis von 100 km – und von kleineren Gruppen oder Individuen aus weiter entfernten Regionen (z. B. Bretonen in Chartres). Zeitweise machte die Immigration den gesamten demographischen Zugewinn einzelner Städte aus. Zusätzlich entstanden Marktflecken (bourgs; viele andere Bezeichnungen) im Umfeld von Abteien und wichtigen Burgen, gelegentlich entwickelten sich aus neu entstandenen Handwerkervororten oder aus anderen Gründen neben der älteren Stadt eigene Städte. Ein Reihe bald oder später sehr bedeutsamer Städte entstand erst seit dem 10. bis 12. Jh. (in chronologischer Reihenfolge): Montpellier, Lille, La Rochelle, Marmande. Verläßliche Zahlen über die Größe der Städte liegen überwiegend erst für das 14. Jh. vor; sie können nicht für Aussagen über das 12. Jh. herangezogen werden. Mit der Entstehung der städtischen Gesellschaft war eine Renaissance des Münzgeldes verbunden. Der Umgang damit kennzeichnete nicht nur die Kaufleute, sondern die gesamte Gesellschaft. Bauern mußten ihre Abgaben zunehmend in Geld entrichten, die Fürsten benötigten gut gefüllte Geldtruhen, um ihre Macht zu erhalten, sei es, um Söldner zu bezahlen, sei es, um ihre Freigebigkeit, ihre largesse, unter Beweis stellen zu können, ohne die sie keine wahren Fürsten gewesen wären. Der Geldumlauf in der Wirtschaft und Geld als Ausdruck politischer und sozialer Beziehungen kennzeichnet einen neuen Vernetzungs- und Integrationsgrad der mittelalterlichen Gesellschaft im 12./13. Jh. In dieser Zeit war auch die Ausbildung der höfischen Gesellschaft in ihren Grundzügen zum Abschluß gekommen. Als Zentren von Kultur und Literatur sowie einer positiv konnotierten körperlichen
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Auffassung vom Leben machten sie eine zentrale Verschiebung im Gefüge der literaten Gesellschaft deutlich: sicher waren viele Klöster und Bischofssitze Zentren der Bildung und Ausbildung, des Wissens und Erkennens geblieben, aber diese hatten Konkurrenz erhalten. Die Kleriker, die wie Benedikt von Sainte-Maure um 1180 im Dienste Heinrich Plantegenêts am Hofe von Anjou schrieben, setzten keine Zeichen für die Vitalität der literaten Macht der bischöflichen und monastischen Kultur, sondern für den Säkularisationsschub des 12. Jh. Die Höfe – schon der Plural zeigt den Unterschied zur Hochphase der karolingischen Herrschaft und des karolingischen Hofes – waren Kristallisationspunkte des Rittertums, das seinem Selbstverständnis im Turnier zeremoniellen und visuellen Ausdruck gab. Um Ritter zu werden, mußte ein Ausbildungsgang durchlaufen werden: Bildung und geregelte Ausbildung waren kein Privileg des Klerikers mehr. Die Erhebung zum Ritter, der Ritterschlag, folgte einem liturgisch anmutenden Zeremoniell.
Die Grundherrschaftsgesellschaft Die höfischen Gesellschaften, deren Sinnbild die Minnedichtung, vor allem auch die höfischen Romane eines Chrétien de Troyes (um 1135 bis 1190) und der Roman de la Rose (Guillaume de Lorris, um 1205 bis um 1240; entstanden um 1230/40; zwischen 1275 und 1280 von Jean de Meun – um 1250 bis vor 1305 – fortgesetzt) lieferten, bauten auf einem mittlerweile breit ausgefächerten System ritterlicher Grundherren auf. Durch Erbteilung waren die Grundherrschaften, die Seigneurien, immer kleiner geworden, oft erstreckte sich die Herrschaft nur noch über ein Dorf. Dennoch versuchten die Grundherren, ihre Stellung auch architektonisch durch die Anlage burgähnlicher Gebäude zum Ausdruck zu bringen. Es ging nicht nur darum, der Bevölkerung Schutz gewähren zu können, sondern auch um eine Machtdemonstration. In der Charente beispielsweise sind vor 950 nur sechs Burgen nachweisbar, zwischen 990 und 1200 stieg die Zahl auf 88 (die wachsende Zahl hatte folglich nichts mit normannischen Bedrohungen zu tun), dazu sind 59 sogenannte mottes (burgähnliche Anlagen kleinerer Seigneurs) zu rechnen, die vorzugsweise in den neuen Rodungsgebieten angelegt wurden. Zugleich verdichtete sich das Netz von Natural- und Geldabgaben sowie Arbeitsleistungen, mit dem die ländliche Bevölkerung überzogen wurde. Nicht zuletzt die Kirche, allen voran die Klöster in der Zeit der cluniazensischen Reformbewegung, hatte zum Ausbau und zur Ver-
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festigung des Grundherrschafts-, des Seigneurialwesens, beigetragen. Bei aller sozialen Differenzierung bildete sich eine Grundherrschaftsgesellschaft heraus, in der auf der einen Seite die kirchlichen und ritterlichen bzw. fürstlichen Grundherren standen und auf der anderen Seite die Bauern, die rustici, die vilains, die agricultores, die paysans und wie sie sonst noch genannt wurden. Deren rechtlicher Status variierte zwischen Hörigen und Freien, sozioökonomisch bildeten die Bauern keine einheitliche Schicht: die einen besaßen ein Ochsengespann und wurden gelegentlich als laboratores im Sinne des späteren Begriffs laboureur (zumeist der Vollbauer mit Hof und Ochsengespann im Gegensatz zum Tagelöhner oder Gärtner) bezeichnet, die anderen besaßen wenig und waren auch im ökonomischen Wortsinn arm (pauperes). Die Seigneurie erstreckte sich auf Grund und Boden sowie auf die Rechtsprechung, Wegezölle und diverse Bannrechte. Eine Vielzahl von Aufständen im 12. Jh. machte den sedimentierten gesellschaftlichen Gegensatz innerhalb der Grundherrschaftsgesellschaft sinnfällig – wie auch städtische Aufstände den Machtzuwachs der bourgeois zum Ausdruck brachten.
Demographie und Agrarexpansion Zu den wichtigsten Triebkräften der sozialen Ausdifferenzierung gehörte ein nachhaltiges demographisches Wachstum vom Ende des 10. bis in die Mitte des 13. oder, je nach Region und Quellen, des 14. Jh., das mit der Ausweitung der landwirtschaftlichen Anbauflächen verknüpft war. Heide-, Wald- und Sumpfflächen wurden urbar gemacht. Dies resümiert die globale Entwicklung, deren regionale Differenzierung nicht übersehen werden sollte. An den sonnigen und fruchtbaren Hängen des Mâconnais war schon vor dem Jahr 1000 der demographische Sättigungsgrad erreicht. Was an Land urbar gemacht werden konnte, war urbar gemacht worden. Ganz anders sah es in den Ebenen des Mâconnais aus. Wenn allgemein in Frankreich nunmehr Hochebenen besiedelt und bewirtschaftet wurden, setzte dies neben demographischem Druck verbesserte Techniken voraus. In der Picardie, um eine quantitative Illustration zu liefern, wurden zwischen dem 12. und 14. Jh. 1.500 bis 1.900 km2 Fläche kultiviert, das entsprach 15 bis 19% der Gesamtfläche der Picardie oder, anders ausgedrückt, der Jahresarbeitsleistung von rund 285.000 Männern (pro Mann und Jahr werden durchschnittlich 6.000 m2 gerodeter Fläche gerechnet). Die Picardie bietet in jeder Hinsicht Spitzenwerte, so beim Bevölkerungswachstum, für das im letzten Viertel des 12. Jh.
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0,72% jährlich errechnet wurden. Zum Vergleich: der französische Spitzenwert im 20. Jh. lag bei 0,8%. Der Rodungsprozeß wurde durch Schübe akzentuiert, in der Picardie zwischen 1150/60 und 1210/20. Der wichtigste Indikator für das Bevölkerungswachstum sind die Siedlungsforschung und Angaben über die quantitative Veränderung von Feuerstellen in den Siedlungen. Die Rekonstruktion der Genealogien vorwiegend adliger Familien erlaubt die Annahme, daß die Zahl der Kinder pro fruchtbare Ehe zwischen dem Jahr 1000 und 1075 von 3,5 auf 5 bis 6 stieg (das sind Ergebnisse aus der Picardie), aber die geographische und soziale Verallgemeinerungsfähigkeit bleibt ungeklärt. Sicher ist, daß der demographische Erneuerungswert im 11. und 12. Jh. deutlich über 100% lag – hier bei 112%, dort bei 164% und da bei 177%. Zu bedenken ist, daß die monastischen Bewegungen zumindest zeitweise einen Teil des demographischen Reproduktionspotentials abschöpften und daß regional bis zu einem Drittel der Frauen und Männer nicht heirateten, sei es, um eine Zersplitterung des Familienerbes zu verhindern, sei es, weil der sozioökonomische Status nicht hätte gehalten werden können. Die Agrarproduktion, vor allem verschiedener Getreidesorten, stieg maßgeblich an. Während das Verhältnis von Aussaat zu Ertrag in der karolingischen Zeit 2 oder 3 zu 1 betragen hatte, wurden Mitte des 12. Jh. in Burgund Verhältnisse von 4 zu 1 und Ende des Jahrhunderts in der Picardie von 6 bis 8 zu 1 erreicht. Die Produktionssteigerungen wurden nur z. T. durch erhöhte Feudalrenten abgeschöpft, es blieb zumeist ein vermarktbarer Überschuß, von dem die Bauern profitierten, der aber auch den Aufstieg von Händlern, Kaufleuten und anderen Berufen, z. B. im Bauwesen, beförderte. Es wurden nicht nur neue Abteien und Kathedralen gebaut, sondern auch unzählige Dorfund Pfarrkirchen, wovon das romanische Burgund oder Poitou noch heute sichtbares Zeugnis ablegen. Rudolf Glaber, Mönch in Cluny, schrieb um 1040 bewundernd über diesen Prozeß, es komme ihm vor, als habe die Welt sich geschüttelt, ihre alte Haut von sich geworfen und ein vollständiges neues weißes Gewand aus lauter Kirchen übergezogen. Die bessere Ernährung verlängerte die Lebenserwartung auch der ländlichen Bevölkerung, sie hatte an der neuen Geldwirtschaft teil. Geld gegen Freiheiten – ein Handel, der immer öfter zwischen Grundherren und Bauern betrieben wurde. Die Verbriefung von bäuerlichen Freiheiten (chartes de franchises), die zwischen 1190 und 1240 eine ausgesprochene Hochkonjunktur erlebte, verschränkte sich mit der bäuerlichen Gemeindebildung.
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2.4 Integration durch Imagination: die Vorstellung vom Körper Mit Körperbildern die zweigeschlechtliche Gesellschaft verstehen Die Gesellschaft des 12. und frühen 13. Jh. ordnete sich in vier Großgruppen: Ritterschaft (,Adel’), Kleriker und Mönche, Städter, Bauern. Jede dieser Großgruppen war in sich vielfach differenziert und hierarchisiert; Reichtum oder Armut, Herkunft und Verdienst, Bildung oder Analphabetentum dienten der Ausdifferenzierung, ohne klar voneinander abgrenzbare Kriterien darzustellen. Der König, allerdings auch die mächtigsten Fürsten im Königreich, standen außerhalb, d. h. oberhalb dieser Gruppen und Hierarchien. Es war sicher kein Zufall, daß zur Beschreibung dieses komplexen Gesellschaftsgebildes seit dem 12. Jh. zunehmend auf Körperbilder zurückgegriffen wurde. Sie ließen Raum für mannigfaltige Differenzierungen und Variationen und ermöglichten es dennoch, die Gesellschaft als etwas Ganzes zu begreifen in einer Zeit, in der nicht systemische Theorien wie heute, sondern „Bilder“ – metaphorisch oder materiell – den Zusammenhang der Teile vermittelten. Sie ermöglichten schließlich den Kompromiß zwischen heilsgeschichtlichen und pragmatischen realitätsnäheren Imaginationen der Gesellschaft. Die Ausbreitung gesellschaftlicher Körperbilder fällt mit dem Erstarken des französischen Königtums und dem Aufbau einer zentralistischen machtvollen Verwaltung zusammen. Die gesellschaftlichen Körperbilder machen die mentalen Voraussetzungen der mehr oder weniger spektakulären Wiedergeburt des Königtums unter Philipp II. August begreifbar. Das vorhandene Körper-Bild vom sozialen Ganzen beförderte die politische Integration. Bevor mit diesen Bildern – der Plural ist aufgrund der vielen Varianten gerechtfertigt – eine wichtige Synthese geleistet werden konnte, hatte es kein einheitliches Gesellschaftsbild gegeben, vielleicht auch nicht geben können, solange die Entwicklungen offen und im Ergebnis kaum absehbar waren. In den gesellschaftlichen Körperbildern des 12./13. Jh. spielte die Vorstellung von einer trifunktionalen Gesellschaft eine wichtige Rolle, auf der die Dreiständelehre aufruht. Beides: Körpermetapher und trifunktionale Beschreibungsfiguren, angewendet auf die Gesellschaft, lassen sich in die karolingische Zeit zurückverfolgen, eine Dreiständelehre entstand daraus erst im 12./13. Jh. Als theologisches Ideal reicht die trifunktionale Anschauung noch weiter zurück; sie äußert sich in der Einteilung der Menschen in virgines (Mönche und Nonnen, die allem Sexuellen entsagt
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haben und gewissermaßen die Fleischlichkeit des Körpers hinter sich lassen), continentes (sexuell Enthaltsame, d. i. der Klerus mit den Bischöfen an der Spitze) und coniuges (die Eheleute; nur ein in der Ehe vollzogener Geschlechtsverkehr ist nicht verwerflich). Diese Einteilung umfaßte auch die Frauen, ohne daß dies an ihrer grundsätzlichen Qualifzierung als Dienerin des Mannes etwas geändert hätte. Alle späteren trifunktionellen Schemata beruhten auf einer Einteilung der maskulinen Gesellschaft, erst die Körperbilder seit dem 12. Jh. werteten die Frauen auf und fügten sie in die Bildimagination der Gesellschaft ein. Während die Körperbilder tatsächlich Ausdruck des Bemühens sind, ein komplexes zweigeschlechtliches gesellschaftliches Ganzes zu visualisieren, dienten die älteren trifunktionellen Schemata dem Ausdruck spezifischer Machtinteressen. Daher rührt ihre Variabilität, deshalb läßt sich, bevor nicht Körperbilder und trifunktionelle Erklärungen miteinander verwoben werden, kein Versuch, das reale gesellschaftliche Ganze zu beschreiben, feststellen. Die Imagination der Gesellschaft – und bald auch der res publica – als Körper wurde durch ein verändertes, positives, oft lustvolles Verhältnis zum menschlichen Körper motiviert. Körperbilder finden sich in der Zeit überall: in den Kirchen auf Kapitellen und Fresken, in Buchminiaturen, als Beschreibungen in den unterschiedlichen Literaturgattungen, als Metapher in den verschiedensten Wissenssparten, in der Theologie wie der Naturkunde.
Trifunktionelle Schemata Eine nur scheinbar eindeutige Formulierung der „Dreiständelehre“ trat erstmals in der Francia in den 1020er/1030er Jahren in Laon und Cambrai auf. Bischof Gerhard von Cambrai mußte sich mit einer jener häretischen Bewegungen der Zeit auseinandersetzen, die neben völliger sexueller Enthaltsamkeit die Gleichheit der Menschen ebenso wie die körperliche und Handarbeit praktizierten, die die Notwendigkeit der Sakramente verneinten und damit auch die Institutionalisierung des Glaubens in der Kirche. Zugleich kämpfte er gegen die Ansprüche des weltlichen Vogts Gautier in Cambrai, der die Autorität des Grafen von Flandern hinter sich wußte. In diesen örtlichen Zusammenhängen sprach er um 1025 davon, daß das Menschengeschlecht seit seinem Ursprung dreigeteilt sei in Leute, die beteten (oratores), die das Land bestellten (agricultores) und die kämpften (pugnatores). Alle drei seien gegenseitig miteinander verbunden. Bischof Adalbero von Laon äußerte um 1027/1031 die Auf-
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fassung, daß das Haus Gottes dreifach sei: die einen beteten (orare), die anderen kämpften (pugnare) und wieder andere arbeiteten (laborare). Alle drei gehörten zusammen und seien nicht voneinander zu trennen. Auf der Funktion (oder dem Amt: officium) des einen beruhten die Werke (opera) der beiden anderen, jeder helfe jedem. Für beide Bischöfe bildete die Erfahrung der häretischen Bewegungen, der Gottesfriedensbewegungen sowie der monastischen Bewegung unter der Führung von Cluny den Hintergrund ihres Denkens und Handelns. Die häretischen Bewegungen bedrohten die katholische Kirche, die Gottesfriedens- und die monastische Bewegung drohten die Bischöfe aus ihrer Schlüsselstellung, die sie seit Karl d.Gr. erhalten hatten, zu vertreiben. Beide Bischöfe gingen vom karolingischen Verständnis des Königs aus, der sowohl Beter (orator) wie Kämpfer (pugnator) war. Unter den oratores verstanden sie im Grunde nur die Bischöfe unter Ausschluß der Mönche, deren Erfolg sie von ihrer privilegierten Mittlerstellung zwischen Mensch und Gott vertrieb, unter den pugnatores im Grunde nur die Könige und ihre unmittelbaren Repräsentanten, nicht aber die Masse der Bewaffneten, die gerade durch ihr in das Landesinnere gerichtetes gewalttätiges und Recht mißachtendes Auftreten die Friedensbewegung nötig machten. Mit den tatsächlichen Verhältnissen hatte die Unterscheidung in oratores und pugnatores im begrenzten Verständnis bei den beiden Bischöfen nicht allzuviel zu tun, sie transportierten ein Idealbild, dessen Zeit vorüber war. Interessant ist jedoch die Einbeziehung der agricultores bzw. der laboratores. Der letztere Begriff beschränkte sich nicht auf die Bauern, sondern meinte die, die körperlich arbeiteten, d. h. die, die nicht kämpften, keine Waffe besaßen, die anderweitig als pauperes Bezeichneten. Er konnte tendenziell städtische Bewohner, Händler, Kaufleute usw. einschließen. Körperliche Arbeit reinigte die Niedriggeborenen, die ohne Verdienst Geborenen, von Sünden, insbesondere fleischlichen Sünden. Die beiden Bischöfe gründeten sich folglich nicht nur auf ein karolingisches Königs- und Gesellschaftsbild, sondern auch auf ein eschatologisches. An diesem Punkt machten ihnen jedoch die Mönche und die monastische, cluniazensische Bewegung gefährliche Konkurrenz, die als Motor der Friedensbewegung einen nicht unbeträchtlichen Teil der Ritterschaft und der Mächtigen akkulturierten. Sie impften diese Leute nicht nur mit monastischen Idealen, sondern machten auch die von Cluny aus reformierten Klöster (rund 800 in Frankreich) zu Stützen einer idealerweise monastisch geläuterten, aber nichtsdestoweniger politischen
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Herrschaft und setzten sich damit in die Funktionsstelle der Bischöfe. Die aufkommende Kreuzzugsidee (1095, Papst Urban II. auf dem Konzil von Clermont) tat ein Übriges. Die Variabilität trifunktioneller Schemata war beachtlich. So war die Unterscheidung zwischen Laien einerseits und Regular- bzw. Weltklerus anderer- und dritterseits gängig. In der monastischen Bewegung wurde dem ordo der Mönche (Regularkleriker) der Vorrang vor dem ordo der (Säkular)Kleriker (vor allem Bischöfe) eingeräumt. Die Laien wiederum konnten in Bauern und Kämpfer unterschieden werden, so bei Abbo von Fleury, der Ende des 10. Jh. schrieb (um 940 geboren). Wieder andere sahen hier die oratores (Bischöfe und Mönche), dort die bellatores (Könige) und als drittes schließlich die pauperes, die Unbewaffneten und Unterdrückten. Alle diese Schemen sind darauf ausgerichtet, die offensichtliche Ungleichheit der Menschen unter Bezug auf das Himmelreich mit Sinn zu füllen. Hinzuzufügen ist, daß in der Erwartung der tausendjährigen Wiederkehr der Passion Christi die Apokalypse (Offenbarung) des Johannes besondere Beachtung erfuhr und in der Tat zahlreiche Belegstellen für trifunktionelle Schemata in den Zusammenhang von Auseinandersetzungen mit der Apokalypse gehörten. Diese Auseinandersetzungen waren ihrerseits mit der Reaktion auf das verbunden, was wir im allgemeinen „politische Entwicklung“ zu nennen pflegen, denn das Streben nach Reinigung von Sünden, das sich in der monastischen und (Gottes) Friedensbewegung sowie im ersten Kreuzzug ausdrückte, war ja keine pure theoretische Haltung, sondern führte zu grundlegenden Veränderungen in der Gesellschaft und in den Abhängigkeitsverhältnissen. Ziel war, die menschliche Gesellschaft derjenigen im Himmelreich möglichst anzunähern. Die Gewalt der monastischen Bewegung ist nicht zu unterschätzen: Es gab nicht nur Cluny, sondern weitere ungemein erfolgreiche Gründungen: 1084 gründete der hl. Bruno in der Gegend von Grenoble den Kartäuserorden; 1098 wurde in Cîteaux (Burgund) der Zisterzienserorden ins Leben gerufen. Schwerpunkte waren die Wiederherstellung der reinen Regel des hl. Benedikt und das Leben in Armut, tief geprägt wurde der Orden durch den hl. Bernhard (1112 bis 1153). Mitte des 12. Jh. gehörten 343 Klöster diesem Orden an. 1120 gründete der hl. Norbert den Prämonstratenserorden in der Nähe von Laon, und schließlich verschaffte die Kirchenreform Papst Gregors VII. (1073 bis 1085) der Kirche mehr Eigenrecht gegenüber den weltlichen Herrschern, insbesondere was die Einsetzung von Bischöfen und Äbten anging.
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In offensichtlich weltlicher Absicht scheint das trifunktionelle Schema im Königreich Wessex, also nicht in (Nord)Frankreich, in der Zeit König Alfred des Großen (893 bis 901) eingesetzt worden zu sein. In die angelsächsische Übersetzung (!) von De consolatione philosophiae des Boetius wurde an passender Stelle ein kurzer Kommentar eingebaut, demzufolge der König Männer brauche, die beteten, solche die kämpften und schließlich solche, die arbeiteten. Die drei Funktionen erscheinen auch als Säulen des Throns. Die Denkfigur ist dort ebenso im 11. Jh. nachzuweisen. Es ist nicht ganz auszuschließen, aber auch nicht letztgültig zu beweisen, daß sie über die bestehenden Verbindungen nach Cambrai und Laon gelangt ist. Wie dem auch sei: eines leisteten die trifunktionellen Schemata auf jeden Fall: die Rechtfertigung und Stabilisierung der Grundherrschaft, (allgemeiner: des Feudalwesens), von der die oratores und die bellatores, aus denen allgemeiner milites (Ritter) wurden, lebten. Das trifunktionelle Schema der beiden Bischöfe von Cambrai und Laon ist nicht durchgängig zu belegen. Es scheint erst im späteren 12. Jh. in Nordfrankreich wiederbelebt worden zu sein, und zwar im Umkreis des englischen Königs Heinrich Plantagenêt, dem schärfsten und mächtigsten Widersacher des französischen Königs auf französischem Boden.
Gesellschaft durch Körperbilder integrieren Allen trifunktionellen Figuren gemeinsam war die Überzeugung, daß die Menschen ungleich seien, ja sein müßten, und daß die menschliche Gesellschaft hierarchisch gegliedert sei. Dennoch ging man von einer gegenseitigen Zuneigung aller Menschen aus, die die vielen Herzen einige. Diese einigende Kraft wurde concordia genannt. Der Schritt dahin, sich die Gesellschaft als Körper mit einem Herzen (und einer Seele) vorzustellen, war nicht allzu groß. Paulus hatte im 12. Römerbrief (12,4–5) geschrieben: „Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben Dienst leisten, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören.“ Daß dieser Brief rezipiert wurde, zeigte beispielsweise eine Predigt des hl. Bonifaz im 8. Jh., aber die Körpermetapher war nicht überall zentral. Im 9. Jh. bezog sich Walahfrid Strabo (808/09 bis 849) darauf, 829 verwendeten sie fränkische Bischöfe gegenüber Ludwig dem Frommen. Die Metapher eignete sich vorzüglich zur Beschreibung der Kirche als Haus Gottes, als Gemeinschaft der Gläubigen unter Wahrung aller Ungleichheiten.
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Sie wurde mit der Metapher vom Haus vermischt, die ihrerseits das Bild der Familie evozierte. Familienbildungen im übertragenen Wortsinn konnten allenthalben festgestellt werden: auf Kommunebildungen (Land und Stadt) war oben unter 2.2 hingewiesen worden; mit der Vererbung von Ämtern und Gütern bildeten sich verzweigte Adelsgeschlechter, auf die das Bild zutrifft; die klösterlichen Gemeinschaften paßten in das Bild wie auch die bandenartigen ,Kameraderien’ der Bewaffneten. Fulbert von Chartres (um 960 bis 1028) verglich zu Beginn des 11. Jh. das Verhältnis von Lehnsherrn und Vassal mit dem Verhältnis von Vater und Sohn. Im 12. Jh., nachdem die Welt nicht untergegangen war, sondern sich, jedenfalls in Frankreich, durch wachsenden Wohlstand auszeichnete, mehrten sich die Versuche, die Gesellschaft genauer zu beschreiben. Einer dieser Versuche stammte von Hugo von St. Victor (um 1096 bis 1141), der seit 1125 in Paris lehrte. Hugo bemühte nicht nur das Bild von der Kirche als Leib Christi, sondern verglich auch die Gesellschaft, die er in Laien- und Klerikerstand teilte, mit einem Leib. Die beiden Stände bilden die beiden Hälften des Leibs, die Laien den linken, die Kleriker den rechten, höherwertigen. Es folgt der Vergleich mit dem menschlichen Körper, in dem jedes Glied eine spezifische Funktion erfülle, aber niemals allein und nur für sich allein agiere. Georges Duby hebt in einer Studie die damit verbundene Aufwertung des menschlichen Körpers, des nicht mehr ganz so sündigen Fleisches hervor (Duby 1978, 299). Hugo war nämlich nicht der einzige, der den menschlichen Körper vergleichswürdig machte. Ein vielgelesener anderer Autor, Honorius Augustodunensis (um 1080 bis um 1140 oder später), der einen Teil seines Lebens in Nordfrankreich zugebracht hatte, setzte in etwa zeitgleich mit Hugo von St. Victor den menschlichen Körper als Gesellschaftsmetapher ein. Beide Autoren differenzierten die Gesellschaft in mehr als drei Stände oder Ränge: sie bevorzugten die Siebenzahl, die pragmatischer war, als es zunächst klingt. Honorius zählte die seigneurs, die chevaliers, die riches, die pauvres, die marchands, die paysans, die conjoints (Ehefrauen). Die Bauern bezeichnete er als die Füße des Körpers. In einem gegen Ende seines Lebens (Mitte des 12. Jh.) verwendeten weiblichen Körperbild für die Gesellschaft setzte er weitere Differenzierungen ein – die Bauern rückten in die Position der Schenkel, die Eheleute in die des Bauches usw. Das weibliche Körperbild entsprang keinem Zufall, sondern der allgemeinverbreiteten Rezeption des Hohen Lieds, der Gestalt der Schulammit (7,1–10).
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Der bedeutendste Text wurde jedoch der Policraticus (1159) des Johannes von Salisbury (um 1115 bis 1180). Jener war Sekretär des Thomas Becket, Kanzler des Heinrich Plantagenêt, gewesen, später dann Bischof von Chartres. 12 Jahre seines Lebens hatte er außerdem in den Pariser Lehrstätten verbracht. Die Bedeutung des Policraticus liegt in der Anwendung der Körpermetapher auf die res publica. Die res publica ist ein Leib, dessen Seele jedoch im Sacerdotium, im Priesteramt, besteht. Die Herrscher (principes) sind die Diener des Sacerdotium. Johannes von Salisbury beschreibt neben den Bauern auch die städtischen Handwerke (als Füße des Körpers), so viele Berufe, daß ,sein’ Körper Füße wie ein Tausendfüßler hat. Die Vielzahl von Funktionen, die das Gemeinwesen ausmachen, wird einzelnen Körperteilen zugeordnet: die Rechtsprechung den Ohren und der Zunge, die Finanzleute den Eingeweiden, die engsten Vertrauten des Königs den Hüften. Vieles bezieht sich auf den Hof, trägt der gewachsenen Bedeutung des Fürsten- und Königshofes Rechnung. Der Herrscher ist der Kopf, der alles lenkt. Ist der Kopf krank, verdorben, leidet der ganze Körper; sind einzelne Glieder krank, leidet jedoch auch der Kopf. Jeder möge an seinem Platz bleiben, der ihm zugewiesen sei. Die Körpermetapher profitierte nicht zuletzt vom Verständnis des Körpers als Mikrokosmos, in dem Theologie, die Lehre vom Universum, von den Vier Elementen und die medizinische Humoralpathologie miteinander verbunden wurden. Als Mittler im französischen Raum seien nur Bernardus Silvestris von Tours (Mitte des 12. Jh.) und Thomas von Cantimpré (1201 bis 1263 oder 1270/72; in der Tradition des Hugo von St. Victor stehend) genannt. Die Verschmelzung von Körpermetapher und trifunktionellem Schema erfolgte erst allmählich, die ausgereifteste Version sollte erst Charles Loyseau 1610 liefern. Der Staat als corpus rei publicae mysticum wurde erst ab dem 13. Jh. zu einem Leitbild und soll dort im chronologischen Zusammenhang behandelt werden.
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Die zweite Integration: Das Werden des französischen Staats (1180 – 1483)
3.1 Von der Krondomäne zum Staat: Strategien zur Identifizierung von Sanktions- und Legitimationsbereich „Staat“ und „Nation“ Mit der Regierungszeit des Kapetingers Philipp II. wurden grundlegende Veränderungen in der französischen Geschichte manifest. Mit Philipp begann der kontinuierliche Ausbau der Krondomäne, die anderthalb Jahrhunderte später im Jahr 1328 Dreiviertel des Königreichs (313.000 km2 von 424.000 km2 ) umfaßte. 1328 ist insofern ein symbolisches Jahr, als damals im Gebiet der Krondomäne die erste umfassende Bevölkerungszählung, der Zensus der Herdstellen (Haushalte) durchgeführt wurde. Das Motiv war fiskalischer Natur. Die Unternehmung macht sinnfällig, daß der tatsächliche Herrschaftsbereich des Königs (Karl IV. d. Schöne, 1322 bis 1328) als etwas Zusammengehöriges begriffen wurde, als ein in der fiskalischen Vorstellung grenzenloser Raum, in dessen Innern der Blick des Königs und seiner Verwalter von keinen unüberwindlichen Grenzen, die mächtige Vasallen einmal errichtet hatten, mehr aufgehalten wurde. Die Schaffung dieses vom König nicht nur ideell, sondern materiell beherrschten Raums begründete die langfristige politisch-staatliche Integration Frankreichs. Sie wird hier bewußt als „zweite Integration“ in der chronologischen Abfolge bezeichnet, weil sie die im zweiten Kapitel beschriebenen religiösen, sozialen, kulturellen und dem Bereich der Imagination zugehörigen Integrationselemente zur Voraussetzung hatte. Diese Phase territorialpolitisch dominierter Integration reichte bis in die Zeit Ludwigs XI. (gest. 1483). Als Problem stellte sie sich vorübergehend noch einmal in der zweiten Hälfte des 16. Jh. Während der Hugenottenkriege war nicht nur die konfessionelle Einheit verlorengegangen, sondern auch die territoriale Einheit war akut gefährdet gewesen. Heinrich IV. war der letzte französische Herrscher, zu dessen Hauptaufgaben der Erhalt bzw. die Wiederherstellung territorialer Einheit als Herrschaftsgrundlage gehörte. Zwar betrieben Ludwig XIII. und XIV. gleichfalls eine territorialpolitische Integration, diese beruhte aber auf anderen Grundlagen als dem Erhalt oder der Wiederherstellung territorialer Einheit (s. Kapitel 5).
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Die territorialpolitische Integration zeigt ihre Bedeutsamkeit in der Frage der Nationsgeschichte(n). Die neuzeitliche Nation ist eng an die territoriale Staatlichkeit gebunden, ihre charakteristischsten Ausprägungen sind ohne diese Form von Staatlichkeit nicht zu erklären. Das heißt nicht zwangsläufig, daß die „Nation“ ausschließlich eine Folgeerscheinung der modernen Staatsentwicklung darstellt. Diese profitierte von einer Vielzahl sozioökonomischer Integrationsprozesse vor 1500. Die Langlebigkeit vieler Institutionen, die vom 12. bis 14. Jh. entstanden und erst durch die Revolution 1789 ff. abgeschafft wurden, suggeriert den Eindruck, als sei der moderne französische Staat im 14. Jh. schon weitgehend ausgebildet gewesen und habe jenen festen Rahmen zur Verfügung gestellt, innerhalb dessen sich die moderne Nation entwickeln konnte. Dies hieße, die tatsächliche Beherrschung von Raum und Menschen vor Ludwig XIV. falsch einzuschätzen.
Herrschaftsgeschichte: die territorialen Grundlagen Unter „Legitimationsbereich“ des französischen Königs ist das Reich in etwa gemäß den „Grenzen“ von 843 zu verstehen, unter „Sanktionsbereich“ der tatsächliche territoriale Bereich, in dem der König seine Macht durchsetzen konnte. (Joachim Ehlers) Bis zum Ende des 15. Jh. wurden beide Bereiche zur Deckung gebracht, die „Grenzen“ von 843 zum Teil schon überschritten. Die Territorialpolitik Philipps II. August (1180 bis 1223) bestand darin, die Krondomäne möglichst zu erweitern und gegenüber allen Vasallen seinen Anspruch auf die Stellung als oberster Lehnsherr, dem der Lehnseid zu leisten sei, durchzusetzen. Dies galt insbesondere gegenüber dem englischen König Heinrich II., der damals über fast den ganzen Westen Frankreichs herrschte. Philipp fügte der Krondomäne zunächst Amiens und den Vermandois hinzu (Vertrag von Boves 1185), es folgte Issoudun (1187). 1188 besetzte Philipp den Berry, den Vendômois und den Vexin. Die tiefgreifenden Differenzen zwischen Heinrich II. Plantagenêt und seinem älteren Sohn Richard (Löwenherz) spielten Philipp in die Hand. Richard leistete Philipp 1188 den Lehnseid für alle Lehen auf dem französischen Festland. Hand in Hand spielten beide gemeinsam den englischen König aus und übernahmen Anjou, Maine, Perche und die Touraine. Heinrich, der auch von seinem jüngeren Sohn Johann (Ohneland) hintergangen und verraten wurde, starb am 6. Juli 1189. Richard wurde König und erhielt die alten Besitzungen in Frankreich als Lehen aus Philipps Hand. Gemeinsam brachen
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dann beide 1190 zum dritten Kreuzzug auf. Aber sie waren keine Freunde, sondern blieben Gegner, die sich lediglich auf die Kunst verstanden, strategische Allianzen zu schließen, wenn sich beide einen Vorteil erhoffen konnten. Auf dem Kreuzzug fiel der Graf von Flandern vor Akkon (1. Juli 1191). Der südliche Teil der Grafschaft war französisches Lehen, der nördliche ein Lehen des Römischen Reichs. Reichtum der Grafschaft und Macht der Grafen zwangen Philipp, so schnell wie möglich zurückzukehren und seine Interessen besonders im Artois und Vermandois zu wahren. Richard wurde auf seiner Rückreise vom Herzog von Österreich wegen einer Beleidigungsaffäre gefangengesetzt. Philipp nutzte diesen „glücklichen“ Zufall, schuf eine strategische Allianz mit Richards Bruder Johann Ohneland. Gemeinsam entmachteten sie Richard. Philipp nahm sich den Vexin und Évreux in der Normandie. Gewonnen war damit freilich nichts, denn Richard kam 1194 gegen Lösegeld frei, zog seinen Bruder auf seine Seite, und es begann ein fünfjähriger Krieg mit dem französischen König, der in der Normandie, dem Berry und Aquitanien zu erheblichen Verwüstungen führte. Abgesehen von Gisors stand Philipp Anfang 1199 (Waffenstillstand von Vernon) fast am Punkt Null, im Jahr 1200 sah er sich zudem gezwungen, einen Teil des Artois wieder aus der Krondomäne herauszuschneiden und an den englischen König abzugeben. Richard starb 1199, so daß sein Bruder Johann den Thron besteigen konnte. Mal schuf Philipp Bündnisse gegen Johann, mal verbündete er sich mit ihm, schließlich gewann er noch im Jahr 1200 dauerhaft Évreux und den Berry, Johann leistete für die anderen Besitzungen den Lehnseid. Weder Philipp noch Richard noch Johann waren moralische Musterknaben, aber wenn es sich rechnete, versuchten sie sich auch in einer solchen Rolle. Johann hatte ein Auge auf die Verlobte des Grafen der Marche geworfen, die Verlobte eines Vasallen also. Diese entführte und heiratete er. Philipp lud daraufhin seinen Vasallen Johann vor das Hofgericht in Paris, wo dieser 1202 seiner französischen Lehen für verlustig erklärt wurde. Philipp bot zur Durchsetzung des Urteils ein Heer auf und nahm sich der Reihe nach die Normandie und Aquitanien sowie die Bretagne. Die meisten Gebiete wurden in der Folge als Lehen vergeben, während Berry und Auvergne der Krondomäne zugeschlagen wurden. 1208 besaß der englische König nur noch die sogenannte Guyenne zwischen Bordeaux und Bayonne mit dem Béarn und dem Comminges.
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Das etwas verwirrende Hin und Her lehrt vor allem, daß hier die Spielregeln des Lehnswesens genutzt und gedehnt wurden, daß es aber nicht um die Arrondierung eines Staatsterritoriums ging wie dann im 17. Jh. unter Ludwig XIV. Die Erweiterung der Krondomäne sollte den Kapetingern eine Hausmacht sichern, die sie mit den großen Lehnsfürsten ihrer Zeit auf eine Stufe stellte; das war vorher nicht der Fall gewesen. Darüberhinaus sollten diese Fürsten botmäßig gemacht werden, was eine Inkorporierung der Lehen in die Krondomäne ausschloß. Ludwig VIII. (1223 bis 1226) folgte dieser Logik, als er im Zuge der Nachfolgeregelung Königtum und Krondomäne seinem ältesten Sohn Ludwig (Ludwig IX., der Heilige, 1226 bis 1270) vermachte, wichtige Lehen wie Artois, Poitou mit der Auvergne sowie Anjou und Maine seinen anderen Söhnen als Apanagen übertrug. Aus dieser Apanage-Regelung entwickelte sich die „zweite Feudalität“, was meint, daß die mit Apanagen versehenen Mitglieder des Königshauses in die Rolle der ehemaligen Lehnsfürsten aus anderen Häusern schlüpften. Das grandioseste Beispiel hierfür lieferten die Herzöge von Burgund, die es im 15. Jh. fast zu einem burgundischen Königreich gebracht hätten. Der Name Ludwigs VIII. ist vorwiegend mit den Albigenserkriegen verbunden, die er schon zu Lebzeiten seines Vaters führte. Die Kriege richteten sich gegen die im Süden verbreitete Sekte der Katharer, die von den örtlichen Potentaten mindestens geduldet wenn nicht aktiv unterstützt wurde. Der Sieg über den Grafen von Toulouse, Raimund VII., der die Katharer stützte, gelang erst nach dem Tod Ludwigs VIII. 1229 wurde er im Vertrag von Paris (12. April) schließlich auf einen Teilbesitz reduziert, er mußte seine Erbtochter Johanna Alfons von Poitiers, einem Sohn Ludwigs VIII., zur Frau geben. Aus dieser Ehe gingen keine Kinder hervor, so daß der Besitz 1271 der französischen Krone zufiel. Was früher einmal das Herzogtum Narbonne gebildet hatte, nahm Ludwig IX. schon 1229 unter seine Herrschaft, im übrigen wurde die Grafschaft Venaissin dem Papst als Lohn für seine Rolle in den Albigenserkriegen übergeben. Die Albigenserkriege waren als Kreuzzüge deklariert worden. Der Status „Kreuzzug“ hatte eine religiöse und eine rechtliche Bewandtnis: Der Papst gewährte den Teilnehmern Ablässe, das Eigentum überführter Häretiker sollte Ludwig VIII. gehören. Es wurden also möglichst viele Ketzerprozesse geführt, die mit dem erhofften Ergebnis endeten. Das Ende des Kreuzzugs öffnete nicht nur zwei geistigen Gewalten die Tür – den Bettelorden (Dominikaner und später Fran-
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ziskaner) sowie der Inquisition –, die konfessionelle Loyalität bzw. Identität erzeugen bzw. erzwingen sollten, sondern führte auch zu einem Austausch der Führungselite und Kolonisierung der politischen Kultur. Noch während fast des gesamten 13. Jh. kam es zu Waffengängen gegen übrig gebliebene Katharer und ihre adligen Helfer. Ludwig IX. war beim Tod seines Vaters 1226 erst zwölf Jahre alt und noch nicht als Mitkönig gekrönt. Dennoch wurde seine Nachfolge im Königtum nicht infragegestellt. Die Regentschaft führte seine Mutter Blanca von Kastilien. Bis zum Pariser Vertrag vom 28. Mai 1258 ,wiederholte’ sich der Machtpoker zwischen dem englischen König Heinrich III. Plantagenêt einerseits und dem französischen König bzw. der Regentin andererseits, in dessen Rahmen Lehnsfürsten wie Graf Theobald IV. von der Champagne versuchten, ihren Anteil an der Macht zu vergrößern. Im Ergebnis wurde 1258 wieder der Stand erreicht, der in etwa beim Tod Philipps II. 1223 schon zu verzeichnen gewesen war: der englische König war immer noch einer der größten Lehnsherrn im „Hexagon“, hatte aber für alle Besitzungen den Lehnseid geleistet. Im übrigen sah sich Theobald IV. genötigt, seine Lehnshoheit über die Grafschaften Blois, Chartres und Sancerre an den König zu verkaufen. Weitere Früchte erbrachte das Mittel der Heiratspolitik: Dadurch fiel die Champagne Jahrzehnte später an das Kapetingische Königshaus. Unter Philipp III. (1270 bis 1285) konnten die Grafschaften Poitou und Toulouse der Krondomäne zugeschlagen werden, unter Philipp IV. (1285 bis 1314) kam 1307/12 die Grafschaft Lyon mit der Stadt Lyon hinzu. Eine Reihe von Kriegen sicherte gegenüber dem englischen König als Vasallen und dem Grafen von Flandern im großen und ganzen den Status quo.
Herrschaftsgeschichte: der Paradigmenwechsel unter Philipp IV. Dahinter verbarg sich unter Philipp IV. dem Schönen ein Paradigmenwechsel in der Herrschaftsform. Er begnügte sich nicht mehr mit der Lehnshoheit, sondern versuchte wie im Fall Flandern, in das Land hinein zu herrschen. Den englischen König hätte er gerne als Vasallen endgültig aus dem Hexagon vertrieben. Während ihm dies nicht gelang, war er in Flandern nicht völlig erfolglos und provozierte auf seiten der Stadtbevölkerung einen Loyalitätskonflikt, der spätere nationale Loyalitätskonflikte vorausahnen ließ. 1297 hatte sich Graf Guido von Dampierre vom französischen König für unabhängig er-
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klärt. Dieser schickte 1300 Karl von Valois nach Flandern, der Graf und sein Sohn Robert von Béthune wurden unter Hausarrest gestellt, ein königlicher Gouverneur (Jakob von Châtillon) eingesetzt. Das flandrische Bürgertum war längst in eine königsfreundliche Partei, die léliaerts (Gefolgsleute der Lilie, Zeichen des französischen Königs), und die Anhängerschaft zum Grafen gespalten. Der Gouverneur besaß jedoch nicht genug diplomatisches Geschick in dieser prekären Situation, sondern brachte nach dem niederen Stadtvolk die Handwerker und das Patriziat gegen sich und den König auf. Am 18. Mai 1302 wurden in Brügge die Vertreter des Königs ermordet (Matines de Bruges/Brügger Frühmette), es folgten mit Ausnahme Gents Aufstände in den meisten flandrischen Städten. Robert II. von Artois sollte für den König die Situation retten, er wurde aber am 8. Juli 1302 bei Kortrijk von den Brügger Handwerkern und weiteren flandrischen Verbänden geschlagen. Diese als „Goldene-Sporen-Schlacht“ bezeichnete Auseinandersetzung spielte für die Konstitution eines belgisch-flämischen Nationalbewußtseins im 19. Jh. eine entscheidende Rolle. Der französische König war also, um es überspitzt auszudrücken, Handwerkern unterlegen. Das war etwas anderes, als eine Ritterschlacht gegen den englischen König zu verlieren. Er ruhte und rastete nicht, bis er schließlich 1305 im Vertrag von Athis in der Position des militärischen Siegers die Bedingungen diktieren konnte: flandrische Entschädigungszahlungen, Erstattung der Besatzungskosten, dauernde Rentenzahlungen an die königliche Schatzkammer, Schleifung der Stadtbefestigungen und manches mehr. Dies griff in unerhörter Weise in den flandrischen Gesellschafts- und Wirtschaftskörper ein und war nicht durchzusetzen. Philipp „begnügte“ sich deshalb nach jahrelangen Verhandlungen mit der Abtretung der Burgvogteien Lille, Douai und Béthune. Zum Paradigmenwechsel unter Philipp IV. zählt desweiteren die Bereinigung der Machtgemengelage. Diese wurde entscheidend durch die Befugnisse des Papsttums geprägt, die die Machtentfaltung des französischen Königs mehr einschränkten als anderes, wie z. B. die Frage des Verhältnisses zwischen Römischem Kaiser und französischem König, die durch die Formel, daß der französische König Kaiser im eigenen Reich sei, beantwortet wurde. Philipp führte das Papsttum in die, wie es Zeitgenossen formulierten, „Babylonische Gefangenschaft“ in Avignon. In allen Fällen suchte und fand er das städtische Bürgertum als Bündnispartner, die Einberufung von Stän-
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deversammlungen respektierte nur äußerlich die „trifunktionelle“ Feudalgesellschaft, in Wirklichkeit symbolisierte sie ein neues Verhältnis: hier König, dort Untertanen, ausgestattet mit bestimmten fiskalischen und politischen Rechten zugunsten eines bonum commune, das sich mit den traditionellen lehnsherrlichen und -rechtlichen Kategorien weder ausdrücken, noch bewerkstelligen noch verwalten ließ. Das Papsttum verfügte über eine spirituelle Macht, deren äußerste Mittel die Inquisition und die Exkommunikation waren. Ein exkommunizierter Herrscher konnte keine rechtsverbindlichen Handlungen mehr begehen, was er dennoch tat, war vor Gericht anfechtbar. Wer von der Inquisition der Häresie überführt wurde, lief Gefahr, Hab und Gut wie im Languedoc der Albigenserkriege zu verlieren. Darin manifestierte sich eine Macht über Geist und Körper der Menschen, für die die Grenzen politischer Herrschaft nichts bedeuteten. Hinzu kam, daß das Kircheneinkommen nicht ohne weiteres von einem weltlichen Herrscher besteuert werden konnte. Obwohl es um einen Kreuzzug ging, mußte Ludwig IX. die Zustimmung des Papstes zur Kirchenbesteuerung einholen. Der politische Paradigmenwechsel, der unter Philipp IV. offen zutage trat, erwies sich nicht zuletzt am ständigen, steigenden Finanzbedarf der Krone für weltliche Zwecke, der nicht ohne massive Steuereinnahmen zu bewältigen war. Neben Bauern und Bürgern mußte die Kirche in Frankreich ihren Beitrag leisten. Schließlich war den Päpsten im politischen System Europas eine Schlüsselrolle als Schlichter zugefallen, die sich nicht zuletzt in den sogenannten Europaplänen des 14. und 15. Jh. niederschlug (s. Kapitel 11). Für einen machtbewußten Herrscher wie Philipp IV. konnte ein Papst ein willkommener Alliierter, aber auch ein höchst unbequemer gegnerischer Machtfaktor sein. Um seinen Geldbedarf zu stillen, erhob Philipp 1296 von der Kirche einen Zehnten für weltliche Zwecke. Üblicherweise wurden in einem solchen Fall Provinzialsynoden der Kirche abgehalten, die sich dem Verlangen des Königs dann kaum entzogen, aber die geforderte Summe zu drücken suchten, eine Taktik, die die französische Kirche bis zur Revolution 1789 durchhielt. Philipp suchte die umständliche Entscheidungsprozedur auszuschalten – und zog den Zorn des Papstes auf sich. Bonifatius VIII. stellte in der Bulle »Clericis laicos« vom 24. Februar 1296 noch einmal das Prinzip eindringlich dar, daß der ,Beitrag der Kirchen zu Aufwendungen der weltlichen Macht Roms Billigung bedürfe und daß alle Geistlichen, die ohne eine solche
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Zustimmung zahlten, schwerste Kirchenstrafen zu gewärtigen hätten’. Philipp schnürte im Gegenzug mittels diverser Ausfuhrverbote den Geldstrom von der französischen Kirche nach Rom ab, woraufhin der Papst ihn unter Anklage stellte. Nichts war gefährlicher als ein solcher Prozeß, und so hieß es für Philipp schnell zu handeln. Seine „Staatsrechtler“, die sogenannten Legisten, entwickelten in dieser Situation die These, daß der König allein Gott Rechenschaft schulde, nicht aber auf dem „Umweg“ über den Papst. Zwar wird diese Staatspublizistik den Papst kaum überzeugt haben, aber er ließ sich auf einen Kompromiß ein, der Philipp in der Tat direkte Zugriffsmöglichkeiten (Besteuerung) auf das Kircheneinkommen eröffnete. 1297 sprach Bonifatius Ludwig IX. heilig. In bezug auf Philipps Interessen in Flandern und hinsichtlich der Königswahl im Reich mit nachfolgender Kaiserkrönung (Albrecht von Habsburg) schien die Methode, mit dem Papst strategische Allianzen zu schließen, wieder erfolgreich. Da startete Bernard Saisset, Bischof von Pamiers im Languedoc, das die Nordfranzosen immer noch als Fremde empfand, eine neue Attacke gegen Philipp. Er stellte die Legitimität des Kapetingischen Königshauses in Frage und suchte den König in ein Schiedsverfahren vor dem Papst hineinzuziehen. Philipp ließ den Bischof festnehmen, um ihm den Prozeß zu machen, was einen Streit über die Zuständigkeit der weltlichen bzw. päpstlichen Justiz auslöste. Ein ganzes Bündel anderer Komplikationen, Rivalitäten und Interessenskonflikte kam hinzu, bis der Papst auf Allerheiligen 1302 ein Konzil einberief, das verkürzt ausgedrückt über die Amtsführung Philipps IV. urteilen sollte. Philipp und seine Legisten organisierten eine Ständeversammlung in der Kathedrale von Notre-Dame (Paris, 10. April 1302), in der sich der König der „öffentlichen Meinung“ in seinem Reich versicherte. Nach weiteren Verwicklungen veröffentlichte Bonifatius am 18. November 1302 die Bulle Unam sanctam, in der die Lehre von der päpstlichen Theokratie niedergelegt wurde. Philipp suchte erneut die Unterstützung der öffentlichen Meinung und ließ am 13. Juni 1303 vor einer ansehnlichen Versammlung im Louvre den Papst als Ketzer, Simonist und Usurpator hinstellen. Philipp drohte dem Papst, ihn durch ein Konzil aburteilen zu lassen, der Papst drohte mit der Exkommunikation des Königs. Philipp schickte eilends eine Gesandtschaft nach Anagni, wo sich der Papst im Sommer 1303 aufhielt, die ihm die Ladung vor ein Konzil überbringen sollte. Der Gesandte Philipps, der Legist Nogaret, nutzte bestehende politische Rivalitäten in Rom, um seine Mission zu
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erfüllen. Sciarra Colonna, ein Widersacher des Papstes, drang am 7. September 1303 mit Gewalt in die päpstliche Sommerresidenz ein. Während ein Kampf von Mann zu Mann tobte und der Papst beinahe ermordet worden wäre, verkündete Nogaret die Vorladung. Bonifatius nun starb einige Wochen nach diesen dramatischen Ereignissen. Sein Nachfolger Benedikt XI. amtierte nur kurz, am 5. Juni 1305 wurde Bertrand de Got, Erzbischof von Bordeaux, als Clemens V. zum Papst gewählt. Die anhaltenden Parteienkämpfe in Rom veranlaßten Clemens, sich im päpstlichen Avignon einzuquartieren. Dennoch war Clemens kein dem französischen König willfähriger Papst, die jeweiligen Handlungsspielräume hatten sich noch nicht wesentlich verändert – dazu bedurfte es willentlicher Anstrengungen. Dies zeigte sich im Konflikt um den Templerorden, den Philipp nutzte, um den Papst zu schwächen. Nachdem die Kreuzfahrer Akkon 1291 nicht hatten halten können, war die Existenzberechtigung eines Ordens wie des Templerordens nicht mehr selbstverständlich. Der Orden war reich und fungierte vor allem als Handelsbank, seine Mitglieder sahen sich allenthalben Vorwürfen ausgesetzt, sie seien Ketzer, Sodomisten und anderes mehr. Als Philipp angesichts eines Papstes, der wenig Neigung zeigte, im Zuge einer breit diskutierten Reform aller geistlichen Ritterorden mit Hinblick auf einen neuen Kreuzzug etwas Substantielles gegen den Orden zu unternehmen, die Templer im Herbst 1307 verhaften ließ, holte er sich erneut bei einer ständischen Versammlung 1308 in Tours öffentlichen und publizistischen Rückhalt. Der Papst versuchte nunmehr, die Prozesse gegen die Templer vor die kirchlichen Provinzialgerichte und Provinzialsynoden zu verlagern. Es folgten prozeßrechtliche Schachzüge, die die Legisten des Königs für sich entschieden. Auf dem Konzil von Vienne 1312 verkündete Clemens V. – Auge in Auge mit einem französischen Heer – die Auflösung des Ordens. Das Vermögen des Ordens fiel nicht direkt an Philipp IV., sondern an die Johanniter und andere Orden, aber der König machte seine Kosten für die Zwangsverwaltung des Templerbesitzes geltend, die dessen Vermögen überstiegen. Die französische Kolonisation des Papsttums begann erst nach Philipps Tod (29. November 1314) mit Papst Johannes XXII. (Kardinal Jakob Duèse), der 1316 gewählt wurde.
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3.2 Französisch-französische und französisch-englische Konflikte: der „Hundertjährige Krieg“ Erbfolgefrage und „Salisches Gesetz“ Auf Philipp folgten seine Söhne Ludwig X. (1314 bis 1316), Philipp V. (1316 bis 1322) und Karl IV. (1322 bis 1328), die jeweils nur Töchter hatten. Da bis zu Philipp IV. die Kapetingischen Könige immer Söhne hatten, die die Nachfolge antraten, war die ausschließlich männliche Erbfolge faktisch Prinzip gewesen. Unter Berufung auf diese Umstände, was die Ausschaltung der Töchter bedeutete, übernahm Philipp VI. von Valois (1328 bis 1350), Vetter Philipps IV., die Herrschaft. Dies wurde von den Baronen, wie die Großen in Frankreich (und England) damals genannt wurden, überwiegend ohne Protest hingenommen. Erst Jahrzehnte später im publizistischen Kampf um die englischen Ansprüche auf den französischen Thron wurde das Salische Gesetz als Begründung hinterhergeschoben, das die männliche Erbfolge im Familiengrundbesitz regelte, aber nichts mit der Thronnachfolge zu tun hatte. Doch schon Eduard III., englischer König, glaubte, den französischen Thron beanspruchen zu können, da er über seine Mutter Isabella, Tochter Philipps IV., ein Enkel, also direkter männlicher Nachkomme Philipps IV. war. Philipp von Valois hatte den Vorteil, in männlicher Linie mit Philipp IV. verwandt zu sein, für ihn sprach, daß er Franzose war, während Eduard III., und das wurde ihm tatsächlich entgegengehalten, nicht als Franzose erachtet wurde. Vorerst, 1329, leistete Eduard Philipp VI. den Lehnseid.
Die „Wabenstruktur der Intrige“ – Strategien der Macht Der Schein trog. 1323 hatten sich in der Region von Brügge in Flandern Aufstände entwickelt, die der flandrische Graf Ludwig von Nevers nur mit Hilfe französischer Truppen eindämmen konnte (Schlacht von Cassel 1328). Dies potenzierte im Grunde jedoch nur die Widerstände der frankreichfeindlichen Bevölkerungsteile. 1340 versicherten sich die aufständischen Flamen der Unterstützung Eduards III., der sich im selben Jahr in Gent als König von Frankreich und Erbe Ludwigs des Heiligen bezeichnete. Es können nicht alle folgenden Schlachten aufgezählt werden, ebensowenig wie die Details, die zu einem frühen Zeitpunkt die Frage der Herrschaft über die Bretagne, die Normandie und die Guyenne in den Konflikt involvierte. Im August 1346 wurde das französische Heer bei Crécy an der Somme aufgrund taktischer und technischer Unterlegenheit von den
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englischen Bogenschützen und Reitern aufgerieben. Diese Schlacht bildete den Auftakt zu einer Vielzahl weiterer Niederlagen, in deren Folge die französischen Könige im 14. Jh. fast allen Zugewinn an territorialer Herrschaft gegenüber dem englischen Vasallen aufgeben mußten, bis Mitte des 15. Jh. wieder die Position erreicht werden konnte, die unter Philipp IV. bereits einmal erreicht gewesen war. In der nationalen Geschichtsschreibung des 19. Jh. wurde für diese hundertjährige Kriegsepoche die Bezeichnung „Hundertjähriger Krieg“ gefunden (C. Desmichels in „Tableau chronologique de l’Histoire du Moyen Age“, Paris 1823), sie wurde dem Zeitgeist entsprechend als nationale Auseinandersetzung interpretiert. Die Epochenbezeichnung verstellt aber eher den Blick, als daß sie zur Erkenntnis beitrüge. Es ist nicht zu leugnen, daß die Auseinandersetzungen um die englischen Lehen im „Hexagon“, so alt sie waren, eine neue Qualität erhielten, die sich allerdings bereits unter Philipp IV. abgezeichnet hatte: es ging nicht mehr so sehr um die Behauptung eines Vasallitätsverhältnisses, sondern um die Inkorporierung von Territorien und Menschen in den Staat, der eine vom König unabhängig bestehende Körperlichkeit annahm. Dazu gesellten sich die vielen Kalamitäten des 14. Jh.: die Pest 1348/49, der ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer fiel, die Krise des Geld- und Handelssystems, Aufstände wohlhabender Bauern (Jacqueries) und der Stadt Paris unter Étienne Marcel Mitte des Jahrhunderts, eine Vielzahl weiterer städtischer Aufstände im letzten Viertel des 14. Jh., wiederholte Kriegszüge in Flandern gegen Gent und andere aufsässige Städte etc. Auf der anderen Seite schritt die Staatsbildung infolge der im 13. Jh. gestellten Weichen unaufhörlich fort, Frankreich war und blieb das bevölkerungsreichste Land Europas, in dem der Strom der Steuergelder nie austrocknete. Im Osten und Süden konnten territoriale Positionen gesichert (Dauphiné 1349) oder ausgebaut werden (Montpellier, vom Königreich Mallorca erworben). Andererseits geriet der französische König Johann II. (1350 bis 1364) nach der Niederlage von Maupertuis/ Poitiers (19. September 1356) in englische Gefangenschaft. Sein Sohn Karl, der ab 1358 die Regentschaft führte, schloß 1360 mit dem englischen König den Frieden von Brétigny und Calais, in dessen Folge Guyenne, Gascogne, Calais und Guines in die Souveränität Eduards III. übergingen, der dafür auf das französische Königtum verzichtete. Johann II. kam gegen ein maßloses Lösegeld frei (es entsprach zehn Jahreseinnahmen der französischen Krone). 1363
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wies Johann seinem Sohn Philipp (der Kühne; gest. 1404) das Herzogtum Burgund als Apanage zu, nachdem die kapetingische Seitenlinie, die das Herzogtum bis dahin als Apanage gehalten hatte, ausgestorben war. Mit diesem Philipp begann der Aufstieg Burgunds zu einem neuen ,Mittelreich’ zwischen Römischem Reich und Frankreich. Karl V. (der Weise, 1364 bis 1380) vermochte das Kriegsglück zunächst zu wenden. Nach mehreren Kriegszügen fand sich der englische König zu einem Waffenstillstand (Brügge 1375) bereit, der ihm aus den Zugewinnen von 1360 Calais, Guines, Bordelais, Bayonne, Aire und Dax beließ. 1378 besuchte Kaiser Karl IV. Paris: der französische König Karl V. trat ihm als Kaiser im eigenen Reich gegenüber. Nach Unterbrechungen residierte ab 1379 auch wieder ein Papst in Avignon, so daß der unter Philipp IV. zu Beginn des Jahrhunderts erreichte Stand wiederhergestellt schien. Karl V. starb, als sein Sohn Karl VI. erst elf Jahre alt war. Er wurde am 4. November 1380 in Reims gekrönt. Karl V. hatte sich für die Regentschaft ein genaues System ausgedacht, aber seine drei Brüder (Ludwig von Anjou, Johann von Berry, Philipp von Burgund) sowie sein Schwager Ludwig von Bourbon hatten Mühe, ihre Rivalitäten hinter dem Staatsinteresse, dem bonum commune, zurücktreten zu lassen. Nach einer anfänglichen Regentschaft zu viert blieb bald nur Philipp von Burgund übrig, Schwiegersohn und zukünftiger Erbe des Grafen von Flandern. Philipp regierte bis Ende der 1380er im Namen Karls VI. Im Oktober 1388 übernahm Karl selbst die Herrschaft; er jonglierte mit großen Plänen, einem Italienzug, um das Papstschisma zu lösen: Frankreich unterstützte Clemens VII. gegen Urban VI., der in Rom residierte und den Kaiser hinter sich wußte. Die Ambition Karls VI. war klar, sich mindestens eine kaisergleiche Stellung in Europa zu erstreiten, eine Ambition im übrigen, die schon Philipp IV. bewegt haben mochte und die im Grunde seit der Schlacht von Bouvines 1214 die Phantasie der französischen Könige erfüllte: Philipp II. hatte sich damals in die Auseinandersetzungen zwischen Otto IV. und Friedrich II. eingeschaltet. Mit englischen Verbündeten hatte Otto IV. den französischen König auszuschalten gesucht. Der Zufall des Schlachtgeschehens hatte es jedoch gewollt, daß Ottos Pferd ins Auge getroffen worden war und seinen Reiter abgeworfen hatte. Otto hatte mit einem anderen Pferd die Flucht ergriffen, das Reichsbanner war in französische Hände gefallen. Philipp hatte es Friedrich II. geschickt, er hatte sich als bewaffneter Schiedsrichter fühlen können.
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Der Sieg schien seinen Beinamen „Augustus“, den ihm sein Biograph Rigord 1204 gegeben hatte, um Philipp als kaisergleich zu charakterisieren, zu rechtfertigen. Aus den ambitionierten Projekten Karls VI. wurde nichts; es ist auf den Tag genau belegt, daß sich bei Karl VI. am 5. August 1392 erstmals eine Krankheit offen zeigte, die im allgemeinen als Geisteskrankheit umschrieben wurde und wird, obwohl sie aus den Quellen nicht exakt zu diagnostizieren ist. Den Rest seiner langen Zeit als König – Karl starb 1422 – verschlimmerte sich die Krankheit: Karl war zumeist nicht mehr zurechnungsfähig, kannte aber auch Phasen der Erholung, die er nutzte, z. B. um noch einen Sohn zu zeugen, den späteren Karl VII., der die territoriale Einheit Frankreichs wiederherstellte. Im Sommer 1392 hatte er seinen Bruder Ludwig zum Herzog von Orléans erhoben, der von da ab faktisch die Rolle eines Regenten übernahm und nicht zuletzt im eigenen Machtinteresse außenpolitisch die italienische Karte zu spielen versuchte. Ludwigs schärfster Rivale war der Herzog von Burgund, der ein eigenes außenpolitisches Netzwerk aufzubauen begonnen hatte. Als sein Schwiegervater Ludwig von Male am 30. Januar 1384 starb, nutzte er die Beerdigungsfeierlichkeiten, um aller Welt in einer wohlinszenierten Darbietung die Entstehung einer neuen Macht zu demonstrieren. Philipp zeigte sich mit einer Eskorte flandrischer und burgundischer Ritter, die in Schwarz gekleidet waren. Schwarz war ein Zeichen für Kostbarkeit. Der Sarg wurde von einem Kerzenmeer erleuchtet, rundherum waren die Banner der zu Burgund gehörenden Provinzen aufgestellt. Die sinnlichen Eindrücke, die von der entfalteten Pracht ausgingen, sollten der Empfindung, daß es sich bei den „Burgund“ genannten Territorien um eine Einheit handele, nachhelfen. Philipp hatte solches Zeremoniell nicht erfunden, der französische Königshof war ihm dabei seit Jahrzehnten vorangegangen, aber die burgundischen Herzöge entwickelten dieses neue höfische Zeremoniell zum europäischen Modell, in das womöglich spanische Vorbilder (Mallorca, Aragon) eingearbeitet waren. Der tiefere Sinn solchen Zeremoniells war, die Heterogenität von Herrschaftsbereichen und Gebilden zu überlagern und eine imaginäre Zusammengehörigkeit und Einheit theatralisch zu visualisieren und im Zeremoniell, das einer durch hierarchisierende Regeln geordneten Kommunikation entspricht, zu realisieren. Karl V. zog mit seinem Hof in Paris von der Île de la Cité in den neu gebauten Louvre jenseits der von Philipp II.
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errichteten Stadtmauer um. Der Louvre bestand aus einem überdimensionierten Donjon (quadratischer Turm), der jedoch nicht das Zentrum einer Burg bildete, sondern im wesentlichen eine Zeremonienhalle darstellte. Rund um die Halle waren die Schreibstuben des Hofes angesiedelt. Vier hohe Ecktürme strichen architektonisch die Stellung des Königs heraus. Im Umfeld des Louvre bauten die am Hof vertretenen hohen Adeligen Stadtpaläste, in denen weder die Zeremonienhallen noch die Türme, von denen aus die Nachbarn beobachtet wurden, fehlten. „Die Bauten der Notabeln drängten sich immer dichter aneinander und an den Louvre heran und bildeten eine große Wabenstruktur der Intrige.“ (Richard Sennett) Höfische Theatralik und höfisches Zeremoniell treten neben die anderen Mechanismen der territorialpolitischen Integration, die den Wandel von der Krondomäne zum französischen Staat vorantrieben. Die wichtigsten anderen Mechanismen waren, neben Institutionalisierungsprozessen, die gleich in einem eigenen Unterkapitel besprochen werden, politische Strategien wie der juristisch begründete Einzug von Lehen (commisio) nach einem Gerichtsprozeß, die vertraglich, also nachträglich juristisch abgesicherte Eroberung, die juristisch abgesicherte Eigentumsnahme in Folge eines Kreuzzuges (z. B. Albigenserkreuzzug) sowie die Heiratspolitik im Verbund mit der Apanagepraxis, die ein funktionstüchtiges Zwischenglied zwischen der Kombination aus Krondomäne und Lehnsverband einerseits und modernem Territorialstaat andererseits ausmachte. Modernere Mittel waren strategische Allianzen mit Stadtbürgern, um die Herrschaftsgrundlagen eines Vasallen von innen her zu durchlöchern, oder um sich eine populare Machtbasis zu verschaffen. Der Kauf von Städten und kleineren Territorien rundete die wichtigsten verfügbaren politischen Strategien ab. Gelegentlich kam es zu politischen Morden.
Von Mord zu Mord Zu Lebzeiten Herzog Philipps von Burgund herrschte ein mehr oder weniger schlechtes Auskommen zwischen ihm und Ludwig von Orléans als Regenten. 1404 trat Johann Ohnefurcht das Erbe seines Vaters Philipp von Burgund an. Von da ab spitzte sich der Machtkonflikt mit Ludwig zu. Im August 1405 zog Johann mit einem Heer gen Paris, Ludwig sammelte ebenfalls Truppen. Der Krieg um die Hauptstadt konnte mit knapper Not vermieden werden. Zwei Jahre später allerdings ließ Herzog Johann am 23. November 1407 Herzog Ludwig auf offener Straße ermorden, um die Regierungsgewalt in Frankreich
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übernehmen zu können. Die Rechtfertigung des Mordes als Tyrannenmord durch Jean Petit, Theologe an der Universität Paris, erlangte schon damals Berühmtheit in Europa. Es mutet heute etwas kurios an, daß Petit den Tyrannenmord als eine Art Menschenrecht begründete. Petit wurde im übrigen vor dem Pariser Glaubenskonzil 1413/14 verurteilt, sein Gegenspieler Jean Gerson, der den Friedensschluß zwischen Johann und Ludwig 1405 mit einer Rede gewürdigt hatte, in der er das Wesen des Staates mithilfe der Körpermetapher erklärte, betrieb die Verurteilung der Lehre auf dem Konzil von Konstanz. Der Machtstreit um die französische Regentschaft wuchs sich nicht nur auf der Ebene der Anerkennung oder Verurteilung von Tyrannislehren zur europäischen Angelegenheit aus, sondern auch militärisch. Karl, Sohn Ludwigs von Orléans, sammelte 1411 die Herzöge von Bourbon, Berry und Bretagne sowie die Grafen von Clermont und Alençon um sich. Sein Schwiegervater, Graf Bernhard von Armagnac, übernahm die militärische Führungsrolle dieser Koalition. Sie wurde deshalb als die Armagnacs bezeichnet. Ziel war ein Kriegszug gegen Johann Ohnefurcht, der im Sommer 1411 begann und sich zugleich gegen Paris, wo Johann residierte, wie gegen Flandern und Artois richtete. Dem Unternehmen war kein Erfolg beschieden, so daß im Mai 1412 in Bourges ein Vertrag ausgerechnet mit dem englischen König, Heinrich IV., geschlossen wurde. Damit verloren die Armagnacs den notwendigen Rückhalt in der öffentlichen Meinung, der König, Karl VI., ließ sie ächten, der Bischof von Paris exkommunizierte die Armagnacs. 1413 bediente sich Johann des Pariser Abdeckers Simon le Coustelier, genannt Caboche (Dickkopf), der Ende April einen Volksaufstand zur Stärkung der burgundischen Partei gegen die Parteigänger der Armagnacs anführte. Diese Strategie scheiterte und Johann mußte Ende August 1413 Paris seinen Gegnern überlassen. Die hier in aller Kürze beschriebene Ereignisfolge und Parteiungskonstellation umfaßt eine Reihe von Strukturelementen, die auch die Hochphase des konfessionellen Bürgerkriegs im 16. Jh. kennzeichnen. Bis zu Karl V. dienten die angesprochenen Strategien prinzipiell der Schaffung eines Territorialkörpers, dem ein Gesellschaftskörper entsprach (zum Gesellschaftskörper s. Kapitel 4). Zusammen bilden sie den Staatskörper. Die neuen Strategien sind ein Kennzeichen der zweiten Feudalität. Sie zielen auf die Einrichtung einer zweiten Machtebene zwischen König und Staatskörper, um die zwei oder ggf. auch mehr Adelskoalitionen kämpfen.
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Die Armagnac-Partei setzte sich in Paris fest, Johann brach seine Basis weg, aber Flandern blieb seine Stütze und für die Armagnacs uneinnehmbar. 1413 war in England Heinrich V. auf seinen Vater gefolgt, im Mai 1414 kam es zu Beistandsverabredungen mit dem burgundischen Herzog, ungeachtet der Tatsache, daß hohe Mitglieder des regierenden Hauses Lancaster teils die Armagnacs, teils die Burgunder unterstützen wollten. Im August 1415 setzte Heinrich V. mit 12.000 Mann nach Frankreich über. Johann Ohnefurcht hielt sich fern, während das Heer des Königs unter Führung der Armagnacs am 25. Oktober 1415 bei Azincourt in den Tod getrieben wurde. Viele Anführer der Armagnacs waren gefallen, die Herzöge von Orléans und Bourbon waren in englische Gefangenschaft geraten. Bernhard von Armagnac hatte überlebt und übernahm im Dezember 1415 die Regentschaft, als der Kronprinz Ludwig von Guyenne starb. Heinrich V. hatte zunächst von weiteren Eroberungen zur Wiederherstellung des früheren festländischen Besitzes abgesehen, schmiedete aber entsprechende Pläne, da er sich leichtes Spiel erhoffen konnte. Nach einer Unterredung mit Johann Ohnefurcht im Oktober 1416 im englischen Calais war sich Heinrich der wohlwollenden Duldung durch den burgundischen Herzog sicher. Im Sommer 1417 setzte er zur Eroberung der Normandie an, während Johann auf Paris marschierte. Die Städte nördlich der Seine, wurden, soweit sie nicht den Burgundern, sondern den Armagnacs anhingen, in die burgundische Parteigängerschaft gezwungen. Die Königin, die tiefgreifende Differenzen von ihrem Sohn Karl und nunmehrigen Kronprinzen sowie dem Regenten trennte, flüchtete an den Hof des Herzogs von Burgund und setzte mit dessen Hilfe eine Gegenregierung ein, deren Institutionen von burgundischen Fachleuten kurze Zeit in Chartres und danach in Troyes geleitet wurden. Ende Mai 1418 fiel Paris, der Kronprinz Karl floh nach Bourges und regierte als Fünfzehnjähriger von Bourges und Poitiers aus, seine Mutter verblieb mit der Gegenregierung in Troyes, während Bernhard von Armagnac und viele Gefolgsleute ermordet wurden und Heinrich V. nach geglückter Eroberung der Normandie den alten Anspruch auf die französische Königskrone aus der Schublade zog. Dies führte in kleinen Schritten zu einer Annäherung zwischen Kronprinz Karl und Herzog Johann, der sich 1419 auf ein Treffen mit Karl am 10. September auf einer Brücke bei Montereau südöstlich Paris, wo Seine und Yonne zusammenfließen, einließ. Johann wurde auf der Brücke ermordet – Rache für den Mord an Herzog Ludwig von Orléans.
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Juristischer Tod, eine Jungfrau und politischer Triumph: Karl VII. Johanns Sohn Philipp der Gute entschloß sich, die verknotete Situation mit einem Schlag zu lösen. Unter seiner Anleitung wurde am 21. Mai 1420 zwischen dem kranken französischen König Karl VI. und Heinrich V. ein Vertrag geschlossen: Karls Tochter Katharina sollte Heinrich heiraten, dieser sofort die Regierungsgewalt übernehmen und nach Karls Tod auf dem französischen Königsthron nachfolgen. Die Nachfolgebestimmung sollte auch für Heinrichs Erben gelten. Der Kronprinz Karl wurde am 23. Dezember 1420 vor Karl VI. und Heinrich V. als Mörder angeklagt, schließlich enterbt und verbannt. Die beiden Protagonisten starben kurz hintereinander: Heinrich V. am 31. August 1422, Karl VI. am 21. Oktober 1422. Die Regentschaft in Frankreich führte Heinrichs Bruder Herzog Johann von Bedford, noch am Tag der Beerdigung Karls wurde der einjährige Heinrich VI. von England zum französischen König ausgerufen. Der Sohn Karls VI., Karl, nunmehr Karl VII. (1422 bis 1461), betrachtete sich hingegen als legitimen Nachfolger. Er wurde als „König von Bourges“ verspottet, aber er war es, der am Schluß den Sieg davontrug. Frankreich war seit Beginn der 1420er praktisch dreigeteilt: im Osten und Nordosten Burgund-Flandern, von der Normandie bis Paris herrschte der englische König, im übrigen Frankreich Karl VII. Aber was hieß schon herrschen damals: Das englische Königtum im genannten Teil Frankreichs konnte sich nur so lange behaupten, wie es der Friedenssicherung diente – der einzige Aspekt, der den Vertrag von Troyes wirklich rechtfertigte. Für die Bevölkerung, vor allem die städtische Bevölkerung und für Paris, das einen Platz als Wirtschaftsund Finanzzentrum zurückerobern wollte, hatte das englische Königtum nur als strategische Allianz zur Friedenssicherung Wert. Eine historische, emotionale oder mystische Bindung existierte nicht. Was 1420 wie ein Sieg aussah, nahm den Charakter eines Pyrrhussieges an. Philipp der Gute von Burgund baute unbeirrt an seinem Reich: Elsaß, Namur, Hennegau, Holland, Seeland, Friesland, Brabant, Limburg wurden burgundisch. Die Verlagerung des burgundischen Schwerpunktes nach Norden zwang Herzog Philipp, sich mit der wirtschaftlichen Konkurrenz Englands insbesondere im Feld der Tuchherstellung auseinanderzusetzen. Auch aus diesem Grunde kühlte sich das Verhältnis zum englischen König nachhaltig ab und kam es zu einer sukzessiven Annäherung an Karl VII., die 1435 besiegelt wurde.
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Johann von Bedford entschloß sich, Frankreich tatsächlich zu erobern. Ab 1423 folgte ein Feldzug auf den anderen. Die Erfolge waren gemischt, 1428 wurde die Belagerung von Orléans begonnen, im Frühjahr 1429 schien es, als könne Bedford mit der Übergabe der Stadt rechnen. Wie alle Welt weiß, brachte eine junge Frau namens Jeanne d’Arc aus dem Dorf Domrémy (heute Département Vosges) Bedford um den Sieg. Johanna hatte seit 1422, als Elf- bis Zwölfjährige, Stimmen gehört, die Stimmen des Erzengels Michael, der heiligen Katharina und Margaretha, denen zufolge es ihre Bestimmung gewesen sei, dem König den Weg zur Krönung in Reims zu bereiten und die Engländer zu überwinden. Erst 1428 hatte sie davon einem Onkel berichtet, über den schrittweise der Kontakt zum Hof Karls VII. in Chinon zustande kam. Frauen mit Johannas Gaben, die nicht selten wie Johanna aus dem bäuerlichen Milieu stammten, waren in der Gesellschaft und an den Höfen der damaligen Zeit keine ungewöhnlichen Erscheinungen. Sie paßten in eine Zeit, in der die traditionellen Konfliktlösungsstrategien nicht mehr griffen. Die aufrichtigen Überzeugungen Johannas wurden gründlich geprüft, bis die entscheidenden Personen am französischen Königshof sicher waren, daß es sich tatsächlich um eine Gottgesandte handelte, um ein „Medium“, so würden wir heute sagen, durch das Gott seine Offenbarungen kund tat. Johanna strömte also soviel Überzeugungskraft aus, daß der Königshof, seine Truppen und Kommandanten selber von Siegeszuversicht erfaßt wurden. Das Ergebnis ist bekannt: der englische Belagerungsring um Orléans wurde gesprengt, es schlossen sich weitere Siege an, so daß Karl VII. am 17. Juli 1429 in Reims gesalbt und gekrönt werden konnte. Der darauffolgende Versuch, Paris für den König zu erobern, scheiterte wie andere militärische Unternehmungen. Am 23. Mai 1431 geriet Johanna in burgundische Gefangenschaft, als sie den Belagerungsring der burgundischen Truppen um Compiègne sprengen wollte. Der Herzog verkaufte seine Gefangene für 10.000 Pfund an Johann von Bedford, der sie in Rouen vor ein Inquisitionsgericht stellte. An diesem Prozeß waren Engländer nur marginal beteiligt, es waren Mitglieder der Universität Paris, Vertreter der französischen Kirche und Dominikaner, die Johanna schließlich als Hexe verurteilten und am 30. Mai 1431 in Rouen verbrennen ließen. Am 16. Dezember des Jahres wurde Heinrich VI. in Paris gekrönt – am falschen Ort, aber Reims wurde ja von Karl VII. gehalten. Der Stellung Heinrichs half die Krönung kaum. Nachdem 1435 in Arras ein burgundisch-französisches Bündnis ge-
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schmiedet worden war, begann die unaufhaltsame Vertreibung der Engländer; 1436 mußten sie Paris aufgeben, 1450 verloren sie die Normandie, die Schlacht von Castillon besiegelte 1453 die letzte englische Niederlage. Lediglich Calais verblieb bis 1559 in englischem Besitz.
Ernten und Säen: Ludwig XI. Von 1429 bis 1453 kumulierten eine Reihe von Effekten: Königstheologie verbunden mit praktischen militärischen Erfolgen; die innere Befriedung des Landes bedeutete nicht nur ein Ende der großen Schlachten, sondern ein Ende der vielen kleinen Scharmützel, Verwüstungen, Brandstiftungen und Plünderungen, die zur Alltagserfahrung der meisten Franzosen geworden waren; die schnelle wirtschaftliche und demographische Konvaleszenz infolge des Friedens; die politischen Kontinuitäten, für die Karl VII. trotz aller Unbilden und Bedrohungen hinsichtlich der europäischen Stellung Frankreichs sorgte (zeitweise beherrschende Stellung Frankreichs auf dem Konzil von Basel, 1431 bis 1449, und Pragmatische Sanktion von Bourges 1438, die die Gallikanische Kirche stärkte); die Fortsetzung der Institutionalisierungsprozesse (s. u.). Deshalb wird die als Epoche des Hundertjährigen Krieges umschriebene Zeit immer mehr als produktive Krise im Spätmittelalter begriffen, als deren Ergebnis ein monarchischer Staatskörper angesehen wird, der sich für rund ein Jahrhundert durch erhebliche Kohärenzkräfte auszeichnete. Es scheint in der Familie gelegen zu haben, daß sich Ludwig, Sohn Karls VII. und Kronprinz, zunächst zum Gegenspieler seines Vaters entwickelte und sich an den burgundischen Hof begab. Als er aber 1461 als Ludwig XI. den Thron bestieg (gest. 1483), trat er schnell in die Fußstapfen seines Vaters. In seine Zeit fällt die Erweiterung der Krondomäne um das Herzogtum Burgund (1477; die Freigrafschaft Burgund fiel an das Reich) und die Provence (1481), die daraufhin bis zu einem gewissen Grad nordfranzösisch akkulturiert wurde. Eine Reihe wichtiger Apanagen fielen an den König zurück, Todes- und Erbfälle erbrachten den Anspruch auf Neapel. Hinzu kamen im Süden Roussillon und Cerdagne, deren genauer Status und Verbleib beim Königreich vorerst noch dem Spiel des Wechsels unterlag. Die Weichen für die im 16. Jh. erfolgte Eingliederung des Herzogtums Bretagne (1532) wurden gestellt. Ludwig erzielte große Fortschritte bei der Durchsetzung des königlichen Gewaltmonopols, weil es ihm nicht zuletzt gelang, der „zweiten Feudalität“ den Lebenssaft im
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wahrsten Wortsinn zu entziehen. Als Beispiel hierfür mag genügen, daß er den Herzog Ludwig von Orléans 1476 zwang, seine Tochter Johanna zu heiraten, die körperbehindert war und keine Kinder bekommen konnte. Damit sollte erreicht werden, daß die Apanage Orléans wieder an den König zurückfiel. Ludwig ließ zahlreiche Gegner hinrichten, Bestechung und List gehörten zu bevorzugt genutzten Mitteln der Politik. Die meisten Schritte auf dem Weg von der Krondomäne zum Staat waren bis zum Ende der Regierungszeit Ludwigs XI. erfolgt. Dessen Herrschaft steht für einen neuerlichen Paradigmenwechsel, der in seiner Tragweite jenem unter Philipp IV. rund 180 Jahre zuvor gleichkommt. Unter Ludwig XI. zeigte sich gehäuft die für die frühneuzeitlichen Staatskörper charakteristische Biomacht des Herrschers, zunächst in sehr brutaler, offenkundiger Weise, die sich von den subtilen Methoden des Herrschens über den Körper der Untertanen in späterer Zeit noch deutlich unterschied.
3.3 Herrschaftssymbolik und Königstheologie „rex christianissimus“ Alle christlichen Herrscher des europäischen Mittelalters waren zum Schutz des Christentums aufgerufen. Das galt weiter unter den Bedingungen der Konfessionalisierung in der Frühen Neuzeit. Den französischen Königen gelang es jedoch, sich unter den christlichen Königen das „Image“ des rex christianissimus zu verschaffen – ein Titel, den sich zuerst Philipp IV. der Schöne zugelegt hatte und den exklusiv die französischen Könige seit dem 15. Jh. trugen. Dafür gab es eine Reihe praktischer Gründe. Schon die Bischöfe des spätantiken Gallien hatten sich in der Verurteilung und Abwehr des Arianismus zum Vorteil der katholischen Rechtgläubigkeit hervorgetan, und die späteren Könige sorgten in der Abwehr sogenannter Häresien kompromißlos für Kontinuität bis zu Ludwig XIV. einschließlich. Über die als Kreuzzug verstandenen Albigenserkriege war oben berichtet worden. Hervorzuheben ist, daß unter den europäischen Fürsten des Mittelalters die französischen Könige am kontinuierlichsten den Kreuzzugsgedanken in Wort und Tat gegenüber dem Islam vertraten. Schließlich bewiesen sie mehr Geschick im Umgang mit dem Papst als die römischen Könige und Kaiser. Sie wußten sich zu arrangieren, wenn ihre Macht zu mehr nicht reichte, sie wußten Terrain zu gewinnen, als das Papsttum um 1300 in vielerlei Krisen und Konflikte
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verwickelt und deshalb anfällig und geschwächt war. Immer wieder wurde der Anspruch auf das Kaisertum ins Spiel gebracht. Er wurde durch die Ansicht, daß der französische König in seinem Reich als Kaiser zu gelten habe und neben, nicht unter dem römischen Kaiser stehe, herausgestrichen.
„terrestrium rex regum“ Begleitend zu diesen Fakten entwickelte sich eine Art Königstheologie, wie es z. T. genannt wird, die die besondere Stellung des französischen Königs festigte und symbolisch zum Ausdruck brachte. Der englische Mönch und Verfasser einer Geschichte Englands Matthäus Paris (um 1200 bis 1259) bezeichnete Ludwig IX. (den Heiligen) als terrestrium rex regum, als König der irdischen Könige. Dies trifft sehr gut das Selbstverständnis des französischen Königtums, dessen Aufstieg seit dem 12. Jh. von der Anreicherung mit neuen Elementen und der Ausfeilung sowohl des Krönungsritus wie der Königssymbolik unterstützt wurde. Die territorialpolitische Integration, die Entwicklung von Ritus und Symbolik sowie die Ausbildung einer europäischen Schiedsrichterrolle für den französischen König besonders unter und seit Ludwig IX. gingen Hand in Hand. Eine reifartige Königskrone, Mantel, Szepter und Stab sind seit dem 9. Jh. nachweisbar, sie gehörten zur durchschnittlichen Ausstattung an Herrschaftsinsignien in Europa. In Frankreich wurden die Insignien durch die Lilie, die Schwurhand – main de justice – und das Banner der Oriflamme angereichert. Die Lilie versinnbildlicht Jungfräulichkeit, Keuschheit, Seelenreinheit und Unschuld, sie findet sich in der Bibel u. a. im Ersten Buch Samuel, in verschiedenen Psalmen, im Hohen Lied, im Matthäus- und Lukasevangelium. Die Lilie wurde um 1200 zum Königswappen. Der Schwurhandstab symbolisierte den König als obersten Richter, die Oriflamme stellte eine Verbindung zu Karl d.Gr. her. 1184 wurde das auf dem Altar des hl. Dionysius in der Kirche von Saint-Denis aufgestellte Banner, das erstmals Ludwig VI. 1124, auf diese Weise sich zum Lehnsmann des hl. Dionysius erklärend, gegen Kaiser Heinrich V. mitgeführt hatte, als die orie flambe interpretiert, die in den Chansons de geste das goldflammende Banner Karls d.Gr. bezeichnet hatte. Ähnlich wurde das Krönungsschwert ab der ersten Hälfte des 13. Jh. mit dem Schwert Karls gleichgesetzt, das in der Dichtung „joiuse“ hieß. Zum Krönungsritus gehörte die Ritterweihe, deren liturgische Ausgestaltung auch für die Weihe ,gewöhnlicher’ Ritter galt. Zu den Besonderheiten des Krö-
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nungsritus gehörte die Salbung mit dem hl. Öl, das der Mythographie seit Hinkmar von Reims (gest. 882) zufolge eine Taube bei der Taufe Chlodwigs vom Himmel gebracht hatte. Das Öl wurde im Kloster Saint-Remis (hl. Remigius) in Reims aufbewahrt. Zwischen 1131 (Krönung Ludwigs VII. zum Mitkönig) und 1223 (Krönung Ludwigs VIII.) setzte sich die Reimser Mythographie, die ursprünglich der Behauptung im Rivalitätskampf mit Saint-Denis gegolten hatte, durch und fand Eingang in die offizielle Version des Krönungsritus, den Ordo. In der Krönungsmesse wurde die Kommunion unter beiderlei Gestalt für den König beibehalten, während sonst seit dem 12. Jh. Laien der Kelch nicht mehr gereicht wurde. Zum Krönungsritus gehörte schließlich die Eidleistung. Der König verpflichtete sich, die Kirche und ihr Recht zu schützen sowie deren Status im eigenen Reich zu sichern, er übernahm die Ausrottung von Ketzern sowie die Wahrung von Friede und Gerechtigkeit als seine vornehmsten Pflichten. Auch Ludwig XIV. schwor ja diesen Eid am Sonntag, den 7. Juni 1654, und bezog sich bei der Widerrufung des Edikts von Nantes 1685 auf die Eidleistung. Ihm galten die Hugenotten als Ketzer.
„rex thaumaturgus“ Jene Elemente des Krönungsritus und der Königssymbolik, die in einer Zeit des Machtzuwachses auf die zeitgenössische Dichtung, die Praxis des Ritterschlags und die Mythographie Bezug nehmen, verweisen auf die vorstellungsweltliche Einbettung des Königs in die gesellschaftliche Umwelt. Die symbolischen Handlungen und Zeichen, die zeremoniellen Akte und Wortakte (Eid) integrieren katholische Kirche, weltliche Macht, neue gesellschaftliche Orientierungen und mythographisches Gedächtnis in der Gestalt des Königs. Das Fortschreiten der territorialen Integration wird mit der Integration der imaginären Welt verknüpft, ja, der göttlichen, wie es sich in der Ansicht zeigte, daß der König die Skrofeln als Mittler zwischen Gott und Mensch durch Handauflegen heilen könne (rex thaumaturgus). Ursprünglich geschah dies am Krönungstag, bis in die Frühe Neuzeit hatte sich jenes Ritual fortentwickelt, der König legte an den vier Hauptfesten der Kirche die Hand auf, seit Ludwig XIV. überwiegend nur noch am Ostersamstag. Die dabei gesprochene Formel änderte sich und lautete in der Frühen Neuzeit: „Der König berührt Dich, Gott möge Dich heilen!“
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3.4 Institutionalisierungsprozesse Institution und Kultur Hinter dem Begriff „Institutionalisierung“ verbirgt sich ein kultursoziologisches Konzept. Handlungen und Kommunikationsakte zwischen den Menschen bilden vielfach Strukturen aus, die zwar der Veränderung unterliegen, aber doch durch eine gewisse Stetigkeit und Dauer auffallen. Institutionen wie der Staatsrat, die obersten Gerichte, Steuerbehörden, Provinzialstände, Stadtmagistrate, Universitäten etc. bilden solche Verhältnisse ab. Damit wird der traditionelle Begriff der „Institution“ aus der Institutionen- und Verwaltungsgeschichte erweitert, weil sich z. B. auch die Krönungsfeiern oder das Hofzeremoniell als Institution verstehen lassen. In Institutionen erhält Kultur einen körperhaften Ausdruck, wenn unter Kultur vor allem Sinn-Gebung und verstetigtes, praxiswirksames Wissen verstanden wird. Damit läßt sich recht gut die Frage nach dem Warum? der Entstehung vieler Institutionen unter den kapetingischen Königen beantworten. Nur oberflächlich sind sie als ,Ausfluß’ herrscherlicher Machtfülle zu begreifen und damit als Ausdruck einer traditionellen Interpretation der mittelalterlichen Staatswerdung. Im Kern sind sie als symbolischer, oft ritueller, normierter und normierender Ausdruck einer Sinn- und Wissensproduktion zu verstehen. Zu letzterem zählt u. a. die Rationalität des römischen Rechts, die zur Rationalisierung von Verwaltungs- und Rechtsprechungsvorgängen führt, dazu zählen auch die Scholastik als Methode oder das Bild vom Körper als Visualisierung des Ganzen, die Beziehung von Mensch und materieller Welt zu Gott eingeschlossen.
Institutionalisierung des römischen Rechts Das römische Recht war nie ganz von der Bildfläche verschwunden. Bis zur Jahrtausendwende waren allerdings nur noch Teile davon bekannt, neben geltenden Rechtsnormen, die auf das römische Recht zurückgingen. Um 1050 begann man in Pisa mit der Lektüre eines Teils der Digesten in Gestalt einer Handschrift aus dem 6. Jh. Hiervon nahm der als „Rezeption des römischen Rechts“ benannte Vorgang offensichtlich seinen Ausgang. Die Rezeption war kein staatlich gewollter oder gelenkter, sondern ein soziokultureller Vorgang. Der im zweiten Kapitel für Frankreich beschriebene sozioökonomische und demographische Aufschwung folgte einer allgemeineuropäischen Entwicklung. Die Verdichtung der Lebensverhältnisse und wirt-
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schaftlichen Beziehungen, die Veränderungen der Besitz- und Eigentumsverhältnisse, schließlich des Status der Personen, der Aufstieg der Städte und vielerlei religiöser oder weltlicher Körperschaften/ Gemeinschaften veränderte das Rechtsnormengefüge und veränderte die Konflikte in der Gesellschaft. Es entstand ein Rechtsbedarf, der vom tradierten Recht kaum gedeckt werden konnte. Er war begleitet von einem Säkularisierungsschub des Denkens, für das die strafrechtliche Praxis der Gottesurteile allmählich fragwürdig wurde. Unter dem Druck des neuen Rechtsbedarfs gingen schon im 11. Jh. Notare und Rechtsanwälte in Italien dazu über, römisch-rechtliche Normen, soweit sie schon wieder bekannt geworden waren, in der Praxis anzuwenden. Die Rekonstruktion des Textkorpus des römischen Rechts im Laufe der Jahrzehnte und vor allem die kommentierte (glossierte) Lehre des römischen Rechts durch die Rechtsschule von Bologna ließ bald die Gewißheit entstehen, daß alle Rechtsprobleme im römischen Recht erkannt und deshalb mithilfe römisch-rechtlicher Normen gelöst werden könnten. Das römische Recht wurde wie eine Bibel verstanden und schon bald als ratio scripta bezeichnet. Die Lehre des römischen Rechts an den Rechtsschulen Italiens, Frankreichs, Spaniens und anderer Länder führte zu einer Vereinheitlichung der Rechtskultur in Europa, zu einer Vereinheitlichung der juristischen Argumentation. Nach und nach wurden römisches und kanonisches Recht miteinander verknüpft, das Studium „beider Rechte“ zählte bald zur Standardausbildung eines Juristen, sei er Kleriker, sei er Laie. Das Prozeßrecht wurde durch die Rezeption beider Rechte revolutioniert. Auch wenn, wie in den meisten Teilen Europas, das römische Recht kein direkt geltendes Recht war, so wurden alle Juristen an diesem Recht geschult, ihre Professionalität beruhte auf der Logik des römischen Rechts. Wo immer der gesellschaftliche Rechtsbedarf Lücken im Gefüge rechtlicher Normen offenbarte, wurden sie möglichst mithilfe des römischen Rechts gefüllt; gerade über die Praxis des Rechts und die Rechtsprechung wurden römisch-rechtliche Normen zu geltenden Normen, oder geltende Normen wurden mittels römisch-rechtlicher Normen transformiert. Die Rezeption des römischen Rechts bedeutete einen beispiellosen Kulturtransfer, der zur inneren Integration der Reiche in Europa maßgeblich beitrug. Auch auf der Seite der Herrschaft entwickelte sich ein neuer Rechtsbedarf. Die wachsende Macht der kapetingischen Könige er-
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forderte eine intensivierte Gesetzgebungstätigkeit, ohne die die Angleichung von Legitimations- und Sanktionsbereich kaum dauerhaft gewesen wäre. Bestimmte Formulierungen kamen dem Selbstverständnis nicht nur der französischen Herrscher entgegen. Daß der Herrscher legibus solutus sei, daß er im eigenen Herrschaftsbereich ein imperium wie der Kaiser habe, waren aus der Sicht der Herrscher sehr erfreuliche Aussagen bzw. autoritative Interpretationen des römischen Rechts. Die Herrscher deckten ihren Bedarf an neuer juristischer Legitimation durch Anfragen an die großen Rechtslehrer der Zeit. In Frankreich erlangte das römische Recht keine Gesetzeskraft; besonders in der Zeit des Absolutismus wurde das immer wieder betont, dennoch oder deshalb erlangte dieses Recht auf dem Wege der Institutionalisierung eine hohe Wirkmächtigkeit. Es erstaunt nicht, daß die Rezeption des römischen Rechts aus Italien kommend im „Hexagon“ zuerst im Süden Fuß faßte. Um 1127 bis 1130 wurde in der Rechtsschule der Diözese Die (Rhône) eine Zusammenfassung der Institutionen des Justinian erstellt, die erste einer Reihe solcher Werke, die in der Provence entstanden. Von Beginn an scheinen sich dabei in Frankreich gegenüber Italien Unterschiede in der Lehre ausgebildet zu haben, die Gelehrte aus Bologna oder Studenten aus England in die Rechtsschule im Rhônetal lockte. Placentinus war um 1160 aus Bologna ausgewiesen worden. Nach einer Zwischenstation in der Rhône-Rechtsschule gründete er eine eigene Schule in Montpellier, die nach einer mehrjährigen Unterbrechung nach dem Tod des Gründers zu europäischer Bekanntheit aufstieg. Ebenfalls um 1160 wirkte ein anderer Bologneser Rechtsgelehrter mit Namen Albericus in Reims, es folgten Schulgründungen in Toulouse und Orléans. Die Schule von Orléans verdankte ihren kometenhaften Aufstieg der Tatsache, daß Papst Honorius III. 1219 die Lehre des römischen Rechts in Paris verbot, um dem Theologiestudium wieder den ersten Platz in Paris zu sichern. Der inzwischen große Bedarf des Königs an gelernten Juristen in seiner Verwaltung wurde seitdem besonders in Orléans gedeckt. Im späten 12., frühen 13. Jh. setzte in Frankreich die Kodifikation des Gewohnheitsrechts ein. Wiederum handelte es sich nicht um einen Willensakt des Herrschers, sondern um ,private’ Initiativen, mit denen das römische Recht als Sinn- und Wissensproduktion im kultursoziologischen Verständnis institutionalisiert wurde. Berühmt ist die Aufzeichung der Coutume (Gewohnheitsrecht) des Beauvaisis
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durch Philippe de Beaumanoir (um 1250 bis 1296) um 1283. Beaumanoir war Berufsjurist und königlicher Amtmann (bailli), der das am Gericht von Beauvais verwendete regionale Gewohnheitsrecht auf Französisch (!) aufzeichnete, ein Werk, das von der Schulung des Verfassers im römischen Recht lebt. Beaumanoir war weder der erste noch der letzte, der so arbeitete, im 14. und 15. Jh. intensivierte sich diese ,private’ Praxis, zu der aus der Rechtsprechungspraxis erwachsene Spruchsammlungen hinzukamen. Auch die ersten Gesetzessammlungen waren bestenfalls offiziös. Es war die sozioprofessionelle Gruppe der Juristen, die entscheidende Grundlagen für die Rechtsvereinheitlichung mithilfe von solchen binnengrenzüberschreitenden und „national“ rezeptionsfähigen Spruch-, Rechts- und Gesetzessammlungen schuf. Erst 1454 ordnete Karl VII. per Ordonnanz die Redaktion und Kodifikation der Gewohnheitsrechte in Frankreich an.
Institutionalisierung von Wissen und Erkennen: Schriftlichkeit, Archive, Universitäten Die Institutionalisierung des römischen Rechts war prototypisch für die Institutionalisierung von Wissen und Erkennen. Was für das Recht galt, galt ebenso für die Theologie. Die Universitäten verdankten ihre Entstehung einem neuen gesellschaftlichen Umgang mit Wissen und Erkennen. Die Universität von Paris entstand aus einer Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, die sich im 12. Jh. aus dem unter Aufsicht des Bischofs stehenden Schulwesen herauslöste. Die Lebensformen der Lehrenden und Lernenden standen außerhalb des Lehnswesens, außerhalb der Kirchenhierarchie, außerhalb der traditionellen Kontrolle von Wissen und Erkennen. Gelehrt wurde im Haus der Lehrer oder in gemieteten Räumen. Dies geschah aber in ganz bestimmten Straßen und regelmäßig. Die Juristen fanden sich im Clos Bruneau, die Ärzte in der Bûcherie, die Theologen am Ort der künftigen Sorbonne. Die „Universität“ – das waren die mit denselben Privilegien ausgestatteten Mitglieder und ihre Versammlungen (zumeist in der Trinitarierkirche). Der Abt von Sainte-Geneviève hatte den Lehrern und Scholaren die Niederlassung auf dem linken Seineufer angeboten, so daß auch räumlich die Trennung von der Pariser Kathedralschule, die unter der Aufsicht des Bischofs stand, deutlich gemacht wurde. Aus den Stiftungen für die Scholaren entwickelte sich nach und nach das „Quartier latin“. Die Gemengelage der Macht drückte sich auch bei den Universitäten aus, die die Päpste, sei es in
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Bologna, sei es in Paris, mit Privilegien ausstatteten. Die Pariser Universität erhielt 1174 von Papst Cölestin III. Privilegien und konnte sich ab 1231 auf die Bulle Parens scientiarium Gregors IX. berufen. Die Päpste erkannten in den theologischen Fakultäten ein unmittelbares Glaubensinstrument, das für die Bekämpfung des Ketzertums genauso wichtig war wie die Inquisition, die sich auf die Dominikaner stützen konnte. Die theologische Fakultät an der Pariser Universität entwickelte sich zu einem politischen Machtfaktor im Rahmen der Rollenfindung der Stadt Paris als Hauptstadt und eigenständige politische Kraft im Königreich. In Montpellier entstand neben der Rechtsschule im frühen 13. Jh. eine medizinische Fakultät, Toulouse stieg in derselben Zeit (1220er Jahre) zu einer bedeutenden Universität auf. Die Universitäten wurden zum zentralen Ort der Wissenskodifikation, der Wissensproduktion und der Lehren vom Erkennen in der Theologie (Scholastik), in der Medizin und im Recht (Glosse, Kommentar, rationes decidendi). Die Verschriftlichung von Wissen und Erkennen nahm neue Ausmaße an, die Mobilität der Lehrenden und Scholaren etablierte ein neues Kommunikationsnetz, das im Kontext einer noch vielfach dem Lokalitäts- und Regionalitätsprinzip unterworfenen Gesellschaft eine Wissensgesellschaft etablierte, die sich vom Universalitätsprinzip leiten ließ. Dasselbe kann im übrigen über einen Teil der Kaufleute und der Finanzwelt gesagt werden, die transregional agierten. Die Verschriftlichung setzte sich in vielen Lebensbereichen fort. Von Rechtskodifikationen war die Rede gewesen, bezeichnend war, daß die Urteile des Hofgerichts, des Parlement (Parlament von Paris) ab 1254 niedergeschrieben wurden (Register der Olim). Alle Behörden, die neu geschaffen wurden, zeichnen sich durch ihre Register und ihre Archive aus. Der König selber legte die Praxis, sein Archiv mit sich herumzuführen, ab. Nachdem es 1194 bei der Schlacht von Fréteval zu einem beträchtlichen Teil verlorengegangen war, wurde es permanent im Louvre untergebracht. Ein Gutteil des archivierten Wissens war aus der Entscheidung von Konflikten hervorgegangen. Das galt für Meinungsstreite an den Fakultäten wie für Urteile in Gerichtsprozessen oder Entscheidungen des Hofrats. Die Archivierung von Konfliktlösungen bedeutete eine wachsende Normierung und eine wachsende Objektivierung des Denkens und der Entscheidungsgrundlagen, ihre Reproduzierbarkeit unabhängig von einem ursprünglichen konkreten Ort und einer ursprünglichen Zeit, sie implizierte eine juristisch wirksame Vergeschichtlichung von Wissen, die in Gerichtsprozessen zum Tragen
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kommen konnte. Die Folge davon war, daß immer mehr Entscheidungen auf der Grundlage miteinander zu konfrontierenden normierten, archivierten und vergeschichtlichten Wissens getroffen wurden. Die adäquate Form solcher Entscheidungen waren der Gerichtsprozeß und verwandte Verfahren wie schiedsrichterliche Vorgehensweisen, die auch außerhalb der Institution Gericht breite Anwendung fanden. In der Verbindung von Wissen und Konfliktlösung schlägt sich nieder, daß zum einen bewußt der Zusammenhang zwischen verfügbarem Wissen und seiner Anwendung auf die Probleme der Menschen gesucht wurde, und daß zum anderen Universitätslehrer wie Thomas von Aquin, der 1252 bis 1259 und 1269 bis 1272 in Paris lehrte und dort einen Teil der Summa Theologica schrieb, die Welt als logisches System begriffen und darstellten. Wir sind damit noch nicht beim systemischen Denken der Aufklärung des 18. Jh., aber an seinem Anfang. Im allgemeinen behalf man sich, um ,das System’ zu verstehen, mit der Kategorie der „Synkope“, die u. a. der in Paris tätige Arzt Henri de Mondeville 1314 beschrieben hat: „Die Ärzte des Mittelalters glaubten. . ., sie hätten eine medizinische Erklärung für das Mitleid gefunden, als sie beobachteten, wie Organe im Körper reagierten, wenn eines von ihnen während der Behandlung verletzt oder entfernt wurde. Diese Reaktion wurde »Synkope« genannt. In gewisser Weise paßte dieses neue Körperverständnis in die allgemeine Wissenschaftsentwicklung der Zeit, denn Phänomene wie die Synkope schienen den menschlichen Organismus konkret als ein verbundenes, aufeinander reagierendes System zu erweisen.“ (Sennett 1995, 200)
3.5 Regieren durch Institutionalisieren Recht sprechen lassen Ein wichtiges Element der Herrschaftssicherung wurde das königliche Gerichtswesen, eng verbunden mit der allgemeinen Verwaltung. Es handelt sich um Institutionalisierungsprozesse, in denen die soeben beschriebenen „Mechanismen“ ausschlaggebend waren. Seit der Zeit Philipps II. August wurden in der Krondomäne systematisch bailliages bzw. sénéchaussées (Ämter) eingerichtet. Philipp übernahm dabei eine in der Normandie, die er gerade erobert hatte, schon erprobte Institution. Der zweite Begriff war im südlichen Frankreich gebräuchlich, bezeichnet aber in der Sache dasselbe wie bailliage. Der
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Amtmann (bailli; sénéchal) beaufsichtigte die untere Gerichts- und Verwaltungsebene der Vögte (prévôts), unterstand direkt dem König und stammte aus dem Adel oder geadelten Bürgertum (Wurzeln des Amtsadels). Der Amtmann übte sein Amt anfangs am selben Ort immer nur für einige Jahre aus und wurde dann versetzt, erst später schlich sich aus fiskalischen Gründen die Verpachtung auch dieser Ämter ein. Um 1300 gab es 22 solcher Amtleute (Paris war prévôté geblieben), die nicht nur in ihren Bezirken, sondern auch in den Lehen und Apanagen tätig wurden, wenn es z. B. um die Durchsetzung allgemeiner königlicher Gesetze ging, die folglich für den Legitimationsbereich des Königs galten. Kontrollierten die Amtleute die Vögte, schien es schon Mitte des 13. Jh. nötig, die Amtleute durch neue Kontrolleure, die enquêteurs oder enquêteurs réformateurs kontrollieren zu lassen. Ludwig IX. bediente sich dieser Leute, um die kulturelle Inkorporation des Südens voranzutreiben. Neue Institutionen sedimentierten sich recht schnell, was immer die Zugriffsmöglichkeiten des Königs beeinträchtigte. Die Verpachtung von Ämtern und später die Ämterkäuflichkeit hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Feudalität, aus deren Zwängen sich die kapetingischen Könige zu befreien versuchten. So suchten sie mehr und mehr den Rat kleiner Adliger und von Berufsjuristen, die zwar geadelt und mit Lehen ausgestattet wurden, aber dennoch eine Umwälzung des Hofs mit Hof- und Staatsrat, der curia regis, implizierten. Diese Entwicklung setzte im 12. Jh. an, entscheidende Weichenstellungen erfolgten wiederum unter Ludwig IX. Seit 1239 kann das Hofgericht unter dem Namen parlement als sich verselbständigende Gerichtsinstitution von der curia regis unterschieden werden. Nach und nach wurden dort hauptamtliche Richter eingestellt und verschiedene Kammern ausgebildet. Das „Parlement de Paris“, wie es bald hieß, wurde zum obersten Berufungsgericht Frankreichs, bis in den inkorporierten Lehen vorgängige Institutionen zu obersten Gerichtshöfen, ebenfalls parlement genannt, ausgebildet wurden (Toulouse, Bordeaux, Grenoble, um nur einige zu nennen). Das Pariser Parlament erhielt die Aufgabe, königliche Gesetze zu registrieren, verbunden mit dem Recht einer juristischen Prüfung. Daraus entwickelte sich das Remonstrationsrecht, das vom Parlament zunehmend für Zwecke politischer Opposition gegen den König und den Hof eingesetzt wurde. Um sich durchzusetzen, nutzte der König das Instrument des lit de justice (Kissensitzung), ein zeremonieller Akt, mit dem er im Parlament selbst seine Funktion als oberster Richter und
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Gesetzgeber demonstrierte und durchsetzte. Der König hatte sich das Recht, Prozesse selbst zu entscheiden, vorbehalten. Er nutzte dieses Recht, um nach Außen ein Mittel der Symbolisierung zu besitzen, mit dem gezeigt wurde, daß die Herstellung von Gerechtigkeit zu den vornehmsten Aufgaben und Anliegen des Königs zählte. Ludwig IX. setzte sich unter einen Baum in Vincennes und entschied einfachere Konflikte, ein eher symbolischer Akt, der sich aber tief ins Gedächtnis der Bevölkerung eingrub. Auf dem Wege der Institutionalisierung bildete sich innerhalb des Staatsrats ein Organ der Rechtsprechung, in dem Prozesse entschieden wurden, die der König der ordentlichen Gerichtsbarkeit entzog bzw. die direkt an den Staatsrat herangetragen worden waren. Hieraus entstand 1497 der Grand Conseil, der bis 1789 Bestand hatte und dessen Zuständigkeit sich auf ganz Frankreich erstreckte. Dennoch behielt aufgrund des an ihn herangetragenen Bedarfs an Rechtsprechung auch der Staatsrat den Charakter einer Rechtsprechungsinstitution, die im 18. Jh. die Funktion eines Kassationsgerichtshofes über den Parlamenten angenommen hatte.
Steuern einnehmen lassen Neben dem Parlament entstand die Rechnungskammer als eigenständige Institution seit 1256, sie wurde 1320 durch eine Ordonnanz geregelt und geordnet (chambre des comptes). Vor dieser Kammer legten die receveurs du domaine Rechenschaft ab, also die Personen, die die ordentlichen Einnahmen des Königs aus der Krondomäne und den damit verbundenen Rechten verwalteten. Die receveurs wurden durch die trésoriers kontrolliert, im 14. Jh. wurde noch die Funktion eines obersten Finanzkontrolleurs eingerichtet. Die Rechnungskammer fungierte zugleich als Finanzgerichtshof. 1346 wurde aus der Rechnungskammer die dort verankerte Kompetenz für das Münzgeld herausgelöst und einer eigenen Cour des monnaies übertragen. Als dritte unterscheidbare Institution ist der Staatsrat anzusehen (conseil, grand conseil, conseil privé), der sich mit politischen Fragen befaßte. Ende des 13. Jh. wurden außerdem in den Grenzprovinzen wie Languedoc oder Artois Gouverneure eingesetzt, die zunächst militärische Aufgaben wahrnahmen, die Koordinierung von Heerbann und Söldnertruppen, im Lauf der Zeit aber weitere Kompetenzen erhielten, so daß sie zur Spitze der allgemeinen Provinzverwaltung aufstiegen. Erst im 17. Jh. mutierte das wichtige Gouverneursamt zu einem Ehrenamt ohne Macht. Im Staatsrat wie im Gouverneursamt war der hohe Adel vertreten.
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Die wesentlichen Grundlagen des Steuerwesens und der Steuerverwaltung wurden ebenfalls parallel zur Erweiterung der Krondomäne zum Staat gelegt, beides bedingte sich gegenseitig. Die Einnahmen des Königs aus den Regalien und dem Krondomänenbesitz reichten nicht zur Finanzierung der Verwaltung, der Gerichte und der Truppen aus. Allgemeine Steuern wurden im Zuge der Kreuzzüge erhoben sowie in drei weiteren mit dem Lehnswesen verbundenen Fällen (Ritterschlag des Sohnes, Heirat der Tochter, Lösegeld zur Auslösung des gefangenen Herrn, z. B. König Johanns im Jahr 1360). Diese aides genannten Steuern bildeten schon unter Philipp II. einen Hebel, um generell im Kriegsfall von denen, die nicht kämpften (Bürger, Bauern, Kirche), eine Abgabe einzufordern, von der der kämpfende Adel befreit war. Ludwig IX. ließ solche Steuern direkt und nicht mehr über die seigneurie als Zwischenstation einnehmen. Die aufblühende Wirtschaft verhalf zu neuen Zöllen und Verbrauchssteuern, Philipp VI. führte die Salzsteuer (gabelle) ein. Die taille als direkte Steuer tauchte in der zweiten Hälfte des 12. Jh. auf, seit dem 14. Jh. wurde sie regelmäßig eingefordert, eine gesetzliche Grundlage erhielt sie allerdings erst 1439 durch eine Ordonnanz Karls VII. Im Süden wurde sie als taille réelle erhoben, war somit an den Grundbesitz gebunden, unabhängig vom Status des Besitzers, im Norden wurde die Steuer als Kopfsteuer (taille personnelle) eingetrieben und wurde nur von Bürgern und Bauern bezahlt. Die Erhebung der Steuern gestaltete sich von Anfang an ungleichgewichtig und stellte insoweit nicht nur einen Spiegel der Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft dar, sondern auch der relativen Schwäche bzw. Stärke der Könige. Für die verschiedenen Steuern wurden eigenständige Erhebungssysteme geschaffen. Verbrauchssteuern und Zölle wurden zumeist von Pächtern (traitants) eingenommen, die eine bestimmte Summe abzuliefern hatten. Ihre eigenen Kosten und ihren Gewinn sattelten sie obendrauf, was zu erheblichen Mißbräuchen führen konnte. Die direkten Steuern konnten nur mit Zustimmung der Stände durchgesetzt werden, die sich im 13. und 14. Jh. als Provinzial- und Generalstände auszuformen begannen. Hier ergaben sich ebenfalls unterschiedliche Praktiken, die bis zur Revolution 1789 beibehalten wurden. Einige Provinzialstände zahlten eine Pauschalsumme an den König und erhoben die Steuer mithilfe einer ständischen Steuerverwaltung, in anderen Fällen oblag die Sammlung der Steuer sogenannten élus, die anfangs in der Tat von den Ständen gewählt, später hingegen vom König (seit
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Karl V.) eingesetzt wurden. Daraus resultierte die Unterscheidung in pays d’élection (seit dem 15. Jh.) und pays d’états (zu letzteren zählten Burgund, Dauphiné, Provence, Languedoc, Bretagne, um nur die wichtigsten zu nennen). An der Spitze der Verwaltung der außerordentlichen Einnahmen (Steuern) (außerordentlich im Gegensatz zu den ordentlichen aus der Krondomäne) standen Finanzgeneräle, die im Konfliktfall als Richter fungierten. 1389 hatte sich das Konfliktpotential so sehr erhöht, daß ein ausgesprochener Steuergerichtshof eingerichtet wurde, die cours des aides, die in der Hierarchie der Würden mit der Rechnungskammer und dem Parlament gleichgestellt wurde.
Rat holen Am Hof des Königs selber verblieb der Staatsrat, der, modern ausgedrückt, die Leitlinien der Politik als Beratungsorgan des Königs festlegte, der aber immer Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen beibehielt. Die Prinzen aus königlichem Geblüt waren bemüht, im Staatsrat eine einflußreiche Rolle zu spielen. Staatsrat und Hof wurden seit dem 13. Jh. durch die Legisten geprägt, die in beiden Rechten geschult waren und vor allem dem römischen Recht politische Maximen zu entnehmen wußten, die den Staat stärkten. Prinzipiell waren Adel, Klerus und Stadtbürger am Hof vertreten, der Hof mit seinem Zeremoniell, dem Staatsrat und allen am Hof gegenwärtigen Personen vermittelte die vielfachen Veränderungen in der Gesellschaft, in den wirtschaftlichen Strukturen, in der Kultur, im Wissen und Erkennen. Die Wirksamkeit der kapetingischen Könige und ihrer Nachfolger aus dem Haus Valois beruhte nicht darauf, daß sie „Macher“ waren, sondern daß sie in ihrer Person, mit ihrem Rat und mit ihrem Hof ein Maximum an Wirkkräften und Veränderungen miteinander vermittelten.
3.6 Gesellschaftliche Institutionalisierungsprozesse Stadt und „Synkope“ Über den Aufstieg der Städte als Kommunen und Zentren der neuen Geldwirtschaft war im zweiten Kapitel berichtet worden. Kennzeichnend für den weiteren Verlauf war die Herausbildung neuer Gesellschaftsschichten wie der Finanzleute, zu denen die italienischen Bankiers und zahlreiche Juden in den Städten zählten. Überall, auch auf dem Land, wurde mittlerweile mithilfe von Krediten gewirtschaftet.
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In den Städten waren die Berufsjuristen, die Universitätslehrer, die Studenten zu Hause, soziale Gruppen, die zu Zeiten Innovationsträger waren. Die südfranzösischen Städte steuerten den Stadtadel bei, während in den nordfranzösischen Städten die Bürger und das „niedere“ Stadtvolk eher unter sich blieben. Tuchherstellung und -vermarktung begründete die ökonomisch-politische Macht der flandrischen Städte, die Messen machten die Champagnestädte zu bevorzugten Umschlagplätzen nicht nur von Waren, sondern auch von Geld. Dies bedeutete ebenfalls Macht. Alle Großstädte wurden hinsichtlich mindestens einer Funktion oder eines Wirtschaftsgutes zu einer für das gesamte Königreich bedeutsamen Drehscheibe, z. T. auch zur Drehscheibe für die Außenbeziehungen. Das gilt selbstredend für die Hafenstädte am Mittelmeer und Atlantik, aber z. B. auch für Auxerre, dessen großer Binnenhafen als Verteilerzentrum fungierte. Städte waren gewissermaßen Pumpstationen für das Verkehrsnetz, was sie nach dem Ende der antiken Städtekultur im „Hexagon“ keineswegs immer gewesen waren. Tours und Cahors beispielsweise wurden durch ihre Brücken charakterisiert, ebenso Avignon und Narbonne, die neue Brücken bauten. Alle, auch die Kleinen Städte, entwickelten sich zu Verwaltungs- und Gerichtssitzen und nahmen die neuen Berufsgruppen in ihren Schoß auf. Es ist müßig, alle Funktionen, die Städte im allgemeinen oder im besonderen annahmen, aufzuzählen; in ihnen verkörperte sich die gesellschaftliche Institutionalisierung des vielen Neuen, das seit dem 12./13. Jh. Platz griff und Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Land, Kultur, Kunst, Wissen, Theologie und Religion, Widerständigkeit und aufständische Bewegungen miteinander vernetzte. Der im zweiten Kapitel bereits zitierte Johannes von Salisbury hatte nicht nur den Staat mit einem Körper verglichen, sondern auch die Stadt: „Den Palast oder die Kathedrale einer Stadt sah er als deren Kopf, den Markt als ihren Magen, die Hände und Füße der Stadt als ihre Häuser. Die Menschen sollten sich in einer Kathedrale langsam bewegen, weil das Gehirn ein reflektierendes Organ war, schnell auf einem Marktplatz, weil die Verdauung einem schnell brennenden Feuer im Magen glich.“ (Richard Sennett) Im 14. Jh. wurde die schon erwähnte Kategorie der Synkope genutzt, um eine Stadt zu verstehen. Obwohl sich die Kommune, wie im zweiten Kapitel beschrieben, sehr wahrscheinlich zuerst auf dem Land entwickelt hatte, vereinigte die Stadt seit dem 12. Jh. in sich alle bekannten Gemeindeformen, von der religiösen Gemeinde bis zur politischen, von der Zunft und Gilde bis
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zur Bruderschaft, von der Nachbarschaft bis zur Armen- und Fremdenfürsorge. Dies war die exakte soziale Umsetzung dessen, was die Ärzte Synkope getauft hatten. Die Anwendung der Kategorie der Synkope auf die städtische Gesellschaft hatte noch einen anderen Hintergrund: Die Synkope faßte eine Reaktionsfolge zusammen, während Johannes von Salisbury und andere 150 Jahre zuvor die Körpermetapher benutzten, um die hierarchische Gliederung der Gesellschaft darzustellen. Sie betonten die Aufgaben der Glieder und Organe, Mondeville und andere betonten den Reaktionszusammenhang. Die städtische Wirtschaft formte ein neues Zeitverständnis, die Uhrzeit, das eng mit der Bewertung von Arbeit und Ware durch Geld verbunden war. Das neue Zeitverständnis kennzeichnete nicht nur den Kaufmann oder Wucherer, sondern auch die Handwerkerschaft: Mitte des 13. Jh. wurden in Paris erstmals Löhne nicht nach dem Produkt, sondern nach der Arbeitszeit bemessen. Paris war mit rund 200.000 Einwohnern vor der Pestepidemie von 1348 die weitaus größte Stadt, schon deshalb ein wichtiger Handelsund Finanzplatz, der allerdings im Vergleich zu den flandrischen Städten nicht den ersten Platz in Frankreich einnahm. Bedeutsamer war die Funktion als Hauptstadt, das heißt als permanenter Sitz zentraler Institutionen und als Wohnsitz der Professionellen, die diese Institutionen und den Staatsrat bevölkerten. Paris mußte die Konsumbedürfnisse einer Bevölkerung befriedigen, in der die konsumintensiven Gruppen rund um den Hof und die Institutionen hervorstachen. Außerdem war Paris ein riesiger Bauplatz. Der Bau der gothischen Kathedrale von Notre-Dame in dem Jahrhundert von der Mitte des 12. zur Mitte des 13. Jh. war das herausragendste und herausforderndste Projekt unter allen, dies jedoch in einer unendlichen Reihe anderer großer Bauprojekte wie Louvre, Stadtmauern, Stadthäuser des Adels usw.
Öffnen, entgrenzen, das Innere nach außen kehren: die Gotik In allen großen Städten des „Hexagons“ wurde seit dem 12. Jh. an gotischen Kathedralen gebaut. Sie wurden überwiegend mit dem Geld der Bürger finanziert. Die Stadt wurde zum selbstverständlichen Ort künstlerischer und architektonischer Innovation, sie nahm den Platz ein, den früher das Land mit seinen monumentalen Klosterbauten, als deren Folge, aber eben nicht Voraussetzung, mancher bourg wie Cluny entstanden war, innegehabt hatte. Die Gotik hatte im
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übrigen in Städten ihren Anfang genommen, die wie Saint-Denis (1137), Sens und Beauvais (um 1140) in der Krondomäne lagen. Die für diese Kathedralen charakteristische Auflösung der Wände in riesige Fensterflächen, d. h. ihre Öffnung, fand in wesentlich kleinerem Maßstab ein Pendant in neuen baulichen Grundsätzen für viele städtische Handwerkshäuser. Auch hier wurden die Wände zur Straße hin geöffnet, um Platz für die offene Auslage der Waren zur Straße hin zu gewinnen und um den Blick ins Innere freizugeben. Das gleiche Prinzip lag großen Hoföffnungen zu Grunde, durch die der Blick auf die im Haushof befindlichen Läden und arbeitenden Handwerker freigegeben wurde. Die christliche Ikonographie der Gotik war dem Menschen zugewandt. Die Figuren an den Portalen der Kathedralen zeigten die biblischen Gestalten und die Heiligen als Menschen. Äußere Schönheit, Anmut usf. bezeugten innere Schönheit und Seelenreinheit usw., eine zur Anschauung preisgegebene schöne bzw. häßliche Körperlichkeit der Figuren wurde als Spiegel der Seele verstanden. Ein lächelnder Märtyrer zeigte an, wie ein seelenreiner Mensch mit Schmerzen umgehen konnte und sollte; beliebt waren die Schmerzensmanndarstellungen, oder die „Maria mit dem Kind“. Geschlechtergrenzen wurden in der plastischen wie schriftlichen Körpersymbolik teilweise aufgelöst; in den theologischen Texten war es nichts ungewöhnliches, Jesus metaphorisch als Mutter zu bezeichnen. Die Stadt war folglich jener Ort, an der ein positives, wenn auch nicht unkritisches Menschenverständnis in jeder Hinsicht zur Schau gestellt wurde. Die Aufweichung von Geschlechtergrenzen, die ein androgynes Grundverständnis von Mensch zuließ, konnte auch in der Gesellschaft beobachtet werden: Gelehrte Frauen (meist Äbtissinnen und Nonnen) waren keineswegs eine Randerscheinung, Regentinnen bedeuteten eine selbstverständliche Erscheinung, berufstätige Frauen prägten die Städte.
3.7 Popularer Widerstand und Adelsligen Widerstand: geschichtliche Alternativen Vom „Ende“ der Geschichte her betrachtet hat sich der territoriale Einheitsstaat durchgesetzt. Er war sowohl mit der Monarchie wie mit der Demokratie kompatibel. Das sollte nicht den Blick darauf verstellen, daß es Alternativen gegeben hatte bzw. der territoriale Ein-
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heitsstaat nicht mehr und nicht weniger als eine von mehreren Möglichkeiten dargestellt hatte. Das Mittelalter, die Frühe Neuzeit und noch weite Teile des 19. Jh. wurden in hohem Maße durch Revolten, Aufstände, andere Formen popularen Widerstandes oder Adelsligen charakterisiert. Mancher Aufstand nahm die Ausmaße eines Bauern- oder Bürger-Kriegs an, religiöse Bewegungen führten u. U. zur Ausbildung einer alternativ verfaßten Gesellschaft. Es bildeten sich Gesellschaften in der Gesellschaft wie die peasant society, eine Bezeichnung, die die innere Logik kennzeichnender und integrierender Verhaltensweisen der bäuerlichen Gesellschaft zusammenfaßt. Gründe, Motive und Ziele von Widerstand (der Begriff wird hier summarisch als Kürzel für viele Formen und Ausprägungen verwendet) waren heterogen und sind nicht leicht zu schematisieren. Offensichtlich war die führende Rolle adliger, geistlicher, städtischer und bäuerlicher Eliten. Ihr Mobilitätsgrad war höher als der der meisten anderen Menschen, Mobilität bedeutete bei ihnen immer verdichtete Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten. Es war für sie leichter, die politisch-strukturellen Konsequenzen von Widerstand zu ermessen und damit ins Kalkül zu ziehen. Dies erwies sich an den Pariser Revolten unter Etienne Marcel, die mit der Idee der Generalstände und einer allgemeinen soziopolitischen Idee, der des bien commun, geschickt verbunden wurden. Auf der anderen Seite waren weitreichende strukturell-ökonomische Folgen für fast niemanden abzuschätzen, da es im Gegensatz zur fortgeschrittenen Gesellschafts- und politischen Philosophie noch an ausgesprochenen wirtschaftlichen Theorien fehlte. Max Weber unterschied den mittelalterlichen Stadtbürger als homo oeconomicus vom antiken homo politicus. Mit Blick auf den Einsatz handlungsleitender Theorien war der Stadtbürger jedoch mehr politicus als oeconomicus. Aber nicht nur er: Könige, Fürsten, Adelige, sie wußten vom wirtschaftlichen Aufschwung zu profitieren, aber es war keine Theorie verfügbar, die Aufund Abschwünge begreifbar, prognostizierbar und steuerbar gemacht hätte. Dies ist zu unterstreichen, auch wenn ab dem 13./14. Jh. (z. B.: Thomas von Aquin; Nicolas Oresme, um 1320 bis 1382), maßgeblich infolge der Aristoteles-Rezeption, durchaus nach Begriffen und Kategorien gesucht wurde, die der Einordnung der wirtschaftlichen Aktivitäten des Menschen in das Gesamtverständnis von menschlicher Gesellschaft dienen sollten.
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Flagellanten und Katharer – gescheiterte Gesellschaftsrevolutionen (12. bis 14. Jahrhundert) Umfassendere soziopolitische Alternativen zum Mainstream des werdenden Einheitsstaats entwickelten am ehesten religiöse Bewegungen. Sie waren nicht nur gegen etwas, sondern auch für etwas, das sie aufzubauen begannen. Hier sind die oben beschriebenen monastischen Bewegungen, aber auch die Flagellanten des 14. Jh. anzuführen. Sie alle folgten bestimmten religiösen Leitbildern, mit denen eine vorgefundene, als Mißstand empfundene Wirklichkeit reformiert werden sollte. Diese Bewegungen waren ihrer Natur nach Widerstand, aber sie nutzten die bestehenden kirchlichen, politischen und sozialen Institutionen, um zum Ziel zu kommen, sie suchten mit Erfolg die Approbation und die Beteiligung der Herren. Dies galt in wesentlich minderem Maß für die Geißler (Flagellanten), die im Sommer 1349 in Nordfrankreich auftraten. Papst, Fürsten und die Universität Paris verhielten sich ablehnend, die Kirchen und das Kirchenvolk absorbierten die Bewegung hingegen. Ihr Leitbild, die Imitatio Christi und das Erleben der Schmerzen der Passion, wurde von vielen geteilt. Die Imitatio Christi gehörte zu den Leitbildern der gotischen Ikonologie, die Passion Christi wurde vor den Kathedralen genauso lebensecht dargestellt wie von den letztlich ephemeren Geißlern. Die weitreichendste religiöse Bewegung, die eine soziopolitische Alternative in die Tat umsetzte, waren die Katharer. Dies ist eine Sammelbezeichnung für – im Verständnis der Papstkirche – häretische Strömungen, deren nordfranzösische Ausprägungen oben im zweiten Kapitel im Kontext der Entwicklung der Ständelehre zur Sprache gekommen waren. Während die Katharer im Süden im Bereich der Städte Béziers, Albi, Cahors, Agen und Mirepoix von Beginn an auf das Einverständnis der Herren stießen, wurden sie von den Bischöfen im Norden Frankreichs im 11. Jh. und vom König im Süden im 12./13. Jh. erbittert bekämpft. Trotz der Verdammung durch das Konzil von Toulouse 1119 breitete sich die Bewegung der Katharer schnell in der Provence, dem Languedoc und Aquitanien bis Bordeaux aus. 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung dürften dieser Bewegung angehangen haben. Nach 1160 entstanden eigene Organisationsstrukturen wie Armen- und Krankenpflege, Kirchen, ja Bistümer; Versammlungen wurden öffentlich abgehalten. Die Unterstützung des Grafen Raimund VI. von Toulouse (ab 1194) mag die Transformation der religiösen Bewegung in eine politisch rebellische
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Bewegung begünstigt haben, weil diese den Unabhängigkeitsbestrebungen dieses und anderer Grafen zu nützen schien.
Étienne Marcel, Simon le Coustelier – Griff der Bürger nach der Macht im 14. Jahrhundert? Weitreichende politische Strategien wurden in den 1350er Jahren in Paris entwickelt. Die flandrischen Aufstände, insbesondere der Stadt Gent unter Jakob van Artevelde 1337 bis 1345, hatten in die politische Vorstellungswelt der Stadtbürger in Frankreich so etwas wie einen Urtypus eingegraben, der lange nachwirken sollte. Nachdem Philipp IV. mehrfach, wie oben berichtet, Ständeversammlungen konsultiert hatte, um sich im Konflikt mit Papst und Templern der öffentlichen Meinung zu versichern, und die Fiskalpolitik die Zustimmung der Stände erheischte, hatte sich im Lauf des Jahrhunderts eine Ständebewegung entwickelt, die jedoch wenig Koordination besaß. Die Stände der Langue d’Oc und der Langue d’Oïl tagten in der Regel nicht gemeinsam, die Provinzialständeversammlungen gingen den Generalständen entwicklungsgeschichtlich im Grunde voraus, die Stände im Norden wurden von Paris beherrscht. Der politische Wunsch nach Generalständen war besonders in Paris beheimatet. Die Stadt verfolgte weiterhin das Ziel, den Adel im Umland von der Teilhabe an der Macht abzudrängen. Die Krise um das Königtum, entstanden aus der Niederlage Johanns II., der sich für drei Jahre in englische Gefangenschaft begab, nutzte der Vorsteher der Pariser Kaufmannschaft (prévôt des marchands), Étienne Marcel, um den schon seit einiger Zeit virulenten Gedanken, das Königtum durch einen mit Vertretern von Generalständen beschickten Rat zu stärken und zu kontrollieren, in die Tat umzusetzen. Die Differenzen zwischen dem Regenten Karl, Sohn Johanns II., und Karl von Navarra aus dem Haus Évreux, der die Regentschaft gern an sich gerissen hätte, versuchte Marcel für diese politischen Pläne zu instrumentalisieren. Der Regent willigte im März 1357 in Form einer Ordonnanz darin ein, in Zukunft Ständevertreter in den Staatsrat aufzunehmen. Im Februar 1358 setzten die Pariser Stadtbürger erneut eine Ständeversammlung durch, auf der sie die Forderung nach nordfranzösischen Generalständen unter Ausschaltung der Provinzialständetage erhoben. Im Zuge dieser Ereignisse kam es zu einem Volksaufstand, bei dem zwei Marschälle des Regenten ermordet wurden. Karl verließ Paris und versuchte, die Stadt durch ein Bündnis mit dem Adel zu isolieren, während die Stadt mit Karl von Navarra ein
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Bündnis einging. Im Mai des Jahres brachen im Beauvaisis Bauernaufstände (Jacquerie) aus. Die Folgen der Pest, Ausplünderung durch Söldnerbanden, Schutzlosigkeit und anderes mehr führten zu den Aufständen gegen den Adel. Sie breiteten sich in die Picardie, die Champagne und in die nördliche Île-de-France aus. Angeführt wurden sie von einem Soldaten namens Guillaume Cale, getragen wurden sie von den wohlhabenderen Bauern, Bürgern, Handwerkern und einigen niederen Chargen der königlichen Verwaltung. Die Aufständischen waren königstreu und adelsfeindlich. Marcel ließ die Aufstände durch Bürgermilizen massiv unterstützen, die militärischen Erfolge waren zunächst erheblich. Das Ziel, die Städte an der Macht zu beteiligen und das Land anstelle des Adels zu beherrschen, schien zum Greifen nahe, doch wendete sich das Blatt. Mithilfe Karls von Navarra wurden die Aufstände blutigst niedergeschlagen. Marcel wurde am 31. Juli 1358 in Paris ermordet. In einer längerfristigen Perspektive müssen diese Jahre dennoch als eine Schlüsselzeit für die Entwicklung der Generalstände erachtet werden. Die weiteren städtischen Aufstände im 14./15. Jh. ließen bei den Herrschenden immer wieder die Erinnerung an den Genter „Urtypus“ wach werden, obwohl sie sich zunehmend auch gegen das städtische Patriziat richteten. Auslöser war im späten 14. Jh. in der Regel der ungemein gewachsene Steuerdruck. Im Süden Frankreichs erfaßte eine Aufstandswelle zwischen 1378 und 1381 die wichtigsten Städte, 1383 schwappte sie auf das Land über, wo sich Banden (Tuchins) bildeten. Im Norden, in Flandern, erhoben sich die Handwerker gegen das Patriziat, in Rouen (sog. Harelle) plünderten 1382 die Weber die Häuser reicher Bürger, die für die hohen königlichen Steuern mitverantwortlich gemacht wurden. Nach einem ähnlichen Muster verliefen die Aufstände in Paris (Maillotins) und zahlreichen anderen Städten. Alle Erhebungen wurden kompromißlos niedergeschlagen mit der Folge, daß die allgemeinen königlichen Steuern vorerst ohne Zustimmung der Betroffenen erhoben werden konnten. Die prekäre Lage unter dem kranken Karl VI. führte schnell zur Fortführung der Aufstandstradition. 1413 tagten in Paris die Generalstände der Langue d’Oïl, die Gelder für den Krieg gegen England bewilligen sollten. Die Stände beharrten als Gegenleistung auf Reformen in Regierung und Verwaltung. Der Herzog von Burgund schürte Aufstände unter Führung von Metzgern und Abdeckern, mit dem angeblichen Ziel, all jene Funktionsträger des Königs aus dem Amt zu treiben, die nicht dem Gemeinwohl, sondern ihrem Eigennutz dien-
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ten. Unterdessen erarbeiteten Theologen der Pariser Universität und Juristen einen Reformkatalog mit 259 Artikeln, mit dem schließlich die öffentliche Meinung in Paris gewonnen werden konnte. Vom 2. bis 4. August 1413 wurden die Aufstände, die nach ihrem Anführer Caboche „Cabochiens“ genannt wurden, unterdrückt: den Aufständischen war die Unterstützung durch die öffentliche Meinung abhanden gekommen. Dem Reformwerk war keine Zukunft beschieden, die siegreiche Partei der Armagnacs verwarf es als ordonnance cabochienne, was eine Einmütigkeit von Reformern und Aufständischen suggerierte, die so nicht bestanden hatte. Die Artikel der Reformer inspirierten sich an der Idee der bonne policie, die Karl V. unter dem Einfluß von Aristoteles und Nicolas Oresme zur Leitidee seiner Politik gemacht hatte. Die bonne policie spiegelt das neu einsetzende systemische Denken wider. Das Gemeinwesen (der Staat) wurde als vernünftige Ordnung gedacht. Eine solche Ordnung war rational nachvollziehbar, Regieren und Verwalten mußte sich nach den Prinzipien der Ordnung in der Praxis richten können. Darauf gründete sich die Beteiligung der Stände in der Mitte des 14. Jh. an politischen Entscheidungen, ihre Einflußnahme auf den Staatsrat, und, geradezu logisch, der immer größere Anteil von Professionellen (s. oben) an der Regierung.
Der Griff ins Leere: Adelsligen im 15. Jahrhundert Der Adel sah sich an mehreren Fronten bedroht: seine Mitwirkung an der königlichen Regierung wurde eingeschränkt und war vielen Unwägbarkeiten ausgesetzt. Mit den Städten und dem Land gab es im 14. Jh. militärische Konflikte. Die fast unerbittlich wirkende Entwicklung des Staats und die Durchsetzungsfähigkeit insbesondere Karls VII. und seiner Nachfolger im 15. Jh. kündigten das Ende auch der „zweiten Feudalität“ an. Der hohe Adel lehnte sich gegen diese Strukturverschiebungen während des ganzen 15. Jh. auf. Die geschilderten Konflikte zwischen Armagnacs und Bourguignons sind hierin einzuordnen. 1440 kam es zu neuerlichen ,Adelsligen’, der sog. Praguerie (der Name nahm auf die Hussitenkämpfe in Böhmen Bezug), an der die Herzöge der Bretagne, von Anjou und von Bourbon sowie als Fädenzieher der Herzog von Burgund beteiligt waren. 1463/64 bildete sich die Ligue du Bien public unter Führung des Grafen von Dunois und Herzog Karls von Berry, die vorgab, mit den Mißständen im Reich aufräumen, Steuern senken und die Generalstände einberufen lassen zu wollen. 1465 befand sich die Ligue in einem regel-
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rechten Krieg mit Ludwig XI., der manche Position räumen mußte. Ähnlich wie Paris unter Étienne Marcel 1358 den hohen politischen Zielen nahe schien und dann in kürzester Zeit in eine tiefe Niederlage stürzte, endete diese Adelsliga geradezu am Nullpunkt, als Herzog Karl der Kühne von Burgund 1477 den Tod fand.
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Die dritte Integration: Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV.
Das 16. Jh. wurde in der ersten Hälfte durch die Konsolidierung der Monarchie, einen demographischen und sozioökonomischen Aufschwung und eine kulturelle Blüte gekennzeichnet. Die zweite Hälfte wurde entscheidend durch die Religions- und Bürgerkriege, die konfessionelle Zerrissenheit der Bevölkerung, einen Machtverfall der Monarchie und Momente des sozioökonomischen Einbruchs geprägt. Die Durchlässigkeit der gesellschaftlichen Schichten nahm allmählich ab, es kam zu einer deutlicheren ideologischen Trennung der vier Stände (Arme, Bettler, Vaganten usf. als „vierter Stand“, eine zeitgenössische Klassifizierung). Die Adelsideologie nahm rassische Elemente in sich auf. Dennoch präsentierte sich Frankreich am Ende des Jahrhunderts als stabile absolute Monarchie und als eine Nation – langfristig wirksame Faktoren hatten sich vorerst durchgesetzt. Die allgemein übliche Bezeichnung der Religionskriege als Bürgerkriege verweist nebenbei darauf, daß wir es in der Tat mit einer Nation zu tun haben. Bei den ideologischen Rechtfertigungen der Bürgerkriege ging es im Kern immer um die Einheit der Nation: sei es, daß eine bestimmte Nationalgeschichte konstruiert wurde, in deren Tradition sich die eine oder die andere Partei selbstbewußt stellte, sei es, daß der Gedanke der religiösen Toleranz mit dem Appell an die Einheit Frankreichs und seines Volkes verknüpft wurde. Niemand war wirklich bereit, die Einheit des Landes einem konfessionellen Territorialismus oder einer Verteilung der Macht auf halbsouveräne Territorien wie im benachbarten Reich zu opfern. Seit dem ausgehenden 15. Jh. wurden „Volk“ und „Nation“ in einen Zusammenhang gebracht. Deshalb stellt das 16. Jh. eine entscheidende Etappe für die französische Nationswerdung trotz aller konstatierbarer Zerrissenheit dar. Viele der politischen Forderungen und Realitäten verweisen ungleich mehr als das 17. Jh. auf den Ausgang des 18. Jh. Das 16. Jh. war in mancher Hinsicht ein politisch radikales
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und sehr von Gegensätzen geprägtes Jahrhundert, Versuche, es auf einen einzigen Nenner zu bringen, sind nicht sinnvoll. In diesem Kapitel wird zunächst der Prozeß der Nationswerdung seit dem ausgehenden Mittelalter behandelt, anschließend wird die allgemeine Geschichte des Jahrhunderts im Aufriß dargelegt.
4.1 Frühe Anfänge der Nationswerdung: Kulturelle Referenz „Francia“ Der Name „Francia“ Jede Nationswerdung setzt die Identifizierung eines politischen Raumes mit einer Bevölkerung und deren verdichteten kulturellen Ausprägungen voraus. Ansätze zu solchen Identifizierungen begegneten schon vor dem Jahr 1000, als Prozeß der Nationswerdung lassen sie sich jedoch im Grunde erst seit Philipp August bezeichnen. War der Name Francia früher als territoriale Bezeichnung noch flexibel und nur ein Name unter vielen gewesen, gab er nun dem gesamten regnum Franciae seinen Namen. Immer häufiger wurde der König als rex Franciae statt als rex Francorum benannt. Die politische und Herrschaftsgeschichte, die zu territorialer Integration führte, war im dritten Kapitel erzählt worden. Eine Vielzahl weiterer Momente beförderte die innere Integration des Königreichs und führte zum Aufbau der kulturellen Referenz „Frankreich“, auf die sich das Nationsbewußtsein zuerst stützte. Hinsichtlich dieser kulturellen Referenz sind ganz grob zwei Stufen zu unterscheiden; die erste reicht bis in die Richelieu-Zeit, die zweite, die mit einer qualitativen Veränderung verbunden war, begann in der Zeit Ludwigs XIV. In der ersten Stufe wurde Francia zum allgemeinen Namen des Königreichs, im Vergleich mit anderen europäischen Reichen bildete sich der Topos von der „douce France“ heraus. Es fehlte auch nicht an von außen an Frankreich herangetragenen Charakterisierungen, die performativ zur Festigung der kulturellen Referenz Frankreich beitrugen. Mit Bezug auf die Pariser Universität unterschied Alexander von Roes Ende des 13. Jh. Frankreich von anderen christlichen Nationen dadurch, daß dort das studium beheimatet sei, Papst Clemens V. sprach vom regnum Franciae als einem von Gott auserwählten Volk. Unter den mittelalterlichen Herrschern wurde ein zentrales Staatsgedächtnis aufgebaut, in dem sich manifestierte, wie sehr nunmehr das Königreich als Einheit und Gesamtheit begriffen wurde. Daß mittelalterliche Könige umherreisten, um ihre Herrschaft gegenüber
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ihren Vasallen zu festigen, ist bekannt. Spätestens seit Philipp d. Schönen hielt sich die Praxis, ausgedehnte Informationsreisen zu unternehmen, beispielsweise 1303/4 in den Süden, um die Probleme vor Ort kennenzulernen. Karl VI. unternahm eine ähnliche Reise 1389/90, um sich über einige Wochen hinweg in Toulouse aus erster Hand über die Problemlage im Süden des Reiches zu informieren. Diese Informationsreisen sind im Kontext systematischer statistischer Erhebungen zu sehen, die mit Ludwig d. Hl. 1247 einsetzten. Die berühmteste Erhebung war jene von 1328, aber sie stellt nur eine von über hundert vornehmlich im 14. und 15. Jh. dar. Die schon erwähnten enquêteurs-réformateurs erforschten nicht nur Mißbräuche in der Verwaltung, sondern sammelten auch jede Art von Information über den Zustand des Landes.
Kartographie Galliens Das Königreich wurde folglich durch komplexe Informationserhebungen gewissermaßen abgebildet, bevor im 15. Jh. erste kartographische Abbildungen entstanden, die parallel zur verbreiteten Körpermetapher den geographischen Körper des Landes repräsentierten. Karl VII. ließ 1423 eine Karte des Dauphiné zeichnen, sie ist jedoch verloren gegangen. Zuvor gaben die (italienischen oder deutschen) Portulankarten für die Seefahrt eine ungefähre Vorstellung von den Küstenverläufen Frankreichs. Erst die Wiederentdeckung der ptolomäischen Geographie brachte die Produktion von Karten in Gang, die ganz im Geist der Renaissance Gallien zeigten. Bernardo Silvano gehörte 1511 zu den ersten, die brauchbare Gallien-Karten veröffentlichten. 1525 folgte Oronce Finé, ein Mathematiker aus dem Dauphiné, mit einer verbesserten Charte gallicane. Seitdem gehörte die geographisch-kartographische Repräsentation des Königreichs zu den grundlegenden Wahrnehmungsmitteln der Entität „Frankreich“. Dasselbe galt im übrigen für Regionalkarten und die Städtetopographie. Weitere Frankreichkarten entstanden unter Jean Jolivet, königlicher Kartograph unter Franz I. und Heinrich II. (erschienen 1560 und 1570), gleichzeitig zeichneten Pierre Hamon, Sekretär Karls IX., sowie Guillaume Postel entsprechende Karten (1568; 1570). Frankreichkarten fanden sich in den europaweit verbreiteten Kosmographien (Sebastian Münster) und den Atlanten des späten 16. Jh. (Abraham Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum, 1570; Mercator-Atlas 1595). 1594 publizierte Maurice Bouguereau in Tours sein Théâtre françoys, ein gesamtfranzösisches Kartenwerk.
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Diese Art von bildlicher Repräsentation setzte eine bestimmte Vorstellung von Grenze voraus. Zwischen dem 12. und 15. Jh. trat neben die unzähligen inneren Grenzen der Lehnsgebiete, Seigneurien und Apanagen das Bewußtsein einer globalen politischen Grenze, die in enger Anlehnung an die Verbreitungsgebiete der französischen Sprache gedacht wurde. „Die Sprachgrenze zog die politische Grenze zu sich heran“. (Albert Rigaudière) Philipp d. Schöne belegte ein- und ausgehende Waren an den Grenzen des Reichs mit Zöllen, d. h., es entstand nach und nach ein Netz von Zoll- und Kontrollposten, die imaginär mit einer Linie verbunden werden konnten: Erst die Identifizierung von Grenze mit Linie macht ja die kartographische Repräsentation eines politisch-geographischen Staatskörpers möglich. In der gleichen Zeit wurden Befestigungswerke zunehmend an den äußeren Grenzen des Königreichs angelegt; der Hundertjährige Krieg trieb diese Entwicklung voran. Für diese militärische Grenze wurde seit dem Ende des 14. Jh. das Wort frontière verwendet. Im 16. Jh. mehrten sich Reisen im Landesinnern und Reisebeschreibungen, die auf Berichten von Pilgern, Kaufleuten, Kolporteuren und anderen mobilen Personen beruhten. Der Arzt Charles Estienne ließ 1552 einen Guide des chemins de France erscheinen, in dem die Hauptreisewege, Reiseetappen, die Schwierigkeiten des Wegs, aber auch die Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten der durchreisten Regionen beschrieben wurden. Der königliche Geograph Nicolas de Nicolay beschrieb sehr detailliert die Regionen Berry, Bourbonnais, Lyonnais und Beaujolais (Descriptions générales, redigiert 1567 bis 1573). In der ersten Hälfte des 16. Jh. bedeckte das Königreich eine Fläche von rd. 450.000 qkm. Für die Nord-SüdDurchquerung rechnete man 19 Reisetage und für die West-Ost-Reise 22. Zwischen der Geschwindigkeit des Fußreisenden, der 15 bis 20 km zurücklegte, und dem Eilboten, der es auf 150 km am Tag bringen konnte, lagen freilich bedeutende Unterschiede. Legt man die materiellen Reisebedingungen zugrunde, bedeutete die Durchmessung des französischen Raums in etwa soviel, wie heute die Durchmessung der Strecke Paris-Moskau mit dem Auto, also gewissermaßen die West-Ost-Durchmessung Europas. (Arlette Jouanna) Um so mehr fällt ins Gewicht, daß Frankreich in dieser Zeit in der Imagination zu einer kulturellen Referenz zusammengeschlossen werden konnte.
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Franken, Gallier, „Francigermani“, Franzosen? Inwieweit ist es berechtigt, für diese Zeit von „Franzosen“ zu sprechen? Zum einen definierte sich die Bevölkerung durch ihre Zugehörigkeit zum kulturellen und politischen Raum, der durch die frontière umschlossen wurde. Sie definierte sich durch vielfältige Abgrenzungen, die mit der Ausbildung nationaler Stereotypen in den Kreuzzügen begannen und bei der juristischen Definition des „Fremden“ endeten. Sie war den integrierenden Kräften der Politik und Verwaltung ausgesetzt, der beschleunigte Fluß von Informationen und Meinungen nach der Einführung der Drucktechnik eröffnete neue Möglichkeiten, die Elemente der kulturellen Referenz Frankreich im Publikum zu verbreiten. Vor allem die Humanisten definierten, was ein Franzose sei; im ersten Kapitel, bezüglich der Frage, wann „französische“ Geschichte beginne, war von ihnen schon die Rede gewesen. Sie bemühten sich um eine historische Klärung der Abstammung, nicht ohne der Mythographie zu verfallen, sie erforschten die Geschichte der Institutionen des Reichs. Z. T. erfolgte dies aus einer Abwehrhaltung gegenüber der Arroganz der Italiener und Deutschen heraus: die einen ließen nur Griechenland und Rom als Kulturen gelten, der Rest war Barbarei, die anderen nährten ihr Selbstverständnis am Busen von Tacitus’ Germania. Zu den Begründern der frühneuzeitlichen Frankreichhistoriographie zählte Robert Gaguin (ca. 1433 bis 1501), der 1495 ein Compendium super Francorum origine et gestis drucken ließ und das bis 1586 siebzehn Auflagen erlebte. Die 1550er Jahre waren besonders reich an national-historiographischen Schriften. Zu nennen sind von Guillaume Postel (1510 bis 1581) die Apologie de la Gaule contre les malevoles escripvains (1552), von Jean Picard De prisca Celtopaedia (1556, Von der alten keltischen Kultur), von Robert Céneau (1483 bis 1560; Bischof von Avranches) seine Gallica Historia (1557) und von Petrus Ramus der 1559 in Latein und Französisch erschienene Traité des meurs et façons des anciens Gaulois. Soweit man sich nicht auf den gallischen, sondern den fränkischen Ursprung bezog, war es verlockend, sich auf Tacitus zu stützen, der den Germanen als besondere Eigenschaft die Liebe zur Freiheit zuwies. Der bedeutende Jurist Charles Dumoulin (1500 bis 1566) behandelte in seinem Kommentar zur Coutume von Paris (1539) die Franken deshalb als Francigermani. Mit ihren Fragen nach dem Herkommen der Franzosen trugen die Humanisten zur Selbstdefinition der Franzosen im Verhältnis zu Deutschen und anderen bei. Eine besondere Rolle spielte in ihren
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Geschichtswerken die Geschichte des Königtums, die Elemente der Königstheologie ebenso wie die Fundamentalgesetze, allen voran das Salische Gesetz. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen katholischer Liga und Hugenotten nahm die Historiographie eine eminent politische Funktion an. François Hotman (1524 bis 1590; De Francogallia) verteidigte für die Hugenotten die Geltung des Salischen Gesetzes bezüglich der Thronfolge und warf der katholischen Liga vor, dieses Fundamentalgesetz außer Kraft setzen zu wollen. Die Religionskriege bedeuteten auch insoweit „Bürgerkriege“, als es um die Frage ging, wer der Tradition der französischen Geschichte treu blieb, wer der bessere Franzose war. Die Nation definierte sich nicht nur über historische und kulturelle Elemente sowie über die durch politische Integration erzeugte Kohärenz, sondern auch durch politische Institutionen und politisch-philosophische Ideen, die am Volks-Begriff anknüpften.
4.2 Die Generalstände, Repräsentanten der nation 1484: „tout le peuple du royaume“ 1483 berief Anne de Beaujeu als Regentin die Generalstände für 1484 ein. Statt die Mitglieder wie bisher individuell zu berufen, wurden die drei Stände aufgefordert, auf der Ebene der Ämter (bailliages) Vertreter zu wählen. So wählten je der Adel und der Klerus einschließlich des Pfarrklerus in eigenen Versammlungen ihre Repräsentanten. Der dritte Stand, Städte und Landgemeinden, wählten gemeinsam ihre Vertreter. Die Regentin, die mit den Ständen über die Regentschaft verhandeln wollte, begründete dieses Verfahren damit, daß die anstehenden Probleme das ganze Volk („tout le peuple du royaume“) beträfen. In seiner Eröffnungsrede vom 15. Januar 1484 bezeichnete der Kanzler die Versammlung als „Elite der Nation“. Mit dem Repräsentationssystem und der Charakterisierung der Generalstände als Vertreter der Nation wurde der mittelalterliche Entstehungsprozeß der Generalstände zum Abschluß gebracht. Wahlmodus und Verständnis der Generalstände blieben bis 1614 wirksam. Die Nichteinberufung der Generalstände zwischen 1615 und 1789 verhinderte nicht, daß das im ausgehenden 15. Jh. manifest gewordene Grundverständnis lebendig blieb und nach 1787 eine schnelle praktische Wiederbelebung der Generalstände ermöglichte. Wie im dritten Kapitel dargestellt, hatte sich Philipp d. Schöne in der Auseinandersetzung mit Papst und Templern des Rückhalts der
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Stände versichert. Grundsätzlich handelte es sich um eine Art von Notabelnversammlungen, deren Mitglieder der König persönlich berief und deren Zustandekommen auf der Verpflichtung der Vasallen zu Leistung von Rat gegenüber dem König beruhte. Da die Städte einen finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Machtfaktor bedeuteten, war ihre Einbeziehung neben Adel und Klerus selbstverständlich. In monetären Angelegenheiten konsultierten Ludwig d. Hl. und seine Nachfolger u. U. ausschließlich ihre bonnes villes. Berücksichtigt wurden anfangs nur die bonnes villes, privilegierte Städte mit einer besonders engen Beziehung zum König, später kamen unter dem Druck der tatsächlichen Verhältnisse weitere Städte hinzu. Doch schon 1308 und 1314 waren im Rahmen des dritten Standes einige bourgs (Marktflecken) und Dörfer ebenso vertreten wie die Universität Paris. Philipps Erfahrungen mit diesen Versammlungen waren positiv gewesen, sie erbrachten ihm den nötigen öffentlichen Meinungsrückhalt für seine europäische Politik. Die Ständeversammlungen erfüllten frühzeitig eine genuin politische Funktion. Mehrfach holten sich die französischen Könige im 14. und 15. Jh. bei den Ständeversammlungen Rückendeckung, wenn sie mit den Engländern nach militärischen Niederlagen unvorteilhafte Verträge hatten schließen müssen. Ihre Strategie bestand darin, die Verträge von den Ständen ablehnen und sich Steuern für neue Kriegszüge zur Revision der Lage bewilligen zu lassen. Dies machte die Kriege gegen England mehr als anderes zu einer Angelegenheit der Nation. Der Institutionalisierungsprozeß der Generalstände – der Ausdruck trois états stammt aus dem späten 13. Jh.; seit dem 14. Jh. wurde zunehmend von assemblée des trois états gesprochen – nährte sich aus einer Reihe kirchen- und römischrechtlicher Praktiken und Debatten. Aus der Rechtslehre der Kanonisten des 12. Jh. und der weiteren Konzilsbewegung schwappte der Grundsatz Quod omnes tangit ab omnibus approbetur auf die Ständeversammlungen über. Dies bezog sich auf die Bewilligung von Steuern wie auf die Prüfung von Verträgen, die der König für das Königreich mit anderen Mächten abschloß. Darüberhinaus wurde das Prinzip der procura (rechtliche Vertretungsvollmacht) aufgegriffen, das in Gerichtsprozessen bereits praktiziert wurde, aber auch von Vasallen, die sich von Fachleuten vertreten ließen, statt selber vor dem König zur Beratung zu erscheinen. Aus der allgemeinen Anwendung des Prokurationsprinzip entstand das erwähnte Repräsentationsprinzip.
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Anders als im Fall des englischen Parliament führte die Konsultation der Stände nicht zu einer permanenten Institution. Die Einberufung der Stände blieb ins Ermessen des Königs gestellt. Bis zur inneren Konsolidierung Frankreichs unter Heinrich IV. waren die Könige jedoch immer wieder auf den ausdrücklichen ständischen Rückhalt angewiesen. Bis in die Mitte des 14. Jh. dienten die unterschiedlichen Versammlungen vorwiegend der Konzertierung von König und Ständen. Allmählich wuchs sich jedoch das Bedürfnis nach réformation des Königreichs zur ständigen Aufgabe der Stände aus. Während Ludwig d. Hl. 1254 noch aus eigenem Antrieb, die Stände konsultierend, eine Reformordonnanz erlassen hatte, geschah dies in den folgenden Jahrhunderten auf Druck der öffentlichen Meinung und der Stände. Es bürgerte sich die Abfassung von Beschwerdeheften (cahiers de doléances) ein, denen spezielle Sollizitationen einzelner Gruppen zur Seite traten. Zumeist ging es um den Steuerdruck, Kompetenzanmaßungen der königlichen Funktionsträger u. ä., weniger um das institutionelle Gefüge an sich. Die besprochene ständische Aktion unter Étienne Marcel 1357 hätte u. U. zur Einführung eines Parliament führen können, da die Zeit für die Forderung nach einer dauerhaften Beteiligung der Stände, insbesondere des dritten Standes, an der Politik aufgeschlossen war. Die allseitigen Exzesse machten aus dieser Frage der zukünftigen politischen Verfassung jedoch eine Frage nach der materiellen Macht im Staat, die militärisch zugunsten des Königs gelöst wurde.
Die Stände als Teil des corpus mysticum sive politicum Die Körpermetapher und aus der medizinischen Betrachtung des Körpers abgeleitete Kategorien wie die Synkope bildeten das gängigste und sicherlich eingängigste, da am leichtesten nachzuvollziehende bildliche und sprachliche Mittel, die Zusammengehörigkeit von vielen Elementen in einem Ganzen deutlich zu machen. Alles, was in der Wirklichkeit einen engeren Zusammenhang ausgebildet hatte, wurde mit der Körpermetapher belegt. Seit dem 13. Jh. ist der Begriff corpus rei publicae mysticum (Vinzenz von Beauvais; Gilbert von Tournai) belegbar, eine Analogie zur Bezeichnung der Kirche als corpus mysticum. Den Juristen war der Begriff corpus dienlich, um Gemeinschaften als „Körperschaften“ juristisch als fiktive Person zu definieren. Gerade die Ausprägung unterschiedlicher Gemeinschaften und Kommunen legte es nahe, auch Dorf, Stadt, Provinz, Reich und Welt jeweils als corpus mysticum zu fassen. Die Bezeichnung impli-
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zierte, daß diese corpora moralische und ethische Gemeinschaften darstellten, eine Folge der Aristoteles-Rezeption und der Verbindung der politischen Begriffe aus kirchlicher Tradition mit den aristotelischen Kategorien. Der Staat als corpus morale et politicum trat in der Vorstellungswelt gleichberechtigt neben die Kirche als corpus mysticum et spirituale. Dem entsprach in der französischen Politik die Bereinigung der Machtgemengelage seit der Zeit um 1300. Nach 1300 erfreute sich eine andere, ebenfalls aus der kanonistischen Tradition stammende Metapher einiger Beliebtheit: der König (oder Kaiser) heiratet das Königreich. Dies zielte auf die Unveräußerlichkeit der Krondomäne i. S. einer Mitgift der res publica, die wie die rein männliche Königsnachfolge in Frankreich zu den lois fondamentales der Monarchie zählte. Entwickelt wurde diese Ansicht von den Kommentatoren des römischen Rechts, unter denen hier Lucas de Penna (um 1320 bis 1390) hervorzuheben ist, da seine ,Lehre’ im Frankreich des 16. Jh. ausführlich rezipiert wurde. Charles de Grassaille, René Choppin (1537 bis 1606), François Hotman und Jean Bodin (1529 bis 1596) wiederholten die These, daß die Krondomäne die Mitgift der res publica und deshalb unveräußerlich sei. Im Krönungsordo von 1547 (Heinrich II.) wurde erstmals die zum Ritus gehörige Überreichung des Rings mit der Formel erläutert: „le roy espousa solennellement le royaume“. „Noch deutlicher waren die Rubriken des Ordo von 1594 [Heinrich IV.]. Sie besagten, der König heirate am Tag der Krönung sein Königreich, um untrennbar mit seinen Untertanen verbunden zu sein, auf daß sie einander wie Gatte und Gattin liebten.“ (Ernst H. Kantorowicz) Es blieb nicht bei der Bezeichnung des Staats oder des regnum als politisch-moralischem Körper, auch populus, civitas, patria und die Stände wurden in dieses Verständnis einbezogen. Der Jurist Jean de Terrevermeille (geb. um 1370) gehörte zur Umgebung Karls VII., der 1418 aus Paris nach Bourges hatte fliehen müssen und dessen Thronfolge infragegestellt war. Um die Thronfolge der Willkür wechselnder politischer Machtverhältnisse zu entziehen, erklärte der Jurist, „die Thronfolge beruhe auf Gewohnheitsrecht und sei mit Zustimmung der drei Stände wie auch des ganzen »staatsbürgerlichen oder mystischen Körpers des Reiches« eingeführt worden. Er betonte, die königlichen oder weltlichen Würden des Reiches seien öffentlicher Natur und kein Privateigentum, denn sie gehörten »dem ganzen staatsbürgerlichen oder mystischen Körper des Reiches«“. (Ernst H. Kantorowicz)
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Eine dritte Denkfigur, die die Körpermetapher nutzte, wurde von Jean Gerson (1363 bis 1429) mit Autorität vertreten. Die drei Stände machten ihm zufolge die organische Struktur des corpus mysticum Frankreichs aus, es seien aber alle Untertanen verpflichtet, das Haupt – den König – zu schützen, wie alle Glieder eines Körpers zum Schutz des Hauptes beitrügen. Er folgerte daraus, daß jeder mit seinem Stand zufrieden sein müsse, ein Argument, das spätere Verfasser politischer Abhandlungen über die französische Monarchie wie Claude de Seyssel („Grant Monarchie de France“, 1515) oder Charles Loyseau („Traité des Ordres et Simples Dignitez“, 1610) nachdrücklich wiederholten. Schon Gerson neigte dazu, den König mit dem corpus mysticum sive politicum zu identifizieren. Christine de Pisan (1365 bis um 1430) hob in ihrem Livre du corps de policie die solidarische Teilhabe aller Glieder an der Harmonie des Gesellschaftskörpers hervor. In der Körpermetapher wurden König und Stände – oder allgemeiner Untertanen – fest aneinander gebunden. Je nach Blickwinkel konnten dabei die politischen Rechte der Stände oder der Gehorsam der Untertanen herausgestrichen werden. Diese Frage wurde im Lauf des 16. Jh. zugunsten des Gehorsams entschieden. Das 16. Jh. war in Teilen eine Hochzeit der Generalstände, zugleich eine Art Endzeit. Loyseau beschrieb die ständische Ordnung als perfekte Ordnung, meinte damit aber nicht die Teilhabe von Ständen an der politischen Machtausübung. Die Generalstände traten 1614 zum vorerst letzten Mal zusammen und trennten sich ohne greifbares Ergebnis.
Die Teile und das Ganze: Provinzen und Provinzialstände Während auf der Ebene der Monarchie Legitimations- und Sanktionsbereich zusammenwuchsen und den modernen Territorialstaat begründeten, und die Generalstände in Maßen die Bedeutung einer politischen Repräsentation der Nation annahmen, zeichneten sich auch die institutionellen Konturen der Provinzen zunehmend ab. In der Regel verfügten sie über Provinzialstände, die teils auf königlichem Privileg beruhten, teils auf andere Traditionen zurückgingen. Adelsrevolten um 1315 hatten das französische Königtum gezwungen, die Privilegien der Provinzen nach und nach zu bestätigen; das war in gewissem Sinn der Preis, der für die erfolgreiche Eingrenzung der Macht ehemals großer Territorialfürsten zu zahlen war. In der gleichen Zeit setzte die schon erwähnte Kodifikation der regionalen Gewohnheitsrechte ein, die im 16. Jh. zu einem flächendeckenden Abschluß gebracht wurde. Die Provinzen nahmen institutionell und
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rechtlich Gestalt an und bildeten in Anlehnung an ihre höchsten Institutionen wie die Provinzparlamente und -stände eigenständige Identitäten aus, die dennoch das Ganze, das Königreich, nicht fundamental infragestellten. Burgund, über dessen Weg im 3. Kapitel berichtet wurde, ist dafür das beste Beispiel: bei aller burgundischer Identitätsstiftung wurde der Zusammenhang mit dem Königreich Frankreich gewahrt und dadurch zum Ausdruck gebracht, daß Burgund als die im Rang erste Provinz Frankreichs galt. Historiker des 19. Jh. sahen in der Geschichte Burgunds in kleinerem Maßstab eine repräsentative Geschichte Frankreichs. Loyalität gegenüber der Provinz oder Region und Loyalität gegenüber dem Ganzen, dem Königreich, schlossen sich nicht aus. Die Ideologen der Französischen Revolution sahen darin einen Widerspruch, die Menschen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit nicht – ebensowenig, wie die meisten Menschen im 19. Jh.
4.3 Die Generalstände von 1484 bis 1614 und die politische Philosophie des 16. Jahrhunderts Cahiers de doléances und politische Meinungsäußerung Die Einberufung der Generalstände lag im Ermessen des Königs; sie tagten infolgedessen unregelmäßig, aber sie tagten. Sie können nicht ohne weiteres als Volkes Stimme interpretiert werden, aber die Ausarbeitung von Beschwerdeheften auf der Basis von Gemeinden und Korporationen bedeutete die Gelegenheit zu unmittelbarer politischer Meinungsäußerung. Die Anordnung zur Abhaltung von Wahlversammlungen wurde in den Dörfern vom Pfarrer nach der Messe von der Kanzel verlesen. Daraufhin versammelten sich die Haushaltsvorstände einschließlich der Witwen in dieser Funktion. Die Versammlung wurde von einem königlichen oder grundherrschaftlichen Richter oder von einem der Einwohner geleitet. Alle Versammelten äußerten nacheinander ihre Meinungen, ein Schreiber, z. B. der örtliche Notar, schrieb die Beschwerden nieder. Anschließend wurde ein Vertreter des Dorfs für die nächste Wahlstufe auf der Ebene einer königlichen Vogtei oder des Bailliage gewählt. Sicher wurden auf dem Weg bis zu den eigentlichen Repräsentanten der Stände auf den Ständetagen die Basishefte z. T. verwässert, aber Vergleiche zwischen den großen Ordonnanzwerken des 16. Jh., die wie die Ordonnanz von Blois 1579 nach Generalständetagen (1576) erlassen wur-
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den, zeigen, daß ein Teil der Forderungen von der Basis dem entsprach, was von der königlichen Gesetzgebung schließlich berücksichtigt wurde. (Beat Hodler) Bis 1614 tauchen sowohl auf Generalwie Provinzialständetagen bäuerliche Vertreter auf. Im Vergleich zur Regierungs- und Gesetzgebungspraxis des Absolutismus war das Volk im 16. Jh. direkter an der Politik beteiligt. Im Vordergrund standen Kirchenfragen, die Mißbräuche der königlichen Verwaltung, Steuerungerechtigkeiten, Langsamkeit und Kostspieligkeit der Justiz usw. Zu den bezeichnenden, aber nicht erfüllten Forderungen gehörte die nach der Wahl der Pfarrer, die gerade auch in bäuerlichen Beschwerdeheften formuliert wurden. Nicht zu verkennen ist die Tatsache, daß die Generalstände vorwiegend in Krisensituationen einberufen wurden: 1484 während der Régence, 1560 (Orléans) nach dem Tod des Königs, 1561 (Pontoise), 1576 und 1588 (jeweils Blois) in der Zeit der Religionskonflikte und -kriege. 1593 wurden in Paris ligistische „Generalstände“ abgehalten. 1527 und 1558 wurden Notabelnversammlungen einberufen. Die Versammlung von 1527 sollte den Bruch des Madrider Vertrags von 1526 besiegeln, den Franz I. als Gefangener Karls V. unterschrieben hatte – der König versicherte sich der öffentlichen Meinung –, 1558 sollten außerordentliche Steuern und Kredite zur Beilegung der Finanzkrise des Staates bewilligt werden, was auch geschah. Erstmals auf den Ständetagen von Orléans 1560 tagten die drei Stände getrennt, was die gewachsenen Spannungen und Gegensätze innerhalb der Dreiständegesellschaft deutlich widerspiegelt. Die Kopfzahl pro Stand variierte, aber 1576 beispielsweise zählte der Dritte Stand 186 Abgeordnete (171 bestätigt), während der Klerus durch 110 und der Adel durch 86 Mandatsträger repräsentiert war. Der Dritte war annähernd so stark wie die beiden anderen Stände zusammen. Denkt man an die Diskussionen 1788/89, zeigt sich einmal mehr das politische Gewicht der Generalstände und des Dritten Standes des 16. Jh. Da die Steuerforderungen der Regierung erst während der Versammlung auf den Tisch gelegt wurden, wandten die Vertreter mit Erfolg ein, daß sie kein Mandat von ihren Wählern erhalten hätten, Steuern zu bewilligen. Sie beriefen sich im Grunde auf ein imperatives Mandat. Die Stände wurden für 1561 erneut nach Pontoise geladen, diesmal unter ausdrücklicher Angabe der steuerlichen Tagesordnung. Es erwies sich im weiteren Verlauf des 16. Jh., daß Generalstände kein Mittel waren, neue Steuern durchzusetzen. Daran scheiterte auch die Versammlung von 1614. Dies war einer der
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Hauptgründe, warum bis 1789 keine Generalstände mehr einberufen wurden. 1560 und 1561 wurden Forderungen nach regelmäßiger Abhaltung der Generalstände erhoben, Adel und Dritter Stand wollten die Entscheidung über Krieg und Frieden an die Generalstände delegiert wissen. Die Ständeversammlungen des 16. Jh. bildeten ein Forum für brisante Forderungen zur politischen Mitbestimmung des Volks. Das erwies sich erneut auf der Versammlung von 1576, die eine Teilung der Souveränität zwischen Generalständen, König und Staatsrat in Erwägung zog, eine Idee, gegen die Jean Bodin, Deputierter des Dritten Standes des Vermandois in seinen „Sechs Büchern über den Staat“ (1576) energisch anschrieb. Die Ständeversammlung besaß ein deutliches Bewußtsein davon, daß sie Frankreich – la France – repräsentiere, ja, daß sie Frankreich sei, aber sie war freilich in ihren Meinungen gespalten. Die Generalstände von 1588 knüpften an die politischen Forderungen von 1576 an, nachdrücklich vertraten sie die Auffassungen, daß einstimmige Beschlüsse der Generalstände Gesetzeskraft hätten und vom König bestätigt werden müßten. Auf diesem Hintergrund ist die Bestätigung des Édit d’Union 1588 durch Heinrich III. zu verstehen. Die Generalstände – die Wahlen waren wie schon 1576 unter erheblichen Pressionen der Liga verlaufen – endeten mit der Ermordung führender Repräsentanten des ligistischen Adels und des Dritten Standes. Wenig später wurde Heinrich Opfer der Theorie vom Tyrannenmord, die die Pariser Ligisten dem König entgegenschleuderten. Am 1. August 1589 wurde Heinrich von dem Dominikaner (Jakobiner) Jacques Clément erstochen.
Monarchomachische und kontraktualistische Lehren Die Lehre vom Tyrannenmord wurde sowohl auf protestantischer wie katholischer Seite vertreten, die zahlreichen Autoren werden unter dem Begriff „Monarchomachen“ zusammengefaßt. Die Tyrannenmordlehre war eng mit der Lehre sei es der Volkssouveränität, sei es ausgedehnter Rechte des Volks gegenüber dem König verbunden. Die radikalsten Stimmen berechtigten jeden beliebigen Bürger zum Tyrannenmord, andere schränkten den Kreis der „Berechtigten“ auf die hohen Funktionsträger der Monarchie ein. Die seit 1560 von den Generalständen geforderten politischen Mitwirkungsrechte des Volks stützten sich auf die Vertragslehren, die seit Marsilius von Padua im 14. Jh. Schritt für Schritt Gewicht erhalten hatten. Sie waren, das eben beweisen die französischen Generalstän-
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deversammlungen, keineswegs nur die Angelegenheit eines engen Zirkels gelehrter Köpfe, sondern sie fungierten als Leitkategorie politischen Handelns. Sie deckten eine große Bandbreite von Vorstellungen ab, die vom Verlangen nach rechtlichem und existentiellem Schutz des Untertanen (Etienne de la Boétie, 1530 bis 1563; „Discours de la servitude volontaire“, 1546 oder 1548) bis zur Theorie der Volkssouveränität reichten. Eine Vielzahl von Schriften hob die gegenseitigen Verpflichtungen von Volk und König hervor, vergaß nicht zu unterstreichen, daß der König für das Volk, nicht aber das Volk für den König da sei (so im „Réveille-Matin“ von 1573, einer weitverbreiteten protestantischen Schrift, und in den späteren Schriften von Théodore de Bèze, z. B. Le droit des magistrats sur leurs sujets). Die Vertragslehre implizierte im allgemeinen ein Widerstandsrecht für das Volk oder seine Repräsentanten. Daß sich Vorausblicke auf das spätere 18. Jh. aufdrängen, war bereits erwähnt worden, und so sieht Simone Goyard-Fabre in den Vertragslehren des 16. Jh. bereits eine Lehre vom contrat social entfaltet. Am weitesten in diese Richtung wagten sich Du Plessis-Mornay und Languet in Vindiciae contra tyrannos, 1579 unter dem Pseudonym Junius Brutus erschienen, vor. Der Begriff „Volk“ (peuple) wird bei den politischen Schreibern des 16. Jh. von „Masse“ (multitude) und populace abgesetzt, z. T. mit der sanior pars der Bevölkerung, den freien Bürgern (citoyens) identifiziert. Der freie Bürger bedient sich aktiv seiner Vernunft und seines Willens, beim geknechteten Untertanen bleibt beides passiv. Die Generalstände wurden zumeist ausdrücklich zur sanior pars gerechnet, insofern sie wie öffentliche Funktionsträger das Ganze des Volks, den Volkskörper (corps du peuple) repräsentierten. Angesichts der überlieferten bäuerlichen Beschwerdehefte des 16. Jh., die Auskunft über die politische Vorstellungswelt auf dem Land geben, ist der Schluß zu ziehen, daß ein Gutteil der bäuerlichen Bevölkerung vom Begriff peuple eingeschlossen wurde. In Frankreich zeichnete sich im 16. Jh. durchaus eine konstitutionelle Alternative zur absoluten Monarchie ab; daß es weder zu einer konstitutionellen Monarchie englischer Ausprägung oder zu einer Republik niederländischer Ausprägung kam, hing mit den gewaltigen sozialen Spannungen und Gefällen zwischen den Ständen zusammen.
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„Weder Insekten noch Würmchen“ – Das vorläufige Ende der Generalstände 1614/15 Vertrags- und Volkssouveränitätslehren bezogen sich auf das verfassungsmäßig repräsentierte Volk, nicht auf, um eines der gängigen Klischees der Zeit zu nennen, das „Tier mit einer Million Köpfen“ oder die „armseligen Tiere“. Auf den Generalständen von 1614 sah sich Jean Savaron, Deputierter von Clermont-Ferrand und königlicher Rat, genötigt, dem König deutlich zu sagen, daß er weder „Insekten noch Würmchen vor sich habe, die seine Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit einforderten, sondern daß es sein armes Volk sei, mit Vernunft begabte Kreaturen“ – „Volk“ und „Vernunft“ verweisen auf die Debatten um die politischen Rechte des Volks im 16. Jh. zurück. Offiziell wurden die Generalstände von 1614 (Oktober 1614 bis Februar 1615; Paris) anläßlich der Volljährigkeit Ludwigs XIII. zusammengerufen, tatsächlich waren sie aber eine Folge einer Adelsrevolte unter Führung der Prinzen aus königlichem Geschlecht (Januar bis Mai 1614). Überall fühlte sich der (Schwert)Adel aus der gesellschaftlichen Führung und von den Fleischtöpfen der Wirtschaft wie der Politik verdrängt, er beklagte seine mangelnden Bildungschancen. Eine Lösung dieser tiefen sozialen Spannungen im Sinne des Schwertadels konnten und sollten nach dem Willen der Regentin und Königinmutter die Generalstände nicht erbringen, sie zerstritten sich an steuerlichen Fragen, so daß der Monarch in die dankbare Rolle des obersten Schiedsrichters im Reich schlüpfen konnte, sehr zugunsten der Befestigung der absoluten Monarchie in Frankreich.
4.4 Widerstandsrecht und Widerstand Nicolaus Boerius und das Widerstandsrecht der Bauern Das Widerstandsrecht spielte nicht nur in der monarchomachischen Lehre eine wesentliche Rolle, sondern auch im gewissermaßen alltäglichen Leben. Das 16. Jh. ist erfüllt von politischen Widerstandsaktionen, die vom individuellen Widerstand über Gerichtsprozesse bäuerlicher Gemeinden gegen einen Grundherrn, über städtische Aufruhre und Aufstände bis hin zu bauernkriegsartigen Steuerrevolten reichen. Die rechtliche Legitimität solcher Widerstände wurde mitnichten von vorneherein verneint, sondern gründlich geprüft und in Grundsätzen bestätigt. Der berühmte Bordelaiser Jurist Nicolaus Boerius (1469 bis 1539; Präsident am Parlament Bordeaux) bejahte
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ausdrücklich ein Widerstandsrecht der Bauern gegen ihre Grundherren, wenn diese gegen ihre Pflichten verstießen und die Rechte der Untertanen verletzten bzw. ohne deren Zustimmung (kontraktualistische Komponente!) die Abgaben erhöhten. Das gut ausgebaute französische Gerichtswesen eröffnete der Bevölkerung aussichtsreiche gerichtliche Wege, erfolgreich Widerstand gegen Unrecht und Ungesetzlichkeiten zu leisten. Die Rechtslehre stand hier auf der Seite noch des Ärmsten, während beträchtliche Teile des Adels diese Form der Verrechtlichung von Konflikten durch die Gerichte und die Juristen noch nicht akzeptieren wollten.
Die „grande Rebeyne“ von 1529 in Lyon und die neue Armenethik An gewaltsamen Aufständen mangelte es nicht. Gewalt wurde allerdings auch auf seiten der Aufständischen nach bestimmten Regeln angewendet, selbst wenn willkürliche Gewalt im Volkszorn vorkam. Gewalt wurde angewendet, wenn die rechtlichen und moralischen Mittel der Konfliktlösung erschöpft waren oder nicht funktionierten. Gewaltsame Aufstände wurden von örtlichen Machthabern oder dem König in der Regel mit Gewalt niedergeschlagen, häufig erfolgte aber im Nachhinein durch Zugeständnisse, Reformen oder die Institutionalisierung von Hilfsmaßnahmen eine implizite Anerkennung der Aufstandsmotive. Hungerrevolten, Gesellenaufstände und Steuerrevolten machten den größten Teil gewaltsamen Widerstandes aus. Seit dem ersten Drittel des 16. Jh. liefen die Reallöhne der Textilund Bauarbeiter, überhaupt der Arbeiter und Gesellen, der Inflation und der überdurchschnittlichen Aufwärtsentwicklung der Getreidepreise hinterher. Ein Bauarbeiter, der als Alleinverdiener eine vierköpfige Familie ernährte, gab in normalen Jahren 50 bis 60% seines Lohns für Getreide als Grundnahrungsmittel aus und weitere 20% für den übrigen Subsistenzbedarf. Mit dem kläglichen Rest wurden Miete, Kleidung u. a. bezahlt. In Zeiten der Hungersnot wie 1529 und 1531 in Lyon, wenn sich der Getreidepreis verdoppelte, vervier- oder verfünffachte, reichte der Lohn nicht einmal für den Grundbedarf an Getreide. Dies trieb im April 1529 tausende Hungernde in Lyon auf die Straßen und zum Aufstand (sog. „grande Rebeyne“). Getreidespeicher wurden ebenso geplündert wie die Häuser reicher Händler. Zeitgenössische Berichte über diese Notzeiten um 1530 lassen keinen Zweifel, daß es um Überleben oder Sterben ging. Ausgemergelte
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Gestalten, als seien sie dem Grab entstiegen, suchten Brot oder starben in den Straßen. Gegen die Plünderer wurde zwar die Stadtmiliz ins Feld geführt, allerdings wurden auch Hilfeleistungen für die Hungernden auf die Beine gestellt und koordiniert. Daraus entstand in Lyon 1534 die Aumône générale, eine Zentralstelle für die Vergabe von Almosen, über die zugleich Ausbildungsplätze für Kinder oder Dienststellen in den Haushalten der Vermögenden sowie öffentliche Arbeiten (Gräben säubern, Straßenfegen . . .) für Arbeitslose besorgt wurden. Letzteres nahm sehr schnell Zwangscharakter an, außerdem wurde die individuelle Hilfeleistung zugunsten dieser kollektiven, kontrollierten ,Solidarität’ eingeschränkt oder sogar verboten. Neben unbestreitbaren ethischen Motiven der Armenfürsorge hub dort auf Initiative der Stadtbürger die Ausübung einer gewissen Biomacht über die Körper der Armen an, die für die Armenfürsorge der Frühen Neuzeit insgesamt kennzeichnend wurde. Sie folgte der neuen Armenethik des Juan Luis Vivès (De subventione pauperum, Brügge 1526), der in der Arbeit eine Grundlegung der menschlichen Würde erkannte, daraus aber eben auch auf den Zwang zur Arbeit folgerte, moralische Gesichtspunkte mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verbindend. Die Aumône générale von Lyon gehörte in Frankreich zu den ersten Gründungen dieser Art, es folgten ähnliche Einrichtungen in Paris, Dijon, Troyes, Amiens, Poitiers oder Rouen.
Streiks im Druckergewerbe Einen anderen Widerstandstyp repräsentierten die Gesellen des Druckergewerbes, dem aufsteigenden „Industriezweig“ des 16. Jh. An einer Druckerpresse arbeiteten sechs bis sieben qualifizierte Gesellen, ein mittlerer Betrieb verfügte über drei, ein größerer über fünf bis sechs Pressen. Die Betreiber von Druckereien befanden sich in einer eher ungünstigen Situation, da sie mit Kapital arbeiteten, das ihnen die Buchhändler vorstreckten. Das heißt, sie mußten täglich liefern oder ansehnliche Vertragsstrafen zahlen. In Frankreich schwebte zwischen 1539 und 1572 ein langanhaltender Konflikt um die Gehälter der Druckergesellen. Streiks gehörten zu den bewährten Methoden der Gesellen. Auf ein Stichwort („tric“) eines Gesellen hin legten alle Gesellen eines Betriebes die Arbeit nieder und zogen sich in eine Taverne zurück. Dem Unternehmer blieb wenig anderes übrig als die Tavernenrechnung zu bezahlen, um die Gesellen wieder an die Arbeit zu holen. Diese sanktionierten Streikbrecher sehr hart und unterbanden die Beiziehung von Ersatzkräften wie Lehrlingen oder
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Druckern aus Nachbarstädten. Ein königliches Edikt vom 10. September 1572 regelte endlich die Gehälter sowie die Pflichten und Rechte der Unternehmer wie der Gesellen.
Steuerrevolten Schließlich beherrschten für einige Jahre Salzsteuerrevolten den Südwesten Frankreichs (1542 bis 1548). Die Salzsteuer, die gabelle, wurde im Südwesten im Gegensatz zum übrigen Frankreich nur in geringem Ausmaß erhoben. Franz I. (1515 bis 1547) versuchte zwischen 1540 und 1542 eine einheitliche gesetzliche Grundlage für die Erhebung dieser Steuer durchzusetzen. Dies löste im Südwesten eine breite Revoltenbewegung aus, in der auch ein scharfer Stadt-LandGegensatz sichtbar wurde. Städte besaßen z. T. Steuerprivilegien und wurden verdächtigt, die Steuereinnehmer zu schützen, aber Städte wie Marennes und La Rochelle erhoben sich dennoch 1542. Sie unterwarfen sich recht schnell wieder und der König erwies sich gnädig: er lud ihre Repräsentanten an seinen Tisch. 1548 wurde der Generalleutnant des Königs in der Guyenne ermordet, so daß Heinrich II. (1547 bis 1559) unter dem Befehl des Konnetabels Montmorency ein mehrere Tausend Mann starkes Heer in die Provinz schickte. Nach gelungener Machtdemonstration wurde allerdings der alte Rechtszustand gegen Zahlung einiger Summen Geldes wiederhergestellt – die Aufstände hatten so gesehen durchaus zum Ziel geführt. Die Anwendung von Gewalt im 16. Jh. ist, solange sie bestimmten Regeln gehorchte, nicht als Zeichen des Zerfalls von Gesellschaft und Staat zu werten. Das ist auch mit Blick auf die Religionskriege zu berücksichtigen. Gewalt war bis zu einem gewissen Grad Teil der politischen Sittlichkeit und systemimmanent. (Yves-Marie Bercé) Außerhalb der Gewaltlehre der juristisch argumentierenden Monarchomachen gab es ein Verständnis von moralisch begründeter Gewaltanwendung, von der politische Morde wie 1572 (Bartholomäusnacht) und 1588 (s. o.) ausgegrenzt blieben. In weiten Teilen der Gesellschaft blieb die Auffassung moralisch legitimierter Gewalt auch im 17. Jh. bestehen, wich aber vor dem Anspruch des Staates, das Macht- und Gewaltmonopol zu besitzen, zurück. Disziplinierung der Menschen im Sinne der Ausübung von Biomacht durch den Staat unterscheidet das 17. Jh. deutlich vom 16. Jh.
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4.5 Allgemeine Profile des 16. Jahrhunderts: Demographie, perfekte Monarchie, Protestantismus, Heinrich IV. Demographischer Frühling In der zweiten Hälfte des 15. Jh. begann, regional verschieden, eine demographische Aufwärtsbewegung, die bis ca. 1560 anhielt und dazu beitrug, einen guten Teil der Bevölkerungsverluste infolge der Pest und der Kriege des 14./15. Jh. wettzumachen. Um 1560 lebten wieder rd. 18 Millionen Menschen in Frankreich, davon zwei Millionen in den Städten. Das Heiratsalter lag niedriger als früher, was ein bis zwei zusätzliche Kinder pro fruchtbare Ehe bedeuten konnte. Da vorerst noch genug Land zu Verfügung stand, war es leichter, in jungen Jahren einen eigenen Hausstand zu gründen und damit die notwendige wirtschaftliche Grundlage für Ehe und Familie zu schaffen. Der demographische Aufschwung zeitigte aber noch im 16. Jh. kritische Auswirkungen, da kaum Land mehr auszugeben war; das Heiratsalter stieg infolgedessen wieder (statt 16–20 Jahre bei Frauen dann 24–25 Ende des 17. Jh. (!), statt 24–25 bei den Männern 27–28 Ende des 17. Jh. (!)), mehr Frauen und Männer mußten einen zölibatären Lebensstil wählen. Im 16. Jh. konnte abgesehen von einzelnen Hungerkrisen aufgrund sehr schlechter Ernten die wachsende Bevölkerung ausreichend ernährt werden, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts trat wieder ein eher prekäres Verhältnis zwischen Ernährung und Bevölkerungsumfang ein, das mit zur relativen demographischen Stagnation des 17. Jh. beitrug.
Fontainebleau – „totaler Ort“ und Sinnbild der perfekten Monarchie Vom demographischen Aufschwung und Optimismus profitierte auch die Monarchie, die unter Franz I. und Heinrich II. eine bemerkenswerte innere Stringenz erreichte. Sie resultierte aus dem Streben nach der perfekten Monarchie, was nichts anderes meint als die absolute Monarchie. Vieles, was unter Ludwig XIV. zum Modell ausgeformt wurde, erschien unter diesen Herrschern in einer ersten Form der Reife. Nach außen hin wurde die perfekte Monarchie durch eine abgestimmte Bild- und Zeremoniesprache repräsentiert. In konzentrierter Form geschah dies im Kontext der königlichen Schlösser, der höfischen Feste und der Entrées royales. Franz I. hatte zunächst eine Reihe der Loire-Schlösser umbauen lassen, ab den 1520er Jahren konzentrierte er die künstlerischen Kräfte dann auf Fontaine-
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bleau, wo italienische Künstler die Richtung bestimmten. Die Abstimmung der mythologischen Bildprogramme im Innern des Schlosses und im Park, kombiniert mit Wasserspielen, ließ einen „totalen Ort“ entstehen, an dem „alles menschliche Streben, das des Körpers, des Geistes und der Seele“ zusammengeführt wurde. (Arlette Jouanna) Einem ähnlichen Zweck dienten die Hoffeste und die feierlichen Einritte des Königs in die Städte des Königreichs, zu deren Anlaß gleichfalls in prunkhaften Umzügen und ephemeren Architekturen mythologische Programme entfaltet wurden. Eine gewisse Standardisierung der mythologischen Elemente, die hier wie da Verwendung fanden, war nicht zu übersehen. Das bedeutet, daß die mythologische Bildsprache keineswegs nur einer Bildungselite vertraut war, sondern in den Städten auch in den Zünften und Gilden auf ein eingeweihtes Publikum stieß. Reißerische Elemente wie die Mitführung von „Kannibalen“ aus Brasilien bei den Umzügen 1550 in Rouen zu Ehren des Königs lockerten die Inszenierungen auf.
Der Protestantismus in Frankreich Das „Bildungsgefälle“ zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten war im 16. Jh. noch weniger stark ausgeprägt als in späteren Zeiten. Gerade die breite soziale Fundierung der Reformation belegte dies vielfältig. Die Notwendigkeit einer Reform der katholischen Kirche war in Frankreich nicht weniger anerkannt als im Reich. So wundert es nicht, daß Luthers Thesen und theologische Argumente frühzeitig in Frankreich rezipiert wurden, aber sie lösten keine protestantische Massenbewegung aus. Sehr viel einflußreicher war Calvin. Bis Mitte der 1530er Jahre scheint bei Franz I. die Überzeugung gewirkt zu haben, das soziale Reformbegehren gegenüber Kirche und Glauben könne mit einer Reform der gallikanischen Kirche zufriedengestellt werden. Danach setzte eine Reihe von Edikten ein, in denen der Protestantismus als Häresie und Aufstand (sédition) gegen König und Reich gewertet, d. h. exzessiv kriminalisiert wurde. Die Exekution von „Häretikern“ konnte die Ausbreitung des Protestantismus und seine Institutionalisierung nicht verhindern. Der Schwerpunkt lag im Südwesten, Süden und Südosten, wie ein Halbkreis zog er sich von La Rochelle durch das Garonne-Tal, den Languedoc, über die Provence bis in den Dauphiné. Im übrigen Frankreich waren protestantische Gemeinden wesentlich dünner gesät. Um 1560 dürften 10% der Bevölkerung protestantischer Konfession gewesen sein – das war die Zeit der größten Verbreitung.
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Mit dem Tod Heinrichs II. 1559 an den Folgen einer Turnierverletzung begann eine Schwächeperiode der französischen Monarchie. Franz II. war erst 15 Jahre alt und starb wenig später (1560), die weiteren Söhne (Karl IX., 1560 bis 1574; Heinrich III., 1574 bis 1589) waren zunächst viel zu jung, um die Herrschaft übernehmen zu können. Diese Situation nutzten die katholischen Brüder Franz und Karl von Guise, um im Rahmen der Regentschaft Katharinas von Medici einen Teil der Macht an sich zu reißen. Auf der Seite der Protestanten, die seit 1560 regelmäßig als huguenots – Verschwörer – bezeichnet wurden, traten aus dem Hochadel die Familien Bourbon (Herrschaft über Navarra), Condé und Châtillon (Coligny entstammte dieser Familie) stärker in den Vordergrund. Die Hugenotten übten ihre Konfession entgegen den gesetzlichen Verboten von nun an in der Öffentlichkeit aus, neben die kirchliche Institutionalisierung traten politische und militärische Organisationsformen. Obwohl die Regentin um Ausgleich bemüht war und sie sich dabei auf den Kanzler Michel de l’Hôpital (1505/6 bis 1573) stützen konnte, der zu den würdigsten Persönlichkeiten des 16. Jh. zählte, gelang es ihr nicht, das Aufschaukeln einer politisch-militärischen Krise zu verhindern, die sich zum Bürgerkrieg auswuchs. Die Biographie des späteren Königs Heinrichs IV. wurde von diesen Zeitumständen geprägt.
Heinrich IV. Die Regierungszeit Heinrichs IV. (1553 bis 1610; König 1589/1593 bis 1610) gilt als eine Art Goldenes Zeitalter des frühneuzeitlichen Frankreich. Heinrich stammte aus dem königlichen Haus Navarra (sein Vater gehörte dem Haus Bourbon an, seine Mutter dem Haus Albret), das als Hochburg des Protestantismus galt, und gelangte 1589 entsprechend dem französischen Erbfolgerecht auf den Thron. 1589 war er Protestant, hatte zuvor aber schon einmal die Konfession wechseln müssen. 1572 hatte er Margarete, die Schwester König Karls IX. geheiratet. Der Heirat am 18. August 1572 folgte die berüchtigte Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August 1572, in der die in Paris anläßlich der Hochzeit befindliche protestantische Führungsschicht zusammen mit vielen Hugenotten in Paris und anschließend in der Provinz barbarisch dezimiert wurde. Noch immer geht der Streit darum, wer das Massaker eigentlich veranlaßt hat. Die Zeitgenossen machten vor allem Katharina von Medici, Königinmutter und Regentin, dafür verantwortlich. Heinrich, damals erst 19 Jahre alt, wurde am Pariser Hof wie ein Gefangener gehalten.
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Als 1589 Heinrich der Thron zufiel, war er noch längst nicht wirklicher Machthaber in Frankreich. Stück für Stück eroberte er mit den hugenottischen Truppen das Land, Paris öffnete sich ihm aber erst, als er zur katholischen Konfession, 1593, übertrat. Der berühmte Satz „Paris ist eine Messe wert“ bezieht sich darauf. Doch auch dann war Frankreich noch nicht geeint, geschweige denn von Heinrich beherrscht. Erst 1598 war es soweit, daß von einem Königreich unter einem Machthaber, nämlich dem legitimen König, die Rede sein konnte. Das Land war durch die Religionskriege und die konfessionellen Parteiungen jahrzehntelang gespalten gewesen, hinzu kam, daß gerade Paris die Spanier, den französischen Erzfeind, in die Stadt zur Verteidigung gegen Heinrich gerufen hatte. Ein Blick auf historische Karten zeigt, wie sehr Frankreich von österreichischen und spanischen Habsburgern umschlossen war und den Zangengriff fürchtete, eine Obsession, der noch Ludwig XIV. ganz seine Außenpolitik unterordnete. Neben der Beendigung der Kriege bedeutete das Edikt von Nantes vom 13. April 1598 die wichtigste Friedensmaßnahme. Es sicherte die Gewissensfreiheit gesetzlich ab. Protestantische Gottesdienste durften dort gehalten werden, wo sie von 1596 bis August 1597 gehalten worden waren; zusätzlich in den Adelsschlössern und den Amtsorten. Paris und eine 5-Meilen-Zone waren davon ausgenommen. Rechtliche Schlechterstellungen aufgrund der protestantischen Konfession wurden beseitigt, an den höchsten Berufungsgerichten, den Parlements, wurden gemischtkonfessionelle Kammern eingerichtet. Die Hugenotten erhielten außerdem 100 befestigte Plätze zugestanden, zunächst auf acht Jahre. Der Unterzeichnung des Edikts folgte ein zäher Kleinkampf um seine Durchsetzung, zumal die Konfessionsfreiheit nur eine bedingte war. Artikel 23 bestimmte, daß das katholische Eherecht auch für die Hugenotten gelten mußte. Der innere Frieden war die eine Voraussetzung für die Stabilität der Regierung und des Landes; die politische Lehre die andere. 1576 hatte Jean Bodin die „Sechs Bücher über den Staat“ veröffentlicht, in denen er u. a. „Souveränität“ definierte. In Buch I, Kap. 8, heißt es: „Souveränität ist die absolute und dauernde Macht eines Staates.“ Wichtig ist, daß Bodin Souveränität zunächst einmal abstrakt, d. h. losgelöst von einer ganz bestimmten Verfassung, definierte. Souveränität ist ein wesentliches Element von Staat an sich. Bodin wollte den Bestand des Staates der Konfessionalisierung des Politikverständnisses
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entziehen. In der Monarchie liegt die Souveränität beim Monarchen, und nur bei ihm. In diesem Sinne ist der Monarch „legibus solutus“, weil die Souveränität zur Änderung der Gesetze berechtigt, aber umgekehrt die Änderung der Gesetze auch der Souveränität als Legitimation bedarf. Der Monarch ist jedoch nicht „jure solutus“, der Bodinsche Souveränitätsbegriff schließt deshalb Willkürherrschaft aus. Heinrich IV. ist jener König, der jedem Franzosen ein „Hühnchen im Topf“ bescherte, so die Legende vom guten König Heinrich. Bis heute hält seine Popularität an. Durch Erleichterung bei den direkten Steuern versuchte Heinrich, die Landbevölkerung zu entlasten, andererseits erhöhte sich die Salzsteuer, die Gabelle. Durch die Kriege, umherziehende Landsknechte und Seuchen sank der Lebensstandard erheblich, viele Bauern waren so verarmt, daß nur mehr weniger als 50% des Ackerlandes im Besitz der laboureurs waren. Gefördert wurde der Handel, die Textilproduktion, die Seidenproduktion. Sein hugenottischer Wegbegleiter und Finanzminister Sully (Maximilien de Béthune, Herzog von Sully, 1560 bis 1641) schaffte es, den Staatshaushalt auszugleichen und wieder einen Staatsschatz anzulegen. Zu den prägenden finanzpolitischen Ereignissen gehörte 1604 die Einführung der Paulette (nach dem Bankier Paulet): diese Steuer legalisierte die Ämterkäuflichkeit bzw. die Vererbung von Ämtern. Bevor Heinrich umfassendere außenpolitische Pläne entwickeln und in die Tat umsetzen konnte, wurde er am 14. Mai 1610 von dem Laienbruder Ravaillac ermordet. Das erste Attentat aus religiösen Motiven auf Heinrich war es nicht gewesen. Wie die meisten Attentate dieser Art wirkte es nicht im Sinne des Attentäters: Richelieu und Heinrichs Sohn Ludwig XIII. führten die Politik auf den eingeschlagenen Wegen fort.
Abschnitt B: Die Politische Zivilisation des Absolutismus: Monarchie – Nation – Republik
Vorbemerkung zu Abschnitt B Der Begriff des „Absolutismus“ wird heute nicht mehr ausschließlich auf den monarchischen Absolutismus der Frühen Neuzeit bezogen. Mit Blick auf die Staatsverfassung ist festzustellen, daß das 19. und 20. Jh. deutliche absolutistische Elemente in sich trugen und tragen. Bezüglich der Dritten Republik wurde von der „absoluten Republik“ gesprochen. Absolutismus als Verfassungsprinzip blieb nicht auf die Monarchie begrenzt. Der Absolutismus bedeutete aber mehr als nur ein Verfassungsprinzip. Er ist sehr eng mit dem Werden der Nationalstaaten und der Nationen verbunden, der Begriff bezeichnet eine bestimmte politische Zivilisation, deren Kernzeit sich vom 17. bis ins 20. Jh. erstreckt. Diese Zivilisation ist mit dem historischen Phänomen der Nation und der Revolutionierung der Medien seit der Frühen Neuzeit verbunden. Weder lassen sich ein datumsgenauer Anfang noch ein ebenso genaues Ende dieser politischen Zivilisation angeben, sicherlich berechtigt aber die Europäisierung Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, hier eine Epochenzäsur anzusetzen, die in der vorangehenden Zwischenkriegszeit vorbereitet wurde.
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„Perfekte Monarchie“ und „Theaterstaat“ (1610 – 1776)
5.1 Politik und Medien Literalität und Oralität: Ausdifferenzierung der Gesellschaft Das 16. Jh. hatte die Chance zu einer konstitutionellen Monarchie in sich getragen, die sozialen Spannungen zwischen den Ständen und die konfessionellen Gegensätze verhinderten, daß diese geschichtliche „Alternative“ zu einer realisierten Alternative wurde. Um 1600 hatten sich die kulturellen Gräben innerhalb der Gesellschaft vertieft, das gegenüber dem 16. Jh. verlorene Terrain konnte erst mühsam im 18. Jh. wieder gutgemacht werden. Die im 17. und 18. Jh. ausgebaute
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Dominanz der literaten Kulturtechniken und -medien veränderte jedoch die Bedingungen von Herrschaft im Vergleich zum 16. Jh. grundlegend. Bis zu einem gewissen Grad und mit mehr Recht als im 16. Jh. oder früher können Volks- und Elitekultur einander gegenübergestellt werden. Die Begriffe „nation“ und „peuple“ wurden eher auf die Oberschichten der Gesellschaft bezogen, als auf die Gesamtheit aller Stände, sofern nicht „peuple“ ganz negativ konnotiert wurde. In den Wörterbüchern des 17. und frühen 18. Jh. als Beispielen für eine negative Konnotation wurde „peuple“ als das Gegenteil von „noble“, „riche“ oder „éclairé“, als das Gegenteil von „gens de qualité“, von „esprit“ oder „politesse“ definiert. (Fritz 1988) Die Verwendung literater Kulturtechniken (flüssiges Lesen und Schreiben, selbständige und freie Abfassung von Texten, geläufiges Rechnen mindestens in den vier Grundrechenarten etc.) schied die Elitekultur zunehmend von der Volkskultur, die sich oraler oder semi-oraler Techniken bediente. Freilich waren die faktischen Verhältnisse sehr differenziert, sie sollen nicht pauschaliert werden, aber es bedurfte eines gewaltigen Elans weiblicher und männlicher Lehrorden, um die Alphabetisierung der Menschen materiell und vorstellungsweltlich zu institutionalisieren und die Gräben zwischen literater und oraler Kultur zu verkleinern. Schwert- und Amtsadel schlossen sich vehementer als im 16. Jh. gegenüber dem Dritten Stand ab, wie Untersuchungen zur sozialen Rekrutierung der Amtsadelsfamilien, die die Ämter an den parlements und anderen hohen Behörden und Gerichtshöfen besetzt hielten, erwiesen haben. Die Eroberung der literaten Techniken und Medien durch das „Volk“ dauerte bis weit in das 19. Jh.
Medienmacht – Medienkontrolle Das 16. Jh. hatte bereits Pressekampagnen gekannt; die massenhafte Produktion von Pamphleten auf seiten der Protestanten wie der Katholiken stellte die Schlagkraft des neuen vielseitig einsetzbaren Kampfmittels „Druckerpresse“ unter Beweis. Im 17. Jh. erhöhte die Monarchie ihre Kontrolle über dieses Instrument; die wachsende systematische Institutionalisierung des Buch- und Druckwesens erleichterte dies. Politik als gesellschaftliche Institution versammelte ein immer höheres Repressionspotential, auf der einen Seite, und ein großes Modernisierungs- und Innovationspotential auf der anderen Seite. So alt die Monarchie war, so sehr setzte mit der Übergangszeit Heinrichs IV. und Ludwigs XIII. erst ihre eigentliche Hochzeit ein.
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Besonders charakteristisch erscheint die systematische Nutzung einer Vielzahl von Medien, nicht nur der Printmedien, sondern auch der Bild- und Körpersprachen (und anderer mehr), in denen eine neuartige politische Zivilisation über die Lebenszeit der monarchischen Staatsform hinaus ihren Ausdruck fand. Die Betonung liegt auf „systematisch“ – wenn nicht „systemisch“: Nutzung wie Kontrolle der verschiedenen Medien waren nicht gelegenheitsbedingt, sondern systematisch. Das „System“, von dem beispielsweise Peter Burke spricht (Burke 1995), stellt den Unterschied zu früheren Zeiten dar, nicht so sehr die medialen Instrumente selber (Ikonographie, Druckpropaganda, Rhetorik, Festinszenierungen, Architektur, Skulptur, Musik, Theater usw.). Sich dieser Instrumente mit einem ausgeklügelten System zu bedienen – das gilt für Ludwig XIV., für die Trägerschichten der Aufklärung, für die Träger der Revolutionen zwischen 1789 und 1799, für Napoleon III. und für die Gründungsphase der Dritten Republik. Erst neue Medien wie der Rundfunk und das Fernsehen trennen dieses erste neuzeitliche Medienzeitalter von der jüngeren und jüngsten Zeit. „System“: Dies galt bezüglich der in diesem Kapitel zu behandelnden Epoche in der gleichen Weise für die Träger der Monarchie unter Ludwig XIV. wie für diejenigen sozialen Gruppen im 18. Jh., die sich der Medien bemächtigen konnten und die „vierte Gewalt“ der öffentlichen Meinung bildeten. Entscheidend war wohl die Verbindung zwischen Innovationsträgerschaft und Beherrschung der Medien. Unter Ludwig XIV. beherrschte ein Team um Ludwig und Colbert die Medien und war zugleich Motor technischer, politischer und vieler kultureller Innovationen. Im 18. Jh., ja, schon in der Spätzeit Ludwigs XIV., verloren König und Regierung diese Doppelfunktion an verschiedene soziale Gruppen oder – allgemeiner formuliert – an „die“ Gesellschaft. In der zu besprechenden Krise um den Bankier John Law in den 1720er Jahren fokussierte sich die Verlagerung der Doppelfunktion von der Regierung auf die Gesellschaft.
5.2 „Absolutismus“ und „perfekte Monarchie“ Sehr viel mehr als das 16. Jh. erscheint das 17. Jh. als Epochenwechsel. Dies hat strukturelle Gründe, hängt aber in hohem Maße mit einer Persönlichkeit, mit einem eher individuellen denn strukturellen Faktor zusammen: Ludwig XIV. Deshalb wird dieses Kapitel im Gegensatz zu den vorhergehenden deutlich von einer biographi-
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schen Perspektive geprägt werden, hinter die die sonst in den Vordergrund gestellten strukturellen Aspekte zurücktreten müssen.
„Absolutismus“ – eine kleine Begriffsgeschichte Ludwig XIV. galt und gilt als Inbegriff des Absolutismus. Der Begriff „Absolutismus“ entstand in Frankreich nicht unmittelbar aus der der frühneuzeitlichen Staatslehre vertrauten Wendung von der puissance absolue bzw. potestas absoluta oder monarchie absolue bzw. monarchia absoluta. Sachlich besteht allerdings ein Zusammenhang, denn der Kern der Absolutismusforschung besteht in der Untersuchung der dem Monarchen in der frühneuzeitlichen politischen Theorie zugestandenen persönlichen Entscheidungsgewalt und ihrer Auswirkungen auf die moderne Staatsbildung, wie es Roland Mousnier sehr elementar formulierte. (Mousnier 1982) Zum in Frankreich forschungsleitenden Begriff wurde ursprünglich nicht „absolutisme“, sondern „despotisme éclairé“, zu Deutsch „aufgeklärter Absolutismus“ oder auch, bis in den Anfang dieses Jahrhunderts, „aufgeklärter Despotismus“. „Despotisme éclairé“ bildet eine Wortschöpfung der 1760er Jahre mit einer durchaus positiven Bedeutung. Zwar hatte noch Montesquieu im Esprit des lois von 1748 „despotisme“ verwendet, um die asiatischen Formen der Alleinherrschaft negativ zu kennzeichnen, aber die schon zu seiner Zeit einsetzende China-Begeisterung führte zu einer positiven Konnotation dieses Wortes. Voltaire ließ verlautbaren, daß er sich sehr gut mit einem Despoten akkommodieren könne, sofern dieser aufgeklärt sei (despote éclairé). Zur gleichen Zeit entdeckten die Physiokraten die Möglichkeiten, die die Herrschaftsform des Despotismus für die Verwirklichung aufgeklärten, physiokratischen Gedankenguts angeblich besaß. 1767 erschien eines der Grundlagenwerke des französischen Physiokratismus, Le Mercier de la Rivières „Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques“. Le Mercier de la Rivière sprach in warmen Worten vom „despote patrimonial et légal“. Der aufgeklärte Despot wurde zum Sinnbild einer perfekten Regierungsweise, die das Eigentum und die wirtschaftliche Freiheit als oberstes Gesetz anerkannte und nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Aufklärung und des Gemeinwohls handelte. Im selben Atemzug glitt der ältere politische Begriff der monarchie absolue in das Feld pejorativer Begriffe ab. Despot und Despotismus teilten freilich dasselbe Schicksal in der Revolutionszeit, in der erstmals 1796 auch von „absolutisme“ i. S. vom nunmehr negativ besetzten „despotisme“ die Rede war. Wäh-
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rend aber absolutisme zunächst wenig gebraucht wurde, setzte sich Mme de Staëls Wortgebrauch „despotisme éclairé“ durch, mit der sie ihrer Kritik an Napoleon (1817) (Considérations sur les principaux événemens de la Révolution françoise; postum 1818) Ausdruck verlieh. 1823 warf der französische liberale Abgeordnete Hyde de Neuville erneut und in polemischer Absicht das Wort „absolutisme“ in die Debatte. Er protestierte damit gegen den antiliberalen Staatsstreich Ferdinands VII. in Spanien und die Unterstützung, die der französische König Karl X. Ferdinand angedeihen ließ. Somit standen seit den 1820/30er Jahren drei Negativbegriffe im Raum, die neben aktuellen politisch-polemischen Verwendungsmöglichkeiten für die rückblickende verurteilende Wertung der französischen Monarchie eingesetzt wurden: ancien régime, despotisme und absolutisme. Alexis de Tocquevilles Erfolgsbuch „L’Ancien Régime et la Révolution“ (1856) befreite ancien régime vom Ruch des Despotismus. In seinem zum Klassiker gewordenen Werk über die französische Physiokratie von 1910 griff Georges Weulersse das Wort vom despotisme éclairé wieder auf, und 1928 (Internationaler Historikerkongreß in Oslo) setzte sich Michel L’Héritier erfolgreich für die Schaffung einer Arbeitsgruppe über den aufgeklärten Despotismus in Europa im Rahmen der internationalen Historikerversammlungen ein. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg faßte „Absolutismus“ als Epochenbezeichnung auch in Frankreich allgemein Fuß. Zur treibenden Kraft wurde dabei Roland Mousnier, der auf dem Internationalen Historikerkongreß von 1955 in Rom zusammen mit Fritz Hartung über „Probleme der absoluten Monarchie“ referierte. Während vereinzelt die Brauchbarkeit des Epochenbegriffs „Absolutismus“ heute infrage gestellt wird (Henshall 1992), nutzt ihn die aktuelle französische Historiographie mehr denn je zur Charakterisierung des Ancien Régime.
Perfektion und Theaterstaat Im Verständnis des 17. Jh. bedeutete „monarchie absolue“ soviel wie „perfekte Monarchie“, eine vollkommene Organisation von Staat und Gesellschaft. Dahinter stand z. B. auch der Gedanke, daß die Natur technisch beherrschbar sei. Überhaupt wäre das 17. Jh. schwer zu verstehen, würde nicht eingeräumt, daß sich bereits dieses Jahrhundert, also lange vor der Aufklärung, an einer hohen Dosis Rationalismus genährt hatte. Besonders unter Ludwig XIV. wurde versucht, die menschliche Realität dieser Vorstellung anzugleichen. Dar-
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aus entwickelte sich eine politische Zivilisation, die keineswegs von der Revolution hinweggefegt wurde, deren Grundsätze vielmehr durch die Revolution bekräftigt wurden. Auch die Revolutionsregierungen strebten nach einer perfekt verfaßten Gesellschaft, einem perfekten Staat, auch sie errichteten in festlichen Inszenierungen eine Art Theaterstaat, der die Vollkommenheit der adoptierten Ideale repräsentieren sollte. Das war unter Ludwig XIV. nicht anders, die großen Inszenierungen in Paris und später im Park von Versailles dienten demselben Zweck. Das 17. Jh. liebte den Begriff „Theater“; Frankreich, Europa, die Welt – alles war „Theater“; „Theater“ bezeichnete eine heterogene Vielfalt als ein architektonisches, baukörperliches Ganzes. Der Begriff „Theaterstaat“ stammt aus der Ethnologie, aber er ist durchaus geeignet, die politische Zivilisation des 17. bis 19. Jh. in ihrer Eigenart herauszuheben, denn mit „Theater“ wurde ein perfektes Zusammenspiel von Maschinentechnik, Menschen auf der Bühne, Rhetorik und Gestik, Literatur, Kleidung, Musik, bildenden Künsten und Architektur sowie beherrschter Natur verbunden. Diese Vorstellung wirkte um 1660 ebenso wie um 1790. Eine Vielzahl weiterer Bilder, die Perfektion suggerierten, trat hinzu: Das Bild von der Maschine ließ sich auf Staat und Gesellschaft anwenden, das Bewußtsein, grundlegend Neues zu schaffen, das Ludwig XIV. und sein Team beseelte, nahm ansatzweise das revolutionäre Bild von der „régénération“ Frankreichs vorweg. Das so dienstbare Bild vom menschlichen Körper wurde erneut modifiziert, damit es das Selbstverständnis der Zeiten ausdrücken konnte. Auch die Architektur stand in Theorie und Praxis für Perfektion. Es handelte sich freilich um eine Perfektion der Beherrschung. Versailles war ein Gesamtkunstwerk: Schloß und Park, Inneres und Äußeres, die Zusammenführung aller Künste. Triumph über die Natur, Beherrschung von Technik und Techniken, Beherrschung der Ideale, Einordnung des Menschen. Die weitere Entwicklung der Architektur, folgt man Michel Foucault, stellte jedoch zunehmend die Beherrschung des Menschen in den Mittelpunkt: Beherrschung bedeutete Kontrolle über die Normen und Kontrolle normgerechten Verhaltens bzw. Sanktion normwidrigen Verhaltens. Musterbeispiel ist die Gefängnisarchitektur. (Foucault 1981)
Hinter der Fassade Hinter den schönen Theaterfassaden, hinter den prächtigen Fassaden der Baukörper, hinter der Zurschaustellung körperlicher Disziplin
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war manches morsch. An erster Stelle die öffentlichen Finanzen, und nicht zuletzt daran ging das Ancien Régime zu Ende. Gesellschaftstyp und öffentliches Finanzwesen müssen zusammenpassen. Die französische Gesellschaft des 17. und 18. Jh. war, wie angedeutet, erheblichen Spannungen und Wandlungen ausgesetzt. Daß das System öffentlicher Finanzen dem gesellschaftlichen Wandel angepaßt werden müsse, war den zuständigen Ministern, den contrôleurs généraux, klar, aber schon Ludwig XIV. war an diesem Problem, obwohl seine Regierung lange Zeit die Innovationsträgerschaft besaß, gescheitert. Diesen Aspekten wird schwerpunktartig Aufmerksamkeit zu widmen sein. Die Generalstände von 1614/15 hatten sich mit dieser Kernfrage befassen müssen: sie hatten keine Antwort gewußt, es war, als seien sie verdammt gewesen, die enormen sozialen Spannungen vor aller Augen als Theaterstück aufzuführen. Der eingemotteten Institution der Generalstände wurde in der öffentlichen Meinung seit 1788/89 zugetraut, diese Kernfrage lösen zu können. Der Dritte Stand löste sie in der Tat, aber nicht im Sinne des Ancien Régime, sondern revolutionär. Mit dem Verweis auf die Generalstände soll der chronologische Faden wieder dort aufgenommen werden, wo er im vierten Kapitel aus der Hand gelegt worden war, beim Beginn der Herrschaft Ludwigs XIII.
5.3 Ludwig XIII. und Richelieu Innenpolitische Grundsätze Nach der Ermordung Heinrichs IV. durchlebte das politische Frankreich während der Regentschaft der Maria von Medici (Regentin 1610 bis 1617) ungestüme Zeiten. Über den kläglichen Verlauf der Generalstände von 1614/15 war berichtet worden, Adelsrevolten bedrohten die innere Stabilität. Mutter und Sohn entzweiten sich: 1617 vertrieb Ludwig XIII. (1601; 1610 bis 1643) die Regentin vom Hof; deren wichtigste politische Stütze, der Italiener Concini, wurde kurzerhand ermordet. Charles d’Albert de Luynes war für Ludwig der Mann des Vertrauens. Von Beginn an drängte die neue Herrschaft die Hugenotten zurück und gab sich ostentativ katholisch, nach Innen wie nach Außen. Der französisch-habsburgische Gegensatz entschärfte sich durch die Politik der „Devoten“. Doch nicht lange. 1624 gelang Armand-Jean du Plessis, Herzog von Richelieu, seit 1622 Kardinal, früher ein Getreuer der Königinmutter, ein Comeback im Staatsrat. Bis 1630 säuberte er den Rat von Gegnern und bestimmte
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dann bis zu seinem Tod die Leitlinien der französischen Innen- und Außenpolitik. Im Innern setzte Richelieu die Unterdrückungspolitik gegen die Hugenotten fort. Ende 1628 fiel die wichtigste hugenottische Festung, La Rochelle, der Protestantismus war militärisch besiegt. Das Edikt von Alès 1629 bestätigte zwar die Konfessionsfreiheit in enger Anlehnung an das Edikt von Nantes, die politisch-militärische Infrastruktur der Hugenotten wurde jedoch verboten, und das Verbot wurde militärisch durchgesetzt. Neuere Forschungen zur Sozialgeschichte der Konfessionen in Frankreich haben ergeben, daß die Hugenotten von der katholischen Mehrheit in den Städten sozial marginalisiert wurden. Der Weg zum Widerruf des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. 1685 war nicht nur ein politischer, sondern auch ein gesellschaftlicher Weg. Nicht anders als im 15. Jh. nutzte der Hochadel Schwächeperioden des Königtums, um verlorenen politischen Boden gutzumachen. Richelieu versuchte, schon wegen der Symbolik, die verbliebene militärische Basis, auf die sich adlige Machtansprüche stützen konnten, auszutrocknen. Wann immer ein Anlaß gefunden werden konnte, wurden adlige Burgen geschleift. Die unten zu besprechende Fronde 1648 bis 1653 stellte das letzte in aller Öffentlichkeit zur Schau getragene Aufbäumen des Hochadels gegen seine fortschreitende politische und militärische (nicht soziale) Entmachtung dar, danach erschöpfte sich der Widerstand in geheimen Konspirationen. Die politische Chance, die dem Adel nach dem Tod Ludwigs XIV. 1715 unverhofft geboten wurde, wußte er nicht mehr zu ergreifen.
Außenpolitische Grundsätze Außenpolitisch hatte Richelieu nur einen Grundsatz: gegen Habsburg und Spanien. Dies führte ihn im 30jährigen Krieg an die Seite protestantischer Mächte wie Schweden, es führte Frankreich auf die Seite der Sieger und Garantiemächte des Westfälischen Friedens 1648. Weder Richelieu noch seine Nachfolger betrieben eine wirkliche territoriale Expansionspolitik. Es wurden die Grenzen Frankreichs besonders nach strategischen Gesichtspunkten auf Kosten des Reichs und Spaniens arrondiert, im übrigen zielte die Außenpolitik darauf, Frankreich in Europa in eine Schiedsrichterrolle zu hieven. Dieses Konzept wurde mit großem Erfolg in die Tat umgesetzt und von Ludwig XIV. konsequent fortgeführt.
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Steuern und Revolten Im Innern wurde unter Richelieu der Boden für die Innovationsträgerschaft der Regierung und der Verwaltungen bereitet, wenn man so will, für die Innovationsträgerschaft des Staates. Philosophisch eröffnete das Konzept der raison d’État, der Staatsräson, unerschöpfliche Möglichkeiten, das Vordringen des Staates in alle Lebensbereiche als notwendig („nécessaire“; „nécessité“) zu begründen. Zur Finanzierung der erweiterten Staatsaufgaben, unter denen der Unterhalt des wachsenden Militärapparates und Zahlungen ins Ausland zur Stützung der außenpolitischen Ziele Schwerpunkte bildeten, wurde die Steuer- und Schuldenschraube betätigt. Bis 1661 verdreifachte sich die Steuerlast. Die Antwort aller Minder- und Nichtprivilegierten, die das Gros der Lasten zu tragen hatten, waren Aufstände und Revolten. Interessenkoalitionen führten Bauern und kleine adlige Grundherren und andere Notabeln zusammen, um „alte Freiheiten“, zumeist Steuerfreiheiten, zu verteidigen. Bedeutsame Aufstände wurden verzeichnet: 1624 im Quercy, 1630 in Dijon, 1631 in Aix-en-Provence, 1632 in Lyon, 1633/35 in der Guyenne, 1636 im Angoumois, in der Saintonge und im Poitou, 1639 in der Basse Normandie, 1643 in der Auvergne und im Rouergue, 1644 in Marseille. Wie früher führte diese politische Opposition zumeist zu Teilerfolgen, aber nicht zur Befreiung vom Steuerdruck.
Jansenisten, Libertins, Jesuiten Die Spannungen, denen Frankreich in der ersten Hälfte des 17. Jh. im Innern ausgesetzt wurde, waren vielleicht noch nie so groß gewesen. Zur fortbestehenden konfessionellen Opposition gesellte sich innerhalb des Katholizismus die neue Bewegung des Jansenismus, deren Bedeutung daran ermessen werden kann, daß im Kontext der Frage nach den langfristigen Ursachen der Revolution von 1789 der Jansenismus zu den zentralen Faktoren zu rechnen ist: Der Jansenismus hat seinen Namen von dem Bischof Jansenius und dessen Buch über Augustinus. Kern ist die Lehre moralischer Reinheit, ohne die die Kommunion als Gotteslästerung anzusehen sei. Die Nonnen des Klosters von Port-Royal bei Paris machten sich als erste diese Lehre zu eigen, wobei sie von einem 1643 erschienenen Buch von Antoine Arnauld über die Kommunion inspiriert wurden. Die Äbtissin des Klosters stammte aus der Familie Arnauld, die eine bedeutende Magistratsfamilie am Parlament von Paris war. Viele Parlamentsmagistrate wurden Jansenisten, die Hartnäckigkeit ihrer Opposition gegen
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den absolutistischen König gerade auch im 18. Jh. erklärt sich aus dieser Lebenshaltung. Das Eingreifen des Papstes, der 1653 fünf Lehrsätze aus dem Augustinus-Buch des Jansenius verurteilte, entfachte einen politischen Krieg zwischen Parlamentsmagistraten, der Sorbonne und dem König, der bis in die Vorrevolution im 18. Jh. anhielt. Auf der anderen Seite säkularisierte sich das Denken, was einen fundamentalen Wertewandel einläutete; die Prinzipien der Staatsräson beruhten auf säkularisierten materiellen Werten, unter dem Namen libertins wurden die Freigeister zusammengefaßt, bei denen sich Rationalismus, Deismus und individualisierte, u. U. freizügige Lebensführung, kreuzten. In Opposition dazu stand die innere Erneuerung der katholischen Kirche: Die strengen moralischen, erzieherischen und pädagogischen Grundsätze des Konzils von Trient wurden nun konsequent im Rahmen einer Art Volkserziehung umgesetzt. Die 1603 in Frankreich wieder zugelassenen Jesuiten standen mit ihren collèges und ihrem modellhaften Lehrplan an der Spitze der Bewegung, weitere Lehrorden wie die Oratorianer und die Ursulinen mit mehreren Dutzend anderen kleineren Lehrorden verschrieben sich der Verbreitung einer strengen katholischen Moral, kombiniert mit einer elementaren Alphabetisierung der Bevölkerung. Und noch etwas prägte dieses erste 17. Jh.: die Hexenverfolgungen. Befürworter und Gegner zogen sich quer durch die sozialen Schichten. Als Ludwig XIII. und Richelieu kurz nacheinander starben, war in Frankreich nichts wirklich entschieden. Erst 1638 wurde der Thronnachfolger, Ludwig XIV., geboren. Die königliche Familie und die Zeitgenossen erlebten die späte Schwangerschaft der Königin wie ein Wunder. Ludwig wurde von Anfang an als Louis Dieudonné bezeichnet und so behandelt. In seiner Kindheit wurde der Grund dafür gelegt, daß sich Ludwig in der Tat als ein Geschenk Gottes an sein Volk und sein Königreich empfand. Ludwig war in einer einfachen Weise, an der theologische Dogmatiker verzweifelten, zutiefst gläubig. Nicht zuletzt daraus schöpfte er eine Kraft, die ihn zu einer ungewöhnlichen Persönlichkeit machte.
5.4 Ludwig XIV. Die „revolutionäre“ Fronde, Trauma des jungen Ludwigs XIV. Richelieu starb 1642, Ludwig XIII. 1643, als sein Sohn erst fünf Jahre alt war. Das Interim wurde ganz von der Gestalt Mazarins geprägt, der Richelieu im Amt unter der Regentin und Mutter Ludwigs XIV.,
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Anna von Österreich, nachfolgte. Am Hof wurde er spöttisch „das milde Klistier“ genannt. Die schlechte Presse, die Mazarin schon zu Lebzeiten hatte, kontrastiert mit seinem Kunstsinn und seiner Fähigkeit, am schwierigen Königshof eine Politik des Gleichgewichts aufrecht zu erhalten. Obwohl er 1638 die französische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, nicht zuletzt, weil er schon vorher frankophon und frankophil gewesen war, wurde er negativ als Italiener gebrandmarkt. Sein politisch verhängnisvollster Fehler war die Zusammenarbeit mit einem weiteren Italiener namens Particelli, der zwar ein Finanzfachmann war, aber die innerfranzösischen Verhältnisse nicht gut kannte bzw. falsch einschätzte. Particelli erhielt die Aufgabe, den Staatsfinanzen auf die Beine zu helfen. Nicht zuletzt wegen der Beteiligung am Dreißigjährigen Krieg schob die Regierung einen gewaltigen Schuldenberg vor sich her. Die Jahresausgaben betrugen um 1650 den Gegenwert von 1.000 Tonnen Feinsilber, während die Einnahmen nur 600 Tonnen entsprachen. Neben Steuererhöhungen versuchte Particelli, die eigentlichen Geldgeber des Regimes zu schröpfen. Der Staatshaushalt wurde teilweise durch Anleihen und vorgestrecktes Kapital sowie durch den Verkauf von Ämtern finanziert. Der Kern der Geldgeber war immer der gleiche, nämlich ein Netz von Familien aus dem Milieu der officiers, (wir würden heute ,Beamte’ sagen), der commissaires (direkte Funktionsträger des Königs in unterschiedlichen Bereichen) und der Finanzwelt. Diese Familien waren einerseits zunehmend durch Heirat miteinander verwandt, andererseits wachten sie, vor allem die Parlamentsmagistrate, noch eifersüchtig darauf, sich von den Sprößlingen der Familien aus der Finanz freizuhalten. Für die Anleihen, die auf das Rathaus der Stadt Paris begeben wurden, fanden sich auch andere soziale Schichten wie Domestiken als Zeichner. In den 1640er Jahren war der Staat mit seinen Zinszahlungen bereits mehrere Jahre in Rückstand geraten, die Angst wuchs, daß auf das eingesetzte Kapital überhaupt keine Zinsen mehr ausgezahlt würden. Zudem wurde versucht, die Zahl der zu verkaufenden Ämter zu verdoppeln, indem an den obersten Gerichten beispielsweise zusätzliche Richterstellen geschaffen wurden. Dies verminderte den Wert der bestehenden Ämter, die ihrerseits einen bedeutenden Teil in der Erbmasse der betroffenen Familien bildeten. Theoretisch funktionierte der Ämterkauf wie eine Kapitalanlage: Der Inhaber eines gekauften Amtes erhielt die sog. gage, eine Art Zinszahlung. Andererseits wurde ja regelmäßig die „Paulette“ erhoben, die gages wurden nicht ausbezahlt
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oder geschmälert. Mazarin, Particelli und die Regentin Anna von Österreich begingen den Fehler, zuviel auf einmal zu versuchen: Verdoppelung der Ämter, Aussetzung der Zinszahlungen, Drohung, die Paulette nicht zu verlängern, was im Extremfall den Totalverlust der für teures Geld erworbenen Ämter bedeutet hätte. Und schließlich entschloß sich die Regentin, die Steueredikte im Rahmen eines Aktes königlicher Machtvollkommenheit, einem lit de justice (Kissensitzung), im Parlament von Paris zwangsweise registrieren zu lassen. Was zuviel war, war zuviel: Das Parlament hob schon am Folgetag (16. Januar 1648) die Registrierung auf und suchte den Schulterschluß mit den anderen Obersten Gerichts- und Rechnungshöfen, die in Paris ansässig waren (Grand-Conseil; Cour des Aides; Chambre des Comptes). Die Regierung bemühte sich erfolglos, durch eine Vorzugsbehandlung des Parlaments von Paris den Spaltpilz zwischen diesen mächtigen Institutionen zu verbreiten. Auf Initiative des Parlaments versammelten sich diese gemeinsam am 13. Mai 1648 und beschlossen in einem Arrêt d’Union, eine gemeinsame Versammlung zu bilden, die nach dem Namen des Saals, in dem sie zusammentrat, Chambre Saint-Louis genannt wird. Der Historiker Hubert Méthivier (Méthivier 1984) vergleicht den Vorgang mit dem Ballhausschwur von 1789, da er die schwerste Krise des 17. Jahrhundert einleitete – die Fronde (eine zeitgenössische Namensgebung). In der Tat erweckt vieles an der Fronde den Eindruck einer „übungsweise“ vorneweg durchgespielten französischen Revolution. Der Beginn der Revolution von 1789 stand in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Opposition des Pariser Parlaments gegen den Monarchen. So auch 1648: die ersten, die ihren Widerstand selber so ernst nahmen, daß sie auf Sieg gegen die angeblich verfassungswidrig handelnde Regierung setzten, waren die Magistrate des Parlaments von Paris. Ähnlich wie später 1787/1788 spielte die Popularität der Magistrate unter der Bevölkerung eine große Rolle. Sie trugen den Beinamen pères de la patrie, weil sie sich kontinuierlich gegen die Steuerpolitik zur Wehr setzten, nicht zuletzt mit der Begründung, daß das Volk arm sei und am Rande des Existenzminimums lebe. Das Parlament hatte seinen Sitz in der Île de la Cité, einem dreifachen Stadtzentrum: Es fanden sich dort oberste Justiz, oberste Gerichtsund Polizeibehörde der Stadt (Châtelet) und Kathedrale. Als die Regierung einen der sehr populären Parlamentsmagistrate, Pierre Broussel, der in der Île de la Cité wohnte, festsetzen wollte, kam es zu einem Volksaufstand.
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Weitere Parallelen drängen sich auf: mehrere Mißernten in den 1640er Jahren hatten zu einer angespannten Situation geführt, mit ausgedehnten Revolten im Südwesten Frankreichs. Wie in den 1780ern verscherzte sich die Regierung allmählich ihren Kredit bei der Bevölkerung. Selbst einen Zug der Pariser Marktweiber hatte es 1645 gegeben: Die Marktweiber von Saint-Eustache zogen vor die Regentin ins Palais Royal, um die Einsetzung eines ihnen genehmen Pfarrers in der Kirche von Saint-Eustache zu verlangen. Anna gab nach. Überhaupt wird auch von einer Vor-Fronde gesprochen wie die Rede von einer Vor-Revolution ist. Von 1643 an hatte es mehr oder minder offene Adelsrebellionen gegeben, in deren Verlauf sich die wichtigsten Adelsfamilien des Landes miteinander verfeindeten. Vor allem der militärische Teil der Fronde ist als Fortsetzung dieser Adelsmachtkämpfe zu verstehen. Paris stellte sich zeitweilig gegen die Regentin, gegen Mazarin und damit auch gegen den König, in Bordeaux gab es eine spezifische Ausprägung der Fronde, genannt Ormée (das Stadtvolk und die Princesse de Condé verbündeten sich, es wurde ein Vertrag mit dem „Erzfeind“ Spanien geschlossen), und schließlich, was in der Rückschau auch sehr an 1787 ff. erinnert: das Land wurde von einer gewaltigen publizistischen Lawine überrollt, in der alles erlaubt schien, von der Karikatur bis zu politisch-obszönen Pamphleten. Zusammengefaßt werden die über 5.000 Einzeltitel mit zum Teil hohen Auflagen unter dem Begriff der Mazarinades, da hier die Gegnerschaft zu Mazarin geradezu obsessiv betrieben wurde. Es gab darunter sehr ernsthafte Schriften, in denen bereits die Garantie von Grundrechten gefordert wurde, durchaus schon im Sinne jener Rechte, die im späten 18. Jh. dann ,Menschenrechte’ genannt wurden. Am 7. September 1651 wurde der dreizehnjährige König für volljährig erklärt. Man hoffte, damit der Fronde Herr zu werden, da nun alle Aktionen als crime de lèze-majesté, als Verbrechen gegen den König eingestuft werden konnten. Nur: es half nichts, obwohl bis in die Nacht in Paris mit fast allen Feinden von gestern gefeiert wurde. Der Prinz von Condé war nicht dabei, er schmiedete eine Allianz mit Philipp IV. von Spanien, und bereitete den letzten und gefährlichsten innerfranzösischen Krieg der Fronde vor. Die Fronde zeichnete sich ebenso durch eine Phase der Terreur aus wie die Französische Revolution. Am Abend des 1. Juli 1652 begann vor der Bastille und im Faubourg Saint-Antoine ein Kampf Straße um Straße, Haus um Haus, Mann um Mann zwischen den königlichen
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Truppen und dem aufständischen, mit den Spaniern verbündeten Prinzen von Condé. Dank der von der Grande Demoiselle (Tochter des Herzogs von Orléans) gelenkten Kanonen der Bastille blieb Condé zunächst Sieger. 2.000 Tote, noch mehr Verletzte, lagen in den Straßen; der 14jährige Ludwig XIV. hatte alles mit eigenen Augen von jener Anhöhe aus mit angesehen, auf der sich heute der berühmte Friedhof Père-Lachaise befindet. Für den 4. Juli hatte das Parlament eine Notabelnversammlung ins Rathaus der Stadt einberufen. Schon seit Monaten waren gemäßigte Kräfte ihres Lebens nicht mehr sicher gewesen, da sie als „mazarins“ diskreditiert wurden. Der Versuch eines politischen Kompromisses zwischen dem Parlament, der Stadt Paris, den aufständischen Prinzen und dem König scheiterte am 4. Juli, die Prinzen verließen die Versammlung, die sie als Versammlung von „mazarins“ titulierten. Eine bunte Masse von Soldaten, Vagabunden, radikalen Budenbesitzern usw. griff zu den Waffen und massakrierte 200 oder 300 Menschen. Es folgte eine Art Schreckensherrschaft unter Condé über die Straßen von Paris und die Dörfer der ˆ Ile-de-France. Was die Fronde von der Französischen Revolution unterscheidet, ist der durch und durch konservative Charakter, der sich, will man im Schema des Vergleichs mit der Revolution verbleiben, am ehesten als Gegenrevolution bezeichnen ließe. Die eigentlich revolutionäre Kraft war die Regierung. Die Frauen spielten in der Fronde eine andere Rolle als in der Französischen Revolution. 1789 und in den Folgejahren kämpften Frauen wie Olympe de Gouges und Théroigne de Méricourt um Frauenrechte; in der Fronde traten Damen des hohen Adels als Amazonen auf und übernahmen z. T. das militärische Kommando. Die Grande Demoiselle ließ die Kanonen der Bastille gegen die königlichen Truppen richten, 1652 besetzte sie Orléans, Apanage des Hauses Orléans, unter Mithilfe ihrer drei Feldmarschallinnen, den Gräfinnen von Frontenac, Fiesque und Bréauté. Die adligen Amazonen kämpften für die Vorrechte des Adels, nicht die Rechte der Frau bzw. allgemeiner des Menschen.
Die „perfekte Monarchie“ Ludwigs XIV. Als die Fronde 1648 begann, war Ludwig 10 Jahre alt, als sie 1653 endete, war er 15. Da war er schon ein erfolgreicher Feldherr und Diplomat gewesen, ein junger Mensch, der seine Jugend im Heerlager, im Schlamm, auf der Flucht vor den Großen des Landes oder in erfolgreichen diplomatischen Verhandlungen mit dem Erzgegner
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Spanien verbrachte hatte. Die Forschung ist sich einig, daß Ludwigs politische Doktrin, die als Absolutismus bezeichnet wird, mit diesen Erfahrungen eng zusammenhängt. Zu den frühen Dokumenten um die Inszenierung seiner Person als Sieger und Sonnenkönig gehört nicht zufällig eine Skulptur von 1654, die ihn im Jahr seiner Krönung und Salbung in Reims (7. Juni 1654) als Bezwinger der Fronde ausweist und die im Rathaus der Stadt Paris aufgestellt wurde. Mazarin war im Februar 1653 wieder an die Spitze der Regierung getreten. Zugleich war er weiterhin Lehrmeister Ludwigs XIV. Er starb 1661, und niemand glaubte so recht, daß Ludwig tatsächlich, wie er behauptete, nunmehr allein regieren wolle. Was man ihm zutraute, waren intime tête-à-têtes mit den Hofdamen. Selten hat sich ein Hof so sehr in der wahren Persönlichkeit eines Königs getäuscht. Ludwig war ein Monarch, der sich über das, was er tat, stets ausgiebig Gedanken machte, und der etwas besaß, was sich durchaus als praktische politische Philosophie bezeichnen läßt. Zweifellos war Ludwig wie viele seiner Vorgänger und Nachfolger zugleich ein Gefangener der Staatsmaschine, aber es gab für den König Freiräume, vor allem, was die Selbstinszenierung als Mittel von Politik angeht. In dieser Beziehung war Ludwig XIV. ein „Megastar“, der allerdings, das lag in der Logik des Systems, das „Volk“ als aktive Zuschauer brauchte. Je mehr die Monarchie zum Medienspektakel wurde, um so näher rückte sie ihrem Untergang: Im 18. Jh. lernten andere soziale Gruppen, die Medien zu beherrschen, sie entglitten der Kontrolle von Ludwigs Nachfolgern. Vieles erschließt sich aus Ludwigs Handeln, einiges ist niedergelegt in den sog. Mémoires. Sie stammen nicht unmittelbar aus der Feder Ludwigs; sie wurden von seinen Sekretären nach seinen Skizzen und Diktaten verfaßt; gedacht waren sie als Instruktion für den Thronnachfolger. Sie beziehen sich auf die Jahre 1661–1662 sowie 1666–1668, die Niederschrift wurde 1666 begonnen und wegen der zahlreichen Kriege immer wieder unterbrochen. Politik war für Ludwig vor allem eine Frage der Menschenkenntnis und des Umgangs mit Menschen. Es ging ihm nicht darum, Menschen zu verändern, er nahm sie, wie sie waren und kalkulierte mit ihren Schwächen ebenso wie mit ihren Stärken. Das ganze System des höfischen Zeremoniells, an dem Ludwig selber mitfeilte, beruhte auf dieser Einsicht. Was wir heute schnell als Heuchelei, Verlogenheit usw. bezeichnen würden, war ein Instrument, die Stärken und Schwächen der Menschen in einem Gleichgewicht zu halten.
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Das zweite Grundprinzip der Politik nach Ludwig war Interesse an den Staatsgeschäften im Sinne eines manifesten Interesses an umfassender Unterrichtung. In den Memoiren heißt es: „Ich bin über alles unterrichtet, höre auch meine geringsten Untertanen an, weiß jederzeit über Stärke und Ausbildungsstand meiner Truppen und über den Zustand meiner Festungen Bescheid, gebe unverzüglich meine Befehle zu ihrer Versorgung, verhandle unmittelbar mit den fremden Gesandten, empfange und lese die Depeschen und entwerfe teilweise selber die Antworten, während ich für die übrigen meinen Sekretären das Wesentliche angebe. Ich regle Einnahmen und Ausgaben des Staates und lasse mir von denen, die ich mit wichtigen Ämtern betraue, persönlich Rechnung legen.“ Ludwig taxierte genau die Wirkung, die von einem solchen Verhalten ausging. Nach seinem Empfinden entstand daraus ein Bild des Herrschers, das er Ansehen nannte, und das seinerseits, so glaubte Ludwig, zu einer geschichtsmächtigen Kraft werde, die vor allem auch dann wirke, wenn ein Herrscher Ansehen dringend brauche. Ludwig war sich im klaren, daß er nicht alles wissen könne, und so war es für ihn keine Frage, daß ein Herrscher Minister und Ratgeber brauche. Von diesen verlangte er im Grunde Eigenschaften wie von sich selbst. Daraus entsteht wenigstens theoretisch – modern gesprochen – ein System professionellen Informationsmanagements, das es erlaubt, die jeweils richtige Entscheidung zu treffen. Ludwig hatte keine Angst, mit tradierten Dingen zu brechen. Alles, was sich nicht in sein System von Politik auf der Grundlage des aufsteigenden Informationsflusses einordnete und hinderlich erschien, bekämpfte er. Die alten Gewalten wie die Parlamente, die sich in seinen Augen während der Fronde kompromittiert hatten, und die Provinzialstände, die Entscheidungen nur kompliziert machten und verzögerten, fanden keine Gnade. Er stutzte sie erheblich zurück. Folgt man seinem Selbstverständnis, so ging es ihm nicht um Absolutismus im Sinn des Wortgebrauchs des 19. Jh., sondern um die perfekte Monarchie, um die im Sinne der Perfektion absolute Monarchie. Dem entspricht auch die Visualisierung seiner Herrschaft, eine einzige Huldigung an die monarchische Perfektion. Ludwig war kein Intellektueller, kein großer Theoretiker. Der Theoretiker des Absolutismus des ludovizischen Zeitalters war Jacques Bénigne Bossuet, Bischof von Meaux, Hofprediger Ludwigs und Erzieher des Thronfolgers. Als Erziehungsschrift verfaßte er 1677–1679 ein später berühmt gewordenes Werk, die „Politik nach
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den Worten der Heiligen Schrift“. Er schrieb: „Alle Welt beginnt . . . mit der monarchischen Staatsform, und fast die ganze Welt hat sie als die natürlichste Form beibehalten. Auch hat sie ihren . . . Grund und ihr Vorbild in der väterlichen Gewalt, d. h. in der Natur selber. Die Menschen werden allesamt als Untertanen geboren, und die väterliche Autorität, die sie an den Gehorsam gewöhnt, gewöhnt sie zugleich daran nur ein Oberhaupt zu kennen. [. . .] Wenn die monarchische Staatsform die natürlichste ist, so ist sie, wie sich von selbst ergibt, die dauerhafteste und damit auch die stärkste. . . . Wenn man Staaten gründet, will man sich vereinigen; niemals aber ist die Einheit besser gewahrt als unter einem einzigen Oberhaupte. Niemals ist man auch stärker als in diesem Falle, weil alles zu einem Ziel zusammenwirkt. [. . .] Die königliche Gewalt ist absolut. Um diesen Satz verächtlich und untragbar erscheinen zu lassen, bemühen sich manche, eine absolute Regierung mit einer Willkürherrschaft gleichzusetzen. Aber es gibt nichts, was verschiedener wäre, wie uns die nachstehende Erörterung über die richterliche Gewalt (justice) zeigen wird. . . [. . .] Niemand kann nach dem, was wir ausgeführt haben, daran zweifeln, daß der ganze Staat in der Person des Fürsten verkörpert ist. Bei ihm liegt die Gewalt. In ihm ist der Wille des ganzen Volkes wirksam. Ihm allein kommt es zu, alle Kräfte zum Wohle des Ganzen zusammenzufassen. Man muß den Dienst, den man dem Fürsten schuldet, und den, den man dem Staate schuldig ist, als untrennbare Dinge ansehen.“
Visualisierung der „perfekten Monarchie“ in der Gestalt Ludwigs XIV. Im Dezember 1714, wenige Monate vor Ludwigs Tod, legte ein Mitglied der Académie Française, Monsieur de Sacy, der Zensur ein Manuskript mit dem Titel „Traité de la gloire“ zur Prüfung vor. Der für die Justiz des Landes zuständige Kanzler beauftragte Fontenelle mit der Lektüre. Fontenelle fand nichts einzuwenden, und so konnte der Traktat gedruckt werden. Es war eben jener berühmte Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657 bis 1757), der als 29jähriger eine Schrift publizierte, die noch heute zu den meistzitierten der Frühaufklärung gehört: Entretiens sur la pluralité des mondes (1686; Gespräche über die Vielfalt der Welten). Sacy definierte „gloire“ folgendermaßen: „Unter Ruhm versteht man die Ehre, die aus der anhaltenden Bewunderung entsteht, die alle Menschen, selbst die fehlerhaftesten, gegenüber den herausragenden Tugenden, den außerordentlichen und der Gesell-
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schaft nützlichen Begabungen bezeugen, sowie die aufrichtige, von Zuneigung erfüllte Ehrerbietung, die zu erweisen sie nicht umhinkönnen.“ Ruhm habe nichts mit Stolz, Ehrgeiz, Aufwendigkeit, Macht oder Intrige zu tun. Ruhm habe vor allem auch Bedeutung im Hinblick auf die historische Erinnerung der Nationen, Ruhm bewahre die Erinnerung an die einzelne, ruhmreiche Person. Ludwig selbst ließ sich über den Ruhm in seinen Memoiren aus, Mademoiselle de Scudéry (1607 bis 1701) hatte darüber einen Essay geschrieben, den die Académie Française mit einer Medaille ehrte, der Ruhm als allegorische Figur hatte seinen Platz im Theaterstück und im Ballett, an Denkmälern und öffentlichen Brunnen. Prachtentfaltung, auch prächtige Feste, waren ein Mittel der Politik, weil es die Sinnlichkeit der Menschen positiv ansprach, ebenso wie der Ruhm, der bestimmte Gefühlsregungen wie Zuneigung und Ehrerbietung erzeugen sollte. Im Zeitalter der monarchie absolue definierte sich die Macht des Monarchen oder Fürsten nicht nur aus seiner verfassungsrechtlichen Stellung heraus oder aus seiner Rolle als oberster Befehlshaber, als Herr über Krieg und Frieden, sondern auch durch die Beschäftigung der fünf Sinne und der Sinnlichkeit der Untertanen. Macht bestand zu einem guten Teil aus einer subtilen Dominanz über die körperlichen Sinne und die Körperfunktionen. Den Zeitgenossen war dies bewußt, den Befürwortern wie den Gegnern der Ausübung solcher Dominanz. Von der Geburt bis zum Tod war Ludwig in Bildern und anderen visuellen Medien der damaligen Zeit präsent. Daß er schon als Baby in Windeln dargestellt wurde, dafür konnte er nichts; daß er als alter Mann mit heruntergezogenen Mundwinkeln im Rollstuhl sitzend porträtiert wurde, konnte nur mit seiner ausdrücklichen Genehmigung geschehen. Trotz aller Idealisierungen, derer sich die Darstellungskunst bewußt bediente, erscheint die Visualisierung Ludwigs über die Jahrzehnte gesehen durchaus ehrlich: Als er jung war, lebte Ludwig die Jugendlichkeit seines Körpers aus, vom Soldatsein über den Tanz am Hof bis hin zu einem vergleichsweise offenen Sexualleben. Als er alt war, lebte er seine Krankheiten und Gebrechlichkeiten. Er war in bemerkenswerter Weise mit sich und seinem Körper im Reinen. Ein wichtiger Umstand war die Extension des Körpers des Königs durch Repräsentationen und Repräsentanten. Im Gegensatz zu unserer Gewohnheit wurde keine scharfe Grenze zwischen einem Objekt, das den König repräsentierte, und dem wahrhaftigen König
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gezogen. Bilder, Statuen usw. waren dazu angetan, unmittelbare, in gewissem Sinne spontane Gefühlsregungen zu erzeugen. Sie erheischten einen hohen Grad an Ehrerbietung, als sei der König in Person anwesend. Bossuet charakterisierte den Monarchen als lebendiges Bild Gottes. Das waren keine Floskeln, sondern dies bezog sich auf die damals noch übliche Art und Weise, Bilder und Abbilder gefühlsmäßig und körperlich zu erleben, zu erfahren. Ludwig-Bilder wurden in den Textmedien und in den visuellen Medien sowie im Schauspiel verbreitet. Die Medien wurden miteinander vernetzt: Das Ludwig-Denkmal auf der Place des Victoires in Paris wurde auf Medaillen reproduziert, beides wiederum auf Stichen, auf dem Denkmal in den Reliefs fanden sich Darstellungen bereits früher geprägter Medaillen. Verwendet wurden mythische oder allegorische Figuren wie Herkules, Sonnengott, Alexander d. Gr. u. a. m. Genutzt wurden das gesprochene und geschriebene Wort, Ansprachen, Dichtungen usf. Sicher waren Paris und Versailles der Schwerpunkt der Verbreitung des Bildes vom König, aber auch die Provinz wurde reichlich bedacht, zumal gerade Gravuren oder Terrakotta-Figuren billig herzustellen waren. Auf Eheverträgen in Lyon prangte das Konterfei des königlichen Paars. Denkmäler und Triumphbögen wurden in den großen Städten des Landes errichtet. Selbst die Grande Demoiselle, die wir aus der Fronde als beherzte Soldatenführerin und Opponentin der Königspartei kennen, erging sich in großen Schmeicheleien, was die Erscheinung Ludwigs anging: Er habe ein kühnes, stolzes und angenehmes Aussehen, sein Gesicht habe einen zarten und zugleich majestätischen Ausdruck, er hätte, was Farbe und Frisur angehe, die schönsten Haare der Welt, er habe schöne Beine, sei gut gebaut und trage sich gut. Er sei der schönste und bestgebaute Mann im ganzen Königreich. In den 1670er Jahren gelang es, für Ludwig den Beinamen „der Große“/Louis le Grand zu etablieren. Ludwig wurde verglichen mit Alexander d. Gr., Augustus, Cäsar, Karl d. Gr., Chlodwig, Konstantin, Justinian, Salomon, dem hl. Ludwig, Theodosius, je nach dem, um welche königlichen Handlungen es ging. Theodosius etwa war gegen die „Ketzerei“ der Arianer vorgegangen, Ludwig mit der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) gegen die Protestanten, die ihm als Ketzer galten – daher der Vergleich. Diese Inszenierungen waren eng mit der Selbstdefinition Frankreichs verbunden. Die Epoche Ludwigs XIV. entwickelte sich zu einer Schlüsselepoche der französischen Nationswerdung.
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Frankreich als „kulturelle Referenz“ und Nation im Zeitalter Ludwigs XIV. Im November 1737 schrieb der Marquis d’Argenson: „Frankreich wird heute von einem König und einem Minister regiert [Kardinal Fleury], der ebenso umsichtig wie aufgeklärt ist. Es ist an einem Punkt der Arrondierung und Stärke angelangt, der es mit seinem Los zufrieden sein läßt. Es besitzt großes Gewicht und großes Ansehen. Jenseits aller Furcht, ungerecht angegriffen zu werden, zufrieden mit seinem Glück, wird es nur noch an das Glück der anderen denken.“ (d’Argenson, 1737, 167) D’Argenson zeichnete das Bild eines in sich ruhenden Frankreich, das einen Zustand des Glücks erreicht habe, von dem die anderen europäischen Staaten noch weit entfernt seien. Der Marquis und spätere Außenminister ging, das erweist gerade die zentrale Stellung des Begriffs „Glück“, offensichtlich von einer politisch-geographischen und kulturellen Entität namens Frankreich aus, die den Bestimmungskriterien eines Nationalstaats genügen würde (Einheit von Staatsgebiet, Geltungsbereich des Rechts und kollektiver sowie individueller Identität, d. h. Übereinstimmung von politischem und kulturellem Raum). Die in den Wörterbüchern und Lexika der Zeit aufzufindenden lapidaren Bemerkungen zu den Grenzen Frankreichs stützen das unterstellte Bild von der Entität Frankreich. Im Dictionnaire von Trévoux (1740) lautet es beispielsweise: „La France a pour bornes la Mèr, le Rhin, les Alpes & les Pyrénées.“ Die entscheidenden Phasen der französischen Nationswerdung in der Frühen Neuzeit, nämlich die Epoche Ludwigs XIV. und die Französische Revolution, werden durch einen bewußt formulierten Bruch mit der eigenen Vergangenheit geprägt. Die Handlungsträger der Revolution von 1789 sahen sich an einem point zéro der Geschichte, die Akteure der politischen und kulturellen Innovationen unter Ludwig XIV., Ludwig selbst eingeschlossen, verfügten über ein vergleichbares Bewußtsein, das sich jedoch in nuancierteren Tönen als 1789 artikulierte. Man würde es sich zu leicht machen, wollte man die Nationswerdung im frühneuzeitlichen Frankreich überwiegend mit der invention of tradition und Mythenbildung erklären, die zweifellos die Ausbildung kultureller Identitäten begünstigten, aber im Grunde nur einen Ausschnitt des Phänomens kennzeichnen. Denn auch das bewußte sich Entfernen von Traditionen, die bewußte Traditionslosigkeit, zumindest die Erfindung von Traditionslosigkeit wie im Frank-
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reich Ludwigs XIV. und der Französischen Revolution, konnte kulturelle und nationale Identitäten hervorbringen. Dies bedeutete einen unerhörten Akt angesichts eines traditionsgeladenen Kontexts, in dem in Frankreich selber vor allem Italien, aber auch Spanien kulturell prägend präsent waren. Sicherlich vermehrten sich im 16. Jh. die intellektuellen Instrumente, mit denen innerhalb Europas kulturell-nationale Abgrenzungen sedimentiert wurden. Es kam zur Ausbildung eines sich zwischen Entgrenzung (zumeist nach Innen) und Abgrenzung (nach Außen) bewegenden Denksystems. Die Geschichte der Nationswerdung in Europa besteht aus einem Geflecht von Ent- und Abgrenzungen. Vorurteile, Stereotypen und Ursprungsmythen haben bis in die erste Hälfte des 17. Jh. kulturelle Abgrenzungsprozesse gefördert, aber in der zweiten Hälfte des 17. Jh. wurde Abgrenzung gegenüber den anderen Nationen zusätzlich über ein bestimmtes, zumindest eingebildetes, Verhältnis zu Modernität und Fortschritt erzielt. Modernität knüpft an die französischen Quellenbegriffe „moderne“ (Adjektiv) und „modernes“ (Substantiv Plural) an. Ludwig XIV. betrieb in Frankreich eine offensive, kulturell wirksame Politik, die zur allgemein bekannten Polarisierung zwischen „anciens“ und „modernes“ führte. Im Gegensatz zum seinerzeitigen Kulturmodell Italien im Sinne Fernand Braudels („Modell Italien 1450–1650“: Braudel 1991) existierte in Frankreich mit Ludwig, Colbert sowie einer Reihe von Literaten und Künstlern und Architekten ein intellektuelles Zentrum, das sich nichts weniger vorgenommen hatte, als Frankreich zum Kulturmodell Europas zu machen. So sehr der zitierte Marquis d’Argenson die Zeit Ludwigs XIV. kritisch beurteilte, so sehr zollte er zwei Jahrzehnte nach Ludwigs Tod mit seiner Schilderung des glücklichen Frankreich eben dieser kulturell wirksamen Politik seinen Tribut. Ludwig und sein Team handelten trotz aller Referenzen an die Antike, Italien und das französische 16. Jh. vielfach als radikale Neuerer, der Motor des planmäßig ins Werk gesetzten Kulturmodells Frankreich bestand in der energievollen Bereitschaft zum Bruch. Trotz aller historischen Grundlagen, die französische Kultur als solche vor Ludwig XIV. als charakteristische kulturelle Ausprägung innerhalb Europas auswiesen, entstand unter diesem König das, was auch in der Perspektive der Zeitgenossen die „kulturelle Referenz Frankreich“ genannt werden kann, die sowohl nach Innen wie nach Außen wirkte.
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Entscheidend war in Frankreich die Verbindung zwischen politischen Ambitionen und kulturellem Selbstverständnis, ja, die politische Kolonisierung der Kultur (Akademiegründungen), sowie der Wille zur Perfektion und zur quantitativen Steigerung des Hergebrachten. Die Zeit steckt voller symbolischer Episoden und Geschichten, die dies illustrieren. Die Einladung Gianlorenzo Berninis (1598 bis 1680) als einem der berühmtesten Architekten und Künstler der Epoche 1665 nach Paris verstand sich durchaus als Reverenz an die Vorbildwirkung Italiens, insbesondere des barocken Roms. Anlaß der Einladung war der geplante Umbau des Louvre. Die Entwürfe Berninis wurden jedoch von Colbert und Perrault als „unpraktisch und für das französische Klima ungeeignet“ erklärt, „Sicherheitsfragen (seien) nicht genügend bedacht worden“, der Plan Berninis sei wenig mehr als eine Fassade und hinsichtlich des Komfort des Königs so schlecht konzipiert, daß es trotz eines Aufwandes von zehn Millionen Livres immer noch so beengt zugehen würde wie zuvor. Bernini hingegen empörte sich, daß die französische Regierung nur an „Aborte und Rohrleitungen“ denke und reiste nach Rom zurück. Im Grunde hatte er recht: Was damals in Frankreich interessierte, waren technische Neuerungen, die die Beherrschung der Natur durch den Menschen ausdrückten – Neuerungen, wie sie dann in Versailles zelebriert wurden. In den Beschreibungen der Bauten und Festinszenierungen Ludwigs von André Félibien, dem offiziellen „historiographe des bâtiments du roi“, kommt kein Wort so häufig vor wie „nouveau“ oder „nouveauté“. Das Selbstverständnis, auf allen Feldern Neues zu produzieren, es in bis dahin nie erreichter Qualität, Quantität und Perfektion vor allem mit französischen Künstlern und Architekten, die allesamt etwas vom Ingenieur an sich hatten, oder Dichtern, Musikern usw. sowie mit Hilfe in Frankreich gewonnener Materialien zu tun, zeichnet die neue kulturelle Referenz Frankreich aus. Die Stringenz dieses Konzepts wurde durch die Arrondierungspolitik im Norden und Osten erhöht und durch die Vaubanschen Befestigungswerke nicht zuletzt auch symbolisch verstärkt. Nach Innen wurden zur Stärkung der Kohärenz symbolische Grenzen niedergelegt: die nördlichen Mauern von Paris wurden auf Geheiß Ludwigs im Jahre 1670 abgebrochen, um deutlich zu machen, daß die befestigte Nordgrenze Paris hinreichend schütze; der König selbst ließ bei Gelegenheit die Tore zum Park von Versailles öffnen, um „tout le monde“ den Zugang zu ermöglichen; etc. Zusammengehalten wurde die kulturelle Referenz
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Frankreich schließlich durch den Körper des Königs, und zwar nicht nur symbolisch (Versailles, Sonne), sondern auch real durch Meisterleistungen körperlicher Disziplin und Ausdauer bis ins hohe Alter, die der König an eben jenen Orten vorführte, an denen sich die gewollten „nouveautés“ vollzogen und von denen aus sie im ganzen Land als Nachricht verbreitet wurden. Veranstaltungsorte der nouveautés waren Versailles, die Feldlager des Heeres in den zahlreichen Kriegen, Vaubans Festungsbauten, die Städte in den neuen Grenzprovinzen im Norden und Osten Frankreichs. Die kulturelle Referenz Frankreich aus der Zeit Ludwigs XIV. unterscheidet sich von den Vorgängerinnen dadurch, daß sie sich auf dem Hintergrund eines erweiterten Begriffes von „nation“ entfaltete. Sicher waren die allegorischen, mythologischen und historischen Programme, die in Ludwigs Festen, Schloß- und Parkanlagen Anwendung fanden, nur einem sehr begrenzten Publikum unmittelbar verständlich, aber sie zeichnen sich nach Gérard Sabatier aufgrund permanenter Wiederholungen derselben Elemente und Grundgedanken durch eine relative Einfachheit aus. Bezeichnend war zugleich der immer deutlichere Rückgriff auf die „Histoire du roi“, die in der bildlichen Repräsentation nicht nur des Königs, sondern auch seiner politischen Prinzipien Mythologie und Allegorie auf die Plätze verwies. Diese Programme (narrativ, ikonographisch) zur öffentlichen Darstellung des Königs setzten folglich nur noch einen reduzierten Bildungsgrad voraus, um verstanden zu werden. Sie verwiesen nur noch bedingt auf ein narratives und ikonographisches Arkanwissen und zeugten davon, daß auch in diesem Feld die Ende des 16. Jh. schärfer gezogene Grenze zwischen „nation“ und „peuple“ wieder in Fluß geriet. Die „nouveautés“ in Heer, Verwaltung, Regierungssystem, Steuerwesen usf. zeitigten die bekannten Egalisierungstendenzen der absoluten Monarchien hinsichtlich der Untertanen. Nachdem Ludwig in jüngeren Jahren die meisten Provinzen des alten Frankreich besucht hatte und durch sein körperliches Erscheinungsbild zeitgenössischen Beobachtungen zufolge eine Faszination auslöste, die die Identifizierung der Bevölkerung mir ihrem Louis Dieudonné wesentlich erleichterte, besuchte er in späteren Jahren vor allem die in Norden und Osten eroberten Städte (stellvertretend für die Provinzen), um deutlich zu machen, daß es nicht schlicht um den Wechsel eines obersten Lehnsherrn ging, sondern um eine unvermeidlich anstehende neue Identifikation, nämlich die mit Frankreich. Etienne François konnte zeigen, daß als Ergebnis dieser Politik
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die als Beispiel gewählten östlichen Städte Nancy, Metz und Lunéville sich im Lauf von hundert Jahren fast vollständig in politischer und kultureller Beziehung ins Innerfranzösische, d. h. vor allem nach Paris hin orientierten. Hier kann der Prozeß der Angleichung von politischem und ideellem Raum, einhergehend mit kulturellen Abgrenzungsprozessen zum Reich hin, sehr gut studiert werden. Dasselbe läßt sich für das Elsaß oder die Pyrenäengrafschaft Cerdagne nachweisen. Hinzuzufügen ist, daß die Essentials der ludovizischen kulturellen Referenz Frankreich in vereinfachter Form auch über die Volksalmanache verbreitet wurden. Diese Andeutungen müssen genügen, um deutlich zu machen, daß nation nicht nur schichtenspezifisch eng mit dem am Hofe der Ludwige XIV. bis XVI. versammelten Schwert- und Amtsadel, den Teilhabern an der politischen Macht, zu verbinden ist, sondern sich auf immer größere Teile der Gesellschaft erstreckte, für die sich die exemplarisch genannten Elemente zur kulturellen Referenz Frankreich verdichteten. Die Bedeutungsentwicklung von „nation“ in dem Jahrhundert zwischen der Hochzeit Ludwigs XIV. und der Französischen Revolution wurde in besonderer Weise durch Verlagerung der politischen Souveränität vom König auf die „nation“ charakterisiert, auf die „nation“, als deren vollständiger Repräsentant sich der Dritte Stand 1789 erklärte. Die innenpolitische Funktion der kulturellen Referenz Frankreich unter Ludwig XIV. bestand darin, die noch in der Fronde so manifeste Zerrissenheit der sozialen Gruppen, die dem damals gültigen Verständnis nach die „nation“ bildeten (Schwertadel, Amtsadel, städtisches Bürgertum und hohe Geistlichkeit), zu beenden. Das war vergleichsweise gut gelungen, andererseits war diese kulturelle Referenz zunächst so sehr mit der absolutistischen Souveränitätslehre verbunden, daß sie nicht ausreichte, um die politische Emanzipation der französischen Untertanen des 18. Jh. hinreichend aufzufangen. Es war eine andere kulturelle Referenz, die für diesen Zweck in Frankreich aufgebaut wurde, nämlich die englische, gefolgt von einer amerikanischen und schließlich einer deutschen kulturellen Referenz, deren Schwerpunkt allerdings im 19. Jh. lag und die z. T. andere Funktionen erfüllte. (Dazu ausführlicher Kap. 12.) In Frankreich wurde die durchgreifende Erweiterung der gesellschaftlichen Basis des Nationsverständnisses mit Hilfe der englischen und amerikanischen kulturellen Referenz in neue Bahnen geleitet. Der Bezug zur Modernität blieb erhalten, doch wenn dieser im 17. Jh. vorwiegend
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im hohen Ansehen von Technik, Naturwissenschaft und sicherlich schon Rationalismus bestanden hatte, so kam er im 18. Jh. vorwiegend in der politischen Aufklärungsphilosophie zur Geltung, dem Movens der politisch-emanzipatorischen Aufladung des französischen Nationsbegriffs.
5.5 Die Krise der Monarchie unter Ludwig XV. und Ludwig XVI. Die Institutionen unter Ludwig XIV. Die für das Mittelalter beschriebene Phase der Institutionalisierung hatte ein dauerhaftes Fundament gelegt. Ludwig XIV. stärkte vor allem den Staatsrat, der in mehrere große Abteilungen mit weiteren Unterabteilungen zerfiel, die mit Verwaltungs-, Ordnungs- und z. T. Rechtsprechungskompetenzen ausgestattet waren. In den Abteilungen des Staatsrats liefen die Fäden jeglicher Verwaltung zusammen. Unter diesem König gewann die Einrichtung der Intendanten (commissaires départis) zunehmend Profil. Die Intendanten wurden ausschließlich vom König eingesetzt, bis zur Revolution konnte diese Institution aus dem System der Ämterkäuflichkeit herausgehalten werden. Anfangs (ab 1633) wurden diese Kommissare mit speziellen Aufgaben betreut, allmählich institutionalisierten sie sich als permanente Repräsentanten des Königs in allen Provinzen des Reichs mit umfassender Zuständigkeit. Die Modernisierung der Infrastruktur fiel bald in ihre Kompetenz, sie traten auf, wenn es um die Modernisierung der Landwirtschaft ging, sie wachten über die Gemeindefinanzen, seit Ludwig sich (mit mäßigem Erfolg) an einer rigorosen Entschuldung der Gemeinden versucht hatte. Seit der Mitte des 18. Jh. förderten sie die konfessionelle Toleranz, die den verbliebenen oder zurückgekehrten Protestanten neue Spielräume verschaffte. Die älteren Institutionen existierten alle weiter, so daß es unweigerlich zu Konflikten mit den Provinzparlamenten, den Gouverneuren und den Provinzialständen, soweit sie noch existierten, kam. Ludwig betrieb die Kodifikation und Vereinheitlichung des in Frankreich geltenden Rechts, er initiierte Reformen des Prozeßrechts, des Strafrechts, des Sklavenhandelsrechts usw. Er setzte hierzu Arbeitsgruppen aus Fachleuten ein, die sich der Aufgabe systematisch, ganz Frankreich im Blick, zuwandten. Es gelang nur teilweise, die erarbeiteten Gesetze in die Praxis umzusetzen, aber daß den Unternehmungen, die in rechtliche Besitzstände eingriffen, überhaupt Erfolg vergönnt war, ist be-
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merkenswert genug. Das lag an der Perfektionsdynamik der ersten 20 Regierungsjahre, in die sich die Reform des Rechts und der Rechtsprechung einpaßte. 1665 schickte Ludwig das Parlament von Paris in die Auvergne, um im Rahmen sog. Grands jours vor Ort den gedrückten Untertanen zu ihrem Recht gegenüber allzu üblen Grundherren und anderen Herren zu verhelfen. Die Maßnahme war eher punktueller Natur, aber sie war relativ wirksam und verfehlte nicht den erhofften Eindruck auf die Bevölkerung. Ebenso zielstrebig setzte Ludwig XIV. neue Steuern durch, wie das Stempelpapier, das ab März 1673 für Verwaltungsbescheide, Versammlungsprotokolle von Gemeinden etc. verpflichtend eingeführt wurde. Steueraufstände, z. B. 1675 in der Bretagne, wurden kompromißlos niedergeschlagen. Dennoch: die politischen Veränderungen, die Ludwig in Frankreich in den ersten 20 Jahren der Alleinregierung in Angriff nahm, folgten einer inneren Kohärenz, die dem globalen Perfektionsideal und seiner Inszenierung verpflichtet waren.
Die Régence, die Polysynodie und John Law Ludwig starb am 1. September 1715; das Land war wegen der vielen Kriege hoch verschuldet, und so mag es nicht verwundern, daß in manchen Vierteln von Paris der Tod des Königs mit Freudentänzen und Trinkgelagen begrüßt wurde. Dennoch kann keine Rede davon sein, daß das Land darniederlag. Viele Zeitgenossen glaubten das allerdings, und dagegen hilft auch keine historische Forschung aus dem 20. Jh. Das Testament Ludwigs wurde am 2. September vor dem Parlement verlesen, der Regent Philipp von Orléans (geb. 1674; Regent 1715 bis 1723), Neffe Ludwigs, ließ Teile des Testaments anfechten. Damit begann der Wiederaufstieg des Parlement von Paris, eine der wichtigsten Veränderungen unter der Régence (1715 bis 1723), die sich auf das ganze weitere Jahrhundert auswirkte. In vielen Remonstranzen verteidigte diese Institution nunmehr ihre verfassungsmäßige Stellung, sie erhob sich selbst zu einer Art Verfassungsgericht, ohne dessen Prüfung auf Verfassungsmäßigkeit kein Gesetz wirksam werden sollte. Die zweite wichtige, aber nicht dauerhafte Änderung war die Einrichtung der Polysynodie. Philipp regierte anfangs mit Hilfe von mehreren Ratskollegien, in denen der Adel eine Führungsrolle besaß. An der Spitze stand der Conseil de Régence, dem untergeordnet waren je ein Rat für kirchliche, für auswärtige Fragen, für Finanzen, Krieg, Marine, für Inneres, für Handel. Das Experiment gelang nicht, da die Adligen nur anfangs persönliches Interesse an
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den Beratungen nahmen. Ab 1718 regierte auch Philipp allein, nur gestützt auf den Abbé, dann Kardinal, Dubois. Die Distanzierung zum vorherigen Regime machte Philipp im übrigen durch die Verlegung der Residenz nach Paris ins Palais Royal deutlich, bis er 1722 wieder nach Versailles zurückkehrte. In dem Augenblick, in dem Philipp vom System der Räte wieder abrückte, veröffentlichte der Abbé de Saint-Pierre seine Schrift über die Polysynodie (Discours sur la Polysynodie . . ., London 1718). Ob er den Begriff erfunden hat, ist nicht ganz klar, jedenfalls hat er ihn zu einem politischen Begriff gemacht. Saint-Pierre zählte 20 Vorteile der Polysynodie auf, darunter, auf mehrere Vorteile verteilt, immer wieder den besseren Informationsfluß. Genau dies war ja ein für Ludwig sehr wichtiger Punkt gewesen. Das System der Polysynodie griff folglich eines der ludovizischen Grundprinzipien in neuem Gewand auf. Wichtigstes Problem der Régence war die Bewältigung der Schuldenlast. Der Versuch, eine direkte, von allen Ständen zu zahlende Steuer einzuführen, scheiterte. Das war (1716) die Stunde eines schottischen Bankiers, John Law. Er war eine schillernde Figur, nicht untypisch für seine Zeit. Sein Vermögen hatte er an den europäischen Spieltischen gemacht, England hatte er wegen einer Liebesaffäre und eines Duells verlassen müssen. Mit Publikationen über die Themen „Geld“ und „Reichtum“ hatte er sich einen Namen verschafft. Er gründete zunächst, inspiriert von der Bank von England, eine Bank in Paris, die Papiergeld ausgab. Im Prinzip war das Papiergeld durch Edelmetalldepositen des französischen Staates gedeckt. Flankierend versuchte Law, die großen Steuerpächter auszumanövrieren und die Steuereinnahmen wieder unmittelbar in der Hand des Staates zusammenfließen zu lassen. Weiters gründete er flankierend die Compagnie d’Occident, die Westhandelsgesellschaft, als Aktiengesellschaft. Gefördert werden sollte der Handel mit Louisiana, das Law dem Publikum als ein zweites Mexiko anpreisen ließ. Man glaubte es ihm gerne, in Paris, in Amsterdam und anderswo. Nicht nur die Reichen, die hofften, noch reicher zu werden, sondern auch einfache Leute wie Domestiken. Man glaubte es so sehr, daß es in der Anfangsphase zu enormen Spekulationen kam; das Gedränge vor dem Gebäude der Kompagnie war teils so heftig, daß es dabei Tote gab. Das Ganze hatte in Einzelfällen sogar etwas Sozialrevolutionäres an sich. Wer als Domestike richtig spekuliert hatte, gefiel sich darin, juwelenbehangen seinem ehemaligen Herrn und Meister vor der Nase herumzu-
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spazieren. Da Louisiana aber vorerst dünn besiedelt war und keineswegs den Reichtum besaß, der ihm zugeschrieben wurde, hätte es auf seiten aller Beteiligten eines langen Atems bedurft, um die Spekulationen aufgehen zu lassen. Geringe Dividenden auf die Aktien schürten bereits das Mißtrauen, die Gebrüder Pâris, Bankiers in Paris und Gegner Laws, taten ein übriges, um das System zu Fall zu bringen: Sie veranlaßten einige reiche Familien, sich ihre Papieraktien in hartem Geld auszahlen zu lassen; da ging es um Millionen. Das sprach sich herum, viele befürchteten Verluste und wollten schnell verkaufen. Dazu kam, daß der Regent die Druckerpresse für das Papiergeld unentwegt hatte bedienen lassen, so daß es nicht nur zur Inflation kam, sondern auch zur Unterdeckung der im Umlauf befindlichen Summen. Kurz und gut, das System scheiterte in dem Augenblick, wo zuviel Mißtrauen gesät war. Durch die Inflation hatte sich der Staat, aber auch manch armer Bauer, von seinen Schulden befreit. Die Entlastung der Staatsfinanzen ermöglichte den Schritt hin zu einem ausgeglichenen Haushalt in den ersten Jahren der eigentlichen Herrschaft Ludwigs XV. Einige der Reichen hatten erhebliche Verluste erlitten, manche Arme waren noch ärmer geworden, doch hatte dies wenig Auswirkung auf den Gesamtwohlstand oder die Wirtschaft. Die Régence wird durch eine gewisse Entfesselung der Geister und Sitten geprägt, so als sei mit dem Tod Ludwigs XIV. eine Last vom Land abgefallen. Paris verdrängte als kulturelles Zentrum wieder Versailles vom ersten Platz, und das sollte fortan so bleiben.
Die Zeit Ludwigs XV. und der Weg zu Maupeous Staatsstreich Ludwig XV. übernahm 1723 nach dem Tod des Regenten die Regierungsgeschäfte. Von 1726 bis 1743 überließ er dabei das Halfter wieder einem Kardinalpremierminister, nämlich Fleury (1653 bis 1743), dessen Regierungszeit dem Land vielfache Stabilität erbrachte, vor allem auch Frieden nach außen. Nach seinem Tod versuchte sich Ludwig XV. gleichfalls im Geschäft der Alleinregierung. Im Urteil der Historiker wird diese Epoche eher negativ bewertet. Hervorgehoben wird die Mätressenwirtschaft des Königs nach einer bis dahin zumindest nach außen hin guten Ehe mit der polnischen Königstochter Maria Leszinska, die dem Paar eine zahlreiche Nachkommenschaft (von 1727 bis 1737 jährlich ein Kind) beschert hatte; vor allem habe er es zugelassen, daß Mme Pompadour (Hauptmätresse 1745 bis 1764) großen Einfluß auf politische und Personalentscheidungen er-
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langt habe. Die Zeit ist von Faktionskämpfen am Hof durchzogen, bei denen sich die Waagschale mal zur einen, mal zur anderen Seite neigte, außerdem wurde Frankreich wieder laufend in Kriege verwickelt. Es mag sein, daß es in Frankreich keinen gesellschaftlichen Grundkonsens mehr gab, dessen äußeres Symptom der Zickzackkurs des Königs war. Der Siebenjährige Krieg 1756 bis 1763, der gelegentlich als der erste Weltkrieg bezeichnet wird, weil er im Grunde in den Kolonien entschieden wurde, bedeutete für Frankreich ein Desaster. Viel, sehr viel Kolonialbesitz ging verloren, die Staatsschulden waren wieder in schwindelerregende Höhen geklettert (1,7 Mrd. Pfund bei weniger als 200 Mill. Pfund jährlicher Einnahmen); alle Versuche, Adel und Klerus umfangreicher als bisher an den regelmäßigen Steuern zu beteiligen, waren gescheitert. Daß diese beiden Stände grundsätzlich von Steuern ausgenommen gewesen seien, traf nicht ganz zu; denn neben Dixième und Vingtième (Einkommensteuern) zahlte etwa der Klerus als Stand den sog. Don gratuit, eine regelmäßig zwischen König und Klerus verhandelte Summe, die „freiwillige Gabe“ hieß, aber im Wesen nichts anderes als eine Steuer auf den Stand des Klerus war. Das Argument des Adels, daß er mit seinem Privatvermögen öffentliche Aufgaben finanzierte, war nicht falsch, wenn man an die Kosten denkt, die Offiziersstellen im Militär verursachten und die nicht vom Staat übernommen wurden. Es existierten weiterhin soziale Pflichten, Verpflichtungen zur Gewährleistung des Gemeinwohls, die aber nur teilweise erfüllt wurden und die vielfach nicht mehr zum Selbstverständnis des Adels gehörten. Trotz allem war Frankreich auf dem Weg zu wirtschaftlicher und demographischer Prosperität, das Land galt als reich, der Staat als arm. Noch immer findet sich in Überblicksdarstellungen zur französischen Geschichte im 18. Jh. die Überlegung, daß ein beherztes Reformkönigtum die Abschaffung der Monarchie durch die Revolution hätte verhindern können. Dies ist nicht schlüssig, denn der gemäßigten Revolution von 1789 ging es nicht um die Abschaffung der Monarchie, sondern um eine konstitutionelle Monarchie. Dies allerdings machte Ludwig XVI. nicht wirklich mit, so daß der Weg zur Republik geebnet wurde. Das war nach 1789. Daß die Monarchie hätte erhalten bleiben können, wird oft daraus geschlossen, daß in den Nachbarländern erfolgreiche Monarchen wie Friedrich II. und Joseph II. oder Karl Friedrich von Baden schonungslos von oben reformierten. Aber über die Ergebnisse dieser Reformen kann man geteilter Meinung sein. Joseph mußte in vielen Dingen den Rückzug antreten: hat er
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unterm Strich mehr durchgesetzt als Ludwig XVI.? Die Ausgangsverhältnisse waren in Brandenburg-Preußen ziemlich anders als in Frankreich. Dort gab es keine Öffentlichkeit von französischen Qualitäten. Gerade die Gegner des Königs wie die Parlamente verstanden es virtuos, einen gewichtigen Teil der Öffentlichkeit quer durch alle Schichten für sich zu mobilisieren, weil sie mit den tiefsitzenden Ängsten des Volks gut vertraut waren. Die Medienmacht des französischen 18. Jh. wirkte nicht systemstabilisierend, weil sie noch keinen festen Platz gefunden hatte. Das unterscheidet sie wiederum von der englischen Öffentlichkeit der Medien, die im 18. Jh. zum konstitutionellen monarchischen System substantiell dazu gehörte. Mit anderen Worten: die Frage, ob Ludwig XV. und XVI, wären sie jeweils ein ins 18. Jh. verpflanzter Ludwig XIV. gewesen, das Blatt hätten wenden können, stellt sich so gar nicht; diese Sicht ist noch zu sehr die Sicht einer Geschichtsschreibung, die Geschichte von den großen Männern und gelegentlich den großen Frauen wie Katharina II. von Rußland her denkt. Dale Van Kley sah im Attentat von Damiens 1757 auf den König die Wende, die das Land auf den Weg in die Revolution brachte. In der Tat häuften sich seit den 1750er Jahren Stimmen, die meinten, Frankreich stehe eine Revolution bevor. Aber wie soll man solche Stimmen werten, wenn es dann anschließend noch 40 Jahre bis zur wirklichen Revolution dauerte? Waren das begnadete Propheten? Wahrscheinlich hatten sie ein feines Gespür dafür, daß die Mischung aus Feudalismus und Ständewesen in eine Systemkrise geriet, und Systemkrisen können bekanntlich recht lange dauern. Am Abend des 5. Januar 1757 gegen 18.00 Uhr attackierte ein Mann namens Robert-François Damiens den König mit einem Messer in die rechte Seite zwischen die vierte und fünfte Rippe. Es handelte sich um ein Messer aus Namur, d. h. es hatte zwei Klingen. Die eine war ein Stilett von 8,10 cm Länge, mit der Damiens zugestochen hatte. Ludwig hielt sich tapfer und schritt würdevoll und aufrecht die Treppe, die er gerade hinabgeschritten war, wieder hinauf in sein Zimmer. Dort verlor er viel Blut und verlangte schließlich nach einem Chirurgen und nach einem Priester. Wegen der Kälte war Ludwig dick eingepackt gewesen. Das Stilett hatte folglich keine inneren Organe verletzt, es war auch nicht mit Gift bestäubt gewesen. Kurzum, der König hatte Glück gehabt und die Wunde heilte schnell. Ludwig war vielmehr in seiner Seele verletzt; dies gab er unumwunden zu. Damiens selber stellte in den Verhören eine Verbindung
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zur Opposition der Parlamente her, denen er gewissermaßen zu ihrem Recht gegenüber der Krone verhelfen wollte. Das half ihm wenig, er wurde von der Großen Kammer des Parlaments von Paris zum Tode verurteilt. Zuerst erlitt er die Folter, dann wurde er von vier Pferden auseinandergerissen, schließlich wurde er auf den Scheiterhaufen geworfen, wo er starb. Die ganze Geschichte nimmt sich wie eine Parabel auf den Zustand Frankreichs um 1760 aus. Zahllose Staatsaffären, in denen die Parlamente die entscheidende Rolle spielten, reihten sich nun aneinander. Es war wiederum Ironie der Geschichte, daß ein Mann der Parlamente den kühnsten Versuch zu deren Abschaffung wagen sollte. Im Dezember 1770 übernahm das in der Öffentlichkeit als „Triumvirat“ bezeichnete Team bestehend aus dem Kanzler Maupeau, dem Contrôleur Général Terray und dem Außenminister Herzog von Aiguillon die politische Führung, gedeckt von Mme du Barry. Maupeou war vorher Erster Präsident des Parlaments von Paris gewesen, er wußte also genau, mit wem er es zu tun hatte; Terray war Rat am selben Parlament gewesen; gegen den Herzog von Aiguillon wurde seit mehreren Jahren ebenda ein gnadenloser politischer Prozeß geführt. Dieser Prozeß führte am 7. Dezember 1770 zu einem Lit de justice, in der weiteren Folge zur Exilierung von 130 unbotmäßigen Parlamentsräten. Maupeou ergriff die Gelegenheit und reformierte das Gerichtswesen. Das alte Pariser Parlament wurde aufgelöst. Das neue Parlament verfügte über die verfassungsrechtlichen und -prüfenden Funktionen, aber es entbehrte jeder politischen Macht, bestand nur noch aus 75 Räten, deren Ämter nicht mehr käuflich waren, sondern die vom Staat entlohnt wurden. Das Ressort des alten Parlaments wurde auf fünf Bezirksgerichte aufgeteilt. Maupeou hätte gerne diese Reform auf das ganze Königreich ausgedehnt, da fehlte ihm aber die Deckung durch den König. Es blieb bei der Exilierung zahlreicher Richter im ganzen Land. Diese einschneidenden Maßnahmen traten eine publizistische Lawine sondergleichen los. Maupeou wurde des Staatsstreichs und des Verfassungsbruchs bezichtigt, was in gewissem Sinne auch stimmte. Die Parlamente werden in der Forschung oft sehr negativ bewertet, als Hüter verknöcherter Traditionen, was aber der geradezu emotionalen Verbindung von parlement und peuple nicht gerecht wird. Das negative Urteil über die Parlamente wäre leichter zu begründen, wenn es zu ihnen eine realistische Alternative gegeben hätte. Es dürfte Konsens bestehen, daß es angesichts der verarmten politischen Minimalphilosophie, derer sich Ludwig XV. und Ludwig XVI.
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bedienten, gegenüber der Monarchie einer ausgleichenden politischen Macht oder, vielleicht angemessener, Partei bedurfte. Als Ludwig XVI. 1774 die Regierung übernahm, machte er in der Hoffnung, die aufgebrochenen Gräben der Opposition wieder zudecken zu können, die Reform Maupeous rückgängig und setzte die Parlamente wieder in ihren alten Stand ein.
Das physiokratische Zwischenspiel: Turgot Dem stand ein mutiger Schritt Ludwigs gegenüber, die Berufung Turgots (1727 bis 1781) zum Generalkontrolleur. Turgot gehörte zu den Physiokraten, als Intendant von Limoges hatte er vorbildliche Arbeit geleistet, außerdem zählte er zu den Philosophen der Aufklärung. Neben Artikeln in der Encyclopédie hatte er sich 1750 mit dem Problem des „Fortschritts des menschlichen Geistes“ befaßt, 1760 hatte er eine Schrift über „Entstehung und Verteilung des Reichtums“ veröffentlicht. Die Physiokratie war eine Gegenströmung zum Merkantilismus. Grundsatz war die Auffassung, daß sich aller Reichtum vom Bodenertrag herleite. Der Vordenker der Physiokratie in Frankreich war François Quesnay (1694 bis 1774; Tableau économique, 1758), selber Großgrundbesitzer und Arzt. Mit dem physiokratischen Denken hielt auch die moderne Wirtschaftsstatistik Einzug in die Wirtschafts- und Steuerplanung. Die Physiokraten gelangten folgerichtig zu einer neuen Aufteilung der Gesellschaft, und zwar in drei Klassen: Produzierende Klasse (Landwirte, Fischer, Bergleute); Klasse der Besitzer (Besitzer von Land); sterile Klasse (die nicht selbst Primärgüter produziert, sondern diese verarbeitet und verteilt; Industriearbeiter, Kaufleute, Freiberufler, Dienerschaft). Dieses Modell lenkte die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie der landwirtschaftliche Ertrag nachhaltig zu steigern sei, da ja von da aller Reichtum herrühre. Anbaumethoden, Düngemethoden, Futtermittel u. a. wurden unter die Lupe genommen. Zentrale Wertbegriffe waren Eigentum, Freiheit und Sicherheit, drei Begriffe, die sich in der vorrevolutionären Publizistik dann immer wieder fanden. Für die Physiokraten war die neue Ordnung problemlos in einer Monarchie als Verfassungsrahmen unterzubringen. Turgot mußte zunächst die Rolle des sparenden Finanzministers übernehmen. Statt einer radikalen Veränderung des Steuersystems, die allzuviel Widerstand von seiten derer, die vom System profitierten, hervorgerufen hätte, machte er eine Vielzahl kleiner Schritte. Einer war, wenigstens einen Teil der Steuererhebung der Zuständig-
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keit der Steuerpächter zu entziehen und in die Hände von Staatsbeamten zu legen. Ein anderer war die Reduzierung der Luxusausgaben. 1775 bereits wies das Budget einen kleinen Überschuß aus. Im September 1774 führte Turgot den freien Getreidehandel ein. Einer seiner Vorgänger namens Bertin hatte dies in den 1760ern schon einmal versucht und war damit gescheitert. Turgot sollte es nicht anders ergehen. Der Zusammenhang zwischen Brotteuerung und Hunger hatte sich auch im 18. Jh. kaum verändert. Der Getreidefreihandel gehörte zu den Grundsätzen physiokratischen Denkens. Hunger war nicht so sehr Folge eines objektiven Getreidemangels, sondern Folge einer defizitären Versorgungstechnik. Der freie Handel sollte zu einer besseren Grundversorgung aller Provinzen führen. Gewohnt waren die Franzosen jedoch einen reglementierten Getreidemarkt mit einer Reglementierung des Brotpreises. Nach einer schlechten Ernte kam es im April-Mai 1776 zu erhöhten Getreidepreisen als Folge von Spekulationen. In Paris erhob sich das Volk und stürmte die Getreidelager, es kam zur sog. „guerre des farines“. Turgot versuchte weitere tiefgreifende Reformschritte: Umwandlung der corvée royale in eine Geldabgabe, die zur Finanzierung des Straßenbaus von allen gezahlt werden sollte; Aufhebung des Zunftzwanges; Gewerbefreiheit. Hiervon erhoffte sich Turgot Preissenkungen. Dazu gehörte die Formulierung eines „Rechts auf Arbeit“. Turgot zielte auf eine Gesellschaft nach dem Prinzip der Gleichheit. Dementsprechend setzte er sich für die Gleichberechtigung der Protestanten ein, für eine Reform des Strafrechts (Abschaffung der Folter), für eine staatliche Fürsorge u. a. Sein Sekretär Dupont de Nemours arbeitete an dem Entwurf einer Art parlamentarischen Systems von den Gemeindeversammlungen bis hin zu einer Nationalversammlung. Ein weiterer Weggefährte namens Boncerf verfaßte eine revolutionäre Schrift über die „Nachteile der Feudalrechte“ (1776). Unschwer ist zu erkennen, daß Turgot ein radikalreformerisches, wenn nicht revolutionäres Potential zu entfalten begann, das vieles von dem vorwegnimmt, was in der Revolution dann erkämpft wurde. Wen wundert’s, daß dem König die Sache zu heiß wurde und er am 12. Mai 1776 Turgot fallen ließ?
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5.6 Gesellschaft, Demographie, Wirtschaft und Geschlechterbeziehungen im 17. und 18. Jahrhundert Thérèse philosophe: Demographisches Das 17. Jh., das klimageschichtlich als Kleine Eiszeit bezeichnet wird, brachte Frankreich fünf große Hunger- und Seuchenkrisen: 1630–31; 1640–52; 1661–62; 1693–94; 1709–10. Der Widerruf des Edikts von Nantes 1685 trieb 200.000–300.000 Hugenotten ins Exil. Der Hunger raffte Erwachsene dahin, die Kindersterblichkeit lag bei bis zu 50% der Neugeborenen, die schlechte Ernährung führte bei den Überlebenden zu Dauerschäden, bei Frauen zu hormonellen Störungen, die sich auf den Menstruationszyklus auswirkten. Die Lebenserwartung mag im Schnitt bei 30 Jahren gelegen haben. Es war nicht unbedingt der reine Mangel an Lebensmitteln, der den Hunger verursachte, sondern deren Verteuerung, die vor allem die Ware Brot oftmals unerschwinglich machte. Der Tod war mithin allgegenwärtig und ohne das feste Wertesystem des christlichen Glaubens, um dessen Durchsetzung sich zahllose weibliche und männliche Kongregationen bemühten, wäre der Weg in eine anarchische Gesellschaft vielleicht schnell betreten worden. Wenn es dennoch insgesamt zu einer stabilen Entwicklung in Frankreich kam, dann aus folgenden Gründen: Es läßt sich beobachten, daß hohe Geburtenüberschüsse in einer Region durch Sterbeüberschüsse in einer anderen wieder ausgeglichen wurden. Die Krisen waren oft lokal oder regional verteilt, umfaßten aber kaum zum selben Zeitpunkt das ganze Land. Gerade im Südwesten hatte sich schon in der ersten Hälfte des 17. Jh. der Mais als Grundnahrungsmittel durchgesetzt, so daß die Abhängigkeit von Weizen reduziert werden konnte. Mais wurde allmählich als Tierfutter eingesetzt. In der Bretagne wurden erstaunliche Erfolge mit dem Anbau von Buchweizen erzielt, so daß die Bretagne zum Getreideexporteur aufstieg. Im Osten Frankreichs trat in der zweiten Jahrhunderthälfte die Kartoffel einen wahren Siegeszug an. Seit 1750 (bis 1850) führten Krisen nicht mehr zu globalen und dauerhaften Einschnitten. Von gut 20 Millionen wuchs die Bevölkerung auf 35,8 im Jahr 1851. Dazwischen lagen die Kriege der Revolutionszeit mit vermutlich 1,6 Mill. kriegsbedingten Toten (1792 bis 1815) und die Cholera-Epidemie von 1834. Allerdings betrug das Bevölkerungswachstum in Frankreich zwischen 1800 und 1850 nur 30%, während der europäische Durchschnitt bei 50% lag, und die englische Bevölkerung sich schlicht verdoppelte.
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Unter den langfristigen Faktoren für die Stabilisierung und dann das Wachstum der Bevölkerung hebt Fernand Braudel die nachhaltige Verbesserung der Ernährungsgrundlagen hervor. Das Verhältnis von Aussaat zu Ernte bei Getreide betrug vor 1200 1:3, zwischen 1300 und 1500 1:4,3, zwischen 1500 und 1820 dann 1:6,3. Dazu kamen vorbeugende Maßnahmen im Zusammenhang mit Seuchen. Seit 1720 war die Pest aus Frankreich verbannt, vor allem im 19. Jh. machten sich dann Medizin und Hygiene fördernd bemerkbar. Insgesamt verläuft die französische Bevölkerungskurve im Zeitraum 1750 bis 1850 anders als in anderen europäischen Ländern. Um 1800 war Frankreich das bevölkerungsreichste europäische Land (ohne Rußland), wurde aber dann schnell von anderen überrundet, da schon in der zweiten Hälfte des 18. Jh. die Geburtenkontrolle durch kontrazeptive Maßnahmen einsetzte, die zeitgenössischen Beobachtungen zufolge kein Privileg der Oberschichten waren. Weit verbreitet war die Technik des coitus interruptus. Robert Darnton sieht in dem pornographischen Roman „Thérèse philosophe“ einen der Schlüssel für die Verbreitung der Praxis des coitus interruptus. Der Roman gehörte zu den Bestsellern des 18. Jh., seine praktischen Darlegungen fanden über die mündliche Tradierung auch den Weg zur semiliteraten Bevölkerung. Mediziner, Philosophen und Pädagogen führten einen Feldzug gegen die Onanie, wobei nicht ganz klar ist, ob sie den coitus interruptus mit darunter begriffen, wenn sie davon sprachen, daß ,das Verbrechen des infamen Onan zwischen Eheleuten weitverbreitet’ sei. Jedenfalls berichtet die biblische Geschichte des Onan (1 Mose, 38, 9) von der Praxis des coitus interruptus und nicht der der Onanie (Masturbation). Familienplanung durch kontrazeptive Maßnahmen betraf vor 1740 vielleicht 10% der Paare, bei Beginn der Französischen Revolution vielleicht 20–25%; die Revolutionsepoche förderte diese Praxis nachdrücklich, in der ersten Hälfte des 19. Jh. wendeten über 50% der Paare verschiedene Verhütungsmethoden an. Das Entscheidende ist der Einstellungswandel in der französischen Bevölkerung, die dem Kinderreichtum als sozialem Wert und Ziel schon im Lauf des 18. Jh. zu entsagen beginnt. Die Frage, warum das in Frankreich so war, ist schwer zu beantworten. Es fällt auf, daß bereits im 16. Jh. ein Bewußtsein existiert, Frankreich sei übervölkert. Dies mag einen allmählichen Mentalitätswandel befördert haben, aber wirklich nachgewiesen ist dies nicht.
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Frauen und Männer Die sexuellen Praktiken scheinen einen gleichen Werthorizont bei Frauen und Männern anzudeuten. Die Rechtsstellung der Frauen jedoch war in vieler Hinsicht schlechter als die der Männer. Politische Rechte in den Gemeinden standen den Frauen nur als Witwen zu. Bei vielen Rechtsgeschäften wurden den Frauen männliche Kuratoren zur Seite gestellt, zur Durchführung von Prozessen bedurften sie der Zustimmung ihres Ehemannes, Kurators oder eines Richters. D. h. nicht, daß diese Zustimmung willkürlich erfolgen oder verweigert werden konnte, es gab eine Art Recht auf diese Zustimmung. Im Zweifelsfall konnte die Zustimmung von Gerichts wegen gegeben werden. Ein Scheidungsrecht war nicht völlig inexistent. Sehen wir vom Kirchenrecht ab, das in der Praxis für die einfachen Leute vor allem dann in Betracht kam, wenn der Mann impotent war und die Ehe nicht vollziehen konnte, dann gab es die Möglichkeit der Trennung von Tisch und Bett per Gericht, wenn die Ehe dem Gericht unwiderruflich zerrüttet erschien. Es war aber keine zivilrechtliche Scheidung. Juristisch standen die Frauen in der Gewalt des Ehemannes. Diese war nicht willkürlich als Gewaltherrschaft zu verstehen, sondern orientierte sich wie beim König an der Wertvorstellung des Hausvaters, dem die Verwaltung und Mehrung des gemeinsamen Besitzes treuhänderisch anvertraut war. Darauf bestand ein Rechtsanspruch der Ehefrauen, der gerichtsfähig war. An Dokumenten von Prozessen zwischen Eheleuten mangelt es nicht in den Gerichtsarchiven. Dem Ancien Régime wird gelegentlich unterstellt, daß die Ehe eine Institution der Vernunft, nicht aber der Liebe gewesen sei. Aber ebensowenig wie Liebe ein Garant der Gleichheit der Geschlechter ist, ist die Vernunftehe ein Symbol der Ungleichheit. Sicher, vor allem da, wo es um ansehnliche Vermögen, ansehnlich in Relation zum gesellschaftlichen Stand, ging, waren die jungen Leute relativ unfrei in ihrer Partnerwahl. Andererseits spielte sich ihr Leben aber auch überwiegend unter ihresgleichen ab, d. h. schon die allgemeinen Sozialisationsmechanismen sorgten dafür, daß der Widerspruch zwischen Vernunft und Liebe klein gehalten werden konnte. Die eheliche Gemeinschaft war eine Frage der Überlebensstrategie, insoweit darf man auch davon ausgehen, daß viele Menschen im 17. und 18. Jh. „Liebe“ anders definierten, als wir es heute tun. Spätestens seit dem 15. Jh. bewegte sich die Diskussion zum Verhältnis der Geschlechter in Frankreich um die Kernfrage nach der
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sozialen Gleichheit und Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Einen ersten Höhepunkt stellte der Streit um Christine de Pizans (ca. 1365 bis ca. 1430) Schriften, insbesondere die „Stadt der Frauen“ (1404/05), dar. Christine de Pisan wehrte sich gegen die frauenfeindlichen Schriften der Zeit, die von Männern verfaßt wurden. Hauptargument war zunächst, daß die weibliche Ehre vor verbalen Verunglimpfungen und Obszönitäten geschützt werden müsse. Anknüpfend an verschiedene Vorbilder (wie Boccacios De claris mulieribus – ca. 1361 bis 1375 redigiert) zeichnete sie an Hand berühmter Frauengestalten eine Geschichte der Frauen auf, die „die Entwicklung einer geschlechtsspezifischen historischen Identität ermöglicht.“ (Margarete Zimmermann) In der weiteren Diskussion, der sog. Querelle des Femmes, die besonders in Italien und Frankreich geführt wurde, schälte sich die Ehe als idealisierte Lebensform für die Frau heraus. Dies war eine Antwort auf misogame (ehefeindliche) Schriften, erschwerte aber auch, andere Frauenrollen in der Gesellschaft als die der Ehefrau und Mutter zu akzeptieren, etwa die der weiblichen Gelehrten, der Schriftstellerin oder Künstlerin im Hauptberuf. Ein männlicher Feminist wie Martin Le Franc (ca. 1395 bis 1461) allerdings, der zwischen 1440 bis 1442 eine umfangreiche Verteidigungsschrift für Frauen vorlegte, beklagte die Ausgrenzung von Frauen aus dem öffentlichen politischen Leben. Im frühen 17. Jh. erreichte die Geschlechterdebatte einen zweiten Höhepunkt. Marie de Gournay (1565 bis 1645) zählt zu den Müttern des französischen Feminismus. 1622 veröffentlichte sie einen Traktat über die „Gleichheit der Männer und der Frauen“, den sie einer „Starken Frau“, der Mutter Ludwigs XIV. (Anna von Österreich) widmete. Sie schrieb: „Wenn man es genau nimmt, ist das menschliche Wesen weder Mann noch Frau: das unterschiedliche Geschlecht ist nicht dazu da, einen Unterschied in der Art herauszubilden, sondern es dient lediglich der Fortpflanzung. Das einzige wesenhafte Merkmal besteht in der vernunftbegabten Seele.“ Im Chevalier Poullain de la Barre und seiner Schrift über die „Gleichheit der Geschlechter“ von 1673 fand Marie de Gournay einen gleichgesinnten Nachfolger. Z. T. sah diese Gleichheit nach Angleichung aus, nach Vermännlichung der Frau, die Übernahme männlicher Eigenschaften durch die Frau, nicht nach einer eigenen weiblichen, gleichberechtigten Identität. Im 17. Jh. sehr beliebt war die Darstellung adliger Frauen als Amazonen. Traktate aus dem Kontext der Geschlechterdebatte wurden mit Gravuren zur Geschichte der Judith auf dem Titelblatt ge-
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schmückt, in der französischen Literatur eroberte sich Jeanne d’Arc die Rolle einer weiblichen Identifikationsfigur. Verkürzt ausgedrückt läßt sich von einer Herrschaft des Amazonenmodells insbesondere im französischen 17. Jh. sprechen. Frauen partizipierten am Mythos der Größe, den das 17. Jh. verbreitete. Kaum ein Jahrhundert war so konfliktreich und kriegerisch wie das siebzehnte; der Bedarf an strahlenden Helden war groß und erfaßte auch die Frauen, Frauen mit einem männlichen Geist in einem weiblichen Körper. Im Verständnis der Moralphilosophie handelte es sich bei diesen Frauen insbesondere um tugendhafte, moralisch willensfeste Frauen, die ihre Unschuld als höchstes Gut weiblicher Ehre erfolgreich verteidigten. So muß es nicht wundern, wenn die Amazone zur ,christlichen Amazone’ wurde, in der sich das Bild der Madonna abzeichnete. Die Starke Frau wurde nicht nur zum Leitbild des Adels, sondern auch des Bürgertums. „Ihre Funktionen werden in diesem Falle auf die utilitaristische Ökonomie des Eheund Hausstands bezogen, d. h. Stärke bemißt sich hier nach ihrem Wert als Arbeitskraft.“ Die bürgerliche femme forte ist einem Ehebuch von 1643 zufolge arbeitsam, klug und fleißig. „Mit dem Ende der absolutistischen Ära unter Louis XIV verblaßt die Idee von Größe und Heldentum und damit auch die Vision von der femme forte. (. . .) Das aufsteigende Bürgertum braucht einen neuen Frauentypus, und so entsteht bei den Kulturträgern der Aufklärung das weibliche Ideal der bürgerlichen Hauswirtschaft: das Bild der natürlichen, empfindsamen, keuschen und züchtigen Frau (. . .) – ein Komplementärmodell zum denkenden, urteilenden, handelnden und schöpfenden Bürger. (. . .)“ (Renate Kroll) In der Aufklärung setzte sich das bürgerliche Ideal des Verhältnisses von Mann und Frau durch. Sie führte die im 17. Jh. einsetzende Vermännlichung des öffentlichen sozio-politischen Raumes zum Abschluß; gerade die Französische Revolution erwies sich, trotz Olympe de Gouges, ganz in der Diktion Tocquevilles, auch für die Theorie der Geschlechterbeziehungen und der Trennung von Mann und Frau im öffentlichen sozio-politischen Raum als Vollenderin des ancien régime.
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Die Französische Revolution: Kulturelle Ursprünge und Kulturelle Revolution
„Himmel! Wieviel Blut und Tränen kostet den Franzosen die Freiheit!!“ – Einleitung Von den französischen Zeitgenossen ist die Revolution von 1789 als Revolution und als ein epochaler Einschnitt empfunden worden. Bei vielen machte sich das Bewußtsein breit, eine Stunde Null zu erleben. Bewußtseinshaltungen und Bewußtseinszustände sind genauso ein historisches Faktum wie feste Daten und Jahreszahlen, Ereignisse und statistisch meßbare Entwicklungen. Das enthebt uns nicht der Frage nach dem eigentlich Revolutionären an der Revolution. Ausgiebig, gerade auch in Deutschland, wurde in der Geschichtsschreibung über den Anteil von Bruch und Kontinuität an der Revolution diskutiert, was nicht zuletzt die Thesen von Tocqueville aufnimmt. Ebenso ausgiebig wurde nach den Ursachen der Revolution geforscht, z. T. geriet dabei die ganze Frühe Neuzeit zu einer Art Vorgeschichte der Revolution. Richtig ist sicherlich, daß alle als Umwälzung empfundenen Epochen auch längerfristige Ursachen haben, aber die sich kurzfristig entwickelnde Dynamik mit einschneidenden Folgen darf nicht unterschätzt werden. Nach der Entlassung Turgots und der Wiedereinsetzung der Parlamente beschleunigte sich der Lauf der Ereignisse, ab 1787 überstürzte er sich und wurde zur unaufhaltsamen Lawine. Dennoch war 1789 noch längst nicht alles entschieden: 1789 war der Weg in die Republik noch nicht eindeutig beschritten, auch die Terreur läßt sich nicht aus 1789 nachträglich vorhersagen, obwohl es schon 1789 einzelne Plädoyers zugunsten von – nicht der – Terreur gab. Heute ist klar, daß in der als Revolution bezeichneten Epoche viel Ungleichzeitiges gleichzeitig nebeneinander Bestand hatte und nicht alles „Revolution“ war. Schaut man in Protokolle, die dörfliche Gemeinden über ihre Gemeindeversammlungen führten, so erscheint 1789 häufig überhaupt nicht als Einschnitt, die Dorfangelegenheiten nahmen ihren Lauf, als sei nichts wirklich Weltbewegendes geschehen. In vieler Hinsicht gab es biographische Kontinuitäten: Von denen, die im Ancien Régime bereits politische Funktionen ausübten, taten es viele auch 1789, 1790 und später noch. Und so ließen sich viele Aspekte dieser Art anführen. Dem steht gegenüber, daß sich Ereignisse in ungewohnt schneller Folge, ja überstürzt abwickelten. Es gab individuelle biographische Brüche, verbunden etwa mit den
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Brüchen auf der Ebene der politischen und jurisdiktionellen Institutionen. Daß sich der Dritte Stand am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung und damit zum Gesamtrepräsentanten des französischen Volks erhob, war ein eminent politischer Akt, mit dem zugleich ein Schlußstrich unter die ständische Ordnung gezogen wurde. Nun stehen Historiker in der Regel auf einem Berg und schauen zurück ins Tal der Geschichte, und da stellen sie dann fest, daß zwar die Dreiständegesellschaft 1789 abgewickelt wurde, aber, wie es Roland Mousnier formulierte, neue, nämlich philosophische Stände etabliert wurden. Im August 1789 wurde der Adel abgeschafft, Napoleon I. führte ihn wieder ein. Überhaupt feierte das Ständeprinzip mittels eines rigorosen Zensuswahlrechts noch während der Revolution und im 19. Jh. fröhliche Urständ. Eine soziale Revolution dauerhaften Ausmaßes nahm am 17. Juni 1789 nicht ihren Anfang, während die Monarchie vom Typ des Ancien Régime trotz der sog. Restauration im 19. Jh. nicht wieder hergestellt wurde. Die Jahre von 1789 bis 1814 bedeuten vor allem ein Maximum an kultureller (kulturell in umfassendem Wortsinn) Imagination, die weitgehend, aber in sehr unterschiedlicher Wirkungsweise, die Praxis des gesamten 19. Jh. mitbestimmte. Die bis in die 1970er Jahre währende Auseinandersetzung zwischen marxistischer und ,bürgerlicher’ Interpretation der Revolution soll nicht mehr aufgegriffen werden. Sie bietet ebensowenig hinreichende Erklärungen wie die wirtschafts- und sozialhistorische Erklärung der ,Ausbruchphase’ oder die politische Ereignisgeschichte, die in vulgär- und pseudohistorischen Werken gepflegt wird. Die Französische Revolution soll im Zeichen eines jüngeren Ansatzes, der kulturgeschichtlichen Interpretation, vorgestellt werden. Rolf Reichardt hat hierzu 1998 eine Synthese unter dem Titel „Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur“ vorgelegt (Reichardt 1998). Demokratische Kultur als entscheidendes Charakteristikum der Französischen Revolution herauszuarbeiten, wird bei vielen, die ein anderes Bild der Revolution pflegen, auf Widerspruch stoßen. Die einen reduzieren die Revolution auf die Revolution von 1789, die, so wird es gelernt, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gebar. Die anderen reduzieren sie auf die Schreckensherrschaft und die Kriege. Freiheit heißt die eine Revolution – Blut die andere. Für die einen muß den Menschenrechten der Schein der unbefleckten Empfängnis bewahrt bleiben, die sich mit der „guten Revolution“ von 1789 vereinbaren läßt, für die anderen
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nährt das Blut der Revolution die These, daß die Französische Revolution weniger die Mutter der neuzeitlichen Revolutionen denn die Mutter der neuzeitlichen Diktaturen sei. Wenn Reichardt seine Geschichte der Revolution als „Blut der Freiheit“ betitelt, geht es ihm um die Anerkennung einer zentralen Aporie, das heißt eines unauflöslichen Widerspruchs, der nicht nur die Französische Revolution, sondern die Entstehung der neuzeitlichen demokratischen Kultur betrifft. Ein aus der Bretagne stammender Nationalgardist schrieb sich am 11. August 1792 seinen Schmerz von der Seele: „Wir sind starr vor Erschöpfung – weniger deswegen, weil wir zwei Nächte unter Waffen verbracht haben, als wegen der Seelenschmerzen. [. . .] Himmel! Wieviel Blut und Tränen kostet den Franzosen die Freiheit!!“ Die großen Redner wie Robespierre oder Danton formulierten diesen unauflöslichen Widerspruch der Revolution, die Aporie des Bluts der Freiheit, auch nicht besser als der einfache Nationalgardist. Die Revolution bedeutete vor allem eine Revolution der politischen Kultur, die sich weder mit Rousseau und Voltaire hinsichtlich ihrer Ursprünge, noch mit Robespierre und Danton hinsichtlich ihres Verlaufs genügend erklären läßt. Die Revolution der politischen Kultur wurde auch von Bauern auf dem Land, von den kleinen Leuten in den Städten vorangetrieben und zuweilen vor den Ereignissen in Paris selbst vollzogen.
6.1 Die Einberufung der Generalstände: Basisdemokratisches Experiment? Vorrevolution (1787–1789) Seit 1614 waren keine Generalstände mehr einberufen worden. Als sich in den 1780er Jahren die Finanzkrise der Monarchie u. a. wegen der Beteiligung am amerikanischen Unabhängigkeitskampf gegen England zuspitzte, wurde der Ruf nach Generalständen lauter. Zunächst versuchten es Ludwig XVI. und der Contrôleur Général Charles Alexandre de Calonne (1734 bis 1802) mit einer Notabelnversammlung, die am 22. Februar 1787 in Versailles zusammentrat. Sie hatte 144 Mitglieder, im wesentlichen Prinzen, hohe Geistliche, Vertreter des Schwertadels, Parlamentsmagistrate, Vertreter von Provinzen mit Ständeversammlungen, Bürgermeister aus 25 Großstädten. Konkrete Beschlüsse wurden nicht gefaßt, aber bedeutsam war, daß ausgerechnet die Privilegierten des Landes sich darauf beriefen, daß nur die Generalstände die notwendigen Entscheidungen zur Beile-
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gung der Finanzkrise treffen könnten. Die Magistrate des Parlement von Paris machten sich diesen Ruf zu eigen. Das Parlement wurde daraufhin nach Troyes in die Verbannung geschickt, was nur zu einer weiteren Solidarisierung von Volk und Magistraten führte. Étienne Charles Loménie de Brienne (1724 bis 1794), der inzwischen an die Stelle Calonnes getreten war, versuchte sich wie seinerzeit Maupeou an einer Abschaffung der Parlements. Das Pariser Parlement verkündete daraufhin am 3. Mai 1788 die „Rechte der Nation“. Darin hieß es u. a.: „Frankreich ist eine Monarchie, die vom König unter Beachtung der Gesetze regiert wird. Mehrere dieser Gesetze umfassen und bestätigen grundsätzlich das Recht der Nation, aus freien Stücken Gelder durch das Organ der regelmäßig einberufenen Generalstände zu bewilligen. . ., das Recht, ohne das alle anderen unnütz sind, daß eine Festnahme, durch wessen Befehl auch immer, nur dann möglich ist, wenn der Betroffene unverzüglich in die Hände der zuständigen Richter übergeben wird.“ Dem folgte die Abschaffung des Parlement, was eine Flut antimonarchischer Publikationen in Gang setzte. Alle Versuche der königlichen Seite, die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, scheiterten. Der Klerus solidarisierte sich mit den Magistraten, in Grenoble kam es zu heftigen Volksaufständen. Berühmt geworden ist der „Tag der Ziegel“ in Grenoble, der 7. Juni 1788, an dem die Bürger von Grenoble die Soldaten, die den Aufstand brechen sollten, mit Dachziegeln bewarfen. Am 21. Juli ergriffen die Notabeln der Stadt Grenoble die Initiative und beriefen eine Ständeversammlung der Provinz nach Vizille ein, in der der Dritte Stand 276 Mitglieder gegenüber 50 Geistlichen und 165 Adligen stellte. Mit anderen Worten: die Autorität von König und ständischer Tradition waren gebrochen. In der weiteren Folge berief der König die Parlements zurück, und es wurde die Einberufung der Generalstände des Königreichs für den 1. Mai 1789 beschlossen. Dies löste eine heftige Diskussion über den Versammlungsmodus aus: Sollte man dem Beispiel des Dauphiné folgen oder den Modus von 1614 beibehalten? Die Parlements begingen in dieser Frage politischen Selbstmord, weil sie sich für den Modus von 1614 entschieden, der den beiden privilegierten Ständen die Mehrheit über den Dritten Stand sicherte. Der König entschied sich für eine Verdoppelung der Abgeordneten des Dritten Standes, ließ aber den Abstimmungsmodus in der Versammlung selbst offen. Im Wahlreglement vom 24. Januar 1789 wurde der Schutz der Meinungsfreiheit verkündet, was der politischen Diskussion zugute kam,
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aber ebensowenig wie das Toleranzedikt von 1787 zugunsten des Protestantismus das Image der Monarchie nachhaltig aufbesserte.
Wahl der Generalstände Der Klerus entsandte 291 Abgeordnete, der Adel ca. 270, der Dritte Stand knapp 600. Der Erste und Zweite Stand bildeten pro bailliage/ sénéchaussée eine Wählerversammlung und wählten dort den oder die Abgeordneten, beim Dritten Stand war das Wahlverfahren etwas komplizierter: Grundsätzlich waren alle Franzosen über 25 Jahre mit festem Wohnsitz und Eintragung in die Steuerliste (das schließt also auch Frauen mit entsprechendem Status ein) wahlberechtigt. Es wurden zunächst Deputierte gemeindeweise (auf dem Land) bzw. in den Städten zunftweise oder viertelsweise gewählt. Alle diese Abgeordneten bildeten dann eine Versammlung auf bailliage/sénéchausséeEbene und wählten wiederum pro Gerichtsbezirk zwei Abgeordnete, so daß prinzipiell pro Bezirk zwei Abgeordnete des Dritten Standes zwei Abgeordneten der beiden privilegierten Stände gegenüber standen. Begleitet wurden diese Wahlen von der Abfassung der cahiers de doléances, die im großen und ganzen für eine Reform der Monarchie nach konstitutionellem Muster, für Reformen in Justiz, Verwaltung und Steuerwesen sowie im ökonomischen System plädierten und bürgerliche Grundrechte einforderten. Global gesehen bedeuteten die Wahlen 1789 eine politische Partizipation in einem noch nie dagewesenem Ausmaß, verbunden mit intensiven politischen Diskussionen. Dazu kommt, daß vorgehende Reformen wie die Munizipalreform und die Einführung von Provinzialversammlungen 1787 in den pays d’élection das Experiment politischer Partizipation vorbereitet hatten. In diesen Jahren profilierten sich viele derer, die dann 1789 als Abgeordnete in die Generalstände gewählt wurden oder die auf regionaler bzw. lokaler Ebene zu Trägern der politischen Revolution, ihrer Ideologie und ihrer Institutionen avancierten. Hervorhebenswert dürfte sein, daß gerade auf dem Land eine recht hohe Partizipation erreicht wurde, während die Wahlbeteiligung in Paris enttäuschend verlief: Die Zahl der tatsächlich Wahlberechtigten ist nicht zu rekonstruieren, nach der Rechnung von 1789 hätten 30.000 Pariser wahlberechtigt sein müssen, von denen nur 11.716 an den Versammlungen der 60 Pariser Distrikte teilnahmen. Andererseits wissen wir, welche Rolle das Volk von Paris dann beim Sturm auf die Bastille spielte, wir wissen vom Zug der Pariser Marktweiber im Oktober 1789 nach Versailles, um den König
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nach Paris zu holen. Das Volk von Paris partizipierte auf seine Weise an der politischen Entwicklung. Wir wissen auch von den Aufständen im Sommer 1789 im Land im Zuge der Grande Peur und deren politischen Auswirkungen auf die Arbeit der Nationalversammlung, die sich im August 1789 unter dem Eindruck der Aufstände zur Abschaffung des Feudalwesens und zur Verabschiedung der Menschen- und Bürgerrechtserklärung vor Abschluß der Arbeiten an einer neuen Verfassung durchrang. Es wäre mithin falsch, nach einem Schlagwort zu suchen, das 1789 auf einen Nenner bringt. Es gab basisdemokratische Tendenzen; erprobt wurde das Repräsentativsystem; fortgeführt wurde das Ancien Régime der Aufstände. Recht spannend ist natürlich die Frage, wie die Generalstände bzw. die Nationalversammlung arbeiteten. Eine parlamentarische Versammlung diesen Ausmaßes, zudem ohne Tradition, hatte es bis dahin noch nirgendwo in Europa gegeben – vieles mußte erst neu erfunden, gefunden werden.
Abgeordnetenprofile Von den weit über Tausend Abgeordneten, die im Mai 1789 in Versailles (noch als États généraux) zusammenkamen, haben 129 der Nachwelt reichhaltiges Material (andere nur weniges) hinterlassen: gedruckte Memoiren, handschriftliche Tagebücher, Briefe und gedruckte politische Schriften, Pamphlete etc., Quellen, aus denen sich das Profil des Durchschnittsabgeordneten rekonstruieren läßt. Untersuchen lassen sich das soziale Herkommen der Deputierten der drei Stände, die politische Lehrzeit der künftigen Abgeordneten seit ca. 1770, die Struktur und ggf. Veränderung des politischen Denkens desselben Personenkreises bis 1789. Detailliert darlegbar ist das Verhältnis der Untersuchungsgruppe (129 Abgeordnete) zur Aufklärung. Die meisten sind unter die Pragmatiker einzuordnen, die in der Aufklärung vor allem praxisrelevante Problemlösungsstrategien suchten. Der Durchschnittsabgeordnete war auf Grund seiner Biographie vor 1789 Pragmatiker, durchschnittlich gebildet, nicht irreligiös aber antiklerikal und Deist, kein Rousseauist, gehörte beim Zusammentritt der États généraux der Mehrheitsgruppe in seinem Stand an: Für den Ersten Stand war dies der Pfarrklerus, für den Zweiten Stand der im Heer dienende Schwertadel, für den Dritten Stand die Juristen. Er war durchschnittlich 46 Jahre alt. (Tackett 1996) Neben einer Reihe praktischer Erfahrungen hatten die meisten Abgeordneten allerlei Ideen, Bilder und Metaphern im Kopf und die
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Bereitschaft, dafür mit dem Wort einzutreten. Im Gegensatz zu heutigen Parlamenten zeichnet sich die Nationalversammlung dadurch aus, daß die Entscheidungen in Rededebatten vor der Versammlung und dem zahlreichen Publikum erstritten wurden. Allerdings wurden ziemlich bald auch Ausschüsse eingerichtet, die Entscheidungen vorbereiten sollten. Berühmtheit hat das sog. 6e Bureau erlangt, dessen Vorschlag für eine Menschenrechtserklärung die etwas konfuse Debatte strukturieren half und damit entscheidend zu ihrem Erfolg beitrug. Es gab aber auch einen Verfassungsausschuß zur Vorbereitung einer neuen Verfassung, in dem sich Guy-Jean-Baptiste Target einen Namen machte. Eine Karikatur zeigte den mit der Verfassung schwangeren Target in der Nationalversammlung. Daneben pflegten viele Abgeordnete eine lebhafte Korrespondenz mit ihren ,Urwählern’. Das Problem des Zwiespaltes zwischen individuellem Gewissen und Wählermandat verspürten schon damals viele Deputierte. Ausgesprochene Parteien existierten noch nicht, aber es bildeten sich politische Affinitäten heraus, in denen sich die Konturen von Fraktionen abzeichneten. So gab es Royalisten, dann Anhänger einer konstitutionellen Monarchie und wenige Radikale, die bereits über eine Republik diskutierten. Begleitet wurde das Experiment der Nationalversammlung durch die vielen politischen Klubs, allen voran die Jakobiner- und Frauenklubs. Institutionell wurde das Experiment auf der lokalen Ebene u. a. durch die Einführung von Bürgermeisterwahlen fortgesetzt. Auch wenn im Lauf der Revolution das Zensuswahlrecht auf allen Ebenen immer mehr Männer sowie Frauen grundsätzlich ausschloß, wurde ein Level repräsentativer politischer Partizipation erhalten, das eine Rückkehr zum Ancien Régime ausschloß. Die Erfahrungen, die 1789 ff. gemacht wurden, waren also weder ephemer noch verloren, sondern begründeten eine historische Erfahrung mit (Teil)Demokratie und Republikanismus, auf die im 19. Jh. zurückgegriffen wurde, insbesondere ab 1875, als die Dritte Republik ideologisch zu festigen war.
6.2 Die „vierte Gewalt“: Die öffentliche Meinung „Diese Bücher werden zwischen ihren Beinen hindurchschlüpfen.“ – Rückblenden Wenn sich der Dritte Stand selber zur Nationalversammlung erklären konnte, so nur, weil er sich der Unterstützung durch die „Öffentliche
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Meinung“ sicher sein konnte. Diese hatte im 18. Jh. den Status einer „vierten Gewalt“ erobert. „Monsieur, säumen Sie alle Grenzen mit Soldaten; bewaffnen Sie diese mit Bajonetten, um alle gefährlichen Bücher abzuwehren, die dort erscheinen, und diese Bücher . . . werden zwischen ihren Beinen hindurchschlüpfen oder über ihre Köpfe hinwegspringen und bis zu uns gelangen“, so schrieb Diderot in einem Memorandum über die Pressefreiheit von 1763. Dies traf die faktischen Verhältnisse genau: Bücher waren an den Grenzen nicht aufzuhalten, sie waren überhaupt nicht aufzuhalten, trotz Zensur, Polizeiüberwachung, Razzien, Grenzkontrollen usf. Die meisten Druckerzeugnisse sollten in Wirklichkeit auch gar nicht verhindert werden. Malesherbes, der 1750 zum directeur de la librairie („Zensor“) berufen worden war und dieses Amt bis 1763 ausübte, legte in zwei Memoranden 1758/59 in aller Offenheit die im Geiste der Aufklärung konspirative Beziehung zwischen staatlicher Zensur, Druckern, Buchhändlern und Schriftstellern dar. Der Druck offiziell verbotener – bzw. nicht erlaubter, aber auch nicht verbotener Werke – im Ausland, war in das System der Buchkontrolle einkalkuliert. Diese Bücher sollten auf den von Diderot angedeuteten Wegen durchaus nach Frankreich gelangen. Lediglich das Parlement von Paris durchkreuzte immer wieder dieses subtile Spiel der königlichen Verwaltung und erhob sich zum obersten Zensor, der Bücherverbrennungen anordnete. Da das Spiel, das alle zusammen spielten, frivol war, waren die Bücherverbrennungen durch das Parlement ebenfalls einkalkuliert: sie retteten die Fassade königlicher Autorität.
Republik der Lesenden und Schreibenden – vernunfterfüllte Richter ihrer Zeit Was sich oberflächlich betrachtet etwas korrupt ausnimmt, hatte durchaus Sinn: in allen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen gab es Menschen, die am Diskurs der Aufklärung teilhatten; sie fanden sich in den Reihen der katholischen Kirche, in den Reihen der königlichen Verwaltung, der Pariser Polizei, der obersten Gerichtshöfe, also auch des Parlement von Paris. Diese Menschen verstanden sich nicht als Revolutionäre, sie glaubten aber an den Fortschritt des Menschengeschlechts durch Vernunft. An dieser Vernunft hatten sie Teil, bis zu einem gewissen Grad waren sie dadurch die einzigen legitimierten Erzieher der Nation, sie bildeten das, was im 18. Jh. unter „öffentlicher Meinung“ verstanden wurde, nämlich die Republik der Lesenden und Schreibenden – vernunfterfüllte Richter ihrer
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Zeit. Meinungsäußerungen des „niederen Volks“ wurden von der Definition der öffentlichen Meinung ausgeschlossen, allerdings wurde vehement für eine éducation nationale gestritten, eine allgemeine Alphabetisierung der Bevölkerung und Veränderung ihres Wissens durch die Aufklärer. Eine Liste von 1784 in La France littéraire führte alle gens de lettres auf, d. h. Autoren, die mindestens einen Titel veröffentlicht hatten. 20% von knapp 1.400 Autoren mit Berufsangabe (es gab insgesamt mehr Autoren) waren Geistliche, 17% Ärzte und Apotheker, 15% Anwälte und Verwaltungsbeamte, 14% Adlige, 11% Professoren, 2% Ingenieure und Architekten. Immer mehr Schriftsteller der zweiten Hälfte des 18. Jh., wenn auch weniger als die Hälfte aller Autoren, lebten von der Schriftstellerei allein. Nach 1785 konnten 47% der männlichen und 27% der weiblichen Bevölkerung lesen und (unter-)schreiben. Nicht alle kauften deshalb Bücher, aber der Büchermarkt drang in neue Schichten vor: Handwerker und Ladenbesitzer wurden zu regelmäßigen Buchbesitzern. Aufgrund von Nachlaßinventaren läßt sich zeigen, daß um 1780 auch 40% der Dienstboten und 35% der Handwerksgesellen Bücher hinterließen. Dieselbe Quelle illustriert die Abhängigkeit des Buchbesitzes vom Vermögensstand: um 1750 gehörten in 25% der Fälle Bücher zur Erbschaft, wenn diese unter 500 Pfund lag, jedoch in 75% der Fälle, wenn die Erbschaft mehr als 2.000 Pfund betrug. Der Umfang der Bibliotheken wuchs gleichfalls: um 1780 hinterließen Bürger im Schnitt 20 bis 100 Bücher, Geistliche 100 bis 300, der Schwert- und Amtsadel mehr als 300. Dazu kommen als Indikatoren seit 1760 die Lesekabinette, in denen für einen eher geringen Jahresbeitrag Zeitungen, Gazetten, Bücher und Enzyklopädien gelesen werden konnten. Die Definition von öffentlicher Meinung bedingte die Macht des Gedruckten; nie war sie größer gewesen, weil das Gedruckte das zentrale Medium der öffentlichen Meinung darstellte. Dazu kamen freilich viele Formen der Geselligkeit und der Soziabilität, z. B. die Pariser Cafés, in denen sich die Untergrundschriftsteller trafen, wo die Spitzel der Pariser Polizei, oft selber Untergrundschriftsteller, verkehrten, oder das Palais Royal, einem der wichtigsten Orte der Vorrevolution und der Revolution von 1789. Hier bildete sich eine Öffentlichkeit, die wesentlich revolutionärer war als die Öffentlichkeit der Aufklärer, wo der König respektlos als kinderverschlingender Oger oder als schnarchender Hanswurst gehandelt wurde, der sich von der Königin Marie-Antoinette permanent betrügen ließ. In dieser
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Öffentlichkeit des Untergrunds wurde Marie-Antoinette zur Pornokönigin erhoben, eine Erniedrigung, die ihr bis zur Hinrichtung anhaftete. (Hunt 1998)
Bestseller: Verursachen Bücher Revolutionen? Schaut man auf die Liste der Bestseller, die Robert Darnton erstellt hat, so gehörten dazu Themen, die auch für die Untergrundschriftstellerei und die ,Untergrundaufklärung’ kennzeichnend waren: Aus der Auswertung der Order- und Verkaufslisten von Buchhändlern in ganz Frankreich einschließlich der von Darnton besonders gründlich erforschten Société typographique de Neuchâtel (STN), die Diderots Encyclopédie verlegte, entsteht eine Bestsellerliste. Die Liste der 35 meistverkauften Werke wird von Louis-Sébastien Merciers „L’an 2440“ angeführt, gefolgt von den „Anecdotes sur Mme la comtesse du Barry“, die im allgemeinen Matthieu-François Pidansat de Mairobert zugeschrieben werden. Diese beiden Autoren, Voltaire, Holbach, Linguet, Rousseau (Platz 23), Restif de la Bretonne, Helvétius, Lanjuinais sowie eine Reihe anonymer Autoren von politisch-erotischen Werken beherrschten den Bestsellermarkt. Eine Aufteilung nach thematischen Kategorien ergibt ein Übergewicht „religiöser“ Titel (31,5%), allerdings enthält diese Rubrik die Unterkategorie C (irreligious ribaldry, pornography; 3,9%), die sich auch in der Kategorie „Sex“ (14%) und versteckt bei den „libels“, Hofsatiren und „chroniques scandaleuses“ wiederfindet. (Darnton 1996) Darnton stellt die provozierende Frage, ob „Bücher Revolutionen verursachen“? Neben einer Forschungsgeschichte – beginnend mit Daniel Mornet, der 1933 mit einer Schrift über die Origines intellectuelles de la Révolution Française ein neues Forschungsfeld eröffnete – bis zu François Furet, Roger Chartier und angloamerikanischen Autoren befaßt sich der Autor näher mit dem Problem der Rezeption von Inhalten beim Publikum und deren Auswirkung auf Verhaltensweisen. Hierzu liegen durchaus zeitgenössische Belege vor. Deutlich wird vor allem, wie die ungemein breit angelegte historische Thematik der Untergrundliteratur, einhergehend mit einer Verurteilung der politischen Geschichte von der Renaissance bis zu Ludwig XVI., zu dem zeitgenössischen Gefühl führen konnte, man befinde sich 1789 an einem point zéro der Geschichte. Deutlich wird außerdem, daß sich die fortgesetzte Diskussion um die Wurzeln der Revolution in Rousseaus politischer Philosophie allmählich zu überleben beginnt. Rousseau wurde damals auch gelesen, aber nicht an erster Stelle.
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Die Revolution zeichnete sich durch eine Explosion aller Printmedien aus. Zahllose Zeitschriften wurden gegründet, die oft nur kurze Zeit erschienen, während andere sich mehrere Jahre auf dem Markt hielten wie der radikale Père Duchesne oder Le Patriote Français. Journal libre, impartial et national, hrsg. von Jean-Pierre Brissot de Warville, der es zwischen dem 28. Juli 1789 und dem 31. Dezember 1792 auf immerhin 1.237 Ausgaben brachte. Die Zahl der Zeitschriften mit nationaler, regionaler oder lokaler Verbreitung ging in die Tausende. Dazu muß man unzählige Traktate und Pamphlete rechnen, nicht zu vergessen die Dekrete etc. der Nationalversammlung und ihrer Nachfolgerinnen, die Flugblätter und die Bildpropaganda, die öffentlichen Feste, die mit den Produkten der Printmedien eng verbunden waren.
Revolutionäre Symbolik Besonders augenfällig war zweifelsfrei die Entwicklung der revolutionären Symbolik. Es besteht kein Zweifel, daß vieles dem Ancien Régime entstammt, der monarchischen und religiösen Ikonographie, selbst die Freiheitsmütze und die Kokarde, die im Garten des Palais Royal „erfunden“ wurde, tauchten z. T. schon geraume Zeit vor der Revolution auf. Die Gestalt des Herkules, die in der Ersten Republik in der Zeit der Terreur bedeutsam werden sollte, besaß eine außerordentlich ehrwürdige Tradition, hatten doch viele der französischen Könige der frühen Neuzeit sich als Herkules darstellen lassen. Für Ludwig XVI. ist eine solche Darstellung allerdings nicht belegt, so daß die Herkulesfigur als Symbol des starken und souveränen Volkes im Grunde ohne bedeutsame Vorbelastung Verwendung finden konnte. Interessant ist der Versuch, diese Symbolik, diese Zeichen in ein System zu bringen. Das ist nicht ganz gelungen, weil eine Revolution auf die andere folgte, andererseits sind bis heute eine Reihe der Symbole geblieben, an denen sich die Wirksamkeit der revolutionären Ikonographie ablesen läßt. Diese Ikonographie muß man sich in der Praxis in Verbindung mit der revolutionären Rhetorik vorstellen, Verbalisierung und Visualisierung der Revolutionsideen gehörten zusammen, beides diente der Vorantreibung des revolutionären Prozesses, der Stabilisierung der neuen politischen Kultur, der Selbstversicherung, schließlich der Massenpädagogik.
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6.3 Radikale Republik, Terreur und bürgerliche Republik (1791 – 1799) Tag I der Republik Die Nationalversammlung schloß im Herbst 1791 ihre Arbeit ab, d. h. sie verabschiedete eine Verfassung des Typs einer konstitutionellen Monarchie, in der der Nation, repräsentiert durch ein Parlament, weitreichende Anteile an der Souveränität zukamen, in der der Monarch aber mehr als einen Präsidenten für Repräsentationszwecke darstellte. Diese Verfassung atmete noch immer den Geist von 1789, als Ludwig XVI. als „père de la patrie“ bezeichnet und bildlich dargestellt worden war. Es war ein Geist des Konsenses, der, wie im Fall der Menschen- und Bürgerrechtserklärung, die Spannungen in Frankreich kitten sollte. Das Gebäude war brüchig, weil die Wirklichkeit die Vorstellungen der Abgeordneten der Nationalversammlung schon überholt hatte und die neue Versammlung, die Législative, aufgrund des Zensuswahlrechts eine schmalere Legitimationsbasis besaß. Konterrevolutionäre Tendenzen beim Adel, der z. T. emigrierte, die Spaltung des Klerus, Volksbewegungen, die sich von gewählten Deputierten nichts vorschreiben ließen, ein hin und her gerissener König, der sich schließlich am 20. Juni 1791 zur Flucht entschloß und in Varennes gefangen genommen wurde, das wachsende Mißtrauen der europäischen Mächte, all dies trug dazu bei, daß die erste Verfassung kaum währte. Die sich radikalisierende politische Debatte, die Föderationsbewegungen, der Beginn des Krieges am 20. April 1792 gegen den „König von Böhmen und Ungarn“ führten zu einer neuerlichen Beschleunigung und Zuspitzung der Ereignisse. Wieder waren es Aufstände in Paris, die die Weichen stellten. Am 9. und 10. August 1792 wurde in Paris die Kommune gebildet, an deren Spitze Georges Jacques Danton (1759 bis 1794) stand. Auf Druck der Kommune wurde Ludwig XVI. verhaftet und abgesetzt. Während es in Paris zu Lynchjustiz in den Gefängnissen kam (Septembermassaker), wurde eine neue Versammlung gewählt, der Konvent, der am 22. September 1792 die Republik ausrief und diesen Tag zum Tag I der Republik erklärte. Der neue Kalender, der eingeführt wurde, symbolisierte noch mehr als alle seit 1789 eingetretenen Veränderungen den Bruch mit dem Ancien Régime, weil er mit der christlichen (katholischen) Zeitrechnung brach. Weitere Maßnahmen wie die Unterdrückung der lokalen und regionalen Dialekte folgten einem Nationsbegriff, der dem Ancien Régime fremd gewesen war.
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Terreur Die Republik war kein Konsensgebilde. Maximilien de Robespierre (1758 bis 1794) formulierte dies am 25. Dezember 1793 wie folgt: „Wenn es das Ziel einer konstitutionellen Regierung ist, die Republik zu bewahren, so ist es das Ziel einer revolutionären Regierung, die Republik zu gründen . . .; wenn diese den guten Bürgern jeden nationalen Schutz schuldet, so schuldet sie den Feinden des Volks nichts als den Tod.“ Die „Terreur“, die sich darin als Prinzip andeutete, war wesentlich mehr als eine nur verhängnisvolle Entwicklung oder Entgleisung der Revolution während der Ersten Republik. Es gab eine Theorie der Terreur, die von einzelnen Personen im Kontext der Niederschlagung des Vendée-Aufstandes zur Technik der Massenvernichtung ausgeweitet wurde. „Diese Geschichte des Terreur-Begriffs zeigt, wie ,Schrecken’ als Folge politischer Unterdrückung begriffen wurde und wie aus dem traditionellen Bedürfnis, Gewaltanwendung als Reaktion auf selbst befürchtete oder erlittene Gewalt zu legitimieren, mit dem Instrumentarium eines neuen, durch die Aufklärung bereitgestellten Begriffs- und Sinngebungspotentials, in der Revolution nicht mehr nur ,Schrecken’ als Antwort auf ,Schrekken’ propagiert, sondern Terror zum zweckdienlichen Mittel stilisiert wurde, um eine konfliktfreie, ,harmonische’ und ,glückliche’ Zukunft zu schaffen. Insofern markiert die Entstehung des modernen Terrorbegriffs in der Französischen Revolution den Beginn der säkularisierten Heilserwartung totalitärer Ideologien.“ (Gerd van den Heuvel) Terreur war keine Erfindung der Revolution. Öffentliche Hinrichtungen, Galgen usw. sollten in der Frühen Neuzeit Schrecken verbreiten, in der Absicht, weitere Straftaten zu verhindern. Montesquieu formulierte terreur als Grundprinzip der Despotie. Als die französische Monarchie im 18. Jh. zunehmend in Mißkredit geriet, wurde ihr angelastet, mit dem Prinzip der terreur zu arbeiten. Beliebtes Beispiel zur Illustration waren die lettres de cachet. Jean-Paul Marat propagierte folgerichtig den Einsatz von terreur gegen den Despotismus, was in der Praxis Volksaufstände meinte. Revolutionäre terreur wurde gegen die despotische terreur gestellt. Im September 1793 erhob der Konvent terreur zum Regierungsprinzip, dessen man sich bediente, um den vielfältigen Bedrohungen entgegenzuwirken: außenpolitische Bedrohungen, innere Bedrohungen durch wirkliche oder vermeintliche Revolutionsfeinde, z. T. war es eine Flucht der Machthaber nach vorn, um die terreur nicht allein dem Volk auf der Straße zu überlassen, da sich diese jederzeit auch gegen die Montagnards richten konnte (Er-
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mordung Marats; Attentate auf Robespierre u. a.). Ausgerechnet ein Pfarrer (Royer) verlangte, am 30. August 1793, daß terreur auf die Tagesordnung gesetzt werden müsse. Seine einprägsame Formulierung „Plaçons la terreur à l’ordre du jour!“ machte schnell Furore. In diesen Kontext gehört auch der Einsatz der Guillotine als Tötungsmaschine. Der Überzeugung, daß Konterrevolutionäre massenhaft, schnell und umstandslos zu töten seien, wurde offen Ausdruck verliehen. Robespierre schließlich verknüpfte Tugend und terreur, wobei er terreur als schnelle, harte und unbeugsame Gerechtigkeit definierte. Institutionelle Instrumente der republikanischen terreur waren das Wohlfahrtskomitee als eigentliche Regierung, unterstützt von einem Überwachungskomitee (Comité de sûreté générale mit lokalen comités de surveillance), das die Gewissen der Menschen ausspionierte und „Suspekte“ an das Revolutionstribunal (Tribunal révolutionnaire), an die agents nationaux und die représentants en mission auslieferte. Ludwig XVI. und Marie-Antoinette wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet – die Guillotine wurde zum wichtigsten Arbeitsgerät der Revolutionsregierung.
Die Suche nach dem juste milieu Der wachsenden Finanz- und Wirtschaftskrise sollte die dirigistische Fixierung eines „Maximums“ für Preise und Gehälter Einhalt gebieten. Im März 1793 wurden 300.000 Männer für die Revolutionsarmee ausgehoben, im September noch einmal mehrere Hunderttausend (sog. levée en masse). Dies schürte in weiten Teilen Frankreichs die Unzufriedenheit, doch vor allem im Westen, in der Vendée, kam es in Verbindung mit dem Widerstand gegen die Entchristianisierung zu bewaffneten Aufständen, die rücksichtslos und grausam niedergeschlagen wurden. Eine Reihe von Städten wie Lyon und Bordeaux als Hochburg der Girondisten und andere Provinzen erhoben sich gleichfalls („Föderalistenaufstand“) und ebenso erfolglos. Der Wohlfahrtsausschuß brachte sich im übrigen selbst zur Strecke, mit der Hinrichtung Robespierres am 27. Juli 1794 (9. Thermidor Jahr II) ergriffen gemäßigtere Kräfte die Macht, die sich allerdings als Republikaner verstanden, zum größeren Teil für die Hinrichtung des Königs gestimmt hatten und keineswegs zurück zum Ancien Régime wollten. Prägend für die neue Stimmung wurde der Begriff des „juste milieu“. Die Verfassung des Jahres I wurde durch die Verfassung des Jahres III ersetzt: ein Direktorium aus fünf Mitgliedern bildete die Exekutive, die Legislative bestand aus zwei Versammlungen, dem Rat
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der Alten und dem Rat der Fünfhundert. Diese „bürgerliche Republik“ hatte von 1794 bis 1799 Bestand, obwohl die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Spannungen kaum geringer als vorher waren.
6.4 „Die Heilige Verfassung, das Evangelium des Tages“: Entchristianisierung und politische Religion „Wir haben keine anderen Wünsche“ – Die Verfassung als Ziel In der Vielfalt dessen, was die Rezipienten damals zu lesen bekamen, läßt sich ein Kern von Erkenntnissen und Schlüsselbegriffen feststellen, die den eigentlichen Aufklärungsdiskurs ausmachten. Zu diesem Kern zählen über 100 Schlüsselbegriffe, die seit 1985 im „Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 bis 1820“ aufgearbeitet werden. Wie im Brennglas zeigt der Begriff der „Verfassung“ (constitution) die im Aufklärungsdiskurs dokumentierten wesentlichen Verschiebungen im 18. Jh. „Verfassung“ bedeutete die gedankliche Vernetzung von grundlegenden Gesetzen, die die Ausübung der Macht im Staat regelten. Diese Verfassungsvorstellung stützte sich nicht auf eine geschriebene Verfassung, sondern auf ein allgemeines juristisch-politisches, vergangenheitsorientiertes Wissen, das psychologische Erfahrungen einschloß. Darauf verweist die Charakterisierung als gewohnheitsrechtliche Verfassung. Dieses Netzwerk wurde von allen Seiten, insbesondere auch von den Parlements, der „Willkür“ und dem „Despotismus“ der Minister und gelegentlich des Königs entgegengesetzt. Die zur „Verfassung“ vernetzten Gesetze sollten rechtliche Sicherheit gewährleisten. Entsprechend fundamentalistisch war die Ausdrucksweise. Hinter dem Begriff „Gesetz“ verbargen sich im Grunde politische Glaubenshaltungen: Gesetze zu erlassen bzw. die grundlegenden Gesetze richtig anzuwenden erschien als wirksames Mittel zur Verbesserung der Welt. Diese Haltung wurzelte im Rationalismus, nach dem der Mensch als vernunftbegabtes Wesen befähigt ist, die Welt in eigener Regie zu gestalten. Im 18. Jh. erschien Gott nur noch als der ursprüngliche, einmalige Schöpfer, während das jeweils aktuelle Geschehen nicht mehr wie früher auf das Eingreifen Gottes zurückgeführt wurde, sondern auf das Handeln oder Nicht-Handeln des Menschen selbst. Der Glaube an Gott und die Verheißungen der Bibel konnten den Menschen das notwendige Gefühl einer existentiellen Sicherheit nicht mehr uneingeschränkt vermitteln. Mit der Änderung der Einstellung zu Gott
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änderte sich auch die Einstellung zum Menschen. Der Begriff „Menschenrechte“ (droits de l’homme) dokumentiert diesen Vorgang. Der Weg zur gesuchten Sicherheit führte fortan über den Menschen statt über Gott. Am Ende des Weges eröffnete sich ein ,metaphysischer’ Ausblick auf die „Natur“: Der Mensch verwirklicht, was er durch den Gebrauch der Vernunft aus der Natur erkennt. Er war selbst zum Handeln und Gestalten aufgefordert. Es ging nicht mehr darum, in einer vorgefundenen Ordnung zu leben, sondern eine neue Ordnung zu schaffen. Auch der sämtliche Probleme der Zeit überspannende Reformwille, der u. a. in vielen cahiers de doléances zum Ausdruck kam, war Teil dieser veränderten Bewußtseinshaltung. Sie war ungemein optimistisch: „Wenn die Nationalversammlung die Verfassung verabschiedet haben wird, werden unsere Leiden beendet sein und für Frankreich die schönen Tage beginnen. Wir haben keine anderen Wünsche, und nur damit soll sich die Versammlung beschäftigen.“ (Chantreau 1790, 48)
Verfassung und Entchristianisierung Die ab 1788 intensiv diskutierte Frage, ob Frankreich schon immer eine ,Verfassung’ gehabt habe, verlangte vor allem eine Klärung, welche Vorstellungen mit „der Verfassung“ insgesamt verbunden werden sollten. Das Problem der Begrenzung der politischen Macht und ihrer Ausübung war dabei nur ein Aspekt von vielen. Die Bekundung der Volkssouveränität unterstrich dagegen den tiefen Bewußtseinswandel: Der sich seiner eigenen Kräfte bewußt und zum „Bürger“ gewordene Mensch, bedurfte keines allmächtigen Königs von Gottes Gnaden mehr. Im Gegenteil, der König ließ sich so recht nicht mehr im veränderten Menschen- und Weltbild unterbringen. Folgerichtig wurde er zunächst in der Verfassung von 1791 (wenn auch unter Beibehaltung eines gewissen Pathos) zum Chef der Exekutive umdefiniert; 1793 wurde der Schritt zur republikanischen Verfassung ohne König vollzogen. War die Verfassungseuphorie 1789 schon groß, so erreichte sie 1792–94 einen absoluten Höhepunkt, als sich insbesondere die Jakobinerklubs der Verfassungsfrage annahmen und sie ins Zentrum des Denkens rückten. Ihr Selbstverständnis war dabei missionarisch, und so auch ihr Handeln, das sich mit der „von oben“ eingeleiteten Entchristianisierung 1793/94 verband. Im Kampf gegen den romtreuen Klerus und den sog. „Fanatismus“ kam es zu einer einzigartigen Zuspitzung der Vorstellungen: die Verfassung wurde zum Evange-
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lium und ersetzte die Bibel. Es ist verständlich, daß sich unter dem Eindruck der Terreur und nach ihrem Ende sehr viel nüchternere Betrachtungen durchsetzten und der Glaube an die Verfassung, die allein den Menschen glücklich mache, an Substanz verlor. In vieler Hinsicht haben sich die Trägerschichten der Revolution einer religiösen Bild- und Wortsprache bedient, um ihren Ansichten Ausdruck zu verleihen. Es handelte sich um eine Verweltlichung des Religiösen bzw. um eine weltliche Ersatzreligion. Insbesondere die Verfassung erschien als „Heiliges Evangelium“, als der neue Gott nach dem Gott der Bibel. Verwoben war diese Sprache mit dem Prozeß der Entchristianisierung. Letzteres meint vor allem eine äußerlich greifbare Entwicklung, den Rückgang religiöser, vorrangig frommer Praktiken schon während des Ancien Régime, und den Kampf gegen die katholische Kirche in der heißesten Phase der Revolution. Verbindungslinien ergeben sich zur Säkularisierung des Denkens seit dem späteren 17. Jh., also zur Frühaufklärung und Aufklärung in Frankreich. Über den Wandel der inneren Einstellungen der Menschen kann nur bedingt etwas gesagt werden; ob sie tatsächlich weniger gläubig waren als früher, ist schwer zu beantworten. Michel Vovelle hat seinerzeit mit einem Buch über die Entchristianisierung in der Provence im 18. Jh. dieses Forschungsfeld neu erschlossen. (Vovelle, 1978) Er untersuchte Testamente verschiedener sozialer Gruppen und Schichten daraufhin, inwieweit sie religiöse Formeln enthielten, Messen für Verstorbene stifteten, welche Dispositionen im Hinblick auf die Beerdigung getroffen wurden usw. Während bis zu Beginn des 18. Jh. eher eine Intensivierung barocker Frömmigkeit festzustellen war, wurde bis ca. 1750/60 ein gewisses Level gehalten, bis dann ab 1760 die Frömmigkeitspraxis rapide abnahm. Das Bedürfnis, sich um das Seelenheil nach dem Tod zu kümmern, nahm eindeutig ab. Aufschlußreich mag sein, daß parallel zunehmend Vorsorge für den Fall getroffen wurde, daß jemand nur scheintot sein könne. Die Angst, scheintot zu sein und lebendig begraben zu werden, griff ein wenig um sich. Gleichzeitig läßt sich feststellen, daß die Konflikte zwischen Gemeinden und Pfarrern regionalspezifisch anstiegen. Der Vorwurf an die Pfarrer, Kirchen und Presbyterien luxussanieren zu wollen, war oft genug zu hören; man war nicht mehr bereit, jedes finanzielle Opfer für die symbolischen Orte der Religion zu bringen. Anderes, wie der Bau von Gemeindehäusern für die politische Gemeinde, erhielt Vorrang. Andererseits sind gerade unter dem Pfarrklerus viele
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jener kulturellen Mittler zu finden, die Aufklärungsmaximen in die Dörfer trugen und die in der Nationalversammlung zur Verschmelzung der drei Stände zu einer Nation aktiv beitrugen und die sowohl das Prinzip einer Menschenrechtserklärung wie einer geschriebenen Verfassung mitverfochten. Pfarrer segneten Kokarden und waren bei der Errichtung von Freiheits- und Maibäumen dabei. Am 4. August 1789 stimmte der Klerus der Abschaffung des Feudalwesens und des Zehnten zu sowie der Einführung der Steuerpflichtigkeit für den Klerus. Ende 1789 trennten sich jedoch zunehmend die Wege. Am 2. November 1789 wurde mit 510 gegen 346 Stimmen in der Nationalversammlung die Verstaatlichung der Kirchengüter beschlossen; das waren immerhin 12% des Grundbesitzes, die ab 1790 den Besitzer wechselten. Am 13. 2. 1790 wurden all die Orden aufgehoben, die als unnütz betrachtet wurden, die also nicht im Schul- oder Sozialwesen aktiv waren. Das war eine alte Forderung der Aufklärung. Der „lüsterne, fette Mönch“ und die „lüsterne Nonne“ waren Topoi der politischen Pornographie und der populären Literatur gewesen. Das Bild steckte noch in den Köpfen der Abgeordneten. Am 12. Juli 1790 wurde die Zivilkonstitution des Klerus verabschiedet: Die Diözesen wurden nach den 83 Départements neu eingerichtet, die Zahl der Pfarrgemeinden verringert; der Klerus wurde vom Staat entlohnt, alle kirchlichen Dienstleistungen waren kostenlos zu erbringen; Pfarrer und Bischöfe sollten gewählt werden, den Bischöfen wurde ein Priesterrat zur Seite gestellt. Diese Bestimmungen trennten die französische Kirche nicht nur von Rom, sondern auch von der Tradition der gallikanischen Kirche, es ist überhaupt die Frage, ob hier noch von „Kirche“ zu sprechen ist. Der Klerus war gespalten, viele leisteten den geforderten Eid auf die Zivilkonstitution. Am 13. April 1791 verlangte jedoch der Papst den Widerruf des Eides, und 22.000 von 28.000 eidleistenden Priestern widerriefen. Der Konflikt zwischen Staat und Kirche wuchs sich aus: im September 1791 wurden 300 Geistliche in Pariser Gefängnissen ermordet, die Kirche wurde in den Untergrund gedrängt; schätzungsweise 30% der Gläubigen hingen jedoch der nationalrevolutionären Kirche an. 1793–94 wurde die Entchristianisierung, eine teils gelenkte, teils spontane Politik, von dem Versuch begleitet, revolutionäre Ersatzkulte wie den des „Höchstens Wesens“ zu etablieren. Mittelfristig war dies nicht erfolgreich, allerdings zeitigten sowohl die Trennung von Kirche und Staat, 1795 gesetzlich geregelt, und die Spaltung der Bevölkerung in Anhänger des Katholizismus bzw. Laizismus bleibende Auswirkungen.
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6.5 Napoleon: Synthese von Revolution und „Absolutismus“ (1799 – 1814) „Bürger, die Revolution ist beendet“ – Brumaire 1799 war das Direktorium am Ende. Napoleon Bonaparte, der sich in den Revolutionskriegen als militärischer Stratege hervorgetan hatte und dessen Nimbus selbst die katastrophale Niederlage im Ägyptenabenteuer 1798/99 unbeschadet überstand, stürzte am 9. November 1799 (Brumaire-Staatsstreich) das Direktorium und bildete zunächst ein Triumvirat. Noch im Dezember 1799 führte er eine neue Verfassung mit den Worten ein: „Bürger, die Revolution wurde auf die Prinzipien fixiert, die an ihrem Anfang standen, sie ist beendet.“ Die Verfassung sah ein Konsulat mit drei Konsuln vor. Die Macht lag beim Ersten Konsul (Napoleon). Die Legislative wurde in drei Versammlungen aufgeteilt (Tribunat, Corps législatif, Sénat), also neutralisiert, das Zensuswahlrecht unterstrich den schon vorher eingeschlagenen Weg zur Notabelngesellschaft. Es gelang, das Land im Innern zu befrieden. Die Verwaltung wurde auf einen streng hierarchischen Kurs getrimmt, die Steuerverwaltung optimiert, eine staatliche Kredittilgungskasse sorgte für Kreditwürdigkeit der öffentlichen Hand, die neu geschaffene Bank von Frankreich und der Franc erwiesen sich als funktionstüchtig und stabil. 1802 konnte ein ausgeglichener Staatshaushalt vorgelegt werden. Das 1801 mit Papst Pius VII. geschlossene Konkordat bestätigte den Katholizismus als die Religion der Mehrheit der Franzosen und legte den Grundstein für die spektakuläre Rekatholisierung des Landes im 19. Jh. 1804 waren die Arbeiten am Code civil abgeschlossen, mit dem im Grunde erstmals das Zivilrecht in Frankreich vereinheitlicht wurde. Dieses Bürgerliche Gesetzbuch bestätigte einige Grundrechte wie das Eigentumsrecht oder das Recht auf Freiheit der Arbeit, festigte aber auch den minderrechtlichen Status der Frauen, die ganz der Autorität des Mannes unterstellt wurden. Eigentumsrecht und Freiheit der Arbeit förderten eher die Besitzenden und die Arbeitgeber, eine sozialrevolutionäre Komponente fehlte ihnen ganz. Das Schulwesen wurde reformiert, neues Herzstück waren die Lyzeen. Die Antike gab die kulturelle Referenz für die inhaltliche Ausrichtung ab, militärische Disziplin sorgte für eine gehorsame Jugend aus den Notabelnschichten.
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Karl-Ludwig der Große Am 25. März 1802 wurde zwischen Frankreich und den europäischen Mächten der Friede von Amiens geschlossen. Diesen Erfolg sowie die Angst vor einer monarchistischen Welle nutzte Napoleon, um sich zum Konsul auf Lebenszeit einsetzen zu lassen. Ende 1804 schien der Friede in Europa schon wieder brüchig geworden zu sein. Napoleon ließ sich zum Kaiser erheben. Als Vollender der Revolution war er 1799 angetreten, als Kaiser knüpfte er 1804 an die Nachfolge Karls d. Gr. an. Sorgsam achtete Napoleon darauf, als „Held“ größer als Karl dazustehen. Im Moniteur universel, dem einschlägigen Staatsblatt, wurden Lobbriefe und Oden auf den neuen Karl veröffentlicht. Ihr Ton unterschied sich wenig von den seinerzeitigen Lobeshymnen auf Ludwig XIV. Manch anderes schien auch von den Inszenierungskünsten jenes Ludwig ausgeborgt zu sein, wie die Reise nach Aachen und an den Rhein im September 1804. Napoleon visitierte die Rheinischen Gebiete, die dem französischen Territorium zugeschlagen wurden, wie seinerzeit Ludwig XIV. die Nordgrenze oder das Elsaß; vor allem besichtigte er, ganz wie Ludwig, die Festungen. Gerne ließ er sich als „Napoléon le Grand“ (vgl. „Louis le Grand“) bezeichnen. In Aachen besuchte er den Dom, besichtigte den Sarkophag und den Thron Karls d. Gr., außerdem ließ er ein te Deum singen. Am 11. September 1804, noch in Aachen, ließ er einen Beschluß (arrêté) verkünden: Napoleon, Kaiser der Franzosen, wolle die Naturwissenschaften, die Literatur und die Kunst fördern, die zum Ruhme der Nationen beitrügen. Er wünsche, daß Frankreich die erlangte Überlegenheit bewahre und daß das beginnende Jahrhundert den vorhergehenden überlegen sein möge. Zu diesem Zweck richte er Preise für die Naturwissenschaften, Geschichte, die Schönen Künste und die besten Gedichte aus, die sich mit den denkwürdigen Ereignissen der französischen Geschichte oder mit für den französischen Charakter ehrenwerten Taten beschäftigten. (Morrissey 1997) Bis ins Detail ahmte Napoleon Ludwig XIV. als Protektor der Wissenschaften und Künste nach. Das gilt im übrigen auch für die als Neoabsolutismus oder Absolutismus bezeichnete Politik. Mit dem Bezug auf die Gestalt Karls d. Gr. wurde der offensichtliche Widerspruch zwischen tatsächlichem Absolutismus („Despotismus“ nach Mme de Staël) und dem Anspruch, die Revolution zu vollenden, überbrückt. Karl d. Gr. war einer verbreiteten Ansicht nach derjenige Herrscher gewesen, der nach einer Zeit des Chaos, der Barbarei und des moralischen Verfalls die Ordnung wiederhergestellt habe. Napoleon stellte sich parallel als
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denjenigen Herrscher dar, der die Terreur überwunden und den Zerfall der Gesellschaft abgewendet habe. Einflußreiche Aufklärer wie Gabriel Bonnot de Mably (1709 bis 1785) und Étienne Bonnot de Condillac (1715 bis 1780) hatten im 18. Jh. Karl d. Gr. als Wiederbegründer der ursprünglichen Republik dargestellt, der die Rechte des Dritten Standes anerkannt, Gallier und Franken geeinigt habe und zur alten Verfassung zurückgekehrt sei. Andere hatten in Karl die Verkörperung der Nation gesehen, weil er die öffentliche Meinung vollkommen repräsentiert habe. Auf alle diese Punkte konnte sich Napoleon stützen, vor allem gelang es ihm, durch Plebiszite wie durch die Kontrolle der Presse sich als Herrscher darzustellen, der mit der öffentlichen Meinung in Einklang stehe. Schließlich war die Identifizierung mit Karl – Napoleon sagte bei Gelegenheit wörtlich: „Ich bin Karl der Große“ – nützlich für die Beziehung zum Papst und für die ideologische Untermauerung der Kriege in Europa. Napoleon schuf sehr geschickt die Grundlagen für einen Mythos, der die Niederlagen von 1814 und 1815 überdauerte und von dem Napoleon III. 1848 profitierte.
6.6 Die Französische Revolution und der Körper der Nation Die Nation als Körper (1788 – 1791) Die Französische Revolution gilt als Katalysator der modernen Nationswerdung. Aber trifft dies wirklich zu? Es trifft dies für Frankreich vor allem auf der Ebene der Imagination zu, während die tatsächliche Ausformung der Nation überwiegend ein Ergebnis der Anstrengungen seit der Dritten Republik war. Der europäische Prozeß der Nationswerdung erhielt Impulse aus der Revolution, nicht nur durch die Kriege. Aber auch hier sollte die eigentliche Revolutionsepoche nicht überschätzt, vielmehr auf die Auseinandersetzung mit der Revolution im Lauf des 19. Jh. geblickt werden. Antoine de Baecque (de Baecque 1993) hat in einem sehr spannenden Buch die Entwicklung der Körpermetapher(n) in der Revolutionspublizistik und -kunst analysiert. Ihm kommt das Verdienst zu, erstmals die zentrale Bedeutung von Körpermetaphern für den Revolutionsdiskurs in ihrer ganzen Breite und Tiefe freigelegt zu haben. Im Nachhinein erscheint es selbstverständlich, daß die Einheit der Nation über bestimmte Körperbilder textuell und visuell gedacht und vermittelt wurde. Seit 1788 baute Emmanuel Sièyes (1748 bis 1836) seine Schriften auf einem vertrauten Körperbild auf: er übertrug
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gewissermaßen die Anschauung von den zwei Körpern des Königs auf die Nation. Diese Übertragung wirkte insbesondere in die Debatte um die Einrichtung der Départements hinein. Die zu schaffenden Départements wurden mit dem Skelett des Körpers verglichen. Jacques-Louis David (1748 bis 1825) bediente sich derselben traditionellen, auf die Nation übertragenen Metapher für sein berühmtes, nicht vollendetes Bild „Serment du Jeu de Paume“ (ab Frühjahr 1790 in Arbeit). Der auf einem Tisch postierte, den Schwur verlesende Bailly steht für den Kopf des Nation-Körpers, die drei Geistlichen vor ihm (Dom Gerle, Grégoire, Rabaut Saint-Étienne – ein Ordensgeistlicher, ein Weltgeistlicher, ein Pastor) bilden das Herz. Die ausgestreckten Arme der Schwurleistenden folgen den Fluchtlinien des Gemäldes und bilden das Körperskelett. Sièyes und David sind unbeschadet ihrer formalen und künstlerischen Perfektion nur als Exponenten und Instigatoren einer weitverbreiteten Bildvorstellung von der Einheit der Nation zu verstehen. Mit der Terreur wurde diese integrierende Vorstellung, die das monarchische Ancien Régime intelligent in das Zeitalter der souveränen Nation überleitete, zu Grabe getragen.
„Travaux d’Hercule“ – die Zerstörung der Körpermetapher (1770 – 1799) Nicht übersehen werden darf, daß die integrative Metapher der Sièyes’ und Davids’ jedoch in einem Umfeld ausgrenzender Körpermetaphern stand. Schon lange vor der Revolution wurde Frankreich als kranker Körper begriffen, der geheilt, der „regeneriert“ werden müsse. Da die Verursacher der Leiden mit den Privilegierten dingfest gemacht werden konnten, wurden für sie, pauschal in der Revolution als „aristocrates“ denunziert, Monster-Metaphern geschaffen, die dem reinen und gesunden Körper der regenerierten Nation gegenübergestellt wurden. Ähnlich wurde seit den 1770er Jahren das ursprünglich positiv und mystisch besetzte Körperbild des Königs (und der Königin) durch die Untergrundliteratur, speziell durch die politische Pornographie zerstört. Ludwig XVI. und Marie-Antoinette waren lange vor ihrer Hinrichtung metaphorisch tot. Die politische Pornographie zählte zu den charakteristischen Eigenheiten der weiter oben angesprochenen Massenpädagogik, deren textuelle und bildliche Ausdrucksmöglichkeiten je nach Publikum grob oder subtil ausgereizt wurden. Der Begriff „Pornographie“ stammt aus dem 19. Jh. Zwar hatte Restif de la Bretonne 1769 eine
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Schrift über die Prostitution unter dem Titel „Le Pornographe“ veröffentlicht, aber das Substantiv Pornographie wurde in Frankreich erst um 1830/40 geläufig. 1806 allerdings hatte Etienne-Gabriel Peignot ein kritisches bibliographisches Wörterbuch herausgegeben, das Bücher auflistete, die verboten, zensiert oder verbrannt worden waren. Hier sprach er von Pornographie, um obszöne Werke einer Kategorie zuzuordnen. Diese Kategorisierung, die sich seit dem frühen 19. Jh. in einem eigenen und neuen Wort ausdrückt, war der Frühen Neuzeit noch fremd gewesen. Lynn Hunt liefert eine Beschreibung von politischer Pornographie in der Frühen Neuzeit. Sie ist älter als die Revolution, muß aber im Kontext der politischen Ikonographie der Revolution zu deren charakteristischen Merkmalen gerechnet werden. „In der frühen europäischen Moderne – d. h. zwischen 1500 und 1800 – war Pornographie meistens ein Vehikel, um durch den Schock, den Sex auslöste, religiöse und politische Autoritäten zu kritisieren. Pornographie entwickelte sich dennoch mit der Verbreitung der Druckkunst in den Jahrhunderten zwischen der Renaissance und der Französischen Revolution als eigenständige Kategorie. Pornographie war das Ergebnis eines ineinandergreifenden Zusammenspiels der Intentionen von Autoren, Künstlern und Graveuren, um die Grenzen des »Schicklichen« (und die Ziele der kirchlichen und weltlichen Polizei, sie zu kontrollieren) auszutesten.“ (Hunt 1996, 8) Wenn Hunt die ,Auslösung eines Schocks’, über den politische und kirchliche Autoritäten kritisiert werden sollen, als Ziel nennt, dann handelt es sich bei der sog. politischen Pornographie darum, wie der menschliche Körper in sexueller Pose als Mittel der Bild- und Textsprache benutzt wird, um Inhalte darzustellen, die für sich genommen keine sexuelle, sondern politische Relevanz haben. Betrachtet man dieses Kommunikationsmedium mit den Augen der frühneuzeitlichen Zensur, so fällt auf, daß sich deren Interesse weniger auf die sexualisierte Wort- und Bildsprache richtete, als auf die zumeist politische und religiöse Kritik, die in den Werken steckte. Das Interesse der Zensurbehörden und der Polizei an bestimmten Werken, die später als Pornographie bezeichnet wurden, wuchs in dem Maße, wie die zunehmende Alphabetisierung den potentiellen Leserkreis vergrößerte. In der Tat erreichte die – textuelle und visuelle – Bildsprache der Pornographie während der Revolution ein sehr breites Publikum, das dem über die Zeitungen bis hin zur billigen Massengraphik geknüpften Netz zwischen lediglich obszöner Sprache und harter Politpornographie nicht entkommen konnte.
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Die Schriften des Marquis de Sade (1740 bis 1814) bezeichneten den Kulminationspunkt dieses Text- und Bildmediums. Er nutzte das von ihm nicht erfundene metaphorische Potential der Sprache der Pornographie für eine fundamentalistische Gesellschaftskritik, für die Negation auch des Nations-Körpers. Das unterscheidet ihn von anderen Werken der politischen Pornographie der Französischen Revolution und der Zeit davor, die sehr häufig nur auf ganz bestimmte Personen wie Marie-Antoinette oder ganz bestimmte soziale Gruppen wie Nonnen und Mönche bzw. die Geistlichkeit insgesamt zielten. De Sade ironisierte und persiflierte viele Aufklärungsschriften (Diderot, Rousseau vor allem), aber auch ältere Werke wie das Dekameron von Boccaccio. Seine Zielsetzung war anarchisch („Die hundertzwanzig Tage von Sodom“, „Philosophie im Boudoir“, „Juliette“). Sade durchbrach sämtliche Tabus und moralischen Grenzen, die seine Zeit kannte. Inzest und Sodomie, Gruppensex und sexuell-blasphemische Handlungen ereignen sich bei ihm am laufenden Band. Diese Szenen sind Chiffren für die Auflösung aller verwandtschaftlichen Beziehungen, aller religiösen Bindungen. In seinen häufigen Gruppensexszenen ging es um nur eine Kernfrage: „Wie kann ich gegen so viele Konventionen wie möglich verstoßen?“ (Paglia, 1992, 299). De Sade war Materialist: „Vor uns haben wir ein ebenso gigantisches wie komplexes Sexualmolekül. . . Es ist der sich windende Polyp der Mutter Natur. De Sades vielgeschlechtlicher Bastard erinnert an die Scylla, die Hydra oder an ein beliebiges anderes chthonisches Ungeheuer [Erdgottheiten] der griechischen Mythologie. ( . . . ) Bei de Sade . . . stehen die sexuellen für soziale Beziehungen ein. Seine Libertins drängen sich zu Einheiten zusammen, in denen sie wechselseitig voneinander profitieren, dann zerfallen sie wieder in feindliche Atome.“ (Paglia, 299 f.) Die politische Pornographie knüpfte an die tradierte Syntax der Körpersprache an, d. h. die dargestellten Szenen müssen richtig gelesen werden. Bei homosexuellen und lesbischen Szenen ging es nicht um diese Ausprägungen von Sexualität, sondern es handelte sich um Chiffren für Dekadenz und politische Korruption. Bevorzugte Zielscheibe waren Priester und „Aristokraten“, gerade auch konservative Mitglieder der Nationalversammlung. Das von de Sade benutzte und auf die Spitze getriebene Muster wurde vor allem für die Diffamierung von Marie-Antoinette eingesetzt. Umgekehrt wurden die Patrioten der Revolution in Szenen „gesunder“, d. h. heterosexueller, Liebe gezeigt wie in den „Travaux d’Hercule“ von 1790. Nicht
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zufällig wurde hier Herkules als Chiffre genommen, der zugleich Symbol des regenerierten französischen Volkes war! Herkules als Metapher grenzte allerdings zu viele Gruppen aus. Die Metapher richtete sich gegen die eben genannten Gruppen, außerdem gegen die Konterrevolutionäre, also die Gegner im Innern und die Emigranten, gegen die europäischen Fürsten. Während der Terreur schlug die Metapher in das Gegenteil des ursprünglich Gewollten um: eine weitverbreitete Gravur zeigte eine Herkules nachempfundene Gestalt, die sich vom Blut der Guillotinierten nährt. Mit der Terreur wurde die vorstellungsweltliche Grundlage der Körpermetapher zerstört, damit die Voraussetzung ihrer Wirkmöglichkeiten. Am Ende der Revolution blieb nicht eine Metapher, sondern eine Allegorie: die der Liberté, die ein Prinzip (Freiheit) darstellt. (de Baecque 1993, 388 f.) Weder verkörpert sie die Nation als gedachte Einheit, noch läßt sie sich in Organe und Glieder zerlegen, denen die Teile des Ganzen der Nation organologisch wie 1788 bis 1791 zugeordnet werden könnten.
Die „Ordnung der Geschlechter“ oder der point zéro der Nation Die revolutionäre Epoche mündete paradoxerweise in den Neoabsolutismus. Die Entstehung des Begriffs „Absolutismus“, die im 5. Kapitel vorgestellt worden war, hing eng mit den Zeitumständen zusammen. Die Revolution führte in vieler Hinsicht das Ancien Régime zum Ziel, wie es schon Alexis de Tocqueville im vergangenen Jahrhundert herausgefunden hatte. Auf der Ebene der Mentalitäten war der Bruch jedoch enorm. Hier blieb 1789 bzw. 1792 als Jahr I der Republik gleichbedeutend mit einem Bruch der Geschichte, weil die Revolution als kulturelle Revolution, die sie gewesen war, das kulturelle Gedächtnis sehr gründlich transformiert hatte. Die neuen, erheblichen sozialen und politischen Spannungen und Gegensätze der Epoche um 1800 waren nicht mehr mit einem morbiden Ancien Régime zu erklären, sondern stellten sich als Folge der Revolution dar. Der historisch-legitimierende Bezug auf Karl d. Gr. und seine zum Mythos gewordene Epoche, die ein ganzes Jahrtausend zurücklag, unterstrich nur den Charakter der Revolution als mentalen point zéro. Das 19. und Teile des 20. Jh. sind durch dieses Paradox gekennzeichnet: Realpolitisch herrschte der Neoabsolutismus bis in die Dritte Republik, mental blieb es beim Bruch von 1789/1792. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine historische Rehabilitierung der Ge-
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schichte vor 1789 ein, die dazu beitrug, die politische Spaltung der Nation je nach ihrer Stellung zur Revolution aufzuheben. Die heutige Linke definiert sich kaum mehr über die Revolution, auch nicht über die Erste Republik, die heutige Rechte hat mit der traditionellen Rechten, die noch in der ersten Präsidentschaft Mitterands aufgrund ihres gebrochenen Verhältnisses zur Revolution, wenn auch nicht zur „guten Revolution“ von 1789 (!), klar zu definieren gewesen war, nur mehr wenig gemein; sie ist in Auflösung begriffen und macht einer radikalen, nationalistischen und rassistischen Rechten im Umkreis von Jean-Marie LePen Platz. Die Transformation des kulturellen Gedächtnisses durch die Revolution war nicht nur politisch-kultureller Art. Mehr als es im Ancien Régime denk- und machbar gewesen war, wurde die Gesellschaft fundamental nach Geschlechtern getrennt. Die politische und öffentliche Sphäre wurde vermännlicht, die Vorrangstellung der Männer in der Familie gegenüber dem vor 1789 geltenden Recht nochmals verstärkt. Mehr noch: Geschichte und ,Geschichte machen’ wurden vermännlicht. Während Théroigne de Méricourt, Revolutionärin, Kämpferin für Frauenrechte und politische Partizipation der Frauen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und dort zum Modellfall der Psychiatrie des 19. Jh. wurde, leitete sich politische Identität ausschließlich von „Geschichte machenden“ Männern ab. Frauen wurden bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges vom Wahlrecht ausgenommen, das in der Revolution eine zeitlang geltende Scheidungsrecht wurde eliminiert. Die Vermännlichung der politischen Sphäre setzte sich auch in Frankreich weitgehend durch. Nicht zufällig verdrängte Herkules in der Phase der Terreur die weiblichen Allegorien (nicht gänzlich). Einer der wichtigsten Faktoren dieser Kolonisation von Politik und Öffentlichkeit durch Männlichkeit bedeutete die Militarisierung des Mannes. Augenfälligstes Anzeichen war die levée en masse für die Revolutionskriege, die Einführung der Kriegsdienstpflicht für die Männer, die Identifizierung von Patriotismus und der Bereitschaft, dafür die Waffen zu tragen und ggf. nach innen wie nach außen zu gebrauchen. Allerdings begann die Militarisierung des Mannes vor der Revolution. Das Bild des soldat-citoyen erfreute sich schon vorher wachsender Beliebtheit. Die im französischen Heer geschaffenen Aufstiegsmöglichkeiten unabhängig vom Geburtsstand trugen mit dazu bei, Soldatsein und Mannsein in das neue Bild vom Mann einzuzeichnen. Letztlich ging dieser Prozeß auf die Schaffung stehen-
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der Heere und der Miliz unter Ludwig XIV. zurück, die sich überwiegend aus Franzosen rekrutierten. Der Widerstand vieler Männer gegen diese Art der Identitätsstiftung und Definition von Männlichkeit ist nicht zu unterschätzen, doch wurden die Instrumente der militärischen Akkulturation im 19. Jh. vom Soldatenlied bis zum Modell des sportlich gestählten Männerkörpers geschärft und verfeinert. Die Spaltung der Gesellschaft in männlich und weiblich war schon im Aufklärungsdiskurs in der dort propagierten „Ordnung der Geschlechter“ angelegt gewesen. (Honegger 1992) Sie machte sich zugleich im Verlust der ehemals integrierenden Körpermetapher, wie sie im Bild vom corpus mysticum niedergelegt war, bemerkbar. Die Wende hatte sich schon unter Ludwig XIV. abgezeichnet. Den „zwei Körpern des Königs“ fügte er gewissermaßen einen dritten hinzu: den des Mannes. Ludwig kombinierte die zahlreichen Beweise seiner sexuellen Potenz mit weiteren typisch männlichen Körperleistungen im Sattel oder unter dem Messer der Chirurgen (z. B. Operation einer Fistel am After). Das wäre prinzipiell nichts Neues gewesen, wenn er nicht diesen dritten ausdrücklich männlichen Körper permanent mit den asexuierten zwei Körpern des Königs der Tradition vermischt hätte. Ludwig XV. verschlimmerte die Dinge, insoweit er seine sexuelle Potenz großzügig auslebte, aber die übrigen Körperleistungen, zu denen sich Ludwig XIV. verstanden hatte, nicht erbrachte. Ludwig XVI. warf die Untergrundpresse schließlich Impotenz vor: während Ludwig XV. im ersten Jahrzehnt seiner Ehe 10 Kinder zeugte, wurde Marie-Antoinette erst gegen Ende des ersten Ehejahrzehnts schwanger. Medizinisch ist belegt, daß Ludwig XVI. nicht impotent war, aber die Untergrundpresse war von dieser Vorstellung fasziniert und erklärte den Bruder des Königs, den Grafen von Artois, zum Vater des schließlich geborenen Dauphins, dem zweiten Kind des Königspaares. Hier nahm die pornographische „Verwertung“ des Königspaares ihren Anfang, wurde die Zerstörung der monarchischen Körpermetapher eingeleitet. Die Eroberung der Körper des Königs und der Königin durch die politische Pornographie vor und in der Revolution bezeichnete das Ende der traditionellen Körpermetapher, in der König, Volk und politisch-soziales Gemeinwesen zusammengefaßt werden konnten. Die Revolution erfand nach Sieyès und David neue Körperbilder, die aber sexualisiert und instabil waren. Das Volk oder die Nation wurden in Konkurrenz durch weibliche Allegorien (Allegorie der „France“, der „Liberté“) oder durch männliche Figuren wie
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vorzugsweise Herkules repräsentiert. Es wurde das Bild des regenerierten Menschen geschaffen, der einem auferstehenden Christus ähnelte. Bei Festveranstaltungen und in der Bildpropaganda wurde die Figur der „Natur“ herangezogen, an deren regenerierende Flüssigkeit spendenden Brüsten sich die Repräsentanten der Nation labten. Beim Fest der Einheit und Unteilbarkeit der Republik am 10. August 1793 labten sich 86 Männer als Repräsentanten der Départements an den Brüsten der göttinnenartigen Figur. Anschließend mußten sie zu einer muskulösen schwertbewehrten Herkulesfigur ziehen und dort der Revolution Treue schwören. Bei all dem war das Volk nur Zuschauer. Zum Schwur der Abgeordneten sollte sich das Volk in einer militärischen Phalanx aufstellen. Die Regie des Festes, so die Interpretation von Sennett, trieb die Menschen vom Weiblichen zum Männlichen, zum Militärischen und zum Gehorsam. (Sennett 1995, 386) Die großartige Einfachheit der mittelalterlichen Metapher, wo die Erde den Korpus Christi bildete oder die vielen Glieder der Gesellschaft den Körper des Königs, konnte keine Verwendung mehr finden, auch nicht in der von Sieyès und David modifizierten Version. Die traditionelle Körpermetapher war immer eine imaginäre Synthese gewesen, aber sie war asexuiert und darauf angelegt zu integrieren. Die Körpermetaphern der radikalen Revolution polarisierten nach weiblich und männlich und spiegelten die Desintegration der Gesellschaft in eine öffentlich-politische männliche und eine mütterliche nahrunggebende weibliche Sphäre. Die Bilanz des Nationswerdungsprozesses in der Revolution gestaltete sich weniger eindeutig, als im allgemeinen unterstellt wurde. Einerseits waren die politischen und verfassungsmäßigen Zustände überall in ein einheitliches System eingeordnet worden. Das bedeutet, daß der Staatsanteil überall nachhaltig erhöht worden war. Andererseits durchzogen neue Gräben die Gesellschaft. Das kulturelle Gedächtnis hatte einen Bruch erlitten, das mit großen Anstrengungen neu gebildete Selbstverständnis nahm seinen grundsätzlichen Ausgangspunkt von der Revolution, wurde aber durch die sehr gegensätzlichen Haltungen zur Revolution gespalten. Die geschlechterorientierte Spaltung der Gesellschaft fügte dem vorrevolutionären Nationsverständnis Schaden zu, das enggezurrte Zensuswahlrecht karikierte die Gleichsetzung von Nation mit Volkssouveränität, der Verlust einer integrativen Körpermetapher symbolisiert den vorstellungsweltlichen Bruch. Das vorstellungsweltliche Netz des Ancien Régime, das dem alten kulturellen Gedächtnis Struktur und Substanz
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garantiert hatte, war zerrissen, eine neue Kohärenz hatte sich noch nicht eingestellt. Diese wurde erst durch die Dritte Republik geschaffen, nach immer neuen Versuchen im Lauf des 19. Jh.
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Der Neoabsolutismus: Zwischen Monarchie und Republik
7.1 Die konstitutionelle Monarchie als Sicherung der Revolution und die Abwehr der Republik (1814 – 1848) Der Souverän von Elba Die fortgesetzten Niederlagen Napoleons, schließlich die Invasion Frankreichs seit Beginn des Jahres 1814 durch preußische, schlesische, böhmische, russische und weitere Truppen ließ die innerfranzösische Zustimmung zu Napoleon schnell absinken. Führende Köpfe wie Talleyrand (Charles Maurice, Herzog von Talleyrand-Périgord; 1754 bis 1838) waren bereit, bei sich bietender Gelegenheit Napoleon die Treue aufzukündigen. Paris kapitulierte am 30. März 1814, ein wichtiger militärischer und psychologischer Erfolg für die europäischen Alliierten, nachdem Napoleon noch einmal sein Feldherrngenie unter Beweis gestellt und die Alliierten in Bedrängnis gebracht hatte. Bereits am 3. April setzte der Senat in Paris Napoleon mit der verfassungsrechtlichen Begründung ab, dieser habe seinen Eid verletzt und die Rechte des Volks geschmälert, als er entgegen der Verfassung Männer ausheben und Steuern eintreiben ließ. Ein Teil der Armee kündigte inzwischen Napoleon den Gehorsam auf, der russische Zar Alexander betrieb die Abdankung Napoleons, die am 6. April 1814 erfolgte. In Fontainebleau wurde ein Vertrag geschlossen, mit dem Napoleon die Souveränität über Elba erhielt; der französische Staat solle ihm jährlich 2 Mill. Francs an Pensionen zahlen. Am selben Tag, als Napoleon abdankte, rief der Senat Ludwig XVIII., d. i. Louis-Stanislas-Xavier de Bourbon, Bruder des hingerichteten Ludwigs XVI., zum König aus, wie es hieß „aus freien Stücken“ und „mit dem Willen der Nation“.
Ultras und Liberale – Ludwig XVIII. Ludwig erließ am 14. Juni 1814 eine neue Verfassung, die Charte constitutionnelle. In seinen englischen Exiljahren hatte er Gelegenheit gehabt, sich mit der englischen konstitutionellen Monarchie vertraut zu machen, in Frankreich traf er auf ein entemotionalisiertes Verhält-
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nis zur Verfassungsfrage. Was man wollte, war die verbindliche Festlegung der Rechte und Pflichten je des Volkes und des Fürsten. Im Mittelpunkt des politischen Lebens standen ab 1815 (auf die Einhundert Tage Napoleons wird weiter unten eingegangen) die beiden Kammern und der König. Der König besaß die Exekutivgewalt und brachte Gesetze ein, die Kammern (Pairs im Palais Luxembourg; Abgeordnete im Palais Bourbon) stimmten über die Gesetzesentwürfe und das Budget ab. Diese Rechte waren nicht allzuviel wert, denn der König konnte die Abgeordnetenkammer jederzeit auflösen; außerdem stand es ihm frei, die Zahl der Pairs schnell zu vermehren und sich auf diese Weise eine gefügige Mehrheit in der Pairskammer zu schaffen. Im Vordergrund der politischen Polemik standen die Frage nach der Ministerverantwortlichkeit, der Wahlmodus (partielle sukzessive Erneuerung des Parlaments oder regelmäßige Wahl des gesamten Parlaments) und die Pressefreiheit. Die Presse war eine Meinungspresse, weniger eine Informationspresse, ihre Polemiken verführten König und Regierung, die Pressefreiheit teilweise drastisch einzuschränken. Von eigentlichen politischen Parteien läßt sich noch nicht sprechen, es gab ein royalistisches Lager, bezeichnet als Ultras, da hier die Position des Königs weiter gestärkt werden sollte, und ein liberales, das für mehr Rechte des Parlaments kämpfte, in sich aber sehr heterogen zusammengesetzt war. Die Wahlen von 1816 verschafften gemäßigten Abgeordneten eine Mehrheit. Sie schlossen sich zu einer Art konstitutioneller Partei zusammen, die hinter der Charte stand. François Guizot (1787 bis 1874), später Bildungsminister und starker Mann der Regierung, gehörte etwa dazu. Politische Köpfe, die eine „Linke“ hätten bilden können, hatten den weißen Terror (s. u.) nicht überlebt. Die Liberalen traten zunächst unter dem Label von „Unabhängigen“ auf, zu den führenden Köpfen zählte beispielsweise Benjamin Constant (1767 bis 1830).
Ultras und Emigranten – Karl X. Ludwig XVIII. gelang es durchaus, die politische Mitte zu halten. Er starb am 16. 9. 1824. Es folgte ihm im Amt sein Bruder nach, der Graf von Artois, der sich dann Karl X. (1757 bis 1836; König 1824 bis 1830) nannte. Er war ein Mann der Ultras, und so gilt seine kurze Regierungszeit als Phase der Reaktion. Karl ließ sich in Reims nach dem Krönungsritus des Ancien Régime krönen und praktizierte das Ritual der Handauflegung, so als sei es möglich, den mystischen Körper des Königs wieder zum Leben zu erwecken. Er öffnete dem Klerus Tür
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und Tor, vor allem zum Bildungs- und Schulwesen. Das Thema der Entschädigung der Emigranten lag damals ohnehin in der Luft, aber daß gerade unter dem „Reaktionär“ Karl eine Lösung betrieben wurde, schuf eine psychologisch schwierige Situation. Bei den Entschädigungen für Güter, die in der Revolution enteignet und als Nationalgüter verkauft worden waren, ging es um Werte von knapp 870 Millionen Francs, die Finanzierung des Vorhabens über Rentenwerte erforderte aber nur einen Bruchteil dieser Summe aus dem Staatshaushalt, so daß alle öffentliche Aufregung und die nachfolgende Legendenbildung nicht materiell, sondern nur psychologisch zu erklären sind. Das Problem wurde seit 1814 auf mehreren Ebenen akut: „Zum einen bestanden direkte Konfrontationen zwischen anciens propriétaires und acquéreurs, zwischen alten und neuen Grundbesitzern, die dazu führten, daß sich die Nationalgutkäufer unter Druck gesetzt und zu einer Rückgabe gezwungen fühlten. Zum zweiten gab es eine Flut von Broschüren, in denen die Emigrantengesetze der Revolution untersucht und je nach politischer Position des Verfassers für legitim oder illegitim erklärt wurden und verschiedene Lösungen durchgespielt, propagiert oder verworfen wurden [. . .]. Zum dritten wurde seit 1814 in vielen Parlamentsdebatten auf das Problem ,Rückgabe oder Entschädigung’ Bezug genommen, vor allem, wenn es in irgendeiner Weise um die Einschätzung der Revolution und ihre Einordnung in die nationale Vergangenheit ging.“ Noch um 1900 war das Problem nicht vollständig erledigt, 1920 wurden die letzten Emigrantengüter, die sich noch in Staatsbesitz befanden, versteigert.1
„Er hat das Blut des Volkes fließen lassen“ – Die Juli-Revolution 1830 1827 erlebte Frankreich eine allgemeine Wirtschaftskrise, der Regierungschef Joseph Graf von Villèle (Dez. 1821 bis Jan. 1828) geriet ins Kreuzfeuer der Kritik. Besonders die Nationalgarde schmähte ihn; Karl X. ließ sich von Villèle bereden, die Garde aufzulösen. Diese ging mit ihren Waffen nach Hause, es brachen Unruhen in Paris aus. Anstehende Neuwahlen nutzte die Opposition, sich zu organisieren. Die Liberalen erreichten mit 180 Sitzen im Parlament dieselbe Stärke 1 Zur Diskussion um die Entschädigung der Emigranten s. Almut Franke, Le milliard des émigrés. Die Entschädigung der Emigranten im Frankreich der Restauration (1814–1830), Diss. Bochum 1997 (MS), Zitat S. 10.
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wie die Regierungsanhänger. 1829 berief Karl X. einen früheren Emigranten, den Fürsten Jules von Polignac, zum Regierungschef. Gemeinsam mißachteten sie immer wieder die Charte constitutionnelle, so daß einflußreiche Persönlichkeiten wie Adolphe Thiers (1797 bis 1877) und Talleyrand die Rückkehr der Bourbonen, des Herzogs von Orléans, auf den Thron betrieben. Zur Parlamentseröffnung im März 1830 präsentierten 221 Abgeordnete eine Entschließung an den König, in der es hieß, daß Handeln der Regierung und Wünsche des Volks nicht übereinstimmten, d. h., daß die Regierung gegen die Charte, die Verfassung verstoße. Der König löste die Kammer daraufhin bereits am 16. Mai wieder auf, Neuwahlen sollten am 23. Juni und 3. Juli stattfinden. Von militärischen Aktionen in Algerien versprach sich die Regierung Wahlvorteile, Algier wurde am 4. Juli 1830 erobert. Die Wähler nahm dies nicht zugunsten der Regierung unter Polignac ein, die Regierungsgegner erhielten 274 Abgeordnete, die Regierungsanhänger mußten sich mit 143 begnügen. Noch erfreute sich der König breiten Vertrauens im Land. Eine Anerkennung des Sieges der Opposition hätte deutlich gemacht, daß es sich um eine konstitutionelle Monarchie handelte, aber Karl X. entschied sich erneut für Polignac und nutzte den Artikel 14 der Charte, eine Art Notstandsparagraph. Dieser besagte, daß der König „die für die Ausführung der Gesetze und die Sicherheit des Staates erforderlichen Maßnahmen und Verordnungen verfügt“. Eine Verordnung schränkte die Pressefreiheit ein, eine zweite löste die Abgeordnetenkammer auf, die noch gar nicht zusammengetreten war, eine dritte änderte das Wahlgesetz zugunsten der Regierung: bisher wurde beim Zensus auch die Gewerbesteuer berücksichtigt. Da die Gewerbetreibenden offensichtlich nicht im Sinne der Regierung gewählt hatten, sollte künftig nur noch die Grundsteuer berücksichtigt werden. Damit verblieb als wahlberechtigt überwiegend nur noch die grundbesitzende Aristokratie. Regierung und König fühlten sich ihrer Sache sicher, schon wegen der anziehenden Konjunktur und dem Rückgang der Arbeitslosigkeit. Sie täuschten sich. Am 26. Juli 1830 wurden die Erlasse veröffentlicht, am 27. wurde versucht, die Pressezensur praktisch durchzusetzen. Dies löste die ersten Barrikadenerrichtungen und Aufstände aus, am 28.7. wurde viel geschossen, die Regierungstruppen zahlten einen hohen Blutzoll, am 29.7. griffen die Aufständischen an. Adolphe Thiers riß die Initiative an sich und schlug den Herzog von Orléans als neuen König vor. Folgenden Text bereitete er als Proklamation vor: „Karl X. kann nicht mehr nach
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Paris zurückkehren, er hat das Blut des Volkes fließen lassen. Die Republik würde uns schrecklichen Spaltungen aussetzen, sie würde uns mit Europa überwerfen. Der Herzog von Orléans ist ein Fürst, der der Sache der Revolution ergeben ist. Der Herzog von Orléans hat niemals gegen uns gekämpft. Der Herzog von Orléans war (1792) in Jemappes (Belgien) dabei. Der Herzog von Orleáns hat die Farben der Trikolore im Feuer getragen, der Herzog von Orléans kann sie als einziger noch tragen; wir wollen keinen anderen. Der Herzog von Orléans hat Stellung bezogen; er akzeptiert die Charte, wie wir sie stets gewollt und verstanden haben. Er wird seine Krone vom französischen Volk erhalten.“ Während Thiers sich auf den Weg zum Herzog machte, trugen die im Palais Bourbon verbliebenen 92 Abgeordneten eben diesem die Statthalterschaft für das Königreich an. Am 31. Juli legte der Herzog die Uniform der Nationalgarde an und begab sich ins Rathaus der Stadt Paris. Auf dem Balkon zeigte er sich dem Volk in Begleitung La Fayettes, der sich die Trikolore übergeworfen hatte. Es handelte sich um jenen La Fayette, der im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft und in der Revolution von 1789 eine wichtige Rolle gespielt hatte. 1830 kommandierte er die Nationalgarde, er starb 1834. Der daraufhin einsetzende Beifall der Bevölkerung wurde als Akklamation interpretiert, der Herzog von Orléans war ins Amt gehoben. Mit anderen Worten: die Reaktion in Gestalt Karls X., aber auch die Republikaner, die auf den Straßen gekämpft hatten, waren geschlagen. Karl flüchtete nach England, und so proklamierten die Abgeordneten, die im Juli gewählt worden waren, am 7. August 1830 den Herzog von Orléans als Louis-Philippe I. zum „König der Franzosen von Gottes Gnaden und durch den Willen der Nation“.
Louis-Philippe I. Auch wenn das Volk womöglich nicht unbedingt Louis-Philippe als Herrscher gewollt hat, sondern auch eine neue Republik möglich gewesen wäre, Louis-Philippe verdankte seinen Thron letztlich dem Volk und den Volksaufständen. Diese dauerten bis 1835 fort. Im Juni 1832 etwa mobilisierten die Republikanhänger die Volksmassen; es wurden 25.000 Soldaten und Nationalgarden eingesetzt, um den Aufstand niederzuschießen. Ähnlich große Aufstände im April 1834 in Lyon und Paris, alle mit großer Beteiligung von Arbeitern, wurden genauso blutig beendet. Es war die Rückkehr des Volks auf die politische Bühne. Louis-Philippe trat wie ein Bürger auf, das Bürgerliche
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dürfte seiner Mentalität entsprochen haben, aber er verwechselte sicher nicht Bürger und König. König, das war er, er regierte. Ein fehlgeschlagenes Attentat auf ihn am 28. Juli 1835 verschaffte ihm einen Vorsprung in der öffentlichen Meinung vor den Republikanhängern. 1840 erfolgten neue Aufstände unter Anführung von Bauarbeitern, die den Arbeitstag auf 10 Stunden verkürzt sehen wollten, 1844 erhoben sich die Bergleute in den Kohlegruben des Loiregebiets, 1845 streikten die Pariser Zimmerleute usf. Die Juli-Monarchie wird durch die Zunahme der Arbeiterkonflikte gekennzeichnet. Das eigentliche Proletariat machte ca. eine Mill. der 5–6 Mill. Fabrikarbeiter aus, aber es war nicht nur das Proletariat, das streikte oder Aufstände begann. Die soziale Frage reichte bis in die Mittelschichten der Arbeiter, da die zunehmende Mechanisierung der Arbeitsabläufe auch den Arbeitermittelstand bedrohte.
Soziale Krise und Februarrevolution 1848 In der zweiten Hälfte der 1840er Jahre belebte sich die Diskussion um eine Senkung des Wahlzensus. Der König und die Regierung mit Außenminister Guizot als starkem Mann sperrten sich dagegen, sie erkannten die Zeichen der Zeit nicht. 1846 setzte eine Agrarkrise ein (der Vergleich mit 1788 drängt sich auf). Zwei schlechte Getreideernten führten zu Versorgungsengpässen und einer Erhöhung des Getreidepreises von 17 Francs pro Hektoliter 1845 auf 43 im Jahr 1846; es kam zu Teuerungsaufständen in den Städten und auf dem Land. 1842–46 hatte es einen Investitionsschub sondergleichen gegeben, vor allem auch im Eisenbahnwesen. Der Schuldenstand war hoch, was nicht schlimm gewesen wäre, wenn nicht englisches Kapital unvermittelt nach England rücktransferiert worden wäre, das ebenfalls mit einer Wirtschaftskrise zu kämpfen hatte. Die Banken mußten mehr Geld auszahlen als sie einnahmen, sie suchten Hilfe bei der Bank von Frankreich, die nun ihrerseits fast die Reserven angreifen mußte. Natürlich war auch der Staat hoch verschuldet. Die Industrieproduktion bildete sich zurück, die Arbeitslosigkeit stieg, auf bis zu 35% in einzelnen Regionen wie der Normandie und der Champagne (Krise der Baumwollindustrie). Während es in Paris zunächst ruhig blieb, entlud sich in einer Reihe von Provinzstädten die soziale Krise in Aufständen. Die Republikanische Opposition machte sich zum Kutscher der sozialen Unzufriedenheit, sie organisierte Wahlbankette, man redet vom „Aufstand der Gabeln“. Das Verbot eines solchen Banketts im Februar 1848 in Paris führte zu gemeinsamen
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Protesten von Studenten und Arbeitern, Schießereien folgten. Diesmal setzte sich die Nationalgarde von der Regierung ab, die Aufständischen schlugen sich mit regulären Truppen. Die Republikanhänger verschafften sich die Macht im Parlament und setzten eine provisorische Regierung ein. Paris erhielt wieder eine Stadtverwaltung, die es Jahrzehnte nicht gegeben hatte. In der Nacht vom 24. auf den 25. Februar wurde die Republik mit Hilfe der Zustimmung des Volks von Paris begründet, das restliche Frankreich mußte wohl oder übel folgen.
7.2 Desintegration und Integration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Im Schatten der Revolution Wegen der sich teilweise überschlagenden Ereignisse erscheint die Französische Revolution tatsächlich wie ein Ereigniszusammenhang, der sich blockartig in die französische Geschichte des ausgehenden 18. Jh. einschrieb. Besondere und langfristig wirksame Veränderungen hatten sich in der politischen Kultur ergeben, während die soziale Revolution mit vielen Fragezeichen versehen bleibt und vielleicht, je nach Betrachtungswinkel, gar nicht stattgefunden hat. Jedenfalls war es keine Revolution praktischer sozialer Gleichheit. Die Gesellschaft blieb hierarchisiert, allerdings wurde ein Teil der Eliten und Funktionsträger ausgetauscht. Das mag man ggf. als soziale Revolution bezeichnen. Für die Zeit nach dem Ende der radikalen Revolution im Lauf des Jahres 1794 halten die Geschichtsbücher viele Schlagworte bereit. Es scheint verständlich, daß nach diesem bewegten Jahrzehnt – wenn die Vorrevolution mit eingerechnet wird – die französische Gesellschaft nach einer politischen und ideologischen Konsolidierung trachtete, die als Suche nach dem „juste milieu“ bezeichnet wird, als Suche nach einer Mitte zwischen Ancien Régime einerseits, das von den meisten nicht zurückgewünscht wurde, und der radikalen Revolution andererseits, die kaum jemand fortsetzen wollte. Die Suche nach dem „juste milieu“ hielt das ganze 19. Jh. an, vielleicht ist sie sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Vierten Republik, in der endlich auch die Frauen in Frankreich das Wahlrecht erhielten (1944), zu einem passablen Ergebnis gelangt – oder mit der Fünften Republik, die im Zuge der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution das Ende der Revolution konstatierte. Die Geschichte der
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Rezeption der Französischen Revolution im 19. und 20. Jh. erweist die grundlegende Transformation des kollektiven Gedächtnisses.
Notabelngesellschaft Das Frankreich des 19. Jh. wird gern als Frankreich der Notabeln bezeichnet. Die Notabeln, das sind in erster Linie Eigentümer von Grund und Boden, Bankiers, Großindustrielle, reiche Bürger sowie vor allem der alte und der Neuadel, den Napoleon schuf, eine Praxis, die Ludwig XVIII. und Karl X. beibehielten. Die Notabeln waren zugleich diejenigen, die die Bedingungen des Zensuswahlrechts erfüllen konnten. Nur wer 300 Francs direkte Steuern jährlich zahlte und mindestens 30 Jahre alt war, durfte wählen, nur Männer, versteht sich. Wer 1.000 Francs direkte Steuern zahlte und mindestens 40 Jahre alt war, war wählbar. Das bedeutete bei ca. 30 Mill. Einwohnern im frühen 19. Jh. ca. 90.000 wahlberechtigte Männer und ca. 25.000 wählbare Männer. Der Zensus wurde nach 1830 geringfügig gelockert, aber erst nach der Februarrevolution von 1848 waren kurzfristig 7,5 Mill. Männer wahlberechtigt, was fast alle Männer über 25, die direkte Steuern zahlten, einschloß. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß ein Arbeiter damals ca. 2 Francs Lohn für einen Arbeitstag von durchschnittlich 14 Stunden Dauer erhielt, läßt sich ermessen, was die Hürde von 300 bzw. 1.000 Francs direkter Steuern bedeutete.
Blockierte Gesellschaft? Z. T. wird die Gesellschaft des 19. Jh. auch als „blockierte Gesellschaft“ bezeichnet. Im Gegensatz zu England, wo die Wachstumskurve von Industrieproduktion und Bevölkerung vergleichsweise steil nach oben zeigte, nahmen die Entwicklungen in Frankreich einen gemächlichen Gang. Zwischen 1815 und 1840 wuchs das Bruttosozialprodukt um 1% jährlich (in England um 1,4%), danach bis 1860 um jährlich 2%. Die Mehrheit der Bevölkerung lebte und arbeitete auf dem Land (um 1850 75%), 44% des Nationaleinkommens wurden noch 1847 in der Landwirtschaft erwirtschaftet. Auch ohne demokratisches Wahlrecht konnte die Politik nicht an diesen Tatsachen vorbeigehen, sie mußte die Landbevölkerung zufriedenstellen. Es ereigneten sich in kurzer Folge politische Umwälzungen, Arbeiterund Hungeraufstände waren geradezu an der Tagesordnung. Niemand, keine politische Richtung, kein Monarch, keine gesellschaftliche Gruppe oder Schicht, keine Konfession, war stark genug, ein
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Konzept, sofern es ein solches gab, durchzusetzen. Das Ganze ähnelte einem Kräfteparallelogramm, in dem sich in der Regel die Kräfte gegenseitig aufhoben, das aber kurzfristig wie 1814/15, 1830, 1848, 1851 verschoben wurde und einer politischen Kraft oder Richtung zu einem vorübergehenden Sieg verhalf. Bis zu einem gewissen Grad war es egal, ob sich Frankreich Kaiserreich, Monarchie, Bürgerkönigtum oder Republik und dann wieder Kaiserreich nannte, in der Regierungspraxis machte dies keinen großen Unterschied. Am besten läßt sich das an der Pressegesetzgebung ablesen: In gleichmäßigem Rhythmus wurde die Pressezensur gelockert oder angezogen, je nach Regime und Nähe zu den sog. Prinzipien von 1789. Auf jeden Fall wurde der Presse großer Einfluß, ja Verantwortlichkeit für die Entwicklung im Land zugeschrieben, obwohl vor 1850 nur rd. 200.000 Abonnenten von Zeitungen existierten. Diese Zahl entspricht in etwa der Höchstzahl der Wahlberechtigten.
„Der Verkauf der Nationalgüter ist unwiderruflich.“ – Die Charte constitutionnelle Ludwig XVIII. oktroyierte 1814 die Charte constitutionnelle, die nicht einfach die Monarchie des Ancien Régime restituierte, sondern nicht unwesentliche Errungenschaften der Revolution verfassungsmäßig festschrieb. Schon die Tatsache einer Charte, also einer geschriebenen Verfassung, trennt Ludwig XVIII. von Ludwig XVI. In der Charte lautete es u. a.: „Ludwig, von Gottes Gnaden König von Frankreich und von Navarra. . . Durch die Liebe unseres Volkes auf den Thron unserer Väter zurückgerufen. . .“ Weiters: „Das repräsentative Regierungssystem wird beibehalten werden, so wie es heute besteht, geteilt in zwei Körperschaften. . . Die Steuer soll frei bewilligt werden, die öffentliche und individuelle Freiheit gesichert, die Pressefreiheit respektiert und die Freiheit der Religionsausübung garantiert werden. Besitz und Heiligtum sollen unverletzlich und heilig sein; der Verkauf der Nationalgüter ist unwiderruflich. Die Richter bleiben unabsetzbar und die richterliche Gewalt unabhängig. Die Staatsschuld bleibt garantiert; die Pensionen, Ränge, militärische Ehren werden ebenso beibehalten wie der alte und der neue Adel. . . . Jeder Franzose soll Zugang zu den zivilen und militärischen Ämtern haben. Schließlich soll niemand wegen seiner Ansichten und Abstimmungen behelligt werden können.“
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Die Hundert Tage und der Schatten des Bonapartismus Das Bemühen, einen nationalen Konsens herbeizuführen, ist eindeutig. Ludwig XVIII. hielt sich dementsprechend auch mit Säuberungsaktionen zurück. Nur die sog. Königsmörder, also die, die seinerzeit für das Todesurteil über Ludwig XVI. votiert hatten, wurden aus ihren Ämtern entfernt. Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Land im Grunde gespalten war. Hierin lag die Chance des Bonapartismus. Napoleon, der von den Siegermächten 1814 als souveräner Herrscher über Elba eingesetzt worden war, war genauestens über die Meinungsentwicklung in Frankreich unterrichtet, seine Landung am 1. März 1815 auf französischem Festland war kein spontaner Akt. Obwohl Frankreich dank der Diplomatie Talleyrands im Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 wohlwollend behandelt worden war und sich auf dem Wiener Kongreß als europäische Macht behauptet hatte, wurde die Überlassung großer Mengen von Kriegsmaterial, das sich beim Friedensschluß außerhalb Frankreichs in den Territorien der Siegermächte befand, in Frankreich verbreitet als Dank der früheren Emigranten an die Alliierten gewertet. Während in der Armee die napoleonischen Offiziere in den Ruhestand oder auf halben Sold geschickt wurden, nahmen zurückgekehrte Emigranten, die in den Revolutionskriegen gegen Frankreich gekämpft hatten, deren Plätze ein. Genau diese Sozialgruppe und ihre Behandlung gehörte zu den neuralgischen Punkten des nachnapoleonischen Frankreich. Die Hundert Tage Napoleons bedeuteten mehr als eine Episode. Militärisch und politisch scheiterte Napoleon, aber es hatte sich gezeigt, daß der Name Napoleon Bonaparte geeignet war, patriotische Gefühle auf sich zu vereinigen und als Symbol für die Sicherung revolutionärer Errungenschaften zu gelten. Davon profitierte der spätere Louis-Napoleon (Napoleon III.)
Theorie der Terreur und Weißer Terror Kehren wir noch einmal zurück in das Jahr 1815. Napoleons Hundert Tage belasteten Frankreich mit folgenreichen Hypotheken. Die Alliierten hielten Teile Frankreichs mit über 1,2 Mill. Soldaten besetzt, im zweiten Pariser Vertrag vom 20. November 1815 mußte Frankreich einige territoriale Verluste hinnehmen, im großen und ganzen aber wurde die Integrität des Landes gewahrt. Im Innern verschafften die Wahlen zur Abgeordnetenkammer den Ultraroyalisten eine Mehrheit, und diesmal kam es zu Hinrichtungen von Gefolgsleuten Napoleons. Im Süden Frankreichs herrschte Lynchjustiz, bekannt als „Wei-
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ßer Terror“, die Verwaltung wurde diesmal rigoros gesäubert, wie später dann noch einmal 1830. „Weiß“ war die Farbe der Monarchie, der Terror bedeutete also zugleich eine symbolische Gegenreaktion auf bzw. Rache für die Terreur 1793 bis 1794. Das wilde Abschlachten von 2.000 oder vielleicht mehr Menschen 1815 erinnert an die Terreur der Revolution, gleich bleibt sich, daß die Verbreitung von „Schrecken“ durch Blutvergießen ein traditionelles politisches Mittel in Frankreich war. Sie war wesentlich mehr als eine nur verhängnisvolle Entwicklung oder Entgleisung der Revolution, es gab eine Theorie der Terreur, die bei einzelnen Personen im Kontext der Niederschlagung des Vendée-Aufstandes zur Technik der Massenvernichtung ausgeweitet worden war. Auch nach dem Ende der Jakobinerdiktatur blieb „terreur“ dem Sprachgebrauch erhalten, die politischen Gegner traktierten sich gegenseitig mit dem Vorwurf der „terreur“. Zum Epochenbegriff entwickelte sich „terreur“ ab 1797, z. B. in Schriften von Benjamin Constant, bei Mme de Staël und in der Revolutionshistoriographie des frühen 19. Jh. „Im Sprachgebrauch der Royalisten richtete sich der Terreur-Begriff im Grunde gegen jede Maßnahme des thermidorianischen Konvents und des Direktoriums, die Republik gegen rechts abzusichern, und hatte in ihrer Propaganda die offensichtliche Funktion, den Eindruck einer ungebrochenen Kontinuität der Regierungsmethoden von Robespierre bis zum Direktorium zu suggerieren.“ (Gerd van den Heuvel) Im Gegenzug geißelte die revolutionäre Presse die Royalisten als Terroristen, deren Aktionen nach 1800 dann als „weißer Terror“ bezeichnet wurden. Bei der Legitimation der „terreur“ im Kampf gegen die äußere Bedrohung durch die europäischen Mächte standen sich die Parteien jedoch nahe, die Idee der Grande Nation war geeignet, die vielen ideologischen Gegensätze zu überbrücken. Auch dies war Louis-Napoleon 1851 gewärtig, sein erklärtes Ziel für Frankreich war, der Grande Nation wieder die ihr zukommende Stellung in der Weltpolitik zu verschaffen.
Desintegration und Integration Man wird immer wieder zu der Feststellung gelangen, daß das Erbe der Revolution in mancher Hinsicht sehr zwiespältig war und die Nation ggf. spaltete. Das gilt vor allem für die Fragen, in denen die führenden Revolutionäre die Auseinandersetzung äußerst radikal und ggf. blutig führten, wie gegenüber der katholischen Kirche, dem
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Adel und politisch Andersdenkenden. Eben diese Gruppen nutzten seit Napoleon und dann vor allem im 19. Jh. die sich wieder eröffnenden Chancen, verlorengegangene Positionen zurückzugewinnen. Die katholische Kirche begann einen Eroberungszug in den Bildungsinstitutionen und erreichte in diesem Bereich mehr Einfluß als im Ancien Régime. Dies schuf jedoch neuen Konfliktstoff, vor allem erstreckte sich ihr Einfluß auf die Frauen, während die Entchristianisierung der Männer fortschritt, sekundiert von deren Militarisierung. Bei den Revolutionen 1830 und 1848 sowie bei diversen Gelegenheiten zwischendurch zeichnete sich die Nationalgarde dadurch aus, daß sie Aufstände gnadenlos zusammenschoß, egal, ob es um die Erhaltung der Monarchie wie 1830 oder die Errichtung einer Republik 1848 ging. Während einerseits durchaus Hunger- und Teuerungsaufstände nach Art des Ancien Régime fortexistierten, wurden politische Aufstände zur reinen Männersache, parallel zur Ausgrenzung der Frauen aus der Politik und dem Wahlrecht. Die Scheidung der Gesellschaft in eine männlich-militärisch-politische und eine weiblich-religiös-häusliche Sphäre bei den Mittel- und Oberschichten, aber z. T. auch bei den Unterschichten prägte das französische 19. Jh. Dies wird zumeist in den Hintergrund verschoben, wenn von der weiblichen Allegorie die Rede ist, die Frankreich darstellte. In dieser Allegorie verbanden sich die tradierte Allegorie der „France“ oder auch der „Gallia“, die republikanische „Liberté“ und die „Marianne“. Die weibliche Allegorie stand vorwiegend für republikanische Ideale, somit für die Ziele der republikanischen Opposition, nicht für einen Ist-Zustand. Das politische und kulturelle Leben wurde in erheblichem Maß von der Auseinandersetzung mit der Revolution bestimmt. Anfangs wurde noch viel von Schuld geredet, später, im Lauf der 1820er Jahre, gewann die Frage nach den Ursachen, nach den Gründen der Revolution mehr an Gewicht. Es galt, über die Aufarbeitung der Geschichte nationale Integration zu erzielen. Zahlen haben ja die Eigenschaft, auf einfache Weise komplexe Zusammenhänge auszudrükken: 1811 wurden 3 Millionen Seiten Geschichtsdarstellung gedruckt, 1825 waren es 40 Millionen. Selbstredend sagen diese Zahlen nur etwas über das literate Publikum aus, nicht über das allgemeine Geschichtsbewußtsein der Nation. Hinsichtlich des sozialen und wirtschaftlichen Lebens machten sich nur nach und nach deutliche Veränderungen gegenüber der Zeit
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vor 1789 bemerkbar. Vom Verkauf der Nationalgüter hatten ganz besonders Bürger profitiert, aber die hatten schon vorher einen kleinen Siegeszug in den ländlichen Besitz hinein angetreten. Die eigentlichen Bauern hatten vor der Revolution rd. ein Drittel des Bodens besessen, danach ca. 40%, was hinter den Idealen der Revolution zurückblieb, aber immerhin auf den größten bäuerlichen Besitzzuwachs aller Zeiten in Frankreich hinweist. Die Frage nach Veränderungen in der Sozialstruktur allein reicht nicht aus. Die Frage ist vielmehr, ob die Lebensgewohnheiten und auch die Mobilität weiterhin kleinräumig charakterisiert blieben oder ob sich auch dort eine nationale Einheit herauskristallisierte. Die Disparität der Verhältnisse läßt sich an den Krisenzyklen des 19. Jh. ablesen. Mit Zyklus ist der Zusammenhang von Mißernte, Getreide- bzw. Brotteuerung, Hunger sowie Krankheit und Tod als Folge des Hungers anzusehen. Wie schon im Ancien Régime bestand nicht immer ein objektiver Mangel an Getreide, da nicht überall Mißernten gleichzeitig zu verzeichnen waren, sondern es bestand ein Verteilungs- und Spekulationsproblem, das die Preise ansteigen ließ und den Hunger verursachte. Um den Krisen zu entgehen, machten sich immer mehr Menschen auf den Weg, teils endgültig, d. h. sie wanderten vom Land in die Stadt, oder vorübergehend, d. h. sie zogen saisonal zur Arbeit wie dem Eisenbahnbau und bewirtschafteten weiterhin ein Stück Land. Dies diente zunächst einer stärkeren Integration kleiner Räume wie den Départements oder auch Regionen. Die Schul- und Sprachenpolitik setzte bis zum Ende des Jahrhunderts Hochfranzösisch als allgemein gängige Nationalsprache durch, gerade das Militär wirkte hier als Schule der Nation, aber die Dialekte existierten weiter, und die alten Sprachen wie das Okzitanische wurden von Gelehrten zu regionalen Hochsprachen entwickelt, die eine regionale Identität und manch regionalen Geschichtsmythos abstützen sollten.
7.3 Das Second Empire Der Staatsstreich von 1851 Die Aufbruchstimmung des Revolutionsjahres 1848 hatte auch den Bonapartisten genutzt, der Außenseiter Louis-Napoleon wurde schnell zum Kompromißkandidaten. Der Neffe Napoleons, LouisNapoleon Bonaparte (1808 bis 1873) machte sich diese Stimmungen zunutze. Zwei frühere Putschversuche waren gescheitert, aber ausge-
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rechnet die Revolution von 1848, die wieder eine Republik installierte, ebnete Louis-Napoleon den Weg zur Macht. Gerade aus dem Exil zurückgekehrt, kandidierte er bei den Präsidentschaftswahlen Ende 1848, die er haushoch gewann. Geschickt nutzte er die Zeit, um eifrig durchs Land zu reisen und die öffentliche Stimmung für sich zu gewinnen, so daß er geradezu problemlos am 2. Dezember 1851 staatsstreichartig die Macht an sich reißen konnte. Louis-Napoleon war dabei nicht einfach bei einem nostalgischen Bonapartismus stehen geblieben, sondern er äußerte im Gegensatz zu seinem Vorgänger Louis-Philippe von Orléans, dem Bürgerkönig, u. a. ein klares Bewußtsein von der Arbeiterfrage, die sich 1814/15 noch kaum, Mitte des 19. Jh. aber immer deutlicher stellte. Die Arbeiter beeindruckte er durch sein sozialpolitisches Bewußtsein, die Bauern erinnerten sich mit Zustimmung an das Erste Kaiserreich, ein Teil der Konservativen sah in Napoleon eine leicht zu lenkende Figur. Der an sich aussichtsreiche republikanische Kandidat Cavaignac hieß bei den Arbeitern der „Schächter“, weil er die Juni-Aufstände blutig hatte niederschlagen lassen, anderen war er zu radikal. Kurz und gut, am 10. Dezember 1848 erzielte Napoleon 5,5 Mill. von 7,5 Mill. Stimmen und war damit Präsident. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Mai 1849 wurden überwiegend konservative Abgeordnete gewählt, die eher Monarchisten, weniger Republikaner waren. Den Ton gab die sog. Partei der Ordnung an, die sich an den Werten Religion, Familie und Eigentum orientierte. Ihr besonderes Interesse galt dem Schicksal des Papstes. Die 1848er Revolution hatte in Rom zur Errichtung einer Republik geführt, die den Papst vertrieb. Die französische Partei der Ordnung betrieb die Wiedereinsetzung des Papstes mit militärischen Mitteln in Rom selbst. Dies gelang ihr, während die linken Kräfte in Frankreich unter Führung Lamartines vergeblich versuchten, die Öffentlichkeit gegen diese Intervention zu mobilisieren. Das Gesetz Falloux vom 15. März 1850 organisierte das Bildungsund Universitätswesen neu; vor allem wurde der Klerus in alle Kontrollgremien aufgenommen. Geistliche konnten nun lediglich ausgestattet mit der Erlaubnis ihres Bischofs Volksschulen gründen, eine pädagogische Ausbildung oder gar ein Lehramtsstudium wurde nicht für erforderlich gehalten. Die Mitglieder der religiösen Kongregationen waren gewissermaßen geborene Volksschullehrer und -lehrerinnen, und in der Tat erlebte Frankreich einen beispiellosen Gründungsboom kirchlicher Schulen.
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Als um so schmerzlicher wurde es empfunden, daß bei Nachwahlen in Paris 1850 ein bekannter „Linker“, Eugène Sue (1804 bis 1857), ins Parlament gelangte. Das wiedergeborene Frankreich der Notabeln, auf dem Weg der Rekatholisierung, nahm das so tragisch, daß sofort die Börsenkurse in den Keller rutschten. Sue war am 28. April gewählt, schon am 31. Mai war die gesetzgeberische Notbremse gezogen worden: Ein Drittel von den 9 Mill. männlichen Wählern wurde kurzerhand im Zuge einer Verschärfung des Wahlzensus von den Wahlen ausgeschlossen. Voraussetzung war nun, als Steuerzahler bereits drei Jahre in derselben Gemeinde eingeschrieben zu sein. Das schloß die notgedrungen mobilen Beschäftigten wie Tagelöhner, Gesellen auf Wanderschaft, Hausbedienstete u. a. mehr aus, Leute, die ggf. links und republikanisch wählten. Die Verfassung der Republik sah vor, daß der Präsident nur einmal auf vier Jahre gewählt werden konnte. Louis-Napoleon mochte sich mit einer solchen Perspektive überhaupt nicht anfreunden. Systematisch schuf er sich im Elysée-Palast eine bonapartistische Hausmacht, plazierte seine Leute in der Regierung und in der Verwaltung. In seinen Reden suchte er den Schulterschluß mit dem Volk, den Bauern, den Arbeitern und dem Patronat. Er identifizierte seinen Namen mit einem einfachen Programm: „Ordnung, Autorität, Religion, öffentliches Wohl, nationale Würde.“ Allen politischen Gruppierungen stand der Wahltermin von 1852 vor Augen, doch kamen die Republikaner nicht aus den Startlöchern, die Royalisten, die um Adolphe Thiers geschart einen Bourbonen zur Kandidatur auf das Präsidentenamt bewegen wollten, mußten sich mit dynastischen Querelen auseinandersetzen. Louis-Napoleon ließ nunmehr auch öffentlich durchblicken, daß er sich zur Wiederwahl stellen wolle, weil es keine Alternative zu ihm gebe. Andernfalls sei die Restauration oder Anarchie zu befürchten. Er propagierte offen eine Revision der Verfassung, die Nationalversammlung zieh er, modern gesprochen, der sozialen Kälte. Der Versuch, dort die nötige Dreiviertelmehrheit für eine Verfassungsänderung zu sammeln, mißlang. Napoleon forderte populistisch die Aufhebung des Zensusgesetzes vom Mai 1850 sowie einen Volksentscheid. In der Nacht vom 1. auf den 2. Dezember 1851 schritt der Präsident zur Tat; er löste per Dekret die Nationalversammlung auf, führte das allgemeine Wahlrecht wieder ein und verkündete den Belagerungszustand in Paris. Die wichtigsten Abgeordneten wurden verhaftet, einen allgemeinen Volksaufstand gab es nicht, aber kleinere Aufstände in Paris und wenigen Departements
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reichten aus, um auch dieser Staatsumwälzung ihr blutiges Denkmal zu setzen. Über 25.000 Verhaftungen, Verbannungen wie die Victor Hugos und ca. 9.500 Deportationen nach Algerien sorgten für die politische Ruhe, die sich Louis-Napoleon wünschte. Am 21. Dezember 1851 wurde das ursprünglich für den 14.12. geplante Plebiszit durchgeführt. Die französischen Männer stimmten über folgendes Dekret ab: „In der Erwägung, daß die Souveränität in der Gesamtheit der Bürger beruht, bestimmt der Präsident der Republik: Das französische Volk wird feierlich für den 14. (sic!) Dezember in seine Wahlkollegien einberufen, um den folgenden Volksentscheid anzunehmen oder zu verwerfen: Das französische Volk will die Erhaltung der Autorität Louis-Napoléons und überträgt ihm die erforderlichen Vollmachten, um eine Verfassung auf den Grundlagen zu schaffen, die in seiner Erklärung vom 2. Dezember vorgeschlagen wurden.“ Mit 7.349.000 Ja-Stimmen und 646.000 Nein-Stimmen wurde dieses Plebiszit angenommen. Die erwähnte Erklärung vom 2. Dezember enthielt eine Verfassungsskizze, die sich gewollt symbolisch an die Verfassung des Jahres VIII anlehnte, als Napoleon I. nach dem Staatsstreich vom 18. Brumaire (9. November 1799) Erster Konsul geworden war. Am 2. Dezember 1852 rief Louis-Napoleon das Zweite Kaiserreich aus, das mit der Entwicklung großartiger Perspektiven begann und in einem militärischen Fiasko endete.
Institutionalisierung von Integrationsprozessen im Second Empire Die synthetische Wirkung von Körpermetaphern war zusammen mit dem organologischen Bewußtsein, das die größten Widersprüche hatte überbrücken können, in der Terreur verlorengegangen. Die Entwicklung der Medizin, Psychologie und Pathologie im 19. Jh. beförderte die Fragmentierung der Körpervorstellung. Der Preis der wissenschaftlichen Genauigkeit war der Verlust des Ganzkörperbildes und der Ganzkörpermetaphern. Positiv ausgedrückt: Die Beseitigung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Körpermetaphern machte den Weg für politische, wirtschaftliche und soziale Rationalitäten frei, deren Einwirkungen auf die Bevölkerung mit dem Schlagwort der Integration zusammengefaßt werden können. „Integration“ ist auch heute noch maßgebend für historische Prozesse, das Second Empire bereitete den Boden für die Institutionalisierung von Integrationsprozessen.
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„Endlose Landgebiete. . .“ – Der Eisenbahnbau Eines der größten innerfranzösischen Abenteuer war jenes des Eisenbahnbaus. Wie im Fall der Erneuerung von Paris (s. u.) existierten vor dem Second Empire bereits wichtige Voraussetzungen, aber erst unter dem Empire wurde der richtige Druck dazu entwickelt. Der Bau von Eisenbahnen revolutionierte nicht nur das Transportwesen, sondern bedeutete eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Integration des Landes. Allerdings wurde das Prinzip einer strikten Zentralisierung, was zugleich und immer strikte Ausrichtung auf Paris bedeutete, beibehalten. Paris war Kopf und Herz Frankreichs in einem. Die großen Bahnlinien, die Gewinn versprachen, begannen und endeten alle in Paris. Dieses „primär“ genannte Netz stärkte die Stellung von Paris, während das sekundäre Netz, das die regionalen Anbindungen an die Hauptstrecken leisten sollte, ungleich größeren Schwierigkeiten ausgesetzt war, weil die Rendite zu gering oder überhaupt fraglich war. Die größten Schwierigkeiten bereiteten die Ost-WestVerbindungen, beispielsweise durch das Zentralmassiv. Noch heute sind diese Verbindungsdefizite schmerzlich zu spüren, es ist einfacher, von Bordeaux nach Lyon über Paris zu fahren, statt quer durch das Zentralmassiv. Die Bedeutung des Eisenbahnwesens dürfte aber vielleicht noch größer gewesen sein im Hinblick auf die industrielle Entwicklung, die Etablierung von Aktiengesellschaften, die finanzielle Kooperation zwischen Staat und Privatwirtschaft, die Industriepolitik und die Entwicklung eines professionellen Managements großer Gesellschaften. Versuchen wir, diese Punkte in der gebotenen Kürze aufzuarbeiten und da anzufangen, wo die französische Eisenbahn anfing, nämlich 1823. Am 26. Februar 1823 genehmigte Ludwig XVIII. den Bau einer Eisenbahn von Saint-Étienne nach Andrézieux an der Loire. Die Strecke war 23 km lang und hatte mit dem, was man sich unter Eisenbahn vorstellt, nur insoweit etwas zu tun, als es sich um einen Schienenweg handelte. Die Schienenwagen wurden von Tieren, z. T. an Seilen gezogen, auf abschüssigen Strecken ließ man die Wagen rollen. Transportiert wurden Kohle und andere Primärmaterialien vom Bergwerk oder der Fabrik bis zum nächsten Kanal, wo die Güter auf Schiffe umgeladen wurden. 1832 wurde erstmals auf der Linie St.Étienne-Lyon eine Lokomotive eingesetzt (Gebrüder Seguin), im Juli desselben Jahres wurden erstmals Personen auf dem Schienenweg befördert. Die Tarifgestaltung war anfangs eher anarchisch, von den Nutzern wurde soviel, wie eben durchzusetzen war, verlangt.
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Der Erfolg, aber auch die vielen Querelen um die Gesellschaft veranlaßten den Gesetzgeber, das Eisenbahnwesen zu einer „öffentlichen Angelegenheit“ zu erklären. Von 1833 an wurde der Eisenbahnbau staatlich konzessioniert, im Regelfall wurde die Konzession für 99 Jahre erteilt, der Staat nahm Einfluß auf die Regelung der Beförderungsbedingungen. Im Juni 1834 bereits ließ sich der damalige Minister für Handel und Öffentliche Arbeiten, Adolphe Thiers, 500.000 Francs genehmigen, mit denen ein Gutachten über den Ausbau großer Verbindungsstrecken erstellt werden sollte. Fortan beteiligte sich der Staat auch direkt als Aktionär oder Unternehmer an neuen Strekken. Phasenweise bestand das Ziel darin, die großen Linien zu Staatslinien zu machen, während das Netz sekundärer, d. h. regionaler und lokaler Verbindungen der Industrie und Privatwirtschaft überlassen bleiben sollte, doch besaß der Staat nicht das nötige Geld, um ein solches Prinzip durchzusetzen. Am 15. Februar 1838 wurde dem Abgeordnetenhaus ein Gesamtplan vorgelegt, der Verbindungen Paris-Ärmelkanal, Paris-belgische Grenze, Paris-Bordeaux, Paris-LyonMarseille, insgesamt 4.400 km vorsah. Der von der Regierung ernannte Kommissar Legrand machte deutlich, daß die großen Eisenbahnlinien zu den bedeutsamen Steuerungsinstrumenten der Regierung zu rechnen seien. Knapp sechs Jahre nach der Eröffnung der ersten wirklichen Eisenbahn 1832 erscheint eine solche Feststellung noch als weitsichtig, wenn an die künftige Rolle der Eisenbahn für das militärische Nachschub- und Transportwesen gedacht wird, die Legrand und sein Minister Martin im übrigen durchaus schon andeuteten. Legrand drang darauf, daß der Staat, wenn die Linien zunächst privatwirtschaftlich erstellt würden, die Möglichkeit haben müsse, zu einem späteren Zeitpunkt das Eigentum an den Linien zu übernehmen. Andere Stimmen hoben an den Eisenbahnlinien das grenzüberschreitende und völkerverbindende Element hervor. Es blieb beim Projekt, derweil erlebte Frankreich 1835–38 einen ersten Boom im Eisenbahnbau, der im Kohlebergbau und in der Stahlindustrie zu einer spürbaren Erhöhung des Absatzes und des Arbeitskräftebedarfs führte. Die Kehrseite war der allzu enge Zusammenhang zwischen diesen Wirtschaftszweigen, so daß Krisen sofort zu erheblichen Absatzeinbußen und umfangreichen Entlassungen führten. Die Kompagnien mußten sich an den Staat wie in den Jahren 1838–41 um Hilfe wenden. Neben Krediten übernahm der Staat wie im Fall der Gesellschaft Paris-Orléans die Garantie der Dividendenzahlungen an die
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Aktionäre, auf eine 500 FF-Aktie eine Dividende von 20 FF, also 4% Ertragsgarantie. Das Beispiel dieser Gesellschaft macht deutlich, was im Grunde auf dem Spiel stand: Die Gesellschaft hatte Aktien im Nominalwert von 160 Mill. FF ausgegeben, was damals absoluter Rekord war. Ein Jahr nach Gründung war die Gesellschaft finanziell am Ende, von der Strecke Paris-Orléans waren lediglich 19 km gebaut. In harten Verhandlungen erreichte die Gesellschaft die genannten Garantieleistungen des Staates, und baute weiter. Das Gewicht des Eisenbahnwesens machen zwei weitere Zahlen deutlich: Zwischen 1834 und 1859 stellten die Eisenbahngesellschaften zahlenmäßig nur 12% der Aktiengesellschafen dar, aber sie vereinigten im Schnitt 80% des gesamten in Aktien angelegten Kapitals auf sich. 1842–46 war eine ausgesprochene Blüteperiode des Eisenbahnwesens, die risikoreiche Finanzierung wurde auf drei Schultern verteilt: den Staat, die jeweiligen öffentlichen Körperschaften und die Privatunternehmen. Spätestens von da an lohnte sich das Thema Eisenbahn als Wahlkampfthema, da beispielsweise die Entschädigungskosten bei Enteignungen zu zwei Dritteln von den betroffenen Départements und Gemeinden sowie zu einem Drittel vom Staat finanziert wurden. Der Staat übernahm außerdem die Infrastrukturkosten, während die Eisenbahngesellschaften den Schienenweg selbst, dessen Unterhaltung, das rollende Material und die weiteren notwendigen Einrichtungen finanzierten. An die Stelle der früheren Konzession trat nun die Verpachtung an die Gesellschaften. Diese wiederum konnten sich Konzessionen erhandeln, wenn sie die Aufgaben und Kosten, die eigentlich der Staat trug, übernahmen. Gerade bei attraktiven Strecken wie der Nordstrecke nach Belgien lohnte sich ein solcher Handel für die Compagnie du Nord, der ein Bankenkonsortium unter Führung von Rothschild zur Seite stand. In der allgemeinen Krise seit 1846, die erheblich zum Ausbruch der 1848er Revolution beitrug, versiegte der Investitionsstrom, um erst 1851 wieder aufzuleben. Die panischen Aktienverkäufe führten bei den Aktionären zu Verlusten von annähernd 500 Mill. FF, eine enorme Summe gemessen daran, daß das Nominalkapital aller ausgegebenen Eisenbahnaktien etwas mehr als 1,2 Mrd. FF betrug. Die Bauarbeiter wurden zu Tausenden arbeitslos, in deren Folge in den Eisenerzgruben 15.000 Arbeiter im Jahr 1847 und nochmals über 10.000 im Jahr 1849; in den Kohlegruben, ebenfalls in diesen beiden Jahren, zusammen rd. 67.000 Arbeiter, usf. Der inzwischen zum Präsidenten gewählte Louis-Napoleon Bonaparte verkündete dennoch
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sein vorrangiges Interesse für das Eisenbahnwesen, dessen Vorteile und Leistungsmöglichkeiten er vom englischen Beispiel her kannte. In einer Rede 1850 sagte er deshalb: „Wir müssen die Möglichkeiten des Austauschs vermehren, um unser Land zum blühen zu bringen [. . .] Ohne den Handel tritt die Industrie auf der Stelle [. . .] Die Industrie muß sich das Kapital, das sie zur Perfektionierung ihrer Ausrüstung benötigt, zu niedrigen Zinsen beschaffen können [. . .] So schnell wie möglich müssen die Verkehrswege ausgebaut werden.“ Schon einen Tag nach gelungenem Staatsstreich, d. h. am 11. Dezember 1851, wurden die Weichen für die Ordnung des alles in allem sehr unübersichtlichen Eisenbahnwesens gestellt. Die erste Maßnahme war die Genehmigung für fünf große Gesellschaften, deren Linien in Paris begannen bzw. endeten, die Bahnhöfe untereinander mit Gleisen innerhalb des Stadtgebiets von Paris zu vernetzen. In schneller Folge wurden dann die nötigen Konzessionen für den Ausbau der großen Linien erteilt, die Regierung drängte die Gesellschaften außerdem zur Fusion, weil dies kostengünstigeres und effektiveres Bauen und Wirtschaften, außerdem eine bessere Koordination des Angebots versprach. Daraus entstanden die sog. Sechs Großen Linien, deren Star die 1857 gegründete PLM (Paris-LyonMéditerranée) wurde: Compagnie du Nord, de l’Est, du PLM, de l’Ouest, du Paris-Orléans, du Midi. In einer Rede am 9. Oktober 1852 in Bordeaux hatte Napoleon (III.) noch einmal seine politischen Leitlinien formuliert: „Das Kaiserreich: das bedeutet Frieden. Endlose Landgebiete warten darauf, fruchtbar gemacht zu werden, wir müssen Straßen bauen, Brücken schlagen; wir müssen Wasserläufe schiffbar machen, unser Eisenbahnnetz vervollständigen. [. . .] Die Eisenbahn wird aus Paris den größten Marktplatz der Welt machen. [. . .]“ Die neue Hausse im Eisenbahnbau war von den zu erwartenden Aufblähungseffekten in der Kohle- und Stahlindustrie begleitet. 1865 übernahm der Staat für die großen Linien wiederum eine Ertragsgarantie über 4% Dividende für 50 Jahre, was das Vertrauen der Aktionäre, überhaupt der Öffentlichkeit in die Solidität dieses immer noch jungen Wirtschaftszweiges stärken sollte. Zur Wertung bedarf es eines Vergleichs mit europäischen Nachbarländern. Am Stichtag 31. Dezember 1869 war das belgische Eisenbahnnetz in Relation zur Landesgröße 3,32 mal so groß wie das französische, das englische 2,51 x, das niederländische 1,45 x, das schweizer 1,07 und das deutsche 1,05 x so groß. Im Vergleich zu den
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drei zuerst genannten Ländern befand sich Frankreich im Rückstand, im Vergleich zu den anderen hielt es gut mit. Es dürfte nicht schwer sein, sich vorzustellen, wieviel an diesem neuen Wirtschaftszweig neben der Kohle- und Stahlindustrie noch hing. Vor allem bedurfte es neuer Spezialisten; die Wegebauingenieure mußten mit neuen Problemen und Fragen fertig werden; es wurden auch schlicht und einfach mehr Ingenieure gebraucht, mit den entsprechenden Anforderungen an das berufliche Ausbildungswesen. Die betriebswirtschaftliche Gesamtrechnung wäre zu nennen. Enorme Fehlkalkulationen waren anfangs an der Tagesordnung und im Grunde unvermeidbar. Es waren komplexe Organisationsstrukturen auszudenken und zu erproben. Die vielen Rückschläge und Kapitalprobleme führten die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge in neuem Licht vor. Der öffentlichen Verwaltung fielen neue Aufgabenbereiche zu, sie expandierte, es mußten neue Kontrollmechanismen entwickelt werden. Die Verknüpfung der verschiedenen Wege- und Fortbewegungssysteme (Bahn, Straße, Wasser, Kutschen: Huckepackverfahren etc.) mußte durchorganisiert werden. Die großen Bahnhöfe mutierten zu neuen Zentren des sozialen Lebens, und manche Lebensgewohnheit entstand neu – wie die Eröffnung von Bahnhofsbuchhandlungen, die das Lesen zu einer charakteristischen Begleiterscheinung des Bahnfahrens werden ließen. Es wurde möglich, zum Sonntags- oder Wochenendvergnügen Strecken an einem Tag zurückzulegen, für die es früher einer ausgesprochenen Reise bedurft hätte. Das Freizeitverhalten veränderte sich maßgeblich, und damit der Verbrauch weiterer Umweltressourcen. Die Entwicklung des Eisenbahnwesens und der Zusammenhang mit den Krisen ab 1846 ff. zählen zu den Ursachen der Revolution von 1848. Während 1789, nach unmittelbar vorangehenden wirtschaftlichen und sozialen Krisen, in sehr starkem Maß eine politischkulturelle Revolution einsetzte, bedeutete 1848 in sehr starkem Maß eine sozio-ökonomische Revolution – was 1789 nicht der Fall gewesen war. Die Republik konnte die sozio-ökonomischen Probleme nicht in der kurzen Zeit, wie ungerechterweise erwartet wurde, lösen, so daß der Übergang zum Kaiserreich, von dem man sich mehr Erfolg versprach, vergleichsweise leicht und glatt über die Bühne ging. Napoleon III. machte den Eindruck, der starke, den sozialen und wirtschaftlichen Problemen des Landes und vor allem des Volkes verbundene Mann zu sein, der es schon richten würde. In immer schnelleren Schritten wurde nach 1850 das Ancien Régime zur Seite ge-
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schoben. Auch hier mangelt es nicht an einem symbolhaften Großereignis, dessen Kühnheit noch heute Bewunderung erzeugt, dessen soziale Grausamkeit jedoch erschrecken läßt. Gemeint ist die Stadterneuerung von Paris.
Das Ancien Régime wird abgerissen: Die Stadterneuerung von Paris durch Baron Haussmann Seit Beginn des 19. Jh. existierten Überlegungen zur Stadtsanierung von Paris. Nicht zuletzt die Cholera-Epidemie von 1832 hatte den Zusammenhang zwischen Städtebau und Überleben in der Stadt drastisch vor Augen geführt. Erst unter Napoleon III. wurde jedoch ein Konzept entwickelt, das auf drei Säulen ruhte: Gesunde Städtehygiene, Arbeitsbeschaffung, auf Außenwirkung bedachte Großartigkeit der französischen Hauptstadt. Für Napoleon persönlich galt der Ehrgeiz, der Nachwelt im Gedächtnis verhaften zu bleiben. Napoleons Mann war der Baron Georges Haussmann (1809 bis 1891), der in 17 Jahren eine Millionenstadt, die städtebaulich weit zurück geblieben war, in eine moderne Großstadt verwandelte, eine Verwandlung, die bis heute infrastrukturell trägt. Einer der Hauptvorwürfe an den Baron lautete, das „Alte Paris“ zerstört zu haben. Was aber war das „Alte Paris“? Schon Napoleon I. hatte auf Sankt-Helena sinniert, man müsse Paris völlig zerstören und ganz neu aufbauen. So schlimm wird es nicht gewesen sein, als Haussmann 1853 als Präfekt des Département Seine die Sanierung in Angriff nahm, aber enge dreckige Straßen, eine katastrophale Versorgung oder besser: Nichtversorgung mit Wasser, Abwasserkanälen, Licht und Luft machte das Leben und Wohnen in Paris für die Mehrzahl der Menschen zu einem Risiko. Viele Häuser waren alt und instabil, vom Ruß geschwärzt, schlecht belüftet, dunkel, sie stanken. Die Häuser waren überbelegt, in den Vierteln des Zentrums, wo das „Volk von Paris“ lebte, war die Kleinkriminalität für viele der Hauptlebensunterhalt. Die Straßen waren eng, dreckig, feucht. Literarisch berühmt gemacht hat dieses Paris der „rote Dandy“ Eugène Sue in seinem 1842/43 erschienenen Feuilletonroman „Die Geheimnisse von Paris“ (Les Mystères de Paris; die Île de la Cité als ein zentraler Schauplatz). Die Gebäude, die im Schatten des Louvre gewachsen waren, beschrieb Honoré de Balzac (1799 bis 1850) als ,lebendige Gräber’. Industriebetriebe schlossen sich an Wohnbezirke an: einzige Kloaken, wie Balzac sagte; wo man nur vorbeigehen müsse, wie andere meinten, um sich Rheuma zu holen. Die Schlachthöfe der
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Stadt befanden sich mittendrin. Das Tierblut lief auf die Straße und vermengte sich mit dem Straßendreck. Insbesondere bei den Lebensbedingungen der ungelernten Arbeiter, bei den Unterschichten, kumulierten sich die Effekte: Zugige, dreckige, feuchte Behausungen, bestehend aus einem Raum für die ganze Familie, keinerlei Entsorgungseinrichtung für Abfall und Abwasser; ähnliche Zustände in den Werkstätten. Wenig Licht, schlechte Luft im Innern der Gebäude und draußen auf den Straßen. Auf 945.000 Einwohner 1851 kamen 31.000 Häuser mit 294.000 vermieteten „Wohnungen“. 387.000 wohnten in Baracken, weitere 300.000 in größeren Häusern unter ärmlichsten und dreckigen Umständen. Das Alte Paris war also keineswegs eine romantische alte Stadt. Im heutigen 3. Arrondissement betrug die Einwohnerdichte 1 Ew auf 3 qm Wohnfläche, während sie an den Champs-Elysées, damals Randgebiet, lediglich 1 Ew auf 186 qm betrug. Im 3. Arrondissement hatte die Cholera 1849 leichtes Spiel. Von 1852–1870 wurden 34.000 neue Häuser gebaut, überwiegend als Ersatz für Altbauten. Das macht die ganze Dimension des Unternehmens deutlich. 1867 beispielsweise wurden 2.325 Häuser oder Baracken abgerissen, dafür entstanden 3.809 Häuser neu. Haussmann gab sich beispielhaft, indem er auch sein eigenes Haus abreißen ließ. Auch wenn die literarischen, polizeilichen und sonstigen behördlichen Zeugnisse über das Alte Paris übertrieben haben mögen, der Anfang der Stadtsanierung fand kaum Widerspruch, sondern wurde begrüßt. Die besondere konzeptionelle Neuerung Haussmanns lag darin, die gesamte Stadt in allen ihren Bezügen zu erfassen: Es wurden nicht nur breite Boulevards, die künftigen Hauptachsen der Stadt bis heute, geschlagen, sondern es wurden auch die neuen großen Bahnhöfe, die öffentlichen Parks und Grünflächen einbezogen, es wurden tausende von Bäumen gepflanzt. Durch die Bahnhöfe und die zu Plätzen ausgedehnten Kreuzungen der Boulevards entstanden neue kommerzielle Zentren. Die Gebäudearchitektur wurde nach Designermanier durchgestilt. Manche Viertel wie jenes der Île de la Cité, das zu den am meisten inkriminierten gehörte, wurden geradezu entvölkert. Statt früher 15.000 Menschen lebten dort um 1890 nur 5.000 im Schatten der öffentlichen Paläste (Justizpalast; Kaserne – heute Polizeipräfektur; etc.). Es ist nicht zu übersehen, daß die neuen Hauptachsen, die sich im übrigen an alte Achsen, die aber wesentlich enger und z. T. verwinkelter gewesen waren, anlehnten,
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diejenigen Stadtviertel auch im übertragenen Wortsinn säuberten, aus denen früher so häufig der populare Widerstand hervorgegangen war. In gewissem Sinn stellte dies den Versuch dar, tief in das historische Gedächtnis des Volks von Paris einzuschneiden. An anderen Stellen zeigte Haussmann jedoch Skrupel. So hätte die Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois eigentlich dem Ausbau der Rue de Rivoli weichen sollen, die die Verbindung zwischen Louvre und Place de la Bastille herstellte, hier ließ Haussmann aber die „alten Steine“ stehen. Die Glocken der Kirche hatten die Bartholomäusnacht 1572 eingeläutet. Haussmann war Protestant, er befürchtete, daß man ihm den Abbruch der Kirche als Rache für 1572 auslegen werde. Während Oper und Opernplatz grandiose neukonzipierte Prestigebauten waren, wurden wie im Fall des Boulevard Malesherbes ältere Pläne zur Ausgestaltung des Viertels um die Madeleine-Kirche aufgegriffen. Neu organisiert, d. h. z. T. verlegt, wurde das Schlachtwesen (Errichtung von Schlachthöfen statt Schlachten auf der Straße), die zentralen Markthallen wurden neu konstruiert (1851 bis 1859), auch dies ein neuralgischer Punkt der Pariser Stadtgeschichte, an den erneut 1971 bis 1973 mit dem Abriß der Halles centrales gerührt wurde. Eugène Sue hatte in den „Geheimnissen von Paris“ den Volksvierteln ein literarisches Monument gesetzt, Emile Zola tat mit „Der Bauch von Paris“ (Le Ventre de Paris) das gleiche für die zentralen Markthallen. Der Architekt Victor Baltard (1805 bis 1874) schuf mit den Hallen einen neuen architektonischen Stil – Verbindung aus Eisenkonstruktion, Glas und Ziegelsteinen –, der sich dann über ganz Frankreich ausbreitete und nicht wenig zur visuellen Integration des Landes beitrug. Am 1. Januar 1860 wurde Paris durch Eingemeindungen erheblich erweitert. Paris erhielt damit seine heutige Ausdehnung. Seitdem berühmt gewordene Viertel wie Montmartre gehörten erst ab diesem Zeitpunkt zur Stadt Paris, die ihre Fläche mehr als verdoppelte und 400.000 Einwohner hinzugewann. Die Stadt wurde in 20 Arrondissements mit insgesamt 80 Vierteln eingeteilt. Aus Staatsbesitz schenkte Napoleon III. der Stadt die Wälder von Boulogne und von Vincennes, die zu, modern ausgedrückt, Naherholungsgebieten ausgebaut wurden. Daneben entstanden 24 begrünte Plätze innerhalb der Stadt, die jeder als Parisbesucher kennt. Zu den größten Herausforderungen zählte die Wasserversorgung der Stadt. Erstens gab es nicht genug, und zweitens schon gar nicht
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fließend Wasser in jedem Haus, und drittens war es unsauber oder gar verseucht. Es wurden Quellen 130 Km außerhalb von Paris angezapft, Aquädukte gebaut, und städtische Reservoirs für den errechneten Tagesbedarf von 1,5 Mill. Einwohnern angelegt. Noch größer war das Abenteuer des Kanalbaus für Schmutzabwässer. Die Kloaken wurden direkt unter den neuen Straßen gebaut. Der Hauptkanal war immerhin 4,40 m breit, 5,60 m hoch, 200 von 600 Kanalkilometern wurden mit Wagengleisen ausgestattet, auf denen man Waggons laufen ließ, in denen Damen der vornehmen Gesellschaft Platz nahmen, um einen Hauch von Hades zu erleben. Die Seine, in die vorher alle Abwässer geleitet worden waren, obwohl sie auch das Trinkwasser lieferte, begann, sich zu regenerieren. Die Straßenbeleuchtung wurde seit 1829 gemächlich auf Gas umgestellt. Haussmann forcierte diesen Prozeß und ließ nach Möglichkeit die Neubauten mit Gas und Gaslicht ausstatten. Geradezu zelebriert wurden die neuen Möglichkeiten in Gebäuden wie der Oper, in denen die Nacht zum Tag gemacht wurde. Die Kehrseite war die Flucht der armen Leute aus Paris. Die Mieten wurden kräftig und möglichst oft erhöht, langfristige Mietverträge gab es nur für Gutverdienende. In den Wäldern irrten die Obdachlosen, die vorher in Baracken und Verhauen zumindest billige Unterkünfte gefunden hatten. Dies kontrastierte mit den aufwendigen Einweihungsfeiern für die Boulevards mit Paraden, Fahnenschmuck, Triumphbögen und ggf. einer Kutschfahrt des Kaisers, mit Reden und viel Prominenz, nächtlicher Festbeleuchtung und Tanz bis in den Morgen. Haussmann nahm die Gelegenheiten wahr, um die Stadtsanierung zu rechtfertigen und mit dem Ausbau des antiken Roms zu vergleichen.
Die Weltausstellungen: Frankreich als Kulturmodell Sowohl die herrschaftliche Zelebration des Eisenbahnbaus wie der Umbau der Stadt Paris als Demonstration einer Machtvollkommenheit, gekleidet in das Gewand der Ingenieure und Architekten des Industriezeitalters, zielten nicht nur auf Frankreich, sondern auf die angestrebte Weltgeltung. Als Napoleon III. die Aufgaben für die französische Politik skizzierte, wie oben zitiert, scheint er in Gedanken die „unendliche“ Weite der USA vor Augen gehabt zu haben. Mit den Weltausstellungen wurden die neuen französischen Ambitionen vor der Welt inszeniert. Es wäre eine interessante Forschungsaufgabe, die Epoche des Second Empire und ihre politischen Inszenierungen mit
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der Epoche Ludwigs XIV. zu vergleichen. Wieder sollte Frankreich ein Modell werden. Unter Napoleon III. wurden 1855 und 1867 Weltausstellungen in Paris abgehalten, es folgten unter der III. Republik in schneller Folge weitere: 1878, 1889, 1900, und 1937 die vorerst letzte in Frankreich. Als Idee gehen solche Ausstellungen auf Industrieausstellungen zurück, die in der zweiten Hälfte des 18. Jh. in England erfunden wurden. Auch die erste Weltausstellung 1851 fand in England, in London statt. Die erste große Industrieausstellung Frankreichs wurde 1798, also noch während der Revolution organisiert, aber es handelte sich um eine nationale Wirtschaftsmesse. Die französische Besonderheit lag ab 1855 darin, daß die Ausstellungen Industrie, Landwirtschaft und Kultur umfaßten. Von Mal zu Mal wurde eine größere Fläche okkupiert: Napoleon, die Stadt Paris und die Direktoren der Ausstellungen, die eine Machtfülle wie die Staatsminister besaßen, hielten eisern an dem Prinzip fest, daß das Großereignis innerhalb der Stadt ausgerichtet werden müsse. Alle Paristouristen kennen diesen Bereich vom Grand und Petit Palais an der Seine entlang bis zum Palais de Tokyo, und auf dem anderen Seineufer den Bereich zwischen dem Eiffelturm und der École militaire, dem Champs de Mars. Der Erfolg der Ausstellungen spricht für sich: die Zahl der Aussteller stieg von 24.000 im Jahr 1855 auf 83.000 im Jahr 1900, die Zahl der Besucher entwickelte sich von 4,2 Mill. 1855 zu 48 Mill. 1900, während 1937 nur 34 Mill. Besucher gezählt wurden.
7.4 Der deutsch-französische Krieg Einen besonderen psychologischen Platz nimmt die Weltausstellung von 1867 ein. Der preußische König und Bismarck besuchten sie, Krupp zeigte dort seine riesige neue Kanone. Aus der Rückschau von 1870/71 erschien 1867 wie ein böses Omen auf den deutsch-französischen Krieg.
Die Österreich- und Deutschlandpolitik Napoleons III. Neben der Wirtschaft, der Stadterneuerung von Paris und der Entwicklung eines Modells „Frankreich“ im Zuge der Weltausstellungen gehörte die Außenpolitik zu den großen Ambitionen Napoleons III. Die Kolonialpolitik ist im zweiten Teil des Buches zu behandeln, hier geht es vorrangig um Napoleons europäische Außenpolitik, in deren Zentrum das Verhältnis zu Österreich und Preußen stand. Wir hatten
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gesehen, daß Frankreich im Zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 nach den Hundert Tagen Napoleons die Rückführung des Landes auf die Grenzen von 1790 hinnehmen mußte. Konkret bedeutete dies 1815 den Verlust der Städte Saarbrücken, Saarlouis, Landau und Philippeville (das an die Niederlande ging). Vom Rhein als natürlicher Grenze Frankreichs konnte keine Rede mehr sein. Nun war die Theorie von den natürlichen Grenzen Frankreichs, die seit dem 17./18. Jh. formuliert wurde, deshalb nicht verschwunden, sondern erreichte mal mehr, mal weniger Gewicht in den außenpolitischen Überlegungen Frankreichs. Letztlich handelte es sich um eine Machtfrage innerhalb des europäischen Mächtegefüges. 1815 hatte Frankreich 150.000 Mann an Besatzungstruppen hinnehmen müssen. Besonders die Preußen blieben dabei den Franzosen in unangenehmer Erinnerung. Sie legten Hand auf die öffentlichen Kassen, scheinen mehr Lebensmittel requiriert zu haben, als wirklich benötigt, überhaupt wurde ihnen der Mißbrauch des Requisitionsrechts und Belästigung der Bevölkerung vorgeworfen. Während die Russen und Engländer längst dem Drängen Frankreichs nach einer Reduktion der Besatzungskosten und -dauer nachgeben wollten, blieben die Preußen zunächst uneinsichtig, obwohl eine solche Geste Ludwig XVIII. manches wohl erleichtert hätte. Schließlich waren die europäischen Alliierten mit der zweiten Vertreibung Napoleons da angelangt, wo sie hatten anlangen wollen, bei der Restauration der Bourbonenmonarchie. Es zeigte sich, daß die Preußen vom Wesen der europäischen Diplomatie, wie sie sich im Lauf des 18. Jh. herausgebildet hatte und wie sie bis weit ins 19. Jh. gültig blieb, wenig verstanden hatten oder wenig wissen wollten. Daß Preußen zu einer europäischen Macht aufsteigen wollte, war in den Augen der zeitgenössischen Diplomaten im Grunde nicht anstößig, aber daß es die informellen Spielregeln mißachtete, verhieß nichts Gutes und ließ früh warnende Stimmen auftreten, die vor der kommenden preußischen Machtnation warnten. Die Erinnerung an die Preußen von 1815 ff. blieb also im Lauf des 19. Jh. wach. Die Meinungen über dieses Königreich und seine Rolle bei der deutschen Einigung waren sehr geteilt. Vor allem das katholische Frankreich begegnete Preußen mit größtem Mißtrauen, während sich andererseits ein gewisses Idealbild Deutschlands und der Deutschen entwickelte, von dem auch Preußen profitierte. Das ungeklärte Verhältnis zwischen beiden Reichen verdeutlicht, daß das Second Empire mit der Hypothek der Unwägbarkeit wie die Vorgänger-
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regime leben mußte. Was sich änderte, war der erklärte Wille Napoleons, Frankreichs politisches Gewicht in Europa und in der Welt wieder zu steigern, wobei er allzu deutliche Festlegungen gegenüber dem Deutschen Bund und Österreich vermied. So war auf deutscher Seite auch nie ganz klar, ob Frankreich nun weiterhin Ansprüche auf den Rhein als Staatsgrenze erhob oder nicht. Diese Unsicherheit war gefährlich, weil sie schnell die Emotionen, beidseits des Rheins, hochschnellen ließ. 1859 nun griff Frankreich Österreich in Italien an und stellte damit den Deutschen Bund vor ein Dilemma. Preußen konnte die Schwächung Österreichs prinzipiell nur gelegen sein, solange Frankreich eine Verbesserung seiner Machtstellung im südlichen Europa suchte, nicht aber auf dem Gebiet des Deutschen Bundes. Nun war der Bund laut Bundesakte aber u. U. verpflichtet (Art. 47), Österreich militärisch zu helfen. Napoleon ließ über die Presse unermüdlich verbreiten, daß er Deutschland gegenüber keine Ambitionen verfolge. Das änderte nichts daran, daß sich in Deutschland eine ausgesprochen frankophobe Stimmung breit machte und daß eine französische Besetzung der Rheinlande befürchtet wurde. Der Italienkrieg begann am 29. April 1859; der Deutsche Bund rüstete, Anfang Juni standen 250.000 Mann unter Waffen. Am 4. Juni siegten die französischen Truppen bei Magenta über die Österreicher, was Preußen veranlaßte, die abwartende Haltung aufzugeben und Österreich seine Vermittlerdienste anzubieten. Zugleich wurden 132.000 Mann zwischen Wesel und Frankfurt, sozusagen in Sichtweite der französischen Ostgrenze, postiert. In Frankreich stieg derweil die antipreußische Stimmung. 1815 müsse revidiert werden, hieß es. In diesem Zustand blieben die Dinge, als Napoleon dann Nizza und Savoyen annektierte. Wieder erhielt die Angst, daß als nächstes der Rhein auf der Speisekarte stehe, Nahrung. Zum Glück kam es nicht zum Krieg, sondern wurden Gespräche gesucht, wie auf dem Kongreß von Baden-Baden im Juni 1860 oder im Oktober 1861 in Compiègne zwischen Napoleon und dem preußischen König Wilhelm I. Napoleon bemühte sich um eine Annäherung, wenn nicht um eine Entente mit Preußen. Erster Schritt dazu sollte ein Handelsvertrag sein, der dann am 29. März 1862 in Compiègne zwischen Napoleon und Wilhelm paraphiert wurde. Das Hauptproblem stand aber noch aus, nämlich alle Mitglieder des Zollvereins zum Vertragsbeitritt zu bewegen. Dies gehörte zu den ersten Aufgaben, die Bismarck als frisch gekürter Ministerpräsident zu bewältigen hatte. Das andere
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Hauptproblem war der Ausschluß Österreichs aus dem Vertrag. Recht geschickt operierte also Napoleon III. zugunsten einer kleindeutschen Lösung der deutschen Frage unter Führung Preußens und lenkendem Einfluß Frankreichs. Der Handelsvertrag trat schließlich am 1. Juli 1865 in Kraft und trug nachweislich zur Belebung des Handels bei. Beide Seiten hatten sich nach Produkten differenziert Meistbegünstigungsklauseln eingeräumt. Die Ausfuhren des Zollvereins nach Frankreich hatten 1863 den Wert von knapp 140 Mill. FF, 1869 lagen sie bereits bei 230 Mill. FF; Frankreich exportierte 1863 für knapp 204 Mill. FF Güter in den Zollverein, 1869 für etwas über 253 Mill. FF. Deutschland wurde zum viertwichtigsten Handelspartner Frankreichs. Dazu kam noch die Investition französischen Kapitals in Deutschland, um 1870 ca. 250–300 Mill. FF, vor allem in Bergwerken und im Hüttenwesen. So schlecht standen die Beziehungen also nicht, und wenn die Emotionen phasenweise hochgingen, so gab es weder diesseits noch jenseits des Rheins ein gefestigtes Erbfeindverständnis. Bismarck sah in Frankreich den Partner, mit dessen Hilfe es ihm gelingen könne, das Rennen um die Vormacht mit Österreich zu gewinnen. Anläßlich der Weltausstellung 1855 hatte er im übrigen Napoleon III. kennengelernt. Im Jahr 1862 war er einige Monate preußischer Gesandter in Paris, während derer es zu einem Gespräch mit Napoleon kam, der eine Allianz Frankreich-Preußen vorschlug. Bismarck setzte das Gespräch im Oktober 1862 nunmehr als preußischer Ministerpräsident fort, vor allem scheint man sich gegenseitig der guten Absichten versichert zu haben. Dennoch näherte sich Preußen nicht in dem Maße Frankreich, wie dieses es sich wünschte, während Frankreich für die preußische Perspektive zu sehr einen Ausgleich mit Österreich suchte. Napoleons Interesse war schließlich die Revision von 1815. Im Februar legte die Kaiserin Eugenie dem österreichischen Botschafter Richard v. Metternich einen Revisionsplan vor: Im Tausch gegen die süddeutschen Staaten und das preußische Schlesien sollte Österreich Galizien und Venetien abgeben, Preußen sollte Polen und Schlesien aufgeben, dafür Hannover und Sachsen erhalten; Polen sollte wieder eine eigene Monarchie werden mit einem sächsischen oder einem österreichisch-erzherzoglichen König. Frankreich sollte das linke Rheinufer zugesprochen werden und Belgien unter sich und England aufteilen. All dies war eher ein Schreckschuß, denn ein ausgearbeiteter Plan, es wurde jedoch offensichtlich, daß Napoleon aktiv die Revision von 1815 betreiben wollte.
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Die französische Öffentlichkeit betrachtete die Entwicklung Preußens mit gemischten Gefühlen. Die einen befürworteten eine Einigung Deutschlands unter preußischer Führung, da für sie der Begriff der Nation positiv besetzt war und sie sich die nationale Einheit ebenso für Italien wie für Deutschland wünschten. Andere warnten vor einer allzu starken preußischen Militärmonarchie. Die Regierung selbst verhielt sich während der Zuspitzung des Konflikts zwischen Preußen und Österreich neutral, und mit dem preußischen Sieg vom 3. Juli 1866 von Königgrätz waren die Tatsachen dann doch recht plötzlich geschaffen worden. Kurzzeitig grassierten in Paris Überlegungen, Preußen auch mit Waffen Einhalt zu gebieten, aber die Stimmung in Frankreich war für Frieden. Nun trat Österreich Venetien an Frankreich ab, außerdem wurde Frankreich als Vermittler angerufen. Im Land selbst wurde dies als ein beispielloser Erfolg des Kaisers angesehen, den die großen Städte mit Freudenfeuerwerken feierten. Napoleon vermittelte also diplomatisch, in der Hoffnung, nun doch die Rheingrenze wiederherstellen zu können. Bismarck ließ sich jedoch auf keinerlei Kompensationsgeschäfte ein, sondern verkündete die beabsichtigte Annexion von Frankfurt, Hannover, Nassau und Kurhessen. Der französischen Diplomatie blieb nicht viel mehr, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber es wuchs das Gefühl, daß man sich in naher Zukunft auf einen Krieg mit Preußen einzustellen habe, da dessen Expansionsdrang die Franzosen beängstigte. Napoleon selbst hielt indessen an der Idee eines Bündnisses mit Preußen, das ihm Kompensationen verschaffen könne (Luxemburg und Belgien), fest. Das Taktieren um diese Kompensationen ist in die Literatur unter dem Begriff des „Trinkgeldes“ für Napoleon eingegangen, ein Trinkgeld, das er nie erhalten sollte. Die französische Öffentlichkeit war unverändert gespalten; soweit Pauschalierungen zulässig sind, waren die schärfsten Gegner Preußens im rechten und katholischen Lager zu suchen, während die Linke eher preußenfreundlich blieb. Der Titel einer Schrift von Alexandre Dumas d. Ä. aus dem Jahr 1867 läßt jedoch aufhorchen: er veröffentlichte „La terreur prussienne“, was nach Meinung von Raymond Poidevin die preußischen Exzesse von 1870–71 ankündigte. Von neuem erwies sich der Nutzen des Themas der Terreur, der vom Feind an Frankreich herangetragenen Terreur, vor der sich die Nation zur Einigkeit zusammenfinden müsse.
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Die spanische Thronfolge 1868 bis 1870 Zunächst war aber die Diplomatie am Zuge. Da ein Krieg als ziemlich sicher angenommen wurde, suchte Frankreich wieder den Schulterschluß mit Österreich, außerdem schien es geboten, Preußen und die süddeutschen Staaten möglichst auseinanderzutreiben. All dies gelang nicht recht, es wollte sich auch kein französisch-österreichisches oder französisch-österreichisch-italienisches Bündnis schmieden lassen. Derweil wurde in Deutschland immer offener mit einem Krieg gegen Frankreich als Mittel zur Erlangung der nationalen Einheit kalkuliert. Seit Königgrätz war die grundsätzliche Verschiedenheit der von Napoleon und Bismarck verfolgten Politik deutlich zu Tage getreten, ohne daß ein friedlicher Weg zur deutschen Einheit zumindest mit französischer Duldung ausgeschlossen geblieben wäre. Daß die Krise um die Besetzung des vakanten spanischen Throns schließlich zum Kriegsauslöser wurde, erinnert noch einmal sehr an die Zeiten des vorrevolutionären Europa. Der Thron war im September 1868 verwaist, der Erbprinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen erhielt aus Madrid ein Kandidaturangebot. Wilhelm I. sorgte zunächst für eine Ablehnung und war sich da mit Bismarck einig. In der ersten Jahreshälfte 1870 wackelte das Second Empire, eine Liberalisierung des Regimes schien bevorzustehen. Die preußische Diplomatie wollte diese Situation für eine friedliche Beilegung des deutsch-französischen Konflikts nutzen und nicht unnötig provozieren. Ein Plebiszit vom Mai 1870 stärkte jedoch Napoleon den Rücken, so daß Bismarck nun erneut die Kandidatur von Hohenzollern-Sigmaringen betrieb. Am 3. Juli 1870 eröffnete eine Depesche aus Madrid, daß der Erbprinz die Kandidatur angenommen habe. Niemand braucht sich zu wundern, wenn in Frankreich das Schreckgespenst eines preußischen Reichs von der Gewaltigkeit des Reiches Karls V. entstand, aus dessen Umklammerung sich Frankreich ja nur äußerst mühsam im Lauf der Frühen Neuzeit hatte lösen können. Es verstand sich von selbst, daß die französische Diplomatie auf der Rücknahme der Kandidatur bestand, was Wilhelm I. selbst durchaus billigen wollte. Am 12. Juli schien die Lage bereinigt, der Erbprinz verzichtete auf die Kandidatur. Der französische Außenminister Gramont wollte jedoch Sicherheiten erhalten, vielleicht auch einen Prestigegewinn verbuchen, jedenfalls ersuchte er Wilhelm I., der in Bad Ems weilte, um eine öffentliche Erklärung; er Wilhelm, billige die Rücknahme der Kandidatur und werde eine spätere Erneuerung der Kandidatur nicht
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zulassen. Wilhelm fand an einer solchen Erklärung keinen Gefallen, aber mochte sich durchaus höflich geweigert haben. All dies ereignete sich am 13. Juli 1870. Bismarck sorgte dafür, daß die Weigerung in Gestalt einer Depesche aus Ems in sehr drastischen Formulierungen an die Öffentlichkeit geriet: „Seine Majestät hat es abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß Seine Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzuteilen habe.“ Im Pariser Abgeordnetenhaus und in Teilen der Regierung rief dies am 14. Juli heftige Reaktionen hervor. Am 15. bereits wurden Kriegskredite von der Kammer bewilligt, am 19. Juli erklärte Frankreich Preußen den Krieg. Damit war genau das eingetreten, was Bismarck benötigt hatte: Preußen war nicht der Angreifer, sondern befand sich im Verteidigungskrieg, die einzige Konstellation, die ihm die süddeutschen Staaten zuführen konnte. Ein etwas satanisch anmutendes diplomatisches Spiel, in dem frühneuzeitliche, national-nationalistische und großmachtpolitisch-imperialistische Momente zusammenwirkten, hatte zum Krieg geführt.
Sedan (1. September 1870) Frankreich hatte keine Verbündeten, militärisch war es desorganisiert. Der preußische Sieg von Königgrätz hatte zwar die Einsicht entstehen lassen, daß das Heerwesen reformiert werden müsse, aber die Reformen waren stecken geblieben. Im Juli 1870 standen nur 270.000 Mann zur Verfügung, die sich immer noch nicht auf ein starkes Ersatzheer und ebensowenig auf die eigentlich geplante Mobilgarde stützen konnten. Die 500.000 Mann an deutschen Truppen mit ihrer zur Legende stilisierten Krupp-Kanone, zu der den Franzosen noch ein Pendant an Artillerie fehlte, hatten vergleichsweise leichtes Spiel. Napoleon verlor die berühmte Schlacht von Sedan am 1. September 1870, er wurde gefangengenommen. Während er nach Kassel-Wilhelmshöhe gebracht wurde, wurde er in Frankreich selbst am 4. September abgesetzt und eine Regierung der Nationalen Verteidigung gebildet.
Spiegelsaal Versailles (18. Januar 1871) Diese wurde als erstes mit der deutschen Forderung nach der Annexion von Elsaß und dem deutschsprachigen Lothringen konfrontiert. Solche Forderungen waren in Süddeutschland schon seit geraumer Zeit erhoben worden, Bismarck griff sie nun auf. Der neue französi-
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sche Außenminister Jules Favre wandte sich an die europäischen Mächte, in der Hoffnung, daß diese einen Friedensschluß ohne Gebietsabtretungen vermitteln würden, aber er mußte feststellen, daß England, Rußland, Italien und Österreich eigentlich Gründe hatten, mit Frankreichs Niederlage ganz zufrieden zu sein. In der Zwischenzeit setzten sich im Landesinnern die militärischen Niederlagen fort, obwohl der neue Innenminister Léon Gambetta (1838 bis 1882) 600.000 Mann bewaffnete. Paris fiel und wurde besetzt, am 18. Januar 1871 wurde im Versailler Spiegelsaal der preußische König zum deutschen Kaiser proklamiert.
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Die Dritte Republik von der Entstehung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs
Nach 1870 setzte auf allen Gebieten (Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur) eine neue Institutionalisierungswelle ein, die jene der Französischen Revolution übertraf; hier bildete sich jener Nationalkörper aus, der auch uns als Zeitgenossen noch vertraut ist.
8.1 Der Weg in die Dritte Republik (1870 – 1879) Die Ausrufung der Republik Am 4. September 1870, drei Tage nach der Niederlage von Sedan, wurde vom Pariser Hôtel de Ville aus die Republik ausgerufen, was der tatsächlichen Stimmung im Land weit vorausgriff. Zugleich wurde in Paris eine „Vorläufige Regierung der nationalen Verteidigung“ zusammengesetzt, bestehend u. a. aus Louis Jules Trochu (ein General, von Napoleon III. als Gouverneur von Paris eingesetzt; Ministerpräsident), Jules Favre (Außenminister) und Léon Gambetta (Innenminister), der den militärischen Widerstand organisierte. Während diese drei anfangs in Paris amtierten, bezog der Rest der Regierung Quartier in Tours, später in Bordeaux. Nachdem Paris gefallen war, wurde gemäß dem Waffenstillstandsabkommen vom 28./29. Januar in Frankreich am 8. Februar 1871 eine Nationalversammlung (assemblée nationale constituante) unter Anwendung des Wahlgesetzes vom März 1849 gewählt, die in Bordeaux zusammentrat. Die Monarchisten, nicht die Republikanhänger, verfügten über eine überwältigende Mehrheit. Die Versammlung wählte Jules Grévy zu ihrem Präsidenten (Rücktritt am 1. April 1873) und Adolphe Thiers zum
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„Chef der Exekutive der Französischen Republik“, der sich im Sommer 1870 gegen den Krieg ausgesprochen hatte und geeignet erschien, das in der gegebenen Situation Bestmögliche für Frankreich auszuhandeln. Thiers mußte die Friedensverhandlungen führen. Bismarck forderte das Elsaß und Teile Lothringens sowie die Städte Metz und Belfort, außerdem 6 Mrd. FF Kriegsentschädigung. Bismarck blieb damit bewußt hinter den abstrusen Forderungen zurück, die z. T. in Deutschland erhoben wurden, da ihm an einem schnellen Frieden lag, bevor sich andere Mächte doch auf seiten Frankreichs einmischten. Manche Städte und Privatpersonen wollten die Gelegenheit nutzen und Schulden aus der Zeit Napoleons I. eintreiben lassen; Inhaber von Revolutionsassignaten, die sie nicht mehr losgeworden waren, wollten entschädigt werden; schließlich wurde über die Rückgabe von Kunstwerken und Manuskripten gesprochen, die französische Soldaten im Dreißigjährigen Krieg, in den Revolutionskriegen oder in der napoleonischen Zeit mitgenommen hatten. Man sieht, daß geistig noch keineswegs ein wirklicher Bruch mit der Frühen Neuzeit geschweige denn mit der Revolutionszeit vollzogen war.
Die Zukunft belasten: Deutsch-französische Beziehungen Am 1. März 1871 marschierten die deutschen Truppen in Paris ein; ursprünglich hatte Bismarck einen solchen Schritt nicht angestrebt, es war dies ein Ergebnis der in den Verhandlungen modifizierten Kriegsforderungen. Am 18. März 1871 brach in Paris ein Bürgerkrieg aus, der unter dem Namen des Kommune-Aufstands bekannt ist. Der Aufstand stellte die französische Regierung vor erhebliche Probleme und zwang Bismarck, einer militärischen Aufrüstung Frankreichs entgegen den Waffenstillstandsbedingungen zuzustimmen. Die deutsche Besatzungsmacht verhielt sich offiziell neutral, prinzipiell wurde mit der französischen Regierung zusammengearbeitet. Auch Thiers suchte die Zusammenarbeit mit den Deutschen, was psychologisch freilich den Franzosen schwer zu vermitteln war. Am 10. Mai 1871 wurde zwischen den beiden Ländern der Friedensvertrag von Frankfurt geschlossen, der auch einen Plan für die Abfolge der Reparationszahlungen und des Truppenabzugs enthielt. Die Zukunft der Beziehungen beider Länder war aufs Schwerste belastet: die Elsaß-Lothringen-Frage, die Milliarden-Reparationen, die Deutschland den Vorwurf einbrachten, seine moderne Industrie im Kaiserreich mit den französischen Milliarden finanziert zu haben, schließlich die Besat-
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zungszeit, die sich in vieler Hinsicht zum Alptraum entwickelte. Die schleppende Umsetzung der Abkommen, Attentate sowie eine ausgesprochene Besatzermentalität der Truppen schaukelten sich gegenseitig hoch und gruben sich tief als preußischer Terror in das nationale Bewußtsein Frankreichs ein. Gerade deshalb gehört es zu den erstaunlichsten Eigenschaften der Epoche seit 1871, daß Deutschland in vieler Hinsicht bewußt als Modell begriffen wurde und sich, solange Bismarck die deutsche Außenpolitik lenkte, sogar freundschaftliche Beziehungen entwickelten, von denen vorwiegend die französische Kolonialpolitik profitierte.
Der Kommune-Aufstand in Paris Am 10. März waren die Regierung und die Nationalversammlung von Bordeaux nach Versailles übergesiedelt. Dieser Schritt bekräftigte die monarchistische Gesinnung der Versammlung einerseits, und den Pariser radikalen Republikanismus andererseits. Beide knüpften damit an die spannungsvolle Bipolarität der beiden historisch bedeutsamen Gedächtnisorte Versailles contra Paris an. Das „Zentralkomitee“ der Pariser Republikaner erklärte das Département Seine zur autonomen Republik. Der Versuch der Regierung, die Macht der Nationalgardisten in Paris zu brechen, führte zum eigentlichen Aufstand der Kommunarden. Thiers zog alle loyalen Truppen aus der Stadt ab und ließ diese regelrecht belagern. Der am 26. März gewählte und extremistisch dominierte Conseil général des Département sowie das erwähnte Zentralkomitee übernahmen die Macht in Stadt und Département und gaben diesem politischen Gebilde den Namen Commune de Paris. Symbolisch wurde die Kommune an die radikale erste Republik angelehnt, angefangen bei einem Wohlfahrtsausschuß als Exekutivgewalt. Die Pariser Kommune machte in einigen Großstädten wie Lyon und Marseille sowie anderen Schule. Ziel war ein lockerer Verband autonomer Kommunen sozialrevolutionärer Prägung. Die Regierung schickte Marschall Mac-Mahon an die Front um Paris. Ihm und anderen gelang die Einnahme der Stadt. Die Woche vom 21. bis 28. Mai 1871 war eine der blutigsten, die Paris je erlebt hatte. Auf seiten der Kommunarden fielen etwa 17.000 Menschen, viele in Paris verbliebene Gegner der Kommune wurden von den Kommunarden exekutiert.
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Drei Verfassungsgesetze retten die Republik (1875) Solange Adolphe Thiers im Amt blieb, war die am 4. September 1870 ausgerufene Republik nicht ernsthaft gefährdet. Seit August 1871 war Thiers auch Präsident der Republik. Obwohl er selber eher den gemäßigten Monarchisten zuzurechnen war, hatte er die Lage richtig eingeschätzt, wenn er in einer konservativen Republik ein in Frankreich konsensfähiges Modell erblickte. Dennoch zerstritt sich die Nationalversammlung über diese Frage und stürzte Thiers im Mai 1873 durch ein Mißtrauensvotum. An seine Stelle trat der Marschall Mac-Mahon als Präsident (1873 bis 1879), von dem die Restauration des Königtums erwartet wurde. Die Bonapartisten mit Prinz Louis Napoleon hatten keine Aussicht auf Erfolg; Graf Heinrich von Chambord, Haupt der Bourbonen, war kinderlos geblieben; die besten Aussichten besaß folglich Louis Philippe von Orléans (Graf von Paris). Auch wenn die Nationalversammlung monarchistisch gesinnt war, so stand für die meisten der Abgeordneten außer Frage, daß es sich nur um eine konstitutionelle Monarchie handeln könne. Da Heinrich von Chambord als potentieller König Heinrich V. jedoch die Wiedereinführung des Lilienbanners anstelle der Trikolore forderte, schien die Gefahr einer Restauration des Ancien Régime am Horizont aufzutauchen. Die Aussicht auf einen neuen Bürgerkrieg, denn nichts anderes wäre zu erwarten gewesen, rettete das Provisorium Republik. Am 30. Januar (Septennat des Präsidenten), 24./25. Februar (Organisation der Exekutive) und 16. Juli 1875 erließ die Nationalversammlung drei Verfassungsgesetze, an deren Vorbereitung drei sehr gegensätzliche Politiker maßgeblich beteiligt gewesen waren: Thiers, Gambetta und der konservative Herzog von Broglie. Die Chambre des députés sollte alle vier Jahre in allgemeinen (nur Männer), gleichen und direkten Wahlen bestimmt werden; die zweite Kammer, der Senat, sollte sich aus Vertretern der Départements und Gemeinden zusammensetzen; die Amtszeit dauerte neun Jahre, alle drei Jahre wurde ein Drittel der Senatoren ersetzt. An der Spitze des Staates stand der Präsident mit einer Amtszeit von sieben Jahren, es galt das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit. Wenn die Regierung keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus fand, mußte sie laut Gesetz zurücktreten. Die Dritte Republik erlebte deshalb mehrere Dutzend Kabinette, trotzdem wurde sie eine starke Republik. Den ersten drei Verfassungsgesetzen folgten weitere: vier zur Verfassungsgerichtsbarkeit unter der Ägide von Jules Grévy (1807 bis 1891); fünf, die das Republikanische Programm unter Jules Ferry (1849 bis 1914) in Gesetzes-
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form brachten. 1889 war die Verfassungsgesetzgebung abgeschlossen. Im 6. Kapitel war darauf hingewiesen worden, daß es sich bei den Generalständen bzw. der Nationalversammlung von 1789 um das größte und bis dahin demokratischste Experiment in der europäischen Geschichte gehandelt hatte. Um 1870/75 kannten nur die deutsche Reichsverfassung, die USA und die Schweiz das in den Gesetzen von 1875 festgeschriebene Wahlrecht, England zog erst 1885 mit einer Wahlrechtsreform nach.
Die Festigung der Republik (1877) Die Nationalversammlung hatte ihren Dienst getan, 1876 wurden Neuwahlen durchgeführt. Die Spannungen zwischen Republikanern und Monarchisten, die immer auch Spannungen zwischen den Prinzipien des Laizismus und Katholizismus bedeuteten, veranlaßten Mac-Mahon, das Parlament aufzulösen und im Oktober 1877 neu wählen zu lassen. Wollte der Präsident nun den Weg zur Monarchie freiwählen lassen? Es kam anders, die Republikaner erhielten eine satte Mehrheit im neuen Parlament. Dies bestätigte einen mehrjährigen Trend, denn die meisten Nachwahlen, die seit 1871 stattgefunden hatten, waren zugunsten der Republikaner ausgegangen. Schon vor 1875 hatte die Versammlung mehrere Gesetze erlassen, die dem Verfassungsrecht zuzurechnen sind und mit denen die Republik als Staatsform gefestigt wurde. Auch in den Départements kippten die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Republikaner, so daß sie seit 1879 im Senat die Mehrheit stellten. Mac-Mahon trat zurück. Der Erfolg der Republikaner war ein Erfolg der gemäßigten Kräfte um Jules Ferry und Jules Grévy, der 1879 zum dritten Präsidenten der Republik gewählt wurde. Selbst Gambetta, der seit November 1871 das scharfzüngige Blatt „La République française“ herausgab, zeigte sich betont zurückhaltend, so daß ihm 1881 bis zu seinem Tod 1882 das Amt des Ministerpräsidenten übertragen wurde. Zuvor ernannte Grévy jedoch einen Protestanten, Waddington, zum Regierungschef. Die Protestanten kämpften nach wie vor um eine Anerkennung als konstitutive politische Kraft. Symptomatisch war das Engagement protestantischer Geisteswissenschaftler für die Erforschung der Geschichte der Grund- und Menschenrechte unter besonderer Berücksichtigung protestantisch-hugenottischer Leistungen seit der Reformation.
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8.2 Nationalkörper: Dritte Republik und der Centenaire der Französischen Revolution Republik, Sport, Nation Nachdem die Republik schrittweise Verfassungswirklichkeit geworden war und die republikanischen Kräfte eine mehrheitliche Unterstützung der Bevölkerung gewonnen hatten, wollte sich so etwas wie eine planmäßige Gestaltung der Republik einstellen. Die wichtigsten Impulse wurden aus der Revolution von 1789, 1792, und 1794 bis 1799 gewonnen. Noch 1879 verlegten die Kammern ihren Tagungsort nach Paris, wurden die Marseillaise zur Nationalhymne, die Trikolore zur Nationalflagge und der 14. Juli als Tag des Bastillesturms zum Nationalfeiertag erklärt. Seit der Revolution 1789 ff. bedurfte der Versuch eines umfassenden Neuanfangs, als der der Beginn der Dritten Republik zu werten ist, offenbar auch der Schöpfung eines ,neuen Menschen’, zumindest eines neuen Typs von republikanischem Mann. Hebel hierzu war der Sport, der als Schulfach „Gymnastik“ mit Gesetz vom 27. Januar 1880 in den Pflichtlehrplan der Schulen eingebaut wurde. „Die Vermittlung der republikanischen Ideologie hat (. . .) zu einer Verinnerlichung von Werten und Einstellungen, von Verhaltens- und Sprachformen geführt. Hierzu bedurfte es insbesondere in der Anfangszeit der Dritten Republik einer politischen Pädagogik, die den Worten und Diskursen durch adäquate Bewegungsformen Ausdruck verleihen sowie Verstand und Gefühl, Worte und Handlungen in Einklang bringen konnte. Die jungen Franzosen mußten ihren Körper neu erfahren; die Gymnastik sollte auf den Habitus des einzelnen in ähnlicher Weise wirken wie die französische Normsprache auf die verschiedenen Dialekte. Ähnlich wie die Sprachpolitik gehörten die Bestrebungen, in die Körperpraxis der Franzosen einzugreifen, zu den Aspekten der kulturellen ,Nationalisierung der Massen’, welche die ,einige und unteilbare Republik’ als Verkörperung der nationalen Gemeinschaft zementieren sollten.“ (Pierre Arnaud/André Gounot) Die Gymnastik wurde als Vorstufe weiterer militärisch-patriotischer Ausbildung der Jungen und jungen Männer verstanden. In den ersten Jahren wurden gymnastische Darbietungen auch bei öffentlichen Zeremonien in das Festprogramm eingebaut. Dies erwies sich nicht auf Dauer als erfolgreich, bereitete aber dem Massensport den Boden. Die entstehenden Sportvereine, die vom ursprünglichen Gymnastik (Turn-)Konzept Abstand genommen hatten, prägten das französische Vereinswesen maßgeblich.
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Die Republik zwischen Laizismus und Kirche Die erste Hälfte der 1880er Jahre wurde nachhaltig von Jules Ferry als zweimaligem Regierungschef und langjährigem Minister für das Schul- und Bildungswesen geprägt. Mit seinem Namen und dem Schulgesetz von 1882 ist die französische Volksschule verbunden – eine Volksschule laizistischer, republikanischer Ausrichtung. Der Schulbesuch wurde Pflicht, die Wirkungsmöglichkeiten der kirchlichen Schulen allmählich zurückgeschnitten. Weitere Maßnahmen bereiteten die erst 1905 endgültig vollzogene Trennung von Staat und Kirche und institutionalisierter Gesellschaft und Kirche vor: Wiedereinführung der Ehescheidung, in öffentlichen Gebäuden durften keine Kruzifixe mehr aufgehängt werden, das Parlament verzichtete künftighin auf das Eröffnungsgebet. Weitere Maßnahmen folgten, bei denen sachliche Gründe und symbolische Absichten zusammengingen und die von historischen Vorausleistungen der Gesellschaft profitierten. Seit dem 18. Jh. ließ sich beobachten, daß ländliche Gemeinden Wert auf den Bau von Gemeindehäusern legten, in denen zumeist auch die Schule untergebracht wurde, und daß dies nicht selten auf Kosten von Aufwendungen für Kirchenbauten bzw. -reparaturen geschah. Das Munizipalgesetz von 1884 machte den Bau von Rathäusern zur Pflicht. Der republikanische und nationale Charakter (national im Gegensatz zu lokal oder regional) der Bauten wurde durch die Figur der Marianne, die Nationalsymbole der Republik und Inschriften („Liberté – Égalité – Fraternité“) herausgestrichen. Aufgrund der „Union von Thron und Altar“ unter Napoleon III. waren seit 1850 zahllose Kirchen neu gebaut worden, die Republik hatte baulich einiges nachzuholen, wenn sie in der öffentlichen Architektur stärker wahrgenommen werden wollte. Deutlicher als im 18. Jh. bestimmte damit das Rathaus als der republikanische Profanbau neben der Kirche die Architektur des öffentlichen politischen Raumes in den Kommunen, aber aus den Glaubens- und Wallfahrtsbewegungen der Zeit entstanden gleichfalls architektonische Monumente, unter denen in Paris die sehr umstrittene Basilika Sacré-Cœur im byzantinischen Stil (1875 bis 1910 gebaut) oder die Wallfahrtskirche von Lourdes besonders zu nennen sind. Sacré-Cœur war u. a. der Sühne für die Kommune geweiht. . .
Der Centenaire der Revolution 1889 jährte sich die Französische Revolution zum einhundertsten Mal. Es traf sich gut, daß der amtierende Präsident Sadi Carnot einen
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berühmten Vorfahren aus der Revolutionszeit, Lazare Carnot (1753 bis 1823), den Organisator der levée en masse, vorweisen konnte. Das Jubiläum wurde genutzt, um die Republik visuell und geistig in die politische Vorstellungswelt der Bevölkerung einzuprägen, es wurde mit einer Weltausstellung gefeiert, die mehr als 33 Millionen Besucher anzog. Unter anderem wurde die Bastille rekonstruiert. 34.000 französischen Ausstellern standen lediglich 6.000 nicht-französische gegenüber; dies belegt gut, wie sich Frankreich selber feierte. Der ausdrückliche Bezug auf 1789 veranlaßte Deutschland und Montenegro zum Boykott der Ausstellung, andere Länder wie ÖsterreichUngarn, Großbritannien, Belgien und die Niederlande nahmen nicht offiziell teil. Die Zurschaustellung bestimmter „moderner“ Werte wie „Perfektionierung“ als Ziel der französischen Nation am Beispiel des Eiffelturms erinnern nicht nur an die Zeit des revolutionären Direktoriums und Napoleons I., sondern auch an die Ziele und Werte der ersten Phase der Alleinherrschaft Ludwigs XIV. in den 1660er bis 1680er Jahren.
Die absolute Republik Die hundert Jahre, die seit der Revolution von 1789 vergangen waren, hatten immer wieder das Problem der Legitimität auf die Tagesordnung gesetzt. Die Revolution war damals von der Überzeugung ausgegangen, daß ein Staatswesen auf der Grundlage einer vernunftgemäßen geschriebenen Verfassung aufgebaut werden könne und dann auch funktioniere. Die Verfassung war als Ersatzgott zelebriert worden. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Erfahrung gemacht, daß die historische Legitimation einer Monarchie, die sich selber eine ungebrochene Kontinuität seit den Kapetingern, ja seit Chlodwig, nachgesagt hatte, nicht durch eine Verfassung neuen Typs einfach aus der Welt und dem politischen Unterbewußtsein zu schaffen war. Die ersten zwei Jahrzehnte der Dritten Republik leiteten in dieser Beziehung die Wende ein. Das Parlament war in gewissem Sinn absolut. Mac-Mahon war der erste und letzte und einzige Präsident in der Dritten Republik, der das Parlament auflöste, der glaubte, den Sturz der Regierung durch den „Sturz“ des Parlaments verhindern zu können. Danach stürzten die Regierungen über das Parlament, und das Parlament blieb. Im historischen Gedächtnis der Republik wurde Mac-Mahons „Staatsstreich“ vom 16. Mai 1877 in eine Reihe mit den Staatsstreichen vom 18. Brumaire des Jahres VIII und dem 2. Dezember 1851 gestellt. Stetig baute das Parlament an der
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Rechtsgrundlage der Republik, bei aller politischer Gegensätzlichkeit der Abgeordneten. Es war dieser Beharrlichkeit zu verdanken, daß die Inszenierungen von 1889, die mit der Französischen Revolution versöhnen wollten, tatsächlich integrierende Effekte erzielten: Das Problem der historischen Legitimität war zwischen 1871 und 1889 prinzipiell gelöst worden. An die Stelle der historischen Legitimität der Monarchie war die nunmehr historische Legitimität der Republik getreten. (Odile Rudelle) Folgt man der Interpretation von Odile Rudelle, so lag das Geheimnis dieses Erfolgs darin, daß das Parlament vom Verständnis einer „République une et indivisible“ ausging, ebenso wie der Monarch in Frankreich „un et souverain“ gewesen sei. Dies spielt darauf an, daß das Parlament letztlich die Regierung auf eine bestimmte Linie zwang und keinen umfassenden politischen Pluralismus zuließ. In dieser Verhaltensweise sieht Rudelle im übrigen eine der Ursachen für die Skandale und Affären der Dritten Republik, die gewissermaßen das Ventil für die politisch Ausgegrenzten bildeten. Für Rudelle war es eine „République absolue“ – in Anspielung auf die „Monarchie absolue“.
8.3 Krisen und Affären Der Boulangismus 1889 war nicht nur ein Jubiläumsjahr, sondern auch das Jahr des Boulangismus. Die Bezeichnung leitet sich vom General Georges Boulanger her, der das Land an den Rand eines exzessiven Nationalismus brachte. Die Ursachen reichten tiefer: Als Bismarck 1882 den Dreibundvertrag gegen Frankreich schmiedete, litt das Land unter einer Wirtschaftsdepression. Die Gründung einer Ligue des Patriotes 1882 unter der Schirmherrschaft u. a. von Waldeck-Rousseau durch den „Revanchisten“ Paul Déroulède half, die nationalen Frustrationsgefühle zu katalysieren. Ferry wurde 1885 von Georges Clemenceau (1841 bis 1929) gestürzt. Während Ferry die Kolonialpolitik vehement vorantrieb, stand Clemenceau eher für den Revanche-Gedanken und räumte der Politik gegenüber dem Deutschen Reich Priorität ein. Die Einführung des Listenwahlrechts stärkte bei den Urnengängen 1885 die extremen rechten und linken Ränder, so daß es schwierig wurde, stabile Regierungskabinette zu bilden. Eine Affäre um den Schwiegersohn des Staatspräsidenten Grévy ließ in der
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Presse den Eindruck entstehen, als werde das Präsidentenamt mißbraucht. Grévy trat zurück. In diesen Jahren stieg der brillante republikanische General Georges Boulanger (1837 bis 1891) zum Kriegsminister (1886/87) auf. Zum einen reformierte er die Truppe, zum anderen war er ein glühender Anhänger des republikanischen Nationalismus, der nicht zuletzt von Revanche-Gedanken zehrte. Einen Spionagefall in den Vogesen (Affäre Schnäbele) hätte Boulanger am liebsten zur Teilmobilmachung gegen das Reich genutzt. Im Kabinett fand er dafür keine Unterstützung, aber er zog die Nationalisten von rechts bis links an sich. In der Zwischenzeit als Minister entamtet und als General in den Ruhestand versetzt, präsentierte er sich erfolgreich bei fünf Nachwahlen 1888 auf den Wahllisten. Seine sechste Kandidatur fand in Paris statt, wo er am 27. Januar 1889 ebenfalls als Sieger aus den Wahlen hervorging. Trotz aller Erfolge blieb er dem Republikanismus insoweit treu, als er einen Staatsstreich ablehnte und auf die für Herbst 1889 angesetzten Wahlen baute. Der Innenminister Constans nutzte die Verschnaufpause, um die Patriotische Liga aufzulösen und den General a. D. vor dem Senat anzuklagen. Das Wahlrecht wurde dahingehend geändert, daß Mehrfachkandidaturen unterbunden und die Listenwahl wieder abgeschafft wurde. Boulanger entzog sich der drohenden Verurteilung durch Flucht. Der Erfolg des Boulangismus selbst war eher oberflächlich; bei den Herbstwahlen 1889 zogen nur 38 boulangistische Abgeordnete in das Parlament (530 Abgeordnete) ein. Im Grunde war die Bewegung Ausdruck eines tiefergehenden Transformationsprozesses. Zwar blieb die Republik in ihrem Selbstverständnis Ausdruck der französischen Nation, aber der eigentliche Nationalismus, der sich auch in Frankreich mit dem Antisemitismus anreicherte, wurde zur Domäne der Rechten und all derer, die mit Liberalismus und Parlamentarismus auf dem Kriegsfuß standen. Boulanger hingegen hatte die Versöhnung zwischen Republikanismus und Nationalismus verkörpert. Seine Wähler fanden sich im Osten, im Midi und in der Hauptstadt, konservative Wählerschichten, die dennoch beständige Republikanhänger waren.
Panama-Skandal und Antisemitismus Bevor der französische Antisemitismus in der Dreyfus-Affäre für alle Welt offensichtlich wurde, spielte er bereits im Hintergrund der Panama-Affäre eine Rolle, die 1888 ihren Anfang nahm. Nach dem erfolgreichen Suez-Kanal-Projekt (s. Kap. 10) hatte Ferdinand de Les-
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seps (1805 bis 1893) die Panama-Gesellschaft gegründet, in der Hoffnung, einen ähnlichen Erfolg wiederholen zu können. 1888 wurde eine hohe Lotterieanleihe begeben, die illegal war, aber durch bestochene Parlamentarier gedeckt wurde. Selbst Clemenceau war in den Skandal verwickelt. Trotz der Anleihe ging die Gesellschaft bankrott, besonders die vielen kleinen Anleger litten darunter. Das Vertrauen in Industrie- und Handelswerte wurde beschädigt, statt dessen flüchteten sich „die“ Franzosen in sicher geglaubte Staatsanleihen, eine Haltung, die so schnell nicht mehr aufgegeben wurde. Boulangismus und Weltausstellung erleichterten es, zunächst den Deckel auf der Sache zu halten. 1892 veröffentlichte Edouard Drumont, Autor von La France juive (1886), in dem antisemitischen Blatt La Libre Parole einen Artikel, in dem er neben den Namen von 104 bestochenen Abgeordneten auch die dreier jüdischer Bankiers nannte. Dies war Wasser auf die Mühlen des Antisemitismus. Obwohl die Politiker und Abgeordneten die Affäre strafrechtlich überwiegend ungeschoren überstanden – Lesseps hingegen wurde der Prozeß gemacht –, traten viele zunächst in den Hintergrund und machten neuen Köpfen Platz, die wie Raymond Poincaré (1860 bis 1934) in Zukunft die Politik Frankreichs bestimmen sollten.
Anarchisten Die an Attentaten keineswegs arme Geschichte Frankreichs erlebte in dieser Beziehung in den 1890er Jahren (wie viele andere Länder) einen neuen krisenhaften Höhepunkt. Im Dezember 1893 ließ ein gewisser Auguste Vaillant im Abgeordnetenhaus eine Bombe hochgehen; die Folge war die Verschärfung der Pressegesetze: Aufforderung zum Mord, zur Brandstiftung und zum Diebstahl wurde mit fünf Jahren Haft unter Strafe gestellt. Anarchisten wurden Straftätern gleichgestellt und mit Zwangsarbeit bedroht. Am 24. Juni 1894 wurde der Präsident Carnot Opfer eines Anarchisten (namens Caserio), nachdem er sich geweigert hatte, Vaillant zu begnadigen. Sein Nachfolger wurde der Orleanist Jean Paul Pierre Casimir-Périer, dessen Wahl die Drift der Republik nach rechts und in die Repression bestätigte. Pressedelikte wurden per Gesetz vom 27. Juli 1894 der Strafgerichtsbarkeit zugewiesen. Die Sozialisten bezeichneten die Gesetze als „verbrecherische Gesetze“ und brachten damit den tiefer gewordenen Graben zwischen den politischen Richtungen zum Ausdruck. Eine weitere Affäre, in der sich die beschriebenen Krisensymptome akkumulierten, führte zur Vertiefung der Gräben.
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Dreyfus-Affäre, Antisemitismus und Entkirchlichung Im Herbst 1894 mußte sich der Kriegsminister General Mercier mit einer Spionageaffäre befassen. Offensichtlich waren technische Details der französischen Artillerie verraten worden. Es war wieder La Libre Parole, in der am 1. November 1894 der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus (1859 bis 1935) als der gesuchte Spion „entlarvt“ wurde. Dreyfus war Generalstabsoffizier, er entstammte einer reichen jüdischen Familie aus dem Elsaß, die sich 1871 im übrigen für die Zugehörigkeit zu Frankreich und nicht zu Deutschland entschieden hatte. Das erwähnte Blatt schürte die Kampagne gegen Dreyfus, machte aus einem Spionagefall eine politische Affäre und trug mit Schuld daran, daß Dreyfus am 22. Dezember 1894 vor einem Militärgericht unter Ausschluß der Öffentlichkeit in einem widerrechtlichen Verfahren unschuldig verurteilt wurde. Der Bruder (Mathieu Dreyfus) des Verurteilten betrieb die Revision des Prozesses und konnte sich der Unterstützung der republikanischen Presse sowie namhafter Persönlichkeiten wie Clemenceau versichern. Der Journalist Bernard Lazare, der Mathieu von Anfang an unterstützte, publizierte Ende 1896 in Brüssel die Schrift „Une erreur judiciaire: la vérité sur l’affaire Dreyfus“, die in der Tat ein erhebliches Stück Aufklärungsarbeit leistete. Der Senator Scheurer-Kestner verlangte daraufhin die Wiederaufnahme des Verfahrens. Am 13. Januar 1898 ließ der Schriftsteller Emile Zola in L’Aurore, der von Clemenceau gegründeten Zeitschrift, jenen berühmt gewordenen Brief an den Staatspräsidenten Felix Faure unter dem Titel „J’accuse“ abdrucken, der ihm selber ein Strafverfahren und Entehrungen einbrachte, jedoch die Wende in der Affäre mit herbeiführte. Dreyfus wurde in der Folge rehabilitiert (erst 1906!), aber die Affäre war über sein persönliches Schicksal längst hinausgewachsen. Auf der einen Seite führte sie zur Stärkung des Menschenrechtsgedankens und u. a. zur Gründung der Ligue pour la défense des droits de l’homme et du citoyen durch das Senatsmitglied Jacques Trarieux (1840 bis 1904; erster Präsident der Liga 1898 bis 1904), sie stärkte die Anhänger des Antimilitarismus. Auf der anderen Seite organisierte sich die Rechte um Schriftsteller wie Maurice Barrès, die 1895 von Déroulède erneuerte Ligue des Patriotes, die „Antisemitische Liga“ von J. Guérin, die Ligue de la Patrie Française (seit 1898), und die Blätter La Libre Parole sowie La Croix. Im Februar 1899 spitzte sich die Krise zu, als Déroulède während der Beerdigung des Präsidenten F. Faure den Elysée-Palast besetzen wollte. Die republikanischen Kräfte rückten wieder enger zusammen – die Soziali-
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sten hatten sich lange Zeit von der Dreyfus-Affäre nicht betroffen gefühlt – und bildeten den „Republikanischen Block“, der die republikanischen Institutionen nicht nur verteidigte, sondern eine neue Phase der Republikanisierung Frankreichs einleitete. Der Antisemitismus der katholischen Kirche begünstigte die folgende Entkirchlichung des Staats, die mit der Trennung von Staat und Kirche 1905 abgeschlossen war. Die Entkirchlichung betraf alle Konfessionen, die Entkirchlichung als Kulturkampf in erster Linie die katholische Kirche.
8.4 Die radikale Republik (1899 – 1914) Charles Maurras und Ludwig XIV. Im Juli 1900 stellte Charles Maurras in der royalistischen Zeitschrift La Gazette de France den Lesern folgende Frage: „Oui ou non, l’institution d’une monarchie traditionelle, héréditaire, antiparlementaire et décentralisée est-elle de salut public“? Aus der Auswertung der Antworten entstand die Schrift „Enquête sur la monarchie“. Maurras geißelte die Revolution als atomistisch, die Machtkonzentration unter Napoleon als exzessiv; die Neigung der Romantiker zum hl. Ludwig teilte er nicht, vielmehr fand er in Ludwig XIV. ein Vorbild, das seiner rationalistischen Konzeption der Monarchie am ehesten entsprach. Wenn auf der einen Seite um 1900 die Monarchie als Staatsform noch konzeptionell weiterentwickelt wurde, intellektuell also keineswegs tot war und mehr als eine romantische Reminiszenz ausmachte, gewann auf der anderen Seite der Sozialismus die radikalen Republikaner und erhob diese zur stärksten politischen Kraft.
Politische Lagerbildung Um 1900 tritt die Teilung Frankreichs trotz aller Differenziertheit in zwei große politische Lager deutlich zutage. Das sozialistische Lager stand für Republik, Antimilitarismus, Anti-Antisemitismus und Entkirchlichung des Staats, das rechte Lager stand für integralen Nationalismus, Militarismus, Antisemitismus, Rassismus und zunehmend auch für Antiparlamentarismus. Parteien im engeren Wortsinn wurden bei den Wahlen von 1902 bei der politischen Linken und Mitte erkennbar: der Parti radical et radical socialiste, die Alliance républicaine et démocratique, die Fédération républicaine. Organisatorischer Katalysator der Rechten war die Action Française. 1905 wurde die SFIO (Parti
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socialiste unifié, section française de l’Internationale ouvrière) gegründet, die auf marxistischer Grundlage die Arbeiterbewegung zu bündeln hoffte. 1914 hatte die SFIO 91.000 Mitglieder und erhielt die Stimmen von 1,4 Mill. Wählern, was ihr 103 Sitze im Parlament verschaffte. Damit war sie zweitstärkste Kraft nach den Radikalsozialisten mit 1,5 Mill. Stimmen und 140 Parlamentssitzen. Gewerkschaften als organisatorischer Ausdruck der Arbeiterbewegung stützten sich 1891 auf ca. 300.000 Mitglieder, 1907 auf rd. 1 Mill. 1895 wurde unter dem Namen Confédération générale du travail (CGT) eine erste nationale übergreifende Organisation aus der Taufe gehoben. 1906 verabschiedete die CGT die Charte d’Amiens, in der der Generalstreik als Kampfmittel verankert wurde. Passiver Widerstand, Boykott und Sabotage zählten zu den Kampfmitteln. Georges Sorel, der später allerdings zum Umfeld der Action française stieß, lieferte 1908 in „Réflexions sur la violence“ die Theorie des Generalstreiks. Der französische Syndikalismus war eine eigenständige Erscheinung, kein verlängerter Arm der (sozialistischen) Parteien. Die Parteienbildung hing mit dem Strukturwandel der Gesellschaft und der politischen Mandatsträger zusammen. Anfang des 20. Jh. stellten zwar Adel und Großbürgertum noch rund die Hälfte der Abgeordneten oder, aus anderer Sicht, nurmehr die Hälfte, während neue Schichten wie Anwälte, Lehrer, Professoren und Ärzte die Parlamente eroberten. Diese verfügten nicht über das notwendige Privatvermögen, um Wahlkampagnen zu finanzieren, sie stützten sich auf lokale Komitees; im Parlament duzten sie sich, selbst wenn sie unterschiedlichen Richtungen angehörten. 1906 hoben sie die Abgeordnetendiäten von 9.000 auf 15.000 FF an, um den Vermögensmangel auszugleichen. Die Parlamentsausschüsse erhielten eine festere Organisationsstruktur, ihre Zusammensetzung folgte proportional den politischen Richtungen. Die Parteienbildung war desweiteren mit der ansteigenden Politisierung der Bevölkerung verbunden, an der die Zeitungs-Presse großen Anteil besaß. Allein in Paris erschienen 1914 48 Tageszeitungen, darunter auflagenstarke Blätter wie Le Petit Parisien (Auflage 1914: 1,5 Mill.), Le Petit Journal (900.000), Le Matin (800.000). L’Écho de Paris war ein Organ der katholischen Bourgeoisie, La Petite République ein Organ der Sozialisten. In der Provinz hatte die Presse inzwischen nachgezogen (Le Petit Marseillais – gemäßigt republikanisch, Marseille; La Dépêche – radikalsozialistisch, Toulouse; Le Petit Méridional – radikal, Montpellier; L’Ouest Éclair – christdemokratisch, Rennes). Die Presse trug die nationale Politik in die Dörfer,
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wo im übrigen, etwa im Weinbau, langanhaltende Produktions- und Absatzschwierigkeiten zur Radikalisierung der Bauern beitrugen und den Sozialisten neue Wählerschichten erschlossen. Frankreich wandelte sein Gesicht, aber ebenso wie der Monarchismus virulent blieb, überdauerte der Habitus aufständischen Widerstands die Zeiten: 1899 belagerte die Antisemitische Liga von Guérin 38 Tage lang die Polizei im „Fort Chabrol“, die Umsetzung des Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche führte 1905 zu blutigen Auseinandersetzungen, soziale Unruhen mündeten in Paris 1906 in eine Massenpanik. Im gleichen Jahr revoltierten die Weinbauern im Midi. Daneben erlebte Frankreich eine Vielzahl heftiger Streiks, deren Ziel überwiegend in Lohnerhöhungen bestand.
Zentrale Fragen der Zeit Die zentralen Fragen der Zeit waren die Trennung von Staat und Kirche, die Sozialgesetzgebung, die Verbesserung der gesellschaftlichen Chancengleichheit und Gerechtigkeit, das Heerwesen sowie die – im zweiten Teil des Buches zu behandelnde – Kolonial- und europäische Außenpolitik. Staat und Kirche: 1880 war der Sonntag als regulärer Ruhetag gefallen, er wurde 1906 durch einen weltlichen Ruhetag ersetzt. Seit 1900 ergriff die Regierung unter Pierre Marie René Waldeck-Rousseau (1846 bis 1904) konkrete Maßnahmen, um die im Lauf des 19. Jh. mächtig gewordenen Kongregationen zu schwächen. Sie beherrschten das Bildungswesen, verfügten über ansehnliche Vermögen und finanzierten gelegentlich regierungsfeindliche Zeitschriften. 1901 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die Existenz von Kongregationen von einer gesetzlichen Zulassung abhängig machte. Dies bedeutete einen Hebel zur Auflösung von kirchlichen Gemeinschaften. Darüber kam es zum Bruch mit dem Vatikan und zum Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche 1905. Im Oktober 1904 hatte der Kriegsminister die religiösen Überzeugungen der Armeeoffiziere ausforschen lassen und die Informationen an die Freimaurerloge Grand Orient weitergegeben. Dafür wurde er im Abgeordnetenhaus von einem erbosten Abgeordneten geohrfeigt und zum Rücktritt genötigt. Sozial- und Arbeitsgesetzgebung: Da die Industrialisierung in Frankreich langsamer als in England voranschritt, traditionelle Familienstrukturen und -netze erhalten blieben, außerdem die Bevölkerung nur gemächlich wuchs, stellte sich die „soziale Frage“ weniger radikal
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als in anderen Ländern. Der Verlauf der Pariser Kommune hatte das Thema einer Sozialgesetzgebung diskreditiert. Andererseits ermutigte der Erfolg der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, einen ähnlichen Weg zu verfolgen. Seit 1884 herrschte Koalitionsfreiheit. 1890 wurde ein Recht auf Schadenersatz erlassen, wenn die Entlassung eines Arbeiters offensichtlich grundlos war. 1892 wurde die Kinderund Frauenarbeit einer gesetzlichen Regelung unterworfen, Gesetze von 1893 und 1912 waren dem Gesundheitsschutz der Arbeiter gewidmet, 1895 wurde die Möglichkeit, den Arbeitslohn zu pfänden, eingeschränkt, 1900 wurden die Betriebs- und Arbeitsbedingungen in je derselben Produktionsbranche angeglichen. 1893 gelangten bedürftige kranke Personen in den Genuß einer kostenlosen Krankenversorgung zu Lasten der Gemeinden. 1906 wurde erstmals ein Arbeitsministerium eingerichtet. Weitere Schwerpunkte waren die gesetzliche Krankenversicherung bis zu einem gewissen Jahreseinkommen (1910) und die Unfallversicherung, die schon vor der Jahrhundertwende durch freiwillige Beitragsentrichtung generalisiert worden war. Die gesamte Sozial- und Arbeitsgesetzgebung wurde schließlich bis 1912 zum Code du travail vereinigt. Chancengleichheit und Gerechtigkeit: Hier handelte es sich nicht zuletzt um das alte Thema der Steuergerechtigkeit, das mit der Einführung einer progressiven Einkommensteuer nach fast zwanzigjähriger Debatte 1914 gelöst werden konnte. Ab 5.000 FF Nettoeinkommen waren 2% Einkommenssteuer zu zahlen, für Eheleute und Familien gab es Abschläge. Tatsächlich erhoben wurde die neue Steuer erst ab 1916. Chancenungleichheit bestand nach wie vor beim Militär hinsichtlich der Dienstpflicht (Ausnahmeprivilegien) und der Offiziersstellen. Heerwesen: 1904 bewerkstelligte der Marineminister Camille Pelletan eine kleine Demokratisierung der Marine und fuhr im übrigen das Bauprogramm aus Kostengründen zurück. Der Kriegsminister und General André entstaubte das Eherecht für Offiziere: bis dahin mußten die zukünftigen Offiziersfrauen obligatorisch eine Mitgift einbringen. Für Unteroffiziere wurden Aufstiegsmöglichkeiten geschaffen. 1905 wurde die Dienstzeit auf zwei Jahre herabgesetzt. Diese Maßnahmen stießen in der Armee auf wenig Zustimmung und heizten die öffentliche Debatte um Militarismus und Antimilitarismus an. Unter dem Kabinett Poincaré traten die Gegensätze deutlich zutage. Während Jean Jaurès 1911 in der Studie L’Armée nouvelle für einen sehr kurzen Miliz-Wehrdienst plädierte, versuchte der Kriegs-
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minister Millerand durch Militäraufmärsche, Militärkapellen und Pressearbeit die öffentliche Meinung für das Militär zu gewinnen. Poincaré, seit 1913 Staatspräsident, setzte sich angesichts der deutschen Aufrüstung energisch für eine Stärkung der Armee ein. Am 19. Juli 1913 („loi Barthou“) wurde der Wehrdienst wieder auf drei Jahre erhöht, die Wehrpflicht begann mit 20 Jahren, so daß die Jahrgänge 1892 und 1893 gleichzeitig eingezogen werden konnten und das Heer auf eine Friedensstärke von 850.000 Mann angehoben wurde (am 3. Juli 1913 war im deutschen Reichstag die Friedensstärke von 623.000 auf 820.000 Mann, 1914 zu erreichen, angehoben worden). 1913 betrug der Anteil der Militärausgaben am Budget immerhin 36%. Die Sozialisten und die Radikalsozialisten hatten gegen das Gesetz gestimmt und machten es 1914 zum Wahlkampfthema. Die Wahlen gewannen sie mit deutlicher Mehrheit. Die Abschaffung des Gesetzes wurde durch einen Tauschhandel verhindert: der Senat stimmte endlich der Einführung der Einkommenssteuer zu, dafür verzichtete der neue Regierungschef Viviani auf die Aufhebung des umstrittenen Gesetzes.
8.5 Wirtschaft und Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg Industrie und Banken Die Verwendung von Erdöl und elektrischer Energie sowie der Fortschritt der chemischen Forschung leiteten einen neuen Industrialisierungsschub ein. Mechanisierung und Rationalisierung der Arbeit schritten damit einher ebenso wie die Erhöhung der Produktivität und des Gewinns. Frankreich erlebte unmittelbar nach dem Ende des Kriegs 1871 einen bis 1882 anhaltenden Konjunkturaufschwung. Auf die relative Stagnation zwischen 1882 und 1896 folgte ein Aufschwung, der im Zuge eines weltweiten Wirtschaftsaufschwungs bis zum Ersten Weltkrieg anhielt – von einzelnen Einbrüchen abgesehen. Zwischen 1898 und 1913 stieg die Industrieproduktion um 64%. In der gleichen Zeit differenzierte sich das Bankwesen. Eine Vielzahl neuer Geschäftsbanken entstand, die bis heute bestehen (z. B. Crédit Lyonnais; Société Générale). Sehr viele Banken engagierten sich in den Kolonien, aber auch in Osteuropa, besonders in Rußland und Serbien sowie in Deutschland und Österreich-Ungarn. Der bedeutende Kapitalexport ließ die Frage aufkommen, ob der französischen Wirtschaft damit benötigtes Kapital entzogen werde und ob die wirtschaftlichen Außenbeziehungen nicht der Politik
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untergeordnet werden müßten. Poincaré vertrat die Ansicht, daß an politisch feindliche Länder keine Bankkredite vergeben werden sollten. An diesem Punkt zeigt sich die in jüngerer Zeit wieder deutlicher herausgestellte Existenz eines in der Tat europäischen Wirtschaftsraums, der mit den politisch-mentalen Grenzziehungen nicht wegargumentiert werden kann.
Landwirtschaft Den Bauern und der Landwirtschaft galt die besondere Aufmerksamkeit der Politik, Gambetta errichtete 1881 erstmals ein eigenes Landwirtschaftsministerium. Sehr widersprüchliche Entwicklungen prägten das Bild. Bessere, in größeren Mengen verteilte Düngemittel kamen vor allem dem Getreideanbau zugute, aber seit 1868 wurde die Anbaufläche nicht mehr erweitert. Bis zum Krieg lag der Jahresertrag bei ca. 9 Mill. Tonnen Weizen. Davon wurde kaum etwas exportiert, importiert wurden rd. 2 Mill. Tonnen aus Osteuropa, Amerika, Australien und Kanada. Der importierte Weizen war zumeist billiger als der heimische. Da sich die Ernährungsgewohnheiten änderten, schlug sich der Bevölkerungszuwachs nur unterproportional auf den Getreideverbrauch nieder; Fleisch, Gemüse und Obst waren stärker gefragt. Fleisch konnte allerdings mittlerweile in Kühlschiffen auch aus Übersee importiert werden, so daß die heimischen Bauern nur bedingt von den neuen Ansprüchen profitierten. Die Zahl der Rinder stieg seit 1900 nicht mehr, die Zahl der Schafe, Lämmer und Hammel sank um 20%. Andere billigere Überseeprodukte wie japanische Seide verdrängten die inländische Produktion vom Markt, chemische Produkte wie Textilfarben verdrängten die traditionellen Kulturen für die Gewinnung pflanzlicher Farbstoffe. Der Weinbau litt unter Reblausbefall, der 1865 im Gard auftrat und bis 1889 die meisten Weinanbaugebiete betraf. Nachdem zwischen 1860 und 1870 200.000 Hektar zusätzlicher Fläche für den Weinbau kultiviert worden waren und aufgrund der revolutionierten Transportsysteme der Wein problemlos in alle französischen Gegenden transportiert werden konnte, hatte der Wein einen festen Platz bei den Trinkgewohnheiten aller Franzosen überall in Frankreich erhalten. Die Reblauskatastrophe drückte den Ertrag von 60 bis 70 Mill. Hektoliter um 1870 auf 23 Mill. im Jahr 1889, so daß Wein importiert werden mußte, um die Nachfrage zu sozial verträglichen Preisen zu stillen. Südafrikanische, kalifornische, australische und algerische Weine erhielten so Zugang zum französischen Markt, die Rekultivierung ebener Wein-
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lagen erfolgte mit amerikanischen Rebsorten, die mehr Ertrag, aber weniger Qualität abwarfen. Kleine Weinbauern gaben zugunsten der großen kapitalstarken Weingutbesitzer auf. Schritt für Schritt entstand im Agrarsektor eine Infrastruktur von Kreditinstituten und Hilfsvereinen, deren Tragweite vorerst begrenzt blieb. Die 1899 geschaffenen Regionalkassen zur Vergabe von landwirtschaftlichen Krediten teilten 1913 (105 Regionalkassen) lediglich 113 Mill. FF zu. Sie hatten 151.000 Mitglieder. Im Weinbau bildeten sich Produktionsgenossenschaften, die eine gesetzliche Grundlage erhielten, gefolgt von Tierzuchtregionen wie der Charente und dem Jura. 1914 wurden die Kooperativen von rd. 1 Mill. Mitgliedern getragen. Die guten nationalen Transportnetze kamen regionalen Spezialitäten zugute, die im Sinne eines Qualitätslabels z. T. erst im späten 19. Jh. entstanden: Butter aus der Charente und der Normandie, Fleisch aus dem Charolais (noch heute sehr geschätzt!), Frühgemüse aus dem Vaucluse oder Roussillon usf. Die Entstehung eines nationalen Agrarmarktes beförderte die Entstehung regionaler Identitäten, zu denen Agrarprodukte zählten. Da Frankreich wegen des zügig ausgebauten Eisenbahn-, Straßen- und Wasserwegenetzes enger zusammenrückte – alle drei Verkehrswegearten wurden auch nach 1870 mit staatlicher Hilfe gefördert –, lohnte sich die Schärfung regionaler Profile. Damit konnten die Städter angezogen werden. Eine andere Folge war die landesweite Nivellierung der Preise, die Verbilligung der Transportkosten für Waren und Personen: Sie fielen zwischen 1869 und 1913 von 6,17 auf 4,12 Centimes pro Tonnenkilometer bzw. von 5,43 auf 3,39 Centimes pro Personenkilometer. 1880 tauchte erstmals ein als „bicyclette“ bezeichnetes Produkt auf, von dem 1901 eine Million und 1914 3,5 Mill. Stück hergestellt worden waren. 1890 wurde der erste Peugeot gebaut, Renault entstand 1899. Mit 45.000 produzierten Einheiten im Jahr 1913 hatte sich Frankreich zum größten europäischen Automobilhersteller entwickelt.
Schwerindustrie Auf das größer werdende Gewicht des schwerindustriellen Sektors war im Zusammenhang mit dem Zweiten Kaiserreich hingewiesen worden. Angesichts des Syndikalismus und seines Organisationsgrades bildeten die Schwerindustriellen Arbeitgebervereinigungen, vor allem im Bereich Kohle, Eisen und Stahl, während in anderen Branchen wie der Glas- oder Aluminiumherstellung ausgesprochene
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Kartelle entstanden, die Preise und Verkaufszonen festlegten. Der Verlust von Elsaß und Teilen Lothringens hatte zu einer Verlagerung der Schwerindustrie geführt. Im Pas-de-Calais wurden 1913 über 50% der heimischen Kohle gefördert, während es 1875 ca. 20% gewesen waren. Neue Verfahren in der Eisen- und Stahlindustrie kurbelten die Produktion an, Frankreich importierte allerdings weiterhin Kohle und Eisen- bzw. Stahlprodukte. In der Stahlindustrie waren 1913 erst 118.000 Arbeiter beschäftigt, die 4,7 Mill. Tonnen Stahl produzierten, während die Vergleichszahl für Deutschland 17 Mill. Tonnen betrug. In der Montanindustrie bestanden viele Verflechtungen mit Deutschland, von französischen Kapitalinvestitionen bis zum Import deutscher Erzeugnisse. Insgesamt verdoppelte sich die Industrieproduktion zwischen 1872 und 1910, während der Zuwachs im Agrarsektor bei nur 50% lag.
Nationalprodukt und Volksvermögen Gemessen an Produktion und Ausstoß lag Frankreich hinter England und Deutschland zurück. Das französische Nationalprodukt wuchs jährlich um ca. 1,1%, das deutsche hingegen um 3%. Die französische Wirtschaft und Bevölkerung war anders strukturiert, so daß der quantitative Rückstand nicht mit „rückständig“ übersetzt werden kann. Frankreich war ein besonders kapitalreiches Land, überall in der Welt wurde französisches Kapital investiert. Allein der Ertrag aus investiertem Kapital reichte 1913 aus, um die negative Handelsbilanz (minus 1.540 Mill. FF) mehr als auszugleichen (Kapitalerträge: plus 1.775 Mill. FF). In der Tourismusbranche wurde schon damals ein hoher Überschuß erwirtschaftet (plus 750 Mill. FF), im internationalen Versicherungswesen fielen weitere 340 Mill. FF an. Insgesamt wies die Zahlungsbilanz am Vorabend des Krieges ein Plus von 1.296 Mill. FF aus. Die Privatvermögen beliefen sich auf 300 Mrd. FF, das war das Zweieinhalb- bis Vierfache der unter dem Zweiten Kaiserreich erreichten Summe. Während der Grundbesitz nach einer Hausse bis 1881 wegen der Krisen im Agrarsektor im Jahr 1912 wieder auf den Stand von 1860 zurückgefallen war, trug die Wertsteigerung der Immobilien (Verdoppelung der Mieten) zum Vermögensgewinn besonders bei. Die größte Steigerung wurde beim Geldvermögen erzielt, es machte 1913 125 Mrd. FF aus. Daß die Verteilung der Vermögen höchst ungleich ausfiel, versteht sich fast von selbst: 60% des privaten Vermögens gehörte weniger als 1 Mill. Personen.
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Demographie Die genannten Zahlen entfalten ihre volle Bedeutung erst, wenn die demographische Entwicklung berücksichtigt wird. Seit dem 18. Jh. wies die französische Bevölkerungsentwicklung Besonderheiten gegenüber anderen Ländern auf. Ab 1901 lag die jährliche Steigerung nur noch bei 0,13%, während in Deutschland 1,1%, im Vereinigten Königreich 0,9% und in Italien 0,7% erreicht wurden. In mehreren einzelnen Jahren lag die Sterblichkeitsrate über der Geburtenrate. Dagegen wuchs die Lebenserwartung; im Zweiten Kaiserreich hatte sie für Männer bzw. Frauen bei 39 bzw. 40,6 Jahren gelegen, 1913 lauteten die Vergleichsziffern 48,49 bzw. 52,41 Jahre. 13% der Bevölkerung waren älter als 60 Jahre, während 25% unter 15 waren. Die Kindersterblichkeit lag mit 11,2% immer noch sehr hoch, was vor allem auf Alkoholismus und mangelnde Hygiene zurückgeführt wird. Neue Gründe (im Vergleich zum 18. Jh.) für die zurückhaltende Bevölkerungsentwicklung sind kaum zu nennen. Die Kenntnis kontrazeptiver Methoden reichte weit zurück, der Wunsch bei vielen Bevölkerungsgruppen, einen erreichten Standard zu halten und durch die Söhne zu erhöhen, war ebenfalls kein neues Faktum. Mehr als zwei bis drei Kinder fand man noch bei Bauernfamilien, im Arbeitermilieu, solange die Kinderarbeit unter 13 nicht verboten war, und beim gehobenen Bürgertum. Im katholischen Milieu wurde das demographische Verhalten als Gefahr gesehen, aber dessen gesellschaftlicher Einfluß war gering. Mit einer sehr pessimistischen Sicht versuchte Adolphe Bertillon („Démographie figurée de la France“, 1874) den Staat wachzurütteln, seinem Sohn gelang die erhoffte Einflußnahme. Dieser gründete eine nationale Allianz (Alliance nationale contre la dépopulation; 1896), die zusammen mit anderen die Einführung von Familienzulagen zum Thema machte. Einzelne Unternehmer hatten seit den 1880er Jahren Kindergeld oder Geburtsprämien eingeführt. Nach und nach kamen einzelne Berufsgruppen wie Soldaten und Postbeamte in den Genuß von Familienzulagen. 1913 begründete ein Gesetz für kinderreiche Familien (ab vier Kindern) den Anspruch auf Zulagen. All dies beeinflußte das demographische Verhalten nicht nachdrücklich, belud die Politik aber mit einer neuen Aufgabe, der Familienpolitik. Im Vergleich zu Nachbarländern wie England, Deutschland und Italien erwies sich die französische Bevölkerung als bodenständig. Nur wenige Franzosen wanderten aus (die zeitweise oder endgültige Übersiedlung in die Kolonien wird nicht als Auswanderung gerech-
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net), bis 1884 waren es jährlich nur 5.000 Personen, zwischen 1884 und 1891 im Zusammenhang mit der Krise im Weinbau jedoch vorübergehend bis zu über 30.000. Umgekehrt wurden sehr viel mehr Ausländer eingebürgert; ein Gesetz von 1889 erleichterte diesen Schritt, die in Frankreich geborenen Kinder von Einwanderern erhielten automatisch die französische Staatsbürgerschaft. 1911 stellten Ausländer einen Bevölkerungsanteil von 3%, davon wiederum entfielen 20% auf Paris und Umland, 21% auf den Südosten. 80% der Ausländer stammten aus angrenzenden europäischen Ländern (Italiener: 37%; Belgier: 25%; Spanier: 9%; Deutsche: 9%). Innerhalb Frankreichs beschleunigte sich der Exodus vom Land in die Stadt; 1876 lebten 76% der Bevölkerung auf dem Land (Gemeinden unter 2.000 Einwohner), 1911 waren es noch 55,8% – in absoluten Zahlen: 22,1 Mill. von 39,6 Mill. Nur 15 Städte lagen jenseits der 100.000 Einwohner-Schwelle (in Deutschland waren es 45, in England 43; in England entfielen auf die Landbevölkerung 23%). Wirtschafts- und demographische Daten spiegeln sich in der Struktur der aktiven Bevölkerung. 1911 arbeiteten 13,2 Mill. Männer und 7,7 Mill. Frauen. 4,6 Mill. Männer und 3,9 Mill. Frauen wurden dabei als „selbständig“ bezeichnet. Bei den Männern handelte es sich überwiegend um Bauern. 52% der berufstätigen Männer arbeiteten 1876 in der Landwirtschaft, 26% in der Industrie und 22% in Handel und Dienstleistung. Zumeist handelte es sich um Klein- und Kleinstunternehmer. 1906 hatte sich das Bild ein wenig gewandelt, die Vergleichszahlen lauten in derselben Reihenfolge: 44%, 30,5% und 25,5%. Die relative Überalterung der Bevölkerung machte sich in der Industrie bemerkbar, da sich die vielen älteren Arbeiter nur unter Schwierigkeiten an die neuen Techniken anpaßten. Hier macht sich ein strukturelles Problem, das sich heute vielleicht noch schärfer stellt, deutlich bemerkbar: Erworbenes Wissen und erlernte Fähigkeiten gelten nicht einmal mehr für die Dauer einer Generation, sondern überleben sich noch während der aktiven Berufszeit.
8.6 Frankreich und der Erste Weltkrieg „Union sacrée“ Die Zeit nach 1870 brachte eine Auffächerung der literarischen und künstlerischen Stile, Stile von großer Gegensätzlichkeit. Während die Politik Staat und Kirche trennte, fanden vor allem Katholizismus und Protestantismus zu neuen Höhepunkten, sie behaupteten sich als
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gesellschaftliche prägende Kräfte. Von einer intellektuellen Einheit bzw. Gleichförmigkeit kann in Frankreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges nicht gesprochen werden. Im Sommer 1914 gab es bei Gewerkschaftern und Sozialisten erhebliche Widerstände gegen eine Beteiligung am Krieg. Der Versuch, auf europäischer Ebene eine pazifistische Gegenbewegung auszulösen, blieb erfolglos. Dieser nicht zuletzt durch Zensur und Verhaftungen repressiv beantwortete Widerstand verlor sich im Lauf des Spätsommers 1914. Die weitgehende Vereinigung der politischen Kräfte firmierte unter dem Schlagwort der Union sacrée.
Eine brüchige politische Architektur und der Kriegsbeginn Hinter der Fassade der Einigkeit verbarg sich dennoch eine brüchige politische Architektur. Obwohl der berüchtigte Schlieffenplan dem französischen Generalstab in Umrissen bekannt gewesen war und niemand daran zweifelte, daß er umgesetzt werden würde, wurden sowohl die Möglichkeiten belgischen Widerstands überschätzt wie die materielle Ausrüstung des deutschen Heeres unterschätzt. Die Folgen zu Beginn des Krieges sind bekannt. Von außen gesehen bot Frankreich im Krieg ein seltsam widersprüchliches Bild: Die Regierungskabinette waren wie vorher kurzlebig, Arbeiter streikten, wichtige schwerindustrielle Regionen waren vom Feind besetzt und fielen für die Produktion von Kriegsmaterial aus. Das Land war materiell, logistisch und strukturell nicht auf einen Krieg vorbereitet. Einerseits folglich ein Bild, das einen baldigen Zusammenbruch befürchten ließ. Andererseits gelang es, die feindlichen Armeen zu stoppen und innerhalb kürzester Zeit die Wirtschaft auf Kriegswirtschaft umzustellen, neue Schwerindustriezentren aufzubauen, neue Kampfgeräte wie Panzer und Flugzeuge zu produzieren, mit alliierter Hilfe das Blatt zu wenden und den Krieg mit der bestausgerüsteten und größten Armee Europas zu beenden.
Veränderungen in Frankreich durch den Krieg Clemenceau, der am 17. November 1917 die Regierung übernahm, brachte es auf den Punkt, wenn er sagte, daß Außen- und Innenpolitik dasselbe seien, nämlich Krieg. Während die Mehrheit der Franzosen den deutsch-französischen Krieg 1870/71 nicht direkt, sondern über die Zeitungen erlebt hatte (was eine mentale und emotionale Betroffenheit selbstverständlich nicht ausschließt), war 1914/18 die Gesamtbevölkerung, auch in den nicht-besetzten Ge-
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bieten, existentiell betroffen. Es gab keine Friedenswirtschaft mehr, sondern nur noch Kriegswirtschaft, ein bisher nicht erlebtes Phänomen. Wer nicht kämpfte, leistete Sonderschichten in den Fabriken, die Mobilisierung von Millionen Männern zwang viele Frauen in Arbeitsverhältnisse und Tätigkeiten, die als frauenuntypisch galten. Inflation, Kaufkraftschwund, Kriegsanleihen und anderes griffen tief in das tägliche Leben ein. Die sozialen und geistigen Gegensätze wurden zeitweise überdeckt, z. T. nachhaltig abgebaut. So virulent die Frage von Religiosität, Staat und Kirche vor dem Krieg gewesen war, so gering war ihr Konfliktpotential nach dem Krieg. Von 25.000 Priestern und Ordensleuten, die zum Kriegsdienst eingezogen worden waren, waren 4.600 gefallen. Die Kameradschaft in den Schützengräben verfehlte ihre Wirkung nicht. Daß der Waffenstillstand am 11. November (1918), dem Namenstag des hl. Martin, „Apostel Galliens“, unterzeichnet wurde, hatte für viele die Bedeutung eines göttlichen Zeichens. Die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan wurden bald wieder aufgenommen. Die nachhaltigste Veränderung war sicherlich im Bereich der Geschlechterverhältnisse zu verzeichnen. Der Krieg hatte den Frauen neue Rollen zugewiesen, die im Absolutismus einsetzende Vermännlichung der politisch-öffentlichen Sphäre war aufgehalten und faktisch infrage gestellt worden. 370.000 Kriegswitwen, die die Funktion des Haushaltsvorstands übernommen hatten, stellten ein erhebliches gesellschaftliches Gewicht dar; Frauenarbeit wurde auch in bürgerlichen Kreisen wieder denkbar. Immer mehr junge Frauen ergriffen ein Studium: 1914 waren es 10% der Studierenden gewesen, 1920 waren es 15%. Die Zahl der Gymnasiastinnen verfünffachte sich von 23.000 vor dem Krieg auf 125.000 bald nach dem Krieg. Die politische Konsequenz aus diesen Veränderungen, das Frauenwahlrecht, schien kurz nach dem Krieg zum Greifen nahe, doch zweimal scheiterten entsprechende Gesetzesvorlagen am Senat. Die VolksfrontRegierung vom Juni 1936 unter Léon Blum war die erste, die drei Frauen in hohe politische Ämter (Unterstaatssekretärinnen) berief.
Die Siegermacht Frankreich beendete den Krieg als die stärkste Macht auf dem europäischen Kontinent. Elsaß-Lothringen war durch die Versailler Verträge an das Land zurückgefallen, das Rheinland war von deutschen Truppen geräumt und einer alliierten Rheinlandkommission unterstellt, Frankreich besaß zumindest vorläufig uneingeschränkten Zu-
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gang zum Rhein und alle Rechte an der Nutzung des Flusses, die Kohlegruben des Saarlandes wurden Frankreich unterstellt vorbehaltlich eines erst später realisierbaren deutschen Rückkaufsrechts; der Status des Saarlands wurde bis zu einem 15 Jahre später durchzuführenden Volksentscheid offen gehalten. Durch die Völkerbundmandate über Teile des deutschen Kolonialreiches, über den Libanon und über Syrien erreichte das Land auch als Kolonialmacht seinen Höhepunkt. Frankreich konnte schließlich in den neu gebildeten Nationalstaaten Ost- und Südosteuropas politisch und wirtschaftlich Fuß fassen, eine Vereinigung des neu formierten Staates Österreich mit dem Deutschen Reich hatten die Friedensverträge untersagt.
Teil II Der schwierige Weg zu einer neuen politischen Zivilisation (1918 – 1944)
Abschnitt A: Von Krieg zu Krieg
Vorbemerkung Mit dem Ersten Weltkrieg gingen die Voraussetzungen der nationalstaatlichen Epoche des 19. Jh. unter. Die mittelalterlichen französischen Könige hatten den Sanktions- und den Legitimationsbereich zur Deckung gebracht, in der Frühen Neuzeit und im 19. Jh. waren Staat, Nation und kulturelle Identität kongruent geworden. Das kulturelle Gedächtnis war schließlich nach Innen ,nationalisiert’ und nach Außen in ein koloniales und universelles Sendungsbewußtsein hineingelenkt worden. Der Erste Weltkrieg hat dieser Konstruktion zwar die Basis entzogen, sie wurde aber – nicht nur in Frankreich – als Fiktion aufrecht erhalten. Die politische Autarkie, die die imperialistischen Nationalstaaten charakterisiert hatte, war mehr denn je eine Fiktion, die jedoch nicht aufgegeben wurde. Die Rolle der USA und Großbritanniens im Krieg hatte die weltpolitischen und -ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse nicht nur offen gelegt, sondern auch verändert, die „Zeit der Ideologien“, wie Karl-Dietrich Bracher es nannte, respektierte die nationalen politisch-kulturellen Grenzen kaum. Der Völkerbund und die europapolitischen Bewegungen und Initiativen der Zwischenkriegszeit sind sichtbare Zeichen der neuen Netzstruktur, in der die Nationalkörper des 19. Jh. (bis 1918) beginnen, von ihrer überdimensionierten Größe zu Kernen reduziert zu werden. Dieser Prozeß ist heute noch nicht abgeschlossen, aber er setzte mit Vehemenz nach dem Ersten Weltkrieg ein. Das ist aus der Rückschau gesagt. Den Zeitgenossen der Zwischenkriegszeit war manches sehr wohl klar, die Krise des Nationalstaats wurde erkannt, und in den 1920ern konnte einiges in die Wege geleitet werden, was einer Vermittlung von internationaler Verflechtung und Modifizierung des Nationalstaats, d. h. Abbau einer unmöglich gewordenen nationalen Autarkie, dienlich war. Die Ansätze waren aber zu schwach ausgebildet, um dem sich ausbreitenden politischen Messianismus und dem Extremismus der weltanschaulichen Differenzen in den 1930ern widerstehen zu können. Der in den
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1920ern begonnene Prozeß wurde erst in den 1950ern mit den Vereinten Nationen und dem Aufbau europäischer Institutionen fortgesetzt. Den Widerstandsbewegungen des Zweiten Weltkriegs kommt das Verdienst zu, die politische Vernetzung Europas und der sog. Völkergemeinschaft sowie die Überwindung des Nationalstaats fortgedacht und die intellektuellen Grundlagen für die Arbeit der Vereinten Nationen und der europäischen Institutionen bis zur EU von heute gelegt zu haben. Die Tatsache, daß die französische Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jh. frontal betrachtet ein Bild größter Zerrissenheit lieferte, muß als Reflex auf die angedeuteten fundamentalen Veränderungen der globalen Rahmenbedingungen von Staat und Nation interpretiert werden. Der schwierige Weg zu einer neuen politischen Zivilisation war der Weg von Imperialismus, Nationalismus und politischem Messianismus zu einer Identität, die sich zwar auf eine bestimmte Vorstellung von der französischen Nation stützt, die aber Europäismus und politischem Rationalismus verpflichtet ist. In diesem zweiten Teil wird zunächst die allgemeine Geschichte Frankreichs vom Ende des Ersten zum Ende des Zweiten Weltkriegs untersucht (Kapitel 9). Es handelt sich um eine Übergangsepoche, in der der Weg zu einer neuen politischen Zivilisation der Nachkriegszeit beschritten wurde. Zu den Voraussetzungen letzterer zählen Veränderungen in den Grundbedingungen des französischen Kolonialismus (Kapitel 10), die Geschichte einiger wesentlicher kultureller Referenzen wie Europa (Kapitel 11) und bedeutender nationaler europäischer Referenzen (England, Amerika, Deutschland; Kapitel 12). In diesen Kapiteln wird zeitlich noch einmal bis ins späte Mittelalter zurückgeblendet.
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Politische und nationale Krise (1918 – 1944)
9.1 Vom „Bloc national“ zur „Union nationale“ Zwischen Macht und Ohnmacht Frankreich profitierte nur eingeschränkt von der 1918 erlangten Machtposition. Es war zwar die stärkste kontinentaleuropäische Macht geworden, aber angesichts der beiden Weltmächte Großbritannien und USA zählte dies nicht mehr allzuviel. Es sollte sich in den anschließenden zwei Jahrzehnten zur Genüge zeigen, daß alle auf
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den europäischen Raum zielenden politischen Unternehmungen Frankreichs davon abhingen, ob Großbritannien am selben Strang ziehen wollte oder nicht. Die Amerikaner hatten die Versailler Verträge gar nicht ratifiziert, Großbritannien wollte mit Blick auf den Sieg der Bolschewiken in Rußland von Anfang an das Deutsche Reich als mitteleuropäischen Machtfaktor erhalten. Frankreich hatte bei Großbritannien und den USA hohe Kriegsschulden angehäuft und war dabei, anders als die beiden Alliierten, wegen der hohen Kriegsschäden im eigenen Land auf Reparationen aus Deutschland angewiesen. Der äußere und innere Druck auf das Land war enorm. Faktisch gingen die französischen Regierungen mit Rücksicht auf Großbritannien und die USA schon bei den Friedensverhandlungen zahlreiche Kompromisse ein. Die politische Klasse Frankreichs unter Führung von Clemenceau (der bald nach Kriegsende von der Bühne verschwand) und Poincaré war sich einig, daß der Wiederaufbau des Landes letztlich durch die deutschen Zahlungen gedeckt werden würde. Die Regierung entschloß sich deshalb gewissermaßen zur „Vorfinanzierung“ des Wiederaufbaus über Kredite und zu einer doppelten Haushaltsführung. Gleichzeitig wurde ein Rentenprogramm für Kriegsinvaliden und Kriegerwitwen und -waisen aufgelegt. In dieser Politik war die gestiegene Abhängigkeit der europäischen Wirtschaft von der Weltwirtschaft kaum berücksichtigt. Die Abhängigkeit der französischen Wirtschaft von den weltwirtschaftlichen Krisenzyklen war – wie auch schon früher – in der Tat geringer als die der deutschen Wirtschaft, die Konstruktion der Finanz- und Budgetpolitik auf dem unsicheren Boden erwarteter Reparationszahlungen brachte Frankreich jedoch in die direkte Abhängigkeit makrowirtschaftlicher Zusammenhänge. Der Verlauf der Reparationsfrage über den Dawesund Young-Plan bis zur völligen Einstellung ist bekannt. Die Ruhrbesetzung 1923 konnte das Blatt nicht wenden, sie erbrachte außerdem nur 900 Millionen Francs – ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu den nach Kriegsende für Frankreich angestellten Berechnungen: 134 Milliarden Francs (Gold-Francs) für den reinen Wiederaufbau, 75 Mrd. für Renten, 145 Mrd. für militärische Aufwendungen. Letztere wurden allerdings ohnehin von den Reparationsverhandlungen ausgeschlossen. Insgesamt konnte Frankreich nur wenige Milliarden an Reparationen verbuchen.
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Grundprobleme der Wirtschaftspolitik Schon zeitgenössische französische Wirtschaftsfachleute kritisierten, daß keine solide Finanzpolitik entworfen wurde. Wie diese hätte aussehen können, zeigte sich 1926, als Poincaré auf dem Höhepunkt der Wirtschafts- und Finanzkrise die Regierung übernahm: rigorose Sparpolitik aller öffentlichen Haushalte, Erhöhung der Steuern und der Zölle, Erhöhung der Leitzinsen. Das mit diesen Maßnahmen eingekehrte Vertrauen auf den tatsächlichen Willen der Regierung, die Finanzkrise zu lösen, ließ ins Ausland abgewandertes Kapital in Milliardenhöhe zurückfließen, der Franc gewann an Wert und Stabilität, nachdem er gegenüber englischem Pfund und Dollar bis zu 90% seines Vorkriegswertes eingebüßt hatte, der Staatshaushalt konnte noch 1926 ausgeglichen werden, 1927 wurde ein Überschuß erwirtschaftet. Natürlich hätte dieses Maßnahmenbündel in dieser Form 1919 ff. nicht eingesetzt werden können, aber eine mittelfristig angelegte Steuer- und Zollpolitik hätte den tatsächlichen finanzpolitischen Schlingerkurs der schnell wechselnden Regierungen glätten helfen.
Politik: „Bloc national“ – „Cartel de gauche“ Schaut man hinter die Fassaden des finanzpolitischen Aufundab und Hinundher und die raschen Regierungswechsel, die den Eindruck von Instabilität entstehen lassen, wurde Frankreich letztlich durch weniger Brüche gekennzeichnet, als es scheinen mochte. Manches ähnelte den Entwicklungen in der Weimarer Republik, ohne die dortigen extremen Ausschläge. Es war ein Kennzeichen der Dritten Republik nach dem Krieg, daß die Regierungen häufig wechselten, aber die z. T. schon bei den Parlamentswahlen eingegangenen Koalitionen stabil blieben. Bis Ende der 20er Jahre waren es immer wieder dieselben Persönlichkeiten, die in wechselnden Funktionen die Politik bestimmten. Die personelle Kontinuität war ausschlaggebend. Ähnliches wiederholte sich in den 30er Jahren mit einer Reihe neuer Köpfe. Die Wahlen vom November 1919 gewann ein Bündnis von Parteien, die ein Spektrum von gemäßigt rechts, konservativ, Mitte und gemäßigt links umfaßten. Diese Konstellation ist als „Bloc national“ in die Geschichte eingegangen, er hielt bis zu den nächsten Wahlen 1924. Was ihn zusammenhielt, war die Gemeinsamkeit außenpolitischer Ziele (Mißtrauen gegenüber dem Völkerbund, gegenüber Großbritannien und den USA, Härte gegenüber Deutschland, Be-
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hauptung der französischen Überlegenheit), der eine koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik wegen der enormen innenpolitischen Gegensätze geopfert wurde. Zunächst führte Clemenceau die erste Nachkriegsregierung. Im Januar 1920 löste ihn Alexandre Millerand (1859 bis 1943) nach Clemenceaus gescheiterter Präsidentschaftskandidatur ab. Die Ruhrbesetzung, aber auch die Akzeptanz des DawesPlanes fiel in die Regierungszeit Poincarés (Januar 1922 bis Juni 1924). Die Wahlen von 1924 erbrachten eine Mehrheit für die Linksparteien. Die wichtigste Partei war wie schon zuvor der Parti radical, der diesmal mit den linken und nicht mehr mit den rechten Parteien zusammenarbeitete. Édouard Herriot (1872 bis 1957; Parti radical; fast sein ganzes Politikerleben lang Bürgermeister von Lyon) bildete die Regierung, die von den Sozialisten toleriert wurde. Die neue politische Konstellation wurde als Linkskartell (Cartel de gauche) (1924 bis 1926) bezeichnet. Der Präsident Millerand wurde zum Rücktritt gezwungen, weil er sich (als erster Amtsinhaber seit Mac-Mahon) aktiv und parteipolitisch festgelegt in die Regierungsgeschäfte eingemischt hatte, sein Nachfolger wurde der im linken Spektrum einzuordnende Gaston Doumergue (1863 bis 1937), Präsident des Senats.
Aristide Briand Der wichtigste Erfolg war die veränderte Deutschlandpolitik, die auf französischer wie deutscher Seite sehr eng – zu eng – mit zwei Namen verbunden war: Aristide Briand und Gustav Stresemann. Briand hatte sich schon vorher für eine Veränderung der Reparationspolitik eingesetzt, weil er die internationalen Mechanismen besser durchschaute und mehr Pragmatismus für angezeigt hielt. Trotz des unzweifelhaften Erfolges der Locarnoverträge vom Oktober 1925, der positiveren Einstellung Frankreichs zum Völkerbund, in dem Briand den Schlüssel zu einer kollektiven Sicherheitsstruktur in Europa sah, der einsetzenden Abrüstungsgespräche, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß Briand und Stresemann (dessen „Versöhnungspolitik“ mit Frankreich in jüngerer Zeit wesentlich kritischer gesehen wird) nicht die Leitfiguren eines die großen Zielsetzungen modifizierenden politischen Establishments waren. Ihre Konzeptionen standen Nichtregierungsorganisationen und diversen Europabewegungen näher als dem Establishment. (Zu Briands Europaplan s. Kapitel 11.)
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„Union nationale“ Die Verschärfung der Finanzkrise 1926 führte Poincaré, wie berichtet, erneut an die Macht; sechs seiner 13 Minister waren selber bereits Regierungschefs gewesen, die Parlamentsmehrheit war links, stützte aber Poincaré. Diese Konstellation erhielt die Bezeichnung „Union nationale“, sie hielt über die Wahlen vom April 1928 bis 1929 und kennzeichnete eine allgemeine Aufschwungphase, Kern der „années folles“ („Goldene Zwanziger“). Briand stand für außenpolitische Kontinuität. Die Annahme des Young-Planes und die Räumung des Rheinlandes (1929 vereinbart) konnten sich diesmal auf die Zustimmung der öffentlichen Meinung und den an Zuspruch gewinnenden Pazifismus stützen. Obwohl der Parti radical mit Rücksicht auf die in der Kartellzeit begonnene Annäherung an die Sozialisten die Regierung im September 1928 verließ, kam es nicht zu politischen Turbulenzen. Neben Briand zeichneten zwei weitere Altgediente der französischen Politik, der konservative und anglophile André Tardieu (1876 bis 1945) sowie Pierre Laval (1883 bis 1945), ursprünglich Sozialist, später (1940; 1942 bis 1944) Regierungschef unter Pétain, für die Regierungsgeschäfte verantwortlich. Während sich die finanzielle Erholung fortsetzte, spürte Frankreich ab 1931 die Folgen der Weltwirtschaftskrise – in den Kolonien stärker als im Mutterland. Die Entwicklungen in Österreich (Aufleben der Anschluß-Diskussion) und in Deutschland (sechs Millionen Stimmen für die Nationalsozialisten bei den Septemberwahlen 1930) deuteten auf ein Ende der Entspannung der 20er Jahre hin.
9.2 Die strukturelle Vorbereitung der Volksfrontregierung und des Vichy-Regimes: die 1930er Jahre Frankreich zwischen Sozialismus und Rechtsextremismus Während Deutschland nach rechts driftete, erhielten die Linksparteien zusammen mit dem Parti radical bei den Wahlen 1932 die Mehrheit. Eine Volksfrontregierung wäre bereits 1932 denkbar gewesen, sie scheiterte an der Verschiedenheit der Zielsetzungen: Die Sozialisten wünschten Abrüstung, Verstaatlichungen und die Vierzigstundenwoche. Die moskauhörigen Kommunisten lehnten ein Zusammengehen mit den Sozialisten noch ab, die Radikalen waren strikt gegen Verstaatlichungen und führten deshalb zunächst eine Minderheitsregierung mit Duldung der Sozialisten. Vier Jahre später kam es zu einer Volksfrontregierung. In diesen vier Jahren drängte
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eine ideologische Zweiteilung Frankreichs an die Oberfläche, die, solange die Bewältigung der Kriegsfolgen zu einer relativen Einheit gezwungen hatte, unterschätzt worden war. Blutige Unruhen am 6. Februar 1934 malten das Gespenst eines rechtsextremen, wenn nicht faschistischen Putsches an die Wand. Manche der Akteure begannen dabei ein Karriere, die sie in ein Amt im État français (1940–44) führte.
Die Linke: Parteien, Gewerkschaften, Vereine Im einzelnen: Nach dem Krieg hatte sich die Linke in Sozialisten und Kommunisten (Anhänger der III. Internationale) gespalten. Von der sozialistischen CGT trennte sich eine kommunistische CGTU ab. Die unbedingte Verpflichtung auf Moskau begrenzte den Erfolg der Kommunisten, hinderte aber nicht, daß sie sich im französischen Parteienund Gewerkschaftswesen etablierten. Die Sozialisten (SFIO) gewannen fast kontinuierlich an Zuspruch, die CGT entwickelte sich zu einer staatstragenden Organisation. Schon bei den Friedensverhandlungen 1918 gehörte ein Mitglied der CGT zur französischen Delegation. Wichtige linke Parteien und Organisationen gliederten sich folglich in das parlamentarische System bzw. in ein System der konstruktiven Kooperation ein. Sie förderten zudem das pazifistische Denken, obwohl Léon Blum (1872 bis 1950), Leitfigur der Sozialisten, schnell die von Hitler ausgehende Gefahr erkannt hatte und schließlich für ein militärisch starkes Frankreich optierte. Bedeutendste, dem linken Spektrum zuzurechnende Nichtregierungsorganisation war die „Ligue des droits de l’homme“.
Die Rechte und der Faschismus Die rechten und rechtsextremen Vereinigungen und Bewegungen inspirierten sich nur zum geringsten Teil am Faschismus, organisierten sich aber militant. Die Organisation „Faisceau“ setzte sich vom als reaktionär beschriebenen italienischen Faschismus und Antisemitismus ab, während die „Francistes“ mit ca. 10.000 Mitgliedern Anhänger Mussolinis waren und durch diesen finanziert wurden. Die „Jeunesses patriotes“ (90.000 Mitglieder) sind dem Faschismus zuzuordnen. Die zahlenmäßig bedeutendste Organisation aus dem faschistischen Spektrum war die „Solidarité française“: sie zählte 180.000 Mitglieder, war mit Blauhemden uniformiert, führte den gallischen Hahn als Emblem, rekrutierte sich aus der Arbeiterschaft und stützte sich publizistisch auf eine sehr preiswerte Tageszeitung, den „Ami du
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peuple“. Zu nennen ist ferner die Splittergruppe „Milice socialiste nationale“. Wirklich bedeutend waren hingegen die „Action française“ und die „Croix de Feu“. Erstere stammte wie dargestellt aus der Vorkriegszeit, war allerdings 1926 vom Papst verurteilt worden. Die gleichnamige, immer noch von Charles Maurras dominierte Zeitschrift hatte daraufhin 45% ihrer Leser und 80% ihrer Ressourcen verloren; unter ihren Anhängern befanden sich aber militante Studenten und eine militante Truppe, genannt „Camelots du roi“. 1939 erfolgte im übrigen die Aussöhnung mit dem Heiligen Stuhl. Die „Croix de Feu“ hatten sich 1927 als Verein ehemaliger Frontkämpfer konstituiert, 1931 übernahm der kriegsgediente Oberstleutnant de la Rocque die Führung. Er war mit André Tardieu verbunden, der zur Finanzierung beitrug. 1933 wurden als Jugendorganisation des Vereins die „Volontaires nationaux“ ins Leben gerufen, die paramilitärisch organisiert wurden. La Rocque übernahm die Rolle eines „Führers“ (chef). Die „Volontaires“ stammten aus dem kleinen und mittleren Bürgertum. La Rocque denunzierte das Parteienwesen scharf: Von 1932 bis 1934 folgten innerhalb von 20 Monaten sechs Regierungen aufeinander (Herriot; Paul-Boncour; Daladier; Sarraut; Chautemps und wieder Daladier), die über finanz- und steuerpolitische Fragen zum Sturz gebracht wurden und die sich wachsenden Widerständen und Unruhen in der Bevölkerung gegenüber sahen.
Aufruhr In dieser Lage konnten einzelne Ereignisse starke psychologische Auswirkungen zeitigen. Ein fürchterliches Eisenbahnunglück am 23. Dezember 1933 heizte die Stimmung weiter auf. Staatspräsident Lebrun hoffte, mit der neuerlichen Berufung des „starken Mannes“ Daladier am 30. Januar 1934 die Lage beruhigen zu können. Der Zusammenbruch der Bank Crédit Municipal in Bayonne (sog. Stavisky-Affäre) führte auf kompromittierende Verwicklungen von Abgeordneten. Action française rief zu Demonstrationen in Paris auf, die von den rechtsextremen Ligen willig aufgegriffen wurden. Am 27. Januar versammelte sich eine bedrohliche Menge vor dem Parlament, dem Palais-Bourbon. Chautemps trat als Regierungspräsident zurück, Daladier übernahm seinen Posten. Die Entlassung des Polizeipräfekten am 3. Februar löste eine Reihe solidarischer Rücktritte in Regierung und Verwaltung aus, außerdem rief nun auch die Linke zu Demonstrationen auf. La Rocque setzte sich mit seinen „Volontai-
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res“ an die Spitze des Aufruhrs, der weite Teile des Zentrums von Paris und Menschen höchst unterschiedlicher Anschauungen erfaßte. 16 Todesopfer und mehrere Hundert Verletzte veranlaßten Daladier am 7. Februar 1934 zurückzutreten. Manche erwarteten, daß La Rocque die Macht an sich reißen würden; er tat es nicht. Die Kommunisten riefen zu weiteren Demonstrationen auf, es gab noch mehr Tote und Verletzte.
Annäherung von Sozialisten und Kommunisten Lebrun erschien nur Gaston Doumergue als geeigneter Kompromißkandidat, der am 9. Februar eine Regierung der „Union nationale“ bildete. Unter anderem berief er den Marschall Pétain zum Kriegsminister. Die Unruhen und Demonstrationen auf der Straße setzten sich vorerst fort. Sozialisten und Kommunisten riefen – getrennt – zu Demonstrationen gegen die faschistische Gefahr auf, doch die spontane Verbrüderung der Demonstranten legte den Grund für ein Umdenken in der kommunistischen Partei, das 1936 die Koalition mit den Sozialisten ermöglichte. Auf der Parteiversammlung vom Juni 1934 äußerte Maurice Thorez die Überzeugung, daß zur Verhinderung des Faschismus ein Zusammengehen mit den Sozialisten unvermeidlich sei. Ihm stand die untergegangene Weimarer Republik vor Augen, aus Moskau wurde ebenfalls grünes Licht für ein taktisches Zusammengehen mit den Sozialisten gegeben. Bei den Kantonalwahlen 1934 zeichnete sich erstmals ein Zusammengehen der Kommunisten, Sozialisten und Radikalen ab.
Die Regierung Laval 1935/36 Ein mysteriöser Todesfall im Zusammenhang mit der Stavisky-Affäre und die Ermordung des Außenministers Barthou sowie des jugoslawischen Königs in Marseille überschatteten die Regierungsarbeit. Doumergue entschied sich derweil für eine Deflationspolitik und bereitete außerdem eine Verfassungsreform vor, die endlich die Exekutive auf Kosten des Parlaments stärken sollte. Die Minister des Parti radical verließen daraufhin im November 1934 die Regierung. Während Barthou eine Verständigung mit der Sowjetunion und engere Bande mit Polen und den Mitgliedern der Kleinen Entente gesucht hatte, verfolgte sein Amtsnachfolger Laval eine Annäherung an Deutschland (Saarabkommen) und an Italien (Zugeständnisse an Italien bezüglich der Libyschen Wüste, Eritreas und Djiboutis). Gegen die Stimmen der Sozialisten votierte das Parlament 1935 für eine
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Verlängerung des Wehrdienstes auf zwei Jahre, um das Tief der geburtenschwachen Jahrgänge auszugleichen. Hitler nahm u. a. dies zum Vorwand, um den Wehrdienst in Deutschland wieder einzuführen. Die Verständigung mit der UdSSR betrieb Laval nur halbherzig. Auf die vertragswidrige Remilitarisierung des Rheinlandes durch Hitler Anfang März 1936 reagierte Frankreich letztlich nur mit der Anrufung des Völkerbundes. Militärische Schritte wurden erwogen, aber allesamt verworfen. Eine Überschätzung der Wehrmacht war nur ein Faktor von vielen, vor allem innenpolitischen, die ein entschlossenes Vorgehen gegen Nazi-Deutschland verhinderten. Laval, neuer Regierungschef, setzte die Deflationspolitik fort, obwohl sich die Konjunktur wieder belebte. Das Vertrauen in die Regierung verringerte sich dadurch noch mehr.
Volksfrontbündnis und -regierung (1935/36 bis 1938) Unterdessen schritt die strukturelle Ausbildung der Volksfront im politischen Leben fort. Das Verhalten der Linksparteien bei den Munizipalwahlen im Mai 1935 bestätigte dies. Im Sommer desselben Jahres bildeten sie den Rassemblement populaire unter Vorsitz von Victor Basch (1863 bis 1944; 1944 zusammen mit seiner Frau von französischen Milizen erschossen), Präsident der Ligue des droits de l’homme. Die CGT beteiligte sich daran. Für den 14. Juli wurde eine große Demonstration vorbereitet, die vom Parti radical mitgetragen wurde. Mindestens 100.000 Menschen nahmen an der Demonstration in Paris teil. Schließlich vereinigten sich die CGT und die kommunistische CGTU. Damit stand das Bündnis der Volksfront. Bei einer Demonstration am 13. Februar wurde Léon Blum von Royalisten verletzt; am Tag darauf zogen 200.000 Demonstranten vom Panthéon zur Bastille und stellten ihre Solidarität mit der Volksfront unter Beweis. Für die Parlamentswahlen im April/Mai 1936 wurde ein gemäßigtes gemeinsames Programm verabschiedet. Mit 381 Sitzen gegenüber 222 für die anderen Parteien ging die Volksfront deutlich als Siegerin hervor. Während Léon Blum sich anschickte, die Regierung zu bilden (die Kommunisten nahmen nicht direkt daran teil, sondern sicherten nur ihre Loyalität zu ebenso wie die CGT), kam es überall im Land zu Streiks mit volksfestähnlichem Charakter, die dennoch den sozialen Forderungen Nachdruck verleihen sollten. In der Nacht vom 7. auf den 8. Juni erzielten Gewerkschaften, Arbeitgeber und Regierung weitreichende sozialpolitische Vereinbarungen („Accords Mati-
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gnon“): Die Arbeitgeber erkannten die Gewerkschaftsfreiheit an und stimmten der Einführung von Betriebsräten in Unternehmen ab zehn Beschäftigten zu. Die niedrigsten Löhne wurden um bis zu 15%, die höheren um bis zu 7% angehoben. Die Regierung brachte am 20. Juni ein Gesetz zum bezahlten Urlaub, am 21. Juni zur 40-Stundenwoche und am 24. Juni zur Zulässigkeit von branchenbezogenen Flächentarifverträgen durchs Parlament. Mit den ersten Sommerurlaubern aus der Arbeiterschaft nahmen Camping und Jugendherbergen in Frankreich ihren Aufschwung. Die CGT-CGTU verzeichnete einen Mitgliederzuwachs von 760.000 im Jahr 1934 auf 4 Millionen 1936! Auf der anderen Seite führte die Verkürzung der Arbeitszeit nicht zu einer Verringerung der 300.000 Arbeitslosen, die Produktion sank, während die sozialen Leistungen der Unternehmen auf 28% des Lohns kletterten. Die kleinen Unternehmer fühlten sich von den großen verraten und verkauft. Die wieder aufflammende Inflation fraß die Lohnerhöhungen auf. Streiks dauerten das ganze Jahr 1936 an. Das steigende Außenhandelsdefizit und anderes mehr veranlaßten den Finanzminister Vincent Auriol zur Abwertung des Franc um 25 bis 34%. Innenpolitisch verbot Blum die paramilitärischen Organisationen mittels eines schon im Januar vom vorigen Parlament gebilligten Gesetzes, diese erstanden jedoch sofort als politische Parteien wieder. La Rocque beispielsweise ließ seine Bewegung als Parti social français wiedererstehen und konnte sich auf 600.000 Mitglieder stützen. Das waren ebensoviele wie Sozialisten und Kommunisten gemeinsam hatten. Als Abspaltung der Camelots du roi entstand der CSAR (Comité secret d’action révolutionnaire; sog. Cagoule), der u. a. für die Ermordung der italienischen Widerstandskämpfer Roselli (zwei Brüder) verantwortlich zeichnete. Das Klima der rechtsextremen und faschistischen Gewalt verschärfte sich in Frankreich begleitet von wachsendem Antisemitismus, der sich gerade auch gegen jene 50.000 Juden richtete, die zwischen 1933 und 1939 von Deutschland nach Frankreich flohen.
Der Sturz León Blums und das Ende der sozialen Revolution Außenpolitisch wuchs die Last. In den Kolonien mehrten sich die Unabhängigkeitsbewegungen. Die Entscheidung Blums, in den spanischen Bürgerkrieg nicht gegen Franco einzugreifen, führte zum Zerwürfnis mit den Kommunisten. Die im Oktober 1936 gebildete „Achse Rom-Berlin“, die Annäherung Jugoslawiens an Deutschland
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usf. stellte die gesamte bisherige französische Außenpolitik in Frage. Der Sturz Blums im Juni 1937 erfolgte über finanzpolitische Streitfragen, bei denen sich der Senat gegen das Parlament stellte, aber die Regierung sah sich auch nicht in der Lage, die begonnene soziale Revolution zu Ende zu führen. Das Verdienst der Volksfront war zweifellos, eine Übernahme der Macht durch Rechtsextreme und Faschisten verhindert zu haben. Drei weitere Kabinette (das letzte von weniger als vier Wochen Dauer nochmals unter Blum) retteten die Volksfrontregierung bis in den April 1938, ohne daß nennenswerte Erfolge zu erreichen gewesen wären. Es war der Senat, der Blum letztendlich zu Fall brachte. In einer Periode, als Hitler den Anschluß Österreichs besiegelte, befanden sich die politischen Institutionen Frankreichs in einer verhängnisvollen inneren Krise.
9.3 Kriegserklärung und Ende der Dritten Republik (1939/40) Kriegserklärung Der neuen Regierung Daladier gelang es, eine wirtschaftliche Erholung einzuleiten und über eine weitere Abwertung des Franc die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Außenpolitisch bahnte sich jedoch die kritischste Phase der Nachkriegszeit an. Das Münchener Abkommen vom September 1938 wurde vom Parlament mit 535 zu 75 Stimmen gebilligt, obwohl Frankreich durch 1937 erneuerte Verträge der Tschechoslowakei gegenüber verpflichtet war. Das Parlament wußte die öffentliche Meinung hinter sich, die Rechte war gegen eine Intervention. Anders war die Stimmung, als 1939 der Hitler-Stalin-Pakt bekanntgegeben wurde, denn gleichzeitig hatten Briten und Franzosen gemeinsam versucht, zu einem Abkommen mit der UdSSR zu gelangen. Diesmal verurteilte die Rechte Hitler und den Pakt, die Kommunisten hingegen hießen ihn gut und brachten die Linke an den Rand einer Zerreißprobe. Die CGT stellte sich dagegen. Überzeugt, daß es zum Krieg kommen werde, wurde am 26. August mit der Mobilmachung begonnen. Am 2. September nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen wurde die Generalmobilmachung angeordnet, am 3. September der Krieg erklärt, nachdem Ribbentrop das ihm überreichte Ultimatum ignoriert hatte.
„Drôle de guerre“ und Waffenstillstand (1939/40) Es folgte, was als drôle de guerre bezeichnet wurde: Frankreich leitete keine Unterstützungsmaßnahmen für Polen ein, von einer begrenz-
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ten und im Oktober zurückgeschlagenen Offensive an der Saar abgesehen. Im Innern wurde die kommunistische Partei verboten, die 72 Abgeordneten ihres Mandates für verlustig erklärt, einige Abgeordnete wurden verhaftet. Die Kommunisten gingen in den Untergrund. Der Geldverkehr wurde überwacht, Preise und Dividenden eingefroren, der Franc wurde gegenüber dem Gold und Dollar um 17% abgewertet. Der militärische Stillstand brachte das Parlament gegen Daladier auf, der Reynaud als Regierungschef Platz machte. Schließlich wurde mit den Briten die Landung in Norwegen vereinbart, der die Wehrmacht jedoch zuvorkam. Am 10. Mai begann die deutsche Offensive über die Niederlande, Belgien und bei Sedan. Einen Monat später floh die Regierung aus Paris, das am 14. Juni von deutschen Truppen besetzt wurde, zunächst nach Tours und dann weiter nach Bordeaux. Die an den amerikanischen Präsidenten Roosevelt gerichtete Bitte um Intervention verhallte im amerikanischen Wahlkampf. Angesichts der desaströsen Lage entschied sich die Regierung, um einen Waffenstillstand nachzusuchen. Reynaud trat zurück, Pétain übernahm die Regierung und stimmte den Waffenstillstandsbedingungen am 22. Juni zu. Der Norden und die gesamte Atlantikküste waren von deutschen Truppen besetzt, die französische Regierung amtete dort unter der Kontrolle der Besatzungsbehörden, der Abwehr und der Gestapo sowie später der SS. Die Départements Nord und Pas-de-Calais wurden zur Sperrzone erklärt und von deutschen Militärbehörden in Brüssel aus „verwaltet“. Elsaß-Lothringen wurde von Frankreich abgetrennt, 180.000 Menschen von dort vertrieben, Deutsche wurden angesiedelt. Unbesetzt waren ca. zwei Fünftel, die sogenannte freie Zone, der Personen- und Warenverkehr zwischen den Zonen unterlag deutscher Kontrolle. Die Besatzungskosten mußte Frankreich aufbringen, die französische Armee wurde auf 100.000 Mann reduziert, das Kriegsmaterial ausgeliefert bzw. deutscher Kontrolle unterstellt. Die Marine wurde neutralisiert. Das Kolonialreich blieb erhalten und konnte dem deutschen Zugriff zunächst entzogen werden.
Die Gründung des „État français“ in Vichy Der am 18. Juni von General de Gaulle (de Gaulle war am 6. Juni noch als Unterstaatssekretär in die Regierung berufen worden) von London aus über Radio lancierte Aufruf zum Widerstand wurde von fast niemandem aufgenommen. Mehrere Millionen Flüchtlinge, Bombardements, 1,5 Millionen Kriegsgefangene, chaotisch zurück-
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gelassenes Kriegsmaterial, es war ein Alptraum sondergleichen, der Frankreich erfaßt hatte. Laval betrieb inzwischen die Abschaffung der geltenden Verfassung: Es war ein verhältnismäßig Leichtes, das System der Dritten Republik für die Katastrophe verantwortlich zu machen. Die Regierung zog in die unbesetzte Zone nach Vichy um, wo es die meisten Hotels gab und wo die Ministerien untergebracht wurden. Die nach Vichy einberufene Nationalversammlung (Parlament und Senat vereint) versammelte 670 von 932 Deputierten und Senatoren. Am 9. Juli sprach sie sich prinzipiell für eine Verfassungsrevision aus, am 10.7. votierte sie mit 569 Stimmen für eine Art Ermächtigungsgesetz zugunsten Pétains, dessen Text Laval redigiert hatte: „alle Macht“ wurde an die „Regierung der Republik unter der Autorität und Verantwortlichkeit des Marschalls Pétain“ übergeben, „um eine neue Verfassung des État français zu promulgieren. Diese Verfassung muß die Rechte der Arbeit, der Familie und des Vaterlandes garantieren. Sie bedarf der Ratifizierung durch die Nation und durch die Versammlungen, die sie vorsehen wird.“ Das Verfahren folgte prinzipiell dem Artikel 8 des Verfassungsgesetzes vom 25. Februar 1875, mißachtete aber den Artikel 2 des Gesetzes vom 14. August 1884, der die republikanische Regierungsform jeglicher Verfassungsrevision entzogen hatte. Die Nationalversammlung hatte sich, wie zitiert, für einen État français ausgesprochen, mit dem keine Republik gemeint war. Am 10./11. Juli wurden drei neue Verfassungsprinzipien festgelegt: Das Amt des Republikpräsidenten wurde ebenso abgeschafft wie das parlamentarische Prinzip; Pétain erhielt zusätzlich zur exekutiven die legislative Gewalt. Die beiden Kammern blieben theoretisch erhalten, ohne ihre Zustimmung konnte der Marschall keine Kriegserklärung abgeben. Am 30. Juli wurde ein Gerichtshof zur Aburteilung der für die Niederlage verantwortlich gemachten Persönlichkeiten errichtet.
9.4 Gab es 1940 Alternativen? Unkenntnis über Hitler Pétain, Laval und viele andere Politiker hatten sich für einen Waffenstillstand mit Deutschland entschieden. Die diskutierte und von den meisten verworfene Alternative wäre gewesen, die Regierung nach Französisch-Nordafrika, vorzugsweise Algerien zu verlagern, und das Land selbst zunächst dem Gegner zu überlassen, in der Hoffnung, daß Hitler und die Wehrmacht nicht auf Dauer in der Lage sein würden,
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in einem großen Land wie Frankreich die Verwaltung, und sei es die einer Besatzungsmacht aufrecht zu erhalten. Für eine solche Überlegung sprach außerdem, daß 1940 das französische Kolonialreich intakt war und sich eine Exilregierung militärisch, politisch und wirtschaftlich darauf hätte stützen können. Die Entscheidung gegen diese Option wurde 1940 dennoch von einer überwältigenden Mehrheit der Franzosen getragen. Die wenigsten Franzosen wußten, was in Deutschland nach der Machtübernahme durch Hitler wirklich geschehen war, sie hatten sich mit der Ideologie des Nationalsozialismus nicht auseinandergesetzt. Das hatten sie mit vielen ihrer Politiker gemein. Léon Blum, der, wie erwähnt, rechtzeitig für eine Aufrüstung Frankreichs plädiert hatte, weil er Deutschland besser kannte, hatte für diese Position keine stabile und überzeugte Mehrheit finden können. Die Rechte in Frankreich teilte, ohne ausgesprochen faschistisch und noch weniger nationalsozialistisch zu sein, eine Reihe der politischen Ziele Hitlers, so wie sie sie wahrnahm. Ausgehend von einer eigenen autoritären traditionalistischen, antiparlamentarischen Staatsauffassung glaubte sie an viele Gemeinsamkeiten mit Deutschland und Italien sowie Francos Spanien. Die Idee eines „latinischen Blocks“ dieser Mittelmeerländer zusammen mit Deutschland gegen den Bolschewismus wurde vom Vichy-Regime immer wieder geäußert. Stärkung „des Bauerntums“, der Stellung des kinderreichen Familienvaters, ständisches Gesellschaftsdenken, Antisemitismus usw. waren vergleichbare programmatische Aussagen.
Franzosen und Deutsche: Die „Seele der Nation“ retten Trotz der verheerenden Niederlage war die Mehrheit der Franzosen nicht antideutsch. Schon Robert O. Paxton verwies in seiner epochemachenden Studie über Vichy darauf, daß die deutschen Besatzungstruppen im ersten Jahr (Sommer 1940 bis Spätsommer 1941) nicht auf eine einheitliche Front feindseliger Ablehnung stießen. Zunächst flüchteten Millionen von Menschen vor den deutschen Truppen, weil die Erinnerung an die Grausamkeiten der deutschen (preußischen) Besatzungen im Krieg 1870/71 ff. und im Ersten Weltkrieg sehr lebendig war. In den ersten Tagen schienen Plünderungen und Vergewaltigungen die Berechtigung der Angst zu bestätigen, doch dann zeigte sich eine um Disziplin, Sauberkeit und Ordnung bemühte Wehrmacht, was bei vielen zu dem Entschluß führte, wieder in die Heimat zurückzukehren. Die ,neutrale’ oder auch freundliche Stimmung änderte sich, als auf die ersten Attentate im August 1941
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Geiselerschießungen durch die Besatzer folgten. Philippe Burrin hat das Verhältnis von Franzosen und Deutschen in dieser Zeit inzwischen eingehend untersucht und diese Befunde für das Jahr 1940/41 bestätigt. (Burrin, 1995) Die neue französische Regierung in Vichy wußte, als sie ihre ersten Entscheidungen traf, eine breite Zustimmung hinter sich. Sie erhielt nicht nur aus dem rechten Lager Unterstützung. Auch Linkskräfte, teilweise die Gewerkschaften und nicht zuletzt die katholische Kirche reagierten wohlwollend oder machten aktiv mit. Viele sahen die Chance für eine Erneuerung Frankreichs im Sinne traditionalistischer Werte, andere erwarteten, daß die Aufrechterhaltung der französischen Souveränität, die im Waffenstillstandsabkommen vorgesehen war, die Bevölkerung vor Übergriffen und tiefen Eingriffen der Besatzer schützen sowie die Würde oder, wie es zum Teil hieß, die Seele der Nation bewahren könne. Auch in Frankreich spielte ein gewisses Maß politischen Messianismus’ eine Rolle, wenn Pétain bei Gelegenheit als Werkzeug Gottes zur Rettung Frankreichs bezeichnet wurde. Seinem Selbstverständnis nach brachte Pétain den Franzosen seine Person zum Opfer (Radioansprache vom 17. Juni 1940), manch einer war der Überzeugung, daß Frankreich für die Fehler der Vorkriegsjahre und/oder der Dritten Republik nun Sühne leistete. In den Augen vieler Franzosen war Pétain vor allem jener Soldat und General, der im ersten Weltkrieg vor Verdun einen noch größeren Aderlaß unter den jungen Männern verhindert hatte. Die bekanntesten seiner damaligen militärischen und politischen Weggefährten (Foch und Clemenceau) waren tot, Pétain war die im eigenen Land berühmteste Persönlichkeit. Im Juni 1940 war, so meinten viele, der Krieg in Frankreich zu Ende, bevor er richtig ausgebrochen war. War nicht Pétain, der bewiesen hatte, daß er sinnlosen Blutopfern widerstand, der richtige Mann, das Richtige für Frankreich zu tun? So fragten sich viele.
Pétain oder de Gaulle? Anders als 1914 bildete sich 1939/40 keine „Union sacrée“. Die Einstellung zum Krieg war nicht dieselbe. Die für Pétain und seine Regierung günstige Stimmung im Sommer 1940 entsprang nicht im geringsten einer solchen „Union“. Die Anfangszustimmung kaschierte lediglich für eine gewisse Zeit die politischen Gegensätze. Es zeigte sich sehr bald, daß die in den État français gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt wurden und nicht erfüllt werden konnten. Einen massiven Stimmungsumschwung bewirkte die Besetzung der
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sog. Freien Zone im November 1942 durch die Wehrmacht, aber schon vorher waren die Gräben in der Gesellschaft wieder deutlich geworden. Ein Beispiel: Einer der wichtigsten kommenden Widerstandskämpfer, der Katholik Henri Frenay, hatte dem Generalstab von Vichy angehört, bis er im Februar 1941 dem Regime den Rücken kehrte und in den Untergrund ging. Frenay hatte Hitlers „Mein Kampf“ gelesen und außerdem in Straßburg am „Centre des Hautes Études Germaniques“ studiert. Für ihn blieb trotz des Dienstes unter Pétain Hitler der Feind, weil er wußte, was der Nationalsozialismus bedeutete, während Pétain, noch mehr Laval und dessen Nachfolger Darlan Hitler und Ribbentrop französische Kollaboration andienten. Wenn sich de Gaulle im August 1944 der Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der Franzosen sicher sein konnte, so war seine Stimme am 18. Juni 1940 beinahe ungehört verhallt. Von den mehreren Tausend Soldaten und Marinesoldaten, die zunächst wie deGaulle nach England geflohen waren, verblieben nur wenige Hundert bei ihm. De Gaulle selber stammte aus einem traditionalistischen Milieu, aufgrund seiner Biographie stellte er 1940 keine weltanschauliche Alternative dar. Allerdings war er im Sommer 1940 zu einer scharf- und weitsichtigen Analyse fähig, die den tatsächlichen Kriegsverlauf der folgenden Jahre sehr genau traf. Während die Engländer de Gaulle ihre, wenn auch nie ungeteilte, Unterstützung gewährten, erkannten die USA sogar die Regierung in Vichy an und arbeiteten mit ihr zusammen. Englische – und später amerikanische – Bombardements auf Frankreich, die nicht die Besatzer, sondern französische Anlagen und Zivilisten trafen, und englische Angriffe auf das Kolonialreich ab dem Sommer 1940 (z. B. Mers el-Kébir) brachten einerseits de Gaulle in eine schwierige Lage, förderten andererseits die Akzeptanz des Waffenstillstands in Frankreich und ließen in Vichy Überlegungen aufkommen, ob eine Kriegserklärung an England opportun sein könnte. Pétain ließ als Ausweis seiner Loyalität zu Hitler Gibraltar bombardieren, außerdem blockierten die Engländer die französische Seehandelsflotte und verschärften dadurch die Versorgungsprobleme im Inland. Als die Alliierten sich im weiteren Kriegsverlauf anschickten, in Nordafrika zu landen, kämpften die Truppen Vichys dort vehement gegen die Alliierten. Es war folglich für viele Franzosen, weder 1940 noch 1942/43, nicht einfach, die Lage zu durchschauen, es gab keine klaren Freund-Feind-Fronten, keine klaren weltanschaulichen Fronten.
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Kollaboration – unausweichlich? Die Regierung von Vichy hat die von ihr behauptete Schutzschildfunktion für die Franzosen nicht ausgefüllt. Sie hat sich immer mehr zum Handlanger der Besatzer gemacht – nicht so sehr infolge unglücklicher Verstrickungen, sondern infolge einer Kollaboration, die auf falschen Annahmen, ideologischer Nähe, gesuchter Zusammenarbeit und einer Vielzahl weiterer Faktoren beruhte. Diese Diagnose wurde nicht erst durch spätere Forschung gestellt, sondern schon in der Untergrundliteratur der Résistance. Die von Laval und anderen in ihren Prozessen nach Kriegsende wiederholte Behauptung, sie hätten Frankreich vor dem Schicksal anderer, durch Hitler besetzter Länder wie Polen bewahren wollen, war zu einem erheblichen Teil unwahr. Ob es den Franzosen objektiv genauso, besser oder noch schlechter ging als anderen, muß seinerzeit nicht für jeden erkennbar gewesen sein, und würde auch an subjektiven Überzeugungen, an subjektivem guten Willen nichts ändern. Aber die Behauptung war auch subjektiv oft nicht wahr aufgrund der aktiven Kollaborationspolitik, die nach Paxton in einer Reihe gravierender Fälle über, auch weit über, das hinausging, was im Waffenstillstandsabkommen festgelegt war oder was Hitler im Zuge der sich ändernden Kriegslage forderte. Vichy war aber nicht einfach „die“ Kollaboration. Es gab durchaus Unterschiede zwischen der Regierung und den Kollaborateuren etwa in Paris, die nicht der Regierung angehörten, sondern noch weiter rechts davon standen und nationalsozialistische Propaganda übernahmen. Fragen nach historischen Alternativen, die nicht stattgefunden haben, sind eine schwierige Problemstellung, aber sie gehören in den Kontext der Klärung von Schuld, wie es sich bei den Prozessen um die Schuld oder Mitschuld hoher französischer Verwaltungsbeamter bei der Judenverfolgung in der Vichy-Zeit immer wieder zeigt. Die Abschaffung der Republik war weder vom Besatzer gefordert, noch waren die Abgeordneten dem Druck faschistischer Todesschwadronen ausgeliefert. Andererseits waren in den 30er Jahren schon mehrfach Regierungschefs auf Zeit vom Parlament ermächtigt worden, per Dekret zu regieren. Das relativiert bis zu einem gewissen Grad die Ermächtigung für Pétain, nicht aber die Formulierung „État français“ anstelle von „Republik“. Noch weniger zwangsläufig war die Kollaboration durch Vichy. Sie war gewollt und entsprach der Haltung jener politischen Kräfte, für die die Volksfrontregierung ein „Trauma“ darstellte und die einen anderen französischen Staat wollten. Der
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Waffenstillstand war für sie ein Mittel zum Zweck, zum Zweck der „Révolution nationale“, aus der die „France nouvelle“ hervorgehen sollte.
9.5 Die „Verfassung“ des État français (1940 – 1944) „Nous, Philippe Pétain, Maréchal de France, chef de l’État, décrétons. . .“ Die (Staats)Verfassung blieb in großen Zügen informell. Gesetze wurden vom Marschall erlassen, sie begannen mit der Formel: „Nous, Philippe Pétain, Maréchal de France, chef de l’État, décrétons. . .“ Kurzfristig wurde an die Schaffung einer Einheitspartei gedacht, es wurde jedoch entschieden, den Weg zum Volk über die ehemaligen Frontkämpfer zu suchen. Neu gebildet wurde hierfür die Legion der Frontkämpfer, die die vielen Frontkämpfervereine zwangsweise aufnahm. Xavier Vallat, Minister für die ehemaligen Frontkämpfer, statuierte: „Die ehemaligen Frontkämpfer müssen bis ins letzte Dorf hinein Gruppen bilden, deren Aufgabe es ist, die weisen Ratschläge des siegreichen Führers von Verdun [d. i. ist Pétain] zur Geltung und Ausführung zu bringen.“ Die Kombattanten nahmen ihre Aufgabe sehr ernst und gerieten schnell in Konflikt mit den Präfekturen. Die Privilegierung der Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, dieser „aristocrates du courage“, verwies auf das neue ständische Denken, das in Vichy herrschte. Im Januar 1941 wurde ein sog. „Conseil national“ ins Leben gerufen, eine Art ständischer Vertretung des Landes anstelle eines gewählten Parlaments. Die Regierung bestimmte die Mitglieder – ehemalige Minister, Senatoren und Abgeordnete, Vertreter der katholischen und protestantischen Kirche, Mitglieder der Académie française, Wissenschaftler, Wirtschaftsvertreter, Führer von landwirtschaftlichen Vereinen und Kooperativen. Die Versammlung arbeitete 1941 eine Verfassung aus, die nie Wirklichkeit wurde. Sie orientierte sich an der Vorstellung intermediärer Gewalten und an einem ständischen Liberalismus, sie knüpfte an ein Amalgam aus Bestrebungen an, das im rechten Spektrum in den Vorjahren diffuse Gestalt gewonnen hatte. Manches inspirierte sich an Napoleon, anderes an Tocqueville, das eine war einer monarchischen Verfassung abgeschaut, anderes sollte Veränderungen, die die Revolution von 1789 gezeitigt hatte, rückgängig machen. In der politischen Praxis wurde der Regionalgedanke gestärkt und ein Teil der Verwaltungskompetenz regionalisiert. Außerdem wurden
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die „Eliten“ der Dritten Republik wie etwa die Volksschullehrer oder führende Verwaltungskräfte aus ihren Einflußfeldern verdrängt, soweit sie sich nicht für einen mentalen Gleichschritt mit dem Regime entschieden.
„Défense paysanne“ Der Bauern nahm sich die Regierung in besonderer Weise an. Während der Dritten Republik hatte sich eine Bauernbewegung herausgebildet, an deren rechtem Rand die „Défense paysanne“ von Henri Dorgères stand. Ihre Aktivisten trugen grüne Hemden, skandierten bestimmte Parolen wie „croire, obéir, servir“ und veranstalteten Demonstrationen. 1939 vereinigte diese „Défense“ 400.000 Mitglieder auf sich. Pétain verkündete am 12. Oktober 1940, daß der bäuerliche Familienbetrieb die entscheidende wirtschaftliche und soziale Basis Frankreichs darstelle. Fördermaßnahmen und Privilegien, die Söhne von Bauern animieren sollten, auf dem Land zu bleiben und Jungbauern auf dem väterlichen oder einem stillgelegten Hof zu werden, schlugen fehl. 1931 war das Jahr gewesen, in dem erstmals mehr Beschäftigte in der Industrie und im Dienstleistungssektor tätig waren als in der Landwirtschaft. Hinter diesem Faktum steckte ein grundlegender Wandel im Verlagerungsprozeß vom Land in die Stadt: Während früher die Jungbauern auf dem Land verblieben waren und vorwiegend diejenigen in die Stadt und in nicht-landwirtschaftliche Berufe abwanderten, die über keinen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb verfügen konnten, waren es nun die Jungbauern selber, die den elterlichen Hof nicht mehr übernahmen. Das Höfesterben war das neue Phänomen. Dieser Prozeß erwies sich als unumkehrbar, eine Änderung des Erbrechts zugunsten des Sohnes, der den Hof übernahm, und zuungunsten der Geschwister, die den Hof verließen, lief am wirklichen Problem vorbei.
„Die französische Seele erheben“: Familie und Jugend Die Bauernpolitik sollte durch eine entsprechende Familienpolitik ergänzt werden. Das Scheidungsrecht wurde verschärft, aber nicht abgeschafft, Abtreibung wurde strafrechtlich verfolgt, Maßnahmen gegen Ehebruch, Alkoholismus und ganz allgemein gegen die der Dritten Republik unterstellte moralische Dekadenz (die Republik habe u. a. die Prostitution gefördert usw.) flankierten eine aktive Bevölkerungspolitik. Kinderreiche Väter waren geborene Mitglieder vieler Einrichtungen, Familienhilfen sollten die Geburtenrate erhö-
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hen, für Frauen wurde die Mutterrolle glorifiziert. Ein Gesetz vom 11. Oktober 1940 drängte berufstätige Frauen aus dem Beruf, um, so das Ziel, arbeitslosen Männern Platz zu machen. Die Gleichheit von Frau und Mann, bei deren Verwirklichung die Dritte Republik immerhin ein Stück vorangekommen war, wurde ebenso wie das Prinzip der Gleichbehandlung der Kinder im Erbfall inkriminiert. Die Wendung der „Révolution nationale“ von 1940 gegen die Révolution française von 1789 ff. wurde an solchen Punkten explizit. Vor allem zu Beginn des Regimes wurde eine Wiedereinsetzung der katholische Kirche in alte Rechte ins Auge gefaßt, aber zu einem neuen Konkordat, von dem die Rede war, kam es nicht. Die Trennung von Staat und Kirche wurde nicht rückgängig gemacht, eine Reihe von Konflikten, die seit der gesetzlichen Trennung von 1905 bestanden, wurde beigelegt. Die Linkskatholiken wandten sich schnell vom Regime in Vichy ab. Ideologisch in den Vordergrund gestellt wurde die Jugend. Eine Einheitsorganisation wie die Hitlerjugend in Deutschland war nicht durchsetzbar, angefangen beim Widerstand der Kirche, sie scheiterte aber auch an der Zweiteilung des Landes. Pétain hatte am 13. August 1940 erklärt, daß alle Vereinigungen weiterbestehen blieben, daß sie sich aber um das gemeinsame Ziel kümmern sollten, eine ,starke Jugend, gesund an Körper und Geist zu schaffen, bereit für solche Aufgaben, die ihre französische Seele erheben würden’. Es gab eine offizielle Organisation, die „Compagnons de France“, für die aber keine Zwangsmitgliedschaft galt. Vermutlich haben weniger als 10.000 Jugendliche dem Verein angehört. Im Sommer 1940 wurden zugleich die „Chantiers de jeunesse“ eingerichtet, ab Januar 1941 mußten junge Männer im wehrpflichtigen Alter dort Dienst tun (Einberufungen in die französische Armee waren aufgrund des Waffenstillstands nicht erlaubt). Es handelte sich überwiegend um Arbeitseinsätze in den Wäldern; beispielsweise mußte Holzkohle hergestellt werden, die an die Stelle des kaum mehr importierbaren Erdöls trat.
Noch ein „homme nouveau“ Pétain und seine Anhänger wollten über die Jugendorganisationen den „homme nouveau“ schaffen. Der „neue Mensch“ sollte in perfekter Harmonie mit Körper und Seele stehen. Der „neue Mensch“ würde einen Beruf ausüben, den er liebte, er würde ein anständiges Gehalt erzielen, das es ihm erlaubte, seiner Familie ein würdiges Auskommen zu bieten. Dies richtete sich vor allem gegen den Fließ-
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bandarbeiter, der nur noch Masse, aber keine Person mehr sei. Es wurden Schulungszentren errichtet, um aus jungen Männern Führungspersönlichkeiten im Sinne der Idee vom „neuen Menschen“ zu machen (Ecole nationale des cadres d’Uriage).
9.6 Die Kollaboration Ein „Neues Frankreich“ in einem „Neuen Europa“ Die Regierung in Vichy ging davon aus, daß der Waffenstillstand nur für eine Übergangszeit bis zu einem Friedensschluß mit Deutschland gelte, und daß Friedensverhandlungen sehr bald aufgenommen würden. Die Meinung, daß Deutschland den Krieg gewinnen werde, war weit verbreitet. In den Europa-„Konzepten“, die die Nationalsozialisten im Krieg entwickelten, spielte Frankreich keine konstruktive, sondern als Rumpf-Frankreich bestenfalls eine nebengeordnete Rolle. Pétain sowie Laval, Flandin, Darlan und wieder Laval als faktische Regierungschefs glaubten an ein „Neues Europa“ unter Führung Hitlers, in dem Frankreich als Kolonialmacht jedoch die Rolle des sich zweckmäßig mit Deutschland ergänzenden Partners übernehmen würde. Besonders nach dem Treffen im Oktober 1940 in Montoire zwischen Hitler und Pétain glaubte die Vichy-Regierung an eine solche Zukunft, der die Kollaboration der beiden Staaten dienen sollte. Dies war weit entfernt von dem, was Hitler oder Ribbentrop Frankreich zuzugestehen bereit waren. Ihre Ablehnung brachten sie immer wieder deutlich zum Ausdruck. Dennoch bot Laval von Anfang an die französische collaboration mit dem Ziel an, das „Neue Frankreich“ der Rolle im „Neuen Europa“ zuzuführen, die man sich in Vichy in sehr groben Umrissen ausmalte. Die Hoffnung war, mit politischen Angeboten der Zusammenarbeit zunächst Zugeständnisse bei der Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens bei der Waffenstillstandskommission in Wiesbaden zu erreichen und dann einen Friedensvertrag auszuhandeln. Die Tatsache, daß die Angebote in Berlin auf taube Ohren stießen, hinderte nicht, daß bis 1944 die Kollaboration Prinzip des Vichy-Regimes blieb. Es konnten zu keinem Zeitpunkt der Besatzungsmacht wirklich substantielle Zugeständnisse abgerungen werden, vielmehr wurde immer mehr von Frankreich – seiner Wirtschaft, seinen Arbeitskräften, seinen Rohstoffen, seinen finanziellen Ressourcen – und des Kolonialreiches Nazideutschland zur Verfügung gestellt. Frankreich wurde in den Kriegsjahren von den Besatzern rücksichtslos ausgebeutet. Lebens-
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mittel und Industriegüter wurden teils zwangsweise aufgekauft oder einfach beschlagnahmt, nicht einmal das für Frankreich ohnehin harte Waffenstillstandsabkommen respektiert. Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen wurden teils mit, teils ohne Hilfe der Regierung in Vichy rekrutiert und nach Deutschland geschickt oder für den Bau des „Atlantikwalls“ eingesetzt.
Kollaboration und Verfolgung von Minderheiten Mit dem Begriff der Kollaboration wird vor allem das innen- und außenpolitische Verhalten der Regierung des „État français“ verbunden. Eine andere Ausprägung von Kollaboration bedeutete die ideologische Kollaboration bestimmter Milieus in Paris. Der Glaubenssatz von Vichy lautete, daß Frankreich von Franzosen verwaltet werden sollte, um das Land und die Menschen nicht den Besatzern auszuliefern. Beides konnte nicht nur nicht verhindert werden, vielmehr machten sich französische Behörden zu Handlangern und zum Teil zu Komplizen der deutschen Militärbehörden bzw. später der SS. Am offensichtlichsten wurde dies bei der Verfolgung bestimmter Minderheiten. Aufgrund von Sicherheitsgesetzen vom Mai 1938 waren in Frankreich erste Konzentrationslager entstanden, in die 1939/40 vor allem deutsche und spanische Flüchtlinge geschickt wurden. Die Vichy-Regierung dehnte diese „Sicherheitsmaßnahmen“ auf alle ausländischen Männer zwischen 18 und 45 aus. Der Zugang zum französischen Staatsbürgerrecht für Ausländer wurde erschwert, rückwirkend bis zum 10. August 1927 wurde über 15.000 Flüchtlingen, darunter mehr als 6.000 nach Frankreich geflohenen Juden, das Staatsbürgerrecht aberkannt. Repressive Maßnahmen richteten sich desweiteren gegen Franzosen, die als „Anti-Franzosen“ betrachtet wurden, insbesondere gegen Mitglieder von Freimaurerlogen. Politiker und Geschäftsleute, Ärzte und Lehrer in der Provinz trafen sich auch noch unter der Dritten Republik in den Logen, Ausdruck einer republikanischen Soziabilität. Die Logen wurden im August 1940 verboten, Mitgliedschaft dort und Bekleidung eines öffentlichen Amtes schlossen sich fortan aus. Eine Ausstellung über die Freimaurerei im Oktober 1940 im Pariser Petit Palais, die Macht und Einfluß der Freimaurer auf die Politik in Frankreich sowie die Verbindungen zu England und Juden denunzierte, erhielt großen Zulauf. Über eine Million Besucher schien es wenig zu stören, daß die Besatzungsmacht hinter dieser Ausstellung und den beiden französischen „Machern“ Jacques de Lesdain und Jean Marquès-Rivière stand.
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Besonders gravierend war die Diskriminierung und Verfolgung von Juden. Seit Oktober 1940 wurden französische Juden aus politischen und öffentlichen Ämtern verbannt, Führungspositionen im kulturellen und Medien-Bereich verschlossen. Ausländische Juden wurden durch zusätzliche Gesetze diskriminiert, das Département Allier (Vichy) wurde für Juden gesperrt. Dies alles entsprang eigenständigen Initiativen der Vichy-Regierung. In der besetzten Zone begannen die deutschen Behörden mit der Enteignung jüdischen Besitzes, „Arisierung“ genannt. Die Regierung drängte auf eine Beteiligung an der Durchführung, um sicher zu gehen, daß der Besitz möglichst in französische Hände überging. Die in der freien Zone begonnene rechtliche Diskriminierung der Juden wurde auf die besetzte Zone ausgedehnt. Xavier Vallat, Vichys Generalkommissar für Judenfragen, hatte ausdrücklich den Auftrag, bezüglich der Judengesetzgebung die französische Souveränität in der besetzten Zone wiederherzustellen. Im Lauf des Jahres 1941 begannen massive Judendeportationen in der besetzten Zone. Die französische Polizei arbeitete mit den deutschen Besatzern zusammen. In Drancy war ein Durchgangslager errichtet worden, von dem aus die Deportationen nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager ihren Ausgang nahmen. Eine der schlimmsten Verfolgungen fand am 16. Juli 1942 statt, als in Paris 13.000 Juden im Vélodrome d’Hiver zusammengetrieben und nach Drancy gebracht wurden. Einer der Überlebenden, der damals 14jährige Maurice Rajsfus, hat seine Erlebnisse 1992 in einem ergreifenden Dokument niedergelegt. Seine Eltern und weitere Familienmitglieder überlebten die Deportation nicht. Rajsfus beschreibt dabei auch die Schwierigkeiten, die ihm einige Behörden 50 Jahre danach bei der historischen Aufarbeitung des 16. Juli 1942 bereiteten. Während die französische Polizei in diesem Fall aktiver Handlanger der Nazis war, versuchte die Regierung in Vichy die ausländischen Juden, die im östlich der Rhône von Italien besetzten Gebiet Zuflucht gefunden hatten, selbständig zu verhaften. Die italienischen Besatzer – Mussolinis Faschisten – verhinderten dies. Als sie sich im Juli 1943 aus dem besetzten Gebiet zurückzogen, begannen auch dort umfangreiche Deportationen. Vichy unterschied im übrigen deutlich zwischen ausländischen und französischen Juden. Einige Maßnahmen des Besatzers wurden abgeblockt: der Judenstern wurde in der freien Zone nicht eingeführt, auch nicht, als diese Ende 1942 gleichfalls besetzt wurde.
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9.7 Die Résistance „Die Grandeur Frankreichs ist eine Grandeur der Menschheit.“ – Charles de Gaulle’s „La France libre“ Der Begriff „Résistance“ bezeichnet eine Vielzahl von Gruppen und Bewegungen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und zunächst unkoordiniert entstanden. Zwischen La France libre von de Gaulle und anderen in Frankreich tätigen Gruppen bestand anfangs kaum eine Verbindung. Die kaum zwei Dutzend Getreuen, die sich im Juni 1940 um de Gaulle in London scharten, gründeten La France libre, der sich über die Welt zerstreut nach und nach Komitees anschlossen. Die Bewegung versuchte, alle politischen und religiösen Divergenzen auszuklammern, Aktionsprinzip war die Befreiung Frankreichs, um dem französischen Volk wieder eine freie Entscheidung über seine politische Zukunft zu ermöglichen. Vorrang hatten Frankreich, das Vaterland, Ehre, die Würde der Franzosen, Menschenwürde, Europapläne spielten im Gegensatz zu anderen Bewegungen eine untergeordnete Rolle. Dem Exilwiderstand blieb die Résistance in Frankreich selbst zunächst verborgen. Erstmals im März 1942 gelang es dem Gründer von Libération-Nord, Christian Pineau, de Gaulle in London zu treffen und über den Widerstand in Frankreich selbst zu berichten. Am 11. November (Fest des hl. Martin) 1942 sagte deGaulle in London über den heimischen Widerstand, dieser habe die vassalitische Unterwerfung Europas unter Hitler verhindert. Frankreich befinde sich politisch und moralisch im Zentrum dieses gigantischen Kampfes. Für de Gaulle, Jacques Maritain und René Cassin – die beiden letzteren waren Vordenker der Résistance – spielte die Leitidee von der Grandeur Frankreichs eine besondere Rolle. Maritain sagte am 14. Juli (Nationalfeiertag) 1943: „Das Volk von Frankreich wurde von Männern verraten, die aus einem egoistischen und isolationistischen Nationalismus heraus auf die Grandeur, auf die Generosität und auf die Ehre ihres Landes verzichtet haben. Das Volk von Frankreich sehnt sich nach Grandeur. Frankreich wurde unter den Nationen eine besondere Rolle zuteil, die nicht ausgewischt werden kann. Die Grandeur Frankreichs ist eine Grandeur der Menschheit.“ Ein Teil des Kolonialreiches, Französisch-Äquatorialafrika, schloß sich frühzeitig La France libre an und schmälerte den Rückhalt von Vichy im Empire. Von Algier aus, wo ab 1943 unter dem Namen „Assemblée Consultative“ ein Exilparlament tagte, nahm die politische Rückeroberung Frankreichs ihren Ausgang.
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„Pantagruel“ Noch im Sommer 1940 gründete im Elsaß der Musikverleger Raymond Deiss das Untergrundjournal „Pantagruel“, das im Oktober des Jahres auch in Paris zu lesen war, gegen Rassismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus. Gestalt nahm „die“ Résistance ab dem Sommer 1941 an, als klar wurde, daß Hitler keinerlei konstruktive Pläne für Europa besaß, mit denen die Krise des Nationalstaats, die allenthalben diagnostiziert wurde, hätte überwunden werden sollen. Das Ansteigen der Gewalt im Land, die zunehmenden Judenverfolgungen, die immer größeren Besatzungslasten, die Besetzung des restlichen Frankreich und die Zwangsarbeit, vor der sich die jungen Männer nur durch Flucht in den Untergrund, d. h. in die Berge und Wälder, retten konnten, führten der Résistance neue Anhänger zu. Den Anfang der Aktivitäten machten Untergrundpublikationen aus, allmählich entstanden weitere Aktionsfelder: Militärspionage (Service des enseignements), Sabotageakte (Action ouvrière), Vorbereitungen für die Ersetzung von Kollaborateuren in der Verwaltung (Noyautage des administrations publiques), schließlich die Schaffung der Armée secrète. Neben vielen lokalen Gruppen und einem in der ersten Zeit eigenständigen kommunistischen Widerstand bildeten sich in der nördlichen und südlichen Zone je drei überlokale Widerstandsgruppen aus. Sie hatten 100 bis 400 Anhänger, später wurden daraus Tausende.
Gruppen und Persönlichkeiten der Résistance Im Süden entwickelte sich Combat ab Dezember 1941, das linkskatholisch geprägt war. Die Führung übernahm der schon erwähnte Henri Frenay. Die gleichnamige Zeitschrift erreichte ab 1942 einige 10.000 Exemplare pro Nummer, einzelne Nummern konnten in einer 300.000er Auflage gedruckt werden. Zu den führenden Redakteuren gehörte ab Frühjahr 1944 Albert Camus. André Hauriou war ab Herbst 1943 Delegierter des Combat in der provisorischen Nationalversammlung in Algier. Libération-Sud war eine überwiegend sozialistische Widerstandsbewegung, Franc-Tireur vereinigte Linkssozialisten und Republikaner, der Historiker Marc Bloch gehörte dazu. In der in Toulouse wirkenden Gruppe Libérer et Fédérer wirkten emigrierte italienische Antifaschisten und spanische Republikaner mit. Léon Blum, Vincent Auriol (späterer Staatspräsident) zählten dazu. Im Januar 1943 schlossen sich die drei Hauptgruppen im Süden zu den Mouvements unis de résistance zusammen. Ende 1943 wurde der kom-
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munistische Front National im Süden aktiv. Im Norden führte der Sozialist Pineau Libération-Nord. Daneben bestand die Organisation civile et militaire (OCM), in der die politische Rechte den Ton angab und die dem Vichy-Regime nahestand. Der kommunistische Front National war hier frühzeitig tätig. In Paris konnte sich eine bedeutende studentische Widerstandsgruppe bilden, deren Zeitschrift Défense de la France zu den weitverbreitesten Untergrundzeitschriften zählte. Einige Publikationen wie die Untergrundzeitschrift Le Populaire der sozialistischen Partei kursierten in beiden Zonen. Die SFIO war am 10. Juli 1940 zerbrochen, als 90 von 125 sozialistischen Abgeordneten der Ermächtigung Pétains zustimmten. Die Gegner Pétains gründeten das Comité d’Action socialiste (CAS), zu dem im Süden etwa Gaston Defferre zählte. Ebenfalls in beiden Zonen verbreitet wurden die Cahiers Politiques, Organ des Comité général d’études de la France combattante (im Februar 1943 gegründet, dem Vorstand gehörten u. a. PierreHenri Teitgen und Marc Bloch an). Das Komitee arbeitete mit dem Conseil National de la Résistance zusammen, den Jean Moulin im Auftrag de Gaulles, zunächst gegen den Willen der Widerstandsgruppen, ins Leben gerufen hatte. Im Schoß der Armée de l’Armistice, dem verbliebenen Rest des französischen Heeres nach dem Waffenstillstandsabkommen, entwickelten sich im Zuge der Demobilisierung von Einheiten ebenfalls Widerstandsgruppen, deren Führung im Sommer 1942 der General Giraud übernahm. Dieser konnte mit der Unterstützung der Amerikaner rechnen. Giraud war aus deutscher Gefangenschaft geflohen (wie schon im Ersten Weltkrieg), darauf gründete sich seine Popularität. Er setzte sich nach Algerien ab, wo er mit der Errichtung einer Diktatur begann, die sich an Pétains „Révolution nationale“ orientieren sollte. Ihm lag vor allem an der Wiederherstellung der territorialen Integrität Frankreichs.
Ziele der Résistance Gemessen an den geographisch-organisatorischen und politischen Ursprüngen war die Résistance folglich außerordentlich heterogen. Dennoch gelang eine organisatorische Verknüpfung in den beiden Zonen und mit de Gaulle, zunächst in London, dann in Algier. Während gegen Ende des Krieges und vor der Libération eine Einheit der Aktion durchzusetzen war und die politischen Divergenzen in den Hintergrund traten, war es mit dieser Einheit nach Kriegsende sehr bald vorbei. Der Gedanke eines geeinten Europas sowie eines neuen Völkerbundes hatte im Untergrund viele Anhänger gehabt und lebte
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nach Kriegsende weiter, beeinflußte in den ersten Jahren die politischen Entscheidungen aber nur wenig. Hier hatte Frankreich als Nationalstaat Vorrang. Das Gros der Gruppen erstrebte ein erneuertes demokratisches Frankreich. Die Auswüchse des Kapitalismus wurden von fast allen Gruppen gebrandmarkt, Verstaatlichungen gefordert. Die meisten machten Unterschiede zwischen ,den’ Deutschen/Deutschland und den Nationalsozialisten, sie plädierten für eine demokratische Erneuerung Deutschlands und dessen Einbindung in ein föderales Europa. Wenige propagierten die Zerschlagung Deutschlands in mehrere Einzelstaaten. Die Lektüre der Untergrundschriften fördert zutage, wie sehr die europäische Geschichte seit dem Westfälischen Frieden von 1648 als mit kapitalen Fehlern belastet empfunden wurde. Die Friedensverträge von Versailles wurden von den meisten als grobe Fehlkonstruktion begriffen. Das Bemühen, unter den Bedingungen des Untergrunds die Grundlagen einer politisch stabilen und gerechten sowie demokratischen internationalen und europäischen Ordnung zu durchdenken, gehört zu den beeindruckendsten intellektuellen Leistungen der Résistance.
9.8 Das Kriegsende Exilregierung in Algier Der Schlüssel zum Tor der französischen Selbstbestimmung an der Seite der Alliierten lag in Algier. Die Reste der Armee, die Giraud in Algerien um sich geschart hatte, und die wenigen Truppen, über die de Gaulle verfügte, waren nicht kriegsentscheidend. Giraud besaß die Unterstützung der Alliierten, dem mußte sich de Gaulle fügen; Giraud wurde allerdings im April 1944 kaltgestellt. Im Gegensatz zu Giraud verfügte de Gaulle über klare Zielvorstellungen: Der Wiedereintritt Frankreichs in den Krieg, vertreten durch seine Exilkräfte unter de Gaulle und, zwangsläufig, Giraud, sollte Frankreich in erster Linie wieder internationales Gewicht und Unabhängigkeit von Engländern und Amerikanern verschaffen. Außerdem mußte eine Gegenregierung zur Regierung von Vichy geschaffen werden. Am 3. Juni 1943 bildeten de Gaulle und Giraud in Algier gemeinsam den Comité français de libération nationale (CFLN), dem mit Ordre vom 17. September eine provisorische Konsultativversammlung (s. o.) zugeordnet wurde. Der CFLN begann sofort mit der Säuberung der Institutionen und Behörden in Französisch-Nordafrika von Vichy-Getreuen, von Anfang an wurde klargestellt, daß Pétain und den Kolla-
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borateuren der Prozeß gemacht werden würde. Die Kommunisten traten dem CFLN im April 1944 bei und trieben die Épuration massiv voran. Am 21. April 1944 wurde eine Ordonnanz erlassen, die die Spielregeln für die Zeit unmittelbar nach der erwarteten Befreiung Frankreichs festlegte: Wiederherstellung der republikanischen Institutionen, baldige Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, Wahlrecht für die Frauen. Am 3. Juni gab sich der CFLN den Namen einer provisorischen Regierung der Republik Frankreich. Für deGaulle bestand die Dritte Republik im übrigen fort, sie war nach seinem Dafürhalten verfassungsrechtlich nicht abgeschafft worden. Deshalb weigerte er sich auch, im September 1944 in Paris, wie von manchen gefordert, vom Balkon des Rathauses (wie im 19. Jh.) die Republik auszurufen.
Libération Die Offensive der Alliierten begann am 6. Juni in der Normandie, de Gaulle hatte am 14. Juni Bayeux erreicht, am 15. August startete die zweite Offensive in der Provence, beides unter Beteiligung französischer Kräfte. Paris erhob sich in der Zwischenzeit, General Leclerc marschierte mit seiner Division auf Paris zu. Am 25. August unterzeichnete der deutsche Befehlshaber die Kapitulation, am 26.8. zog de Gaulle die Champs-Elysées zur Kathedrale von Notre-Dame unter dem Jubel der Massen hinunter. De Gaulle wollte die Grande Nation restaurieren, auf das Kolonialreich nicht verzichten. Er stellte sich in die Tradition der in Frankreich im Lauf der Jahrhunderte entwickelten Konzepte zur „Europe française“. An die Stelle der geschichtsmächtig gewordenen außerfranzösischen kulturellen Referenzen versuchte er die Grande Nation als Selbstreferenz zu setzen. Die Umsetzung dieses Programms gelang im großen und ganzen nicht, aber de Gaulle bewerkstelligte den Übergang in eine neue politische Zivilisation in Frankreich. Halten wir an diesem Punkt inne und wenden uns jenen Bereichen zu, deren Wandel den Übergang in die neue Zivilisation kennzeichnete: Kolonialismus, Europakonzepte, außerfranzösische kulturelle Referenzen.
Abschnitt B: Kulturelle Referenzen und interkulturelle Geschichte Frankreichs (Spätmittelalter bis erste Hälfte des 20. Jahrhunderts)
Vorbemerkung Wenn sich die Leserinnen und Leser zusammen mit dem Autor an das erste Kapitel dieses Buches erinnern, wird schnell deutlich, daß die Anfänge der französischen Geschichte, nämlich die Geschichte im „Hexagon“, nur mit dem Begriff „interkulturell“ angemessen zu erfassen ist. Der interkulturelle Charakter der Spätantike und noch der Merowingerzeit gilt nicht nur für das „Hexagon“ oder Gallien, sondern für weite Teile Europas. Dennoch sind Unterscheidungen angebracht, die kulturelle und ethnische Vielfalt war im „Hexagon“ besonders groß. Gallien lag, so Banniard (1993), vom fünften bis zum achten Jahrhundert „im Mittelpunkt aller kulturellen Bewegungen“. Kernelement dieser Bewegungen war das Christentum, das mit der Geschichte Galliens bzw. Frankreichs in überaus enger und konstitutiver Weise verbunden blieb. Darin gründete sich weit über das Mittelalter hinaus bis in die Kolonialpolitik des Second Empire hinein die anhaltende interkulturelle Dimension der französischen Geschichte. Nachdem die politische Geschichte dazu beigetragen hatte, die alten trennenden Elemente zwischen west- und ostfränkischem Reich zu verfestigen, und so die Nationswerdung allenthalben voranschritt, trat Frankreich seit dem Spätmittelalter zunehmend als nationsbewußter Staat in Erscheinung. Besonderes Kennzeichen von Nationswerdung überhaupt ist die Ausbildung einer kulturellen Selbstreferenz, in diesem Fall von „Frankreich“ als kultureller Selbstreferenz. So stark diese Selbstreferenz auch wurde, so sehr war sie von außerfranzösischen kulturellen Referenzen im Land selber umgeben und wurde dadurch auch in ihrem Wesen bestimmt. Sicherlich existieren ,nationale Kulturen’ schon allein deswegen, weil sie eine feste vorstellungsweltliche, eine Bewußtseinsgröße darstellen und auf diese Weise zur Identität gehören. In der kritischen Sicht der Historiographie sind diese ,nationalen Kulturen’ zu einem guten Teil jedoch Konglomerate verschiedenster kultureller Referenzen. Michel Espagne (1999) spricht von „métissages“. Als das eigent-
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lich Nationale mag sich dann z. B. ein spezifischer Umgang mit diesen Referenzen, deren spezifische Wirkungsweise, deren spezifische Vernetzung erweisen. Ein Beispiel: der französischen Germanophilie wenn nicht Germanomanie des 19. Jh. stand in Deutschland nicht so sehr eine Frankophilie oder Frankomanie gegenüber, sondern eine Gräkomanie. In Deutschland waren die kulturellen Referenzen anders verteilt als in Frankreich. Die genaue Erforschung der interkulturellen Geschichte eines jeden europäischen Landes würde gewissermaßen dessen genetischen Abdruck liefern, jedenfalls von der Epoche an, in der die sehr lange Inkubationsphase der Nationenwerdung in die Phase der Selbstidentifikation als Nation wechselt. Das ist, cum grano salis, um 1800 in weiten Teilen Europas der Fall. Die Kategorie „kulturelle Referenz“ erweist ihre Nützlichkeit von dem Augenblick an, wo die Referenz Frankreich einigermaßen deutlich konturiert ist, sei es durch positive Elemente (la douce France, fille aînée de l’Église, translatio studii usw.), sei es durch Abgrenzung mithilfe von Stereotypen, ein seit den Kreuzzügen in den Quellen manifester Vorgang. Dieser Buchabschnitt beleuchtet die interkulturelle Geschichte Frankreichs nunmehr aus der Perspektive der Expansion und des Kolonialismus sowie der Rückwirkungen auf Frankreich, aus der Perspektive von „Europa“ als kultureller Referenz in Frankreich und aus der Perspektive kultureller Transfers nach Frankreich.
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Frankreich und die außereuropäische Welt – Außereuropa in Frankreich
10.1 „Die Barbaren müssen in Zukunft die süße Milde der französischen Herrschaft spüren.“ „Die französische Nation darf nicht auf den europäischen Erdflecken beschränkt bleiben, sie muß sich bis in die letzten Winkel der Erde ausbreiten, die Barbaren müssen in Zukunft die süße Milde der französischen Herrschaft spüren und nach ihrem Vorbild ihre Sitten verfeinern“, so sprach François Charpentier von der Académie Française im Jahr 1666 im Zusammenhang mit der Errichtung der französischen Ostindischen Handelskompagnie (Compagnie française pour le commerce des Indes orientales), (zit. nach Pluchon, 1991 I, 9).
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Die von Charpentier angestrebte Akkulturation erfolgte durchaus auch in umgekehrter Richtung: Franzosen nahmen in Nordamerika (Kanada) indianische Sitten an oder entschlossen sich vollständig zum Leben mit den Indianern. Dies ist ein Merkmal der Geschichte nicht nur der französischen, sondern der europäischen Expansion überhaupt, daß dort, wo es zu ausgesprochenen Kulturkontakten in Übersee kam, die Akkulturationsprozesse beidseitig verliefen. Der Ausspruch Charpentiers fiel in eine Zeit, in der Frankreich erstmals den Versuch einer richtiggehenden Kolonialpolitik unternahm. Er fiel in eine Zeit, in der Frankreich als kulturelle Referenz modernistisch neu definiert wurde, in der Frankreich nach dem Willen seines Herrschers Kulturmodell nicht nur in Europa, sondern in der Welt sein sollte. Letzteres erklärte sich vor allem auch daraus, daß man es überall in der Welt mit Konkurrenz aus Europa zu tun hatte. Das zivilisatorische Sendungsbewußtsein sollte die Kolonialpolitik stützen. Der Ausspruch fällt schließlich in eine Zeit, in der Außereuropa mehr als früher auf Frankreich selbst zurückwirkte. Außereuropäische Welten waren in der französischen Vorstellungswelt seit dem Mittelalter präsent. Vor der Renaissance wurde diese Welt bis zu einem gewissen Grad schematisch nach heidnisch/ nicht-christlich wahrgenommen. Es gab keinen imaginären clash der Kulturen, der die Vorstellungswelt beherrscht hätte. Die Schematik der Vorstellungen läßt sich an den mittelalterlichen Weltkarten ablesen, darüber hinaus mag es manche Differenzierung aufgrund der Lektüre von Reiseberichten wie jenes fiktiven des John von Mandeville oder aufgrund der Beschäftigung mit der arabischen Wissenschaft gegeben haben. Von einer Präsenz Außereuropas in der französischen Vorstellungswelt läßt sich dennoch erst seit dem 16. Jh. sprechen, nachdem Berichte über Amerika rezipiert und erste Indianer vorgeführt und betastet worden waren, nachdem die Kartographie der Entdeckungen zur Konturierung eines neuen Weltbildes beigetragen hatte. Über die Verbreitung dieses neuen Wissens in den ersten Jahrzehnten des 16. Jh. sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Es revolutionierte mitnichten das Weltbild aller Menschen, nicht einmal aller Gelehrten. Dennoch waren einem neuen Wissen die Türen geöffnet worden. Die Infrastruktur des neuen Wissens bestand in der grenzüberschreitenden Republik der Gelehrten und der mit nationalen Akzenten versehenen Kolonial- und transmaritimen Handelspolitik. Die Geschichte Frankreichs außerhalb Frankreichs, wie die Kolonialgeschichte genannt werden könnte, und die
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Geschichte Außereuropas als kultureller Referenz in Frankreich hängen eng miteinander zusammen. Die Geschichte der französischen Expansion wird durch die Französische Revolution prinzipiell zweigeteilt. Nach zögerlichen Anfängen im 16. Jh. entstand allmählich eine Art Kolonialreich, das keinerlei Geschlossenheit aufwies; im Siebenjährigen Krieg (1756–63) und in der Epoche der Revolution ging ein großer Teil des Besitzes verloren, so daß nach dem Ende Napoleons die französische Kolonialgeschichte gewissermaßen neu begann, unter anderen Voraussetzungen, mit neuen Zielsetzungen und Schwerpunkten, unter denen ganz besonders Algerien hervorzuheben ist. Noch heute sind gerade im Fall Algerien, aber nicht nur dort, die Folgen dieses Teils der französischen Weltgeschichte zu spüren. Drei Hauptaspekten soll Aufmerksamkeit zuteil werden: 1. Entwicklung der französischen Expansion; 2. Rückwirkungen auf Frankreich selbst; 3. Frankreich als Exportnation von Zivilisation.
10.2 Die französische Expansion (16. Jahrhundert bis 1931) Katharina von Medici und 6.000 Soldaten: 1582 Im 16. Jh. befand sich Frankreich gewissermaßen außerhalb der Konkurrenz. Am Wettlauf um Amerika, Afrika und Indien zwischen Portugal und Spanien nahm es nicht teil. Lediglich versuchten die französischen Könige die Aufteilung der überseeischen Welt zwischen Portugal und Spanien im Vertrag von Tordesillas 1494, dem der Papst seinen Segen gab, als inexistent zu ignorieren. Franz I. verteidigte das Prinzip der Freiheit der Meere. Die Überlegung, daß nicht allein die Entdeckung neuer Erdteile die Souveränität darüber begründen könne, sondern nur der dauerhafte Besitz, zeitigte solange kaum Folgen, wie es keine schlagkräftige Marine gab, um diesem Prinzip zur Wirkung zu verhelfen. Während sich England unter Heinrich VIII. und Elisabeth I. bereits im 16. Jh. mit Verve in die koloniale Aufholjagd stürzte, blieb es in Frankreich bei einigen privaten Initiativen, die z. T. die wohlwollende Unterstützung der Könige fanden. Was fehlte, waren kapitalkräftige Financiers, wie es sie in Italien oder im Heiligen Römischen Reich gab, es fehlte an einer Handelsmarine und entsprechend bedeutenden Häfen. Eine gewisse Bedeutung erlangte der Hochseefischfang von den französischen Atlantikhäfen aus. Mitunter kamen die Schiffe bis an die amerikanische Küste, wo den Indianern Pelze abgekauft wurden.
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Zwei weitere Faktoren bestimmten die Ansätze zu einer Kolonialpolitik im 16. Jh.: Der aufkommende konfessionelle Bürgerkrieg band viele Kräfte; die Auseinandersetzung mit dem Habsburgerreich dominierte die überseeischen Zielvorstellungen. Manchmal mutet es wie eine fixe Idee an, daß das iberische Kolonialreich für Frankreich erobert werden sollte. Den heftigsten Versuch unternahm Katharina von Medici, die 1582 sechzig Schiffe mit 6.000 Soldaten ausrüsten ließ, die Madeira, die Kapverdischen Inseln, die Azoren und Brasilien in französische Hand bringen sollten. Das Unternehmen scheiterte höchst kläglich, aber im Jahr darauf wurden noch einmal 3.000 Soldaten losgeschickt – mit demselben Ergebnis. Die Bilanz des 16. Jh. lautete folglich: Es gab keinen nennenswerten französischen Kolonialbesitz, allerdings waren französische Händler bereits auf allen Routen nach Amerika, Afrika und Indien vertreten, der Handel mit gewinnbringenden Gütern wie Zucker, Datteln, Holz und Gewürze, um nur einige zu nennen, nahm Gestalt an. Von Le Havre starteten zwischen 1568 und 1610 immerhin 115 Schiffe nach Marokko, also durchschnittlich 3 pro Jahr, zwischen 1571 und 1610 wurden 363 Schiffe nach Afrika, Brasilien und zu den Antillen geschickt, im Schnitt also 9 Schiffe pro Jahr. Zusammen macht das allein für diesen Hafen im Schnitt jeden Monat ein Handelsschiff nach Übersee oder, sehr theoretisch gerechnet, es wechselten sich im 14tägigen Rhythmus Abfahrt und Ankunft eines Überseeschiffes in Le Havre ab. Der Überseehandel wurde damit zur Gewohnheit und verlor das Außergewöhnliche. Allerdings muß alles in Relation gesehen werden. Zur gleichen Zeit machten im Hafen von Lissabon 700 Schiffe aus dem Überseehandel jährlich fest.
300 französische Kolonisten in Kanada (1642) Heinrich IV. stand der Frage einer kolonialen Expansion offen gegenüber. Am liebsten wäre ihm eine Allianz mit England und den Niederlanden gewesen, um Habsburg seiner ,indischen’ Besitzungen zu entledigen, aber der Plan, den Sully 1603 in London vortrug, stieß dort auf keine Gegenliebe. Einstweilen hatte Heinrich 1598 die Gründung einer Compagnie du Canada et de l’Acadie durch bretonische Kaufund Seeleute gebilligt. Diese Seehandelsgesellschaft rüstete mehrere Expeditionen aus, die den Sankt Lorenz-Strom erkundeten, zu den großen Seen vorstießen, auch nördlich bis zu dem späteren Montréal gelangten. Die Ermordung Heinrichs 1610 stoppte den Elan der Monarchie, immerhin war das französische Engagement in Kanada gefe-
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stigt worden. Freilich bleibt die Frage, warum England und die Niederlande, die im Vergleich zu Portugal und Spanien ja auch Nachzügler waren, in wenigen Jahrzehnten Kolonialreiche aufbauen konnten, während dies Frankreich im großen und ganzen nicht gelang. Eindeutig lagen die außenpolitischen Prioritäten auf dem europäischen Kontinent, aber es gab auch erhebliche innere Widerstände, die der gesellschaftlichen Desintegration Frankreichs entsprangen. Sehr deutlich zeigte sich dies unter Richelieu, der versuchte, eine starke königliche Marine als Grundlage der Kolonialpolitik nach englischem und niederländischem Beispiel aufzubauen, bei den Notabeln des Landes aber auf sehr mäßige Gegenliebe stieß. Unermüdlich gründete er Handelskompagnien, die aber an konfessionellen Gegensätzen und ausreichendem Humankapital scheiterten. Es gelang jedoch 1635, Guadeloupe, Martinique und Dominique, später auch die westliche Hälfte von Santo Domingo zu besetzen – alles Voraussetzungen für die Stärke des französischen Kaffee- und Zukkerhandels im 18. Jh. Auf den Antillen erreichte die Zahl der französischen Kolonisten im Todesjahr von Mazarin (1661) 11.000, während sie in Kanada erst bei 3.000 lag. Doch schon das muß als spektakulärer Anstieg gewertet werden, zählte man doch 1642 lediglich 300 Kolonisten in Kanada.
Modell Niederlande: Colbert und das Kapital Colbert und Ludwig XIV. bildeten ein recht gutes Gespann. So kam es 1664 zur wichtigen Gründung der Compagnie des Indes occidentales, die mit einem Kapital von 7 Mill. Pfund ausgestattet war. Im Vergleich: die größten früheren französischen Handelskompagnien hatten höchstens 300.000 Pfund an Kapital erhalten. Diese Compagnie bündelte praktisch alle Handelsinteressen der Kolonien. Colbert orientierte sich eindeutig am niederländischen Vorbild. Er setzte den Aufbau einer Flotte ins Werk, dessen Belastungen noch bis ins letzte Dorf zu spüren waren. Landesweit wurden die größten Bäume für die Marine reserviert und durften nicht für den Alltagsbedarf, vor allem den Häuserbau, verwendet werden. Noch im selben Jahr 1664 wurde die Compagnie des Indes orientales gegründet, verbunden mit einem Aufruf an alle Franzosen, sich mit Kapital zu beteiligen. Das angestrebte Stammkapital lag bei 15 Mill. Pfund. Der König persönlich zeichnete Anteile. Der entscheidende Konstruktionsfehler im Vergleich zu den Niederlanden bestand allerdings darin, daß es sich um staatliche Gründungen handelte und nicht um Zusammenschlüsse
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von Kaufleuten, deren Motivation, durch den Überseehandel großen Profit zu machen, sich als praxisnäher erwies denn das Streben nach Gloire und Weltmachtstellung, das die Epoche Ludwigs beherrschte. Mit anderen Worten, der Erfolg blieb dem enormen Aufwand versagt.
Modell Frankreich: Ludwig XIV. Eine Reihe von Ereignissen zeigt, daß die Prioritäten der französischen Außenpolitik unverändert in Europa lagen. Zwischen 1665 und 1667 führte Frankreich an der Seite der Holländer einen Seekrieg gegen England. Frankreich eroberte einige weitere Antilleninseln. 1667 kam es zum Friedensschluß und Frankreich gab, eine äußerlich überraschende Handlung, die eroberten Inseln an England zurück. Was war geschehen? Philipp IV., Schwiegervater Ludwigs XIV. war gestorben. Ludwig erhoffte sich die spanischen Niederlande, als deren rechtmäßiger Erbe er sich sah. Um zum Ziel zu gelangen, war ein neutrales England wichtig. In seinen Memoiren sprach es Ludwig ganz deutlich aus, daß ihm die spanischen Niederlande und die Franche-Comté wichtiger waren als einige weit entfernte Inseln. 1667 begann der sog. Devolutionskrieg: Ludwig hatte sich verschätzt, England schlug sich mit Schweden auf die Seite der Niederlande, um Frankreichs Expansionsdrang zu begrenzen. Frankreich gewann schließlich Lille, Tournai und Douai, in etwa das Gebiet des heutigen Département du Nord. Die Bilanz beim Tode Colberts, der die Europapolitik Ludwigs kritisch beäugte, sah in etwa so aus: Französisch Louisiana, Kanada, eine Reihe von Antillen-Inseln, Cayenne und Guyana, einige Stützpunkte in Afrika, im indischen Meer Madagascar und einige weitere Inseln. Nun war dieses Kolonialreich insoweit eine theoretische Erscheinung, als es von den Franzosen kaum bevölkert wurde. Während bereits Hunderttausende von Engländern in Übersee lebten, zählten die Franzosen nur einige Zehntausende, und das, obwohl Frankreich das bevölkerungsreichste Land Europas war. Das zeigt sehr deutlich, daß die Bevölkerung im Gegensatz zu Richelieu und Colbert keinen kolonialen Traum verfolgte. Die Handelsflotte umfaßte mittlerweile rd. 200.000 Tonnen (England: 250.000; Niederlande: 500.000), die Kriegsflotte bestand aus 120 Schiffen gegenüber 106 englischen und 96 holländischen. Ludwig konnte den durch Colbert erreichten Stand nicht halten, bei seinen europäischen Ambitionen dienten ihm Teile der Kolonien als Tauschware. Es ist müßig,
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die permanenten Gefechte, Schlachten und Scharmützel zwischen England und Frankreich in Übersee aufzuzählen, der Wille zur außereuropäischen Expansion fehlte der französischen Politik und er fehlte in beinahe allen Bevölkerungsschichten. Während die religiösen Dissenters in England zuhauf den Weg nach Übersee nahmen, blieb die Zahl der Hugenotten, die denselben Weg in französische Kolonien beschritten, gering. Es ist wichtig, die großen Linien der französischen Außenpolitik nicht von den mentalen Dispositionen der Bevölkerung zu trennen.
John Law und die Spekulation (1717 bis 1720) Der nächste Knotenpunkt in der französischen Kolonialgeschichte bildete sich in der Zeit John Laws, dessen revolutionäres Finanzsystem wir bereits kennengelernt haben. Law hatte erstmals eine französische Nationalbank gegründet, die Papiergeld ausgab. Um dem Papiergeld das notwendige Vertrauen zu verschaffen, mußte die Bank über materielle Gegenwerte verfügen. Law besann sich dabei auf die Kolonien, das ungeliebte Kind der Außenpolitik. Am 5. September 1717 gründete er die Compagnie d’Occident, die mit Handelsprivilegien in Louisiana und für den kanadischen Pelzhandel ausgestattet wurde. Am 1. August 1718 wurde die Bank Pächterin der Tabaksteuer, also der Steuer auf ein Kolonialprodukt, sie wurde mit einem Privileg für den Verkauf von Kaffee ausgestattet. Neben dem Münzrecht erhielt sie desweiteren 1719 das Handelsmonopol für den indischen Raum, das von der Compagnie des Indes wahrgenommen werden sollte. Grundsätzlich mochte dieses System der materiellen Absicherung ausreichen, Law verstand es aber nicht, die richtigen Leute an sich zu binden. Eine Reihe erfahrener Überseehändler marginalisierte er, statt mit ihnen zusammenzuarbeiten. Statt einer koordinierten Kolonialpolitik versuchte Law, mit repressiven Maßnahmen Männer in die Kolonien zu bringen: Vagabunden, Bettler und Personen ohne Leumund sollten aufgegriffen und in die Kolonien deportiert werden, insbesondere arbeitsfähige Männer. Diese 1718 eingeleiteten Maßnahmen wurden 1722 bereits zurückgenommen; eine Entvölkerung Frankreichs wurde befürchtet. Eine absurde Idee, deren Verbreitung die Betroffenen, die künftighin keine Deportation mehr fürchten mußten, aber sicher mit Erleichterung aufnahmen.
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Zweihunderttausend Sklaven und Dreißigtausend Franzosen (1754) Laws Bankerott war bereits besprochen worden; die Tatsache, daß Louisiana nun wirklich kein zweites Mexiko war oder werden konnte, spielte beim Zusammenbruch der Spekulation eine wichtige Rolle. Das weitere 18. Jh. wurde von der englisch-französischen Rivalität in Übersee gekennzeichnet. Frankreich entwickelte sich allmählich zu einem ernsten Gegner, was einerseits mit dem Niedergang Spaniens zusammenhing, andererseits mit dem Aufschwung des Zukkerrohr- und Kaffeanbaus auf den Antillen, dem Herzstück des französischen Kolonialbesitzes. Grundlage dieses Aufschwungs war die Sklaverei: 1713 besaßen die Franzosen auf den Antillen rd. 24.000 Sklaven, 1717 waren es ca. 37.500, 1730 ca. 79.500, 1751 schon rd. 148.500, 1754 rd. 172.500. Die gesamte schwarze Bevölkerung betrug dort in 1740er Jahren 192.000, denen lediglich 33.000 Franzosen gegenüberstanden. Damit lebten auf den französischen Antillen mehr Menschen als auf den englischen Antillen, während sich die Verhältnisse in Nordamerika völlig anders zugunsten Englands darstellten. Im indischen Raum war Frankreich weiterhin nur in einigen Handelspunkten präsent, aber der Handel florierte. Mitte des 18. Jh. wuchs der französische Überseehandel beträchtlich. Der Import stieg von 112.805.000 Pfund 1740–48 auf 155.555.000 1749–55. Der Export entwickelte sich in den beiden Vergleichszeiträumen von 92.334.000 Pfund auf 257.205.000 Pfund. Der Warenaustausch mit europäischen Ländern hatte 1736–39 bei 245.476.000 Pfund gelegen. Der Siebenjährige Krieg (1756–63), der gelegentlich als der erste Weltkrieg bezeichnet wird, führte Frankreich in ein koloniales Desaster. Am Ende des Krieges blieben wenig mehr als die Antillen, dem Kernstück des französischen Kolonialismus. England hatte auf breiter Front die Konkurrenz in Übersee gewonnen. Die französische Unterstützung für den amerikanischen Unabhängigkeitskampf konnte das Blatt nicht wenden. Eine Veränderung des französischen Kolonialbesitzes erbrachte jenes Engagement nicht.
Brissot de Warville und die „Société des Amis des Noirs“ (1788): die Revolution und die Sklaverei Schon in den Jahren vor der Revolution von 1789 intensivierte sich die Diskussion um die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der Sklaverei. In Frankreich galt das Gesetz, daß jeder Sklave, der franzö-
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sischen Boden betrat, ein freier Mensch war. Die wenigsten nichtWeißen haben dieses Gesetz genutzt, sie folgten ihren Herren im Mutterland als Domestiken und vermieden in lebensnahem Pragmatismus, die Freiheitsfrage allzu deutlich zu stellen. Gelegentlich jedoch gab es mutige Menschen, die sogar einen Prozeß darum riskierten. Das Problem lag nicht in der rechtlichen Norm und der Rechtsprechung, sondern darin, inwieweit die Bevölkerung den nichtWeißen die freien Entfaltungsmöglichkeiten einräumte, derer es bedurfte, um aus dem Buchstaben des Gesetzes Lebenspraxis erwachsen zu lassen. Die vorrevolutionäre Diskussion drehte sich deshalb besonders um den Status der Farbigen in den Kolonien. 1788 gründete Brissot de Warville in Paris die Société des Amis des Noirs, der u. a. Lafayette, des französischen Königs ungeliebter General im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, als prominenter Zeitgenosse beitrat. Brissot hatte die Idee zu der Gesellschaft von einer Londonreise im Jahr 1787 mitgebracht, wo bereits eine Antisklaverei-Bewegung existierte. 1789 war der Philosoph und Mathematiker Condorcet Präsident der Gesellschaft. Er richtete an alle Amtsbezirke ein Schreiben, in dem er dazu aufforderte, die Abschaffung der Sklaverei als Desiderat in die Beschwerdehefte aufzunehmen. Die Diskussion wurde in die Nationalversammlung getragen, sie wurde aber zunächst von der Frage überlagert, mit wieviel Repräsentanten die Antilleninseln, um die es fast ausschließlich ging, vertreten sein sollten. Sollten nur die Weißen gerechnet werden, also keine 30.000, oder die Gesamtbevölkerung, d. h. über 600.000? Zugelassen wurden schließlich sechs weiße Deputierte, die nur die Hauptinsel, Santo Domingo, repräsentierten. Im Oktober 1789 wurden weitere vier Repräsentanten für Martinique und Guadeloupe in die Versammlung aufgenommen. Während sich die Nationalversammlung um das Thema des Sklavenhandels und der Freiheit der Sklaven herumwandt, kam es in den Kolonien zu den ersten Freiheitsaufständen. Davon unbeeindruckt verabschiedete die Nationalversammlung am 8. März 1790 ein Dekret, das bezüglich der Kolonien und des Sklavenhandels alles beim Alten beließ, wenn auch in schöne Worte verpackt. Berichterstatter war Barnave gewesen, jene Galionsfigur der Vorrevolution in Grenoble, der sich ganz unter den Einfluß der Überseehändler begeben hatte. Pierre Pluchon sieht es noch kritischer: Die Versammlung legalisierte den Sklavenhandel und machte die Menschen- und Bürgerrechtserklärung zur Makulatur.
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Unter dem Eindruck der immer heftigeren Aufstände, die den Schwarzen schließlich die faktische Macht brachte, beschloß der Konvent am 4. Februar 1794, die Sklaverei abzuschaffen. Die Geltung der Menschenrechtserklärung für die nicht-Weißen wurde ausdrücklich betont. Die reine Moral war es nicht gewesen, die zur Abschaffung geführt hatte. Aufständischer Druck und wirtschaftliche Argumente zählten. Zucker und Kaffee waren wegen der Aufstände bedeutend knapper geworden, die revolutionäre Presse hatte sich des Themas angenommen. Es galt zu retten, was zu retten war. Die Forschung macht für die schleppende Entwicklung bis zur vorübergehenden Abschaffung der Sklaverei auch die Ausbildung einer rassistischen Ideologie verantwortlich, deren Linien sich bereits im 17. Jh. abzeichneten. Dieser ideologische Ballast wurde nicht wirklich abgeworfen, wie es die Leichtigkeit zeigt, mit der Napoleon die Sklaverei wieder legalisierte (20. Mai 1802). Am 22. August 1795 schuf der Konvent die Rechtsgrundlagen für die Inkorporation der Kolonien in das Mutterland. Die Verfassung Frankreichs galt nunmehr auch für die Kolonien, die zu Départements erklärt wurden. Diese Maßnahme war von mehr theoretischer denn praktischer Bedeutung. 1804 erklärte sich Santo-Domingo unter dem Namen Haiti für unabhängig, Garanten waren England und die USA. Martinique wurde von den Engländern besetzt, allerdings nicht annektiert; Guadaloupe wurde mehrfach von den Engländern besetzt und erst 1815 endgültig an Ludwig XVIII. zurückgegeben. Um es kurz zu machen: 1815 befand sich die französische Expansion in Übersee fast wieder am Nullpunkt. Was war geblieben bzw. nach dem Ende Napoleons an Frankreich zurückgegeben worden? Im wesentlichen die kleineren Antillen-Inseln ohne Haiti, Guyana, die Stützpunkte im Senegal und in Indien (z. T. erst 1817 zurück an Frankreich).
Am Anfang war Algier – Die Neuorientierung der Kolonialpolitik nach 1815 Während der Restauration bemühte sich die Kolonialpolitik vorwiegend um eine Wiederbelebung des Handels sowie des Zucker- und Kaffeeanbaus. Da der Sklavenhandel verboten war, mußten nunmehr freiwillige Arbeitskräfte angeworben werden, was sowohl in Afrika wie in China mit sehr mäßigem Erfolg versucht wurde. 1822 wurde die Unabhängigkeit Haitis anerkannt, ein Vertrag über 150 Mill. Francs regelte die Entschädigung der früheren weißen Besitzer.
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Expeditionen ins Innere Afrikas und in den indochinesischen Raum sowie das Engagement in Algerien deuteten eine Neuorientierung an. Überhaupt: Frankreich hatte seine Position einer europäischen Hauptmacht verloren und war nun zu neuen außenpolitischen Orientierungen bereit. Zwischen 1830 und 1870 entstand ein Kolonialreich, das zwar weit hinter dem Englands zurückstand, das aber im Vergleich zu anderen europäischen Mächten den zweiten Platz einnahm. Die eigentliche Geschichte Frankreichs als Kolonialmacht begann erst nach 1830. Am Anfang war Algerien. Frankreich besaß dort Handelsinteressen, war aber keine Kolonialmacht. Vertreten wurde es von einem Generalkonsul, der die Rahmenbedingungen des französischen Handels mit dem Dey von Algier verhandelte. Am 29. April 1827 kam es bei einem solchen Gespräch zu einem Eklat, der französische Generalkonsul fühlte sich vom Dey unehrenhaft behandelt. Hintergrund war eine Schuldenangelegenheit aus den Jahren 1793–98, die der Dey geregelt wissen wollte. Parallel dazu kam es zu kriegerischen Gefechten in anderen Teilen Algeriens. Der französische König brach die diplomatischen Beziehungen zum Dey ab und ließ den Hafen von Algier blockieren. In der Zwischenzeit kriselte es in Frankreich und die Regierung unter dem unpopulären Polignac versuchte nun, die Algerienaffäre zum Prestigegewinn im innenpolitischen Kräftespiel zu nutzen. In Toulon wurden eine Flotte und eine Armee zusammengestellt, begleitet von Malern und Schriftstellern, die der in der Öffentlichkeit ungeliebten Aktion publizistischen Glanz verleihen sollten. Am 5. Juli wurde Algier erobert. Einige Jahre lang wußte man mit dem Sieg nichts Rechtes anzufangen. 1834 schließlich wurde die Eroberung dem Kriegsministerium unterstellt, regiert wurde mit königlichen Dekreten. Die Kolonie war folglich dem rudimentären parlamentarischen Regime des Mutterlandes entzogen.
Kolonialismus, Mission und Nation Nach und nach eroberte sich die Kolonialfrage einen beständigen Platz in der öffentlichen Meinung und schaffte den Einzug in das Bedeutungsfeld von „Nation“. Aus der Wirtschaft kam ein gewisser Druck. Marseille spekulierte auf einen wachsenden Mittelmeermarkt, nicht zuletzt wegen des Weinexports, Rouen spekulierte auf neue Märkte für Baumwollprodukte. Die Kirche erneuerte ihren missionarischen Elan; die Rekatholisierung Frankreichs und die Katholisierung der „Heiden“ in aller Welt entsprang demselben katholi-
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schen Eifer. Die Zivilisierung der Kolonien nach französischem Verständnis wurde zu einem umfassend debattierten Gegenstand unter Einbeziehung der Problematik des Kulturkontakts zwischen Europäern/Franzosen und landstämmiger Bevölkerung. Unter Louis-Philippe wurden zahlreiche Expeditionen in alle Welt geschickt, mit denen zum einen französische Präsenz zum Ärger Englands bewiesen werden sollte, zum anderen wurden Möglichkeiten einer kolonialen Ausdehnung erkundet, begleitet von wissenschaftlichen Zielsetzungen. Auch das altbekannte Problem einer Flotte stand wieder auf der Tagesordnung. 1842 bewilligte das Parlament Gelder für ein Siebenjahresprogramm, das den Bau von 200 Schiffen vorsah, davon 100 Dampfschiffe. Zugleich verkündete Guizot die Politik kolonialer Stützpunkte. Mit Ausnahme Algeriens, wo die Franzosen ihre territoriale Herrschaft zugweise ausdehnten, das überhaupt zum Experimentierfeld eines neuen Typs von Kolonie wurde, sollten keine großen Territorien erobert, sondern befestigte Stützpunkte errichtet werden, die dem französischen Überseehandel den Rücken stärken sollten. Während der Julimonarchie wurde wieder vermehrt über die Abschaffung der Sklaverei diskutiert, zumal hier England einigen Diskussionsdruck erzeugte. Die Februarrevolution von 1848 erbrachte den Durchbruch, denn bereits am 4. März dekretierte die provisorische Revolutionsregierung die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien. Betroffen waren davon 262.564 Sklaven. Darüber hinaus wurde systematisch versucht, die algerische Kolonie als Ventil für die französische Wirtschaftskrise zu nutzen. Ein Aus- bzw. Einwanderungsprogramm wurde aufgelegt und in der Tat siedelten sich in wenigen Jahren mehrere Zehntausend Franzosen in Algerien an, wo sie zumeist als Landwirte Fuß zu fassen suchten. Die Erfahrungen waren allerdings überwiegend negativ, Epidemien dezimierten die Einwanderer. Das Projekt wurde in einem völlig anderen Geist von Louis-Napoleon (III.) wieder aufgegriffen: Er schickte die Opposition massenweise in die algerische Deportation.
Die Inszenierung von Kolonialpolitik – Napoleon III. Die Verdichtung der französische Implantation in Algerien sollte nunmehr auch auf den Senegal angewandt werden. Besonders Bordelaiser Händler waren daran interessiert. Schrittweise wurde der Senegal in Besitz genommen. Napoleon III. widmete ganz besondere Aufmerksamkeit dem Mittelmeer, das er, älteren Vorstellungen fol-
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gend, zu einem französischen ,Binnensee’ machen wollte. Politischer Hebel war der Schutz der Katholiken. Zwar hatte Paris 1856 einen Vertrag mit der Türkei geschlossen, der dieser im Nahen Osten die Aufgabe übertrug, für Frieden zwischen Muslimen und Christen zu sorgen, doch zeigten die blutigen Massaker im Libanon 1860, daß die Türkei dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen war. Frankreich intervenierte erfolgreich zugunsten der Christen und zog seine Truppen erst im Juni 1861 wieder ab. Was blieb, war ein lang anhaltender kultureller und moralischer Einfluß, außerdem die Sicherung des Seidenhandels, der nach wie vor für Lyon eine außerordentliche Bedeutung besaß. Da die Marine hier auch unter Beweis gestellt hatte, daß sie zum Schutz von Christen befähigt war, war ihr öffentliche Anerkennung in Frankreich sicher. Was weder Richelieu noch Colbert und anderen danach gelungen war, war nun endlich erreicht. Ein anderer Schritt, Frankreich im Nahen Osten als kulturelle Macht zu implantieren, war das Projekt Suez-Kanal. Napoleon hatte sich schon in den 1840ern, als politischer Gefangener, für solche Kanalprojekte interessiert, den Suez-Kanal und jenen Kanal, der heute Panama-Kanal heißt. Seine Frau, Kaiserin Eugenie, begeisterte sich gleichfalls für solche Projekte. Sie war eine entfernte Verwandte des Unternehmers Ferdinand de Lesseps, und so fanden sich die drei Richtigen, um den antiken Traum des Suez-Kanals Wirklichkeit werden zu lassen. Anfang 1854 beauftragte der Kaiser de Lesseps mit der technischen Planung und Ausführung des Projekts, während er selber die politische Opposition der Türkei, Englands und Ägyptens beharrlich zu entschärfen wußte. De Lesseps, ein talentierter Propagandist, initiierte eine beispiellose Pressekampagne, die ihm in Frankreich die notwendigen Subskribenten erbrachte, vor allem auch unter den Kleinverdienern mit Ersparnissen; er reüssierte selbst in England, wo die Skepsis und der Widerstand gegen das Projekt besonders hoch waren. Zu seinen Methoden gehörte auch, Ingenieuren kostenlose Reisen nach Ägypten mit zwei Wochen Ferienkreuzfahrt auf dem Nil zu spendieren, die nach ihrer Rückkehr völlig begeistert von Ägypten die Realisierbarkeit und den Nutzen des Projekts öffentlich priesen. Die Arbeiten am Kanal begannen schließlich 1863. 1869, am 17. November, wurde der Kanal eröffnet. Die moderne Ingenieurskunst wurde gemeinsam mit Frankreich als kultureller und politischer Macht in Anwesenheit internationaler hoher Diplomaten und Fürsten zelebriert.
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Die Etablierung Frankreichs als kultureller Macht in der Welt, selbstredend verbunden mit der Wahrnehmung massiver wirtschaftlicher und Handelsinteressen, nicht zuletzt auch militärischer Interessen, ist verknüpft mit der Strategie der Weltausstellungen. Napoleon machte sich darüber hinaus die liberale Doktrin des Freihandels zu eigen; neben einem Freihandelsvertrag mit England (1860) wurde auch der Kolonialhandel liberalisiert, so daß den Kolonien mehr Eigenständigkeit zufiel. Als rätselhaft wurde das französische Engagement in Mexiko in den 1850er und 1860er Jahren angesehen, obwohl es durchaus plausible Gründe dafür gab. Angesichts der fortdauernden Abneigung gegen Papiergeld beruhte Frankreichs Währung unverändert auf Silber- (75%) und Goldmünzen (25%). Ab 1847 verringerte sich der Silberanteil jedoch dramatisch, während australisches und kalifornisches Gold den Markt überschwemmte. Das wenige Silber wurde immer wertvoller und gewinnbringend ins Ausland verkauft; Silber wurde in Frankreich zur Mangelware. Da waren Nachrichten über reiche Silberminen im Staat Sonora im Norden Mexikos gerade willkommen. Nach holperigen, privaten Initiativen übernahm die französische Regierung die etwas unsicheren Konzessionsrechte im Jahr 1862 und schickte mit dem technischen Personal auch Truppen in den Norden Mexikos. 1864 wurde Sonora zu einem französischen Protektorat erklärt, gegen die Zustimmung des mexikanischen Königs Maximilian, ein Habsburger, dessen seinerzeitige Kandidatur auf den Thron Napoleon im übrigen gestützt hatte. Ein massives Aufgebot an Soldaten, verkehrs- und finanztechnischer Infrastruktur führte zunächst zum Erfolg; Frankreich erhielt hinreichend Silber. Die USA allerdings beharrten darauf, ihren südamerikanischen Hinterhof sauber zu halten; nach dem Ende des Sezessionskrieges waren die erforderlichen Kräfte frei, um der Monroe-Doktrin zur Geltung zu verhelfen. 1866 zog Napoleon seine Truppen aus Mexiko ab.
Dritte Republik und Imperialismus In etwa gleichzeitig drängte Frankreich im fernen Osten vor. 1863/64 errichtete es ein Protektorat über Kambodscha, Vorstufe zur Bildung einer ausgesprochenen Kolonie in Indochina. Damit waren die entscheidenden Weichen gestellt, die Frankreich unter der Dritten Republik ins imperialistische Zeitalter führten. Die ersten Jahre, bis ca. 1879, standen jedoch unter dem Zeichen kolonialen Nullwachstums. In Frankreich selbst blieb das koloniale Engagement umstritten, ei-
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nige der Leitfiguren wie Gambetta und Jules Ferry verhielten sich anfangs reserviert, bis sie sich zu einer expansiven Kolonialpolitik ca. 1879 bis 1885 entschlossen. Hauptstück blieb fraglos Algerien. Der Anspruch, das Land als Teil Frankreichs zu betrachten, wurde tiefer und tiefer in das nationale Gedächtnis eingebrannt, den Forderungen der französischen Kolonisten in Algerien mehr und mehr nachgegeben. Im angrenzenden Tunesien rivalisierte Frankreich mit England und insbesondere Italien. Die Tunesienfrage bedeutete zudem ein wichtiges Element in den deutsch-französischen Beziehungen: In den ersten Jahren der Republik – und daraus erklärte sich die relative Zurückhaltung z. B. eines Gambetta – war die Meinung verbreitet, daß man entweder nur eine Politik der Revanche gegenüber Bismarck oder nur eine expansive Kolonialpolitik betreiben könne. Erst allmählich setzte sich die Auffassung durch, daß sich Frankreich als starke Kolonialmacht wesentlich besser gegenüber dem Deutschen Reich behaupten könne. Bismarck seinerseits nutzte den damit gegebenen diplomatischen Spielraum und signalisierte Frankreich mehrfach, so auch auf dem Kongreß 1878 in Berlin, daß es seine Unterstützung für eine expansive Tunesienpolitik zuungunsten der englischen und italienischen Interessen besitze. Am 12. Mai 1881 wurde dem Bey von Tunesien schließlich das französische Protektorat erfolgreich aufgenötigt. In Tunesien konkurrierten Frankreich, Italien und England um technisches Prestige sowie um Handelsvorteile. Frankreich war an der Schaffung einer Verkehrsverbindung durch die Sahara interessiert, die zahlreichen technischen Expeditionen scheiterten jedoch allesamt. Von Süden drangen französische Expeditionseinheiten über den Niger und den Kongo ins Innere Afrikas vor und legten den Grundstein für ein ausgedehntes französisches Kolonialgebiet in Schwarzafrika. Während Frankreich in Ägypten letztlich England das Feld überließ, festigte es seine Position in Ostafrika in Obok und später Dschibuti, dem Brückenkopf für die südostasiatische Politik. In Indochina (Kotschinchina, Annam, Tongking, Vietnam, Laos, Kambodscha) annektierte die französische Republik größere Gebiete und ließ sich in immer größere militärische Unternehmungen hineinziehen. Madagaskar schließlich wurde 1896 fester Bestandteil des Kolonialreiches. Die Kolonialarmeen Frankreichs entwickelten im Lauf der Zeit eine eigene Identität, die sich in den 1950er Jahren als ein entscheidendes Hemmnis der Entkolonialisierungspolitik entpuppte. Ein anderer Aspekt war der technische Wettlauf, den sich die europäischen
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Kolonialmächte lieferten und den sie, gewissermaßen gewaschen, parfümiert und geschmückt, in ihren Pavillons auf den Weltausstellungen im Miniaturformat darboten. Frankreich nutzte die Weltausstellung von 1889 in Paris, um die vermeintliche Symbiose von Französischer Revolution, Dritter Republik und französischer Kolonialmacht zur Schau zu stellen. Der Handel mit den Kolonien machte nur wenige Prozente des französischen Handels insgesamt aus, die Kapitalinvestitionen fielen nicht so enorm aus, wie Lenin gemeint hatte, und der darauf seine auch in Frankreich diskutierte These vom Imperialismus als Höhepunkt des Kapitalismus gegründet hatte. In der Folgezeit gelang es Frankreich, um nunmehr fest etablierte Kerngebiete herum in Afrika wie in Südostasien relativ geschlossenen Kolonialbesitz unter verschiedenen juristischen Formen aufzubauen. Der sprachliche und kulturelle Einfluß konnte unter diesen äußeren Bedingungen erhöht und dauerhaft implantiert werden, ein Einfluß, der die Entkolonialisierung überlebte und bis heute spürbar geblieben ist. Der weitere Ausbau des Kolonialreiches soll nicht in allen Einzelheiten erzählt werden. Hervorzuheben ist die langwährende Marokkokrise, die nicht zuletzt Frankreich mit Deutschland in einen heftigen Konflikt brachte und die fester Bestandteil der Ursachenforschung zum Ersten Weltkrieg wurde. Am 30. März 1912 wurde ähnlich wie seinerzeit in Tunesien jedoch ein französisches Protektorat in Marokko errichtet. In der Debatte im Parlament am 14. Juni 1912 verurteilte Jaurès diese Form der Kolonialpolitik und warnte davor, daß die koloniale Brachialgewalt zu nicht weniger gewalttätigen nationalistischen Bewegungen in den – faktisch ja besetzten – Ländern führen werde. Er hatte zwar Recht, aber der Protektoratsvertrag wurde im Parlament mit 460 gegen 79 Stimmen angenommen. Mit Jaurès hatten 73 weitere Sozialisten dagegen gestimmt. Während das Ende des Ersten Weltkrieges eine nochmalige Erweiterung des Kolonialreiches, des Empire, mit sich brachte, war längst eine Debatte um die Autonomie der Länder entbrannt. Im Grunde stammte sie aus den 1890er Jahren und brachte die Anhänger zweier gegensätzlicher Positionen – Assimilation versus Autonomie – in Stellung. Die Assimilisten, darunter Arthur Girault, spiritus rector der Kolonialgesetzgebung zwischen 1890 und 1930, dachten an eine Etablierung der Verfassung, des Verwaltungs- und Rechtssystems des Mutterlandes in allen Kolonien, gewissermaßen an eine gleichmäßige Departementalisierung des gesamten Reiches, während die Autonomisten der Kolonialpolitik die Aufgabe zuwie-
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sen, die Kolonialländer zur politischen Reife der Selbständigkeit zu führen. Émile Démaret beispielsweise, Kolonialinspektor, empfahl eine föderative Struktur für die Beziehungen zwischen Frankreich und den Kolonien. Faktisch folgte die Kolonialgesetzgebung sowohl der einen wie der anderen Lehre.
Die Nation und die Kolonien (Erster Weltkrieg) Unter ökonomischen Gesichtspunkten nahm das Kolonialreich 1913 die Rolle des drittgrößten Handelspartners ein: In diesem Jahr betrug der Handel (Import/Export) mit Großbritannien 2,569 Mrd. Francs, mit Deutschland 1,936 Mrd., mit dem Kolonialreich 1,692 Mrd. und mit Belgien/Luxemburg 1,665 Mrd. Anders ausgedrückt entfielen im Jahr 1913 13% der Exporte und 9,4% der Importe auf das Kolonialreich. Dies läßt nicht ganz die Bedeutung des Kolonialhandels durchschauen. Eine ganze Reihe zu importierender Produkte wie Erdnüsse, Zucker, Olivenöl, Kork, Reis, Phosphat und Blei, um nur einige zu nennen, die Grundstoffe der Nahrungsmittel- und anderer Industrien waren, wurden ausschließlich aus dem eigenen Kolonialreich importiert. Umgekehrt stillten die Kolonien ihren Bedarf an bestimmten Produkten wie Kerzen, Baumwollstoffen, Konstruktionsteile aus Eisen und Stahl oder auch den Bedarf an Bier zu 75% bis 90% aus dem Mutterland. Die Kolonialwirtschaft trug ohne Frage zur Stabilisierung und zur Sicherung der heimischen Wirtschaft bei. In den Kolonien waren besonders kräftige Kapitalgewinne möglich, die Existenz dieses vermehrten Kapitals half Frankreich, über die Krisen des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit hinwegzukommen, während der Mangel an verfügbaren Handelsschiffen Frankreich im Krieg immer weniger an Kolonialprodukten zukommen ließ. Der Mangel an französischen Soldaten veranlaßte die Kriegsregierungen, besonders Clemenceau, Soldaten unter der einheimischen Bevölkerung der Kolonien zu rekrutieren, insgesamt maximal 680.000 Männer, Algerienfranzosen und andere französische Kolonisten eingeschlossen. Das entsprach 7–8% aller Mobilisierten. Parallel dazu wurden im Krieg rund 300.000 Arbeiter rekrutiert, darunter nicht nur ein Drittel Algerier, sondern auch ein knappes Drittel Arbeiter aus Indochina. Es konnte niemanden wundern, daß nach Kriegsende die Kolonien die politische Dividende ihres Engagements und ihres Blutzolls für das Mutterland einfahren wollten. Schrittweise wurden in der Lokal- und Regionalverwaltung Autonomierechte eingeführt und Wahlen zu Munizipalversammlungen zugelassen.
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1928 waren das Kolonialreich zum wichtigsten Handelspartner und zum größten Kapitalempfänger des Mutterlandes aufgestiegen. Die Rückwirkungen dieser Entwicklung auf die Mentalität der französischen Bevölkerung ist weiter unten zu klären, so viel sei aber schon jetzt erwähnt, daß aufgrund der gegebenen Verhältnisse erst nach dem Krieg das Kolonialreich – Algerien war ein Sonderfall – bei aller Heterogenität, die es auszeichnete, nachhaltig als eine Art zweites Frankreich begriffen wurde – in einem Augenblick, indem der intellektuelle Ablösungsprozeß der Kolonien bereits in vollem Gange war. Die Feierlichkeiten zum Centenaire Algeriens (1830–1930) und die Kolonialausstellung 1931 mochten die Entwicklung für einen Moment noch kaschieren.
10.3 Kulturelle Rückwirkungen der Expansion auf Frankreich Von Montaigne bis zum Suez-Abenteuer 1956 Der französische Kolonialismus hat, wie jeder Kolonialismus, zur Veränderung der Welt beigetragen. Umgekehrt veränderte der Kolonialismus auch Frankreich selbst. Kolonialismus bedeutete immer auch eine Multiplizierung und Pluralisierung außereuropäischer Kulturkontakte, aus denen heraus bestimmte kulturelle Referenzen in Frankreich entstanden. Deren Wirkung läßt sich beispielsweise an Ägypten als kultureller Referenz ablesen – von Napoleon über den Bau des Suez-Kanals durch de Lesseps bis zum Suez-Abenteuer im Oktober/November 1956! Den Gelehrten, Intellektuellen, politischen Eliten, Theologen und Juristen wuchsen neue Kategorien des Denkens zu. Die geographische Erforschung des eigenen Landes, der eigenen Provinzen und Regionen erhielt Impulse aus der Erforschung Asiens, Afrikas und Amerikas. Die im Zuge der Expansion gewonnenen neuen Erkenntnisse und die beschrittenen neuen Erkenntniswege führten vor allem auch zu einer verfeinerten Selbstdefinition. Letzteres war noch in den 1930er Jahren in Frankreich der Fall. Zur Selbstdefinition gehörte auch die Entwicklung der Rasselehren, die dem eigentlichen Rassismus vorangingen. Der Vergleich mit dem Anderen und den Anderen reizte die Schriftsteller seit dem 16. Jh. Montaigne versuchte sich an einer ethnisch korrekten Interpretation des Kannibalismus und kam dabei zu der Erkenntnis, daß das gegenseitige Abschlachten von Hugenotten und Katholiken mitnichten einen Ausweis zivilisatorischer Überlegenheit der Franzosen über die amerikanischen Indianer sein könne. Montesquieu, und
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nicht nur er, nahm sich in den Lettres persannes die klischeehaften Kenntnisse über den persischen Orient vor, um die innerfranzösischen Verhältnisse zu kritisieren. Voltaire war ein Chinabegeisterter und sah in der chinesischen politischen und sozialen Verfassung im Gegensatz zum hinterherhinkenden Europa bereits die von der Aufklärung beschworene Ratio an der Arbeit. Die Südseeinseln lieferten das Bild vom guten Wilden, der noch wie im Naturzustand lebe. Die Frage, in welchem Verhältnis die politische Gesellschaft und die Gesellschaft im Naturzustand stünden, beschäftigte die Aufklärung über alle Maßen. Die außereuropäische Welt, ihre bruchstückhafte und von Vorurteilen behaftete Kenntnis, stellte eine Vielzahl idealisierender Bilder zur Verfügung, die in der Reformdiskussion in Frankreich ihre Wirkung entfalteten. Es handelte sich um eine Vielzahl kultureller Referenzen, die zu Modernisierungszwecken zu Hause genutzt wurden. Eine detaillierte Erforschung dieser außereuropäischen kulturellen Referenzen könnte bestimmte Konjunkturen ergeben. China behauptete sich vom späteren 17. Jh. bis weit in die Mitte des 18. Jh. als positiv konnotierte kulturelle Referenz und wurde erst danach einer wachsenden Kritik zuteil.
Die Sphinx in Frankreich – Ägypten als kulturelle Referenz Alle außereuropäischen kulturellen Referenzen in der Frühen Neuzeit sind im europäischen Verbund entstanden. Häufig lassen sich für einzelne Referenzen Konjunkturhöhen und -tiefen in mehreren Ländern gleichzeitig bestimmen. Dies ist einfach der Tatsache zu verdanken, daß Gelehrte, Künstler und Wissenschaftler am Aufbau dieser Referenzen maßgeblich beteiligt waren – und diese waren untereinander vernetzt. Ägypten als kulturelle Referenz entstand im Italien des Humanismus, Rom war und blieb bis ins 18. Jh. das künstlerische Zentrum, in dem an den Konturen der Referenz gefeilt wurde, aber schon im 16. Jh. fand Ägypten Eingang in Kunst und Literatur Frankreichs. Frankreich eignete sich Ägypten in besonderer Weise als kulturelle Referenz an – zur Stärkung der Selbstreferenz Frankreich. Der Herzog von Sully schmückte sein Haus in Paris zu Beginn des 17. Jh. mit einem Sphingenpaar: Die eine Sphinx symbolisierte die Bewahrung von Arkanwissen, die andere war als Sinnbild von Klugheit zu verstehen. Beides gehörte zu den Essenzen frühneuzeitlicher Politik, in der Sully sich sein aktives Leben lang bewegt hatte. In der Epoche Ludwigs XIV. waren es französische Künstler, die die sog. Ägyptenmode einführten (Nicolas Poussin
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[1594 bis 1665], Jean Berain d. Ä. [1637 bis 1711], Nachfolger im Amt von Charles Le Brun; etc.). Sphingen fanden sich in der Frühphase des Parks von Versailles, im Spiegelsaal des Schlosses, wo sie die Klugheit, aber auch die Stärke des französischen Königs meinten. Bossuet baute die ägyptische kulturelle Referenz in seine Universalgeschichte (1681) ein, die er für die Bildung des Dauphin verfaßt hatte. „Bossuet schilderte darin das ägyptische Altertum und seine baulichen und kulturellen Leistungen als Resultat eines durch vorbildliche absolute, aber auch aufgeklärte Monarchie bewirkten goldenen Zeitalters.“ (Dirk Syndram) Marie-Antoinette wählte sich die Sphinx zum persönlichen Symbol und ließ sie auf ihren Möbeln in den Schlössern von Versailles, Fontainebleau, Saint-Cloud anbringen. Sie verhalf der Ägyptenkonjunktur zu einem neuen Konsumhoch in Frankreich. Die Revolution eignete sich Ägypten auf ihre Weise an, ägyptische Symbole dienten zur Darstellung der régénération. So nutzte Napoleon alle propagandistischen Mittel, um seine Niederlage in Ägypten (Ägyptenzug 1798–99) anläßlich des Brumaire-Staatsstreichs 1799 als großartigen Sieg darstellen zu lassen. Ägypten als kulturelle Referenz, die Stärke, Großartigkeit, Ewigkeit, Schöpferkraft und vieles mehr symbolisierte, war so übermächtig, daß negative Konnotationen geradezu ausgeschlossen waren. Lesseps zehrte von diesem Nimbus und verstärkte ihn aufgrund des erfolgreichen Kanalbaus.
Verursachten Kaffee und Tabak die Französische Revolution? Die Bevölkerung insgesamt spürte die Rückwirkungen vornehmlich im medizinischen und Nahrungsmittelbereich. Viele Produkte wie Kartoffeln oder Tomaten wurden anfangs wegen der geringen Importmengen ausschließlich für Heilzwecke eingesetzt. Als dann der Anbau in Frankreich selbst gelang, eröffnete sich in einem sehr langwierigen Prozeß die Möglichkeit, die Abhängigkeit vom heimischen Getreide zu mindern. Vor allem der Mais und die Kartoffel führten regional schon vor dem 19. Jh. zu einer geringeren Krisenanfälligkeit. Die Schwierigkeiten, diese Pflanzen schnell und in großen Mengen anzubauen, resultierten vielleicht weniger aus vorhandenen Vorurteilen als aus der Tatsache, daß die Grundherrschaftsverfassung, die Organisation der Dorfgemeinden und der Kirchenzehnt tiefgreifende strukturelle Hindernisse darstellten. Anders formuliert: Die neuen Pflanzen erforderten im Grunde eine neue soziale Organisation der Landwirtschaft, die sich aber nicht übers Knie brechen ließ.
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Zu den Produkten, die die Soziabilität nachhaltig veränderten, gehörten der Tabak, der Kaffee und der Tee. Kaffeehäuser, Tabakrauchen, aufkommender Journalismus, die freie politische Meinungsäußerung im Gespräch formten eine neue politische Soziabilität, deren Ausmaß die überspitzt formulierte Frage stimulierte, ob Kaffee und Tabak am Ausbruch der Revolution 1789 schuld gewesen seien? Dies spielt auf die berühmten Cafés in den Arkaden des PalaisRoyal an, jenem Kommunikationsort vorrevolutionärer Gärung, wo sich Kaffee, Tabak und Literalität vereinigten.
10.4 Kolonialismus als kulturelle Referenz in der Bevölkerung? Drama und Christentum Faktische Auswirkungen der Expansion waren nicht zu bestreiten. Nachhaltig war auch das europäische Mächtesystem davon betroffen, denn essentielle Statusverbesserungen oder -verschlechterungen wurden letztlich nur noch über die Positionierung als Kolonialmacht erzielt. In dieser Perspektive, der sich die französische Außenpolitik im 19. Jh. in mehreren Anläufen und nach 1880 endgültig beugte, wirkt die kontinentale Vormachtstellung Frankreichs unter Napoleon I. nur wie eine Episode. Die z. T. geringe Stringenz der französischen Kolonialpolitik bis in die Zeit des Second Empire hatte damit zu tun, daß ihr ein breiter Rückhalt in der öffentlichen Meinung fehlte. Im 19. Jh. änderte sich dies ganz allmählich, nicht zuletzt dank der Presse und des algerischen Experiments. Doch auch in den ländlichen Gebieten, in denen die mündlichen Kommunikationstechniken weiterhin eine hervorragende Rolle spielten, wurde das Thema Kolonisation heimisch. Es mag sein, daß die menschlichen Dramen und Schicksale, die mit der Kolonisation verbunden waren, zur Popularität des Themas beitrugen. Vor allem erweckten diese Schicksale das christliche Mitleid und paßten sich so in die katholisch-christliche innere Mission Frankreichs ein. Hier dürfte der entscheidende Unterschied zu früheren Jahrhunderten liegen: Daß sich Schriftsteller in vielfältiger Weise der kolonialen Themen annahmen, läßt sich unschwer bis ins 16. Jh. zurückverfolgen. Daß Künstler aller Sparten die Themen bearbeiteten, gilt ebenfalls seit dem 16. Jh., selbst wenn die berichterstattende Malerei des 19. Jh. innovative Elemente beisteuerte. Sicherlich spielten einzelne Themen wie die vermeintliche oder wirkliche Menschenfresserei eine populäre Rolle seit dem 16. Jh., ein gewisser Exotismus als Würze der sonstigen dem Volk zugedachten
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Informationen hat eine lange Tradition, aber es war nichts, was die Masse der Menschen wirklich bis ins Innerste berührte. Im 19. Jh. geschah aber genau dieses: die koloniale Welt gehörte jetzt zur eigenen Welt, sie war fast permanent präsent, sie erheischte Anteilnahme. Die Aufgabe, der barbarischen Welt eine christlich-französische Zivilisation zu schenken, wurde zur nationalen Aufgabe, an der jeder irgendwie teilhatte. Nur unter dieser Voraussetzung konnte in der Dritten Republik der nächste Schritt unternommen werden – die propagandistische Vereinigung von Nationsbegriff und Kolonialmachtstatus.
,Ertränkt die französische Soldateska im Meer!’ – Kolonialdebatten während der Dritten Republik Der Kolonialismus hatte in der Dritten Republik immer Befürworter und Gegner. Eine ausgesprochene Lobby entstand erst Ende der 1880er Jahre, als eine Art Kolonialpartei in Gestalt miteinander vernetzter Vereine entstand. Die Diskussionen über den Kolonialismus zeichneten sich durch ihre Realitätsferne aus. Die ausgedehnten Kerngebiete des Kolonialreiches waren seit Napoleon III. stabil geblieben; es gab ein Kolonialreich, das war eine Tatsache. Dennoch wurde über die Frage diskutiert, ob ein Kolonialreich errichtet werden solle oder nicht. Realitätsnäher war die Frage nach den Kosten und Gewinnen der Kolonien. Die einen verdammten die angeblich hohen Kosten, die der Staat, d. h. die Bürger, ohne große Vorteile für Frankreich trügen, die anderen sahen in den Kolonien die Möglichkeit, soziale und wirtschaftliche Probleme von Frankreich in die Kolonien zu verlagern und dort zu lösen. Die naheliegende Frage, was die Kolonien tatsächlich kosteten, wem sie Kosten aufbürdeten, und wer tatsächlich Profit daraus schlug, wurde so pragmatisch nicht gestellt und nicht beantwortet. Tatsächlich wendete der französische Staat bis 1900 durchschnittlich nur ca. 6,5% des Budgets für die Kolonien auf. Erst Ende der 1880er entstand ein Unterstaatssekretariat, Jahre später ein Ministerium für Kolonialfragen. Die „Bekehrung“ führender Männer der Dritten Republik wie Gambetta und Jules Ferry zur aktiven und expansiven Kolonialpolitik folgte in erster Linie einem nationalen Prestigedenken, der Überzeugung, daß Frankreich seine europäische Position gegenüber dem Deutschen Reich nur über nennenswerte Erfolge als Kolonialmacht verbessern könne. In der Tat zahlte sich diese Haltung aus, denn nachdem Bismarck von der aktiven politi-
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schen Bühne entfernt worden war, konnten die französischen Regierungen, von der Dummheit der deutschen Außenpolitik profitierend, Schritt für Schritt den früher kaum für denkbar gehaltenen kolonialpolitischen Ausgleich mit dem größten Rivalen in der Weltpolitik, nämlich Großbritannien, herstellen. Die Kolonialpolitik selber löste in Frankreich zwar teilweise scharf geführte Debatten aus, aber sie fand außerhalb des missionarischen Aspekts kaum Zugang zum sehr breiten Publikum. Die Sozialisten bekämpften vor allem die inhumanen Auswüchse des Kolonialismus, aber vor 1900 bildeten sie eine kleine Minderheit mit begrenztem Publikum. Die Kolonialvereine (Comité de l’Afrique française, ab 1890; eine Interessensgemeinschaft von Abgeordneten im Parlament, ab 1892; die Union coloniale, ab 1893; Comité de l’Asie française, ab 1900; Comité du Maroc, ab 1903; etc.) waren nicht sehr mitgliederstark, dafür aber wegen ihrer Vernetzung mit den politischen und wirtschaftlichen Milieus außerordentlich einflußreich. Sie veröffentlichten Bulletins, deren Auflagen in den Hochzeiten vor dem Ersten Weltkrieg nur wenige Tausend Exemplare betrugen. Die Zeitungen griffen Kolonialthemen, vor allem Affären, von Fall zu Fall auf. Während die einen kolonialistische Propaganda betrieben, veröffentlichten die anderen Berichte über die Systematik und Perfektionierung der Tötung Einheimischer durch Kolonialtruppen (Berichte des Marineoffiziers Pierre Loti September/Oktober 1883 im Figaro). Selten verursachte die Kolonialpolitik große Debatten im Parlament, mehr als 30% Gegenstimmen bei Abstimmungen über kleine oder große koloniale Projekte gab es kaum. Wenn um und nach 1900 die Verfügbarkeit eines großen Kolonialreiches zum festen Bestandteil der Vorstellung von der Grandeur der französischen Nation gehörte, lag dies am Mangel an ernsthaften Gegnern des Kolonialismus. Frankreich unterschied sich darin wenig von anderen europäischen Nationen. Höchstens war die Debatte über den Kolonialismus mit Rücksicht auf die eigene Geschichte, in der man sich seit der Dritten Republik die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 besonders hoch anrechnete, etwas verlogener als anderswo. Charles Gide, einer der führenden Wirtschaftspublizisten in der Kolonialismus-Debatte vor der Jahrhundertwende, begründete die zivilisatorische Mission Frankreichs mit eben den „Prinzipien von 1789“. Daß Sklaverei und Sklavenhandel bekämpft werden müßten, folgte daraus; daß die Rechte der „Barbaren“, wenn man sie als Individuen betrachte, geschützt werden müßten, folgte ebenfalls daraus. Dieser Rechtsschutz
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wurde aber nicht auf die „Barbaren-Staaten“ als politische Körperschaften übertragen, im Gegenteil, diese mit dem Schwert zu bekämpfen, hätten die zivilisierten Nationen das Recht. Daß die individuellen Rechte dabei auf der Strecke blieben, wußte Gide ebenso wie die Politiker. Andere sprachen ganz offen aus, daß die Prinzipien von 1789 kein Exportartikel sein könnten. Wenige wie der Sozialist Paul Louis verwarfen den Kolonialismus ohne Wenn und Aber. Gustave Hervé schrieb in La guerre sociale von 1906, man solle die französische Soldateska, die das unabhängige Marokko angriffe, im Meer ertränken. Dessen ungeachtet zeitigte die Kolonialpropaganda der Vereine nach der Jahrhundertwende Früchte. Die Gewöhnung an nichtweiße Soldaten in den eigenen Reihen, präsent bei den Paraden am 14. Juli, Bildungsangebote, Briefe und Berichte, literarische und künstlerische Strömungen bewirkten eine Veralltäglichung des Kolonialismus. Besonders wichtig für die Verfestigung von Bildern wurden populäre Offiziere der Kolonialarmeen wie Joffre, Lyautey, Gallieni usf. Auf die Ausbildung einer spezifischen Identität in den Kolonialarmeen war schon hingewiesen worden. Die Romanliteratur kultivierte das Bild der wohltuenden Zivilisationsmission Frankreichs, die sich im Einklang mit dem Geist von 1789 befinde. In entsprechenden Schulbüchern wurde dasselbe Klischee gepflegt, die Erhebung der Kolonien mit ihrer einheimischen Bevölkerung in einen höheren Zivilisationsstand. Gerne wurden die Franzosen von 1900 mit den Römern verglichen, die den Galliern die Zivilisation gebracht hätten. Nicht zu vergessen die aufblühende Postkartenindustrie, die die Bevölkerung mit idyllisierten Motiven aus den Kolonien beglückte.
Das Ende des Postkartenidylls Der Erste Weltkrieg machte aus dem Postkartenidyll eine für viele Franzosen plötzlich reale Erfahrung: Arbeiter und Soldaten aus der Kolonialbevölkerung wurden, wie oben beschrieben, zu einigen Hunderttausend in Frankreich selbst eingesetzt. Regional, von Ort zu Ort verschieden, gab es gute Szenen des Miteinanders, aber auch häßlichen Rassismus. Viele Vorurteile gegenüber bestimmten nordafrikanischen oder asiatischen Bevölkerungsgruppen, die noch heute kursieren, wurden damals ausformuliert. In den großen Städten bildeten sich Wohnghettos, in denen die ins Land geholten Arbeiter lebten und die sich z. T. bis heute als spezifische Wohnviertel wenn nicht sogar Ghettos erhalten haben.
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Der Versuch, die Kolonien in Frankreich populär zu machen, wurde nach dem Krieg mit vermehrten Anstrengungen, aber ohne wirklich neue Inhalte, fortgesetzt. Organisierte Reisen, Radiosendungen, Schulklubs, alles was der organisierenden Kolonialphantasie einfiel, wurde ausprobiert. Die Kolonialausstellung von 1931, an der sich nur wenige europäische Staaten beteiligten, stand ganz im Dienst dieser Propaganda. Ziel war, die Franzosen an die Vorstellung eines „größeren Frankreich“ zu gewöhnen. Dieser Idee und der Rede vom „Empire“ stand allerdings keine Verfassungswirklichkeit gegenüber. Die eingeborene Bevölkerung der Kolonien wurde als Teil der Familie, als Teil des nationalen Wir-Kollektivs präsentiert – nach vollendetem Prozeß der Neuerschaffung der Eingeborenen nach französischen Werten. Im Geschichtsunterricht in der Primarschule wurden die „Heldentaten“ der französischen Kolonisten in ein chronologisches Kontinuum mit den Heldentaten Jeanne d’Arcs, der Märtyrer der Revolution usw. gestellt. Mit anderen Worten: Ging es in Wirklichkeit nicht um die „régénération“ der Franzosen selbst? Der Kolonialismus war einer der Samenspender für die vieldiskutierte Regenerierung. Wie tief solche Bilder in der Bevölkerung reichten, bleibt umstritten. Während in der Kunst und Musik die Auseinandersetzung mit der nichteuropäischen Welt zu ästhetischen Synthesen (Gauguin, Kubismus, Jazz usw.) führte, die ohne diese Auseinandersetzung nicht denkbar gewesen wären, während es in diesen Bereichen zu einem Kulturtransfer kam, der die überlieferte europäische Ästhetik veränderte, läßt sich in bezug auf die Bevölkerung insgesamt kaum eine ähnliche Hypothese begründen. Zwar wuchs die in den 1920er Jahren geborene Generation mit dem Kolonialismus als einer festen vorstellungsweltlichen Größe auf, aber es wurde keine Generation, die ihr Leben multikulturell eingerichtet hätte. Nur wenige Vorboten in der Literatur und im Film deuteten die Unausweichbarkeit der Fragestellung an! Meinungsumfragen nach dem Zweiten Weltkrieg ergaben zwar hohe Zustimmungsquoten zu einem Frankreich als Kolonialmacht, aber die Kenntnisse über die Kolonien waren ungenau und gering. Dies hat sicherlich den Entkolonialisierungsprozeß nach dem Zweiten Weltkrieg (s. Kapitel 13) erleichtert.
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Frankreich und Europa vom Mittelalter bis 1945
Nach 1945 wurden erstmals und dauerhaft europäische Institutionen geschaffen. Was immer vorher schon angedacht worden war – der entscheidende Unterschied bestand in der Institutionalisierung, der Unterwerfung der Nationalstaaten unter supranationales Recht und supranationale Institutionen. Erst letzteres setzte eine neue Stufe der Europäisierung in Frankreich in Gang, auch wenn Europa in der politischen Vernunft Frankreichs seit dem 13. Jh. das wesentliche außerfranzösische Moment ausmachte. Die Europäisierung Frankreichs nach 1945 gehört zur neuen politischen Zivilisation, die in Teil III behandelt wird. In Frankreich entwickelten sich seit dem Mittelalter im Milieu der Gelehrten und der politischen Köpfe Überlegungen zur Gestaltung Europas, die sich z. T. schon sehr früh zu ausgesprochenen EuropaPlänen auswuchsen. Diese Pläne hingen mit der Ausbildung der Nationalstaaten zusammen, deren Konturen sich bis zum 15. Jh. bedeutsam gefestigt hatten. Spätestens seit der Restauration der französischen Monarchie unter Heinrich IV. riß der Gedankenstrom nicht mehr ab, d. h. die Autoren des frühen 17. Jh. wurden bis in die erste Nachkriegszeit (1945) rezipiert und stellten im Bewußtsein der politischen Europäer einen zeitübergreifenden historischen Zusammenhang her. Frankreich gehörte ohne jeden Zweifel zu den produktivsten Brutstätten von Europaplänen. Das lag nicht zuletzt an der politischen Priorität, die der europäische Raum in der französischen Außenpolitik für nunmehr rund ein Jahrtausend genoß und genießt. Das vorangehende Kapitel 10 zur Kolonialpolitik Frankreichs ließ den Schluß zu, daß Europa lange Zeit in der Außenpolitik Vorrang erhalten hatte. Erst unter Napoleon III. errang die Kolonialpolitik ein solches Gewicht, daß Europa nicht mehr als einzige Priorität gelten konnte. Andererseits zeigte sich im Zusammenhang mit der Behandlung der Vorgeschichte zum deutsch-französischen Krieg, daß Napoleon III. erhebliche Kräfte mobilisierte, um Frankreich wieder zu einer europäischen Schlüsselmacht aufsteigen zu lassen, ohne daß dies wirklich gelungen wäre. Im großen und ganzen kann für den Zeitraum vom 17. bis zum 19. Jh. festgestellt werden, daß Frankreich zuerst auf Europa blickte und dann erst anderswohin, während England ja schon frühzeitig eine andere, nämlich koloniale bzw. imperialistische Priorität erkennen ließ.
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Die Fokussierung der französischen Außenpolitik auf Europa entsprach einer Grundhaltung der Bevölkerung, die für die koloniale Expansion wesentlich schwerer zu gewinnen war als seinerzeit die spanische oder dann die englische und niederländische. Nicht, daß die französische Bevölkerung eine ausgesprochene europapolitische Vorstellung gehabt hätte; das läßt sich aus den Quellen nicht ermitteln, sie war vielmehr überwiegend eine landständige bäuerliche Bevölkerung, die dem lokalen Raum, der Region, der Provinz und letztlich Frankreich verhaften blieb. Ihr Ziel lautete kaum „Europa“, sondern Frankreich, aber es mußte ein Frankreich sein, das, um einen beliebten Begriff des 16./17. Jh. zu verwenden, im Theatrum Europaeum die Hauptrolle spielte.
11.1 Drei Säulen: Europa als politische Praxis und Idee von Bouvines (1214) bis Dubois (1306) Die erste Säule: Frankreich als Schiedsrichter Der Gedanke der Hauptrolle war freilich viel älter. Der Begriff „Aussenpolitik“ erscheint prinzipiell erst in der Frühen Neuzeit, der Zeit nationaler Monarchien und wohlkonturierter Republiken, angebracht, doch soll dies einen Rückblick in das Mittelalter nicht verhindern. Die Kreuzzüge, an denen Frankreich großen Anteil hatte, unter das Label „Außenpolitik“ zu fassen, wäre völlig unangemessen. Erstmals berechtigt erscheint der Begriff in bezug auf Philipp II. August. Neben der Zurückdrängung Englands vom Kontinent legte er sich mit den beiden europäischen Universalmächten, dem Papst und dem Kaiser an. Die glückliche Wende des Schlachtenschicksals am 27. Juli 1214 in der Schlacht von Bouvines machte Philipp zum Sieger über Kaiser Otto IV. und führte den Staufer Friedrich II., den Philipp schon vorher unterstützt hatte, der Kaiserkrone zu. Philipp konnte sich erstmals als politischer Schiedsrichter in Europa fühlen – und damit war die künftige französische Außenpolitik auf eine Bahn gebracht, die sie vielleicht noch heute nicht verlassen hat. Die mythographische Ausschöpfung der Schlacht von Bouvines tat das ihrige, um die französische Politik auf dieser Bahn zu halten. Ludwig der Heilige, der als Kreuzfahrer ein ganz ungewöhnliches Charisma ,verströmte’, füllte die Rolle des politischen Schiedsrichters mit großem Erfolg aus. Da die Macht der Kapetinger zu seiner Zeit groß und hinreichend gefestigt war, konnte er es sich leisten, als Schiedsrichter auf immateriellen Gewinn – Ansehen – statt materiellen Gewinn zu setzen. Er
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begründete damit eine ideologische Konstante französischer Europapolitik, derer sich sowohl Dubois wie Sully wie die Europadenker des 18. Jh. fleißig bedienten, nämlich die des politisch altruistischen Frankreich, dem die Steigerung seiner Würde und seines Ansehens als einzig denkbarer Lohn für sein in die europäischen kriegerischen Verhältnisse ordnend und friedensstiftend eingreifendes Engagement genügt.
Die zweite Säule: Älteste Tochter der Kirche Die Heiligsprechung Ludwigs 1297 gründete sich auch auf diese Verdienste, die er sich um Europa bzw. im damaligen Sprachgebrauch, um die Christenheit, erworben hatte. Mit Bouvines und der Heiligsprechung war im 13. Jh. die große Linie der französischen Europapolitik vorgezeichnet. Vorteilhaft war, daß sich diese Linie vereinfacht zwischen zwei symbolisch sehr gut nutz- und vermittelbaren religiös interpretierten Ereignissen, eben Bouvines und 1297, ziehen ließ. Dies erklärt z. T., warum sich die französische Bevölkerung später nur sehr schwer in ihrer politischen Vorstellungswelt von Europa als weitestem Horizont lösen wollte. Frankreichs Rolle als „Älteste Tochter der katholischen Kirche“ und als Missionarin verflocht sich mit dem politischen Europa. Auf diesem sicheren mentalen Fundament setzte Philipp der Schöne Ende des 13. und Anfang des 14. Jh. zur Emanzipation von Papst und Kaiser an, um Frankreich zur politisch stärksten Macht in Europa auszubauen. Nur als souveräner Herrscher im eigenen Reich war dies möglich. Dies ist als die dritte Säule der französischen Europapolitik zu bewerten. Nicht zufällig fällt in diese Zeit die erste Ausformulierung eines „Europaplanes“ durch Pierre Dubois.
Die dritte Säule: Kontinentale Vormacht Der Jurist Pierre Dubois (um 1250/60 bis um 1323) verfaßte um 1306 eine Schrift unter dem Titel „De recuperatione terrae sanctae“. Oberflächlich betrachtet ging es darum, einen erneuten Kreuzzug gegen die Heiden zustande zu bringen, was an der Uneinigkeit der Europäer und an ihren Kriegen untereinander scheiterte. Ohne innereuropäischen Frieden kein Kreuzzug, so lautete ein Grundargument bei Dubois, das bis an die Schwelle des 18. Jh. immer wieder verwendet wurde, wenn es sich dann auch nicht mehr direkt um Kreuzzüge, sondern um Krieg gegen die Türken handelte. Das ursprüngliche Argument lautete daher nicht europäische politische Einigung um
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Europas willen, sondern um des Christentums willen. Die Einigung bildete dabei nicht das Ausgangsmotiv, sondern nur eine Folge eines anderen Motivs. Es stellt sich freilich die Frage, ob das Kreuzzugsmotiv tatsächlich so dringend war. In der praktischen Politik offensichtlich nicht. Dort ging es um eher weltliche Ziele, den Ausbau des Staates nach innen und Festigung seiner Position in Europa. Christliche Motive konnten da nur mehr plakative Rollen übernehmen. So steckte hinter Dubois’ Plan auch ein genuin französisches Interesse, das der Universalherrschaft in Europa. Dubois’ Plan markierte den Beginn der ,nationalen’, interessengeleiteten Europapläne, die uns bis heute begleiten. Was schlug Dubois nun vor? Um Frieden unter die christlichen Fürsten als Vorbedingung eines Kreuzzuges zu bringen, dachte Dubois an die Schaffung eines Konzils mit dem Papst und den Fürsten, dem ein europäisches Schiedsgericht übergeordnet sein sollte. Das Konzil sollte die Staatsgeschäfte nach folgenden Grundsätzen leiten: „Der Krieg zwischen christlichen Staaten ist verboten, Friedensbrecher trifft die Strafe der Gütereinziehung, und sie werden überdies ins Heilige Land versetzt, damit sie dort an vorderster Front gegen die Ungläubigen kämpfen. Die konfiszierten Güter bilden den Grundstock der Kriegskasse. Die Ländereien Widerspenstiger werden eingekreist, ausgehungert und besetzt.“ (Foerster, 1963, 37) Unrecht sollte von den Mitgliedern fürderhin nicht mehr durch Krieg, sondern durch Klage vor einem europäischen Schiedsgericht geahndet werden. Dubois orientierte sich im übrigen an den gegebenen Machtverhältnissen: Der französische König war der mächtigste Fürst seiner Zeit. Er sah Philipp IV. als Präsidenten des Fürstenkongresses vor und hätte es für richtig gehalten, wenn sein König zum Kaiser gewählt worden wäre. Abgesehen davon, daß niemand auf Dubois hörte, schon gar nicht der französische König, hatte er einige Grundstrukturen formuliert, die noch heute in den europäischen Institutionen wiedererkannt werden können. Der Ministerrat und die halbjährlichen Gipfeltreffen der Regierungschefs erinnern an den Fürstenkongreß/Konzil, das Schiedsgericht an den Europäischen Gerichtshof. Die Beschreibung des Schiedsgerichts, so wie Dubois es sich vorstellte, orientierte sich grundsätzlich an den Maßstäben, die schon das Mittelalter auf der Grundlage des wiederentdeckten Römischen Rechts an ein ordentliches und unabhängig funktionierendes Gericht stellte. Die Verwirklichung eines solchen Schiedsgerichts setzt nicht nur den notwendi-
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gen politischen Willen aller Beteiligten voraus, sondern eine Normen- und Wertegemeinschaft, insbesondere auch eine Rechtsgemeinschaft. Die Professionalisierung des Rechts- und Gerichtswesens war in Frankreich bereits weit fortgeschritten, Dubois übertrug französische Verhältnisse auf den europäischen Raum. Zugleich zeichnete sich die französische Außenpolitik dadurch aus, daß sie oft mit juristischen Argumenten fundiert wurde. Da war fallweise durchaus Rechtsverdrehung mit im Spiel, aber dies ändert nichts an der Grundhaltung, daß Europa als rechtlich geordneter Raum begriffen wurde, auf den die Außenpolitik argumentativ Bezug nahm. Gerade letzteres ließe sich gewiß in die Vorgeschichte der europäischen Einheit einordnen. Grundsätzlich steht hinter all diesen Überlegungen aber nicht der Gedanke an ein Europa der Bürger. Die Problemstellung, die wir heute haben, nämlich „europäische Einheit“, wird gedanklich nicht durchdrungen, weil Europa im großen und ganzen auf das Europa der Fürsten sowie des Papstes und der (freilich zu reformierenden) Kirche reduziert wurde.
11.2 Marinis Europa der Nationen und der zwei Geschwindigkeiten (1462/63) Die Zeit des sogenannten Hundertjährigen Kriegs war keine fruchtbare Zeit für französische Europapläne, doch wurden in dieser Epoche die Voraussetzungen für die europäische Rolle Frankreichs in der Frühen Neuzeit geschaffen: die Behauptung gegenüber England, die Konsolidierung der nationalen Monarchie, die Konstituierung der Gallikanischen Kirche. Die europapolitische Theorie, die zu dieser neuen Entwicklungsstufe paßte, wurde an einer Stelle geliefert, wo sie zunächst nicht zu vermuten ist. Der Text, um den es geht, ist als Plan des böhmischen Königs Georg von Podiebrad bekannt, war allerdings von einem Unternehmer und Diplomaten französischer Herkunft namens Antoine Marini aus Grenoble aufgestellt worden. Der ganze Gedankenaufbau lebt vom Einfluß französischer Vorstellungswelten und sagt in erster Linie etwas über Frankreich aus. Überliefert wurde der Plan, das spricht für sich, durch die Memoiren des Philippe de Commynes (1447 bis 1511). Marini befaßte Ludwig XI. 1462/63 mit dem Plan. Ludwig betrieb gegenüber Spanien eine Arrondierungspolitik, er annektierte die Grafschaften Roussillon und Cerdagne, in Italien gelang es ihm, sich als erfolgreicher Schieds-
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richter zu betätigen. Georg von Podiebrad war ein Anhänger des Johann Hus, er gehörte zur Partei der Utraquisten, den im Vergleich zu den Taboriten gemäßigten Hus-Nachfolgern. Nach langen Auseinandersetzungen im 15. Jh. hatte das Papsttum auf eine Bannung der Utraquisten verzichtet und ihnen in den sog. Kompaktaten kirchliche Freiheiten gewährt. Diese Kompaktaten widerrief Pius II. Georg mußte die Exkommunikation fürchten. Um seine Stellung zu festigen, setzte er zahlreiche diplomatische Demarchen in Gang, mit dem vorgeblichen Ziel, einen Kreuzzug zu organisieren. Er wußte, wie sehr Pius II. dies am Herzen lag, zugleich wußte er um die eigenen Bemühungen des Papstes, die er in sein Netz einzuspannen versuchte. Seine wichtigsten Adressaten waren der erfolgreiche französische König Ludwig XI. sowie Burgund und Venedig, zwei Schlüsselmächte auf dem europäischen Schachbrett, denen er einen Bund vorschlug, der jederzeit für weitere Mitglieder offenstehen sollte. Wenn man so will, die Idee eines Europa der zwei Geschwindigkeiten. Kern des Marini-Plans war eine Bundesversammlung, beschickt von den Bündnisteilnehmern, die jeweils fünf Jahre permanent in einer bestimmten Stadt tagen sollte, zunächst ab 1464 in Basel, dann in einer französischen, anschließend in einer italienischen Stadt usf. Weiter heißt es: „Auch soll die Bundesversammlung einen eigenen und besonderen Rat haben, nämlich einen vorsitzenden Vater . . . und uns übrige Könige und Fürsten der Christenheit als Glieder. Die Bundesversammlung soll ferner über uns alle und unsere Untertanen und über diejenigen, die noch um Aufnahme gebeten haben, die freiwillige Gerichtsbarkeit ausüben. . . . Schließlich soll die Bundesversammlung ein eigenes Wappen, ein Siegel, eine gemeinsame Bibliothek, ein öffentliches Archiv, einen Kanzler, einen Schatzmeister, Beamte und andere rechtliche Einrichtungen haben, die zu einer erlaubten und gerechten Gemeinschaft irgendwie gehören. . . Und damit das Recht einer jeden Provinz ungeschmälert gewahrt bleibt, beschließen wir, daß solche Männer in der Bundesversammlung an die Spitze der wichtigeren Ämter gestellt werden, die aus derjenigen Nation stammen, bei der die Bundesversammlung jeweils tagt, und die ihre Sitten und Gebräuche kennen und verstehen.“ (Foerster, 1963, 48) Ein Europa der Nationen, möchte man da einwerfen, und daß das gar nicht so unzutreffend ist, zeigt der Fortgang der Gedanken: „Ferner betonen und wollen wir, daß Wir, der König von Frankreich
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zusammen mit den übrigen Königen und Fürsten Galliens, eine Stimme, Wir aber, die Könige und Fürsten Deutschlands, eine zweite Stimme und Wir, der Doge von Venedig zusammen mit den Oberhäuptern der Städte Italiens, eine dritte Stimme in der Bundesversammlung haben und abgeben. Wenn aber der König Kastiliens oder die anderen Könige und Fürsten der spanischen Nation in diesen unseren Bund der Freundschaft und Brüderlichkeit eintreten sollten, dann werden sie billigerweise eine Stimme im Bund und in der Bundesversammlung haben. Wenn aber unter den Vertretern der Könige und Fürsten ein und derselben Nation entgegengesetzte Stimmen über einen Gegenstand abgegeben und beschlossen werden, dann soll das gelten, was von der Mehrheit bestimmt und beschlossen worden ist, wie wenn die Nation einstimmig geurteilt und beschlossen hätte.“ (Foerster, 1963, 48 f.) Der Bundesversammlung wird ein Schiedsgericht angeschlossen, der Bund hat vor allem die Aufgabe, friedliche Einigungen herbeizuführen und geregelte Sanktionen gegen eventuell kriegführende Parteien anzuwenden. Marini dachte nicht an die Überwindung von Grenzen, sondern an die Stabilisierung des Europas der Nationen unter Beseitigung des Einflusses der beiden Universalgewalten Papst und Kaiser. Das hätte nicht zuletzt Böhmen seine Eigenständigkeit bewahrt. Vielleicht sollte man in dem Bündnisplan eine versteckte Gleichgewichtsidee erkennen, da die Königreiche und Republiken jeweils eine Stimme besitzen. Zeitgemäßer wäre von der Idee der balancia zu reden, die im Italien dieser Zeit hoch gehandelt wurde, um die kriegerische Konkurrenz zwischen den italienischen Stadtrepubliken zu entschärfen. Hervorzuheben ist die Aufzählung der Institutionen, die nach Marini ein erlaubtes und gerechtes Gemeinwesen ausmachen. Sie entsprechen dem Ergebnis der in Kapitel 3 beschriebenen Institutionalisierungsprozesse in Frankreich selbst.
11.3 Das Habsburg-Syndrom (1515 – 1715) Sullys territoriale Neuordnung Europas Außenpolitisch war die Zeit von Franz I. bis zu Ludwig XIV. von dem Bemühen gekennzeichnet, das Haus Habsburg aus seiner europäischen Vormachtstellung herauszudrängen. Dies lief in drei Phasen ab, die jeweils durch innerfranzösische Wirren und Bürgerkriege unterbrochen wurden. Franz I. konkurrierte mit Karl V. zunächst und
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erfolglos um die Kaiserwürde im Reich, sodann um die Vormacht in Italien. Hier war er erfolgreicher, zumal Frankreich seit Ludwig XI. dort gut etabliert war. Die Hugenottenkriege warfen Frankreich auf sich selbst zurück. Die Bemühungen um einen weitreichenden Schulterschluß zwischen Hugenotten und protestantischen Reichsständen blieben im Ansatz stecken. Unter Heinrich IV. wurden die ersten Pfähle für die Strategien des 17. Jh. eingeschlagen. Frankreich sollte ein strukturelles Übergewicht erhalten, damit ohne und gegen Frankreich nichts geschehen könne. Heinrich starb zu früh, um selbst diese Strategie in die Tat umzusetzen, es war vielmehr Richelieu, der bei gleicher Zielsetzung Frankreich in den Dreißigjährigen Krieg – Phase zwei der frühneuzeitlichen französischen Europapolitik – führte. Das Bindeglied zwischen Heinrich IV. und Richelieu bzw. Ludwig XIII. findet sich in der Gestalt des Herzogs von Sully und seinem sogenannten Großen Plan. Sully (1560 bis 1641) war einer der treuesten Weggefährten und Minister (Oberintendant der Finanzen) König Heinrichs IV. gewesen und hatte diesen um mehr als drei Jahrzehnte überlebt. Enthalten ist der Plan in den Memoiren Sullys, er dürfte um 1632/36 in der Richelieu-Zeit niedergeschrieben worden sein. Man darf sich unter der Bezeichnung „Plan“ keinen zusammenhängenden Text vorstellen, vielmehr handelte es sich um eine Reihe von Textstücken, die erst im Laufe der Rezeptionsgeschichte der Sully’schen Memoiren zu einem Block zusammengefaßt wurden. Großen Einfluß übte die Bearbeitung von 1745 durch den Abbé de l’Écluse aus, der diesen Text für die Gedankenwelt seines Jahrhunderts zurichtete. Was sah dieser Plan vor, den Sully Heinrich in den Mund legte? Im Kern eine Neubestimmung der Staatsgrenzen in Europa, eine ziemlich kühne Vorstellung, die vor allem auf die Zerschlagung der europäischen Habsburgerbesitzungen zielte. „Man wird, hoffe ich, nunmehr deutlich sehen, welches der Zweck dieses neuen Staatensystems war: nämlich ganz Europa in gleichem Verhältnis unter eine gewisse Anzahl von Mächten zu teilen, welche einander weder wegen ihrer Ungleichheit beneiden, noch in Absicht auf das zwischen ihnen nötige Gleichgewicht fürchten müßten. Ihre Zahl war auf 15 gesetzt, und sie waren in drei Klassen geteilt, nämlich in sechs große monarchische Erbreiche, fünf monarchische Wahlreiche und vier unabhängige Republiken. Die sechs Erbmonarchien waren Frankreich, Spanien, England oder Großbritannien, Dänemark, Schweden und die Lombardei; die fünf Wahlreiche: das Kaiser-
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tum, die päpstliche Würde oder das Pontifikat, Polen, Ungarn und Böhmen und die vier Republiken: die venezianische ( . . . ), die italienische (. . .) die schweizerische (. . .) und die belgische oder Provinzialrepublik.“ Sully sah dabei eine Ratsversammlung vor: „Diese sollte gleichsam alle europäischen Staaten vorstellen, und die Errichtung derselben war unstreitig der glücklichste Einfall, den man haben konnte, um die Änderung zu verhüten, welche die Zeit oft in den weisesten und nützlichsten Einrichtungen hervorbringt. Die Ratsversammlung sollte aus einer gewissen Anzahl von Kommissarien, Ministern und Bevollmächtigten aller Staaten der christlichen Republik bestehen, welche in Form eines Senats beständig versammelt wären, um sich über die vorkommenden Geschäfte zu beratschlagen, die streitigen Interessen zu einigen, die Zwistigkeiten beizulegen, alle bürgerlichen, politischen und kirchlichen Angelegenheiten der europäischen Staaten, die sowohl unter ihnen als mit Fremden vorkommen würden, aufzuheitern und in Ordnung zu bringen. Die äußerliche Einrichtung und die Prozeduren dieses Senats wären dann in der Folge durch Mehrheit der Stimmen von ihm selbst näher bestimmt worden. [. . .] Meines Erachtens wäre es nicht undienlich gewesen, neben diesem allgemeinen Senat eine gewisse Anzahl von geringeren Ratsversammlungen zur Bequemlichkeit einzelner Teile von Europa einzusetzen. Wenn man die Zahl derselben auf sechs bestimmt hätte, so hätte man sie z. B. nach Danzig, Nürnberg, Wien, Bologna und Konstanz legen und für Frankreich, Spanien, England und die belgische Republik, für welche der sechste Spezialrat besonders bestimmt war, denjenigen Ort ernennen müssen, der für diese Länder der schicklichste wäre. Wie aber auch die Zahl und die Form dieser geringeren Ratsversammlungen sein möchte, so war doch dies ein unumgänglich notwendiger Punkt, daß von ihren Entscheidungen an den allgemeinen Staatsrat appelliert werden könnte, dessen Aussprüche für unwiderrufliche und unveränderliche Gesetze sollten gehalten werden, weil sie von der vereinigten Obermacht aller Staaten herrührten, deren Befehle ganz zwanglos und unabhängig gewesen wären.“ (Foerster, 1963, 70 ff.) Auch dieser Plan war eindeutig zugunsten Frankreichs interessengeleitet, ragte aber wegen seiner weitreichenden Vorschläge hinsichtlich der europäischen Staatenkarte über alles bis dahin Gedachte hinaus. Das mag erklären, warum bis in die jüngste Zeit der Plan Sullys weithin bekannt geworden ist und als Vorreiter einer europäischen Verfassung gelten konnte.
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Der Plan fand schon im 17. Jh. ein gewisses Echo, zumal ein anderer Weggefährte Heinrichs IV., Agrippa d’Aubigné (1552 bis 1630), in seiner Universalgeschichte von 1620 angedeutet hatte, daß Heinrich nach der europäischen Universalherrschaft strebe, wobei er sich der Unterstützung der europäischen Nationen sicher sein könne. Daraus entstand eine gewisse Kontroverse, in die die Berater Heinrichs wie Sully hineingezogen wurden. Die Entwicklung jenes Plans durch Sully in seinen Memoiren, die als Patchwork zu bezeichnen sind, diente sicherlich der Reinwaschung des wichtigsten Ratgebers, eben Sully selbst, und der Glorifizierung Heinrichs, deren Erfolg bis heute andauert. Eine Neuordnung Europas, wie sie Sully skizzierte, mochte unter den Bedingungen des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr völlig utopisch erscheinen, z.Zt. Heinrichs IV. selbst wäre sie es gewesen. Davon abgesehen atmet Sullys Gedankenfolge durchaus den Esprit und die Ambitionen Frankreichs auf Europa unter Heinrich IV.1 Der Erfolg des Plans profitierte von der Debatte um den ewigen Frieden, die der Abbé de Saint-Pierre mit einer entsprechenden Schrift entfacht hatte. Noch Kants Schrift über den ewigen Frieden von 1795 reihte sich in diese Debatte ein, die ihrerseits, dank der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege publizistisch fruchtbar war.
„Wir müssen uns sehr darüber freuen, daß ganz Europa heute eines Franzosen bedarf.“ Sully war nicht der einzige Franzose im 17. Jh. gewesen, der über Europa nachgedacht hatte. Seine Leitgedanken über die französische Führungsrolle sind Kinder ihrer Zeit. Seit dem frühen 17. Jh. wurde französischerseits die monarchie absolue als für Europa vorbildlich verstanden; den Kampf gegen die vermeintliche habsburgisch-spanische Universalherrschaft führte Frankreich in der Selbstinterpretation nicht nur für sich, sondern für ganz Europa. Man muß sich nicht wundern, wenn Richelieu und Ludwig XIII. öffentlich als „libérateurs de l’Europe“ bezeichnet wurden, freilich in Frankreich. Dasselbe Ar-
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Neue Erkenntnisse zur Außenpolitik Heinrichs IV. erbringt die Dissertation (Bochum 1998) von: Beiderbeck, Friedrich: Heinrich IV. von Frankreich und die protestantischen Reichsstände. Genese und Funktion eines Bündnisses zwischen Reichskrise und europäischem Hegemoniekampf (im Druck, erscheint in der Reihe „Innovationen“, Berlin 2000).
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gument bemühten im übrigen etwas später die Engländer für sich, um die Herrschaft Ludwigs XIV., dem ja auch vorgeworfen wurde, die europäische Universalherrschaft anzustreben, zu kritisieren; England verteidige, so hieß es, die Freiheit Europas. Das sind typische Beispiele für ein Europaverständnis, hinter dem sich genuin nationale Interessen abzeichnen. Jean-Louis Guez de Balzac (1597 bis 1654), der mit seinen Lettres (1624 bis 1636) die Nachfolge von Montaignes Essays antrat, urteilte auf Richelieu gerichtet: „Wir müssen uns sehr darüber freuen, daß ganz Europa heute eines Franzosen bedarf.“ Durch den Westfälischen Frieden gab es erstmals so etwas wie eine politische europäische Ordnung, die durch einen Vertrag abgesichert war. Frankreich wurde eine der Garantiemächte. In den folgenden Jahrzehnten bis zum Frieden von Utrecht 1713, eine Zeit, die an Kriegen wahrlich nicht arm war, wurde das politische System weiter ausgebaut hin zu einem dem Anspruch nach Gleichgewichtssystem der Mächte. In Wirklichkeit gab es kein Gleichgewicht; ständig gab es überall kriegerische Versuche, ein machtvolles Übergewicht in Europa zu erreichen. Was Frankreich angeht, so ist seit dem 16. Jh. belegt, daß das Ziel, Frankreich zu ersten Macht in Europa auszubauen, offen formuliert wurde. Besonders ungeniert äußerte sich darüber Richelieu im 17. Jh., er verband dies mit dem Gedanken, daß die französische Monarchie Schutzmacht der Christenheit sein solle und müsse. Christenheit versteht sich hier im Grunde als Synonym von Europa. Wir haben gesehen, wie wichtig im 19. Jh., vornehmlich im Second Empire, das Christenheits-Argument war, nunmehr bezogen auf die Kolonialpolitik im Mittelmeer- und Levanteraum. Es war dieses Argument, das die Kolonialpolitik der lange widerstrebenden Bevölkerung näher brachte. Und eine weitere Kontinuität läßt sich beobachten, nämlich im Bereich der Kultur als Mittel der Machterweiterung. Schon Ludwig XIV. hatte dieses Mittel mit Bravour genutzt, Napoleon III. knüpfte daran ebenfalls mit Geschick an. Die Konsequenz, mit der sich die unterschiedlichsten politischen Regime in Frankreich, auch die revolutionären Regierungen und Napoleon, das Argument des Zivilisations- und Kulturbotens zu eigen machten, birgt einen Teil des Wirkungsgeheimnisses dieses Arguments. Beständigkeit fällt desweiteren auf, insoweit es um die Rolle eines europäischen politischen Schiedsrichters geht, eines Arbiter – eine Rolle, die sowohl Ludwig XIV. auszufüllen strebte wie Napoleon III., und die lediglich Napoleon I. faktisch für einige Jahre innehatte. Das Jahr des Westfälischen Friedens war für Frankreich zugleich
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das erste Jahr der Fronde, die sich phasenweise zum innerfranzösischen Krieg ausweitete (s. Kap. 5.4). Ludwig XIV. verleugnete keine der seit dem Mittelalter errichteten außenpolitischen Säulen; er fügte als speziellen Schwerpunkt die Kriege gegen die spanischen Niederlande hinzu – Phase drei der auf die Gegnerschaft zu Habsburg ausgerichteten Europapolitik. Mehr als an der Institutionalisierung des Gleichgewichtsprinzip durch den Vertrag von Utrecht mitzuwirken, erreichte er auf europäischer Ebene allerdings nicht. Dessen ungeachtet war Frankreich die überlegene Kontinentalmacht mit einem arrondierten und geschlossenen Staatsgebiet geworden, der Prototyp der nationalstaatlichen Monarchie. Im 18. Jh. wurde die Politik der Arrondierung auf dem Verwaltungswege fortgesetzt. Enklaven wurden möglichst gegen Exklaven getauscht, um so allmählich von einem heterogenen Grenzraum zu einer klaren Grenzlinie zu gelangen. In der politischen Theorie des 18. Jh. geisterte das Habsburg-Syndrom weiter herum, in der praktischen Politik kam es jedoch zu einer Allianz mit dem Haus Österreich, die in ihrer Bedeutung die Heiratspolitik, die Bourbonen und spanische Habsburger längst zusammengeführt hatte, überragte.
Frieden, der Vater aller Dinge – Abbé de Saint-Pierre und Rousseau Ludwig XIV. war noch nicht tot, als der Abbé Saint-Pierre, den wir aufgrund seiner politischen Theorie der Polysynodie bereits kennengelernt haben, den Gedanken des Ewigen Friedens lancierte. Erstmals 1712, dann 1713 – im Jahr des Friedens von Utrecht – in überarbeiteter Fassung, veröffentlichte er eine Schrift unter dem Titel „Projet pour rendre la Paix perpétuelle en Europe“. Bis zu seinem Lebensende 1743 kam er selbst immer wieder auf diese Schrift zurück und überarbeitete sie. Berühmtheit hat sie vor allem in der Bearbeitung durch Jean-Jacques Rousseau erhalten. Saint-Pierre griff zugleich den Plan Sullys bzw. Heinrichs IV., wie damals noch geglaubt wurde, wieder auf und verhalf damit auch diesem Plan zu einem größeren Bekanntheitsgrad, der bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anhielt. Saint-Pierre wünschte eine Befriedung Europas aufgrund des Stands der Dinge um 1713. Das wollte der Frieden von Utrecht auch, dem das Prinzip der balance of power zugrundegelegt wurde. SaintPierre ging es nicht nur um humanitäre Gründe, vielmehr sah er im ewigen Frieden die notwendige Vorausbedingung für zivilisatori-
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schen Fortschritt; für ihn war der Krieg eben nicht der Vater aller Dinge, diese Rolle wies er dem Frieden zu, eine Erkenntnis, die sein Bearbeiter Rousseau für selbstverständlich annahm, die aber bis heute, wie wir alle wissen, noch längst nicht zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Auf lange Sicht hätte Saint-Pierres Friedensidee zu einer Integration Europas durch Frieden geführt. Möglicherweise haben wir heute die Chance dazu, davor aber steht eine Unzahl von Kriegen, angefangen mit den Kriegen der Französischen Revolution, die unter Napoleon zu einem französischen Europa von freilich geringer Dauer führten.
11.4 Vom Renversement des alliances zum Syndrom eines österreichischen Komplotts (1756 – 1792) Die Schlüsselstellung, die unter Ludwig XIV. erworben worden war, blieb dem Frankreich bis zum Österreichischen Erbfolgekrieg erhalten. Im Frieden von Aachen 1748 verzichtete Ludwig XV. auf alle Eroberungen – was ihm allerdings nicht das Ansehen eines europäischen Schiedsrichters und Friedensstifters einbrachte, sondern einen großen Ansehensverlust und den Spott der Pariser Fischweiber. Die Zeiten hatten sich geändert, es bedurfte neuer außenpolitischer Leitsätze. Der Zwang zu einer national orientierten Außenpolitik mit all ihren Rücksichtslosigkeiten und Kleinkarriertheiten wurde größer. Die neuen Leitsätze wurden anfangs in der Annäherung an Österreich gefunden, die unter dem Namen Renversement des alliances bekannt ist (u. a. Versailler Vertrag vom 1. Mai 1756). Diese Annäherung war in Frankreich sehr umstritten, da sie vielen als Ausdruck von Schwäche galt. Der Marquis d’Argenson (1757 gest.), kurze Zeit französischer Außenminister (18. November 1744 bis 10. Januar 1747), schrieb gegen die neue Konstellation an. Er hatte keine neuen Argumente vorzuweisen, denn prägnant hatte er seine Thesen 1737 – ein Jahr vor dem Wiener Frieden von 1738, der den noch nicht-König Friedrich (II.) von Preußen bewog, Frankreich als Schiedsrichter Europas anzuerkennen – in einem „Essay über die Einsetzung des europäischen Gerichtshofes für die allgemeine Befriedung allein durch Frankreich“ zusammengefaßt. Er huldigte dem Ideal eines uneigennützigen Frankreichs, selbstgenügsamer Schiedsrichter Europas, eines Frankreichs, das in Europa alles erreicht habe, was es vernünftigerweise erreichen durfte.
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Angesichts des Aufstiegs Preußens und Rußlands sowie Frankreichs kolonialem Niedergang gegenüber England insbesondere im Siebenjährigen Krieg 1756 bis 1763 waren die gestalterischen Möglichkeiten freilich sehr eingeschränkt. Die Revolution durchschlug gleichsam den entstandenen außenpolitischen Knoten mit dem Schwert, aber im 19. Jh. stellte sich die problematische Konstellation der zweiten Hälfte des 18. Jh. im Kern wieder her. Die Annäherung an Österreich führte im übrigen im Zusammenhang mit den Hetzkampagnen gegen die Königin Marie-Antoinette aus dem Haus Österreich zur fixen Idee, daß es am Hofe ein österreichisches Komplott gebe, das Österreich die Vorherrschaft sichern solle (Michael Hochedlinger). Die zum Syndrom werdende fixe Idee zeitigte zusammen mit anderen Faktoren ihre Wirkung bei der Kriegserklärung an den „König von Böhmen und Ungarn“, also den Kaiser.
11.5 Europäische Integration revolutionär und napoleonisch „Einzelne Imaginationen eines europäischen Bundes der befreiten Völker“ Kaum eine Epoche ist so sehr als „europäisch“ zu bezeichnen wie die der Französischen Revolution und Napoleons, und dennoch gab es kaum eine Epoche mit so defizitären Europakonzepten. In den ersten zehn Jahren der Revolution entstand kein europapolitischer Plan. Es gab ein Sendungsbewußtsein, das sich allerdings nicht speziell an Europa richtete, sondern ggf. an die ganze Welt. Dennoch hat auch dieses Jahrzehnt eine Menge zur Integration Europas beigetragen. Es geht dabei vor allem um die europaweite Diskussion um Bürger- und Menschenrechte, um Freiheit, um Verfassung, um Gewaltenteilung, um das Ende sog. Tyranneien etc. Die Französische Revolution bedeutete eine Phase der europäischen Verdichtung des politischen Denkens, der Angleichung der Überzeugungen, der Universalisierung bestimmter Symbole wie des Freiheitsbaumes. Die Französische Revolution stärkte überall das politische Prinzip der Volkssouveränität als Kernstück der neuen politischen Philosophie. Klar ist, daß es hier mehr um eine Integration des Denkens denn der politischen Praxis ging. Die Zeit kannte nur „einzelne Imaginationen eines europäischen Bundes der befreiten Völker. Daneben erwogen vorsichtigere Denker das Provisorium einer Union der aufgeklärtesten Staaten, z. B. Frankreichs mit Preußen, zum Zweck einer vorbildlicherzieherischen Wirkung auf das übrige Europa. Schließlich gab es
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noch ein Geleise revolutionärer Neuordnung Europas, auf dem man unter dem Motto der ,natürlichen Grenzen’ vorwärts zu kommen hoffte. Obwohl eine derartige geographische Reform ausschließlich Frankreich zugute gekommen wäre, gab es nicht wenige deutsche Stimmen, die sich als solchen Projekten geneigt kund gaben. Aber man wünschte von nichtfranzösischer Seite auf jeden Fall freie, brüderliche Vereinbarung in europäischen Fragen und unterdessen hatte die immer und überall unvermeidbare Koppelung der Ideen mit Macht- und Interessenpolitik schon andere Wege einschlagen lassen: Die gloire des eigenen Staatswesens stellte man über die Wohlfahrt Europas und Frankreich schickte sich an, auf der Linie revolutionärer Ausbreitung zur europäischen Universalherrschaft vorzurücken.“ (Gollwitzer, 1964, S. 121 f.)
Napoleon I. Napoleon besaß kein fertiges Europakonzept, überhaupt war er kein politischer Philosoph, sondern ein Machtmensch, der seine Macht ausdehnte, solange er auf dem Schlachtfeld Sieger blieb. Später, in der Verbannung auf St. Helena, bemühte er sich im Nachhinein, seinen Taten den Anstrich der europapolitischen Planhaftigkeit zu geben. Was tat er wirklich? Auf dem Höhepunkt seiner Macht annektierte er große Gebiete und dehnte Frankreich auf 750.000 qkm aus, aufgeteilt in 130 Départements. Die Zeit war zu kurz, um das DépartementSystem eines zentralistischen Staates auch außerhalb Kernfrankreichs nachhaltig zu implantieren, andererseits wirkte das Verwaltungs- und Rechtssystem mit dem Code civil impulsgebend auf viele Staaten der Zeit, insbesondere die Rheinbundstaaten, Italien und die Niederlande. Napoleon stärkte nicht den Gedanken der Volkssouveränität, vielmehr stärkte er die Fürsten. Unerwünschter Effekt dieser unrevolutionären Haltung Napoleons war die Belebung des Nationalgedankens überall in Europa. Nation implizierte zu dieser Zeit in der Regel politische Rechte des Volks, doch schlug unter dem Eindruck der Kriege und der Fremdherrschaft die Bedeutung in die des Nationalstaats um, der sich negativ aus der Abwesenheit von Fremdherrschaft definierte. Fremde Herrschaft wiederum war eine Herrschaft, die nicht aus der Nation erwuchs. Das bedeutete das Ende des Prinzips der dynastisch legitimierten Herrschaft, die nur nachrangig nach nationaler Zugehörigkeit gefragt hat. Freilich wissen wir um das Prinzip der Legitimität, das mit dem Wiener Kongreß zu praktischer Macht kam, aber dessen Tage gezählt waren. Die Zeit nach 1815
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wurde die Zeit der Restauration, und zwar überall in Europa. Europa erhielt ein neoabsolutistisches Antlitz und wurde sich darin strukturell vielleicht ähnlicher als je zuvor. Der Höhepunkt dieser z. T. ungewollten Integration Europas dürfte die Revolution von 1848 sein, die als Revolution viel europäischer ablief als jene von 1789.
11.6 Förderung des Nationsprinzips versus „Vereinigte Staaten von Europa“ (1815 – 1918) Der Graf von Saint-Simon und der „karolingische Geist“ Während bis an die Schwelle des 19. Jh. die praktische französische Außenpolitik in Europa die französische europapolitische Philosophie beeinflußte, trennten sich die Wege im 19. Jh. zusehends. Neben der Priorität, die das Verhältnis zu Deutschland genoß (s. Kapitel 12), förderte Frankreich die Entstehung von Nationalstaaten, insbesondere des italienischen Nationalstaats. Dies stand im Einklang mit der eigenen Geschichte, aber niemand war so blind, um zu übersehen, daß die werdenden Nationalstaaten dem Ideal der brüderlichen Nationen, das Mazzini europaweit zu institutionalisieren hoffte, kaum entsprachen. Das 19. Jh. war reich an Europaplänen, die ein intellektuelles Korrektiv zum Weg in den Nationalismus bedeuteten, die aber den Gang der Geschichte nicht wendeten. Zu den kühnsten Denkern zählte Saint-Simon, dessen postume Wirkung dann aber nicht Europa, sondern dem französischen Kolonialismus und der Debatte um die soziale Frage zugute kam. Der Graf von Saint-Simon (1760 bis 1825), entfernter Nachfahre des Herzogs von Saint-Simon, hatte etwas von einem Bohemien und Glücksritter der Revolution, aber sein Leben war genauso durch depressive Phasen der Armut gekennzeichnet. Ein Selbstmordversuch 1823 scheiterte. Dessen ungeachtet war er ein reger politischer Denker, einer der Frühsozialisten. Es fehlte ihm nicht an der Überzeugung, ein politischer Messias zu sein. Aufgrund einer Namensverwechslung – Saint-Simon ließ den Adelstitel weg und verzichtete auch auf das „Saint“ in seinem Namen, so daß er einfach Simon hieß, ein wahrlich häufiger französischer Name – war er während der Terreur ins Gefängnis geraten. Dort erschien ihm der „karolingische Geist“, der ihm eine große Zukunft als Philosophen, Soldaten und Staatsmann voraussagte. Daran hielt er sich für sein weiteres Leben. Neben Versuchen über das „Neue Christentum“, Tribut an seine geistige Umwelt,
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befaßte er sich auch mit der „Reorganisation der europäischen Gemeinschaft oder der Notwenigkeit und dem Sinn einer Vereinigung der Völker Europas in einer politischen Verfassung unter Beibehaltung ihrer nationalen Unabhängigkeit“ (1814). Ihm zur Seite bei diesem Werk stand der als Historiker berühmt gewordene Augustin Thierry (1795 bis 1856). Saint-Simon favorisierte ein aus einer englisch-französischen Union bestehendes Kerneuropa, dem sich weitere Staaten anschließen konnten und sollten. Er dachte liberal, d. h. er verpaßte seiner europäischen Verfassung einen guten Schuß Zensusdemokratie.
Victor Hugo und die Vereinigten Staaten von Europa Saint-Simons Reorganisation wurde im 19. Jh. vielfach rezipiert, seine Anhänger im Geiste setzten sich z. B. in den 1850er Jahren für eine Europäische Verfassunggebende Versammlung ein. In den 1920ern erfuhr der Graf eine Art Renaissance, seine Schrift wurde 1925 neu aufgelegt. Saint-Simon ist mit der Bewegung zugunsten der Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ in Verbindung zu bringen, die vor allem im Zuge der 1848er Revolution lautstark an die Öffentlichkeit trat. Bevor der französische Dichter Victor Hugo auf dem Pariser Pazifistenkongreß von 1849 „Vereinigte Staaten von Europa“ propagierte, engagierte sich schon die deutsche Linke im Vormärz in diesem Sinne. Auf dem Hambacher Fest brachte der Publizist Wirth (1798 bis 1848) ein dreifaches Hoch auf das „konföderierte republikanische Europa“ aus, der Student Brüggemann schwärmte von den „Freistaaten Europas“. Victor Hugo hielt auf dem bewußten Kongreß eine bewegende Rede, die viel Utopisches enthielt, aber ganz dem Geist von 1848 entsprach, jener Revolution, die noch viel mehr als die von 1789 die Bezeichnung ,europäische Revolution’ verdient. Wortgewaltig resümierte Victor Hugo 1849 gewissermaßen alles, was hinsichtlich Europa in dem halben Jahrhundert zuvor in den unterschiedlichsten Ecken Europas angedacht worden war: „Der Tag wird kommen, an dem ein Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin genauso absurd und unmöglich erscheinen wird, wie heute bereits ein Krieg zwischen Rouen und Amiens . . . absurd und unmöglich ist. Der Tag wird kommen, an dem ihr Franzosen, ihr Russen, ihr Italiener, ihr Engländer, ihr Deutschen, ihr Nationen des Kontinents euch zu einer höheren Einheit innig verschmelzen werdet, ohne eure besondere Eigenart und ruhmvolle Individualität aufgeben zu müssen. . . Der
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Tag wird kommen, an dem die Kugeln und Bomben ersetzt werden von den Abstimmungen der Völker, von dem allgemeinen Wahlrecht, von dem ehrwürdigen Schiedsgericht eines großen, souveränen Senats, der für Europa das sein wird, was heute das Parlament für England, die [Frankfurter] Nationalversammlung für Deutschland und die gesetzgebende [National-]Versammlung für Frankreich ist! (Beifall) [. . .] Der Tag wird kommen, an dem die beiden großen Ländergruppen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa (Beifall) sich von Angesicht zu Angesicht die Hände über die Meere reichen werden, . . . die Schöpfung unter der Aufsicht des Schöpfers veredelnd, um aus der Kombination dieser beiden unendlichen Kräfte – der Brüderlichkeit der Menschen und der Allmacht Gottes – das Wohlergehen für alle zu erzielen! (Langanhaltender Beifall). [. . .] Das Ziel der großen Politik, der wahren Politik, wird künftig sein: alle Nationalitäten anzuerkennen, die historische Einheit der Völker wiederherzustellen und diese Einheit durch den Frieden mit der Zivilisation zu verbinden. . . Das Recht muß das letzte Wort erhalten, das in der alten Welt von der Gewalt gesprochen wurde. (Große Bewegung im Saal.)“ (zit. nach Schulze/Paul, 1994, 356 f.) Victor Hugo blieb der Idee der Vereinigten Staaten von Europa treu, propagierte sie erneut anläßlich der Pariser Weltausstellung von 1867 in einem „Führer durch Paris“, zu diesem Zeitpunkt im Exil. Diejenigen, die wie Hugo im 19. Jh. die Europaidee vorantrieben, waren bzw. wurden zum größeren Teil verfolgte Außenseiter, führten ein bewegtes Leben, fernab vom Biedermeier oder gediegenem Second Empire. Sie machten jedoch „Europa“ zu einer demokratischen Idee, die zugleich dem Brüderlichkeitsgedanken der Französischen Revolution verpflichtet wurde. Hugo versuchte, National- und Europabewußtsein miteinander zu vereinbaren. Dies Ansinnen erscheint womöglich als Widerspruch in sich, war es damals aber nicht, weil der Nationsbegriff vom Prinzip der Volkssouveränität und der Demokratie hergeleitet wurde. Es war nicht allzu schwierig, sich neben den demokratischen Ebenen der Kommune, der Region und der Nation auch die Ebene Europas zu denken, streng nach dem Prinzip, daß jede Ebene die ihr eigentümlichen Belange zu regeln habe. Der Blick auf Amerika, die Entwicklung von Wirtschaft, Handel und Kapitaltransfer schärfte das Verständnis für die gegenseitige Abhängigkeit zusätzlich zur politischen Abhängigkeit, die seit den Tagen der jüngeren Gleichgewichtsdoktrin des 17./18. Jh. für jedermann sichtbar
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war. Französischerseits formulierte Ernest Renan das Problem so, daß das Prinzip der Föderation das Prinzip der Nation korrigiere. 1882, nach einer schriftlich geführten Debatte mit dem deutschen Historiker Theodor Mommsen, vermutete er, daß die europäische Konföderation die Nationen ablösen werde. Victor Hugo wurde hier stellvertretend für viele andere wie Pierre Joseph Proudhon (1809 bis 1865) oder Charles Lemonnier (1806 bis 1891) zitiert, die alle in den 1860er und 1870er Jahren für ein vereinigtes Europa schrieben. Im Gegensatz zur Frühen Neuzeit waren die republikanische Verfassung und Frieden die allgemeinen Leitideen, auf denen die Vorstellung von einem integrierten Europa aufruhte. Gemessen an der tatsächlichen Entwicklung Europas, die in den ersten Weltkrieg mündete, waren diese Leute Utopisten. Sie waren genauso Utopisten wie manche Aufklärer, die meinten, es würde alles gut, wenn nur die Philosophen Könige würden oder wenigstens die Könige Philosophen. Victor Hugo war der französische Dichterkönig, aber er war kein König auf dem politischen Thron, sondern wurde von Napoleon III. ins Exil geschickt. Und mit ihm die Idee, Vereinigte Staaten von Europa unter tätiger Mithilfe Frankreichs zu schaffen.
Pazifismus und Schriftsteller Die „Internationale Liga für Frieden und Freiheit“ griff auf ihrem 2. Kongreß 1868 die Idee von den Vereinigten Staaten von Europa auf. Im Programm des „Zentralcomités“ der Liga hieß es u. a., „daß den Vereinigten Staaten von Europa eine Organisation zu Grunde gelegt werden muß, welche auf volksthümlichen und demokratischen Institutionen beruht und zu ihrer Grundlage die Gleichheit der Rechte des Individuums sowie die Autonomie der Gemeinden und Provinzen in Beziehung auf Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten hat . . .“ Charles Lemonnier begründete diese Forderung noch ausführlicher, der die intensive Beschäftigung mit der sozialen Frage, die überall in Europa auf der Tagesordnung stand, anzumerken ist: „Die europäische Föderation muß jedem der Völker, die ihr angehören, garantiren: a) die Souveränität und Autonomie, b) die individuelle Freiheit, c) die Freiheit der Abstimmung, d) Preßfreiheit, e) Vereinsund Versammlungsfreiheit, f) Gewissensfreiheit, g) die Freiheit der Arbeit ohne Ausbeutung der Arbeiter, h) die wirkliche persönliche Verantwortlichkeit aller Beamten der Executive. Kein Volk kann in die europäische Conföderation eintreten, wenn es nicht schon voll
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ausübt: das allgemeine Stimmrecht, das Recht, die Steuern zu bewilligen und zu verweigern, das Recht Frieden zu schließen und Krieg zu erklären, das Recht, politische Bündnisse und Handelsverträge zu schließen und zu ratificiren, das Recht, seine Verfassung selbst zu vervollkommnen.“ (zit. nach Schulze/Paul, 1994, 358 f.) Die letzten Jahre des 19. Jh. und die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg ließen auch in Frankreich die Idee der Vereinigten Staaten von Europa in den Hintergrund treten. Ihre Heimat wurde die internationale (europäische) Friedensbewegung, der jedoch der Weg zu nachhaltigem Einfluß auf die nationalen Regierungen versperrt blieb. Die Schriftsteller, die sich mit der Zukunft Europas befaßten, wurden wenig gehört. Georges Sorel (1847 bis 1922) thematisierte wiederholt die Gewaltbereitschaft der Europäer: „Wenn man die Vereinigten Staaten von Europa erwähnt, sehe ich sofort Krieg vor mir. Die Völker Europas können sich nur in einem einzigen Gedanken vereinen: sich gegenseitig den Krieg zu machen.“ (Oktober 1908; zit. nach Rougemont, 1964, 299) Jules Romains (1885 bis 1972) und Romain Rolland (1866 bis 1944) schrieben im Weltkrieg gegen die Selbstzerstörung Europas an. Der Eintritt der USA in die europäische Geschichte und die Völkerbundidee wendeten das Blatt: „Einer der ersten, die sich eingehend mit der gänzlich neuen wirtschaftlichen Lage Europas befaßten, war der Professor für Geographie an der Sorbonne, Albert Demangeon. In seinem 1920 erschienen Buch «Der Niedergang Europas» schrieb er, künftig werde die Wirtschaft das Weltgeschehen bestimmen. Wie schon der Titel des Buches sagt, legte er besonderen Nachdruck darauf, daß Europa seine frühere Weltstellung verloren hatte. Er sprach von einer «Enteuropäisierung» der Welt, die durch den Krieg, aber auch durch die allgemeine industrielle Entwicklung herbeigeführt wurde, die keine Monopolstellung Europas mehr zulasse. In mancher Hinsicht wirke Europa bereits wie eine Kolonie Amerikas, aber auch von Asien träten Herausforderungen nicht nur an die Kolonialmächte, sondern an ganz Europa heran, das deshalb gemeinsame Anstrengungen unternehmen müsse, um sich zu behaupten.“ (Foerster, 1967, S. 296 f.)
11.7 Zwischenkriegszeit: die Briand-Initiative Die Pariser Friedenskonferenz von 1919 bestätigte prinzipiell den Verlust der Gemeinsamkeiten. Als Institution und mit Blick auf die sehr begrenzte Zahl der Beitrittsländer war der Völkerbund ein Torso
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und wenig geeignet, das Ideal, das zu seiner Gründung geführt hatte, in die Wirklichkeit umzusetzen. Die Konstruktionsfehler, die Versailler Vertrag und Völkerbund besaßen, blieben freilich nicht unerkannt, allmählich setzte sich in der praktischen Politik eine bessere Einsicht durch, die mit den Konferenzen von Genua und Locarno sowie der Europainitiative Aristide Briands ihrem Höhepunkt zustrebte, dann aber von neuerlichem Nationalismus, von Faschismus und Nationalsozialismus zunichte gemacht wurde. Es darf nicht vergessen werden, daß z.Zt. der Briand-Initiative einerseits schon Mussolini in Italien an der Macht war, seine Gefängnisse mit politischen Gefangenen füllte und nach Frankreich und anderswohin emigrierte italienische Politiker ermorden ließ, während andererseits im Deutschland der Weimarer Republik sich Stresemann dem Europagedanken gegenüber aufgeschlossen zeigte und Briand eine gewisse Partnerschaft bewies. Weder Briand noch Stresemann dürfen idealisiert werden, aus dem Denkschema „Vorrang der nationalen Interessen“ konnten sie sich nicht wirklich lösen, Stresemann und das Auswärtige Amt noch weniger als Briand, der gegen eine heftige innerfranzösische Opposition zu kämpfen hatte. Die Zwischenkriegszeit führte wenigstens vorübergehend Europadiskurs und europäische Außenpolitik zusammen. Der französische Ministerpräsident Edouard Herriot sprach sich 1924 auf einem Kongreß in Lyon zur Förderung der internationalen Handelsbeziehungen für eine europäische Wirtschaftsintegration aus. Im Januar 1925 schätzte er den Völkerbund als eine Möglichkeit ein, aus dem heraus die Vereinigten Staaten von Europa entstehen könnten. Herriots Rede in Lyon führte zur Schaffung eines „Koordinationskomitees für eine europäische Zollunion“ mit dem Ziel eines gemeinsamen europäischen Marktes. Herriot engagierte sich im übrigen nach dem Zweiten Weltkrieg erneut für die Europäische Gemeinschaft. Kern der Europa-Frage der Nachkriegszeit war im Grunde das deutsch-französische Verhältnis. Briand (1862 bis 1932) und Stresemann hatten für ihre Verständigungspolitik 1926 den Friedensnobelpreis erhalten. Hierauf konnte die Briand-Initiative aufbauen. Als Ministerpräsident sprach Briand am 5. September 1929 vor dem Völkerbund in Genf. Er warb für mehr europäische Gemeinsamkeit auf wirtschaftlichem, politischem und sozialem Feld. Noch sehr unbestimmt forderte er föderative Strukturen und gemeinsame Beschlüsse, betonte aber, daß die Souveränität der Nationen nicht angetastet werden solle. Hierzu ist ergänzend daran zu erinnern, daß das
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Prinzip „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ gerade erst mit der Neuordnung Europas nach dem Krieg praktische Geltung erlangt hatte und seine allzu deutliche Infragestellung die allgemeine Skepsis noch erhöht hätte. Der tschechoslowakische Außenminister Eduard Bene s˘ unterstützte Briand als Repräsentant eines Landes, das dem Prinzip „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ seine Existenz verdankte. Stresemann antwortete auf Briand am 9. September 1929 vor dem Völkerbund: „Die neuen Staaten, die der Versailler Vertrag geschaffen hat, sind nicht in das Wirtschaftssystem Europas einbezogen worden. Man hat nicht nur die Zahl der Grenzen erhöht, sondern gleichzeitig auch die wirtschaftlichen Schranken vermehrt und die Verkehrsschwierigkeiten gesteigert. Europa gleicht einem riesigen Detailmarkt. Mit diesem Zustande muß aufgeräumt werden. Man muß dahin gelangen, neue Bande zu schaffen, eine einheitliche Währung, einheitliche Briefmarken. . . Die Verschiedenheit, die gegenwärtig existiert, ist nicht allein dem europäischen Handel hinderlich, sondern sie ist den Kontinenten jenseits der Meere ebenso unverständlich wie manchmal uns selber.“ Briand wurde von den europäischen Völkerbund-Mitgliedern beauftragt, seine Initiative in Gestalt eines Memorandums zu präzisieren, derweil die Reaktionen in der Öffentlichkeit sehr gemischt waren. Englischerseits wurde unterstrichen, daß Britannien und sein Reich nicht gegen Europa eingestellt seien, aber unter keinen Umständen in Europa aufgehen könnten. Am 17. Mai 1930 wurde Briands Memorandum vorgelegt, im wesentlichen von seinem Mitarbeiter Alexis Saint-Léger Léger (1887 bis 1975) verfaßt, der während des Exils 1940 in den USA das Pseudonym Saint-John Perse annahm, unter dem er als Schriftsteller bekannt wurde. Briand legte Wert darauf, die europäische Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbundes zu verwirklichen, um all den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, die in seiner Initiative eine Untergrabung der Völkerbundidee entdecken wollten. So sollte der neue europäische Verband kein Schiedsgericht darstellen, weil hier der Völkerbund mit entsprechenden Kompetenzen bereits ausgestattet war. Ebensowenig dürfe sich eine europäische Zollunion gegen die Weltgemeinschaft richten. Auch bezüglich Europa skizziert das Memorandum zunächst, was alles nicht intendiert sei: keine Aufgabe nationaler Souveränität, zumal da die Souveränität der Staaten und die rechtliche Gleichheit der Staaten zu den Prinzipien des Völkerbundes zählten. Konkret gefordert wurde ein Vertrag zur „moralischen Union Euro-
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pas und zur feierlichen Bekräftigung der zwischen europäischen Staaten geschaffenen Solidarität“. Weiters: reguläre und außerordentliche Tagungen der Regierungen über gemeinsame Fragen; Einrichtung einer „Europäischen Konferenz“ als „wesentliches leitendes Organ der europäischen Union“; politischer Ausschuß als Vollzugsorgan, kleiner als die „Konferenz“; Sekretariat für die Arbeit der Konferenz und des Ausschusses als Nukleus einer europäischen Verwaltung. Es folgen Regeln, die die Arbeit von Ausschuß und Konferenz leiten sollten. Briand stellte den Aufbau des politischen Europa ausdrücklich vor eine europäische Wirtschafts- und Zollpolitik, um eine „industrielle Herrschaft“ der größeren Staaten über die kleineren zu verhindern. Das politische Zusammenwirken sollte folgenden Endzweck haben: „ein Bund auf der Grundlage des Gedankens der Einigung, nicht der Einheit; d. h. er muß elastisch genug sein, um die Unabhängigkeit und die nationale Souveränität jeden Staates zu wahren, aber allen den Vorteil kollektiver Solidarität bei der Regelung der politischen Fragen gewährleisten, die das Schicksal der europäischen Gemeinschaft oder das eines ihrer Mitglieder betreffen. Wirtschaftlich sei die Schaffung eines gemeinsamen Marktes anzustreben im Sinn der Vereinfachung des Güter-, Kapital- und Personenverkehrs.“ (Foerster, 1963, S. 237 ff.) Die 26 Regierungen der im Völkerbund vertretenen europäischen Staaten reagierten durchweg reserviert. Die Vorbehalte waren mannigfach, wie oben skizziert, der Vorrang der politischen Verständigung vor der wirtschaftlichen löste Verwunderung aus. Deutscherseits wurde eine Festschreibung der durch den Versailler Vertrag geschaffenen Grenzen befürchtet. Gemessen am Zeitpunkt, dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, symbolisch ausgedrückt durch den „Schwarzen Freitag“ an der New Yorker Börse, 25. Oktober 1929, kam das Memorandum zur Unzeit, denn die Tendenz, das Heil in nationaler Autarkie zu suchen, war weitverbreitet. Zur Unzeit starb auch Stresemann (3. 10. 1929), Briand überlebte ihn nicht lange. Zu zwiespältig waren die Absichten und Probleme, als daß die Europainitiative in dieser Zeit eine von bestimmten Persönlichkeiten unabhängige Eigendynamik hätte entfalten können.
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11.8 Zweiter Weltkrieg Vichy Das Scheitern der Briand-Initiative, die der Tradition eines demokratischen Europas entsprungen war, schuf ein gewisses politisches und intellektuelles Vakuum, in das faschistische, nationalsozialistische und andere undemokratische Europavorstellungen aus Italien, Deutschland und Frankreich eindrangen. Im Grunde handelte es sich hierbei um Anti-Europaideen. Das Vichy-Regime befleißigte sich eines europapolitischen Vokabulars, ohne über ein wirkliches Europakonzept zu verfügen; im allgemeinen lehnte es sich in sehr unausgegorener Form an die dehnbaren Begriffe einer „neuen europäischen Ordnung“ der nationalsozialistischen Propaganda an. Das Regime hoffte, über diese „neue Ordnung“ an der Seite Hitler-Deutschlands zu einer führenden Kraft in Europa werden zu können und damit die Kollaboration zu rechtfertigen.
Europäischer Widerstand Die Widerstandsgruppen in den verschiedensten europäischen Ländern hingegen zeichneten sich durch die Entwicklung z. T. sehr umfassender und detaillierter europapolitischer Vorstellungen aus. Die Quellenlage gestaltet sich dabei sehr unterschiedlich. In Deutschland gelangten zwischen 1933 und 1939 ca. 1 Million Deutsche in die Konzentrationslager, darunter viele Hunderttausend wegen ihrer politischen Überzeugung. Dies charakterisiert die Schwierigkeit, eine breite politische Widerstandsbewegung aufzubauen. Die Widerstandsgruppen, die sich vor allem seit dem Kriegsausbruch bildeten, blieben bewußt sehr klein und achteten darauf, möglichst wenig beschriebenes Papier zu hinterlassen. Die Äußerungen der Zeitzeugen nach dem Krieg helfen hier nur z. T., die Lücken aufzufüllen. Man muß sich vergegenwärtigen, daß hingegen der Widerstand in Frankreich innerhalb von zwei Jahren zu einer Art Massenbewegung anschwoll, innerhalb derer die treibenden Widerstandsgruppen Flugund Zeitschriften z. T. in fünf- oder auch sechsstelliger Auflagenhöhe verbreiteten. Hauptanliegen der nationalen Widerstände waren zweifelsohne auch die nationalen Belange wie die Beseitigung der deutschen Okkupation und die Lösung von nationalen Problemen, die in Frankreich 1940 zur Niederlage beigetragen hatten. Um so bedeutsamer tritt die Tatsache hervor, daß eigentlich überall die Frage der europäischen Einigung als Schlüssel zur mittel- und lang-
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fristigen Problemlösung erachtet wurde. Soviel Idealismus und Bereitschaft, nationale politische Besitzstände aufzugeben, war noch nie gewesen. Die internationale Vernetzung der Widerstandsgruppen war äußerst schwierig, aber sie fand statt. Innerhalb dieses Rahmens gelang es, gegenseitige Vorurteile abzubauen, der Glaube an eine gemeinsame europäische Zukunft war echt. Es hakte jedoch an der Nahtstelle zwischen Widerstand und alliierten Politikern. Das traf nicht nur den deutschen Widerstand, sondern auch den französischen: lange zogen die Amerikaner die Zusammenarbeit mit General Giraud in Algerien der eindeutigen Entscheidung für den von England aus operierenden General de Gaulle vor (vgl. Kapitel 9). Eine Gesamtbetrachtung des Verhältnisses von Widerstand und Regierungen der Alliierten erweist, daß „Europa“ zwar in die Kategorie „erkenntnisleitendes Interesse“ gehörte, aber noch lange keine politische Handlungsmaxime ausmachte.
Jacques Maritain Jacques Maritain (1882 bis 1973) beeinflußte die Résistance nachhaltig mit seiner Schrift „Über die politische Gerechtigkeit“ (1940), geschrieben während des Krieges 1940, also noch vor der Formierung der Résistance-Gruppen. Er formulierte eine Reihe von Überlegungen, die von den verschiedensten Résistance-Gruppen aufgenommen wurden: „Jeder, der über Europa nachgedacht hat, weiß, daß das deutsche Problem moralisch wie geographisch im Mittelpunkt der Probleme und der Schmerzen unseres Kontinents liegt: ohne den Beitrag und die Mitarbeit des germanischen Elements gibt es in Europa weder Frieden noch Zivilisation; diese gibt es aber auch nicht mit einem Deutschland, das von dem Instinkt des Pangermanismus und von preußischem Imperialismus beherrscht und aus dem Gleichgewicht gebracht ist. Wird die ungeheure Erschütterung des gegenwärtigen Krieges die Möglichkeit bieten, diesen tragischen Widerspruch aufzuheben?“ Maritain sah durchaus Chancen für eine neue europäische Ordnung, er sah zugleich die politische Kraftanstrengung, die die Deutschen unternehmen müßten, um sich in ein föderal strukturiertes Europa einfügen zu können. (Lipgens, 1968, S. 183–185)
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Léon Blum Im Gefängnis schrieb der Führer der französischen Sozialisten, Léon Blum, im Sommer 1941 eine umfangreiche politische Streitschrift, die im darauffolgenden Sommer aus dem Gefängnis geschmuggelt und zum Basistext der sich neu formierenden SFIO wurde. 1945 erschien die Schrift in Zürich auf Deutsch unter dem Titel „Blick auf die Menschheit“ (A l’échelle humaine). Blum setzte sich mit dem Scheitern der französischen Demokratie auseinander, empfahl deren Reorganisation nach schweizer oder amerikanischem Muster mit einer starken Exekutive, sowie Dezentralisierung im Innern (unter Bezug auf Walther Rathenau). Aus der Kritik am französischen Bürgertum entwickelte er das Konzept einer sozialen Demokratie. Im Begriff der „sozialen Demokratie“ liegt der Schlüssel zur Überwindung nationaler Betrachtungshorizonte, denn: „Soziale Demokratie im höchsten Sinne des Wortes bedeutet Internationalismus.“ „[Es] muß also entweder die fortschrittliche Nation ihre Verbindungen mit dem Ausland abbrechen, den normalen Strom der Konkurrenz und der Handelsbeziehungen abschneiden, sich streng im Rahmen einer despotischen Autarkie einschließen – wie dies Sowjetrußland und Nazideutschland gemacht haben – oder sie muß sich dazu bequemen, Teil eines Ganzen zu werden und ihre eigene Aktion in eine Aktion von universellem Umfang einfügen.“ Blum ging soweit, einen internationalen Überstaat vorzusehen: „Die internationale Gemeinschaft muß mit den Organen und der Macht versehen sein, die ihr die Erfüllung ihrer Funktionen erlauben. Ich verstehe darunter, daß sie klar und einmütig als ein oberster Staat über den nationalen Souveränitäten eingesetzt wird, und daß infolgedessen die angeschlossenen Nationen von vorneherein und soweit es diese Souveränität verlangt, die Begrenzung oder die Unterordnung ihrer eigenen Souveränität in Kauf nehmen.“ Das deutsche Problem könne nur im Rahmen einer internationalen Gemeinschaft gelöst werden, die Blum keineswegs nur auf Europa begrenzte. (Blum 1945)
Henry Frenay Führender Kopf der Linkskatholiken und der Résistance insgesamt war Henri Frenay. Er war Offizier gewesen, hatte während seiner Zeit in Straßburg 1938 „Mein Kampf“ gelesen. Nach der Niederlage blieb er zunächst im französischen Generalstab in Vichy als Hauptmann, bis er Anfang 1941 in Lyon in den Untergrund ging. Frenay hatte nicht nur „Mein Kampf“ ernst genommen, sondern auch die Berichte
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über die KZs in Deutschland. Er motivierte seinen Gang in den Widerstand und Untergrund wie folgt: „Wenn Hitler, wie behauptet wird, der Mann wäre, der, wenn auch mit Gewalt, Europa einigt, und nicht der Dämon, der Leib und Seele vernichtet, würde ich mich als französischer Offizier der deutschen Armee zur Verfügung stellen. So aber muß der Widerstandskampf mit aller Härte aufgenommen werden.“ (Lipgens, 1968, S. 191)
Résistancegruppen Ende 1941 vereinigten sich die Mitkämpfer um Frenay mit einer Gruppe aus Marseille. Sie nannten sich Mouvement de libération française und gaben die Zeitschrift Combat heraus. In der ersten Nummer riefen sie zum „europäischen Kreuzzug gegen den Nazismus“ auf. Gegen Ende des Krieges erreichte Combat Auflagen von bis zu 300.000 Exemplaren. Breite Resonnanz fand die studentische Widerstandsgruppe in Paris Défense de la France, deren gleichnamiges Organ schon anfänglich in 10.000 Exemplaren verteilt wurde und 1944 Auflagen um 400.000 erreichte. Die meisten Widerstandsgruppen billigten Frankreich eine missionarische Aufgabe zu, selten wurde sie aber so deutlich geäußert wie in der Nr. 12 von Défense de la France, 20. März 1942. „Mit seinem Sturz wird der Nazismus Deutschland dem Kommunismus in die Arme treiben. Damit werden die zivilisierten Nationen vor ein schwieriges Problem gestellt. Soll man Deutschland untergehen lassen oder soll man vielmehr dem, was in diesem Lande gesund geblieben ist, die Hand reichen und versuchen, es vor dem Kommunismus zu retten? [. . .] Soll man also früher oder später Deutschland retten, soll man diese Nation, die nur immer zerstört hat, vor der eigenen Zerstörung bewahren? [. . .] Heute geht es um die Frage, ob Deutschland als Ganzes zur Sowjetunion übergehen oder ob es sich, um zu überleben, in die lateinische und angelsächsische Ordnung, d. h. in die zivilisierte Welt, eingliedern wird. [. . .] Frankreich hätte diesem Deutschland gegenüber eine gewaltige Aufgabe zu erfüllen. Wenn es seinen inneren Halt wiederfindet, wenn es seinen Blick über die Grenzen richtet, anstatt sich selbstgenügsam abzukapseln und seine Kräfte in kleinlichen Zwistigkeiten zu erschöpfen, wenn es sich auf seine Berufung, das Licht der Völker zu sein, besinnt, dann wird es Deutschland die Zivilisation bringen. Ist diesem Lande die Möglichkeit genommen, Schaden anzurichten, so braucht Frankreich ihm gegenüber keine feindselige Haltung mehr einzunehmen.“ (Lipgens, 1968, S. 192 f.)
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Eine andere Pariser Studentengruppe, weniger konservativ ihrer politischen Herkunft nach als Défense de la France, nannte sich Volontaires de la Liberté. Im Bulletin Nr. 54 vom 15. Juli 1943 war zu lesen: „Dieser Krieg war und ist kein Krieg der Nationalismen. . ., sondern dieser Krieg ist ein Krieg der Ideen. Sein Ziel ist nicht die ,Bewahrung der Sicherheit’ gegen den Angriff eines oder mehrerer Imperialismen, sondern in dieser Welt Schluß zu machen mit jeglichen faschistischen oder nazistischen Regimen. So wird auch das Ziel dieses Krieges nicht dann erreicht sein, wenn die siegreichen Nationen wieder ihre Ruhe haben, sondern es wird erst wieder erreicht sein, wenn eine neue europäische Ordnung geschaffen sein wird anstelle der nazistischen Ordnung. [. . .] Statt die Sicherheit einiger Nationen gegen andere Nationen zu bewahren, ist es erforderlich, jede Nation einer kollektiven Sicherheit zu unterstellen, die nur durch eine gemeinsame Anstrengung aller Nationen erreicht werden kann.“ Das Thema wurde im Oktober desselben Jahres noch einmal aufgegriffen. Das wirtschaftliche Panamerika unter Führung der USA wurde als Vorbild ausdrücklich zurückgewiesen: „Bei Europa geht es nicht um diese wirtschaftliche Einheit, die für die amerikanischen Länder das einzig wirksame Bindemittel darstellt, sondern um eine kulturelle und moralische Gemeinschaft, aus der heraus der Krieg eine politische und soziale Einheit entstehen lassen soll.“ (Lipgens, 1968, S. 212–214) Immer wieder setzte sich die französische Résistance mit der Europa-Propaganda Hitlers auseinander. Emil Janvier, Chefredakteur der Zeitschrift Résistance, schrieb hierzu am 20. November 1943, zu einer Zeit, als die Nazis angesichts der sich abzeichnenden Niederlage ihre Europa-Propaganda verschärften: „Seitdem das Schlachtenschicksal ihm nicht mehr hold ist, hat Herr Hitler eine neue Berufung in sich entdeckt. Er offenbart sich als «Europäer». Als Europäer kommt er ja vielleicht ein bißchen spät, aber es klingt doch so gut. Weit entfernt vom kleinlichen Nationalismus der Vergangenheit, macht unser Führer den Krieg nicht mehr für nichts und wieder nichts. Ganz Europa will er retten, retten vor der jüdisch-pluto-demokratisch-sowjetisch-freimaurerischen Unterdrückung. Rußland? Das ist Asien. England? das ist das Meer. Schalten wir diese beiden Fremdkörper aus, so könnt ihr bald erleben, wie wir uns in dem regenerierten neuen Europa einträchtig beieinander finden werden. Unbestreitbar ist das Ganze gar nicht schlecht gemacht und vor allem gut inszeniert.“(Lipgens, 1968, S. 215)
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Debatten in der provisorischen Nationalversammlung in Algier Derweil verdichteten sich die Beziehungen zwischen La France libre und der Résistance. Im Sommer 1943 verlegte de Gaulle seine provisorische Regierung, das Comité français de la Libération nationale, von London nach Algier, wo unter dem Druck der Résistance eine provisorische Nationalversammlung zusammentrat. Ein Teil dieser Versammlung rekrutierte sich aus Delegierten der größeren RésistanceGruppen. In der außenpolitischen Debatte vom 22. November 1943 zeigten sich gravierende Unterschiede zwischen dem Denken der Résistance, das weit über die Restauration des französischen Nationalstaats hinausging, und jenem nationalen Denken vieler Exilfranzosen um de Gaulle, der selber in dieser Debatte nicht das Wort ergriff. André Hauriou, Vertreter des Combat, sagte: „. . .ich spreche hier im Namen des Widerstandes, denn zwar ist der Widerstand zum Kampf gegen die deutsche Unterdrückung ins Leben gerufen worden, sein Ziel ist es aber auch, sich einer gewissen Auffassung von der Gesellschaft, der Auffassung des Nazismus und der Diktatur, zu widersetzen. Frankreich ist es sich schuldig, das alte geistige Kulturgut der menschlichen Freiheit und Brüderlichkeit zu verteidigen (Sehr richtig! Sehr richtig!). Auf internationaler Ebene findet diese Brüderlichkeit ihren Ausdruck in der Zusammenarbeit zwischen den Nationen. . .“ Mayoux, Delegierter der ostfranzösischen Widerstandsgruppe Lorraine (Nancy), ergänzte: „Heute sehen wir klarer als 1918. Wir werden uns nicht mehr in unsere Abgeschiedenheit zurückziehen. Wir erwägen schon heute mit großem Wohlwollen alle den Nationen vorgelegten Pläne, insbesondere den Plan der Westgruppe, in der Belgien, Holland und vielleicht auch Großbritannien zusammen mit Frankreich die Keimzelle der künftigen Vereinigten Staaten von Europa bilden sollen.“ Vincent Auriol schließlich, Delegierter der verbotenen sozialistischen Partei, verwies zwar auf die Notwendigkeit eines internationalen ,Netzes der Solidarität und wirtschaftlichen Zusammenarbeit’, sah aber wie Mayou in der Schaffung eines Rumpfeuropas die „erste Etappe der europäischen Föderation, die später zu einer internationalen Föderation ausgeweitet werden könnte.“ (Lipgens, 1968, S. 216–218)
„Die Belange der Unabhängigkeit und Größe Frankreichs“ Hier zeichnet sich bereits die schrittweise Zurücknahme sehr idealistischer Positionen unter dem Eindruck der näherrückenden Niederlage Deutschlands ab. Henri Frenays Meinung, daß der „europäische
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Widerstand . . . das Band für die Zusammenschlüsse von morgen“ sei (Dezember 1943), mochten viele teilen, aber bis heute wird heftig darum gestritten, ob dies tatsächlich so war. Mit der bevorstehenden Befreiung Frankreichs wuchs der Glaube an die französische Mission, was einige Jahre nach Kriegsende dem Anschub europäischer Institutionen zugute kam, andererseits aber die Europaidee zunehmend französisierte. Manche Stimmen erinnern stark an den Sully der 1630er Jahre, der Europa unter französischer Führung neu organisieren wollte, zugleich aber die vollkommene Uneigennützigkeit dieser Pläne betonte und für Frankreich nur den ideellen Wert der Ehre, die Neuordnung organisiert zu haben, beanspruchte. Zentrales politisches Organ der vereinigten Widerstandsgruppen waren die „Cahiers politiques“. In der Nr. 5 vom Januar 1944 war zu lesen: „Von Frankreich mehr als von jedem anderen Land können die Parolen ausgehen, die den befreiten Völkern die Hoffnung auf eine europäische Ordnung in Freiheit und Frieden geben werden. Besser als jedes andere Land wird es an der Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa arbeiten können, und besser als durch jedes Versprechen wird es auf Grund des erlebten Unglücks über den Vorwurf des Imperialismus erhaben sein. Die Union Frankreichs mit den anderen befreiten Ländern wird für beide Seiten die beste Garantie gegen eine Bevormundung des Kontinents sein, und beide Seiten werden das gleiche Interesse daran haben. Selbst die Besiegten werden in dieser Union ihren Platz finden, der im einzelnen heute allerdings noch nicht festgelegt werden kann.“ (Lipgens, 1968, S. 231) Sehr viel deutlicher wurde das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Frankreichs in der Nr. 300 der Humanité vom 9. Juni 1944: „Wir fordern die Widerstandsbewegung dringend auf zu erklären, daß die Unabhängigkeit Frankreichs und die Wiederherstellung seiner Grandeur, dem geheiligten Wunsche aller unserer Helden entsprechend, das erste und leitende Prinzip der Außenpolitik von morgen sein soll. . . Solange man uns von dem Superstaat nicht einen Entwurf vorgelegt hat, der erheblich genauer ist und erkennen läßt, wie die Belange der Unabhängigkeit und Größe Frankreichs mit diesem System vereinbar sind, muß diese Vorfrage gestellt werden.“ (Lipgens, 1968, S. 240) Das war die Antwort der KPF auf EuropaPlanungen der französischen Sozialisten. Das heißt keineswegs, daß dies repräsentativ für die Stimmung in Frankreich kurz vor der Befreiung gewesen wäre. Die Stimmen waren vielfältig und trotz aller organisatorischen Zusammenschlüsse
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letztlich unkoordiniert. Die Widersprüchlichkeit der politischen Strömungen in Frankreich, die die ersten Jahre der Résistance zugedeckt hatte, traten wieder offen zutage. Langsam aber organisierten sich die Europäisten neu.
Die Konferenz europäischer Föderalisten im März 1945 in Paris Das Comité Français pour la Fédération Européenne berief im März 1945 eine Konferenz europäischer Föderalisten nach Paris ein. Die Stimmung war hoffnungsvoll, da die neugebildeten politischen Parteien getreu den Vorstellungen der Widerstandsbewegungen die Formierung einer europäischen Föderation in ihre Programme übernommen hatten. Der Europagedanke geriet allerdings sofort in Gegensatz zur UNO, die zu sehr ein Instrument der beiden ideologisch entgegengesetzten Großmächte zu werden drohte. „Dagegen formulierte die Konferenz in Paris, die geplante UNO werde den Frieden nicht wahren können, solange die Ursachen der Kriege in Europa nicht beseitigt seien; sie begründete erneut die Notwendigkeit und bundesstaatliche Verfassungsstruktur der europäischen Föderation [. . .] – wobei dieser Text jetzt nicht mehr von unbekannten Résistants, sondern von führenden Abgeordneten der Nationalversammlung, den Direktoren führender Zeitungen und Zeitschriften sowie Abgesandten [z. B. Spinelli aus Italien, John Hynd von der englischen Labour-Party, Willi Eichler vom Exilvorstand der SPD] aus anderen Ländern verabschiedet wurde.“ In der Entschließung der Konferenz wurde unmißverständlich zum Ausdruck gebracht: „Ein für allemal ist das Dogma abzuschaffen, daß der Nationalstaat die höchste politische Organisationsform der Menschheit sei. Wenn die europäischen Völker ihre gemeinsame demokratische Zivilisation retten wollen, müssen sie sich in einer Föderation zusammenschließen.“ Die Pläne für eine demokratisch gewählte Föderationsregierung gingen über das hinaus, was man heute im allgemeinen bereit ist, sich für das politisch verfaßte Europa vorzustellen: „Die Föderation muß vornehmlich verfügen über: 1. Eine Regierung, die nicht den Regierenden der einzelnen Mitgliedstaaten, sondern den Völkern gegenüber verantwortlich ist, über die sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten unmittelbar Hoheitsgewalt ausübt und von denen sie unmittelbar die Mittel für ihren eigenen Haushalt bezieht; 2. eine Streitmacht, die den Befehlen dieser Bundesregierung untersteht, wobei jede nationale Streitmacht ausgeschlossen ist; 3. einen obersten Gerichtshof, der über alle Fragen der Auslegung der föderalistischen Verfassung entscheidet und
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gegebenenfalls Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen den Staaten und der Föderation beilegt.“ (Lipgens, 1984, S. 210 f.) Es dauerte einige Jahre, bis die europapolitische Philosophie des Widerstands zur Institutionalisierung Europas führte. Frankreich zählte dabei zu den treibenden Kräften, es europäisierte sich. Letzterer Vorgang erscheint in grundsätzlicher Weise charakteristisch für die französische Nachkriegsgeschichte und trägt zur Ausbildung einer neuen politischen Zivilisation maßgeblich bei, einer Zivilisation, die Frankreich mit vielen anderen Ländern in Europa heute teilt (vgl. Kapitel 13).
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Kulturtransfers: England, Vereinigte Staaten von Amerika und Deutschland als kulturelle Referenzen in Frankreich (ca. 1700 – 1945)
12.1 Zum Verhältnis von außereuropäischen und europäischen kulturellen Referenzen in Frankreich Es gab und gibt in Frankreich ganz unterschiedliche kulturelle Referenzen – ohne Anspruch auf Vollzähligkeit: es gab eine griechischrömisch antike, eine jüdische, eine englische, amerikanische, eine spanische und italienische, eine polnische, eine russische, eine afrikanische, chinesische, asiatische usf. Das Verhältnis dieser kulturellen Referenzen zueinander allein in der französischen Kultur geschweige denn in europäischem Maßstab ist überhaupt noch nicht erforscht. Jenes Verhältnis der verschiedenen vielen kulturellen Referenzen zur französischen Kultur sowie ggf. zueinander ist als interkulturelle Geschichte zu bezeichnen. Im allgemeinen wurden Ideale und Werte, die in Frankreich (wie in Europa) hochgehalten wurden, in außereuropäischen kulturellen Referenzen gespiegelt. Das galt so z. B. für Ägypten als Referenz (Kapitel 10) und die Konjunktur der chinesischen Kultur vom Ende des 17. bis weit in die erste Hälfte des 18. Jh., als China im Sinne der kulturellen Referenz wie eine Chiffre für Praxis gewordene Ratio eingesetzt wurde. Das galt für die Gestalt des bon sauvage, der ebenfalls im Disput der Aufklärung die praktische Relevanz der Diskussion um den Naturzustand der Gesellschaft bewies. Es ist müßig, alle außereuropäischen kulturellen Referenzen darzustellen. Sie dienten meistens der
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Selbstbestätigung, der Bestätigung französischer (oder europäischer) Überlegenheit. Der Veränderung des eigenen kulturellen Selbst dienten sie nur am Rande. Darin unterscheiden sie sich von kulturellen Referenzen aus dem europäischen Raum bzw. von Nordamerika, das als aus Europa hervorgegangene Referenz zu betrachten ist. England, (Nord)Amerika und Deutschland dienten in Frankreich in dieser zeitlichen Reihenfolge als kulturelle Referenzen im besonderen Maß der Veränderung des kulturellen Selbst. Zur bedeutendsten Referenz stieg Deutschland auf. Die Hochphase der kulturellen Referenz Englands liegt im 18. Jh. bis zum Vorabend der Revolution, die Amerikas in der Revolutionsepoche und der Restaurationszeit, die Deutschlands im ganzen 19. Jh. Jede Referenz hat eine spezifische Funktion.
12.2 Ein Beispiel: Preußen in Burgund 1784 und 1789 Das Herzogtum Burgund gehörte während des Ancien Régime zu jenen Provinzen Frankreichs, denen es gelungen war, eine provinzialständische Verfassung zu bewahren. Ein beträchtlicher Teil der Provinzverwaltung von der Infrastruktur über soziale Aufgaben bis hin zu Teilen der Steuerverwaltung fiel in ihre Kompetenz. Juristisch gesehen handelte es sich um Privilegien einer Provinz, die der Monarchie als Motor der Verwaltungszentralisierung ein Dorn im Auge waren. Da diese Bastion für die Monarchie aber nicht zu stürmen war, bemühte sie sich in einem zähen Kleinkampf, die Privilegien der burgundischen Stände einzugrenzen oder umzuinterpretieren. Spätestens seit Turgot wurden für ganz Frankreich sehr ernsthafte Versuche unternommen, die konkurrierenden Kompetenzen der mit öffentlichen Verwaltungsaufgaben betrauten Institutionen abzubauen und den Staat, modern gesprochen, zu verschlanken. Es war dies, unabhängig von der Frage nach Gelingen oder Scheitern, eines der zentralen Reformvorhaben im Frankreich der Vorrevolution. In diese Zeit, 1784, fiel die erste Frankreichreise des preußischen Prinzen Heinrich, der von Lyon kommend am 12. August 1784 in Dijon haltmachte. Vergennes, damals auch Prinzipalminister (1783 bis 1787), bemühte sich in einem Brief vom 18. August 1784, den burgundischen Ständen im Kontext der Verwaltungsreformvorhaben Heinrich als leuchtendes Vorbild zu empfehlen. Heinrich sei ein „Prince étranger, rempli de lumières et de goût“; er sei ,mehr als jeder andere befähigt, nicht nur die großen und nützlichen Reformprojekte
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in der Verwaltung, sondern auch den Eifer der burgundischen Männer der Verwaltung hochzuschätzen’.1 Da die Korrespondenten in Dijon und Versailles allesamt zu jenen Persönlichkeiten zählten, die am kosmopolitischen Aufklärungsdiskurs teilhatten, mag der Hinweis auf einen preußischen Prinzen als Vorbild ohne Erstaunen hingenommen werden. Überhaupt nicht selbstverständlich erscheint das Nachwirken des preußischen Beispiels hingegen in dem Beschwerdeheft einer kleinen burgundischen Gemeinde westlich Dijon (Marcilly sous Mont-St.-Jean) im Frühjahr 1789. U. a. wurde dort wie in so vielen Heften die Forderung nach einer Justizreform erhoben. Folgende Forderung wurde in diesem Heft zusätzlich formuliert: „Vereinfachung des Gerichtswesens, dessen gegenwärtiger Zustand genauso katastrophal ist wie die tyrannische Organisation unserer Provinzialstände; aus dem Plan einer Vereinfachung muß notwendigerweise der Plan zu einem neuen Gesetzbuch nach Art des preußischen entstehen“.2 Abgesehen davon, daß mit „Code prussien“, wie es im französischen Text lautet, noch nicht das „Allgemeine Landrecht“ (ALR) gemeint sein kann, sondern vermutungsweise das „Corpus Iuris Fridericianum“ von 1781, verweist dieser Quellenbeleg auf eine gewisse Kontinuität der Vorstellung von Preußen als Exempel aufklärerischer Fortschrittlichkeit in Burgund, der rangersten französischen Provinz. Daß das preußische Beispiel den Weg in das Beschwerdeheft einer kleinen Dorfgemeinde gefunden hat, ist der Kettentätigkeit mehrerer kultureller Mittler zu verdanken. Von diesem Beispiel ausgehend lassen sich mehrere grundsätzliche Untersuchungsperspektiven entwickeln. Der Bezug auf die Qualitäten des preußischen Prinzen Heinrich in der Vorrevolution und auf ein preußisches Gesetzeswerk in einem Beschwerdeheft von 1789 kann als „kulturelle Referenz“, in diesem Fall als „kulturelle Referenz Preußen“ oder „preußische kulturelle Referenz“ bezeichnet werden. Funktionale Elemente sind: 1. die Gegenwart einer Persönlichkeit, deren Wertschätzung in Frankreich durchaus mit den individuellen charakterlichen Eigenschaften zusammenhängt, die nur marginal etwas mit der preußischen Herkunft zu tun haben, die aber in die französische Preußenrezeption seit den 1730er Jahren eingebettet ist. 1
Archives départementales de la Côte d’Or (= ADC), C. 3357, Nr. 38. ADC, B2 254/1 (Bailliage Saulieu); abgedruckt bei Schmale, Archäologie der Grund- und Menschenrechte, 1997, S. 519 f. 2
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2. Die Präsenz einer kulturellen Referenz im Zusammenhang sicherlich entscheidender Diskurssituationen, nämlich des vorrevolutionären Reformdiskurses und des revolutionären Diskurses des Dritten Standes. 3. Die Berührung unterschiedlicher Schichten und Stände mit dieser kulturellen Referenz. 4. Das Auftreten der Referenz in den für die Endphase des Ancien Régime und die Anfangsphase der Französischen Revolution zentralen Fragen von Recht und Verwaltung.
12.3 Die kulturelle Referenz England In der französischen Englandrezeption des 18. Jh. scheint die Auseinandersetzung mit der englischen Verfassung im Vordergrund zu stehen. Montesquieu im klassischen Zeitalter der französischen Aufklärung, De Lolme am Vorabend der Revolution haben die englische Verfassung, so wie sie sie verstanden, in Frankreich popularisiert und zu einem Modell entwickelt, an dem sich die Verfassung der französischen Monarchie wohl oder übel messen lassen mußte. Die englische Constitution wäre aber sicher nicht so populär geworden, wenn es nicht grundsätzlich eine Art von Kulturtransfer gegeben hätte, den schon die Zeitgenossen in den 1750er Jahren mit der Wortschöpfung „Anglomanie“ belegten. Im 17. und frühen 18. Jh. erscheinen die Engländer in dem Bild, das sich die französische Öffentlichkeit von ihnen machte, als etwas befremdliche Typen, mit herben Sitten, die das Siegen um des Siegens und des Gefühls der Überlegenheit willen lieben, die gewalttätig sind, trinken, rauchen, Konversation hingegen wenig lieben. Mit Beat Ludwig von Muralt (ein Schweizer) und seinen erfolgreichen „Lettres sur les Anglois et les François“ (1725) sowie seinem „Le philosophe anglois, ou histoire de M. Cleveland“ (1731–39) hob ein Einstellungswandel an. Der Autor bescheinigte den Engländern, daß sie sensible et mélancolique seien. Die Engländer werden als raisonnables und passionés bezeichnet. Das Englandbild geriet allmählich so positiv, daß 1757 ein kritisches Buch unter dem Titel „Préservatif contre l’anglomanie“ von LouisCharles Fougeret de Montbron veröffentlicht wurde. Das Ende des österreichischen Erbfolgekrieges, die Normalisierung der Beziehungen zu England, Montesquieus „De l’esprit des lois“ mit dem Lob der englischen Verfassung werden als Ursachen für das sich zum Positiven wandelnde Englandbild genannt. Ab 1757 tauchten Stimmen auf, die die Anglomanie als maladie bezeichneten, was als Hinweis auf
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die Breitenwirkung der kulturellen Referenz England zu verstehen ist. Das modische Auftreten der englischen Frauen wurde positiv bewertet, noch positiver das gepflegtere Auftreten der Männer. Die englische Sprache, Mode und englische Gartenanlagen wurden imitiert. Wichtig war, daß es sich um nach außen sichtbare Imitationen handelte, so daß die Anglomanie kein rein literarisches oder auf Oberschichten beschränktes Phänomen blieb. Das französische Engagement im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hinderte nicht, daß an die Stelle der bisherigen Nachahmung die Verinnerlichung englischer Sitten und Gewohnheiten trat. Manch einem, der wie ein gewisser Charles de Peyssonel nach 15 Jahren erstmals wieder nach Paris kam, wollte die Stadt wie London erscheinen. London diente in der Diskussion um die Stadterneuerung von Paris als Vorbild (Bürgersteige, Beleuchtung, Wasserversorgung). Kritiker hoben an der englischen Mode vor, daß sie keine Klassenunterschiede deutlich mache, die englischen Gartenbauer arbeiteten mit dem Prinzip der Entgrenzung oder Verhüllung von landschaftsarchitektonischen Grenzen, d. h. in ihrer Architektur spiegelte sich der Prozeß der sozialen Binnenentgrenzung wider. Schaut man sich also an, was von der englischen Kultur in Frankreich bevorzugt rezipiert wurde, in zustimmender oder kritisch-ablehnender Absicht, dann zeigt sich, daß es sich um neuralgische Punkte der Modernisierung von Staat und Gesellschaft handelte. Begleitet wurde dies von der zeitgenössischen Auffassung, daß England Frankreich in wirtschaftlicher Hinsicht überlegen sei. An England bewunderte man eine größere Prosperität, gerade auch der Unterschichten. Große Aufmerksamkeit erfuhr die politische Förderung des Handels, insbesondere die Navigationsakte von 1651, die in Frankreich noch im 18. Jh. als Vorbild gepriesen wurde. Zwischen 1770 und 1780 zeigte sich jedoch durchaus ein Bewußtsein, daß England den Zenit seiner Macht erreicht habe, während Frankreich diesem erst zustrebe. Das Engagement im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg störte das positive Englandbild im übrigen nicht nachhaltig. An England wurde eine gewisse Harmonie zwischen Verfassung, Freiheit, Eigentum und prosperierender Wirtschaft entdeckt und Frankreich gegenübergestellt. Ein besseres und gerechteres Steuerwesen schien jenseits des Kanals verwirklicht zu sein, die Hochachtung der Berufe in Wirtschaft und Handel in England erinnerte an die Hemmnisse, die das Festhalten am Prinzip der dérogeance in Frankreich mit sich brachte. Die Idealisierung der englischen Ge-
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sellschaft und ihrer soziopolitischen Verfassung ist nicht zu verkennen. Die Einschätzung des Verhältnisses Frankreich-England in den groben Kategorien von besser/schlechter oder unterlegen/überlegen bei den Zeitgenossen steht im Widerspruch zum Vergleich der Wirtschafts- und Sozialdaten, wie ihn François Crouzet (1985) durchgeführt hat. Daß die Revolution Frankreich auf dem Wege der Industrialisierung weit hinter England zurückgehalten oder gar zurückgeworfen habe, läßt sich als These nicht mehr halten. England als kulturelle Referenz wurde während der Revolution zwar vom ersten Platz verdrängt, aber verschwand nicht. Vor allem als erfolgreiche Kolonialmacht blieb es ein Modell.
12.4 Kulturelle Referenz Amerika Wenn von Hochphasen kultureller Referenzen gesprochen werden kann, dann wegen der bezeichnenden Idealisierung und modellhaften Behandlung einer anderen Gesellschaft. Am Vorabend der Revolution setzte die Idealisierung der Vereinigten Staaten von Amerika ein. Als prägend erwies sich das Werk von Brissot de Warville „Neue Reise in die Vereinigten Staaten von Nordamerika im Jahr 1788“, das 1791 erneut aufgelegt wurde. Im Vorwort der Auflage von 1791 schrieb Brissot: „Auch wir haben uns unsere Freiheit erobert. Wir müssen also von den Amerikanern nicht lernen, wie man sich die Freiheit erobert, sondern wir müssen von ihnen das Geheimnis lernen, wie man sie sich erhält. Dieses Geheimnis liegt vor allem in den Sitten; die Amerikaner besitzen es, und es schmerzt mich, mit ansehen zu müssen, daß wir es nicht nur nicht besitzen, sondern daß wir nicht einmal von der absoluten Notwendigkeit überzeugt sind, Sitten haben zu müssen, wenn wir die Freiheit erhalten wollen. Dieser Punkt ist wichtig, denn von ihm hängt der Erfolg der Revolution ab.“ Die Bedeutung des amerikanischen Einflusses auf die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung, überhaupt auf die Anfangsphase der Französischen Revolution muß hier nicht nachgewiesen werden; berühmte Amerikaner wie Jefferson saßen auf der Tribüne der Nationalversammlung, es gab, schon vorher, Modeströmungen „à l’Indépendance“, „à la Philadelphie“ oder „à la Nouvelle-Angleterre“, bestimmte Schuhe hießen „à la Franklin“, der sich zwischen 1776 und 1785 in Frankreich aufgehalten hatte. Im großen und
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ganzen scheint die kulturelle Referenz Amerika aber nur für einen begrenzteren Kreis, vor allem Aktive der Revolution, Bedeutung gehabt zu haben. Hier ist nicht das ethnologische Interesse an Amerika gemeint, das spätestens mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hinter das politische und wirtschaftliche Interesse zurücktrat. Mit Ausnahme Brissots, der 1793 der Terreur zum Opfer fiel, bilden die anderen vorrangigen Autoren einen Kreis von Revolutionsaktiven, die sich nacheinander mit allen Revolutionsregierungen, Napoleon und schließlich der restaurierten Bourbonenmonarchie arrangierten. Soweit erkennbar, bildete die Amerikarezeption kein Massenphänomen, was sich letztlich weder mit Tocquevilles „De la démocratie en Amérique“ (1835–1840) noch Victor Hugos Aufruf zur Gründung „Vereinigter Staaten von Europa“ im August 1849 grundlegend änderte. Immerhin, als Tocqueville 1831 seine Amerikareise antrat, gab es in der Presse etwas, was man die „question des ÉtatsUnis“ nannte. Nun war die Basis für politische Debatten allerdings seit dem Ancien Régime und der Revolution im Zuge der Restauration stark geschmolzen. Die Entscheidungsträger, die begrenzte Zahl der passiv Wählbaren interessierte sich für die USA. Die kulturelle Referenz Amerika muß vorrangig als Phänomen eines Transfers im Bereich der politischen und der Gesellschaftsphilosophie verstanden werden. Während das englische Modell zu seiner Zeit die Reformdebatte der Aufklärung stützte, wurde das amerikanische Modell gebraucht, um philosophisch die Französische Revolution zu sichern, soweit sie republikanisch war, die Zukunft genauer zu denken und vor allem Europa zu denken. Der Vergleich Frankreichs mit den USA geht oft Hand in Hand mit einem Vergleich Europas mit den USA. Es ist außerordentlich auffällig, daß die Auseinandersetzung mit den USA immer wieder zu politischen Prophezeiungen verlockte. Tocqueville wurde 1805 geboren, gehört also nicht mehr der Sozialgruppe der Revolutionsaktiven an, aber er kann als repräsentativ für diese Prophezeiungsversuche gelten. Für Tocqueville waren Gleichheit im Sinne von Gleichheit der Lebensbedingungen und Demokratie auch die Zukunft Europas, weil sich am Beispiel der USA gezeigt habe, daß sich, erstens, beides auch in einem noch so großen (Bundes)Staat verwirklichen ließe, und daß ,Demokratie’ einen gewissermaßen selbsttätigen Prozeß bedeute, der mit menschheitlichem Fortschritt an sich zusammenhänge. Die kulturelle Referenz USA gewinnt in Frankreich ihre Bedeutung in der revolutionären und in der utopischen Perspektive.
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Die Weltkriege und die Zwischenkriegszeit führten politisch und wirtschaftlich Frankreich und die USA enger zusammen als je zuvor, aber die Faszination der Revolutionszeit und des 19. Jh. gegenüber einer erfolgreichen Demokratie war vergangen und nicht wiederzubeleben. Der Einfluß der amerikanischen Massenkultur auf Europa machte auch vor Frankreich nicht halt, aber die intellektuellen und politischen Milieus hielten und halten diese eher für eine Antikultur, die nicht als Referenzkultur anerkannt werden darf.
12.5 Deutschland in Frankreich Die europäische Geschichte wurde seit der Zeit der werdenden Nationen durch viele wechselseitige, bi- und multilaterale Beziehungen gekennzeichnet. Das Verhältnis zwischen Frankreich und dem Reich bzw. Frankreich und Deutschland gestaltete sich besonders komplex, war kulturell tief gestaffelt und prägte die europäische Geschichte nachhaltiger als andere wechselseitige Verhältnisse wie sie zwischen Spanien und Portugal oder Polen und Österreich bestanden. Die verschiedenen Transfers von Frankreich nach Deutschland im Rahmen des ludowizianischen Absolutismus, der Aufklärung und der Französischen Revolution sind wesentlich besser bekannt als Transfers in die umgekehrte Richtung.
Kulturelle Abgrenzungsprozesse Im 16. Jh. trugen Historiographen und Humanisten, Geographen und Literaten auf der Ebene gelehrter Diskurse zur Ausbildung nationaler Identitäten bei. Die Konturen Frankreichs und Deutschlands als kultureller Selbstreferenzen wurden geschärft. In Deutschland wurde die Germania des Tacitus ausgeschlachtet, in Frankreich wurden die gallorömischen und fränkischen Ursprünge aufgearbeitet. Mitunter wurde auch die Germania, wie in Kapitel 4 berichtet, herangezogen. Es überwogen die kulturellen Grenzziehungen. Aber die Empfindung der Grenzen wandelte sich erheblich. Als Montaigne im Herbst 1580 eine Reise ins Heilige Römische Reich antrat, um nach Italien zu gelangen, überquerte er laut Reisejournal zwischen Frankreich und Deutschland vor allem eine Sprachgrenze. Er erwähnt das Dorf Bossau „le dernier du langage françois“, dann, nach vier Meilen, gelangte er nach Thann, der „ersten deutschen Stadt, sehr schön, dem Kaiser unterstellt“. Später reiste er in die Schweiz, um bei Konstanz wieder Reichsboden zu betreten. Der Übergang fiel ihm am Auftreten von
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Adelsgütern auf, die es in der Schweiz nicht gegeben habe. Besonders intensiv schildert er die sprachlichen und städtearchitektonischen Übergänge im Trienter Raum. (Leiner, 1991, 33–41) Grenzen sind bei Montaigne Übergangsräume. Über 200 Jahre später beschrieb Mme de Staël ihren Grenzübertritt wie folgt: „Vor sechs Jahren befand ich mich auf dem linken Rheinufer, die Barke erwartend, die mich zum rechten hinüberführen sollte; es war kalt, dunkel (. . .) Meine französischen Bedienten wurden ungeduldig über die deutsche Langsamkeit, und wunderten sich darüber, daß man nicht die einzige Sprache verstand, die sie für die Sprache aller zivilisierten Länder hielten. (. . .) Nach meiner Ankunft auf dem jenseitigen Ufer hörte ich das Posthorn, dessen schrille und falsche Töne eine traurige Reise nach einem traurigen Aufenthalte anzukündigen schienen. (. . .) eine Art Zugwerk, welche den Balken bewegt, womit man die Barriere schließt, überhebt den Einnehmer der Landstraße der Mühe, aus seinem Haus zu treten, um das Chaussee-Geld zu erhalten. Alles ist aufs Unbewegliche berechnet, und der Denker wie derjenige, dessen Existenz ganz materiell ist, verabscheuen gleich sehr die Zerstreuung der Außenwelt. Die öden Fluren, die von Rauch geschwärzten Häuser, die gotischen Kirchen scheinen für Hexen- und Gespenstergeschichten gemacht zu sein. (. . .)“ (Staël, 1818, 90 f.) In der politischen Vorstellungswelt hatte sich das Bild von linearen Grenzen durchgesetzt; die Autorin überträgt dieses Bild auf die Kultur; wie eine naturgegebene Linie trennt der Rhein die französische und deutsche Kultur. Gewissermaßen auf halbem Weg zwischen Montaigne und Mme de Staël findet sich ein Kupferstich aus dem Jahr 1662. Es handelt sich um den Frontispiz zu Martin Zeillers Reisebuch „Itinerarii Germaniae Nov-antiquae Compendium“, der in eine linke und eine rechte Bildhälfte geteilt ist. Von links nach rechts vergleichend blickend, stellt der Betrachter fest: „Die linke Bildhälfte symbolisiert . . . die französische Kultur, die rechte die deutsche. Vom Hintergrund nach vorne fortschreitend sind zueinander in Gegensatz gebracht: stilisierte Bäume einer Parklandschaft/knorrige Eiche; Palastarchitektur/Fachwerkhütte; modischer französischer Edelmann mit entsprechender Physiognomie/knorriger ,naturwüchsiger’ Teutone mit entsprechender Physiognomie; Attribute der Zivilisation (Buch, wissenschaftliche Instrumente, Spiegel etc.)/Attribute des ,naturwüchsigen’ Lebens zu Füßen des Teutonen. Die Lanze des Teutonen unterlegt die Zweiteilung des Bildes, dennoch entsteht ein eher harmonischer Eindruck, der darauf zurückzuführen ist, daß beide
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Gestalten mit derselben Würde ausgestattet sind.“ (Schmale, 1998, 66 f.) Der Fußweg zwischen der Hütte und der Palastarchitektur, der vom Vordergrund in der rechten Mitte diagonal nach links wie die Lanze in den Hintergrund führt, trennt nicht, sondern verbindet. Die deutsche und französische Kultur sind unterscheidbar, aber doch verzahnt, so daß es nicht zum Eindruck einer dunklen Linie wie bei de Staël kommen kann. Vor allem Ludwig XIV. verfolgte mit seiner Arrondierungspolitik die Einrichtung linearer politischer Grenzen, die durch die Vaubanschen Befestigungswerke nicht zuletzt mental gestärkt wurden. Mit unterschiedlichem Erfolg und unterschiedlichen Mitteln wurden an der Pyrenäengrenze wie an den Grenzen zum Reich und den Niederlanden Enklaven und Exklaven beseitigt. Die Katholisierungspolitik seit Ludwig XIII. trug zur Schärfung der konfessionellen Grenzen bei, die Linearisierung der politischen Grenzen förderte die Linearisierung der Sprachgrenzen. Es konnte im Verlauf des 18. Jh. nicht ausbleiben, daß die kulturellen Blickrichtungen in den Grenzregionen und Städten sich aufs politische Zentrum der nationalen Monarchie wendeten und immer weniger die Grenze in Richtung der kulturellen Zentren des Nachbarreiches überwanden. Im 18. Jh. setzten diesseits und jenseits des Rheins ,Theorien’ der „natürlichen Grenzen“ ein, die nichts anderes bedeuteten, als die entstandenen politischen und mentalen linearen Grenzen auf die Geographie zu projizieren. Bäche, Flüsse, Berge, Seen und andere markante natürliche Punkte hatten schon immer der Grenzfestlegung gedient, aber sie implizierten keineswegs zwangsläufig gedachte kulturelle und mentale Grenzen. Die Nationalisierung je der deutschen und der französischen Kultur bewerkstelligte dies. Je schärfer Grenzen als kulturelle Grenzen definiert wurden, um so mehr wurde die Auseinandersetzung mit der jeweils anderen nationalen Kultur zu einer Frage des Kulturtransfers.
Das Werden der kulturellen Referenz Deutschland in Frankreich in der Frühen Neuzeit Eine référence culturelle allemande existierte in Frankreich in Teilen vor dem 17. Jh., nahm aber erst in jenem Jahrhundert breiteren Umfang an. Von da aus lassen sich in den Bereichen Recht und Wissenschaft Kontinuitäten bis ins späte 19. Jh. erkennen; im 18. Jh. setzten neue Linien bezüglich der Sprache und ihrer Literatur an, die die kulturelle Referenz Deutschland verbreiterten. Die Musik spielte dabei eine
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wichtige Rolle. Ganz offensichtlich setzte im 17./18. Jh. eine Dynamik ein, die sich letztlich über 1870/71 hinaus fortsetzte. Zu einem guten Teil schöpfte die deutsche kulturelle Referenz in Frankreich aus französischen Quellen, die einen eigenständigen Rezeptionszusammenhang ausbildeten. Beginnen wir mit dem 16. Jahrhundert. Montaigne bemühte sich in seinem Reisetagebuch um eine differenzierte, empirisch fundierte Sicht; in seinen Essays beschränkte er sich auf die Wiederholung der gängigen Stereotypen. Das Reisetagebuch wurde im 16. Jh. nicht gedruckt, die Essays schon, und sie wurden viel gelesen. In persönlichen Gesprächen und zirkulierenden Manuskripten bot Montaigne folglich einem handverlesenen Kreis die Chance, an seinen empirisch gewonnenen Erkenntnissen teilzuhaben, nicht aber einem großen Lesepublikum. Die hugenottischen Rechtslehrer und Staatsrechtler schufen sich ein Bild von der ständischen Reichsverfassung; das entsprach ihrem Traum von harten Mitbestimmungsrechten in Frankreich. Auch Bodin kannte die Reichsverfassung, aber seine Ideale lagen woanders. Während der Einbau des Bilds von der Reichsverfassung auf hugenottischer Seite einem begrenzten Transfer gleichkam, wußten die anderen damit wenig Konstruktives anzufangen. Wieviel Vernetzung der kulturellen Referenz „Reich“ gab es zwischen den einzelnen Gruppen bzw. Individuen in Frankreich? Man kann sich die Situation recht gut am Beispiel des deutschen Humanisten Johannes Sleidan (1506 bis 1556), bekannt u. a. als Historiograph des Schmalkaldischen Bundes, vergegenwärtigen. Sleidan stellte in der ersten Hälfte der 1540er Jahre eine zentrale Figur für die Kontakte zwischen den protestantischen Fürsten des Reichs einerseits und dem französischen Hof sowie Franz I. andererseits dar. Die Ausbildung nationaler Kulturen schritt im 16. Jh. kräftig voran, ohne alle Elemente einer trans- und a-nationalen Kultur in Europa gänzlich zu verdrängen. In Sleidans Leben und Werk spiegelt sich eben dieses Spannungsverhältnis wider. Er gehört einerseits der Gruppe der „Europäer“ an, als die nicht wenige Humanisten zu bezeichnen sind, zugleich ist er ein „Deutscher in Frankreich“ (und in französischen Diensten), weil er von Zeitgenossen als solcher wahrgenommen wird, und später ein Deutscher in „Germania“, in „Allemagne“, der eine Schlüsselzeit seines Lebens in „Gallia“, in „Franckreich“ verbracht hat. Durch seine Übersetzungen und eigenen Schriften vermittelte Sleidan sein Frankreichbild nach Deutschland, zugleich wirkten die Übersetzungen seiner Schriften ins Französische
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auf Frankreich zurück, so daß französische Selbstbilder von der Epoche Franz’ I. z. T. im Prisma der Sleidanus-Rezeption gebrochen waren.3 Auf der politischen Ebene wurde die Wahrnehmung des Reichs in Frankreich von der Vorstellung dominiert, daß die französischen Interessen in Europa am ehesten mit den Interessen der protestantischen Reichsstände harmonierten. Frankreich kämpfe, so die Doktrin, um Europas willen gegen die spanische Universalmonarchie. Dies liege im besonderen Interesse der protestantischen Reichsstände, Frankreich sei der eigentliche Garant der deutschen Libertät. Es spricht einiges dafür, daß die politische Interessenlage die Wahrnehmung des Reichs und Deutschlands in der Zeit Heinrichs IV. übergewichtig konturierte. Die Reichsverfassung bot für Frankreich viele diplomatisch wertvolle Möglichkeiten, die allerdings nur in geringem Maße umgesetzt werden konnten. Noch etwas schärfer formuliert: die Konfessionalisierung im Reich und in Frankreich sowie die zunehmende Politisierung der Konfessionalisierung sorgten für sehr selektive kulturelle Transfers im 16. Jh. Von Richelieu bis Ludwig XIV. wurde im Frankreich des 17. Jh. viel Energie und Geld darauf verwandt, bewußt ein französisches Kulturmodell zu schaffen. Frankreich erschien so den zeitgenössischen Beobachtern als Prototyp eines kulturellen Ganzen. Dies war ein einzigartiges Unterfangen, dem kein koordiniertes deutsches Unternehmen entgegengesetzt wurde. Dennoch herrschte in Frankreich im 17. Jh. bereits ein Bild vom Reich vor, in dem dieses durch seine deutschsprachige, also eine kulturelle, Komponente vorrangig charakterisiert wurde. Sully, in seinem seit den 1620ern entwickelten Plan zur Neuordnung Europas, schnitt das Reich kurzerhand auf die deutschsprachigen Gebiete zu und definierte damit, in Fortsetzung älterer Traditionen, im Grunde ein Kulturgebilde namens Deutschland. Antoine Aubery, der wegen seiner Streitschrift von 1667 zugunsten der Ansprüche des französischen Königs auf die Kaiserkrone in Deutschland heftig geschmäht wurde, meinte sogar, Deutsche und Franzosen seien ja eigentlich ein Volk. (Aubery, 1667/1679) Je genauer man hinschaut, um so deutlicher zeigt sich für das 17. Jh., daß es eine breite Deutschlandrezeption gab, die mit den vorstellungs3
Zu Sleidan s. ,Actor et spectator’ – Johannes Sleidanus zwischen Frankreich und dem Reich in den Jahren 1540 – 1545. Schriftliche Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien in Bayern von Gundula Caspary, München 1998.
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weltlichen Hintergründen der Richelieuschen und ludowizianischen Reichspolitik abzugleichen wäre. Am Beispiel des 17. Jh. kann zugleich auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam gemacht werden: Ein Bild von Deutschland als kulturellem Gebilde entstand vermutlich erst in diesem Jahrhundert, es war aber nicht von einem Kulturtransfer nennenswerten Ausmaßes begleitet. Hingegen bestanden in Teilbereichen kulturelle Referenzen, die ins 16. Jh. zurückreichen und eine Verbindung zum 18. Jh. herstellen. Die wichtigste Referenz bestand in der Reichsverfassung als Modell. Damit ist weniger die Behandlung der Reichsverfassung in den Staatsrechtslehren eines Jean Bodin oder Charles Loyseau gemeint, sondern vielmehr deren Bewertung als Modell in der hugenottischen Monarchomachenlehre des 16. Jh. und als wirksame Möglichkeit institutioneller europäischer Friedenssicherung im 18. Jh. bei den geistigen Wegbereitern der Französischen Revolution. Am Beispiel der Reichsverfassung läßt sich die Schwerpunktverlagerung in Frankreich im 18. Jh. verdeutlichen. Als Modell, das etwa in die Revolution hineingewirkt hätte, wurde die Reichsverfassung von der englischen Verfassung, von dem Bild, das sich Montesquieu und Delolme von ihr gemacht hatten, sowie vom amerikanischen Vorbild abgelöst. Weiter bestand allerdings die Rezeption der deutschen Rechts- und Verfassungslehre, ein Thema, das noch nicht gut erforscht ist, trotz seiner Relevanz. Der Hinweis in dem burgundischen Cahier de doléances auf den ,Code prussien’ ist kein ,Ausrutscher’, sondern deutet auf diese Rezeption als strate profonde hin, die sich im 19. Jh. fortsetzte. Der Hinweis von Vergennes, daß Prinz Heinrich die Anstrengungen der Verwaltungsfachleute sehr wohl zu schätzen und zu beurteilen wisse, berührt den Bereich der Verwaltungs- und Staatswissenschaften. Die Versuche, ab 1819 einen verwaltungswissenschaftlichen Lehrstuhl in Paris zu begründen, lehnen sich unmittelbar an die Erfahrung der Kameralwissenschaft als Lehrfach an der Stuttgarter Hohen Karlsschule durch den Baron Cuvier (Baron Georges Cuvier, Paleantologe, Anatom, Staatsrat unter Louis XVIII, Mitglied der Commission Royale de l’Instruction Publique) 1784 ff. an, die weitere Diskussion um die Lehre der Staatswissenschaften führte Edouard de Laboulaye (Rechtsstudium bei Savigny) 1841 auf eine Reise nach Baden, Württemberg, Bayern und Preußen, um nach einem möglichen Vorbild für Frankreich zu suchen. Die Rezeption im rechtlichen Bereich trat im allgemeinen Bewußtsein gegenüber dem romantischen Deutschlandbild zurück, das die
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Leser aus Germaine de Staëls berühmten Buch „De l’Allemagne“ ableiteten. Es ist viel darüber diskutiert worden, wie sehr und wie bewußt die Autorin ein verzeichnetes Deutschlandbild lieferte; aber das ist keineswegs die entscheidende Frage. Das Buch war lediglich ein Exponent im Strom der Suche nach Leitbildern im napoleonischnachrevolutionären und besonders nachnapoleonischen Frankreich. Die streitbare Literatin leistete im Grunde einen umfassenden Vergleich der deutschen und französischen intellektuellen Kultur, genau der Umstand, der ihr Buch so berühmt machte.
Deutschland in Frankreich im 19. Jahrhundert Das 19. Jahrhundert gilt im allgemeinen als das Goldene Zeitalter der Deutschlandrezeption in Frankreich. Der Höhepunkt liegt, Erbfeindschaft hin oder her, in der Zeit zwischen den beiden Kriegen von 1870/71 und 1914/18. Deutlicher als vieles andere drückt dies der Titel eines umfassenden Werkes von Claude Digeon aus, das zuerst 1959 erschien und 1992 nachgedruckt wurde: „La crise allemande de la pensée française“. Die Niederlage von 1870, noch mehr aber die Pariser Kommune, offenbarte eine umfassende Krise in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sowie im Wertesystem der französischen Gesellschaft, die sich krass von der relativen Selbstsicherheit des Second Empire abhob. Auf den ersten Blick nimmt es sich wie ein Paradox aus, daß sehr bald nach der Niederlage die Analyse der innerfranzösischen Krise mit Hilfe einer Analyse Deutschlands und nicht etwa Englands oder der USA unternommen wurde. Ebenso paradox muß es erscheinen, daß dies in der Zeit des Centenaire der Französischen Revolution geschah, das für die Neukonstituierung einer republikanischen Identität so eminent wichtig wurde. Hinzukommt, daß diese Analyse nicht dadurch zustande kam, daß deutsche kulturelle Mittler in Frankreich diese intendiert hätten, sondern daß sie von französischen Führungskräften ausging. Kern des ganzen war die Bildungs- und Universitätsreform, mit der der als offenkundig empfundene Modernisierungsrückstand Frankreichs aufgeholt werden sollte. Der Begriff vom „Modell Deutschland“ war ein französischer, kein von Deutschland suggerierter Begriff. Es ging dabei allerdings nicht um die Übernahme „des“ deutschen Bildungs- und Universitätssystems, das als einheitliches Ganzes bis heute ja gar nicht existiert, selbst wenn Ernest Renan davon sprach, man müsse Deutschland in Frankreich einpflanzen („im-
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planter Allemagne en France“; Leiner, 1991, 134), sondern um die Suche nach einem kritisch-praktischen Widerpart in der innerfranzösischen Diskussion. In der Tat, und so gesehen trifft Digeons Buchtitel doppelt, handelte es sich um eine crise allemande der pensée française und nicht so sehr der pratique politique française. Diese trat erst 1940 ff. unter Maréchal Pétain auf, mit der sich Philippe Burrin in einem 1995 erschienenen Buch unter dem Titel „La France à l’heure allemande 1940–1944“ auseinandersetzt. Die französische Auseinandersetzung mit Deutschland im ausgehenden 19. Jh. wurde in der Perspektive der „Deux Allemagnes“ betrieben, einer deutlichen Unterscheidung zwischen dem militärisch-politischen Deutschland unter preußischer Führung, das als bedrohend empfunden wurde, und einem philosophisch-schöngeistigen, dem besondere Leistungen zum Wohle der Menschheit zuerkannt wurden. Erst allmählich schälte sich aus dem positiven, aber nicht genau abgegrenzten Deutschlandbegriff die Unterscheidung zwischen Österreich und Deutschland heraus, beschleunigt freilich nach der Bismarckschen Reichsgründung. Die Rezeption Deutschlands und die Entwicklung eines Deutschlandbilds wurden nicht so sehr um Deutschlands willen betrieben, sondern in erster Linie aus französischen Interessen, die auf Frankreich selbst gerichtet waren. Es ging um Frankreich, nicht um Deutschland. Zwischen den 1870er Jahren und der Jahrhundertwende liefen mehrere Entwicklungslinien aus der Präsenz Deutschlands in Frankreich zusammen, die das Paradoxon erklären können, warum sich Frankreich in der Phase der republikanischen Regeneration gerade Deutschland gleichsam als geistigen Sparringspartner suchte. Die Selektivität, mit der diese Auseinandersetzung betrieben wurde, hatte nachvollziehbare historische Gründe. Selbstredend gab es nach 1870 einen antideutschen bzw. ggf. antipreußischen Diskurs bis hin zur Propaganda, in Teilen der Medien, der Literatur sowie der Wissenschaft. Dieser nährte sich aus Stereotypen, deren Tradition bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückreicht. Es handelt sich hier um eine ausgesprochene Kettenverbindung, jederzeit aktivierbar, da sie niemals abgerissen und im Kern immer gleich geblieben ist. Die nationalen Stereotypen springen wegen ihrer drastischen und leicht eingängigen Plastizität, die sich sehr gut in Karikaturen z. B. visualisieren läßt, immer als erstes ins Auge, dies kann aber nicht verdecken, daß der historische Tiefgang dieser Stereotypen
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eher gering ist. Es kann auch über den wirklichen Sinn der Anwendung von Stereotypen gestritten werden; sie treffen nicht nur den Anderen, sondern dienen auch, wenn nicht vor allem, der Selbstversicherung. Aus französischer Schriftsteller-Sicht erschien Deutschland oft im geradezu wörtlichen Sinn als Gegenbild Frankreichs: Die einen bemerkten die absence d’horizons, den anderen erschien vieles in Landschaft und Architektur immense, gigantesque, énorme, colossal, als masse noire usw., während Frankreich als figure d’équilibre, als Land der mesure und der proportion heureuse sowie der modération verstanden wurde. Solche Anschauungen tradierten sich von Mme de Staël bis in die jüngere Zeit. Besonders rezipiert wurde nach 1870 das deutsche Wissenschaftssystem in Form seiner universitären Organisation, aber auch im Sinne wissenschaftlicher Methoden, unter denen die der Geisteswissenschaften vorrangig analysiert wurden. Begleitet wurde dieser Schwerpunkt durch die politische Förderung des Deutschunterrichts in den höheren Schulen sowie die privatwirtschaftliche Förderung in frei angebotenen Deutschkursen. Die Förderung des Deutschunterrichts fiel in ein umfassenderes Konzept zur Förderung moderner Fremdsprachen neben Englisch, Spanisch und Italienisch. Die Motive hinsichtlich der deutschen Sprache waren komplex. Zum einen war die Feststellung getroffen worden, daß sich die deutschen Offiziere, die im Krieg 1870/71 nach Frankreich gekommen waren, durch gute Französisch- und landeskundliche Kenntnisse auszeichneten, während französische Offiziere weder Deutsch beherrschten noch Deutschland kannten. Zum anderen wurde der wirtschaftliche Aufstieg des Nachbarn registriert, der ebenfalls die Nützlichkeit von Deutschkenntnissen begründete. Zum dritten wirkte sich jetzt beschleunigt aus, was sich schon im 18. Jh. angekündigt und im Lauf des 19. Jh. Konturen gewonnen hatte, das Erlebnis der deutschen Sprache als außergewöhnliches Medium von Lyrik, Philosophie und Geisteswissenschaften (was ja auch deutsche Dichter wie Herder glaubten und propagierten). Damit Hand in Hand gegangen war die Wahrnehmung deutscher wissenschaftlicher und philosophischer Arbeiten. Deren Qualität, insbesondere der naturrechtsphilosophischen Werke, war seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. in Frankreich gewürdigt worden, aber ihr Stil galt als plump und umständlich und dunkel, genau das, was man auch früher von der deutschen Sprache hielt, ohne goût und esprit, letztlich unaussprechlich – kurz ein Spie-
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gelbild der Deutschen selbst. Daß Vergennes in dem obigen Beispiel den Prinzen Heinrich als prince rempli de lumières et de goût bezeichnete, ist insofern symptomatisch für die eintretende Zeitenwende in der Deutschlandwahrnehmung Ende des 18. Jh. Treibende Kraft war ein Paradigmenwechsel in der französischen Kultur. Französische Charakterisierungen der deutschen Sprache im 19. Jh. illustrieren sehr gut, worauf es in Frankreich jetzt ankam. Gerühmt wurde die flexibilité wenn nicht gar liberté absolue dieser Sprache; gemeint war die relative Freizügigkeit bei Wortschöpfungen wie das einfache Zusammensetzen mehrerer Substantive sowie die vermeintliche grammatikalische Gestaltungsfreiheit. Hervorgehoben wurde die richesse des Deutschen, der Wortschatz übertreffe alle anderen lebenden Sprachen und erhöhe sich ständig wegen der Freiheit der Wortschöpfung. Schließlich sei Deutsch durch Universalität gekennzeichnet. Die deutsche Sprache sei in der Lage, den Geist jeder anderen Kultursprache aufzunehmen und zu artikulieren, ja zu interiorisieren. Man kann in diesen Aspekten zentrale Anliegen wiedererkennen, die in Frankreich formuliert wurden, um im allgemeinen Entwicklungsprozeß des 19. Jh. mithalten zu können. Nicht unerheblich für das Ausmaß der deutschen kulturellen Referenz war die persönliche und demographische Präsenz von Deutschen in Frankreich. Obwohl sich seit dem Mittelalter immer wieder bestimmte Berufsgruppen wie Bergleute und Soldaten oder deutsche Adlige, Künstler und Gelehrte nachweisen lassen, entstand erst im 19. Jh. ein dichteres Netz an Deutschen, die in Frankreich lebten. Die Masse lebte in Paris, von rund 110.000 Deutschen 1861 in Frankreich waren über 30.000 in Paris registriert, es folgten die großen elsässischen und lothringischen Städte. Lyon, Marseille und Bordeaux wiesen je einige Hundert deutsche Einwohner auf. Diese Zahlen verteilten sich auf viele verschiedene sozioprofessionelle Gruppen: Soldaten/Fremdenlegionäre, Handwerker, Literaten und Poeten, Journalisten, Sozialisten, deutsche Revolutionäre, Straßenfeger, Musiker, Maler und andere bildende Künstler, Kindermädchen, Sängerinnen, Prostituierte, deutsche Ehefrauen französischer Männer, Arbeiter, Händler, Spediteure, Medizinstudenten und Ärzte, Kellner, Köche und Maurer usw. In manchen Feldern waren die Deutschen geschätzte Spezialisten und beherrschten den Pariser Markt wie bei den Spediteuren und den Brasseuren, gefolgt von hessischen Straßenfegern. Die meisten dieser Menschen verstanden sich nicht als kulturelle Mittler, selbst wenn sie es wider Willen bis zu einem gewissen
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Grad waren. Infolge des Krieges 1870 reemigrierten viele nach Deutschland, aber schon um 1880 war der Vorkriegsstand wieder annähernd erreicht. Über die Parisaufenthalte eines Heine, Börne, Marx und vieler anderer wie Richard Wagner, ihre kulturellen Vermittlungsabsichten, ihre Erfolge und Mißerfolge dabei, wissen wir recht gut Bescheid, offen bleiben bisher die Folgen der Präsenz der übrigen Hunderttausend Deutschen. Viele scheinen erst in Frankreich eine deutsche Identität an sich entdeckt zu haben, weil aus französischer Sicht die sehr heterogene Herkunft – aus den verschiedenen deutschen Regionen; Elsässer; Nachfahren ausgewanderter Hugenotten; holsteinische Dänen usw. – dieser Menschen von ihrer gemeinsamen Sprache Deutsch als wichtigstem kulturellen Merkmal überlagert wurde. Die relative Dichte der deutschen kulturellen Referenz in Frankreich verhinderte allzu einfache vergleichende Einschätzungen wie besser/schlechter oder unterlegen/überlegen, aber sie waren in einem Teil der Modernisierungsdiskussion im 19. Jh. gegenwärtig. Wie im Fall Englands erbringt der Vergleich der Wirtschafts- und Sozialdaten (Kaelble, 1991), daß solche Vergleichskategorien im Widerspruch zur Realität standen. Die kulturelle Referenz England wurde im 18. Jh. für die Reformdiskussion benötigt, die Referenz USA für die Revolution, die Zukunftsperspektive und den Europagedanken, die doppelte Referenz der „deux Allemagnes“ für die Selbstfindung Frankreichs im 19. Jh. zur modernen, republikanischen und starken Nation. Wirklich interessant ist ja nicht die Frage, wann die Franzosen die Deutschen mochten und wann nicht, sondern wichtig ist die Frage, was in Frankreich selber durch bestimmte kulturelle Referenzen bezweckt, bewirkt, bewußt oder unbewußt erreicht wurde, in welchen historischen Konstellationen diese Referenz auftrat, inwieweit sie eine eigene historische Dynamik entwickelte und damit eine geschichtlich konstitutive Funktion annahm. Epochen wie Ludwigs XIV. Griff nach der europäischen Universalmonarchie, wie die Französische Revolution, oder wie der beschwerliche Übergang vom Second Empire zur Dritten Republik, bedeuten immer und in erster Linie umfassende Staats- und Gesellschaftskrisen, zu deren Lösung vielfältige geistige Ressourcen mobilisiert werden. Es war ja nicht die schiere Existenz der Reichsverfassung oder der deutschen Staats- und Verwaltungslehre, des deutschen Universitätswesens usw., die eine Rezeption provozierten, sondern die innerfranzösische Aktualität der Themen Verfassung und
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Recht und Bildung etc., für die nach Analyseinstrumenten gesucht wurde. Die deutsche kulturelle Referenz ist Teil dieser RessourcenMobilisierung, jedoch nicht, weil der deutsche Nachbar in diesen Situationen Besonderes anzubieten gehabt hätte, im Sinne einer Kiste, aus der man sich greift, was man braucht, sondern weil die kulturelle Referenz „Deutschland“ bereits zu einem Bestandteil der französischen Geschichte geworden war, der bei Bedarf instrumentalisiert werden konnte. Es geht letztlich um einen Prozeß der Anverwandlung, dessen intensivste Phase in das lange 19. Jh. fällt. Das Prinzip der Anverwandlung brachte Charles Joret in der Eröffnungsrede zum akademischen Jahr 1883/84 an der Universität Aix am Beispiel der Reformation auf folgenden Nenner: „Gewiß waren es Deutsche, Professoren oder Studenten an unseren Universitäten, die den Keim [der Reformation] in Frankreich verbreiteten, aber Wurzeln schlug diese erst, als sie mit Calvin französisch wurde. . .“ (Joret 1884, 9)
Deutschland in Frankreich im 20. Jahrhundert Die im 19. Jh. verdichtete deutsche kulturelle Referenz wurde dann zunächst von der französischen Selbstreferenz zugedeckt. Frankreich hatte, wie berichtet, den Ersten Weltkrieg als stärkste kontinentaleuropäische Macht beendet und sah sich trotz aller ökonomischen Schwierigkeiten auch als Kolonialmacht auf dem Höhepunkt seiner Geschichte. Die deutsche Referenz war aber tatsächlich nur zugedeckt: Trotz der katastrophalen militärischen Niederlage wurden zu Beginn der deutschen Besatzung in Frankreich (1940) die deutschen Soldaten, Offiziere, Diplomaten und sogar Mitglieder der Sicherheitsdienste vielfach als Träger der als vertraut erachteten deutschen Kultur angesehen. Positiv konnotierte Stereotypen (Sauberkeit, Ordnung, Effizienz etc.) halfen über den ersten Schock der Niederlage hinweg. Das Institut Allemand, im Herbst 1940 von Otto Abetz (Deutscher Botschafter in Paris) gegründet und Karl Epting zur Leitung anvertraut, organisierte zahllose kulturelle Veranstaltungen, die an bestehende kulturelle Referenzen wie die Musik und deutsche Solisten anknüpften. Die Propaganda-Abteilung tat ein Übriges. Immer mehr Oberschüler wählten Deutsch als Fremdsprache. Erwachsene lernten Deutsch in immer größerer Zahl an entsprechenden Instituten in ganz Frankreich. (Burrin, 1995, Kap. 19) Dies alles folgte im Grunde den „klassischen“ Wegen der Kulturaneignung und des Kulturtransfers. Die wirtschaftliche Kollaboration der Vichy-Zeit bildete
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eine Basis für das Überleben positiver Stereotypen, zugleich sorgte sie für Kontinuität in den vielfältigen deutsch-französischen Wirtschaftsverbindungen, die aus wirtschaftshistorischer Sicht oft ohnehin als Kontinuum – ohne kriegsbedingten epochalen Bruch – behandelt werden. Die Institutionalisierung von mulitlateralen Beziehungen durch die Schaffung europäischer Institutionen nach 1945 erste reduzierte das Eigengewicht der deutschen kulturellen Referenz. Die skizzierten Kontinuitätslinien machen deutlich, daß die deutschen kulturellen Referenzen im Lauf der Jahrhunderte zu einem Netz verknüpft wurden. Wirklich verloren ging nichts, wirklich vergessen wurde nichts; Referenzen des 16. Jh. wurden freilich transformiert, aber sie trugen zum Überleben der umfassenden Referenz Deutschland bei. Die inneren Zustände Frankreichs nach dem Ende der Ära Napoleon begünstigten, daß diese zur Gewohnheit gewordene, geschichtsgesättigte Referenz vielfache Verästelungen ausbildete und aufgrund dessen sogar die Krisen des Ersten und Zweiten Weltkrieges überdauerte. Nur so läßt sich die relativ zügige Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen zum wichtigsten tragenden Teil der Europäischen Union erklären. Nur so lassen sich Verflechtungen erklären. Kaelble resümierte seine vergleichenden Forschungen in sehr eindeutiger Weise: „Sind die französische und deutsche Gesellschaft heute ähnlicher und stärker miteinander verflochten als am Anfang unseres Jahrhunderts? (. . .) Niemals im zwanzigsten Jahrhundert waren sich die beiden Gesellschaften so nahe wie in der Gegenwart; niemals hatten sie so viel gemeinsam; niemals waren beide Gesellschaften so stark miteinander verflochten; niemals zuvor haben sich Franzosen und Deutsche vom jeweils anderen ein so nüchternes, vorurteilsloses, und wo immer möglich auch so vorteilhaftes Bild gemacht.“ (Kaelble, 1991, 231) Die von Kaelble beschriebene Annäherung und Verflechtung der deutschen und französischen Gesellschaft läßt sich allerdings nur z. T. durch die Präsenz einer jeweils recht umfassenden kulturellen Referenz ,Deutschland’ in Frankreich bzw. ,Frankreich’ in Deutschland erklären. Beide Phänomene – Annäherung und Verflechtung – weisen eine europäische Dimension aus, gelten also nicht nur bilateral. Sie sind vielmehr multilateral geprägt. Sie beruhen auf der in Westeuropa immer weiter reichenden Annäherung der materiellen und rechtlichen Lebensbedingungen, die auf die Politik der EWG, dann EG und heute EU zurückzuführen ist. Während der Nationalstaat als
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politisches Bild in vielen Köpfen noch intakt geblieben scheint, hat er real längst viele Funktionen an europäische oder – in wachsendem Maß – an regionale, grenzübergreifende Institutionen abgegeben. Der Erkenntnisgewinn des Konzepts Kulturtransfer liegt hauptsächlich in der zweifellos langen Epoche des Nationalstaats in Europa. Diese Epoche geht ihrem Ende entgegen. Das heißt nicht, daß der Nationalstaat als politische Institution ebenfalls dem Ende nahe ist. Was aber einem Ende zugeht, ist die kulturelle Abgrenzung, die das Nationsbewußtsein in Nationalismus transformierte. Die historische Entwicklung weist auf die Ausbildung einer europäischen Kultur hin, die interkulturell charakterisiert ist. An diesem Punkt verliert das Konzept Kulturtransfer seine Aussagekraft. Auffälligerweise geht die gesellschaftliche deutsch-französische Annäherung und Verflechtung mit einer deutlichen Reduktion der Präsenz Deutscher in Frankreich bzw. von Franzosen in Deutschland einher. 1860 waren 17% aller Ausländer in Frankreich Deutsche, der höchste erreichte Prozentwert, heute sind es nur noch 1%. 1880 waren 6% aller Ausländer in Deutschland Franzosen, der höchste erreichte Wert, heute sind es gleichfalls nur noch 1%. Bei den absoluten Zahlen wurde 1910 der Höchstwert erreicht, soweit es um Deutsche in Frankreich geht (102.000), während 1985 mit knapp 75.000 mehr Franzosen denn je in Deutschland lebten. (Kaelble, 1991, 242) Jeder Ausländer wirkt auf sehr unterschiedliche Weise, ob er es will oder nicht, als kultureller Mittler. Von daher bedeutet der prozentuale Anteil einer bestimmten Ausländergruppe durchaus etwas für die Intensität der kulturellen Vermittlung: je geringer der prozentuale Anteil, um so größer die Konkurrenz anderer in Vermittlung befindlicher Kulturen. Diese Feststellung bezieht sich lediglich auf einen Aspekt von Kulturtransfer, nämlich den Transfer durch unmittelbar anwesende Vermittler. Transfers verlaufen heute oft über andere Schienen: Reisen (Ferien oder Business), Studium, audiovisuelle Medien, Internet, um nur einige zu nennen. Im Einzelfall ist die Transferleistung sehr gering, massiert durch die Massenhaftigkeit der Kontakte jedoch quantitativ groß. Was jedoch wird transferiert? Kultur im Sinne der Kulturtransferforschung, oder nur Elemente einer sich internationalisierenden Kultur, die amerikanisiert ist? Es spricht einiges dafür, daß die letztere Annahme richtig ist, da sich die nationalen Kulturen zu entgrenzen beginnen, aber wir sind damit an dem Punkt angelangt, wo Geschichte erst noch geschehen muß, bevor sie erzählt werden kann.
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Der Weg zu einer neuen politischen Zivilisation (1944/45 – 1995)
13.1 Libération und Épuration (1944/45) Erste Maßnahmen de Gaulles und die Beseitigung des Vichy-Regimes Die Kriegszeit hat über 600.000 Menschen in Frankreich das Leben gekostet, weitere 500.000 starben an Kriegsfolgen wie Unterernährung. Die Kosten – an Deutschland gezahlte Besatzungskosten und erlittene Zerstörungen – machten rund die Hälfte des französischen Volksvermögens aus. Anders als zum Ende des Ersten Weltkriegs waren auch die internationale Position Frankreichs und seine Position als Kolonialmacht einschneidend geschädigt. Die politischen Divergenzen traten sofort nach der Befreiung auf, ungeachtet des Umstands, daß das Gefühl der Fraternité oder wenigstens die Sehnsucht danach die Masse der Franzosen auf der emotionalen Seite zusammenführte. Wirtschaftlich wurde vom Dezember 1944 an ein Verstaatlichungsprogramm umgesetzt, das bereits während der Résistance Konturen gewonnen hatte. Verstaatlicht wurden die Zechen, große Betriebe wie Renault, die Luftfahrt (daraus entstand die Air France) und das Radio, einige Banken und Versicherungen, die Gasund Elektrizitätswerke. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Energie konnte nur sehr langsam verbessert werden, Kredite aus den USA und Großbritannien halfen, Importe zu finanzieren. Eine sehr hohe Inflationsrate erschwerte die ersten wirtschaftspolitischen Maßnahmen zusätzlich. Noch 1945 wurde eine kleine Währungsreform durchgeführt, die neben der Erhöhung der Vermögens- und Kapitalsteuer dem Staat zusätzliche Mittel in die Kasse spülte. De Gaulle verhinderte die Einrichtung einer geplanten Alliierten Militärregierung (Allied Military Government of Occupied Territories), es gelang ihm, sich in Frankreich, während sich die VichyRegierung auflöste, als politische Autorität und Macht durchzusetzen. Mit der Ordonnanz vom 9. August 1944 wurden alle Rechtsakte der Vichy-Regierung für ungültig erklärt. Die Kämpfe gegen deutsche Truppen in Frankreich dauerten bis zum Frühjahr 1945 an, dann war ganz Frankreich befreit. De Gaulle ernannte für alle Regionen Kommissare im Auftrag der Republik, die den Hoheitsanspruch und das Machtmonopol der Republik auch gegenüber den Befreiungskomitees und den Milizen der Kommunisten bzw. des Widerstands all-
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gemein herstellen sollten. De Gaulle selbst bereiste das Land im September. Bis die Milizen im Oktober aufgelöst werden konnten, fanden gewaltsame Säuberungsaktionen in einem nahezu rechtsfreien Raum statt, selbst ernannte Volkstribunale nahmen die Verfolgung von mutmaßlichen Kollaborateuren in die Hand. Die Rückkehr von Thorez aus dem Moskauer Exil und seine Unterstützung für de Gaulle trugen zur Stabilisierung der innenpolitischen Lage entscheidend bei. Die Regierung de Gaulles bestand vorwiegend aus Sozialisten und Widerstandskämpfern. Sie wurde am 23. Oktober 1944 von den Alliierten anerkannt. Am 7. November trat die Konsultativversammlung zusammen. Ihre 248 Mitglieder waren Widerstandskämpfer aus Frankreich und Übersee. Im April/Mai 1945 wurden bereits Kommunalwahlen durchgeführt.
„Épuration“ und Problem der Rechtsstaatlichkeit Drängend war eine rechtsstaatliche Durchführung der sog. épuration. Am 26. Juni 1944 waren regionale Gerichtshöfe (Cours de Justice régionales) eingesetzt worden, um die Kollaborateure abzuurteilen. Hier wurden rund 140.000 Verfahren durchgeführt und ca. 6.700 Todesurteile ausgesprochen, von denen 780 tatsächlich ausgeführt wurden. Am 18. November 1944 wurde ein Hoher Gerichtshof (Haute Cour de Justice) eingesetzt: Er bestand aus drei Richtern und 24 Geschworenen, die aus einer Liste mit 100 Namen von Widerstandskämpfern, die die Konsultativversammlung aufgestellt hatte, ausgelost wurden. Vor diesem Gerichtshof wurden 108 Prozesse bis 1948 durchgeführt. Unter anderem wurde dort Laval zum Tode verurteilt und exekutiert. Das Todesurteil für Pétain wurde in lebenslange Haft umgewandelt. Die Säuberungen betrafen außerdem das Presse- und Publikationswesen; über 100 Tageszeitungen wurden verboten, deren Vermögen für die Publikation der aus dem Widerstand hervorgegangenen Presse verwendet. Schriftsteller aus der Résistance bildeten den Comité national des Écrivains und richteten dort eine Commission d’épuration ein. 165 Schriftsteller wurden auf den Index gesetzt und erhielten Publikationsverbot; darunter befanden sich auch acht Mitglieder der Académie Française.
Außenpolitische Zielsetzungen Das Ziel, Frankreich internationales Gewicht zu verschaffen, blieb bestehen. Weitere Truppen wurden ausgerüstet, um mit den Alliierten am Sieg gegen Hitler und Deutschland teilzuhaben, allerdings
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wurde Frankreich nicht an den Konferenzen von Jalta im Februar und in Potsdam im Juli/August 1945 beteiligt. De Gaulle und sein Außenminister Bidault hatten im Dezember 1944 Moskau besucht und einen auf 20 Jahre ausgelegten gegenseitigen Beistandsvertrag unterzeichnet, um einen Ausgleich zum englisch-amerikanischen Gewicht zu haben. Frankreich wurde jedoch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein ständiger Sitz zugebilligt (1. Januar 1945), außerdem gehörte Frankreich zu den vier Besatzungsmächten in Deutschland und Berlin. Mit dem Kriegsende wurden die Forderungen nach größerer Autonomie oder auch Unabhängigkeit in den Kolonien immer deutlicher geäußert. De Gaulle hatte im Januar 1944 eine Konferenz der französischen kolonialen Verwaltungsspitzen nach Brazzaville einberufen, auf der der Wunsch nach Autonomie zurückgewiesen wurde, es sollten aber Fördermaßnahmen für die eingeborene Bevölkerung sowie die Industrialisierung beschleunigt, die örtlichen Traditionen hingegen respektiert werden. Eine Bundesversammlung (Assemblée fédérale) wurde ins Auge gefaßt. Die Auflösung des Kolonialreiches als Konsequenz des Krieges stand noch bevor.
13.2 Die politische Entwicklung seit 1945 Nationale Souveränität, Außenpolitik und Entkolonialisierung Der Erste Weltkrieg hatte europahistorisch einen tiefen Epocheneinschnitt bedeutet, der Zweite Weltkrieg verstärkte ihn. Er bedeutete außerdem einen universalhistorischen Einschnitt. Die Folgen beider Einschnitte machten sich in Frankreich nach 1944/45 gravierend bemerkbar. Die IV. Republik wurde davon geprägt, die V. Republik verdankt ihre Entstehung dem in Frankreich unbewältigten weltpolitischen und universalhistorischen Strukturwandel. De Gaulle, der bis zum 20. Januar 1946 die Politik lenkte, versuchte weltpolitisch an die Dritte Republik anzuknüpfen. Aber auch innenpolitisch erfuhr diese ein Fortleben. Die Verfassung der IV. Republik implizierte keinen radikalen Bruch mit den Prinzipien der Vorgängerrepublik, die Kabinette wechselten nicht weniger häufig. Das Schwergewicht der politischen Kräfte hatte sich durch die Stärkung der Kommunisten aufgrund ihrer Rolle in der Résistance nach links verschoben, aber, selbst wenn die extreme Rechte durch Vichy diskreditiert war, spielten Traditionalisten und Rechte weiterhin eine bedeutsame politische Rolle. Die Résistance lieferte einen beachtlichen Anteil an den
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neuen Funktionsträgern in Politik und Verwaltung, eine Reihe politischer Gestalten aus der Dritten Republik, die zugleich Résistants gewesen waren wie Léon Blum, Vincent Auriol u. v. a. sorgte für eine nicht zu übersehende personelle Kontinuität. Es war de Gaulles Absicht gewesen, Frankreich als Nation neben den USA, Großbritannien und der UdSSR einen Platz als führende europa- und weltpolitische Kraft zu sichern. Das gelang ihm bis zu einem gewissen Grad. Die Aufgabe, die Entkolonialisierung zu gestalten, fiel nach seinem Rücktritt anderen zu. Vor allem Pierre Mendès France (Premierminister Juni 1954 bis Februar 1955) kam das Verdienst zu, den Indochinakrieg für Frankreich beendet zu haben, allerdings mit dem Resultat, daß Vietnam geteilt und einem jahrzehntelangen Krieg überantwortet wurde, den jedoch andere führten. Es zeigte sich dabei, daß das französische Kolonialheer seine festgefügten Vorstellungen von Frankreich als Kolonialmacht nur unter größten Schwierigkeiten modifizierte. Der zähe und blutige Prozeß, an dessen Ende die Unabhängigkeit Algeriens stand, hing damit zusammen. De Gaulle kam wieder an die Macht, als viele einen von Algerien ausgehenden Staatsstreich unter Beteiligung von Armeegenerälen befürchteten. Die schwierigste Phase der Entkolonialisierung, die Beendigung des schmutzigen Algerienkriegs, war mit dem Ende der IV. und der Einrichtung der V. Republik auf Betreiben de Gaulles, der als ,Retter der Nation’ in die Politik zurückkehrte, verknüpft. Wenn de Gaulle 1944 geglaubt hatte, daß die Gewährung bestimmter Formen von Autonomie ausreichen würde, das französische Kolonialreich in der Gestalt einer „Union française“ zu retten, so bekehrte er sich in der Algerienfrage nach der Machtübernahme (26. Mai/1. Juni 1958) langsam zu der Einsicht, daß Algerien unabhängig werden würde und werden müsse. De Gaulle hatte aber von der Vorstellung eines außenpolitisch autarken Nationalstaats nicht Abschied genommen. Er etablierte Frankreich als Atommacht und lockerte das Netz der Verbindungen zur NATO und der Einbindungen in die neuen europäischen Institutionen. Seine ,unabhängige’ Politik gegenüber den Staaten des Warschauer Pakts und den arabischen Ländern wurde oft mit der Politik eines blockfreien Landes verglichen. Frankreich gehörte aber nicht dem ,Block der Blockfreien’ an und war auch nicht neutral. Frankreich war unter de Gaulle ein Beispiel für die Doktrin des sich außenpolitisch autark gebenden Nationalstaats. Seine Nachfolger im Amt – Pompidou, Giscard d’Estaing, Mitterrand – lösten sich schrittweise von dieser Dok-
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trin und banden Frankreich in das europäische Netzwerk ein. Jacques Chirac schien noch einmal an die Doktrin de Gaulles anknüpfen zu wollen, als er kurz nach seinem Amtsantritt 1995 eine Serie von Atomtests auf dem Muroroa-Atoll durchführen ließ, aber diese Vermutung hat sich nicht nachhaltig bestätigt. Vielmehr wurden selbst die Bande zur NATO wieder enger geknüpft.
Innere strukturelle Wende Frankreichs Die entscheidende innere strukturelle Wende Frankreichs fiel ebenfalls in die Amtszeit de Gaulles in den 60er Jahren. Manifest wurde dieser Wandel vor aller Augen in den Monaten März bis Juni, besonders jedoch im Mai 1968. Der Rücktritt de Gaulles am 28. April 1969 vom Amt des Staatspräsidenten war eine Spätfolge des Mai 68. Die unmittelbaren Ereignisse des Mai 68 dürfen nicht überbewertet werden. Was mit dem Schlagwort vom „Mai 68“ verbunden wird, bezieht sich auf längerfristige, vorher einsetzende Transformationen, die die Revolte sichtbar machte und beschleunigte. An der Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Präsidenten und der Bevölkerung läßt sich der Wandel der politischen Zivilisation nachvollziehen: De Gaulle verstand sich selber als eine Art ,Retter der Nation’, er entwickelte noch einmal ein außenpolitisches Sendungsbewußtsein, beruhend auf uneingeschränkter nationaler Souveränität und außenpolitischer Autarkie. Das charakterisierte nicht nur ihn persönlich, sondern Ende der 50er Jahre zugleich gewisse Präferenzen in der französischen Wahlbevölkerung. De Gaulle ließ das Wahlvolk am 28. September 1958 über die neue Verfassung (V. Republik) abstimmen; die Verfassung des ,Retters der Nation’, die den Präsidenten der Republik zum starken Mann machte, erhielt eine Zustimmung von 79,25% der abgegebenen Stimmen. Die Verfassungsrevision vom 28. Oktober 1962, die eine Direktwahl des Staatspräsidenten vorsah, wurde trotz einer massiven Nein-Kampagne vieler Parteien mit 13 Mill. Ja-Stimmen (über 60%) gegen 8 Mill. Nein-Stimmen angenommen. Ende 1965 wurde de Gaulle im zweiten Wahlgang mit 55% der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Seinen Rücktritt am 28. April 1969 erklärte er konsequenterweise nach einem verlorenen Referendum (weniger als 47% Ja-Stimmen). Die Nation trennte sich schrittweise von dem Mann, der mit seiner Person für ein nicht mehr zeitgemäßes Nations- und Politikverständnis einstand. Die Entwicklungen, die Frankreich seit den 60er Jahren durchlaufen hat, zeichnen sich durch einen immer geringeren Anteil an
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nationalspezifischen Eigentümlichkeiten aus. Nicht, als seien die Französinnen und Franzosen nicht mehr ,sie selbst’: nach wie vor fällt es nicht schwer, aufgrund einer Vielzahl von Verhaltensweisen, die sich sowohl die Provenzalen wie die Bretonen spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jh. angeeignet haben, zu sagen, was „die Franzosen“ ausmacht. Zu den spezifischen Verhaltensweisen zählt auch das Protest- und Streikverhalten, das allerdings in anderen europäischen Ländern auf Parallelen trifft bzw. Nachahmer findet und so in ein eher unspezifisches Merkmal umgewandelt wird. Nicht wesentlich geändert hat sich der Umstand, daß der Festcharakter von inszenierter Widerständigkeit, Streiks u. ä. oder die Tolerierung von Gewalt gegen Sachen wie bei den Aktionen von Landwirten und Fernfahrern wenig mit den jeweiligen politischen Präferenzen oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht zu tun hat, Faktoren, die nach wie vor in Deutschland in diesem Zusammenhang für sichtbare Verhaltensunterschiede in der deutschen Bevölkerung sorgen. Die Sichtbarmachung und Vitalität der nationalen Identität ist in Frankreich nicht der Punkt. Was nicht mehr nationalspezifisch eingegrenzt werden kann, sind die strukturellen Bedingungen der Entwicklungen. Die Malaise, für die „Mai 68“ steht, war in Deutschland genauso vorhanden, aber auch die Veränderung der Städte infolge der zum Abschluß gelangenden Industrialisierung usf. Die Systeme der politischen Parteien gleichen sich im europäischen Rahmen auffällig an. Der Rhythmus, mit dem in verschiedenen Ländern mehrheitlich sozialdemokratisch/sozialistisch oder christdemokratisch/ konservativ gewählt wird, scheint sich aus der Sicht des September 1998 ebenfalls anzugleichen. Absolute Mehrheiten für eine Kandidatin/einen Kandidaten auf das Präsidenten-/Präsidentinnenamt oder auf ein Führungsamt in der Regierung werden immer seltener erreicht, wenn vom Verhältniswahlrecht ausgegangen wird. In der Praxis führt nur der Modus einer Stichwahl zwischen zwei Kandidatinnen/Kandidaten (zweiter Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Frankreich) zu einer absoluten Mehrheit oder es führt das Mehrheitswahlrecht evtl. zu einer absoluten Mehrheit der Mandate. Wahl- oder Zustimmungsquoten auf nationaler Ebene von über 60% scheinen der Vergangenheit anzugehören.
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Wandel der politischen Vernunft Die politische Vernunft ist nicht mehr in erster Linie eine ideologische Vernunft, sondern eine pragmatische, in der der Begriff der „Verantwortung“ eine gewisse Rolle spielt. Die Zielkonflikte gehen zurück, die Auseinandersetzung verlagert sich auf den richtigen Weg zum Ziel. Sicher stehen in der Politik immer Persönlichkeiten im Vordergrund. Aber der Rückgang absoluter Zustimmungsmehrheiten zu einer bestimmten Person, sofern sie nicht durch das Stichwahlrecht erzwungen wird (gemessen an der stimmberechtigten Bevölkerung, die tatsächlich zur Wahl gegangen ist, reduzieren sich solche absoluten Mehrheiten auf relative Mehrheiten), kennzeichnet eine Verlagerung von der Persönlichkeitsbindung auf die Ebene politischer Rationalität, der die Personen untergeordnet werden. In Frankreich zeigte sich dieser Übergang in dem Jahrzehnt zwischen den Regierungschefs Raymond Barre (1976 bis 1981), Pierre Mauroy (1981 bis 1984), Laurent Fabius (1984 bis 1986), gefolgt von Jacques Chirac als Premierminister der „cohabitation“ (sozialistischer Präsident, gaullistischer Premier, rechte Parlamentsmehrheit) vom März 1986 bis April 1988: Raymond Barre hatte die Grundlagen für eine Sparpolitik („austérité“) gelegt, der gegenüber die Verwirklichung des sozialistisch-kommunistischen Programms in den ersten beiden Jahren des Regierungschefs Mauroy einer ideologischen Wende gleichkam. Doch schon Mauroy mußte zum eigenen Programm auf Distanz gehen, Fabius knüpfte eher an die Linie von R. Barre an. Diese Linie wurde trotz des mehrmaligen Wechsels zwischen rechter und linker Mehrheit im Parlament und einer zweiten „cohabitation“ unter Chiracs Präsidentschaft mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin seit 1997 intensiviert und zur Stabilitätspolitik ausgebaut, die Frankreich zu einer tragenden Säule des Europäischen Währungssystems (EWS) und des EURO machte. Die These, daß die Zielkonflikte zurückgehen und die politische Rationalität entideologisiert sowie graduell entpersönlicht wird, wird durch das Ende der Auseinandersetzung um die Französische Revolution gestützt. Die Dritte Republik brachte die Revolution von 1789 ff. zum Sieg, ein weiteres Jahrhundert später, in den 1970ern, war diese Revolution zum historischen Erbe verdichtet und weitgehend konsensfähig, weil die Sensoren auf das Begreifen einer anderen Revolution, der Revolution der Zukunft, eingestellt werden mußten. Diejenigen, die die erfolgten Weichenstellungen und die Herausforderungen der Zukunftsrevolution nicht begreifen, gruppie-
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ren sich um die extreme Rechte, die vom Front national um JeanMarie Le Pen und Bruno Mégret verkörpert wird. Sie bilden eine beachtliche Minderheit zwischen 10% und 15% der Wahlbevölkerung, aber keine Menge, die die bisherige Transformation der politischen Zivilisation seit dem Zweiten Weltkrieg rückgängig machen könnte. Allerdings ist die klassische Droite, der von Chirac angeführte Rassemblement pour la République, einem Zerfallsprozeß ausgesetzt. Die Entwicklung des französischen Parteiensystems ist offen.
13.3 Transformation des Kolonialismus und Entkolonialisierung „Dank des Empire ist Frankreich eine Siegermacht.“ Die Kolonien hatten in doppeltem Sinne ein Eigenleben entfaltet: Zum einen waren schon in der Zwischenkriegszeit autochthone Unabhängigkeits- und Nationalbewegungen entstanden, zum anderen führten die Kolonialarmeen und die französischen Kolonisten ein vorstellungsweltliches Eigenleben, das das hierarchische Verhältnis zwischen Mutterland und Kolonien wie auf der Spitze der Algerienkrise geradezu umkehrte. Die Rolle des „Empire“ für de Gaulle’s France libre, der Einsatz von Soldaten aus den Kolonien bei der Befreiung Frankreichs bewirkten eine Lawine wohlmeinender Reden über die Kolonien, die aber in erster Linie der moralischen Aufrüstung Frankreichs dienten. Der Abgeordnete Gaston Monnerville sagte am 25. Mai 1944: „Ohne das Empire wäre Frankreich nur ein befreites Land; dank des Empire ist Frankreich eine Siegermacht.“
Kritik des Kolonialismus Die Entkolonialisierung wurde in den Kolonien selbst unter dem Druck der Unabhängigkeitsbewegungen und der Verwicklung in Kriege in die Wege geleitet. Erst danach kam die bessere Einsicht hinzu. Es war eine Minderheit unter den Intellektuellen und unter Katholiken, die sich nicht länger der Erkenntnis verschloß, daß die nichteuropäischen Kulturen ihre eigene Würde und Philosophie, ihre eigene Sinnhaftigkeit besaßen, daß die europäische Zivilisation nur infolge eines primitiven Denkens als überlegen angesehen worden war. Claude Lévi-Strauss veröffentlichte 1952 in einer Schriftenreihe der UNESCO den Essay „Race et histoire“ (Rasse und Geschichte), in dem er eine Position entfaltete, die später – keineswegs nur zustimmend – als Kulturrelativismus bezeichnet wurde. Er ging von der
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Gleichwertigkeit der Kulturen aus, stellte die sog. abendländische Zivilisation nicht über andere Kulturen. Die französische katholische Kirche ging in den Kolonialgebieten dazu über, frei werdende Priester- und Missionsstellen sowie vakante Bischofssitze nicht mehr mit Europäern, sondern mit Einheimischen zu besetzen. Der französische Episkopat stellte sich damit hinter die neuen Prinzipien des Vatikan. Ein Teil der katholischen französischen Presse wie Témoignage chrétien kritisierte zunehmend den Kolonialismus. Diese Zeitschrift wurde in den Kirchen verkauft, war aber in den Kasernen verboten. Selbst der Figaro gab seinen Lesern Stoff zum Nachdenken, indem er eine Zeitlang kolonialkritische Artikel von François Mauriac abdruckte. Wenn einerseits der Geist der UNO erste Auswirkungen zeitigte, so tat die Rezeption wissenschaftlicher amerikanischer Literatur ein weiteres, um wenigstens in der Wissenschaft die Schwächen des kulturellen Eurozentrismus zu entlarven.
Der „Holland-Komplex“ Am überzeugendsten waren schließlich wirtschaftliche Argumente. Die Niederlande hatten ihr indonesisches Kolonialreich verloren – und prosperierten wirtschaftlich. Diese Erkenntnis, bald der „Holland-Komplex“ genannt, regte zum Nachdenken über den Nutzen der Kolonien für Frankreich an. Raymond Aron in „Das Opium der Intellektuellen“ (1954), viele Artikel in Wirtschaftszeitungen und besonders eine Artikelreihe des Journalisten Raymond Cartier in Paris Match im August-September 1956 bewirkten in der öffentlichen Meinung den Eindruck, daß die für die Kolonien ausgegebenen Milliarden besser in Frankreich angelegt wären, um es international wettbewerbsfähig zu machen. Aufgrund der Wirkung der Artikel wurde vom „Cartierismus“ gesprochen. Führende Politiker wie René Pleven widersprachen Cartiers Thesen und beriefen sich auf Frankreichs Mission, die einen solchen „merkantilistischen“ Egoismus nicht zulasse. Nun war diese Mission inzwischen zur Pflicht mutiert, wie es Leopold Sedar Senghor, Mitschöpfer der „Négritude“, 1958 formulierte: „Frankreich ist nicht dazu berufen, denselben Weg wie die Schweiz oder Holland zu gehen. Es kann sich nicht damit begnügen, im Innern des Hexagons glücklich zu sein, es würde seine wirkliche Berufung verraten, die darin besteht, alle Menschen zu befreien, die ihren menschlichen Tugenden entfremdet wurden.“ (zit. nach Histoire de la France coloniale, Bd. III, S. 380) Nicht viel anders äußerte sich de Gaulle nach Beendigung des Algerienkriegs. Anspielend auf
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die Kooperation zwischen Frankreich und den zu unabhängigen Staaten gewordenen Kolonien hob er die neue Aufgabenstellung für Frankreich hervor. Das Werk der Kolonisation müsse nun durch ein Werk der Veränderung und Modernisierung vollendet werden, und dies sei wohl die größte und fruchtbarste Aufgabe, der sich Frankreich seit seinem Bestehen jemals gewidmet habe. Die Entkolonialisierung setzte sich bis 1980 fort, verblieben sind bislang bei Frankreich die TOM-DOM (Territoires/Départements d’outre-mer) (TOM: Mayotte, Neu-Kaledonien, Wallis-Futuna, Französisch-Polynesien, Flächen in der Antarktis; DOM: Saint-Pierre-et-Miquelon, Guadeloupe, Martinique, Guyana, Réunion). Die Diskussion darum, ob die an die Kolonien bzw. dann ehemaligen Kolonien gezahlten Milliarden nicht besser in Frankreich angelegt seien, setzte sich in den sechziger Jahren fort. Weitverbreitete Mängel im Mietwohnungs- und Sanitärbereich wurden aufgespießt, um Frankreich selbst zum unterentwickelten Land zu erklären. Diese Polemik führte jedoch dazu, daß die Fortführung der Wirtschaftshilfen für die ehemaligen Kolonien eher an Zustimmung gewann. Im September 1964 stimmten 52% der Befragten den Wirtschaftshilfen zu, nachdem im Mai nach neuerlichen Artikeln von Raymond Cartier und der Enteignung französischer Siedler in Tunesien durch Bourguiba die Zustimmung auf 32% gesunken war. Im November 1967 lag die Zustimmungsquote bei 67%. Rentner, Bauern, kleine Händler und Arbeiter stellten die Gegner. Die Diskussionen gewannen an Sachlichkeit, d. h. wohlklingende Argumente reichten nicht mehr aus, vielmehr mußten auch Journalisten und Politiker harte Fakten heranziehen, wenn sie überzeugen wollten.
Entkolonialisierung und nationale Identität Die Entkolonialisierung führte rund 1,7 Mill. Franzosen nach Frankreich zurück, eine weitere Folge war die steil ansteigende Einwanderung aus den Maghreb-Ländern. Die wirtschaftliche Integration der Rückkehrer verlief erstaunlich reibungslos. Trotz der Autonomiebewegungen, die sich in allen TOM-DOM bemerkbar machen, haben mit Ausnahme der Radikalisierung in Neu-Kaledonien in den 1980er Jahren diese Überreste des französischen Kolonialismus keine tiefergehenden Debatten mehr verursacht. Die wirtschaftliche und insbesondere demographische Verflechtung der DOM mit Frankreich ist soweit fortgeschritten, daß, anders als ein Autonomiestatut, eine staatliche Unabhängigkeit kaum Vorteile zu bieten scheint.
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Sieht man davon ab, daß der Mitte des 19. Jh. einsetzende christliche Missionseifer weiten Teilen der Bevölkerung die außereuropäische Welt in einer sehr spezifischen Perspektive „nahe“ brachte, bleibt zum Schluß dieses Abschnitts der Verweis auf die Forschungsergebnisse, daß die „France profonde“ vom Kolonialismus wenig berührt war, wenig wissen wollte und in der Tat wenig wußte. Frankreich als kulturelle Selbstreferenz hat durch den Kolonialismus keine wesentliche Transformation erfahren – und dies mag damit zusammenhängen, daß erstmals eine ausgesprochene Kolonialpolitik in der Zeit konzipiert wurde, in der zugleich die kulturelle Referenz Frankreich neu definiert wurde, in der Zeit Ludwigs XIV. und Colberts. Nichteuropäische Kulturen werden in Frankreich ebensowenig wie in anderen europäischen Ländern zu kulturellen Referenzen verdichtet. Die Verengung der politischen Diskussion vor allem auf die Probleme, die die Einwanderungsbewegungen mit sich bringen, hat daran ihren Anteil. Allerdings gibt es auch allgemeinere Gründe struktureller Natur. Die nationalen Kulturen in Europa hatten sich aufgrund vielfältiger Abgrenzungsprozesse profiliert; das war die Voraussetzung dafür, innerhalb einer anderen Kultur als Referenzkultur fungieren zu können. Zwar hat sich das Nationalstaatsprinzip global ausgebreitet, aber den knapp 200 Nationalstaaten heute entsprechen nicht 200 nationale Kulturen. Es fehlt eine strukturelle Voraussetzung für den Kulturtransfer. Es fehlt aber auch eine andere Voraussetzung: Referenzkulturen in Frankreich wurden solche, die den Prozeß von Fortschritt (was man jeweils dafür hielt) und Modernisierung nachhaltig zu befördern versprachen. Im globalen Kontext existiert heute keine nationale Kultur, die eine solche Funktion ausfüllen könnte. Entweder liegen die Niveaus der erreichten Modernisierung zu weit auseinander (z. B. Frankreich-Afrika) oder sie haben sich so sehr angeglichen, daß sich nur mehr in Einzelbereichen die Suche nach einer außerfranzösischen Referenz rentiert. Sektorale z. B. niederländische, deutsche oder amerikanische Referenzen reichen aber nicht aus, eine Referenzkultur entstehen zu lassen.
13.4 Wirtschaft Grundprobleme Spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war die Abhängigkeit der französischen Wirtschaft von weltwirtschaftlichen Konjunkturzyklen sowie vom Dollar und dem englischen Pfund sichtbar
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geworden. Diese Abhängigkeit war durch den Zweiten Weltkrieg gewiß nicht geringer geworden. Trotz der ökonomischen Konkurrenz der europäischen Staaten untereinander wuchs deren gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung. Sowohl die Sozial- und Arbeitsgesetzgebung wie auch die strukturellen Ausgangsbedingungen beispielsweise des Arbeitsmarktes ähneln sich sehr. Das Gleiche läßt sich über wesentliche gemeinsame Elemente aller Rezepte zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Überbeanspruchung des Sozialstaatsprinzips etc. sagen. Die Arbeitslosigkeit wuchs seit den 70er Jahren in fast allen westeuropäischen Ländern nachhaltig und nirgendwo ist es gelungen, die Arbeitslosigkeit auch nur annähernd zu beseitigen – trotz deutlicher regionaler Unterschiede. Die regionale Betrachtung der Arbeitslosigkeit unterstreicht zusätzlich zur europäischen Verflechtung, daß eine auf nationale Staatsgrenzen fixierte Betrachtung überholt ist. Der Wandel von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft, von dieser zur Dienstleistungs- und jüngst zur Kommunikationsgesellschaft, die durch einen hohen Anteil „neuer“ Kommunikationstechnologien geprägt ist, betraf und betrifft Frankreich in gleicher Weise wie die westeuropäischen Länder. Nachdem Frankreich lange Zeit mehr als Deutschland oder gar England noch agrarisch geprägt gewesen war, wurde der Prozeß der Industrialisierung nach dem Krieg beschleunigt und komprimiert durchlaufen. Die Phasen der Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft schlossen sich schneller an, gerade auch, was die Grundlage der letzteren Formation angeht, die Kommunikationstechnologien (vgl. etwa die Einführung des Minitel in den 80er Jahren, als Deutschland noch eine öde Kommunikationswüste war).
Dirigismus und Marktwirtschaft Nach dem Krieg bemühten sich die französischen Regierungen um eine koordinierte, auch dirigistische Wirtschaftspolitik. Quer durch alle Facetten der Résistance hatte ein erstaunliches Maß an Übereinstimmung darüber geherrscht, was in der Politik nicht mehr gewollt werden sollte. Die Ablehnung eines puren Kapitalismus, einer Marktwirtschaft nach dem Prinzip des Hire-and-Fire war einer der Konsenspunkte. Die Vertreter der Résistance hatten wirtschafts- und sozialpolitische Prinzipien formuliert, die sich mit Fug und Recht unter dem Namen der sozialen Marktwirtschaft zusammenfassen lassen, selbst wenn dieser Begriff erst in späteren Jahren im Kontext der zwischen der französischen und deutschen Wirtschaft gezogenen
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Vergleiche diskutiert wurde. Auch Frankreich erlebte in den 50er/ 60er Jahren ein Wirtschaftswunder, und das Bruttoinlandsprodukt lag zwischen 1959 und 1977 immer über den deutschen Werten. Eine der Konsequenzen aus den ökonomischen Überlegungen der Résistance-Zeit war die Erstellung von Wirtschaftsplänen, mit denen für den Zeitraum von drei bis fünf Jahren Zielvorgaben für die Volkswirtschaft und für einzelne Wirtschaftsbereiche formuliert wurden. Es handelte sich nicht um Planwirtschaft. Keinem Betrieb wurde ein bestimmter Output vorgeschrieben, vielmehr ging es darum, verbindliche Leitlinien für die Wirtschaftspolitik des Landes zu formulieren. In erster Linie nahm sich die Politik damit selbst in die Pflicht, sie verschaffte sich allerdings durch umfangreiche Verstaatlichungen auch die Instrumente, um lenkend in die Wirtschaft eingreifen zu können. Unter Mitterrand und Mauroy kam es zu einem zweiten Verstaatlichungsschub, der um einiges hinter den von der kommunistischen Partei erhobenen Forderungen zurückblieb. Ein Teil der Verstaatlichungen wurde während der ersten „cohabitation“ zurückgenommen, seit den 90er Jahren wird in Frankreich wie in den meisten westeuropäischen Ländern der Privatisierung staatlicher Unternehmen der Vorzug gegeben. Sichtbare Zeichen umgesetzter Wirtschaftspläne waren das Industriegebiet im Raum von Marseille mit einem Schwerpunkt in der Erdölverarbeitung, die Förderung atomarer Techniken für die militärische und energiewirtschaftliche Nutzung, die Förderung der Rüstungs-, Flugzeug- und Raumfahrtindustrie sowie der EDV-Technologien. Charakteristisch waren die Konzentrationsprozesse im Bereich von Kohle und Stahl, Banken und Versicherungen. Der Waffenexport wurde zu einer der wichtigsten Stützen des Außenhandels. Die Agrarpolitik machte Frankreich zu einer führenden Nation im Agrarexport. Es wurde nicht versucht, den im 9. Kapitel angesprochenen strukturellen Wandel auf dem Land abzuschnüren oder gar umzukehren, vielmehr wurde die Mechanisierung der Landwirtschaft und die Bildung größerer, wirtschaftlich überlebensfähiger Betriebe unterstützt. Als Beispiel mag man sich die riesigen Maisfelder zwischen Bordeaux und Arcachon mit ihren aufwendigen Bewässerungssystemen vor Augen halten. Die Agrarpolitik wurde von den französischen Regierungen auch auf europäischer Ebene maßgeblich mitgestaltet. Der gemeinsame Agrarmarkt baut wesentlich auf Subventionen für die Betriebe auf, ein Konstruktionsprinzip, das nachhaltig von Frankreich gefördert worden war.
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13.5 Gesellschaft Demographische Entwicklung Unter demographischen Gesichtspunkten hatte die französische Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg einen Tiefpunkt erreicht. Die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Ehepaar nach zehn Jahren Ehe betrug zwischen 1920 und 1934 lediglich 1,8. Doch schon seit 1940, also im Zweiten Weltkrieg, machte sich eine Trendwende bemerkbar, zwischen 1940 und 1951 stieg die Vergleichszahl auf 2,3 Kinder an. Diese Trendwende betraf alle Bevölkerungsschichten, war aber bei Freiberuflern, leitenden Angestellten und Arbeitern besonders ausgeprägt (Steigerung um mehr als 0,5 pro Ehepaar). Gleichzeitig sank die Sterblichkeitsrate, während die Lebenserwartung stieg. Im Zuge der Entkolonisierung stieg die Immigrations- und Rückkehrrate an. Zwischen 1954 und 1961 betrug die Zuwanderung im Jahresdurchschnitt 155.000 Personen, 1962 schnellte sie wegen der Rückkehrer aus Algerien auf 700.000 hoch, um dann bis 1973 bei ca. 140.000 Personen pro Jahr zu verbleiben. Danach sank die Rate deutlich. Bis 1950 alterte die Gesellschaft, nach 1950 verjüngte sie sich einerseits, indem bis 1968 der Anteil der unter Zwanzigjährigen auf 33,8% stieg, andererseits erhöhte sich der Anteil der über 65jährigen kontinuierlich auf 17,9% im Jahr 1968. Danach sank der Anteil der unter Zwanzigjährigen auf 26,5% (1990), während nach einer kurzfristigen Rückentwicklung zwischen 1975 und 1982 (Folge des Ersten Weltkriegs) die Zahl der über 60jährigen auf 19,9% (1990) anstieg.
Entwicklung der arbeitsaktiven Bevölkerung Die Zahl der arbeitsfähigen Frauen und Männer (20/64 Jahre alt) lag 1946 mit 23,8 Mill. deutlich tiefer als in den 1930er Jahren. Danach stieg die Zahl langsam an, so daß auf dem Arbeitsmarkt eher Arbeitskräftemangel herrschte, danach erhöhte sie sich bis 1974 rapide auf 28,9 Mill. und sorgte für einen Arbeitskräfteüberschuß. Auf die Gesamtbevölkerung bezogen verringerte sich der Anteil der arbeitsaktiven Bevölkerung von 52% (1921) auf 39,5% (1990, ohne Arbeitslose), während die absolute Zahl (arbeitslos Gemeldete mitgerechnet) von 20,1 Mill. (1921) auf 25,3 Mill. (1990) stieg. 1954 kamen auf 100 Berufstätige 123 Nichtberufstätige, 1990 jedoch schon 153. 1954 arbeiteten 73,3% aller Männer (15 Jahre und älter), 1990 noch 45,3%. Bei den Frauen verlief die Entwicklung von 39% im Jahr 1954 über
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35,8% im Jahr 1975 auf 34,9% im Jahr 1990. Noch aussagekräftiger ist der Vergleich von Altersgruppen. Die Gruppe der 25- bis 54jährigen stellt bei Frauen und Männern die arbeitsaktivste Gruppe: hier arbeiteten 1990 95,5% der Männer und 74,8% der Frauen, 1954 hingegen 96,4% der Männer und 43,4% der Frauen. Insgesamt ist der Abstand zwischen arbeitsaktiven Männern und Frauen sehr viel kleiner geworden, aber nicht, weil ein immer größerer Teil der weiblichen Bevölkerung arbeitet, sondern weil ein immer kleinerer Anteil der männlichen Bevölkerung, jeweils ab 15 Jahre aufwärts einschließlich der über 65jährigen, arbeitet. Von einer Femininisierung der Arbeitswelt nach dem Krieg kann deshalb nicht einschränkungslos gesprochen werden, dennoch ist mit Blick auf die Altersgruppe der 25–54jährigen der Begriff nicht abwegig. Darin schlägt sich die langfristige Verlagerung der Berufsausbildung von der Ausbildung der körperlichen und handwerklichen Befähigungen auf die Ausbildung durch schulische und hochschulische Bildungsgänge nieder. Dem entspricht, daß inzwischen der tertiäre Sektor den größten der drei Vergleichssektoren bildet. Diese Entwicklungen sind nicht allein frankreichspezifisch, sie betreffen im Prinzip alle hochindustrialisierten Länder, die seit Mitte der 60er und in den 70er Jahren die Wende zur postindustriellen Gesellschaft angetreten haben.
Endgültiges Ende der agrarisch geprägten Gesellschaft In Frankreich stand für die Entwicklung von einer agrarisch geprägten Gesellschaft hin zur postindustriellen Gesellschaft weniger Zeit zur Verfügung als in anderen Ländern. 1906 waren 43,2% der Aktiven im Primärsektor, 29% im Sekundär- und 26,1% im tertiären Sektor tätig. Bis 1946 veränderte sich das Bild nicht dramatisch: während der Primärsektor rund 7% verlor und der tertiäre rund 6,5% gewann, blieb der sekundäre Sektor bei 29,5%. Erst nach dem Krieg beschleunigte sich der Wandel in der Tat dramatisch: 1975 waren nur noch 9,5% der Aktiven in der Landwirtschaft verblieben, 39,2% arbeiteten in der Industrie, 51,3% im tertiären Sektor. Die Trends in allen drei Sektoren haben sich bis heute nicht verändert. Der Weg in die Industriegesellschaft bedeutet immer auch einen Wertewandel, aber dieser fiel in Frankreich geringer aus als beispielsweise in Deutschland. Dennoch gleichen sich heute, trotz z. T. auseinanderliegender Entwicklungswege, die deutsche und französische Gesellschaft in vieler Hinsicht. Es kommt bei der Einstufung einer Gesellschaft in einen bestimmten Typus nicht zuletzt auf die Verände-
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rung der Maßstäbe an. Selbst wenn der Agrarsektor heute gemessen an der Zahl der Beschäftigten wie dem Anteil am Bruttosozialprodukt klein ist, heißt das noch nicht automatisch, daß es keine ländliche Prägung mehr gibt. Wird die Kategorie „Stadt“ nicht unverändert auf alle Kommunen ab 2.000 Einwohnern angewendet, sondern auf Kommunen ab 20.000 Einwohnern, dann leben immer noch mehr als 40% der französischen Bevölkerung im ländlichen Raum in Dörfern und sehr kleinen, ländlich geprägten Städten. Nur: es sind zumeist keine Bauern mehr, so daß eine immer noch sichtbare ländliche Prägung nicht mit den Werthaltungen einer agrarischen Gesellschaft zu identifizieren ist.
Mai 68 und gesellschaftlicher Wertewandel Der Wertewandel hatte und hat natürlich viele Facetten. Fokussiert läßt er sich jedoch anhand der veränderten sexuellen Einstellungen der Bevölkerung beschreiben. Die verschiedenen demographischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungstrends trafen Ende der 60er Jahre aufeinander und lagen den Mairevolten von 1968 zugrunde. Die von der erwachsenen Jugend geforderte sexuelle Freizügigkeit wies Sexualität in der Gesellschaft eine veränderte Funktion zu. Modelle von Gesellschaften, die auf sozioökonomische und demographische Reproduktion konzentriert waren und damit Lebensstile und Lebenswege weitgehend vorschrieben, hatten ausgedient. Die Infragestellung der traditionellen Auffassung von Autorität wies in die gleiche Richtung. Im Frühjahr 1968 schien es für einen Augenblick so, als sei die V. Republik selbst zum Opfer der Autoritätskrise bestimmt, aber soweit kam es nicht. Die geforderte Liberalisierung griff zweifellos im privaten Bereich, gestützt von einigen gesetzlichen Maßnahmen wie der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs innerhalb einer Dreimonatsfrist, aber in Schulen und Hochschulen blieb das Autoritätsprinzip in abgeschliffener Form gültig. Nach wie vor rekrutieren sich außerdem die Führungsschichten aus den polemisch so genannten „Zweihundert Familien“ (es sind viel mehr, und die tatsächliche soziale Mobilität wird durch den polemischen Ausdruck verdeckt), bilden die Hautes Écoles und die Écoles Nationales die unausweichliche Drehscheibe für eine Karriere in die Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung sowie den Hochschulen. Die Hohen Schulen selektieren nicht nach sozialer Zugehörigkeit, sondern nach Qualifikation.
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Eine „société moyenne“? Wenn letzteres speziell Frankreich charakterisiert, hat sich die soziale Schichtung im übrigen den allgemeinen Verhältnissen in Westeuropa angeglichen. Die Diversifizierung und Veränderung der Berufsbilder hat insbesondere die Arbeiterschaft verändert. Der Facharbeiter (ouvrier qualifié) steht dem Angestellten näher als dem angelernten oder Hilfsarbeiter, unter denen sich viele Immigranten befinden. Die gesellschaftliche „Frontlinie“ verläuft eher hier als zwischen ArbeiterAngestellter-(Klein-)Bürger. Ob es noch eine Grande Bourgeoisie gibt oder nicht, ist umstritten, aber sie wäre mit der der Belle Époque um 1900 nicht mehr vergleichbar. Bis in die späten 70er Jahre konnte man auf mittleren Weingütern im Bordelais noch feudale Dienst- und Lebensweisen antreffen, die aber eine Marginalie bildeten. Es ist ohnehin die Frage, ob mit der Analyse sozialer Schichten die postindustrielle Gesellschaft genau erfaßt werden kann. Es wurde der Begriff der société moyenne (Jacques Lautman) geprägt, der die Angleichung der Lebensverhältnisse bei der städtischen unselbständig beschäftigten Bevölkerung ausdrückt. Die Egalisierungstendenzen der Konsumgesellschaft verwischen ehemals gültige Schichtgrenzen, neue Produkte wie seinerzeit der PC eignen sich nur für sehr kurze Zeit als soziales Distinktionsmerkmal. Dasselbe gilt für die Symbolik des ,Cool-seins’, für die Rolle von „Marken“ in der Mode oder bei anderen Konsumartikeln usf. Die zur sozialen Distinktion benutzten Zeichen und Symbole sind in aller Regel keine nationalspezifischen, im Kontext nur der Nation verständlichen Mittel, sondern beziehen sich auf globalisierte Gesellschaftsformationen.
13.6 Kultur und Literatur Massenkulturen Die Nivellierung sozialer Grenzen hängt eng mit der Ausbreitung einer Massenkultur zusammen, deren wichtigster Motor zunächst die Medien Radio und Fernsehen gewesen waren. Die neuen Medien (Video, CD bzw. CD-Rom, Internet, andere Kommunikationstechnologien) treiben diesen Prozeß voran. Sie machen nicht nur neue kulturelle Inhalte und Gegenstände (z. B. die Kultur der HollywoodFilme) zum Massenphänomen, sondern auch die ehemals einer Bildungselite vorbehaltenen Kulturgüter wie die Oper oder die klassische Musik. Lokal und regional ziehen Musik-, Tanz- oder sonstige Festivals viele Menschen an. Diese Erscheinungen sind prinzipiell
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nicht auf Frankreich begrenzt, höchstens der den Franzosen von Soziologen bescheinigte Initiativgeist sorgt für eine Reichhaltigkeit auch außerhalb der großen Städte, wie sie in anderen Ländern so womöglich nicht anzutreffen ist. Aber bewiesen ist das nicht.
Literaten Zu den besonderen kulturellen Prägungen zählen die Literatur, Philosophie, Soziologie und Historiographie. Seit dem Krieg ist die Reihe der erfolgreichen Literaten – literarisch oder wissenschaftlich – nicht abgebrochen. Die Kunst, auch Wissenschaft und Philosophie literarisch darzustellen, bedingte den Erfolg der Autorinnen und Autoren. Albert Camus und Jean Paul Sartre haben durch eine literarisch vermittelte Philosophie (Existentialismus insbesondere bei Sartre) eine ganze Generation nicht nur in Frankreich geprägt, für Simone de Beauvoir gilt das gleiche in bezug auf die literarische Darstellung und Verarbeitung der von ihr selbst gelebten und beförderten Frauenemanzipation. Über zwei Jahrzehnte beherrschte das Experiment des Nouveau roman (Alain Robbe-Grillet, Michel Butor; Nathalie Sarraute; Claude Ollier) die literarische Diskussion um die Gattung Roman, um den Prozeß und die Materialität des Schreibens an sich. Deutungen der zeitgenössischen Gesellschaft lehnen sich vor allem an den Soziologen Pierre Bourdieu, an die Philosophen Roland Barthes (1915 bis 1980), Jacques Lacan (1901 bis 1981) u. a. oder an den Philosophen-Architekten Paul Virillio an. Zur Blüte der literarischen Kultur haben nicht zuletzt Historiker beigetragen. Nicht, daß sie Geschichte in Literatur aufgehen ließen. Geschichtswissenschaftliche Konzepte wie Sozial- (sog. Schule der Annales, beginnt in den 1920/30er Jahren: Marc Bloch, Lucien Febvre; Pierre Goubert) und Mentalitätsgeschichte (Michel Vovelle) sowie die psycho-histoire (Robert Mandrou) haben weltweit Widerhall gefunden und schulbildend gewirkt. Die Sozialgeschichte des Buches, des Lesens, der Bildung sowie die new intellectual history verdanken wesentliche Impulse der französischen Geschichtswissenschaft. Die Breite der Rezeption lag nicht nur an der Überzeugungskraft allein der wissenschaftlichen Konzepte, sondern auch am Stil einer literarischen Wissenschaftssprache und der Fähigkeit zu permanenter Selbstreflexion der eigenen Wissenschaft vor großem Publikum (François Furet; Georges Duby; Pierre Chaunu). Mehr als anderswo waren bis in die jüngste Zeit bestimmte Historiker in der Öffentlichkeit ebenso präsent und wurden gehört wie sonst Mode- oder Star-
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philosophen und -soziologen. Umgekehrt pflegen viele Politiker ein literarisches oder wissenschaftlich-literarisches Engagement wie etwa Jacques Attali, eine der zentralen Figuren seinerzeit aus dem Umkreis Mitterrands, oder Robert Badinter, ein hervorragender und aktiver Rechtshistoriker in seiner Zeit als Justizminister, Garde des Sceaux und schließlich Präsident des Conseil Constitutionnel – zwei von vielen möglichen Beispielen.
Architektur und Sozialphilosophie Die Verbindung von Architektur und Sozialphilosophie ist für Frankreich charakteristisch. Sie besitzt eine lange Tradition, die im ersten Teil des Buches als Momentaufnahmen am Beispiel der von Stadtbürgern finanzierten gotischen Kathedralen, der frühneuzeitlichen Könige Franz I. und Ludwig XIV. sowie am Beispiel der Stadterneuerung von Paris unter Napoleon III. diskutiert worden war. Sie wurde von den Präsidenten seit Pompidou und Giscard d’Estaing bewußt fortgeführt: Mit dem Centre Georges Pompidou wurde nicht nur dieser Präsident geehrt, sondern auch dessen Wille, Frankreich in die jüngste Phase der Modernisierung zu führen, mit einem Kultur und Technik versöhnenden Bauwerk materialisiert. Der Abriß der Markthallen im Zentrum von Paris (Giscard d’Estaing), der in gewissem Sinn Paris ein historisches Herz herausoperierte, und der Aufbau eines neuen Konsumzentrums sowie die damit einhergehende Umstrukturierung des gesamten alten Viertels um die Halles spiegelt stadtarchitektonisch den oben skizzierten Wandel der Gesellschaft seit den ausgehenden 60er Jahren wider. Wie ein frühneuzeitlicher Monarch hat François Mitterrand für die architektonische Umsetzung seiner Sozialphilosophie gesorgt. Am nächsten stehen dieser sicher der Neubau der Nationalbibliothek und die Grande Arche (La Défense) mit ihrem Bezug auf die Droits de l’homme. Während letzteres auf den angesprochenen Prozeß der Rationalisierung und Entideologisierung der Politik in der Gesellschaft verweist, steht die neue Nationalbibliothek mit ihrer Verbindung aus Buch – architektonisch hervorgehoben –, Technik und neuen Medien für die postindustrielle Kommunikations- und Wissenschaftsgesellschaft.
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13.7 Die Europäisierung Frankreichs Amerikanische Nachhilfe: der Marshallplan Als kulturelle Referenz hatte Europa einen hohen Stellenwert in Frankreich eingenommen. Dies ist heute nicht anders, aber der Europäisierungsprozeß in Frankreich selbst läßt sich eindeutiger als früher wahrnehmen. Einige Aspekte sind in den vorstehenden Abschnitten genannt worden. Nachdem das Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst in eine Betonierung des Nationalstaatsprinzips geführt hatte, gehörte Frankreich frühzeitig zu den zuverlässigsten Architekten der Institutionalisierung Europas. Anfangs im wohlverstandenen Eigeninteresse, heute zunehmend im Interesse einer transnationalen Europavorstellung. Mit Europäisierung ist die Verbindlichkeit trans-, supra- und anationaler Prinzipien in Frankreich gemeint. Der seit Kriegsende zurückgelegte Weg ist in dieser Hinsicht beachtlich. Abgesehen von den Widerstandsplänen der Résistance, die nicht zum Zuge kamen, hatten Mitglieder und Berater der provisorischen Regierung in Algier seit 1943 vermehrt europapolitische Ideen produziert. Geostrategische und wirtschaftliche Überlegungen spielten dabei eine überragende Rolle. Der zentrale Punkt aller Überlegungen war jedoch die Behandlung der deutschen Frage. Jean Monnet (1888 bis 1979) entwarf das Szenario einer europäischen Föderation, deren Ziel die Integration der europäischen Wirtschaft sein sollte. Monnet bezog Deutschland in seine Pläne mit ein. De Gaulle favorisierte letztendlich eine Zollunion mit den Benelux-Staaten, als Konföderation ausbaufähig, zu der Großbritannien hätte hinzustoßen können. Er verfolgte anfangs eine Teilung Deutschlands, für die mehrere Modelle im Raum standen: Bildung eines schwerindustriellen „Lotharingiens“, bestehend aus Lothringen, Rheinland und Ruhrgebiet; Abtretung der deutschen Kohle-Stahl-Regionen an Frankreich; französisch-süddeutsche Union; Aufteilung Deutschlands in mehrere Gebiete mit unabhängigem oder Autonomiestatus; Internationalisierung des Ruhrgebiets. Bis 1947 wurde französischerseits keine Europapolitik um Europas willen verfolgt, sondern um der Interessen Frankreichs willen. Diese Politik scheiterte an Großbritannien und den USA, der französischen Außenpolitik wurde ihre relative Ohnmacht und das Faktum vor Augen geführt, daß es ein Westeuropa (um das ganze Europa ging es spätestens seit 1944 ohnehin nicht mehr) mit der Hauptfunktion, ein politisches und wirtschaft-
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liches Bollwerk gegen Deutschland zugunsten Frankreichs zu bilden, nicht geben würde. Die Amerikaner benutzten ein durchschlagendes „Argument“, den Marshall-Plan (Juni 1947) oder exakter das European Recovery Program. Wie durchschlagend bezüglich eines neuen Ausmaßes europäischer Kooperation das Programm war, zeigte sich an der Reaktion der Sowjetunion, die nach einer Reihe von Verhandlungen eine Beteiligung an dem Programm ablehnte. Sie befürchtete Einbußen an nationaler Souveränität und eine bedeutende Schmälerung ihres Einflusses auf Osteuropa.
Westeuropa statt Europa Für die Sozialisten unter Léon Blum war die sowjetische Ablehnung ein besonders schwerer Schlag. Bis dahin hatte Blum Problemlösungen der internationalen Politik vor allem in der Perspektive der UNO diskutiert, Europa war ihm kein letzter Maßstab. Nach der Absage der Sowjetunion und – unter dem Druck der SU – der osteuropäischen Staaten dachten Blum und die SFIO um: Westeuropa wurde nun eine reale internationale politische Größe, die es zu organisieren galt, wenn auch letztlich im Hinblick auf eine globale internationale Organisation. Auf der Konferenz von 16 europäischen Ländern Mitte Juli 1947 in Paris wurde die Einrichtung eines „Committee of European Economic Cooperation“ beschlossen, am 16. April 1948 die Konvention über die „Organization of European Economic Cooperation“ (OEEC) unterzeichnet. Der Marshall-Plan bedeutete für zahlreiche Europabewegungen, insbesondere auch in Frankreich, einen gewaltigen Motivationsschub, aber die Wege der Regierungen und der Bewegungen blieben durch breite Gräben getrennt. Die Konferenz von Den Haag 1948 schien für einen Moment diese Gräben zuzuschütten, aber der Schein trog vorerst.
Deutschlandfrage Die OEEC stellte eine Chance dar, die schleppend, aber immerhin, ergriffen wurde. Da die Amerikaner auf einer Einbeziehung Deutschlands bestanden und sich Großbritannien hartnäckig allen französischen Avancen für eine französisch-britische Führung Europas widersetzten, veränderten sich die französischen Positionen schrittweise. Schon bei den Vorbereitungen zur Gründung des Europarats, die maßgeblich von Frankreich ausgingen, war die künftige Integration Deutschlands in die neuen Strukturen akzeptiert. In der Tat war die Lösung der Deutschlandfrage die Kernfrage jeder Art von euro-
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päischer Integration. Der Schuman-Plan vom 9. Mai 1950 (korrekterweise müßte es „Alphand-Monnet-Schuman-Plan heißen) stellte einen ersten realistischen Kompromiß zwischen den früheren Zielen der „antideutschen“ Europapolitik Frankreichs und einer echten europäischen Integrationspolitik dar. Folge dieses Plans war die Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS), deren erster Präsident der entschiedenste französische Europäer, Jean Monnet, wurde.
Die Europapolitik der Vierten Republik Es fehlte in Frankreich nicht an Politikern, die Europa wollten: nicht um seiner selbst willen, aber weil sie in einer zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Integration Europas die bessere Möglichkeit sahen, Frankreich zu modernisieren und ihm einen hohen politischen Rang zu sichern. Neben Monnet und Schuman sind hier Hervé Alphand, auch Georges Bidault, der Zauderer, vor allem Guy Mollet, der Frankreich in die EWG führte, und selbst Mendès France zu nennen, unter dessen Ministerpräsidentschaft zwar die Nationalversammlung die Verträge zur Europäischen Verteidigungsunion ablehnte, der aber dennoch wichtige Weichenstellungen für das künftige Europa ermöglichte. Der immer schnellere Zusammenbruch des Kolonialreiches und die offensichtlich immer größere Bereitschaft der französischen Politiker in den 1950er Jahren, der Einrichtung europäischer Institutionen zuzustimmen, die die nationale Souveränität tangierten oder, wie die EWG, den französischen Protektionismus infragestellten, hingen eng zusammen. Gérard Bossuat, der die Europapolitik der IV. Republik genauestens und kritisch untersucht hat (Bossuat, 1996), unterstreicht die Bedeutung dieser äußeren globalen politischen Zwänge, die Frankreich zur Wegbereiterin der EU von heute machten. Aber hätte man wirklich völlig andere Motive erwarten können? Ging es in den anderen europäischen Ländern anders zu? Verfolgten sie nicht allesamt nationale Interessen, die den Zeitumständen entsprechend, das heißt nach dem Ende sich autark gerierender nationaler Imperien, nur im europäischen Verbund erreicht werden konnten? So sehr Frankreich die Schuld am Scheitern der EVG angelastet wurde, so sehr muß berücksichtigt werden, daß sich die Regierungen der IV. Republik fast immer sehr viel weiter in das Projekt einer europäischen Union hineinwagten als die französische Bevölkerung selbst, ihre politischen Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeber.
384 Nachkriegsgeschichte
Gerade der Eintritt in die EWG war gemessen an den innerfranzösischen Verhältnissen ein mutiger Schritt.
Europäisches Frankreich Die IV. Republik hat den Europarat, die EGKS, die WEU, Euratom und die EWG ermöglicht. Sie sah darin Instrumente, Deutschland unter Kontrolle zu halten und Frankreich den ersten Platz in Kontinentaleuropa zu sichern. Beide seinerzeit einsichtigen Motive haben die Politik jedoch nicht daran gehindert, die Idee der Kontrolle zu einer Idee französisch-deutscher Freundschaft umzuschmieden. Die Einsicht, daß Frankreich kaum auf Dauer allein eine in Europa dominierend-dirigierende Rolle spielen könnte, machte sich schon vor der Wiederkehr de Gaulles an die Macht bemerkbar. Die Debatten vor der Volksabstimmung über den Vertrag von Maastricht, das Gezerre um den Präsidenten der Europäischen Zentralbank 1998 erinnern an die Strategien der 1950er Jahre. Aber sie sind nicht die restaurierten politischen Prioritäten der 50er Jahre. Bossuat schließt seine Analyse der Europapolitik der IV. Republik mit einem vorsichtigen Ausblick auf die 1990er: Sicherheit sei nach wie vor ein prioritäres Ziel französischer Politik, aber nicht mehr im Hinblick auf Deutschland, sondern auf die Sicherheit Europas. Das Ideal eines Vereinigten Europa, zu dem sich sehr viele Politiker in den 40er und 50er Jahren bekannten, wird heute mit mehr Leben erfüllt. „Ideal“ bedeutet(e) vor allem, auf Teile der früheren nationalen Souveränität zu verzichten. Frankreichs konstruktive Rolle bei der Währungsunion zeigt überdeutlich im Vergleich zu den Diskussionen um eine mögliche europäische Währungsunion in den ersten zehn Jahren nach Kriegsende, wie weit sich französische Politik und öffentliche Meinung auf die Anerkennung supranationaler Institutionen zubewegt haben. Jean Monnet wurde wegen seiner Ideale seinerzeit von interessierten Kreisen beschuldigt, im Dienst der Amerikaner und, noch schlimmer, der deutschen Interessen zu stehen. Robert Schuman mußte sich als „boche“ („Deutscher“) traktieren lassen. Bleibt als drittes Motiv der Rang Frankreichs, damals wie heute. Hier mag man sich noch am ehesten treu geblieben sein – seit Ludwig XIV. –, aber dieses Motiv bleibt gegenüber der Europäisierung der beiden anderen Motive nach Bossuat, nämlich Sicherheit und Ideal, faktisch blass, selbst wenn es sich für symbolische Zeichensetzungen immer wieder eignet. Die Institutionalisierung Europas vollzieht sich heute mehr als früher im kulturellen, Bildungs- und akademischen Bereich. Greifen wir
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als Beispiel die eigene Disziplin, die Geschichtswissenschaften, heraus. Die wissenschaftlich betriebene Geschichte hat eine Vergangenheit als Zuträgerin des Nationsbewußtseins, auch des Nationalismus. Wie steht es heute damit? Bei der Suche nach neuen Darstellungsmöglichkeiten europäischer Geschichte hat die französische Historiographie eine Fruchtbarkeit entwickelt, die die der deutschen Historiographie bei weitem übertrifft. Besonders charakteristisch ist das dreibändige Werk „L’Esprit de l’Europe“. Zum einen knüpft es an das Wort von der „Seele Europas“ (l’âme de l’Europe) an, das nicht erst Jacques Delors als Präsident der Europäischen Kommission prägte, sondern das in Frankreich schon am 2. Januar 1949 in der Zeitung Le Populaire-Dimanche (Bossuat, 1996, 101) mit Blick auf die Europapolitik der Guy Mollet, Robert Schuman und anderer ausgesprochen worden war. Zum anderen knüpft es mit der Gesamtkonzeption, besonders mit Band 1 („Dates et Lieux“) an das Konzept der Lieux de mémoire (Pierre Nora) an, mit Band 2 („Mots et Choses“) an die Diskursforschung Michel Foucaults und mit Band 3 („Goûts et Manières“) an die französische Mischung aus historischer Anthropologie, Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Nachkriegsjahrzehnte an. Der Blick ist französisch und dennoch europäisch, er ist symptomatisch für die sich in Frankreich vollziehende Synthese aus Frankreich und Europa. Nicht weniger als in anderen europäischen Ländern geht es bei diesen Prozessen um eine spezifisch französische Sicht Europas, in der es dem nationalen Selbstverständnis zugute kommt, wenn wichtige Institutionen wie der Europarat, das Europäische Parlament oder die European Science Foundation in Straßburg angesiedelt sind. Völlig unabhängig von der Frage, was wünschenswert ist, bleibt als einfache Tatsachenfeststellung, daß auch in Frankreich die Bestimmung nationaler Identität trotz aller nachweisbarer Europäisierung des Landes, der Gesellschaft und der Institutionen Vorrang vor einer gegenwärtig nicht definierten oder nicht definierbaren europäischen Identität besitzt.
386 Schlußbetrachtung
14
Schlußbetrachtung: Frankreich im interkulturellen Netz
„Warme Modernisierungsprozesse“ Der Begriff des „interkulturellen Netzes“ ist in zwei Richtungen zu verstehen: in Richtung auf Europa, in Richtung auf Außereuropa. Der für die Zukunft bedeutsame Wandlungsprozeß spielt sich auf der individuellen Ebene ab, wo sich die Rezeption europäischer und außereuropäischer Kulturen kreuzt. „Zunächst fällt auf“, so formulieren die Soziologen Hradil und Immerfall (1997, 21), „daß die gesellschaftlichen »Flickenteppiche« (von Bevölkerungsweisen, Lebensformen, ethnischen Kulturen, sozialen Milieus und Lebensstilen, Einrichtungen eines welfaremix, Einwandererkulturen, Konsumstilen und vieles andere mehr), die heute gesellschaftliche Entwicklung weiter treiben, sozusagen »warme« Muster gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellen. »Warm« sind sie, wenn man sie vergleicht mit jenen »kalten«, bürokratisierten, institutionalisierten, anonymen Gefügen wie etwa einer Rentenversicherung, einer Universität, einem großen Gewerkschaftsbund oder einer Volkspartei, die lange als hervorragende Beispiele gesellschaftlicher Modernisierung galten. Jene »warmen« Modernisierungserscheinungen befriedigen erst in zweiter Linie Grundbedürfnisse und Interessen der einzelnen (wie Sicherheit, Wohlstand, Gesundheit und Bildung). Das tun die herkömmlichen Basisinstitutionen der Modernisierung wesentlich effizienter und nicht zuletzt deswegen werden sie auch bestehen bleiben. Jene »neuen«, »subjektiven« Modernisierungsphänomene, die sich heute an die Spitze gesellschaftlicher Entwicklung gesetzt haben, tragen in erster Linie zur sozialen Integration und personalen Identität bei, indem sie Individuen in Netzwerke und Gemeinschaften einbinden. Sie stellen überdies Sinnangebote bereit und versuchen damit, eine der empfindlichsten Lücken zu schließen, die die organisierte, anonyme, funktional spezialisierte Modernisierung hinterlassen hat.“ Die hier angesprochenen beiden chronologisch aufeinanderfolgenden Modernisierungsprozesse haben Frankreich wie die anderen europäischen Länder erfaßt. Der erste Modernisierungsprozeß, mit dem sich die Geschichtswissenschaft theoretisch und inhaltlich ausführlich auseinandergesetzt hat, war mit dem Prozeß der Nationswerdung verbunden, der gegenwärtige „warme“ Modernisierungsprozeß ist mit der Außerkraftsetzung der durch die nationale kulturelle Identität gezogenen Grenzen verknüpft. Bei beiden Modernisierungen handelt es sich um makrohistorische Abläufe, allerdings auf funda-
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mental unterschiedlichen Basen. Träger der inzwischen historisch zu nennenden Modernisierung waren Staaten und Kollektive, Träger des gegenwärtigen Modernisierungsprozesses sind Individuen. Essentiell ist die Feststellung von Hradil und Immerfall, daß die Ergebnisse der ersten Modernisierung nicht obsolet geworden sind. Die sozialen Sicherungssysteme werden auch weiterhin von den Nationalstaaten garantiert, aber dies begründet keine nationale Identität mehr wie im 19. und in großen Teilen des 20. Jh.
Sukzessive Begriffe nationaler Identität Diese makrohistorischen Abläufe betreffen auch Frankreich und damit seine künftige Identität. Ob die historisch gewachsenen nationalen Identitäten verloren gehen, läßt sich nicht prophezeien. Seit ihren frühen Anfängen haben sie sich immer wieder gewandelt, sind gewissermaßen mit der Zeit gegangen. Das mittelalterliche nationale Selbstverständnis Frankreichs war wesentlich religiös durchdrungen – die Franken als ausführender Arm Gottes, Frankreich als älteste Tochter der Kirche, der König der Franken und Frankreichs als allerchristlichster König. In der Frühen Neuzeit wurde in der Epoche Ludwigs XIV. nationales Bewußtsein und Modernisierung aneinandergekoppelt, in der Revolution wurde der Nationsbegriff mit Volkssouveränität verschmolzen und durch Napoleon zur Grande Nation erweitert, die bis zu de Gaulle das nationale Leitbild abgab. Elemente dieser sukzessiven Begriffe nationaler Identität haben sich bis heute erhalten, aber es fehlt ihnen die frühere Kohärenz. Der heutige französische Nationalstaat managt in erster Linie die Errungenschaften der neuzeitlichen Modernisierung und lenkt die Europäisierung des Landes. Er bezieht sich auf eine historische kulturelle Identität, während neue kulturelle Identitäten von den Individuen geschaffen werden. Diese beruhen auf Neugierde an den jeweils „Anderen“ europäischen oder außereuropäischen Ursprungs, deren „Nutzen“ für die eigene Identitätsfindung anerkannt wird.
Europäisierung und Modernisierung Für diese Wege der Identitätsfindung bedarf es nur eingeschränkt der Nation, aber auch nur eingeschränkt Europas. Die Europäisierung bezieht sich zunächst einmal auf die Fortsetzung der ersten Modernisierung. Diese hatte trotz zeitlicher Versetzungen ganz Europa erfaßt. Die Nationalstaaten brachen sie aber im Prisma der nationalkulturellen Diversifizierung Europas. Die Europäisierung hebt solche
388 Schlußbetrachtung
Brechungen auf. Der Nationalstaat wird als Organisationsebene erhalten bleiben, aber auf Dauer wohl nicht den Kern der kulturellen Diversität Europas, die überwiegend als Vorteil innerhalb der Universalgeschichte betrachtet wird, ausmachen. Die kulturelle Diversität oder der „Flickenteppich“ wird von individuellen Lebensformen gestaltet werden. Die Träger von bestimmten Lebensformen organisieren sich dabei quer durch den geographischen Raum Europa. Was sie dazu benötigen, ist ein europäisches Recht, das für dieselbe Lebensform dieselben rechtlichen Normen in Europa bereitstellt. Die Angleichung nationalen Rechts zu einem europäischen Recht geschieht mithilfe der EU, zugleich wird europäisches Recht wieder zu nationalem Recht. Aber es handelt sich dabei nicht mehr um ein nationales Recht, das sich grundlegend vom Recht anderer Nationalstaaten in Europa unterscheidet. Der Vergleich zumindest der westeuropäischen Gesellschaften und Staaten erbringt seit Gründung der EWG, noch mehr seit der Fortentwicklung zur EG und EU, zunehmend gleiche Entwicklungen zum Vorschein, während über Jahrhunderte hinweg gerade im Vergleich nationalspezifische Ausprägungen deutlich wurden. Das gilt etwa für die Demographie, wo der französische „Sonderweg“ beendet ist. Das gilt für Modernisierungsprozesse: Zwar heißt es im System wirtschaftlicher Konkurrenz immer noch, die Nase vorn zu haben, aber darauf läßt sich nicht mehr der Anspruch, Kulturmodell zu sein, begründen. Das gilt für die Ausbildung bestimmter sozialer Schichten wie des Bürgertums – in der Frühen Neuzeit und im 19. Jh. ein Distinktionsmerkmal der Nationen, das heute kaum mehr zur Unterscheidung herangezogen werden kann. Das gilt für die Grund- und Menschenrechte: Rechtshistorisch betrachtet, entstammen diese ohnehin gemeineuropäischer Rechtsauffassung, sind ein Ausdruck europäischer Rechtskultur, aber die spezifische Ausprägung, die sie 1789 erhielten, war durchaus spezifisch französisch. Heute taugt auch dies nicht mehr als Distinktionsmerkmal.
Gedächtnisnation versus Körpernation Die Unterschiede schmelzen zusammen, aber sie verschwinden nicht völlig. Die „kleinen Unterschiede“ bilden einen Verbund mit den verschiedenen Lebensarten, die heute noch am ehesten Distinktionsmerkmale bereithalten, obwohl Konsumverhalten und Massenkulturen nivellierend wirken, mit bestimmten politischen Verhaltensweisen, die sich aus der nationalen Geschichte erklären lassen (die
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Grande Nation als Reminiszenz bei Chirac, special relationship Großbritanniens zu den USA auch unter dem Premierminister Tony Blair; usw.), deren Wirkungen aber immer begrenzter ausfallen. In der politischen Sprache werden nur mehr selten Körperbilder zur Bezeichnung des Ganzen eingesetzt – weil es ein politisches Ganzes, das wie ein Körper zusammenhält und agiert, nicht mehr in der historisch erfahrenen Form gibt. Scheinbar der Vergangenheit gehören auch die fundamentalen Oppositionen an, die ihren Sinn innerhalb des Nationskörpers besaßen: die Religionskriege, die sozialen Oppositionen, der Gegensatz zwischen Volk und Monarch, die Gegnerschaft zwischen Revolutionsanhängern und -kritikern, zwischen links und rechts. „Nation“ wird unter den geschilderten Bedingungen zu einer Frage des „Gedächtnisses“, um es mit Pierre Nora zu sagen: „Si Nation il y a, elle ne relève pas de la causalité linéaire et de la finalité providentialiste qui régissait l’histoire de l’État-nation, mais de la permanence actualisatrice qui régit l’économie de la mémoire et procède par alluvions cumulatives et compatibilité combinatoire.“ (Nora, II, 1986/1997, 2213) Die Nation existiert nicht mehr als aktiver Körper, wie es die Körpermetaphern seit dem hohen Mittelalter trotz aller Modifikationen ausdrückten, sondern als Gedächtnis, als historisches Sediment. Nation im Sinne der historischen Körpermetaphern kann heute in der EU nicht mehr aktiv sein. Noras Bezeichnung Frankreichs als „Gedächtnisnation“ trifft nicht nur auf Frankreich, sondern in unterschiedlichem Ausmaß auch auf andere europäische Nationen zu. An den Kriegen, die sich im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien abspielen, ist zu erkennen, wo die behaupteten Nationen keine Gedächtnisnationen im Sinne Noras sind. Wir sind an dem Punkt angelangt, wo Geschichte offen ist. Die weiteren Entwicklungen lassen sich nicht voraussagen, und das wäre auch nicht das Anliegen dieser „Geschichte Frankreichs“. Vermutlich befinden wir uns in einer Epochenwende, nicht wegen des Jahres 2000, sondern weil im europäischen Kontext Nationalgeschichte an ihr praktisches Ende gelangt. Der Anteil europäischer Prozesse wird immer größer – ebenso wie der Anteil der von den Individuen getragenen Modernisierung jenseits einer nationalen Rahmengebung. Noras Diagnose der Gedächtnisnation und die „warme Modernisierung“ als soziologische Diagnose lassen erwarten, daß erneut eine Transformation des kulturellen Gedächtnisses im Gange ist, und zwar in einem Ausmaß, wie sie bezüglich der frühen Epochen am Anfang dieses Buches festgestellt worden ist.
Auswahlbibliographie
Die Auswahlbibliographie umfaßt vorwiegend Überblickswerke zur gesamten französischen Geschichte, zu einzelnen Epochen sowie zu einzelnen Schwerpunktthemen. Spezialliteratur wurde mit aufgenommen, wenn sie im Text zitiert wurde. Bevorzugt wurden Werke aufgenommen, die mit Karten, Statistiken, Text- und Bildquellen und Literaturverzeichnissen ausgestattet sind. Am Schluß werden die im Text zitierten Quellen aufgeführt. Weitere, kurz erwähnte Quellen, sind im Text selbst belegt.
1.
Überblickswerke
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394 Auswahlbibliographie
1.5 19. Jahrhundert [s. auch die Epochenbände bei den unter 1.1 aufgeführten Reihenwerken] B ARJOT, D OMINIQUE , J EAN -P IERRE C HALINE und A NDRÉ E NCREVÉ : La France au XIXe siècle, 1814–1914. Paris 1995. B RAUDEL , F ERNAND und E RNEST L ABROUSSE (Hrsg.): Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich im Zeitalter der Industrialisierung 1789–1880, 2 Bände. Frankfurt 1986–88. G ERSMANN , G UDRUN und H UBERTUS K OHLE (Hrsg.): Frankreich 1800. Gesellschaft, Kultur, Mentalitäten. Stuttgart 1990. G ERSMANN , G UDRUN und H UBERTUS K OHLE (Hrsg.): Frankreich 1815–1830. Trauma oder Utopie. Die Gesellschaft der Restauration und das Erbe der Revolution. Stuttgart 1993. G ERSMANN , G UDRUN und H UBERTUS K OHLE (Hrsg.): Frankreich 1848–1870. Stuttgart 1998. G IESSELMANN , W ERNER : „Die Manie der Revolte“. Protest unter der Französischen Julimonarchie (1830–1848), 2 Halbbände. München 1993. H AUPT, H EINZ -G ERHARD : Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789. Frankfurt 1989. N EWMAN , E DGAR L EON (Hrsg.): Historical Dictionary of France from the 1815 Restoration to the Second Empire, 2 Bände. New York 1987. N OUVELLE HISTOIRE DE LA F RANCE CONTEMPORAINE : Band 1–10. Editions Seuil, Paris o. J. R IBEILL , G EORGES : La révolution ferroviaire. La formation des compagnies de chemins de fer en France (1823–1870). Paris 1993. R UDELLE , O DILE : La République absolue. Aux origines de l’instabilité constitutionnelle de la France républicaine 1870–1889. Paris 1982. T OMBS , R OBERT: France 1814–1914. London 1996. WARESQUIEL , E MMANUEL und B ENOÎT Y VERT: Histoire de la restauration 1814–1830. Naissance de la France moderne. Paris 1996.
1.6 20. Jahrhundert [s. auch die Epochenbände bei den unter 1.1 aufgeführten Reihenwerken] A MBROSI , C HRISTIAN , A RLETTE A MBROSI und B ERNADETTE G ALLOUX : La France de 1870 à nos jours. Paris 1995.
Auswahlbibliographie 395
B ECKER , J EAN -J ACQUES und PASCAL O RY (Mitarb.): Crises et alternances 1974–1995. Paris 1998. B OZO , F RÉDÉRIC : La politique étrangère de la France depuis 1945. Paris 1997. D REYFUS , F RANÇOIS -G EORGES : Histoire de la Résistance 1940–1945. Paris 1996. FACON , PATRICK : La IVe République 1944–1958 de la Libération au 13 mai. Paris 1997. H IRSCHFELD , G ERHARD und PATRICK M ARSH (Hrsg.): Kollaboration in Frankreich. Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 1940–1944 [1989]. Frankfurt 1991. M ICHEL , H ENRI : Les courants de pensée de la Résistance. Paris 1962. N OUVELLE HISTOIRE DE LA F RANCE CONTEMPORAINE : Band 11–20. Editions Seuil, Paris o. J. PAXTON , R OBERT O.: La France de Vichy, 1940–1944. Paris 1973. W EISENFELD , E RNST: Geschichte Frankreichs seit 1945: von de Gaulle bis zur Gegenwart. 3. Aufl., München 1997. YAGIL , L IMORE : „L’Homme nouveau“ et la Révolution nationale de Vichy (1940–1944). Villeneuve-d’Ascq 1997.
2.
Überblickswerke, Handbücher und zitierte Spezialstudien zu einzelnen Gebieten
[sehr kurz gefaßte Einführungen in die meisten historischen Wissensgebiete sind in der fortlaufenden Reihe „Que sais-je?“ zu finden]
Agrargeschichte: D UBY, G EORGES und A RMAND WALLON (Hrsg.): Histoire de la France rurale, Paris 1975–1976, Neuausg. Paris 1992: Band 1: G EORGES B ERTRAND : La formation des campagnes françaises des origines à 1340; Band 2: H UGUES N EVEUX : L’âge classique: 1340–1789; Band 3: M AURICE AGULHON : Apogée et crise de la civilisation paysanne: 1789–1914; Band 4: M ICHEL G ERVAIS : La fin de la France paysanne de 1914 à nos jours.
Alltagsgeschichte: s. die fortlaufende Buchreihe „La vie quotidienne. . .“ (epochen- und gruppenspezifische Monographien)
396 Auswahlbibliographie
Demographie: D UPÂQUIER , J ACQUES (Hrsg.): Histoire de la population française, 4 Bände. 2. Aufl., Paris 1991.
„Eliten“: C HAUSSINAND -N OGARET, G UY et al.: Histoire des élites en France du XVIe au XXe siècle: l’honneur – le mérite – l’argent. Paris 1991–1994.
Gemeindeentwicklung: Literaturbericht: S CHMALE , W OLFGANG : Neuere Forschungen zur Verwaltungsgeschichte der Landgemeinden in Frankreich und Deutschland vor der Industrialisierung, in: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 4 (1992), S. 343–363. H ODLER , B EAT: Doléances, Requêtes und Ordonnances. Kommunale Einflußnahme auf den Staat in Frankreich im 16. Jahrhundert, in: P ETER B LICKLE (Hrsg.): Gemeinde und Staat im Alten Europa, München 1998, S. 23–67. O EXLE , O TTO G ERHARD : Gilde und Kommune. Über die Entstehung von ,Einung’ und ,Gemeinde’ als Grundformen des Zusammenlebens in Europa, in: P ETER B LICKLE (Hrsg.): Theorien kommunaler Ordnung in Europa, S. 75–97, München 1996.
Literalität: D ARNTON , R OBERT: The Forbidden Best-Sellers of Pre-Revolutionary France. New York / London 1996. F URET, F RANÇOIS und J ACQUES O ZOUF (Hrsg.): Lire et écrire. L’alphabétisation des Français de Calvin à Jules Ferry, 2 Bände. Paris 1977. R ICHTER , N OË : La lecture et ses institutions. La lecture populaire 1700–1918. Bassac 1987.
Louis XIV: A POSTOLIDÈS , J EAN -M ARIE : Le roi-machine. Spectacle et politique au temps de Louis XIV. Paris 1981. B LUCHE , F RANÇOIS : Louis XIV. Paris 1986. B URKE , P ETER : Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Frankfurt 1995. H ENSHALL , N ICHOLAS : The Myth of Absolutism: change and continuity in early modern european monarchy. London 1992. M ÉTHIVIER , H UBERT: La Fronde. Paris 1984.
Auswahlbibliographie 397
Paris: L AVEDAN , P IERRE : Nouvelle histoire de Paris. Histoire de l’urbanisme à Paris. Paris 1993 L ONDEI , E NRICO F.: La Parigi di Haussmann. La trasformazione urbanistica di Parigi durante il secondo Impero. Presentazione di Ludovico Quaroni. Rom 1982. M ONCAN , PATRICE DE und C HRISTIAN M AHOUT: Le Paris du Baron Haussmann. Paris sous le Second Empire. Paris 1991. S TIERLE , K ARLHEINZ : Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München 1993.
Politische Philosophie: G OYARD -FABRE , S IMONE : Philosophie politique XVIe – XXe siècle. Paris 1987.
Politische Sprache: R EICHARDT, R OLF U . A . (Hrsg): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. München 1985 ff. (bisher Heft 1 bis 18 erschienen)
Politische Strömungen und Parteien: L ÉVÊQUE , P IERRE : Histoire des forces politiques en France: Band 1: 1789–1880; Band 2: 1880–1940; Band 3: De 1940 à nos jours. Paris 1992, 1994, 1997.
Presse: B ELLANGER , C LAUDE und J ACQUES G ODECHOT (Hrsg.): Histoire générale de la presse française, 5 Bände. Paris 1969–1976.
Protestverhalten: B ERCÉ , Y VES -M ARIE : Croquants et Nu-Pieds. Les soulèvements paysans en France du XVIe au XIXe siècle [1971]. Paris 1991. F OURQUIN , G UY: Les soulèvements populaires au moyen âge. Paris 1972. N ICOLAS , J EAN , J ULIO VALDEÓN und S ERGIJ V ILFAN : The Monarchic State and Resistance in Spain, France, and the Old Provinces of the Habsburgs, 1400–1800, in: P ETER B LICKLE (Hrsg.), Resistance, Representation, and Community, Oxford 1997, S. 65–114. S CHMALE , W OLFGANG : Bäuerlicher Widerstand, Gerichte und Rechtsentwicklung in Frankreich. Untersuchungen zu Prozessen zwi-
398 Auswahlbibliographie
schen Bauern und Seigneurs vor dem Parlament von Paris (16.–18. Jahrhundert). Frankfurt 1986. T ILLY, C HARLES : La France conteste de 1600 à nos jours. Paris 1986.
Stadtgeschichte: ATLAS HISTORIQUE DES VILLES DE F RANCE : types de villes, avec notice sur leur développement topographique, des origines au début du XIXe siècle, Paris 1982 ff. (bisher 41 Bände in 105 Teilbänden erschienen). D UBY, G EORGES (Hrsg.): Histoire de la France urbaine, 5 Bände. Band 1: La ville antique; Band 2: La ville médiévale des Carolingiens à la Renaissance; Band 3: La ville classique; Band 4: La ville de l’âge industriel; Band 5: La ville aujourd’hui. Paris 1980, 1981, 1983, 1985.
Universität, Unterricht, Erziehung: PARIAS , L OUIS -H ENRI (Hrsg.): Histoire générale de l’enseignement et de l’éducation en France. 4 Bände, Paris 1982. V ERGER , J ACQUES (Hrsg.): Histoire des universités en France. Toulouse 1986.
Verfassungs- und Rechtsgeschichte: H AROUEL , J EAN -L OUIS ET AL .: Histoire des institutions de l’époque franque à la Révolution. Paris 1990. M ORABITO , M ARCEL und D ANIEL B OURMAUD : Histoire constitutionnelle et politique de la France, 1789–1958. Paris 1996. S CHMALE , W OLFGANG : Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma. München 1997.
Weltausstellungen: A IMONE , L INDA und C ARLO O LMO : Le esposizioni universali 1851–1900. Il progresso in scena. Turin 1990. O RY, PASCAL : Les expositions universelles de Paris. Panorama raisonné, avec des aperçus nouveaux et des illustrations par les meilleurs auteurs, o. O. 1982.
Wirtschaftsgeschichte: B RAUDEL , F ERNAND (Hrsg.): Histoire économique et sociale de la France, Paris, 4 Bände, 1970–1982, Neuausgabe Paris 1993: Band
Auswahlbibliographie 399
1,1: De 1450 à 1660. L’état et la ville, Paris 1977; Band 1,2: De 1450 à 1660. Paysannerie et croissance, Paris 1977; Band 2: Des derniers temps de l’âge seigneurial aux préludes de l’âge industriel (1660–1789), Paris 1970; Band 3,1: L’avènement de l’ère industrielle (1789 – années 1880): Le „grand“ XIXe siècle, Paris 1976; Band 3,2: L’avènement de l’ère industrielle (1789 – années 1880): L’affermissement du phénomène d’industrialisation, Paris 1976; Band 4,1: L’ère industrielle et la société d’aujourd’hui (siècle 1880 – 1980): Panoramas de l’ère industrielle (années 1880 – années 1970), Paris 1979; Band 4,2: L’ère industrielle et la société d’aujourd’hui. Les temps des guerres mondiales et de la grande crise, Paris 1980; Band 4,3: L’ère industrielle et la société d’aujourd’hui. Années 1950 à nos jours, Paris 1982. C ARON , F RANÇOIS : Histoire économique de la France, XIXe -XXe siècle. Paris 1995. P RIBRAM , K ARL : Geschichte des ökonomischen Denkens [1983], 2 Bände. Frankfurt am Main 1992.
Zeit D OHRN - VAN R OSSUM , G ERHARD : Die Geschichte der Stunde: Uhren und moderne Zeitordnung. München 1992.
3.
Gesellschaft, Nation und Körperbilder
A RNAUD , P IERRE : Mobilisierung der Körper und republikanische Selbstinszenierung in Frankreich (1879–1889). Ansätze zu einer vergleichenden deutsch-französischen Sportgeschichte, in: É TIENNE F RANÇOIS U . A . (Hrsg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1995, S. 300–320. B AECQUE , A NTOINE DE : Le corps de l’histoire. Métaphores et politique (1770–1800). Paris 1993. B AUMGÄRTEL , B ETTINA und S ILVIA N EYSTERS (Hrsg.): Die Galerie der Starken Frauen. Regentinnen, Amazonen, Salondamen. München 1995. B EAUNE , C OLETTE : Naissance de la nation France [1985]. Paris 1993. B ÖHME , G ERNOT und H ARTMUT B ÖHME : Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 1996.
400 Auswahlbibliographie
D UBY, G EORGES : Les trois ordres ou l’imaginaire du féodalisme. Paris 1978. F OUCAULT, M ICHEL : Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses [1975]. Frankfurt 1981. F RITZ , G ÉRARD : L’idée de peuple en France du XVIIe au XIXe siècle. Straßburg 1988. H ONEGGER , C LAUDIA : Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750 bis 1850. Frankfurt 1992. K ANTOROWICZ , E RNST H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters [1957]. München 1994. M ORRISSEY, R OBERT: L’empereur à la barbe fleurie. Charlemagne dans la mythologie et l’histoire de France. Paris 1997. R AVITCH , N ORMAN : The Catholic Church and the French Nation, 1589–1989. London 1990. S ENNETT, R ICHARD : Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Berlin 1995.
4.
Interkulturelle Geschichte
Kulturtransfer, kulturelle Referenzen Zum Forschungsstand: S CHMALE , W OLFGANG : Historische Komparatistik und Kulturtransfer. Europageschichtliche Perspektiven für die Landesgeschichte. Eine Einführung unter besonderer Berücksichtigung der Sächsischen Landesgeschichte. Bochum 1998. ACOMB , F RANCES D.: Anglophobia in France, 1763–1789. An Essay in the History of Constitutionalism and Nationalism. Durham 1950, New York, new ed. 1980. B RAUDEL , F ERNAND : Modell Italien 1450–1650. Stuttgart 1991. C ROUZET, F RANÇOIS : De la supériorité de l’Angleterre sur la France. Paris 1985. E SPAGNE , M ICHEL : Problèmes d’histoire interculturelle, in: Revue Germanique International 4/1995, S. 5–24. L ÜSEBRINK , H ANS -J ÜRGEN und R OLF R EICHARDT (Hrsg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich-Deutschland 1770 bis 1815, 2 Bände. Leipzig 1997. R ÉMOND , R ENÉ : Les États-Unis devant l’opinion française 1815–1852, 2 Bände. Paris 1965. S IEVERNICH , G EREON und H ENDRIK B UDDE (Hrsg.): Europa und der Orient 800–1900. Gütersloh 1989.
Auswahlbibliographie 401
Deutschland-Frankreich B URRIN , P HILIPPE : La France à l’heure allemande 1940–44. Paris 1995. D IGEON , C LAUDE : La crise allemande de la pensée française (1870–1914). Paris 1959, Reprint Paris 1992. E SPAGNE , M ICHEL und M ICHAEL W ERNER : Deutsch-Französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C. N. R.S., in: Francia 13 (1985), S. 502–510. E SPAGNE , M ICHEL : Les transferts culturels franco-allemands. Paris 1999. F RANÇOIS , E TIENNE , H ANNES S IEGRIST und J AKOB V OGEL (Hrsg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1995. K AELBLE , H ARTMUT: Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880. München 1991. L EINER , W OLFGANG : Das Deutschlandbild in der französischen Literatur. Darmstadt 1991. L ÉVY, PAUL : La langue allemande en France. Pénétration et diffusion des origines à nos jours, 2 Bände. Lyon und Paris 1950 – 1952. P OIDEVIN , R AYMOND und J ACQUES B ARIÉTY: Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1815–1975. München 1982. S CHMALE , W OLFGANG : „Grenze“ in der deutschen und französischen Frühneuzeit, in: S CHMALE , W OLFGANG und R EINHARD S TAUBER (Hrsg.): Menschen und Grenzen in der Frühen Neuzeit. Berlin 1998, S. 50–75. S KALWEIT, S TEPHAN : Frankreich und Friedrich der Große. Der Aufstieg Preußens in der öffentlichen Meinung des ,ancien régime’. Bonn 1952. W ENGER , K LAUS R UDOLF : Preußen in der öffentlichen Meinung Frankreichs 1815–1870. Politische Aspekte des französischen Preußenbildes. Ein Beitrag zur historischen Analyse nationaler Urteilsklischees. Göttingen 1979.
Frankreich und Europa/Europäisierung B ABEL , R AINER (Hrsg.): Frankreich im europäischen Staatensystem der Frühen Neuzeit. Sigmaringen 1995. B ANNIARD , M ICHEL : Europa. Von der Spätantike bis zum frühen Mittelalter. München 1993.
402 Auswahlbibliographie
B OSSUAT, G ÉRARD : L’Europe des Français 1943–1959. La IVe République aux sources de l’Europe communautaire. Paris 1996. F OERSTER , R OLF H ELLMUT: Europa. Geschichte einer politischen Idee. Mit einer Bibliographie von 182 Einigungsplänen aus den Jahren 1306 bis 1945. München 1967. G OLLWITZER , H EINZ : Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts [1951]. München 1964. H RADIL , S TEFAN und S TEFAN I MMERFALL (Hrsg.): Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich. Opladen 1997. K OLB , B ERNHARD (Hrsg.): Europa vor dem Krieg von 1870. Mächtekonstellation – Konfliktfelder – Kriegsausbruch. München 1987. M OUSNIER , R OLAND : La monarchie absolue en Europe du Ve siècle à nos jours. Paris 1982. S TEIN , P ETER G.: Römisches Recht und Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur. Frankfurt 1996.
Expansion, Kolonisation B ANGOU , H ENRI : La Révolution et l’esclavage à la Guadeloupe (1789–1802). Epopée noire et génocide. Paris 1989. B RAUNSTEIN , D IETER : Französische Kolonialpolitik 1830–1852. Expansion, Verwaltung, Wirtschaft, Mission. Wiesbaden 1984. D EBBASCH , Y VAN : Couleur et liberté. Le jeu du critère ethnique dans un ordre juridique esclavagiste, Band 1: L’affranchi dans les possessions françaises de la Caraïbe (1635–1833). Paris 1967. H ISTOIRE DE LA F RANCE COLONIALE : Band 1: Meyer, Jean, Jean Tarrade und Annie Rey-Goldzeiguer: La conquête; Band 2: Thobie, Jacques und Gilbert Meynier: L’apogée (1871–1931); Band 3: Coquery-Vidrovitch und C. Ageron: Le déclin. Paris 1991. H ISTOIRE DE LA COLONISATION FRANÇAISE : Band 1: P LUCHON , P IERRE : Le premier empire colonial. Des origines à la Restauration; Band 2: B OUCHE , D ENISE : Flux et reflux (1815–1962). Paris 1991.
5.
Zitierte Quellenschriften und Quelleneditionen
D’A RGENSON , R ENÉ L OUIS (Marquis d’Argenson): Essay über die Einsetzung des europäischen Gerichtshofes für die allgemeine Befriedung allein durch Frankreich, in: ders.: Politische Schriften (1737), übers. u. kom. v. Herbert Hömig. München 1985, S. 167–176.
Auswahlbibliographie 403
A UBERY, A NTOINE : Von den rechtmässigen Ansprüchen des Königes in Franckreich auff das Kayserthum durch Herrn Aubry, Parlaments Advocaten und Königl. Rath. Auß dem Frantzösischen übersetzt, o. O. 1679. B LUM , L ÉON : Blick auf die Menschheit, Zürich 1945, zit. Ausgabe Stuttgart 1947. B ODIN , J EAN : Les six livres de la république [1576], Paris 1583; Reprint Aalen 1961; deutsch: Jean Bodins Sechs Bücher über den Staat: krit. u. komment. Übers. d. „Six livres de la république“ von Jean Bodin ins Dt. Von Bernd Wimmer. Buch I – III, München 1981; Buch IV-VI, München 1986. B OSSUET, J ACQUES B ÉNIGNE DE : Politique tirée des propres paroles de l’Ecriture sainte [zw. 1677 und 1679 erstm. redigiert]. Genf 1967. B RISSOT DE WARVILLE , J ACQUES -P IERRE : Nouveau voyage dans les ÉtatsUnis de l’Amérique septentrionale, fait en 1788, 3 Bände. Paris (April) 1791. C HANTREAU , P. N.: Dictionnaire national ou anecdotique, o. O. 1790. F OERSTER , R OLF H. (Hrsg.): Die Idee Europa 1300–1946. Quellen zur Geschichte der politischen Einigung. München 1963. J ORET, C HARLES : Des rapports intellectuels et littéraires de la France avec l’Allemagne avant 1789. Discours prononcé à la rentrée des facultés de l’Académie d’Aix le 10 décembre 1883. Paris 1884. L IPGENS , WALTER (Hrsg.): Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940–1945. München 1968. L IPGENS , WALTER (Hrsg.): 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939–1984. Bonn 1986. L OUIS XIV und J EAN L ONGNON : Louis XIV. Mémoires. Suivi de Réflexions sur le métier de Roi, Instructions au duc d’Anjou, Projet de harangue. Paris 1978. R AJSFUS , M AURICE : Jeudi Noir. 50 ans après. La rafle du 16 juillet 1942. Levallois-Perret 1992. R ANKE , L EOPOLD VON : Französische Geschichte. Vornehmlich im 16. und 17. Jahrhundert [1852–1861 redigiert], hrsg. von Willy Andreas. Wiesbaden 1957. R OUGEMONT, D ENIS DE : Europa. Vom Mythos zur Wirklichkeit. München 1962. S CHULZE , H AGEN und I NA U LRIKE PAUL (Hrsg.): Europäische Geschichte – Quellen und Materialien. München 1994. D E S TAËL , A NNE L OUISE G ERMAINE (de Staël-Holstein): Über Deutschland: mit einem Register, Anmerkungen und einer Bilddokumentation [französ. 1810]. Frankfurt a. M. 1992.
404 Karten
Mont Beuvray
A B
C
D 0 A - Haupttor B - Handwerkerviertel C - Wohnhäuser des Adels D - Heiligtum und Markt
200
m
Karte 1: Das gallische oppidum Bibracte auf dem Mont Beuvray (entnommen aus: Histoire de la France urbaine, Band 1, Paris 1980, S. 206)
Karten 405 Lugdunum Batavorum
Trajectum viomagus Noviomagus
Taruenna Gésoriacum
Castellum Menapiorum
Atuatuca
Colonia Agrippins
Turnacum
Nemetacum
Lo
Mogontiacum Bagacum Ca R ra Jul ot Bingium Camar Camaracum co io om Samarobriva Samarobr b t Orolaunaum Coriallum Mose No inum ona ag Augusta us Augusta vio Treverorum Caesaromagus ma Suessionum Alaum Noviomagus viomagus gu Virodunum s Divodurum Augustodurum Pretromantalum Durocortorum Clarenna Mediolanum Mediolan Bibe Tullum Scarpona Reginea Argenum Lutetia Argentorate Durocasse Augustobona Nasium Autricum Segessera Area Condate Flaviae Suindinum Mons Brisiacus Br Vorgium Agendincum Genabum Cambete Andematunn Andematunnum Diarioritum Juliomagus uliomagus Autessiodorum Vindonissa sta Condate gu um Visontio Au ricor Avaricum u Salodurum a Cabillonum Caesarodunum R Portus Aventicum Eburodunum Namnetum Decetia Augustodurum Viviscus Pocrinium Noviodunum Limonum Limon Genava Roidunna Argentomagus Augustonemeltum
Vesunna Burdigala
Revessio
Augusta Taurinorum
Valentia
Divona Cadurcorum Segodunum Aginnum Lactora Tolosa
Jaca
Gerunda
Baeterrae
Glanum
V. Aurelia
Massilia
Ruscino
0
Nicaea Forum Julii
e ia xt Se
Mar Narbo Martius Lugdunum Convenarum
Pompaelo ompaelo
Reii
e ua Aq
Elimberris Elimberr Beneharnum
Vapincum
Ucetia Nemausus Luteva Cessero Arelate
V. itia D om
Aquae Tarbellicae
Augusta Baulae Praetoria Aug Darantasia u stum Vienna
Lugdunum Forum Segusiavorum
na
Augustoritum
on
us
Aquae Neri
Mediolanum Mediolan Santonum
km
150
Karte 2a: Straßennetz im römischen Gallien (entnommen aus: Fernand Braudel: Frankreich, Band 2, Stuttgart 1990, S. 76)
406 Karten
ha 150 75 50 20 10 5
Karte 2b: Städtenetz im römischen Gallien (entnommen aus: Fernand Braudel: Frankreich, Band 2, Stuttgart 1990, S. 77)
Karten 407
Germania secunda
Köln Mainz
Reims
Lugdunensis secunda
Belgica prima
Lug du primnensis a
Senonia Sens (Lugdunensis quarta)
Lugdunensis tertia
Germania prima
Rouen
Trier
Belgica secunda
Tours
Bourges
Aquitania secunda
Maxima sequana Besançon
Lyon
Aquitania prima
Suse
Vienne Bordeaux
s
si nen
n
is
ns ne rbo a Na prim
Novempopulana 0
Aix
Embrun
s nsi ne rbo nda Na secu
Vie
Eauze
Alpes graiae poeninae Alpes cottiae
Moutiers
Narbonne
100 km
Diözese Gallien Diözese Aquitanien Provinzgrenzen
Vienne Trier
Sitz des Vikariats der Diözese Sitz der Präfektur des Prätors von Gallien Grenzen des heutigen Frankreich
Karte 3: Gallien gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. (entnommen aus: Carpentier / Lebrun, S. 394)
Orléans
Toulouse
Bordeaux
Altes westgotisches Aquitanien (bis 507)
Vouillé
Tours
Le Mans
Verdun
Trier
Provence (ab 536 fränkisch)
Genf
Straßburg
Chur
Konstanz
100 km
Slaven
0
Merowingische Reiche vor der Schlacht von Vouillé (Vouglé, 507) Grenze der merowingischen Reiche um 560 Protektorate der Merowinger in Germanien
Ausbreitung der Franken bei Chlodwigs Regierungsantritt (486)
Fränkische Stämme um 400
Italien
Rhätien
Alemannien
Baiern
Thüringen
Worms
Hessen
Bructeri
Zülpich
Köln
Altes Königreich Burgund (bis534)
Narbonne
Paris
Soissons
Karte 4: Die Franken (entnommen aus: Braudel, Band 2, S. 97)
Basken
Bretonen
Rouen
Tongern
Cambrai
Tournal
n te go W es t
Sachsen
408 Karten
Karten 409
Comté de Flandre Comté de Vermandois
e éd mt s Co Bloi
Duché de Bretagne
Comté d'Anjou
Conté de Nevers Comté de Poitou
Du Bou ché d rgo e gne
e éd e mt gn Co mpa a Ch
Duché de Normandie
Comté de la Marche Duché d'Aquitaine
Vicomté de Béarn Comté de Comminges
0
Comté d'Auvergne
Comté de Toulouse
100 km Königlicher Domanialbesitz Lehen der Plantagenêts
Andere bedeutende Lehen Grenzen des heutigen Frankreich
Karte 5a: das Königreich Frankreich zu Beginn der Regierungszeit Philipp Augusts (1180), (entnommen aus: Carpentier / Lebrun, S. 398)
410 Karten
Flandern Artois Ponthieu Rouen Normandie Evreux
Paris Champagne
Alençon Anjou
ne
Nevers Bo
urg
Blois
Poitou
Bourbon Marche
Guye nne
Bordeaux Agen Armagnac
Béarn
100 km
Mâcon Lyon
Forez
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0
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Angers Tours
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Mortain Bretagne
Lille Tournai Valenciennes
Valentinois Vivarais Avignon Rodez
Montpellier Toulouse
Foix
Königlicher Dominialbesitz
Andere Lehen
Lehen der Plantagenêts
Apanagen Grenzen des heutigen Frankreich
Karte 5b: Das Königreich Frankreich 1328 (entnommen aus: Carpentier / Lebrun, S. 399)
Karten 411
England Calais
Ponthieu
Kanal
Rouen
Harfleur Formigny
Verneuil
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Azincourt Arras
Beauvais Compiègne Reims
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Paris
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Bretagne
Flandern
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Boulogne
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Bourgogne
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Macon
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Montpellier
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km
Rhône
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Grenoble
100
Von Karl VII. kontrolliertes Gebiet Vom Herzog v. Burgund kont. Geb.
Toulouse
Mittelmeer
Von den Engländern kontrolliertes Gebiet Der Weg von Jeanne d'Arc
Karte 6: Frankreich zur Zeit Karls VII. (entnommen aus: Loth, Wilfried et al.: Frankreich-Ploetz, Freiburg 1996, S. 135)
412 Karten
Lübeck
London Brügge Winchester
Köln Brüssel
Frankfurt Trier
Rouen Caen
Paris Chartres
Reims Lagny Provins
Nürnberg
Luxemburg Straßburg Augsburg
Bar-s-Aube
Troyes
Le Mans
Basel Besançon Lausanne Genf Limoges
Clermont
Como Venedig
Lyon
St.-Flour
Mailand Turin Valence
Bordeaux Nîmes Montauban Toulouse Santiago Pamplona Palencia
km
Urbino Siena
Narbonne Rom Gerona
Lerida
0
Digne Nizza Marseille
Ferrara Genua Parma Bologna Florenz
300
Barcelona Akkon (Palästina)
Valencia
Karte 7: Städte mit Verbindung zu den Messen der Champagne im 12./13. Jahrhundert, (entnommen aus: Braudel, Band 2, S. 139)
Karten 413
Calais
Dieppe
Sedan Metz
Rouen Meaux
Straßburg
Paris Troyes Mulhouse
Orléans Tours
Blois
Montbéliard
Saumur Neuchâtel Poitiers
Genf Lyon Grenoble
Bordeaux
0 km 100
Die
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Toulouse
Nimes Castres
Montpelier
Oloron
Gemeinde mit mehreren bezeugten Pastoren Gerichtskammer katholisch-protestantisch gemischt Im 16. Jahrhundert entstandene Hugenottengemeinde
Protestantische Akademie Festung
Karte 8: Der Protestantismus in Frankreich im 16. Jahrhundert (entnommen aus: Jovanna, la France du XVIe siècle, Paris 1996, S. 337)
414 Karten Geburtenüberschuß auf 1000 Todesfälle negativ 0 100 200 Männer 100
Frauen
Lille Val.
80 Amiens
120
85 Metz
Sois Châlons s/M
Rouen
Caen
Nancy
Paris
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Alençon Rennes Orléans Tours
Dijon
Bourges
Besançon
Moulins Poitiers La Rochelle
Limoges
Riom
Lyon
Grenoble Bordeaux Montauban Auch
Bayonne
Toulouse
Montpellier
Aix
Pau Perpignan
Karte 9: Die unterschiedliche Ausbreitung von Mais und Kartoffel und die Folgen für die Demographie: die Regionen mit überdurchschnittlichem Geburtenüberschuß sind deckungsgleich mit den Gebieten, in denen Mais und Kartoffeln frühzeitig verbreitet wurden, (entnommen aus: Braudel, Band 3, S. 202)
Karten 415
Flandre
Artois Pas-deCalais
Nord
Somme
Picardie Picardie Seine Inf.
Ardennes
Calvados Eure
Ile
an
Côtes-du-Nord
Bretagne Breta gne
Ille-etVilaine
Eureet-Loire
Maine Mayenne
Morbihan
Vosges
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Nièvre
Indre
Saône-etLoire
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Vienne
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Marche Mar he Puy-de-Dôme
Corrèze
Lyonnais onnais Loire
MontBlanc
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Vienne
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Rhône
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Angoumois
Doubs
Bourbonnais
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DeuxSèvres
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HautRhin
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Cher
-Loire
Saintonge Saintong
HauteMarne Côte d'Or
Touraine ouraine
BasRhin
Meurthe
Aube
Loir-etCher
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Anjou
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Lorraine
Loiret
-Loire
Vendée
Moselle
Meuse
Yonne
Orléanais Orl anais
Sarthe
Maine et-
Loire-de-Infér.
Marne
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Seine et Marne
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Normandie
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Dordogne Cantal
Dauphine Gironde
Guy enne Guyenne
Lot
Lozère
Lot-et Garonne
Corse
Gard
Basses Alpes
Vaucluse
Provence Pr vence
Tarn
Gers
Hérault
Languedoc
B. d. Rhône Var
Béarn arn Basses Pyrénées
Liamone
HautesAlpes
Drôme
Aveyron
Landes Golo
Ardèche
Hautes Pyrénées
Ariège
Aude
Foix
Roussillon Pyrénées orient.
Karte 10: Revolutionäre Département-Struktur (1800) im Vergleich zu den Provinzen im Ancien Régime. (entnommen aus: Pletsch/Dongus, Frankreich, Darmstadt 1997, S. 83)
Comté de Nice Alpes Maritimes
416 Karten Dunkerque
Calais
Lille Valenciennes Erquelines
Boulogne
Denain St. Quentin
Dieppe
Der Kanal
Amiens Le Havre
Noyon
Rouen
St. Germain Versailles Sceaux
Paris Corbeil Vitri-le-Fr.
Alençon
Le Mans Nantes
Gray Mülhausen Besançon Dijon
C de Bourgogne Nevers Epinac
Chateauroux Argentan
Moulins
Golf von Biscaya
ClermontFerrand
Angoulême
Issoire
Bordeaux Langon Tonneins
Lyon Montrond Rive-de-Gier Montbrison St. Etienne Valence
La Gr.'d Combe Alès
Montauban
Nimes Montpellier
Dax
0
Chalon Bourg
Niort
Bayonne
Dole
Roanne Limoges
Toulouse
Sète
Montélimar Avignon Beaucaire Aix Marseille
100 km
Mittelmeer
bis 1837
1846
Karte 11: Das französische Eisenbahnnetz bis 1856 (entnommen aus: Pletsch, S. 202)
Straßburg
Thann
Tonnere
Orléans
Poitiers
Morcenx
St. Avoid
Nancy Sarrebourg
Troyes
Tours
Saumur
La Teste
Metz Bar-le-Duc
Donjaux
Montereau
Laval Angers
Reims
Creil
Chartres
Wissembourg
Thionville
Liseux
Caen
1851
1856
Basel
Karten 417
Arras Amiens
Laon Metz
Paris
Bar-leDuc
St. Dizier
Straßburg
Langres Tours Bourges
Dijon Dole
Moulins Poitiers
Nantua
Vichy Angoulême
Lyon Vienne Périgueux Valence
Langon
Avignon
Mont-deMarsan
0
Menton Aix
100 km
Verbotene Zone Besetzte Zone Von Nazideutschland annektierte Gebiete Demarkationslinie
"Freie" Zone bis November 1942 Italienische Besatzungszone nach dem Waffenstillstand Nördliche, von Brüssel aus verwaltete Zone Italienische Besatzungszone nach November 1942
Karte 12: Frankreich unter deutscher Besatzung (entnommen aus: Carpentier / Lebrun, S. 407)
Guyana
Guadeloupe Martinique A.O.F. Togo Cameroun
Marokko Algerien
A.E.F.
Tunesien
Karte 13: Das französische Kolonialreich in der Zwischenkriegszeit (entnommen aus: Histoire de la France coloniale, Band 2, Paris 1991, S. 602)
Polinésic Française
I. Clipperton
St. Pierre und Miquelon
I. Crozet
I. Kerguelen
I. Amsterdam I. St. Paul
I. de la Réunion Madagaskar
I. Comores I. Ste. Marie
Syrien Libanon
N. Hebrides
Annam Indochina Kambodscha Laos Tonkin
418 Karten
Karten 419
Quêbec Vancouver St. Pierre et Miquelon Louisiane
Haiti
Gouadeloupe Dominique Martinique Ste. Lucie Guyane
Polinesien
Länder mit Französisch als Muttersprache oder Amtssprache Länder mit Französisch als Bildungssprache Französischsprachige Minderheiten Kreolisch mit französischen Wurzeln Sendegebiet von Radio-France-International
Karte 14: Französischsprachigen Länder Ende des 20. Jahrhunderts (entnommen aus: Carpentier / Labrun, S. 408-409)
420 Karten
Liban Israel
Maroc Algerie
Vietnam
Egypte 3 9 10 2 6 4 13 5 12 78 11 14 16 17 15 18 1
Laos Pondichéry
Kambodscha
Seychelles Mayotte 19
Wellis-et Futuna
Maurice Réunion
Afrique du Sud
Afrikanische Länder mit Französisch als Amtssprache: 11. Cameroun 1. Mauritanie 12. République Centrafricaine 2. Sénégal 13. Djibouti 3. Mali 14. Gabon 4. Guinée 15. Congo 5. Côte-d'Ivoire 16. Zaire 6. Burkina Faso 17. Ruanda 7. Togo 18. Burundi 8. Bénin 19. Madagascar 9. Niger 10. Tchad
NouvelleCalédonie
Karten 421 Mitglieder von Sullys neuorganisiertem Europa
Schweden
Durch Eroberung oder Bekehrung anzufügende Länder Habsburg
Schweden Dänemark
Russland
Großbritannien
(Deutschland) Polen
Belgische Deutsches Republik Reich Böhmen Frankreich Schweiz Ungarn Venedig
Po r tu g
al
Sevoy
(Ungarn) Italien
Spanien
(Spanien)
Ottomanisches
Vatikanstaat
Reich
(Venedig) (Venedig)
Karte 15: Sullys Vision einer Neuaufteilung Europas um 1632 / 36. (entnommen aus: Derek Heater, The Idea of European Unity, London 1992, S. 29)
422 Karten
Paris
0
100 km
Karte 16: Die 130 Départements des napoleonischen Frankreich (entnommen aus: Carpentier / Lebrun, S. 404)
Rom
Personen-, Orts- und Sachregister Das Register enthält die Namen der wichtigsten im Text genannten Personen und Orte. Hinzu kommen ausgewählte Stichworte und Bezeichnungen. Fremdsprachige Begriffe sind kursiv wiedergegeben. Namen von Städten und Personen werden in der üblichen deutschen Schreibweise aufgeführt. Bei Herrschernamen handelt es sich, wenn nicht anders angegeben, um französische. Aachen 186 Abbo v. Fleury 62 Abetz, Otto 358 Absolutismus 132 f. Abtreibung 40, 273, 377 Académie Française 145 f., 272, 284, 363 Action Française 239, 261 Adel 25 ff., 39, 58, 79 f., 94 f., 103 ff,, 120, 136, 141 f., 154, 157, 168, 198, 202, 240 Ägypten 296 ff. Affäre Panama 236 Schnäbele 236 Stavisky 261 f. Afrika 293 f., 298 Agen 102 Aiguillon, Herzog v. 159 Aire 77 Aix-en-Provence 29, 137 Akkon 68, 74 Akkulturation 23, 285 Aktien 213 Aktiengesellschaft 155 f. Albi 102 Albigenser 69 Alemannen 33 f., 37 Alesia 30 Alexander von Roes 107 Algerien, Algier 198, 210, 267, 278 ff., 286, 294 f., 298, 337, 365, 370, 381 Allier 277 Alphabetisierung 130, 175, 189 Alphand, Hervé 383 Altfranzösisch 51 Amazone 142, 165 f. Amiens 34, 67 Ammianus Marcellinus 21 Ämter 93, 111 Andrézieux 211 Anjou, Angoumois 47, 49, 67, 69, 105, 137 Anna v. Österreich 139 f., 141, 165
Antillen 287 ff., 291 Antisemitische Liga 241 Antisemitismus 236 f., 239, 260, 264 Antisklaverei-Bewegung 292 Aquitanien 27, 29, 41, 48, 68, 102 Araber 40, 42 f. Arbeit, Arbeiter 121 f., 161, 185, 199 f., 208, 213, 240, 260, 267, 375 f. Arbeitgeber 245 Arbeitsloser, Arbeitslosigkeit 122, 200, 373 Arbeitszeit 99, 264 Architektur 31, 99, 125, 217, 233, 344, 380 Arelat, Königreich 44 Argenson, Marquis d’ 148, 321 Arianismus 35, 37 Aristokratie, s. Adel Aristoteles 101, 105, 114 Arles 32 f., 35, 39 Armenfürsorge 39, 122 Armut 62, 122 Arnauld, Antoine 137 Aron, Raymond 370 Arras 83 Artois 37, 68 f., 95 Atompolitik 365 f., 374 Attentat 158, 200, 237 Aubery, Antoine 25, 351 Aubigné, Agrippa d’ 318 Aufstände, s. Adel, Bauern, Stadt Augustinus, hl. 137 Auriol, Vincent 264, 279, 337, 365 Auschwitz 277 Ausländer 110, 248, 276, 292, 360 Austrien 42 Autun 27, 33 Auvergne 28, 68 f., 137, 154 Auxerre 98 Avaricum, s. Bourges
Avignon 71, 98 Azoren 287 bailliage s. Ämter Baltard, Victor 218 Balzac, Honoré de 26, 216 Bank, Bankier, Bankwesen 97, 155 f., 185, 200, 243, 261 Barnave, Antoine 292 Barre, Raymond 368 Barrès, Maurice 238 Barthes, Roland 379 Bartholomäusnacht 123, 126, 218 Barthou, Louis 262 Basch, Victor 263 Basel 314 Basken 41, 49 Bastille 141, 234, 263 Bauern 53, 57, 64, 117, 119, 128, 137, 169, 207 f., 240, 244, 273, 377 Bayeux 282 Bayonne 68, 77, 261 Béarn 68 Beauce 27 Beaujeu, Anne de 111 Beaujolais 109 Beauvais, Beauvaisis 27, 90, 100, 104 Beauvoir, Simone de 379 Beda Venerabilis 51 Belfort 228 Belges, Jean Lemaire de 24 Belleforest, François de 25 Benedikt v. SainteMaure 56 Benedikt, hl. 62 Bene s,ˇ Eduard 329 Berain d.Ä., Jean 303 Bernardus Silvestris v. Tours 65 Bernhard, Graf v. Armagnac 80 f. Bernhard, hl. 62
424 Personen-, Orts- und Sachregister Bernini, Gianlorenzo 150 Berry 27, 67 f., 105, 109 Bertillon, Adolphe 247 Bertrada, Ehefrau Pippins 43 Beschwerdehefte 113, 116–119, 182, 292 Béthune 71 Betriebswirtschaft 215 Bevölkerung, s. Demographie Bewegung, monastische 48, 58 Bèze, Théodore de 119 Béziers 102 Bibel 86, 181 Bibracte 30 Bidault, Georges 364, 383 Bildung 28, 45, 49, 51, 56, 120, 125, 138, 206, 208, 241, 376 Bischof 33, 35, 46, 61, 370 Adalbero v. Laon 60 Adalbero v. Reims 47 Bernard Saisset v.Pamiers 73 Gerhard v. Cambrai 60 Jansenius 137 Bismarck, Otto Fürst v. 222–226, 228, 298, 305 Blanca v. Kastilien 70 Bloc national 257 Bloch, Marc 279 f., 379 Blois 47, 70 Blum, Léon 250, 260, 263 ff., 268, 279, 334, 365, 382 Boccacio, Giovanni 165 Bodin, Jean 114, 118, 127, 350, 352 Boerius, Nicolaus 120 Boétie, Étienne de la 119 Boncerf, Physiokrat 161 Bonifatius, hl. 51, 63 Bonnot de Condillac, Étienne 187 Bonnot de Mably, Gabriel 187 Bordeaux, Bordelais 27, 35, 39, 68, 77, 102, 120, 141, 227, 229, 266, 356, 374, Bossuet, Jacques Bénigne 144, 147, 303 Bouguereau, Maurice 108
Boulainvilliers, Henri de 25 Boulanger, Georges 235 f. Boulangismus 235 f. Bourbon, Bourbonnais 105, 109 bourgeois, s. auch Bürger; Stadt 54, 57 Bourges 27, 48 Bretagne 27, 37, 49, 75, 84, 105, 154, 162 Briand, Aristide 329–331, 258 f. Brissot de Warville 292, 345 Broglie, Herzog v. 230 Broussel, Pierre 140 Brügge 71, 75, 77 Bruno, hl. 62 Brutus, Junius 119 Buchhändler 122 Büchermarkt 174 ff. Bürger, Bürgertum 71, 99, 103, 119, 182, 240 Bürgerkrieg 126 Bulle Clericis laicos 72 Bulle Parens scientiarium 92 Bulle Unam sanctam 73 Burgund, Burgunder 27, 36 f., 39, 41 f., 48, 58, 84,105, 116, 314, 341 f. Caesar 22, 27, 29 f. cahiers de doléances, s. Beschwerdehefte Cahors 98, 102 Calais 76 f., 81, 84 Calonne, Charles Alexandre de 169 Calvin, Jean 125 Cambrai 60, 63 Camelots du roi 261, 264 Camus, Albert 279, 379 Carnot, Lazare 234 Carnot, Sadi 233, 237 Cartier, Raymond 370 f. Casimir-Périer, Jean Paul Pierre 237 Cassin, René 278 Cayenne 289 Cenabum, s. Orléans Céneau, Robert 110 Cerdagne 84, 152, 313 CFLN 281 f. CGT 240, 260, 263 ff. CGTU 263 f. Châlons-sur-Marne 36 Champagne 27, 104, 200
Champs-Elysées 217, 282 Chansons de geste 86 Charente 27, 56, 245 Charolais 245 Charpentier, François 284 Charte constitutionnelle 195, 198, 203 Chartres 55, 70, 81 Chautemps, Camille 261 Childerich III. 43 Chinon 83 Chirac, Jacques 368 Chlodwig I. 37 ff., 41 Chlodwig II. 42 Chlothar I. 41, 52 Chlothar II. 41 Cholera 217 Choppin, René 114 Chrétien de Troyes 56 Christentum 35 f., 39, 41, 44, 85, 319 Chrodechilde, Ehefrau Chlodwigs I. 37 Cîteaux 62 citoyen 119, 192 Clemenceau, Georges 235, 237 f., 249, 258 Clément, Jacques 118 Clermont-Ferrand 120 Cluny 54 f., 58. 61 Code civil 185 Colbert, Jean-Baptiste 131, 149 f., 288 Comminges 68 Commynes, Philippe de 313 Compiègne 83, 222 Condorcet, Marquis de 292 Constant, Benjamin 196, 205 contrat social 119 Coutume, s. Gewohnheitsrecht Croix de Feu 261 Cuvier, Georges 352 Dagobert 41 f. Daladier 261 f., 265 f. Damiens, Robert-François 158 Danton, Georges Jacques 169 Dauphiné 76, 108, 125, 170 Dax 77 de Gaulle, Charles 266, 270, 278, 281, 362–366, 370, 381
Personen-, Orts- und Sachregister 425 Deffere, Gaston 280 Deismus 138 Deiss, Raymond 279 Delors, Jacques 385 Demangeon, Albert 328 Démaret, Émile 300 Demographie 32 f., 40, 55, 57 f., 66, 124, 157, 161 f., 247 f., 356, 375 Départements 184, 188 Deportation 290, 295 Déroulède, Paul 235, 238 Deutschland 347–360 Deutschlandpolitik 258 Devolutionskrieg 289 Devoten 135 Diderot, Denis 174 Digesten 88 Dijon 137, 341 Dionysius, hl. 86 Direktorium 180 Dividende 213 f. Domestike 155, 292 Dominikanerorden 69 Dominique (Insel) 288 Dordogne 27 Dorgères, Henri 273 Douai 71, 289 Doumergue, Gaston 258, 262 Drancy 277 Dreibundvertrag 235 Dreißigjähriger Krieg 136, 228 Dreux 47 Dreyfus, Alfred 238 f. Dreyfus, Mathieu 238 Dritter Stand 26, 113, 117, 130, 170, 187 drôle de guerre 265 Druckgewerbe 122 Drucktechnik 110 Druckwesen 130 Druiden 28 Drumont, Edouard 237 Dschibuti 298 Dubarry, Madame 159 Dubois, Kardinalpremier 155 Dubois, Pierre 311 Dumas, d.Ä., Alexandre 224 Dumoulin, Charles 110 Dupont de Nemours, Physiokrat 161 Edikt 1572 123 Alès 136 d’Union 118
Nantes 127 Toleranz 171 Eduard III. (engl. König) 75 f. EGKS 383 Ehe 39 f., 58, 60, 127, 164 f., 233, 242 Eiffelturm 234 Eigentum 132, 160, 185 Einwanderung 55, 371 f., 375, 378 Eisenbahnbau 211–215 Elba 195 Eleonore v. Aquitanien 49 Elsaß 152, 186, 226, 228, 238, 250 Elysée-Palast 209, 238 Emigranten, Entschädigung 197, 204 Emser Depesche 226 England 48, 343–345 Entchristianisierung 180–184, 206 Entkolonialisierung 298, 365, 369, 371 Epting, Karl 358 Épuration, s. Säuberung Ernährung 163, 244 Erziehung, s. Bildung Estienne, Charles 109 État français 268 ff., 272 f. Étienne Marcel 76, 101, 103 Eugénie, franz. Kaiserin 223, 296 Europa 43, 77, 84, 136, 225, 258, 289, 309–340, 381–385 Europa, neues 275 Europäisierung 309, 381, 387 ff. Europarat 382 europenses 43 EVG 383 Évreux 68 EWG 383 EWS 368 Exilparlament 278 Existentialismus 379 Exkommunikation 72 f. Fabius, Laurent 368 Familie 40, 64, 247, 273 Faschismus 260, 262 Faubourg Saint-Antoine (Paris) 141 Faure, Félix 238 Favre, Jules 227 Febvre, Lucien 379
Feminismus 165 Ferry, Jules 230 f., 233, 235, 298, 305 Feudalität, Zweite 80, 84, 105 Finé, Oronce 108 Fischweiber, Paris 321 Flagellanten 102 Flandern 48, 53, 60, 68, 70, 103 f. Flavius Josephus 21 Fleury, André Hercule de 156 Föderalisten, europäische 339 Föderationsbewegung 178, 180 Fontainebleau 125, 303 Fontenelle, Bernard le Bouvier de 145 Foucault, Michel 385 Fougeret de Montbron, Louis-Charles 343 Franche-Comté 289 franci, s. Franken Francia 34, 42, 60, 107 Franken 24 f., 34, 110, 187 Frankenreich 41 Franz I. 117, 123 f., 286, 315 Franz II. 126 Franziskanerorden 69 Frauen, Frauenrecht, Frauenwahlrecht 60, 100, 142, 162–166, 171, 173, 185, 192, 248, 250, 274, 282, 379 Fredegar 24 Freiheit 58, 110, 132, 160, 169 f., 174, 286, 319, 345 Freiheitsmütze 177 Freimaurer 276 Freizeit 215, 218 Fremde, s. Ausländer Frenay, Henri 270, 279, 334 f., 337 Friede Aachen 321 Amiens 186 Brétigny u. Calais 76 Paris 204 Paris 221 Utrecht 319 f. Wien 321 Frieden, Ewiger 320 Friedensbewegung 328 Friedrich II. (Kaiser) 77 Fronde 140–142 Frontkämpfer 272
426 Personen-, Orts- und Sachregister Fulbert von Chartres 64 Fundamentalgesetze 111, 114 gabelle 128 Gaguin, Robert 110 Gallien, Gallier 108, 187, 307 Gallikanische Kirche 84, 125, 184 Gambetta, Léon 227, 230 f., 244, 298, 305 Gard 244 Garonne 27, 125 Gascogne 41, 49, 76 Gâtinais 48 Gedächtnis, kulturelles 22 f., 29, 31, 36, 44, 50, 191, 194, 389 Gemeinde 36, 39, 53, 58, 153, 183 Generalstände, s. Stände Genovefa, hl. 36 Gent 71, 75, 103 Georg v. Podiebrad 313 f. Gerichtswesen 93 ff., 159 Gesellen 121 f. Gesetz Barthou 243 Falloux 208 Ferry 233 Trennung von Kirche u. Staat 241 Getreide 58, 121, 161 f., 200, 207, 244 Gewalt 121, 123 Gewerkschaften 240 Gide, Charles 306 Gilbert v. Tournai 113 Giraud, Henri, General 280 f. Girault, Arthur 299 Girondisten 180 Gisors 68 Gleichgewicht 315 f., 319 f. Gleichheit 60, 161 gloire 145 f. Gotik 99 f. Gottesfriedensbewegung 61 f. Gouges, Olympe de 142, 166 Gournay, Marie de 165 Gouverneur 95 Grab 39, 48 Grand Conseil 95 Grande Nation 205, 282, 338 Grande Peur 172 grande Rebeyne 121
Grassaille, Charles de 114 Gregor von Tours 37 Grenoble 62, 170, 313 Grenze, Grenzziehung 37, 51 f., 109 f., 136, 149, 186, 221, 320, 322, 347 f., 378 Grévy, Jules 227, 230 f., 235 f. Griechen 26, 40 Großbritannien 255 f. Grundherr, Grundherrschaft 56, 63, 121 Grundrechte, s. auch Menschenrecht 141, 171 Guadeloupe 288, 292 f. Guerre des farines 161 Guez de Balzac, JeanLouis 319 Guido, Graf v.Dampierre 70 Guillaume de Lorris 56 Guillotine 180 Guines 76, 77 Guise, Franz u. Karl v. 126 Guizot, François 196, 200 Guyana 289, 293 Guyenne 68, 75 f., 137 Häresie, häretisch 61, 72, 125 Haiti 293 Hamon, Pierre 108 Handel, Handels- 287 Flotte 289 Freihandel 297 Freihandelsvertrag 297 Gesellschaft 155, 288, 290 Handelsvertrag 222 f. Routen 29, 40 Handwerk, Handwerker 27, 55, 65, 71, 100, 104 Harelle 104 Hauriou, André 279, 337 Hausmeier 42 f. Haussmann, Georges, Baron 215 ff. Heer, s. Militär Heermeister 34 Heilige 100 Heiligenvita 50 Heinrich, Graf v.Chambord 230 Heinrich Plantagenêt 49, 56, 63
Heinrich, preuß. Prinz 341 f. Heinrich I. 47 Heinrich II. 123, 126 Heinrich II. (engl. König) 67 Heinrich III. (engl. König) 70 Heinrich III. 118, 126 Heinrich IV. (engl. König) 80 Heinrich IV. 66, 126 f., 287, 316 Heinrich V. (engl. König) 81 f. Heinrich VI. (engl. König) 82 f. Heiratsalter 124 Henri de Mondeville 93 Herkules 177, 190 ff. Herriot, Edouard 329 Hervé, Gustave 307 Hieronymus, hl. 34 Hilarius, hl. 35 f. Hinkmar v. Reims 87 Historiographie 44, 379, 385 Hochschulen 377 Hof, höfisch 45, 48, 55, 65, 78, 83, 94, 97 Hohes Lied 64, 86 Honorius Augustodunensis 64 Hotman, François 111, 114 Hugenotten 66, 111, 136, 162, 290, 316 Hugo Capet 47 Hugo d. Gr. 47 Hugo v. St. Viktor 64 f. Hugo, Victor 210, 325 ff., 346 Hundertjähriger Krieg 76 Hunger 161 Hungersnot 121 Hunnen 36 f. Hus, Johann 314 ˆ de France 23, 47, 104, Ile 142 ˆ de la Cité 27, 33, 78, Ile 140, 216 f. Indochina 294, 297 f., 365 Industrialisierung 243, 373 Industrie, Schwer- 245 f. Inflation 121, 156 Information 108, 110 Ingenieure 215
Personen-, Orts- und Sachregister 427 Inquisition 69, 72, 83 Institut Allemand 358 Intendanten 153 Internationale Liga für Frieden und Freiheit 327 Issoudun 67 Italien 313, 316 Italienkrieg 222 Jacqueries 76, 104 Jakob v. Châtillon 71 Jakob van Artevelde 103 Jakobiner 173, 182 Jansenismus 137 Janvier, Emil 336 Jaurès, Jean 242, 299 Jean de Meun 56 Jean Gerson 80, 115 Jean Petit 80 Jeanne d’Arc 83, 166 Jesuiten 138 Johann II. 76, 103 Johann Ohnefurcht, Herzog v. Burgund 79, 81 Johann Ohneland 67 f. Johann v. Bedford 82 f. Johann, Herzog v. Berry 77 Johannes v. Salisbury 65, 98 f. Johanniterorden 74 Jolivet, Jean 108 Joret, Charles 358 Jospin, Lionel 368 Juden, -verfolgung 39, 97, 238, 264, 271, 276 f. Judith 165 Jura 27 juste milieu 180, 201 Kalender 178 Kambodscha 297 Kanada 285, 287 ff. Kanonisten 112 Kapital 122, 139, 223, 243, 246, 257, 288 Kapverdische Inseln 287 Karl d. Einfältige 47, 49 Karl d. Gr. 41, 43, 50, 186 f., 191 Karl d. Kahle 45 Karl d. Kühne, Herzog v.Burgund 106 Karl Martell 42 Karl v. Navarra 103 f. Karl v. Valois 70 Karl IV. (Kaiser) 77 Karl IV. d. Schöne 66, 75
Karl V. 77 f., 80, 105, 117 Karl V. (Kaiser) 315 Karl VI. 77 f., 80, 82, 104, 108 Karl VII. 78, 82 ff., 91, 105 Karl IX. 126 Karl X. 133, 196, 198 Kartäuserorden 62 Kartoffel 162, 303 Katharer 69 f., 102 Katharina v. Medici 126, 287 Kathedrale, Notre-Dame, Paris 99, 282 Katholiken, Katholizismus 248, 279, 294, 296, 369 Kelten, keltisch 22, 26 ff., 30 f., 110 Ketzer 69, 92 Kindersterblichkeit 40, 162, 247 Kirche, Kirchen- 36, 38, 63 f., 72, 138, 241, 370 Kissensitzung 94, 140, 159 Kleine Eiszeit 162 Kleriker, Klerus 51, 54, 56, 157, 182, 184, 196, 208 Kloster 35, 39, 44, 46, 56 Kloster, Port-Royal 137 Köln 35 König (Männlichkeit) 193 König, thaumaturgischer 87 Königsidee 47, 61 Königskult 23 Königsmörder 204 Königstheologie 84, 86, 111 Königswahl 47 Königtum, franz. 86 Körperbilder, Körpermetaphorik 59 f., 100, 188, 192–194 Kohabitation 374 Kohlebergbau 212 f. Kokarde 177 Kollaboration 271, 276 f. Kolonialarmee 298, 307, 365 Kolonialausstellung 308 Kolonialpartei 305 Kolonialvereine 306 Kolonialwirtschaft 300 f. Kolonien, s.u. den Namen
Kommune 178, 233, 228 f. Kommunisten 259 f., 265 f., 282, 338, 364 Konferenz Brazzaville 364 Den Haag 382 Kongo 298 Kongreß Baden-Baden 222 Berlin 298 Pazifisten, Paris 325 Konkordat 185 Konkubinat 40 Konstantinopel 43 Konsultativversammlung 363 Kontrazeption, kontrazeptiv 40, 163 Konvent 179 Konzentrationslager 276 f., 332 Konzil 35, 112 Basel 84 Clermont 62 Konstanz 80 Paris 80 Toulouse 102 Trient 138 Vienne 74 Kreuzzug 48, 62, 67, 69, 72, 74, 314, 335 Kriegswirtschaft 249 f. Krönungs-krone 48 -ordo 114 -ritus 87 -schwert 86 Krondomäne 66–69, 114 Kultur- 88 -kampf 239 -relativismus 369 -transfer 23 l’Hôpital, Michel de 126 La Rochelle 55, 123, 135 La Rocque, Oberstleutnant 261 f., 264 Laboulaye, Edouard de 352 Lafayette, Marquis de 292 Landwirtschaft 244, 374 Languedoc 73, 95, 102 Laon 60, 62 f. Latein 31, 36, 39, 50 f. Laval, Pierre 259, 262 f., 267, 363 Law, John 131, 155 f., 290 Lazare, Bernard 238
428 Personen-, Orts- und Sachregister Le Franc, Martin 165 Le Havre 287 Le Pen, Jean-Marie 369 Lebenserwartung 40, 162 Lebrun, Albert 261 f. Leclerc, General 282 Legislative 178 Legisten 73, 74, 97 Lehnswesen 45, 48, 68 Lemonnier, Charles 327 f. Lesdain, Jacques de 276 Lesseps, Ferdinand de 236 f., 296, 303 levée en masse 180 Lévi-Strauss, Claude 369 Lex Salica 38 Libanon 251, 296 Liberale 197 libertins 138 Liga, katholische 111, 118 Lilie 55, 71, 86 Lilienbanner 230 Lille 289 Limes 33 Limoges 160 Limonum, s. Poitiers Limousin 27 Linkskartell 258 Lissabon 287 lit de justice s. Kissensitzung Literalität 51 f., 130, 304 Lohn 99, 121 Loire 37, 42 lois fondamentales, s. Fundamentalgesetze Loménie de Brienne, Étienne Charles de 170 London 220, 266, 280, 344 Lotharingien 42, 47 Lothringen 226, 228, 250 Loti, Pierre 306 Louis, Paul 307 Louisiana 155 f., 289 f. Louis-Philippe („Bürgerkönig“) 26, 199 Louis-Philippe, Graf v.Paris 230 Lourdes 233 Louvre 73, 78 f., 92, 150, 216 Loyseau, Charles 65, 115, 352 Lucas de Penna 114
Ludwig d. Fromme 45, 53, 63 Ludwig, Graf v. Nevers 75 Ludwig, Herzog v. Anjou 77 Ludwig, Herzog v. Bourbon 77 Ludwig, Herzog v. Orléans 79 Ludwig V. 47 Ludwig VI. 48 Ludwig VII. 48 f. Ludwig VIII. 69 Ludwig IX. d. Hl. 69 f., 72, 94, 108, 113, 310 Ludwig X. 75 Ludwig XI. 66, 84, 313 f. Ludwig XIII. 66, 120, 135 f., 318 Ludwig XIV. 66, 138–147, 239, 288 Ludwig XV. 321 Ludwig XVI. 169, 180 Ludwig XVIII. 195, 203 f. Lunéville 152 Lutetia, s. Paris Luther, Martin 125 Lyon 21 f., 31, 33, 35, 39, 70, 109, 123, 137, 199, 229, 296, 329, 334, 341, 356 Mac-Mahon, Maurice, Marquis de 229, 231, 234 Mâconnais 57 Madagaskar 289, 298 Madeira 287 Maghreb 371 Mai 1968 366 f. Maillotins 104 Maine 47, 67, 69 Malesherbes, Chrétien de Lamoignon de 174 Mandat, imperatives 117 Mann, republikanischer 232 Marat, Jean-Paul 179 Marche 68 Marennes 123 Maria Leszinska 156 Maria v. Medici 135 Marianne 233 Marie-Antoinette 175, 180, 303, 322 Marine 289 Marini, Antoine 313 Maritain, Jacques 278, 333
Marktweiber (Paris) 141, 171 Marktwirtschaft 373 Marmande 55 Marmoutier 35 Marokkokrise 299 Marquès-Rivière, Jean 276 Marseillaise 232 Marseille 26, 29, 35, 137, 229, 240, 262, 294, 335, 356, 374 Marshallplan 381 f. Marsilius v. Padua 118 Martin, hl. 35 f., 250, 278 Martinique 288, 292 f. Märtyrer 35, 100 Massalia, s. Marseille Matthäus Paris 86 Maupeou, René Nicolas de 159 Mauroy, Pierre 368, 374 Maurras, Charles 239, 261 Mazarin, Jules 138 ff. Mazarinades 141 Meaux 144 Medien 129, 131, 147, 158, 378 Mégret, Bruno 369 Mendès France, Pierre 365, 383 Menschenopfer 28 Menschenrechte 80, 182, 238, 380 Menschenrechte, Liga für 238, 260, 263 Menschenrechtserklärung 173, 293, 306, 345 Méricourt, Théroigne de 142, 192 Merowinger, merowingisch 37, 42 Mers el-Kébir 270 Messianismus 254, 269, 285, 306, 366 Metternich, Richard v. 223 Metz 152, 228 Mexiko 297 Michelet, Jules 26 Militär 33, 45, 137, 242 f., 263 Militarisierung 192 Millerand, Alexandre 258 Minderheiten 276 Minnedichtung 56 Mirepoix 102
Personen-, Orts- und Sachregister 429 Mitterrand, François 374, 380 Mobilität 92, 101, 207, 377 Modernität, Modernisierung 149, 152 f., 344, 353, 371, 380, 386 ff. Mollet, Guy 383, 385 Monarchie absolute 124 konstitutionelle 157, 178, 195, 198, 230 perfekte 133, 142 f. Monarchomachen 80, 118, 123, 352 Monnerville, Gaston 369 Monnet, Jean 381, 383 f. Monroe-Doktrin 297 Mont Beuvray 27 Montagnards 179 Montaigne, Michel de 301, 347 f., 350 Montesquieu, Charles de Secondat 301 f. Montpellier 55, 76, 90, 92, 240 Montréal 287 Mord, politischer 79, 81, 118, 123, 128 Moskau 364 Moulin, Jean 280 Münchener Abkommen 265 Münster, Sebastian 108 Münzgeld 29, 55, 95 Munizipalgesetz 233 Munizipalreform 171 Muralt, Ludwig v. 343 Muslime 296 Mythos, Mythographie 24 ff., 36, 38, 42, 87110, 125, 148, 151, 187, 310 Namur 158 Nancy 152 Nantes 49 Napoleon I. 185 ff., 195, 293, 303, 322 f. Napoleon III. 187, 205, 207 ff., 223–226, 295 f. Narbonne 29, 33, 39, 69, 98 Nation, Nations- 45, 67, 71, 107, 115, 129, 147 f., 152, 170, 178, 187 f., 191 f., 194, 224, 294, 298, 322, 329, 354, 357, 365, 372, 385, 386–389
Nationalgarde 197, 199, 206, 229 Nationalgüterverkauf 184, 197 Nationalismus 236, 239 Nationalversammlung 161, 172 f., 227, 267, 279, 337 NATO 365, 367 Natur 133 f., 150, 182 Neapel 84 Neoabsolutismus 186, 191 Neu-Kaledonien 371 Neustrien 42 Nicolas Oresme 101, 105 Nicolay, Nicolas de 109 Niederlande 370 Niger 298 Nil 296 Nizza 222 Norbert, hl. 62 Normandie 48, 68, 75, 81, 93, 137, 200, 245, 282 Normannen 41, 46, 49, 53 Notabeln, -versammlung 112, 117, 142, 169, 202 Obok 298 Odo v.Paris 47 OEEC 382 Öffentliche Meinung 173 ff., 187, 265, 294, 370 Öl, hl. 48, 87 Österreich 220–225, 259, 321 f., 354 Österreichischer Erbfolgekrieg 321 Oralität 51 f., 130 Ordonnanz v.Blois 116 oriflamme 48, 86 Orléans 30, 34, 40, 47, 83, 90, 142 Ormée 141 Ortelius, Abraham 108 Otto IV. (Kaiser) 77 Pädagogik, politische 232 Pairskammer 196 Palais Bourbon 196, 199, 261 Palais Luxembourg 196 Palais Royal 141, 155, 175, 177, 304 Panthéon 263 Papiergeld 155 f.
Papst 69, 71, 184 Benedikt XI. 74 Bonifatius VIII. 72 Clemens V. 74, 107 Clemens VII. 77 Cölestin III. 92 Gregor IX. 92 Gregor VII. 62 Honorius III. 90 Johannes XXII. 74 Pius II. 314 Pius VII. 185 Urban II. 62 Urban VI. 77 Zacharias 43 Paris 23, 27, 33 f., 36 f., 47, 64, 76 ff., 81, 92, 99, 103 f., 126 f., 147, 150, 155, 197, 199, 209, 216–219, 227 ff., 240, 262, 277, 282, 339, 356 Parlament 234 f., 240 Parlament (Gericht) 94, 116, 127, 158 ff. Paris 92, 137 f., 140, 142, 154, 170, 174 Parlement, s. Parlament (Gericht) Parliament (engl.) 112 f. Parteien 173, 208 f., 239 f., 369 Parther 33 Pas-de-Calais 246, 266 patria 42 Patriotismus 192 Patriziat 104 Paulette 128, 139 Pazifismus 259 Peignot, Étienne.Gabriel 189 Pelletan, Camille 242 Perche 67 Perrault, Claude 150 Pétain, Philippe 259, 262, 266, 273, 363 Peugeot 245 peuple, s. Volk Philipp d. Gute, Herzog v. Burgund 82 Philipp d. Kühne, Herzog v. Burgund 77 Philipp, Herzog v. Burgund 79 Philipp v. Orléans 154 Philipp I. 47 f. Philipp II. August 59, 66 ff., 77, 310 Philipp III. 70 Philipp IV. (span. König) 141, 289
430 Personen-, Orts- und Sachregister Philipp IV. 70, 72, 76, 311 f. Philipp V. 75 Philipp VI. 75 Philippe de Beaumanoir 91 Physiokratie 132 f., 160 Picard, Jean 110 Picardie 27, 57 f., 104 Pilger 39 Pineau, Christian 278, 280 Pippin 43 Pippiniden 42 Pisa 88 Pizan, Christine de 115, 165 Pleven, René 370 Poincaré, Raymond 237, 242 f., 257 ff. Poitiers, Poitou 27, 34 f., 58, 69 f., 81, 137 Polignac, Jules v. 198 Polysynodie 154 f. Pompadour, Madame 156 Pornographie 163, 176 f., 184, 188 f. Postel, Guillaume 108, 110 Poullain de la Barre, Chevalier de 165 Poussin, Nicolas 302 Pragmatische Sanktion 84 Praguerie 105 Prämonstratenserorden 62 Predigt 50 Presse 177, 187, 196, 198, 203, 237, 240, 363, 370 Preußen 220–225, 342 Prokurationsprinzip 112 Proletariat 200 Protestantismus, s. auch Hugenotten 123, 125 ff., 136, 153, 161, 231, 248 Proudhon, Joseph 327 Provence 29, 37, 41, 44, 84, 90, 102, 125, 183, 282 Provinzialstände 115, 170 Provinzialversammlung 171 Prozeßrecht 89 Pyrenäen 37
Quartier latin 91 Quercy 137 Quesnay, François 160 Raimund VI., Graf v. Toulouse 102 Raimund VII., Graf v. Toulouse 69 Ramus, Petrus 110 Rassismus, rassistisch 25 f., 106, 293, 301, 307 Rathaus, Paris 139, 142, 143, 227, 282 Rathenau, Walther 334 Rechnungskammer 95 Recht, RechtsBürgerrecht 31, 52 burgundisches 38 europäisches 388 Gewohnheitsrecht 52, 90 f., 110, 115 kanonisches 36, 39, 89 Latinerrecht 31 nationales 388 römisches 38, 52, 88–91, 114, 312 Vertragsrecht 52 -reform 154 -schule 90 -vereinheitlichung 91, 153 Referendum 366 Reformation, s. Hugenotten; Protestantismus Régence 154 ff. Regionalgedanke 272 Regionalisierung 33, 41 Reims 35, 37, 48, 87, 196 Religionskriege, s. Protestantismus Remigius, hl. 37 Renaissance, karolingische 45, 49 Renan, Ernest 327, 353 Renault 245, 362 Rennes 34, 240 Renversement des alliances 321 Reparationen 228, 256 Republik, Republikanismus 173, 178 f., 201, 208, 227, 230, 234 Résistance 271, 278–281, 332–336, 381 Restif de la Bretonne 188 Revolutionstribunal 180 Rhein, Rhein- 37, 42, 186, 221, 223 f., 250, 259, 263, 348 Rhône 26, 35
Richard Löwenherz 67 f. Richard, Graf v. Burgund 45 Richelieu, Armand Duplessis, Herzog v. 135 f., 288, 316–319 Ritter 56, 61, 63, 78, 86 Robert I. 47 Robert II. d. Fromme 47 f. Robert II. v. Artois 71 Robert v. Béthune 71 Robertiner 44, 46 Robespierre, Maximilien de 169, 179 Rolandslied 24 Rolland, Romain 328 Rom 27, 39, 43, 74, 77, 208, 219, 302 Romains, Jules 328 Rosenroman 56 Rouen 27, 35, 49, 83, 104, 294 Rouergue 137 Rousseau, Jean-Jacques 320 f. Roussillon 84, 245, 313 Royalisten 263 Rudolf Glaber 58 Rudolf v. Burgund 47 Ruhm, s. gloire Ruhrbesetzung 256 Saar 266 Saarland 251 Sacré-Cœur, Basilika 233 Sacy, Monsieur de 145 Sade, Marquis de 190 Säkularisation, Säkularisierung 56, 89, 183 Säuberung (épuration) 281 f., 363 Sahara 298 Saint-Cloud 303 Saint-Denis 43, 48, 86, 100 Saint-Étienne 211 Saint-Eustache 141 Saint-Léger Léger, Alexis 329 Saintonge 137 Saint-Pierre, Abbé de 155, 320 Saint-Simon, Graf v. 324 f. Salfranken 34, 37 Salisches Gesetz, s. auch Lex Salica 75, 111 Salzsteuer, s. auch Gabelle 123
Personen-, Orts- und Sachregister 431 Sancerre 70 sanior pars 119 Santo Domingo 288, 292 f. Sarraute, Nathalie 379 Sarrazenen 46 Sartre, Jean Paul 379 Savaron, Jean 120 Savoyen 222 Scheidungsrecht 273 Scheurer-Kestner, Senator 238 Schiedsgericht 312 Schiedsrichter (franz. König) 77, 86, 120, 136, 310, 313, 319, 321 Schlacht „Goldene Sporen“ 71 Azincourt 81 Bouvines 77, 310 Cassel 75 Castillon 84 Crécy 75 Fréteval 92 Katalaunische Felder 36 Königgrätz 224 Moussais 42 Sedan 226 Schlieffenplan 249 Schrift, Schriftkultur 22, 29 Verschriftlichung 92 Schriftsprache 31 Schulammit 64 Schulden 157 Schulwesen 185, 208 Schuman, Robert 383 ff. Schuman-Plan 383 Schwurhand 86 Scudéry, Mademoiselle de 146 Seele 100, 158, 165, 183, 269, 274, 385 Seigneurie, s. Grundherrschaft Seine 27, 33, 219 Senat 230 f., 243, 265 sénéchaussée s. Ämter Senegal 293, 295 Senghor, Leopold Sedar 370 Senlis 47 Sens 100 Septembermassaker 178 Sexualität, sexuell 36, 40, 59 f., 163 f., 377 Seyssel, Claude de 115 SFIO 239 f., 260, 280, 382 Siebenjähriger Krieg 157
Sieyès, Emmanuel 187 Silvano, Bernardo 108 Simon le Coustelier, gen. Caboche 80 Sklave, Sklaven-, Sklaverei 31, 291 ff., 306 Sleidan, Johannes 350 Société des Amis des Noirs 292 société moyenne 378 Somme 27, 41, 75 Sorel, Georges 240, 328 Souveränität 118, 127 f., 286, 329, 366, 383 f. Sozialgesetzgebung 241 f., 373 Sozialismus, Sozialisten 237–239, 259 Sozialphilosophie 380 Sozialpolitik 263 Spanien 225, 313 Sparpolitik 368 Sport 232 St. Lorenz-Strom 287 Staat 65, 67, 76, 107, 114, 123, 127 Staats-bürgerrecht 276 -bürgerschaft 139, 248 -haushalt 139, 185, 197, 257 -räson 137 -rat 95, 97, 135, 153 Stadt, Städte, städtisch 31, 34 f., 39 f., 46, 53, 55, 97–100, 112, 123, 307, 377 Stadtsanierung (Paris) 217 Staël, Germaine de 28, 133, 205, 348, 353 Stahlindustrie 212 f. Stand, Stände 103, 115, 272 Generalstände 96, 101, 103, 111 f., 115 ff., 119 f., 169 f. -gesellschaft 54 -lehre 59 f. -versammlung 71, 73, 74, 103 vierter 106 Steuergerichtshof 97 Steuern 96, 117, 137, 154 f., 157, 160, 242 Straßburg 34, 385 Straßburger Eide 51 Streik 122, 240 Stresemann, Gustav 258 Studenten, Paris 336 Sue, Eugène 209, 218
Sünde 61 f. Suez Kanal 296 Suger, Abt v. Saint-Denis 48 Sully 287, 302, 316 f., 338 Synkope 93, 99 Synode, Attigny 43 Syrer, Syrien 35, 40, 251 Talleyrand, CharlesMaurice, Herzog v. 195, 198, 204 Tardieu, André 259, 261 Target, Guy-Jean-Baptiste 173 Taufe 40, 49 Technik, Technologie 31, 57, 134, 153, 248, 374 Teitgen, Pierre-Henri 280 Templerorden 74 Terray, Joseph-Marie, Abbé 159 Terreur, Terror 141, 179 f., 188–191, 204 f., 224, 229 Terrevermeille, Jean de 114 Theater 134 Theobald IV., Graf v. Champagne 70 Theokratie 73 Theudomer 35 Thierry, Amédée 26 Thierry, Augustin 325 Thiers, Adolphe 198 f., 209, 212, 227 f., 229 f. Thomas Becket 65 Thomas v. Aquin 93, 101 Thomas v. Cantimpré 65 Thorez, Maurice 262, 363 Thronfolge 114 Tocqueville, Alexis de 133, 191, 346 Toleranz 153 Toulon 294 Toulouse 29, 37, 70, 90, 240 Tourismus 246 Tournai 33, 289 Tours, Touraine 35, 40, 67, 98, 108, 227, 266 Trarieux, Jacques 238 Trier 32, 35 Trikolore 232 Trochu, Louis Jules 227 Troja, Trojaner 24 Troyes 81 Tuchins 104 Türkei 296
432 Personen-, Orts- und Sachregister Tugend 180 Tunesien 298 f., 371 Turgot, Anne Robert Jacques 160 f. Tyrannenmord, s. Monarchomachen UNESCO 369 Ungleichheit 62 f. Union nationale 259 Union sacrée 249 Universalherrschaft 312, 318 f., 322, 351 Universität 91, 355 Aix-en-Provence 358 Paris 80, 83, 90 ff., 102, 104, 107, 138 Sorbonne 91 Toulouse 92 UNO 339, 364, 370, 382 USA 255 f., 270, 297, 328, 345 ff. Vaillant, Auguste 237 Vallat, Xavier 272, 277 Vandalen 36, 178 Vatikan 241, 250, 370 Vaucluse 245 Vélodrome d’Hiver 277 Venaissin 69 Vendée 179 f. Vendômois 67 Venedig 314 Venetien 224 Vercingetorix 26 f., 30 Verfassung 53, 180 f., 185, 195 f., 209, 230 f., 234, 267, 272, 317, 343, 364, 366 Verfassungs-ausschuß 173 -gericht 154 -reform 262 Vergennes, Charles Gravier 341 Vergil 24 Verkehrs-; s. auch Flußnamen -achse 35 Fernstraße 33 -infrastruktur 46
Vermandois 67 f., 118, 147, 150 f., 169, 171, 227, 229, 303 Verstaatlichung 362, 374 Vertrag Athis 71 Bourges 80 Boves 67 Fontainebleau 195 Locarno 258 Maastricht 384 Madrid 117 Meersen 44 Paris 69 f., 204 Tordesillas 286 Troyes 82 Verdun 41 Versailles 250, 321 Vertragslehre 118 f. Verwaltung 33, 38 f., 45, 48, 59, 93 ff., 153, 185, 215, 341 Vexin 48, 67 f. Vichy, s. auch Pétain 267 ff., 332 Vienne 32, 35, 39 Vierzehnter Juli 232 Vietnam 365 Villèle, Joseph Graf v. 197 Vinzenz v. Beauvais 113 Vivès, Juan Luis 122 Viviani, René 243 Vizille 170 Vogesen 35 Völkerbund 251, 258, 263, 280, 328 ff. Volk 111, 118–120, 130, 158, 170 ff., 177, 199, 216 Volks-almanach 152 -entscheid 209, 225, 251 -front 259, 263, 265 -souveränität 118 f., 182 -sprache 51 -tribunal 363 Volontaires nationaux 261 Voltaire 302
Währung 297 Währungsunion 384 Wagner, Richard 357 Wahl, -en 111, 116, 171, 204, 227, 231, 239, 257 ff., 263, 363, 367 Wahl-recht, Listenwahlrecht 235, 367 -reglement 170 f., 198 -zensus 168, 173, 185, 194, 200, 202, 209 Walahfrid Strabo 63 Waldeck-Rousseau, Pierre Marie René 235, 241 Weinbau 244 Weltausstellungen 219 f., 223, 234, 299, 326 Weltwirtschaft 256 Wertewandel 377 Westfranken 46 Westgoten 36, 39, 41 Widerstand 101 Widerstandsrecht 119 ff. Wiener Kongreß 322 Wilhelm d. Eroberer 49 Wilhelm I. (preuß. König) 222, 225 f. Wirtschaft, Wirtschafts376 f. -politik 257 -statistik 160 -wunder 374 Witwen 116, 164 Wohlfahrtsausschuß 229 Wohlfahrtskomitee 180 Würde 122 Zeiller, Martin 348 Zeit 44, 99 Zensur 189 Zensus 66 Zentralmassiv 27, 211 Zeremoniell 56, 78, 79, 143 Zisterzienserorden 62 Zola, Emile 218, 238 Zwangsarbeiter 276