Manfred Cierpka (Hrsg.) Frühe Kindheit 0 – 3 Beratung und Psychotherapie für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern
Manfred Cierpka (Hrsg.)
Frühe Kindheit 0 – 3 Beratung und Psychotherapie für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern Mit 30 Abbildungen und 12 Tabellen
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Prof. Dr. Manfred Cierpka Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg
[email protected] ISBN
978-3-642-20295-7
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
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Warum dieses Handbuch?
Eltern suchen immer häufiger professionelle Hilfe, wenn sie mit einem bestimmten Verhalten oder einem Problem ihres Säuglings bzw. Kleinkinds nicht zurechtkommen. Sie finden auch immer häufiger eine Anlaufstelle mit spezifischen Beratungs- und Psychotherapieangeboten. Die wesentlichsten Probleme, die in der frühen Kindheit (0 bis 3 Jahre) auftreten und die Eltern veranlassen können, z. B. eine Beratungsstelle, eine Spezialsprechstunde für Eltern mit einem Säugling, eine sozialpädiatrische Ambulanz in einer Klinik, einen Kinderarzt oder eine Kinderpsychotherapeutin aufzusuchen, werden in diesem Handbuch behandelt. Durch die intensivierte Forschung über die Entwicklung von Säuglingen nehmen auch die Informationen über die Störungsbilder in dieser frühen Lebensphase rasant zu. Störungen in der frühen Kindheit sind durch die besonders enge Verwobenheit körperlicher und seelischer Prozesse gekennzeichnet, sodass seelische Beeinträchtigungen immer auch somatische Symptome zur Folge haben und somatische Belastungen immer auch psychische Auswirkungen haben. Am häufigsten in diesem Lebensalter sind Störungen der frühen Verhaltensregulation, d. h. Schrei-, Schlaf- oder Fütterstörungen. Diese Symptome, die auch mehrere Funktionsbereiche gleichzeitig betreffen können, fasst man (in Deutschland) unter dem Begriff der »Regulationsstörungen« zusammen. Epidemiologische Untersuchungen, etwa die Mannheimer Kohortenstudie (Schepank 1987; Laucht et al. 2000; Wurmser et al. 2001) zeigen für frühkindliche Störungen Prävalenzraten zwischen 5 und 20%. Die meisten dieser Störungen sind passager und verschwinden im Verlauf der kindlichen Entwicklung. Trotzdem können diese Störungsbilder krisenhaft verlaufen, die Eltern sehr belasten und Anlass für die Hilfesuche sein. Ungefähr ein Drittel dieser Störungen persistiert (Ihle u. Esser 2002; Wurmser et al. 2001), d. h., die klinischen Bilder sind nicht transitorischer Natur. Sie sind wegen des Risikos eines entwicklungspsychopathologischen Verlaufs beim Kind sehr ernst zu nehmen. Da in vielen Fällen dysfunktionale Partnerschaften und Familienkonstellationen an der Verursachung und Aufrechterhaltung des Störungsbilds beteiligt sind, richten sich die Interventionen überwiegend auf die Eltern-Kind-Interaktionen. Frühe Interventionen sind indiziert. Neuere Studien konnten zeigen, dass frühkindliche Regulationsprobleme häufig Vorläufer für Verhaltensauffälligkeiten der späteren Kindheit darstellen (z. B. Laucht et al. 2004). Fonagy (1996) tritt aufgrund dieser hohen Persistenz von Störungen in der frühkindlichen Verhaltensregulation ebenso wie die Gründerin der ersten deutschen »Sprechstunde für Schreibabys«, Mechthild Papoušek (Papoušek et al. 2004), für eine frühe Prävention und Intervention ein. Die Eltern-Säuglings-Beratung und -Psychotherapie etabliert sich nach und nach in den westlichen Industrieländern. In einer Expertise für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fanden sich in Deutschland im Jahr 2006 ca. 250 Beratungsstellen für diesen Bereich; inzwischen sind es wahrscheinlich doppelt so viele. Wissenschaftler und Institu-
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tionen sind in der World Association of Infant Mental Health (WAIMH) organisiert. Das Organ dieser Gesellschaft ist das Infant Mental Health Journal. In der deutschen Gesellschaft für seelische Gesundheit in der frühen Kindheit (GAIMH, s. auch http://www.gaimh. de) schließen sich die deutschsprachigen Berater, Therapeuten und Forscher aus dem Feld der frühen Kindheit zusammen. Es gibt inzwischen mehrere Ausbildungsgänge für Eltern-Säuglings-Beratung und -Psychotherapie. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie hat das Gebiet der Regulationsstörungen an nahezu allen Instituten in ihren Ausbildungsgang aufgenommen. Auch im Bereich der Entwicklungspsychologie oder der Pädagogischen Psychologie wird der Schwerpunkt »Frühe Kindheit« immer relevanter; es gibt neue Studiengänge, die sich explizit der frühen Kindheit widmen. Auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Arbeitsfeld der »Frühen Hilfen« sind Erkenntnisse über die Probleme bzw. Symptome von Kindern in der frühen Kindheit relevant, weil sie, z. B. in ihrem Beruf als Hebamme (oder als Familienhebamme), in ihrer (aufsuchenden) Arbeit damit konfrontiert werden. In der Jugendhilfe werden der Kinderschutz und entsprechende Hilfen inzwischen verstärkt für Eltern mit Kindern im Lebensalter von null bis drei Jahren angeboten (7 Kap. 20). Zur besseren Koordination und zum weiteren Ausbau der sogenannten Frühen Hilfen wurde in Deutschland das Nationale Zentrum Frühe Hilfen gegründet (http://www.fruehehilfen.de). Die Kinderärzte interessieren sich in den letzten Jahren verstärkt für die »Regulationsstörungen« in der frühen Kindheit, da sich die Eltern mit dieser Problematik meistens primär an sie wenden. Weil z. B. mit der Betreuung eines exzessiv schreienden Säuglings ein hohes Misshandlungsrisiko einhergeht, werden Konzepte zur Hilfestellung für die Bezugspersonen, in der Regel die Eltern, dringend benötigt (7 Kap. 37 u. 38). Zwar gibt es bereits erste Leitlinien zu den Regulationsstörungen (http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-028. html; von Hofacker et al. 2007; Berger et al. 2006), ein Handbuch für die Beratung bzw. Psychotherapie für Familien mit Kindern von null bis drei Jahren fehlte jedoch bislang. Dieses Handbuch versucht diese Lücke zu schließen und das aktuelle Wissen für den Bereich der Beratung und Psychotherapie von Eltern mit Säuglingen bzw. Kleinkindern zusammenzufassen und kritisch zu diskutieren. Ziel ist es, den Beratern und Therapeuten vor allem die praxisrelevanten Erkenntnisse, aber auch so viel theoretisches Hintergrundwissen wie nötig an die Hand zu geben, damit sie dem Kind und den Eltern in ihrer Hilfesuche gerecht werden können.
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Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Beratung und -Psychotherapie
Die Eltern-Säuglings-Beratung ist noch ein sehr junges Fachgebiet. Die ersten Beratungen für Eltern mit Säuglingen bzw. Kleinkindern wurden von Sozialarbeitern durchgeführt. Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel praktizierten diese Form der Familienberatung in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts an einigen Erziehungsberatungsstellen in Deutschland. Bereits damals verstanden sich die Beratungsangebote als »frühe Interventionen« für Familien. Solche Interventionen wurden erstmals systematisch in den 1960er-Jahren von Selma Fraiberg (1980) in San Francisco zusammen mit einigen Sozialarbeitern ausgearbeitet. Mit einer Hilfestellung für Mutter und Kind in der Eltern-Säuglings-Beratung wollte sie
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die Mutter-Kind-Beziehung fördern und eine Fremdunterbringung des Säuglings vermeiden. Nach den ersten Konzepten haben vor allem Psychoanalytiker die frühe Mutter-Kind-Beziehung untersucht. Dies wird auf dem Hintergrund der psychoanalytischen Theorie verständlich, die die Störungsbilder der (erwachsenen) Patienten mit unbewussten inneren Konflikten bzw. strukturellen Entwicklungsdefiziten in Verbindung bringt, die überwiegend in der frühen Kindheit entstehen (7 Kap. 6). Im Gegensatz zur Situation auf der Couch, in der der Patient über seine Kindheitserfahrungen berichtet, wollten die Psychoanalytiker die dysfunktionalen Beziehungsmuster zwischen Mutter und Baby »live« untersuchen. Psychoanalytiker, die gleichzeitig auch Pädiater waren, wie René Spitz oder Donald W. Winnicott (7 Kap. 6), waren an der Gründung der Säuglingsforschung maßgeblich beteiligt. John Bowlby und Margret Mahler begannen als Psychoanalytiker, die Beobachtung des »Dialogs« (Spitz 1976) zwischen Mutter und Kind zum systematischen Forschungsgegenstand zu machen. Sie beschrieben die Notwendigkeit, neben den primären biologischen Bedürfnissen des jungen Kindes auch seine affektiven Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen. Die Mutter gewährt dem Säugling in der »sicheren Bindung« (Bowlby 1969) einen symbiotischen Schutzraum, der für die körperliche Entwicklung und die psychische Reifung des Kindes von zentraler Bedeutung ist. So kann das Kind schließlich zu einer zunehmenden Individuation (Mahler et al. 1978) gelangen. Wie so oft in der Wissenschaft führten auch neue Methoden zu neuen Erkenntnissen. So erlaubt z. B. die Videotechnik ein Festhalten der Interaktion, ein wiederholtes Betrachten und eine Mikroanalyse der Interaktion und der Interaktionspartner. Die Digitalisierung der Information ermöglicht komplexe Analysen von immer größer werdenden Datensätzen. Diese neuen Methoden inspirierten das Feld der »Babywatcher«. Durch diese intensiven Forschungsbemühungen verändert sich das Bild des Säuglings in den letzten zwei Jahrzehnten: Neben dem Bedürfnis nach Schutz und Bindung, das dem Baby im Bezug zu einer »primären Mütterlichkeit« (Winnicott 1976) gewährt wird, entwickelt es von Beginn an eigene integrative und kommunikative Bedürfnisse (Papoušek 1994). Es nimmt als aktiver und »kompetenter« (Stern 1985; Dornes 1993) Partner seine Umwelt mit allen Sinnen wahr, versucht sich mit diesen frühen Erfahrungen vertraut zu machen und sie mit seinen primären Bezugspersonen zu teilen. Kindliche Entwicklung ist auf diese Kommunikation angewiesen, die sich gemäß Papoušek (vgl. 7 Kap. 5) in enger Interaktion mit Wachstum, neuroanatomischer Reifung, vorsprachlichen Anpassungs- und Lernprozessen und im natürlichen Kontext der frühen Interaktionen mit den Eltern entfaltet. Die Bindungsforschung (vgl. 7 Kap. 4) beschreibt eine sichere Bindung als die wichtigste Voraussetzung für die dialogische und regulatorische Abstimmung zwischen Eltern und Kind. Die sichere Bindung unterstützt die emotionale, motorische und kognitive Entwicklung des Kindes. Mary Ainsworth (1974) beschrieb die »Feinfühligkeit« als das wichtigste Merkmal elterlichen Fürsorgeverhaltens. Dieses ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit der Eltern, Signale ihres Säuglings wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und prompt und angemessen zu beantworten. Bestehende Bindungsrepräsentanzen der Eltern (Grossmann u. Grossmann 2003) tragen wesentlich zur Ausgestaltung der Beziehungs- und Entwicklungskompetenz des Kindes und seines Selbstkonzeptes bei.
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Hanuš und Mechthild Papoušek (Papoušek u. Papoušek 1990; Papoušek 2001) erweiterten und konkretisierten dieses Konzept und ergänzten es durch Verhaltensbeobachtungen im natürlichen Kontext der frühen Eltern-Kind-Interaktionen. In seinen Zwiegesprächen und im täglichen Umgang mit den primären Bezugspersonen lernt das Baby in einer hoch differenzierten vorsprachlichen Kommunikation (vgl. 7 Kap. 5) seine Erfahrungen mit sich und seiner Umwelt emotional ausgewogen zu integrieren. Die Eltern verfügen über ein zutiefst motiviertes »implizites Beziehungswissen« im Umgang mit ihrem Säugling, über angeborene, nicht der Kontrolle unterworfene, geschlechts- und kulturunabhängige intuitive Kompetenzen. Dieses Verhaltensrepertoire unterstützt die integrativen Prozesse des Säuglings. In den alltäglichen Eltern-Kind-Interaktionen wirken die Kompetenzen von Kind und Eltern im Sinne einer Koregulation zusammen (Papoušek 1999). Ein »interpersoneller interpretativer Mechanismus« (Fonagy u. Target 2002) fördert die Gegenseitigkeit. Eine gelingende gemeinsame Verhaltensregulation zwischen Mutter/Vater und Kind bildet vermutlich die Grundlage für ein auf prozeduraler Ebene gespeichertes implizites Beziehungswissen.
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Zu diesem Handbuch
Das vorliegende Handbuch will nicht nur den State of the Art in diesem Feld dokumentieren. Es will auch Stellung beziehen in der aktuellen wissenschaftlichen Debatte der Scientific Community, um Tendenzen für die zukünftige Ausrichtung im Bereich der Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Beratung und -Psychotherapie aufzuzeigen. Dies erscheint notwendig, weil sich diese spezifischen Methoden und Techniken in der Psychotherapie zunehmend etablieren werden. Es ist damit zu rechnen, dass sie gesundheits- und sozialpolitisch für die Versorgung immer wichtiger und berufspolitisch für die Psychotherapie immer bedeutsamer werden. Die Konzeption des Handbuchs, wie sie sich in der Gliederung und in der Auswahl der Autorinnen und Autoren zeigt, geht von den folgenden fünf Prämissen aus. Erste Prämisse Die Erkenntnisse über die Reifung des kindlichen Gehirns in Abhängigkeit von der Qualität der Umgebungsbedingungen belegen den großen Einfluss der relevanten Bezugspersonen, meistens der Eltern, auf die Entwicklung der kindlichen Seele und des kindlichen Gehirns (7 Kap. 1). Die Säuglingsforschung verdankt den Neurowissenschaften einen innovativen Schub, weil die neurowissenschaftlichen Studien zeigen, wie abhängig das kindliche Gehirn von den Umgebungsstimuli ist. Dieses Handbuch geht im Hinblick auf die menschliche Entwicklung von Wechselwirkungen zwischen »nature« (genetische Ausstattung) und »nurture« (Sozialisationserfahrungen) aus. Obwohl das kindliche Temperament weitgehend durch den genetischen Code festgelegt ist, scheinen auch dort prä-, peri- und postnale Umgebungseinflüsse wirksam zu werden (7 Kap. 3). Der Stressforschung (7 Kap. 7) kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu, weil sie erste Zusammenhänge zwischen psychisch und körperlich bedeutsamen Variablen belegen kann.
Die Autorinnen und Autoren des Handbuchs unterstützen die Meinung, dass man vom Beginn des Lebens an von einem systemischen Ineinandergreifen der biologisch-genetischen Ausstattung eines Menschen und seiner Erfahrungen in Beziehungen und mit der Umwelt ausgehen kann. Insofern ist die »Henne-oder-Ei-Diskussion«, z. B. über die Frage, ob für die Persönlichkeitsentwicklung »nature« oder »nurture« gewichtiger ist, heutzutage obsolet. Was uns verstärkt interessieren muss, ist, wie das Zusammenspiel funktioniert und wie wir
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es bei Störungen in reifungs- und entwicklungsfördernde Feedbackschleifen zurückbringen können. Zweite Prämisse Dieses Handbuch basiert auf einem entwicklungsorientierten Konzept. Die vielen Studien aus der Bindungsforschung, der dyadischen (7 Kap. 33) und triadischen (7 Kap. 34) Eltern-Kind-Interaktionsforschung, der Familienforschung (7 Kap. 35) und vor
allem aus der Entwicklungspsychologie führten zu einem ziemlich abgesicherten Verständnis von Reifung und Entwicklung, aber auch von Reifungs- und Entwicklungsstörungen im frühen Kindesalter. Die individuelle psychische und körperliche Entwicklung vollzieht sich in den Beziehungen zu den relevanten Bezugspersonen, hauptsächlich im familiären Kontext. Die Fähigkeiten der Eltern, die Beziehung zu ihrem Säugling bzw. Kleinkind resonant und altersadäquat zu gestalten und eine gute Bindungsentwicklung zu unterstützen, tragen wesentlich zur Entwicklung einer psychisch stabilen Struktur des Kindes bei. Die gesunde Entwicklung des Kindes verläuft in Phasen und lässt sich durch unterschiedliche Entwicklungsaufgaben markieren (7 Kap. 2 u. 32), die normative Erwartungen der Gesellschaft in Bezug auf den jeweiligen Entwicklungsstand enthalten (z. B. erster Krippenbesuch, Kindergartenbesuch). Die Entwicklung ist in diesem frühen Alter, im Gegensatz zu späteren Lebensphasen, stärker von der Reifung abhängig. Gegen Ende des ersten Lebensjahrs sind die motorischen und geistigen Fähigkeiten des Kindes so weit gewachsen, dass der Säugling z. B. seine Wünsche nach Nähe und Distanz durch räumliche Entfernung oder Annäherung und durch erste Worte ausdrücken kann. Aber auch diese Entwicklungsprozesse werden schon sehr früh durch Lernen und Erfahrung modifiziert und zeigen eine enorme Plastizität und Variationsbreite. Entwicklungsaufgaben sind miteinander vernetzt, d. h., die Entwicklungsaufgaben bauen aufeinander auf. In der Regel gelingt es den meisten Säuglingen und Kleinkindern mit Unterstützung der Bezugspersonen, die phasenspezifischen Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, ohne manifeste Probleme oder psychische Auffälligkeiten zu entwickeln. Dritte Prämisse Ein Klassifikationssystem und damit einhergehend eine Diagnostik der Regulationsstörungen in den ersten drei Lebensjahren muss deshalb auch entwicklungsorientiert sein (7 Kap. 11). Objektivierende Klassifikationsinstrumente sind trotz aller Unzulänglichkeit für das psychosoziale Feld unverzichtbar. Die internationalen Klassifikationssysteme für die psychischen Störungsbilder von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sind kategorial angelegt. Viele Störungsbilder lassen sich aber nicht nur einer Kategorie zuordnen. Dieses Problem der Komorbidität bei klinisch relevanten Störungen führte zu Forderungen nach Dimensionalität in der diagnostischen Betrachtungsweise, um die störungsübergreifenden pathogenetischen Parameter quantifizieren zu können. Die aktuelle Arbeitsgruppe im DSM-V zu den Persönlichkeitsstörungen entwickelte jetzt ein dimensionales Konzept von strukturellen Persönlichkeitsparametern (DSM-5 Work Group 2011), das allen Störungsbildern zugrunde gelegt werden kann. Auch wenn abzuwarten bleibt, ob sich dieses System durchsetzen kann, muss doch für die Regulationsstörungen in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes ein dimensional ausgerichtetes Klassifikationssystem gefordert werden, das beziehungsbasiert sein muss, weil das Kind in dieser Zeit fest in das Beziehungssystem der Eltern und der Familie eingebunden ist und seine Entwicklung bzw. seine Entwicklungsstörung nicht unabhängig von diesem betrachtet werden kann. In den gängi-
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gen Klassifikationssystemen fehlt eine eigene diagnostische Kategorie zur Erfassung von Beziehungsstörungen in der frühen Kindheit. Nur das Klassifikationsmanual Zero To Three bietet eine eigene Achse zur Beziehungsklassifikation. Für die Diagnostik und die Leitlinien für Regulationsstörungen (7 Kap. 13 bis 18) ist eine solche dimensionale, an der kindlichen Entwicklung und an der Eltern-Kind-Interaktion orientierte Perspektivierung zu fordern (vgl. von Hofacker et al. 2007). Eine kategoriale Betrachtung führt zu einem unnötigen Labeling, das die Kinder vorschnell pathologisieren kann. Egger u. Emde (im Druck) gehen in die gleiche Richtung und warnen vor diagnostischer Rigidität, zumal die Klassifikation kategorialer Diagnosen insbesondere bei Kindern unter zwei Jahren nicht genügend empirisch gesichert ist (Egger u. Angold 2006). Trotzdem empfiehlt von Gontard (2010, S. 18), »auch für das frühe Kindesalter eine kategoriale Einteilung von Störungsbildern zu übernehmen«. Er schlägt vor, dass die Diagnostik nach phänomenologischen Prinzipien der kindlichen Symptome erfolgen sollte (S. 20). Zu empfehlen ist stattdessen, analog zum Vorschlag der DSM-V-Arbeitsgruppe, von einer einseitigen symptombezogenen Betrachtungsweise Abstand zu nehmen, um nicht die alten Fehler in einem neuen Gebiet zu wiederholen. In diesem Zusammenhang sind Begriffe wie »Säuglingspsychiatrie« als Bezeichnung für das Feld der Störungsbilder von Kindern im Alter von null bis drei Jahren sehr bedenklich (auch wenn diese Bezeichnung dem amerikanischen Begriff der »infant psychiatry« entspricht). Es ist ein Begriff, der das Störungsbild zu einseitig auf das Kind verlegt und die Beziehung zu den Eltern und vor allem den Entwicklungsaspekt der Interaktion und der Beziehung zwischen Eltern und Kind außen vor lässt. In unserem Konzept ist nicht nur das Kind der Patient, sondern auch die Eltern oder, noch spezifischer, die Eltern-Kind-Interaktion bzw. -beziehung. Ein vorschnelles kategoriales »Schubladendenken« übergeht auch das Problem, dass pathologische Abweichungen nur schwer von der normalen individuellen und soziokulturellen Variabilität abzugrenzen sind, weil die phasenspezifischen Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit mit raschen Reifungs-, Anpassungs- und Lernprozessen und einer entsprechend großen intraindividuellen Variabilität und Dynamik der Beziehungen einhergehen (vgl. dazu die AWMF-Leitlinien »Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter«; von Hofacker et al. 2007). Aufgrund von hohen Belastungen vor, während und nach der Geburt kommt es zu körperlichen und psychischen Reorganisationsprozessen bei der Mutter (7 Kap. 9), dem Vater (7 Kap. 10) und den Partnern (7 Kap. 8) beim Übergang zur Elternschaft. Dies kann zu passageren Krisen und Anpassungsproblemen führen, die nicht vorauseilend als störungsrelevant im Sinne einer »Säuglingspsychopathologie« kategorisiert werden sollten (7 Kap. 12). Vielmehr haben sie überwiegend einen transitorischen Charakter und können die kindliche Entwicklung begleiten. Wenn sie persistieren und sich später zu einem Störungsbild entwickeln, kann die Symptomatik, jenseits der frühen Kindheit, kategorial erfasst werden. Für Stern (1998, S. 11) gilt diese vorsichtige Haltung auch für die Einschätzung der elterlichen Verhaltensweisen in dieser Zeit: »Die Eltern sind in der überwältigenden Mehrzahl psychisch ‚normal‘«. Vierte Prämisse Dieses Handbuch ist an den Problemen des Kindes und der Familie orien-
tiert. Entlang dem Konzept, welche Behandlungsmethode für welches Problem in welcher Konstellation und in welchem Kontext am besten geeignet sind, werden sehr verschiedene
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therapeutische Konzepte von der Informationsvermittlung über die Beratung bis zur Psychotherapie vorgestellt (7 Kap. 28 bis 31). Die den Interventionsansätzen zugrunde liegende Idee ist, dass Eltern möglichst rasch wieder die verloren gegangene Passung mit ihrem Kind zurückgewinnen sollten. Manchmal reicht hierfür eine geringe »Dosis« an Intervention aus. Die Statistik unserer Heidelberger Eltern-Säuglings-Sprechstunde zeigt (7 Kap. 30), dass in den allermeisten Fällen wenige Sitzungen ausreichen. Manchmal genügt schon eine einzige Sitzung. Durch die Möglichkeiten der Videotechnik können die Analysen der Interaktionssequenzen (Mikroanalysen) zwischen Eltern und Kind für die Behandlung genutzt werden (vgl. 7 Kap. 29). Nach unserer klinischen Erfahrung lässt sich dadurch die Effektivität steigern. In den Beratungskonzepten versuchen viele Therapeutinnen und Therapeuten, unterschiedliche Methoden und Techniken zu verbinden, um den Familien möglichst rasch auf unterschiedlichen Ebenen zu helfen. Dies bedeutet in vielen Fällen eine Beteiligung und Kooperation von Expertinnen und Experten aus Disziplinen und Professionen, die rund um die Geburt eines Kindes eine Rolle spielen. Dies gilt in besonderem Maße für Familien, die sich mit ihrem Kind in einer schwierigen und belastenden Lebenssituation befinden (7 Kap. 19 bis 27). Die Einschätzung der familiären Belastung ist für die Ermittlung der Bedarfe und der möglichen Hilfestellungen entscheidend (7 Kap. 27). Bei diesen Familien ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit der beteiligten Professionen zwingend erforderlich, meist sind auch Interventionen auf mehreren Ebenen (Kind, Eltern, psychosoziales Umfeld, soziale Situation der Familie etc.) zu überlegen. Wenn die Interaktionen zwischen Eltern und Kind durch die elterlichen Wahrnehmungen und Interpretationen nachhaltig dysfunktional beeinflusst werden, reichen Beratungsansätze nicht aus. Dann ist eine (manchmal auch längere) Psychotherapie indiziert (7 Kap. 30). Diese Therapie wird bei uns überwiegend psychoanalytisch begründet und systemisch durchgeführt. Die psychodynamischen Ansätze fokussieren vor allem auf die meist unbewussten Erwartungen und Einstellungen (Repräsentanzen) der Eltern und auf die korrespondierenden Beziehungsmuster. Durch ungünstige Erfahrungen der Eltern in ihrer Herkunftsfamilie kann die Beziehung zum eigenen Kind gestört sein. Im Lauf der Behandlung wird den Eltern bewusst, wie sie aufgrund ihrer eigenen Geschichte zu den dysfunktionalen Interaktionen beitragen und dadurch einen negativen Interaktionszirkel aufrechterhalten. Durch diese Erkenntnisse und das wiederholte Durcharbeiten im geschützten Raum der Psychotherapie können sie die Interaktion mit ihrem Kind auch verändern. Der Fokus der Einsicht ist weniger auf die Innenwelt der Eltern gerichtet, sondern mehr auf ihre Interaktion mit dem Kind (7 Kap. 31). Die Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik im Beziehungssystem Therapeuten und Familie wird für die Diagnostik und die Behandlung genutzt. Fünfte Prämisse Das Handbuch ist auch forschungsorientiert. In allen Kapiteln wurde
versucht, die neuere und neueste Literatur einzubeziehen. Als neue Methode muss die Eltern-Säuglings-Beratung und -Psychotherapie zeigen, dass sie wirksam ist. Nur über die Ergebnisforschung kann es ihr gelingen, ihren Platz als »frühe« Hilfe für das Kind und die Familie im sozialen und als Methode im Spektrum der Psychotherapie im medizinischen Feld zu erobern und zu verteidigen. Tatsächlich gibt es schon einige Studien, die die Effek-
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tivität dieses Ansatzes belegen, auch wenn der Forschungsstand noch zu wünschen übrig lässt (7 Kap. 36). Zum Schluss werden präventive Konzepte dargestellt, die im immer wichtiger werdenden Bereich der sogenannten Frühen Hilfen im deutschsprachigen Raum eine große Rolle spielen. Die Elternkurse zur Verbesserung der elterlichen Kompetenz, meistens operationalisiert als Verbesserung der Feinfühligkeit, sind zwar vorhanden, werden jedoch von den Eltern noch mit großer Skepsis aufgenommen (7 Kap. 37). Aktuelle Konzepte zielen jetzt auf die sehr belasteten Familien, weil die Kinder in diesen Familien oft nicht die Umgebungsbedingungen vorfinden, die sie für ihre angemessene Reifung und Entwicklung benötigen (vgl. 7 Kap. 38). Bei diesen Maßnahmen zur Unterstützung von Familien sind ebenfalls Effektivitätsuntersuchungen zu fordern, weil die Familienpolitik diese kostspieligen Interventionen auch finanzieren muss.
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Danksagung
Als Herausgeber war ich bemüht, trotz der vielen Autorinnen und Autoren ein relativ homogenes Buch zu gestalten, mit einer klaren Gliederung, die von den eher allgemein gehaltenen Hintergrundkapiteln am Anfang des Buchs zu den speziellen, meistens praxisorientierten Kapiteln in der Folge übergeht. Alle Kapitel sind aufeinander bezogen, um ein möglichst vollständiges Bild der Beratung und Psychotherapie von Eltern mit Kindern von null bis drei Jahren zu gewährleisten und Wiederholungen im Text zu minimieren. Ohne das Team der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts wäre es nicht möglich gewesen, diese Homogenität herzustellen. Viele Gespräche und Teamkonferenzen führten zu Absprachen und Abstimmungen, die dem Herausgeber das Gefühl geben, dass ein Buch entstanden ist, wie er es sich vorgestellt hat, aber nicht unbedingt erwarten durfte. Dafür, dass dieses Konzept umgesetzt werden konnte, bin ich dem gesamten Team außerordentlich dankbar. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts sind unter der Leitung von Frau Dr. med. Thiel-Bonney in der interdisziplinären Heidelberger-Eltern-Säuglings-/KleinkindSprechstunde des Instituts tätig und haben sie wegen ihres Engagements und ihrer großen klinischen Erfahrung schätzen gelernt. Die gemeinsamen langjährigen Erfahrungen im klinischen Alltag schufen die Basis für dieses Handbuch. Motivierend für das Schreiben des Buchs war letztlich die Neugier der Beteiligten, die vielfältigen klinischen Erfahrungen zu reflektieren und zu systematisieren. Ein besonderer Dank geht in diesem Zusammenhang an Mechthild Papoušek, die uns (und auch viele andere) an ihrer enormen klinischen Erfahrung teilhaben ließ. Bereichernd waren auch viele Beratungen, die ich zusammen mit meiner Frau Astrid Cierpka durchgeführt habe. Ihr verdanke ich viele klinische Eindrücke aus der kindertherapeutischen Perspektive. Ohne Theorie ist kein tieferes Verständnis der klinischen Phänomene möglich. Viele Fenster sind nötig, um die Aspekte der frühen Kindheit betrachten zu können und ein einigermaßen vollständiges Bild zu bekommen. Dies leisten die theoretischen Grundlagenkapitel. Die unterschiedlichen Belastungen von Familien erfordern ein spezielles Verständnis und viel Erfahrung bei der Behandlung. Auch für die Darstellung dieser besonderen Belastun-
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gen von meist jungen Familien konnten sehr erfahrene Kliniker und Wissenschaftler gewonnen werden. Ich danke allen Autorinnen und Autoren, die als renommierte Experten in ihrem Bereich das Handbuch bereichern und vervollständigen. Bei der Herausgabe dieses Handbuchs wurde ich erneut vom Springer-Verlag in Heidelberg kompetent unterstützt. Mein Dank geht an Frau Fuchs für das sorgfältige Copyediting des Textes, an Frau Janke und Frau Radecki für die vorbildliche redaktionelle Betreuung der Autorinnen und Autoren (und natürlich auch des Herausgebers) sowie des gesamten Buchs. Vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts habe ich mit der Herausgabe dieses Handbuchs nicht nur eine Freude gemacht, sondern ihnen auch einiges zugemutet. Ich bedanke mich besonders bei Frau Engberding, Frau Rohrmann und Frau Braun dafür, dass sie die zusätzlichen Belastungen klaglos übernommen haben. Frau Braun hat in besonderer Weise dazu beigetragen, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Institut und dem Verlag reibungslos funktionierte. Ich habe von den Beiträgen der Autorinnen und Autoren viel gelernt. Dies wünsche ich auch allen Leserinnen und Lesern! Am meisten lernen wir von den Familien und ihren Kindern selbst. Wir würden uns wünschen, dass wir »unseren« Familien durch das Vorlegen dieses Handbuchs etwas davon zurückgeben können. Manfred Cierpka
Heidelberg, im Juli 2011
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Vorwort
und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, 3. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag Ihle W, Esser G (2002) Epidemiologie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter: Prävalenz, Verlauf, Komorbidität und Geschlechtsunterschiede. Psychologische Rundschau 53:159–169 Laucht M, Esser G, Schmidt MH (2000) Entwicklung von Risikokindern im Schulalter: Die langfristigen Folgen frühkindlicher Belastungen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 32(2):59–69 Laucht M, Schmidt MH, Esser G (2004) Frühkindliche Regulationsprobleme: Vorläufer von Verhaltensauffälligkeiten des späteren Kindesalters? In: Papoušek M, Schieche M, Wurmser M (Hrsg) Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Hans Huber, Bern, S 339–356 Mahler MS, Pine F, Bergmann A (1978) Die psychische Geburt des Menschen. Fischer, Frankfurt a.M. Papoušek M (1994) Vom ersten Schrei zum ersten Wort. Anfänge der Sprachentwicklung in der vorsprachlichen Kommunikation. Hans Huber, Bern Papoušek M (1999) Regulationsstörungen der frühen Kindheit: Entstehungsbedingungen im Kontext der Eltern-Kind-Beziehungen. In: Oerter R, Hagen C von, Röper G, Noam G (Hrsg) Klinische Entwicklungspsychologie. Beltz PVU, Weinheim, S 148–169 Papoušek M (2001) Intuitive elterliche Kompetenzen – Ressource in der präventiven Eltern-Säuglings-Beratung und -psychotherapie. In: Frühe Kindheit 1/01: Die ganz normalen Krisen in den ersten Lebensjahren. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Papoušek M, Papoušek H (1990) Intuitive elterliche Früherziehung in der vorsprachlichen Kommunikation, 1. Teil: Grundlagen und Verhaltensrepertoire. Sozialpädiatrie 12(7):521–527 Papoušek M, Schieche M, Wurmser H (Hrsg) (2004) Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Hans Huber, Bern Schepank H (1987) Psychogene Erkrankungen der Stadtbevölkerung. Eine epidemiologische Feldstudie in Mannheim, Springer, Berlin Spitz R (1976) Vom Dialog. Klett-Cotta, Stuttgart Stern D (1985) The interpersonal world of the infant. Basic Books, New York Stern DN (1998) Die Mutterschaftskonstellation: Eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie. Klett-Cotta, Stuttgart Winnicott DW (1976) Primäre Mütterlichkeit (1956). In: Winnicott DW (Hrsg) Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Fischer, Frankfurt a.M., S 157–164 Wurmser H, Laubereau B, Hermann M et al. (2001) Excessive infant crying: often not confined to the first 3 months of age. Early Human Development 64:1–6 Zero To Three, National Center for Infants, Toddlers, and Families (Hrsg) (1994) Diagnostische Klassifikation: 0–3. Springer, Wien
XV
Inhaltsverzeichnis I
Grundlagen: Entwicklung des Kindes und Anforderungen an die Familie
1
Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 1.11 1.11.1 1.11.2 1.11.3 1.11.4 1.11.5 1.11.6 1.12
2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.3
Gerhard Roth und Nicole Strüber Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühe Hirnentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionenspezifische Hirnreifung: Struktur und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Unterschiede in der strukturellen Hirnreifung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung einer Persönlichkeit: Das neurobiologische Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuromodulatoren und Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 4 4 5 6 7 9 10 12 13 14 14 15
Stressverarbeitungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstberuhigungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbewertung und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bindung und Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Realitätssinn und Risikowahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Betrachtung: Neurobiologische Einschätzung des Einflusses früher Erfahrungen auf die Entwicklung einer Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Sabina Pauen, Britta Frey und Lena Ganser Zur Definition von Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Die Idee der Meilensteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Entwicklungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Grobmotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feinmotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstregulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24 25 27 28 29 31 32 34 35
Temperament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Eva Möhler und Franz Resch Begriffsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Temperament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne Temperamentsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40 41 41 42
XVI
Inhaltsverzeichnis
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3
Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Temperamentstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erbgenetische Temperamentstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychophysiologische Temperamentstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Temperamentsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Modell der behavioralen Inhibition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorhersage der behavioralen Inhibition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Umwelt auf die behaviorale Inhibition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
Bindung und Bindungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.6
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3
Éva Hédervári-Heller Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Bindungstheorie und die Organisation von frühen Bindungsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der frühen Bindungsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Qualität von frühen Bindungsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bindungsstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fehlen von Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fehlen der sicheren Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bindungsstörung nach Verlust einer Bindungsperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bindung im Erwachsenenalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42 42 44 45 48 49 50 51 52
58 58 60 61 62 63 63 64 65 66
Kommunikation und Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr. . . . . . . . . . . . . . . . 69 Mechthild Papoušek Entwicklung der Kommunikation im vorsprachlichen Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Kommunikationsbereitschaft des menschlichen Säuglings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationsfähigkeiten und Motivationen der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grunderfahrungen intersubjektiver Verbundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adaptive Funktionen des vorsprachlichen Kommunikationssystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau eines intersubjektiven Erfahrungshintergrundes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurobiologische Verankerung des vorsprachlichen Kommunikationssystems . . . . . . . . . . . . . Spezifische Sprachlernprozesse im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aneignung des Lautrepertoires der Muttersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einflüsse auf die lautsprachliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der stimmlichen Kommunikationsfähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung der Kommunikation im Säuglingsalter für die kindliche Sprachkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70 71 71 71 72 73 73 74 74 77 77 78
Psychoanalytische Entwicklungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Christiane Ludwig-Körner Wurzeln der psychoanalytischen Entwicklungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Sigmund Freud (1856–1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Alice Balint (1898–1936) und Michael Balint (1896–1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 René Spitz (1887–1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Inhaltsverzeichnis
6.1.4 6.1.5 6.1.6 6.1.7 6.1.8 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.3
7
7.1 7.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.4
XVII
Margaret Mahler (1897–1985) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Freud (1895–1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Melanie Klein (1882–1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilfred Bion (1897–1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Donald Winnicott (1896–1971) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84 86 87 88 89
Psychoanalytische Säuglingsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Daniel Stern (*1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Robert Emde (*1935) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Joseph D. Lichtenberg (*1925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Louis W. Sander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Gesundheitliche Folgen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Ulrich T. Egle und Jochen Hardt Definition des Problembereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Entwicklungspsychologische und neurobiologische Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Psychobiologische Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungspsychologische Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikoverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche und psychische Erkrankungen als Langzeitfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106 108 109 109 111 111
8
Von der Partnerschaft zur Elternschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
8.1 8.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.4 8.4.1 8.4.2
Manfred Cierpka, Britta Frey, Kerstin Scholtes und Hubert Köhler Die Zeit der Schwangerschaft und Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die werdenden Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elterliche Identität und Paarbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elterliche Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partnerschaftliche Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besondere Anforderungen im Übergang zur Elternschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belastungsfaktoren aufseiten des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belastungsfaktoren aufseiten der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Mutterschafts- und Vaterschaftskonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
9.1 9.1.1 9.1.2 9.2 9.3 9.3.1
116 117 118 118 119 121 121 122 124
Britta Frey und Daniel Nakhla Die Mutterschaftskonstellation nach Daniel Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die Rolle der Mutter in Sterns Konzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die Rolle des Vaters in Sterns Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Erweiterungen des Konzepts der Mutterschaftskonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Implikationen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Bedeutung des Konzepts der Mutterschaftskonstellation für die Eltern-Säuglings-Beratung/-Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
XVIII
Inhaltsverzeichnis
9.3.2
Berücksichtigung der Vaterschafts- und Elternschaftskonstellation in der Eltern-Säuglings-Beratung/-Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
10
Väter in der Eltern-Säuglings/Kleinkind-Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3
Andreas Eickhorst und Kerstin Scholtes Ergebnisse der Vaterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Repräsentanz des Vaterseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Väter in der Interaktion mit ihren Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderte gesellschaftliche Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Väter in der Beratungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für die Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138 138 139 140 140 141 142 143
II
Regulationsstörungen
11
Zur Diagnostik der Regulationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
11.1 11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.3 11.4 11.4.1 11.4.2 11.4.3
Sarah Groß Diagnostische Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Allgemeine Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychodynamische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik der Interaktion und Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemische Diagnostik der Paar- und Familiendynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnosesysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ICD-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zero To Three . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien der American Association for Child and Adolescent Psychiatry. . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltenstagebücher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragebögen und Interviews zur Erhebung von Verhaltensauffälligkeiten und Regulationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Englischsprachige Fragebögen und Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschsprachige Fragebögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein eigener Fragebogen zum Schreien, Füttern und Schlafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
148 149 149 150 150 151 151 153 153 155 155 156 156 156 157
12
Von der normalen Entwicklungskrise zur Regulationsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . 159
12.1 12.2 12.3
Marisa Benz und Kerstin Scholtes Wie verläuft Entwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Entwicklungsaufgaben der ersten beiden Lebensjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Anforderungen an die Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
12.3.1 12.3.2 12.4 12.5
Intuitive elterliche Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modell der Passung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normale Entwicklungskrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Konzept der frühkindlichen Regulationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
162 163 164 167
Inhaltsverzeichnis
12.5.1 12.5.2
XIX
Symptomtrias bei frühkindlichen Regulationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Gemischte Regulationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 13 13.1 13.2 13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.3 13.4 13.5 13.5.1 13.5.2 13.5.3 13.5.4 13.5.5 13.6 13.7 13.7.1 13.7.2 13.7.3 13.7.4
14 14.1 14.2 14.3 14.3.1 14.3.2 14.4 14.4.1 14.5 14.5.1 14.5.2 14.6 14.6.1 14.7 14.7.1 14.8
Exzessives Schreien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Consolata Thiel-Bonney und Manfred Cierpka Das exzessive Schreien als erster Ausdruck einer frühkindlichen Regulationsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Symptomtrias des exzessiven Schreiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störung der kindlichen Verhaltensregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dysfunktionale Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elterliches Überlastungssyndrom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der Verhaltensregulation in den ersten Lebensmonaten . . . . . . . . . . . . Einflussfaktoren bei der Entwicklung des exzessiven Schreiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organische Belastungs- und Einflussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaf-Wach-Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verminderte Fähigkeit zur Selbstregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Temperamentsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiäre und psychosoziale Belastungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung/Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsbezogene Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktions- und kommunikationszentrierte Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychodynamisch-beziehungszentrierte Ebene: Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
172 173 173 174 174 175 176 177 177 178 179 179 180 181 183 183 187 187 190 195
Schlafstörungen im Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Kerstin Scholtes, Marisa Benz und Hortense Demant Definition frühkindlicher Ein- und Durchschlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Prävalenz, Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Entwicklung von Schlaf und Schlafverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Alterstypische regulatorische Entwicklungsaufgaben im Kontext des Schlafens . . . . . . . . . . . Anforderungen an die Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptomatik und Ursachen frühkindlicher Ein- und Durchschlafstörungen . . . . . . . . . . Eltern-Kind-Kommunikation im Rahmen von Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Fragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präventive Elternberatung in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
202 203 203 204 204 205 208 208 209
Schlafberatung in der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Parasomnien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
XX
Inhaltsverzeichnis
14.8.1 14.8.2 14.8.3 14.9
Prävalenz bei Parasomnien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung zu Schlafstörungen im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Fütterstörungen in der frühen Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
15.1 15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.3 15.4 15.4.1 15.4.2 15.4.3 15.4.4 15.4.5 15.5 15.5.1 15.5.2 15.5.3 15.6 15.6.1 15.6.2 15.6.3 15.6.4 15.6.5
16
16.1 16.2 16.3 16.3.1 16.3.2 16.3.3 16.4 16.4.1 16.4.2 16.4.3
215 215 216 216 217
Consolata Thiel-Bonney und Nikolaus von Hofacker Trinken, essen und füttern: Entwicklung von Essfertigkeiten im sozialen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Definition und Symptomtrias der Fütterstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Störung der kindlichen Verhaltensregulation beim Füttern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dysfunktionale Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elterliches Überforderungssyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz, Verlauf, Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einflussfaktoren bei der Entwicklung von Fütterstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organische Belastungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme der Verhaltensregulation und Temperamentsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traumatische frühkindliche Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elterliche und familiäre Einflussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fütterstörung und Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Klassifikation nach ICD-10 und DSM-IV-TR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fütterstörung in der DC:0–3R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Schritte im Fütterkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsbezogene Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktions- und kommunikationszentrierte Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychodynamisch-beziehungszentrierte Ebene: Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikationen für die ambulante und die stationäre Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222 224 224 224 225 225 227 227 228 230 230 230 232 233 234 235 238 239 240 242 245
Entwicklungsgerechtes anklammerndes Verhalten und exzessives Klammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Kerstin Scholtes und Marisa Benz Definition von anklammerndem Verhalten und Diagnosestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Anklammerndes Verhalten im normalen Entwicklungsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Exzessives Klammern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Erscheinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Auslösesituationen und Einflussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Behandlungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungspsychologische Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eltern-Kind-Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
256 257 257 259 261
Inhaltsverzeichnis
17
17.1 17.2 17.3 17.4 17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.5 17.5.1 17.5.2 17.5.3 17.5.4 17.6 17.6.1 17.6.2 17.6.3 17.6.4 17.6.5 17.7
18
18.1 18.2 18.2.1 18.2.2 18.3 18.3.1 18.3.2 18.4 18.4.1 18.4.2 18.4.3 18.4.4 18.5 18.5.1 18.5.2 18.6 18.7
XXI
Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Manfred Cierpka und Astrid Cierpka Definition von Trotz und Trotzanfällen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trotzen und emotionale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Veränderungen in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsangemessenes Trotzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auslösesituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informationen und entwicklungspsychologische Beratung für die Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . Exzessives Trotzen und persistierende Trotzanfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweregrad, beeinflussende Faktoren, Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleinkinder mit aggressivem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beeinflussende Faktoren, Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
264 264 267 269 269 269 270 270 271 271 271 273 275 275 276 276 276 277 280 281
»Null Bock« in früher Kindheit: Regulationsprobleme von Aufmerksamkeit und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Mechthild Papoušek Frühkindliche Regulationsstörungen – ein ADHS-Risiko? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinisches Erscheinungsbild der frühkindlichen Spielunlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klagen der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehungsbedingungen anhand klinischer Vergleichsdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 1: Adaptive Funktionen des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Rolle der Kommunikation im gemeinsamen Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiel und Bindungssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 2: Reifung und Entwicklung der Aufmerksamkeitsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basale Regulation von Arousal und Vigilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reifung und Entwicklung des hinteren Aufmerksamkeitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstwirksamkeit und Spielmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des präfrontalen Aufmerksamkeitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Besonderheiten bei »Spielunlust« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auffälligkeiten aufseiten des Säuglings: Klinische Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auffälligkeiten im elterlichen Kommunikationsverhalten: Klinische Beobachtungen. . . . . . . Störungsgeleitete Beratung und Therapie bei »Spielunlust« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenwert von »Spielunlust« im Kleinkindalter in der Entwicklungspsychopathologie von ADHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
286 286 287 287 288 288 290 291 291 291 292 292 292 293 293 295 295 297
XXII
Inhaltsverzeichnis
III
Problemstellungen und Belastungen
19
Depression und Angststörung im Postpartalzeitraum: Prävalenz, Mutter-Kind-Beziehung und kindliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
19.1 19.2 19.2.1 19.2.2 19.3 19.4
20 20.1 20.1.1 20.1.2 20.1.3 20.1.4 20.2 20.3 20.4 20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.4.4 20.5 20.5.1 20.5.2 20.5.3 20.6 20.7
21 21.1 21.1.1 21.2 21.3 21.3.1 21.3.2 21.4
Corinna Reck Prävalenz von Depressionen und Angststörungen im Postpartalzeitraum . . . . . . . . . . . . 302 Bedeutung postpartaler Depressionen und Angststörungen für die Mutter-Kind-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Bondingprozesse bei postpartal depressiven und angsterkrankten Müttern . . . . . . . . . . . . . . Spezifische Interaktionsmuster in »depressiven« und »angstgestörten« Mutter-Kind-Dyaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung postpartaler Depressionen und Angststörungen für die kindliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit und Kritik des Forschungsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303 304 306 308 308
Gewalt in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Manfred Cierpka und Astrid Cierpka Definitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Physische Kindesmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Kindesmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexueller Missbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindeswohlgefährdung und Kinderschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modelle der Gewaltentstehung in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der Bindungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung des Empathiedefizits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale, materielle und familiäre Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstitutionelle Faktoren des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gewaltzirkel und die Transmission von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identifikation mit dem Aggressor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Projektion elterlicher Selbstanteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empathiemangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie lässt sich der Gewaltzirkel durchbrechen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313 313 313 313 314 314 315 315 316 317 317 318 318 318 319 320 322 322
Drogenabhängige Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Petra Habash Definition und Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Folgen für das Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prä- und postnatale medizinische Betreuung von Mutter und Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Substitution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
326 327 328 328 328 328
Inhaltsverzeichnis
XXIII
21.5
Eltern-Kind-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
22
Teenagerschwangerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
22.1 22.1.1 22.1.2 22.2 22.2.1 22.2.2 22.3 22.3.1 22.3.2 22.3.3 22.3.4
23 23.1 23.2 23.2.1 23.2.2 23.2.3 23.3 23.4
24
24.1 24.1.1 24.1.2 24.1.3 24.1.4 24.2 24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4 24.2.5 24.2.6
Daniel Nakhla, Daniela Doege und Martina Engel-Otto Ursachen und Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Prävalenz von Teenagerschwangerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren und Erklärungsansätze für eine frühe Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen auf Eltern und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen auf die Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen auf die Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützungsmöglichkeiten und Beratungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützungsangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen bei der Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten des Umgangs mit den besonderen Herausforderungen der Zielgruppe . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
334 335 336 336 336 337 337 337 341 342 343
Kultursensitive Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Jörn Borke und Heidi Keller Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Differenzielle kulturelle Entwicklungspfade: Zwei Prototypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Psychologische Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hierarchische Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomie und Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für die Beratungshaltung und -struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für Interventionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
348 348 349 349 350 351
Das frühgeborene Kind: Entwicklungs- und familienorientierte Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Eva Vonderlin Frühgeburt – ein schwerer Start ins Leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Definition und Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgebungsbedingungen, Schmerz- und Stresserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Risiken und Langzeitentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elterliche Belastung, Eltern-Kind-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familien- und entwicklungsorientierte Behandlung bei Frühgeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomie der Eltern, Einbezug der Eltern in Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integrative Versorgung, Rooming-in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerz- bzw. Stressreduktion, entwicklungsfördernde Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elternkompetenz, Eltern-Kind-Beziehung, Stillförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Begleitung, Elterngruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
354 354 355 357 357 357 358 358 359 360 361
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
XXIV
Inhaltsverzeichnis
25
Eltern Früh- und Risikogeborener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
25.1 25.2 25.3 25.4 25.5 25.6
Martina Jotzo Schwangerschaft und Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehungsaufbau im Neonatologiesetting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paarbeziehung nach Früh- und Risikogeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eltern früh- oder risikogeborener Kinder nach der Entlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eltern-Kind-Beziehung und Entwicklung des Kindes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung von Eltern früh- und risikogeborener Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
Behinderte und chronisch kranke Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
26.1 26.2 26.3 26.4 26.4.1 26.5 26.6 26.7 26.8
Rüdiger Retzlaff Definition von Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz, Verlaufscharakteristika und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typische Anforderungen an die Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung von interaktionellen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eltern-Kind-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einschätzung der familiären Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
366 367 368 368 370 370 372
374 375 375 376 376 378 379 380 381 381
27
Das Einschätzen der Belastung in Familien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
27.1 27.2 27.2.1 27.2.2 27.2.3 27.2.4 27.2.5
Andreas Eickhorst, Michael Stasch und Anna Sidor Wie lassen sich Belastungen einschätzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Heidelberger Belastungsskala (HBS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeptionalisierung der HBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien der HBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung des Ratings mit der HBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiele zum HBS-Rating . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar zu den Fallbeispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV
Die Beratungs- und Psychotherapiekonzepte
28
Die unterschiedlichen Ansätze in Beratung und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
28.1 28.1.1 28.1.2 28.1.3 28.2 28.2.1 28.2.2 28.2.3
Manfred Cierpka Möglichkeiten Früher Hilfen in einem gestuften Versorgungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . Begleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Behandlungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokussierung auf das elterliche Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokussierung auf die Repräsentanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integration der Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
386 386 387 388 388 388 394 395
400 401 402 403 404 405 406 410 413
Inhaltsverzeichnis
29 29.1 29.2 29.3 29.3.1 29.3.2 29.3.3 29.3.4 29.4
30
30.1 30.2 30.3 30.3.1 30.4 30.4.1 30.4.2 30.4.3 30.5
31
31.1 31.2 31.3 31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.4 31.5 31.5.1 31.5.2 31.5.3
XXV
Beratung und Therapie mit Video und Videofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Consolata Thiel-Bonney Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Beratungs- und Behandlungskonzepte mit Videofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Videoaufzeichnung und Videofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Kontext von Videoaufnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicht des Therapeuten auf die Eltern-Kind-Interaktion und die Videoaufzeichnung . . . . . . . . Videofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit des Videofeedbacks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
418 418 419 420 422 423
Die Heidelberger interdisziplinäre »Sprechstunde für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Consolata Thiel-Bonney und Manfred Cierpka Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmeldung von Kindern in der Ambulanz und Inanspruchnahme des Beratungs- und Therapieangebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstgespräch in der Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Sprechstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallgeschichte »Tim«: Vorstellungsanlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychodynamisch-interaktionelle Beratung und Psychotherapie für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallgeschichte »Tim«: Intervention nach dem Erstgespräch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallgeschichte »Tim«: Weiterer Verlauf der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrungen der Heidelberger Spezialambulanz, Initiativen und Anregungen für die Entwicklung weiterer Beratungs- und Behandlungsangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
426 427 428 428 431 431 433 434 437 439
Fokusorientierte Psychotherapie von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Michael Stasch, Manfred Cierpka und Eberhard Windaus »Beziehung« als Grundlage der psychoanalytisch orientierten Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 Der Zugang zur Psychodynamik über das »dominante Thema« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Behandlungsfoki in der psychoanalytischen Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Konfliktbezogene Behandlungsfoki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturbezogene Behandlungsfoki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mischformen: Konflikt- und Strukturfoki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Fragen und klinische Synopsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstkontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Synopsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
445 445 448 448 449 449 450 450
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
XXVI
Inhaltsverzeichnis
V
Diagnostische Methoden
32
Entwicklungsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
32.1 32.2 32.2.1 32.2.2 32.2.3 32.2.4 32.3 32.4 32.4.1 32.4.2 32.4.3 32.5
33 33.1 33.2 33.2.1 33.2.2 33.2.3 33.2.4 33.2.5 33.2.6 33.2.7 33.2.8 33.2.9 33.3 33.3.1 33.3.2 33.3.3 33.3.4 33.3.5 33.3.6
Britta Frey Entwicklungsdiagnostik im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 Verfahren der Entwicklungsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Screeningverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Entwicklungstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifische Entwicklungstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über Verfahren im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl, Testgütekriterien und Aussagemöglichkeiten eines Verfahrens . . . . . . . . . . . . . Beispiele für Entwicklungsdiagnostikverfahren im deutschen Sprachraum . . . . . . . . . . . Bayley II und III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . MONDEY. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ASQ-3 und ASQ:SE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsdiagnostik in Beratung und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
459 459 459 460 460 461 462 463 463 464 465
Dyadische Interaktionsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Anna Sidor Überblick über die dyadische Interaktionsdiagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 CARE-Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 Beschreibung der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsbezogene Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor- und Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Münchner klinische Kommunikationsskala (MKK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien der MKK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
468 470 470 470 472 472 473 473 473 474 474 475 475 475 475 476 477
34
Interaktionelle Diagnostik der Triade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
34.1 34.2
Lisa Schwinn und Silke Borchardt Die Triade Vater, Mutter, Kind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 Triadifizierung, Triangulierung und Triangulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 Triadische Interaktion in der Familie und die Entwicklung des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . 481
34.3 34.3.1 34.4 34.4.1
Bedeutung der triadischen Interaktion für die Entwicklung des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Diagnostik der triadischen Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Anforderungen an die Familie während des LTP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
Inhaltsverzeichnis
34.4.2 34.5
XXVII
Auswertung des LTP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
34.5.1
Das LTP in der Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Das Feedbackgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
35
Familiendiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
35.1 35.2 35.3 35.3.1 35.3.2 35.3.3 35.3.4 35.3.5 35.3.6 35.4
Manfred Cierpka Definition der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 Definition der Familiendiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 Das Erstgespräch mit der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Der Kontext in der familientherapeutischen Behandlungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Diagnostik der Familie als soziales System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erfassung des familiären Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie gut sind die intuitiven elterlichen Kompetenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einschätzung der Paardynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mehrgenerationenperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Inszenierung der Familiendynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
492 493 493 494 495 496 498 499
VI
Effekte der Säuglings-/Kleinkind-Interventionen
36
Die Ergebnisforschung zur Säuglings-/KleinkindEltern-Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
36.1 36.2 36.3 36.4 36.5
Eberhard Windaus Kasuistische Arbeiten und Einzelfallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien und Manual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Studienergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse von Studien zu schweren Störungsbildern bei den Müttern . . . . . . . . . . . . . . . Probleme der Wirksamkeitsforschung im Bereich der frühen Entwicklung . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Präventive Konzepte
37
Die Elternschule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
37.1 37.2 37.3 37.3.1 37.3.2 37.3.3 37.4
504 504 505 507 509 511
Hubert Köhler Zur Wirksamkeit von Elternkursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Beispiele für präventive Elternkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Der Elternkurs »Das Baby verstehen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Inhalte des Elternkurses »Das Baby verstehen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kursleiter und Kursleiterausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Ablauf des Elternkurses »Das Baby verstehen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Das Baby verstehen« in der aufsuchenden Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
519 519 519 521 521
38
Familienstützende Prävention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
38.1 38.2
Manfred Cierpka Was wird unter »Frühen Hilfen« verstanden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Präventionsmaßnahmen bei Hochrisikofamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
XXVIII
Inhaltsverzeichnis
38.3 38.4 38.4.1
Internationale und nationale Studien zu Frühen Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühe Hilfen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Projekt »Keiner fällt durchs Netz« (KfdN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
525 526 527 530
Anhang Der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
XXIX
Mitarbeiterverzeichnis Dipl.-Psych. Marisa Benz
Prof. Dr. Manfred Cierpka
Martina Engel-Otto
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: marisa.benz@med. uni-heidelberg.de
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: manfred.cierpka@ med.uni-heidelberg.de
Stabsstelle Chancen für Kinder, Kinder-, Jugendund Familienpolitik Ministerium für Arbeit, Familie, Prävention, Soziales und Sport Franz-Josef-Röder-Str. 23 66119 Saarbrücken E-mail: m.engel-otto@ arbeit.saarland.de
Dipl.-Psych. Silke Borchardt
Dipl.-Psych. Hortense Demant
Dipl.-Psych. Britta Frey
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: silke.borchardt@ med.uni-heidelberg.de Dr. Jörn Borke
Fachbereich Humanwissenschaften, Institut für Psychologie, Entwicklung und Kultur Universität Osnabrück Artilleriestr. 34 49076 Osnabrück E-mail: joern.borke@nifbe. de Dipl.-Soz.arb. Astrid Cierpka
Praxis für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Keplerstr. 1 69120 Heidelberg E-mail:
[email protected] Parkklinik Bad Bergzabern Kurtalstraße 83 76887 Bad Bergzabern Dipl.-Psych. Daniela Doege
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: daniela.doege@ med.uni-heidelberg.de Prof. Dr. Ulrich Tiber Egle
Celenus Klinik Kinzigtal Wolfsweg 12 79111 Gengenbach E-mail:
[email protected] Dr. Andreas Eickhorst
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: andreas.eickhorst@ med.uni-heidelberg.de
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: britta.frey@med. uni-heidelberg.de Dipl.-Psych. Lena Ganser
Universität Heidelberg Psychologisches Institut Hauptstr. 47–51 69117 Heidelberg E-mail: lena.ganser@ psychologie.uni-heidelberg. de Dipl.-Psych. Sarah Groß
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg Dipl.-Psych. Petra Habash
Schillerstr. 20 69115 Heidelberg E-mail:
[email protected] XXX
Mitarbeiterverzeichnis
Prof. Dr. Dipl.-Psych. Jochen Hardt
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsmedizin Mainz Saarstr. 21 55099 Mainz E-mail: hardt@uni-mainz. de Prof. Dr. Éva HéderváriHeller
Fachbereich Sozialwesen, Studiengang Bildung und Erziehung in der Kindheit FH Potsdam Friedrich-Ebert-Str. 4 14467 Potsdam E-mail: hedervari-heller@ fh-potsdam.de Dr. Nikolaus von Hofacker
Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik, Klinikum Harlaching Sanatoriumsplatz 2 81545 München E-mail: nikolaus.hofacker@ klinikum-muenchen.de Dr. Martina Jotzo
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: martinajotzo@ yahoo.de Prof. Dr. Heidi Keller
Fachbereich Humanwissenschaften, Institut für Psychologie Universität Osnabrück Artilleriestr. 34 49076 Osnabrück E-mail:
[email protected] Dipl.-Psych. Hubert Köhler
PD Dr. Corinna Reck
Staatliches Schulamt Rheinstr. 95 64295 Darmstadt E-mail: Hubert.Koehler@ da.ssa.hessen.de
Mutter-Kind-Projekt Heidelberg, Klinik für Allgemeine Psychiatrie Zentrum für Psychosoziale Medizin Voßstr. 2 69115 Heidelberg E-mail: corinna_reck@ med.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. Christiane Ludwig-Körner
International Psychoanalytic University Stromstr. 3 10555 Berlin E-mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Eva Möhler
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der SHG Waldstr. 40 66271 Kleinblittersdorf E-mail:
[email protected] Dipl.-Psych. Daniel Nakhla
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: daniel.nakhla@ med.uni-heidelberg.de Prof. Dr. med. Mechthild Papoušek
Am Gries 39 83026 Rosenheim E-mail:
[email protected] Prof. Dr. Sabina Pauen
Psychologisches Institut Universität Heidelberg Hauptstr. 47–51 69117 Heidelberg E-mail: sabina.pauen@ psychologie.uni-heidelberg. de
Prof. Dr. med. Franz Resch
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Blumenstr. 8 69115 Heidelberg E-mail: franz.resch@med. uni-heidelberg.de Dipl.-Psych. Rüdiger Retzlaff
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinik Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: Ruediger_Retzlaff@ med.uni-heidelberg.de Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth
Institut für Hirnforschung Universität Bremen FB 2 28334 Bremen Postfach 330440 E-mail:
[email protected] XXXI
Mitarbeiterverzeichnis
Dipl.-Psych. Kerstin Scholtes
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: kerstin.scholtes@ med.uni-heidelberg.de Lisa Schwinn
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: lisa.schwinn@med. uni-heidelberg.de Dr. Anna Sidor
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: anna.sidor@med. uni-heidelberg.de Dipl.-Psych. Michael Stasch
Praxis für Psychotherapie, Psychoanalyse, Paar- und Familientherapie Rohrbacher Str. 22 69115 Heidelberg E-mail:
[email protected] Dipl.-Biol. Nicole Strüber
Institut für Hirnforschung Universität Bremen Abteilung Verhaltensphysiologie 28334 Bremen E-mail: nicole.strueber@ uni-bremen.de Dr. Consolata Thiel-Bonney
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin Bergheimer Str. 54 69115 Heidelberg E-mail: cthiel-bonney@ gmx.de Dr. Eva Vonderlin
Psychologisches Institut Hauptstr. 47–51 69117 Heidelberg E-mail: eva.vonderlin@ psychologie.uni-heidelberg. de Dr. phil. Dipl.-Päd. Eberhard Windaus
Länderweg 45 60599 Frankfurt a.M. E-mail: zoubek-windaus@ t-online.de
1
Grundlagen: Entwicklung des Kindes und Anforderungen an die Familie Kapitel 1
Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung – 3 Gerhard Roth und Nicole Strüber
Kapitel 2
Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren – 21 Sabina Pauen, Britta Frey und Lena Ganser
Kapitel 3
Temperament – 39 Eva Möhler und Franz Resch
Kapitel 4
Bindung und Bindungsstörungen – 57 Éva Hédervári-Heller
Kapitel 5
Kommunikation und Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr – 69 Mechthild Papoušek
Kapitel 6
Psychoanalytische Entwicklungstheorien – 81 Christiane Ludwig-Körner
Kapitel 7
Gesundheitliche Folgen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit – 103 Ulrich T. Egle und Jochen Hardt
I
Kapitel 8
Von der Partnerschaft zur Elternschaft – 115 Manfred Cierpka, Britta Frey, Kerstin Scholtes und Hubert Köhler
Kapitel 9
Mutterschafts- und Vaterschaftskonstellation – 127 Britta Frey und Daniel Nakhla
Kapitel 10
Väter in der Eltern-Säuglings/Kleinkind-Beratung – 137 Andreas Eickhorst und Kerstin Scholtes
3
Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung Gerhard Roth und Nicole Strüber
1.1
Einleitung – 4
1.2
Frühe Hirnentwicklung – 4
1.3
Regionenspezifische Hirnreifung: Struktur und Funktion – 5
1.4
Individuelle Unterschiede in der strukturellen Hirnreifung – 6
1.5
Entstehung einer Persönlichkeit: Das neurobiologische Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit – 7
1.6
Neuromodulatoren und Persönlichkeit – 9
1.6.1 1.6.2 1.6.3 1.6.4 1.6.5 1.6.6
Stressverarbeitungssystem – 10 Selbstberuhigungssystem – 12 Selbstbewertung und Motivation – 13 Impulskontrolle – 14 Bindung und Empathie – 14 Realitätssinn und Risikowahrnehmung – 15
1.7
Abschließende Betrachtung: Neurobiologische Einschätzung des Einflusses früher Erfahrungen auf die Entwicklung einer Persönlichkeit – 16 Literatur – 17
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
Pränatal entsteht aus unspezialisierten Zellen ein kompliziertes Netzwerk miteinander verschalteter Nervenzellen. Es ermöglicht dem Menschen wahrzunehmen, sich zu bewegen, zu denken, zu lernen, sich zu erinnern und zu fühlen. Für die individuelle Ausgestaltung dieses Netzwerkes ist die Struktur der Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen ebenso von Bedeutung wie die Funktionsweise neuroaktiver Substanzen (Transmitter, Peptide, Hormone), die während der Gehirnentwicklung auf vier Ebenen miteinander in Wechselwirkung treten und dadurch sechs neurobiologisch-psychische Grundsysteme hervorbringen. Die individuelle Funktionsweise dieser Systeme reflektiert die Persönlichkeit des Menschen. Sie wird, neben genetischen Veranlagungen, wesentlich von den Erfahrungen in der frühen Kindheit beeinflusst. Etwaige Interventionen sollten deshalb möglichst früh erfolgen, beispielsweise in Form einer ElternSäuglings-Beratung.
1.1
Einleitung
Alle kognitiven und psychischen Prozesse sind im Gehirn mit neuroelektrischer und neurochemischer Aktivität in kleineren oder größeren Netzwerken von Nervenzellen verbunden. Der Aufbau dieser hochkomplex verschalteten Netzwerke beginnt bereits im Embryo: Pränatal (d. h. vor der Geburt) bilden genetische Informationen die Grundlage für die Entstehung des Nervensystems. Bereits während dieser frühen Phase der Entwicklung wird jedoch die neuronale Verschaltung durch negative Einflüsse wie mütterlichen Stress oder Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft beeinflusst (Charil et al. 2010; Rothenberger et al. 2011). Postnatal (d. h. nach der Geburt) wird das neuronale Netzwerk verfeinert und infolge spezifischer Erfahrungen, beispielsweise der Bindungserfahrung, verändert. Die frühen Erfahrungen haben über ihren Einfluss auf die neuronale Verschaltung eine wesentliche Bedeutung für die Entwicklung einer Persönlichkeit und – im Falle ungünstiger Erfahrungen – das Auftreten psychischer Erkrankungen (Möhler et al. 2008; Möhler et al. 2009; Pryce et al. 2002). Möglicherweise notwendige Interventionen
müssen früh erfolgen, etwa in Form einer ElternSäuglings-Beratung, um das neuronale Netzwerk nachhaltig positiv beeinflussen zu können.
1.2
Frühe Hirnentwicklung
In den ersten acht Wochen nach der Befruchtung entstehen während der embryonalen Periode in kurzer Zeit Gewebe und Organe. Es schließt sich eine Phase des Wachstums und der histologischen Differenzierung an: die fötale Periode. Der Beginn der dritten Woche ist durch die Bildung dreier Keimblätter – Endoderm, Mesoderm und Ektoderm – charakterisiert. Das Ektoderm gliedert sich bereits bei seiner Entstehung in zwei Abschnitte, nämlich die zentral gelegene Neuralplatte (Neuroektoderm) und das Oberflächenektoderm (epidermales Ektoderm) an deren beiden Seiten. Letzteres bringt u. a. die spätere Epidermis (»Haut«) hervor, während sich aus der Neuralplatte das Zentralnervensystem entwickelt. Die Neuralplatte verlängert sich und vertieft sich in der Mittellinie, sodass gegen Ende der vierten Woche im Prozess der Neurulation das Neuralrohr entsteht. Die Wände des Neuralrohrs bestehen aus neuronalen Stammzellen, auch »neuroepitheliale Zellen« oder »Vorläuferzellen« genannt. Diese teilen sich und erhalten aufgrund verschiedener Signale von Nachbarzellen eine spezifische Funktion: Sie differenzieren sich, und es entsteht eine große Vielfalt morphologischer und funktionaler Nervenzelltypen. Der hintere Bereich des Neuralrohrs bringt das Rückenmark hervor. Wenn der Embryo fünf Wochen alt ist, werden am vorderen Ende des nun geschlossenen Neuralrohrs die fünf grundlegenden Hirnstrukturen sichtbar: Großhirn (Telencephalon), Zwischenhirn (Diencephalon), Mittelhirn (Mesencephalon), Hinterhirn (Metencephalon) und Nachhirn (Myelencephalon) (Monk et al. 2001; O’Rahilly u. Müller 2008). Innerhalb des Großhirns entsteht durch die Wanderung der jungen Nervenzellen in Richtung Hirnoberfläche die Hirnrinde (Cortex). Diese Wanderung wird durch ein Gerüst spezialisierter Zellen (Radiärfaserglia) ermöglicht, das den Entstehungsbereich der Zellen mit der Hirnoberfläche verbindet (Rakic 1990). An ihrer Endposition differenzieren sich die Nervenzellen morphologisch und
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1.3 • Regionenspezifische Hirnreifung: Struktur und Funktion
pharmakologisch, d. h., sie spezialisieren sich auf bestimmte Transmitter, um funktionale Zellverbände mit anderen Neuronen herstellen zu können (Jessell u. Sanes 2000). Nervenzellen sind über lange Fortsätze, Axone, mit teilweise weit entfernten anderen Nervenzellen verbunden. Informationen werden in Form elektrischer Impulse weitergeleitet, die sich entlang des Axons ausbreiten. Während der pränatalen Entwicklung entstehen diese Zellverbindungen, indem die Axone zunächst an Tausenden potenzieller, aber »inkorrekter« Partnernervenzellen vorbeiziehen, bevor sie in der richtigen Hirnregion ankommen. Die Axone erkennen hierbei ihren Weg durch eine komplexe Anordnung chemischer Erkennungssignale der zellulären Umgebung (Tessier-Lavigne u. Goodman 1996). Haben die Nervenzellen ihre Zielregion gefunden, so erkennen sie aufgrund weiterer spezifischer Moleküle auf der Oberfläche der Zellmembranen ihre Zielzellen (Waites et al. 2005) und bilden Synapsen, d. h. Kontaktpunkte zwischen den Zellen. Synapsen können elektrischer oder chemischer Natur sein. In elektrischen Synapsen gelangen die Nervenimpulse mehr oder weniger ungehindert von einer Nervenzelle zur anderen, in chemischen Synapsen ist die Kommunikation komplexer: Die elektrischen Impulse der Ausgangszelle werden in der sogenannten Präsynapse zunächst in chemische Signale, d. h. Neurotransmitter (z. B. Glutamat), »übersetzt«, die durch den synaptischen Spalt zur postsynaptischen Zelle diffundieren. Dort werden sie in elektrische Signale zurückübersetzt. Die umfangreiche Bildung von Synapsen, die Synaptogenese, beginnt in vielen Teilen des Cortex während des letzten Schwangerschaftsdrittels und setzt sich über die ersten Jahre nach der Geburt fort (Huttenlocher u. Dabholkar 1997). Diese Prozesse sind anfänglich im Wesentlichen genetisch determiniert. Jede Zelle hat dadurch zahlreiche synaptische Partner, und so entsteht ein initiales Gerüst neuronaler Verschaltungen, gekennzeichnet durch Überproduktion und Redundanz synaptischer Kontakte. Dieses Verschaltungsmuster wird anschließend in Abhängigkeit von der Aktivität der Synapse verfeinert. Synaptische Verbindungen, die aktiv sind, werden stabilisiert (Changeux u. Danchin 1976), nicht aktive Synapsen werden eliminiert, und entsprechende Axo-
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ne ziehen ihre Verzweigungen zurück (Purves u. Lichtman 1980). Die Elimination synaptischer Verbindungen bzw. der entsprechenden Fortsätze wird auch als »Pruning« (Zurückschneiden) bezeichnet. Mit zunehmender Reifung beeinflusst also eine erfahrungsabhängige neuronale Aktivität, d. h. die Erfahrungen mit der Außenwelt, die Anzahl der Synapsen und die Stärke und Struktur der Fortsätze von Nervenzellen (Goodman u. Shatz 1993). > Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen werden zunächst überschießend produziert und anschließend aktivitäts- und erfahrungsabhängig reduziert.
Die Myelinisierung der Zellfortsätze ist ein weiterer wichtiger Entwicklungsprozess. Myelin ist eine von spezialisierten Gliazellen (Schwann-Zellen bzw. Oligodendrozyten) gebildete isolierende Umhüllung der Axone. Die Myelinisierung ermöglicht eine schnelle und genaue axonale Weiterleitung von Aktionspotenzialen (Toga et al. 2006). Der Zeitverlauf der Myelinisierung des menschlichen zentralen Nervensystems verläuft regional unterschiedlich und steht im Zusammenhang mit den Funktionen der jeweiligen Hirnregionen. Das Rückenmark macht in der 12. bis 14. Schwangerschaftswoche den Anfang, die Myelinisierung der Axone anderer Hirnregionen (z. B. Zwischen- und Großhirn) erfolgt später und setzt sich bis in das dritte oder vierte Lebensjahrzehnt hinein fort (Sampaio u. Truwit 2001).
1.3
Regionenspezifische Hirnreifung: Struktur und Funktion
Bereiche des Gehirns, die mit früh entstehenden Funktionen wie etwa den autonomen Reflexen befasst sind, reifen früh aus, ebenso die meisten limbischen Hirnbereiche, die mit emotional-affektiven Zuständen zusammenhängen (Roth 2003). Das Großhirn (Endhirn, Telencephalon) besteht aus der Hirnrinde (Cortex cerebri) und subcorticalen Anteilen wie dem Corpus striatum (Nucleus caudatus und Putamen), dem basalen Vorderhirn einschließlich des medialen und lateralen Septums sowie Teilen der Amygdala (Roth 2003).
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Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
Die Amygdala beginnt mit ihrer Ausbildung in der fünften und sechsten Schwangerschaftswoche. Die Großhirnrinde besteht aus dem sechsschichtigen Isocortex und dem drei- bis fünfschichtig aufgebauten Allocortex. Der Allocortex beinhaltet die Riechrinde (olfaktorischer Cortex), den insulären Cortex (Insula), den cingulären Cortex, basolaterale Kerne der Amygdala, die Hippocampusformation und deren benachbarte entorhinale, perirhinale und parahippocampale Rinde (Roth 2003). Die meisten Neurone der hippocampalen Formation werden in der ersten Hälfte der Schwangerschaft vor der 24. Woche gebildet, die Entwicklung von Dendriten und die Ausbildung von Synapsen des Hippocampus setzen sich bis in das fünfte postnatale Jahr und wahrscheinlich darüber hinaus fort (Seress 2001). Der Isocortex wird im ausgereiften Zustand in ca. 50 Bereiche (Brodmann-Areale) eingeteilt, die anatomisch unterscheidbar und funktional spezialisiert sind. Regionale Unterschiede in der Entwicklung des Cortex sind bereits pränatal an den Furchen (Sulci) und Windungen (Gyri) zu erkennen. Im fetalen Alter von 16 bis 19 Wochen kann im Stirnlappen (Frontalcortex) der cinguläre Cortex als Windung ausgemacht werden, lange bevor sich in der 24. bis 27. Gestationswoche die Windungen des präfrontalen Cortex ausbilden. Die Windungen des orbitofrontalen Cortex im unteren Stirnhirn entstehen zuletzt (Benes 2001; Chi et al. 1977). Der Zeitverlauf der Reifung einer jeweiligen Hirnregion reflektiert die Entstehung der von ihr vermittelten Funktionen (Sowell et al. 2003). In Teilen der Sehrinde (primärer visueller Cortex) erhöht sich die Dichte der Synapsen bei Säuglingen im Alter von zwei bis vier Monaten schnell, mit acht Monaten wird das Maximum erreicht. Die Dichte verringert sich dann im Alter von einem Jahr, und mit etwa elf Jahren wird das Erwachsenenniveau erreicht (Huttenlocher et al. 1982). Im mittleren frontalen Gyrus des präfrontalen Cortex, der u. a. für Handlungsplanung und Problemlösung zuständig ist (Roth 2003), erhöht sich die Synapsendichte ebenfalls während der frühen Kindheit und erreicht im Alter von zwei bis dreieinhalb Jahren das Maximum. Ein Synapsenabbau tritt erst in der späten Kindheit und in der Jugend auf, und das Niveau eines Erwachsenen wird nicht vor dem Alter von 16
Jahren erreicht (Huttenlocher 1979; Huttenlocher u. Dabholkar 1997). > Verschiedene Gehirnstrukturen reifen je nach Komplexität der von ihnen vermittelten Funktionen in unterschiedlichen Phasen der prä- und postnatalen Entwicklung.
1.4
Individuelle Unterschiede in der strukturellen Hirnreifung
Strukturelle Eigenschaften der sich entwickelnden Hirnrinde stehen in einem Zusammenhang mit individuellen Unterschieden in den Funktionen. Menschen, deren rechter vorderer cingulärer Cortex besonders groß ist, berichten beispielsweise von einer Veranlagung zu Furcht und antizipatorischer Sorge sowie Schüchternheit im Umgang mit Fremden (Pujol et al. 2002). Neben genetischen Prädispositionen spielen frühe Erfahrungen eine bedeutsame Rolle für diese individuellen Unterschiede in Struktur und Funktion des Gehirns. Sie legen zusammen mit intrinsischen Faktoren fest, ob Synapsen stabilisiert oder eliminiert werden. Diese Kombination intrinsischer und erfahrungsabhängiger Verfeinerung der neuronalen Verschaltungen bildet die Grundlage für die Richtung der psychischen Entwicklung. > Genetische Prädispositionen und frühe Erfahrungen bringen individuelle Unterschiede in der Struktur und Funktion des Gehirns hervor.
Einige neuronale Schaltkreise benötigen für ihre Entwicklung spezifische Erfahrungen während bestimmter Zeitfenster, sogenannter kritischer Perioden (Hensch 2004). So ist während der ersten Lebensjahre ein visueller Input notwendig, damit Netzwerke von Nervenzellen des visuellen Systems verbunden werden und diese Funktion vermitteln können. Bleiben diese Informationen aus, so sind Beeinträchtigungen der visuellen und visuomotorischen Fähigkeiten die Folge (Lewis u. Maurer 2005). Die sozioemotionale Entwicklung wird ebenfalls von Erfahrungen in spezifischen Phasen beeinflusst. Das klassische Beispiel einer sozialen kritischen Phase ist die ursprünglich von Konrad
1.5 • Entstehung einer Persönlichkeit: Das neurobiologische Vier-Ebenen-Modell
Lorenz beschriebene Prägung (Lorenz 1965). Bei dieser Form des Lernens werden nestflüchtende Vögel (z. B. Gänse) direkt nach dem Schlüpfen unauslöschlich an eine elterliche Figur, die Mutter oder ein anderes bewegtes Objekt, gebunden, d. h. auf sie »geprägt«. Hinsichtlich der sozioemotionalen Entwicklung des Menschen ist der Nachweis kritischer Perioden schwieriger. Wichtige Informationen über die Bedeutung früher sozialer Erfahrungen liefern Deprivationsstudien, in denen untersucht wird, welchen Einfluss ein Entzug sozialer Erfahrungen ausübt. So waren Kinder, die in rumänischen Waisenhäusern nahezu ohne individuelle Aufmerksamkeit und adäquate soziale Stimulation lebten und dann adoptiert wurden, zum Zeitpunkt der Adoption hinsichtlich ihrer körperlichen und kognitiven Entwicklung sowie ihrer Verhaltensentfaltung meist erheblich zurückgeblieben. Die weitere sozioemotionale Entwicklung der Kinder innerhalb ihrer Adoptionsfamilie war abhängig vom Zeitpunkt der Adoption: Kinder, die nach dem zweiten Lebensjahr adoptiert wurden, entwickelten in erhöhtem Maße internalisierende Störungen wie Depressionen oder Angststörungen und externalisierende Verhaltensprobleme wie Störungen des Sozialverhaltens, Aggressionen oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen im Vergleich zu Kindern, die früher adoptiert wurden (Gunnar u. van Dulmen 2007). Dies legt eine kritische Phase für die sozioemotionale Entwicklung nahe, innerhalb deren soziale Erfahrungen einen tief greifenden und irreversiblen Einfluss auf die neuronale Verschaltung und die psychische Entwicklung haben können. > In vielen Systemen sind Erfahrungen während bestimmter kritischer Perioden der Entwicklung notwendig. Das reifende Gehirn wird hierdurch den Anforderungen der individuellen Umwelt angepasst. Dieser Prozess wird im weiteren Verlauf der Entwicklung optimiert.
1.5
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Entstehung einer Persönlichkeit: Das neurobiologische Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit
Zahlreiche Hirnstrukturen tragen zur Ausprägung der individuellen Persönlichkeit eines Menschen bei. Sie gehören mehrheitlich zum limbischen System, das auch der Entstehungsort von Affekten, Gefühlen, Motiven, Handlungszielen, Empathie, Moral und Ethik und damit diejenige Instanz ist, die unser individuell-egoistisches ebenso wie unser soziales Handeln bestimmt. Innerhalb des limbischen Systems lassen sich drei strukturelle und funktionale Ebenen unterscheiden, innerhalb deren persönlichkeitsrelevante Gene mit der Umwelt interagieren. Eine vierte Ebene beruht auf Funktionen des Isocortex, der unsere kognitiven Leistungen wie Wahrnehmen, Erkennen, Denken, Intelligenz, Vorstellen, Erinnern und Handlungsplanung vermittelt. Die Art der Wechselwirkung zwischen dem limbisch-emotionalen und dem kognitiven System ist ein wesentliches Merkmal der Persönlichkeit eines Menschen (Roth 2009; Roth u. Strüber 2010). z
Vegetativ-affektive Ebene
Die unterste Ebene der Persönlichkeit ist die vegetativ-affektive Ebene. Sie wird von der limbischvegetativen Grundachse des Gehirns repräsentiert, die das zentrale Höhlengrau, die mediale septale Region, die präoptisch-hypothalamische Region, die zentrale Amygdala und vegetative Zentren des Hirnstamms umfasst. Diese Grundachse reguliert den Stoffwechselhaushalt, den Kreislauf und den Blutdruck, die Temperatur, das Verdauungs- und Hormonsystem, die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme sowie das Wachen und Schlafen und sichert so unsere biologische Existenz. Ebenso steuert diese Ebene unsere elementaren affektiven Verhaltensweisen und Empfindungen wie Angriffsund Verteidigungsverhalten, Flucht und Erstarren, Aggressivität, Wut und Sexualverhalten. Die Antriebe und Affektzustände dieser Ebene sind in der Art ihres Auftretens weitgehend genetisch bedingt und durch Erfahrung und willentliche Kontrolle nur wenig beeinflussbar. Sie laufen unbewusst ab und werden erst dann bewusst, wenn ihre Aktivität der bewusstseinsfähigen Großhirnrinde gemeldet
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Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
wird. Diese Ebene bildet sich bereits in den ersten Wochen der Hirnentwicklung aus und legt in ihrer individuellen Ausformung der Eigenschaften dazugehöriger Hirnstrukturen die angeborenen Komponenten des Temperaments fest, d. h., sie entscheidet mit darüber, ob eine Person grundsätzlich neugierig-draufgängerisch oder vorsichtig-abwägend, kommunikativ oder wortkarg, mutig oder ängstlich ist. z
Ebene der emotionalen Konditionierung und des individuellen emotionalen Lernens
Die zweite, darüber angeordnete Ebene ist die der emotionalen Konditionierung und des individuellen emotionalen Lernens. Für diese Ebene sind insbesondere die basolaterale Amygdala und das mesolimbische System (Nucleus accumbens, ventrales tegmentales Areal und Substantia nigra) von Bedeutung. Die basolaterale Amygdala ist der Ort der erfahrungsgeleiteten, d. h. auf Konditionierung beruhenden Verknüpfung emotionaler, überwiegend negativer oder überraschender, aber auch positiver Ereignisse mit den angeborenen Grundgefühlen der Furcht, Angst, Abwehr und Überraschung (LeDoux 2000). Das mesolimbische System vermittelt die Registrierung und Verarbeitung natürlicher Belohnungsereignisse. Es führt als zerebrales Belohnungssystem bei Befriedigung, Lust und Freude zu einer Ausschüttung hirneigener lusterzeugender Stoffe (sogenannter endogener Opioide). Zudem stellt das mesolimbische System das grundlegende Motivationssystem dar, das über die Freisetzung des Neuromodulators Dopamin unser Verhalten motiviert, wenn aufgrund vorangegangener Erfahrungen Ziele oder Ereignisse eine Belohnung bestimmter Qualität und Quantität vorhersagen (Alcaro et al. 2007; Merrer et al. 2009; Schultz 2007). Diese Ebene entsteht etwas später als die erste Ebene, bildet sich aber auch bereits vor der Geburt und entwickelt sich besonders in der ersten Zeit nach der Geburt. Auf dieser Ebene formen sich die Grundstrukturen unseres Verhältnisses zu uns selbst (Selbstbild) und zu den Mitmenschen und die Grundkategorien des – aus infantil-egoistischer Sichtweise – Guten bzw. Schlechten.
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Ebene der bewussten, überwiegend sozial vermittelten Emotionen
Die dritte Ebene ist die der bewussten, überwiegend sozial vermittelten Emotionen. Sie umfasst die limbischen Anteile der Großhirnrinde. Hierzu gehören der insuläre, der cinguläre und der orbitofrontale Cortex. Über den insulären Cortex (Insula) wird der eigene körperliche Zustand wahrgenommen, etwa Erregung und Schmerz, aber auch der Zustand anderer (Empathie). Die Wahrnehmung dieser Zustände wird in der Insula mit Informationen über individuelle Vorlieben und Risikostrategien integriert (Singer et al. 2009). Der anteriore cinguläre Cortex (ACC) ist ebenfalls mit der Zusammenführung verschiedener Informationen (z. B. Motivation, Fehlerbewertung, Repräsentationen kognitiver und emotionaler Netzwerke) beschäftigt und beeinflusst eine Vielzahl kognitiver, motorischer, endokriner und viszeraler Prozesse. Eine wesentliche Aufgabe des ACC ist die Wahrnehmung und Bewertung von Risiken und die entsprechende Steuerung des Verhaltens, um diese Risiken zu vermeiden (Brown u. Braver 2007). Der über den Augenhöhlen (Orbita) liegende orbitofrontale Cortex (OFC), also das untere Stirnhirn, und der innen angrenzende ventromediale frontale Cortex (VMC) stellen die Teile des limbischen Cortex dar, die die komplexesten Funktionen vermitteln. Der OFC bewertet und reguliert das Verhalten hinsichtlich seiner möglichen Folgen, insbesondere bei unerwarteten Ergebnissen, sodass es der Situation angepasst werden kann (Schoenbaum et al. 2009). Personen mit Schädigungen im OFC zeigen auch bei normaler oder gar hoher Intelligenz und Rationalität impulsives und sozial unangemessenes Verhalten (Berlin et al. 2004). Sie haben Schwierigkeiten, den sozialen Kontext, z. B. die Bedeutung von Szenen, die Mimik oder die emotionale Tönung der Stimme, zu erfassen (Kringelbach u. Rolls 2004). Wenngleich eine unmittelbare Belohnung oder Bestrafung von Aktionen das Handeln betroffener Patienten beeinflussen kann, sind diese dennoch unfähig, negative oder positive Konsequenzen ihrer Handlungen längerfristig vorauszusehen und sich danach zu richten, und zeigen eine charakteristische Reuelosigkeit (Bechara 2004), insbesondere dann, wenn die Schädigung bereits in der frühen Kindheit aufgetreten ist (Anderson
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1.6 • Neuromodulatoren und Persönlichkeit
et al. 1999). OFC und VMC haben eine zügelnde, impulshemmende Funktion gegenüber der vegetativ-affektiven Ebene und gegenüber den egoistischinfantilen Antrieben der zweiten Ebene, d. h. der Amygdala und des mesolimbischen Systems. Hier bilden sich auf der Grundlage sozial vermittelter Erfahrung die bewussten Anteile des Selbst und des affektiv-emotionalen Ich aus, und zugleich formen sich hier Elemente von Moral und Ethik, die von Sigmund Freud als Über-Ich bezeichnet wurden (Roth u. Strüber 2010). Der OFC ist derjenige Hirnteil, der die längste Reifezeit benötigt und erst im frühen Erwachsenenalter ausgereift ist (Gogtay et al. 2004). z
Kognitiv-sprachliche Ebene
Den soeben beschriebenen drei limbischen Ebenen steht als vierte Ebene die kognitiv-sprachliche Ebene gegenüber, die im Isocortex angesiedelt ist. In diesem Zusammenhang sind kognitive Bereiche des präfrontalen Cortex (PFC) von Bedeutung, insbesondere der dorsolaterale präfrontale Cortex (dlPFC). Der dlPFC ist Sitz des Arbeitsgedächtnisses und damit Sitz von Intelligenz und Verstand, er dient der zeitlich-räumlichen Strukturierung von Sinneswahrnehmungen, dem planvollen und kontextgerechten Handeln und Sprechen und der Entwicklung von Zielvorstellungen (Forbes u. Grafman 2010; Salzman u. Fusi 2010). Läsionen des dlPFC führen zu Defiziten in der Intelligenz und im Problemlöseverhalten, insbesondere zur Unfähigkeit, die Relevanz externer Ereignisse einzuschätzen, und außerdem zu schweren Beeinträchtigungen des Arbeitsgedächtnisses (Manes et al. 2002). Die kognitiv-sprachliche Ebene ist die Ebene des rationalen Ich, des Verstandes und der Intelligenz. Hier werden der Realitätsgehalt geprüft, Probleme gelöst, Handlungen geplant, und hier wird das bewusste Ich vor sich selbst und vor den anderen dargestellt und gerechtfertigt. Bedeutsam ist, dass der dlPFC als Sitz von Intelligenz und Verstand und der OFC als Instanz für moralisch-ethische Kontrolle, Risikobewertung und Gefühlskontrolle kaum miteinander interagieren. Die unmittelbare Konsequenz dieser erstaunlichen Tatsache kennen wir alle, nämlich, dass vernünftige Ratschläge und Einsichten allein nicht in der Lage sind, Menschen nachhaltig zu beeinflussen.
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> Vier Ebenen der Persönlichkeit, eine untere, eine mittlere und eine obere limbische Ebene sowie eine kognitive Ebene, werden in unterschiedlichem Maße durch Gene und Erfahrungen beeinflusst und bringen verschiedene unbewusste oder bewusste Anteile unseres Selbst sowie unser Sozialverhalten hervor.
1.6
Neuromodulatoren und Persönlichkeit
Die individuelle Ausprägung der von den vier Ebenen vermittelten Eigenschaften, die Persönlichkeit, ist zugleich das Ergebnis eines komplizierten Zusammenspiels verschiedener psychisch wirksamer Substanzen, die festlegen, wie die einzelnen Zentren der verschiedenen Ebenen arbeiten, wie sie interagieren (z. B. erregend oder hemmend) und in welcher Weise sie von Erfahrungen beeinflusst werden. Zu den psychisch wirksamen Substanzen gehören neuromodulatorische Transmitter wie Serotonin, Dopamin, Adrenalin/Noradrenalin und Acetylcholin. Diese beeinflussen – »modulieren« – die Wirkungsweise sogenannter schneller Transmitter wie Glutamat, GABA und Glycin. Die Zellkörper neuromodulatorischer Neurone befinden sich in der Brücke (Pons) des Hirnstamms (Dopamin, Serotonin, Noradrenalin) und im basalen Vorderhirn (Acetylcholin). Von dort senden diese Zellen ihre Axone in andere Bereiche des Gehirns und setzen dort ihre modulatorischen Substanzen frei. Diese diffundieren zur Zielzelle und binden an bestimmte Rezeptortypen oder -untertypen (Roth 2003). Hinzu kommen längerfristig wirkende Neuropeptide und Neurohormone, so etwa Oxytocin oder die »Stresshormone« CRH und Cortisol, die eng mit den neuromodulatorischen Transmittern wechselwirken. Das spezifische Zusammenwirken dieser neuromodulatorischen Substanzen auf den drei limbischen Ebenen und der kognitiv-sprachlichen Ebene bzw. den dazugehörigen Hirnzentren führt zur Ausbildung von sechs neurobiologisch-psychischen Grundsystemen:
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1. 2. 3. 4. 5. 6.
Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
Stressverarbeitungssystem, Selbstberuhigungssystem, Selbstbewertungs- und Motivationssystem, Impulskontrollsystem, Bindungs- und Empathiesystem und Realitätssinn- und Risikowahrnehmungssystem.
Nachfolgend werden diese sechs Grundsysteme kurz vorgestellt.
1.6.1
Stressverarbeitungssystem
Bei der Wahrnehmung scheinbar oder tatsächlich bedrohlicher Dinge oder Situationen reagieren wir mit Stress auf die antizipierte Bedrohung des Wohlbefindens (Ulrich-Lai u. Herman 2009). Viele Faktoren beeinflussen das Muster und das Ausmaß der Stressantwort, so etwa die Art des Stresses (physisch – z. B. Blutverlust, Kälte – oder psychisch, z. B. Furcht), die Dauer des Stressors (akut oder chronisch), der Kontext des Stresses (z. B. Tageszeit), die Entwicklungsstufe des Individuums (z. B. neugeboren, kindlich oder erwachsen), das Geschlecht des Individuums sowie seine genetische Ausstattung (Joëls u. Baram 2009). Für die Wahrnehmung tatsächlicher oder potenzieller Stressoren sind vornehmlich die basolaterale Amygdala und der Hypothalamus zuständig (LeDoux 2000). Sie lösen im autonom-vegetativen Nervensystem eine sofortige Antwort auf den Stressor aus, und in Sekundenschnelle wird der physiologische Zustand angepasst (sympathicoadrenomedulläres System): Das Mark der Nebenniere schüttet Adrenalin aus, dadurch wird die Herzfrequenz beschleunigt, der Blutdruck wird erhöht (Ulrich-Lai u. Herman 2009), und es werden weitere physiologische Veränderungen veranlasst, um die körperliche und psychische Reaktionsbereitschaft zu steigern. Zudem wird im Gehirn durch den Locus coeruleus Noradrenalin ausgeschüttet und dadurch die allgemeine Wachsamkeit erhöht (Berridge 2008). Wenn der Stressor nicht sofort kontrollierbar ist, kommt es auch zu einer erhöhten Freisetzung von Serotonin durch Neurone des dorsalen Raphe-Kerns. Kann hingegen der Stressor kontrolliert werden, so wird der dorsale
Raphe-Kern durch Fasern des ventralen und medialen Frontalcortex gehemmt (Amat et al. 2005). Moderater Stress führt des Weiteren zu einer Freisetzung von Dopamin, um Risikobeurteilung und Entscheidungsstrategien zu verbessern. Die so vermittelten Verhaltensstrategien helfen dem Individuum, der ersten Phase eines stressreichen Ereignisses entgegenzutreten (Joëls u. Baram 2009). Zusätzlich wird ein wesentlich langsameres Stresssystem aktiviert: die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHN-Achse, auch »Stressachse« genannt). Hierbei bewirkt die Konfrontation mit dem Stressor zunächst, dass spezielle Neurone des Hypothalamus das Corticotropin-freisetzende Hormon (CRH) sowie das Neuropeptid Arginin-Vasopressin in den regionalen Blutstrom freisetzen. Diese Stoffe gelangen zum Vorderlappen der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) und bewirken dort die Ausschüttung des Adrenocorticotropen Hormons (ACTH). ACTH erreicht dann über die Blutbahn die Nebennierenrinde und führt dort im Verlauf der nächsten Minuten zu einer Synthese und Freisetzung von Glucocorticoidhormonen – beim Menschen vorwiegend des Hormons Cortisol (Ulrich-Lai u. Herman 2009). Cortisol wird auch unter basalen (Nicht-Stress-) Bedingungen in einem bestimmten tageszeitlichen Rhythmus in die Blutbahn ausgeschüttet, wobei die größte Menge zu Tagesbeginn freigesetzt wird. Stress löst die Freisetzung zusätzlichen Cortisols aus, das dann die emotionale Erregung, motivationale Prozesse und kognitive Leistungen beeinflusst. Die zentrale Wirkung von Cortisol wird von unterschiedlichen Rezeptoren vermittelt. Der nukleare Glucocorticoidrezeptor (GR) befindet sich im Innern der Neurone und beeinflusst bei Aktivierung durch Cortisol im Zellkern die Expression der Gene und hierüber die Produktion von Peptiden. Der GR bindet nur bei hohem Cortisolspiegel, d. h. fast ausschließlich unter Bedingungen des Stresses. Eine seiner Hauptfunktionen ist die Beendigung der Stressantwort durch eine Hemmung der weiteren Freisetzung von CRH durch den Hypothalamus, also eine negative Feedbackhemmung. Die Hirnaktivität wird dadurch einige Stunden nach einem stressreichen Ereignis wieder normalisiert (de Kloet et al. 2008; Joëls et al. 2008). Der nukleare Mineralocorticoidrezeptor (MR), der ebenfalls im
1.6 • Neuromodulatoren und Persönlichkeit
Zellinneren lokalisiert ist, bindet Cortisol auch bei geringer Konzentration. Dadurch ist dieser Rezeptor fast immer aktiviert. Er vermittelt die Wirkung der basalen, d. h. in Ruhe vorhandenen Cortisolkonzentrationen und sorgt so u. a. für die Aufrechterhaltung der tageszeitlichen Schwankungen in der Cortisolfreisetzung (Gunnar u. Quevedo 2007; Joëls et al. 2008). In Neuronen des Hippocampus findet sich zudem ein membranständiger MR. Dieser bindet wie der nukleare GR Cortisol erst bei höherer Konzentration. Er antwortet im Gegensatz zu den anderen Rezeptoren schnell auf Stress. Er treibt über die verstärkte Ausschüttung des Neurotransmitters Glutamat die initiale Stressreaktion an und erlaubt so die Bewertung der Situation und die Auswahl der adäquaten Bewältigungsstrategie. Der langsamere GR-vermittelte Effekt verhindert, dass diese schnelle initiale Reaktion über das Ziel hinausschießt (Joëls et al. 2008). Eine entsprechend moderate Aktivierung des Stresssystems ist gesundheitsverträglich, während sowohl chronisch niedrige als auch chronisch erhöhte Cortisolkonzentrationen eine nicht optimale Anpassung widerspiegeln. Die Beziehung zwischen Cortisol und adaptiver Funktionsweise nimmt also häufig die Form eines umgekehrten »U« an (Sapolsky 1997). Von besonderer Bedeutung hierfür ist das zahlenmäßige und funktionale Gleichgewicht zwischen den GR und den MR. Wenn dieses Gleichgewicht aufgrund starken oder chronischen Stresses gestört ist, dann verliert das Individuum die Fähigkeit zur Stressbewältigung (»Coping«), und dies kann die Anfälligkeit gegenüber stressbezogenen Erkrankungen erhöhen (Joël et al. 2008). Das Stresssystem kann durch genetische Veranlagung ebenso wie durch Erfahrungen in seiner Entwicklung beeinflusst werden. Verschiedene Ausprägungen der Gene für die Cortisolrezeptoren sind an der individuellen Art der Stressbewältigung beteiligt. So reagieren Menschen, die eine bestimmte genetische Variante des MR aufweisen, mit einer verstärkten Cortisol- und Herzfrequenzantwort auf einen psychischen Stressor (DeRijk et al. 2006). Erfahrungen können bereits pränatal in die Entwicklung der HHN-Achse eingreifen. Das Stresssystem beginnt seine Entwicklung bereits in den ersten Schwangerschaftswochen, weist aber erst im Kleinkindalter, und zwar besonders dann,
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wenn Kinder ihr Nachmittagsschläfchen aufgeben, die charakteristischen Schwankungen im Tagesverlauf auf (Gunnar u. Quevedo 2007). Starker oder chronischer mütterlicher Stress während der Schwangerschaft erhöht die Cortisolkonzentration im Blutplasma bei Mutter und Fötus. Das pränatal vorhandene Niveau dieser Stresshormone scheint den Fötus während kritischer Perioden seiner Entwicklung zu »programmieren«: Es wird festgelegt, wie der Körper postnatal mit Stress umgeht. Der pränatale Stress könnte das notwendige Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Rezeptoren u. a. dadurch stören, dass er die Anzahl der aktiven GRRezeptoren verringert, die an der erwähnten Feedbackhemmung beteiligt sind (Weinstock 2008). Dieser Zusammenhang kann an einem Rattenmodell verdeutlicht werden. Ratten haben zum Zeitpunkt ihrer Geburt im Vergleich zu neugeborenen Kindern ein viel unreiferes Gehirn. Erst nach ihrer ersten Lebenswoche ist der Reifungsgrad mit dem eines menschlichen Neugeborenen vergleichbar (Gunnar u. Cheatham 2003). Bestimmte Erfahrungen der Ratten während dieser ersten Lebenswoche, die dem dritten Trimester der pränatalen Entwicklung des Menschen entspricht (Oberlander et al. 2008), beeinflussen das Stresssystem: Werden die Jungtiere von der Rattenmutter intensiv geleckt, dann bilden ihre Nachkommen eine große Zahl von GRs im Hippocampus aus, die für die Feedbackhemmung verantwortlich sind. So kann dieses System sehr empfindlich auf die Rückkopplung reagieren, und eine Stressantwort kann effektiv beendet werden. Diese Tiere zeigen eine gut kontrollierte Antwort auf Stress und wenig furchtsames Verhalten. Hingegen entwickeln Jungtiere von Müttern, die weniger intensiv Brutpflege betreiben, eine größere Stressreaktivität. Die Erfahrung mütterlicher Fürsorge formt also das Stresspotenzial des Nachwuchses (Meaney 2010). Ursächlich hierfür scheint eine epigenetische Regulation der Expression des GR-Gens zu sein: Aufgrund der verringerten Fürsorge werden in einem bestimmten Bereich des GR-Gens Methylgruppen angehängt (Methylierung), die das Auslesen des Gens unterdrücken. Es wird entsprechend weniger Rezeptorprotein produziert, und eine verringerte Anzahl von GRs sowie eine weniger effektive Stressregulation sind die Folge (Seckl 2008).
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Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
Beim Menschen scheint ein ähnlicher Zusammenhang gegeben zu sein: Neugeborene, deren Mütter im letzten Trimester der Schwangerschaft eine depressive Stimmung hatten, weisen ebenfalls eine erhöhte Methylierung eines bestimmten Bereichs des GR-Gens auf. Zudem zeigen diese Kinder im Alter von drei Monaten eine erhöhte Cortisolreaktivität (Oberlander et al. 2008). Einer aktuellen Studie (McGowan et al. 2009) zufolge kann die postnatale Umwelt ebenfalls einen Einfluss auf den Methylierungszustand und die Expression des GR-Gens nehmen: Personen, die in ihrer Kindheit Missbrauch erfahren hatten und Selbstmord begingen, wiesen eine erhöhte Methylierung und eine verringerte Expression des GR-Gens auf. Frühe Erfahrungen scheinen also die Expression bestimmter Gene verändern zu können und dadurch an den individuellen Unterschieden in der Funktion des Stresssystems und dem Risiko für psychische Erkrankungen beteiligt zu sein (McGowan et al. 2009). Als Konsequenz dieser frühen Erfahrungen und genetischen Prädispositionen unterscheiden sich Menschen hinsichtlich ihres Umgangs mit Stress. Einige Menschen reagieren besonders empfindlich (vulnerabel) auf stressreiche Belastungen, andere Menschen sind dagegen widerstandsfähig (resilient) gegenüber diesen Herausforderungen (Gunnar u. Quevedo 2007).
1.6.2
Selbstberuhigungssystem
Das zweite psychische Grundsystem ist das interne Beruhigungssystem. Es beginnt seine Entwicklung ebenfalls vor der Geburt. Es wird wesentlich vom Neuromodulator Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) vermittelt. Serotonin wird in Zellkörpern der Raphe-Kerne gebildet und über axonale Fortsätze in vielen Bereichen des Gehirns ausgeschüttet (Hensler 2006). Serotonerge Neurone treten ab dem embryonalen Alter von fünf Wochen auf (Sundström et al. 1993). Die Konzentration des Serotonins erhöht sich während der ersten beiden Lebensjahre, verringert sich anschließend und erreicht bei Fünfjährigen ein ausgereiftes Niveau (Whitaker-Azmitia 2001). Die Wirkung von Serotonin wird über seine Bindung an spezialisierte
Rezeptoren vermittelt. Es gibt mindestens 14 verschiedene Serotoninrezeptoren und Untertypen; diese können auf der Zielzelle lokalisiert sein und deren Aktivität hemmen oder fördern oder als Autorezeptoren auf den Serotonin-produzierenden Zellen die Freisetzung weiteren Serotonins regulieren. Der 5-HT1A-Rezeptor kommt sowohl als Autorezeptor als auch als Rezeptor auf vielen Zielzellen in limbischen Zentren vor. Seine Aktivierung wirkt angstlösend und antidepressiv. Mäuse, denen der 5-HT1A-Rezeptor fehlt, sind besonders ängstlich (Zhuang et al. 1999). Menschen, die unter Panikstörungen leiden, weisen ebenfalls weniger 5-HT1ARezeptoren auf (Nash et al. 2008). Depressionen sowie Selbstmordneigungen könnten ebenfalls mit einer Dysfunktion dieser Rezeptoren einhergehen (Savitz et al. 2009). Eine Aktivierung des 5-HT2ARezeptors dagegen hat teilweise gegensätzliche – z. B. angststeigernde – Wirkungen (Sodhi u. Sanders-Bush 2004). Die Serotonin-ausschüttenden Zellen erreichen mit ihren Fortsätzen bereits früh ihre Zielgebiete und sind dort an vielen Entwicklungsprozessen – z. B. der Neurogenese, der neuronalen Differenzierung oder der dendritischen Feinverdrahtung – beteiligt (Whitaker-Azmitia 2001). Sie beeinflussen hierüber die Verschaltung des Gehirns und die Entwicklung anderer Neurotransmittersysteme (Daubert u. Condron 2010). Dieser Einfluss des Serotonins tritt innerhalb spezifischer kritischer Zeitfenster auf; so bewirkt bei Ratten ein Serotoninmangel in einem sehr frühen pränatalen Stadium eine Reduktion der Anzahl der Neurone im Hippocampus und im Cortex. Deshalb spielt die Menge an Serotonin in einem bestimmten Hirnareal eine Schlüsselrolle für dessen weitere Entwicklung (Whitaker-Azmitia 2001). Die individuelle Funktionsweise des Serotoninsystems scheint im Verlauf der Zeit relativ stabil zu sein und ein dauerhaftes Persönlichkeitsmerkmal darzustellen (Higley u. Linnoila 1997). Einige am Hirnstoffwechsel beteiligte Proteine können in unterschiedlichen Formen ausgebildet werden, je nachdem, welche von mehreren Varianten, sogenannten Polymorphismen, eines Gens ihnen zugrunde liegen. Ein besonders gut untersuchtes Protein ist der Serotonintransporter. Dieser bewirkt, dass das Serotonin nach seiner Ausschüttung in
1.6 • Neuromodulatoren und Persönlichkeit
den synaptischen Spalt wieder in die präsynaptische Zelle aufgenommen wird. Das Gen für diesen Transporter kann in einem bestimmten Bereich zwei unterschiedlich lange Varianten aufweisen, und diese legen fest, wie viele Transporterproteine ausgebildet werden und wie lange das Serotonin im synaptischen Spalt wirksam ist (Canli u. Lesch 2007). Je nachdem, welche Varianten dieses Gens ein Mensch hat, kann das Serotonin unterschiedlich lange wirken und dadurch individuelle Unterschiede, z. B. in der Aktivität des Stresssystems (Gotlib et al. 2008) oder der Empfindlichkeit gegenüber einer unsensiblen mütterlichen Betreuung (Barry et al. 2008), hervorbringen. Außerdem kann der Genpolymorphismus festlegen, welchen Einfluss bestimmte Erfahrungen haben: Menschen, die von wenigstens einem Elternteil eine kurze Variante des Gens ererbt haben, weisen ein erhöhtes Risiko für Angststörungen oder Depressionen auf. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie in früher Kindheit extrem nachteilige Erlebnisse wie Vernachlässigung oder Misshandlungen erfuhren (Canli u. Lesch 2007; Caspi et al. 2003).
1.6.3
Selbstbewertung und Motivation
Das interne Bewertungs- und Motivationssystem stellt das dritte psychische Grundsystem dar. Amygdala und mesolimbisches System bewerten die Erlebnisse und Handlungen einer Person hinsichtlich der Konsequenzen für das eigene Wohlergehen und speichern das Resultat dieser Bewertung im emotionalen Gedächtnis ab. Werden positive Ereignisse registriert, so setzen Zellen des Hypothalamus hirneigene Opioide frei, die auf spezialisierte Rezeptoren in verschiedenen Bereichen des limbischen Systems einwirken und dadurch Freude, Vergnügen und Lust auslösen (Merrer et al. 2009). Die Erfahrung negativer Ereignisse bewirkt eine Ausschüttung von Substanz-P, Arginin-Vasopressin und Cholezystokinin und erzeugt Gefühle der Unlust, des Schmerzes und der Bedrohung bis hin zur Panik. Hiermit eng verbunden sind auch ein Defizit im Serotoninhaushalt sowie eine erhöhte Produktion von CRF und ACTH. Der Neuromodulator Noradrenalin spielt zudem eine Rolle für
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die Konsolidierung negativ-aversiver Gedächtnisinhalte (Joëls et al. 2010). In Abhängigkeit von der individuellen Ausprägung der beteiligten Neuromodulatorsysteme können Menschen eher belohnungsempfänglich oder eher bestrafungsempfänglich sein. Dieses Bewertungssystem ist Grundlage des Motivationssystems. Es legt fest, dass Handlungen, die zu Belohnung führten, wiederholt, und Handlungen, die zu Bestrafung führten, vermieden werden. Die der Wiederholungstendenz zuvor belohnter Handlungen zugrunde liegende »Belohnungserwartung« des Gehirns wird vom Dopaminsystem vermittelt (Phillips et al. 2008; Schultz 2007). Das »motivationale« Dopamin wird von Zellen des ventralen tegmentalen Areals im Mittelhirn produziert, deren Fortsätze im Nucleus accumbens, in der Amygdala und im Hippocampus sowie im präfrontalen, im orbitofrontalen und im anterioren cingulären Cortex enden (Alcaro et al. 2007; Wise 2004). Die Registrierung von Art, Stärke und Auftrittswahrscheinlichkeit von Belohnungen, die Abspeicherung dieser Inhalte im »Belohnungsgedächtnis« als der Grundlage von Belohnungserwartung und -voraussage wird von einem großen Netzwerk unterschiedlicher Dopamin-freisetzender Nervenzellen und ihren zahlreichen Zielzellen vermittelt (Schultz 2007; Wise 2004). Einige dopaminerge Nervenzellen registrieren, ob und in welchem Maße eine erwartete Belohnung tatsächlich eingetreten ist, und verankern diese Information im Belohnungsgedächtnis. Eine pulsartige Erhöhung des Dopaminspiegels geht einher mit dem Antrieb, eine belohnungsversprechende Situation oder Handlung aufzusuchen bzw. auszuführen (Schultz 2007). Entsprechend ist ein erhöhter Dopaminspiegel mit psychischer Aktivierung, Belohnungserwartung, Tatendrang und gesteigerter Kreativität verbunden, während ein Mangel an Dopamin zu Ideen- und Fantasielosigkeit, Antriebslosigkeit und Depressivität führt (Flaherty 2005; Nestler u. Carlezon 2006). Die drei bisher beschriebenen Neuromodulatorsysteme bilden zusammen den egozentrischen Kern unserer Persönlichkeit, indem sie festlegen, wie wir auf Stress reagieren, mit Frustrationen umgehen, auf Belohnung und Bestrafung antworten und welche Handlungsmotive wir auf dieser
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Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
Grundlage entwickeln. Sie entstehen sehr früh, z. T. vor der Geburt und in den ersten Monaten danach, und bilden die Grundlage dreier weiterer psychischer Grundsysteme, die sich anschließend entwickeln und den egozentrischen Kern unserer Persönlichkeit mit einem »Mantel« der Sozialisation ausstatten.
1.6.4
ihre subcortical erzeugten aggressiven Impulse mit ihrer beeinträchtigten präfrontalen Regulation zu kontrollieren (Raine et al. 1998). Auch hier beeinflusst das Wechselspiel genetischer Faktoren und früher Umweltbedingungen die Struktur und die Funktion impulshemmender Schaltkreise und deren Konsequenzen auf der Verhaltensebene, so etwa Aggressionen, Sucht und Selbstmordneigung (Lesch u. Merschdorf 2000).
Impulskontrolle
Säuglinge und Kleinkinder sind impulsiv: Ein Belohnungsaufschub wird nicht geduldet, negative Dinge oder Situationen müssen sofort beseitigt bzw. beendet werden. In den folgenden Jahren beginnen die Kinder, einen Belohnungsaufschub und Frustrationen zu tolerieren. Aggressive Tendenzen werden beispielsweise im Alter von zwei bis drei Jahren reduziert (Potegal u. Archer 2004). Der Prozess der zunehmenden Impulskontrolle setzt sich bis in das Erwachsenenalter fort. Handlungsimpulse werden durch die subcorticalen limbischen Zentren der unteren und mittleren limbischen Ebene angetrieben und sind auf die unmittelbare Befriedigung egozentrischer Motive ausgelegt. Zu viel oder zu wenig Aktivierung der Amygdala kann entweder einen exzessiven negativen Affekt oder eine verringerte Sensitivität gegenüber sozialen Hinweisen hervorbringen. Für die Impulshemmung sind der orbitofrontale und der ventromediale Cortex als Teile der oberen limbischen Ebene zuständig, die über hemmende Bahnen zu den genannten subcorticalen Zentren verfügen. Sie sind stark mit Serotoninrezeptoren besetzt. Bei Personen mit ausreichender Impulskontrolle unterdrücken Aktivierungen dieser »oberen« limbischen Hirnregionen die während eines Wutanfalls oder anderer negativer Emotionen auftretenden impulsiven Handlungstendenzen. Defizite in diesem hemmenden Schaltkreis können das Ausmaß impulsiver Aggression stark erhöhen (Davidson et al. 2000a, b). Untersuchungen der Stoffwechselaktivität bei Mördern, die ihre Tat impulsiv und im Affekt durchführten, zeigen eine Unterfunktion frontaler Hirnbereiche. In subcorticalen Regionen der rechten Hirnhälfte, z. B. der Amygdala, ist dagegen die Stoffwechselaktivität erhöht. Diese Menschen scheinen nicht ausreichend in der Lage zu sein,
1.6.5
Bindung und Empathie
Die psychische Entwicklung von Kindern wird durch die frühe emotionale Bindung, d. h. die enge und dauerhafte emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kind, entscheidend beeinflusst. Die Entwicklung des Bindungssystems (7 Kap. 4 für eine ausführliche Darstellung) beginnt in den ersten Wochen nach der Geburt mit unspezifischen sozialen Reaktionen des Säuglings und positiven Erwiderungen der primären Bezugsperson, meist der Mutter. Die Äußerungen und das Bindungsverhalten des Kindes werden während der folgenden Monate zunehmend differenzierter, sie richten sich nunmehr fast ausschließlich auf die Mutter und werden im weiteren Verlauf der Entwicklung immer situationsangepasster (Grossmann u. Grossmann 2008). Für den Prozess der Bindung, aber auch für erwachsene Paarbeziehungen, Sexualverhalten und andere vertrauensvolle Kontakte ist das im Hypothalamus produzierte Neuropeptid Oxytocin bedeutsam (Ross u. Young 2009). Verstärkt wird diese »bindende« Wirkung des Oxytocins durch die Ausschüttung endogener Opioide, Noradrenalin und Serotonin, die offenbar das Wohlgefühl bei intensiven sozialen Beziehungen verstärken (Nelson u. Panksepp 1998; Stein u. Vythilingum 2009). Störungen im Sozialverhalten, z. B. bei Autismus, Asperger-Syndrom, antisozialer Persönlichkeitsstörung und Psychopathie, werden u. a. mit Störungen im Oxytocinhaushalt in Verbindung gebracht (Heinrichs et al. 2009). Das Bindungssystem steht in enger Wechselwirkung mit dem Stresssystem. Eine sichere Bindung kann die Wirkungen pränatalen Stresses auf das Verhalten mildern (Bergman et al. 2008) und
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1.6 • Neuromodulatoren und Persönlichkeit
postnatal die Kinder vor den Auswirkungen von Stress auf das sich entwickelnde Gehirn schützen. Hohe Cortisolkonzentrationen können dagegen das Gehirn schädigen (Sapolksy 1996). Kinder, die eine empfindsame und aufmerksame Betreuung erhalten, können während dieser Phase des schnellen Hirnwachstums verzweifelte Momente erleben und ihre Gefühle ausdrücken, ohne dass das entsprechende Ereignis eine Ausschüttung zusätzlichen Cortisols bewirkt (Gunnar u. Donzella 2002). Dieser Zusammenhang ist dann umso bedeutender, wenn die Kinder aufgrund ihrer genetischen Veranlagung eher gehemmt sind (Spangler u. Schieche 1998). Die Bindungssicherheit wird nicht nur von Umweltfaktoren bedingt, etwa vom Ausmaß der mütterlichen Sensitivität (Ainsworth et al. 1971; De Wolff u. van Ijzendoorn 1997), sondern auch von bestimmten genetischen Veranlagungen des Kindes. Entsprechend scheinen unsichere Bindungsmuster häufig mit bestimmten serotonergen oder dopaminergen Genpolymorphismen einherzugehen (Gillath et al. 2008). Weitere Polymorphismen bestimmen zudem, welchen Einfluss bestimmte Umwelteinflüsse, beispielsweise mütterliche Eigenschaften, auf die Bindungssicherheit haben (van Ijzendoorn u. Bakermans-Kranenburg 2006). Das Bindungssystem ist eng mit dem Empathiesystem verbunden. Empathie beinhaltet zum einen die Fähigkeit, die Gefühle, Gedanken und Absichten eines Mitmenschen zu erkennen, eine Fähigkeit, die man etwas unglücklich auch »Theorie des Geistes« (»Theory of Mind«; vgl. Förstl 2007) nennt, und zum anderen die Fähigkeit zum »Mitleiden«, die emotionale Empathie. Erstere kann durchaus ohne Letztere vorhanden sein. Psychopathen können beispielsweise hervorragend die Gedanken, Wünsche und Ängste ihrer Mitmenschen lesen und für sich nutzen, gehen dabei aber mitleidlos vor (Blair 2005). Die letztere Fähigkeit ergibt sich jedoch nicht ohne die erstere, denn wer die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Mitmenschen nicht erkennen kann, ist nicht fähig, empathisch auf Zeichen des Leidens und der Not bei ihnen zu reagieren. Das menschliche Empathiesystem umfasst sowohl subcorticale limbische Zentren wie das mesolimbische System und die Amygdala (insbeson-
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dere beim Erkennen und Deuten des Gesichtsausdrucks) als auch corticale limbische Zentren, vor allem den OFC, den ACC und den insulären Cortex für die Wahrnehmung des »Schmerzes« bei anderen (Farrow et al. 2001, Singer et al. 2004, 2009), aber auch Bereiche des Scheitel- und des Schläfenlappens, die mit dem Erkennen und Deuten von Mimik und Gebärden befasst sind. Für die emotionale Empathie ist, ebenso wie für das Bindungssystem, der Neuromodulator Oxytocin von großer Bedeutung (Barraza u. Zak 2009). Die Verabreichung dieses Peptids über ein Nasenspray bewirkt eine massive Erhöhung der emotionalen Empathie (Hurlemann et al. 2010). Die Rezeptoren für Oxytocin können, ebenso wie die anderer Neuromodulatoren, in verschiedenen Polymorphismen vorliegen und darüber eine Veranlagung zu einem bestimmten Ausmaß an Empathiefähigkeit hervorbringen (Rodrigues et al. 2009). Darüber hinaus können auch frühe Umweltbedingungen die Funktionalität des Oxytocinsystems beeinflussen. So weisen Frauen, die während ihrer Kindheit Misshandlungen ausgesetzt waren, besonders geringe Oxytocinkonzentrationen in der Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit auf (Heim et al. 2009).
1.6.6
Realitätssinn und Risikowahrnehmung
Im Zusammenhang mit der Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten des Gehirns ab dem dritten Jahr, insbesondere in Hinblick auf Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistungen, entwickelt sich das System des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung. Für dieses System spielt der Neurotransmitter Acetylcholin eine besondere Rolle. Acetylcholin wird vornehmlich im basalen Vorderhirn gebildet. Die Acetylcholin-freisetzenden Zellen sind über ihre Fortsätze mit dem Hippocampus als Organisator des deklarativen Gedächtnisses und mit dem dlPFC verbunden, der das Arbeitsgedächtnis beinhaltet. Dort erhöhen sie selektiv die neuronale Aktivität und steigern dadurch die Aufmerksamkeit und Konzentration (Sarter et al. 2005; Woolf u. Buchter 2011). Eine Störung des basalen Vorderhirns (z. B. bei der Alzheimer-Krankheit) und eine damit ver-
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Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
bundene Senkung des Acetylcholinspiegels führen zu Konzentrationsmangel und reduzierten Gedächtnisleistungen bis hin zur Demenz (Schliebs u. Arendt 2006). Zu den Funktionen des Realitätssinn- und Risikowahrnehmungssystems gehört auch die Fähigkeit, Risiken einer bestimmten Situation und mögliche negative Konsequenzen des eigenen Handelns zu erkennen. Hier ist die Aktivität dorsaler Anteile des ACC, der mit dem benachbarten dlPFC in enger Beziehung steht, von besonderer Bedeutung. Es wird angenommen, dass der ACC die Risiken »erkennt« und entsprechende Signale an den präfrontalen (kognitiven) und orbitofrontalen (emotionalen und ethischen) Cortex weiterleitet, woraus dann bestimmte Handlungsstrategien resultieren, z. B., bestimmte riskante Handlungsimpulse zu hemmen (Brown u. Braver 2007; Paus 2001). > Die Funktionsweise und das Zusammenwirken von Neuromodulatoren, Neuropeptiden und Neurohormonen innerhalb der vier Ebenen reflektieren die neurobiologischen Grundlagen der Entstehung einer Persönlichkeit und bringen sechs neurobiologisch-psychische Grundsysteme hervor.
1.7
Abschließende Betrachtung: Neurobiologische Einschätzung des Einflusses früher Erfahrungen auf die Entwicklung einer Persönlichkeit
Die psychische Entwicklung reflektiert das individuelle Zusammenwirken sechs neurobiologischpsychischer Grundsysteme auf drei limbischen und einer kognitiven Ebene der Persönlichkeit. Die Ausbildung dieser Grundsysteme hängt vom Ausmaß der Expression bestimmter Gene, dem Verlauf der Hirnentwicklung, »prägenden« vorgeburtlichen und frühen nachgeburtlichen Umweltereignissen und der weiteren psychosozialen Erfahrung im Kindes- und Jugendalter ab. Von besonderer Bedeutung sind hierbei das Säuglingsalter und die frühe Kindheit. Es entsteht initial ein weitverzweigtes Gerüst hochredundanter Verschaltungen
zwischen den Nervenzellen. Das Muster der Verschaltungen wird anschließend in Abhängigkeit von der Aktivität der Synapse verfeinert: Aktive Verbindungen werden stabilisiert, nicht aktive Synapsen werden eliminiert, und entsprechende Axone ziehen ihre Verzweigungen wieder zurück. Die Verschaltungen zwischen den Nervenzellen werden dadurch reduziert und unter dem Einfluss der individuellen Erfahrungen der jeweiligen Umwelt angepasst. Einige neuronale Schaltkreise benötigen für ihre Entwicklung Erfahrungen in bestimmten kritischen Zeitfenstern. Entsprechend können frühe soziale Erfahrungen oder die Abwesenheit dieser Erfahrungen einen tief greifenden Einfluss auf die neuronale Verschaltung, die »Einstellung« der sechs Grundsysteme und somit auf die psychische Entwicklung haben. Verläuft diese Entwicklung weitgehend störungsfrei, so ergibt sich eine Person, die Risiken und Gefahrenquellen gut erkennt, sich situationsgerecht auf- und wieder abregt, eine mittlere Frustrationstoleranz besitzt, längerfristig und nicht nur kurzfristig ziel- und belohnungsorientiert und nicht von einem einzigen Ziel »besessen« ist, ihre kurzfristigen emotionalen Impulse kontrollieren kann, über ein gutes Bindungspotenzial und über Empathiefähigkeit verfügt, ohne ihre eigenen Interessen aus dem Auge zu verlieren. Eine solche Person ist gesellig und offen für neue Erfahrungen. Entwicklungsstörungen können beispielsweise zur Ausprägung eines neurotizistisch-internalisierenden Persönlichkeitstyps führen, dessen Stressverarbeitungssystem überreagiert und/oder den Stress nicht genügend »zurückfährt«. Eine solche Person ist deshalb häufiger als andere besorgt, betroffen, beschämt, unsicher, ängstlich oder traurig und aufgrund einer erhöhten Risikowahrnehmung und Bestrafungsempfänglichkeit gewissenhaft bis pingelig, mäßig risikoscheu, eher kontaktarm und gehemmt. In extremeren Fällen neigt dieser Persönlichkeitstyp zu Angststörungen, Sozialphobien, Zwangsstörungen oder Depressionen. Hier liegt eine Kombination eines stark defizitären Stressverarbeitungs-, Selbstberuhigungs- und Bindungssystems mit einer starken Impulshemmung und einer pathologischen Risikowahrnehmung vor, die wiederum in der Regel durch ein Zusammenspiel genetischer Defizite (meist im Cortisol-,
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Literatur
Serotonin- und Oxytocinhaushalt) und frühkindlicher Traumatisierung verursacht ist. Neurobiologisch-psychische Entwicklungsabweichungen können aber auch zur Ausbildung eines extravertiert-externalisierenden Persönlichkeitstyps führen, der bei leichterer Ausprägung optimistisch, belohnungsorientiert, offen, kreativ, selbstsicher, aktiv, gesprächig, energisch, heiter, gesellig, aber auch etwas sorglos und unzuverlässig ist. In einer deutlicheren Ausprägung ist dieser Typ extrem belohnungsorientiert, angetrieben von einer inneren Unruhe, impulsiv, rücksichtslos bei der Durchsetzung seiner Ziele, risikofreudig, wenig empathisch, gewissenlos, oft alkohol- oder drogenabhängig und neigt zum Glücksspiel. Hier liegen eine emotionale Überreaktivität, verursacht durch einen erhöhten Cortisol- und Noradrenalinspiegel unter Stress, sowie eine starke Dominanz des dopaminergen Systems und der Belohnungsempfänglichkeit vor, verbunden mit deutlichen Defiziten in der Impulshemmung, der Selbstberuhigung und im Empathiesystem. Auch dies ist meist verursacht durch genetische Defizite, vornehmlich im Dopamin- und Noradrenalinsystem, kombiniert mit frühkindlicher Traumatisierung, die sich hier nach außen und nicht nach innen wendet wie beim stark neurotizistischen Typ. Fazit Frühkindliche Traumatisierungen in Form von Missbrauch oder Vernachlässigung, aber auch weniger extreme nachteilige frühe Erfahrungen, so etwa das Zusammensein mit einer depressiven Mutter oder nicht optimale Bindungserfahrungen, können bestimmen, welche neuronalen Verschaltungen erhalten bleiben und wie die beschriebenen sechs Grundsysteme innerhalb der vier Ebenen der Persönlichkeit langfristig aktiv sind. Wesentlichen Aspekten unserer Persönlichkeit liegen die sehr früh entstehenden und ebenso früh beeinflussbaren unbewussten limbischen Ebenen zugrunde. Entsprechend müssen bei einem defizitären oder schwierigen sozioemotionalen Umfeld eines Kindes, beispielsweise bedingt durch eine Depression der Mutter, eine Traumatisierung der Mutter oder weitere Faktoren, Interventionen möglichst früh erfolgen, etwa im Rahmen einer Eltern-Säuglings-Beratung. Nur so kann die Verschaltung der
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Neuronennetzwerke der elementaren limbischen, teilweise unbewusst arbeitenden Ebenen unserer Persönlichkeit und das Zusammenspiel der sechs Grundsysteme innerhalb dieser Ebenen dauerhaft beeinflusst werden.
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Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
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1
Kapitel 1 • Pränatale Entwicklung und neurobiologische Grundlagen der psychischen Entwicklung
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21
Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren Sabina Pauen, Britta Frey und Lena Ganser
2.1
Zur Definition von Entwicklung – 22
2.2
Die Idee der Meilensteine – 22
2.3
Entwicklungsbereiche – 23
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8
Grobmotorik – 24 Feinmotorik – 25 Wahrnehmung – 27 Denken – 28 Sprache – 29 Soziale Beziehungen – 31 Selbstregulation – 32 Gefühle – 34
Literatur – 35
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
2
22
2
Kapitel 2 • Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren
Die ersten Jahre sind entscheidend für die weitere Entwicklung jedes Kindes. Zu keiner anderen Zeit wächst es schneller oder lernt mehr neue Dinge hinzu. Zu keiner anderen Zeit durchläuft sein Gehirn größere Veränderungsprozesse. Wenn alles gut geht, kann das Kind schließlich gehen, sprechen, denken, sich in Gemeinschaften einordnen und eigene Bedürfnisse oder Gefühle ausdrücken. Dabei werden wichtige Weichen für das spätere Leben gestellt. Den Prozess der frühkindlichen Entwicklung besser zu verstehen und genau hinzusehen, was sich in dieser Zeit alles tut, ist daher eine notwendige Voraussetzung für jede Form der Frühförderung. Der vorliegende Beitrag gibt einen knappen Überblick über die bedeutsamsten Veränderungen der ersten drei Lebensjahre. Er zeigt zudem auf, wie Erwachsene lernen können, die Vielzahl faszinierender Fortschritte der frühen Kindheit zu beobachten und zu dokumentieren.
2.1
einfach ausgeliefert bleibt, sondern sie durch eigenes Handeln mitgestaltet und sich zu eigen macht. Bei der Beschreibung von Entwicklung gilt es zudem zu beachten, dass jeder Mensch sich auf seine ganz persönliche Weise entwickelt und folglich eine enorme interindividuelle Variabilität an normalen Entwicklungsverläufen beobachtet werden kann. Dies gilt in besonderem Maße für die frühe Kindheit (Michaelis u. Niemann 2010). Unterschiede gibt es vor allem bei der Geschwindigkeit, mit der ein Kind verschiedene Entwicklungsschritte durchläuft, und im Ausprägungsgrad, weniger bei der Abfolge der einzelnen Schritte (Ayres 2002). Entwicklung Entwicklung bezeichnet altersgebundene Veränderungen im Verhalten und Erleben, die durch ein Zusammenspiel von Erbanlagen, Umwelterfahrungen und eigener Aktivität zustande kommen und den Erfahrungsraum des Kindes nachhaltig verändern.
Zur Definition von Entwicklung
In der Literatur finden sich ganz unterschiedliche Ansätze zur Beschreibung der menschlichen Entwicklung mit dem Alter. Auch wenn bislang keine allgemein verbindliche Definition des Phänomens vorliegt (Flammer 2003), lässt sich festhalten, dass alle Entwicklungsforscher versuchen, Faktoren zu identifizieren, die die Stabilität und die Veränderungen im Leben eines Menschen von seiner Zeugung bis zu seinem Tod beeinflussen (Berk 2004). Als bedeutsam werden dabei solche Entwicklungsschritte betrachtet, die einen grundlegenden Einfluss auf nachfolgende Entwicklungen haben. Entwicklung findet im Zusammenspiel zwischen angeborenen biologischen Prädispositionen (Erbanlagen) und Umwelteinflüssen (Gottlieb u. Lickliter 2007) statt. Sie ist abzugrenzen von Reifung, welche primär eine gengesteuerte Entfaltung biologischer Strukturen und Funktionen bezeichnet, die in bestimmten Altersperioden universell auftritt und dabei unabhängig von externen Einflüssen und Lernerfahrungen bleibt (Montada 2002). Zudem wird Entwicklung heute als ein aktiver Prozess verstanden, bei dem das Kind seiner genetischen Ausstattung und seiner Umwelt nicht
2.2
Die Idee der Meilensteine
Entwicklung lässt sich auf verschiedene Weise beschreiben: Freud (1926) sprach von psychosexuellen Phasen, Piaget (1936/1963) von Stadien der Denkentwicklung, und Erikson (1950) von Entwicklungskrisen oder -aufgaben. Eine eher pragmatische und oft auch präzisere Form der Beschreibung besteht darin, für verschiedene Bereiche der Entwicklung bedeutsame Teilschritte zu benennen. Geht es dabei um Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die sich gut im Alltag beobachten lassen, spricht man von »Meilensteinen«. Was als bedeutsamer Meilenstein bezeichnet wird, hängt natürlich immer von allgemeinen Theorien über frühkindliche Entwicklung und auch von kulturellen Gegebenheiten und Wertvorstellungen ab. Pauen (2011) hat eine aus der Perspektive westlicher Kulturen und aktueller Forschung relevante Sammlung von 111 bedeutsamen Meilensteinen der frühkindlichen Entwicklung zusammengestellt, auf die sich der vorliegende Beitrag bezieht. Meilensteine sind dabei aber nicht mit »Grenzsteinen« (Michaelis u. Niemann 2010) zu verwech-
23
2.3 • Entwicklungsbereiche
seln. Bei der Definition von Grenzsteinen liegt der Fokus auf Fähigkeiten, die bis zu einem bestimmten Alter entwickelt sein sollten, wenn alles »normal« verläuft. Wichtig ist hier also tatsächlich die Zuordnung zu einem bestimmten Alter. Die Idee der Meilensteine ist breiter gefasst. Es finden sich darunter auch Beschreibungen von Verhaltensweisen, die ein gegebenes Kind möglicherweise gar nicht zeigt (z. B. Fremdeln), ohne dass Anlass zur Sorge besteht. Zudem spielt die Frage, wann genau eine bestimmte Fähigkeit auftaucht, nicht die entscheidende Rolle. Stattdessen gewinnt eine Prozessbetrachtung (wie bauen Fähigkeiten aufeinander auf?) an Relevanz. So wird der Blick auf die Fortschritte und weniger auf den Status quo der Entwicklung gelenkt. Meilensteine ohne konkrete Altersangaben sollen helfen, das Staunen über diese Entwicklungsprozesse nicht zu verlieren. Trotz der verstärkten Prozessorientierung ist es möglich (und nötig), über die Dokumentation des Alters, in dem ein bestimmter Meilenstein erreicht wird, zu Entwicklungsnormen zu gelangen, die es in der Praxis erlauben zu bestimmen, ob das Risiko einer Entwicklungsverzögerung besteht oder nicht. Das Konzept der Meilensteine schließt eine Normbildung also nicht aus, sondern betont sie nur weniger. Voraussetzung für jede Verständigung über das Erreichen eines Meilensteins (z. B. zwischen Eltern und Krippenerzieherin) und somit für jede Normbildung ist eine objektive und präzise Beschreibung der Verhaltensweisen, um die es geht. Es genügt daher nicht, eine qualitative Verhaltensänderung, wie beispielsweise »Alleine sitzen« einfach nur zu benennen – vielmehr muss genau festgelegt sein, wie viele Sekunden in welcher Position und mit welcher Art von Unterstützung ein Kind alleine sitzen kann. Meilensteine der Entwicklung Meilensteine beschreiben Verhaltensweisen, die sich im Alltag mit dem Kind beobachten lassen und die Rückschlüsse auf wichtige Entwicklungsschritte in einem bestimmten Bereich zulassen. Sie müssen so eindeutig formuliert sein, dass jeder Beobachter und jede Beobachterin das gleiche Verhalten darunter versteht und beurteilen kann, ob der Meilenstein erreicht wurde oder nicht.
2.3
2
Entwicklungsbereiche
Auch wenn man durchaus kritisch hinterfragen kann, ob Entwicklung stets auf einen bestimmten Punkt hin gerichtet sein muss, herrscht unter Experten weitgehend Einigkeit bezüglich der Frage, worin wichtige Entwicklungsziele bestehen. Das gilt für den Erwerb von Körperkontrolle genauso wie für die Entwicklung von Kompetenzen der Informationsverarbeitung, sozial-kommunikativen Fähigkeiten und den Umgang mit eigenen Bedürfnissen und Gefühlen. Ausgehend von diesen Überlegungen, definieren wir nachfolgend acht wichtige Bereiche der frühkindlichen Entwicklung (s. auch Pauen 2011). Wichtige Bereiche der frühkindlichen Entwicklung (nach Pauen, 2011) 5 Grobmotorik (Kopf-, Rumpf-, Beinkontrolle, Fortbewegung, Balance, Hüpfen, Werfen, Fangen) 5 Feinmotorik (Hand-Körper-Koordination, Objekte greifen und halten, Gegenstände manipulieren, Essen und Trinken, Zeichnen, An- und Ausziehen) 5 Wahrnehmung (Sehen, Hören, Erinnern) 5 Denken (Darstellen und Symbolisieren, räumliches Ordnen, Planen) 5 Sprache (Laute, Silben, Worte, Sätze verstehen und sprechen) 5 Soziale Beziehungen (Nähe/Distanz regulieren, vorsprachliche Kommunikation, gemeinsame Bezüge herstellen, fremde und vertraute Personen unterscheiden, Kooperation im Alltag, gemeinsam spielen) 5 Selbstregulation (Gefühle, Impulse, Schlaf, Ausscheidungen) 5 Gefühle (einfache und komplexe Gefühle zeigen, über Gefühle reden)
Alle genannten Bereiche sind eng miteinander verknüpft. Grob- und feinmotorische Fähigkeiten beeinflussen, welche Umwelten und Objekte dem Kind zugänglich sind; sprachliche Kompetenzen sind eng mit kognitiven Voraussetzungen des Kindes verbunden und haben wichtige Konsequenzen für das Sozialverhalten. Nur wer seine Impulse in
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2
Kapitel 2 • Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren
gewissem Maß regulieren kann, kann sich einer kognitiven Aufgabe widmen. Erst durch die Zusammenschau der Veränderungen in allen Bereichen erreichen wir ein umfassendes Verständnis für die frühkindliche Entwicklung. Trotzdem scheint es sinnvoll, einzelne Meilensteine bestimmten Entwicklungsbereichen zuzuordnen, denn dieses Vorgehen erleichtert eine Beobachtung der Entwicklung im Alltag. Die Gliederung der Bereiche orientiert sich dabei am aktuellen Stand der Forschung und an eigenen Überlegungen (Pauen 2011). Es sei an dieser Stelle jedoch ausdrücklich betont, dass manche Meilensteine durchaus mehreren Bereichen parallel zugeordnet werden können und dass die Übergänge zwischen einzelnen Bereichen fließend sind (so etwa zwischen Wahrnehmen und Denken). Die nachfolgenden Ausführungen liefern konzentrierte Zusammenfassungen der wichtigsten Veränderungen für jeden genannten Entwicklungsbereich. Sie enthalten zudem Beispiele für Meilensteine, mit denen sich Fortschritte in der Entwicklung beschreiben lassen.
2.3.1
Grobmotorik
Für Eltern sind neue motorische Fähigkeiten die sichtbarsten Veränderungen in den ersten Lebensjahren eines Kindes. Folglich wird ihnen viel Aufmerksamkeit geschenkt und große Bedeutung beigemessen (Largo 2001). Auch für wissenschaftliche Untersuchungen zur kindlichen Entwicklung spielt die Grobmotorik eine zentrale Rolle, da sie im Gegensatz zu anderen Entwicklungsbereichen, wie beispielsweise der Wahrnehmung, direkt beobachtbar und messbar ist (Thelen 2000). Zudem hat die grobmotorische Entwicklung einen großen Einfluss auf andere Entwicklungsbereiche; sie steuert die Umwelt, die dem Kind als »Lernfeld« zur Verfügung steht, und beeinflusst in hohem Maße die Erfahrungen, die ein Kind macht. Erworbene kognitive und soziale Fähigkeiten des Kindes sind oftmals eine Folge seiner motorischen Verhaltensweisen und Fähigkeiten (Gibson 1988). Mehr noch als in anderen Entwicklungsbereichen ist die motorische Entwicklung abhängig von der körperlichen und neurologischen Reife eines
Kindes und lässt sich von außen nur bedingt beeinflussen. Bereits der Entwicklungspsychologe Arnold Gesell (1933) hat diese Ansicht vertreten. Er war der Überzeugung, dass Veränderungen im Verhalten eines Kindes (also z. B. von der krabbelnden zur aufrechten Fortbewegung) auf biologisch vorbestimmte Veränderungen in den steuernden Nervenbahnen zurückzuführen sind und nicht durch Anreize der Umwelt angeregt werden können. Bernstein (1967) postulierte einige Jahre später, dass Bewegung nicht nur durch Veränderungen im Nervensystem, sondern auch durch die Gegebenheiten des Körpers, wie beispielsweise die Stellung der Beine oder die Muskelkraft, beeinflusst wird. Demnach führt das Kind solche Bewegungen aus, die sich mit seinen aktuellen körperlichen Voraussetzungen am besten vereinbaren lassen. Thelen (1995) konnte z. B. zeigen, dass der Schreitreflex von Neugeborenen nicht etwa verschwindet, weil sich neurologische Verbindungen verändern, sondern weil die Körpermasse des wachsenden Kindes, speziell das Gewicht der Beine, die Auslösung des Reflexes verhindert. Das Ehepaar Gibson fügte einen weiteren, für unser heutiges Verständnis von kindlicher Entwicklung bedeutsamen Aspekt zur Diskussion um die grobmotorische Entwicklung hinzu, der den funktionalen Charakter von Bewegungen betrifft. Sie zeigten, dass motorische Entwicklung stattfindet, weil das Kind aktiv versucht, Aufgaben und Anreize der Umgebung zu erfassen. Die Forscher interessierten sich erstmals für einen Abgleich zwischen motorischer Entwicklung und Wahrnehmung. Außerdem wurde hier wieder die Bedeutung der Umwelt, die Anreize und Aufgaben schaffen muss, in den Vordergrund gerückt. Die Explorationsfähigkeiten und -möglichkeiten wurden als bedeutsamer Entwicklungsmotor erkannt (Gibson 1988). Der Mensch kommt im Vergleich zu anderen Lebewesen relativ früh und »unfertig« auf die Welt (Prechtl 1993). Die Bewegungsqualität des Säuglings scheint in den ersten Lebenswochen zunächst wenig gerichtet und ungezielt. Bewegungen des gesamten Körpers bzw. Rumpfes überwiegen (Michaelis 2006). Die erste Entwicklungsaufgabe des Säuglings besteht darin, willentliche Kontrolle über seine Körperbewegungen – besonders über seine
25
2.3 • Entwicklungsbereiche
Kopfhaltung und Rumpfbewegungen – zu erlangen. Mit etwa zwei bis drei Monaten ist das Kind in der Lage, in verschiedenen Positionen seinen Kopf zu halten und frei zu bewegen. Die sich entwickelnde Rumpfkontrolle ermöglicht ab einem Alter von ca. vier bis neun Monaten das freie Sitzen, und schließlich ist durch Reifung, Training und die verbesserte Steuerung der Beinmuskulatur im Alter von ca. 10 bis 16 Monaten das selbstständige Stehen möglich. Hat der Säugling die jeweils basalen Fähigkeiten der Körperkontrolle erlangt, kann er sich der Fortbewegung widmen. Dabei können die einzelnen Entwicklungsschritte hin zum aufrechten Gang variieren (z. B. Touwen 1993). Kleinkinder im Alter von sechs bis elf Monaten rollen, robben, krabbeln oder bewegen sich im Sitzen vorwärts (Largo et al. 1985). Irgendwann aber ziehen sich alle Kinder (vorausgesetzt, es liegen keine Behinderungen vor) in den Stand hoch und machen mit 11 bis 18 Monaten ihre ersten eigenen Schritte (Largo 2001). Hat ein Kind das freie Gehen einmal erlernt, ist seine grundlegende grobmotorische Entwicklung abgeschlossen. Mit den ersten eigenen Schritten zeigt das Kind, dass es seinen gesamten Körper kontrollieren kann, genug Muskelkraft aufgebaut hat, seine Balance halten kann und sich im Raum zurechtfindet. Alle weiteren Fähigkeiten, wie das Treppensteigen (16 bis 30 Monate), das Rückwärtsgehen (14 bis 19 Monate) oder das Hüpfen (18 bis 30 Monate) bis hin zu sportlichen Höchstleistungen, können als »Verfeinerungen« dieser basalen Fähigkeiten bzw. als »motorische Fertigkeiten« verstanden werden (Michaelis u. Niemann 2010). In Bezug auf die Armbewegungen stellt das Werfen und Fangen eine entsprechende Verfeinerung dar. Vor allem das Fangen gelingt aber in der Regel erst vergleichsweise spät in der frühen Kindheit. Beispiele für Meilensteine im Bereich Grobmotorik (nach Pauen 2011) 5 Sich in Bauchlage mit gestreckten Armen aufstützen: Das Kind liegt auf dem Bauch. Es stützt sich mit beiden Armen gestreckt von der Unterlage ab und hebt seinen Rücken an, um den Kopf aufrecht zu halten. Schultern und Brust liegen für mehr als 3 Sekunden nicht mehr auf der Unterlage.
2
5 An Möbeln und Gegenständen entlanggehen: Das Kind steht alleine, während es sich an Möbeln oder an Gegenständen festhält. Es wandert an den Möbeln/ Gegenständen entlang (z. B. an den Stangen eines Laufgitters oder an der Tischkante) und macht dabei mindestens drei Schritte zur gleichen Seite. 5 Alleine von einer Stufe/einem Absatz springen: Das Kind springt mit beiden Beinen gleichzeitig hoch, sodass die Füße nicht mehr den Boden berühren, überwindet im Sprung einen (kleinen) Absatz oder eine Stufe und landet wieder sicher im Stand.
2.3.2
Feinmotorik
Mit Feinmotorik bezeichnet man im Allgemeinen die Entwicklung der Handmotorik sowie der Hand- und Fingerkontrolle – also die Fähigkeit, Gegenstände zu ergreifen und mit ihnen zu »hantieren«, d. h., sie zu untersuchen, zu bearbeiten oder bestimmte Handlungen mit ihnen auszuführen. Dabei bestimmt die Entwicklung des Greifens zu einem großen Teil, welche Umwelterfahrungen ein Kind machen kann und für welche Aspekte eines Gegenstandes (z. B. Größe, Temperatur, Gewicht, Form) es sich gerade besonders interessiert (Bushnell u. Boudreau 1993). Greifen und Begreifen sind eng verzahnt. Besonders augenfällig wird die Bedeutung von feinmotorischen Fähigkeiten im Alltag beim Erlernen von Kulturtechniken: selbstständiges Essen, Trinken, An- und Ausziehen, Malen, Zeichnen oder Schreiben erfordert komplexe feinmotorische Handlungsabläufe (Holle 2000; Pauen 2011). In den ersten Lebenstagen und -wochen zeigen Neugeborene einen sogenannten Greifreflex. Wenn man die Handinnenfläche eines neugeborenen Babys berührt, greift es zu. Diese Bewegung ist aber nicht willensgesteuert, sondern läuft reflexhaft ab (Flehmig 2007). Das Loslassen des Gegenstandes fällt dem Baby daher unter Umständen schwer, es kann die Bewegung nur bedingt steuern. Dieses
26
2
Kapitel 2 • Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren
Verhaltensmuster verliert sich aber nach einigen Wochen und wird vom bewussten, gezielten Greifen abgelöst (Michaelis u. Niemann 2010). Die Entwicklung des Greifens ist ein biologisch bestimmter Reifungsprozess, der von außen nur wenig beeinflussbar ist und von einem Großteil der Kinder in genau derselben Abfolge durchlaufen wird (Largo 2001). Als Vorform des Greifens kann das Spiel mit den eigenen Händen betrachtet werden. Insbesondere in den ersten zwei Lebensmonaten nehmen Säuglinge ihre Hände in den Mund, betrachten sie interessiert und aufmerksam oder betasten die eigenen Finger (Largo 2001). Bei diesen Erkundungen der eigenen Hände und Finger kann das Baby wichtige Erfahrungen für das spätere gezielte Greifen sammeln. Ab dem dritten Lebensmonat beginnen Babys, ihre Armbewegungen auf Objekte in Reichweite auszurichten. Erste Versuche, Gegenstände zu erreichen bzw. danach zu greifen, lassen sich schon in diesem Alter beobachten (Thelen et al. 1993; von Hofsten 1984). Gezielte Greifhandlungen zeigen Babys ab dem vierten bis fünften Lebensmonat (Largo 2001; Wilkening u. Krist 2002). Im Laufe des ersten Lebensjahres wird das Greifen dann immer präziser und zielgerichteter. Zunächst greift das Kleinkind mit der ganzen Hand, wobei die Greifhandlung wenig auf die Größe des zu ergreifenden Gegenstandes abgestimmt ist. Bereits zwischen dem fünften und neunten Monat beginnt das Baby jedoch, seine Greifhandlung an die Objektgröße anzupassen (Butterworth et al. 1997). Wie gut dies gelingt, ist dabei u. a. abhängig von der Art des Objektes (Geerts et al. 2003). Wenn ein Gegenstand sich plötzlich bewegt, sind Kinder ab dem achten bis neunten Lebensmonat in der Lage, ihre Greifhandlung an diese neue Information anzupassen (Ashmead et al. 1993). Nachdem ein Baby im ersten halben Lebensjahr seine Greifhandlungen immer mit der gesamten Hand ausgeführt hat, ist es mit sieben bis acht Monaten in der Lage, den Daumen unabhängig von den anderen Fingern zu bewegen und ihn, wie bei einer Zange, den anderen Fingern gegenüberzustellen (Largo et al. 1985). Einige Monate später, ca. ab dem neunten bis zehnten Lebensmonat, hat sich die Hand- und Fingerkontrolle so weit entwickelt, dass
die einzelnen Finger unabhängig voneinander gesteuert werden können. Daumen und Zeigefinger oder Mittelfinger werden jetzt wie bei einer Pinzette zusammengeführt, sodass auch sehr kleine Teile aufgelesen werden können (Butterworth et al. 1997). Ebenso bedeutsam ist das Erlernen der Koordination der beiden Hände (z. B. Corbetta u. Thelen 1996). Erst wenn die Bewegungen der Hände aufeinander abgestimmt sind und der Säugling auf diese Weise einen Gegenstand von einer Hand in die andere geben kann, hat er die Möglichkeit, Objekte von allen Seiten zu betrachten (Pauen 2011). Außerdem erfordert das sichere Aufnehmen von größeren Objekten ein Greifen mit beiden Händen (Fagard 2000). Auch für komplexere feinmotorische Handlungen, die in den folgenden Monaten und Jahren erlernt werden, wie z. B. das Umgehen mit Löffeln, Stiften, Knöpfen oder Reißverschlüssen, ist diese Fähigkeit zur Koordination der beiden Hände besonders bedeutsam. Mit dem manuellen Erkunden von Gegenständen erlangt das Kleinkind außerdem wichtiges Wissen über Objekte in seiner Umwelt (Largo 2001). Beispiele für Meilensteine im Bereich Feinmotorik (nach Pauen 2011) 5 Pinzettengriff : Das Kind hält kleine Objekte (z. B. Perlen, Krümel, Haare) zwischen Daumen und Zeigefinger oder Mittelfinger einer Hand. Es kann die Objekte auf diese Weise einzeln von einer Unterlage aufheben. 5 Gegenstände von einer Hand in die andere geben: Das Kind gibt einen mittelgroßen Gegenstand (z. B. einen Bauklotz), den es vorher ergriffen hat, von einer Hand in die andere, ohne dass er herunterfällt. Erst wenn die zweite Hand den Gegenstand sicher erfasst hat, lässt die erste Hand los. 5 Gezielt Linien und Formen zeichnen: Das Kind hält einen Stift in richtiger Haltung und kann damit gezielt mindestens drei unterschiedliche Linien und Formen zeichnen (z. B. senkrechte oder waagerechte Linien von mindestens 2,5 cm Länge, Kringel, Kreise).
2.3 • Entwicklungsbereiche
2.3.3
Wahrnehmung
Die Grundlage jeder Entwicklung ist die Wahrnehmung. So ist eine sichere Fortbewegung oder das gezielte Manipulieren eines Gegenstandes gar nicht denkbar, ohne dass das Kind seine Umwelt zunächst differenziert wahrnimmt. Nur durch unsere Sinnesorgane erhalten wir Informationen über unsere Umgebung und können die Effekte unseres eigenen Handelns registrieren. Nicht zuletzt aus diesem Grund kommt schon das Neugeborene mit einem gut ausgebildeten Wahrnehmungsapparat auf die Welt (Wilkening u. Krist 2002). Es kann differenziert fühlen, riechen, schmecken und hören. Nur sein Sehsinn ist noch sehr unreif. Sowohl die Sehschärfe als auch die Farb- und Kontrastwahrnehmung müssen sich länger als ein halbes Jahr entwickeln, bevor die visuelle Wahrnehmung des Säuglings annähernd der von Erwachsenen gleicht. Auch die Augenkoordination und das räumliche Sehvermögen verändern sich maßgeblich in dieser Zeit. So muss das Baby zunächst lernen, Gegenstände mit beiden Augen richtig zu fixieren und den Blick willentlich wieder abzuwenden, sprich: sein Blickverhalten zu kontrollieren. Im nächsten Schritt entwickelt es die Fähigkeit, größere Bilder oder Gegenstände ganz gezielt mit den Augen zu untersuchen, indem es unterschiedliche Motive nacheinander fixiert. Auch wenn es schon als Neugeborenes in der Lage ist, bewegten Gegenständen mit den Augen zu folgen, sind seine Augenbewegungen zunächst sehr ruckartig und werden erst im Verlauf der ersten Lebenswochen geschmeidiger. Verschwindet der beobachtete Gegenstand auf seinem Bewegungspfad kurzzeitig hinter einer Verdeckung, so scheint er für das Baby im ersten halben Jahr nicht weiter zu existieren. Es wendet den Blick ab. Erst mit vier Monaten verweilt sein Blick an dem Ort, an dem der Gegenstand verschwunden ist, oder springt auf die andere Seite der Verdeckung, um das Objekt dort wieder zu erwarten (Johnson et al. 1991). Dieses Warten ist jedoch nicht unbedingt gleichzusetzen mit dem aktiven Erinnern des Gegenstandes (»recall«). So dauert es noch bis zum Ende des ersten Lebensjahres, bis das Kind aktiv nach einem Objekt sucht, das zuvor komplett verdeckt wurde (Piaget 1936/1963).
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Auch die Koordination des Sehens mit dem Hören macht in dieser Zeit wichtige Fortschritte. Zwar lässt sich schon unmittelbar nach der Geburt beobachten, dass das Kind seinen Kopf automatisch in die Richtung wendet, aus der es ein Geräusch gehört hat, doch ist diese Reaktion zunächst nur vom Stammhirn gesteuert. Erst deutlich später ist das Kind in der Lage, sich auch nach Geräuschen, die es hinter seinem Rücken hört, umzudrehen, und zeigt damit, dass seine Auge-Ohr-Koordination nun unter Kontrolle des Großhirns abläuft. An diesem Beispiel (wie auch am Suchverhalten) wird deutlich, dass die Verhaltensweisen, an denen wir Fortschritte der Wahrnehmungsentwicklung festmachen, in der Regel auch an bestimmte motorische Voraussetzungen geknüpft sind (z. B. greifen bzw. sich umdrehen zu können). Gleichzeitig sind sie eng verknüpft mit geistigen Leistungen, wie etwa der Entwicklung des Gedächtnisses und der Vorstellung vom Raum (Pauen 2011). Die wichtigsten Meilensteine der Sinnesentwicklung liegen im ersten Lebensjahr. Auch später differenzieren sich die Wahrnehmungsfähigkeiten weiter aus, allerdings spielt dann die Reifung eine eher untergeordnete Rolle, und sogenannte Top-down-Prozesse des Gehirns werden immer bedeutsamer. Die Wahrnehmung wird nun in starkem Maße von Vorerfahrungen und somit von Gedächtnisleistungen sowie Denkprozessen geprägt, die steuern, welchen Reizen sich das Kind zuwendet und wie es die mit den Sinnesorganen aufgenommenen Informationen verarbeitet. Beispiele für Meilensteine im Bereich Wahrnehmung (nach Pauen 2011) 5 Bewegten Gegenständen mit dem Blick folgen: Das Kind verfolgt ein Objekt, das sich innerhalb seines Sichtfeldes langsam bewegt, kontinuierlich mit den Augen (a) von einer zur anderen Seite, (b) von der Mitte zur Seite und (c) von oben nach unten bzw. umgekehrt. Das Objekt macht dabei kein Geräusch. 5 Größere Bilder mit dem Blick erforschen: Das Kind konzentriert sich mindestens 6 Sekunden auf ein größeres Bild (mindestens 30 × 30 cm), das mehrere kontrastrei-
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Kapitel 2 • Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren
che Motive zeigt. Das Kind lässt die Augen über große Teile des Bildes wandern und schaut sich mindestens drei verschiedene Motive nacheinander gezielt an. 5 Sich nach einer Geräuschquelle hinter dem Rücken richten: Wenn das Kind ein Geräusch hinter seinem Rücken wahrnimmt, dreht es seinen Kopf/Körper um 180 Grad, um die Geräuschquelle auch sehen zu können.
2.3.4
Denken
Ist das Kind einmal in der Lage, sich Gegenstände oder Ereignisse im Geiste vorzustellen, beginnt eine besonders intensive Phase der Denkentwicklung. Noch vor ca. 50 Jahren war man der Auffassung, dass Denken ohne Sprache gar nicht möglich sei. Dann dominierten Theorien, die davon ausgingen, dass das Denken von Säuglingen durch eine Verinnerlichung von Handlungen zustande kommt (Piaget 1936/1963). Heute ist unsere Sichtweise wesentlich differenzierter. So wissen wir, dass bei der Vorstellung eines Gegenstandes, eines Ereignisses oder einer Handlung ähnliche Hirnareale aktiv sind wie bei der ursprünglichen Wahrnehmung oder Ausführung selbst (Squire 2004). Gleichzeitig spricht vieles dafür, dass es neben angeborenen Wahrnehmungsstrukturen und motorischen Mustern auch angeborenes Kernwissen gibt (Spelke 2000) und dass dieses Kernwissen »domänenspezifisch« organisiert ist. Damit ist gemeint, dass unser geistiger Apparat möglicherweise von Geburt an darauf vorbereitet ist, Informationen in ganz bestimmter Weise zu verarbeiten, sodass Babys es z. B. leicht haben, Objekte in die groben Kategorien »belebt« und »unbelebt« einzuteilen (Rakinson u. Poulin-Dubois 2001) oder bei der Wahrnehmung von Ereignissen Ursachen von Wirkungen zu unterscheiden (Pauen u. Träuble 2009). Möglicherweise haben sie von vornherein unterschiedliche Erwartungen in Bezug auf das Verhalten von Lebewesen und unbelebten Objekten, die ihren weiteren Wissenserwerb prägen. In jedem Fall scheinen sie innerhalb des ersten Lebensjahres bereits einiges über physika-
lische Grundgesetze (z. B. das Gesetz der Trägheit oder der Schwerkraft) zu wissen und dieses Wissen auch anzuwenden. Weil es nur sehr schwer möglich ist, entsprechendes Wissen an einfachen Handlungen im Alltag zu erkennen, liegen bislang noch keine Meilensteinbeschreibungen für den Aufbau von Wissen in der frühen Kindheit vor. Eher ist es möglich, auf abstrakter Ebene Verhaltensweisen zu definieren, die Rückschlüsse auf zugrunde liegende Denkfähigkeiten zulassen. So zeigt sich z. B. der Beginn des symbolischen Denkens daran, dass Kinder anfangen, gezielt bestimmte Körpergesten einzusetzen, um sich mit anderen zu verständigen. Wie gut sie durch Beobachtung lernen und das so erworbene Wissen selbstständig einsetzen, erkennt man an Funktionshandlungen, bei denen das Baby mit Alltagsgegenständen Bewegungen nachahmt, die für den Umgang mit dem betreffenden Objekt passend sind (z. B. sich mit einer Bürste kämmen), obwohl es diese Handlung nicht unmittelbar zuvor bei jemand anderem gesehen hat. Im nächsten Schritt lassen sich dann »Als-ob-Spiele« beobachten, bei denen Gegenständen im Spiel eine Bedeutung zugesprochen wird, die nicht zu ihrem Aussehen passt (z. B. wenn das Kind mit Stöckchen »Ritter« spielt). Erste Versuche, Gegenstände räumlich zu ordnen, erkennt man daran, dass das Kind von vornherein weiß, wo sich bestimmte Gegenstände befinden, und z. B. zielsicher an die Küchenschublade geht, um sich einen Keks zu holen. Ist das Kind schon etwas älter (zwei bis drei Jahre), nutzt es räumliche Strategien auch, um Dinge zu sortieren. Jetzt kann es Spielsachen in die richtigen Boxen oder Schubladen stecken. Dieses Verhalten bringt zum Ausdruck, dass das Kind bereits so etwas wie »Schubladen im Kopf« hat, in denen es seine Erfahrungen bewusst ordnen kann. Durch die zunehmend bessere Vorstellungskraft gelingt es schließlich, sich mehrere Schritte einer Handlung zu merken und sie im Geiste selbstständig zu kombinieren. Im Alltag zeigt sich das an der gezielten Verkettung von Teilhandlungen. Kann das Kind Objekte im Hinblick auf ihre Funktionseigenschaften repräsentieren, wird es zudem ein Verhalten zeigen, das auf einen kreativen Einsatz von Hilfsmitteln schließen lässt. Ein weiteres Zeichen für die zunehmende Flexibilität im
2.3 • Entwicklungsbereiche
Denken besteht darin, dass das Kind – wenn sein Versuch der Lösung eines Problems nicht zum Erfolg führt – über Alternativen nachdenkt und mehr als einen Lösungsversuch ausprobiert. Beispiele für Meilensteine im Bereich Denken (nach Pauen 2011) 5 Funktionshandlungen ausführen: Das Kind zeigt, dass es weiß, was man mit bestimmten Objekten tut. Auch ohne vorherige Demonstration verwendet es reale Gegenstände (z. B. eine Bürste) oder Modelle (z. B. ein Spielzeugauto), um ein für das Objekt typisches Verhalten damit auszuführen. 5 Beginnendes Sortierverhalten: Das Kind legt Gegenstände, die zu verschiedenen Kategorien gehören (z. B. Murmeln und Bauklötze), in getrennte Behälter. Die Behälter sind bereits mit Exemplaren der jeweiligen Kategorie befüllt. Es werden mindestens zwei neue Objekte jeder Art vom Kind richtig einsortiert. 5 Kreativer Einsatz von Hilfsmitteln: Um sein Ziel zu erreichen, sucht das Kind ein Hilfsmittel, das es vorher noch nicht in dieser Funktion gesehen hat (z. B. einen Becher zum Graben im Garten). Man sieht, dass es nachdenkt, welches Werkzeug nützlich sein könnte, bevor es die Handlung umsetzt.
2.3.5
Sprache
Eine besonders beeindruckende Errungenschaft in der kindlichen Entwicklung ist der Erwerb der Sprache, die man auch als lautes Denken bezeichnet. Sprache ist eine speziesspezifische Fähigkeit, die nur von Menschen beherrscht wird. Versuche, Primaten die menschliche Sprache zu lehren, scheiterten (Allen u. Gardner 1969; Savage-Rumbaugh et al. 1988). Sprache ist ein bedeutsames Kommunikationssystem, in dem Wörter und ihre schriftlichen Symbolformen sich zu verschiedenen Botschaften zusammensetzen. Sprache ermöglicht es uns, Ge-
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danken, Gefühle und Intentionen sowie Objekte oder Ereignisse, die unserer unmittelbaren Wahrnehmung nicht zugänglich sind, in einer kulturell angemessenen Art und Weise auszudrücken. Sprache ist somit eine wichtige Grundlage der zwischenmenschlichen Interaktionen (Haslett 1997; Schaffer 1974). Dies zeigt, wie sehr auch die sprachliche Entwicklung mit weiteren Entwicklungsbereichen verbunden ist, so z. B. mit der kognitiven sowie der sozial-emotionalen Entwicklung. Kommunikation ist ein bidirektionaler Prozess: Das Individuum sendet Botschaften an andere und empfängt Botschaften von ihnen. Menschen müssen somit in der Lage sein, Sprache sowohl zu verstehen (rezeptive Sprache) als auch zu produzieren (produktive Sprache). Die rezeptive Sprache ist eine wesentliche Voraussetzung für die produktive Sprache, wobei dies umgekehrt nicht unbedingt der Fall ist. Die beiden Teilfähigkeiten sind in unterschiedlichen Arealen des Gehirns lokalisiert. Die Forschung zur sprachlichen Entwicklung sowie die Meilensteine des Spracherwerbs fokussieren auf die produktive Sprache, da diese beobachtbar und erforschbar ist. Wie wir heute wissen, beginnt Spracherwerb bereits sehr früh (vgl. auch 7 Kap. 5). Schon im Uterus ist der Fötus akustischen Reizen ausgesetzt. DeCasper u. Fifer (1980) zeigten, dass Neugeborene die Stimme ihrer eigenen Mutter gegenüber der Stimme einer Fremden bevorzugen. Weitere Studien belegen die Präferenz für die Muttersprache gegenüber einer Fremdsprache (z. B. Moon et al. 1993). Lautunterschiede, die Neugeborene und auch noch sechs Monate alte Säuglinge wahrnehmen können, sind ab einem Alter von ca. zwölf Monaten nicht mehr wahrnehmbar, sofern sie nicht in der Muttersprache und somit in der Alltagssprache vorkommen (z. B. Kuhl et al. 2008; Warneken u. Tomasello 2006). Erste vorsprachliche Kommunikationen manifestieren sich durch das Schreien des Kindes. Es wird zwischen dem allerersten Schrei, dem Geburtsschrei, dem Schmerzensschrei, dem Hungerschrei und dem freudigen Schrei unterschieden. Diese Arten des Schreiens sind klaren emotionalen Zuständen zuzuordnen (z. B. Lewis 1936; MacWhinney 1998). Bald beginnt das Kind zu lautieren. Zunächst probiert es erste Laute aus, die es bald auch wie-
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Kapitel 2 • Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren
derholt produziert. Es folgen Lautkombinationen, Verdoppelungen sowie Kombinationen von Silben (z. B. Pauen 2011). Schon mit diesen Fähigkeiten kann es Zwiesprache mit seinen Bezugspersonen halten. Noch bevor das Kind selbst sprechen kann, versteht es die Bedeutung der Wörter und Sätze der Erwachsenen. Das erste Wort, für die Eltern einer der wichtigsten Meilensteine der kindlichen Entwicklung, spricht das Kind gegen Ende des ersten Lebensjahres. Den Einwortsätzen folgen Zweiwortsätze, dann Dreiwortsätze und dann schon komplexe Satzgebilde. Zu diesem Zeitpunkt beginnt auch der Erwerb der produktiven Grammatik. (Einen guten Überblick über die Sprachentwicklung geben Grimm u. Weinert 2002). Parallel dazu entwickelt sich der Wortschatz des Kindes: pro Tag ca. fünf neue Wörter. Mit ca. zwei Jahren findet die sogenannte Wortschatzexplosion statt: Die 50-Wörter-Grenze wird überschritten, und der Erwerb von neuen Worten steigert sich rapide. Einige Kinder zeigen diesen raschen und explosiven Anstieg deutlicher und schneller als andere (z. B. Bates u. Carnevale 1993; Bloom 1993). Das Erreichen der 50-Wörter-Grenze hängt laut Mervis u. Bertrand (1995) stark mit der kognitiven Entwicklung des Kindes zusammen. Welche und wie viele Wörter gelernt werden, hängt nach dem heutigen Wissensstand stark von der Häufigkeit und der Art und Weise ab, in der die Bezugspersonen des Kindes mit ihm interagieren und sprechen. Hart u. Risley (1995) konnten Familien, die viel mit ihren Säuglingen und Kleinkindern sprachen, von Familien, die wenig mit ihren Säuglingen und Kleinkindern sprachen, unterscheiden. Die »Vielsprecher« wiesen im Gegensatz zu den »Wenigsprechern« einen größeren Wortschatz auf. Generell gilt die Regel, dass Worte für konkrete Objekte, die im Alltag häufig vorkommen, eher gelernt werden als Worte für Objekte, die eher abstrakter Natur oder für das Kind wenig bedeutsam sind. Dann beginnt das Kind auch grammatikalische Regeln zu berücksichtigen und zu gebrauchen. Es unterscheidet zwischen Singular und Plural sowie zwischen verschiedenen Zeitformen. Im Verlauf kann es zu Übergeneralisierungen der erlernten grammatikalischen Regeln kommen. So sagt das Kind z. B. »Ich habe gegesst« anstatt »Ich habe ge-
gessen«. Laut Michaelis (2006) ist es jedoch nicht notwendig, das Kind zu korrigieren. Durch das Hören der korrekten gesprochenen Sprache in seinem Umfeld korrigiere es sich selbst. Häufig wird ein u-förmiger Verlauf festgestellt: Zuerst erfolgt eine korrekte Anwendung der grammatikalischen Regel, danach eine Übergeneralisierung und dann wieder die korrekte Form (Marcus et al. 1992). Dieses Überanwenden der grammatikalischen Regeln zeigt, wie stark kognitive und sprachliche Entwicklung miteinander verwoben sind. Das Kind scheint sich unbewusst Gedanken über die Regeln zu machen, nach denen Sprache gebildet wird (Pauen 2011). Ein weiterer wesentlicher Schritt beim Erwerb der Sprache ist die bewusste Unterscheidung und Anwendung von »ich« und »du« (Michaelis 2006). Der Wortschatz sowie der Erwerb von grammatikalischen Regeln nehmen nach dem dritten Lebensjahr weiter kontinuierlich zu. Beispiele für Meilensteine im Bereich Sprache (nach Pauen 2011) 5 Verdoppelung von Silben: Das Kind übt, bestimmte Silben zu wiederholen (z. B. »ba-ba«, »ma-ma«, »po-po«). Die gleiche Silbenverdoppelung wird wiederholt produziert. Ein Beobachtungsdatum pro Silbenverdoppelung lässt sich notieren. 5 Erste Worte sprechen: Das Kind benutzt eine bestimmte Lautfolge, um etwas zu benennen (z. B.»da-da« für »Spazierengehen«). Die gleiche Lautfolge wird in verschiedenen Situationen mit ähnlicher Bedeutung verwendet. Ein Beobachtungsdatum pro Lautfolge lässt sich notieren. 5 Drei- und Mehrwortsätze bilden: Das Kind bildet einfache Sätze, die aus mehr als zwei Worten bestehen (z. B. »Papa Auto fahren«, »Mama Bonbon geben«) und eine sinnvolle Bedeutungseinheit darstellen. Ein Beobachtungsdatum pro Mehrwortsatz lässt sich notieren.
2.3 • Entwicklungsbereiche
2.3.6
Soziale Beziehungen
Soziale Beziehungen sind für eine gesunde frühkindliche Entwicklung essenziell. Menschenkinder brauchen Ansprache und Zuwendung, um überleben zu können. Sie müssen aber auch auf die Signale anderer Menschen reagieren können, damit ein guter Austausch möglich ist. Soziale Beziehungen sind dabei nicht nur für die Entwicklung der Selbstregulation und der Gefühle bedeutsam, die in den nachfolgenden Abschnitten noch ausführlich besprochen werden, sondern auch für das Lernen von Sprache und das Lernen der Regeln des Zusammenlebens. Schon das Neugeborene verfügt dabei über Strategien, Nähe und Distanz zu regulieren. Es kann auf Kontaktangebote mit Zuwendung oder Widerstand reagieren und eigene Versuche der Kontaktaufnahme starten. Zudem ist es mit der angeborenen Fähigkeit ausgestattet, Gesichter besonders zu beachten und mimische Gesten eines Interaktionspartners zu imitieren (Meltzoff u. Moore 2000). Bereits mit fünf bis neun Monaten werden auch andere Körpergesten oder Laute nachgeahmt. In diesem Wechselspiel von Vormachen und Nachmachen lernt das Kind, Dialogmuster zu beachten. Später werden in diese Art des Austausches auch Objekte einbezogen, die das Kind seinem Gegenüber anbietet oder von ihm einfordert. Durch diese Einbeziehung der Umwelt in die Interaktion wird es zudem möglich, gemeinsame Bezüge herzustellen. Das Kind lernt, der Zeigegeste einer anderen Person zu folgen und selbst die Zeigegeste zu verwenden. Mit etwa neun bis zwölf Monaten kann es dann nicht nur auf einen Gegenstand schauen, der ihm gezeigt wurde oder auf den es selbst zeigt, sondern es ist sich dabei auch bewusst, dass auch die andere Person denselben Gegenstand meint (Striano u. Bertin 2005). Man spricht von »geteilter Aufmerksamkeit« oder »joint attention« (Carpenter et al. 1998). Im Umgang mit anderen Personen lernt das Baby, zwischen »fremd« und »vertraut« zu differenzieren (Largo 2001). Es zeigt Zurückhaltung gegenüber Fremden oder Widerstand gegen die Trennung von einer Bezugsperson. Wenn es neuen Situationen ausgesetzt ist, hilft der Blick zur vertrauten Person, die Lage einzuschätzen. Das gilt
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auch für die Frage, ob das Kind ein bestimmtes Verhalten, das es gerade ausführen wollte, ausführen darf. Im Blick und in der Haltung wird erstmals erkennbar, dass das Kind sich sozialer Regeln bewusst wird und Normen, die ihm von wichtigen Bezugspersonen vermittelt werden, beachtet. Im Alltag zeigt sich dies beim Kind daran, dass es beginnt, die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen und z. B. mit einem anderen teilt, wenn es sieht, dass diese Person gerne etwas von dem hätte, was es selbst besitzt. Auch die Fähigkeit, Aufforderungen nachzukommen, macht deutlich, dass das Kind sich zunehmend der Tatsache bewusst wird, dass es in einem sozialen Gefüge aufwächst und nicht nur machen kann, was es will. Bereits ab dem zweiten Lebensjahr kann man sogar beobachten, dass Kleinkinder versuchen, anderen Menschen ganz gezielt zu helfen, z. B. bei Alltagshandlungen (Warneken u. Tomasello 2006). Mit den wachsenden Kompetenzen zur Kooperation im Alltag verändert sich auch das Spielverhalten. Dominiert am Anfang vor allem das assoziative Spiel, bei dem Kinder mehr nebeneinander als miteinander spielen, aber schon reges Interesse an den Aktivitäten des Spielpartners erkennen lassen, so wird schon bald der Grad an Kooperation erhöht. Das gilt z. B. für Bewegungsspiele (wie etwa Fangen oder Verstecken), bei denen alle Mitspieler sich an gemeinsame Regeln halten, oder für Konstruktionsspiele, bei denen das Kind zusammen mit anderen etwas aufbaut und sich zu diesem Zweck über Spielziele und -aufgaben abspricht (Largo 2001). Sind die sprachlichen Kompetenzen schon recht weit entwickelt, beginnt die Phase des Rollenspiels, bei dem sich das Kind in eine andere Person hineinversetzt und aus deren Perspektive spricht und handelt. Gegen Ende des dritten Lebensjahres lassen sich dann bei einigen Kindern erste Ansätze zum Regelspiel beobachten. Anders als Bewegungsspiele finden solche Spiele normalerweise am Tisch statt. Das Regelwerk, das alle beachten müssen, ist nun deutlich komplexer. Es bezieht sich sowohl auf den Umgang mit dem Spielmaterial als auch auf den Umgang mit den Mitspielern (Pauen 2011). Dies erfordert neben sprachlichen und sozialen Fähigkeiten auch Aufmerksamkeit und Konzentration.
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Kapitel 2 • Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren
Beispiele für Meilensteine im Bereich soziale Beziehungen (nach Pauen 2011)
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5 Dialogmuster beachten: Das Kind verhält sich ruhig bzw. hört zu, während sein Gegenüber etwas tut bzw. spricht. Es wird erst dann selbst aktiv, wenn sein Gegenüber eine Pause macht. Es beendet seine Aktivität, um zu sehen, wie der andere reagiert. Dieser Wechsel findet mindestens dreimal hintereinander statt. 5 Geteilte Aufmerksamkeit: Das Kind kann sich zusammen mit einer anderen Person auf einen entfernt liegenden Gegenstand beziehen. Es wechselt mit seinem Blick mehrmals schnell zwischen dem Gesicht seines Kommunikationspartners und dem Objekt hin und her. 5 Rollenspiel: Das Kind versetzt sich in eine Rolle (z. B. Verkäufer, Doktor, Kapitän) und spielt länger als 3 Minuten, diese Person zu sein. Es können Verkleidungen oder Spielfiguren zum Einsatz kommen. Mögliche Spielpartner sind in der Regel ältere Kinder oder Erwachsene.
2.3.7
Selbstregulation
Die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, gehört zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben in den ersten Lebensjahren, da sie in engem Zusammenhang mit der allgemeinen Anpassungsleistung des Kleinkindes an seine Umwelt steht (Lewis et al. 2004). Ein gut reguliertes Kind ist entspannter, kann Anforderungen besser meistern, sich offener mit seiner Umwelt auseinandersetzen und einfacher gute Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen aufbauen. So scheint die Schulreife stark abhängig von den selbstregulativen Kompetenzen eines Kindes zu sein (Smith-Donald et al. 2007). Selbstregulation wird als umfassendes Konstrukt kindlicher Fähigkeiten verstanden, das aus verschiedenen Komponenten besteht. Selbstregulation umfasst einerseits die Regulation von Körperfunktionen (Schlaf, Nahrung, Ausscheidungen), andererseits aber auch die Kontrolle von Emotio-
nen und Handlungsimpulsen (Inhibierung von unerwünschtem und Aktivierung von erwünschtem Verhalten) sowie den Bereich der Aufmerksamkeitskontrolle (Aufmerksamkeitslenkung, -fokussierung und -aufrechterhaltung) (Smith-Donald et al. 2007), wobei der zuletzt genannte Bereich starke Überschneidungen mit der kognitiven Entwicklung aufweist. Die Entwicklung der Selbstregulation ist abhängig von genetischen Dispositionen (Eisenberg et al. 2010; Goldsmith et al. 2008), dem Temperament des Kindes (Rothbart u. Bates 2006) sowie den Regulationshilfen der Bezugspersonen (Kopp 1982). In den ersten Lebenswochen und -monaten ist ein Säugling auf die Fremdregulierung durch seine Bezugspersonen angewiesen (Spangler et al. 1994), da er nicht in der Lage ist, Erregung selbstständig zu regulieren. Durch sensitive Reaktionen der Bezugspersonen auf die kindlichen Bedürfnisäußerungen (»sensitivity«), das Anbieten von altersadäquaten Problemlösungsvorschlägen in Stresssituationen (»scaffolding«) und den verbalen Austausch über mentale Zustände zwischen Bezugsperson und Kleinkind (»mind-mindedness«) wird der Säugling intuitiv dazu angeleitet, nach und nach selbstregulatorische Kompetenzen zu entwickeln und damit unabhängiger von den Bezugspersonen zu werden (Harrist u. Waugh 2002). Die Entwicklung von externaler (durch die Bezugspersonen) hin zu internaler (durch das Kind selbst) Regulation findet über die gesamte frühe Kindheit hinweg statt (Eisenberg et al. 2010). Dabei lassen sich große interindividuelle Unterschiede in der Entwicklung von Selbstregulationskompetenzen feststellen. Die Regulierung von Körperfunktionen steht besonders in den ersten Lebenswochen im Vordergrund und kann zu einer großen Herausforderung für Eltern und ihre Säuglinge werden. Die Ausbildung eines gesunden Schlaf-Wach-Rhythmus (7 Kap. 14) sowie die gesunde Regulierung der eigenen Nahrungsaufnahme (7 Kap. 15) werden an anderer Stelle in diesem Handbuch ausführlich erläutert. Ebenfalls in den Bereich der Körperfunktionen fällt die Regulation der eigenen Ausscheidungen. Abhängig von körperlichen Reifungsvorgängen beginnt ein Kleinkind ab dem dritten Lebensjahr, die (automatische) Entleerung der Blase
2.3 • Entwicklungsbereiche
und des Darms wahrzunehmen. Ist es außerdem in der Lage zu spüren, das Blase bzw. Darm gefüllt sind und entleert werden müssen, sind die körperlichen Voraussetzungen erfüllt, die eigenen Ausscheidungen kontrollieren zu können. Jetzt kann das Kind lernen, diesen Drang anzuhalten, seine Tätigkeit zu unterbrechen, die Toilette aufzusuchen und sich ggf. Hilfe zu organisieren, bevor es dem körperlichen Bedürfnis nachgibt (Pauen 2011). Emotionsregulation bezeichnet hingegen den Umgang mit und die Veränderung von emotionalem Empfinden und Ausdruck (Eisenberg et al. 2010), also die Fähigkeit, emotionale Erregungszustände selbstständig zu bewältigen und sich nach Stress oder Aufregung eigenständig wieder zu beruhigen. Anzeichen von emotionaler Selbstregulation im kindlichen Verhalten können vermehrtes Nuckeln oder Saugen, das Schmusen mit einem vertrauten Objekt oder das Herumtragen dieses Objekts, das Befingern der eigenen Kleidung oder die aktive Suche nach Körperkontakt zu einer vertrauten Person sein (Bridges u. Grolnick 1995; Stifter u. Braungart 1995). Eine besondere Rolle in der Entwicklung der Regulierung der eigenen Emotionen spielt der Umgang mit Ärger und Wut, der sich im sogenannten Trotzverhalten äußert (7 Kap. 17). Ein weiterer Aspekt der Selbstregulation bezieht sich auf den Bereich der Verhaltens- und Aufmerksamkeitsregulation, bei der es um die eigentliche Verhaltenskontrolle geht, nämlich um die Fähigkeit, unerwünschtes Verhalten zu unterlassen und erwünschtes Verhalten zu aktivieren. Erst relativ spät ist ein Kleinkind in der Lage, Handlungen bewusst zu unterdrücken bzw. abzubrechen, die nicht erwünscht sind, oder eigene Wünsche und Bedürfnisse zu hemmen. »Effortful control« nennt sich die Fähigkeit, einen dominanten Handlungsimpuls zu hemmen und einen weniger dominanten Impuls zu aktivieren (Rothbart u. Bates 2006). Dies ist beispielsweise bei Untersuchungen zum Belohnungsaufschub der Fall, bei denen Kinder vor die Wahl gestellt werden, eine kleine Belohnung sofort oder eine größere Belohnung einige Zeit später zu erhalten. Erst im Laufe des dritten Lebensjahres lassen sich Kinder darauf ein, den Belohnungsaufschub in Kauf zu nehmen (Kochanska et al. 2000). Ein weiteres aktuell diskutiertes Konzept, welches verschiedene selbstregulative Komponenten integ-
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riert, wird als »executive functioning« bezeichnet. Die exekutiven Funktionen umfassen Prozesse der Inhibitionskontrolle, des Arbeitsgedächtnisses und der Aufmerksamkeitslenkung, welche – als Komponenten höherer kognitiver Prozesse – als Voraussetzungen für zielgerichtet gesteuertes Verhalten gelten (Garon et al. 2008; Hughes 2002). »Executive functioning« variiert interindividuell sehr stark, hängt deutlich mit anderen Aspekten der sozial-kognitiven Entwicklung zusammen und scheint ein vielversprechendes Konzept zu sein, um die Wirkung selbstregulativer Prozesse weiter zu untersuchen (Bernier et al. 2010). Auf physiologischer Ebene lassen sich Regulationsprozesse über das Stresshormon Cortisol, welches über den Speichel erfasst werden kann, untersuchen. Cortisol wird in Stresssituationen ausgeschüttet und dient zunächst dazu, die Leistungsbereitschaft des Körpers zu erhöhen. Sinkt der Cortisolspiegel eines Kleinkindes eine gewisse Zeit nach einem stressigen Ereignis jedoch nicht wieder, gelingt es diesem Kind auf körperlicher Ebene offensichtlich nur unzureichend, sein Erregungsniveau wieder zu senken. Beispiele für Meilensteine im Bereich Selbstregulation (nach Pauen 2011) 5 Nachts durchschlafen: Das Kind schläft mindestens 6 Stunden hintereinander durch. 5 Auf das Töpfchen oder die Toilette gehen wollen: Das Kind signalisiert, dass es aufs Klo muss, bevor die Hose voll ist, oder es folgt bereitwillig einem Erwachsenen, der einen Gang zur Toilette/zum Topf anbietet. 5 Impulse auf Verlangen anderer kontrollieren: Das Kind unterlässt eine Aktivität, weil es von anderen mit Nachdruck und Bestimmtheit dazu aufgefordert wird. Entweder zeigt sich das unerwünschte Verhalten in eindeutig schwächerer Ausprägung, oder es wird für mindestens 6 Sekunden komplett unterlassen.
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Kapitel 2 • Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren
2.3.8
Gefühle
Über die gesamte Lebensspanne des Menschen hinweg sind Gefühle von großer Bedeutung. Das emotionale Lernen beginnt bereits in den ersten Lebenstagen und schreitet im Verlauf der weiteren Entwicklung graduell bis zum Lebensende voran (Bridges 1932). Emotionen sind abhängig von biologischen Prädispositionen (z. B. Temperamentsfaktoren), dem soziokulturellen Kontext und den damit zusammenhängenden Erfahrungen sowie der individuellen Persönlichkeit des Kindes. Die emotionale Entwicklung ist in einem ganz besonderen Maße mit den anderen Entwicklungsbereichen verbunden. So hängen z. B. Wahrnehmen und Denken stark mit der emotionalen Erlebniswelt zusammen: Einerseits ist das subjektive Erleben der Emotionen von der Denk- und Wahrnehmungsentwicklung abhängig, und anderseits bestimmt unser emotionales Empfinden, was wir wahrnehmen und wie wir das Wahrgenommene bewerten. Auch die alltäglichen Eltern-Kind-Interaktionen und Bindungserfahrungen des Kindes sind eng mit der Entwicklung der Gefühle verbunden (Saarni et al. 1998). Nach dem funktionalistischen Ansatz besteht ein funktioneller Zusammenhang zwischen dem emotionalen Erleben des Kindes und seiner Umwelt: Emotionen seien die Grundlage zielgerichteten Handelns und würden zudem der Regulation sozialer Interaktionen dienen (z. B. Campos et al. 1994). Schon von Geburt an erlebt der Mensch verschiedene emotionale Zustände, deren Ziel es zunächst ist, Angenehmes zu erreichen und Unangenehmes zu vermeiden (Pauen 2011). Mit fortschreitender Entwicklung differenzieren sich die Gefühle aufgrund von Erfahrungen und werden zunehmend komplexer (vgl. auch die Differenzierungstheorie, z. B. Sroufe 1979). Aussagen über die Entwicklung von Gefühlen im Säuglingsalter können – solange der Säugling diese noch nicht verbalisieren kann – nur anhand indirekter Schlüsse gezogen werden. So erhalten wir Hinweise auf den emotionalen Zustand des Säuglings zunächst aus physiologischen Messungen (z. B. des Herzschlags), der Analyse von Mimik und Gestik sowie aus unserem Wissen über andere
Bereiche der Entwicklung. Erst mit fortschreitenden sprachlichen Fertigkeiten kann sich das Kind verbal mit anderen Personen über seine Gefühle austauschen. Auch bei der Regulation der Emotionen ist das Kind zunächst stark auf die Unterstützung seiner Bezugspersonen angewiesen. Der Anteil der Selbstregulation und somit der emotionalen Regulation nimmt erst im Laufe der Entwicklung zu: Mit der sprachlichen Entwicklung ist das Kind in der Lage, seine Emotionen auszudrücken und mit anderen zu teilen, und mit zunehmenden kognitiven Fähigkeiten kann es weitere kognitive Bewältigungsmechanismen für den Umgang mit negativen Emotionen finden. Darwinistische Theorien (z. B. Darwin 1872; Izard 1991; Tomkins 1962) gehen von den universalen Basisemotionen (diskrete Emotionen) Neugier, Überraschung, Freude, Angst, Traurigkeit, Ärger und Ekel aus, die als größtenteils angeboren sowie am Gesichtsausdruck ablesbar gelten. Ekman u. Friesen (1978) entwickelten zur Erhebung dieser Grundemotionen das FACS (Facial Action Coding System), Rosenstein u. Oster (1988) auf dieser Grundlage später das Baby-FACS. Das Lächeln bzw. das Lachen als Indikator für Freude ist zunächst noch reflexhaft und taucht bei Neugeborenen nur im Schlaf auf. Später, mit ca. sechs bis zehn Wochen, folgt das soziale Lächeln. Mit drei bis vier Monaten lächelt der Säugling schon als Reaktion auf einen aktivierenden Stimulus. Zunehmend lächelt das Kind auch während der Interaktion mit Bezugspersonen. Im Alter von zehn bis zwölf Monaten zeigen Kinder bereits verschiedene Arten des Lachens. Negative Emotionen wie Ärger, Angst und Traurigkeit zeigen sich bei Neugeborenen lediglich als generalisierte Stressreaktion. Mit ca. vier Monaten scheinen Säuglinge allerdings bereits zwischen den Emotionen Ärger, Angst und Traurigkeit unterscheiden zu können (Montague u. Walker-Andrews 2001). Komplexere selbstbezogene Emotionen wie Stolz, Schuld, Verlegenheit und Scham bilden sich im Laufe der Entwicklung mit zunehmender Selbstreflexivität sowie der Fähigkeit zur sozialen Bewertung und sind meist aus verschiedenen Basisemotionen zusammengesetzt. Voraussetzungen für das Entstehen der komplexen Gefühle sind ein
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Literatur
kognitives Selbstkonzept, Fähigkeiten zur Selbstevaluation sowie zur Dezentrierung der eigenen Sichtweise. Die Ausprägung der selbstbezogenen Emotionen ist vom jeweiligen soziokulturellen Kontext abhängig, in dem das Kind aufwächst. Beispiele für Meilensteine im Bereich Gefühle (nach Pauen 2011) 5 Freude: Das Kind lacht, quietscht oder/und bewegt sich aufgeregt vor Vergnügen. 5 Angst: Das Kind reißt ängstlich die Augen auf und hält für einen Moment ganz still. Später wendet es sich möglicherweise mit dem Körper von der »Gefahrenquelle« ab und sucht Schutz bei einer Bezugsperson oder hinter einem Gegenstand. 5 Über eigene Gefühle reden: Das Kind teilt anderen Menschen etwas über seine Gefühle mit (z. B. Freude, Angst, Ärger, Traurigkeit).
Fazit Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die wichtigsten Bereiche und wesentlichen Schritte der frühkindlichen Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren. Dabei wird besonders betont, dass Erwachsene, die mit Säuglingen und Kleinkindern zu tun haben und sie in ihrer Entwicklung fördern möchten, ihr Hauptaugenmerk zunächst auf die vielen Fortschritte lenken sollten, die Kinder in dieser Lebensphase von ganz alleine machen. Besonders wichtig ist dabei die Abfolge von bestimmten Entwicklungsschritten und weniger ihre Zuordnung zu einem definierten Altersbereich. Faktisch zeigt die normale Entwicklung von Menschen auf fast allen Gebieten ein sehr hohes Maß an Variabilität bezüglich der Frage, wann eine bestimmte Fähigkeit zum ersten Mal beobachtet werden kann. Daraus folgt, dass Altersangaben in Form von Mittelwerten nur bedingt aussagekräftig sind. Es ist allenfalls möglich zu sagen, bis zu welchem Zeitpunkt eine bestimmte Fähigkeit in jedem Fall erworben sein sollte, wenn die Entwicklung normal verläuft. Wichtig erscheint es zudem, sich um ein Verständnis für die Beziehungen zwischen Veränderungen in unterschiedlichen Lebensberei-
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chen zu bemühen. Kinder sind ganzheitliche Wesen, denen wir als Erwachsene am ehesten gerecht werden, wenn wir zunächst lernen, sie in verschiedenen Dimensionen genau wahrzunehmen und diese Dimensionen nicht isoliert, sondern in ihrer Verschränkung zu verstehen.
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Kapitel 2 • Entwicklungspsychologie in den ersten drei Lebensjahren
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Temperament Eva Möhler und Franz Resch
3.1
Begriffsfindung – 40
3.1.1 3.1.2
Persönlichkeit – 40 Temperament – 41
3.2
Historischer Hintergrund – 41
3.3
Moderne Temperamentsforschung – 42
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4
Voraussetzungen – 42 Klinische Temperamentstheorien – 42 Erbgenetische Temperamentstheorien – 44 Psychophysiologische Temperamentstheorien – 45
3.4
Temperamentsentwicklung – 48
3.4.1 3.4.2 3.4.3
Das Modell der behavioralen Inhibition – 49 Vorhersage der behavioralen Inhibition – 50 Einfluss der Umwelt auf die behaviorale Inhibition – 51
Literatur – 52
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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40
3
Kapitel 3 • Temperament
Die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit beginnt pränatal und vollzieht sich auf dem Hintergrund eines multifaktoriellen Bedingungsgefüges. Der vorliegende Beitrag analysiert das Temperament als wesentliches konstituierendes Element dieses Gefüges im Lichte der historischen Entwicklung und des aktuellen Forschungsstandes. Eine Synopsis der physiologischen Entwicklung und der Komponenten des Temperaments als Grundlage des Verhaltens dient dem Verständnis der handlungstheoretischen Grundlagen, auf denen die kindliche Persönlichkeitsbildung basiert. Die darauf aufbauende Beleuchtung des kindlichen Temperaments als differentiell wirksame Komponente mündet in einen Ausblick auf das integrative Modell aktueller Forschungsansätze, welche u. a. ein behaviorales Aktivations- und ein behaviorales Inhibitionssystem als konstituierende Kriterien individueller Verhaltensdisposition auf neurobiologischem Hintergrund abgrenzen.
Als Vorbemerkung zu diesem Kapitel ist wichtig, dass die Anlagen eines Kindes vom ersten Lebenstag an durch Interaktionen mit seiner Umwelt moduliert werden. Temperament ist nicht diskutabel ohne ein transaktionales Anlage-Umwelt-Modell, welches den wechselseitigen Einfluss von kindlicher Disposition und Umwelt berücksichtigt; z. B. bedeuten gravierende exogene Einflüsse einen massiven Eingriff in das Bedingungsgefüge der regelhaften kindlichen Persönlichkeitsentwicklung. In diesem Beitrag werden die Mechanismen, durch die Traumata eine Desintegration des kindlichen Erlebens herbeiführen und selbst grundlegende psychophysiologische Verhaltensdispositionen verändern können nicht erläutert, dennoch existieren sie. Erst aus einer Synthese der einzelnen Komponenten erwächst eine integrative Vorstellung der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung mit ihren gesellschaftlichen und soziokulturellen Implikationen. Dieser Beitrag fokussiert mit dem Temperament den dispositionalen Anteil, der – neben Interaktions- und Umwelterfahrungen – durchaus von Bedeutung ist und Aufmerksamkeit verdient hat.
3.1
Begriffsfindung
3.1.1
Persönlichkeit
Nach Fiedler (1999) ist die Persönlichkeit eines Menschen definiert durch charakteristische Verhaltensweisen und Interaktionsmuster, mit denen das Individuum gesellschaftlichen und kulturellen Anforderungen zu entsprechen und seine zwischenmenschlichen Beziehungen mit Sinn zu füllen sucht. Allport (1961) bezeichnet die Persönlichkeit als »dynamische Organisation derjenigen psychophysischen Systeme im Individuum, die sein charakteristisches Verhalten und Denken determinieren« (S. 27–31). Der Begriff der Persönlichkeit erfasst also die Totalität unterschiedlicher Funktionsebenen. Eysenck gilt primär als Persönlichkeitstheoretiker, spielte jedoch auch für die Entwicklung des Temperamentskonzeptes auf biologischer Grundlage eine nicht unerhebliche Rolle. Er gebrauchte die Begriffe Temperament und Persönlichkeit synonym und beschäftigte sich mit stabilen Grunddimensionen des Verhaltensstiles. Bereits Eysenck formulierte die Hypothese, dass Introvertierte eine größere psychophysiologische Reagibilität auf sensorische Stimulation zeigen als Extravertierte (Eysenck 1994). Auch andere Persönlichkeitskonstrukte, insbesondere die sogenannten Big Five (Costa u. McCrae 1985), enthalten die verwandten Dimensionen »Extraversion« und »Offenheit für Erfahrung«. Dabei teilt man im Allgemeinen die Soziabilität, d. h. die Geselligkeit mit Bekannten und Freunden, und die Offenheit für fremde Reize/Personen in zwei qualitativ unterschiedliche Kategorien ein. In Faktorenanalysen seiner Untersuchungen fand Eysenck (1994) immer wieder drei höhere Dimensionen, die er Extraversion, Neurotizismus und Psychotizismus nannte: Extraversion bezeichne die Tendenz, Stimuli von außen aufzusuchen, und hänge mit dem Grunderregungsniveau des Nervensystems zusammen. Extravertierte besitzen einen höheren Hautwiderstand als introvertierte Menschen, ebenso ist ihre Schmerzgrenze höher (Zimbardo et al. 1993). Neurotizismus beinhaltet Komponenten wie emotionale Labilität und Furchtsamkeit, Psychotizismus entspricht der Impulsivität und der
41
3.2 • Historischer Hintergrund
mangelnden Fähigkeit, sozial unangepasstes Verhalten zurückzuhalten.
3.1.2
Temperament
Demgegenüber beschreibt der Ausdruck Temperament die physiologischen oder konstitutionellen Grundlagen der Persönlichkeit: »Temperament bezeichnet wie Intelligenz und Körperbau sozusagen eine Art Rohmaterial, aus dem die Persönlichkeit geformt wird … Das Temperament hängt zusammen mit dem biochemischen Klima oder inneren Wetter, in dem eine Persönlichkeit sich entwickelt« (Allport 1961, S. 31). Strelau (1984) hat fünf diskriminierende Merkmale von Temperament und Persönlichkeit hervorgehoben: 5 Die Entwicklung des Temperaments ist durch biologische Faktoren bestimmt, die der Persönlichkeit durch soziale. 5 Das formende Entwicklungsstadium des Temperaments ist die Kindheit, das der Persönlichkeit das Erwachsenenalter. 5 Temperament ist bei Tieren und Menschen existent und messbar, die Persönlichkeit ist eine spezifisch menschliche Eigenschaft. 5 Das Temperament beschreibt ausschließlich die Form, nicht spezifische Inhalte des Verhaltens, die Persönlichkeit umfasst auch inhaltliche Aspekte. 5 Die Ausformung des Temperaments hängt nicht von der zentralen Regulierungsfunktion des Individuums ab, wohl aber die Ausprägung der Persönlichkeit. Das Temperamentskonstrukt umfasst folgende definitorische Merkmale und Aspekte (nach Goldsmith u. Rieser-Danner 1986): 5 Es bezieht sich auf individuelle Unterschiede, nicht auf universelle Erscheinungen in der Persönlichkeitsentwicklung (differenzieller Aspekt). 5 Es hat zumindest hinsichtlich einiger Merkmale einen biologischen Ursprung (biologische Grundlagen). 5 Es tritt hauptsächlich im Säuglingsalter hervor und stellt ein Fundament der späteren Persönlichkeit dar (ontogenetische Verankerung).
3
5 Es ist im Vergleich zu anderen Komponenten des Verhaltens relativ zeitstabil. 5 Es ist in seinem Ausdruck oder seiner Manifestation durch Umwelteinflüsse sowie durch elterliche Erziehungspraktiken modifizierbar. Zusammenfassend können Temperamentsmerkmale also als ontogenetisch verankerte, durch erbliche wie auch durch Entwicklungs-, Erfahrungsund Umwelteinflüsse modifizierbare interindividuelle Unterschiede (Rothbarth u. Ahadi 1994) auf biologischer Grundlage verstanden werden. Diese wissenschaftliche Definition hebt sich vom alltagssprachlichen Verständnis des Temperaments ab, sie umgeht die jahrhundertealte Nature-nurtureDiskussion, ohne sie zu erübrigen. Sie ermöglicht vielmehr eine über die statische Polarisierung in anlage- und umweltorientierte Verhaltenswissenschaften hinausgehende differenzierte Betrachtung der interaktiven Beteiligung genetischer und umgebungsbedingter Faktoren an der Ausprägung behavioraler Charakteristika.
3.2
Historischer Hintergrund
Die Existenz individuell unterschiedlicher Verhaltensdispositionen wurde bereits in der Antike anerkannt: Die Babylonier (2. Jahrtausend v. Chr.), Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.), aber auch Galen (ca. 129–216 n. Chr.) bezeichneten als Temperament die Mischung (lat. temperare = mischen) der vier Körpersäfte Blut, gelbe und schwarze Galle und Schleim und führten damit die Persönlichkeitstypen Choleriker, Melancholiker, Sanguiniker und Phlegmatiker auf einen postulierten Unterschied im Gleichgewicht dieser Säfte zurück. Kretschmer (1921) unterschied in seiner Konstitutionstypologie den leptosomen, den pyknischen, den athletischen und den dysplastischen Körperbautyp, denen er jeweils verschiedene Temperamentseigenschaften zuordnete. In ähnlicher Weise schrieben Sheldon u. Stevens (1942) dem endomorphen, dem mesomorphen und dem ektomorphen Körperbau in ihrer Somatotypologie verschiedene Wesenszüge zu. Erste wissenschaftliche Ansätze zur Erforschung des Temperaments stammen von Meyer (1889), der den ersten Temperamentsfrage-
42
3
Kapitel 3 • Temperament
bogen entwickelte, und von Wundt (1903), welcher das Temperament als »Disposition zum Affekt« betrachtete. Wundt teilte das Temperament in die bipolaren Merkmale Variabilität und Intensität der Gefühle ein. Durch Watsons Behaviorismus wurde es in der westlichen Psychologie still um das Temperament, da es als Erklärungsvariable nicht mehr benötigt wurde. Vielmehr ging man davon aus, dass der Mensch als Tabula rasa auf die Welt kommt. In den Ostblockstaaten spielt jedoch das Temperament bis heute eine Rolle: In den 1950er-Jahren entwickelte Pawlow seine Temperamentstypologie und unterschied Typen mit »schwachem« und Typen mit »starkem« Nervensystem. Seiner Meinung nach benötigt der starke Typ zur Erhaltung eines optimalen Gleichgewichts einen ständigen Wechsel von Reizen, während für den schwachen Typ sehr einförmige Lebensbedingungen angemessen seien. Die Stärke des Nervensystems wird dabei als bipolare Eigenschaft angesehen, mit den Faktoren Sensibilität versus Ausdauer an den gegenüberliegenden Enden des Spektrums. Auf der Pawlow’schen Theorie bauen die – weiter unten beschriebenen – wegbereitenden Arbeiten Grays auf, ebenso wie das Modell von Strelau (1983), welches die »sensation seekers« von den »sensation avoiders« unterscheidet, je nach der Anzahl der Reize, welche das Individuum für die Aufrechterhaltung eines optimalen Erregungsniveaus benötigt. Eine Vielzahl aktueller Temperamentstheorien (z. B. Cloninger, Rothbarth und Goldsmith, 7 Abschn. 3.3.2) setzen hier an. Zur Zeit des Dritten Reichs wurde das Temperamentskonzept von der nationalsozialistischen Ideologie zum Zwecke rassistischer Diskriminierung missbraucht, insbesondere durch das von Jaensch (1938) postulierte Modell eines integrierten »J-Typus« und eines nicht integrierten »S-Typus«. Ungleichartigkeit wurde durch Ungleichwertigkeit ersetzt, was dazu beitrug, das Temperamentskonzept über lange Zeiten in Misskredit zu bringen.
3.3
Moderne Temperamentsforschung
3.3.1
Voraussetzungen
Voraussetzung für die Entwicklung der modernen Temperamentsforschung war die Entstehung einer den heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Methodik, auf welche die historischen Temperamentstheoretiker nicht zurückgreifen konnten. Die Renaissance des Temperamentsgedankens warf Fragen auf wie die nach der Entstehung, Rolle und Veränderbarkeit des Temperaments im normalen und im abweichenden Entwicklungsprozess. Daraus ergibt sich, dass das Kindesalter als ideale Periode für die Untersuchung zentraler Fragen der Temperamentsforschung hervorgehoben wurde. Grundsteine dafür wurden von Thomas und Chess gelegt (7 Abschn. 3.3.2), die erstmals ein prospektives, systematisches Design zur Untersuchung von Temperamentsmerkmalen anlegten. Die Erhebung des Temperaments kann zum einen durch Verbalreport (Eltern-/Probandeninterviews) erfolgen, zum anderen durch Fragebögen wie den in Deutschland häufig verwendeten DOTS-R (Dimensions of Temperament Survey Revised) von Angleitner (1995) oder das EAS (Emotionality, Sociability, Activity; Buss und Plomin 1984). Da es sich hier um eine indirekte Temperamentsmessung handelt, bergen diese Methoden die Gefahr der wahrnehmungsbedingten Verzerrung der Angaben. Daher wurde von vielen Autoren, insbesondere von Kagan und Rothbarth, die Verhaltensbeobachtung praktiziert, und es wurden standardisierte Instrumente zur Kodierung und Quantifizierung bestimmter Verhaltensweisen geschaffen (Labtab Assessment Battery, Rothbarth 1986a).
3.3.2
z
Klinische Temperamentstheorien
Thomas und Chess
Die Renaissance des Temperamentsansatzes begann mit dem Wechsel des Zeitgeistes (nach Freud und den Lerntheoretikern) Anfang der 1960erJahre. Wegbereiter dieser neuen Bewegung waren
3.3 • Moderne Temperamentsforschung
Alexander Thomas und Stella Chess, die erstmalig nicht Inhalte des Verhaltens, sondern Stilmerkmale systematisch und prospektiv an 133 Kindern aus 84 Familien mithilfe von Eltern- und Probandeninterviews untersuchten (Thomas u. Chess 1977). Aus ihren Befunden destillierten die Autoren die neun Temperamentsfaktoren Aktivität, Regelmäßigkeit und Vorhersagbarkeit, Reagibilität gegenüber unbekannten Reizen, Anpassungsfähigkeit, Reizschwelle, Stimmungslage, Intensität, Ablenkbarkeit und Ausdauer. Weiterführende Untersuchungen der faktoriellen Validität etablierten die sieben Faktoren Annäherung/Vermeidung, Aktivität, negative Emotionalität, Aufmerksamkeit/Ausdauer, Anpassungsfähigkeit, Regelmäßigkeit und sensorische Reizschwelle (Martin et al. 1994). 5 Annäherung/Vermeidung klassifiziert die erste Reaktion des Kindes auf neue, unvertraute Reize, seien es Menschen oder Situationen, Spielzeuge usw. 5 Die Aktivität bezeichnet Niveau, Tempo und Häufigkeit, mit der die motorische Komponente im Verhalten hervortritt, sowie die Anteile passiven vs. aktiven Verhaltens im Tagesablauf. 5 Die Regelmäßigkeit beschreibt die Vorhersagbarkeit des Auftretens biologischer Funktionen, wie Schlaf-Wach-Rhythmus, Hunger und Stuhlgang. 5 Das Anpassungsvermögen macht Aussagen über die Leichtigkeit, mit welcher das Kind eine anfängliche Reaktion in die von der Umwelt gewünschte Richtung verändern kann. 5 Die sensorische Reizschwelle beschreibt die Stärke eines Reizes, die für eine Reaktion notwendig ist. 5 Die Stimmungslage bezeichnet die Anzahl der positiven Reaktionen (Lächeln, Lachen, Freude, Zufriedenheit) im Verhältnis zur Anzahl der negativen Reaktionen (Weinen, Schreien, Unzufriedenheit). 5 Intensität ist die Energie oder Heftigkeit, mit welcher eine Reaktion zum Ausdruck kommt, ungeachtet der Qualität und Richtung dieser Reaktion. 5 Die Ablenkbarkeit misst den Grad, in welchem äußere Reize auf die Richtung des Verhaltens Einfluss nehmen oder es verändern können.
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5 Die Ausdauer beschreibt die Zeitspanne, in der ein Kind sich mit einer Tätigkeit trotz vorhandener Hindernisse beschäftigen kann. Für diese neuen Temperamentsdimensionen werden von Netter (1991) mögliche biochemische Substrate genannt: Die Annäherungsdimension werde durch die Neurotransmitter Cortisol, ACTH und Adrenalin bestimmt, die Aktivität durch Noradrenalin, die Intensität durch Dopamin und Noradrenalin, die Regelmäßigkeit durch Cortisol, ACTH und Serotonin, die Anpassungsfähigkeit durch Dopamin und die Ablenkbarkeit durch Noradrenalin, Dopamin und Acetylcholin. Ein Isomorphismus zwischen den von Thomas und Chess postulierten Temperamentseigenschaften und neurochemischen Botenstoffen wird nicht angenommen. Da die neun Dimensionen nicht unabhängig voneinander waren, bildeten Thomas und Chess vier Kategorien von Kindern. Ihren Untersuchungen zufolge konnten etwa 40 % der untersuchten Kinder als »einfache« Kinder klassifiziert werden, mit hoher Regelmäßigkeit biologischer Funktionen, Annäherungsreaktionen gegenüber unbekannten Menschen und Situationen, gutem Anpassungsvermögen und einer gemäßigten und vorwiegend positiven Stimmungslage. Rund 5 % der Kinder wurden als »slow to warm up« bezeichnet, da sie auf neue Situationen mit Vermeidung reagierten und ein niedriges Aktivitätsniveau zeigten. Etwa 10 % der untersuchten Kinder erwiesen sich als »schwierige« Kinder, die durch Unregelmäßigkeit biologischer Funktionen, Vermeidungsreaktionen angesichts neuer Menschen und Situationen, langsames Anpassungsvermögen bei Veränderungen, hohe Intensität von Reaktionen und eine vorwiegend negative Stimmungslage gekennzeichnet sind. Kritiker monierten die mangelnde Orthogonalität der Faktoren. Auch erwies sich die Zeitstabilität der Faktoren zunächst als nicht signifikant (Thomas u. Chess 1977), jedoch konnte von anderen Autoren (z. B. Maziade et al. 1985) eine deutliche Stabilität über fünf Jahre für die Faktoren Aktivität und Annäherung/Vermeidung gefunden werden. Plomin et al. (1991) untersuchten den erbgenetischen Anteil der Temperamentsfaktoren der New York Longitudinal Study durch Vergleich der
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Kapitel 3 • Temperament
Korrelationen bei ein- und zweieiigen Zwillingen. Dabei fand sich für die Dimension Emotionalität eine Korrelation von .30 für monozygote versus .09 für dizygote Zwillinge, was auf einen deutlichen erbgenetischen Anteil dieser Verhaltensdimension hindeutet. Die Dimension Aktivität korrelierte bei eineiigen Zwillingen mit .59, bei zweieiigen mit .05 und scheint somit ebenfalls zu einem hohen Maße genetisch bedingt zu sein. Ein erheblicher genetischer Anteil findet sich insbesondere für die Annäherungsdimension (.67 versus –.03; Buss u. Plomin 1984)
welche bereits früh in der Ontogenese nachweisbar sind. Neben einem die klinisch orientierte Forschung fortsetzenden Zweig entwickelten sich im Folgenden auch erbgenetische Ansätze (Buss, Plomin) und eine psychophysiologische Richtung (Rothbarth, Kagan, Cloninger) der Temperamentsforschung.
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Buss u. Plomin (1984) konzentrierten sich weniger auf die klinische Sichtweise, sondern entwickelten ein Konzept, demzufolge Temperament nicht die formalen Aspekte des Verhaltens, sondern ein Konstrukt aus mehreren Persönlichkeitseigenschaften darstellt: Diese Eigenschaften haben (1) ihre Wurzel in der Phylogenese und stehen unter hohem erblichen Einfluss, (2) sind sie bereits früh in der Ontogenese beobachtbar, und (3) sind sie über die Zeit hinweg stabil. Aufgrund der postulierten Erblichkeit schreiben die Autoren dem Temperament ein physiologisches Substrat im Zentralnervensystem (ZNS) zu und rücken dabei das Konzept der Erregung in den Mittelpunkt. Dabei werden drei verschiedene Arten von Erregung unterschieden (Buss u. Plomin 1984): 5 Behaviorale Erregung: Diese beinhaltet die beiden Ausdrucksformen Aktivität als Erregungsoutput und Sensitivität als Erregungsinput. 5 Autonome Erregung: Hierunter werden sämtliche Funktionen verstanden, die mit dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem zusammenhängen, wie Herz- und Atemfrequenz, Blutdruck, Hautwiderstand etc. 5 Erregung des Gehirns: Die Aktivation des Cortex ist in hohem Maße von der Formatio reticularis abhängig, welche den Erregungsgrad des Cortex steuert. Die Formatio reticularis reagiert ihrerseits auf Reize von außen, des Cortex oder des limbischen Systems.
Windle und Lerner
Windle u. Lerner (1986) sind mit ihrem Konzept dem von Thomas und Chess sehr nah. Temperament wird als verhaltensstilistisches Merkmal eines Menschen jenseits vom Verhaltensinhalt betrachtet. Die Gruppe um Lerner untersuchte allerdings nicht Kinder, sondern Adoleszenten und Erwachsene, und gründete auf ihren Ergebnissen die Temperamentsdimensionen Rhythmizität (Schlaf, Essen und Tagesgewohnheiten) und zwei Aktivitätsdimensionen (generelles Niveau und Aktivitätsniveau im Schlaf). Ablenkbarkeit und Ausdauer wurden zur Dimension Aufgabenorientierung. Lerner und seine Mitarbeiter betrachteten diese Dimensionen insbesondere unter dem Aspekt der »Passung«. Windle und Lerner schufen einen Fragebogen, welcher bei Kindern von drei bis zwölf Jahren einsetzbar ist, den sogenannten Dimensions of Temperament Survey (DOTS-R). z
Goldsmith
Auch Goldsmith u. Campos (1982) widmen sich dem klinisch fassbaren Verhaltensstil, fassen jedoch lediglich emotionale Aspekte als temperamentsrelevant auf (Goldsmith et al. 1987). Innerpsychische Prozesse sowie soziale und interpersonale Verhaltensweisen werden nach Meinung dieser Autoren durch Emotionen reguliert. In den Vordergrund stellen Goldsmith und Campos die sogenannten Grundemotionen Zorn, Furcht, Freude und Interesse, Letztere als emotionale Grundlage der Ausdauer (Goldsmith 1996). Diese Forscher postulieren eine angeborene Basis der mimischen, vokalen und gestischen Ausdrucksformen von Emotionen,
3.3.3
Erbgenetische Temperamentstheorien
Buss und Plomin bauen ihr Temperamentskonzept auf der Erkenntnis auf, dass diese drei Formen der
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3.3 • Moderne Temperamentsforschung
Erregung zwar Zusammenhänge, aber keine vollkommene Abhängigkeit zeigen. So finden sich interindividuelle Unterschiede auf der Ebene des Empfindens, auf der Ebene des Verhaltens und auf der Ebene der Kognitionen, wobei diese intraindividuell nur bedingt korrelieren. Aus diesen Erkenntnissen entwickelten Buss und Plomin ein Temperamentsmodell, das die drei stark erbgenetisch determinierten Faktoren Emotionalität, Aktivität und Soziabilität in den Vordergrund stellt. Emotionalität Hier trennen die Autoren zwischen Emotionen mit hoher und solchen mit niedriger Erregung. Erstere beschränken sich auf die Zustände Furcht, Ärger und sexuelle Erregung, gehen mit starker Erregung des ZNS einher, sind für das Überleben des Individuums oder der Spezies wichtig und daher auch im Tierreich nachweisbar. Die Emotionen mit niedriger Erregung betreffen soziale Verbindungen wie Zuneigung, Liebe oder Hass, sind als Folge der Selbstreflexion zu betrachten und daher nur beim Menschen zu finden. Im Gegensatz zu Goldsmith u. Campos (1982) erfassen Buss u. Plomin (1984) hier nur negative Aspekte der Emotionalität: Angst, Zorn oder Trauer. Als vererbbare biologische Grundlage der Emotionalität sehen Buss und Plomin die Tendenz an, leicht und intensiv autonom erregt zu werden. Aktivität Diese bezeichnet vor allem die behavio-
rale Erregung und umfasst sämtliche motorische Aktivität des Körpers. Durch unterschiedliche Aktivitätsgrade können sich Menschen in der Geschwindigkeit der Sprache oder der Festigkeit des Ganges unterscheiden. Soziabilität Dieser Begriff beschreibt die Eigenschaft, die Gesellschaft von anderen Menschen aufzusuchen, und zeigt Überlappungen mit der Extraversionsdimension von Eysenck. Im Gegensatz zur Furchtsamkeit ist die Soziabilität auf kognitiver Ebene von einer Belohnungserwartung geprägt. Buss und Plomin (1984) konnten eine Stabilität der Aktivität von .4 über zehn Jahre und der Soziabilität von .74 belegen. Signifikant, aber weniger deutlich war die Stabilität der Emotionalität. Buss und Plomin bedienten sich im Wesentlichen der Fragebogenmethode, dazu entwarfen sie ein Inven-
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tar namens EAS, welches Emotionalität, Aktivität und Soziabilität misst und bis heute breite Anwendung findet.
3.3.4
Psychophysiologische Temperamentstheorien
In der aktuellen Temperamentsforschung dominieren derzeit die psychophysiologischen Ansätze, die im Folgenden wegen ihrer grundlegenden wissenschaftlichen Bedeutung näher beleuchtet werden sollen. z
Das Modell von Rothbarth
Rothbarth (1986b) entwickelte insbesondere durch Untersuchungen an Säuglingen und Kleinkindern mithilfe direkter Verhaltensbeobachtung (LabTab Assessment Battery) und Elternbefragung (Infant Behavior Questionnaire) die Dimensionen Reagibilität und Selbstregulation als Grundkonstanten des kindlichen Verhaltens. Dabei arbeitete sie die Annäherungsdimension als zeitstabile Komponente der Reagibilität heraus. Rothbarth betrachtet die Reagibilität als emotionale, physiologische, kognitive und motorische »Antwort« eines Individuums auf verschiedene, Angst, Unlust oder Freude induzierende Stimuli und betrachtet damit eine Vielfalt affektiver Reaktionen (Rothbarth 1989) insbesondere hinsichtlich Latenz, Intensität und Dauer der Reaktionen, sodass hier auch dem Aspekt Rechnung getragen wird, dass es sich um formale, nicht um inhaltliche Aspekte des Verhaltens handelt. In ihrem Modell beschreibt Rothbarth die positive und negative Reagibilität als zwei voneinander unabhängige Faktoren dieser Temperamentsdimension. Negative Reagibilität wird in diesem Modell noch weiter unterteilt in mindestens zwei grundlegend verschiedene Dimensionen: Angst (gemessen als »distress to novelty«)‘und Wut (gemessen als »distress to limitations«) (Rothbarth 1981). Reizaufnahme, Reizverarbeitung und Reizzuwendung werden in diesem Modell durch selbstregulatorische Funktionen gesteuert. Selbstregulation beschreibt die Fähigkeit, nach einem Stimulus in die Homöostase zurückzufinden, aber auch, Belohnungsaufschub zu tolerieren.
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3
Kapitel 3 • Temperament
Rothbarth beschreibt u. a. folgende Komponenten selbstregulatorischen Verhaltens bei Kleinkindern: 5 Selbsttröstung, 5 Aufmerksamkeit, 5 Kommunikation, 5 Impulsivität. Posner u. Rothbarth (1980) untersuchten intensiv die Funktion von Aufmerksamkeitsparametern als Regulativ der Emotionen. Diese bestätigte sich in mehreren Untersuchungen, wobei dem vorderen Cingulum in den Hirnstrukturen eine bedeutende Rolle eingeräumt wurde. Jüngere Untersuchungen bestätigen dies empirisch: Rothbarth u. Derryberry (1981) beschreiben, dass eine verringerte Fähigkeit zu selektiver Aufmerksamkeit mit einer negativeren und instabileren Affektivität einhergeht. Die Autoren fanden außerdem, dass eine frühe gute Aufmerksamkeitskapazität mit der Regulation negativer Emotionen einhergeht. Matheny et al. kamen 1985 zu demselben Ergebnis und fanden außerdem mehr positiven Affekt bei neun Monate alten sowie bei ein- und zweijährigen Kindern mit höherer Aufmerksamkeitsspanne. Eisenberg u. Fabes (1992) fanden einen Zusammenhang zwischen verminderter Aufmerksamkeitsspanne und negativer Affektivität, Shoda et al. (1990) bestätigten dies längsschnittlich. Auch bei Erwachsenen konnte ein solcher Zusammenhang gefunden werden. Rothbarth leistete entscheidende methodische Beiträge zur Entwicklung der Temperamentsforschung: So schuf sie den Infant Behavior Questionnaire, einen Fragebogen für Eltern von Säuglingen, welcher sich von den herkömmlichen Temperamentsfragebögen dadurch unterscheidet, dass Eigenschaften nicht generalisierend, sondern spezifisch mit Fragen nach der Häufigkeit des Auftretens eines bestimmten Verhaltens in den letzten Tagen erhoben werden. Dies minimiert die Gefahr der Wahrnehmungsverzerrung oder sprachlicher Missverständnisse, sodass es sich um ein sehr reliables Messinstrument handelt. Gleichzeitig entwickelte Rothbarth direkte Verfahren zur Temperamentsmessung durch Verhaltensbeobachtung im Säuglings- und Kleinkindalter. Als grundlegende, stabile Faktoren konnte Rothbarth dabei die Dimensionen Annäherung
und Rückzug bestätigen, wobei sie die Rückzugskomponente der negativen Reagibilität, die Annäherungskomponente der positiven Reagibilität zuordnete. Gleichzeitig sahen sie (Rothbarth u. Derryberry 1981) das Rückzugs- und Angstverhalten als extreme Ausprägung einer Temperamentsdimension, an deren anderem Ende Impulsivität und Aggressivität stünden. Rothbarth und Derryberry postulierten, dass es sich um »under-« versus »overcontrol« ein und desselben Systems handele. Diese Position ist innerhalb der modernen Temperamentsforschung nicht unwidersprochen geblieben. Die Bedeutung der Approach-avoidance-Dimension wurde eingehender auch von den im Folgenden vorgestellten Temperamentstheoretikern reflektiert, welche jeweils unterschiedliche Blickwinkel einnehmen, aber der Rückzugsdimension die Rolle einer maßgeblichen, für das Individuum kennzeichnenden Temperamentskonstante zuerkennen. z
Das Modell von Gray
Ausgangspunkt weiterführender Theorien ist das Gray’sche Modell eines behavioralen Aktivationssystem (BAS), dem Gray ein behaviorales Inhibitionssystem (BIS) gegenüberstellt. Die Reagibilität gegenüber Einschränkungen und Frustrationen betrachtet er als Ausdruck des behavioralen Aktivationssystems, das mit Impulsivität und positiver Affektivität gekoppelt sei, die Reagibilität gegenüber unbekannten Reizen als Ausdruck des behavioralen Inhibitionssystems, welches Gray auch mit Angst, Rückzugsverhalten und negativem Affekt gleichsetzt. Das behaviorale Aktivationssystem wird nach Gray (1982) durch Belohnung gesteuert und hat sein neurophysiologisches Substrat in den Basalganglien. Das behaviorale Inhibitionssystem (BIS) ist reagibel auf Bestrafung und unbekannte Reize und drückt Eigenschaften wie Ängstlichkeit oder Rückzugsneigung aus. Das BIS führt zu einem Zustand gespannter Erregung und erhöhter Aufmerksamkeit. Dabei ist das BIS sowohl ein kognitives als auch ein physiologisches System. Auf der kognitiven Achse werden über das behaviorale Inhibitionssystem Vergleiche zwischen dem derzeitigen Zustand der Welt mit den Erwartungen der Um-
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3.3 • Moderne Temperamentsforschung
welt angestellt und Verhaltensweisen so modifiziert, dass sie mit den entsprechenden Erwartungen übereinstimmen. Diese Vergleichsfunktion des BIS sei auf der physiologischen Ebene mit dem septohippocampalen System verknüpft. Der präfrontale Cortex sendet die Signale, welche über den Hippocampus an noradrenerge Fasern des Locus coeruleus und serotonerge Bahnen des medianen Raphe-Kernes weitervermittelt werden. Chronisch hohe Aktivierung des behavioralen Inhibitionssystems führt zu Wesenszügen wie Angst und Neurotizismus bei chronisch negativem Affekt. Außerdem beschreibt Gray ein Aggressions-Flucht-(fight-flight-)System, welches über Noradrenalin gesteuert werde. Diese Theorie von verhaltenshemmenden und verhaltenserleichternden Systemen baut auf dem oben beschriebenen Pawlow’schen Modell auf und zeigt Verwandtschaften mit dem Konzept des optimalen Erregungsniveaus von Strelau (1983) und Zuckerman (1991): Diese Autoren bezeichnen Individuen mit hohem optimalen Erregungszustand als »sensation seekers«, die mit niedrigem optimalen Erregungszustand als »sensation avoiders«. Hier zeigen sich Annäherungen an das Persönlichkeitsmodell von Eysenck, demzufolge Introvertierte im Gegensatz zu Extravertierten beständig ein hohes Maß an kortikaler Erregung, in erster Linie im aufsteigenden retikulären Aktivierungssystem (ARAS), aufweisen und daher die Tendenz haben, zusätzliche Stimulationen von außen zu vermeiden. Die psychophysiologischen Grundlagen dieser Theorie wurden von Fowles et al. (2000) näher beleuchtet: Seinen Ergebnissen zufolge ist die Hautleitfähigkeit ein Indikator für das behaviorale Inhibitionssystem, die Herzfrequenz Ausdruck des behavioralen Aktivationssystems. Eine starke Ausprägung beider Systeme könnte daher eine Affektlabilität hervorrufen, wie sie für Borderline-Persönlichkeitsstörungen typisch ist. Nach Clark und Watson ist Depression ein Ausdruck hoher behavioraler Inhibition und niedriger behavioraler Aktivation (Clark u. Watson 1991). In Grays Modell sind Sozialstörungen Folge einer exzessiven Aktivität des behavioralen Aktivationssystems bei gleichzeitiger Defizienz des behavioralen Inhibitionssystems.
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Das Modell von Kagan
Die Arbeitsgruppe von Kagan und Mitarbeitern an der Harvard University in Boston fand eine Stabilität des ängstlichen Rückzugsverhaltens gegenüber neuen Reizen (unbekannten Objekten und Personen) vom Kleinkindalter (21 Monate) bis in die Vorschulzeit (Kagan et al. 1987a; Biederman et al. 1993). Seinen Ergebnissen zufolge ließen sich 15 % der Kinder bezüglich dieser ängstlichen Reagibilität einer von zwei Extremgruppen zuordnen, welche er als distinkte Kategorien betrachtete. Die Entwicklung dieser 33 hochreagiblen und 38 besonders ungehemmten Kinder wurde selektiv verfolgt und die Reagibilität mit vier, fünfeinhalb und siebeneinhalb Jahren erneut erhoben. Dabei wurde für jede Altersstufe ein entwicklungsgerechter »Index of Inhibition« gebildet. Die kognitive Entwicklung der Kinder wurde untersucht, als diese fünfeinhalb Jahre alt waren, und kein signifikanter Unterschied festgestellt. Für den »Index of Inhibition« bestanden jedoch signifikante intraindividuelle Zusammenhänge mit früheren Messzeitpunkten. In weiteren Untersuchungen an selektierten und unselektierten Stichproben (Kagan 1997) fand sich eine Entsprechung zwischen hoher Reagibilität, herabgesetzter Explorationsneigung und sozialer Ängstlichkeit mit 14, 20, 32 und 48 Monaten. z
Das Modell von Cloninger
Cloninger (1987) stellte ein Temperamentsmodell vor, dessen Dimensionen »novelty seeking« (Neugierverhalten), »harm avoidance« (Schadensvermeidung) und »reward dependence« (Belohnungsabhängigkeit) mit jeweils unterschiedlichen Neurotransmittersystemen in Verbindung gebracht werden: So hänge das Neugierverhalten mit dem dopaminergen, die Schadensvermeidung mit dem serotonergen und die Belohnungsabhängigkeit mit dem noradrenergen System zusammen. Diesbezüglich liegen widersprüchliche empirische Befunde vor. Das Neugierverhalten beschreibt die Impulsivität und das Explorationsverhalten eines Menschen. Am anderen Ende des Spektrums stehen Reserviertheit und Reglementierung. Die Dimension Schadensvermeidung unterscheidet schüchterne und ängstliche gegenüber entschlossenen und geselligen Charakteren.
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Kapitel 3 • Temperament
Abhängigkeit und Empfindsamkeit sind Eigenschaften, die durch die Belohnungsabhängigkeit beschrieben werden. Cloninger geht davon aus, dass seine drei Temperamentsdimensionen vererbbare Mechanismen der Verhaltensinitiation (behaviorale Aktivation), Verhaltensabbremsung (behaviorale Inhibition) und Verhaltensaufrechterhaltung (Belohnungsabhängigkeit) bezeichnen. Die zusätzlich in Cloningers Modell beschriebenen Charakterdimensionen stehen mit der durch die Umwelt geprägten Entwicklung des Selbstkonzeptes im Zusammenhang und werden an dieser Stelle nicht beschrieben. Neben extensiven psychobiologischen und verhaltensgenetischen Studien untersuchte Cloninger (1987) eingehend den Zusammenhang zwischen seinen drei Temperaments- und vier Charakterfaktoren einerseits und psychiatrischer Erkrankung bzw. Komorbidität und Behandlungsaspekten andererseits und konnte feststellen, dass es eindeutige Zusammenhänge zwischen seinen Temperamentsfaktoren und der Art und Ausprägung der Erkrankungen gibt. Auch Battaglia et al. (1996) fanden in einer Untersuchung an 164 psychiatrischen Patienten einen signifikanten Zusammenhang zwischen affektiven Störungen und der Temperamentsdimension »harm avoidance« nach Cloninger. Entsprechend ergab auch die Untersuchung von Kleifield et al. (1993) eine positive Korrelation zwischen Depressivitätsscores und »harm avoidance« bei anorektischen Patienten. Ergebnissen von Gerra et al. (1999) zufolge besteht ein Zusammenhang zwischen der Aktivität des dopaminergen Systems und dem »novelty seeking score« nach Cloninger, welcher insbesondere bei bulimischen Patienten erhöht ist. In dieser aktuellen Untersuchung wurde auch eine Verbindung zwischen »novelty seeking scores« und Plasmanoradrenalin, Cortisol und Prolaktin gefunden.
3.4
Temperamentsentwicklung
Die Diskussion über die kausale Beeinflussung individueller Temperamentsunterschiede stellt eine der langlebigsten und heftigsten Kontroversen der Humanwissenschaften dar. Die Bedeutung dieser
Diskussion basiert auf der Tatsache, dass präventive Maßnahmen gegen mögliche, aus Temperamentsdispositionen entstehende emotionale Störungen allein im Bereich der Umwelt ansetzen können. Eine strikte Trennung von erblichen und Umweltfaktoren ist jedoch nicht sinnvoll, vielmehr geht die Wissenschaft heute von einer komplexen Interaktion und wechselseitigen Abhängigkeit von genetischen und Umweltfaktoren aus (Trautner 1992). Im folgenden Kapitel werden daher die verschiedenen Komponenten der Temperamentsentwicklung nicht strikt voneinander getrennt, sondern unter Beachtung ihrer Wechselwirkung vorgestellt. Bei der Frage nach den Komponenten der Temperamentsentwicklung zeigte sich in verschiedenen Studien, dass das Temperament primär genetisch determiniert ist. Hierbei sind insbesondere Zwillingsstudien überzeugend, da eineiige Zwillinge in ihrem Erbgut übereinstimmen und gefundene Unterschiede (beispielsweise in ihrem Verhalten oder in ihrer Persönlichkeit) eindeutig auf den Einfluss der Umwelt hinweisen (Montada 1995). Eine solche Zwillingsstudie wurde von Robinson et al. (1992) durchgeführt. Die Forscher kamen hierbei zu dem Ergebnis, dass die Varianz der Temperamentsdimension »behaviorale Inhibition« zu etwa 50 % durch den genetischen Einfluss aufgeklärt werde. Auch Kagan u. Snidman (1991) zeigten, dass bereits bei Neugeborenen eine unterschiedliche Reaktivität auf äußere Stimuli zu beobachten sei. Sie sehen mit diesen Ergebnissen die Hypothese bestätigt, dass die Temperamentsentwicklung genetisch determiniert ist. Allerdings wird auch diskutiert, inwiefern bereits intrauterin ein Umweltfaktor die Entstehung dieser Reaktionen beeinflusst haben könnte. Die Ergebnisse von Kagan u. Snidman (1991) konnten in vielen weiteren Untersuchungen bestätigt werden. In diesen Studien wurden Zusammenhänge zwischen Neuroanatomie, Physiologie und Biochemie auf der einen Seite und Temperamentsausprägung auf der anderen Seite gefunden. Neuere Studien, die in diesem Kontext durchgeführt wurden, spezifizierten die Annahme der genetischen Beeinflussung der Temperamentsentwicklung. So untersuchte eine longitudinale Studie von Caspi u. Silva (1995) das Verhalten eines gesamten Geburtenjahrgangs prospektiv hinsichtlich des Zusammenhangs mit dem Verhalten in der
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3.4 • Temperamentsentwicklung
späteren Kindheit. Hierbei gab es zum einen die unkontrollierten, problematischen Kleinkinder, die später ein sehr impulsives, reizsuchendes und aggressives Verhalten entwickelten. Sie litten mit 21 Jahren unter Problemen sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Partnerschaft und zeigten vermehrt Delinquenz und Alkoholmissbrauch. Zum anderen gab es eine Gruppe gehemmter, schüchterner und sozial überängstlicher Kleinkinder, die im Verlauf ihrer Entwicklung introversive Störungen, rigides und übervorsichtiges Verhalten sowie Selbstunsicherheit zeigten. Mit 21 Jahren waren sie häufig depressiv, empfanden unzureichende soziale Unterstützung und wirkten passiv, uninteressiert und wenig sozial engagiert. Demnach konnte bei beiden Gruppen eine deutliche Stabilität im Verlauf ihrer Verhaltensentwicklung beobachtet werden, was für eine primär genetisch bedingte Temperamentsentwicklung spräche. Im Rahmen der Untersuchung konnten Caspi u. Silva (1995) jedoch auch einen zunehmenden Einfluss der Umwelt auf die primär genetisch basierte Temperamentsausprägung beobachten. So zeigte sich beispielsweise, dass bei unkontrollierten Kindern, die die Schule bis zum Ende besuchten, deutlich weniger Delinquenz zu vermerken war als bei unkontrollierten Kindern, die die Schule nicht beendet hatten. Demnach scheint der Umweltfaktor Schule einen maßgeblichen Einfluss auf die Temperamentsentwicklung zu besitzen. Dies bedeutet, dass die Richtung der Temperamentsentwicklung zwar durch genetische Grundlagen vorgegeben, die Stärke der Ausprägung jedoch auch durch die Umwelt beeinflusst wird. Auch Resch (2004) vertritt in diesem Zusammenhang die Meinung, dass die Temperamentsentwicklung stark anlagebedingt sei, sich Verhaltensdispositionen jedoch durch den Einfluss der Umwelt modifizieren ließen. »Nicht die Natur des Menschen allein macht sein Schicksal aus, sondern die Auseinandersetzung seiner Natur mit den Lebenskontexten, in denen sich seine Entwicklung vollzieht« (Resch 2004, S. 108). Diesem Zitat folgend, stellt sich die Frage nach konkreten Einflüssen der Umwelt auf die Temperamentsentwicklung. Thomas u. Chess (1977, 1980) postulierten in diesem Zusammenhang, dass sich die ständige gegenseitige Beeinflussung von kindlichem Tem-
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perament und spezifischen Umweltfaktoren jeweils hemmend oder fördernd auf die seelische Entwicklung des Kindes auswirke. Die Stärke der Beeinflussung des Temperaments durch umweltbedingte Erfahrungen (z. B. Verlusterfahrungen, unzureichende Möglichkeiten zum Aufbau von Bindungen, chronische Vernachlässigung, körperliche bzw. sexuelle Misshandlung) ist nicht nur durch Quantität und Qualität, sondern insbesondere durch Intensität beeinflusst. Dies bedeutet, dass sich die Beeinflussung des Temperaments umso mehr auf die Temperamentsentwicklung ausprägt, je intensiver das Kind die Situation erlebt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sowohl das Erbe als auch die Umwelt bei der Temperamentsentwicklung eine wichtige Rolle spielen. Wie groß der jeweilige Einfluss ist, in welchem Kindesalter der Umwelteinfluss beginnt und in welchem Ausmaß er auch anatomische, physiologische und biochemische Parameter beeinflusst, ist jedoch nach wie vor nicht vollständig geklärt. Tronick u. Gianino (1986) stellten in diesem Zusammenhang fest, dass eine gegenseitige Verhaltensregulation von Mutter und Kind bereits bei drei Monate alten Kindern beobachtet werden kann. Auch Stern (1994) vertritt die Meinung, dass ab dem dritten Lebensmonat ein wechselseitiger sozial-affektiver Austausch zwischen Mutter und Kind und damit ein Einfluss durch die Umwelt zu beobachten ist. Im nächsten Abschnitt wird das am besten untersuchte und etablierte Temperamentskonstrukt, das der behavioralen Inhibition, beschrieben, welches in seiner Bedeutung für die längsschnittliche Entwicklung des Kindes bereits durch mehrere Längsschnittstudien bestätigt wurde.
3.4.1
Das Modell der behavioralen Inhibition
Im Folgenden wird das von Kagan intensiv erforschte Modell der behavioralen Inhibition als Beispiel für ein in der Entwicklung »across the lifespan« stabiles Konstrukt erläutert, das sich sowohl beim Neugeborenen als auch beim Erwachsenen nachweisen lässt und somit ein Prototyp einer entwicklungsbezogenen Temperamentstheorie ist. Im Gegensatz dazu ließ sich der Prototyp des beha-
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Kapitel 3 • Temperament
vioral disinhibierten Temperaments entsprechend dem Gray’schen behavioralen Aktivationssystem in längsschnittlichen Stabilitätsuntersuchungen nicht replizieren. Kagan et al. postulierten 1988, dass die Begegnung eines Menschen mit unbekannten Stimuli in den ersten Sekunden eine Art Unsicherheit auslöse, die den Menschen in einen speziellen physiologischen Zustand versetze. Dieser Zustand der Unsicherheit, genannt »uncertainty to the unfamiliar«, weise starke interindividuelle Differenzen in den darauf folgenden Reaktionen auf. Aufgrund der Variierung im Ausmaß dieser sogenannten Orientierungsreaktion teilten Kagan et al. (1984) die von ihnen untersuchten Kinder in behavioral inhibierte bzw. behavioral uninhibierte Kinder ein. In der Studie wurden Kinder der ersten Gruppe bei der Konfrontation mit einem unbekannten Stimulus ruhiger als bisher, ließen von bisherigen Aktivitäten ab, wandten sich an eine vertraute Person oder verließen fluchtartig die ungewohnte Situation. Diese Orientierungsreaktion trat in der Regel innerhalb von 10 bis 15 Minuten auf. Nach dieser Zeit spielten die Kinder ebenso frei und ungehemmt weiter wie Kinder der zweiten Gruppe. Die uninhibierten Kinder – mit gleichem Intelligenzquotienten (IQ) und sozialem Hintergrund – zeigten keine sichtbare Veränderung ihres Verhaltens bei der Konfrontation mit einem neuen Stimulus. In den Untersuchungen wurden charakteristische Verhaltensunterschiede zwischen behavioral inhibierten und uninhibierten Kindern untersucht. Dabei konnte beobachtet werden, dass behavioral inhibierte Kinder bei Konfrontation mit unbekannten Stimuli (Situationen, Personen, Objekten oder Gefühlen) schüchternes und ängstliches Verhalten zeigten und sozial gehemmt bzw. zurückhaltend auftraten. Im Nachspielen von Szenen identifizierten sie sich weniger mit der aktiven, sondern bevorzugten die passive Figur. Auch zeigten sich bei behavioral inhibierten Kindern physiologische Auffälligkeiten im Sinne einer höheren und stabileren Herzfrequenz als bei uninhibierten Gleichaltrigen. Dagegen zeigten behavioral uninhibierte Kinder keine wesentliche Veränderung ihres Verhaltens bei der Präsentation eines unbekannten Stimulus. Sie verhielten sich forscher, aktiver und wesentlich ungehemmter als behavioral inhibitierte Kinder.
Sowohl bei behavioral inhibierten als auch bei behavioral uninhibierten Kindern konnte eine deutliche Zeitstabilität des jeweiligen Verhaltens vom Kleinkindalter (14 Monate) bis in die Grundschulzeit (siebeneinhalb Jahre) beobachtet werden (Kagan et al. 1986). Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden unter anderem von Biedermann et al. (1993) bestätigt. Klinische Bedeutsamkeit erhält das Temperamentsmerkmal »behaviorale Inhibition« durch Untersuchungen, bei denen ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Ausprägung inhibierten Verhaltens bei Kleinkindern und dem erhöhten Auftreten von Sozialangststörungen im Kindesund Jugendalter beobachtet wurde (Kagan 1999; Biedermann et al. 2001; Schwartz et al. 1999; Neal et al. 2002). Auch konnte ein Zusammenhang zwischen kleinkindlichem uninhibierten Verhalten und dem Auftreten von expansiven Störungen im Kindes- und Jugendalter festgestellt werden (Kochanska 1997; Kagan u. Zentner 1996). Die Ausprägung sowohl inhibierten als auch uninhibierten Verhaltens zeigt demnach eine deutliche Korrelation mit der Manifestation psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Vorhersagbarkeit und Beeinflussbarkeit der behavioralen Inhibition von zentraler Bedeutung, da hier möglicherweise schon frühzeitig in den Entwicklungsprozess emotionaler Störungen eingegriffen werden könnte. Im Folgenden werden die Entwicklungskomponenten der behavioralen Inhibition vorgestellt. Dabei werden zunächst anatomische, physiologische und biochemische Parameter erläutert, die im Zusammenhang mit der späteren Ausprägung der behavioralen Inhibition beobachtet wurden. Anschließend werden die Ergebnisse von Forschungsarbeiten zum Einfluss der Umwelt auf die behaviorale Inhibition dargestellt.
3.4.2
Vorhersage der behavioralen Inhibition
Der früheste Zeitpunkt, an dem aktuell eine standardisierte Erhebung der behavioralen Inhibition erfolgen kann, ist das Kleinkindalter von 14 Monaten. Um schon zu einem früheren Zeitpunkt
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3.4 • Temperamentsentwicklung
eine Aussage über die mögliche Entwicklung inhibierten Verhaltens treffen zu können, wurden in verschiedenen Studien mögliche Vorhersageparameter der Temperamentsdimension »behaviorale Inhibition« gesucht und gefunden. So konnte z. B. in einer 1991 von Kagan und Snidman durchgeführten Studie eine größere Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Verhaltenshemmung und Ängstlichkeit bei Kindern im Alter von fünf Jahren beobachtet werden, wenn dieselben Kinder im Alter von vier Monaten eine geringe Schwelle sowohl für motorische als auch für verbale Reaktionen auf unbekannte Stimuli aufwiesen (Reaktivität). Auch konnte ein Zusammenhang zwischen einer höheren und regelmäßigeren basalen Herzfrequenz sowie einem erhöhten Sympathikotonus und der späteren Ausprägung der behavioralen Inhibition identifiziert werden. Ähnliche Zusammenhänge konnten auch LaGasse et al. (1989) bei Neugeborenen beobachten. Zwei Tage alte Säuglinge wurden auf ihre Reaktion auf Versüßung (Saccharose) ihrer Trinkflüssigkeit hin untersucht, wobei ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer überdurchschnittlich erhöhten Saugrate und einer behavioralen Inhibition im Kindesalter von zwei Jahren beobachtet wurde. Neben der Reaktivität, Frequenz und Habituation des Herzschlags und Sympathikotonus konnten weitere zeitstabile Größen zur Vorhersage der behavioralen Inhibition identifiziert werden. So besitzen auch die Parameter Pupillenerweiterung, Muskelspannung, Adrenalin- und Cortisolsekretion sowie rechtsfrontale Asymmetrie im EEG eine gewisse Vorhersagequalität, zeichnen sich jedoch im Vergleich zu kardialen Messgrößen durch geringere Stabilität aus. Ähnliche Ergebnisse der Zeitstabilität lieferten Studien von Yang et al. (1976), Calkins (1997) und Rothbart (1988), die einen Zusammenhang zwischen positiver Reagibilität im Säuglingsalter und Annäherungstendenzen mit sechs Jahren beobachten konnten. Möhler et al. (2006a) untersuchten die Haarfarbe von Kindern und kamen – wie bereits Vorarbeiten von Kagan u. Rosenberg (1989) – zu dem Ergebnis, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Haarfarbe und der Ausprägung inhibierten Verhaltens existiert. Auch konnte in dieser Untersuchung ein schwacher Zusammenhang zwischen behavioraler Inhibition und kardialer Habituation im Neu-
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geborenenalter festgestellt werden (Möhler et al. 2006), sodass sich eine biologische Komponente unmittelbar andeutet. Ein deutlicher Zusammenhang zwischen kindlicher behavioraler Inhibition und mütterlicher Psychopathologie (Möhler et al. 2007a) wirft jedoch die Frage auf, inwieweit auch Interaktionseffekte beteiligt sein können. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass anhand vieler anatomischer, physiologischer und biochemischer Parameter schon sehr früh eine Vorhersage über die Ausprägung inhibierten Verhaltens im Kleinkindalter von 14 Monaten gemacht werden kann. Diese erläuterten Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es aufgrund der assoziierten Parameter wahrscheinlich ist, dass die behaviorale Inhibition zumindest in den ersten Lebensjahren stark genetisch bedingt ist. Es gibt jedoch auch Studien, die bereits eine sehr frühe Beeinflussung der behavioralen Inhibition durch die Umwelt vermuten lassen. Somit stellt sich die Frage, ab wann und in welcher Form die Umwelt eines Kindes dazu beitragen kann, dass einer Ausprägung der Temperamentsdimension »behaviorale Inhibition« und somit auch dem erhöhten Risiko für das Auftreten einer emotionalen Störung im Kindes- und Jugendalter entgegengewirkt werden kann.
3.4.3
Einfluss der Umwelt auf die behaviorale Inhibition
Der Einfluss der Umwelt auf die behaviorale Inhibition wird mit sehr unterschiedlichen Zahlen belegt. So klärt er laut Robinson et al. (1992) 50 % der auf der Dimension »behaviorale Inhibition« beobachtbaren Varianz auf. Es werden jedoch auch geringere Anteilswerte angenommen. Auch das Forschungsteam um Plomin (Plomin et al. 1991) kam zu dem Ergebnis, dass Umweltfaktoren die Ausprägung des Temperamentsmerkmals »behaviorale Inhibition« modifizieren können. Laut ihren Ergebnissen sind 30 % der Varianz von Temperamentseigenschaften durch Umwelteinflüsse aufgeklärt. Doch je größer der genetische Anteil an der Temperamentsentwicklung ist, desto intensiver sollte im Hinblick auf die Vulnerabilität des Kindes nach potenziell
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3
Kapitel 3 • Temperament
modifizierenden Umweltfaktoren gesucht werden (Resch 1999). Bei der Suche nach präventiven Maßnahmen gegen die Ausprägung inhibierten Verhaltens ist es von zentraler Bedeutung, den genauen Zeitpunkt zu identifizieren, ab dem die Umwelt Einfluss auf den Entwicklungsprozess einer behavioralen Inhibition erhält. In diesem Zusammenhang ist eine Studie zum Erziehungsverhalten und dessen früher Auswirkung auf die Manifestation inhibierten Verhaltens (Arcus et al. 1992, zit. nach Resch u. Möhler 2001) eine häufig erwähnte Arbeit. In dieser Studie zeigte sich, dass hoch reagible Säuglinge (fünf Monate) besonders protektiver und sensitiver Mütter mit 14 Monaten eher als behavioral inhibiert eingestuft wurden als hoch reagible Säuglinge mit weniger protektiven Müttern. Inwiefern dieses mütterliche Verhalten Ursache für die Ausprägung des behavioral inhibierten Verhaltensstils ihres Kindes oder Folge des hoch reagiblen Verhaltens des Kindes war, ist nach wie vor nicht geklärt (Park et al. 1997). Eine andere Studie untersuchte den Faktor Geburtsreihenfolge und kam zu dem Ergebnis, dass zwei Drittel der behavioral inhibierten Kinder Zweit- oder Spätgeborene und zwei Drittel der behavioral uninhibierten Kinder Erstgeborene waren (Kagan et al. 1988). Dieses Ergebnis weist eindeutig auf die Wichtigkeit elterlichen Erziehungsverhaltens bei der Ausprägung einer behavioralen Inhibition hin. Wie wichtig die Mutter bei der Entwicklung eines behavioral inhibierten Verhaltensstils im Kleinkindalter von 14 Monaten ist, zeigen auch Ergebnisse von Möhler et al. (2007b). Bei den Untersuchungen konnte, wie oben beschrieben, ein Zusammenhang zwischen einer depressiven Symptomatik der Mutter und kindlicher behavioraler Inhibition festgestellt werden. In einer anderen Studie konnte beobachtet werden, dass mütterlicher pränataler Stress mit einer erhöhten Reaktivität bei vier Monate alten Säuglingen assoziiert ist (Möhler et al. 2006a). Dies wurde mittlerweile im Rahmen einer prospektiven Untersuchung repliziert (Rothenberger et al. 2011). Die Ergebnisse dieser Studien weisen auf die Wichtigkeit der Mutter-Kind-Beziehung bei der Entwicklung einer behavioralen Inhibition hin. Nicht nur aus diesem Grund muss der 50 %ige Anteil der genetischen Beteiligung angezweifelt
werden. Zur Umwelt gehört zudem nicht nur die post-, sondern auch die pränatale Umwelt. Dies zeigen nicht nur aktuelle Studien zum emotionalen pränatalen Stress (Möhler et al. 2006a) sondern auch Studien zu hormonalen pränatalen Einflussgrößen (Rothenberger et al. 2011). Dies ist insbesondere bei Zwillings- und Adoptionsstudien zu beachten. Die gemeinsamen Eigenschaften eineiiger Zwillinge nach Adoption können genauso gut auch durch eine gemeinsame pränatale Umwelt entstanden sein, denn eins ist sicher: Das Leben beginnt nicht erst mit der Geburt! Fazit Das Temperament ist weder rein genetisch bedingt, noch können rein milieutheoretische Verhaltensbeeinflussungen angenommen werden. Die kindliche Entwicklung vollzieht sich in permanenter Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt, und beide Faktoren beeinflussen sich zudem auch noch gegenseitig in nicht unerheblicher Weise. Es werden noch sehr viele hypothesengeleitete Studien benötigt, um mehr Licht in die vielen dunklen und unverstandenen Ecken dieser Nature-nurtureInteraktionen zu bringen.
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Kapitel 3 • Temperament
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3
57
Bindung und Bindungsstörungen Éva Hédervári-Heller
4.1
Einleitung – 58
4.2
Grundlagen der Bindungstheorie und die Organisation von frühen Bindungsbeziehungen – 58
4.3
Die Entwicklung der frühen Bindungsorganisation – 60
4.4
Die Qualität von frühen Bindungsbeziehungen – 61
4.5
Bindungsstörung – 62
4.5.1 4.5.2 4.5.3
Das Fehlen von Bindung – 63 Das Fehlen der sicheren Basis – 63 Bindungsstörung nach Verlust einer Bindungsperson – 64
4.6
Bindung im Erwachsenenalter – 65 Literatur – 66
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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4
Kapitel 4 • Bindung und Bindungsstörungen
Kinder haben, insbesondere in den ersten Lebensjahren, ein elementares Grundbedürfnis nach Nähe und Geborgenheit. Sie bauen von Geburt an emotionale Bindungen zu den Erwachsenen ihrer engsten Umgebung auf. Die psychische Entwicklung von jungen Kindern hängt in hohem Maße davon ab, ob sie sich auf die Unterstützung ihrer vertrauten Bezugspersonen, meistens auf die Unterstützung der Eltern, verlassen können. Die Bindungstheorie, die weltweit zu einer der bedeutendsten Theorien der modernen Entwicklungspsychologie zählt, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Entstehung, der Organisation und der Entwicklung von emotionalen Bindungen von der Geburt bis ins hohe Erwachsenenalter. In diesem Beitrag werden vor allem grundlegende Konzepte der Bindungsorganisation, die Qualität und die Entwicklungsphasen der frühkindlichen Bindung diskutiert. Themen der neueren Bindungsforschung wie Bindungsstörungen, Kontinuität und Diskontinuität sowie Bindung im Erwachsenenalter werden aufgegriffen.
4.1
Einleitung
Der menschliche Säugling ist mit einem biologisch verankerten Bindungsverhaltenssystem ausgestattet, das ihm ermöglicht, Nähe und Kontakt zu Personen seiner sozialen Umgebung zu suchen und aufrechtzuerhalten. Komplementär zum Bindungsverhaltenssystem des Säuglings steht das Pflegeverhalten der Erwachsenen. Das Bindungsverhaltenssystem des Kindes und das Pflegeverhalten der Erwachsenen stehen in einer ständigen Wechselbeziehung zueinander und sichern das Überleben des Säuglings. In diesem Wechselprozess, d. h. in der ständigen Interaktion und Affektregulierung zwischen dem Säugling und seinen primären Bezugspersonen, kommt es im Laufe der ersten zwölf Lebensmonate zum Aufbau von Bindungsbeziehungen. Die nebeneinander bestehenden Bindungen werden unabhängig voneinander organisiert. Sie unterscheiden sich in ihrer Intensität und Qualität voneinander. Unter ungünstigen sozial-emotionalen Bedingungen des Kindes kommt es zur pathologischen Bindungsentwicklung und schließlich zur Bindungsstörung.
Die psychische Entwicklung des Kindes und das Aufwachsen in seelischer Gesundheit sind in hohem Maße davon abhängig, ob das Kind sich in emotional belastenden Situationen auf die Unterstützung seiner primären Bezugspersonen verlassen kann. Kinder sind vor allem in den ersten Lebensjahren auf die emotionale Verfügbarkeit von vertrauten Bindungspersonen angewiesen. Sie fühlen sich sicher, wenn ihre Signale, Wünsche und Bedürfnisse ernst genommen, beantwortet und befriedigt werden. Störungen der frühkindlichen Verhaltensregulation stellen eine große Herausforderung für die Eltern-Kind-Bindung dar. Sie können die Bindungsorganisation des Kindes negativ beeinflussen, oder umgekehrt: Beeinträchtigungen der Bindungssicherheit können zum Erhalt von Regulationsstörungen beitragen. Die Einbeziehung bindungstheoretischer Konzepte ist daher besonders hilfreich in der Beratung und Therapie frühkindlicher Regulationsstörungen. Die Bindungstheorie bietet keine neue Therapieform an. Bindungstheoretisches Wissen stellt lediglich Deutungsmuster zur Verfügung, mit denen im Rahmen der ElternSäuglings-/Kleinkind-Beratung und Psychotherapie ein besseres Verständnis für die Eltern-KindPaare erzielt werden kann.
4.2
Grundlagen der Bindungstheorie und die Organisation von frühen Bindungsbeziehungen
Die Bindungstheorie wurde ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit zu einer der wichtigsten Theorien zur Erklärung sozial-emotionaler Entwicklung von der Geburt bis ins hohe Erwachsenenalter. Das ursprüngliche Forschungsinteresse an der Entstehung und Entwicklung von emotionalen Bindungsbeziehungen in der frühen Kindheit (Bowlby 1969; Ainsworth et al. 1978) verlagerte sich auf die Entwicklung von Bindung in der späteren Kindheit, im Jugend- und im Erwachsenenalter (Grossmann u. Grossmann 2004, 2009). Breites Interesse fanden auch Fragen zur Kontinuität und Diskontinuität von Bindung im Lebenslauf sowie zur transgenerationalen Übermittlung von
4.2 • Grundlagen der Bindungstheorie und die Organisation von frühen…
Bindung. Die Relevanz bindungstheoretischer Erkenntnisse ist mittlerweile in unterschiedlichsten Disziplinen sozialwissenschaftlicher Praxis anerkannt und geschätzt (ausführlich zur Bindungstheorie und zur Organisation früher Bindungsbeziehungen: Hédervári-Heller 2011). John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, leitete Anfang der 1950er-Jahre sein theoretisches Konzept aus der Psychoanalyse, der Systemtheorie und vor allem aus der Ethologie (Verhaltensforschung) ab und fasste seine ethologische Bindungstheorie in einem dreibändigen Werk zusammen: Bindung (1969), Trennung (1973) und Verlust, Trauer und Depression (1980). Die Bindungstheorie wurde in Deutschland durch das Ehepaar Klaus und Karin Grossmann bekannt und verbreitet (Grossmann u. Grossmann 2004, 2009). Bowlby beschreibt Bindung als ein emotionales Band zwischen einem Kind und einer oder mehreren vertrauten Bezugspersonen. Nach Bowlbys Auffassung existiert ein biologisch festgelegtes Bindungsverhaltenssystem, das das Überleben und die psychische Gesundheit des Kindes garantiert. Das Bindungsverhaltenssystem wird erst durch eine Stresssituation aktiviert, wenn das Kind entweder durch innere Belastung (Hunger, Müdigkeit) oder durch äußeren Stress (eine fremde Umgebung, fremde Personen, Trennung von der Bindungsperson) auf die emotionale Unterstützung der Bindungsperson angewiesen ist. Das Vorhandensein von Bindungsbeziehungen zeigt sich im Bindungsverhalten. Der Begriff bezeichnet beobachtbare Verhaltensweisen wie Saugen, Weinen, Lächeln, Arme ausstrecken, sich der Bindungsperson annähern, ihr nachfolgen oder sich anklammern. Bindungsverhalten entspricht der Suche nach Sicherheit und Schutz. Mit dem Konzept von inneren Arbeitsmodellen (Vorstellungsmodellen) trug Bowlby (1973) wesentlich zur Weiterentwicklung bindungstheoretischer Überlegungen bei. Innere (internale) Arbeitsmodelle sind individuelle und unbewusste mentale Repräsentationen des Selbst, der anderen und der Welt. Mithilfe dieser Modelle wird das Individuum in die Lage versetzt, aktuelle Ereignisse wahrzunehmen, künftige Ereignisse vorherzusehen und Pläne zu konstruieren. Arbeitsmodelle ermöglichen dem Individuum die Orientierung in der Welt. Sie sind
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4
flexibel, damit das Individuum die Vielfalt der Informationen sinnvoll interpretieren, sich an neue Situationen anpassen und die Welt realitätsgerecht abbilden kann. Innere Arbeitsmodelle sind ca. ab dem sechsten Lebensmonat nachweisbar und mit den kognitiven Fähigkeiten, vor allem aber mit der Entwicklung der Objektpermanenz nach Piaget (1937), eng verbunden. Es gibt Grund zu der Annahme, dass das Kind ab Ende des ersten Lebensjahres in der Lage ist, Arbeitsmodelle mental aufzurufen und das erwartbare Verhalten der Bindungsperson gedanklich vorwegzunehmen (Bretherton 1990). Es besteht eine Balance zwischen dem Bindungsverhaltenssystem auf der einen Seite und dem Explorationsverhaltenssystem auf der anderen Seite. Fühlt sich das Kind emotional ausgeglichen, so beschäftigt es sich intensiv mit der Erkundung der Umwelt, d. h., sein Explorationsverhalten ist aktiv. In einer Stresssituation oder bei dauerhaften emotionalen Belastungen verliert das Kind allerdings sein inneres Gleichgewicht, es hört auf zu spielen und zu explorieren und sucht Nähe und Kontakt zu seiner Bindungsperson. Sein Bindungsverhaltenssystem bleibt so lange aktiv, bis es sein inneres Gleichgewicht durch die Unterstützung der Bindungsperson oder – in seltenen Fällen – aus eigener Kraft wiederhergestellt hat. Symbolisch kann dieser Balanceakt mit einer Wippe verglichen werden. Wie auf einer Wippe kommt es zu einem ständigen Ausbalancieren zwischen den zwei Verhaltenssystemen der Bindung und der Erkundung. Zum Aufbau der Bindungsbeziehung trägt der Erwachsene mit seinem ebenfalls biologisch festgelegten »Pflegeverhalten« bei, indem er die durch das Kind signalisierten Bedürfnisse nach Nähe und Kontakt wahrnimmt und angemessen beantwortet. Somit ergänzen das »Pflegeverhalten« der Erwachsenen auf der einen Seite und das Bindungsverhalten des Kindes auf der anderen Seite einander und bilden ein Verhaltenssystem (Bowlby 1969, 1980; Ainsworth et al. 1978). Die Bindungsperson hat die wichtige Funktion, als sichere Basis zur Verfügung zu stehen und die Affekte des Kindes zu regulieren. Von dieser sicheren Basis aus erkundet das Kind seine soziale und materielle Umwelt, indem es sich für seine Umwelt interessiert, exploriert und spielt (Ainsworth et al. 1978). Beim Bindungsaufbau
60
4
Kapitel 4 • Bindung und Bindungsstörungen
kommt der Feinfühligkeit der Erwachsenen eine besondere Bedeutung zu. Feinfühligkeit bedeutet: (1) die Signale des Kindes wahrnehmen, (2) die Signale richtig interpretieren, (3) entwicklungs- und situationsangemessen und (4) prompt zu reagieren (Ainsworth 1977). Erwachsene unterscheiden sich in der Ausprägung ihrer Feinfühligkeit. Ein hohes Maß an Feinfühligkeit vonseiten der Bezugsperson führt zu emotionaler Sicherheit des Kindes. Bindungsbeziehungen, die von der frühen Kindheit an gleichzeitig nebeneinander bestehen, werden, wie bereits oben erwähnt, unabhängig voneinander organisiert und etwa vom Ende des ersten Lebensjahres an hierarchisch geordnet (Hédervári-Heller 2010). Für die Rangordnung oder Stärke der bestehenden Bindungsbeziehungen ist der zeitliche Faktor ausschlaggebend. Die Person, die im Alltag die meiste Zeit mit dem Kind verbringt, wird auf der Leiter der Hierarchie auf der obersten Stufe stehen. Je nach Zeitfaktor werden die anderen Bindungspersonen die zweite, dritte und die weiter darunter liegenden Stufen belegen. Werden die Betreuungszeiten zwischen den Bindungspersonen neu verteilt, so ändert sich auch die Rangordnung der unterschiedlichen Bindungsbeziehungen. Für die Qualität der Bindung ist wiederum weniger der Zeitfaktor als vielmehr die Art und Qualität der Erwachsenen-Kind-Interaktion bedeutend. Hierbei spielen die Feinfühligkeit der Bezugsperson und ihre Fähigkeit, über sich und andere zu reflektieren, eine wichtige Rolle (Fonagy u. Target 2005).
4.3
Die Entwicklung der frühen Bindungsorganisation
Bowlby (1969) postulierte vier Phasen im Aufbau der frühkindlichen Bindungsbeziehung. Demnach ist Bindung nicht von Geburt an vorhanden, sondern sie entsteht während des ersten Lebensjahres im emotionalen Austausch, in der Kommunikation und Interaktion mit primären Betreuungspersonen. 1. »Orientierung und Signale ohne Unterscheidung der Figur« (von der Geburt bis zum 2./3. Lebensmonat): Diese erste Phase der Bindungsentwicklung ist gekennzeichnet durch
einfache Verhaltenssysteme des Kindes wie das Weinen und – ab dem zweiten Lebensmonat – das »soziale Lächeln«. Der Säugling unterscheidet nicht zwischen vertrauten und weniger vertrauten Personen, er lässt sich von jedem beliebigen Erwachsenen auf den Arm nehmen und beruhigen, und er lächelt jede beliebige Person an. 2. »Orientierung und Signale, die sich auf eine oder mehrere Person/en richten« (3. bis 6. Lebensmonat): Der Säugling beginnt, sein Verhalten auf bestimmte Personen, meist auf die Mutter als primäre Bezugsperson, zu richten. Eine eindeutige Differenzierung ist in dieser Phase jedoch nur sehr selten zu beobachten. Der Säugling erkennt die Unterschiede zwischen bekannten und weniger bekannten Personen, sein Signalverhalten (Weinen, Lächeln) richtet er jedoch nur tendenziell auf einige wenige Personen. Er lässt sich noch leicht von fremden Personen auf den Arm nehmen und trösten. 3. »Aufrechterhaltung der Nähe zu einer unterschiedenen Figur durch Fortbewegung und durch Signale« (6. Lebensmonat bis 3. Lebensjahr): Während dieser Phase der Bindungsentwicklung erweitert sich das Verhaltensrepertoire des Kindes. Es zeigt aktives Bindungsverhalten, indem es der Bindungsperson folgt oder sie begrüßt. Es sucht von sich aus Nähe und Kontakt zu bestimmten, ihm vertrauten Bindungspersonen und bevorzugt deutlich einige primäre Bindungspersonen. 4. Bildung einer »zielkorrigierten Partnerschaft« (ab dem 4. Lebensjahr): Durch wachsende kognitive Fähigkeiten und Erfahrungen gewinnt das Kind Einblicke in die Motive und Gefühle der Bindungsperson. Es konstituiert sich zwischen den Bindungspartnern eine komplexere Beziehung, die Bowlby (1969) »zielkorrigierte Partnerschaft« nennt: Das Kind organisiert sein Verhalten nicht mehr alleine, sondern berücksichtigt auch die Pläne und Ziele der Bindungsperson.
61
4.4 • Die Qualität von frühen Bindungsbeziehungen
4.4
Die Qualität von frühen Bindungsbeziehungen
Bindungstheoretikern gelang es, ein Modell zur Überprüfung der Bindungsorganisation von der frühen Kindheit bis zum Erwachsenenalter zu konstruieren. Zur Beurteilung der Qualität der frühen Mutter-Kind-Bindungsbeziehung wird ein Klassifikationssystem herangezogen, nach dem verschiedene Anpassungsstrategien des Kindes zu beobachten sind. Nach der klassischen Bewertung unterscheidet man je nach Bindungsverhalten ein »sicheres« (Gruppe B), ein »unsicher-vermeidendes« (Gruppe A) und ein »unsicher-ambivalentes« (Gruppe C) Bindungsmuster (Ainsworth et al. 1978; Kißgen 2009). Kinder aus diesen Bindungsgruppen zeigen in einer Stresssituation klare Verhaltensstrategien im Hinblick darauf, ob und in welcher Art sie ihre Bindungsperson als eine »sichere Basis« nutzen. Sie verfügen somit über ein organisiertes Bindungsverhaltenssystem. Eine weitere Bindungsgruppe, »desorganisiert/desorientiert« (Gruppe D), unterscheidet sich von den drei vorher genannten Bindungstypen (Main u. Solomon 1986). Kinder mit einem desorganisierten Bindungsmuster haben keine eindeutige Verhaltensstrategie, wie sie ihre Bindungsperson als eine »sichere Basis« nutzen können. Sie verfügen nicht über ein organisiertes Bindungsverhalten und werden daher in ihrer Bindungsbeziehung als »hoch unsicher« bezeichnet (Ziegenhain 2009). Die Beurteilung der Bindungsqualität nach den genannten vier Gruppen erfolgt nach einem Klassifikationsverfahren durch die Beobachtung des kindlichen Verhaltens im »Fremde-SituationTest« (Ainsworth et al. 1978). Dieser basiert auf acht aufeinanderfolgenden dreiminütigen Episoden, die zwei kurze Trennungen von der Mutter oder einer anderen Bindungsperson enthalten. Durch den fremden Raum, die kurze Anwesenheit einer fremden Person und die zweimalige Trennung von der Bindungsperson wird das Bindungsverhaltenssystem des Kindes aktiviert. Der Test berücksichtigt die Reaktionen des Kindes auf die Wiederkehr der Bindungsperson im Hinblick auf die Suche nach Nähe und Kontakt, den Wunsch, Nähe und Kontakt zu erhalten, die aktive Vermeidung der Bindungsperson sowie den Widerstand gegenüber
4
Kontakt- und Spielangeboten der Bindungsperson. Diese Verhaltensweisen werden im Hinblick auf ihre Intensität auf einer siebenstufigen Skala bewertet und anschließend in Beziehung zueinander gesetzt. Der niedrigste Skalenwert bedeutet, dass das Verhalten nicht auftritt, und ein hoher Skalenwert heißt, dass das Verhalten stark ausgeprägt ist. Wesentlich ist hierbei, zu erfassen, ob und wie ausgeprägt das Kind seine Bindungsperson als eine »sichere Basis« nutzt oder aber versucht, den Stress aus eigener Kraft zu bewältigen. Somit können Informationen über die Bindungsorganisation und unterschiedliche Anpassungsstrategien von jungen Kindern gewonnen werden. Im Folgenden werden die einzelnen Muster frühkindlicher Bindungsorganisation näher beschrieben. z
Organisierter Bindungsstatus
Sicher gebundene Kinder (Hauptbindungsgruppe B) zeigen offenes Bindungsverhalten, d. h., sie suchen Nähe und Kontakt zu der Bindungsperson. Bindungssichere Kinder drücken ihre Gefühle offen aus und beruhigen sich rasch, wenn die Bindungsperson sie tröstet. Sie zeigen deutlich ihren Kummer, wenn sie von der Bindungsperson getrennt werden, aber ebenso deutlich ihre Erleichterung und Freude, wenn die Bindungsperson wiederkommt. Ihre Stresshormone verringern sich, wenn die Bindungsperson ihnen Trost und Sicherheit spendet. Sicher gebundene Kinder haben die Erfahrung gemacht, sich auf die Unterstützung der Bindungsperson verlassen zu können. Individuen mit einer grundlegenden Empfindung innerer Sicherheit und inneren Vertrauens bewahren auch in einer schwierigen Lebenssituation eine positive Lebenshaltung. Bindungspersonen von sicher gebundenen Kindern zeichnen sich durch einen hohen Grad an Feinfühligkeit gegenüber den Signalen der Kinder aus. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder (Hauptbindungsgruppe A) zeigen kein offenes Bindungsverhalten. Sie vermeiden aktiv Kontakt und Nähe zur Bindungsperson. Sie wirken autonom, spielen nach einer Trennung von der Mutter alleine weiter und vermeiden Blickkontakt. In einer Stresssituation unterdrücken sie ihre Gefühle und zeigen weder Ärger noch Trauer darüber, dass sie mit einer Situation unzufrieden sind. Sie haben es früh
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4
Kapitel 4 • Bindung und Bindungsstörungen
gelernt, mit emotional belastenden Situationen, wie z. B. mit einer kurzen Trennung von der Mutter, alleine fertig zu werden. Vermeidungsverhalten gilt somit für das unsicher-vermeidend gebundene Kind ab dem Ende des ersten Lebensjahres als eine wichtige Abwehrmaßnahme, um einer eventuellen Zurückweisung seitens der Bindungsperson zu entgehen. Diese Verhaltensstrategie wird als »Vermeidung im Dienste von Nähe« bezeichnet (Main 1982). Bindungsunsichere Kinder müssen Kompromisse finden, um ihr Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit und den Ausdruck von Gefühlen zu organisieren. Bindungspersonen von Kindern mit einer unsicher-vermeidenden Bindungsqualität sind wenig feinfühlig, sie weisen die Wünsche der Kinder nach Nähe und Trost häufig zurück, sind gegenüber dem Kind oft feindselig eingestellt, oder aber sie verhalten sich über- oder unterstimulierend. Kinder mit unsicher-ambivalenter Bindungsorganisation (Hauptbindungsgruppe C) zeigen in einer Stresssituation widersprüchliches Verhalten. Einerseits suchen sie Nähe und Kontakt zu der Bindungsperson, andererseits reagieren sie mit ärgerlicher Zurückweisung, wehren sich gegen den Kontakt oder weisen angebotene Spielsachen zurück. Ihr Widerstand gegen den Kontakt zur Bindungsperson ist stark ausgeprägt. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder lassen sich nur schwer von der Bindungsperson beruhigen und verhalten sich insgesamt wütend und ärgerlich. Manche diese Kinder verhalten sich passiv und wirken depressiv. Charakteristisch für Bindungspersonen unsicherambivalent gebundener Kinder ist, dass sie sich dem Kind gegenüber selbst ambivalent verhalten. Sie reagieren manchmal feinfühlig auf die Signale des Kindes, manchmal aber ablehnend, feindselig oder zurückweisend. z
Nicht organisierter Bindungsstatus (D)
Hoch unsicher gebundene, desorganisierte/desorientierte Kinder (Bindungsgruppe D) haben im Gegensatz zu den drei oben beschriebenen Bindungsgruppen kein organisiertes Bindungsverhalten. Sie haben keine eindeutigen Verhaltensstrategien, bzw. ihre Strategie bricht zusammen. Sie können, meistens aufgrund von traumatischen Erfahrungen, nicht auf ihre Bindungsperson als Quelle von Schutz und Sicherheit zurückgreifen. Im Gegenteil:
Die in normaler Weise Sicherheit bietende Bindungsperson wird zur Quelle der Angst und Verunsicherung. Entsprechend unterbrechen Kinder mit einem desorganisierten Bindungsmuster z. B. ihren Versuch, Nähe und Kontakt zur Bindungsperson herzustellen, zeigen Stereotypien, erstarren oder wirken für einige Sekunden psychisch abwesend. Gründe für einen desorganisierten Bindungsstatus sind oft Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen der Kinder oder aber psychisch unbewältigte Trennungs- oder Verlusterfahrungen der Bindungspersonen. Letztere werden unbewusst als unverarbeitete traumatische Erfahrungen aus der Vergangenheit der Eltern auf das Kind übertragen. Der desorganisierte Bindungsstatus ist noch keine Psychopathologie, jedoch ein Risikofaktor für eine gesunde seelische Entwicklung im Kindesalter und an der Grenze zur klinischen Bindungsstörung anzusiedeln. In den letzten 40 Jahren wurden Kinder zwischen dem ersten und dem zweiten Lebensjahr weltweit nach dem Bewertungssystem von Ainsworth und ihren Mitarbeitern klassifiziert (Ainsworth et al. 1978). Internationale Studien liefern den Nachweis, dass ca. 65 % der Kinder in den ersten zwei Lebensjahren sicher gebunden (B) sind, ca. 25 % unsicher-vermeidend (A), ca. 10 bis 15 % unsicher-ambivalent (C) und ca. 10 bis 25 % unsicher-desorganisiert (D) (Grossmann u. Grossmann 2004).
4.5
Bindungsstörung
Bindungsstörung gilt als eine pathologische Form der Bindungsorganisation (Zeanah u. Boris 2005; Ziegenhain 2009). Diese ist von der unsicheren und desorganisierten Bindung deutlich abzugrenzen. Eine Bindungsstörung liegt vor, wenn ein Kind aufgrund von schwerer Traumatisierung oder häufigem Wechsel der Betreuungssituation im Laufe der ersten Lebensjahre keine tragende Bindungsbeziehung aufbauen konnte. Die Klassifizierung von Bindungsstörungen ist schwierig und bleibt eine wichtige Forschungsaufgabe der kommenden Jahre. Einigkeit besteht darüber, dass Bindungsstörungen in den ersten fünf Lebensjahren entstehen und frühestens ab dem
63
4.5 • Bindungsstörung
achten Lebensmonat zu beobachten sind (Brisch 1999; Klitzing 2009; Ziegenhain 2009). Trotz der hier erwähnten Schwierigkeiten erscheint es sinnvoll, Bindungsstörungen nach den gängigen Klassifikationssystemen zu benennen, um diese von den unsicher-vermeidenden, unsicher-ambivalenten und desorganisierten/desorientierten Bindungsmustern abzugrenzen. Eine erste klinische Beschreibung von Bindungsstörungen erfolgte bereits in den 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts im Zusammenhang mit mütterlicher Deprivation und der Heimbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern (Spitz 1945). Die Klassifizierung der unterschiedlichen Typen von Bindungsstörungen ist allerdings jüngeren Datums. Die Diagnose »reaktive Bindungsstörung« wurde zuerst 1980 im DSM-III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; American Psychiatric Association 1980) vorgestellt und in einer weiteren Ausgabe (DSM-IV; Saß et al. 1996) weiter ausdifferenziert. Dort sind zwei Ausprägungen von Bindungsstörungen benannt: Bindung mit Hemmung und enthemmte Bindungsstörung. Dies entspricht der Klassifikation der in Deutschland benutzten ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme; Remschmidt et al. 2006), die zwei schwere Formen von Bindungsstörungen nennt: reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1) und Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2). Beide Störungen gehen auf schwere Beeinträchtigungen der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes durch Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch oder durch häufige Wechsel des Betreuungsmilieus zurück. Heimkinder sind oft von diesen beiden Arten von Bindungsstörungen betroffen. Kinder mit reaktiver Bindungsstörung zeigen kein Bindungsverhalten. Demgegenüber äußert sich Bindungsstörung mit Enthemmung in einem undifferenzierten Bindungsverhalten mit wahlloser Freundlichkeit und Distanzlosigkeit auch nicht vertrauten Personen gegenüber. Eine alternative Klassifikation von Bindungsstörungen ist jüngeren Datums und mit den Namen Zeanah und Boris verbunden. Zeanah u. Boris (2005) schlagen drei Kategorien von frühkindlicher Bindungsstörung vor: 1) das Fehlen von Bindung; 2) das Fehlen der sicheren Basis (»secure-base dis-
4
tortion«), bei der das Kind eine gestörte Bindung zu einer bestimmten Bezugsperson hat, und 3) die Bindungsstörung nach Verlust einer Bindungsperson (»disrupted attachment disorder«).
4.5.1
Das Fehlen von Bindung
Bei dieser Kategorie handelt es sich um zwei Formen der Bindungsstörung, die mit den internationalen Klassifikationssystemen nach DSM-IV (Saß et al. 1996) und ICD-10 (Remschmidt et al. 2006) vergleichbar sind. z
Bindungsstörung mit emotionalem Rückzug, mit Hemmung und fehlender Bindung
Wichtiges Bindungsverhalten wie die Suche nach Nähe, Trost und Zuneigung sowie das Explorationsverhalten sind stark eingeschränkt. Kinder mit dieser Bindungsstörung haben Schwierigkeiten, soziale Kontakte aufzubauen, und zeigen ernste Probleme bei der emotionalen Selbstregulierung. z
Bindungsstörung mit fehlender Unterscheidung zwischen vertrauten und nicht vertrauten Personen
Diese Bindungsstörung führt dazu, dass das Kind keine Bindungsperson bevorzugt und nicht zwischen vertrauten und nicht vertrauten Personen unterscheidet. Es sucht Nähe, Kontakt und Trost auch bei fremden Personen, ohne die zu erwartende soziale Zurückhaltung bei Fremden. Kinder, die diese Kriterien erfüllen, haben oft Schwierigkeiten, sich selbst zu schützen.
4.5.2
Das Fehlen der sicheren Basis
Anders als bei der vorherigen Kategorie (Fehlen von Bindung) hat das Kind hier eine Bindungsbeziehung aufgebaut, es hat eine bevorzugte Bindungsperson, die Bindung zu ihr ist jedoch gestört. Vier Typen dieser Art Bindungsstörung werden unterschieden. z
Bindungsstörung mit Selbstgefährdung
Diese Art Bindungsstörung kann erst ab dem dritten Lebensjahr diagnostiziert werden. Das Kind
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4
Kapitel 4 • Bindung und Bindungsstörungen
sucht keine Nähe zur Bindungsperson, sein Explorationsverhalten ist jedoch aktiv. Es begibt sich in besonders gefährliche Situationen, indem es z. B. in einer Menschenmenge wegläuft oder klettert, ohne die Gefahren dabei zu beachten. Gegen sich und gegen die Bindungsperson gerichtete aggressive Verhaltensweisen sind bei Kindern mit dieser Bindungsstörung zu beobachten. Fallstudien deuten darauf hin, dass Gewalt in der Familie oft im Zusammenhang zu einer Bindungsstörung mit Selbstgefährdung steht. Es scheint, als ob das Kind versuchen würde, die Aufmerksamkeit von einer nicht verfügbaren oder nicht zuverlässigen Betreuungsperson durch Selbstgefährdung auf sich zu ziehen. Die provokativen und selbstverletzenden Verhaltensweisen sind nur dann Anzeichen für eine Bindungsstörung, wenn sie stark, anhaltend und beziehungsspezifisch sind. Das hyperkynetische Syndrom (ADHD) ist ein Ausschlusskriterium für diese Art Bindungsstörung. z
Bindungsstörung mit Anklammern und gehemmter Exploration
Das Kind traut sich nicht, von der Bindungsperson wegzugehen, um die Umwelt altersangemessen zu erkunden. Dieses Verhalten tritt nur situationsspezifisch auf, z. B. bei gleichzeitiger Anwesenheit der Bindungsperson und eines unbekannten Erwachsenen. Es fehlt die Balance zwischen Bindungsund Explorationsverhalten. Die Abgrenzung vom Normalverhalten ist hier schwierig. Es stellt sich die Frage, ob das Verhalten des Kindes mit Temperamentsmerkmalen zu tun haben könnte oder ob es eine Bindungsstörung darstellt. Die fehlende Regulierung von Nähe und Distanz zur Bindungsperson ist ein Hinweis auf diese Art Bindungsstörung. Dennoch stellt sich die Frage, ab wann die Dysregulation stark genug ist, um als Störung zu definiert zu werden. z
Bindungsstörung mit Wachsamkeit und übertriebener Anpassung (Compliance)
Ein Kind, das Anzeichen dieser Bindungsstörung zeigt, ist emotional eingeschränkt und der Betreuungsperson gegenüber wachsam und übertrieben folgsam. Es hat offensichtlich Angst vor der Bindungsperson oder befürchtet, ihr nicht zu gefallen. Dieses Verhalten wird wahrscheinlich ausgelöst
durch eine intensive, lang anhaltende Wut und Frustration der Bindungsperson. Mit Wachsamkeit und übertriebener Anpassung will sich das Kind vor weiteren Verletzungen schützen. z
Bindungsstörung mit Rollenumkehr
Anstatt das Kind zu versorgen und ihm emotionale Unterstützung und Schutz zu bieten, ist die Bezugsperson innerlich mit ihrem eigenen emotionalen Zustand beschäftigt. Das mangelnde Fürsorgeverhalten der Betreuungsperson geht einher mit einem nicht angemessenen kindlichen Verhalten. Das Kind übernimmt die »emotionale Last« der Beziehung, indem es sich der Betreuungsperson gegenüber bestrafend, übermäßig besorgt oder fürsorglich verhält oder eine andere nicht angemessene Rolle einnimmt. Hier scheint es eine Verbindung zwischen der desorganisierten Bindung in der frühen Kindheit und dem kontrollierenden Verhalten im späteren Kindesalter zu geben. Klinische Erfahrungen deuten darauf hin, dass die Identifizierung von Bindungsstörung mit Rollenumkehr besonders schwierig ist. Das Kind muss ein Alter von 20 bis 60 Monaten und Angst um das Wohlbefinden der Bezugsperson haben. Die Bezugsperson kann das unangebrachte Verhalten des Kindes nicht erkennen. Diese Kinder zeigen oft Störungen in der Beziehung zu Gleichaltrigen und zu Geschwistern.
4.5.3
Bindungsstörung nach Verlust einer Bindungsperson
Die Reaktion des Kindes auf den Verlust der Bindungsperson lässt sich mit den Beobachtungen von Robertson u. Robertson (1975) vergleichen: Nach einer Phase des Protests ist das Kind verzweifelt und verhält sich schließlich gleichgültig und wirkt so, als ob es keinen Trennungskummer hätte. Der Verlust einer Bindungsperson in der frühen Kindheit scheint viel belastender zu sein als ein Verlust im späteren Lebensalter. Die daraus entstandene Bindungsstörung wurde bisher nicht ausreichend untersucht. Betroffen sind Kinder, die Veränderungen in Pflegeverhältnissen erleben oder ihre einzige Bindungsperson durch Tod verloren haben. Das Vorhandensein einer anderen Bindungsperson kann die Verlustangst des Kindes mildern.
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4.6 • Bindung im Erwachsenenalter
4.6
Bindung im Erwachsenenalter
Seit ca. 30 Jahren gilt das Forschungsinteresse auch den Bindungsrepräsentanzen im Jugend- und Erwachsenenalter. Diese neue Entwicklung innerhalb der Bindungstheorie wurde mit der Ausarbeitung und Verbreitung des »Erwachsenen-BindungsInterviews« (Adult Attachment Interview/AAI) nach George et al. (1984, 1985, 1996) erst möglich. Mit dieser Methode können Veränderungen der Bindungsorganisation im Lebenslauf empirisch untersucht werden (Gloger-Tippelt 2001). Das Erwachsenen-Bindungs-Interview kommt aufgrund seiner Komplexität seltener zur Anwendung als die »Fremde Situation« zur Untersuchung der Bindungsorganisation im frühen Kindesalter (van Ijzendoorn u. Sagi 1999). Einfacher handhabbar ist der in Anlehnung an das ErwachsenenBindungs-Interview entwickelte projektive Test, das »Erwachsenen-Bindungs-Projektiv« (Adult Attachment Projective/AAP) nach George u. West (2001). Ähnlich wie in der Kindheit lassen sich auch im Erwachsenenalter unterschiedliche Muster von Bindungsrepräsentanzen klassifizieren, die einem der drei organisierten und einem nicht organisierten Bindungsstatus zugeordnet werden können (Main u. Goldwyn 1985–1996; GlogerTippelt 2001). Die organisierten Bindungsmuster entsprechen den drei Kategorien: F = sicher-autonom (»free/autonom«), Ds = unsicher-distanziert/ abweisend (»dismissing«) und E = unsicher-verstrickt (»enmeshed/preoccupied«). Der nicht organisierte Bindungsstatus im Erwachsenenalter wird als Kategorie U = unverarbeiteter Bindungsstatus (»unresolved trauma/loss«) bezeichnet. z
4
worten während des Bindungsinterviews sind klar, gut begründet und kurz. Erwachsene mit sicheren Bindungsrepräsentanzen haben ein hohes »reflexives Selbst«. z
(D) Modell der unsicher-distanzierten/ abweisenden Bindung
Erwachsene der Bindungsgruppe »unsicher-distanziert/abweisend« haben wenige oder nur vage Erinnerungen an beziehungsrelevante Themen ihrer Kindheit. Trotz Erfahrung von Zurückweisung zeigen sie positive oder idealisierte Elternbilder, ohne konkrete Erfahrungen zu nennen. Wenn Erinnerungen als Episoden aus der Kindheit berichtet werden, sind sie widersprüchlich. Bindungsbeziehungen werden gering wertgeschätzt, und bindungsrelevante Erfahrungen werden als wenig bedeutend und nicht einflussreich bewertet. Die Befragten betonen eigene Stärke, Leistung und Unabhängigkeit. Während des Interviews wird oft ein subtiles bis offenes Missfallen an dem Interviewthema gezeigt (Unterbrechung des Interviewers, Behauptung, sich nicht zu erinnern, usw.). z
(E) Modell der unsicher-verstrickten Bindung
Erwachsene mit dieser Bindungsrepräsentanz berichten inkohärent (unzusammenhängend), widersprüchlich, sehr subjektiv und ausschweifend über ihre Erfahrungen mit den Eltern in der Kindheit. Sie sind sehr emotional, oft ängstlich oder ärgerlich. Negative Erfahrungen in der Beziehung zu den Eltern werden überbewertet. Diese Erwachsenen vermitteln den Eindruck einer geringen Distanz zu ihren Eltern. Sie sind auch noch im Erwachsenenalter in Bindungskonflikte verstrickt, was an ihrer auffällig starken Beschäftigung mit den Eltern deutlich wird.
(F) Modell der autonomen/sicheren Bindung
Erwachsene mit sicheren Bindungsrepräsentanzen haben gute, lebhafte Erinnerungen an Kindheitserfahrungen und Zugang zu ihren Gefühlen. Bindungsrelevante Erfahrungen werden wertgeschätzt und als einflussreich bewertet. Diese Erwachsenen berichten offen und frei auch über widersprüchliche und unangenehme Gefühle für die Bezugspersonen in ihrer Kindheit. Sie vermitteln ein kohärentes Bild sowohl von positiven als auch von negativen frühkindlichen Erfahrungen. Ihre Ant-
z
(U) Unverarbeiteter Bindungsstatus
Erwachsene mit einem unverarbeiteten Bindungsstatus weisen eine mentale Desorganisation und Desorientierung auf, insbesondere bei Themen, die traumatische Ereignisse (Verlust einer wichtigen Person durch Tod, körperlicher bzw. sexueller Missbrauch) betreffen. Sie zeigen einen hohen Grad verbaler und gedanklicher Inkohärenz. Ihre Schilderungen früherer Verluste von Bindungspersonen bzw. ihre Erzählungen über Bindungstrau-
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4
Kapitel 4 • Bindung und Bindungsstörungen
mata während des Erwachsenen-Bindungs-Interviews sind voller Angst oder irrationaler Anteile. Dies zeigt sich z. B. in der Mitteilung, den Todesfall einer Bindungsperson selbst verschuldet zu haben. Sie machen logische Fehler sowie uneindeutige Angaben über Ort und Zeit von Todesfällen. Erwachsene mit einem unverarbeiteten Bindungsstatus stammen entweder aus Risikofamilien und haben Misshandlung, Missbrauch oder Verwahrlosung erlebt, oder sie stammen aus intakten Familien, tragen jedoch ein unverarbeitetes Trauma in sich. In der aktuellen Bindungsforschung bei Erwachsenen geht es außer um Interviewverfahren, projektive Tests und Befragungen (Buchheim u. Strauß 2002) mehr und mehr um die Untersuchung von Bindung und Neurobiologie (Buchheim et al. 2010). Erste Ergebnisse bildgebender Verfahren sind allerdings ernüchternd und weisen auf die Notwendigkeit weiterer Forschungsanstrengungen hin. Laut Buchheim et al. (2010, S. 22) lässt es die bisherige Datenlage nicht zu, »ein spezifisches neuronales Netzwerk von Bindung beschreiben zu können«. Allerdings zeichneten sich »erste Befunde ab, nach denen wiederholt Regionen wie die Amygdala und orbito-/präfrontale kortikale Strukturen involviert sind, wenn bindungsrelevante Stimuli prozessiert werden«. Außerdem zeichne sich ab, »dass beispielweise bei Untersuchung von Aspekten des ‚Caregiving‘ andere Hirnstrukturen (Dopamin-assoziierte Areale im Belohnungssystem) aktiv sind als jene, die als neuronale Korrelate des ‚Attachment System‘ postuliert werden« (Buchheim et al. 2010, S. 22). Fazit Unter Bindungsforschern besteht Einigkeit über die Universalität der Bindungsorganisation bzw. der unterschiedlichen Bindungsmuster. Aus kulturpsychologischer Perspektive werden jedoch Zweifel an der Universalität der Bindungsklassifikation erhoben (Keller 2004). Ein Argument dieser Kritik beruht auf den unzureichenden Forschungsdaten in Bezug auf kulturelle Einflüsse auf die Bindungsorganisation. Es wird als dringend notwendig erachtet, kulturvergleichende Untersuchungen innerhalb der Bindungsforschung anzustreben, in denen kulturelle Werte und Normen stärker als bisher berücksichtigt werden. Es darf nicht außer Acht gelassen
werden, dass z. B. in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Vorstellungen und Definitionen von Bindung und bindungstheoretischen Annahmen existieren (Keller 2004). Aus zahlreichen international durchgeführten empirischen Studien ist abzuleiten, dass die frühe Bindungserfahrung Einfluss auf viele Bereiche der weiteren Entwicklung nimmt. Vor allem ein sicherer Bindungsstatus gilt als eine wichtige Voraussetzung für die spätere gesunde psychische Entwicklung. Die Stärke und Beständigkeit dieses Einflusses scheint allerdings viel moderater zu sein als oft vermutet (Sroufe 1997, 2000; Suess u. Sroufe 2008; Weinfield et al. 1999). Es gibt ausreichende Gründe für die Annahme, dass frühe Lebenserfahrungen nicht notwendigerweise gravierendere Konsequenzen für die spätere Entwicklung haben als später gemachte Erfahrungen (Sroufe 2000; Kagan 2000). Veränderungen in den Lebensumständen können auch Veränderungen in Beziehungsprozessen sowie in der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes bewirken. Bindungssicherheit in der frühen Kindheit ist kein Determinismus im Sinne einer Prägung der Persönlichkeit im Lebenslauf, sondern als Fundament und Vorläufer einer erfolgreichen späteren Anpassung zu verstehen (Zimmermann et al. 1995; Kißgen 2009).
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69
Kommunikation und Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr Mechthild Papoušek
5.1
Entwicklung der Kommunikation im vorsprachlichen Alter – 70
5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4
Kommunikationsbereitschaft des menschlichen Säuglings – 70 Kommunikationsfähigkeiten und Motivationen der Eltern – 71 Grunderfahrungen intersubjektiver Verbundenheit – 71 Adaptive Funktionen des vorsprachlichen Kommunikationssystems – 71 Aufbau eines intersubjektiven Erfahrungshintergrundes – 72 Neurobiologische Verankerung des vorsprachlichen Kommunikationssystems – 73
5.1.5 5.1.6
5.2
Spezifische Sprachlernprozesse im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Kommunikation – 73
5.2.1 5.2.2 5.2.3
Aneignung des Lautrepertoires der Muttersprache – 74 Einflüsse auf die lautsprachliche Entwicklung – 74 Entwicklung der stimmlichen Kommunikationsfähigkeiten – 77
5.3
Bedeutung der Kommunikation im Säuglingsalter für die kindliche Sprachkompetenz – 77 Literatur – 78
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 5 • Kommunikation und Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr
Das Kapitel stellt den Beginn des Spracherwerbs in den systemischen Entwicklungskontext der vorsprachlichen Kommunikation zwischen dem Säugling und seinen primären Bezugspersonen. Es fasst zunächst die psychobiologischen Voraussetzungen der frühen Verständigung, ihre Erscheinungsformen und adaptiven Entwicklungsaufgaben zusammen: die Regulation physiologischer und affektiver Bedürfnisse, Grunderfahrungen der Bindungssicherheit sowie den Aufbau eines intersubjektiven Erfahrungshintergrundes bei Exploration und Spiel und die Entwicklung von einzigartigen sozial-kognitiven Kompetenzen, die unlösbar mit dem Erwerb der Muttersprache verbunden sind. Der zweite Teil befasst sich mit der Rolle der frühen Kommunikation als natürlichem Lern- und Übungskontext für die Aneignung von Lautrepertoire und Regelwerk der Muttersprache und für die Entwicklung von Nachahmungs- und Kommunikationsfähigkeiten, Sprachwahrnehmung, Sprachverständnis und beginnendem Wortschatzerwerb.
5.1
Entwicklung der Kommunikation im vorsprachlichen Alter
Die Kommunikation des Säuglings mit seinen primären Bezugspersonen ist seit Anfang der 1970erJahre Gegenstand vielseitiger wissenschaftlicher Interessen in den Disziplinen der Säuglingsforschung, Bindungstheorie, Sprachwissenschaften, Evolutionsbiologie und Neurobiologie. Sie spielt in nahezu allen Domänen der frühkindlichen Entwicklung eine zentrale Rolle. Die systematische Erforschung begann seinerzeit mithilfe verhaltensbiologischer Methoden der videogestützten Verhaltensbeobachtung und Verhaltensmikroanalyse von Zwiegesprächen im natürlichen Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehung. Die vorsprachliche Kommunikation betrifft die wechselseitige Verständigung von Eltern und Säugling, das Mitteilen und Austauschen von Information mithilfe des gesamten wahrnehmbaren Verhaltens. Sie schließt die Ebene der konkreten Interaktionen ebenso ein wie die Ebene des subjektiven Erlebens und Empfindens, der Befindlichkeiten, Affekte und Stimmungen, Bedürfnisse und Motivationen, In-
teressen und Absichten, soweit sie sich im nichtsprachlichen Verhalten niederschlagen und vom Gegenüber wahrgenommen und verstanden werden.
5.1.1
Kommunikationsbereitschaft des menschlichen Säuglings
Der Säugling lässt von Geburt an ein Interesse an sozialen Interaktionen erkennen und wendet seine Aufmerksamkeit bevorzugt dem menschlichen Gesicht sowie der Stimme und Sprache der Mutter zu. Im Zwiegespräch mit der Mutter oder anderen Bezugspersonen kommen ihm einzigartige implizite Lernfähigkeiten und innere Motivationen zugute (Meltzoff et al. 2009; Papoušek 1969). Sie erlauben ihm, sich im komplexen Verhalten des Gegenübers mit häufig wiederkehrenden Verhaltensmustern und Regeln vertraut zu machen. Er ist fähig, Ereignisse im Verhalten des Gegenübers zu entdecken und herbeizuführen, die er mit eigenen Verhaltensformen auslösen und beeinflussen kann, und macht damit Erfahrungen früher Selbstwirksamkeit, die mit inneren Motivationen verbunden sind (Papoušek 1969). Sein besonderes Interesse gilt dem mimischen und stimmlichen Ausdrucksverhalten des Gegenübers, vor allem dann, wenn es mit seinem eigenen Ausdrucksverhalten korrespondiert. Darauf weisen seine angeborenen Fähigkeiten und Motivationen hin, mimische und orale Bewegungsmuster des Gegenübers nachzuahmen (Field et al. 1982; Meltzoff u. Moore 1977). Wie die klassischen experimentellen Lernstudien gezeigt haben, sind die inneren Prozesse des Wahrnehmens, Lernens und Integrierens von Erfahrungen als Ausdruck der beteiligten physiologischen und affektiven Regulationsprozesse an allen Facetten der kindlichen Körpersprache, seinem Blickverhalten und den zunächst unwillkürlichen stimmlichen und mimischen Signalen ablesbar (Papoušek 1969). Die Lernstudien machten weiterhin deutlich, welche Bedingungen der Säugling benötigt, um seine Lernerfahrungen erfolgreich integrieren zu können: einfache, langsame, kontrastreiche Stimulation mit häufigen Wiederholungen, in kontingentem Zusammenhang mit seinem Verhalten,
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5.1 • Entwicklung der Kommunikation im vorsprachlichen Alter
sowie einen aufnahmebereiten ausgeglichenen Wachzustand, Erholungspausen und gelegentliche Regulationshilfen (Papoušek u. Papoušek 1984), Bedingungen, die er vor allem in sozialen Interaktionen findet. Neuere Experimente bestätigen, dass der Säugling auch in seinen sprachbezogenen Lernfähigkeiten auf soziale Interaktion angewiesen ist (Meltzoff et al. 2009).
5.1.2
Kommunikationsfähigkeiten und Motivationen der Eltern
Eltern und andere Betreuer verfügen in der Regel – unabhängig von Alter, Geschlecht und kultureller Tradition – über eine biologisch verankerte intuitive Begabung zur Kommunikation mit dem Neugeborenen (»intuitive parenting«, Papoušek u. Papoušek 1987), die es ihnen ermöglicht, das Baby zu verstehen und sich dem Baby verständlich zu machen. Die Analyse des Kommunikationsverhaltens zeigt, dass sich die Eltern dem Baby durch auffällige und vereinfachte Grundmuster in Mimik, Sprechweise, Berührung und Gestik verständlich machen, die sie intuitiv an den Reifungsgrad der frühkindlichen Wahrnehmung, Lernfähigkeiten und Erfahrungsintegration anpassen und von Moment zu Moment in Dynamik, Tempo und Timing wohldosiert auf die kindlichen Signale der Aufnahme- und Interaktionsbereitschaft abstimmen (Papoušek u. Papoušek 1987). Sie erleichtern ihrem Kind damit die Selbstregulation seiner psychophysiologischen Erregung, Affekte und Aufmerksamkeitsprozesse. Im Sinne des bindungstheoretischen Konstrukts der Feinfühligkeit (»maternal sensitivity«, Ainsworth 1977) nehmen sie die Signale des Kindes mit intuitiver Einfühlung wahr, verstehen sie aus der kindlichen Perspektive, beantworten sie prompt und angemessen. Einen zentralen Aspekt der elterlichen Responsivität bildet ihre Neigung, das kindliche Ausdrucksverhalten nachzuahmen und zu spiegeln (Papoušek u. Papoušek 1989). Infolge der kontingenten Responsivität und Imitationsneigung der Eltern kann in der frühen Kommunikation ein intersubjektiver Lern- und Erfahrungskontext entstehen, in dem der Säugling seine reifenden motorischen, mimischen, stimmlichen, sozial-kommu-
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nikativen und sprachbezogenen Lernfähigkeiten selbstwirksam erproben und einüben kann.
5.1.3
Grunderfahrungen intersubjektiver Verbundenheit
Im Zusammenspiel der komplementären kindlichen und elterlichen Kompetenzen entstehen Kommunikationsmuster, die sich durch positive Gegenseitigkeit auszeichnen (Papoušek 2004). Die Eltern erleichtern durch ihre Verhaltensanpassungen Blickkontakt und Episoden gemeinsamer Aufmerksamkeit. Sie beantworten und spiegeln Blickzuwendung und affektive Signale und erfüllen das Bedürfnis ihres Kindes nach Selbstwirksamkeit. Umgekehrt wirken die Reaktionen des Babys – Blickzuwendung, Lächeln und Gurren – auf die Eltern als Belohnung und Stärkung des Selbstvertrauens in ihre intuitiven Kompetenzen. Auf der Ebene des inneren Erlebens ermöglichen die Eltern dem Baby, das, was es momentan empfindet und in seinem Verhalten signalisiert, im Einklang mit ihrem gespiegelten Ausdrucksverhalten zu integrieren. Im Spiegel des elterlichen Affektausdrucks kann es seiner eigenen affektiven Befindlichkeit und seines affektiven Ausdrucksverhaltens gewahr werden. Die Eltern fühlen sich ihrerseits empathisch in die affektive Erfahrungswelt des Säuglings ein. So entstehen in der frühen Kommunikation Augenblicke unmittelbarer emotionaler Bezogenheit (Stern 2007), Grunderfahrungen, die Trevarthen (1979) als »primäre Intersubjektivität« beschrieben hat, »Engelskreise positiver Gegenseitigkeit« (Papoušek 2004), die in einem dynamischen System wechselseitiger Unterstützung und Belohnung verankert sind (Emde u. Sorce 1983).
5.1.4
Adaptive Funktionen des vorsprachlichen Kommunikationssystems
Je nach Kontext und aktuellen Bedürfnissen des Säuglings erfüllt die frühe Kommunikation adaptive Funktionen in fast jeder Domäne der frühkindlichen Entwicklung (Papoušek 2004). Weder das Baby noch die Eltern können die rasch auf-
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Kapitel 5 • Kommunikation und Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr
einanderfolgenden Anforderungen und Entwicklungsaufgaben allein bewältigen. Im Zusammenspiel bilden sie ein koregulatorisches System, das in den Alltagsinteraktionen beim Füttern, Beruhigen, Schlafenlegen, Wickeln, im Zwiegespräch, bei Erkundung und Spiel, bei Trennung und anderen Belastungen zum Tragen kommt. Die Bedürfnisse und wachsenden Regulationsfähigkeiten des Kindes und die intuitive regulatorische Unterstützung tragen gleichermaßen dazu bei, dass das Kind die alterstypischen Entwicklungsaufgaben adaptiv meistert. So kommt der Kommunikation beim Umgang mit Belastungszeichen und Schreien des Säuglings in Situationen, die kindliche Stressreaktionen, Angst oder Abwehr induzieren, eine Schlüsselfunktion für den Aufbau einer sicheren Bindung und der affektiven Regulationsfähigkeit und Stressregulation des Kindes zu (Zimmermann et al. 2000). Die konstitutionell angelegte Tröstbarkeit und Anschmiegsamkeit des Kindes trägt zu solchen Grunderfahrungen positiver Gegenseitigkeit ebenso bei wie die Bereitschaft und Fähigkeit der Betreuungsperson, affektive Erregung, Belastung oder Ängste des Kindes wahrzunehmen, in sich aufzunehmen, aus Sicht des Babys zu verstehen, mit abgestimmten intuitiven Regulationshilfen zu mildern und ins Positive zu verwandeln (Papoušek 2004).
5.1.5
Aufbau eines intersubjektiven Erfahrungshintergrundes
Die Grunderfahrungen emotionaler Bezogenheit im Zwiegespräch bilden den Auftakt zur Entwicklung der beim Menschen einzigartigen sozialen Kognitionsfähigkeiten gegen Ende des ersten Lebensjahres (Tomasello 2009). In der Wechselseitigkeit der Eltern-Kind-Kommunikation wird der Säugling zunehmend seiner eigenen Emotionen und Absichten gewahr, gewinnt Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl und erprobt Erfahrungen von Wirkmächtigkeit, Intentionalität und zielorientiertem Handeln. Im gleichen Zuge lernt er, mentale Zustände, Gefühle, Intentionen und Ziele der Eltern zu erfassen und für die eigene Verhaltensregulation zu nutzen (Stern 2007).
Diese Entwicklung verläuft Hand in Hand damit, dass sich Eltern und Kind eine intersubjektive Welt gemeinsamer Erfahrungen, Repräsentationen und Bedeutungen aufbauen, die der Säugling zu integrieren und zu repräsentieren lernt. Der gemeinsame Erfahrungshintergrund wird zum dyadischen Bezugs- und Bedeutungsrahmen für das beginnende Sprachverständnis und die ersten Wörter (Camaioni 2001). Geleitet von seinem aktiven Interesse an Gegenständen und Ereignissen der belebten und unbelebten Umwelt, findet der Säugling bei den Eltern Unterstützung in seinem Erkundungsbedürfnis und seiner explorativen Eigenaktivität. Im gemeinsamen Handlungsraum von Exploration und Spiel kommt der Fähigkeit, einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus herzustellen, eine zentrale Rolle zu. Während es im ersten Halbjahr vor allem die Eltern sind, die sich von der kindlichen Blickrichtung leiten lassen, erwirbt der Säugling um die Mitte des zweiten Halbjahres selbst die Fähigkeit, der Blickrichtung und Zeigegeste der Eltern zu folgen und seinerseits die Aufmerksamkeit der Eltern durch Zeigen und sogenannte deklarative (Aufmerksamkeit weckende, Interesse und Gefühle teilende Absicht) oder imperative (auffordernde, Hilfe verlangende Absicht) Lautgesten auf den Gegenstand seines Interesses zu lenken (Bates et al. 1987; Tomasello 2009). Die kindliche Kommunikation gewinnt den Charakter absichtsvoller Mitteilungen, die sich gezielt an das Gegenüber und dessen Handlungsbereitschaft richten, parallel zu der Fähigkeit, aus der Beobachtung einer Handlung des Gegenübers dessen Absichten und Ziele abzulesen. Einen optimalen Übungskontext bietet das Spiel, in dem das Kind lernt, wie man im gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus bei gemeinsamen Tätigkeiten kooperiert, Absichten und Ziele einander mitteilt oder miteinander teilt, durch Beobachtungslernen neue Handlungsmöglichkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Gegenständen kennenlernt und erprobt (Meltzoff 1999). Es lernt im Spiel mit den Eltern, auf Gegenstände, Tätigkeiten oder Ereignisse im gemeinsamen Fokus und Erfahrungshintergrund Bezug zu nehmen, ihre Bedeutung zu verstehen und ihnen schließlich ein Wort zuzuordnen (Papoušek 1994). Formate gemeinsamer Aufmerksamkeit und ein gemeinsamer Hintergrund als Voraussetzung für das gemeinsame
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5.2 • Spezifische Sprachlernprozesse im Entwicklungskontext
Verstehen von Bedeutung und damit für das Zuordnen und Verstehen sprachlicher Konventionen bilden den Kern von Bruners sozial-pragmatischer Theorie des Spracherwerbs (Bruner 1987). Auf der Grundlage eindrücklicher artvergleichender und ontogenetischer Studien über die Ursprünge der menschlichen Kommunikation spricht Tomasello (2009) von einer verborgenen kooperativen Infrastruktur der spezifisch menschlichen Kommunikation und Sprache, die in sozial-kognitiven Fähigkeiten und prosozialen Motivationen zu gemeinsamer Aufmerksamkeit, geteilter Intentionalität und einem gemeinsam zu erwerbenden begrifflichen Hintergrund verankert ist.
5.1.6
Neurobiologische Verankerung des vorsprachlichen Kommunikationssystems
Die Annahme einer biologischen Grundlage stützte sich zunächst indirekt auf kulturvergleichende Untersuchungen und den Nachweis einer erstaunlichen transkulturellen Universalität basaler elterlicher Kommunikationsmuster (Fernald 1989; Papoušek et al. 1991). Auch die intuitive Steuerung des elterlichen Kommunikationsverhaltens und die bemerkenswerte Komplementarität des Verhaltensrepertoires in Bezug auf die jeweils alterstypischen kindlichen Wahrnehmungs-, Integrations- und Regulationsfähigkeiten hatten bereits auf eine neurobiologische Grundlage hingewiesen (Papoušek u. Papoušek 1987). Inzwischen hat sich die Vermutung durch neurobiologische Forschungsergebnisse weitgehend bestätigt. Dazu gehören die neuroendokrinologischen Arbeiten zum Oxytocin als Bindungshormon (Uvnäs-Moberg 2011; vgl. auch 7 Kap. 1), Untersuchungen zur Beteiligung endorphinabhängiger und dopaminerger Belohnungssysteme und Studien zur Frühentwicklung und epigenetischen Programmierung der Stressregulationssysteme (Braun et al. 2009; Weaver et al. 2004). In Bezug auf die primär intersubjektiven Grunderfahrungen der Kommunikation und die Entwicklung von Intersubjektivität, Empathie, sozialer Kognition und Spracherwerb verdient vor allem die neurobiologische Entdeckung von Spie-
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gelneuronen bei Primaten und beim Menschen Beachtung (Rizzolatti u. Sinigaglia 2008). Diese Netzwerke kontrollieren das Planen und Ausführen von zielgerichtetem, intentionalem Verhalten und das emotionale Ausdrucksverhalten, werden aber auch aktiviert, wenn ein Individuum die gleiche Handlung oder das gleiche Ausdrucksverhalten bei einem Artgenossen beobachtet. Das bloße Beobachten von intentionalem oder emotionalem Verhalten des Gegenübers ermöglicht, dessen Absichten oder Gefühle innerlich nachzuvollziehen, zu verstehen und mit ihm zu teilen. Die Netzwerke der Spiegelneurone bilden damit eine neurobiologische Grundlage für das intuitive Verstehen der mentalen Welt des Gegenübers, seiner Absichten und Handlungsziele (Bauer 2005). Beim Menschen bietet die Entdeckung der Spiegelneurone mit ihren Vernetzungen Erklärungsmodelle für die evolutionsbiologische Entstehung der menschlichen Intersubjektivität, Empathie und affektiven Resonanz, der sozialen Kognitions- und Kooperationsfähigkeiten sowie der »Theory of Mind« (Bauer 2005; Rizzolatti u. Sinigaglia 2008). In Bezug auf die Frühentwicklung trägt sie dazu bei, die intuitive Natur der elterlichen Kommunikationsfähigkeiten (Papoušek u. Papoušek 1987) zu erklären, ebenso wie die Phänomene der Nachahmung des Neugeborenen, der primären und sekundären Intersubjektivität (Stern 2007), der geteilten Aufmerksamkeit und Intentionalität (Tomasello 2009).
5.2
Spezifische Sprachlernprozesse im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Kommunikation
Über die zuvor skizzierten adaptiven Funktionen hinaus bietet die Kommunikation im Säuglingsalter einen Lern- und Übungskontext für ein bemerkenswertes Pensum an sprachspezifischen Entwicklungsaufgaben in den Bereichen der Lautbildung und beginnenden Sprachproduktion, der stimmlichen Nachahmung und stimmlichen Kommunikation, der Sprachwahrnehmung und des Sprachverständnisses, für implizite Lernprozesse, die der Säugling quasi mühelos bewältigt (Meltzoff et al. 2009). Sie bleiben dem Beobachter weitgehend
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Kapitel 5 • Kommunikation und Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr
verborgen, wurden jedoch mithilfe klassischer experimenteller Paradigmen der Säuglingsforschung und Phonetik (Präferenzstudien) und neuerer Analysemethoden (ereigniskorrelierte Potentiale, bildgebende Verfahren) weitgehend entschlüsselt.
5.2.1
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Aneignung des Lautrepertoires der Muttersprache
Akustische und phonetische Analysen der frühkindlichen Lautentwicklung haben aufgedeckt, dass diese von allgemeinen Mechanismen der Stimm- und Lautbildung über das Einüben universell sprachlicher Vokalisationen bis hin zum Erwerb des spezifisch muttersprachlichen Lautrepertoires fortschreitet (Hsu et al. 2000; Oller 2000; Papoušek 1994). Sie beginnt mit unscheinbaren kurzen Grundlauten mit einer für das Sprechen typischen Stimmgebung. Die sprachbezogene Lautbildung erfordert, anders als das angeborene Schreien oder Lachen, eine feinmotorisch zunehmend anspruchsvollere Koordination und Kontrolle von Phonatoren (Atmung, Kehlkopf und Stimmbändern) und Artikulatoren (Lippen, Zunge, Unterkiefer, oropharyngealem Resonanzraum). Im ersten Halbjahr steht das Einüben von Stimmgebung und universellen Merkmalen der Lautbildung im Vordergrund. Im zweiten Monat gewinnen die Grundlaute an Resonanz, melodischer Modulation und vokalartiger Qualität und werden von Gurrlauten abgelöst. In der folgenden Expansionsphase wird das Lautbildungspotenzial des Stimmtraktes in spielerischen Monologen und Dialogen in allen Facetten erprobt: Höhen und Tiefen, Flüstern und Kreischen, Klangfarben, Melodien, Prusten sowie ein dem Sprechrhythmus ähnliches Segmentieren der Ausatmung mit Vorstufen von Vokalen und Silben. Das folgende Silbenstadium setzt im mittleren Alter von sieben Monaten mit einem Meilenstein der Vokalisationsentwicklung ein, dem Silbenplappern, in Form von rhythmischen Sequenzen regulärer, sogenannter kanonischer Silbenketten oder Doppelsilben (»dadadada«; »gaga«) (Oller u. Eilers 1988). Das von intakten Hörfähigkeiten abhängige Silbenplappern klingt nicht nur wie Sprache, sondern erfüllt auch akustisch die phonetischen Artikulationsmerkmale reifer Silben, die den
universellen Grundbaustein aller menschlichen Sprachen darstellen (Oller 2000). Die Silbenketten folgen dem Rhythmus des Sprechens und werden nach und nach durch melodische Intonationsmuster moduliert und phrasiert (Papoušek u. Papoušek 1981). Gegen Ende des ersten Lebensjahres beginnt das Kind, der Muttersprache entnommene umschriebene Lautfolgen oder Doppelsilben als erste Protowörter und Wörter zu produzieren, mit denen es in einem erkennbaren Bedeutungszusammenhang auf ein Ereignis oder einen Gegenstand im gemeinsamen Erfahrungskontext Bezug nimmt (7 Abschn. 5.1.5).
5.2.2
Einflüsse auf die lautsprachliche Entwicklung
Die Entwicklung der kindlichen Lautbildung wird von verschiedensten Einflussfaktoren bestimmt wie Reifungs- und Lernprozessen, Hörfähigkeiten, Sprachwahrnehmung und Sprachverarbeitung, Qualität des Sprachinputs, stimmliche Nachahmung und soziale Interaktion. z
Reifungsprozesse
Reifungsprozesse zeigen sich beispielsweise in den einzig beim menschlichen Säugling nachgewiesenen anatomischen Veränderungen des Stimmtraktes während der ersten drei Monate, die den Mund- und Rachenraum als Resonanzraum für die Vokalbildung erweitern und der Zunge und anderen Artikulatoren ein freieres Spiel ermöglichen (Ploog 1992). Als Hinweis auf einen wichtigen neuromotorischen Reifungsschritt gilt das Einsetzen der kanonischen Silben, das mit der Myelinisierung corticobulbärer Bahnen assoziiert ist (Oller u. Eilers 1988; Ploog 1992). z
Ammensprache als Teil der intuitiven elterlichen Kommunikationsfähigkeiten
Als »Ammensprache« – in der internationalen Literatur »motherese« oder »infant-directed speech« (»ID-speech«) – werden die unwillkürlichen Anpassungen der Sprechweise bezeichnet, die Eltern und andere Bezugspersonen intuitiv vornehmen, wenn sie sich mit einem Säugling im vorsprachlichen Alter verständigen wollen (Fernald u. Simon
5.2 • Spezifische Sprachlernprozesse im Entwicklungskontext
1984; Papoušek et al. 1987). Im Säuglingsalter vereinfachen und verdeutlichen die Eltern vor allem die prosodischen Merkmale, melodische Konturen, Betonung und Rhythmus. Sie sprechen verlangsamt, mit zahlreichen Wiederholungen, Variationen und verlängerten Pausen. Sie nutzen die Prosodik, um dem Baby kommunikative Absichten und einfache affektive Botschaften zu vermitteln: Anregen, Wecken und Ausrichten von Aufmerksamkeit, Bestärken, Beruhigen, Trösten oder Warnen (Fernald 1989; Papoušek et al. 1991). Sie nutzen die melodischen Konturen aber auch zur Segmentierung von sprachlich relevanten Einheiten (Kemler-Nelson et al. 1989) und zum Hervorheben bedeutungstragender Wörter (Fernald u. Mazzie 1991). Sie verdeutlichen Vokale, Stoppkonsonanten und andere Lautkontraste durch Dehnung der akustischen Merkmale und prototypische Aussprache (Englund 2005; Ratner 1984) und erleichtern damit die Sprachverarbeitung (Liu et al. 2003; Werker et al. 2007). z
Sprachwahrnehmung und Sprachverarbeitung
Der Aneignung des muttersprachlichen Lautrepertoires geht die Entwicklung der kindlichen Sprachwahrnehmung lange voraus. Bereits vorgeburtlich richten sich die früh gereiften auditiven Wahrnehmungsfähigkeiten auf die intrauterin verstärkten prosodischen Eigenschaften der mütterlichen Sprache aus, was dem Neugeborenen erlaubt, die Muttersprache an ihrer prosodischen Struktur (Rhythmus, Intonation) wiederzuerkennen und von prosodisch andersartigen Fremdsprachen zu unterscheiden (Fifer u. Moon, 1989). Postnatal richtet sich die auditive und visuelle Aufmerksamkeit des Neugeborenen auf die Sprache, die es in Form der intuitiven elterlichen Sprechweise bevorzugt (Cooper 1993; Fernald u. Kuhl 1987). Sie ermöglicht ihm, unterschiedliche melodische Konturen zu differenzieren (Fernald 1989) und daraus verschlüsselte emotionale Botschaften und kommunikative Absichten der Eltern abzulesen (Fernald 1989; Papoušek et al. 1990). Darüber hinaus erleichtert die Prosodik der elterlichen Sprechweise auch die Wahrnehmung linguistischer Informationen (z. B. Karzon 1985; Thiessen et al. 2005). Der Säugling wird mit ba-
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salen, auch bei Primaten nachweisbaren Fähigkeiten geboren, alle Phoneme (d. h. die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Lauteinheiten) der menschlichen Sprachen zu differenzieren, wenn sie ihm im Experiment in isolierten Silben dargeboten werden (Jusczyk u. Bertoncini 1988). Angeregt durch die Verteilungsmuster des Lautinventars der gehörten Sprache, entsteht im Zuge impliziter phonetischer Lernprozesse ein neuronales Netzwerk für das Erkennen phonetischer und prosodischer Merkmale der jeweiligen Sprache im sozialen Umfeld. So kommt es im Lauf der ersten sechs Monate zur Bildung phonetischer neuronaler Repräsentationen, in denen sich die angeborenen allgemeinen Differenzierungsfähigkeiten zunächst den universell sprachlichen und im zweiten Halbjahr zunehmend den spezifisch muttersprachlichen Lautkategorien angleichen (Kuhl et al. 2008). In der Wahrnehmung von Vokalen vollzieht sich eine messbare Angleichung der Formanten an die reifen muttersprachlichen Lautkategorien (der sogenannte Magneteffekt; Kuhl u. Meltzoff 1996). Die Autoren nehmen an, dass die neuronalen Netzwerke der auditiven Sprachverarbeitung auf das Lautinventar der Muttersprache quasi eingeschworen werden (»neural commitment«, Kuhl et al. 2008), was um die Mitte des zweiten Halbjahres die Identifikation von Phonemen in komplexeren Lautfolgen der Muttersprache (in Morphemen, den kleinsten bedeutungstragenden Einheiten, und Wörtern) erleichtert und mit einem weitgehenden Verlust früherer Diskriminierungsfähigkeiten von fremdsprachlichen Lautkontrasten einhergeht. Das bekannteste Beispiel betrifft den Verlust der Differenzierung von »L« und »R« bei japanischen Kleinkindern im Alter von zehn bis zwölf Monaten (Werker u. Tees 1984). Um im Sprachfluss einzelne Wörter und Wortfolgen als sinnvolle, bedeutungstragende Einheiten erkennbar zu machen, nutzt jede Sprache Segmentierungsregeln, die den Sprachfluss in Sätze, Phrasen und Wörter gliedern. Neben Markierungen durch Betonungsmuster und Intonation geht es um Regeln im Sprechrhythmus und Pausieren sowie um phonotaktische Regeln, die sprachtypische Lautfolgen bei der Wortbildung bestimmen. Säuglinge machen sich bis zum Alter von zwölf Monaten auch mit den semantischen Regeln der Mutterspra-
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Kapitel 5 • Kommunikation und Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr
che vertraut, z. B. mit der prosodischen Segmentierung von sprachlich bedeutsamen Lautsequenzen in Wörtern, Phrasen und Sätzen (Christophe et al. 2001; Kemler-Nelson et al. 1989; Thiessen et al. 2005); sie lernen, potenzielle Wörter von sprachunüblichen Lautfolgen zu unterscheiden (Jusczyk u. Aslin 1995), und lenken ihre Aufmerksamkeit bevorzugt auf prosodisch hervorgehobene bedeutungstragende Wörter. Das Verstehen der Sprache beginnt um die Mitte des zweiten Halbjahres, sobald es dem Kind gelingt, im Sprachfluss der Eltern wiederkehrende Lautfolgen bzw. Wörter zu identifizieren und deren Bedeutung in Bezug auf den gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und gemeinsamen Erfahrungshintergrund zu begreifen. z
Eigenaktivität und selbstwirksames Lernen im Spiel mit der Stimme
Wie aber verbindet sich das phonetische Lernen im Bereich der auditiven Wahrnehmung mit der Entwicklung der Lautproduktion? Man vergisst leicht, dass bei der sprachlichen Produktion nicht so sehr die Laute an sich zählen, sondern in erster Linie die sie erzeugenden Bewegungsmuster, aus denen die Laute ihre phonetische Konsistenz beziehen (Rizzolatti u. Sinigaglia 2008). Als Brücke zwischen auditiver Wahrnehmung und den zugehörigen Bewegungsmustern der eigenen Lautbildung eignet sich das kindliche Spiel mit der Stimme in Monologen oder Dialogen, bei dem der Säugling mit Ausdauer und Freude selbstwirksam Lautprodukte entdeckt, erprobt, erfindet und einübt (Oller 2000; Papoušek 1994; Papoušek u. Papoušek 1981) oder in Nachahmungsprozessen die eigenen Laute dem gehörten Lautinventar der Muttersprache anzugleichen sucht (Kuhl et al. 2008).
mus sowie in ihren vokal- oder konsonantenartigen Merkmalen nach (Papoušek u. Papoušek 1989). Die stimmlichen Nachahmungsspiele bestärken das Kind zum einen in seiner Eigenaktivität bei Lautbildung und Nachahmungsversuchen. Zum anderen bieten die intuitiven elterlichen Modelle und Nachahmungen auch eine Art korrektives Feedback, durch das die kindliche Lautbildung zunehmend an das Lautinventar der Muttersprache herangeführt wird. Das Neugeborene ahmt noch keine Laute, aber bereits die artikulationsartigen Mundbewegungen des Gegenübers nach (Meltzoff u. Moore 1977). Im ersten Halbjahr stützt sich auch das stimmliche Nachahmen auf die visuelle Wahrnehmung der entsprechenden Artikulationsbewegungen, eine frühe Form des Lippenlesens (Legerstee 1990). Vier bis fünf Monate alte Säuglinge sind in der Lage, die auditive und visuelle Wahrnehmung von gesprochenen Vokalen intermodal zu integrieren (Kuhl u. Meltzoff 1982). Vier Monate alte Säuglinge nutzen diese Informationsquellen jede für sich allein zur stimmlichen Nachahmung von Vokalen, imitieren jedoch am genauesten bei einer Präsentation beider Quellen (Legerstee 1990). Gegen Ende der Expansionsphase tauchen im spontanen Lautrepertoire vokalähnliche Laute auf, die den muttersprachlichen Vokalen mit ihrer spezifischen Formantenstruktur angeglichen sind (Boysson-Bardies et al. 1989; Kuhl u. Meltzoff 1996). Ab Mitte des zweiten Halbjahres beginnt der Säugling auch neue Lautmuster, oft auch zeitlich verzögert, nachzuahmen (Meltzoff 1999). Dabei leiten ihn die bereits in den auditiven neuronalen Netzwerken gespeicherten phonetischen Repräsentationen der Muttersprache (Kuhl et al. 2008). z
z
Stimmliche Nachahmung
Im natürlichen sozialen Kontext schließen die intuitiven Kommunikationsfähigkeiten der Eltern von früh auf eine ausgeprägte Neigung ein, die stimmlichen Äußerungen des Babys kontingent zu beantworten und zu imitieren. Im Alter von zwei bis fünf Monaten geben sie im stimmlichen Wechselspiel mit dem Baby einfache lautsprachliche Modelle und ahmen ihrerseits die kindlichen Laute in Tonhöhe, Melodik, Klangfarbe, Dauer und Rhyth-
Verknüpfung der auditiven phonetischen Lernprozesse mit der Aneignung des muttersprachlichen Lautrepertoires
Das Spiel mit der Stimme und das stimmliche Nachahmen in Dialogen und Monologen erlauben dem Säugling, das hörbare Resultat der eigenen Laute auf die benötigten Artikulationsmuster zu beziehen (Kuhl et al. 2008). Dabei können sich synchron mit den auditiven Repräsentationen entsprechende neuronale Repräsentationen der orolaryngealen Bewegungsmuster bilden. Die für die Kontrolle
5.3 • Bedeutung der Kommunikation im Säuglingsalter für die kindliche Sprachkompetenz
dieser Bewegungsmuster zuständigen motorischen Neurone müssen die Fähigkeit erwerben, sich beim bloßen Hören von Lauten, die durch analoge Bewegungsmuster eines Gegenübers erzeugt werden, zu aktivieren. Neurobiologen vermuten, dass dieser Prozess in der Evolution durch eine beim Menschen einzigartige sprachspezifische Anpassung und Reorganisation des Spiegelneuronensystems mit Bildung sogenannter Echo-Spiegelneurone erreicht wurde (Rizzolatti u. Bucino 2005).
5.2.3
Entwicklung der stimmlichen Kommunikationsfähigkeiten
In den ersten Lebensmonaten sind die stimmlichen Äußerungen wie das Schreien oder die frühen vokalartigen Laute noch ungerichtete und unwillkürliche Ausdrucksformen des jeweiligen Befindlichkeitszustandes, werden aber von den Eltern bereits kontingent und mit affektiver Resonanz beantwortet, was auch in der elterlichen Neigung zum Ausdruck kommt, den kindlichen Lauten affektive und intentionale Bedeutung zuzuschreiben (Užgiris 1984). Im Rahmen der intersubjektiven affektiven Austauschprozesse entwickelt sich im zweiten Trimenon die kindliche Fähigkeit, Lautäußerungen als Mittel der Kommunikation zu nutzen. Die Erfahrung stimmlicher Selbstwirksamkeit ermöglicht dem Säugling, seine Laute im Zwiegespräch aktiv, gerichtet und gezielt einzusetzen, um eine gewünschte Antwort des Gegenübers zu bewirken (Papoušek 1994). Selbst seine Unmutslaute und sein Schreien lernt er bemerkenswert rasch als Mittel zum Zweck einzusetzen. Um die Mitte des zweiten Halbjahres erreicht der Säugling eine qualitativ neue Ebene der intentionalen gestischen und stimmlichen Kommunikation (Bates et al. 1987). Tomasello (2009) spricht von der »Neunmonatsrevolution«, die das Kind in die Lage versetzt, Intentionen und Ziele des Gegenübers zu verstehen und mit ihm an Interaktionen mitzuwirken, die gemeinsame Ziele, Intentionen und Aufmerksamkeit umfassen. Die Eltern bieten auch dafür einen Übungsrahmen in Form von ritualisierten Interaktionsspielchen (Papoušek 1994) und konventionellen Ritualen, sogenannten
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Formaten wie »Geben und Nehmen« oder »Zeigen und Benennen« (Bruner 1987). Im kindlichen Kommunikationsrepertoire tauchen zunehmend absichtsvolle und konventionalisierte Elemente auf. Etwa im Alter von elf bis zwölf Monaten gewinnen die kindlichen Laute im Interaktionskontext die Funktion sogenannter Lautgesten (»da«, »nein«, »äh« mit auffordernder, Aufmerksamkeit weckender oder ablehnender Intonation), mit denen sie – meist in Kombination mit manuellen Gesten – eigene Absichten und Wünsche mitteilen und auf Ereignisse, Personen oder Gegenstände im gemeinsam aufgebauten Erfahrungskontext Bezug nehmen (7 Abschn. 5.1.5). Die wichtigste Rolle kommt der natürlichen Geste des Zeigens beim Erreichen eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus zu, neben erlernten konventionellen Gesten (Winken, Bitten, Kopfschütteln) und ikonisch-bildhaften Gesten (Hand zum Mund führen, Gesten im Als-ob-Spiel), die mit dem Gebrauch erster Wörter abnehmen (Tomasello 2009). Als erste gemeinsam verfügbare Wortsymbole greifen Eltern in vielen Sprachen aus dem kindlichen Lautrepertoire vor allem die Doppelsilben auf. Wie beim vorausgehenden Sprachverständnis sind auch die ersten Wörter noch eng handlungs- und kontextbezogen und repräsentieren ein breites Bedeutungsfeld (Camaioni 2001), ehe im Zuge weiterer kognitiver Entwicklungsschritte und Fortschritte im Sprachverständnis im zweiten Lebensjahr der Wortschatzerwerb im engeren Sinn einsetzt (Weinert 2004).
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Bedeutung der Kommunikation im Säuglingsalter für die kindliche Sprachkompetenz
Das erstaunliche Phänomen des frühkindlichen Spracherwerbs ergibt sich aus dem synergetischen Zusammenwirken der verschiedenen Kompetenzen, die sich unabhängig voneinander, aber im gemeinsamen Kontext der vorsprachlichen Kommunikation entwickeln. Über die anfänglichen deskriptiven Analysen der stimmlichen Kommunikation hinaus (Papoušek 1994) sind es vor allem die neuen Erkenntnisse zur Sprachwahrnehmung und zum Aufbau von Intersubjektivität, sozialer Kognition und ge-
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Kapitel 5 • Kommunikation und Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr
meinsamem Erfahrungshintergrund, die zu einer Neubewertung der frühkindlichen Eltern-KindKommunikation in ihrer Brückenfunktion für den Spracherwerb geführt haben.
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> Inzwischen liegen erste Studien vor, die die Auswirkungen der Kommunikation und der sprachbezogenen Lernprozesse im Säuglingsalter auf die spätere Sprachkompetenz des Kindes prospektiv unter gleichzeitiger Kontrolle kognitiver und allgemein auditiver Faktoren empirisch überprüft haben (für einen Überblick s. Kuhl et al. 2008). So zeigen sich signifikante Zusammenhänge zwischen den phonetischen Wahrnehmungsfähigkeiten und der Sprachentwicklung vom zweiten bis fünften Lebensjahr. Je besser die Aneignung des phonetischen Inventars der Muttersprache und je schlechter die Differenzierung fremdsprachlicher Phoneme im Alter von sieben bis acht Monaten, umso rascher schreitet die Entwicklung von Wortverständnis, Wortschatz, Äußerungslänge und syntaktischer Komplexität fort. Ebenso besteht ein Zusammenhang zwischen Qualitäten der Kommunikation wie der gemeinsamen Aufmerksamkeit und dem Wortschatzerwerb im zweiten Lebensjahr (Akhtar et al. 1991; Tomasello u. Farrar 1986). Fazit Trotz der großen Fortschritte in der Erforschung des Spracherwerbs sind die neuen Erkenntnisse aufgrund der individuellen Variabilität noch nicht zur Früherkennung und klinischen Einzelfalldiagnostik von Spracherwerbsstörungen geeignet (Sachse u. Suchodoletz 2011). Sie geben jedoch Einblick in die unverzichtbare Rolle der frühen Kommunikationsprozesse und fordern zu zwei wichtigen präventiven Empfehlungen heraus: zur frühzeitigen Untersuchung der Hörfähigkeiten und zur Stärkung der Eltern und anderer Betreuer in ihrer intuitiven nichtsprachlichen und sprachlichen Kommunikation mit dem Säugling.
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80
5
Kapitel 5 • Kommunikation und Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr
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81
Psychoanalytische Entwicklungstheorien Christiane Ludwig-Körner
6.1
Wurzeln der psychoanalytischen Entwicklungstheorien – 82
6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.1.6 6.1.7 6.1.8
Sigmund Freud (1856–1939) – 82 Alice Balint (1898–1936) und Michael Balint (1896–1970) – 83 René Spitz (1887–1974) – 83 Margaret Mahler (1897–1985) – 84 Anna Freud (1895–1982) – 86 Melanie Klein (1882–1960) – 87 Wilfred Bion (1897–1979) – 88 Donald Winnicott (1896–1971) – 89
6.2
Psychoanalytische Säuglingsforschung – 91
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4
Daniel Stern (*1934) – 91 Robert Emde (*1935) – 94 Joseph D. Lichtenberg (*1925) – 96 Louis W. Sander – 97
6.3
Ausblick – 99 Literatur – 100
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
6
82
6
Kapitel 6 • Psychoanalytische Entwicklungstheorien
Seit Sigmund Freud vor über hundert Jahren begann, die Psychoanalyse zu entwickeln, sind viele z. T. auch divergierende psychoanalytische Theorien zur Entwicklung des Kindes entstanden. Im Folgenden sollen die psychoanalytischen Ansätze dargelegt werden, die einen entscheidenden Einfluss auf eine veränderte Sicht der kindlichen Entwicklung genommen haben. An die Stelle einer adultomorphen Perspektive trat das Bemühen, das Kind aus seiner Binnenwelt, die in seinen sozialen Erfahrungen gründet, zu verstehen. Wegweisend waren dabei die Ergebnisse der psychoanalytischen Säuglingsforschung. Im Einzelnen werden die Ansätze folgender Autoren berücksichtigt: Alice und Michael Balint, Margaret Mahler, René Spitz, Donald Winnicott, Anna Freud, Melanie Klein, Wilfred Bion sowie die Säuglingsforscher Daniel Stern, Robert Emde, Joseph Lichtenberg, Louis Sander.
begann, steckte die Entwicklungspsychologie als Wissenschaft noch in den Kinderschuhen. Wilhelm Preyer hatte 1882 sein Buch Die Seele des Kindes veröffentlicht, William und Clara Stern beobachteten die Entwicklungsschritte ihrer Kinder, und in Wien führte Charlotte Bühler (1924–1938) systematische Beobachtungen an Kindern durch. In einem ihrer Forschungsprojekte wurden unter der Leitung von Hildegard Hetzer 60 Säuglinge rund um die Uhr (24 Stunden) beobachtet. Mitarbeiterinnen dieser Forschungsprojekte waren u. a. Ilse Hellmann, die später bei Anna Freud in den Kriegskinderheimen mitwirkte, und Esther Bick (Ludwig-Körner 2000). Letztere entwickelte später, auf diesen Erfahrungen aufbauend, in London die analytische Methode der Babybeobachtung.
6.1.1
6.1
Wurzeln der psychoanalytischen Entwicklungstheorien
Eltern-Säuglings-Psychotherapien/-Beratungen haben eine lange psychoanalytische Tradition und fußen auf unterschiedlichen Theorien. In diesem Überblicksartikel können nur einige der inzwischen sehr vielfältigen psychoanalytischen Entwicklungstheorien behandelt werden. Die Auswahl erfolgte vor allem im Hinblick auf die Relevanz der jeweiligen Theorie für aktuelle Eltern-SäuglingsPsychotherapien. Um Doppelungen zu vermeiden, wird auf die Darstellung von Bowlbys Bindungstheorie verzichtet (vgl. 7 Kap. 4), die leider lange von »orthodoxen« Psychoanalytikern ignoriert wurde, da sie eine zu große Revision der klassischen Sicht bedeutet hätte. Verzichtet wird zudem aus Platzgründen auf Ich-psychologische Weiterentwicklungen z. B. von Hartmann, Loewenstein, Kris, Jacobson, Nunberg, die interpersonalen Theorien von Fairbairn, Guntrip, Sullivan, obwohl sie großen Einfluss auf nachfolgende Ansätze hatten, und auf entwicklungstheoretische Überlegungen aus der Individualpsychologie und der komplexen Psychologie. Als Sigmund Freud Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse zu entwickeln
Sigmund Freud (1856–1939)
Freud, der im Zusammenleben mit seinen sechs Kindern täglich die kindliche Triebentwicklung beobachten konnte, entwickelte noch kein in sich geschlossenes einheitliches Entwicklungskonzept – sieht man von seiner Phaseneinteilung (oral, anal, ödipal) ab, die Ausgangspunkt vieler psychoanalytischer Entwicklungstheorien wurde. Die ersten Selbstrepräsentanzen entwickeln sich seiner Ansicht nach in völliger Übereinstimmung mit dem Lust-Unlust-Prinzip. Das Selbst wird als lustvoll erlebt, die Außenwelt als (projektiv) unlustvoll. Durch diese Externalisierung ist es möglich, die Illusion vom Selbst als Ort reiner Lust aufrechtzuerhalten. In diesem Zustand des primären Narzissmus fließt jegliche Libido in die Selbstrepräsentanz. Unter dem wachsenden Einfluss des Realitätsprinzips wird das Kind gezwungen, die vollzogene Trennung von innen = gut, außen = böse aufzugeben. Ein Teil der Libido wird auf die Objekte verlagert, der Rest bleibt als ein Rest des primären Narzissmus an das Selbst gebunden. Bei Fehlentwicklungen kann ein Teil oder die gesamte in die psychischen Repräsentanzen der Außenwelt abgegebene Libido (Objektlibido) zurückgezogen und in das Selbst investiert werden: der sekundäre Narzissmus. Während Freud sein Theoriengebäude vorrangig aus einer rekonstruktiven Arbeit mit Erwach-
83
6.1 • Wurzeln der psychoanalytischen Entwicklungstheorien
senen entwickelte und den Schwerpunkt auf die ödipale Triebentwicklung legte, konzipierten Kollegen schon früh eigene Ansätze zur menschlichen Entwicklung.
6.1.2
Alice Balint (1898–1936) und Michael Balint (1896–1970)
Auch wenn Sandor Ferenczi keine eigenständige Entwicklungspsychologie entwickelt hatte, beeinflusste sein Verständnis der Psychoanalyse die nachfolgenden Generationen. Alice Balint (die Anthropologie und vergleichende Erziehungswissenschaft studierte) und Michael Balint (Studium der Chemie, Physik, Medizin, Psychologie) waren beide u. a. bei Ferenczi in Lehranalyse. Sie blieben seinen Auffassungen auch dann noch sehr verbunden, als er innerhalb der psychoanalytischen Bewegung als Außenseiter galt. Obwohl sie keine eigene, in sich geschlossene Entwicklungstheorie erarbeiteten, können sie als Wegbereiter der Objektbeziehungstheorie und als Vorläufer der Selbstpsychologie angesehen werden. Ihr ungarischer Kollege Imre Hermann (1936) vertrat bereits früh die These eines triebhaften Wunsches nach körperlichem Kontakt, der sich im Anklammerungstrieb zeige. Aktive, objektgerichtete Tendenzen sehen Michael und Alice Balint schon beim Neugeborenen, und Alice Balint (1939/1982) plädiert für eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung in der präödipalen Zeit. Als biologische Basis dieser primären Objektbeziehung sieht M. Balint eine »triebhafte Aufeinanderbezogenheit von Mutter und Kind; die beiden sind aufeinander angewiesen, aber zugleich auch aufeinander abgestimmt, sie befriedigen sich selbst durch einander, ohne aufeinander Rücksicht nehmen zu müssen« (1937/1982, S. 32). Narzissmus ist aus der Sicht Balints – im Gegensatz zur Sichtweise Freuds – immer die Folge einer Frustration und insofern immer »sekundär«. Alice und Michael Balint sind der Ansicht, dass die modernen (westlichen) Kulturen die notwendige enge Verbundenheit zwischen Mutter und Kind zu früh zerreißen und damit die Wahrscheinlichkeit narzisstischer Fehlentwicklungen erhöhen. Die primäre Beziehung (primäre Objektliebe) ist »die harmonische Beziehung zu einer undifferenzierten
6
Umwelt, einer Umwelt, die vielleicht mit dem identisch ist, was Anna Freud das ‚bedürfnisstillende Objekt‘ und Winnicott die ‚Haltefunktion der Mutter‘ nennt« (Balint 1961/1969, S. 182). Kritisch und wegweisend fragt er: »woher wissen wir denn so sicher, dass der Säugling ganz und gar nichts von der Außenwelt weiß?« (1937/1982, S. 39). Er spricht an dieser Stelle bereits von Grundstörungen als einem Defekt in der psychischen Struktur, einer Art Mangel, den es zu beheben gilt. Dabei handelt es sich um eine Störung in der Zwei-Personen-Beziehung und nicht um einen Triebkonflikt oder einen ödipalen Konflikt.
6.1.3
René Spitz (1887–1974)
Spitz studierte in Budapest, Lausanne und Berlin Medizin. Obwohl er 1910/11 zu Freud in Lehranalyse ging, gehörte er nie zu dessen engerem Zirkel. Angeregt durch Charlotte Bühlers Säuglingsbeobachtungen, die er in Wien kennengelernt hatte, führte er während seiner Zeit als Hochschullehrer in Paris (1932–1938) selbst an psychoanalytischen Gesichtspunkten orientierte direkte Säuglingsbeobachtungen durch und dokumentierte sie als Erster mit Filmaufnahmen. Zusammen mit Robert Emde (7 Abschn. 6.2.2), der zu jener Zeit in Denver Assistenzarzt war, entwickelte er ein multidisziplinäres Seminar, um psychobiologische Entwicklungsfragen zu beforschen. Das von ihm als »genetische Feldtheorie der Ichbildung« bezeichnete Konzept stützt sich u. a. auf Gedanken aus der Biologie und Embryologie (Waddington 1940; Paul Weiss 1939; Spemann 1968/1936; von Bertalanffy 1928), Autoren, auf die sich jetzt Kleinkindforscher wie Sander ebenfalls rückbeziehen (7 Abschn. 6.2.4). Spitz war bereits der Ansicht, dass die Ergebnisse der Kleinkindforschung auch für die klinische Arbeit mit Erwachsenen von großer Bedeutung sein können. Die kindliche Entwicklung vollzieht sich nach Spitz in fünf Schritten, die im Folgenden kurz erläutert werden. 1. Schritt Alle frühen Entwicklungsvorgänge hängen vom affektiven Klima der Mutter-Kind-Dyade ab. Während der Schwangerschaft erlebt die Mutter den Fötus als Teil ihres eigenen Körpers, als solcher
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6
Kapitel 6 • Psychoanalytische Entwicklungstheorien
wird er narzisstisch besetzt. Erst nach der Geburt findet ein allmählicher Ablösungs- und Objektivierungsprozess statt. Aufseiten der Mutter verbleibt eine narzisstische Besetzung des Kindes, die eine Grundlage für das sensible affektive Klima darstellt. Während der ersten zwei bis drei Monate befindet sich das Kind in einem Zustand des primären Narzissmus, von Spitz (1969, S. 13) Stufe der »Nichtdifferenziertheit« genannt. Es herrscht die Phase der kindlichen Allmacht. Zum Ende des zweiten Monats beginnt das Kind eine Scheidung von »Ich« und »Nicht-Ich« zu ahnen, ein Stadium der Objektvorstufe. 2. Schritt Der zweite Schritt ist gekennzeichnet
durch das »Dreimonatslächeln«, den »ersten Organisator«, der die Wahrnehmung strukturiert und die Basis des Ichs errichtet. Damit verbunden ist der Beginn der Realitätsprüfung, die voraussetzt, dass das Kind über erste Erinnerungsspuren verfügt, sodass erste gerichtete Objektbeziehungen sich aufbauen können. Kleinkinder können in dieser Zeit bereits äußere Perzepte wahrnehmen; sie »wissen« jedoch noch nichts über sich als handelnde und fühlende Einheit. Spitz verweist bereits auf die von Anfang an bestehende starke Tendenz des Ich, »eine kohärente Struktur zu bilden, die eine dynamische Symmetrie steuert« (1969/1972, S. 84). Es ist Cannons (1929) Prinzip der Homöostase und das »Selbstregulationsprinzip«, das in der Kleinkindforschung, u. a. bei Sander und Emde, wieder auftaucht.
4. Schritt Mitte bis Ende des ersten Lebensjahres,
mit zunehmender Erfahrung mit der belebten und unbelebten Welt der Objekte, bilden sich Selbstwahrnehmung, Selbstgefühl, Selbstbeobachtung heraus, und aus dem »Ur-Selbst« entwickelt sich das »Selbst« als Fortsetzung des »Ur-Selbst« auf höherer Stufe, ein Produkt der Ich-gesteuerten Wahrnehmung. Dabei spielen die Ich-Funktionen eine wichtige Rolle, die im Sinne eines zirkulären Prozesses gleichzeitig strukturiert werden. Die Herkunft des Selbst ist und bleibt immer eine doppelte: eine narzisstische und eine soziale, wie Spitz sagt. Sie ist eng mit dem Körper und seinen Funktionen verbunden (dem Gewahrwerden seiner selbst), und gleichzeitig entsteht sie im Wechsel mit Objektbeziehungen (dem Reagieren der anderen), vor allem aber auch durch den Spracherwerb, der von Spitz (1972, S. 45) als »dritter Organisator« bezeichnet wird. An anderer Stelle (1978) betonte Spitz die Bedeutung der »Nein-Geste« für die Entwicklung der psychischen Struktur und die Objektbeziehung. 5. Schritt Etwa zum Ende des zweiten Jahres kann
man von Identität im Sinne von Erikson sprechen, von der Erweiterung des Selbst um die sozialen Bezüge. Das Kind kann nun sprechen, und es kann »ich« sagen. Obwohl Spitz mit seinen epigenetisch-psychoanalytischen Gedanken zur Entwicklung eigene Wege ging (die in einigem auch eine Nähe zu Piaget aufweisen), gehört er auch zu denjenigen Psychoanalytikern, die Bowlbys Bindungstheorie kritisierten.
3. Schritt Zwischen dem sechsten und zehnten Mo-
nat kommt es zur Bildung eines »Ur-Selbst«, das seinen Ursprung in den ersten lust- und unlustvollen Gedächtnisspuren hat. Es bildet sich aus den Handlungen am »Nicht-Selbst«, am »Anderen« heraus, als Gegensatz zum »Nicht-Selbst«, wobei »Ur-Selbst« das ist, was dem kindlichen Willen widerspruchslos gehorcht (Spitz 1978, S. 98). Der zweite Organisator, den Spitz (1969/1972, S. 95) mit der »Achtmonatsangst« in Verbindung bringt, »etabliert das Ich als eine organisierte psychische Struktur mit einer Mannigfaltigkeit von Systemen, Apparaten und Funktionen«.
6.1.4
Margaret Mahler (1897–1985)
Margaret Mahler, geb. Schönberg, lebte während ihrer Gymnasialzeit im Elternhaus von Alice Balint, mit der sie sich eng befreundete. Als Medizinerin arbeitete sie viel mit Kindern, führte Kinderund Erwachsenenanalysen durch und eröffnete mit Manuel Furer in New York einen Kindergarten für psychotische Kinder. In dem mit Forschungsgeldern 1956 von ihr gegründeten Masters Kindercenter führte sie mit ihren Mitarbeitern longitudinale Beobachtungsstudien an Müttern mit gesunden Kindern durch (Mahler et al. 1978). Ihre Mitarbei-
6.1 • Wurzeln der psychoanalytischen Entwicklungstheorien
terin Anni Bergman wiederum baute später in New York einen Ausbildungsgang zur analytischen Eltern-Säuglings-Psychotherapie auf. z
Der normale Autismus
Ähnlich dem Freud’schen Bild des Vogeleis wird von Mahler für den Lebensbeginn das Modell eines geschlossenen monadischen Systems herangezogen: Ein Reizschutzschild schirmt den Säugling in den ersten drei bis vier Wochen gegen äußere Reize ab, ein der intrauterinen Situation ähnelnder Zustand. In dieser »objektlosen« Phase versucht der Säugling, mittels physiologischer Mechanismen eine Homöostase aufrechtzuerhalten. Durch die mütterliche Fürsorge kommt es zu einer allmählichen Verschiebung der Libido von innen nach außen. > Die Annahme einer sogenannten autistischen Phase wird von Vertretern der Kleinkindforschung, wie z. B. Daniel Stern, kritisiert. Tatsächlich erweckt Mahlers Konzept den Eindruck, als scheue sie sich, die Freud’sche Vorstellung eines primären absoluten Narzissmus zu verlassen, denn ihre eigenen Forschungsergebnisse lassen sich, streng genommen, kaum in Richtung einer autistischen Phase interpretieren. Mahler sprach in ihren letzten Lebensjahren – so Stern (1985, S. 235) – davon, es wäre besser gewesen, statt von »normalem Autismus« von »awakening« zu sprechen – ein Begriff, der dem von Stern bevorzugten Begriff der »emergence« sehr ähnelt. z
Die symbiotische Phase
Nach dem »Bersten der autistischen Schale« setzt Mahler in der Zeit zwischen dem zweiten und dem vierten/fünften Monat eine symbiotische Phase an. Als wesentliches Merkmal der Symbiose nennt Mahler »die halluzinatorisch-illusorische somatopsychische omnipotente Fusion mit der Mutter und insbesondere die illusorische Vorstellung einer gemeinsamen Grenze der beiden in Wirklichkeit physisch getrennten Individuen« (Mahler et al. 1978, S. 63f.). Auf dem Höhepunkt der symbiotischen Phase im vierten/fünften Monat beginnt die erste Sub-
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6
phase, die Phase der Differenzierung, die etwa mit dem neunten/zehnten Monat abgeschlossen ist und das Gewahrwerden der getrennten Existenz und die Entwicklung des Körperbildes umfasst. Mahler spricht von »Brutzeit«, der Zeit des »Ausschlüpfens«, in der sich das Kleinkind aber immer wieder durch »Abtasten« und »checking back« der Mutter vergewissert bzw. sie mit anderen vergleicht. Mit der weiteren Reifung des Sensoriums zeigen Säuglinge in diesem Stadium großes Vergnügen an Sinneswahrnehmungen, sind Fremden gegenüber neugierig und lösen sich aus dem passiven Schoßkinddasein, dem Stadium der Zweieinheit. Es ist die Zeit der »Übergangsphänomene« nach Winnicott und des »zweiten Organisators« nach Spitz. Mahler bezweifelt, dass die Achtmonatsangst in einer normalen Entwicklung auftreten muss. > Die symbiotische Phase nach Mahler entspricht in etwa dem »präobjektalen Stadium« bei Spitz. Beide stimmen überein, dass zu dieser Zeit ein koenästhetisches, global sensorisches Erleben vorherrscht, in dem der mütterliche und der eigene Körper als ungetrennt erlebt und alle unangenehmen inneren und äußeren Reize nach außen projiziert werden. Die Mutter stellt hier, ähnlich wie in Melanie Kleins Auffassung, ein Partialobjekt dar.
Die zweite Subphase (9./10. bis 15./18. Monat) lässt Mahler mit der frühen Übungsphase beginnen, eingeleitet durch das Üben der Fortbewegung und damit des ersten selbstständigen Entfernens von der Mutter, zu der das Kind manchmal nur zu Zwecken des »emotionalen Auftankens« zurückkehrt. Die eigentliche Übungsphase ist gekennzeichnet durch die aufrechte selbstständige Fortbewegung. Nun befindet sich das Kleinkind auf dem Höhepunkt der Omnipotenz und des sekundären Narzissmus. Die Fantasie, »die magischen Kräfte seiner Mutter zu teilen«, wirkt, als habe es ein »Liebesverhältnis mit der Welt« (Mahler 1968/1972, S. 26). In der dritten Subphase, der Phase der Wiederannäherung (15./18. bis ca. 22./24. Monat), dem Endstadium der Ausschlüpfungsprozesse, erreicht das Kleinkind die erste Identitätsstufe: das Erleben einer getrennten, individuellen Einheit, die
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Kapitel 6 • Psychoanalytische Entwicklungstheorien
Herausbildung eines kohärenten Selbst. Da es sich aufgrund seiner zunehmend größer werdenden kognitiven Fähigkeiten seiner Getrenntheit stärker bewusst wird, kann es Trennungsangst und ein gesteigertes Bedürfnis nach der Nähe der Mutter empfinden. Es kommt zu scheinbar widersprüchlichem Verhalten: dem »Beschatten« der Mutter abwechselnd mit Weglaufen oder Vermeiden von intimem Körperkontakt mit ihr, hervorgerufen durch den Wunsch nach Autonomie einerseits und nach Wiedervereinigung andererseits (Wiederannäherungskrise). Um den 21. Monat lassen die Wiederannäherungskämpfe nach Mahler im Allgemeinen nach. Der Spracherwerb macht große Fortschritte, das Kind kann Objekte benennen und Wünsche äußern. Es kann sich im Spiegel, in Filmen und auf Fotografien erkennen, benutzt seinen Namen sowie Personalpronomen, Anzeichen einer Trennung des Selbst von den Objekten. In der Zeit zwischen dem 22./24. und dem 30./36. Monat verinnerlicht das Kind allmählich ein konstantes, positiv besetztes Bild von der Mutter. Die Entwicklung der affektiven Objektkonstanz umschließt alle Aspekte der psychischen Entwicklung: Vertrauen in wiederkehrende Erleichterung von Spannungszuständen durch die bedürfnisbefriedigende Instanz (Symbiose), nachlassende Bedürfnisspannung mit dem mütterlichen bedürfnisbefriedigenden Objekt (Loslösungs- und lndividuationsphase) und Übertragung dieses Erlebens auf die intrapsychische Repräsentanz der Mutter. Im Laufe dieser Zeit entstehen ein »stabiles Gefühl der Einheitlichkeit (Selbstgrenzen)« und eine »primitive Konsolidierung der Geschlechtsidentität« (Mahler et al. 1978, S. 142). Die Kritik an Mahlers Theorie richtet sich gegen eine adultomorphe und pathomorphe Betrachtung des Kindes, die Annahme eines »normalen Autismus«, aber auch einer symbiotischen Phase (z. B. Sander 1983; Stern 1985; Lichtenberg 1983). Zweifel bestehen, ob Säuglinge jemals ein Stadium totaler Nichtdifferenzierung durchlaufen, da empirische Beobachtungen zeigen, dass Ansätze einer Trennung von Selbst und anderen schon unmittelbar nach der Geburt nachweisbar sind (Stern 1985). Kritisiert wird zudem, dass Mahler die Bindungstheorie völlig außer Acht lasse, obgleich auch in ihrem Modell der Prozess von Bindung und
lndividuation die Hauptrolle spiele. Es ist anzunehmen, dass wie bei Anna Freud das Festhalten an der Triebtheorie »als Säuretest des wahren Freudianismus angesehen wurde« (Eagle 1984, S. 33). > Obwohl bereits recht früh psychoanalytisches Wissen auf die Kindererziehung und Therapie mit Kindern übertragen wurde, bekam dieses Wissen später innerhalb der Psychoanalyse einen randständigen Platz zugewiesen. Vor allem frühe Arbeiten mit Säuglingen und Kleinkindern führten eher ein Schattendasein und werden erst in jüngster Zeit – mit dem zunehmenden Interesse an der psychoanalytischen Säuglingsforschung – wiederentdeckt.
6.1.5
Anna Freud (1895–1982)
Anna Freud, von Beruf Lehrerin, zeigte früh Interesse an der kindlichen Entwicklung. Sie baute 1937 in Wien die Jackson-Kinderkrippe für Kleinkinder auf, mit dem Ziel, Kindern unter zwei Jahren aus den ärmsten Familien Wiens günstigere Erziehungsbedingungen zu ermöglichen, aber auch, um sie beforschen zu können. In den Kriegskinderheimen in London, der Arbeit mit überlebenden Kindern aus dem KZ Theresienstadt, in der 1952 aufgebauten Hampstead Child Therapy Clinic, der Well Baby Clinic (einer Mütterberatungsstelle) sowie dem analytischen Kindergarten des Anna Freud Centres hielt Anna Freud ihre Mitarbeiterinnen und Ausbildungskandidaten an, die Entwicklung von Kindern systematisch zu beobachten und ihre Beobachtungen zu notieren. Aus den auf Kärtchen festgehaltenen Notizen, die die Grundlage für Besprechungen darstellten, entwickelten Anna Freud und ihre Mitarbeiter später für jedes Kind Entwicklungsdiagramme. Die vielen Erfahrungen aus den Hampstead Nurseries, den Kinderanalysen und deren Supervisionen, der Arbeit im Hampstead Child Therapy Training Course und der angeschlossenen Klinik führten in den 1960er-Jahren zur Erstellung eines Profilschemas für die diagnostische Bewertung gestörter Kinder (Laible 1982). Aus der Arbeit in der Well Baby Clinic kamen Erfahrungen mit
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6.1 • Wurzeln der psychoanalytischen Entwicklungstheorien
Schwangeren und Säuglingen hinzu und führten zur Erstellung des »Babyprofils«. Aus der Vielzahl der gewonnenen Daten wurde der »Hampstead Index« als diagnostisches Verfahren entwickelt. Er beinhaltete Kurzaufzeichnungen der Strukturen, Charaktereigenschaften, der Mechanismen, Symptome, Übertragungserscheinungen etc. der Kinder, die sich in der Kinderklinik in Behandlung befanden. 1955 waren bereits 60 Kinder in Analyse, und von allen wurde ein Index erstellt (diagnostische Interviews mit Kindern und Familien), um das Material zu systematisieren (später bekannt als »Diagnostisches Schema« oder »Profil«) (LudwigKörner 2000). Auf den Erkenntnissen ihres Vaters, aber auch auf den Theorien von Hartmann, Kris und Loewenstein aufbauend, setzte Anna Freud ihren Schwerpunkt auf die Beforschung der kindlichen Ich-Entwicklung. Die Mutter muss die kindlichen Signale richtig deuten und beantworten, wenn das Neugeborene seine körperlichen und seelischen Bedürfnisse zeigt. Nach und nach – anfangs im Sinne einer halluzinatorischen Wunscherfüllung – lernt der Säugling, zwischen einem inneren Vorstellungsbild und der äußeren Realität zu unterscheiden. Entsprechend den bis dato gängigen psychoanalytischen Entwicklungstheorien (z. B. Spitz, Mahler) erlebt sich der Säugling anfangs noch nicht als von der Mutter getrenntes Wesen und vorrangig als Körper-Ich. Im zweiten Lebensjahr findet mit zunehmender weiterer Entwicklung der Ich-Funktionen ein allmählicher Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip und vom Primär- zum Sekundärvorgang statt. Obwohl viele von Anna Freuds Beobachtungen und ihr Umgang mit den von ihr betreuten Kindern in die gleiche Richtung gingen wie Bowlbys Erkenntnisse, konnte sie seinen Entwicklungen nicht folgen, da dies eine Hinterfragung der väterlichen Lehre bedeutet hätte. Die Anna-Freud/Melanie Klein-Kontroverse Bereits in Anna Freuds Einführung in die Technik der Kinderanalyse (1927) zeigte sich ihre zu Melanie Kleins Theorien konträre Auffassung von der Entwicklung und Behandlung von Kindern. Für Anna Freud standen immer das
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reale Erleben des Kindes und seine Ich-Entwicklung im Vordergrund, für Melanie Klein die unbewussten Fantasien, die es – auch da befand sie sich im Gegensatz zu Anna Freud – so früh als möglich zu deuten gelte. Melanie Klein führte bereits bei Zweijährigen Kinderanalysen durch, während Anna Freud der Ansicht war, dass kleine Kinder noch keine Übertragungsneurose entwickeln können.
6.1.6
Melanie Klein (1882–1960)
Ebenfalls eine Schülerin von Ferenczi, war Melanie Klein von ihm auf die Möglichkeiten von Kinderbeobachtungen und -analysen hingewiesen worden. Diese begann sie unsystematisch im Kindergarten von Nelly Wolffheim in Berlin durchzuführen. Neben Hermine Hug-Hellmuth, Ada Schott (später A. Müller-Braunschweig) und Anna Freud entwickelte Melanie Klein ihre konträre Auffassung von Kinderanalysen (Ludwig-Körner 1998). Melanie Klein folgt Freuds Annahme eines Lebens- und Todestriebs und spricht von angeborenen Aggressionen, die eine Spiegelung des Todestriebs seien. Lebens- und Todestrieb drückten sich psychisch als unbewusste Fantasien aus, über die bereits Neugeborene verfügten. Ihrer Meinung nach gibt es ein funktionelles Ich schon mit Lebensbeginn. Grundfunktionen des Ich, die ab der Geburt existieren, sind: Erfahrungen von Angst und Abwehr, Prozesse der Introjektion und Projektion, Objektbeziehungen, Integration und Synthese (Kernberg 1988). Damit widerspricht sie auch Freuds Auffassung, der zufolge auf eine autoerotische Phase eine narzisstische folgt und erst nach dieser eine Objektbeziehung eingerichtet werden kann. Klein setzt eine umgekehrte Reihenfolge: Aus den angenehmen Erfahrungen mit der Mutter (der von Anfang an vorhandenen Objektbeziehung) bildet sich der Autoerotismus heraus; der Narzissmus wird als eine Identifikation mit dem guten Objekt verstanden (Klein 1934). Klein unterteilt die orale Phase in eine paranoid-schizoide (erste drei bis vier Lebensmonate) und eine depressive Position (ab dem vierten/
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Kapitel 6 • Psychoanalytische Entwicklungstheorien
fünften Monat). Anfänglich nimmt das Kind nur Teilobjekte wahr und kann aufgrund seiner noch sehr geringen Ich-Entwicklung unterschiedliche Gefühle nicht integrieren. Analog zur Freud’schen Sicht können Säuglinge laut Klein nur lust- und unlustvolle Zustände erleben (Klein 1962). Der Säugling fühlt sich von seinen negativen Gefühlen verfolgt. Mittels Spaltungen gelingt es ihm, seine Ängste in Schach zu halten. Die guten mütterlichen Erfahrungen werden als »gute Brust« introjiziert, die unlustvollen als »böse Brust« nach außen projiziert. Prozesse der Identifikation und Projektion sind nach Klein komplementäre Versuche einer einfachen Ordnungsgebung. Mit wachsendem Realitätssinn erwirbt der Säugling zunehmend die Fähigkeit, zwischen von außen kommenden Versagungen und innerem Erleben zu unterscheiden. Die Mutter wird nicht mehr ausschließlich als Teilobjekt, sondern mehr und mehr als Gesamtobjekt erlebt, d. h. als eigene Person. Auch der Vater gewinnt bereits früh an Bedeutung. So verlegt Melanie Klein den Beginn des Ödipuskomplexes bereits in die zweite Hälfte des ersten Lebensjahres (Freud: drittes bis fünftes Lebensjahr). Durch diese frühe Triangulierung können die bisher auf die Mutter gerichteten negativen Gefühle besser verteilt werden. Die stärkere Gewichtung der Bedeutung des Vaters in der frühen kindlichen Entwicklung teilen heute fast alle Säuglingsforscher. > Melanie Klein beeinflusste die objektbeziehungstheoretische Sicht grundlegend, auch wenn ihr Einfluss auf die einzelnen Autoren unterschiedlich intensiv ausfiel. Am wenigsten sind ihre Auffassungen in Balints Denken wiederzuerkennen. Winnicott dagegen bezieht sich des Öfteren auf Melanie Klein, vor allem auf ihre Beschreibung der »depressiven Position«. Fairbairn und Melanie Klein beeinflussten sich wiederum gegenseitig, auch wenn einige gravierende Unterschiede bestehen blieben, wie z. B. Fairbairns Ablehnung der Klein’schen Triebtheorie: Fairbairn bestritt, dass ein angeborener Trieb als Motivation verstanden werden kann. Zahlreichen Analytikern erscheint Kleins Denken als
wenig systematisch, eher beschreibend (z. B. Sutherland 1980) und voller hypothetischer Konstruktionen.
Viele Säuglingsforscher – stellvertretend seien hier Daniel Stern und Robert Emde genannt – kritisieren an der kleinianischen Auffassung u. a., dass der Säugling seine Welt relativ unabhängig von Außenwelterfahrungen entwirft, außerdem Kleins Idee angeborener Fantasien und früher Spaltungsprozesse.
6.1.7
Wilfred Bion (1897–1979)
Wilfred Bion arbeitete als Arzt u. a. an der Tavistock Clinic in London, aber auch in einem Militärhospital, wo er auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit traumatisierten Soldaten gruppentherapeutische Aufsätze schrieb. Er war bei Melanie Klein in Lehranalyse und baute mit Mitarbeitern wie Hanna Segal und Herbert Rosenfeld das Konzept der paranoid-schizoiden Position für die analytische Behandlung von Psychotikern aus. Das von Melanie Klein und ihren Mitdenkern entwickelte Konzept der projektiven Identifizierung erweiterte er mit seinem »Container-Contained-Modell« zu einer allgemeingültigen Theorie der psychischen Funktionsweise des Menschen in Beziehung zu anderen (das betrifft Gruppen, aber auch die Beziehung zu inneren Objekten und die Beziehungen, die in der Symbolwelt zwischen Gedanken, Vorstellungen, Theorien, Erfahrungen usw. bestehen) (Hinshelwood 2004). Bion (1961/1992) folgt der kleinianischen Annahme angeborener Fantasien; Triebe werden als unbewusste Objektbeziehungsfantasien psychisch repräsentiert. Das Neugeborene, das sich der Mutterbrust zuwendet, hat demnach eine Fantasie von einem Objekt, an dem es saugen kann. Es verfügt über ein angeborenes Verständnis für die Verbindung zweier Objekte und deren Beziehung und Vereinigung, woraus sich ein drittes bildet (Hinshelwood 2004). »Das angeborene Wissen bezeichnet er als Prä-Konzeption, die von Anfang an verfügbar ist, um sich mit einem Realerlebnis dieses Objekts, der Realisierung, zu ‚paaren‘. Das Produkt einer solchen Paarung ist, in der Terminologie Bions, eine Konzeption« (Hinshelwood 2004,
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6.1 • Wurzeln der psychoanalytischen Entwicklungstheorien
S. 325f.). Vorläufer der Gedanken sind nach Bion emotionale Erfahrungen in Beziehungen. Nur auf dem Hintergrund genügend guter interpersoneller Erfahrungen kann sich die Fähigkeit zu denken entwickeln. Säuglinge erleben die Spannungen, die durch die Abwesenheit der guten Brust entstehen, als Anwesenheit einer bösen Brust. Damit einher gehen Vorstellungen von verfolgenden Objekten, die, weil nicht assimilierbar, ausgeschieden und ferngehalten werden müssen. Sie sind erste Elemente des Denkens, »Beta-Elemente«. Der Säugling versucht, diese unerträgliche Angst zu bewältigen, indem er sie in die Mutter projiziert. Das mütterliche »träumerische Ahnungsvermögen«, von Bion als »Rêverie« bezeichnet, ermöglicht es der Mutter, die projektiven panischen Ängste des Kindes in sich aufzunehmen, sie umzuwandeln und damit zu lindern. Dadurch, dass sie die kindlichen Bedürfnisse interpretieren und zu befriedigen vermag und die Ängste des Kindes vor Vernichtung ertragen kann, introjiziert der Säugling wiederum ein Objekt, das die Angst aushalten und verstehen kann. Indem die Mutter die kindliche Angst »contained« hat, reintrojiziert der Säugling nicht die ursprüngliche, sondern eine modifizierte Angst. Er verinnerlicht ein Objekt, das fähig ist, Angst in sich zu bewahren und damit fertig zu werden, sodass er selbst nach und nach die Fähigkeit entwickeln kann, seinen innerlichen Zuständen Bedeutung zu geben. Durch die Bereitschaft der Mutter, sich verstehend in den Säugling einzufühlen und seine Zustände zu benennen (Alpha-Funktion der Mutter) erhält der Säugling die Möglichkeit, einen eigenen Denkraum zu entwickeln. Die vom Säugling mental noch nicht verarbeitbaren »rohen« Körperwahrnehmungen (Beta-Elemente) wie Hunger und Schmerz werden durch die Gedanken der Mutter (Alpha-Elemente) in denkbare Zustände verwandelt. »Namenlose Angst« entsteht nach Bion jedoch dann, wenn die Mutter/die Betreuungsperson diese containende Funktion nicht erfüllen kann. > Die heutige psychoanalytische Entwicklungspsychologie teilt die Auffassung, dass die Mutter/der Betreuer die Fähigkeit haben muss, die kindlichen physischen und psychischen Bedürfnisse zu erkennen, sie richtig zu interpretieren, die überwäl-
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tigenden kindlichen Affekte auszuhalten und prompt und adäquat darauf zu antworten. Sie setzt die Fähigkeit der Betreuungsperson voraus, mentale Erfahrungen zu reflektieren und sie dem Säugling in angemessener Weise zu vermitteln (elterliche Feinfühligkeit und Selbstreflexivität).
6.1.8
Donald Winnicott (1896–1971)
Winnicott bezog seine Annahmen aus seiner über 40-jährigen Arbeit als Kinderarzt in Londoner Krankenhäusern. 1924 eröffnete er zusätzlich seine eigene psychoanalytische Praxis. Als er sein psychoanalytisches Wissen an Kindern erproben wollte, schickte Strachey, bei dem er über zehn Jahre in Lehranalyse war, ihn zu Melanie Klein, damit er ihre Lehre selbst beurteilen könne. Seine zweite Analyse machte er daraufhin bei Joan Riviere, einer engen Mitarbeiterin von Melanie Klein. Er gehörte der »Middle Group« in London an, die sich in der Zeit der heftigen Kontroverse zwischen Melanie Klein und Anna Freud herausgebildet hatte. Hier können leider nur einige Aspekte von Winnicotts vielfältigen Gedanken dargestellt werden (ausführlicher: Ludwig-Körner 1992). Winnicotts Anliegen war nicht, eine geschlossene Theorie zu entwickeln, geschweige denn, eine eigenständige psychoanalytische Schule zu schaffen. Er kümmerte sich auch wenig darum, ob und wie seine Auffassungen in der »Szene« aufgenommen wurden. Personen, die ihn in der Arbeit mit Kindern erlebten, beschreiben seine hohen intuitiven Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, selbst mit schwerstgestörten Kindern in Kontakt zu kommen. Er praktizierte, besser: kreierte eine ganz eigene Art, mit Kindern umzugehen (z. B. das »squiggle«, das Kordelspiel), wobei er manchmal mit mehreren Kindern oder Familien zugleich arbeitete und sich dabei von seinen Schülern zuschauen ließ. Er selbst behauptet, seine Konzepte der kindlichen Entwicklung weniger aus der Babybeobachtung als vielmehr aus der Erfahrung von Übertragung und Gegenübertragung in der analytischen Arbeit mit Erwachsenen gewonnen zu haben (Winnicott 1960/1965).
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Kapitel 6 • Psychoanalytische Entwicklungstheorien
Nach seiner Auffassung beginnt die emotionale Entwicklung des Kindes schon vor der Geburt (Winnicott 1958/1976). Schon das Ungeborene verfüge über eine psychische Struktur, eine Kontinuität des Erlebens: der Beginn des Selbst. Bei der Beschreibung vorgeburtlicher Aktivität des Fötus verwendet Winnicott häufiger den schon von Freud verwendeten Begriff der »Motilität«, der eine Nähe zum Begriff der Intentionalität (vgl. Schultz-Hencke) hat und in der aktuellen Säuglingsforschung Wiederverwendung findet. Motilität ist eine Aktivität, mit der der Fötus die Umwelt entdeckt und wiederentdeckt. Sie ist als ein Vorläufer der Aggression (im Sinne des lat. Verbs adgredi) (Winnicott 1958/1976, S. 99) zu verstehen, zu der Winnicott auch den Klammergriff des Neugeborenen und die Kaubewegungen, die später zum Beißen werden, zählt. Unter guten vorgeburtlichen Bedingungen ist das Kind auf die Geburt so vorbereitet, dass die Geburtserfahrung nicht aus dem Rahmen seiner bisherigen Erlebnisse herausfällt. Obwohl das Kind die Geburt überwiegend passiv hinnimmt und auf eine hilfreiche Umwelt angewiesen ist, kann es die Geburt durchaus auch als Ergebnis eigener Bemühungen empfinden. Danach kehrt es nach Winnicott in einen Zustand zurück, in dem es fast ganz auf sich bezogen ist (»being«). Von Beginn seines Lebens an verfügt das Kind über die Fähigkeit zur Rückkehr vom Reagieren zum Nicht-reagierenMüssen, ein Zustand, aus dem sich das Selbstsein entwickelt. Dieses Stadium des Seins in den ersten Lebenswochen ist der Prototyp der guten Beziehungserfahrung mit einer empathischen Mutter und ihrer verfügbaren Brust. Während für Säuglinge im gesunden Zustand Umweltstörungen bis zu einem gewissen Grad wertvolle Stimuli (»optimale Frustrationen« bei Kohut) sind, werden sie oberhalb einer gewissen Stärke nicht mehr als Hilfen, sondern als Übergriffe erlebt (»Überstimulationen« in der Säuglingsforschung oder »Überstimulierung« bei Kohut; s. Kohut 1977/1979). Bereits während der pränatalen Zeit kann sich so eine falsche Vorwärtsbewegung herausbilden, der Beginn eines »falschen Selbst«. Indem der Fötus (oder später der Säugling) gezwungen wird zu reagieren, wird er aus seinem »Seinszustand« (»state
of being«) geworfen, was in diesem Entwicklungsstadium einem zeitweisen Identitätsverlust gleichkommt. Das Kind wird abhängig von den Übergriffen und kann keine eigenen Handlungsmuster entwickeln; seine Lebenskraft wird durch Reaktionen auf Übergriffe in Anspruch genommen. Hierin liegt der Grund für ein basales Unsicherheitsgefühl, und im Wiederholungsfalle erwartet der Säugling weitere Selbstverluste (Winnicott 1958/1976). Empirische Untersuchungen z. B. von Sander (1983) zeigen, dass Säuglinge in den ersten Wochen in Abstimmung mit der jeweiligen Umwelt ihren eigenen Rhythmus suchen und dass es wichtig für sie ist, zwischen Aktivität und Rückzug pendeln zu können. So lässt sich auch Winnicotts Auffassung bestätigen, dass Säuglinge von Anfang an als Handelnde auftreten – ganz im Widerspruch zu Mahlers »autistischer Phase«. Unter mütterlicher Fürsorge kann das Kind wechseln zwischen Regressionen in unintegriertere Zustände und Augenblicken höherer Integration. Solange sich das Kind gehalten fühlt, macht es ihm nichts aus, sich zeitweise desintegriert zu fühlen. Mit zunehmender Integration erlebt das Kind auch Psyche und Soma als zusammengehörig und entwickelt das Gefühl, eine Person in einem Körper zu sein (Winnicott 1958/1976). Die Mutter ist es, die durch ihre Liebe und Zuwendung erst das Werden des kindlichen Selbst erschafft. Die Mutter behandelt ihr Kind von Lebensbeginn als eine Einheit und ermöglicht ihm so auch, ein Selbst zu werden. Es ist das, was Kohut später als »virtuelles Selbst« beschreiben wird (Kohut 1977/1979), indem die Mutter in ihrem Handeln das Selbst des Kindes kontrafaktisch vorwegnimmt. Dies gelingt ihr, da sie vorübergehend extrem mit dem Kind identifiziert ist. Die Mutter befindet sich in diesen ersten Lebenswochen nach Winnicott in einem Zustand der übermäßigen Empfindsamkeit, ähnlich einer schizoiden Periode, wodurch sie dem Säugling die Bedingungen bietet, um die ersten Regungen seines personalen Gefühlslebens zu entfalten. Es ist erstaunlich, wie Winnicott damals bereits aktuelle Forschungsergebnisse zur neurophysiologischen Umstrukturierung des mütterlichen Gehirns infolge der Geburt vorwegnahm. Winnicott meint, dass die erste Selbstwahrnehmung des Kindes eine Spiegelung dessen ist, was es in den Augen seiner Mutter sieht (1971/1973, S. 128):
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6.2 • Psychoanalytische Säuglingsforschung
Ist sie zufrieden, glücklich und liebkost sie das Kind, wird dessen auftauchendes Selbstbild mit Gefühlen der Wärme und Sicherheit verbunden sein. Insofern gibt es nicht das Kind, sondern es gibt nur das Kind und die Mutter. Mit verschiedenen Worten beschrieb Winnicott dieses Miteinander: z. B. »ausreichend gute Umwelt«, »primäre Mütterlichkeit«, »Tragefunktion der Mutter«, »facilitating environment«; »fördernde« und »haltende Umwelt« – wärmere Begriffe als der des »Containers« von Bion (Ludwig-Körner 1992). Mit seinen genialen Konzepten vom »Übergangsphänomen« und »Übergangsobjekt« beschreibt Winnicott (1971/1973, S. 21), wie sich der Mensch von Geburt an »mit den Problemen der Beziehung zwischen dem objektiv Wahrnehmbaren und dem subjektiv Vorgestellten beschäftigt«. Indem die Mutter den kindlichen spontanen Gesten begegnet, kann das Kind die Illusion eines omnipotenten Erschaffens und Kontrollierens haben. Aus der Vorstellung, es habe Kontrolle über die mütterliche Brust, entwickelt sich der Bereich der Illusion. Damit gewinnt das Kind die Fähigkeit, sich eine äußere Realität vorzustellen und zu erschaffen. Das Übergangsobjekt ist für das Kind das erste »Nicht-Ich-Objekt« (Winnicott 1971/1973), der erste nicht zum Selbst gehörende Besitz, der vom Kind erschaffen und nicht gefunden wird. Der Übergangsbereich stellt somit eine Brücke zwischen innen und außen dar. Werner u. Kaplan (1963) bezeichnen Winnicotts Übergangsobjekt als »Protosymbol«, weil verbale und averbale Symbole noch nicht differenziert sind. Es ist diejenige Entwicklungsstufe, auf der das Kind nach Stern (1985) beginnt, die amodale Wahrnehmungsebene zu verlassen. Nach Grolnick (1986) differenziert sich das Übergangsobjekt aus der Einheit von Mutter und Kind; es handelt sich somit um die erste frühkindliche Triangulierung. Am Lebensbeginn ist das Objekt ein »subjektives Objekt«, verschmolzen mit dem Objekt, aber doch nicht, wie Mahler meint, symbiotisch. Winnicott lehnt den Symbiosebegriff ab; er sei zu biologistisch (1973, S. 147). Er beschreibt die Mutter als eine eigenständige Person; sie ist nicht nur das Objekt für die narzisstischen Wünsche des Kindes, sondern ein Subjekt mit einer eigenständigen Agenda und individuellen Verletzlichkeiten. Sie
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lebt ihr Leben, welches zwar mit dem Kind zu bestimmten Zeiten verbunden, aber dann auch wieder von ihm getrennt ist, indem sie sich anderen Personen zuwendet.
6.2
Psychoanalytische Säuglingsforschung
Aus Platzgründen kann leider nur die Arbeit einiger weniger Psychoanalytiker/innen der Jetztzeit stellvertretend für viele andere gewürdigt werden. Nicht berücksichtigt werden können u. a. die frühen Beobachtungen von Judith Kestenberg, die Mutter-Kind-Interaktionsforschungen von Terry Brazelton, die Forschungsarbeiten der Selbstpsychologen Beatrice Beebe, Frank Lachmann, Virginia Demos, Gerald Stechler und die Veröffentlichungen von Peter Fonagy, Mary Target, Joan Raphael-Leff, Allan Schore, Kai von Klitzing und vielen anderen. > Lichtenberg (1983/1991), Stern (1985), Sander (1983) und Emde (1983, 1991) gehen davon aus, dass einige präverbale »senses of self« bereits bei der Geburt, eventuell sogar schon vorgeburtlich bestehen, während andere Fähigkeiten erst einer Reifung bedürfen. Das bedeutet, dass die Kleinkindforscher viel früher als z. B. Mahler von einem beginnenden Selbst sprechen: Die Wahrnehmung, ein Handelnder zu sein (»sense of agency«), sich als physische Einheit zu erleben, das Erleben zeitlicher Kontinuität und Intentionalität werden als frühe Merkmale des Selbst betrachtet. Die Forscher nehmen an, dass zumindest eine rudimentäre Trennung zwischen dem »Selbst« und den »anderen« von Anfang an existiert.
6.2.1
Daniel Stern (*1934)
Daniel Stern ist Psychiater und Psychoanalytiker; er hatte ab 1975 eine Professur für Psychiatrie an der Cornell University Medical School, New York, und ab 1987 bis zu seiner Emeritierung außerdem
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Kapitel 6 • Psychoanalytische Entwicklungstheorien
eine Professur für Psychologie an der Universität Genf. Anregungen zu seinen Forschungsaktivitäten erhielt er durch die Möglichkeit, eine Weile an den Teamsitzungen des Mitarbeiterstabes von Margret Mahler teilnehmen zu können, sowie durch die Forschergruppe mit Katherine Nelson, Jerome Bruner, John Dore, Carol Feldman, Rita Watson, die sich mit Sprachentwicklung befassten. Als dritte »Quelle« nennt er die Sitzungen, die Robert Emde und Arnold Sameroff am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences anregten (LudwigKörner 1992, 297f.). Seine Theorie zur Entwicklung des Selbst beruht vor allem auf Direktbeobachtungen von Säuglingen und ihren Interaktionen mit ihren Bezugspersonen. Stern teilt die Entwicklung des Selbst in vier Stadien ein, die er um das des »narrative sense of self« ergänzte (Stern 1991). Die Selbstempfindungen entwickeln sich zwar nacheinander, ohne dass jedoch bei einem neuen Entwicklungsschritt die vorangegangenen Stadien der Selbstentwicklung aufgegeben werden. Es sind Bereiche des Erlebens, die lebenslang bestehen bleiben. Die Entwicklung des Selbst verläuft zudem nicht kontinuierlich, sondern in Sprüngen, die vor allem durch Veränderungen der Hirnstrukturen entstehen. z
1. Empfinden des auftauchenden Selbst und auftauchende Bezogenheit (1.–2. Monat)
Die Entwicklung des Selbstempfindens bildet sich innerhalb der ersten beiden Monate heraus, hauptsächlich aus angeborenen Fähigkeiten, aber auch aus dem Neugierverhalten und Lernerfahrungen, und wird als ein primäres Organisationsprinzip verstanden, im Unterschied zur Ansicht von Margret Mahler und Melanie Klein, bei denen die Selbstempfindung als Folge der Trieb- und Ich-Entwicklung gesehen wird. Das basale Selbstempfinden, das nach Stern von Anbeginn besteht, sich aber im Laufe der Entwicklung durch die Erfahrungen mit den anderen (»being with«) ausdifferenziert, bezieht sich auf vier Quellen: die kindliche Aktivität, das Erleben von Lust und Unlust, Zustände des Bewusstseins, Wahrnehmen und Denken. In der kindlichen Aktivität gewinnt der Säugling den Eindruck von sich selbst als einem handelnden Wesen; dadurch erfährt es die Welt und entdeckt sich selbst. Nur durch die Erfahrungen
einer hinreichend guten Bemutterung kann sich das kindliche Selbst entwickeln, durch kontinuierliche Bedürfnisbefriedigungen sowie durch die konstanten, vom Säugling selbst mitinitiierten sensomotorischen Abläufe, die in den basalen Handlungs-Erlebens-Schemata gespeichert werden. Säuglinge verfügen über eine amodale Wahrnehmung; sie erfassen die gemeinsamen amodalen Qualitäten, die Form, Intensität und Zeitabfolge. Die Koordination ihrer fünf Sinnesorgane erfolgt nicht additiv, sondern ganzheitlich, zu vergleichen mit einer Gestaltwahrnehmung (koenästhetische Wahrnehmung nach Spitz). z
2. Empfinden eines Kern-Selbst und eines Selbst-in-Beziehung (2.–6./7. Monat)
Es umschließt Phänomene, die in der psychoanalytischen Literatur als »Körper-Ich« bezeichnet werden, umfasst darüber hinaus ein sensorimotorisches Schema und schließt affektive Merkmale ein. Das Kern-Selbst entwickelt sich durch wiederkehrende Erfahrungen der eigenen Urheberschaft (»self-agency«), der Selbstkohärenz (»self-coherency«), der Selbstaffektivität (»self-affectivity«) und der eigenen Geschichte (»self-history«). Erhält der Säugling genügend Gelegenheit, in Interaktionen mit den Pflegepersonen diese vier Selbsterlebensweisen zu erfahren, so werden sie zu Selbst-Invarianten: Erfahrungen dessen, was unveränderlich zum Selbst bzw. zum anderen gehört, die das KernSelbst bilden. Um den fünften/sechsten Monat ist nochmals ein Entwicklungssprung erkennbar, wenn das Interesse des Säuglings an unbelebten Objekten wächst. Das Kind liebt es, äußere Objekte zu manipulieren (Koordination von Mund/Hand, Hand/Auge). Im Alter zwischen zwei und sechs Monaten ist das Kind vorwiegend sozial orientiert, eine Zeit, die Mahler als »Blütezeit der Symbiose« bezeichnet. Der Säugling kann sich vor allem dann als Handelnder (»self-agency«) erfahren, wenn er absichtlich motorische Bewegungen ausführt und damit erste Willensleistungen vollbringt, was Piaget (1936/1969) als »sensomotorische Schemata« beschreibt. Stern versteht unter »Schemata« innerpsychische Konstrukte, die während der präsymbolischen Periode der sensorimotorischen Intelligenz innerhalb des ersten halben Lebensjahres gebildet
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6.2 • Psychoanalytische Säuglingsforschung
werden. »Repräsentanzen« sind dagegen innere Konstrukte, die in der Periode der Symbolisierung und symbolischen Transformationen – wie Piaget (1936/1969) es sah – entstehen. Von Repräsentationen kann man seiner Meinung nach erst jenseits des 15. Monats sprechen. Eine Selbstkohärenz erfährt der Säugling dadurch, dass er sich und andere trotz verschiedener Bewegungen mit verschiedenen Körperteilen als Einheit an einem Ort erlebt. Auf das Zeiterleben und Gedächtnis als Charakteristikum des Selbst (Selbstkontinuität, Geschichtlichkeit) wies bereits Winnicott (1958) mit seinem »going on being« hin. Das Gedächtnis, in dem die einzelnen Erlebnisse (episodisch) organisiert werden und in dem vor allem soziale Wahrnehmungen, Stimmungen, Affekte niedergelegt werden, bildet sich früh heraus, vor der Entstehung eines semantischen Gedächtnisses. Letzteres ist durch Regel- und Klassenbildung geordnet, d. h., es setzt ein In-Beziehung-Setzen voraus. Episoden hingegen werden als unteilbare Einheiten erlebt und gespeichert. Aus mehreren Episoden bilden sich generalisierte Episoden, die hauptsächlich in Interaktionen mit anderen entstehen und die Grundeinheiten von Repräsentanzen sind. Diese generalisierten Erinnerungsstrukturen nennt Stern (1985/1992, S. 143) »Repräsentationen von Interaktionen, die generalisiert und innerlich repräsentiert wurden« (RIGs). z
3. Empfinden eines subjektiven Selbst (»affect attunement«) (7.–9. Monat)
In dieser Zeit scheint das Kind die Erfahrung zu machen, dass es neben dem äußeren Verhalten ein inneres gibt, welches es mit den anderen teilen kann. Während zuvor die Regulierung der subjektiven Erfahrung durch die Mutter im Vordergrund stand, bildet sich jetzt eine neue Dimension der psychischen und körperlichen Intimität heraus. Nach der Trennung von »Selbst« und »Anderem« ist es möglich, Wünsche zu äußern und eine gemeinsame Erfahrung im Sinne einer lntersubjektivität zu teilen, eines »Bereichs der intersubjektiven Bezogenheit« (1985, S. 125). Aus der Sicht Sterns sind gerade in dieser Zeit Verschmelzungen möglich, in einer Zeit also, in der sich aus der Sicht der traditionellen Psychoanalyse die Symbiose zu
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lockern beginnt. Das gemeinsame Erleben von Intentionen (»interintentionality«), Affekten (»interaffectivity«) und dem gemeinsamen Ausrichten der Aufmerksamkeit (»interattentionality«) stehen im Mittelpunkt. »Intersubjektivität« umfasst auch die gegenseitigen unbewussten Fantasien, durch die das kindliche Selbst beeinflusst wird und die auch den anderen beeinflussen; das nennt Stern »interfantasy« (1985, S. 134). Etwa ab dem siebten Monat stellen sich Kind und Pflegeperson affektiv aufeinander ein: das affektive Abstimmen (»affect attunement«) nach Stern. Die Pflegeperson greift die affektiven Gestimmtheiten des Kindes auf – meist sind es seine Vitalitätsaffekte – und gibt sie in einem anderen Modus, einem anderen Sinnesbereich wieder. Beispielsweise vokalisiert die Pflegeperson eine Bewegung des Kindes. Der Säugling versteht dieses, da er noch amodal wahrnehmen kann und über die Fähigkeit verfügt, Intensität, Zeit und Gestalt zu transformieren. Indem die Pflegeperson das Gleiche in einer anderen Form ausführt, vermittelt sie dem Kind, dass sie die gemeinte Qualität des GefühIs erkannt hat. Würde lediglich das gleiche Verhalten wiederholt, wäre es reine Imitation. So wird jedoch dem Kind vermittelt, dass sein inneres Erleben verstanden wurde. Diese Ein- und Abstimmungsprozesse, die ständig stattfinden, tragen zur Einrichtung einer interpersonalen Gemeinsamkeit (»interpersonal communion«) zwischen Mutter und Kind bei. z
4. Empfinden eines verbalen Selbst und einer verbalen Bezogenheit (ab 18. Monat)
Mit dem Spracherwerb gewinnt das Kind neue Möglichkeiten, mit anderen in Beziehung zu treten. Aber der Spracherwerb bringt auch Trennungen mit sich: die Trennung von dem bisher einheitlichen Selbsterleben. Mit dem Spracherwerb verliert das Kind seine amodalen Fähigkeiten, d. h. den ganzheitlichen Umgang mit der Welt. So bewirkt der Spracherwerb, dass ein Spalt zwischen zwei simultanen Formen interpersonaler Erfahrung entsteht: nämlich der gelebten und der verbal repräsentierten. Das Kind muss nun Entscheidungen treffen zwischen verbalem und nonverbalem, subjektivem und objektivem Erleben. Und nicht alles Erlebte kann in Sprache wiedergegeben werden.
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Kapitel 6 • Psychoanalytische Entwicklungstheorien
Bereits vor dem 18. Monat ahmen Kinder komplexe Handlungsabläufe nach, z. B. Telefonieren, d. h., dass mentale Repräsentanzen gebildet werden. Nach dem 18. Monat beginnen Kinder, Symbole zu verwenden. Um etwas Beobachtetes wiedergeben zu können, muss das Kind eine Repräsentanz der originären Handlung bilden, seine eigene Version beurteilen und zwischen beiden vergleichend hin- und herpendeln. Das entspricht der Reversibilität in der Koordination des mentalen und motorischen Schemas bei Piaget (1937/1974). Kinder bauen in diesem Alter zudem ein objektives Selbst auf. Dazu gehört, sich im Spiegel wiederzuerkennen, sich selbst mit dem eigenen Namen zu nennen, Pronomen wie »ich«, »mein«, »mich« zu benutzen und empathisch handeln zu können (Stern 1985, S. 165f.). z
5. Entwicklung eines narrativen Selbst (ab dem 3. Jahr)
Im Auftauchen der Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, sieht Stern dann einen weiteren Entwicklungssprung, ähnlich dem Laufenlernen oder dem Spracherwerb. Mit dem Spracherwerb kann das Kind nicht nur anderen, sondern auch sich selbst die ihm widerfahrenen Ereignisse und Erfahrungen erzählen und zu autobiografischen Geschichten verweben (Identität). In den Geschichten sind zudem die Zeiten (Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft) miteinander verwoben, auch wenn die Erinnerungen verschiedene Orte aufsuchen oder wenn es sich um imaginierte Vorstellungen handelt. Beim Erzählen einer Geschichte erschafft der Erzähler jeweils eine neue Realität, da er immer aus den Erinnerungen auswählt, auch, um sie dem Zuhörer verdeutlichen zu können. Es existieren somit zwei parallele Welten: eine, die unmittelbar erlebt wird (»world«) und eine, die sich in den Geschichten niederschlägt (»story world«). Die unmittelbar erlebte Welt ist nie greifbar und am ehesten mit William James’ »Bewusstseinsstrom« vergleichbar, wie ein Traum, ein primärprozesshaftes Geschehen. > Stern (1991) sieht sich selbst als einen Mittler zwischen verschiedenen wissenschaftstheoretischen Positionen. Er findet die entwicklungspsychologische Forschung über die Sprünge in der kindlichen Selbst-
entwicklung, vor allem auch bezüglich der Entstehung des »narrative self«, sehr wichtig, auch für die Psychoanalyse. Deren Ablehnung der experimentellen Kleinkindforschung ist ihm unverständlich, denn die »Daten«, mit denen die Psychoanalyse arbeite, seien ausschließlich Narrationen, lediglich der Kontext, in dem diese Daten gewonnen würden, sei jeweils verschieden. Seiner Meinung nach wird damit die epistemiologische Lücke zwischen den beiden Bereichen geschlossen, auch wenn die zugrunde liegende Theorie unterschiedlich bleibt, d. h. die Interpretation der gewonnenen Daten von der jeweiligen Theorie abgeleitet wird.
6.2.2
Robert Emde (*1935)
Ab 1967 war Emde an der University of Colorado in Denver als Psychiater tätig; ab 1976 als ordentlicher Professor für Psychiatrie. Emde sieht seinen eigenen Forschungsansatz durch Rene Spitz inspiriert (Emde 1989), mit dem er noch zusammenarbeiten konnte. Außerdem ist er außerordentlicher Professor für Psychologie an der Universität von Denver. Hinzu kommen zusätzliche Verpflichtungen, z. B. als Direktor der Developmental Psychobiology Research Group. Er war Mitherausgeber des Journal of the American Psychoanalytic Association sowie Präsident der Society for Research in Child Development. Emde spricht von einem »affektiven Kern des Selbst« als der frühesten Form des Selbst und vermutet, dass dieses Selbst in hohem Maße biologisch determiniert ist – eine angeborene Fähigkeit, Affekte auszudrücken und sie zu erkennen. Das frühe Selbst hat zwei Wurzeln: Es besteht aus einem Bündel von Motiven, die vor allem biologisch begründet sind, und es entwickelt sich aus den alltäglichen Interaktionen mit den Pflegepersonen und deren emotionaler Verfügbarkeit. Entwicklung kann demnach als »biosocial« und »biobehavioral« verstanden werden (Emde u. Buchsbaum 1989, S. 217). Die basalen Motive, die Emde in interdisziplinären Studien herausfand, haben sich im Laufe der Evolution als Grundbedingungen des Lebens und
6.2 • Psychoanalytische Säuglingsforschung
der Entwicklung ausgebildet; sie bleiben lebenslang bestehen. Es handelt sich im Einzelnen um Exploration und Neugierverhalten, intrinsische Motivationen und angeborene Entwicklungsprogramme (Emde 1991). Das Neugeborene ist so ausgestattet, dass es sofort an menschlichen Interaktionen teilnehmen, eine soziale Beziehung aufbauen kann. Das sich entwickelnde Selbst steht im aktiven Austausch mit den betreuenden Personen. Es ist ein »active, affective, self-regulating social being from the start« (Emde 1988, S. 285). Zwar sucht das Neugeborene auch nach Triebbefriedigung (Stillen seines Hungers), aber es sucht nicht die völlige Entspannung (das Nirwana, wie Freud glaubte), sondern eine optimale Stimulierung. Seine biologische Ausstattung ermöglicht ihm, bereits nach der Geburt mit anderen Kontakt aufzunehmen, Beziehungen zu halten und zu beenden, was Emde als »fittedness« bezeichnet. Dazu gehören Fähigkeiten zum Augenkontakt, zur Antwortbereitschaft im Sinne von Beruhigt-werden-Können durch Berührung, Wiegen, Schaukeln, Ansprache, aber auch die Neigung, menschliche Gesichter, Stimmen, Gerüche vor anderen Stimuli zu bevorzugen. Während die bisher erwähnten biologischen Regulative den Säugling befähigen, sich von Geburt an aktiv und sozial bezogen zu verhalten, bewirkt das zentralnervös gesteuerte »affective monitoring«, dass jedes Verhalten von affektivem Erleben begleitet wird. In den ersten sechs Monaten ist es vorrangig der Säugling, der mit seinen Affekten die Mutter »leitet«, sodass sie sich auf ihn einstellen kann, um seinen Bedürfnissen zu entsprechen. In den folgenden sechs Monaten des ersten Lebensjahres »rückversichert« sich der Säugling in unsicheren Situationen des emotionalen Ausdrucks der Pflegepersonen, ein Verhalten, das zuweilen auch später noch auftritt. Affekte organisieren das Selbst, gewährleisten seine Kontinuität über die Zeit und ermöglichen immer neue Beziehungserfahrungen. Das affektive Erleben vermittelt die Sicherheit, der Gleiche zu sein, auch wenn sich im Laufe des Lebens beinahe jede Zelle ändert. Im Empfinden der eigenen Kohärenz, der Gewissheit, ein Handelnder zu sein und Kontrolle über sich zu haben, äußert sich das
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6
Selbstsystem. Dieses System wirkt einerseits im Sinne eines regulatorischen Prinzips, andererseits unterliegt es selbst wieder einer Entwicklung. Emde u. Buchsbaum (1989) wiesen auf die Parallelen zum Konzept des Äquilibriums bei Piaget (1936/1969) hin. Als weiteres basales Motiv führen Emde et al. (1991) die »kognitive Assimilation« an, ein von Piaget übernommener Begriff. Von Geburt an erkunden Säuglinge ihre Umgebung und sind bestrebt, Neues zu erleben und es sich vertraut zu machen. Alle diese biologischen Prinzipien oder basalen Motive sind miteinander verbunden; sie bilden gemeinsame, aufeinander bezogene Funktionen, die von Geburt an über die ganze Lebensspanne wirken, sodass in der menschlichen Aktivität eine organisierte Kohärenz zum Ausdruck kommt (Emde 1983). Säuglinge können demnach kognitiv sensorimotorische und soziale Eindrücke und Erfahrungen integral bzw. zu Entitäten organisiert erfassen und nach Kategorien ordnen. Neben der Bedeutung der Affekte bei der Entwicklung des frühen Selbst und der sozialen Beziehung verweisen Emde (1991) und Stern (1985/1992) auf die Bedeutung des prozeduralen Wissens, das Handlungsabläufen zugrunde liegt, ohne dass es im Bewusstsein repräsentiert sein muss. Das von Emde (1983) beschriebene frühe affektive KernSelbst, das noch keine Repräsentanzen enthält, basiert auf der Erfahrung, dass jede Handlung von dem Gesichtsausdruck, der Stimme und anderen emotional getönten Signalen des anderen begleitet und reflektiert wird. Emde (1989, S. 45) glaubt, Emotionen seien »fundamentally social« und das gemeinsame Erleben von Emotionen bilde Interpersonalität. Umgekehrt basierten die sozialen Bezüge auf den zugrunde liegenden prozeduralen Erfahrungen der Konsistenz der eigenen Emotionen und der der anderen. Nach Emde (1991) sind die Grundmotive der Aktivität und Selbstregulation, der sozialen Beziehung (»social fittedness«), der affektiven Spiegelung (»affective monitoring«) und der kognitiven Assimilation Ausdruck übergreifender Regulationsfunktionen, die in der evolutionären Ausstattung vorprogrammiert sind. Erlauben die emotional verfügbaren Eltern ihre Entfaltung, so unterstützen sie in den ersten drei Jahren wesentliche Entwicklungsschritte:
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6
Kapitel 6 • Psychoanalytische Entwicklungstheorien
5 die Konsolidierung eines »affektiven KernSelbst«, 5 die Entwicklung eines Gefühls der Wechselseitigkeit (»sense of reciprocity«), welches ein empathisches Empfinden einschließt, erste Vorstellungen von der Gültigkeit sozialer Regeln bildet und so als Vorläufer einer moralischen Entwicklung verstanden werden kann, 5 die Teilhabe an Meinungen (»sense of shared meaning«), sodass 5 mit dem dritten Jahr ein Wir-Gefühl (»sense of we«) entstehen kann. Verbunden mit zunehmender Autonomie wächst der Sozialsinn, im Sinne einer Wir-Entwicklung, eines »We-go« (Emde 1988, S. 285). Emde betont, es sei das Verdienst Sterns, darauf hingewiesen zu haben, dass sich neben dem Selbstgefühl (»sense of self«) und der Fähigkeit, zwischen Selbst und anderen zu unterscheiden (»sense of other«), früh ein Gefühl des »Selbst mit anderen« (»sense with other«) herausbildet. Die von Emde benutzte Bezeichnung des »sense of shared meaning«, das sich zum Wir-Gefühl herausbildet, ähnelt sehr dem Adler’schen »Gemeinschaftssinn« bzw. dem von seinem Schüler Künkel (1939) weiterentwickelten »Wir-Gefühl«. Emde selbst bezieht sich auf George Kleins Forderung nach einer Theorie des »Wir-Gefühls«, die die Theorie des Ichs der Psychoanalyse erweitern würde.
6.2.3
Joseph D. Lichtenberg (*1925)
Joseph D. Lichtenberg, Mediziner und Psychoanalytiker, ist Professor am Psychoanalytischen Institut des Columbia University Center in Washington D.C. und lehrte am Humanities Center der Johns Hopkins University. Er ist seit 1980 Herausgeber der Zeitschrift Psychoanalytic Inquiry. Lichtenberg schließt sich der Meinung Sterns an, der zufolge der Säugling keine andauernde Vermischung zwischen sich und dem anderen als normale Entwicklung erlebt. Auch in den ersten Tagen nach der Geburt und selbst in Zuständen des gemeinsamen affektiven Verbundenseins mit der Mutter erlebt sich der Säugling als ein Getrenntes.
Säuglinge entwickeln ein Arbeitsmodell über das lnvariante von sich und anderen, wenn sie die anderen von einer gewissen Distanz aus sehen und hören können. Ist die Mutter hingegen sehr nah und ist der Austausch mit ihr sehr rasch und intensiv, wird es für den Säugling sehr schwer, die Getrenntheit zu erleben. Wenn dann noch die Synchronizität zwischen mütterlichen und kindlichen Bewegungen oder Lauten nicht ganz übereinstimmt, dann kann die Freude an dem Eingebundensein in das mütterliche Tempo die Fähigkeit zunichtemachen, kleine Unterschiede der zeitlichen Struktur noch wahrzunehmen. Lichtenberg glaubt, dass die Psychoanalyse keine Strukturtheorie ist, sondern eine Theorie strukturierter Motivationen. Er geht von der Annahme fünf basaler Motivsysteme aus, die von Lebensbeginn an vorhanden sind, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Während der Kindheit trägt jedes dieser Systeme zur Selbstregulation des Kindes im wechselseitigen Austausch mit der Pflegeperson bei. Lebenslang werden sich die fundamentalen Bedürfnisse und Wünsche, die aus den verschiedenen Motivationssystemen hervorgehen, entsprechend dem jeweiligen Entwicklungsstand hierarchisch gruppieren und funktional miteinander verbunden sein. Sie sichern das Überleben. Darauf aufbauend stehen in der Hierarchie die erworbenen Schemata, die komplexe Programme der Intentionen und Planungen ermöglichen. Auf einer noch höheren Ebene sind die Wünsche im psychoanalytischen Sinne angesiedelt: symbolische Repräsentationen von Zielen, Ambitionen, Idealen. Alle drei Ebenen gehören lebenslang zusammen: die Ebene der basalen Bedürfnisse, die Ebene der Intentionen und Pläne in Form von Wahrnehmung-Affekt-Handlungs-Mustern und die Ebene der symbolischen Repräsentation in Form von Wünschen. z
Bedürfnis nach psychischer Regulation physiologischer Bedingungen
Die Erfahrung sich wiederholender physiologischer Bedürfnisse ruft ein vertrautes Gefühl hervor. Dieses Vertrautheitsgefühl und die Fähigkeit, eine Kontinuität herzustellen, helfen bei der Ausdifferenzierung und Bestimmung des Selbst.
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6.2 • Psychoanalytische Säuglingsforschung
z
Bedürfnis nach Bindung und Verbundenheit
Dieses Bedürfnis strebt – entsprechend der bindungstheoretischen Sicht – nicht primär nach Triebbefriedigung. Die vorherrschende und prototypische Selbstobjekterfahrung des Säuglings stammt aus der positiven affektiven Begleitung, in der – bei guter mütterlicher Fürsorge – lediglich kleine Momente des Unbehagens auftauchen, gefolgt von baldiger Erleichterung. Freuds »ozeanisches Gefühl«, Sandlers »affect of safety«, Eriksons »Urvertrauen« sind nicht auf die Reduzierung der Triebspannung beim Füttern zurückzuführen, sondern: »it is the fluid passing of days in the relative harmony of an ideal vacation or sea voyage that best resonates with the earliest selfobject experience« (Lichtenberg 1989, S. 33). z
Bedürfnis nach Selbstbehauptung und Exploration
Behauptungsstreben und Aggression haben verschiedene Wurzeln. Behauptungsstreben wird durch ein optimales Maß an Umweltanregungen aktiviert. Die Gefühle dabei sind: Interesse, Erregung, Freude. Aggressionen werden dagegen als Reaktionen auf eine Bedrohung der Integrität des Individuums erlebt. Die begleitenden Gefühle sind Angst, Ärger, Kummer. z
z
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Bedürfnis nach sinnlichem Vergnügen und sexueller Erregung
Bereits das Ungeborene macht sinnliche Erfahrungen (z. B. beim Daumenlutschen). Sexualität ist nach Lichtenberg die Steigerung von Sinnlichkeit zu einem Erregungszustand. Die Selbstentwicklung geht mit der Entwicklung der motivationalen Systeme einher. Die Auffassung Lichtenbergs (1983, S. 198) deckt sich im Wesentlichen mit der von Stern (1985), der zufolge das Selbstempfinden sich in Stufen entwickelt, hin zu einem immer komplexeren Selbsterleben. Dies vollzieht sich nicht linear ansteigend, sondern in Sprüngen, mit dazwischen liegenden Phasen der Konsolidierung. Lichtenberg zweifelt jedoch, ob es sinnvoll ist, die Erlebnisweisen des Neugeborenen bereits mit dem Begriff »Selbst« zu fassen, wie es Stern macht. »Ich glaube eher, dass das Entscheidende dabei das Selbstempfinden ist – und das entwickelt sich später« (1983/1991, S. 26). Selbst- und Objektempfinden gehören seiner Meinung nach zusammen. Sie entwickeln sich »in einem verwobenen Kontext«, zu dem neben dem Objekt die Affekte, Kognitionen und Wahrnehmungen gehören (1983/1991, S. 29). Eine klare differenzierte, kognitiv organisierte Repräsentanz von Selbst und anderen bildet sich seiner Meinung erst im zweiten Lebensjahr heraus.
Bedürfnis nach aversiver Reaktion durch Antagonimus oder Rückzug
Lichtenberg spricht von »Aversion« anstelle von Aggression. Aversion ist ein Signalsystem und trägt zur Regulation physiologischer Notwendigkeiten bei. Frühe Erscheinungsformen sind reflexhafte Bewegungen des Neugeborenen bei bestimmten Gerüchen oder lauten Geräuschen. Das Motiv des Auftretens des Aversionssystems ist beim Säugling als Selbstregulation zu verstehen, wie das aktive Ausstoßen der Brustwarze bei Sättigung im Sinne eines Widerspruchs oder Rückzugs. Affekte, die antagonistische Reaktionen begleiten, sind Kummer, Ärger, Ekel. Das Bedürfnis nach aversiver Reaktion dient anfänglich der Selbsterhaltung. Das aversive System wird als ein Signalsystem verstanden, mit dem der Säugling seine Pflegeperson anspricht und einbezieht. Es entspricht dem Bedürfnis des »dritten Organisators«, des »Nein«, bei René Spitz und hilft, das Selbst aufzubauen und stabil zu halten.
6.2.4
Louis W. Sander
Louis Sander, Professor für Kinderpsychiatrie an der University of Colorado, gehört der bekannten, von Daniel Stern initiierten Boston Process of Change Study Group an. Dass seine Forschungen in Deutschland bisher weitgehend unbekannt geblieben sind, liegt nur z. T. daran, dass erst 2009 eine Auswahl seiner Schriften ins Deutsche übersetzt wurde. In der Tradition von Spitz stehend, versucht er psychoanalytisches Denken mit wissenschaftstheoretischen Richtungen zu verbinden, die ihre Wurzeln in holistischen biologischen Ansätzen haben (Autopoiesis) und in den weiten Bereich systemischen Denkens eingeordnet werden können. Die Selbstentwicklung wird von Sander (1983, S. 87; 1989, S. 389) als ein kreativer Prozess gesehen. Um sie zu verstehen, schlägt er einen »organismi-
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6
Kapitel 6 • Psychoanalytische Entwicklungstheorien
schen Blickwinkel« vor, bei dem sowohl das Ganze als auch die Teile in ihrer WechseIwirkung berücksichtigt werden, ein gestaltpsychologisch orientierter Zugang, dem z. T. auch Spitz folgte. Außerdem erwähnt er Paul Weiss (1939) mit seinem systemischen Ansatz sowie Prigogine (1976) und Waddington (1976) mit ihren autoregulativen Modellen und Begriffen, wie z. B. »order through fluctuation« und »amplification of adaption«. Sander unterteilt die kindliche Entwicklung in sechs Stufen, die mit Hauptfragestellungen und Forschungsaufgaben einhergehen, wobei er sich auf Forschungen früherer Kollegen bezieht und damit seine Arbeit in die psychoanalytische Tradition stellt. z
1. Phase: Primäre Anpassung bzw. primäre Regulierung (1.–3. Monat)
Diese erste Stufe stimmt mit der »undifferenzierten Phase« der frühen Ich-Entwicklung überein, wie sie bereits Hartmann et al. (1946) beschrieben. Die Aufgabe dieser Zeit liegt in einer passenden Verzahnung mütterlicher Aktivitäten mit den Signalen des Säuglings, damit er überleben und gedeihen kann. Es kommt »zu einer quantitativen und qualitativen Passung zwischen mütterlicher Fürsorge und infantilem Zustand« (Sander 2009, S. 36). z
2. Phase: Reziproker Austausch (4.–6. Monat)
Diese Stufe entspricht der bereits von Spitz (1954/1973) beschriebenen Lächelreaktion und der wachsenden Bedeutung der Beziehung. Die inzwischen entstandene Wechselseitigkeit zwischen Kind und Pflegeperson ist noch vorwiegend von der Pflegeperson bestimmt, weil es mehr ihrer Einfühlung in die Bedürfnisse des Kindes bedarf als umgekehrt. Der Säugling kann jedoch an einem hoch organisierten System teilnehmen, ohne dass er schon Repräsentanzen oder klare Schemata gebildet hätte – abgesehen von Handlungsschemata, über die er bereits verfügt. Wichtig für die kindliche Entwicklung sind in dieser Zeit weiterhin die vielfältigen aktivierenden, routinemäßigen, lustvollen Wiederholungen, die die Pflegehandlungen begleiten, da sie organisationsbildend wirken.
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3. Phase: Inititative (7.–9. Monat)
Diese Phase zeichnet sich durch vom Kind initiierte Aktivitäten aus, »die einen reziproken sozialen Austausch mit der Mutter sicherstellen oder die Umwelt nach eigener Wahl manipulieren« (Sander 1975, S. 138). Es beginnen sich zielgerichtete Schemata zu entwickeln, sodass der Säugling Spiele imitieren kann. Die Beziehung wird wechselseitig geprägt. Innere Bilder und Ziele leiten das kindliche Handeln. z
4. Phase: Fokussierung auf die Mutter (10.–13. Monat)
Die Autonomie im ersten Jahr hängt teilweise davon ab, »zu welchem Ergebnis die vom Kind initiierten Aktivitäten führen. Schrittweise erweitert sich die primordiale Autonomie vis-à-vis der Außenwelt.« Sobald die Problemstellung der dritten Phase zufriedenstellend gelöst wurde, »gibt die MutterKind-Beziehung den Weg zur nächsten Problemstellung frei. Dies bezieht sich auf eine Expansion der infantilen Initiative, mit dem Ziel, eine gewisse Manipulation der Mutter zu erreichen, insbesondere eine Fokussierung der Mutter als Person, die seine Bedürfnisse befriedigt« (Sander 2009, S. 49). Bowlby nannte diesen Prozess der interaktiven Fokussierung auf die Mutter Monotrophie. Die Pflegeperson ist inzwischen das Zentrum der Welt geworden, entsprechend der von Mahler et al. (1975/1978) beschriebenen »Heimatbasis« oder Ainsworth’ (1979) »Sicherheitsbasis«. Von ihr aus wird die Welt erobert. Es ist die Zeit, in der nach Bowlby (1973) das Kleinkind Arbeitsmodelle (»working models«) entwickelt. Am Ende des ersten Lebensjahres ist die innere kindliche Organisation bereits so weit fortgeschritten, dass man von einem »entstehenden Selbst« sprechen kann. Im Vordergrund steht in dieser Zeit jedoch noch immer die Beziehung zur Pflegeperson. z
5. Phase: Selbstbehauptung (14.–20. Monat)
Sowohl physisch als auch psychisch beginnt das Kleinkind, sich zu separieren und sich als eigenständig zu erleben. Es ist die »Übungsphase« nach Mahler, die Zeit des »Nein« bei Spitz bzw. des »Ich kann, was ich will« bei Erikson. Über die eigene Aktivität gewinnt das Kind Ansätze einer Selbstwahrnehmung.
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6.3 • Ausblick
z
6. Phase: Erkennen und Kontinuität oder Etablierung des Selbst als aktiver Organisator (18.–36. Monat)
Das Kind erlebt sich zunehmend bewusster als handelndes Selbst. Durch den Spracherwerb kann es innere Erfahrungen äußern und damit wiederum erfahren, dass das innere Erleben von anderen verstanden wird. Das Erleben einer inneren Übereinstimmung, eines Einklanges stellt nach Sander (1975) einen wichtigen Schritt zum Erkennen des eigenen Selbst dar. Das Kind benötigt jedoch dazu die mit der Betreuungsperson geteilte Wahrnehmung der eigenen Gefühle, um seine Selbstwahrnehmung und damit seinen selbstorganisierenden Kern zu entdecken. Das ist gleichzeitig der Anfang der Wahrnehmung eigener Kontinuität. Erkennen und Kontinuitätserleben stellen somit zwei Pole in der Herausbildung einer Selbstkonsistenz dar. Auf dem Pol der Übereinstimmung (das Thema des Erkennens) erlebt das Kind ein »gefördertes Selbst«, auf dem gegensätzlichen Pol des Neinsagens, der Abgrenzung, erlebt das Kind ein »nichtkoordiniertes Selbst«. Auf dem Pol der Abgrenzung kann sich das Kind als aktiver Organisator erfahren. Das Kind entwickelt in dieser Phase nach Sander eine »self-constancy« (1975, S. 143), ähnlich der »Objektkonstanz« bei Piaget (1936/1969). Ähnlich wie Fordham (1955) beschreibt Sander die kindliche Entwicklung in zirkulären Prozessen. Von einer Destabilisierung gelangt der Säugling wieder zu Restabilisierungen (Fordham spricht von »De-Integration« und »Re-Integration«), die jedoch auf einer höheren Ebene stattfinden. Dieses Denken führt Sander selbst ausdrücklich auf seine Verbundenheit mit biologisch-systemischen Ansätzen zurück (Sander 1989).
6.3
Ausblick
Die wissenschaftliche Offenheit, mit der sich z.B. bereits Spitz anderen Theorien zuwandte (die Bindungstheorie ausgenommen), ist inzwischen bei fast allen Psychoanalytikern festzustellen, die sich mit der frühen Kindheit beschäftigen. Vorbilder hierfür sind die oben beschriebenen Säuglingsforscher. So kannte und schätzte Robert Emde z. B. die Forschungsergebnisse von Hanuš und Mecht-
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hild Papoušek schon, als sie in Deutschland noch weitgehend unbekannt waren und nicht beachtet wurden. Aktuelle psychoanalytische Entwicklungstheoretiker integrieren größtenteils unterschiedliche theoretische Verstehenszugänge. Einerseits fußen sie auf tradierten psychoanalytischen Ansätzen, wobei der Bezug zur Objektbeziehungs- und Selbstpsychologie am verbreitetsten ist. Andererseits greifen sie Aspekte aus der Gestalttheorie, epigenetischen Theorien und biologisch-systemischen Ansätzen auf und kennen die kognitiven Entwicklungstheorien, die systemischen Zugänge und Ergebnisse der Neurobiologie und Neuropsychologie. So wie die Kinder, mit deren Entwicklung sie sich beschäftigen, die unvoreingenommen, neugierig die Welt erkunden und verstehen wollen, sind die heutigen Säuglingsforscher (meist) offen für neue Denkanstöße aus anderen theoretischen Richtungen. Viele von ihnen verbinden Praxis und empirische Forschung. Auffallend ist auch, wie viele Säuglingsforscher offen für psychoanalytische Verstehenszugänge sind, sodass es schwer einschätzbar ist, wer von ihnen ein Psychoanalytiker im engeren Sinne ist. Hier können nur einige wenige Psychoanalytiker aus dem angloamerikanischen Kontext – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – genannt werden wie Beatrice Beebe, Susan Coates, Peter Fonagy, Frank Lachman, Alice Lieberman, Joan Raphael-Leff, Daniel Schechter, Allen Schore, Mary Target. Fazit Es wäre wünschenswert, wenn auch in Deutschland nicht nur generell die Offenheit zwischen psychoanalytischen Schulen wachsen würde, sondern auch die Offenheit gegenüber anderen Theorien, um das komplexe System der kindlichen Entwicklung in seiner Umwelt vertieft erfassen zu können. Hierzu zählt auch die Bereitschaft von Psychoanalytikern, ihr psychoanalytisches Wissen und ihre therapeutischen Erfahrungen vermehrt in außerklinische Bereiche einzubringen, sei es in Eltern-Säuglings-Beratungen im Kontext der Jugendhilfe, z. B. bei Kinderschutzfällen, in der Betreuung von Adoptions- und Pflegeeltern, in der Weiterbildung von Mitarbeitern im Gesundheitswesen, in der Erwachsenenbildung oder in der Fortbildung von Familienrichtern, in der Frühförderung und Pädagogik.
100
Kapitel 6 • Psychoanalytische Entwicklungstheorien
So würde sich ein Kreis schließen können, denn in den Anfängen der Psychoanalyse engagierten sich viele Psychoanalytiker in genau diesen Feldern.
Literatur
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103
Gesundheitliche Folgen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit Ulrich T. Egle und Jochen Hardt
7.1
Definition des Problembereichs – 104
7.2
Epidemiologie – 105
7.3
Entwicklungspsychologische und neurobiologische Folgen – 106
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4
Psychobiologische Auswirkungen – 106 Entwicklungspsychologische Auswirkungen – 108 Risikoverhalten – 109 Körperliche und psychische Erkrankungen als Langzeitfolgen – 109
7.4
Zusammenfassung und Ausblick – 111 Literatur – 111
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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104
7
Kapitel 7 • Gesundheitliche Folgen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit
Die Verknüpfung stressbezogener, neurobiologischer und entwicklungspsychologischer Forschungserkenntnisse hat in den letzten Jahren ein zunehmend klareres Bild von den Auswirkungen frühkindlicher Stresserfahrungen auf die körperliche und psychische Gesundheit im Erwachsenenalter erbracht. Das kumulative Einwirken von – in prospektiven Studien gesicherten – ungünstigen Umweltbedingungen kann demnach die Lebenserwartung um bis zu 20 Jahre reduzieren. Bedeutsam ist dabei eine neurobiologisch früh geprägte Stressvulnerabilität, welche sich auch auf die individuell erlernten Verhaltensmechanismen, nicht zuletzt in der Bindungs- und Beziehungsgestaltung, auswirkt. Dies führt zu einem erhöhten Auftreten von Risikoverhaltensweisen (z. B. frühes Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum, wechselnde Sexualpartner, Bewegungsmangel). Darüber kommt es zu einem erhöhten Auftreten von körperlichen Erkrankungen, welche dann die Lebenserwartung beeinflussen.
psychischen Langzeitfolgen, die man zunächst eindimensional als Folge sexueller Missbrauchserfahrung in der Kindheit interpretiert hatte. Insofern ist heute eine getrennte Behandlung der Langzeitfolgen verschiedener Kindheitsbelastungsfaktoren wissenschaftlich nicht mehr haltbar. Die 7 Übersicht 1 gibt einen Überblick über die im Rahmen prospektiver Longitudinalstudien sowie sorgfältiger retrospektiver Studien hinsichtlich gesundheitlicher Langzeitfolgen als gesichert geltenden frühen Stressfaktoren (vgl. Egle et al. 1997, 2002). Übersicht 1: Empirisch gesicherte Risikofaktoren mit potenziellen Langzeitfolgen für die Stressvulnerabilität (Egle et al. 1997, 2002) 5 5 5 5 5 5
7.1
Definition des Problembereichs
Unter Misshandlung und Missbrauch von Kindern versteht man gewaltsame physische oder psychische Beeinträchtigungen von Kindern durch Eltern bzw. Erziehungsberechtigte, teilweise jedoch auch durch andere Erwachsene in der Umgebung. Derartige Beeinträchtigungen können durch aktive Handlungen (z. B. körperliche Misshandlung, sexuellen Missbrauch, emotionale Misshandlung in Form von verbalen Beschimpfungen und Entwertungen), aber auch durch Unterlassungen (z. B. physische und emotionale Vernachlässigung) bedingt sein (vgl. Engfer 2005). Sowohl die Erfassung in amerikanischen Kinderschutzregistern als auch die Ergebnisse von epidemiologischen Studien ebenso wie Studien an klinischen Populationen belegen erhebliche Überlappungen und zeitliche Verkettungen zwischen den verschiedenen Formen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung bei den davon betroffenen Kindern und Jugendlichen (vgl. Lampe 2002; Jonson-Reid et al. 2003; Baier et al. 2009). Das kumulative Ausmaß belastender Umweltstressoren erklärt all jene
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Niedriger sozioökonomischer Status Schlechte Schulbildung der Eltern Arbeitslosigkeit Große Familien und sehr wenig Wohnraum Kontakte mit Einrichtungen der »sozialen Kontrolle« (z. B. Jugendamt) Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils Chronische Disharmonie in der Primärfamilie Unsicheres Bindungsverhalten nach dem 18./24. Lebensmonat Psychische Störungen der Mutter/des Vaters Schwere körperliche Erkrankungen der Mutter/des Vaters Parentifizierung/Rollenumkehr Chronisch krankes Geschwister Alleinerziehende Mutter Längere Trennung von den Eltern in den ersten sieben Lebensjahren Anhaltende Auseinandersetzungen infolge Scheidung/Trennung der Eltern Häufig wechselnde frühe Beziehungen (z. B. Waisenhaus, Au-pair-Mädchen) Gewalterfahrungen: sexueller und/oder aggressiver Missbrauch Schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen in der Schule Altersabstand zum nächsten Geschwister 6 Monate) von der Mutter vor dem siebten Lebensjahr signifikant erhöht, wird diese zusätzlich bei den Jungen durch anhaltende familiäre Disharmonie, bei den Mädchen hingegen durch Zugehörigkeit zu einer niedrigen sozialen Schicht und beengte Wohnverhältnisse verstärkt. Schikanen durch Gleichaltrige stel-
111
Literatur
len einen weiteren (außerfamiliären) Risikofaktor für eine spätere depressive Störung bei Jungen wie bei Mädchen dar. Auch die Vulnerabilität für die Entwicklung einer chronischen Schmerzstörung steigt bei Misshandlung und Missbrauch in der Kindheit deutlich an (Davis et al. 2005). Dies gilt insbesondere für das Auftreten einer somatoformen Schmerzstörung, eines Fibromyalgiesyndroms, chronischer Unterleibsschmerzen (Lampe et al. 2000; Imbierowicz u. Egle 2003; van Houdenhove u. Egle 2004; van Houdenhove et al. 2009), aber auch für die rheumatoide Arthritis (von Korff et al. 2009). Auch für die Wahrscheinlichkeit, später infolge eines Traumas an einer PTBS zu erkranken, hat das Einwirken früher Umweltfaktoren eine wesentliche Bedeutung (Koenen et al. 2002; Storr et al. 2007).
7.4
Zusammenfassung und Ausblick
Ungünstige Umweltbedingungen im Vorschulalter und hier besonders in den ersten drei Lebensjahren führen über heute gut gesicherte neurobiologische Mechanismen ebenso wie über entwicklungspsychologische Zusammenhänge und deren permanente Wechselwirkungen zu einer erhöhten Stressvulnerabilität im Erwachsenenalter. Missbrauch und Misshandlung bedingen eine Volumenreduktion des Gehirns: je früher, desto mehr; je länger, desto mehr. Besonders betroffen sind dabei der präfrontale Cortex, der anteriore cinguläre Cortex (ACC), der Hippocampus sowie der Nucleus caudatus. Dabei gibt es in der Entwicklung unterschiedlich vulnerable Zeitfenster: Der Hippocampus ist besonders in den ersten beiden Lebensjahren anfällig, der Präfrontalcortex besonders zwischen dem 8. und 13. Lebensjahr und die Amygdala mit zunehmendem Alter bis zum 25. Lebensjahr immer mehr (Lupien et al. 2009). Im Erwachsenenalter einwirkende Belastungen stellen dann sowohl neurobiologisch als auch verhaltensbezogen deutlich schneller Überforderungen dar, welche sich – vermittelt durch Risikoverhaltensweisen – in Form von körperlichen Erkrankungen (koronare Herzerkrankung, Schlaganfall, Altersdiabetes, bestimmte Krebserkrankungen, chronisch obstruktive Lungenerkrankung) ebenso wie in Form von psychi-
7
schen Erkrankungen (Angsterkrankung, Depression, somatoforme Störungen, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörung) auswirken können. Die schwereren Persönlichkeitsstörungen erhöhen dann das Risiko für Delinquenz und Kriminalität (vgl. Johnson et al. 2001; . Abb. 7.2 fasst die heute gesicherten Faktoren und ihr Ineinandergreifen im Hinblick auf Langzeitfolgen zusammen). Fazit Das Verständnis der geschilderten neurobiologischen und verhaltensbezogenen Entwicklungsprozesse schafft auch Möglichkeiten für Einsätze zu einer Primär-, Sekundär- bzw. Tertiärprävention. Dies wäre vor allem bei Risikogruppen erforderlich, deren Anteil auf 20 bis 30 % geschätzt wird. In besonderem Maße betroffen sind Kinder von Migranten, Alleinerziehenden und Arbeitslosen. Entsprechende Präventionsprogramme sind vorhanden und haben sich in Modellprojekten bewährt (vgl. Cierpka 2005; Cierpka et al. 2010). Es bedarf für ihre Einführung in der Breite des entsprechenden politischen Willens und der damit einhergehenden Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen. Sollte dies nicht bald geschehen, so werden die Folgekosten auf dem Hintergrund der dargestellten Zusammenhänge das Gesundheitssystem in den nächsten Jahrzehnten belasten.
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Kapitel 7 • Gesundheitliche Folgen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit
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Kapitel 7 • Gesundheitliche Folgen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit
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7
115
Von der Partnerschaft zur Elternschaft Manfred Cierpka, Britta Frey, Kerstin Scholtes und Hubert Köhler
8.1
Die Zeit der Schwangerschaft und Geburt – 116
8.2
Die werdenden Eltern – 117
8.3
Elterliche Identität und Paarbeziehung – 118
8.3.1 8.3.2
Elterliche Identität – 118 Partnerschaftliche Aspekte – 119
8.4
Besondere Anforderungen im Übergang zur Elternschaft – 121
8.4.1 8.4.2
Belastungsfaktoren aufseiten des Kindes – 121 Belastungsfaktoren aufseiten der Eltern – 122
Literatur – 124
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
8
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Kapitel 8 • Von der Partnerschaft zur Elternschaft
Der Übergang eines Paares in die Elternschaft, also die Zeit rund um Schwangerschaft und Geburt und die erste Zeit mit Kind, wird auch als »normative Krise« bezeichnet (Frevert et al. 2008). Durch die innerpsychische Bearbeitung der Themen dieser Übergangsphase entsteht elterliche Identität, und die zu Eltern gewordenen Partner erleben Selbstwirksamkeit: Sie finden eine neue Rolle. Wie alle Krisen schafft auch diese Herausforderung die Möglichkeit zu Wachstum und Weiterentwicklung, birgt aber auch die Gefahr von erhöhtem psychischem Disstress. Für die frühe Zeit der Elternschaft verweisen empirische Untersuchungen (Belsky et al. 1989; Cowan et al. 1985; Engfer, 1988; Schneewind u. von Rosenstiel 1992; Adler et al. 1994; Corboz-Warnery et al. 1993; Favez et al. 2006) auf z. T. massive Beeinträchtigungen der Qualität der partnerschaftlichen Beziehung von der Schwangerschaft bis zu einem Jahr und länger nach der Geburt des ersten Kindes. In dieser Transitionsphase wirken unterschiedliche Einflussfaktoren zusammen, die zu erhöhter Belastung des Einzelnen und des Paares führen können. Zusätzliche Faktoren aufseiten der Eltern, des Kindes oder auch der gemeinsamen Interaktion können diese Zeit weiter erschweren.
Seit den letzten Jahrzehnten ist in Deutschland ein Geburtenrückgang zu verzeichnen. Im Jahr 2006 kamen in Deutschland 673.000 Kinder zur Welt. Dies ist die niedrigste Geburtenzahl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (Statistisches Bundesamt 2007). Eine mögliche Ursache kann die Tatsache sein, dass Elternsein zum einen vielfältiger, zum anderen auch schwieriger geworden ist: Wie jemand leben möchte, ob und wann ein Kind willkommen ist, ob man verheiratet oder unverheiratet ist, alleinerziehend oder in einer Paarbeziehung lebt, homo- oder heterosexuell ist, in biologischer oder sozialer Elternschaft lebt – die Wahlmöglichkeiten waren noch nie so zahlreich wie heute. Diese neue Heterogenität der möglichen Lebensformen bringt Vorteile mit sich. Die neuen Möglichkeiten zur Ausgestaltung der Elternschaft gehen jedoch auch mit großen Anforderungen an die psychische Belastbarkeit und soziale Kompetenz der Einzelnen einher (z. B. im Rahmen von Patchworkfamilien). Daneben muss sich die Elternschaft auch gegenüber Lebensformen ohne Kinder behaupten. Eben-
so wie ökonomische Gründe für den Rückgang der Geburten erscheinen demnach persönliche und partnerschaftliche Erklärungen denkbar. Was den Übergang zur Elternschaft so besonders und teilweise auch schwierig macht, soll im Folgenden dargestellt werden.
8.1
Die Zeit der Schwangerschaft und Geburt
Keine Phase im Lebenszyklus bringt für die Mutter und den Vater so viele Veränderungen mit sich wie die Geburt des ersten Kindes. Die Transitionsphase zum Elternsein beginnt bereits in der Zeit der Schwangerschaft (vgl. dazu das hypothetische Verlaufsmodell zum Übergang zur Elternschaft von Gloger-Tippelt 1988). Schon mit Bekanntwerden der Schwangerschaft und in deren Verlauf bauen die beiden Eltern – jeweils in ihrer spezifischen Qualität – eine Beziehung zum Ungeborenen auf und gestalten in ihrer Fantasie das Leben zu dritt (z. B. Carneiro et al. 2006). Sowohl bei der Mutter als auch beim Vater findet eine innerpsychische Neuorganisation statt (vgl. Stern 2006 sowie 7 Kap. 9). Für die Mutter ist diese Zeit zudem von vielfältigen körperlichen Veränderungen (z. B. auf hormoneller Ebene) geprägt. Die Geburt des ersten Kindes ist meist auch gleichbedeutend mit der Geburt der neuen (Kern-)Familie und markiert den Übergang von der Partnerschaft zur Elternschaft. Plötzlich ist man nicht mehr nur zu zweit, sondern zu dritt: Die primäre Triade aus Mutter-Vater-Kind ist entstanden (vgl. Fivaz-Depeursinge u. Corboz-Warnery 1999, 2001 sowie 7 Kap. 34). Die Schwangerschaft und vor allem die Geburt selbst ist für das Paar ein herausragendes sowie heutzutage häufig auch einmaliges Lebensereignis. Der Gedanke, Eltern zu werden, und der Geburtsvorgang lösen durchaus gemischte Gefühle aus: Zum einen treten Ängste und Unsicherheiten auf, zum anderen spürt das Paar natürlich auch freudige Erwartung auf das Kind. Schon vor der Geburt kann sich die schwangere Frau in Geburtsvorbereitungskursen auf das Ereignis vorbereiten. Häufig wird sie dabei von ihrem Partner begleitet, der seiner Partnerin vor, während und nach der Geburt zur Seite stehen möchte. Dabei spielt die Paardy-
117
8.2 • Die werdenden Eltern
namik eine erhebliche Rolle und ist entscheidend dafür, ob und wie sehr sich die schwangere Frau bei ihren Vorbereitungen auf die Geburt und im Umgang mit ihren Ängsten unterstützt fühlt. Ob sie sich an ihren Partner anlehnen und Halt bei ihm finden kann, sich mit ihren Ängsten angenommen fühlt, zeigt sich später auch im Kreißsaal. »Halt geben« muss in diesem Fall nicht unbedingt die körperliche Anwesenheit des Partners im Kreißsaal bedeuten. Für manche Partnerschaften ist es eine angemessenere Lösung, wenn der Partner vor dem Kreißsaal wartet und seine Partnerin während der Geburt von einer anderen vertrauten Person unterstützt wird. Wenn der Partner dabei ist, wird das Kreißsaalteam hoffentlich eine Geburtsatmosphäre ermöglichen, die Intimität zulässt und damit Gefühlen der Freude, der Rührung, aber auch der Besorgnis und der Angst Raum gibt (Neises u. Weidner 2011). Wenn es den werdenden Eltern gelingt, sich bei diesem Lebensereignis als krisenfestes Paar zu erleben, ist der Grundstein für eine auch nach der Geburt des Kindes stabile Partnerschaft gelegt und ein guter Start in das Leben zu dritt geglückt. Wenn es dagegen schon während der Schwangerschaft sowie im Geburtsverlauf zu eventuell sogar erheblichen Partnerschaftskonflikten kommt, wird nicht nur für die schwangere Frau die Geburt schwieriger, sondern auch für die gesamte Familie die Phase der Familiengründung. Somit hat schon diese erste Phase und vor allen Dingen die Art, in der die werdenden Eltern als Paar mit dieser Phase umgehen, einen ganz entscheidenden Einfluss darauf, wie die Familie im Folgenden als System funktioniert und welche »Familienallianz« sich entwickelt (z. B. Fivaz-Depeursinge u. Corboz-Warnery 2001). Unter »Familienallianz« versteht man ein überdauerndes familiäres Muster. Dieses familiäre Muster bestimmt die Familienatmosphäre, das Familienklima sowie die »Familienidentität«. Die Familienallianz kann als affektiver Rahmen gesehen werden, in dem die Familie interagiert und in dem sich der Säugling entwickelt. Sie kann ebenso als Prädiktor für die kindliche Entwicklung gesehen werden: Sie bestimmt, ob die Entwicklung des Kindes optimal verlaufen kann oder ob es zu Fehlentwicklungen kommt (z. B. Davies u. Cummings 1994).
8.2
8
Die werdenden Eltern
Im Folgenden soll explizit auf die Bedeutung der Zeit des Übergangs zur Elternschaft für beide Elternteile eingegangen werden. Wie bereits erwähnt, erleben beide Partner in der Zeit vor und nach der Geburt des ersten Kindes (sowie in geringerer Ausprägung auch bei weiteren Kindern) nicht nur körperliche, sondern auch seelische Veränderungen. Die bei der Mutter stattfindenden hormonellen und körperlichen Veränderungen während der Schwangerschaft und der Geburt gehen mit der Findung der neuen Rolle als Mutter einher. Stern (1998, 2006) sowie Favez und Kollegen (2006) beschreiben diese psychischen Veränderungen der Mutter. Die in dieser Zeit neu entstehende psychische Struktur bezeichnet Stern (1998, 2006) als Mutterschaftskonstellation (vgl. 7 Kap. 9). > Die Mutterschaftskonstellation ist von vier konstituierenden Themen geprägt: Thema des Lebens und Wachstums, Thema der primären Bezogenheit, Thema der unterstützenden Matrix und Reorganisation der eigenen Identität. In Bezug zu diesen Themen, vor allen Dingen hinsichtlich der Reorganisation der Identität, spielen oft die Erfahrungen mit der eigenen Mutter bzw. Repräsentationen (7 Abschn. 8.3.1) von »Mütterlichkeit« eine große Rolle.
Der Vater erlebt zwar weniger körperliche Veränderungen als die Mutter, doch auch bei ihm bildet sich eine neue psychische Struktur, die der Rolle des Vaters. Man kann für den Vater eine besondere innerpsychische Struktur äquivalent zu der der Mutterschaftskonstellation für die Zeit des Übergangs zur Elternschaft sowie darüber hinaus annehmen (vgl. 7 Kap. 9 u. 10). Beide Eltern müssen sich in ihre neuen Rollen finden und hierzu jeweils einzeln, aber auch zusammen als Paar eine neue Identität etablieren (Stern 1998; Favez et al. 2006). Während schwangere Frauen sich schon in den Monaten vor der Geburt mit den Veränderungen sowie mit möglichen damit verbundenen Einschränkungen vertraut machen können, erleben Männer die neuen Realitäten erst kurz vor der Geburt und haben somit weniger Zeit, sich mit den
118
Kapitel 8 • Von der Partnerschaft zur Elternschaft
neuen Gegebenheiten auseinanderzusetzen und ihre neue Rolle zu finden. Im Folgenden werden diese gemeinsamen Aspekte des Elternwerdens in Bezug auf eine entstehende elterliche Identität sowie mögliche Auswirkungen auf die Paarbeziehung betrachtet.
8
8.3
Elterliche Identität und Paarbeziehung
8.3.1
Elterliche Identität
Sowohl die werdende Mutter als auch der werdende Vater haben Vorstellungen von ihrem Kind, von der wachsenden Familie sowie von sich selbst und dem jeweils anderen als Vater bzw. Mutter (z. B. Carneiro et al. 2006). Es werden nun bewusste und unbewusste Konzepte (re-)aktiviert, die sich auf das Verhalten, Denken und Fühlen der werdenden Eltern auswirken. Diese Konzepte bestehen zu einem großen Teil aus eigenen, als Kind erlebten Beziehungserfahrungen mit Bindungspersonen. Bowlby (1982) spricht hier von inneren mentalen Repräsentanzen bzw. von inneren Arbeitsmodellen, die sich auf das Rollenverständnis der Eltern und schließlich auf ihre Funktionalität als Eltern auswirken. Fraiberg et al. (1975) gingen von inneren Repräsentanzen in Form von »Geistern im Kinderzimmer« aus. Lieberman et al. (2005) erweiterten dieses Konzept um die »Engel im Kinderzimmer«. Beide Arten von Repräsentanzen können sich in den Interaktionen mit dem eigenen Kind reaktualisieren. Hinzu kommen Wünsche, Überzeugungen und Vorstellungen, die im Laufe der eigenen Entwicklung entstanden sind. Oft sind die sich daraus an sich selbst und den Partner, aber auch an das Kind ergebenden Ansprüche überhöht und unrealistisch und werden häufig nach der Geburt des Kindes frustriert. Vor allem enttäuschte Erwartungen an die Partnerin bzw. den Partner als Mutter bzw. Vater können zur Entstehung von Frustrationen und Partnerschaftskonflikten beitragen (Hackel u. Rubel 1992). Die realen aktuellen Beziehungen zu den eigenen Eltern werden meist in dieser Zeit der Auseinandersetzung mit dem Elternsein intensiviert. Eltern können an ihren eigenen Eltern ein Modell
dafür beobachten, was Elternsein bedeutet und wie Eltern mit ihrem Kind umgehen können (Benedek 1960). Die eigenen Eltern haben als Vater, Mutter und auch als (Eltern-)Paar Modellcharakter. Teilweise möchten die werdenden Eltern als Eltern genauso sein wie ihre eigenen Eltern (»wiederholendes Skript« nach Byng-Hall 2002), manchmal wollen sie jedoch auch unter allen Umständen vermeiden, so zu werden wie die eigenen Eltern (»korrigierendes Skript« nach Byng-Hall 2002). So beeinflussen die Beziehungserfahrungen mit der Ursprungsfamilie die Entstehung von »inneren Arbeitsmodellen von Elternschaft und Partnerschaft« entweder als Modell oder im Sinne einer Deidentifikation als Antimodell (s. auch Cierpka 1992, 1999, 2002). Das Kind sammelt nicht nur in dyadischen und triadischen Beziehungskontexten (also in der Regel in den Interaktionen mit der Mutter, dem Vater sowie den Eltern als Paar) Erfahrungen mit dem elterlichen Verhalten, sondern auch mit der »Familie als Ganzes«, also dem gesamten Beziehungsnetz, in das es hineingeboren wurde. Fivaz-Depeursinge u. Corboz-Warnery (2001) gehen davon aus, dass die Familie mehr als die Summe ihrer Teile ist. Über die Identifizierungen mit den Eltern als Paar und der eigenen Familie als Beziehungsmatrix bilden sich sogenannte Familienrepräsentanzen (Cierpka 1992). Diese entwickeln sich, wenn sie im Zusammenhang mit der Verinnerlichung von Funktionen der Bildung, Aufrechterhaltung und Neugestaltung der »Familie als Ganzes« erworben wurden (vgl. auch die Konzepte von Stern 2006 und Bowlby 1982). Die Bildung dieser psychischen Strukturen führt dazu, dass das Ich über eine spezifische Fähigkeit verfügt: die Vorstellung von und das Gefühl für eine Familie, das sogenannte Familiengefühl (Cierpka 1992). Ein solches »Familiengefühl« ist in allen familienähnlichen Lebensgemeinschaften notwendig, um den Abgleich zwischen den individuellen Wünschen und den Erfordernissen des Familiensystems nach Aufrechterhaltung und Kohäsion zu gewährleisten. Beim Übergang von der Partnerschaft zur Elternschaft werden diese Familienrepräsentanzen und die damit verbundenen Bilder von der eigenen Familie aktiviert. Eher unbewusst als bewusst nehmen diese Familienbilder Einfluss auf die Beziehungsausgestaltungen
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8.3 • Elterliche Identität und Paarbeziehung
der werdenden Familie. Dies wird durch die zuerst fantasierten und dann entstehenden Beziehungen zum Kind ausgelöst. Werdende Eltern machen sich mehr oder weniger bewusste Vorstellungen von ihrer zukünftigen Familie, die mit entsprechenden Erwartungen verbunden sind. Es wird somit nicht nur auf der »äußeren Bühne« ein Zimmer zum Kinderzimmer umgestaltet, sondern die Familienrepräsentanzen verändern auf der »inneren Bühne« auch die repräsentationale Welt: Neue Wünsche an Beziehungen stellen sich ein, vorhandene Beziehungen werden anders erlebt. Eltern berichten in dieser Phase nicht nur über ihre Fantasien, sondern auch über ihre Gefühle für die zukünftige Familie (vgl. auch Carneiro et al. 2006). Dieses »Familiengefühl« ist jetzt auch gefordert, um die individuellen Interessen mit den Anforderungen der zu gründenden Familie abzugleichen.
8.3.2
Partnerschaftliche Aspekte
Der Übergang zur Elternschaft beeinflusst nicht nur Mutter und Vater einzeln in ihrer Identität, sondern auch ihre Partnerschaft. Sie müssen zusammen eine neue Identität als Eltern finden, und auch ihre Beziehung zueinander definiert sich mit der Geburt des Kindes neu: So bekommt z. B. die Beziehung zueinander nach der Geburt des Kindes andere Inhalte sowie eine neue Qualität. Viele Studien beschreiben ein rapides Absinken der Paarzufriedenheit und Qualität der Partnerschaft innerhalb des ersten Lebensjahres des Kindes (Belsky et al. 1989; Cowan et al. 1985; Engfer 1988; Schneewind u. von Rosenstiel 1992; Adler et al. 1994; CorbozWarnery et al. 1993; Favez et al. 2006). Dies liegt zum einen an den oben beschriebenen Aufgaben, die in der Transitionsphase zur Elternschaft sowohl einzeln als auch gemeinsam bewältigt werden müssen, und zum anderen an Aspekten der Kommunikation zwischen den Partnern. Standen vorher die eigenen Bedürfnisse und die des Partners im Vordergrund, gewinnen nun die antizipierten bzw. tatsächlichen Bedürfnisse des Kindes immer mehr an Bedeutung (Cowan u. Cowan 1992). Der emotionale Austausch zwischen den Partnern sinkt zugunsten eines instrumentellen Austausches, in dem es vorwiegend um Pflegeaktivitäten oder die Arbeitsteilung zwischen den Partnern geht (Cowan u. Co-
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wan 1992). Auch wenn vor der Geburt des Kindes eine egalitäre Rollenaufteilung bestand, stellt sich nach der Geburt meist eine eher traditionelle Aufteilung der Rollen – der Mann als Ernährer und die Frau als Behüterin und Versorgerin – ein (s. Cowan u. Cowan 1992; Favez et al. 2006).
Maternal Gatekeeping Übernimmt die Mutter im Zuge einer traditionellen Aufgabenteilung überwiegend Pflege und Versorgung des Säuglings, kann sich beim Vater das Erleben einstellen, aus der engen (körperlichen) Beziehung zwischen Mutter und Kind ausgeschlossen zu sein. Dieses Gefühl des Ausgeschlossenseins, vor allem wenn die Mutter den Säugling stillt, kann sich verstärken, wenn es mit Einschränkungen und Kritik an väterlichen Aktivitäten mit dem Kind einhergeht. Das oft vergleichsweise geringere Bedürfnis von Frauen nach Nähe und Sexualität in der ersten Zeit nach einer Geburt und in der Phase der engen körperlichen Verbundenheit mit dem Kind kann von Männern als zusätzliche Zurückweisung empfunden werden. Im Sinne einer Traditionalisierung der Rollenverteilung sowie in Reaktion auf das oben beschriebene Erleben ziehen viele Männer sich verstärkt in Lebensbereiche zurück, in denen sie Selbstwirksamkeit erleben und Bestätigung finden können, wie z. B. die Arbeit. Dies kann wiederum vonseiten der Partnerin als Zurückweisung und Rückzug des Mannes aus dem Familienleben empfunden werden und zu einer Verstärkung der Zuwendung zum Kind führen. In der Folge vergrößert sich die Distanz zwischen Mutter und Vater. Ergebnis eines solchen Kreislaufes kann sein, dass die Mutter sich in der Versorgung des Kindes alleingelassen und der Vater sich hinausgedrängt fühlt und keine zufriedenstellende Position gegenüber dem Kind findet. Das sogenannte mütterliche Gatekeeping-Verhalten beeinflusst das Rollenverständnis und das Engagement des Vaters in der Familie (z. B. Hoffman u. Moon 1999; Lamb et al. 1987; McBride et al. 2005; Schoppe-Sullivan et al. 2008; Cannon et al. 2008). Maternal Gatekeeping Der Begriff »Maternal Gatekeeping« beschreibt mütterliche Überzeugungen und Verhaltensweisen, die das väterliche Engage-
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Kapitel 8 • Von der Partnerschaft zur Elternschaft
ment beeinflussen, im Sinne von behindern oder bestärken (Allen u. Hawkins 1999; van Egeren 2003). Mögliche Gründe für mütterliches Gatekeeping-Verhalten können der Glaube an die Angemessenheit tradierter Geschlechterrollen, die Notwendigkeit, die eigene »Mütterlichkeit« zu bestätigen und zu verteidigen, eine negative Einschätzung der väterlichen Kompetenz sowie extrem hohe Anforderungen an die Ausführung der Pflegeaktivitäten sein (Allen u. Hawkins 1999; Fagan u. Barnett 2003; Schoppe-Sullivan et al. 2008). Die väterliche Selbstwahrnehmung führt nur dann zu mehr Engagement, wenn die Mütter der Rolle des Vaters eine besondere Bedeutung beimessen und ihn in seiner Rolle unterstützen (McBride et al. 2005).
Art und Ausmaß des mütterlichen GatekeepingVerhaltens nehmen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung des Co-Parenting sowie auf die Qualität der Paarbeziehung (Schoppe-Sullivan et al. 2004). Eine gute Paarbeziehung sowie ein gutes Co-Parenting tragen wiederum zu mehr väterlichem Engagement bei (Doherty et al. 1998; McBride u. Rane 1997).
Gemeinsam Eltern sein: Der Begriff des Co-Parenting Die Qualität der Paarbeziehung und die Kommunikation zwischen den Partnern hat Einfluss auf die Qualität der entstehenden elterlichen Beziehung und der Zusammenarbeit von Vater und Mutter im Sinne des sogenannten Co-Parenting (z. B. Katz u. Gottman 1996; Lewis 1989; van Egeren 2003; Favez et al. 2006). Co-Parenting »Co-Parenting« ist ein Konstrukt, das die Qualität der Koordination der beiden Partner in Bezug auf ihre Rolle als Eltern auf den Basisdimensionen Kooperation und Antagonismus beschreibt (Lidz 1963; Minuchin 1974; Belsky et al. 1995; McHale 1995; McHale et al. 2000; Gordon u. Feldman 2008). Es wird durch Verhaltensweisen beider Partner als gleichberechtigte Eltern gestaltet. Diese
Verhaltensweisen können z. B. Solidarität, Feindlichkeit, Konkurrenzverhalten, Unterminieren, Unterstützung und Engagement sein (Gordon u. Feldmann 2008). Co-Parenting entwickelt sich im Kontext der Eltern-Kindsowie der Paarbeziehung und ist eng auf das Paarsystem bezogen.
Feinberg (2002) vermutet, dass sich Co-Parenting mehr auf proximale Faktoren wie elterliche und kindliche Anpassung als auf andere Aspekte der Paarbeziehung bezieht. Weiterhin ist Co-Parenting mit Zufriedenheit in der Paarbeziehung und dem kindlichen Temperament assoziiert (Belsky et al. 1996; Schoppe-Sullivan et al. 2007). Die Bedeutung dieser verschiedenen Aspekte sowie deren Integration in eine Beratung oder Therapie werden im folgenden Fallbeispiel deutlich. Beispiel Die Eltern stellen die fast dreijährige Larissa in einer Beratungsstelle vor. Anmeldegrund ist vor allem vermehrtes Trotzen mit – aus Sicht der Eltern – wütendem Schreien, das seit der Geburt eines Geschwisterkindes vor sechs Monaten an Massivität gewonnen habe. Daneben berichten die Eltern über Einschlafschwierigkeiten, die »schon immer« bestanden hätten. Die Mutter sieht sich in diesen beiden Problemfeldern besonders gefordert, denn Larissa akzeptiere nur ihre Beruhigungsversuche. Der Vater kommentiert, dass er die Belastung seiner Partnerin wahrnehme und sie gerne entlasten möchte, aber Larissa »lasse ihn nicht«, sodass er immer wieder unverrichteter Dinge aufgebe und seine Frau sich kümmere. Die Mutter äußert, dass ihr Partner sich in diesen Situationen nicht adäquat um Larissa kümmere und auch ihren Vorgaben nicht folge. Im weiteren Gesprächsverlauf äußert der Vater, dass er von Larissas Geburt an bis heute den eigenen Tagesverlauf nicht mehr frei gestalten und kontrollieren könne und die von den Kindern gestellten Anforderungen als äußerst belastende Einschränkung erlebe. Mit gemischten Gefühlen habe er sich jedoch trotzdem in das abendliche Einschlafritual »hineingemogelt«, um seiner Partnerin eine Hilfe sein zu können.
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8.4 • Besondere Anforderungen im Übergang zur Elternschaft
Die väterliche Präsenz wird im dargestellten Fall u. a. beeinflusst durch Zweifel der Mutter an der väterlichen Kompetenz sowie durch hohe mütterliche Erwartungen an das Verhalten des Vaters. Die Mutter fühlt sich von ihrem Partner wenig unterstützt, kann aber gleichzeitig auch nur schwer Aufgaben abgeben. Der Vater fühlt sich in seiner Rolle nicht anerkannt und wertgeschätzt. Er möchte seine Partnerin zwar unterstützen, doch durch die erlebte Kritik verliert er das Zutrauen in seine Fähigkeit, sich um die Kinder zu kümmern. Durch das beschriebene mütterliche Gatekeeping-Verhalten vermindert sich die Teilhabe des Vaters an den Pflegeaktivitäten (z. B. Allen u. Hawkins 1999; Fagan u. Barnett 2003; Schoppe-Sullivan et al. 2008). Dies erhöht die Unzufriedenheit der Mutter und bestätigt ihre Annahme, es sei besser, alles selbst zu machen. Die Kommunikation in der Partnerschaft ist aufgrund der gegenseitigen Frustrationen und Belastungen stark gestört. Somit sinkt auch die Zufriedenheit mit der Partnerschaft und deren Qualität. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, könnte das Engagement des Vaters erhöht werden, z. B., indem die Mutter der Rolle des Vaters eine größere Bedeutung beimisst, ihn in seiner Rolle anerkennt und ihn in der Umsetzung unterstützt, indem sie ihn an der Versorgung der Kinder teilhaben lässt, anstatt mit ihm zu konkurrieren (McBride et al. 2005). Dies könnte beide Eltern stärken, zu vermehrtem Co-Parenting führen sowie auch zu einer Steigerung ihrer Zufriedenheit mit der Qualität der Partnerschaft. Im Zuge der Beratung könnte die Kommunikation des Paares hinsichtlich dieser Aspekte angeregt werden.
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verschiedene Belastungsbereiche in einer kurzen Übersicht dargestellt (für die einzelnen Belastungsbereiche finden sich in diesem Buch individuelle Kapitel: s. hierzu 7 Kap. 19, 21, 24, 25, 26). Durch diese zusätzlichen Belastungen oder ein traumatisches Geburtserleben (Thiel-Bonney u. Cierpka 2004) kann die Passung zwischen Eltern und Kind gestört werden, was z. B. in kommunikativen Abstimmungsprozessen sichtbar werden kann. Der Zugang zu intuitiven elterlichen Fähigkeiten kann erschwert (vgl. Papoušek et al. 2004) und die elterliche Feinfühligkeit (Main et al. 1985) herabgesetzt sein. Den Bindungspersonen ist es dann nicht mehr möglich, die Signale des Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und angemessen und prompt auf diese zu reagieren. Dies könnte in unsicheren Bindungsmustern oder Bindungsstörungen des Kindes resultieren (vgl. 7 Kap. 4).
8.4.1
Belastungsfaktoren aufseiten des Kindes
Auf kindlicher Seite liegende Belastungsfaktoren können z. B. nach Geburtskomplikationen und Frühgeburten sowie im Fall von Krankheiten oder Behinderungen des Kindes auftreten. Auf zwei Belastungskonstellationen, Frühgeburtlichkeit und Erkrankung bzw. Behinderung des Kindes, soll im Folgenden exemplarisch eingegangen werden. Kindliche Belastungsfaktoren haben direkten Einfluss auf die Befindlichkeit der Eltern und können somit auch das elterliche Belastungsniveau erhöhen.
Frühgeburt 8.4
Besondere Anforderungen im Übergang zur Elternschaft
Die mit der Schwangerschaft und Geburt einhergehenden Veränderungen und Aufgaben hinsichtlich des Übergangs zur Elternschaft stellen große Herausforderungen an die einzelnen Partner sowie an die gesamte Familie. Erschwert wird diese krisenhafte Zeit zudem, wenn zu den dieser Transitionsphase immanenten Bedingungen noch weitere Belastungsfaktoren von kindlicher und/oder elterlicher Seite hinzukommen. Im Folgenden sind
Zu früh geborene Kinder sind durch ihre Geburtserfahrung und den folgenden Krankenhausaufenthalt starken belastenden Erfahrungen aus der Umwelt ausgesetzt und haben gleichzeitig ein Defizit in der Fähigkeit, sich äußeren Gegebenheiten anzupassen (vgl. 7 Kap. 24). Ihre natürlichen Reifeprozesse sind zunächst unterbrochen. Sie reagieren heftiger auf äußere Stressoren und benötigen oft länger als reif geborene Kinder, um wieder auf ein niedrigeres Erregungsniveau zu gelangen (Ziegenhain et al. 2004). Zudem senden sie weniger klare Stresssignale aus, was das Erkennen und adäquate
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Kapitel 8 • Von der Partnerschaft zur Elternschaft
Reagieren für die Eltern erschwert (vgl. 7 Kap. 25). Aufseiten der Eltern ist die Belastung nach dem Erleben einer Frühgeburt deutlich höher als bei Eltern reif geborener Kinder (Vonderlin 1999). Die Interaktion mit dem Kind ist häufig durch eine große Sorge um das Wohl des Kindes geprägt, was zu erhöhter Kontrolle bzw. Überstimulation führen kann. Unter Umständen zeigt das Kind Abwehrreaktionen auf die Überstimulation, welche von den Eltern nicht erkannt oder fehlinterpretiert werden. Solche Missverständnisse in der Eltern-Kind-Kommunikation können zu langfristigen Belastungen in der Eltern-Kind-Beziehung führen. Manche Eltern können durch das andauernde Erleben von Versagens- und Schuldgefühlen und die Anpassung an die »verfrühte« Elternschaft psychische und psychosomatische Symptome entwickeln, wie z. B. Niedergeschlagenheit, Ängste und Schlafstörungen (Ziegenhain et al. 2004). Die unter Umständen als Konkurrenz erlebte Pflege und Betreuung des Kindes durch Ärzte und Pflegekräfte verunsichert die Eltern zusätzlich. Eine individuelle Begleitung der Familien über die Zeit der Entlassung hinaus wirkt sich jedoch positiv auf die Langzeitentwicklung der Kinder aus (Porz et al. 2006; vgl. auch 7 Kap. 24, 25).
Schwere Erkrankung und Behinderung eines Kindes Eltern, die während der Schwangerschaft oder nach der Geburt erfahren, dass ihr Kind geistig und/oder körperlich behindert oder schwer erkrankt ist, erleben eine massive Veränderung ihrer Alltagsrealität und ihrer Zukunftspläne für das Kind, für die Familie und für sich selbst. Viel früher als andere Eltern müssen sie sich mit den Entwicklungsperspektiven ihres Kindes auseinandersetzen. Das Suchen nach Ursachen für die Behinderung des Kindes stellt eine emotionale Belastung für die Eltern dar (vgl. 7 Kap. 26), Trauer und Enttäuschung, Gefühle von Ohnmacht, Angst, Verzweiflung und Schuld belasten die Eltern. Die Verfügbarkeit emotionaler und sozialer Unterstützung und die bisherigen individuellen Erfahrungen in Bezug auf die Bewältigung belastender Lebenssituationen, wie z. B. auch die Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Hilfen, spielen eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung des Verarbeitungsprozesses. Ziegenhain et al. (2004) beschreiben einen deutlichen Zusam-
menhang zwischen der Verarbeitung einer solchen Diagnose und der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung sowie der subjektiven elterlichen Belastung. Mutter und Vater sind als Eltern von der Behinderung ihres Kindes gemeinsam betroffen, die Rolle der Eltern wird zur gemeinsamen Sonderrolle. Die individuellen Bewältigungsversuche in der fortlaufenden Auseinandersetzung mit der Behinderung sowie unterschiedliche persönliche Ressourcen und Erfahrungen können sich ergänzen und eine Ressource im Prozess der Verarbeitung darstellen, sie können aber auch widersprüchlich sein und zu Gefühlen des Unverstandenseins führen und damit auf der Paarebene zu einer zusätzlichen Belastung werden. In der emotionalen Verarbeitung dieser Situationen sind die Mütter häufig dichter an ihren Gefühlen und näher am Kind. Das kann große Nähe schaffen, aber auch die Integration der Behinderung oder Krankheit des Kindes erschweren. In der Folge können die Väter sich möglicherweise vom Alltag mit dem Kind noch mehr als ohnehin (vgl. 7 Abschn. 8.3.2) ausgeschlossen fühlen. Eine oft größere Distanz zum Geschehen ist ihrer besonderen Verantwortung in der Rolle des Alleinversorgers der Familie zuträglich (Hinze 1999). Retzlaff et al. (2006) beschreiben, dass die wahrgenommene Stressbelastung nicht im linearen Zusammenhang zu den behinderungsbedingten Einschränkungen steht. Die Förderung der Kommunikation, Rollenabstimmung, Stärkung der Partnerschaft und soziale Unterstützung können sich positiv auf den Bewältigungsprozess in den Familien auswirken (vgl. 7 Kap. 26).
8.4.2
Belastungsfaktoren aufseiten der Eltern
Sozioökonomische Probleme, partnerschaftliche Konflikte und Drogenabusus der Eltern (vgl. 7 Kap. 21) sind einige Belastungsfaktoren auf elterlicher Seite. Exemplarisch werden im Folgenden der Einfluss psychischer Erkrankungen auf den Übergang zur Elternschaft und die besonderen Herausforderungen an alleinerziehende Eltern dargestellt.
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8.4 • Besondere Anforderungen im Übergang zur Elternschaft
8
Psychisch kranke Eltern
Alleinerziehende Mütter und Väter
Nach Schätzungen von Mattejat u. Lisofsky (2008) leben in Deutschland zwischen 200.000 und 500.000 Kinder mit psychisch kranken Eltern, zum größten Teil mit einer alleinerziehenden Mutter. In der Zeit um die Geburt ist das Risiko, an einer psychischen Krankheit zu erkranken, für Frauen erhöht. Bei 0,1 bis 0,2 % der Mütter treten sogenannte meist nicht persistierende Wochenbettdepressionen oder schwerwiegendere und sogar möglicherweise persistierende psychotische Episoden auf. Bei ca. 10 % der Mütter kommt es sogar in den Monaten nach der Geburt zu einer manifesten postpartalen Depression. In einer ähnlichen Häufigkeit treten Angststörungen in den ersten drei Monaten nach der Geburt auf (vgl. 7 Kap. 19). Auch bei den Vätern können postpartale Belastungsstörungen auftreten. Hierzu liegen bislang keine Zahlen vor. Die Prognose für mütterliche postpartale Störungen ist als durchaus günstig einzustufen (Hartmann 1997). Psychisch kranke Eltern sind oft mit dem Alltag und der Gestaltung der Beziehung zum Kind überfordert. Auch ist ihre Feinfühligkeit eingeschränkt. Schneider (2009) beschreibt, dass Eltern mit psychischen Krankheiten aus Ängsten heraus, das Kind könnte selbst eine Störung entwickeln, normale Entwicklungsphänomene häufiger fehlinterpretieren. Besonders eine in den ersten Lebensjahren des Kindes auftretende psychische Störung eines Elternteils wirkt sich negativ auf die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes aus. Betroffene Kinder leiden unter der »anwesenden Abwesenheit«, der psychischen Trennung bei physischer Anwesenheit des Elternteils (Adamson u. Frick 2003). Die psychische Störung der Eltern ist oft Teil einer größeren Risikokonstellation bzw. -kumulation, wie z. B. konflikthafte, zerrüttete oder gar nicht vorhandene Partnerschaften, drohende Armut und fehlende soziale Unterstützung (vgl. Ziegenhain 2004; vgl. 7 Kap. 19). Die Eltern lehnen oft aus Angst, dass ihnen das Kind weggenommen wird, Hilfen ab und versuchen, ihre Erkrankung zu verheimlichen, was adäquate Unterstützung und Behandlungen verhindert.
Bei etwa 20 % der Familien mit Kindern in Deutschland handelt es sich um Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil. Betrachtet man die Ein-Eltern-Familien mit Säuglingen und Kleinkindern, handelt es sich in 80 % der Fälle um Mütter. Die alleinerziehenden Väter leben häufig mit älteren Kindern zusammen. Trotz zunehmender gesellschaftlicher Akzeptanz vieler möglicher Lebensformen, wie z. B. Wohngemeinschaften oder Patchworkfamilien, und Möglichkeiten spezifischer Unterstützung sind alleinerziehende Eltern oft stärker belastet als Elternpaare: Sie verfügen über einen schlechteren Gesundheitszustand, haben ein erhöhtes Risiko, psychische oder psychosomatische Symptome zu entwickeln, und außerdem ein erhöhtes Armutsrisiko. Schneider (2003) beschreibt, dass alleinerziehende Eltern im Vergleich zu Elternpaaren weniger Entlastung im häuslichen Umfeld finden. So wird die Lage alleinerziehender Eltern oft durch den Mangel an unterstützenden Netzwerken und Möglichkeiten der Fremdbetreuung zusätzlich erschwert (vgl. zu möglichen Interventionsangeboten für Alleinerziehende 7 Kap. 37). Fazit Der Übergang von der Partnerschaft zur Elternschaft gilt als Entwicklungsaufgabe im Familienlebenszyklus. Sie verlangt sowohl dem Einzelnen als auch dem Paar vielfältige Anpassungsleistungen ab. Verinnerlichte eigene Familienrepräsentationen dienen als Kompass für den Weg zur Gestaltung der neuen Rollen sowie der neuen Familie insgesamt. Die erfolgreiche Bearbeitung dieser als »normative Krise« bezeichneten Lebensphase mündet schließlich in ein neues Selbstverständnis als Mutter, als Vater sowie des Paares als Elternpaar. Die Bewältigung der Herausforderungen dieser Phase kann durch viele Faktoren erschwert werden, was sich möglicherweise negativ auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirkt. Heutzutage gibt es jedoch gute Möglichkeiten, Paare oder neu gegründete Familie z. B. durch Elternkurse (vgl. 7 Kap. 37) oder durch spezifische Interventionen (z. B. aufsuchende Angebote) zu unterstützen.
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Kapitel 8 • Von der Partnerschaft zur Elternschaft
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127
Mutterschafts- und Vaterschaftskonstellation Britta Frey und Daniel Nakhla
9.1
Die Mutterschaftskonstellation nach Daniel Stern – 128
9.1.1 9.1.2
Die Rolle der Mutter in Sterns Konzept – 128 Die Rolle des Vaters in Sterns Konzept – 129
9.2
Erweiterungen des Konzepts der Mutterschaftskonstellation – 130
9.3
Implikationen für die Praxis – 131
9.3.1
Bedeutung des Konzepts der Mutterschaftskonstellation für die Eltern-Säuglings-Beratung/-Therapie – 132 Berücksichtigung der Vaterschafts- und Elternschaftskonstellation in der Eltern-Säuglings-Beratung/-Therapie – 133
9.3.2
Literatur – 135
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
9
128
Kapitel 9 • Mutterschafts- und Vaterschaftskonstellation
Innerpsychische Veränderungen im Übergang zur Elternschaft wurden in der psychodynamischen Theoriebildung lange Zeit nur wenig beschrieben. Mit seiner Arbeit zur Mutterschaftskonstellation schloss der Psychoanalytiker Daniel Stern diese Lücke. Insbesondere die einfühlsame und prägnante Beschreibung der (intrapsychischen) Prozesse bei der (werdenden) Mutter hat ihm große Anerkennung eingebracht. Im folgenden Kapitel sollen die Grundzüge seiner Theorie erläutert sowie Erweiterungen des Konzepts der Mutterschaftskonstellation, insbesondere hinsichtlich der Rolle des Vaters und der Paarbeziehung im Übergang zur Elternschaft, betrachtet werden. Schließlich wird die Bedeutung des Konzepts für die Beratung und Therapie von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern anhand von Beispielen erläutert.
9
9.1
Die Mutterschaftskonstellation nach Daniel Stern
9.1.1
Die Rolle der Mutter in Sterns Konzept
Daniel Stern stellte 1995 in seinem Buch The Motherhood Constellation. A unified view of parent-infant psychotherapy erstmalig umfassend das Konzept der Mutterschaftskonstellation vor, das in unmittelbarem Bezug zur klinischen Anwendung bei Mutter-Kind-Therapien entwickelt wurde. Mutterschaftskonstellation Stern versteht unter einer Mutterschaftskonstellation eine spezifische, kulturell bedingte Reaktion »auf die Schwangerschaft und auf die Aufgabe, ein Baby zu versorgen« (Stern, 2006, S. 225). Dabei entsteht eine neue und charakteristische psychische Organisation, die eine »Gruppe von Handlungstendenzen, Sensibilitäten, Phantasien, Ängsten und Wünschen« rund um das Kind beinhaltet (Stern 2006, S. 209).
Entgegen einer psychoanalytischen Sichtweise, die Entwicklung in weiten Teilen lediglich als Wieder-
holung bereits gemachter (Beziehungs-)Erfahrungen versteht, betont Stern die Neuartigkeit der Erlebnisse und Erfahrungen rund um eine Geburt. Sein Augenmerk liegt dabei auf der Mutter, die er als besonders involviert in den Prozess rund um Schwangerschaft und Geburt sieht. Die besondere Situation der (werdenden) Mutter bedarf nach Stern im Beratungs- und Therapiebereich einer spezifischen Herangehensweise, die sich von gewohnten psychotherapeutischen Inhalten unterscheidet (s. auch 7 Kap. 28, 30, 31). Laut Stern (2006) beansprucht sein Konzept der Mutterschaftskonstellation lediglich für westlich-postindustrielle Gesellschaften Gültigkeit, ist also kulturgebunden. Dies ist soziokulturellen Faktoren geschuldet, die die Ausgestaltung von Mutterschaft in der jeweiligen Kultur beeinflussen (vgl. 7 Kap. 23). Hat sich einmal diese spezifische Organisationsform bei der Mutter konstituiert, kann sie im Laufe der Entwicklung des Kindes in den Hintergrund treten, ist jedoch in den meisten Fällen dauerhaft abrufbar (Stern 2006). Die Mutterschaftskonstellation kann durch aufeinander bezogene Themen (nach Stern 2006, S. 211) beschrieben werden, die rund um die Geburt von besonderer Bedeutsamkeit sind: 5 Thema des Lebens und Wachstums 5 Thema der primären Bezogenheit 5 Thema der unterstützenden Matrix 5 Thema der Reorganisation der Identität Das Thema »Leben und Wachstum« beinhaltet die existenzielle Sorge der Mutter um die Gesundheit und körperliche Entwicklung ihres Kindes. Der Themenkomplex »primäre Bezogenheit« beinhaltet die emotionale Bindung und Beziehung zum Kind. Kann eine Mutter ihr Kind lieben, seine nonverbal geäußerten Bedürfnisse erkennen und mit ihm kommunizieren? Der Themenkomplex, der »unterstützenden Matrix« beinhaltet die Frage, ob eine Mutter ein unterstützendes soziales Netzwerk zulassen und etablieren kann, das ihr bei der Versorgung des Kindes hilft. Von besonderer Bedeutung ist dabei die neue Bezogenheit auf die Ursprungsfamilie. Kann eine unterstützende Beziehung zur eigenen Mutter hergestellt werden? Stern sieht in einigen Bereichen – wie der Anleitung zur Mutterschaft – die Mutter der Mutter (oder
129
9.1 • Die Mutterschaftskonstellation nach Daniel Stern
mütterliche Bezugspersonen) als bedeutsamer an als den Kindsvater (7 Abschn. 9.1.2). Psychische Unterstützung mit der Vermittlung von Halt und Geborgenheit, Achtung und Wertschätzung sieht Stern eher als Aufgabe von Mutterfiguren. Der letzte Themenbereich, die »Reorganisation der Identität«, beinhaltet innerpsychische Prozesse wie die Erweiterung der bestehenden Identität und Rollen: »von der Tochter zur Mutter, von der Ehefrau zum Elternteil, von der Berufstätigen zur Hausfrau, von der jüngsten Generation zur Elterngeneration« (Stern 2006, S. 220). Jeder einzelne der oben beschriebenen Themenbereiche ist mit spezifischen Sorgen und Ängsten der Mutter verbunden, den an sie gestellten Herausforderungen nicht in hinreichendem Maße gerecht zu werden oder gewachsen zu sein. Bedeutsam dabei ist, dass sich die Themenschwerpunkte weniger auf die eigene Person als auf die Sorge und Bezogenheit zum Kind beziehen. Stern sieht die Mutter außer mit den spezifischen Themenbereichen rund um die Geburt auch innerlich und äußerlich mit unterschiedlichen, sich wechselseitig beeinflussenden Diskursen beschäftigt, die er als »Mutterschaftstrilogie« bezeichnet: 5 dem Diskurs mit der eigenen Mutter oder mütterlichen Gestalten, insbesondere der Mutter ihrer Kindheit, 5 dem Diskurs mit sich selbst, insbesondere mit sich selbst als Mutter, 5 und dem Diskurs mit dem Baby (Stern, 2006, S. 210). Im Zusammenhang mit diesen Themen, vor allem im Zusammenhang mit der Reorganisation der Identität, beschäftigt sich die gerade Mutter gewordene Frau im Rahmen eines von Stern sogenannten »Erinnerungskontextes« sehr stark mit ihrer eigenen Mutter und ihren eigenen Kindheitserlebnissen. Sie sucht zudem nach Mutterfiguren, um die mit ihrer neuen Rolle zusammenhängenden Verunsicherungen zu mildern und ihre neue Identität als Mutter finden zu können. Dies kann ihre eigene Mutter, eine andere für sie wichtige weibliche Bezugsperson oder eine »Ersatzmutter« im Sinne einer »Gute-Großmutter-Übertragung« sein (7 Abschn. 9.3).
9.1.2
9
Die Rolle des Vaters in Sterns Konzept
Um die Rolle des Vaters im Rahmen der Mutterschaftskonstellation bestimmen zu können, ist es laut Stern wichtig, zwischen »neuen« und »traditionellen« Eltern zu unterscheiden. Beide Vatertypen sind laut Stern (2006) in der Lage, der Mutter die »praktische Unterstützung« zu geben, »die der Mutter und ihrer frühen Beziehung zum Säugling als schützender Rahmen dient« (S. 230). Darüber hinaus kann der »neue Vater« die Mutter bei den Betreuungsaufgaben unterstützen. Für Stern liegen die primären Aufgaben des Vaters jedoch im Schutz der Mutter, in der »Befriedigung vitaler Bedürfnisse« und der »Abschirmung von äußeren Anforderungen« (2006, S. 216). Dabei gibt es laut Stern zwei Aufgaben, die auch der »neue Vater« nicht ausreichend erfüllen könne: Erstens könne er der Mutter keine ausreichende unterstützende Matrix bieten, da er selbst in der Regel kaum Erfahrung mit Säuglingen habe. Deshalb könne er der Mutter diesbezüglich auch keine Ratschläge geben. Zweitens gelinge es ihm nicht, der Mutter die nach der Theorie der Mutterschaftskonstellation wichtige Unterstützung und Anerkennung einer Mutterfigur zu bieten. Zwar sei seine Anerkennung als Partner/Ehemann wichtig und hilfreich, aber nicht mit der einer mütterlichen, von der Mutter selbst gewählten Figur vergleichbar. In der heutigen Zeit sieht Stern eine Gefahr der »Maternalisierung« des Vaters, da das soziale Netzwerk häufig nicht mehr so stabil sei wie in früheren Generationen. Allerdings sei der Vater nicht in der Lage, diesem Anspruch zu entsprechen. Innerhalb des Mutterschaftskonstellationskonzepts von Stern finden sich hinsichtlich der Funktion des Vaters neben klaren Aufgabenzuweisungen jedoch auch vorsichtig-vage Zuschreibungen und offene Fragen: z. B., ob ein alleinerziehender Vater angesichts des Einflusses seiner eigenen Mutter, seltener auch seines Vaters, ebenfalls eine Mutterschaftskonstellation entwickele. Stern schließt seine Überlegungen mit dem Fazit, dass die Mutterschaftskonstellation, »was die unmittelbare Zukunft betrifft … die vorherrschende psychische Organisation der Mütter« bleibt (Stern 2006, S. 232).
9
130
Kapitel 9 • Mutterschafts- und Vaterschaftskonstellation
9.2
Erweiterungen des Konzepts der Mutterschaftskonstellation
Im Konzept der Mutterschaftskonstellation erwähnt Stern den Vater zwar und schreibt ihm eine gewisse Bedeutung zu, reduziert seine Funktionen jedoch eher auf die einer tradierten Geschlechterrolle. Auch in der Eltern-Säuglings-Beratung bzw. -Therapie taucht der Vater bei Stern kaum auf. Er nennt zwar gesellschaftliche Veränderungen und das Phänomen des »neuen Vaters« (s. hierzu auch 7 Kap. 10), geht aber kaum auf diese ein und beschreibt auch nicht mögliche Konsequenzen dieser Veränderungen für den Vater, seine Rolle und eine mögliche äquivalente Vaterschaftskonstellation. Wenn Stern von der psychischen Organisation des Vaters spricht, steht dies im Zusammenhang mit der Überlegung, dass auch der Vater möglicherweise eine Mutterschaftskonstellation entwickeln könne; eine mögliche geschlechtsspezifische eigene psychische Organisation wird dem Vater jedoch nicht zugesprochen. Osten (2000) geht davon aus, dass eine korrespondierende Vaterschaftskonstellation zumindest heuristisch angenommen werden müsse (S. 305). Diese hänge u. a. von dem Ausmaß ab, in dem der Vater sich an der Betreuung der Kinder beteilige. Vaterschaftskonstellation Die Vaterschaftskonstellation ist eine für den Vater angenommene spezifische psychische Organisation, die sich in der Phase rund um Schwangerschaft und Geburt ausbildet, in der sich der Vater mit Themen und Fragen beschäftigt, die die Beziehung zu seiner Partnerin und seinem Kind betreffen. Die Themen der Vaterschaftskonstellation können als korrespondierend zu denen der Mutterschaftskonstellation gesehen werden.
Inwieweit die vier konstituierenden Themen der Mutterschaftskonstellation auch für den Vater relevant sein können, soll im Folgenden ausgeführt werden. Auch dem Vater sind Wachstum und Entwicklung des Kindes ein Anliegen, auch wenn er darauf eher indirekt Einfluss nehmen kann. Während dieses Thema bei der Mutter durch Schwan-
gerschaft, Geburt und Stillen stark körperbasiert und direkt ist, bringt die Ernährerfunktion des Vaters eher eine Distanz zu Mutter und Kind mit sich. Aus diesem Grund ist häufig eine Traditionalisierung des Geschlechterverhältnisses zu beobachten (vgl. dazu auch 7 Kap. 8). Das zweite von Stern postulierte Thema der Mutterschaftskonstellation, die primäre Bezogenheit, ist umso stärker von Bedeutung, je mehr sich ein Vater aktiv und affektiv an der Pflege und Versorgung des Säuglings beteiligt. Dieses Thema spiegelt sich auch in dem Bedauern vieler Väter wider, aufgrund ihrer Berufstätigkeit nicht mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können. Das Thema der unterstützenden Matrix verbindet man vielleicht am wenigsten mit den Vätern, da die Suche um Unterstützung und Hilfe häufig noch dem männlichen Selbstbild widerspricht und aus diesem Grund wenig darüber gesprochen wird. Ein institutioneller Vorreiter, der die Männer hierbei unterstützen und in ihrer Rolle anerkennen möchte, ist z. B. das Väterzentrum Berlin (Schäfer u. Schulte 2009), das Angebote und Unterstützung für Väter mit Kindern verschiedener Altersstufen bereithält. Das vierte Thema der Mutterschaftskonstellation, die Reorganisation der Identität, ist für die Väter ebenfalls von hoher Relevanz. Auch sie müssen sich in ihre neue Rolle als Vater hineinfinden und dabei ein neues Gleichgewicht zwischen Narzissmus und Altruismus herstellen (King 2010). Weiterhin sind die Väter – zu Beginn noch stärker als die Mütter – aufgefordert, eine Balance zwischen Arbeit und Familie zu etablieren. Bei all diesen Veränderungen ist sowohl die Repräsentation des eigenen Vaters als auch die der eigenen Mutter für das Finden der Rolle als Vater bedeutsam (Eickhorst 2008). Die vier Themen der Mutterschaftskonstellation lassen sich überwiegend äquivalent auf den Vater übertragen, es bleibt aber die Frage offen, ob es auch spezifisch männliche Aspekte im Übergang zur Elternschaft gibt, die bei einer möglichen Beratung/Therapie mitberücksichtigt werden müssen (7 Abschn. 9.3.2). Bislang wurde das Konzept der Vaterschaftskonstellation jedoch weder systematisch ausformuliert noch wissenschaftlich untersucht (Eickhorst 2008). Es erscheint aber im Zuge
9.3 • Implikationen für die Praxis
der Integration von Vätern in Theorie und Praxis bedeutsam. Neben dem Vater bleiben in Sterns Konzeption auch das Elternpaar sowie die primäre Triade aus Vater, Mutter und Kind (King 2010) unberücksichtigt. Diese Aspekte wurden von Vera King ergänzt, die – in Anlehnung an Stern – den Begriff der »Elternschaftskonstellation« prägte (2010). Der Fokus liegt dabei vor allem auf den wechselseitigen Dynamiken innerhalb der Partnerschaft. Für King wird die Reorganisation der elterlichen Identität bereits in der Adoleszenz vorbereitet und beruht auf aufeinander bezogenen Rollenbildern und Identitätsentwürfen. Insbesondere die Aufteilung und Balance zwischen Erwerbsarbeit und Elternschaft wird zwischen den Partnern verhandelt – mit Folgen für die jeweilige psychische Organisation der Eltern. Auch notwendige Transformationen müssen ihrer Ansicht nach vom Paar gemeinsam geleistet werden, wobei die Ausgestaltung der Mutterschaft die Vaterschaft mitkonstituiert und umgekehrt (King 2010). Auch Fivaz-Depeursinge u. Corboz-Warnery (2001) sehen die triadischen Interaktionen zwischen Vater, Mutter und Kind als bedeutsam für die kindliche Entwicklung an. Für sie sind die Betrachtung der Triade und die Integration der mütterlichen, väterlichen, kindlichen sowie interaktionellen Faktoren in die Beratung/Therapie von großer Bedeutung. Aus unserer Sicht ist auch der Aspekt der Passung (Papoušek et al. 2004) für die Beratung/Therapie von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern von Bedeutung: Wie passen das Temperament und die Bedürfnisse des Kindes zu den Lebenssituationen sowie psychischen Organisationsformen der Eltern? So muss nicht nur wie bei Stern der soziokulturelle Kontext betrachtet werden, sondern es müssen auch die Charakteristika von Vater, Mutter und Kind sowie auch mögliche innere Konflikte beleuchtet werden (vgl. 7 Kap. 31).
9.3
Implikationen für die Praxis
Nach Stern beinhaltet die von ihm angenommene Mutterschaftskonstellation verschiedene Implikationen für die Beratung/Therapie (s. auch Hoffman 2004). Stern (2006) schreibt, dass eine
131
9
Eltern-Säuglings-Therapie aufgrund der besonderen psychischen Organisation der Mutter andere Foki brauche als Therapien bei anderen Patientengruppen. Ödipale Themen und Konflikte und deren Neuauflage in der Triade (Mutter–Vater–Kind) geraten laut Stern in der Zeit rund um die Geburt für die Mutter eher in den Hintergrund und sollten im Rahmen einer Mutter-Kind-Therapie auch keinen größeren Raum einnehmen. Stattdessen sollte die Therapie die aktuellen Themen und Ängste der Mutterschaftskonstellation aufgreifen und bearbeiten (s. auch 7 Kap. 28). In seinem Buch führt Stern dies genauer aus und stellt verschiedene Therapieund Beratungsansätze vor (s. dazu Stern 2006). Mindestens ebenso bedeutsam wie der Inhalt sind für Stern die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut und Patient und die damit einhergehenden Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene. Insbesondere der große Wunsch der Mutter nach Anerkennung und Wertschätzung durch eine positive Mutterfigur wird betont. Diese Bedürfnisse werden in der Beratung/Therapie auf den Berater/Therapeuten übertragen und im Rahmen einer »Gute-Großmutter-Übertragung« z. T. befriedigt (Stern 1995; Hoffman 2004). Stern (2003) geht davon aus, dass dies weibliche Berater/ Therapeuten am besten leisten können. Gerade im Kontext von Eltern-Säuglings- bzw. Eltern-Kleinkind-Therapien und -Beratungen stellt sich jedoch die Frage, ob nicht auch männliche Berater hilfreich sein könnten (Eickhorst 2008). So fände z. B. auch der Vater eine Identifikationsfigur, könnte mit seinen spezifischen Themen besser gesehen werden und bekäme im Sinne einer unterstützenden Matrix Anerkennung in seiner Rolle als Vater. Auch Paarthemen bzw. -konflikte könnten so innerhalb des therapeutischen Settings durch die Berater/ Therapeuten aufgegriffen werden. Dabei könnten die Eltern am Modell sehen, dass unterschiedliche Meinungen zu bestimmten Fragen durchaus konstruktiv genutzt werden können und dass für die kindliche Entwicklung beide Seiten, die mütterliche und die väterliche, wichtig sind (vgl. 7 Kap. 28, 30). Stern (1995) betont in Bezug auf die Rolle des Therapeuten vor allem die positiven Aspekte. Auch für Hoffman (2004) ist dieser Aspekt wesentlich, er beschreibt jedoch auch potenziell negative Aspekte
132
9
Kapitel 9 • Mutterschafts- und Vaterschaftskonstellation
und Dynamiken zwischen Patient und Therapeut. Dabei besteht ein wesentliches Ziel seiner MutterKind-Gruppentherapien darin, die unvermeidbaren Unsicherheiten, die Mütter in Bezug auf ihre Mütterlichkeit beschreiben, zu normalisieren und die Mütter so zu stärken. Das Konzept der Mutterschaftskonstellation von Stern sowie die entsprechenden Erweiterungen der Vaterschafts- und Elternschaftskonstellation sind im Rahmen einer Eltern-Säuglings-Beratung/Therapie von großer Bedeutung (vgl. 7 Kap. 30). Nach Ansicht von Fivaz-Depeursinge u. Corboz-Warnery (2001) ist die Gesamtheit mehr als die Summe ihrer Teile. King (2010) argumentiert in ähnliche Richtung. Sie ist der Ansicht, dass das Konzept Sterns die bedeutsame Triade aus Mutter, Vater, Kind und die mit ihr verbundenen Strukturen aus dem Beratungskontext verdränge, dass diese jedoch in der Beratung/Therapie Beachtung verdiene (vgl. 7 Kap. 34).
9.3.1
Bedeutung des Konzepts der Mutterschaftskonstellation für die Eltern-Säuglings-Beratung/Therapie
Im Folgenden beschreiben wir anhand jeweils eines Fallbeispiels aus der Heidelberger Eltern-Säuglings/Kleinkind-Beratung die praktischen Implikationen aus den vorhergehenden Überlegungen zunächst für die Mutter und anschließend auch für den Vater. Fallbeispiel Die Eltern des elf Monate alten Jonas suchten die Eltern-Säuglings-Sprechstunde aufgrund von Schlaf- sowie Fütterstörungen auf. Die Dauer der Beratung belief sich auf sieben Monate. Die Kindsmutter hat aus einer früheren Beziehung, die sie in der Adoleszenz einging, bereits eine 16 Jahre alte Tochter, die bei der Familie lebt. Das Verhältnis der Mutter zu ihren eigenen Eltern war äußerst konflikthaft und bot ihr keine Unterstützung. Auch heute besteht keinerlei Kontakt mehr zu ihrer Herkunftsfamilie. Die Beziehung zu ihrem Expartner brach die Kindsmutter aufgrund von Gewalterfahrungen ab. Anfang 1992 flüchtete sie mit der damals wenige
Monate alten Tochter von Bulgarien nach Deutschland. In Deutschland lernte sie nach relativ kurzer Zeit Jonas’ Vater kennen und begann eine tragfähige Beziehung mit ihm. Das Paar beschloss, ein gemeinsames Kind zu bekommen. Es bestand jedoch über drei Jahre eine ungewollte Unfruchtbarkeit. Danach folgten zwei Fehlgeburten im Abstand von neun Jahren. Nach weiteren drei Jahren wurde die Kindsmutter erneut schwanger. Sowohl die Schwangerschaft als auch die Geburt waren komplikationsreich. Nach der Geburt trat bei Jonas eine einseitige Gesichtsparese auf. Die Eltern befürchteten, diese könne hirnphysiologische Ursachen haben. Die Kindsmutter erlebte eine Wochenbettdepression und leidet nach wie vor an depressiven Episoden, deretwegen sie eine Therapie begann. Der Kindsvater ist als selbstständiger Unternehmer beruflich stark involviert, unterstützt seine Familie jedoch, soweit ihm dies möglich ist.
Anhand des Beispiels von Jonas und seiner Familie wird deutlich, wie bedeutsam die die Mutterschaftskonstellation konstituierenden Themen für die Kindsmutter sind und wie sehr sie die Interaktion der Mutter mit ihrem Kind prägen. Die Kindsmutter war aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen sehr verunsichert, ob sie eine gute Mutter sein könne. Zudem fehlte ihr eine gute Mutterfigur. Ihre eigene Mutter konnte diesen Aspekt nicht erfüllen. Auch mangelte es ihr im aktuellen Kontext an möglichen mütterlichen Identifikationsfiguren, die ihr im Sinne einer unterstützenden Matrix hätten zur Seite stehen können. Die Wertschätzung, Anerkennung und Unterstützung ihres Ehemannes waren zwar sehr bedeutsam für sie, konnten ihr die Verunsicherung in Bezug auf die Erfüllung ihrer Rolle jedoch nicht nehmen. Innerhalb des Beratungskontextes nutzte sie so die beiden Beraterinnen als mütterliche Identifikationsfiguren. Durch die Beratung konnte eine Lücke gefüllt werden, die durch die Einführung einer Tagesmutter auch nach Beendigung der Beratung gefüllt blieb. Aufgrund der vorangegangenen Erfahrungen der ungewollten Unfruchtbarkeit, zweier Fehlgeburten, der Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sowie des schlechten Gesundheitszustands des Kindes nach der Geburt machte die
9.3 • Implikationen für die Praxis
Mutter sich permanent Sorgen um das Überleben ihres Kindes. Dies wurde durch die Fütterstörung des Jungen noch verstärkt, sodass eine Art Teufelskreis entstand. Auch der Vater war von diesen Ängsten erfüllt und konnte der Kindsmutter somit keine Sicherheit geben. Weiterhin hatte die Kindsmutter das Gefühl, sich nach der Flucht nicht hinreichend um ihre erste Tochter gekümmert zu haben, da sie sich eine neue Existenz aufbauen musste. Ihre depressiven Verstimmungen forcierten ihr Gefühl, als Mutter zu versagen. Sie wollte nun an Jonas alles wiedergutmachen, was zu einer Art Überbehütung des Jungen führte. Ihre eigene, für sie wichtige Autonomie schränkte dies jedoch ein, was ein zentrales Thema in der Beratung war. Die Mutter konnte in ihrer Rolle als Mutter und dem Gefühl, eine »hinreichend gute Mutter« (Winnicott 1953) zu sein, gestärkt werden. Das Thema »Abhängigkeit und Autonomie« wurde ebenfalls behandelt. Den Eltern gelang es am Ende der Beratung, ihren Sohn losgelöst von früheren Erfahrungen als eigenständigen, überlebensfähigen Jungen zu sehen, der zunehmend weniger die Hilfe seiner Eltern benötigte und dem sie mehr und mehr zutrauten. Jonas konnte seine eigenen (Selbstwirksamkeits-)Erfahrungen machen und bei der Tagesmutter Kontakte zu weiteren für ihn wichtigen Kindern und Erwachsenen knüpfen. Mit der zunehmenden Bearbeitung der elterlichen Themen konnte die Eltern-Kind-Interaktion verändert werden, sodass die Schlaf- und Fütterstörung des Jungen überwunden werden konnte.
9.3.2
Berücksichtigung der Vaterschafts- und Elternschaftskonstellation in der Eltern-Säuglings-Beratung/-Therapie
133
9
Es gebe zwar Telefonate mit ihnen, diese würden die jungen Eltern aber nicht wirklich entlasten. Der Kindsvater wirkt sehr engagiert und bringt sich stark in die Beratung ein. Er sei besorgt, ob er aufgrund seiner Berufstätigkeit (er ist Berater in einem großen Softwareunternehmen) und seiner damit zusammenhängenden häufigen Abwesenheit ausreichend für seine Tochter da sein sowie eine gute, tragfähige Beziehung zu ihr aufbauen könne. Er mache sich große Sorgen, ob er Frederike ein guter Vater und seiner Frau ein guter Partner sein könne. Er beschreibt die Beziehung zu seinem eigenen Vater als sehr gut. Dieser sei immer für ihn und seine Geschwister da gewesen, da er nach einer schweren Erkrankung keiner Berufstätigkeit mehr nachgehen konnte und somit anstelle seiner Frau zu Hause geblieben sei. Der Kindsvater wünscht sich, mit seiner Tochter auch ein solch inniges Verhältnis aufbauen zu können. Außerdem sei er unsicher, ob er richtig mit Frederike umgehen könne und ob sie sich überhaupt von ihm beruhigen lassen würde. Immer wenn er versuche, sie zu beruhigen, würde sein Frau ihn rasch unterbrechen und Frederike selbst beruhigen wollen. (Die Kindsmutter stammt aus einer Familie mit einer klassischen Rollenverteilung.) Wegen der mit der Notwendigkeit der Rollenfindung verbundenen großen Anspannung und aufgrund des Schlafentzugs hätten sie begonnen, sich immer häufiger zu streiten. Sie befürchteten, dass dies zu Lasten Frederikes gehen könne. Die Kindsmutter sei leicht reizbar und empfinde den Vater als nicht unterstützend genug, obwohl sie seine Bemühungen, sich an der Pflege und Versorgung Frederikes zu beteiligen, zunehmend anerkenne. Nach zwei Beratungssitzungen entspannt sich die Situation deutlich, und die Eltern können in ihren elterlichen Kompetenzen gestärkt werden.
Fallbeispiel Die Eltern der zwei Monate alten Frederike melden sich aufgrund von exzessivem Schreien sowie Einund Durchschlafstörungen bei ihrer Tochter in der Eltern-Säuglings/Kleinkind-Sprechstunde an. Frederike ist ihr erstes Kind. Beide Eltern erscheinen stark verunsichert und erschöpft. Sie berichten, eine gute Beziehung zu ihren eigenen Eltern zu haben, diese lebten aber 350 bzw. 500 km entfernt.
Im vorliegenden Fallbeispiel brachte sich der Kindsvater von Anfang an aktiv in die Beratung ein. Somit wurden seine spezifischen Ängste und Sorgen schnell sichtbar und konnten innerhalb des Beratungskontextes mit beiden Eltern gemeinsam bearbeitet werden. Eine Schwierigkeit bestand zunächst darin, dass die Kindsmutter aufgrund ihrer großen Belastung, Unsicherheit und Erschöpfung
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9
Kapitel 9 • Mutterschafts- und Vaterschaftskonstellation
die Bemühungen des Vaters, sich aktiv zu beteiligen, nicht annehmen konnte. Zudem war sie der Ansicht, diese Aufgaben besser erfüllen zu können als der Vater. Der Kindsvater fühlte sich dadurch nicht genügend wertgeschätzt und hatte zudem das Gefühl, Frederike kein guter Vater sein zu können. Diese Frage beschäftigte ihn sehr. In seiner Ursprungsfamilie hatte er einen Vater erlebt, der den Haushalt führte und immer für die Kinder ansprechbar war. Der Kindsvater hatte ein sehr gutes Verhältnis zu seinem Vater und wünschte sich dies auch in Bezug auf seine Tochter. Seine Repräsentation des Vaters war die eines affektiv und emotional jederzeit verfügbaren Ansprechpartners, bei dem er Halt finden konnte. Das Rollenmodell, das seine Frau in ihrer Kindheit erlebte, war dem genau entgegengesetzt und sah den Vater mehr in einer Ernährerfunktion. Dennoch wünschte die Kindsmutter sich eine stärkere Unterstützung durch ihren Mann. Einen sowohl inneren wie auch äußeren Konflikt im Sinne des Themas der Reorganisation der Identität stellte für den Kindsvater das Spannungsverhältnis zwischen Beruf und Familie dar. Sein Beruf stellte große Anforderungen an ihn und erforderte häufige Dienstreisen, sodass er weniger Zeit mit seiner Familie verbringen konnte als gewünscht, was zu Schuldgefühlen führte, die durch die Vorwürfe seiner Frau verstärkt wurden. Zudem wurde sein in der aktuellen Situation stark vorhandenes Bedürfnis nach Anlehnung und »Bevaterung« deutlich. Durch das Gespräch in der Beratung konnte die Kindsmutter den großen Wunsch ihres Mannes, sich an der Pflege und Betreuung Frederikes zu beteiligen, und die Tatsache, dass ihr Verhalten ihren Mann zusätzlich verunsichert hatte, erkennen. Die Kindsmutter war aufgrund dieser Erkenntnis in der Lage zuzulassen, dass ihr Partner – auch wenn er es anders machte als sie – sich nun häufiger um Frederike kümmerte. Zum Beispiel vereinbarte das Paar, dass der Vater, wenn er zu Hause war, Frederike ins Bett bringen und nachts beruhigen würde. Zudem fand der Vater in den beiden Beraterinnen zwei Personen, die für ihn die Rolle der »guten Eltern«, äquivalent zu Sterns »Gute-Großmutter-Übertragung«, erfüllen konnten.
Im Verlauf der Beratung konnte so das Zutrauen des Vaters in seine eigenen Fähigkeiten gestärkt werden, er konnte die Anerkennung der Beraterinnen sowie seiner Frau erleben, und das Paar konnte wieder in einen anderen Austausch miteinander gelangen. Durch die Entspannung der Gesamtsituation reduzierten sich sowohl die Symptomatik des exzessiven Schreiens als auch die der Ein- und Durchschlafstörung. Es wurde zudem besprochen, dass die Qualität der Interaktionen für eine gute Eltern-Kind-Beziehung bedeutsamer sei als die Quantität. Dies beruhigte den Vater hinsichtlich seiner Sorge, nicht ausreichend für seine Tochter verfügbar zu sein und dadurch eventuell keine gute Beziehung zu ihr aufbauen zu können. Es wird ersichtlich, wie sehr der Vater sich innerlich mit den für die Mutterschaftskonstellation und die angenommene Vaterschaftskonstellation postulierten Themen beschäftigte. Möglicherweise hängt dies auch mit dem positiven Vatermodell zusammen, das der Vater in seiner eigenen Kindheit erlebte. In diesem Beispiel wird besonders deutlich, wie stark sich der Kindsvater sorgt, kein guter Vater zu sein (Thema der primären Bezogenheit), und wie stark er mit der Reorganisation seiner Rolle (Thema der Reorganisation der Identität) beschäftigt ist. Die unterstützende Matrix ist zwar vorhanden, aber räumlich weit entfernt. Zudem gelingt es den Partnern anfänglich nicht, in einen guten Austausch miteinander zu gelangen. Die Interaktionen in der Triade sind somit erschwert, und es kommt selten zu einer Passung. Die Arbeit mit der gesamten Triade, insbesondere mit den Repräsentationen des Vaters in Bezug auf seine beiden Eltern, sowie die Kommunikation des Paares waren entscheidend für einen positiven Beratungsverlauf. Dies zeigt, dass neben dem durch Stern postulierten Fokus auf die mütterlichen Themen auch die Vaterschafts- und die Elternschaftskonstellation in der Beratung von Bedeutung sind und dass der Übergang zur Elternschaft eine gemeinsam zu bewältigende Aufgabe ist.
Literatur
Fazit Sterns Konzept der Mutterschaftskonstellation ist für die Beratung und Therapie von Eltern mit ihren Säuglingen und Kleinkindern sehr hilfreich. Dennoch ist die Ausweitung seines Konzepts im Sinne einer Vaterschafts- sowie einer Elternschaftskonstellation notwendig. Zunehmend sind auch die Väter in der Beratung/Therapie anwesend und sollten mit ihren individuellen Anliegen und Themen gesehen werden. Die Anwesenheit des Vaters öffnet den Raum für die Arbeit in der Triade und rückt die Kompetenzen der Eltern als Paar in den Blickpunkt, die dadurch ebenfalls gestärkt werden können. Das ursprüngliche Konzept Sterns ist – wie er selbst betont – auf den westlichen Kulturkreis beschränkt. Somit bedarf eine Übertragung auf andere soziokulturelle Gruppen eines hohen Maßes an kultureller Sensibilität und sollte vorsichtig gehandhabt werden. Es darf aber nicht vergessen werden, dass sich auch unsere Kultur und Gesellschaft und damit auch der Umgang mit Elternschaft verändert. Insofern ist auch das Konzept von Stern einem gesellschaftlichem Wandel unterworfen, der immer wieder eine Anpassung notwendig macht.
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137
Väter in der Eltern-Säuglings/ Kleinkind-Beratung Andreas Eickhorst und Kerstin Scholtes
10.1
Ergebnisse der Vaterforschung – 138
10.1.1 10.1.2 10.1.3
Repräsentanz des Vaterseins – 138 Väter in der Interaktion mit ihren Kindern – 138 Veränderte gesellschaftliche Bedingungen – 139
10.2
Väter in der Beratungssituation – 140
10.2.1 10.2.2 10.2.3
Allgemeine Aspekte – 140 Ein Fallbeispiel – 141 Konsequenzen für die Beratung – 142
Literatur – 143
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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138
Kapitel 10 • Väter in der Eltern-Säuglings/Kleinkind-Beratung
Das Kapitel thematisiert die Rolle von Vätern in der Eltern-Säuglings-Beratung. Diese stellt sich gegenüber jener der Mütter durchaus unterschiedlich dar. Obgleich die routinemäßige Berücksichtigung von Vätern in Säuglings-Ambulanz-Settings noch keine lange Tradition hat und es bisher nur wenig Konzepte dazu gibt, wird das Bemühen um einen Einbezug des Vaters zusehends üblicher. In diesem Kapitel wird zunächst die Rolle der Repräsentanzen des eigenen Vaterseins dargestellt, bevor kurz auf die Ergebnisse der Vaterforschung hinsichtlich der väterlichen Interaktion mit dem Kind sowie auf die gesellschaftsabhängigen Veränderungen über die Zeit eingegangen wird. Schließlich werden anhand eines Fallbeispiels typische Themen von Vätern im Kontext der Eltern-Säuglings-Beratung präsentiert und erläutert.
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10.1
Ergebnisse der Vaterforschung
10.1.1
Repräsentanz des Vaterseins
Zur inneren Repräsentanz der Vaterschaft bestand lange Zeit die Annahme, dass Einstellungen und Überzeugungen sich schon vor der faktischen Übernahme der Elternrolle bilden und stabil bleiben. Neuere Ansätze zu subjektiven Elternschaftskonzepten besagen jedoch, dass zum einen die Erfahrungen nach der Geburt des Kindes zu einer Stabilisierung von Einstellungen führen können, andererseits aber auch eine Veränderung im Sinne einer Adaptation an die aktuellen Bedingungen eintreten kann (Holden 1995). Aus Sicht der Psychoanalyse stellt der Vater insbesondere im Kleinkindalter ein bedeutsames Identifizierungsobjekt für das Kind dar (z. B. Fentner u. Seiffge-Krenke 1997). Jüngere analytische Ansätze sprechen überdies auch der durch die Mutter vermittelten Vaterrepräsentanz eine hohe Bedeutung zu (Cath 1986). Abelin (1971) prägte den Begriff der Triangulierung. Er bezieht sich auf den kindlichen Loslösungs- und Individuationsprozess in den ersten drei Lebensjahren. Dabei kommt dem Vater eine besondere Bedeutung zu, da das Kind mit seiner Hilfe die Beziehung zur Mutter regulieren und sich so dem regressiven Sog in ihre Richtung ent-
ziehen kann. Aktuelle Arbeiten zur primären Triade betonen jedoch die Wichtigkeit des Vaters auch über die geschilderten Loslösungsprozesse hinaus (z. B. Bürgin u. von Klitzing 2001; Diskussion in Dornes 2006). Sie stellten die Fähigkeit zur Interaktion mit Müttern und Vätern bereits bei zwölf Wochen alten Säuglingen fest (s. dazu auch 7 Kap. 34). Ein vielversprechendes Konzept zur psychischen Neuorganisation nach der Geburt ist die Mutterschaftskonstellation von Stern (1998). Der Begriff meint die spezifische und eigenständige psychische Situation bzw. Organisation, in der sich die aktuell Mutter gewordene Frau befindet. Hier stellt sich natürlich die Frage nach einer ebenfalls denkbaren »Vaterschaftskonstellation«. Stern selbst thematisiert diesen Aspekt, indem er die Frage aufwirft, ob ein Vater sich eher mit der eigenen Mutter oder mit dem eigenen Vater identifiziere. King (2010) ergänzt den Ansatz von Stern, indem sie von einer »Elternschaftskonstellation« spricht, die den Vater konzeptuell auch bei der Pflege und der Sorge um den Säugling verankert (s. dazu auch 7 Kap. 9).
10.1.2
Väter in der Interaktion mit ihren Kindern
Seit den 1980er-Jahren wurden die Folgen väterlicher Abwesenheit untersucht und Nachteile in der weiteren Entwicklung der Kinder, insbesondere von Jungen, festgestellt (Überblick bei Fthenakis 1992 oder Dornes 2006). Auch konnte gezeigt werden, wie wichtig die Einbeziehung des Vaters für den Behandlungserfolg bei Problemen im Säuglings- und Kleinkindalter ist. So erwies sich in einer Studie von Herve zu einer an der Bindungstheorie orientierten Behandlung von Regulations- und Verhaltensstörungen neben zwei weiteren Faktoren die Abwesenheit des Vaters in den Behandlungen als eine erhebliche Beeinträchtigung des Behandlungserfolgs (Hervé et al. 2009; s. auch 7 Kap. 36). In der Folge wurde untersucht, inwiefern Väter den Müttern vergleichbare interaktionelle Fähigkeiten im Umgang mit Kindern haben. Nachdem die Feststellung, dass Väter ebenfalls über intuitive Elternprogramme verfügen und genauso angemessen und feinfühlig schon mit Säuglingen umgehen können (Papoušek u. Papoušek 1987; Lamb 1997),
139
10.1 • Ergebnisse der Vaterforschung
zunächst noch für Überraschung sorgte, ist sie inzwischen in der Entwicklungs- und Bindungsforschung gut bestätigt (Grossmann et al. 2002). Es schloss sich die Frage an, warum Väter bei gleichen Kompetenzen eine offensichtlich andere Performanz im Umgang mit ihren Kindern zeigen. So legen sie im Vergleich zu Müttern einen deutlicheren Schwerpunkt auf die Förderung der Eigenständigkeit, auf einen unterschiedlichen Umgang mit männlichen und weiblichen Kindern sowie auf stärker durch motorische Stimulation geprägte Spielinteraktionen (vertiefend z. B. in Borke et al. 2011; Dornes 2006). Seit einigen Jahren konzentriert sich das Interesse auf eine Identifizierung differenzierter väterlicher Charakteristika, also auf die Frage, was genau das väterliche Verhalten unter welchen situativen Parametern charakterisiert. Auch Fragen zur Motivation und weiteren intrapsychischen Determinanten des vaterschaftlichen Engagements sind zunehmend bedeutsam geworden (z. B. Eickhorst et al. 2010). Hierzu zählen auch vertiefende Analysen mit primär qualitativer Methodik hinsichtlich der Psychodynamik und inneren Erlebenswelt in differentiellen, oftmals therapeutischen Kontexten, z. B. bei Vätern im Kontext eigener oder mütterlicher postnataler Depression (z. B. Felder 2008; Pedrina 2011). Möchte man das Vaterverhalten hinsichtlich des beobachtbaren Engagements für ein Kind einschätzen, wird häufig auf das Modell von Lamb zurückgegriffen (Lamb et al. 1987). Es postuliert drei Ebenen väterlichen »involvements«: zum einen direktes Engagement (»direct engagement«), welches jeglichen direkt beobachtbaren Umgang mit dem Kind (Spielen, Pflege etc.) umfasst. Davon zu unterscheiden ist die Ebene der Verfügbarkeit (»availability«). Dies meint, dass der Vater zwar nicht im direkten Kontakt mit dem Kind, aber in der Nähe und ansprechbar ist (sich beispielsweise im selben Raum oder nebenan befindet und ggf. schnell zum Kind gelangen könnte). Die dritte Ebene ist die der Verantwortung (»responsibility«) und meint verantwortliches Verhalten in Bezug auf das Kind (z. B. finanzielle Vorsorge treffen oder Arzttermine vereinbaren) ohne die Notwendigkeit einer physischen Anwesenheit in der Nähe des Kindes. Will man das »involvement« des Vaters als seinen Bei-
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trag zur Familie in seiner ganzen Bandbreite ernst nehmen, sollten alle drei Ebenen dieses Modells berücksichtigt werden.
10.1.3
Veränderte gesellschaftliche Bedingungen
Die jeweils gesellschaftlich dominierende Vaterrolle hat sich – insbesondere in der westlichen Mittelschicht – während der vergangenen Jahrhunderte stark gewandelt (Pleck u. Pleck 1997). So herrschte noch im 18. Jahrhundert die Rollenvorstellung vom strengen Patriarchen vor. Obwohl dies primär moralische Verantwortung bedeutete, waren diese Bedingungen förderlich für männliches Engagement in der Familie, da keine Trennung zwischen häuslichem und Arbeitsleben existierte. Die wachsende Mobilität sowie die aufgrund des Erbrechts entstandene Notwendigkeit, außerhalb des väterlichen Hauses zu arbeiten, förderten die Aufweichung der patriarchalischen Strukturen. Dem Vater kam nun zumindest in der Mittelschicht vor allem die Funktion des alleinigen Ernährers zu. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es dann zu einem Einstellungswandel: Vom Vater wurde zusehends aktives Engagement bei der Erziehung gefordert, und die väterliche Bedeutung als Rollenmodell zur Entwicklung insbesondere der männlichen Identität wurde betont. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Abwesenheit des Vaters und das damit verbundene Fehlen des männlichen Rollenmodells als Ursache einer Vielzahl psychischer und sozialer Probleme bei Kindern angesehen (Radebold 2000; Leuzinger-Bohleber 2003). Seit den 1970er-Jahren prägt das Idealbild vom »neuen Vater«, der sich engagiert und sich zärtlich und mit subjektiv wahrgenommenem Gewinn um seine Kinder kümmert, die Medien. Die komplexen kulturellen und wirtschaftlichen Veränderungen (z. B. Geburtenkontrolle, zunehmende Erwerbsarbeit der Frauen) haben den Ruf nach Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern laut werden lassen, weshalb Kindererziehung zunehmend als gemeinsame Verantwortung des Paares angesehen wird, unabhängig davon, wie sehr der Vater dem oben dargestellten Ideal des »neuen Vaters« entspricht (Pleck u. Pleck 1997).
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Kapitel 10 • Väter in der Eltern-Säuglings/Kleinkind-Beratung
Parallel zu der jeweils neuen oder dominierenden Vaterfunktion sind vorherige Rolleninhalte natürlich ebenfalls weiterhin von Bedeutung, was für die heutigen Väter Konflikte bedeuten kann, etwa wenn sie in wirtschaftlich ungünstigen Zeiten den familiären Lebensunterhalt erarbeiten und deshalb die Beteiligung am Familienleben einschränken müssen. Dies kann sowohl mit den Erwartungen ihrer Partnerinnen als auch mit ihren eigenen Wünschen und Rollenvorstellungen kollidieren. Auch ist die zurzeit vorherrschende gesellschaftliche Haltung, die einerseits viele Veränderungen von Vätern einfordert, aber andererseits kaum geeignete Rahmenbedingungen dafür anbietet, wenig hilfreich, um den heute Vater werdenden Männern eine gute Orientierung zu bieten (Huber u. Schäfer 2011).
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10.2
Väter in der Beratungssituation
10.2.1
Allgemeine Aspekte
Väter bringen eigene Themenfelder und Sichtweisen in therapeutische Prozesse ein; diese können eine Beratung oder Therapie herausfordern, aber auch bereichern (Eickhorst 2008). Wenn die BeraterInnen den Anspruch einer Betrachtung der gesamten Familie ernst nehmen wollen, sollte der Vater von Anfang an mit in den Beratungsprozess einbezogen werden (auch – ggf. in symbolischer Weise – der abwesende Vater; vgl. Metzger 2008). Da in den meisten Fällen allerdings die Mütter den Kontakt zur Eltern-Säuglings-Ambulanz herstellen (Bundeskonferenz für Erziehungsberatung 2003) und die Teilnahme des Vaters auch gar nicht immer von sich aus berücksichtigen bzw. ansprechen, ist dies nicht immer ganz einfach. Man kann davon ausgehen, dass auch dies mit den Anforderungen der Gesellschaft zusammenhängt, die väterliches Engagement einfordert, konkrete Angebote für Väter oft jedoch kaum bereitstellt (7 Abschn. 10.1.3). Weitere Schwierigkeiten können im organisatorischen Rahmen der Beratungsstelle selbst verankert sein. Dazu zählt etwa eine ausschließlich den Vormittag oder frühen Nachmittag berücksichtigende Terminvergabe oder die oft rein weibliche Zusammensetzung des Teams oder auch eine
Sekretärin, die sich bei der Terminvergabe schwertut, das erwünschte Erscheinen der Väter anzusprechen. Mit diesen genannten Rahmenbedingungen in Wechselwirkung stehen dann natürlich auch die Väter selbst. Es kommt durchaus regelmäßig vor, dass diese, obwohl wir sie als wichtige Familienmitglieder betrachten, vielleicht gar nicht kommen wollen und dann auch nicht ohne Weiteres erscheinen. Dafür kann es ganz unterschiedliche Gründe geben: Neben einem tatsächlichen Desinteresse an der Problematik oder einer fehlenden Offenheit gegenüber psychologischen Angeboten kann auch Skepsis der Grund für die Zurückhaltung sein. Diese Skepsis kann sich auf die Partnerin und die TherapeutInnen bezüglich ihrer Wertschätzung für die Väter beziehen oder aber auf die eigene Person und die Frage, ob man als Mann kompetent genug für die Wahrnehmung der Bedürfnisse des Säuglings ist. Wenn sie dann doch in die Beratung kommen, zeigen diese Väter oft ein Auftreten, das ihre oben geschilderte Unsicherheit und Skepsis gegenüber diesem Kontext deutlich werden lässt. Dies kann sich unserer Erfahrung nach in verschiedenen Verhaltensweisen zeigen. So kommt es vor, dass solcherart skeptische Väter in einen »Kompetenzwettstreit« mit den TherapeutInnen treten, viele Fachfragen, aber auch Fragen nach der Qualifikation der TherapeutInnen stellen und deutlich machen, dass sie sich in ihre Kompetenz nicht »reinreden« lassen. Dieses Auftreten verhindert dann unter Umständen ein Thematisieren möglicher Verbesserungen der häuslichen Situation, was diejenigen Väter, die Angst vor einer – wie auch immer formulierten – Kritik an der Gestaltung der Elternschaft haben, vor einer Auseinandersetzung mit dem problematischen Verhalten bewahrt. Ein generell guter Weg, Vätern in der Beratung zu begegnen (nicht nur hinsichtlich der geschilderten potenziellen Schwierigkeiten), ist etwa – falls zwei TherapeutInnen verfügbar sind – die zeitweise Aufsplittung des Settings in parallele Einzelgespräche mit dem Vater und der Mutter. Über eine solche Konzentration auf das subjektive Erleben des Vaters, seine Motivation, seine Einschätzungen, Wünsche und Ängste, lässt sich oft ein guter Einstieg mit ihm finden.
10.2 • Väter in der Beratungssituation
10.2.2
Ein Fallbeispiel
Das folgende Fallbeispiel aus einer Eltern-Säuglings-Beratung soll illustrieren, wie unterschiedlich Vater und Mutter ihre jeweiligen Positionen in die Interaktion mit ihrer kleinen Tochter einbringen und welche Möglichkeiten die BeraterInnen haben, die Potenziale des Vaters herauszufiltern und nutzbar zu machen. Frau Z. und Herr A. kommen mit ihrer 14 Monate alten Tochter Anna in die Eltern-SäuglingsSprechstunde. Sie berichten, dass Anna alleine nur sehr schwer einschlafen könne, nachts etwa alle zwei Stunden erwache und dann intensive, körpernahe Beruhigung durch die Eltern brauche, um wieder in den Schlaf zu finden. Die Mutter, die Anna am Tag bislang überwiegend versorgt, klagt über ausgeprägte Erschöpfung, sie wirkt ausgezehrt, von der Stimmung her gedrückt. Der Vater äußert, dass er die Belastung seiner Partnerin wahrnehme und sie gerne unterstützen würde, aber keinen guten Weg dazu finde. Anna klammere sich sehr an die Mutter, und es gebe immer wieder Phasen, in denen er sich von seiner Tochter abgelehnt fühle. Er sei traurig, dass sie ihm manchmal so fremd sei. Aus diesem Grund werde er in Kürze ein halbes Jahr Erziehungszeit nehmen. Aus der Vorgeschichte berichten die Eltern, dass die Schwangerschaft nicht geplant gewesen sei. Für die Mutter sei alles viel zu schnell gegangen, sie brauche immer etwas länger, um sich auf eine neue Situation einzustellen. Der Vater habe sich nach einem ersten Schreck auf das Kind gefreut. Es sei ihm allerdings erst nach der Geburt klar geworden, wie viel Veränderung ein Kind bedeute. Er spricht auch an, dass es im Alltag immer wieder Auseinandersetzungen um Erziehungsvorstellungen gebe. Die Mutter sei aufgrund ihrer eigenen Erschöpfung froh, wenn Anna sich ruhig verhalte, und sei daher auch geneigt, wahrgenommenen Forderungen des Kindes schnell nachzugeben. Er selbst sei dagegen bemüht, klare Grenzen zu setzen. Äußere Anna dann Unmut, interveniere die Mutter, wodurch er sich »entmachtet« fühle. Er kann benennen, dass ihm auch in dieser Hinsicht die Anpassung an die Situation mit Kind schwerfalle. Das erste Beratungsgespräch ist von Diskussionen zwischen den Eltern dominiert, in denen es um
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die Frage geht, wer recht hat. Anna sitzt steif auf dem Schoß der Mutter und hält ausdauernd Blickkontakt zum Vater. Die Eltern lassen sich darauf ein, dass eine Videoaufnahme von einer Spielsequenz erstellt wird. Hintergrund dieser Intervention ist, dass aus den Schilderungen der Eltern der Eindruck entstand, dass sie über zwei verschiedene Kinder sprechen. Die Eltern werden instruiert, jeweils zunächst mit ihrer Tochter zu spielen. Dann sollen sie sich zurückziehen und sich in der Nähe des Kindes mit einer Zeitschrift beschäftigen, wobei ihnen die Gestaltung dieses Übergangs selbst überlassen wird. Nach etwa drei Minuten sollen sie sich wieder dem Kind zuwenden (geteilte und ungeteilte Aufmerksamkeit). Zunächst beschäftigt die Mutter sich mit Anna. Das Spiel wirkt recht freudlos. Anna sitzt neben der Mutter, diese hat den Arm um sie gelegt, beide haben eine gemeinsame Blickrichtung. Der Mutter gelingt es nicht, sich aus dieser Nähe zu lösen und auf dem bereitgestellten Sessel in der Zeitung zu blättern. Sie holt sich die Zeitschrift dazu und blättert halbherzig darin. Anna wird zusehends unzufriedener, klammert sich an die Mutter, legt die Händchen auf ihre Augen und jammert anhaltend. Die Mutter versucht, sich aus der Umklammerung zu lösen und dabei das Kind zu beruhigen, was von außen wie ein Ringkampf anmutet. Der Vater wird nun in den Raum gebeten, um die Mutter abzulösen. Sie erscheint sowohl erleichtert, aus dieser Umschlingung gerettet zu werden, als auch ängstlich und etwas verärgert. Anna schreit. Der Vater bietet zur Beruhigung Nähe an, setzt sich auf den Boden und zeigt ein Spiel mit Bauklötzen, nachdem Anna sich etwas beruhigt hat. Das Spiel gestaltet sich harmonisch, auch nachdem es bereits länger andauert. Als Anna zufrieden in das Spiel vertieft ist, kündigt der Vater verbal die Trennung an und zieht sich mit der Zeitung in den Sessel zurück. Anna unterbricht ihr Spiel, krabbelt ihm nach, bleibt aber auf halber Strecke sitzen und betrachtet den halb aufgebauten Turm. Sie beschäftigt sich erneut zwei Minuten damit, dann krabbelt sie zum Vater, zieht sich an dessen Bein hoch und schmiegt sich an. Der Vater erscheint gerührt und nimmt Anna auf den Arm.
142
10
Kapitel 10 • Väter in der Eltern-Säuglings/Kleinkind-Beratung
Anschließend können bei einer gemeinsamen Betrachtung und Besprechung der Videoaufnahmen die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Bedürfnisse und Kompetenzen Annas sowie die depressive Grundstimmung der Mutter herausgearbeitet werden. Der Vater nimmt Letztere erstaunt zur Kenntnis, weil er das Verhalten seiner Partnerin bisher primär als Fortsetzung partnerschaftlicher Konflikte betrachtet hatte. Er zeigt sich außerdem sehr bewegt, dass Anna aktiv seine Nähe gesucht hat, und stellt Überlegungen an, wie er solche Situationen gezielter herbeiführen könne. Im Zuge mehrerer Beratungstermine können die Ressourcen, die der Vater zu bieten hat, herausgearbeitet und von der Mutter als Entlastung wahrgenommen werden. Die Sorge, durch das Engagement des Vaters überflüssig zu werden, kann entkräftet werden. Nun blicken die Eltern dem Beginn der Elternzeit des Vaters mit etwas gemischten Gefühlen entgegen. Während die Mutter vor allem Ambivalenz zwischen erhoffter Entlastung und von Neuem befürchteter Konkurrenz durch ihren Mann spürt, schwankt der Vater zwischen großer Hoffnung auf diese Zeit und der Angst, mit der Situation möglicherweise überfordert zu sein.
10.2.3
Konsequenzen für die Beratung
Das Beispiel zeigt in seinem Verlauf sehr gut die verschiedenen (teils schwierigen und herausfordernden, teils aber auch erfreulichen) Situationen und Konstellationen, denen ein junges Paar begegnen kann und die es nicht selten in eine Beratung führen. Die folgenden Ausführungen sollen nun insbesondere die Position des Vaters reflektieren. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Übergang zur Elternschaft für alle Väter und Mütter eine Zeit großer Veränderungen und Anpassungen ist; einige Autoren nennen ihn eine »normative Krise« (Frevert et al. 2008; 7 Kap. 12). Neben dem Sicheinstellen auf die kindlichen Bedürfnisse und die Beziehungsgestaltung ist es vor allem der Übergang aus der Zweier-Liebesbeziehung in eine Dreier-Familienbeziehung, die viele Paare vor große Herausforderungen stellt. Zeigen sich dazu noch regulative Probleme im Umgang mit dem Säugling, ist dies ein zusätzlicher Stressor (s. dazu auch 7 Kap. 8).
Auch in unserem Beispiel handelt es sich zum thematisierten Zeitpunkt (vor der Elternzeit des Vaters) um eine Familie mit der »klassischen« Rollenaufteilung eines außer Haus berufstätigen Vaters und einer zu Hause bleibenden Mutter. Nicht sehr überraschend, ist es nun für den Vater schwierig, von Anfang an einen Zugang zu seiner Tochter zu finden; er sieht sich zunehmend in der Gefahr, neben der Mutter-Kind-Beziehung ein Außenstehender zu bleiben. An dieser Stelle ist die oben skizzierte Herangehensweise, auch die Bemühungen eines oft abwesenden Vaters – etwa im Sinne einer finanziellen oder organisatorischen Verantwortungsübernahme – wertzuschätzen, für die beteiligten Väter äußerst entlastend. Ebenfalls sichtbar werden im Beispiel die Schwierigkeiten beim sogenannten Co-Parenting, d. h. dem gemeinsamen Absprechen und Koordinieren des elterlichen Verhaltens. Der Vater fühlt sich nicht gut eingebunden; vermutlich gibt es kaum eine gemeinsam gestaltete Elternschaft mit entsprechender Beziehungsgestaltung, sondern vielmehr zwei nebeneinander bestehende dyadische Eltern-Kind-Beziehungen. Die Mutter verbringt mehr Zeit mit dem Säugling, somit sind die beiden Beziehungen nicht ebenbürtig, dies kann beim Vater Gefühle von »Entmachtung« hervorrufen. Dieses »Maternal-Gatekeeping«-Verhalten bedeutet eine Steuerung des väterlichen Engagements durch die Mutter (potenziell sowohl in eine einschränkende als auch in eine fördernde Richtung; vertiefend dazu Allen u. Hawkins 1999; s. auch 7 Kap. 8.3.2). Allerdings gehört zum mütterlichen Steuern durchaus auch ein »Steuernlassen« durch die Väter selbst; ein Gatekeeping der Mutter korrespondiert also immer auch mit einem bestimmten Maß an Engagement, Beziehungsgestaltung und (Un-)Sicherheit im Verhalten des Vaters. In einer Situation wie der geschilderten sind die BeraterInnen gefordert, Hilfestellung beim Finden einer angemessenen elterlichen Position für Vater und Mutter zu leisten. Im weiteren Verlauf des Beispiels wird ersichtlich, dass das Deutlichwerden der Verknüpfung der Eltern-Kind-Interaktionen mit der depressiven Problematik der Mutter sowie den Partnerschaftsproblemen des Paars ein wichtiger Schritt war: Der Vater kann seine eigenen Ressourcen, die er in die
Literatur
Interaktion mit Anna einbringen kann, nun klarer erkennen. So kann er etwa gut eine körperliche Nähe zu ihr herstellen und ausgestalten. Überdies ist er ein geduldiger Mitspieler, der gern mithilfe von Objekten (Spielzeug) Spielinteraktionen gestaltet. In einer Fortführung der Beratung böte sich nun eine Beobachtung einer Spielsituation zu dritt an, in welcher als Ergänzung zu den bisherigen Punkten explizit auf das gemeinsam konstruierte Angebot der Eltern in dieser Triade geachtet und ggf. eine entsprechende unterstützende Intervention angeboten werden kann (Fivaz-Depeursinge u. Corboz-Warnery 2001; s. dazu auch 7 Kap. 34). Fazit In der therapeutischen und beratenden Arbeit mit Vätern sollten nicht nur die Schwierigkeiten gesehen werden, die sich einem beim Anspruch einer möglichst umfassenden Berücksichtigung von Vätern in den Weg stellen können, sondern ebenso die Chancen, die für die gesamte Familie und insbesondere für den Säugling entstehen, wenn es gelingt, den Vater ganz mit »ins Boot« zu holen. Das Interaktionsverhalten des Vaters kann sich einerseits dyadisch von dem der Mutter unterscheiden und andererseits in triadischen Situationen, insbesondere beim Co-Parenting, eine neue Qualität in die Erfahrungswelt des Säuglings einbringen. Bei Kindern, die überwiegend von der Mutter betreut werden, ist der Vater somit als Dritter, der der symbiotischen Beziehung von Mutter und Kind etwas Erweiterndes hinzufügt, diese aufsprengt und dadurch die kindliche Fähigkeit zur Affektdifferenzierung und -modulierung beeinflusst, sehr bedeutsam (Herzog 1998).
Literatur Abelin E (1971) The role of the father in the separation-individuation process. In: McDevitt J, Settlage C (Hrsg) Separation-individuation. International University Press, New York, S 229–252 Allen S, Hawkins A (1999) Maternal gatekeeping: mothers’ beliefs and behaviors that inhibit greater father involvement in family work. Journal of Marriage and the Family 61:199–212
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10
Borke J, Eickhorst A, Lamm B (2011) Väter – eine entwicklungspsychologische Bestandsaufnahme. In: Keller H (Hrsg) Handbuch der Kleinkindforschung, 4. Aufl. Hans Huber, Bern, S 250–268 Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) (Hrsg) (2003) Gender Mainstreaming in der Erziehungs- und Familienberatung. Informationen für Erziehungsberatungsstellen, Heft 1. Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V., Fürth Bürgin D, von Klitzing K (2001) Triadische Kompetenz: Ressource für die psychische Entwicklung. In: Bohleber W, Drews S (Hrsg) Die Gegenwart der Psychoanalyse – die Psychoanalyse der Gegenwart. Klett-Cotta, Stuttgart, S 519–533 Cath S (1986) Vatersein von der Kindheit bis ins Alter: ein Abriss neuerer psychoanalytischer Konzepte. In: Friedman R, Lerner L (Hrsg) Zur Psychoanalyse des Mannes. Springer, Berlin, S 65–75 Dornes M (2006) Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung. Fischer, Frankfurt a.M. Eickhorst A (2008) Väter in Beratungskontexten: Status quo und Perspektiven. In: Borke J, Eickhorst A (Hrsg) Systemische Entwicklungsberatung in der frühen Kindheit. Facultas, Wien, S 236–252 Eickhorst A, Benz M, Scholtes K, Cierpka M (2010) Väterliche Präsenz – ein Rahmenmodell mit vier Ebenen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 59:610–628 Felder W (2008) Psychisch kranke Väter. In: Walter H (Hrsg) Vater, wer bist du? Klett-Cotta, Stuttgart, S 210–236 Fentner D, Seiffge-Krenke I (1997) Die Rolle des Vaters in der familiären Kommunikation: Befunde einer Längsschnittstudie an gesunden und chronisch kranken Jugendlichen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 5:354–370 Fivaz-Depeursinge E, Corboz-Warnery A (2001) Das primäre Dreieck. Vater, Mutter und Kind aus entwicklungstheoretisch-systemischer Sicht. Carl Auer, Heidelberg Frevert G, Cierpka M, Joraschky P (2008) Familiäre Lebenszyklen. In: Cierpka M (Hrsg) Handbuch der Familiendiagnostik, 3. Aufl. Springer, Heidelberg, S 171–197 Fthenakis W (1992) Zur Rolle des Vaters in der Entwicklung des Kindes. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 37:179–189 Grossmann K, Grossmann KE, Fremmer-Bombik E, Kindler H, Scheuerer-Englisch H, Zimmermann P (2002) The uniqueness of the child-father attachment relationship: fathers’ sensitivity and challenging play as a pivotal variable in a 16-year longitudinal study. Social Development 11:307–331 Hervé MJ, Paradis M, Rattaz C, Lopez S, Evrard V, WhiteKoning M et al. (2009) Predictors of outcome in infant and toddlers functional or behavioral disorders after a brief parent-infant psychotherapy. European Child & Adolescent Psychiatry 18:737–746 Herzog J (1998) Frühe Interaktionen und Repräsentanzen: die Rolle der Vaters in frühen und späten Triaden; der Vater als Förderer der Entwicklung von der Dyade zur
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10
Kapitel 10 • Väter in der Eltern-Säuglings/Kleinkind-Beratung
Triade. In: Bürgin D (Hrsg) Triangulierung – der Übergang zur Elternschaft. Schattauer, Stuttgart, S 162–178 Holden GW (1995) Parental attitudes toward child rearing. In: Bornstein MH (Hrsg) Handbook of parenting, Bd 3. Erlbaum, Mahwah, S 359–392 Huber J, Schäfer E (2011) Väterpolitik in Deutschland. Kritische Bestandsaufnahme und Perspektiven für die Zukunft. In: Walter H, Eickhorst A (Hrsg) Das Väter-Handbuch. Theorie, Forschung, Praxis. Psychosozial-Verlag, Frankfurt a.M. (im Druck) Ijzendoorn M van (1992) Intergenerational transmission of parenting: A review of studies in nonclinical populations. Developmental Review 12:76–99 King V (2010) Bedingungen der Elternschaftskonstellation. Kinderanalyse 18(1):1–28 Lamb M (1997) Fathers and child development: an inroductionary overview and guide. In: Lamb M (Hrsg) The role of the father in child development, 3. Aufl. Wiley, New York, S 1–18 Lamb M, Pleck J, Charnov E, Levine J (1987) A biosocial perspective on paternal behavior and involvement. In: Lancaster J, Altmann J, Rossi A, Sherrod L (Hrsg) Parenting across life span. Biosocial dimensions. Aldine, New York, S 111–142 Leuzinger-Bohleber M (2003) Die langen Schatten von Krieg und Verfolgung. Beobachtungen und Berichte aus der DPV-Katamnesestudie. Psyche 57:783–788 Metzger G (2008) Psychoanalyse des Vaters: Klinische Erfahrungen mit realen, symbolischen und phantasierten Vätern. Brandes & Apsel, Frankfurt a.M. Papoušek H, Papoušek M (1987) Intuitive parenting. A dialectic counterpart to the infant’s integrative competence. In: Osofsky JD (Hrsg) Handbook of infant development, 2. Aufl. Wiley, New York, S 669–720 Pedrina F (2011) Vaterschaft im Kontext postnataler familiärer Krisen. Selbsterleben und Entwicklungsprozesse. In: Walter H, Eickhorst A (Hrsg) Das Väter-Handbuch. Theorie, Forschung, Praxis. Psychosozial-Verlag, Frankfurt a.M. (im Druck) Pleck EH, Pleck JH (1997) Fatherhood ideals in the United States: Historical dimensions. In: Lamb M (Hrsg) The role of the father in child development, 3. Aufl. Wiley, New York, S 33–48 Radebold H (2000) Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Stern DN (1998) Die Mutterschaftskonstellation: eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der MutterKind-Psychotherapie. Klett-Cotta, Stuttgart
145
Regulationsstörungen Kapitel 11
Zur Diagnostik der Regulationsstörungen – 147 Sarah Groß
Kapitel 12
Von der normalen Entwicklungskrise zur Regulationsstörung – 159 Marisa Benz und Kerstin Scholtes
Kapitel 13
Exzessives Schreien – 171 Consolata Thiel-Bonney und Manfred Cierpka
Kapitel 14
Schlafstörungen im Kindesalter – 199 Kerstin Scholtes, Marisa Benz und Hortense Demant
Kapitel 15
Fütterstörungen in der frühen Kindheit – 219 Consolata Thiel-Bonney und Nikolaus von Hofacker
Kapitel 16
Entwicklungsgerechtes anklammerndes Verhalten und exzessives Klammern – 249 Kerstin Scholtes und Marisa Benz
Kapitel 17
Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten – 263 Manfred Cierpka und Astrid Cierpka
Kapitel 18
»Null Bock« in früher Kindheit: Regulationsprobleme von Aufmerksamkeit und Spiel – 285 Mechthild Papoušek
II
147
Zur Diagnostik der Regulationsstörungen Sarah Groß
11.1
Diagnostische Gespräche – 148
11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4
Allgemeine Diagnostik – 148 Psychodynamische Diagnostik – 149 Diagnostik der Interaktion und Beziehung – 149 Systemische Diagnostik der Paar- und Familiendynamik – 150
11.2
Diagnosesysteme – 150
11.2.1 11.2.2 11.2.3
ICD-10 – 151 Zero To Three – 151 Leitlinien der American Association for Child and Adolescent Psychiatry – 153 Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie – 153
11.2.4
11.3
Verhaltenstagebücher – 155
11.4
Fragebögen und Interviews zur Erhebung von Verhaltensauffälligkeiten und Regulationsstörungen – 155
11.4.1 11.4.2 11.4.3
Englischsprachige Fragebögen und Interviews – 156 Deutschsprachige Fragebögen – 156 Ein eigener Fragebogen zum Schreien, Füttern und Schlafen – 156
Literatur – 157
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 11 • Zur Diagnostik der Regulationsstörungen
Die Diagnostik von Regulationsstörungen dient dazu, erstens die Problematik des Kindes, der Eltern und der Beziehung zu erfassen und Ansatzpunkte für gezielte Interventionen zu erkennen und zweitens Ausgangswerte für eine spätere Therapie und Verlaufsevaluation zu schaffen. Diagnostische Bausteine sind immer das ausführliche anamnestische Erstgespräch, oft eine Videoaufzeichnung von Interaktionssequenzen zwischen Eltern und Kind, manchmal Verhaltensprotokolle wie Schrei-, Schlaf-, Füttertagebücher und Fremd- und Selbsteinschätzungen mittels Fragebögen und Interviews. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Diagnostik von Regulationsstörungen im Allgemeinen, während die spezifische Diagnostik in den folgenden Kapiteln über einzelne Regulationsstörungen (7 Kap. 12 bis 18) erläutert wird.
11
Ein Grundsatzproblem der Diagnostik der Psychopathologie des Kleinkindalters lässt sich mit einem Zitat Sterns aufgreifen: »Der neue, bislang unbekannte Patient ist keine Person, sondern eine – allerdings asymmetrische – Beziehung« (Stern 1998, S. 11). Auch Gergely u. Watson (1996) hinterfragen, ob eine intrinsische Störung des Säuglings oder Kleinkindes unabhängig von einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung angesichts der starken Abhängigkeit der emotionalen Entwicklung des Kindes von seinem physischen und psychischen Umfeld überhaupt bestehen kann. Den Fokus auf ein dem Kind innewohnendes Syndrom zu legen steht im Widerspruch zu den entwicklungspsychologischen Tatsachen und der klinischen Erfahrung (Emde 2003), da das psychosomatisch organisierte affektive Regulationssystem des Kleinkindes untrennbar mit der koregulativen Funktion der Bezugsperson verbunden ist. Ausschließliche Verhaltenskodierung birgt die Gefahr, den Leidensdruck der Eltern und die mittels Empathie des Untersuchers erfassten Informationen zu sehr abzudrängen. Der subjektive Leidensdruck der Eltern ist insofern von praktischer Bedeutung, als ein moderates Schreien von einer Familie mit guten psychosozialen Ressourcen problemlos verkraftet werden kann, bei einer vulnerablen Familie aber dringend behandlungsbedürftig ist und im schlimmsten Fall zu Misshandlung führen kann.
11.1
Diagnostische Gespräche
Dem Erstgespräch kommt auch in der Eltern-Säuglings-Beratung bzw. -Psychotherapie eine zentrale Bedeutung zu. Es wird, wenn möglich, mit beiden Eltern und in Anwesenheit des Kindes geführt. Es sollte ausreichend Zeit in einem kindgerechten Raum eingeplant werden, um das aktuelle Problemverhalten und seine Vorgeschichte aus der Perspektive beider Elternteile erfragen zu können und die Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern mitzuerleben. Eine wertschätzende, unterstützende Grundhaltung berücksichtigt neben den Belastungen auch die Ressourcen des Kindes und seiner Eltern und dient dem Beziehungsaufbau für die weitere Behandlung. Je nach Vorstellungsgrund ist eine differenzielle störungsspezifische Diagnostik indiziert, auf die bei den einzelnen Störungsbildern (7 Kap. 12 bis 18) näher eingegangen wird.
11.1.1
Allgemeine Diagnostik
Da die somatischen (motorischen, vegetativen) Funktionen und das Reaktionsmuster des Säuglings eng mit seinem Erleben und Verhalten verknüpft sind, ist ein gut abgestimmtes interdisziplinäres Vorgehen notwendig. Durch die enge Zusammenarbeit mit Pädiatern zur organischen Abklärung kann ein frühzeitiges Erkennen somatischer Störungen gewährleistet werden. Die aktuelle Symptomatik sollte auf dem Hintergrund einer ausführlichen Entwicklungsanamnese erfragt und verstanden werden. Es ist eine gute Orientierung an den normalen Entwicklungsschritten und häufig sprunghaft verlaufenden Entwicklungsschüben und deren Variationsbreite notwendig, um pathologisches Verhalten zuverlässig einschätzen zu können (s. auch 7 Kap. 32). Zur Einschätzung des Entwicklungsstandes kann die Einbeziehung verschiedener anderer Berufsgruppen wie beispielsweise Logopäden notwendig sein. Es werden Spontanmitteilungen und anamnestische Angaben auf Nachfrage zu folgenden Aspekten erfasst: 5 zur Störungsgenese (Beginn und Dauer der aktuellen Symptomatik), 5 zum Schwangerschafts- und Geburtsverlauf,
149
11.1 • Diagnostische Gespräche
5 zur emotionalen Situation in der Schwangerschaft, 5 zu den Entwicklungsschritten des Kindes, 5 zur elterlichen Einstellung zum Kind, 5 zu aktuellen Belastungen und 5 zur Herkunfts- und Kindheitsgeschichte der Eltern. Dabei sollte besonders auf prä-, peri- und postnatale belastende Erfahrungen wie eine physisch und psychisch schwierige Schwangerschaft, gravierende Geburtskomplikationen, postpartale Störungen der Mutter und Erkrankungen des Kindes geachtet werden. Ebenso sollten vorangegangene Fehlgeburten, Totgeburten und lange Unfruchtbarkeit in die Anamnese einbezogen werden.
11.1.2
Psychodynamische Diagnostik
Auch die Übertragungsbereitschaften der Familienmitglieder, die die Beziehungen in der Familie und zwischen dem Familien- und dem Therapeutensystem im Hier und Jetzt beeinflussen, können diagnostisch genutzt werden. In den Therapeuten werden durch die interaktionelle Intensität des Familiensettings auch leicht Gegenübertragungen hervorgerufen. Der Übertragungs-Gegenübertragungs-Prozess im Erstgespräch hilft, vor allem die unbewusste Szene der Eltern mit ihrem Kind zu verstehen und einen psychodynamischen Fokus zu formulieren. Bei der diagnostischen Nutzung der Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik kann zwischen dem Vergangenheitsunbewussten und dem Gegenwartsunbewussten unterschieden werden (Reich u. Cierpka 2003). Die Vergangenheit bleibt wirksam und beeinflusst die aktuellen Beziehungswünsche und -konflikte, ohne dass der Zusammenhang den Betroffenen bewusst ist. Aus dem Vergangenheitsunbewussten stammende Impulse (Wünsche, Ängste, Erinnerungen) sind beunruhigend und führen daher zu zwei Gruppen von Anpassungsprozessen: Die Vergangenheit muss mit der Gegenwart in Einklang gebracht werden und wird dahingehend verändert. Wenn dies nicht oder nicht vollständig gelingt, erfolgt eine zweite Anpassung, sodass auch der aktualisierte Impuls
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durch die Abwehr, beispielsweise eine Verkehrung ins Gegenteil, entstellt oder vollkommen verdrängt wird. Diese zweite Zensur schafft das Gegenwartsunbewusste, da die aus der Vergangenheit stammenden gegenwärtigen Wünsche dann auch nicht mehr bewusst zugänglich sind. Das Gegenwartsunbewusste dient der Aufrechterhaltung des aktuellen inneren Gleichgewichts. Hierzu werden pyschosoziale Kompromisse eingegangen, die sich in den interpersonellen Abwehrprozessen, den kollusiven Mustern des Paares und der Eltern-Kind-Interaktion zeigen. Die psychodynamische Diagnostik richtet ihren Blick besonders auf die Verschränkung von elterlicher Interaktion und elterlichen Fantasien über das Kind. Bei den unbewussten Bedeutungszuschreibungen durch elterliche Projektionen spielen oft primäre Beziehungserfahrungen der Eltern eine Rolle, die dann mit dem Kind reinszeniert werden. In angemessener Weise reagieren zu können setzt voraus, dass Eltern den Signalen des Kindes Sinn und Bedeutung geben können. Dieser Vorgang der Mentalisierung hängt eng mit der Fähigkeit zusammen, eigene innere Zustände und die anderer zu reflektieren und zu differenzieren. Eine verzerrte Sinnzuschreibung gibt einen Hinweis auf (verdrängte) innere Vorstellungen und Konflikte und öffnet den Weg zu lebensgeschichtlich noch unverarbeiteten Szenen (»ghosts in the nursery«; Fraiberg et al. 1975). Es wird diagnostiziert, in welchen Situationen und in welchem Umfang die Eltern belastende Gefühle, beispielsweise beim Schreien ihres Säuglings, aushalten können, ohne sofort handeln zu müssen. Diese Fähigkeit der Eltern ist u. a. von Bion als »Containment« beschrieben worden (Cierpka u. Windaus 2007).
11.1.3
Diagnostik der Interaktion und Beziehung
Bei der Interaktions- und Kommunikationsdynamik ist zwischen manifestem Verhalten und latenten unbewussten Hintergrundeinstellungen zu unterscheiden. Ist der latente Hintergrund spannungs- und konfliktvoll, werden die Eltern nicht über angemessene Möglichkeiten verfügen, ihr
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Kapitel 11 • Zur Diagnostik der Regulationsstörungen
Kind zu beruhigen oder entwicklungsförderlich zu stimulieren. Auf der Elternseite wird auf die intuitive kommunikative Kompetenz, die emotionale Bezogenheit und auf eventuell verzerrte Wahrnehmungen im Umgang mit dem Kind geachtet. Wird hier eine deutliche Beeinträchtigung beobachtet, sollte in der Befragung der Eltern besonders eingehend auf Trennungs- und Verlusterfahrungen in der Vorgeschichte (z. B. Totgeburt), Themen der Mutterschaftskonstellation (z. B. Versagensängste; Stern 1998) und psychische Symptome (z. B. einer postpartalen Depression) eingegangen werden. Auf der Kindseite sind die kindliche Erregbarkeit, Selbstberuhigungs- und Kommunikationsverhalten, Reaktion auf Neues, das Zeigen von Initiative und Explorationsverhalten, Ablenkbarkeit und die emotionale Befindlichkeit zu beachten (zur Interaktionsdiagnostik in der Elternteil-Kind-Dyade und der Eltern-Kind-Triade s. auch 7 Kap. 33 u. 34).
zu werden, während der Vater sich eher rechtfertigend äußert und scheinbar eine Schuldzuweisung fürchtet (Übertragungserleben). Während der gemeinsamen Gespräche fällt den Therapeuten an der Eltern-Kind-Interaktion auf, dass die Mutter schnell mit verbalen Grenzsetzungen reagiert, bevor richtig verständlich geworden ist, was K. eigentlich möchte. Die Therapeuten nehmen bei sich in dieser Phase eine aggressive Haltung gegenüber der Mutter wahr (Gegenübertragung). Der Vater versucht dann (offenbar aus Schuldgefühlen wegen der aggressiven Grenzsetzungen seiner Frau), K.s Protestschreien zu verhindern, indem er ihr in langen Sätzen das Verbot erklärt. K. fängt schon nach dem ersten Satz zu schreien an, was den Vater dazu veranlasst, seine Erklärungen immer länger und eindringlicher werden zu lassen.
11.2 11.1.4
11
Systemische Diagnostik der Paar- und Familiendynamik
Im Erstgespräch hat man es zumindest mit einem Elternteil und dem betroffenen Kind, häufig aber mit einem ganzen Familiensystem zu tun. Dabei sind zahlreiche Interaktionen zwischen den Eltern, eventuell anwesenden Großeltern und Geschwistern zu beobachten, die im Sinne eines szenischen Verstehens wichtige Hinweise auf die familiäre Dynamik geben. Die Entwicklung der Qualität von Elternschaft, die Bewältigung des Übergangs vom Paar zur Familie, ist diagnostisch unter Berücksichtigung der Herkunftsgeschichte der Eltern und der damit verbundenen unbewussten Konflikte einzubeziehen. Zu beachten ist dabei auch der kulturelle und gesellschaftliche Hintergrund der Familie (ausführlicher dazu: 7 Kap. 35). Fallbeispiel Ein Elternpaar kommt mit seiner 25 Monate alten Tochter K. in eine Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Beratung. Die Eltern schildern als Symptom lautes Schreien bei K., sobald diese ihren Willen nicht bekomme. Die behandelnden Therapeuten haben im Erstgespräch den Eindruck, von der Hilfe suchenden Mutter als Retterfiguren herbeigesehnt
Diagnosesysteme
Das in ICD-10 (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation u. Information 2010) und DSM-IV (American Psychiatric Association 1996) vertretene Grundprinzip der Unabhängigkeit von ätiologischen Annahmen ist umso problematischer, je jünger die diagnostizierten Patienten sind (Wiefel et al. 2007). Der Ausschluss elterlichen Verhaltens ist der Hauptkritikpunkt an der Anwendung der klassischen Systeme und ihrer Adaption für die frühe Kindheit. Dem widerspricht von Gonthard (2010) mit dem Einwand, dass es sehr gut möglich sei, Störungen des Kindes und Auffälligkeiten in der Beziehung separat zu identifizieren und zu klassifizieren. Wir meinen, dass dimensionale, beziehungsbasierte Modelle den dynamischen Prozess vieler verschiedener Einflussfaktoren in der frühen Kindheit besser widerspiegeln als kategoriale Systeme. In diesem jungen Alter sollte hinsichtlich psychischer Störungen noch intensiver als im späteren Kindesund Jugendalter eine Präventions- und Frühinterventionsperspektive eingenommen werden. Es ist daher von größerer Bedeutung, Faktoren zu identifizieren, die das Kind einem erhöhten Entwicklungsrisiko aussetzen – eingeschlossen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Psychopathologie –als die Präsenz intrapsychischer Störungen festzu-
151
11.2 • Diagnosesysteme
stellen, zumal die Klassifikation kategorialer Diagnosen insbesondere bei Kindern unter zwei Jahren nicht genügend empirisch gesichert ist (von Gonthard 2010; Schmidt u. Poustka 2007).
nicht ausreichend berücksichtigt (von Gontard 2010).
11.2.2 Kriterien für Klassifikationssysteme Laut Egger u. Emde (2011) sollten Klassifikationssysteme für die ersten Lebensjahre im besten Fall folgende Kriterien erfüllen: 5 Die ganze Bandbreite von frühen verhaltensbezogenen, emotionalen, entwicklungsbedingten und beziehungsrelevanten Symptomen, Störungen und Beeinträchtigungen wird erfasst. 5 Das Klassifikationssystem spiegelt eine multidisziplinäre, beziehungsbasierte, auf frühe Intervention und Prävention ausgerichtete Orientierung wider. 5 Es lassen sich Verbindungen dazu herstellen, wie Psychopathologie und psychiatrische Beeinträchtigung im späteren Alter charakterisiert sind.
Klassifikationsdimensionen und -kategorien des Zero To Three (2005) 1.
ICD-10
In der ICD-10 (International Classification of Diseases, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation u. Information 2010) sind Regulationsstörungen der frühen Kindheit bis auf die Fütterstörung (F98.2, s. auch 7 Kap. 15) bisher nicht als eigenständige Störungen aufgenommen und werden in der Praxis daher meist als Anpassungsstörung (F43.2) verschlüsselt (von Hofacker et al. 2007), obwohl die hierfür notwendigen Kriterien für das Alter nicht angemessen sind. Die Entwicklungsdynamik während der ersten drei Lebensjahre wird auch im Multiaxialen Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (MAS; Remschmidt et al. 2006)
Zero To Three
Das Zero To Three (DC:0–3R) (2005) wurde in den USA zur Klassifikation von Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern in den ersten drei Lebensjahren entwickelt und liegt bisher nur in englischer Sprache vor. Neben dem diagnostischen Profil des Kindes werden auf fünf Achsen Einflüsse, die zur Entstehung oder Aufrechterhaltung von Problemen des Kindes beitragen, und Bereiche, innerhalb deren Interventionen erforderlich sind, Kategorien zugeordnet, und je nach Achse wird auch der Schweregrad dimensional eingeschätzt.
Objektive Klassifikationsinstrumente sind jedoch trotz aller Unzulänglichkeit unverzichtbar für die Früherkennung, für eine wissenschaftlich fundierte Therapieplanung und für die Evaluation sowie als Grundlage zur Formulierung von Rechtsansprüchen gegenüber Kostenträgern.
11.2.1
11
2.
Achse I: Klinische Störung – 100 Posttraumatische Belastungsstörung – 150 Bindungsstörung bei Deprivation – 200 Affektstörungen/Emotionale Störungen (verlängerte Trauerreaktion, vier spezifische Angststörungen, depressive Störungen, gemischte emotionale Störungen) – 300 Anpassungsstörung – 400 Regulationsstörungen/Störungen der sensitiven Integration; Untergruppen: hypersensitiver Typus (ängstlicher/ übervorsichtiger Typus und negativer/ trotziger Typus), hyposensitiver/unterresponsiver Typus und stimulationssuchender/impulsiver Typus – 500 Schlafstörungen – 600 Fütterstörungen – 700 Entwicklungsstörungen – 800 Sonstige Störung nach DSM IV oder ICD-10 Achse II: Beziehungsklassifikation: PIRGAS (Parent-Infant Relationship Global Assessment Scale): Wert zwischen 0 (misshandelnd) und 100 (gut adaptiert) zur globalen Einschätzung der Funktio-
152
Kapitel 11 • Zur Diagnostik der Regulationsstörungen
nalität der Eltern-Kind-Beziehung, Relationship Problems Checklist (RPCL) zur Zuordnung der Art der Beziehungsprobleme zu den Kategorien: überengagiert oder unterengagiert, ängstlich/gespannt, ärgerlich/feindselig, verbal missbrauchend, körperlich missbrauchend, sexuell missbrauchend 3. Achse III: Medizinische Konditionen, Erkrankungen und Entwicklungsstörungen 4. Achse IV: Psychosoziale Stressoren 5. Achse V: Emotionales und soziales Entwicklungsniveau
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Im Zero To Three ist der Begriff der Regulationsstörung enger gefasst als im deutschen Sprachgebrauch und meint anlagebedingte Schwierigkeiten der adäquaten Regulation von Emotionen und Verhalten als Antwort auf sensorische Reize. Das exzessive Schreien im ersten Trimenon wurde nicht als Störung klassifiziert, sondern als Belastungssyndrom aufgeführt. Man kann dieses Verhalten unter den Regulationsstörungen der sensorischen Reizverarbeitung diagnostizieren, da es mit kindlichen Schwierigkeiten bei der Regulation von physiologischen, sensorischen, motorischen und affektiven Prozessen einhergeht. Das exzessive Schreien kann jedoch nicht wie die isolierte Schlafstörung und die isolierte Fütterstörung ohne Störung der Wahrnehmungsverarbeitung als eigenständige Diagnose vergeben werden. Allerdings kann die Schlafstörung auch erst ab dem Alter von zwölf Monaten als eigenständige Störung diagnostiziert werden. Bei der Entwicklung des Zero To Three (1994) wurde eine Bottom-up-Herangehensweise gewählt, bei der nur empirische Befunde und klinische Erfahrungen mit Säuglingen und Kleinkindern zur Entwicklung neuer Kriterien herangezogen wurden und nicht psychische Diagnosen für ältere Kinder oder Erwachsene als Grundlage dienten. Die fünf Dimensionen ähneln denen des DSM (American Psychiatric Association 1994), betonen jedoch stärker die Wichtigkeit der sozialen und emotionalen Fähigkeiten bei der Erfassung der psychischen Gesundheit in der frühen Kindheit.
Die 2005 publizierte Revision des Zero To Three enthält gegenüber der ersten Version von 1994 (dtsch. Version: National Center for Infants, Toddlers, and Families 1999) Änderungen aufgrund von empirischen Forschungsergebnissen und Befunden zu psychometrischen Eigenschaften, Validität und klinischer Brauchbarkeit des Klassifikationssystems. Die Achse I heißt jetzt wie im DSM »Klinische Störung« und nicht mehr »Primäre Diagnose«, da durch die neue Bezeichnung eher Komorbiditäten gleich wichtiger Störungen diagnostiziert werden können. Die Angststörungen wurden in Typen und Subtypen unterteilt. Um das Risiko fälschlicher Diagnosevergabe an gesunde Kinder zu minimieren, wurden spezifische Kriterien für Symptome hinzugefügt und Angstkriterien genannt, die erfüllt sein müssen, bevor Subtypen in Erwägung gezogen werden sollten. Obwohl die Regulationsstörung die häufigste von Nutzern des Zero To Three vergebene Diagnose ist, gibt es kaum Daten, die die Betrachtung sensorischer und motorischer Dysregulationssyndrome als distinkte und valide Störungen unterstützen (Egger u. Emde 2011). Psychometrische Daten zum PIR-GAS sind weder in der originalen noch in der revidierten Version des DC:0–3-Manuals aufgeführt. Aufgrund eines Mangels an empirischer Unterstützung für die im Original spezifizierten Beziehungsstörungen wurde die Achse »Klassifikation der Beziehungsstörungen« in »Beziehungsklassifikation« umbenannt. Die Symptome werden in einer Beziehungsproblem-Checkliste aufgeführt, um die Art der Dysfunktionalität der Beziehung beschreiben zu können. In der Revision des Zero To Three bemühten sich die Autoren stärker um die Herstellung von Parallelen zu den Diagnosesystemen DSM und ICD. Die Notwendigkeit eines solchen Wegs ergibt sich aus der Bedingung von ICD-10-Diagnosen für die medizinischen Versorgungsansprüche und ist damit eher administrativ als klinisch motiviert. Dadurch erweckt die neue Fassung den Eindruck, die empirische Unterstützung sowohl für spezifische Zero-To-Three-Störungen als auch für deren Beziehungen zu den DSM/ICD-Kriterien sei sehr viel stärker, als sie tatsächlich ist (Egger u. Emde 2011).
153
11.2 • Diagnosesysteme
Da die Symptome individuell unterschiedlich auf verschiedene Situationen generalisieren, ist die Erfassung des Kontextes von Symptomen bedeutend. Die Erfassung muss die Qualität der Beziehungen mit den Bezugspersonen (Achse II) beinhalten, die Umgebung und deren Stressoren (Achse IV), die Qualität und den Kontext der kindlichen Möglichkeiten für soziales und emotionales Lernen (Achse V). Eine umfassende Diagnostik wird mehrere Sitzungen, verschiedene Informationen, multidisziplinäre und multikulturelle Perspektiven und verschiedene Arten der Erfassung beinhalten. Bisher fehlen im Zero To Three bei vielen Diagnosen spezifische Kriterien wie die Anzahl oder die Intensität der Symptome, die für die Diagnosevergabe vorhanden sein müssen (von Gontard 2010, S. 105), was weitere empirische Forschung notwendig macht. Kritisiert wurde weiterhin, dass »Regulationsstörungen der sensorischen Reizverarbeitung« ätiologisch im Kind angesiedelt sind und die Qualität des Beziehungskontexts als Risikofaktor, jedoch nicht als integraler Bestandteil der Störung betrachtet wird.
Symptomskalen und Diagnosen in dieser Altersgruppe reliabel erfasst werden können. Weitere Argumente sind, dass die Gesamtrate beeinträchtigender psychiatrischer Störungen mit ca. 10 % der Rate bei älteren Kindern und Erwachsenen sehr ähnlich ist und dass Störungen in der frühen Kindheit so beeinträchtigend, andauernd und mit bekannten Risikofaktoren (Armut, psychiatrische Vorgeschichte der Familie) assoziiert sind wie Störungen bei Kindern anderer Altersstufen (zusammenfassend in Egger u. Emde 2011). Von Gontard (2010) erläutert die diagnostischen Schritte, die in den amerikanischen Leitlinien zur Diagnostik psychischer Störungen von Säuglingen und Kleinkindern (AACAP 1997) empfohlen werden. Erfragt und beobachtet werden die Art, der Schweregrad und die Entwicklungsfolgen der kindlichen Verhaltensprobleme, die Funktionseinschränkungen und das subjektive Leiden. Eine auf das Individuum fokussierte Diagnostik bleibt aber wenig therapierelevant, weil in diesem Lebensalter der Kinder therapeutische Ansätze nur unter Einbeziehung der Bezugspersonen möglich sind.
11.2.4 11.2.3
Leitlinien der American Association for Child and Adolescent Psychiatry
In den USA hat die American Association for Child and Adolescent Psychiatry (AACAP) eine Arbeitsgruppe mit der Formulierung von Forschungskriterien für die psychiatrische Diagnostik der frühen Kindheit beauftragt (Task force 2002, 2003). Diese Gruppe arbeitet an der Adaption der Kriterien von 17 Diagnosen des DSM-IV an die frühe Kindheit. Aufgrund der unbefriedigenden Datenlage für Säuglinge und Kleinkinder wurde der Fokus auf Kinder ab zwei bis drei Jahren gelegt. Dabei wird wie im DSM-IV phänomenologisch und nicht ätiologisch auf das Individuum bezogen vorgegangen, d. h., das Elternverhalten und die Beziehung zwischen Eltern und Kind werden nicht in die Diagnose einbezogen. Dieses Top-down-Vorgehen wird damit gerechtfertigt, dass epidemiologische Studien mit zwei- bis fünfjährigen Kindern aus der Allgemeinbevölkerung zeigten, dass DSM-typische
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Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
In Deutschland gibt es im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaft (AWMF) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie ebenfalls eine Arbeitsgruppe zur Erstellung von Leitlinien zur Diagnostik von Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter (Schmidt u. Poustka 2007; von Hofacker et al. 2007). Diese Leitlinien sind nach den Grundlagen der evidenzbasierten Medizin erarbeitet und geben Anleitung in den Bereichen Klassifikation, störungsspezifische Diagnostik, multiaxiale Bewertung und die daraus folgenden Interventionen. Somatische, Verhaltens- und Beziehungsaspekte sollen auf allen Ebenen der diagnostischen Prozesse berücksichtigt werden.
154
Kapitel 11 • Zur Diagnostik der Regulationsstörungen
> Einzelne Regulationsstörungen werden nicht als spezifische Störungen, sondern als unterschiedliche Manifestationsformen einer zugrunde liegenden generellen Problematik der kindlichen Verhaltensregulation im Kontext der Eltern-Kind-Beziehung verstanden.
Obwohl ein dimensionales und kein kategoriales Krankheitsverständnis zugrunde gelegt wird, ermöglichen die Leitlinien eine Klassifikation nach den im Kasten aufgeführten Leitsymptomen. Klassifikationsdimensionen und -kategorien der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (nach von Hofacker et al. 2007)
11
5 I Regulationsstörungen 1. Exzessives Schreien im ersten Lebenshalbjahr: Definition der Schrei- und Unruhephasen als exzessiv erfolgt in erster Linie anhand der elterlichen Belastungsempfindung und anhand des fehlenden Ansprechens auf Beruhigungshilfen. Die Schweregradeinteilung erfolgt anhand des Erfüllens oder Nichterfüllens der »Dreierregel« (Wessel et al. 1954): durchschnittliche Schrei-/Unruhedauer von mehr als drei Stunden pro Tag an durchschnittlich mindestens drei Tagen der Woche über mindestens drei Wochen. 2. Schlafstörungen: Neben der subjektiven elterlichen Wahrnehmung der Schlafstörung als Problem gibt es folgende objektive Kriterien: Einschlafstörung: Einschlafen nur mit Einschlafhilfe der Eltern über den sechsten Lebensmonat hinaus, Einschlafdauer im Durchschnitt mehr als 30 Minuten. Durchschlafstörung: Durchschnittlich mehr als dreimaliges nächtliches Aufwachen mindestens viermal pro Woche, verbunden mit der Unfähigkeit, ohne elterliche Hilfen allein wieder einzuschlafen, und/ oder nächtliche Aufwachperioden von
durchschnittlich mehr als 20 Minuten Länge. 3. Fütterstörung mit/ohne Gedeihstörung: Die Fütterinteraktion wird von den Eltern über einen längeren Zeitraum (> 1 Monat) als problematisch empfunden. Jenseits der ersten drei Lebensmonate sind die Kriterien: durchschnittliche Dauer einzelner Fütterungen > 45 Minuten und/oder Intervall zwischen den Mahlzeiten Der Schweregrad einer Regulationsstörung bemisst sich nach ihrer Dauer (Persistenz), der Anzahl dysregulierter Interaktionsbereiche (Pervasivität), der Beeinträchtigung von Kind und Eltern in der Bewältigung der kindlichen Entwicklungsaufgaben und nach dem Ausmaß der Belastung der Eltern-Kind-Beziehung.
11.3
Verhaltenstagebücher
Es gibt viele verschiedene Arten von Verhaltenstagebüchern zur Erfassung der verschiedenen Zustände des Säuglings und Kleinkindes. In 7 Kap. 14 ist das Beispiel eines Schrei-/Schlaf-/Füttertagebuches zur Veranschaulichung der Diagnostik von Schlafstörungen abgebildet. Ein solches Tagebuch zum Ausdrucken und Ausfüllen ist auch Bestandteil der CD-basierten Fortbildung Regulationsstörungen der frühen Kindheit (Papoušek 2004a), die bei der Stiftung Kindergesundheit bestellt werden kann. Das Tagebuch ist in Tabellenform angelegt: Die Zeilen geben das kindliche Verhalten an, die Spalten teilen den Tag in 24 Stunden und diese in 15-Minuten-Intervalle ein. Still- bzw. Fütterdauer, Unruhe- bzw. Quengeldauer, Schrei- sowie Schlafdauer werden von den Eltern über mehrere Tage hinweg durch Markieren der entsprechenden 15-Minuten-Intervalle festgehalten. Im Anschluss an die Tabelle sind noch einige Fragen zu beantworten, beispielsweise, wie lange das Kind abends zum Einschlafen benötigt hat und wie oft es in der Nacht aufgewacht ist. Verhaltenstagebücher werden auch in der Forschung zum Schreien eingesetzt (Brazelton 1962; Bernal 1972; St. James-Roberts u. Wolke 1988; Barr 1990; Forsyth 1989; Barr et al. 1991). Barr et al. (1989) fanden eine zufriedenstellende Korrelation (r = 0.45–0.67) zwischen Tagebuch und Tonbandaufnahme für das Schreien und eine hohe Korrelation (r = 0.82) für das Quengeln der Kinder. Zwischen den Tagebuchaufzeichnungen und den Protokollen eines unabhängigen Beobachters fanden Barr u. Elias (1988) moderate bis hohe Korrelationen (r = 0.40–0.74). Nach einer Untersuchung von Mullington et al. (1987) sind Tagebuchaufzeichnungen über sieben Tage eine valide Methode für die Erfassung des Schlafver-
155
11
haltens, und laut einer Studie von St. James-Roberts et al. (1993) sind sie valide für das kindliche Schreien sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch in klinischen Stichproben. Eine Schwierigkeit von Verhaltenstagebüchern ist der Ausfüllaufwand über mehrere Tage hinweg, der dazu führt, dass vor allem Eltern mit niedrigem sozioökonomischem Status die Tagebücher häufig nicht oder nur ungenau ausfüllen (Barr u. Elias 1988). Zur Auswertung von über fünf Tage ausgefüllten Tagebüchern im Hinblick auf Ein- und Durchschlafprobleme wurde von Richman (1985) und Minde et al. (1993) ein Schlafscore gebildet. Dieser setzt sich zusammen aus Bewertungen der Dauer des Zubettbringens, der im Elternbett verbrachten Zeit, der elterlichen Interventionen, der Einschlafdauer sowie der Anzahl und Dauer der nächtlichen Aufwachepisoden.
11.4
Fragebögen und Interviews zur Erhebung von Verhaltensauffälligkeiten und Regulationsstörungen
Im Rahmen des multimodalen Vorgehens sind Elternfragebögen ein weiterer Weg zur Erfassung der frühkindlichen Regulationsfähigkeit bzw. Screeninginstrumente zur Diagnostik einer Störung dieser Fähigkeit. Durch Fragebogenverfahren ermittelte Elternurteile enthalten neben objektiven Komponenten (Übereinstimmungen mit beobachtetem Kindverhalten) auch subjektive Komponenten. Trotz der subjektiven Verzerrung werden Fragebögen sowohl in der Forschung als auch zur Ergänzung des klinischen Eindrucks in der klinischen Praxis eingesetzt, da Eltern über sehr reichhaltige Informationen bezüglich des Verhaltens ihres Säuglings verfügen und die Nutzung dieser Informationsquelle auch für die Auswahl von für dieses Familiensystem geeigneten Interventionen vielversprechend ist (Rothbart u. Mauro 1990; Sameroff et al. 1982).
11
156
Kapitel 11 • Zur Diagnostik der Regulationsstörungen
11.4.1
Englischsprachige Fragebögen und Interviews
Der ITSEA (Kurzform: BITSEA) – (Brief) Infant Toddler Social and Emotional Assessment (BriggsGowan u. Carter 2007) – ist ein Fragebogen zur Einschätzung eines umfassenden Spektrums von Verhaltensauffälligkeiten bei gleichzeitiger Erfassung kindlicher Kompetenzen für Kinder im Alter von 12 bis 36 Monaten. Speziell für die Erfassung von exzessivem Schreien gibt es den Crying Patterns Questionnaire von St. James-Roberts (1991) und für die Erfassung des Schlafverhaltens von Einbis Sechsjährigen den Sleep Habits Questionnaire von Seifer et al. (1996). Als strukturiertes psychiatrisches Interview wird das Preschool Age Psychiatric Assessment (PAPA; Egger u. Angold 2004; Egger et al. 2006) eher in der Forschung als im klinischen Alltag eingesetzt. Es ist gut geeignet für die Diagnostik von Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten und auch für die meisten anderen DSM-IV-basierten Störungen von Zwei- bis Vierjährigen hoch reliabel (von Gontard 2010). Bei seiner Entwicklung wurden die DSM-IV- und ICD-10-Kriterien altersgemäß verändert oder weggelassen, und Zero-To-Three-Diagnosen wurden zusätzlich aufgenommen.
ger Kinder (N = 751). Fegert fand keine signifikanten Unterschiede zwischen den Niederlanden, den USA und Kanada und der untersuchten deutschen Stichprobe und schlussfolgerte, dass Achenbachs Normen für die internationale Forschung verwendet werden können. Zur Messung des Temperamentsaspektes im Bedingungsgefüge frühkindlicher Regulationsstörungen wird häufig der Fragebogen zur Messung frühkindlicher Temperamentsmerkmale im Elternurteil (Pauli-Pott et al. 2003), die Übersetzung des englischen Infant Behavior Questionnaire IBQ (Rothbart 1981), eingesetzt. Der Elternteil, der mehr Zeit mit dem Kind verbringt (meist die Mutter), beantwortet Fragen zu den Temperamentsbereichen positive Emotionalität, Furcht- und Rückzugstendenz, Ärgertendenz, Irritierbarkeit, motorische Aktivität und Beruhigbarkeit. Validiert wurde der Fragebogen anhand unabhängiger Stichproben mit sechs bis acht Monate und zehn bis zwölf Monate alten Säuglingen (n = 149 resp. n = 109) und deren Bezugspersonen. Die fünf Skalen des Fragebogens in den beiden Altersgruppen sind zufriedenstellend intern konsistent und unabhängig voneinander. Die Stabilitätskoeffizienten entsprechen denen der amerikanischen Version des Verfahrens.
11.4.3 11.4.2
Ein eigener Fragebogen zum Schreien, Füttern und Schlafen
Deutschsprachige Fragebögen
Bei der Child Behavior Checklist CBCL 1,5–5 (Achenbach u. Rescorla 2000b) handelt es sich um einen Fragebogen für anderthalb bis fünf Jahre alte Kinder, der mithilfe von 99 Items (Achenbach u. Rescorla 2000a) emotionale Schwierigkeiten sowie internalisierende und externalisierende Verhaltensprobleme misst. Anhand eines Cut-off-Wertes für den Gesamtproblemscore kann ein Screening für die klinische Auffälligkeit eines Kindes durchgeführt werden. Für die deutschsprachige Version des Vorgängerfragebogens CBCL 2–3 (Achenbach et al. 1987) für zwei- bis dreijährige Kinder wurde die Faktorenstruktur der faktorenanalytisch entwickelten Syndromskalen für Verhaltensdimensionen überprüft (Fegert 1996). Es handelte sich um eine normative deutsche Stichprobe zweieinhalbjähri-
Der »Fragebogen zum Schreien, Füttern und Schlafen« (SFS; Groß et al. 2007) wurde auf der Grundlage der englischsprachigen Fragebögen zum Schreien von St. James-Roberts (1991) und zum Schlafen von Seifer et al. (1996) sowie des Ersterhebungsbogens bei Therapien von Fütterstörungen oder Sondenentwöhnung von Wilken u. Jotzo (2004) konstruiert. Der SFS bezieht sich auf eine »typische« Woche im Familienalltag mit dem Kind und kann im ersten Lebensjahr eingesetzt werden. Er umfasst insgesamt 53 Items: drei zur Erfassung der »Dreierregel« (Wessel et al. 1954), 24 zum Schreien, Quengeln und Schlafen; 13 zum Füttern; 12 Items, die die Koregulation erfragen, d. h. Beruhigungsstrategien der Eltern, wenn ihr Kind schreit, wenn es einschlafen soll und beim nächtlichen Erwachen des Kindes, sowie die Frage, ob das Kind schon
Literatur
einmal klinisch vorstellig wurde. Es werden Fragen zu der Trias (von Hofacker et al. 2007; Papoušek 2004b) aus (1) Problemen der frühkindlichen Verhaltensregulation (z. B. Schreidauer, Einschlafdauer), (2) dysfunktionalen Kommunikationsmustern in den für das Verhaltensproblem relevanten Kontexten (Beruhigungsstrategien, Zubettbringrituale) und (3) einem Überlastungssyndrom seitens der primären Bezugspersonen (Interpretationen und Erklärungsansätze für das Problem der Eltern, eigene Belastung) gestellt. Die Entwicklung der drei Skalen erfolgte faktorenanalytisch, und es kann ein Gesamtscore zur generellen Einschätzung der Regulationsfähigkeit gebildet werden. Fazit In Deutschland hat sich der Einsatz standardisierter diagnostischer Instrumente für den Bereich der Regulationsstörungen bisher wenig etabliert. Auch die Leitlinien und Klassifikationssysteme befinden sich in ständiger Weiterentwicklung in Auseinandersetzung mit den englischsprachigen Pendants. Zukünftige Entwicklungen sollten nicht nur individuumzentriert (Kind bzw. Bezugsperson), sondern auch interaktionszentriert (Eltern-Kind-Beziehung) sein.
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11
Kapitel 11 • Zur Diagnostik der Regulationsstörungen
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159
Von der normalen Entwicklungskrise zur Regulationsstörung Marisa Benz und Kerstin Scholtes
12.1
Wie verläuft Entwicklung? – 160
12.2
Entwicklungsaufgaben der ersten beiden Lebensjahre – 160
12.3
Anforderungen an die Eltern – 161
12.3.1 12.3.2
Intuitive elterliche Kompetenzen – 162 Modell der Passung – 163
12.4
Normale Entwicklungskrisen – 164
12.5
Das Konzept der frühkindlichen Regulationsstörungen – 167
12.5.1 12.5.2
Symptomtrias bei frühkindlichen Regulationsstörungen – 167 Gemischte Regulationsstörungen – 168
Literatur – 169
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
12
160
Kapitel 12 • Von der normalen Entwicklungskrise zur Regulationsstörung
Entsprechend seinen inneren und äußeren Entwicklungs- und Reifungsprozessen wird der Mensch im Laufe seines Lebens mit immer neuen Aufgaben und Anforderungen konfrontiert. Die Bewältigung dieser Aufgaben führt zu Veränderungen und trägt damit zu einer Stabilisierung der Persönlichkeit bei. Sowohl das Ergebnis als auch der Weg dorthin können von Person zu Person sehr individuell ausfallen. Die dadurch phasenweise ansteigenden äußeren und inneren Anforderungen an das Individuum, einhergehend mit einer Destabilisierung der bis dahin erreichten Position und verstärkter Unsicherheit, erfüllen die Kriterien eines krisenhaften Zustandes. Diese sich im Laufe des Lebens wiederholenden Krisen sind Teil des normalen Entwicklungsprozesses.
12.1
12
Wie verläuft Entwicklung?
Die persönliche Entwicklung und Reifung des Menschen erstreckt sich über seine gesamte Lebensspanne. Somit stellen sich über das gesamte Leben hinweg Entwicklungsaufgaben, seien es die vielfältigen körperlichen und emotionalen Veränderungen in der Pubertät, der Übergang zur Elternschaft oder der Übergang in die Rente (Erikson 1973; Havighurst 1948). In den ersten Lebensjahren jedoch entwickelt sich der Mensch so schnell wie zu keinem anderen Zeitpunkt. Kinder durchlaufen während ihrer ersten vier Lebensjahre in etwa die Hälfte ihrer gesamten Entwicklung (Largo 2010). Entsprechend sind Menschen in ihrer frühesten Kindheit mit einer besonderen Vielzahl an Entwicklungsaufgaben konfrontiert, die es in einem relativ kurzen Zeitraum zu lösen gilt. Auf der einen Seite verläuft Entwicklung in aller Regel sehr gleichförmig, und die einzelnen Entwicklungsphasen treten im Wesentlichen bei allen Kindern in derselben Reihenfolge auf (Largo 2010). So steht beispielsweise ganz am Anfang der Greifentwicklung zunächst bei allen Kindern der angeborene Greifreflex, der sich im Laufe der Entwicklung des willentlichen Greifens zunehmend und schließlich ganz verliert. Bevor ein Säugling willentlich einen Gegenstand in seiner Umgebung ergreifen kann, muss er zunächst die Hand-Augen-
Koordination kennenlernen und einüben. Kann er Dinge erst einmal selbst ergreifen, folgt darauf die zunehmende Verfeinerung dieser Fähigkeit, bis das Kind schließlich so geschickt mit Händen und Fingern geworden ist, dass es mit der Spitze von Daumen und Zeigefinger selbst kleinste Gegenstände erfassen kann (Pinzettengriff ). Erst danach erlernt ein Kind die Fähigkeit, Dinge gezielt auch wieder loszulassen (7 Kap. 2). Andererseits jedoch zeichnet sich die kindliche Entwicklung durch eine bemerkenswerte Vielfalt und ausgeprägte interindividuelle, aber auch intraindividuelle Unterschiede aus. Insbesondere im Hinblick auf den Zeitpunkt, an dem bestimmte Entwicklungsphasen stattfinden, und die Ausprägung, in der gewisse Verhaltensweisen auftreten, ist jedes Kind einzigartig (Largo 2010). So kann z. B. die motorische Entwicklung von Kind zu Kind ganz unterschiedlich vonstattengehen. Während einige Kinder schon mit zehn Monaten zu laufen beginnen, lassen sich andere damit bis zum Alter von 18 Monaten Zeit. Und während ein Kind den klassischen Entwicklungsverlauf von Drehen, Robben, Krabbeln, Aufsetzen und Aufstehen nimmt, überspringt ein anderes das Krabbeln vielleicht ganz oder rutscht stattdessen auf seinem Hosenboden umher, bevor es die ersten aufrechten Schritte macht. Ebenso können bei ein und demselben Kind Entwicklungsschritte in einem Bereich sehr früh, im anderen vergleichsweise spät auftreten. So ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Kind im Vergleich zu seinen Altersgenossen etwa in seiner motorischen Entwicklung schon sehr weit ist, während seine ersten Worte noch länger auf sich warten lassen (7 Kap. 2).
12.2
Entwicklungsaufgaben der ersten beiden Lebensjahre
Selbstregulation Selbstregulation beschreibt die Fähigkeit eines Kindes, das eigene Verhalten entsprechend den kognitiven, emotionalen und sozialen Anforderungen einer bestimmten Situation zu modulieren (Posner u. Rothbart 2000).
161
12.3 • Anforderungen an die Eltern
Die grundlegende Regulationsfähigkeit spielt in der frühkindlichen Entwicklung in allen Lernund Anpassungsprozessen eine zentrale Rolle (Papoušek 2004). Im ersten Trimenon handelt es sich dabei vor allem um physiologische Anpassungsprozesse. Der Säugling muss grundlegende körperliche Prozesse kennenlernen und sich an diese anpassen. Dazu gehören u. a. die Nahrungsaufnahme und Verdauung, die Temperaturregulation sowie die Regulation und Organisation von Verhaltenszuständen (aufmerksamer Wachzustand und ruhiges Schlafen sowie der Übergang zwischen beidem) (7 Kap. 2). Etwa ab dem dritten Lebensmonat folgt eine Phase der Stabilisierung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Diese und die gezielte Aufmerksamkeitsregulation stellen Anforderungen an das Kind. Auch in Bezug auf die Nahrungsaufnahme stehen, falls zugefüttert wird, neue Aufgaben an: der Umgang mit der neuen Art der Nahrungsaufnahme und neuen Lebensmittelkonsistenzen und das Kennenlernen neuer Geschmacksrichtungen. Vor allem ist diese Phase jedoch geprägt von der erwachenden sozialen Ansprechbarkeit. Das Kind nimmt selbstgesteuert Kontakt mit seiner Umwelt auf, vorzugsweise mit vertrauten Personen (soziales Lächeln und Lautieren), und macht in diesem Zusammenhang erste Erfahrungen von Selbstwirksamkeit (7 Kap. 2). Im zweiten Lebenshalbjahr folgt eine Entwicklungsphase mit für die Umwelt besonders sichtbaren Ergebnissen: Das Kind beginnt, sich selbstgesteuert fortzubewegen (Lokomotion). Damit zusammenhängend kommt es in die Lage, Bezugspersonen aktiv aufzusuchen und diese bei Abwesenheit zu vermissen. Der Beginn von Objektpermanenz und personenbezogener Bindung in dieser Phase dient als natürlicher Schutz davor, dass sich das Kind zu weit von seiner Bezugsperson entfernt und sich womöglich in Gefahr begibt. Die Kehrseite sind das neu entstehende Misstrauen gegenüber fremden Personen (Fremdeln oder Achtmonatsangst) und Trennungsangst. Die Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld zwischen Exploration und Nähebedürfnis und die Nähe-Distanz-Regulation sind die herausragenden Entwicklungsaufgaben in dieser Zeit (s. auch 7 Kap. 16).
12
Das große Entwicklungsthema im zweiten Lebensjahr heißt Autonomie. Mit dem freien Laufen erobert sich das Kind die Möglichkeit unbegrenzter eigener Fortbewegung, es erkennt sich jetzt selbst im Spiegel, möchte selber essen und überhaupt so viel wie möglich selber machen. Diese großen Schritte in Richtung Autonomie sind gepaart mit der Anforderung an das Kind, mehr Frustrationen auszuhalten und sich mit physikalischen und sozialen Grenzen auseinanderzusetzen. Folge ist oft verstärkte Unzufriedenheit und bei aller Selbstständigkeit auch ein erhöhtes Anlehnungsbedürfnis (7 Kap. 16, 17). Im Zuge dieser Entwicklung erleben sich Kinder zunehmend als eigenständige Wesen. Mit fortschreitender Mentalisierungsfähigkeit bildet sich dies auch auf der Ebene der innerpsychischen Repräsentanzen des Selbst und der anderen ab. Damit wird eine Theory of Mind möglich, welche wiederum die Grundlage der Fähigkeit zur Empathie darstellt.
12.3
Anforderungen an die Eltern
Säuglinge sind lange Zeit auf die Versorgung durch ihre Eltern oder andere Bezugspersonen angewiesen. Das gilt nicht nur für die körperliche Versorgung und Pflege, sondern auch für die Bewältigung der frühen Entwicklungsaufgaben, welche das Kind nur mit Unterstützung durch die Eltern zu meistern in der Lage ist (Papoušek 2004). Nach dem Familienmodell von Cierpka und Frevert ist dies die ureigene Aufgabe der Familie: die Sicherung der psychosozialen Entwicklung ihrer Mitglieder (Cierpka u. Frevert 1995; s. auch 7 Kap. 35). Die Anforderung an die Eltern besteht darin, möglichst passend auf die individuellen Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen, es in seiner Entwicklung zu unterstützen und festzustellen, wo die selbstregulativen Fähigkeiten des Kindes möglicherweise noch nicht ausreichen und durch eine Koregulation vonseiten der primären Bezugspersonen unterstützt werden müssen (Dornes 2001). Es ist insofern von der Natur klug eingerichtet, dass Eltern für den Umgang mit ihren Kindern mit intuitiven Kompetenzen ausgestattet sind (7 Kap. 5).
162
Kapitel 12 • Von der normalen Entwicklungskrise zur Regulationsstörung
12.3.1
Intuitive elterliche Kompetenzen
Intuitive Kompetenzen Die angeborene, universell gültige Verhaltensbereitschaft von Menschen, Bedürfnislagen eines Säuglings zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren, bezeichnet man als intuitive elterliche Kompetenzen. Beispiele für solche intuitiven Kompetenzen sind die Verwendung der Ammensprache, das Beantworten eines Blickkontakts mit der sogenannten Grußreaktion (überstarker mimischer Ausdruck) und das Herstellen eines optimalen Blickabstandes zwischen Säugling und Erwachsenem von ca. 25 cm.
12
Intuitive Kompetenzen versetzen Eltern in die Lage, den individuellen Eigenheiten ihres Kindes gerecht zu werden (Papoušek u. Papoušek 1987). Dies zeigt sich in alltäglichen Interaktionen, in denen Eltern, durch Signale ihres Kindes geleitet, ihr Baby beispielsweise beruhigen, wenn es noch nicht in der Lage ist, sich selbst zu beruhigen, oder dessen Bedürfnisse nach Nähe und Rückversicherung feinfühlig erkennen und beantworten. Auf diese Weise kompensieren Eltern, was das Kind noch nicht alleine schafft. Das Kind lernt, dass es sich auf die Unterstützung seiner Eltern verlassen kann und was mögliche Antworten auf innere Zustände sein können (Papoušek 1994, s. auch 7 Kap. 5). Beispiel Der zwölf Wochen alte Jonas und seine Mutter sind nach Jonas’ Stillmahlzeit in eine innige Unterhaltung vertieft. Die Mutter spricht mit weit geöffneten Augen und melodischer Stimme zu Jonas. Dieser beobachtet gespannt ihre Mimik, bewegt Arme und Beine und lautiert freudig. Die Mutter imitiert Jonas’ Laute. Hin und wieder dreht Jonas seinen Kopf zur Seite, und die Mutter wartet ab, bis er sich kurz erholt hat und erneut Blickkontakt zu ihr aufnimmt. Nach einiger Zeit schweift Jonas’ Blick immer häufiger ab, die Mutter bemerkt, dass es ihn jetzt anstrengt, den Blickkontakt zu ihr zu halten. Jonas beginnt sich unruhig hin und her zu bewegen und gähnt. Jonas’ Mutter erkennt seine
Müdigkeitssignale. Sie nimmt Jonas mit seinem Kopf zu ihrem Körper auf den Arm, summt leise ein Schlaflied und schaukelt ihn sanft, während sie den Raum abdunkelt. Als sie Jonas in sein Kinderbettchen legt, sind seine Augen schon fast geschlossen. Kurz darauf ist er eingeschlafen.
Durch das Erkennen der kindlichen Signale (im Beispiel: Müdigkeitszeichen) und ein passend erfolgendes Angebot (in unserem Beispiel ein Schlafangebot) kann das Kind sein zunächst diffuses Unwohlsein durch die erfolgte mütterliche »Markierung« im Laufe der Zeit zunehmend zuordnen (hier: als Müdigkeit erkennen). Bei der Mutter führen die positiven Reaktionen des Kindes auf die angebotene Unterstützung zu Kompetenzerleben und stärken das elterliche Selbstvertrauen (»Ich kenne mein Kind, ich weiß, was es braucht, und damit weiß ich auch, was zu tun ist«). So entstehen Interaktionen positiver Gegenseitigkeit zwischen Eltern und Kind (»Engelskreise« nach M. Papoušek 2004), die beide Seiten in die Lage versetzen, auch die nächste Interaktionssequenz miteinander zu meistern. Für Eltern und Kinder, die miteinander regelmäßig stabile und gelingende Kommunikationssequenzen erleben, kann auf diese Weise eine Konstellation entstehen, in der Eltern die sichere Basis und den schützenden Rahmen dafür anbieten, dass das Kind seine selbstregulativen Fähigkeiten entdecken und erproben kann. Die Erfahrung, passende Unterstützungsangebote für das Kind zur Verfügung zu haben, ermöglicht es den Eltern, im weiteren Entwicklungsverlauf ein zunehmendes Vertrauen in die wachsenden Fähigkeiten des Kindes zu entwickeln. Sie können differenzieren, ob ihr Kind Regulationshilfen benötigt oder nicht, und wenn ja, wie viele, und welche Situationen es möglicherweise schon alleine bewältigen kann. Kinder wiederum, die feinfühlig in der Regulation von Verhaltenszuständen unterstützt werden, können das Erfahrene zunehmend selbstständig umsetzen und Situationen selbstwirksam meistern. Die Eltern erhalten dadurch das Signal, dass sie ihre Hilfen mehr und mehr zurücknehmen können.
12.3 • Anforderungen an die Eltern
12.3.2
Modell der Passung
Stimmen die kindlichen Bedürfnisse mit den Anforderungen und Unterstützungsangeboten der Umwelt überein (wie im vorherigen Abschnitt beschrieben), kann auch von einer Passung oder einem »Fit« zwischen beidem gesprochen werden. Geprägt wurde der Begriff »goodness of fit« durch die Forschungsarbeiten von Chess u. Thomas (1984) (7 Kap. 3). > Chess u. Thomas (1984) zufolge entwickeln sich Kinder dann am besten, wenn eine möglichst große Übereinstimmung zwischen den kindlichen Motivations- und Temperamentseigenschaften einerseits und den Erwartungen, Anforderungen und Möglichkeiten der Umwelt andererseits besteht. Eine gute Passung zwischen beidem führt zu Zufriedenheit bei Eltern und Kind. Eine weniger gute Passung hingegen kann zu beiderseitigen Irritationen führen.
So wird ein Säugling mit einem besonderen Bedürfnis nach Ruhe bei Eltern, die selbst von Natur aus eher ruhig sind, vermutlich keine Passungsschwierigkeiten haben, während ein solches Kind mit unternehmungslustigen, lebhaften Eltern sein Bedürfnis vermutlich stärker einfordern muss. In letzterem Fall sind die Eltern in besonderem Maße gefordert, das Ruhebedürfnis ihres Babys wahrzunehmen und ihm im turbulenten Familienalltag ausreichend Pausen zu ermöglichen. Eine optimale Passung ist dabei niemals langfristig gegeben. Die kindliche Entwicklung schreitet stets voran, und damit sind Eltern laufend gefordert, sich neu auf ihr Kind einzustellen. Das Auftreten von vorübergehenden Phasen eines weniger guten Fits im Zuge von Neuanpassungsprozessen liegt daher in der Natur der Sache. Es kann sogar positiv verstanden werden – als Zeichen, dass ein neuer Entwicklungsschritt ansteht oder gelungen ist, der im Sinne einer Krise vermehrt Anforderungen stellt. Die Prozesse von Bedürfniserkenntnis und Anpassung können in einer Entwicklungsphase sehr erfolgreich funktionieren, in einer anderen möglicherweise mit Schwierigkeiten verbunden sein,
163
12
was sich in vermehrten Unzufriedenheitsäußerungen des Kindes, erhöhter Belastung der Eltern oder Schwierigkeiten in der Interaktion äußern kann. Solche phasenweisen Schwierigkeiten beruhen nicht selten auf Missverständnissen in der Kommunikation. Ebenso wie die Entwicklung von Kindern sehr unterschiedlich vonstattengeht, sind Kinder auch in ihren Temperamentsmerkmalen (7 Kap. 3) und damit zusammenhängend in ihren Bedürfnissen sehr verschieden. Eltern wiederum bringen in die Interaktionen mit ihrem Kind neben eigenen Temperaments- und Persönlichkeitseigenschaften auch Vorstellungen von dem mit ein, was sie in der kindlichen Entwicklung als normal erwarten. Diese Erwartungen können auf ihren eigenen (biografischen) Erfahrungen, aber auch auf Ratschlägen und Berichten ihres Umfeldes beruhen. So haben Eltern z. B. in der Regel eine bestimmte Vorstellung vom Schlafbedürfnis eines Säuglings. Diese Vorstellung wird u. a. abhängig sein vom eigenen Schlafbedürfnis, von Erfahrungen mit älteren Geschwistern ihres Kindes, aber auch von Erzählungen ihrer Verwandten und Freunde oder den Inhalten von Ratgebern. Tatsächlich variiert das individuelle Schlafbedürfnis von Säuglingen beträchtlich (zwischen 10 und 20 Stunden; vgl. Iglowstein et al. 2003). Es ist also durchaus möglich, dass die Vorstellungen und Erwartungen der Eltern nicht mit dem tatsächlichen Schlafbedarf ihres Kindes übereinstimmen, sondern dieses entweder über- oder unterschätzen. Insbesondere im Fall einer Unterschätzung des Schlafbedarfs kann es zu vermehrtem Quengeln und Schreien des infolge von Schlafmangel überreizten Kindes kommen (7 Kap. 13). Länger anhaltende Missverständnisse entstehen insbesondere dann, wenn Eltern die Signale ihres Kindes gar nicht oder verzerrt wahrnehmen. Insbesondere bei eigenen Belastungen oder fehlender Feinfühligkeit ist es möglich, dass Eltern die Signale ihres Kindes nicht erkennen können oder ihrer Intuition aufgrund großer Unsicherheit wenig Vertrauen schenken. Möglicherweise erkennen die Eltern Signale ihres Kindes, missverstehen sie jedoch: So werden beispielsweise Müdigkeitszeichen von Eltern nicht selten als Langeweile interpretiert und entsprechend beantwortet. Insbesondere sehr reizoffene Kinder lassen sich bis zu einem gewissen
164
Kapitel 12 • Von der normalen Entwicklungskrise zur Regulationsstörung
Grad immer wieder kurzzeitig durch neue Reize von ihrer Müdigkeit ablenken. Diese kurzzeitig erzielte Pseudostabilität verstärkt den Eindruck der Eltern, ihrem Kind sei langweilig, sodass sie in der Folge dazu tendieren, immer schneller ein neues Angebot zu machen, was letztlich die Überreizung des Kindes verstärkt. Eine mangelnde Passung zwischen den Erwartungen, Einstellungen und Lebensumständen der Eltern auf der einen und den individuellen Bedürfnissen des Kindes auf der anderen Seite kann zu vorübergehenden Schwierigkeiten in der ElternKind-Kommunikation führen, die es im weiteren Verlauf gemeinsam zu meistern gilt.
12.4
Normale Entwicklungskrisen
Fallbeispiel
12
Die Eltern der 17 Monate alten Emma erkennen ihre Tochter kaum wieder. Bislang sei Emma ein fröhliches und ausgeglichenes Mädchen gewesen, seit einigen Wochen jedoch sei sie ständig unzufrieden, quengele viel und habe z. T. »regelrechte Tobsuchtsanfälle«, berichten sie in der Beratung. Emma gerate wegen Kleinigkeiten völlig außer sich, werfe sich dann auf den Boden, schreie und strample und sei durch nichts zu beruhigen. Die Eltern erläutern, dass es in Emmas Leben in den vergangenen Wochen einige Veränderungen gegeben habe: Emma sei nun unter der Woche vormittags bei einer Tagesmutter. Die Eingewöhnung sei zur Überraschung der Eltern völlig problemlos verlaufen. Erleichtert berichtet die Mutter: »Emma hat nur die ersten paar Tage einige Minuten lang geweint, wenn ich mich verabschiedet habe. Schon nach einer Woche hat sie sich fröhlich winkend von mir verabschiedet. Ich glaube, Emma fühlt sich richtig wohl bei der Tagesmutter, und die erzählt, dass sie überhaupt keine Probleme mit ihr hat. Das Theater geht erst dann los, wenn ich sie mittags abhole.« Die Mutter berichtet, dass sie sich eigentlich immer sehr darauf freue, Emma um zwölf Uhr bei der Tagesmutter abzuholen und den Nachmittag mit ihrer Tochter zu verbringen. Oftmals sei Emma dann jedoch so quengelig, dass an gemeinsames Spielen gar nicht zu denken sei. Die Mutter schildert ihren Eindruck, dass es Emma nach dem aufregenden Morgen mit
den anderen drei Kindern bei der Tagesmutter zu Hause langweilig sei. Sie versuche Emma zu unterhalten und ihr unterschiedliche Spielangebote zu machen, aber nichts sei ihr dann recht. Aufgrund der Betreuung durch die Tagesmutter habe sich auch Emmas Tagesstruktur verändert. Bisher habe Emma gegen 13 Uhr einen anderthalbstündigen Mittagsschlaf gehalten. Obwohl sie diesen nach Einschätzung der Eltern weiterhin dringend benötige, verweigere sie ihn z. T. vehement. »Wenn sie mittags nicht schläft, ist sie am Spätnachmittag so k.o., dass man ihr gar nichts mehr recht machen kann. Sie stolpert dann vor Müdigkeit über ihre eigenen Füße, nichts gelingt ihr mehr, und sie ist noch viel frustrierter.« Auch das Essen gebe derzeit Anlass für Auseinandersetzungen. Emma habe entdeckt, dass ihr Kekse und Käsestückchen besonders lecker schmecken, und verlange nun immer wieder zwischen den Mahlzeiten danach. Die Mutter möchte Emma diese Snacks eigentlich nicht gewähren, weil sie deutliche Auswirkungen auf die Mahlzeiten bemerke. Beide Eltern seien darauf eingestellt gewesen, dass es in Emmas Entwicklung notwendig werden würde, klare und eindeutige Grenzen zu setzen, seien allerdings nicht darauf vorbereitet gewesen, wie schwierig es werden würde, konsequent zu bleiben. Emma habe in dieser Hinsicht eindeutig das größere Durchhaltevermögen, und aufgrund der ohnehin schon häufigen Auseinandersetzungen fällt es insbesondere der Mutter zurzeit oft schwer, hart zu bleiben. »Manchmal ist es das kleinere Übel nachzugeben. Jetzt, wo Emma morgens bei der Tagesmutter ist, haben wir viel weniger voneinander. Ich habe keine Lust, den ganzen Nachmittag im Kampf mit ihr zu verbringen.«
Der Begriff »Krise« stammt ursprünglich aus dem Griechischen und bezeichnet dem Wortsinn nach eine »(Ent-)Scheidung« oder »entscheidende Wendung«. Nach Caplan (1961) zeichnet sich eine Krise dadurch aus, dass der Betroffene ein bestimmtes Lebensziel (für einen begrenzten Zeitraum) nicht zu erreichen vermag und die Hindernisse, die der Zielerreichung im Wege stehen, mit seinen derzeitigen Lösungsmöglichkeiten nicht überwinden kann.
165
12.4 • Normale Entwicklungskrisen
> Zu den Herausforderungen, die sich in der normalen kindlichen Entwicklung stellen, gehören krisenhafte Zuspitzungen ganz selbstverständlich dazu. Ihre gemeinsame Bewältigung ist Alltag aller Eltern und Kinder (Largo u. Benz-Castellano 2004).
Entwicklungsverläufe wurden in der Vergangenheit verschiedentlich im Rahmen von Entwicklungskrisen (Erikson 1973) oder Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1948) beschrieben. Die beiden genannten Autoren beziehen sich dabei auf im Lebenslauf strukturiert angelegte, mehr oder weniger altersnormierte Probleme, mit denen ein Großteil der Menschen in einer spezifischen Periode des Lebens konfrontiert wird. Erikson selbst bezeichnet die von ihm beschriebenen Entwicklungskrisen daher auch als normative Krisen. Sie gliedern den Lebenslauf jedes Einzelnen und sind somit mehr oder weniger vorhersehbar. Normative Krisen oder Entwicklungsaufgaben stellen eine Mischung aus biologischen Veränderungen (Pubertät, Menopause), sozialen Anforderungen (Ehe, Übergang zur Elternschaft; s. dazu auch 7 Kap. 8) und normativen Verpflichtungen (lernen, der Schulpflicht nachkommen) dar. Unterschieden werden sie von kritischen Lebensereignissen (Filipp u. Aymanns 2010) wie beispielsweise der Scheidung der Eltern, dem Tod einer nahestehenden Person oder Ähnlichem. Bei diesen Ereignissen handelt es sich um nicht normative Einschnitte im Lebensverlauf, von denen Menschen irgendwann im Laufe ihres Lebens betroffen sein können oder auch nicht. Auch kollektive Krisen wie Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen oder Kriege, die alle Menschen in der entsprechenden Zeitspanne erleben, gehören zu den kritischen Lebensereignissen. Stadienmodelle der Entwicklung wie die von Havighurst und Erikson gehen davon aus, dass der jeweilige Übergang von einer in die nächste Phase durch Probleme und Konflikte gekennzeichnet ist. Das Stufenmodell der Entwicklung nach Erikson (1973) unterteilt den Lebensverlauf des Individuums in acht Phasen, die er anhand von acht Krisen definiert. Laut Erikson kann Entwicklung nur dann stattfinden, wenn die jeweils anstehende Krise überwunden wird, was zugleich die notwendige Voraussetzung für das Bestehen der folgenden Krisen ist. Krisen enthalten so auch die Möglichkeit,
12
Entwicklungsschritte nachzuholen, die bislang aufgeschoben wurden. Das erfolgreiche Meistern einer Krise führt zu neuen Kompetenzen und einem Zugewinn an Selbstvertrauen. Analog zu den Modellen normativer Entwicklungskrisen äußern sich Schwierigkeiten im frühen Kindesalter typischerweise in Abhängigkeit von den anstehenden Entwicklungsphasen und -aufgaben. Sie treten damit für gewöhnlich in bestimmten Altersperioden und vermehrt in denjenigen Verhaltensbereichen auf, die in der jeweiligen Entwicklungsphase im Vordergrund stehen (Touchpoints-Konzept; Brazelton 1999). Beispielsweise kommt es besonders in den ersten Lebensmonaten im Zusammenhang mit physiologischen Anpassungsprozessen häufig zu vermehrtem Schreien (7 Kap. 13), was auch die Altersverteilung der aus diesem Grund in der Eltern-Säuglings-/KleinkindAmbulanz des Uniklinikums Heidelberg angemeldeten Kinder eindrücklich zeigt (. Abb. 12.1). Im zweiten Lebensjahr sind Kinder im Kontext ihrer wachsenden Autonomie zunehmend gefordert, Frustrationen auszuhalten, zum einen im Zusammenhang mit Grenzsetzungen der Eltern und sozialen Regeln, zum anderen aber auch aufgrund der noch begrenzten eigenen – z. B. motorischen – Möglichkeiten. In diesem Kontext kommt es häufig zu vermehrten Trotzreaktionen und Unzufriedenheitsäußerungen (7 Kap. 17). Beispiel Die Mutter des knapp zehn Monate alten Anton berichtet ihrer Freundin, dass dieser seit zwei Woche krabbeln könne. In den Stolz über die neu erlangten Fähigkeiten ihres Sohnes mischt sich eine gute Portion Erleichterung. »Die letzten Wochen mit Anton waren wirklich anstrengend«, erzählt sie. »Ständig war er schlecht gelaunt und quengelig. Am liebsten wollte er permanent getragen werden. Wenn man ihn hochgenommen hat, hat er von einem Ort zum anderen gedeutet, und wehe, man hat ihn nicht sofort dahin getragen, wo er hinwollte. Zuvor hatte er sich so gerne auf seiner Spieldecke beschäftigt, aber da wollte er zuletzt gar nicht mehr sein. Am zufriedensten war er noch in seinem Hochstuhl, aber da sind ihm ständig seine Spielsachen runtergefallen, und ich war permanent damit beschäftigt, sie ihm wiederzugeben. Oft war er nicht mal dann
166
Kapitel 12 • Von der normalen Entwicklungskrise zur Regulationsstörung
15
Prozent
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Alter der Kinder in Monaten (bei Erstvorstellung) . Abb. 12.1 Altersverteilung der aufgrund vermehrten Schreiens in der Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Ambulanz des Universitätsklinikums Heidelberg vorgestellten Kinder (nach Thiel-Bonney, s. Benz et al. 2011)
12 zufrieden. Ich glaube, er war frustriert, dass er sich die Sachen nicht selber wiederholen und die Orte nicht erreichen konnte, für die er sich interessierte. Seit er krabbelt, ist zwar keine Ecke der Wohnung mehr vor ihm sicher, und wir müssen anfangen, alles in den Regalen nach oben zu räumen, aber Anton ist wieder viel ausgeglichener.«
Neben den normativen Krisen können häufig auch kritische Lebensereignisse, wie Filipp u. Aymanns (2010) sie beschreiben, Auslöser für normale Entwicklungskrisen sein. Die Geburt eines Geschwisterkindes beispielsweise oder auch Veränderungen in der Betreuungssituation, wie im Beispiel der kleinen Emma, können vorübergehend zu Schwierigkeiten führen. Die individuelle Ausformung der jeweiligen Krise wird neben der zu bewältigenden Anforderung entscheidend mitgeprägt durch das kindliche und das elterliche Temperament, die jeweiligen
Ressourcen und Belastungen sowie die bisherigen Interaktionserfahrungen und die Beziehungsqualität. Die voranschreitende kindliche Entwicklung erfordert von den Eltern, wie bereits weiter oben beschrieben (7 Abschn. 12.3.2), eine permanente Neuanpassung an den Entwicklungsstand des Kindes. Elterliche Strategien zur Regulationsunterstützung, die eventuell bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr erfolgreich waren, sind möglicherweise nicht mehr altersangemessen. So können beispielsweise in den ersten Lebenswochen Pucken oder Tragen im Tragetuch sinnvolle Einschlafhilfen sein. Dem Entwicklungsstand eines sechs Monate alten Säuglings sind diese Strategien jedoch nicht mehr angemessen, und es müssen neue, passendere Einschlafhilfen gefunden werden (7 Kap. 14). Die Prozesse von Bedürfniserkenntnis und Anpassung können in einer Entwicklungsphase sehr erfolgreich funktionieren, in einer anderen mit Schwie-
167
12.5 • Das Konzept der frühkindlichen Regulationsstörungen
rigkeiten verbunden sein, was sich in vermehrten Unzufriedenheitsäußerungen des Kindes, erhöhter Belastung der Eltern oder zeitweisen Schwierigkeiten in der Interaktion äußern kann. In aller Regel sind Eltern und Kinder dazu in der Lage, vorübergehende Entwicklungskrisen zu meistern, also einen bestehenden Misfit zu erkennen und zu beheben. Eine Krise gemeinsam zu meistern stärkt die intuitiven Kompetenzen der Eltern. Sie machen die Erfahrung, dass sie, durch die Signale ihres Kindes geleitet, passend auf seine Bedürfnisse reagieren können und so auch schwierige Situationen zu meistern in der Lage sind. Diese Erfahrung kann auch in zukünftigen Krisensituationen das Vertrauen der Eltern in ihre intuitiven Kompetenzen stärken. Fallbeispiel (Fortsetzung) Angeregt durch die Beratung, beobachten Emmas Eltern ihre Tochter in den folgenden Wochen aufmerksam. Nach der Rückkehr von der Tagesmutter ist sie weiterhin weinerlich, läuft ziellos durch die Wohnung und wirft frustriert Spielzeug durchs Zimmer. »Wenn wir recht darüber nachdenken, verhält Emma sich so auch, wenn sie müde ist. Ist wahrscheinlich auch ganz schön anstrengend, so ein aufregender Morgen mit den anderen Kindern. Bisher war sie ja meist mit uns allein zu Hause.« In der darauffolgenden Zeit verzichtet die Mutter nach dem Nachhausekommen darauf, Emma zum gemeinsamen Spiel zu animieren. Stattdessen führt sie eine ausgiebige »Kuschelstunde« in Emmas Zimmer ein. »Ich ziehe die Vorhänge zu, und dann kuscheln wir uns zusammen auf Emmas großes Bodenkissen und schauen uns in aller Ruhe ein Buch an. So kann sie sich ein wenig erholen, und an manchen Tagen schläft sie dabei sogar ein. Ideal wäre, sie würde weiterhin jeden Tag einen Mittagsschlaf halten, aber das haben wir versucht, das will sie einfach nicht mehr. Und auf diese Weise haben wir zusammen ein paar entspannte Momente, das stärkt für die Situationen, in denen sie bockig ist.« Seit der Einführung des Ruherituals erleben die Eltern ihre Tochter an den Nachmittagen als ausgeglichener, und die Mutter schildert Erleichterung darüber, erkannt zu haben, wie sie ihre Tochter passend unterstützen kann. Dadurch falle es ihr auch leichter, in Grenzsetzungssituationen konsequent zu bleiben.
12
»Ich weiß, was ihr gut tut, und das kann ich auch vertreten. Ich habe fast den Eindruck, Emma spürt das und kann mein ‚Nein‘ jetzt besser akzeptieren«, schildert die Mutter.
12.5
Das Konzept der frühkindlichen Regulationsstörungen
Frühkindliche Regulationsstörungen können als extreme Varianten in der Bewältigung alterstypischer Krisen betrachtet werden. Sie unterscheiden sich dadurch von den normalen Entwicklungskrisen, dass sie im Zusammenhang mit einer Vielzahl an bestehenden Belastungsfaktoren exazerbieren und persistieren, wodurch die gemeinsame Bewältigung der anstehenden Entwicklungsaufgaben nicht gelingt und es fast regelmäßig zu Beeinträchtigungen der kindlichen Selbstregulation und der Eltern-Kind-Beziehungen kommt (Cierpka et al. 2002). Zu den frühkindlichen Regulationsstörungen werden folgende Störungsbilder gezählt: das exzessive Schreien im ersten Trimenon, Ein- und Durchschlafstörungen, Fütterstörungen, persistierende Unruhe und Dysphorie mit Spielunlust, exzessives Klammern, soziale Ängstlichkeit und persistierende Trennungsängste, exzessives Trotzen und provokativ-oppositionelles und aggressives Verhalten.
12.5.1
Symptomtrias bei frühkindlichen Regulationsstörungen
In die diagnostischen und therapeutischen Überlegungen zu frühkindlichen Regulationsstörungen werden anders als bei Störungen im späteren Lebensalter nicht nur die Seite des Kindes, sondern auch die der primären Bezugspersonen sowie die Gestaltung der Interaktionen und der Beziehung zwischen beiden einbezogen (Papoušek 2004). Die Symptomtrias frühkindlicher Regulationsstörungen 1. Schwierigkeit(en) des Kindes in einem oder mehreren Bereich(en) der frühkindlichen Anpassungs- und Entwicklungsaufgaben,
168
Kapitel 12 • Von der normalen Entwicklungskrise zur Regulationsstörung
2. Überforderungssyndrom der Mutter/des Vaters/beider Eltern im Sinne einer Anpassungsstörung im Übergang zur Elternschaft oder im Umgang mit einem »schwierigen« Säugling, 3.
12
dysfunktionale Interaktionsmuster im direkten Umgang mit den Verhaltensauffälligkeiten des Kindes, die zu deren Aufrechterhaltung oder Verstärkung beitragen und zu einer Eskalation führen können.
Ist die Selbstregulationsfähigkeit des Kindes in einem extremen Ausmaß eingeschränkt, kann dies zu einer Überforderung der Eltern in Bezug auf ihre intuitive Kommunikationsfähigkeit und die ihnen zur Verfügung stehenden Regulationshilfen führen. Hier sind u. a. Kinder mit einem »schwierigen Temperament« zu nennen (7 Kap. 3) zu nennen. Besonders Babys, die sehr reizoffen oder irritabel sind und sich kaum von äußeren und inneren Sensationen abgrenzen können bzw. besonders sensibel auf diese reagieren, sind infolge der erlebten Flut ankommender Informationen oftmals überfordert, überstimuliert und dann schwer zu beruhigen. Aber auch Erschöpfung, z. B. infolge von Krankheit oder Müdigkeit, kann selbstregulatorische Kompetenzen außer Kraft setzen. Neben den vom Kind ausgehenden Erschwernissen auf dem Weg zur Entwicklung selbstregulatorischer Kompetenzen kann es auch ein Versagen der erforderlichen elterlichen Koregulation geben. Intuitive elterliche kommunikative Kompetenzen können prä-, peri- und postpartal durch physische, psychische und soziale Einflüsse in ihrem Auftreten behindert werden. Hier sind u. a. biografische Belastungen der Eltern, z. B. Verlust- oder Gewalterfahrungen, mütterliche Depression, Substanzmissbrauch, soziale Isolation, Paarkonflikte, vorangegangene Fehlgeburten, ein problematischer Schwangerschaftsverlauf sowie pränataler Stress und Ängste zu nennen (7 Kap. 19 bis 27). Anhaltende Regulationsprobleme des Kindes und das wiederholte Erleben von Versagen und Hilflosigkeit im Umgang mit dem Kind erhöhen die eventuell schon vor der Geburt des Kindes aufgetretenen elterlichen Belastungen. Es entstehen dysfunktionale Kommunikationsmuster, die zur Eskalation
und Aufrechterhaltung der Regulationsproblematik und auch zur Ausweitung auf andere Entwicklungsbereiche beitragen können. Das Zusammenwirken mehrerer psychosozialer und organischer Risikofaktoren aufseiten des Kindes und/oder der Eltern ist typisch bei der Genese frühkindlicher Regulationsstörungen. Unspezifische Belastungsfaktoren, die die gemeinsame Bewältigung der aktuell anstehenden Entwicklungsaufgabe stören, können mithilfe der beschriebenen Kriterien in Alltagsinteraktionen entdeckt werden. Eine permanente Überlastung der Eltern, verbunden mit vergeblichen Hilfsbemühungen, erhöht die Wahrscheinlichkeit von Impulsdurchbrüchen und stellt somit ein Risiko für eine emotionale und/oder physische Misshandlung im Säuglingsalter dar. Eine Verfestigung von Interaktionsmustern im Kontakt kann sich langfristig negativ auf die Gesamtentwicklung des Kindes auswirken, weil die damit einhergehende Unflexibilität das adäquate Begleiten kindlicher Entwicklungsschritte behindert.
12.5.2
Gemischte Regulationsstörungen
Die unter dem Begriff der Regulationsstörung zusammengefassten Störungen weisen im Hinblick auf Entstehungsbedingungen, Risikobelastung, Verlauf und Prognose erhebliche Gemeinsamkeiten auf. Sie treten in Abhängigkeit von den Entwicklungsphasen oft nacheinander, häufig aber auch zeitgleich und manchmal mit einer hohen Persistenz bis ins Kleinkind- oder Vorschulalter auf (Papoušek 2004). Hinsichtlich des Schweregrads reichen alle frühkindlichen Regulationsstörungen von Krisen in einem isolierten Bereich (z. B. Einschlafschwierigkeiten am Abend) bis hin zu persistierenden und pervasiven Störungen, die mehrere oder gar alle Bereiche der Regulationsentwicklung betreffen. Die Verlagerung bzw. Ausbreitung von Regulationsstörungen bei erheblichen Belastungen von einem in den anderen Entwicklungsbereich ist mit Blick auf die Gemeinsamkeiten und die mangelnde Abgrenzbarkeit der einzelnen Störungsbilder we-
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Literatur
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nig überraschend. Tatsächlich scheint das gemeinsame Auftreten von Problemen in mehreren Regulationsbereichen in klinischen Stichproben eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Während in einer Studie an einer nicht klinischen Stichprobe nur 14,6 % der untersuchten Kinder Schwierigkeiten in mehr als einem Regulationsbereich aufwiesen (Wolke et al. 1995), ist dieser Anteil bei Kindern, die aufgrund der Probleme in einer speziellen Eltern-Säuglings-Ambulanz vorgestellt wurden, ungleich höher. So berichteten z. B. bei 78,8 % der Säuglinge im Alter zwischen null und sechs Monaten, die zwischen 1999 und 2009 wegen exzessiven Schreiens in der Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Ambulanz des Uniklinikums Heidelberg (7 Kap. 30) vorgestellt wurden, die Eltern auch von Problemen in der Schlaf-Wach-Regulation bzw. Schlafstörungen. Bei 28,6 % der exzessiv schreienden Säuglinge berichteten die Eltern zudem von Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme (Benz et al. 2011). Bei 66,9 % der Kinder mit Fütterproblemen gaben die Eltern auch Schwierigkeiten beim Schlafen an. Nur bei 2,2 % der wegen vermehrten Trotzens vorgestellten Kinder und bei 1 % der Kinder mit anklammerndem Verhalten traten diese Schwierigkeiten jeweils isoliert auf (Benz et al. 2011). Schwierigkeiten in mehreren Regulationsbereichen tragen zweifelsohne zur steigenden Erschöpfung und zur Verfestigung der interaktionellen Schwierigkeiten bei, aber auch eine lange Zeitspanne anhaltender Belastung bei Eltern und Kind hat dies zur Folge und trägt damit zusätzlich zum Übergreifen der Auffälligkeiten auf andere Entwicklungsbereiche bei. Bei der Stichprobe der Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Ambulanz des Uniklinikums Heidelberg lagen zwischen dem Beginn der Verhaltensauffälligkeiten und der Vorstellung in der Sprechstunde im Mittel acht Monate (Benz et al. 2011).
Belastungen aufseiten von Eltern, Kindern oder beiden können jedoch dazu führen, dass diese Anpassungsprozesse nicht gelingen. Regulationsstörungen als extreme Varianten normaler Entwicklungskrisen können die Folge sein. Die in diesem Kapitel erläuterten Erkenntnisse unterstreichen den Bedarf an frühzeitig ansetzenden Präventions- und Interventionsangeboten. Die wachsende Inanspruchnahme der Angebote von Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Beratungsstellen weist auf eine steigende Akzeptanz solcher Angebote bei ratlosen und erschöpften Eltern hin (Cierpka et al. 2007). Aber auch besondere, niedrigschwellige Angebote für Familien mit multiplen psychosozialen Belastungen sind in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, da Regulationsstörungen besonders dann zur Pervasivität tendieren, wenn die intuitiven Fähigkeiten der Eltern durch mehrere unterschiedliche Belastungsfaktoren eingeschränkt oder gehemmt werden. Diese Belastungen verstärken die Wirkung wiederkehrender negativer Feedbackschleifen in der Eltern-Kind-Kommunikation und können zur Eskalation dysfunktionaler Kommunikationsmuster und zum Übergreifen der Verhaltensauffälligkeiten auf andere Entwicklungsbereiche beitragen. Insofern profitieren mit Blick auf das Auftreten externalisierender (hyperkinetische, aggressive und oppositionelle Symptome) und internalisierender Störungen (ängstliche und depressive Symptome) im späteren Kindes- und Jugendalter vor allem diejenigen Kinder von Prävention und frühzeitiger Intervention im Bereich der Regulationsstörungen, bei denen mehrere Regulationsbereiche betroffen sind, bei denen die Eltern-Kind-Interaktion beeinträchtigt ist, organische Faktoren die Entwicklung belasten und/oder das familiäre Umfeld psychosozial belastet ist (Laucht et al. 2004).
Fazit
Literatur
Im Kontext der kindlichen Entwicklung sind Eltern und Kinder fortlaufend gefordert, die jeweils anstehenden Entwicklungsaufgaben gemeinsam zu meistern. Krisenhafte Zuspitzungen sind in diesem Zusammenhang für gewöhnlich als normale Entwicklungskrisen zu verstehen, die Eltern und Kind gemeinsam zu meistern in der Lage sind. Erhöhte
Benz M, Erb L, Thiel-Bonney C, Cierpka M (2011) Deskriptive Daten aus den Elternfragebogen der Interdisziplinären Sprechstunde für Eltern, Säuglinge und Kleinkinder. Unveröffentlichtes Manuskript. Heidelberg, Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie
170
12
Kapitel 12 • Von der normalen Entwicklungskrise zur Regulationsstörung
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171
Exzessives Schreien Consolata Thiel-Bonney und Manfred Cierpka
13.1
Das exzessive Schreien als erster Ausdruck einer frühkindlichen Regulationsstörung – 172
13.2
Definition und Symptomtrias des exzessiven Schreiens – 173
13.2.1 13.2.2 13.2.3
Störung der kindlichen Verhaltensregulation – 173 Dysfunktionale Interaktion – 174 Elterliches Überlastungssyndrom – 174
13.3
Prävalenz und Prognose – 175
13.4
Die Entwicklung der Verhaltensregulation in den ersten Lebensmonaten – 176
13.5
Einflussfaktoren bei der Entwicklung des exzessiven Schreiens – 177
13.5.1 13.5.2 13.5.3 13.5.4 13.5.5
Organische Belastungs- und Einflussfaktoren – 177 Schlaf-Wach-Organisation – 178 Verminderte Fähigkeit zur Selbstregulation – 179 Temperamentsfaktoren – 179 Familiäre und psychosoziale Belastungsfaktoren – 180
13.6
Diagnostik – 181
13.7
Beratung/Therapie – 183
13.7.1 13.7.2 13.7.3 13.7.4
Somatische Ebene – 183 Entwicklungsbezogene Ebene – 187 Interaktions- und kommunikationszentrierte Ebene – 187 Psychodynamisch-beziehungszentrierte Ebene: Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Psychotherapie – 190
Literatur – 195
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
13
172
Kapitel 13 • Exzessives Schreien
Das exzessive Schreien des Säuglings in den ersten Lebensmonaten bedeutet für Eltern und Kind meist eine hohe Belastung. In vielen Fällen ist die Symptomatik selbstlimitierend und zeigt keine nachhaltigen Folgen für die weitere Entwicklung des Kindes und die Beziehung der Eltern zu ihrem Baby. In klinischen Stichproben zeigte sich jedoch, dass das Schreien in bis zu 60 % der Fälle während der ersten Lebensmonate eskaliert, über den ersten Entwicklungsschub hinaus bestehen bleibt, auf weitere Bereiche der Verhaltensregulation übergreift und schließlich, insbesondere in Familien mit geringen psychosozialen Ressourcen, zu einem erhöhten Risiko für die weitere kognitive und sozial-emotionale Entwicklung des Kindes beiträgt. Der folgende Beitrag zeigt Möglichkeiten der Diagnostik und frühzeitigen Hilfestellung für Eltern und Kind auf.
13.1
13
Das exzessive Schreien als erster Ausdruck einer frühkindlichen Regulationsstörung
In den ersten drei Lebensjahren erscheinen Auffälligkeiten kindlicher Verhaltensweisen bemerkenswert häufig. Meist sind sie Teil »ganz normaler Krisen« in der kindlichen Entwicklung (Largo u. Benz-Castellano 2004); sie treten zeitgleich mit alterstypischen Reifungs-, Anpassungs- und Regulationsprozessen auf. Als solche sind sie in vielen Fällen selbstlimitierend und nicht als pathologisch zu sehen. Eltern und Kind meistern erste Entwicklungsaufgaben und -krisen überwiegend gemeinsam: In alltäglichen Interaktionen, beim Beruhigen, Einschlafen, beim Füttern, im Zwiegespräch und im Spiel lernen sich Eltern und Kind gegenseitig kennen, stellen sich aufeinander ein und korrigieren kleine »Fehler« und Frustrationen in den nicht genau aufeinander abgestimmten Phasen des Miteinanders. Das vermehrte Schreien des Säuglings in den ersten Lebensmonaten sowie anhaltende Schlafoder Fütterprobleme oder später z. B. ein exzessives Trotzverhalten stellen als Extremvarianten kindlicher Verhaltensauffälligkeiten jedoch erhöhte Anforderungen an die elterlichen intuitiven Kompetenzen im Umgang mit dem Kind. Häufig finden
sich dann dysfunktionale Interaktionsmuster zwischen Eltern und Kind in unterschiedlichen Interaktionskontexten. Mit zunehmender Dauer greift das kindliche Problemverhalten pervasiv auf andere interaktive Kontexte über und gefährdet die Lösung neuer Entwicklungsaufgaben. Entsprechend den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter (von Hofacker et al. 2007) handelt es sich, wenn die Symptomatik mindestens einen Monat lang besteht, um eine frühkindliche Regulationsstörung mit folgender Symptomtrias: 5 Störung der kindlichen Verhaltensregulation mit einer für das Alter und den Entwicklungsstand des Kindes außergewöhnlichen Schwierigkeit, seine Befindlichkeit und sein Verhalten, seine physiologischen, sensorischen, aufmerksamkeitsbezogenen, motorischen und/oder affektiven Prozesse angemessen zu regulieren und einen ruhigen, aufmerksamen oder affektiv positiven Zustand zu organisieren, 5 dysfunktionale oder entgleiste Interaktionsmuster zwischen dem Säugling/Kleinkind und seinen primären Bezugspersonen in unterschiedlichen Interaktionskontexten, 5 assoziierte elterliche physische und psychische Belastung, häufig in Verbindung mit einem aktuellen oder chronischen Überforderungssyndrom. Dabei sind häufig mehrere Interaktions- und regulative Kontexte (wie z. B. die Selbstberuhigung, das Schlafen und Füttern) betroffen. Frühkindliche Regulationsstörungen äußern sich in alters- und entwicklungsphasentypischen kindlichen Symptomen, wie z. B. exzessivem Schreien, Schlaf- und Fütterstörungen im ersten Lebensjahr. Die Fähigkeit der Interaktionspartner, sich flexibel an wechselnde Umweltanforderungen anzupassen, ist eingeschränkt, die Beziehung häufig belastet. Die Beeinträchtigung der Beziehung zwischen Eltern und Kind zeigt sich umso ausgeprägter, je länger die Störung andauert, je mehr Regulationsbereiche betroffen sind und je gravierender die psychosozialen Belastungen der Familie und die psychischen Auffälligkeiten der Eltern sind (von Hofacker et al. 1996).
13.2 • Definition und Symptomtrias des exzessiven Schreiens
Eindeutige, lineare Ursachen-Wirkungs-Ketten sind nur selten zu identifizieren: Kindliche Verhaltensprobleme müssen immer im Zusammenhang mit der elterlichen Koregulation und der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung gesehen werden. Insofern ist »eine isolierte Psychopathologie des Säuglings- und Kleinkindalters konzeptionell nicht ausreichend begründbar« (von Hofacker et al. 2007).
13.2
Definition und Symptomtrias des exzessiven Schreiens
13.2.1
Störung der kindlichen Verhaltensregulation
Das Schreien eines Säuglings bedeutet ein elementares Signal an seine Umwelt und hat einen starken Aufforderungscharakter: Es drückt, zunächst noch ungerichtet, einen physiologischen Erregungszustand aus (Papoušek 2009) und weist auf die Befindlichkeit des Kindes und auf seine Bedürfnisse hin. Die Eltern antworten meist prompt und intuitiv-feinfühlig mit der passenden Unterstützung auf das kindliche Alarmsignal. Baby und Eltern erfahren sich so in einer positiven gegenseitigen Wirksamkeit: Das Kind erlebt Beruhigung und Befriedigung seiner Bedürfnisse, die Eltern fühlen sich kompetent in der Fürsorge um ihr Kind. Die häufig anzutreffende kindliche Unruheneigung in den ersten drei Lebensmonaten lässt auf altersspezifische Anpassungs- und Reifungsprozesse schließen. In einem zyklischen Wechsel lernt der Säugling Schlaf- und Wachzustände, Hunger und Sättigung etc. zu organisieren. Besonders wache, hyperreaktive und stimulationssuchende Säuglinge benötigen für diese Aufgabe ein hohes Maß an regulierender Unterstützung durch die Eltern. Jeder fünfte Säugling (Wurmser et al. 2001; Wurmser 2009) schreit oder quengelt jedoch unspezifisch und über das normale Maß hinaus, mit Beginn ca. in der zweiten Lebenswoche, einem Höhepunkt in der sechsten Lebenswoche und in der Regel mit einem Abfall zum Ende des dritten Lebensmonats hin, »exzessiv«, d. h. mehr als drei Stunden am Tag an mindestens drei Tagen in der Woche über drei Wochen hinweg (»Dreierregel«, nach Wessel et al. 1954). Hinsichtlich der Ausprä-
173
13
gung und Dauer von Schrei- und Quengelphasen in den ersten drei Lebensmonaten besteht eine hohe Variabilität. Problematischer als die Dauer des Schreiens und Quengelns sind die Episoden unstillbaren Schreiens. Aufgrund des »anfallsartigen« Charakters dieses Schreiens mit hochrotem Hautkolorit, zeitweise geblähtem Bauch, angezogenen Beinchen und hypertoner Muskulatur wurden zunächst ursächlich gastrointestinale Beschwerden (Bauchschmerzen, Krämpfe, sogenannte Dreimonatskoliken) des Säuglings vermutet (s. auch 7 Abschn. 13.5.1) Das Schreien tritt ohne erkennbaren Grund und meist gehäuft am späten Nachmittag und in den frühen Abendstunden auf. Auffallend ist eine abendliche kumulative Überreizung/Übermüdung des Säuglings mit nur kurzen Tagesschlafphasen (meist jeweils zwischen 10 und 30 Minuten), ausgeprägten Einschlafproblemen und verminderter Gesamtschlafzeit im Schlafprotokoll (von Hofacker et al. 2007; White et al. 2000; Ziegler et al. 2004). Bei mangelnder Tröstbarkeit und Selbstberuhigung (Barr 1998) sind »normale« Beruhigungshilfen der Eltern nicht wirksam; das Kind lässt sich insbesondere am späten Nachmittag und am Abend kaum noch beruhigen und fällt schließlich erschöpft in einen verspäteten Nachtschlaf. Definition des exzessiven Schreiens (von Hofacker et al. 2007) 5 Episoden von Unruhe/Quengeln und scheinbar grundlosem, anfallsartigem Schreien 5 Fehlendes Ansprechen auf Beruhigungshilfen 5 Beginn meist in der zweiten Lebenswoche, Höhepunkt der Intensität und Häufigkeit in der sechsten Lebenswoche, abfallend bis zum Ende des dritten Lebensmonats; zeitweise Persistenz bis in den sechsten Lebensmonat 5 Gehäuftes Auftreten in den frühen Abendstunden 5 Beeinträchtigte Schlaf-Wach-Regulation, kumulative Überreizung/Übermüdung bei bestehender Unfähigkeit »abzuschalten«; ausgeprägte Einschlafprobleme, kurze
174
Kapitel 13 • Exzessives Schreien
Tagesschlafphasen und verminderter Gesamtschlaf
In den Wachphasen erscheinen die Kinder häufig hyperexzitabel, verstärkt irritierbar, reizempfindlich und motorisch unruhig und befinden sich nur selten in einem ruhig-aufmerksamen Verhaltenszustand. Die Eltern beschreiben ihr Baby schon in den ersten Lebenswochen als sehr wach und aufmerksam. Die Säuglinge drängen in die vertikale Position und scheinen nach visuellen und akustischen Umgebungsreizen geradezu zu suchen. Mit einer erhöhten Reaktivität auf Umgebungsreize gelingt es dem Säugling jedoch kaum, »abzuschalten«, sich selbst zu beruhigen und mit nur geringer Unterstützung der Eltern einzuschlafen.
13.2.2
13
Dysfunktionale Interaktion
In einem sich aufschaukelnden Teufelskreis dysfunktionaler Interaktion versuchen die Eltern vergeblich, ihr Baby zu beruhigen oder in den Schlaf zu begleiten. Unter einer vermehrt eingesetzten Stimulation (stundenlanges Umhertragen, heftige vestibuläre Stimulation, häufiger Wechsel der Beruhigungs- und Ablenkungsversuche, Einsatz von »weißem Rauschen« bei Autofahrten und laufendem Staubsauger etc.) stabilisiert sich der Säugling jedoch nur kurzfristig und findet nicht in eine ausreichend lange und erholsame Ruhephase. Anspannung und Erregung bei Eltern und Kind steigern sich wechselseitig. Mit pervasiv aufkommenden weiteren Störungen der kindlichen Verhaltensregulation (z. B. beim Stillen/Füttern) und persistierender kindlicher Symptomatik nehmen dysregulierte kindliche Verhaltenszustände überhand; Interaktion und Beziehung dekompensieren in eine überwiegend negative Gegenseitigkeit, was in eine Gefährdung des Kindeswohls münden kann. Das Misshandlungsrisiko bei exzessivem Schreien ist hoch: In einer breit angelegten niederländischen Studie (N = 3.259) gaben 5,6 % der in einem anonymisierten Fragebogen befragten Eltern von Kindern unter sechs Monaten an, ihr Kind schon mindestens einmal aufgrund seines Schreiens geschlagen oder geschüttelt zu haben
oder versucht zu haben, das Schreien zu ersticken (Rejineveld et al. 2004). Das Risiko war am höchsten bei denjenigen Eltern, die das Schreien ihres Babys als exzessiv einschätzten. Von 26 Fällen eines Schütteltrauma-Syndroms bei Säuglingen im ersten Lebensjahr (mit und ohne Todesfolge) hatten sich 88,5 % der Eltern im Vorfeld aufgrund des exzessiven Schreiens oder der Irritabilität ihres Babys an den Kinderarzt oder einen anderen Spezialisten gewandt (Talvik et al. 2008). Das unstillbare Schreien gilt als der wichtigste Trigger für eine frühe Misshandlung (Lee et al. 2007; Barr et al. 2006).
13.2.3
Elterliches Überlastungssyndrom
Unstillbares Schreien führt über die ausgelöste akute Stressreaktion unweigerlich zu einem mütterlichen/elterlichen Überlastungssyndrom. Es ist geprägt durch eine tief greifende Erschöpfung bei andauerndem Schlafdefizit und eine hohe Verunsicherung bezüglich der eigenen Kompetenz mit Selbstzweifeln, Versagensgefühlen, Überforderung bis hin zur Isolation, mit einer depressiven Stimmungslage oder wütenden Ambivalenzkonflikten (vgl. auch Levitzky u. Cooper 2000). Die Eltern fühlen sich mit ihren Bemühungen von ihrem Baby zurückgewiesen und werden trotz all ihrer Anstrengungen, ihr Kind zu beruhigen, von ihm nicht belohnt. Sie vernachlässigen ihre eigenen Bedürfnisse und genießen kaum noch entspannte Momente und freudige spielerische Interaktionen mit ihrem Baby. Manche Eltern antworten auf das kindliche Schreien zunehmend inadäquat oder ineffektiv oder mit verzögerter Latenz und ignorieren schließlich seine Signale. Die Beziehung ist hoch belastet. Gelingt es den Eltern, eigene oder familiäre Ressourcen zu aktivieren, so können diese Belastungen kompensiert werden. Bei biografischer Vorbelastung der Eltern (z. B. bei psychischer Erkrankung, eigener Trennungs-/Verlust-/Gewalterfahrung), kumulativen psychosozialen Belastungen und nicht ausreichender Unterstützung in der Familie (z. B. bei Konflikten in der elterlichen Herkunftsfamilie, massiven Paarkonflikten) oder in einem nicht tragfähigen sozialen Netz kann das
13.3 • Prävalenz und Prognose
System jedoch entgleisen: Selbst hoch belastet, finden die Eltern keinen Zugang zu ihren intuitiven und koregulatorischen Kompetenzen im Umgang mit ihrem Kind.
13.3
Prävalenz und Prognose
In Studien zur Prävalenz variiert die Häufigkeit des exzessiven Schreiens in Abhängigkeit von Kriterien der Falldefinition, der Erhebungsinstrumente und der Methodik beträchtlich und liegt zwischen ca. 5 % und 19 % (Lucassen et al. 2001). In der bisher einzigen epidemiologischen Studie zur Häufigkeit des exzessiven Schreiens in Deutschland ermittelten Wurmser et al. (2001) in einer telefonischen retrospektiven Befragung eine Prävalenz von 21 %. Das Schreien persistierte in fast 40 % der Fälle (d. h. in ca. 8 % der Gesamtpopulation) noch nach dem dritten Lebensmonat. Wake et al. (2006) fanden ein Persistieren von Schrei-/Unruhe- und Schlafproblemen bei Kindern im Alter zwischen zwei und 24 Monaten von ca. 6 %. Um die Entwicklungsprognose der exzessiv schreienden Säuglinge einzuschätzen, scheint nicht das Ausmaß des kindlichen Schreiens oder Quengelns von entscheidender Bedeutung zu sein, sondern seine Persistenz über den dritten/vierten Lebensmonat hinaus. Bei 77 % bzw. 55 % der Kinder, die nach dem sechsten Lebensmonat mit Schlafstörungen bzw. Fütterstörungen in der Münchner Sprechstunde für Schreibabys vorgestellt wurden, war der jeweils bestehenden aktuellen Symptomatik ein exzessives Säuglingsschreien vorausgegangen (Wurmser u. Papoušek 2004; Schieche et al. 2004). Von Kries et al. (2006) untersuchten persistierende erhebliche Schlaf- und Fütter-/Essprobleme bei Kindern im Alter von sechs Monaten bis vier Jahren. Diese Symptome waren bei den Kindern, die ausschließlich in den ersten drei Lebensmonaten exzessiv geschrien hatten, nicht häufiger zu finden. Die Symptomatik zeigte sich jedoch bei Kindern, die mit sechs Monaten persistierend schrien, um den Faktor 6 bis 9x erhöht (vgl. auch von Kries 2006). Die Persistenz und das »Sichausbreiten« des kindlichen Problems der Verhaltensregulation in andere Verhaltensbereiche tragen zu einem erhöh-
175
13
ten Risiko für spätere emotionale Probleme oder Verhaltensauffälligkeiten bei. Dabei beanspruchten die psychosozialen Belastungen der Familien den größten prognostischen Stellenwert: Die höchste Zahl psychischer Auffälligkeiten bei Kindern aus der Mannheimer Risikokinderstudie fand sich bei ehemals regulationsgestörten Säuglingen, die zugleich mit psychosozialen Risikofaktoren hoch belastet waren (Laucht et al. 2004; Becker et al. 2004; Holtmann et al. 2004). Die Vorhersage hyperkinetischer Störungen bei Grundschulkindern aus Auffälligkeiten im Säuglingsalter blieb jedoch unspezifisch (Esser et al. 2007). Eine Follow-up-Studie (Wurmser et al. 2004) verglich eine klinische Gruppe von 60 Kindern im Alter von 30 Monaten mit einer Kontrollgruppe. In dieser hatten 24 % der Kinder mit ca. sechs Wochen ein vorübergehendes Schreiproblem gezeigt. 95 % der Kinder aus der klinischen Stichprobe waren bei Vorstellung in der Ambulanz älter als sechs Wochen; das Schreiproblem bestand bei 60 % der vorgestellten Säuglinge über das erste Trimenon hinaus. Diese Kinder wurden mit 30 Monaten von ihren Eltern als in ihrem Temperament noch immer »unruhiger/schwieriger« und »hartnäckiger« wahrgenommen (vgl. 7 Abschn. 13.5.4). Sie wiesen in einem klinischen Screeninginstrument höhere Werte für aggressives Verhalten, Angst/Depression, Schlafprobleme, somatische Probleme und sozialen Rückzug und, im Zusammenwirken von kindlichen, mütterlichen und Beziehungsvariablen, eine Häufung von klinisch relevanten externalisierenden und internalisierenden Verhaltensweisen auf. Eltern hielten in einer schwedischen Studie (Canivet et al. 2000) ihre ehemals exzessiv schreienden Kinder im Alter von vier Jahren für stärker »emotional« und »negativ« mit einer Tendenz, sich schnell aufzuregen, sich vermehrt unruhig zu verhalten und bei Aufregung besonders intensiv zu reagieren. Bei diesen Befunden ist zu berücksichtigen, dass die Einschätzung der Eltern durch ihre erhöhte Belastung in den ersten Lebensmonaten beeinträchtigt sein kann und die Eltern ihr Kind auch später noch als vermehrt vulnerabel einschätzen (Forsyth u. Canny 1991). So fanden Lehtonen et al. (1994) entgegen der Einschätzung der Mütter keine Unterschiede in den Temperamentsmerkmalen ehemals exzessiv schreiender Kinder gegenüber
176
13
Kapitel 13 • Exzessives Schreien
denen einer Kontrollgruppe und vermuteten eine Beeinträchtigung der Mutter-Kind-Beziehung aufgrund des vorausgegangenen exzessiven Säuglingsschreiens. Rao et al. (2004) konnten in einer prospektiven Studie negative Auswirkungen des persistierenden Schreiens auf die kognitive und feinmotorische Entwicklung des fünf Jahre alten Kindes belegen. Zwei Drittel derjenigen Babys, die in den ersten vier bis zwölf Lebenswochen vermehrt schrien, zeigten in einer Studie aus Boston (Desantis et al. 2004) atypische Verhaltensantworten auf sensorische Erfahrungen: Insbesondere das unruhig-quengelige Verhalten der Säuglinge korrelierte signifikant mit einer geringeren Fähigkeit, Wahrnehmungseindrücke zu verarbeiten, mit einer geringeren Fähigkeit zur Anpassung an die Umwelt und mit Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsproblemen im Alter zwischen drei und acht Jahren (vgl. auch Wolke et al. 2002). In einer bayerischen Längsschnittstudie (Schmid et al. 2010) litten von mehr als 4.000 Risikokindern 7,7 % unter persistierenden Regulationsproblemen (Schreien, Schlaf- und Fütterprobleme). Diese sagten gemäß einer Elternbefragung durch einen Kinderarzt bei Jungen im Alter von 56 Monaten Defizite in der Anpassungsfähigkeit und in der sozialen Kompetenz voraus (sehr geringe Effektstärke). Zudem leisteten frühkindliche Regulationsprobleme (exzessives Schreien und Fütterprobleme) einen Beitrag zur Vorhersage der kognitiven Entwicklung des Kindes (Wolke et al. 2009); dieser Effekt war zwar signifikant, blieb jedoch ebenfalls nur gering. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das vorübergehende Schreien in den ersten drei Lebensmonaten ohne weitere Störungen der Verhaltensregulation und bei guten psychosozialen Ressourcen der Familien eine für Kind und Eltern zwar belastende, insgesamt aber eher benigne Symptomatik darzustellen scheint (von Gontard 2010). Persistierende und pervasiv auf andere Regulationsbereiche und Interaktionskontexte übergreifende Schreiprobleme bei bestehenden psychosozialen Belastungen in der Familie bedeuten jedoch ein besonderes Risiko für die weitere Bewältigung kindlicher Entwicklungsaufgaben. Kinder am äußeren Ende des Schreispektrums mit belasteten
Eltern-Kind-Beziehungen tragen ein erhöhtes Risiko einer beeinträchtigten sozial-emotionalen Entwicklung und psychischen Gesundheit im Schulalter (vgl. auch Brown et al. 2009).
13.4
Die Entwicklung der Verhaltensregulation in den ersten Lebensmonaten
Der Säugling ist in den ersten drei Lebensmonaten in allen Bereichen der Anpassung an die Umwelt und seiner Reifung und Entwicklung auf die intuitive und feinfühlige Unterstützung seiner Bezugspersonen angewiesen. Nur so kann das Kind die anstehenden Entwicklungsaufgaben in den ersten Lebenswochen bewältigen: die Regulation von Hunger, Nahrungsaufnahme und Sättigung, die Regulation seiner physiologischen Anpassung (z. B. Wärmeregulation, Energiehaushalt, Stoffwechsel, Verdauung, Reaktion auf visuelle, akustische und sensorische Reize) und die Regulation des Wechsels von ruhig-aufmerksamen Wachphasen, aufkommender Müdigkeit und Schlaf. Die Anpassung an die Umwelt geschieht im Zusammenspiel und in der Balance aktivierend-erregender und hemmend-beruhigender Prozesse (Papoušek 2009). In den alltäglichen Eltern-Kind-Interaktionen wirken die Initiativen und Kompetenzen von Kind und Eltern im Sinne einer Koregulation und einer »affektiven Abstimmung« zusammen (Papoušek 1999; Stern 1985) und sind durch einen »interpersonellen interpretativen Mechanismus« (Fonagy u. Target 2002) bestimmt: Die Eltern verstehen den inneren Zustand ihres Säuglings und passen ihr Verhalten derart an die Bedürfnisse ihres Kindes an, dass es sich darin im weiteren Entwicklungsverlauf zunehmend wiedererkennt und »versteht« (Entwicklung einer »reflective function«; Fonagy u. Target 1997). Die Bezugspersonen tragen so auch dazu bei, einen möglichen Spannungszustand ihres Kindes »herunterzuregulieren«, und unterstützen die kindlichen selbstregulatorischen Kompetenzen; dem Baby gelingt es immer besser, einen entwicklungsgerechten, ruhig-aufmerksamen Wachzustand aufrechtzuerhalten, bei Ermüdung »abzuschalten« und ruhig einzuschlafen. Das Kind selbst zeigt schon früh die Fähigkeit, den eigenen inneren
13.5 • Einflussfaktoren bei der Entwicklung des exzessiven Schreiens
Zustand abzubilden und in einer primären Intersubjektivität Erfahrungen in Interaktionen mit seinem Gegenüber zu teilen; soziale Referenzbildung, Teilen und Signalisieren von Affekten sind auch in triangulären Interaktionen zu beobachten (Stern 1985; Fivaz-Depeursinge u. Corboz-Warnery 2001; Fivaz-Depeursinge 2009). Eine gelingende gemeinsame Verhaltensregulation zwischen Mutter/Vater und Kind bildet vermutlich die Grundlage für ein auf prozeduraler Ebene gespeichertes implizites Beziehungswissen. Säuglinge, die in den ersten Lebenswochen exzessiv schreien, zeigen häufig eine erhöhte Reaktivität, Irritabilität und sensorische Übererregbarkeit, die es ihnen kaum ermöglicht, sich bei Ermüdung von einem Reiz zurückzuziehen. Sie verhalten sich ablenkbar und bleiben nur kurz in einem ruhig-aufmerksamen Wachzustand; sie erscheinen hyperexzitabel und schnell überreizt, lassen sich nur schwer trösten, schmiegen sich wenig an, zeigen kaum selbstberuhigendes Verhalten (z. B. durch Saugen an den Händchen, Blickabwendung bei Belastung) und finden nicht in erholsame und ausreichend lange Tagesschläfchen. Andere Kinder zeigen ein überschießend erregungshemmendes Verhalten mit Blickvermeidung, sozialer Unzugänglichkeit und abwehrenden Verhaltensweisen (Papoušek 2009), was die Gestaltung der Interaktion zwischen Eltern und Kind z. B. bei Beruhigungsversuchen beeinträchtigen kann. An die Eltern all dieser Säuglinge sind somit in der Interaktion und Koregulation erhöhte Anforderungen gestellt (vgl. 7 Abschn. 13.2.3). Mit dem zweiten biopsychosozialen Entwicklungsschub, dem »sozialen Erwachen« im dritten Lebensmonat, entsteht eine neue und reifere Ebene der Verhaltensregulation und der Kommunikation zwischen Eltern und Kind. Das zuvor eher unspezifische Schreien wird zum Signal, das bei Frustration, bei der Suche nach Nähe oder beim Verlassen von Gewohnheiten auch intentional gerichtet werden kann (Papoušek 2009). Vielen Babys gelingt es jetzt, mit größerer sozialer, motorischer und sensorischer Kompetenz, längere ruhig-aufmerksame Wachphasen mit positiver Bezogenheit und Freude an der Exploration zu organisieren, Umgebungsreize leichter zu integrieren und die verbesserten kommunikativen Fähigkeiten in der Interaktion
177
13
und positiven Bezogenheit zu den Eltern zu »nutzen«; das zuvor exzessive Schreien sistiert. Bei über den dritten Lebensmonat hinaus persistierenden Schreiproblemen und anhaltenden elterlichen psychosozialen Belastungen mit nur geringen Ressourcen und eingeschränkten intuitiven Kompetenzen kann sich die kindliche Symptomatik auf weitere Bereiche der Eltern-Kind-Interaktion ausdehnen. Es entwickeln sich nun z. B. Schlafprobleme, die sich weiterhin in geringem Tagesschlaf, aber auch in (Wieder-)Einschlafproblemen am Abend und in der Nacht äußern. Am Tag beklagen die Eltern bei ihrem Säugling lange Phasen von Dysregulation, dysphorischer Unruhe, Spielunlust und Überreiztheit mit Schreien und Quengeln. Eltern und Kind finden nicht in einen gemeinsamen Rhythmus und in einen freudigen Dialog; sie gelangen in einen eskalierenden Kreislauf negativer Gegenseitigkeit und belasteter Beziehung (Papoušek 2009).
13.5
Einflussfaktoren bei der Entwicklung des exzessiven Schreiens
13.5.1
Organische Belastungs- und Einflussfaktoren
Immer muss eine pädiatrische Untersuchung und ggf. Behandlung des exzessiv schreienden Kindes erfolgen. In einer Untersuchung von Freedman et al. (2009) fanden sich jedoch in nur 5 % der Fälle das Schreien bedingende medizinische Ursachen. Nach einer gründlichen Anamnese und körperlichen Untersuchung sollte mit weiterführenden Untersuchungen zurückhaltend umgegangen werden, da diese in nur ca. 1 % der Fälle einen zusätzlichen Beitrag zur Diagnosefindung leisten konnten. Organische Faktoren (s. auch 7 Abschn. 13.7) wie Infektionen, gastrointestinale Störungen, Atopie, Verletzungen oder neuropädiatrische Erkrankungen (Savino 2007; Roberts et al. 2004) können das kindliche Schreien verursachen; meist sind sie jedoch in multiple prä-, peri- und postnatale organische und psychosoziale Belastungsfaktoren eingebettet (Ziegler et al. 2004).
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z
13
Kapitel 13 • Exzessives Schreien
Prä- und postnatale organische Belastungsund Einflussfaktoren
Säuglinge, deren Mütter/Eltern während der Schwangerschaft rauchten, hatten ein ca. 2-fach erhöhtes Risiko, ein exzessives Schreien zu entwickeln (Sondergaard et al. 2001; Reijneveld et al. 2005); die Säuglinge zeigten eine signifikant erhöhte Irritabilität und einen muskulären Hypertonus (Stroud et al. 2009). Nach Shenassa und Brown (2004) gibt es eine Evidenz für einen nach Nikotinexposition erhöhten Motilingehalt im Blutplasma und im Darm des Kindes, der das Schreirisiko verstärken könnte. Auch ein niedriges Geburtsgewicht (unter 2.500 g) erhöhte das Risiko kindlichen Schreiens um mehr als das 2-fache (Sondergaard et al. 2000). In der klinischen Stichprobe der Münchner SchreibabySprechstunde (Ziegler et al. 2004) lagen bei 73 % der Säuglinge pränatale organische Risikofaktoren vor. So unterschied sich diese Stichprobe gegenüber einer Kontrollgruppe z. B. signifikant durch das Auftreten vorzeitiger Wehen mit Tokolyse. St. James-Roberts u. Conroy (2005) fanden in zwei Geburtskohorten unterschiedliche Ergebnisse zu prä- und perinatalen Einflussfaktoren des kindlichen Schreiens und betonen die noch nicht ausreichende Evidenz. In einer Stichprobe der Heidelberger Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Ambulanz (vgl. auch 7 Kap. 30) waren mehr als 30 % der vorgestellten Kinder zuvor schon stationär behandelt worden (Thiel-Bonney 2006). Dies könnte, neben den möglichen medizinischen Risikofaktoren, auf einen belasteten Beginn des Zusammenlebens in der Familie und auf eine frühe Verunsicherung der jungen Eltern im Umgang mit ihrem Baby hinweisen.
13.5.2
Schlaf-Wach-Organisation
Ziegler et al. (2004) konnten in einer Studie zur Schlaf-Wach-Organisation zeigen, dass das Ausmaß kindlicher Schrei- und Unruhephasen in Zusammenhang mit dem Ausmaß des relativen Schlafdefizits steht. Säuglinge mit exzessivem Schreien gemäß der Wessel-Regel schliefen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe 90 Minuten weniger (vgl. auch White et al. 2000). Sie benötigten ca. 20 Minuten länger zum Einschlafen; die Einschlafphasen
konnten sich am Abend auch über mehrere Stunden hinziehen. Die exzessiv schreienden Säuglinge wachten nachts häufiger auf und waren im Durchschnitt eine Stunde wach. Sie wurden von den Eltern zudem deutlich länger herumgetragen. Die Schlafphasen insgesamt und die längste Schlafphase am Tag waren verkürzt. Bei über den dritten bis vierten Lebensmonat hinaus persistierend schreienden Babys verlagerte sich das Schlafproblem mit Schreien und häufigem Erwachen zunehmend in die zweite Nachthälfte. Aus eigenen klinischen Beobachtungen sind häufig lange Tageswachphasen von bis zu 8 Stunden im Schlafprotokoll zu sehen, unterbrochen von ein bis zwei Schläfchen von 15 bis 20 Minuten Dauer. Bei einem physiologisch erhöhten Anteil des REM-Schlafs von ca. 50 % in den ersten Lebensmonaten wachen die Kinder im Übergang zwischen aktivem und ruhigem Schlaf aus dem unbestimmten Übergangsschlafstadium der ersten Lebenswochen (»indeterminate sleep«/ T-Schlaf) ca. 20 Minuten nach dem Einschlafen auf und finden nicht wieder in einen ausreichend langen und erholsamen Schlaf zurück. Im Gegensatz zu den oben genannten Ergebnissen (Ziegler et al. 2004; White et al. 2000) erbrachte eine finnische Studie (Kirjavainen et al. 2004) keine Hinweise auf eine geminderte Gesamtschlafzeit und eine frühe Störung der Schlafstruktur. Jenni et al. (2008) und Jenni (2009) liefern ein physiologisches Erklärungsmodell der zirkadianen und homöostatischen Schlaf-Wach-Regulation und des Schreiens in den ersten zwölf Lebenswochen. Der zunehmenden zirkadianen Wachheit im Tagesverlauf mit einem Gipfel um ca. 18 Uhr wird noch kein kompensatorisch wirkender homöostatischer Schlafdruck entgegengesetzt. Erst mit dem langsam wachsenden Einsetzen der Schlafhomöostase im zweiten Lebensmonat nehmen die Wachheit am frühen Abend und das Schreien ab. Jenni postuliert bei Kindern mit persistierendem Schreien eine verzögerte Entwicklung der Schlafhomöostase, die zudem mit dem zirkadianen Prozess nicht abgestimmt ist. Die schon genannten funktionellen Unreifezeichen exzessiv schreiender Säuglinge (von Hofacker et al. 1999) und die gestörte Schlafhomöostase könnten auf eine Reifungsverzögerung der Neurotransmitter- und Synapsenfunktion
13.5 • Einflussfaktoren bei der Entwicklung des exzessiven Schreiens
hinweisen. White et al. (2000) vermuten eine Reifungsverzögerung im zirkadianen Rhythmus der Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse mit einem noch erhöhten abendlichen Cortisolspiegel und einer Auswirkung auf die SchlafWach-Aktivität und das Schreiverhalten. Bensel u. Haug-Schnabel (2003) diskutieren unruhige Babys, die lange Wachphasen aufrechterhalten, als Gruppe von Kindern mit einer schon vorangeschrittenen Reifung des Neocortex. Diese Kinder wären in Teilbereichen ihres Verhaltens somit »frühreif«, jedoch mit den ausgedehnten Phasen des Wachseins und der Aktivierung überfordert; gleichzeitig steht ihnen noch keine ausreichende Kompetenz zur Verfügung, um diese langen Phasen der Erregung zu nutzen und zu regulieren.
13.5.3
Verminderte Fähigkeit zur Selbstregulation
Die Gabe einiger Tropfen Zucker-(Sucrose-)Lösung auf die Zunge eines sechs Wochen alten schreienden Kindes führte zwar bei allen Babys zu einem Beruhigungseffekt; dieser dauerte jedoch nur bei »normal« schreienden Babys nach dem ersten Geschmacksreiz noch an. Bei exzessiv schreienden Babys war die Beruhigung nur kurz und überdauerte nicht die erste Reaktion auf den Geschmacksreiz (Barr et al. 1991). Barr und Kollegen (1999) verstehen dies als einen Hinweis auf eine reduzierte Effektivität von Regulations- und Beruhigungsprozessen und auf eine verzögerte bzw. geminderte Antwort des zentralen endorphinabhängigen Beruhigungs- und Belohnungssystems bei exzessiv schreienden Babys. Diese Studienergebnisse stehen im Einklang mit Beobachtungen der Eltern, dass sich ihre vermehrt schreienden Babys durch Stillen oder vestibuläre und visuelle Stimulation nur kurzfristig beruhigen lassen und erneut Zeichen von Unruhe zeigen, sobald der Reiz sistiert. Barr (1998) weist auf eine »transient erhöhte Responsivität« des exzessiv schreienden Säuglings hin: Seine Antwortbereitschaft (Responsivität) und Erregbarkeit (Reaktivität) auf einen Umweltreiz sind erhöht, die Selbstregulationsfähigkeit ist jedoch vermindert, und der vermehrt unruhige
179
13
Säugling benötigt mehr Zeit, sich zu beruhigen und zu erholen. Aus unseren Beobachtungen könnte das scheinbar reizsuchende Verhalten der exzessiv schreienden Babys auch als ein »Stabilisierungsversuch« der Säuglinge verstanden werden. Eltern und Kind »nutzen« dessen hohe Reaktivität und Responsivität, um einen zumindest kurzfristigen Beruhigungseffekt zu erlangen.
13.5.4
Temperamentsfaktoren
Der Einfluss von Temperamentsfaktoren wird kontrovers diskutiert. In der Münchner Katamnesestudie (Wurmser et al. 2004; vgl. auch 7 Abschn. 13.3) erhielten die Eltern der inzwischen 30 Monate alten Kinder eine adaptierte Version des Fragebogens ICQ (Bates u. Lounsbury 1979), die die Temperamentsdimensionen Unruhe/Schwierigkeit, Hartnäckigkeit, Anpassungsfähigkeit, irregulärer Rhythmus und Abhängigkeit erfasste. Signifikant unterschieden sich die ehemals exzessiv schreienden Kinder von denen der Kontrollgruppe nur in den Dimensionen Unruhe/Schwierigkeit und Hartnäckigkeit. Die Korrelation zwischen den Werten der Erstuntersuchung im Kindesalter von null bis sechs Monaten und der Nacherhebung zeigten eine geringe bis mäßige Stabilität der mangelnden Anpassungsfähigkeit und der Unruhe/Schwierigkeit. Bensel u. Haug-Schnabel (2003) weisen auf ein nicht stabiles Temperamentskonstrukt über die Zeit und den Kontext hin. In einigen Untersuchungen erbrachten physiologische Messungen an unruhigen und unauffälligen Säuglingen (Herzfrequenz, Herzfrequenzvariabilität, Vagotonus) keine nennenswerten Unterschiede in der körperlichen Antwort auf Stress (z. B. White et al. 2000; Kirjavainen et al. 2001) und im Temperament in der Zeit nach den Schreiproblemen. Temperamentsfaktoren kommen möglicherweise erst dann verstärkt zum Tragen, wenn zusätzliche Faktoren, z. B. eine verminderte »Passung« zwischen Eltern und Kind, ein »Misfit« zwischen Kind und Umwelt (Largo u. Benz-Castellano 2004) mit Störungen in der Eltern-Kind-Interaktion und -beziehung oder psychosoziale Belastungsfaktoren, die Entwicklung
180
Kapitel 13 • Exzessives Schreien
der kindlichen Fähigkeit zur Selbstregulation beeinträchtigen.
13.5.5
13
Familiäre und psychosoziale Belastungsfaktoren
Die klinische Gruppe exzessiv schreiender Säuglinge zeigt sich prä- und postnatal durch psychosoziale Risikofaktoren hochgradig belastet. Mütterlicher lang anhaltender Stress und abnorme Ängste in der Schwangerschaft, Depression bei Müttern und Vätern, unbewältigte Paarkonflikte und Konflikte mit den Herkunftsfamilien, Hoffnungslosigkeit, das Gefühl von nicht zu bewältigenden äußeren Anforderungen, Belastungen am Arbeitsplatz und unerwünschte/kritische Lebensereignisse waren als pränatale Belastungsfaktoren mit vermehrtem Säuglingsschreien assoziiert (Papoušek u. von Hofacker 1998; Ziegler et al. 2004; Sondergaard et al. 2003; Canivet et al. 2005; Wurmser 2007; van der Wal et al. 2007; van den Berg et al. 2009). Pränataler Stress kann die körperliche und konstitutionelle Entwicklung des Feten über die stressinduzierte Aktivierung des autonomen Nervensystems und der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-(HPA-)Achse beeinträchtigen (Kinsella u. Monk 2009; s. auch 7 Kap. 1) und die elterlichen emotionalen Ressourcen und den Zugang der Eltern zu ihren intuitiven Kompetenzen in der Interaktion mit ihrem nun geborenen Kind mindern. In einer klinischen Population (Ziegler et al. 2004) waren 64 % der Probanden von pränatalen psychosozialen Risiken betroffen. Ein Review von Studien zur Vorhersage des kindlichen Schreiens aus Schwangerschaft und Geburtsverlauf (St. JamesRoberts u. Conroy 2005) konnte jedoch keine einheitlichen Ergebnisse darlegen. Auch postnatale Belastungsfaktoren wie Paarkonflikte, Konflikte mit den Herkunftsfamilien, sozialökonomische Probleme, geringe Unterstützung und soziale Isolation, Alleinerziehendenstatus (Ziegler et al. 2004), eine erhöhte Zustandsangst (insbesondere bei jungen Müttern und bei Müttern mit geringem Bildungsstand; Canivet et al. 2005) und vorausgegangene subjektiv belastende Geburtserfahrungen der Eltern (Übersicht in Thiel-Bonney u. Cierpka 2004) waren mit einem
vermehrten Säuglingsschreien assoziiert und/oder erhöhten das Risiko für exzessives Schreien. Akman und Kollegen (2006) sahen in einer türkischen Stichprobe postpartal-depressive Symptome und einen unsicheren mütterlichen Bindungsstil assoziiert mit exzessivem Schreien. Die Eltern eines exzessiv schreienden Babys fühlen sich meist in ihrem Selbstwert beeinträchtigt (Stifter u. Bono 1998), leiden vermehrt unter einer depressiven Symptomatik (Vik et al. 2009; vgl. auch Wake 2006), empfinden Ängste, Ärger und Gefühle von Zurückgewiesenwerden, Schuld, Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht und Wut (s. auch Ellett u. Swenson 2005). Papoušek u. von Hofacker (1998) fanden vermehrt beeinträchtigte oder gestörte Mutter-Kind-Beziehungen und in 40 % der klinischen Dyaden (gegenüber 19 % in der Kontrollgruppe) dysregulierte Muster im Zwiegespräch zwischen Mutter und Kind. Auch die Interaktion der Väter mit ihren Säuglingen kann vermehrt dysfunktional gestaltet sein (Räihä et al. 2002). In einer Studie aus den USA (Levitzki u. Cooper 2000) schilderten mehr als 90 % der Mütter erhebliche Spannungen in der Paarbeziehung und Einschnitte in ihren sozialen Kontakten. Alle Mütter der untersuchten 23 Mutter-Kind-Paare zeigten als Antwort auf das exzessive Schreien des Kindes physische und psychische Symptome, 70 % berichteten über aggressive Gedanken und Fantasien in Bezug auf ihr Kind, 26 % dachten sogar an einen Infantizid. Räihä et al. (1995) untersuchten den familiären Kontext bei exzessivem Schreien. Es zeigten sich signifikante Unterschiede in den Familienstrukturen zwischen Familien mit und Familien ohne »Kolikschreien«. Familien mit Säuglingsschreien erschienen weniger organisiert und erlebten weniger Nähe und eine weniger starke Familienkoalition. Die hierarchische Organisation der Familie war »chaotischer« mit unklaren individuellen und generationellen Grenzen. In den Familien bestanden Schwierigkeiten, die täglichen Aktivitäten zu meistern; sie zeigten weniger Energie, Vitalität und Flexibilität. Die Familienatmosphäre erschien weniger optimistisch, das familiäre Konfliktniveau war erhöht. Ein Jahr später (Rähiä et al. 1996) bestanden noch immer vermehrt ungelöste Konflikte in den belasteten Familien, verbunden mit größerer Unzufriedenheit, geringerer gegenseitigen Empa-
181
13.6 • Diagnostik
thie und mehr Schwierigkeiten in der familiären Kommunikation. Insgesamt hatte sich die Stimmung in den untersuchten Familien jedoch in allen Gruppen verbessert. Drei Jahre später (Räihä et al. 1997) wurden keine signifikanten Unterschiede mehr zwischen den Familien gefunden. Rautava et al. (1995) fanden auch drei Jahre nach dem exzessiven Schreien noch eine größere familiäre Unzufriedenheit mit der Verteilung der Verantwortung im Familienalltag und mit der Menge an Freizeit und gemeinsamen Aktivitäten. Die ehemals exzessiv schreienden Kinder der »Kolikfamilien« zeigten im Alter von drei Jahren vermehrt Schlafprobleme und Trotzanfälle. Ellet et al. (2005) explorierten in einer qualitativen Studie die Perspektive der Eltern in Bezug auf den überdauernden Einfluss des Säuglingsschreiens auf die kindliche Entwicklung und auf die Beziehungen in der Familie. Die meisten Eltern konstatierten nach der Zeit des »Kolikschreiens« keine anhaltenden Probleme ihres Kindes. Einige der Befragten schilderten jedoch ihren Eindruck, dass die Beziehungen, die Kommunikation und die gegenseitige Unterstützung in der Familie aufgrund des früheren exzessiven Schreiens noch immer beeinträchtigt waren. Immerhin gelingt es vielen Eltern trotz dieser Belastungen, ein gut aufeinander abgestimmtes und intuitiv getragenes Miteinander in der Familie zu entwickeln. Stifter u. Bono (1998) fanden in einer longitudinalen Stichprobe zur Temperamentsentwicklung keine Unterschiede in der Bindungsklassifikation von vermehrt schreienden und nicht schreienden Säuglingen im Alter von 18 Monaten. St. James-Roberts et al. (1998) konnten in einer prospektiven Studie mit einer unselektierten Stichprobe aus einer Geburtsklinik zeigen, dass die meisten Mütter von persistierend schreienden Babys trotz der Belastung zugeneigt und feinfühlig mit ihren Kindern umgingen. Die Autoren betonen die Notwendigkeit, Fälle aus unselektierten Stichproben der Normalbevölkerung von solchen mit hohen psychosozialen und medizinischen Risiken zu unterscheiden (vgl. auch 7 Abschn. 13.3). Zwischen den psychosozialen Belastungsfaktoren und der Unruheneigung eines Säuglings bestehen also enge und komplexe Wechselwirkungen, die es in der Diagnostik und Beratung der belasteten Familien zu berücksichtigen gilt. Nicht das
13
anhaltende Schreien des Babys oder die Belastung der Eltern allein, sondern ein sich aufschaukelnder Kreislauf von kindlichen und elterlichen Faktoren (vgl. . Abb. 13.1) lassen die Interaktion insbesondere im Beruhigungskontext eskalieren.
13.6
Diagnostik
Die Diagnostik des exzessiven Schreiens orientiert sich an den Leitlinien der »Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter« (von Hofacker et al. 2007; vgl. auch 7 Abschn. 13.1 und die Übersicht in 7 Abschn. 13.2.1) und bezieht medizinische, interaktionelle und psychodynamische Aspekte gleichermaßen mit ein. Kontrovers diskutiert wird das amerikanische multiaxiale diagnostische Klassifikationsmanual der Arbeitsgruppe Zero To Three DC:0–3R (Zero To Three 2005). Die Diagnose »Regulationsstörung« wird dort in der Achse I als eine primär im Kind zu lokalisierende Störung der Regulation seiner sensorischen Reizverarbeitung verschlüsselt, die mit motorischen und sozial-emotionalen Problemen einhergeht (»regulation disorders of sensory processing«). Als Untergruppen werden Regulationsstörungen vom hypersensitiven Typus (Typ I), vom hyposensitiven/unterresponsiven Typus (Typ II) und vom reizsuchenden/impulsiven Typus (Typ III) beschrieben. Die Befundlage ist jedoch uneinheitlich; die untersuchten Stichproben sind klein, und es mangelt an reliablen und validen diagnostischen Instrumenten für das Säuglingsalter, die eine ausreichende Trennschärfe der einzelnen Untergruppen gewährleisten können. Damit wird der DC:0–3R und die Forderung von Gontards (2010), elterliches Verhalten nicht weiter in die Diagnosekriterien der kindlichen Störung einzuschließen und kategoriale gegenüber dimensionalen Diagnosen zu bevorzugen, dem primär mehrdimensionalen Störungsbild und den engen Wechselwirkungen zwischen kindlichen und elterlichen Faktoren (vgl. auch von Hofacker et al. 2007; Papoušek u. Wollwerth 2006 sowie 7 Kap. 11) nicht ausreichend gerecht. Von Gontard (2010) schlägt vor, das frühe Schreien in den ersten drei Lebensmonaten als »belastendes Symptom« zu bewerten; erst das persistierende Säuglingsschreien (vgl. 7 Abschn. 13.3),
182
Kapitel 13 • Exzessives Schreien
Kreislauf negativer Gegenseitigkeit Beispiel exzessives Schreien Einflussfaktoren Eltern: Persönlichkeit / psych. Befindlichkeit Einflussfaktoren Kind: Biografie, Repräsentationen Temperament, Reifung Partnerschaft / soziales Netz prä,- peri,- postnatale organische Erziehungseinstellung / Kultur und psychosoziale Risiken / prä-, peri,- postnatale Risiken / Ressourcen u.a. Ressourcen u.a. Mangel an passender intuitiver Unterstützung Herumtragen, Ablenkung, Überstimulation Ängstliche Überfürsorge / Vernachlässigung
Eltern
Kind
fühlen sich abgelehnt und unwirksam Verunsicherung, Schuldgefühle Erschöpfung, Frustration, Depression Einengung der Sensibilität Ohnmacht, Ärger/Wut
Reizoffenheit, Hyperexzitabilität Unzugänglichkeit Blickabwendung Unruhe, Überstrecken Schlaf- und Fütterprobleme
Schreien . Abb. 13.1
13
Kreislauf negativer Gegenseitigkeit bei exzessivem Schreien (nach Papoušek 2004)
das meist mit einer Vielzahl von Risikofaktoren und langfristigen Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung einhergeht, könne »möglicherweise als ‚Störung‘ bezeichnet werden«. Dabei betont von Gontard in seinem Buch einerseits die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtungsweise des exzessiven Schreiens, reduziert jedoch andererseits ein komplexes Störungsbild im ersten Trimenon auf den Terminus des »belastenden Symptoms« und damit auf den akustisch wahrnehmbaren Ausdruck des kindlichen Schreiens. Gemäß den Ergebnissen von Papoušek und Kollegen aus dem Münchner Kinderzentrum zeigen diese Kinder in der Mehrzahl der Fälle jedoch zudem z. B. eine erhebliche Störung der Schaf-Wach-Organisation mit geringen Tages- und Gesamtschlafzeiten (Papoušek et al. 2004b; Ziegler et al. 2004; vgl. auch 7 Abschn. 13.5.2). Wolke et al. (2002) konnten in einer Studie zeigen, dass nur 7,8 % der klinisch vorgestellten bis zu sechs Monate alten Kinder (in dieser Gruppe befanden sich 37,4 % Kinder im ersten Trimenon) ein isoliertes Schreiproblem aufwiesen; bei 92,2 % der Säuglinge bestanden zusätzliche Schlaf- und/oder Fütterprobleme. Aber auch diese
Problematik des Kindes unter sechs Monaten bildet sich als Diagnose im Rahmen bestehender Klassifikationssysteme nicht ab: Eine »Schlafstörung« z. B. sollte nicht vor dem sechsten (von Hofacker et al. 2007) bzw. zwölften Lebensmonat (Zero To Three 2005; von Gontard 2010) diagnostiziert werden. Eine diagnostische Zuordnung des exzessiven Schreiens und der frühkindlichen Regulationsstörung nach der ICD-10 (Dilling et al. 1993) ist bisher nicht möglich. Aufgrund der ätiologischen Nähe des Störungsbildes zu frühkindlichen Anpassungs- und Reifungsprozessen sollte am ehesten eine Klassifikation als »Anpassungsstörung (F 43.2) im Sinne einer frühkindlichen Regulationsstörung mit exzessivem Schreien« erfolgen. Zur diagnostischen Einschätzung werden die Eltern in einem ausführlichen Anamnesegespräch nach vorausgegangenen und aktuellen Aspekten der bestehenden Symptomatik befragt (nach von Hofacker et al. 2007): 5 Kindbezogen: Schilderung von Schwangerschaft, Geburt, medizinischen Belastungen/ Erkrankungen, bisheriger Entwicklung, kindlichen biologischen und psychosozialen Risiko-
183
13.7 • Beratung/Therapie
faktoren und Ressourcen, kindlichen Regulationsproblemen (Beginn, Dauer, Kontexte). 5 Interaktions- und beziehungsbezogen: interaktive Kontexte von Störung und Gelingen: Was haben die Eltern schon versucht? Welche Versuche waren erfolgreich, welche nicht? Welche Ursachen/Erklärungsmodelle schreiben sie dem Schreien zu, und wie interpretieren sie es? Welche bisherigen Erfahrungen mit ihrem Kind bedingen diese Zuschreibung? Beziehungsgeschichte seit der Geburt des Kindes; wie erleben die Eltern ihr Kind/die Beziehung zu ihm aktuell? Welche Erwartungen haben die Eltern an ihr Kind und an seine Entwicklung? Welche Interaktionskontexte sind unbelastet, und welche Alltagsmomente genießen die Eltern mit ihrem Kind? Wie wird der alltägliche Betreuungsmodus gestaltet? Wie sind die Geschwister einbezogen? 5 Elternbezogen: elterliches Befinden und subjektives Belastungserleben, biologische und psychosoziale Belastungen und Ressourcen. 5 Paar- und familienbezogen: Geschichte der Paarbeziehung und Familiensituation (z. B. Qualität der Paarbeziehung, Übergang zur Elternschaft; berufliche Tätigkeit der Eltern; gegenseitige Unterstützung und soziales Netz; eigene Freiräume); beziehungsrelevante Kindheitserinnerungen (z. B. Erfahrung von sozial-emotionaler Unterstützung; Trennungs-/ Verlusterlebnisse, Traumatisierungen); Herkunftsfamilie (Ressourcen, Belastungen und Erkrankungen, transgenerationale Beziehungskonflikte). Wie wurden Stresssituationen bisher in der Familie gemeistert? Um das Ausmaß und eine mögliche Pervasivität der Regulationssymptomatik, aber auch die Stärken des Kindes und die Ressourcen in der Eltern-KindKommunikation beurteilen zu können, sollten Beobachtungen von Szenen des dyadischen oder triadischen Austauschs im Zwiegespräch oder im Spiel, beim Wickeln und Füttern, also auch außerhalb des störungsrelevanten Kontexts von kindlicher Überlastung und elterlichen Beruhigungsversuchen, erfolgen. Dazu können Ressourcen und Belastungen für Beratende und Eltern in einer Videoaufzeichnung (z. B. Zwiegespräch, Still-face-Aufnahme,
13
triadisches Spiel (LTP) – vgl. auch 7 Kap. 29, 33, 34) »sichtbar« gemacht werden und den therapeutischen Weg unterstützen. Der Einsatz von Protokollen und Tagebüchern zum Schreien/Quengeln, Schlafen und Füttern (z. B. in Papoušek et al. 2004a) ist zum Verständnis der Situation von Kind und Familie überaus hilfreich. (Eltern-)Fragebögen und Skalen (z. B. der »Fragebogen zum Schreien, Füttern und Schlafen«, Groß et al. 2007) können zur weiteren Annäherung an diagnostische Fragestellungen beitragen. . Abb. 13.2 fasst die diagnostischen Schritte in einem diagnostischen Entscheidungsbaum zusammen.
13.7
Beratung/Therapie
Beratungs- und Therapiekonzepte bei frühkindlicher Regulationsstörung orientieren sich an der Symptomtrias (7 Abschn. 13.1) und müssen dabei einem breiten Spektrum kindlicher Störungsbilder mit individueller Ausprägung und unterschiedlichen organischen und psychosozialen Einflussfaktoren gerecht werden (Thiel-Bonney et al. 2005; Wollwerth de Chuquisengo u. Papoušek 2004). Es wird das Ziel verfolgt, die kindliche Regulationsstörung möglichst rasch zu mindern oder aufzulösen, positive und entwicklungsgerechte Interaktions- und Beziehungserfahrungen zu ermöglichen und für eine Entlastung der Eltern und der Familie Sorge zu tragen. Von einer Entwicklungskrise bei ausreichenden elterlichen und kindlichen Ressourcen bis zu schweren Beeinträchtigungen von Beziehung und Bindung zwischen Eltern und Kind und psychischer Belastung der Eltern umfasst das therapeutische Spektrum vier Ebenen.
13.7.1
Somatische Ebene
Akute Erkrankungen wie Infekte (z. B. Mittelohrentzündungen, Harnwegsinfekte, Bronchitis), gastrointestinale Störungen, Atopie/Allergien, Verletzungen oder neuropädiatrische Erkrankungen (Savino 2007; Roberts et al. 2004) müssen ausgeschlossen bzw. mitbehandelt werden.
nein
Dysfunktionale Eltern-Kind-Interaktion
Generalisierte Regulationsstörung mit exz. Schreien im Rahmen belasteter/gestörter Eltern-Kind-Beziehungen
ja
* Beurteilung, ob auch: mangelnde/verzerrte Wahrnehmung Fantasien bzgl. des Schreiens (»Baby schreit manipulativ«, »Horror«, »fühle mich ausgeliefert«) Abwertung/Ablehnung des Kindes, auffällige Bezogenheit
Isolierte Regulationsstörung mit exz. Schreien im Rahmen belasteter/gestörter Eltern-Kind-Beziehungen
ja
weiterführende somatische Diagnostik
Organische Diagnose (GÖR, KISS, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, neurologische Auffälligkeiten, Unreife u.a.)
ja
* Bei fast allen finden sich: Dysfunktionale Interaktionsmuster im Beruhigungskontext (z.B. Eltern geben Reizhunger des Kindes nach; Überstimulation; ständiges Herumtragen; Überlastungssyndrom der Eltern, Eskalation von Erregung/Anspannung)
nein
Pädiatrische Untersuchung organisch/neurologisch auffällig?
. Abb. 13.2 Diagnostischer Entscheidungsbaum bei exzessivem Schreien (aus: Papoušek et al. 2004a; mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Stiftung Kindergesundheit)
Isolierte Regulationsstörung mit exz. Schreien ohne tief greifende Belastung/ Störung der Beziehung
nein
ja
Weitere Bereiche der gemeinsamen Regulation betroffen? (ausgeprägte Irritabilität; Fütterstörung; Störung des Nachtschlafs?)
nein
Diagnostisches Gespräch: Art, Dauer, Ausmaß des Schreiens; Belastung der Mutter/Eltern
Verhaltens-, Interaktions- und Beziehungsdiagnostik: Beobachtung/Gespräch Schrei-Schlaf-Tagebuch; kindliche Regulationsfähigkeiten: Eltern-Kind-Interaktion beim Beruhigen/in anderen Kontexten
Leitsymptom Exzessives Schreien in den ersten Lebensmonaten
13 Diagnostischer Entscheidungsbaum: »Exzessives Schreien«
184 Kapitel 13 • Exzessives Schreien
185
13.7 • Beratung/Therapie
z
»Blähungen«, »Dreimonatskoliken«
Noch immer werden Eltern exzessiv schreiender Säuglinge mit dem Hinweis auf »Blähungen« und gastrointestinale Ursachen in den ersten drei Lebensmonaten vertröstet. Sichtbare Blähungen sind jedoch meist die Folge des vermehrten Schreiens und des Schluckens von Luft, nicht die Ursache (Sferra u. Heitlinger 1996). Interventionen, die den Darmgasgehalt verringern, haben keinen Einfluss auf das kindliche Schreiverhalten: Simethicon (Sab Simplex®; Lefax®) zur Reduktion von Blähungen zeigt gegenüber einem Placebo keinen signifikanten Effekt auf das kindliche Schreien und gilt daher in Metaanalysen und Reviews als unwirksam (Garrison u. Christakis 2000). Auch die Zugabe von Ballaststoffen zur Nahrung zeigte keinen Effekt auf das kindliche Schreiverhalten. Das exzessive Säuglingsschreien sollte demnach nicht länger auf eine primäre Störung des Darmtraktes (»Dreimonatskolik«) zurückgeführt werden; die Bezeichnung als »Dreimonatskolik« sollte verlassen werden. Kräutertee (Mischung aus Kamille, Eisenkraut, Fenchel und Zitronenmelisse) konnte das exzessive Schreien signifikant mindern, muss dafür allerdings in einer Menge von dreimal täglich 150 ml verabreicht werden. Dies wird aufgrund der potenziellen Interferenz mit der notwendigen Menge an Milchnahrung nicht empfohlen (Garrison u. Christakis 2000; Roberts et al. 2004). z
Gastroösophagealer Reflux (GÖR)
Ein GÖR mit/ohne Refluxösophagitis kann ein exzessives Schreien sekundär (mit)bedingen. In Abwesenheit von häufigem Erbrechen oder Fütterschwierigkeiten ist ein pathologischer GÖR als Ursache kindlichen Schreiens jedoch unwahrscheinlich (Heine et al. 2006). Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Schreidauer des Kindes und einem GÖR konnte nicht nachgewiesen werden z
Entzündung im Magen-Darm-Trakt
Ein US-amerikanisches Team (Rhoads et al. 2009) ging der Frage nach, ob bei »Schreibabys« eine entzündliche Komponente im Gastrointestinaltrakt und Veränderungen in der Darmflora maßgeblich an der Symptomatik beteiligt sein könnten. Es wurde eine Erhöhung unspezifischer Entzündungsmarker (Calprotectin) im Stuhl gefunden, die für
13
eine bakteriell oder allergisch bedingte Entzündung in der Darmschleimhaut sprechen. Zudem gab es zwischen der klinischen und der Kontrollpopulation signifikante Unterschiede im Hinblick auf die Bakterienzusammensetzung im Darm. Weitere Forschungsbemühungen sind notwendig, um diese ersten Ergebnisse weiter zu klären – die Autoren planen eine Interventionsstudie mit einem Probiotikum. z
Nahrungsmittelintoleranz
Laktoseintoleranz Von einer möglichen Lakto-
seintoleranz ist auszugehen, wenn es aufgrund unresorbierter Kohlenhydrate bei Laktasemangel zu osmotischen Durchfällen mit sauren Stühlen kommt. Nur in diesen Fällen resultierte eine laktosefreie Nahrung in einer signifikanten Abnahme des kindlichen Schreiens (Hiscock u. Jordan 2004). Für das grundsätzliche Füttern laktosefreier Nahrung oder die zusätzliche Gabe von Laktaseenzym zur Muttermilch gibt es keine Evidenz (s. Reviews: Lucassen et al. 1998; Garrison u. Christakis 2000; Leung u. Lemay 2004). Kuhmilchprotein-Intoleranz Bei einigen exzessiv
schreienden Kindern kann eine Nahrungsmittelallergie gegen Kuhmilch- oder Sojaprotein ursächlich sein. Es finden sich dann jedoch, ähnlich wie bei einer Laktoseintoleranz, weitere organische Symptome wie z. B. Erbrechen, schleimig-blutige Durchfälle, geringe Gewichtszunahme, Zeichen einer Atopie mit ekzematösen Hautveränderungen und Bronchitiden. Auch bei gestillten Kindern kann eine Kuhmilchproteinintoleranz auftreten. Bei bestehendem Verdacht (insbesondere bei Säuglingen mit blutigen Durchfällen und unzureichender Gewichtszunahme und bei Müttern mit Zeichen einer Atopie) sollte über einen Zeitraum von zunächst einer Woche ein Versuch mit hypoallergener Ernährung des Säuglings unternommen werden (Roberts et al. 2004; Hill et al. 2005). Stillende Mütter halten eine Diät ein (Vermeidung von Milch und Milchprodukten, Eiern, Getreide und Nüssen, eventuell auch von Zitrusfrüchten, Soja, Fisch). Formulanahrung kann für kurze Zeit auf hydrolysierte (Lucassen et al. 2000) oder aminosäurebasierte Nahrung, z. B. Neocate® (Estep u. Kulczycki 2000; Savino 2007) umgestellt werden. Sojabasierte Nahrungen
186
13
Kapitel 13 • Exzessives Schreien
können eine positive Wirkung bei Kuhmilchallergie zeigen (Garrison u. Christakis 2000; Leung u. Lemay 2004); allerdings sind einige Kinder nicht nur gegen Kuhmilch-, sondern auch gegen Sojaprotein allergisch (Hiscock u. Jordan 2004). Nahrungsumstellungen sollten jedoch sorgfältig überlegt sein: Die Ergebnisse verschiedener Studien erscheinen nicht einheitlich, und es ergibt sich insgesamt bei nur 5 bis 10 % der Kinder eine Besserung der Schreisymptomatik (Ziegler et al. 2004). Zwart et al. (2007) untersuchten 104 Säuglinge, die aufgrund exzessiven Schreiens zur Abklärung medizinischer Ursachen oder zur Behandlung bei ausbleibender Besserung nach ambulanter Beratung in die Klinik eingewiesen wurden. Bei 77 % dieser Kinder war eine Nahrungsumstellung erfolgt; in keinem Fall wurde eine medizinische Ursache identifiziert. Nahrungsumstellungen können durch eine Verunsicherung von Mutter und Kind die Stilldauer verkürzen. Zudem erleben die betroffenen Mütter ihr Kind vermehrt als »krank« und allergiebelastet; Forsyth u. Canny (1991) sehen dabei die Gefahr eines »allergy child syndrome« mit erhöhter kindlicher Vulnerabilität in der Wahrnehmung der Eltern und möglichen Auswirkungen auf die psychosoziale Entwicklung des Kindes. Zudem können streng hydrolysierte Nahrungen aufgrund des bitteren Geschmacks eine aversive Reaktion des Säuglings zur Folge haben und somit sekundäre Fütterprobleme bedingen. z
Funktionelle neurologische Auffälligkeiten/ Manualtherapie
In einer Stichprobe der Münchner Sprechstunde für Schreibabys (von Hofacker et al. 1999) wiesen 51 % der Säuglinge leichte bis mäßige funktionelle neurologische Auffälligkeiten auf (mäßige Rumpfhypotonie bei leichter Extremitätenhypertonie/ Tonusregulationsstörung, Haltungsasymmetrien, leichte zentrale Koordinationsstörungen mit Aufrichtungsmangel). In der Mehrzahl besserten sich die Auffälligkeiten spontan unter ergotherapeutischer Handling-Anleitung der Eltern und kurzzeitiger Physiotherapie oder Manualtherapie. Als Ursache für das exzessive Schreien wird auch eine KISS (Kopfgelenk-induzierte Symmetriestörung; bei ca. 3 bis 6 % der Säuglinge) dis-
kutiert. Eine KISS ist mit einer Blockierung oder Fehlfunktion der beiden oberen Halswirbel, hoher Tastempfindlichkeit des Nackens, eingeschränkter Kopfbeweglichkeit/Kopfschiefhaltung, Asymmetrie der (Extremitäten-)Bewegung und vermehrtem kindlichen Überstrecken verbunden. Biedermann (2009) beschreibt bei diesen vermehrt schreienden Säuglingen nach korrekter Vordiagnostik und enger Indikationsstellung die manualtherapeutische KISS-Behandlung als in 60 % der Fälle erfolgreich. Manualtherapeutische/chiropraktische Interventionen ohne eindeutige klinische Symptomatik führten in einer Doppelblindstudie (Olafsdottir et al. 2001) gegenüber einem Placebo nicht zu einer Besserung der kindlichen Schreisymptomatik. Eine englische Studie (Hayden u. Mullinger 2006) konnte jedoch eine positive Wirkung der kranialosteopathischen Behandlung im Hinblick auf die Minderung der Schreidauer und die Erhöhung der Schlafdauer bei exzessiv schreienden Babys aufzeigen. Miller u. Phillips (2009) fanden bei einer Nachbefragung der Eltern (Fragebogen) in einer Gruppe von zwei- bis dreijährigen Kindern, die aufgrund ihres exzessiven Schreiens als Säuglinge (bis zum dritten Lebensmonat) chiropraktisch/manualtherapeutisch behandelt worden waren, eine Minderung von trotzigen Verhaltensweisen und Schlafproblemen gegenüber einer Gruppe ehemaliger »Schreibabys« ohne manualtherapeutische Intervention. Der spezifische Effekt der Intervention blieb jedoch unklar. Der Babymassage und der Erzeugung von Vibrationen des Kinderbettchens (»crib vibrator«) wurde in einer finnischen Studie (Huhtala et al. 2000) kein spezifischer Effekt auf die Reduktion des Schreiens zugemessen. Die Babymassage konnte jedoch in einer Gruppe von Müttern mit postpartaler Depression die Mutter-Kind-Interaktion signifikant verbessern (Onozawa et al. 2001). Häufig wird ein vermehrtes Tragen des exzessiv schreienden Babys propagiert, um die Symptomatik zu lindern. Hunziker u. Barr (1986) fanden zunächst tatsächlich eine Minderung der Schreidauer, dies allerdings nur bei nicht exzessiv schreienden Babys. Bei »Kolikschreien« mit verlängerter Schreidauer erwies sich in einer späteren Studie das vermehrte Tragen als unwirksam (Barr et al. 1991), was als ein Hinweis auf erschwerte Regulationspro-
187
13.7 • Beratung/Therapie
zesse des Säuglings verstanden werden kann (vgl. auch 7 Abschn. 13.5.3).
13.7.2
Entwicklungsbezogene Ebene
Obwohl in der Bevölkerung die sogenannten Dreimonatskoliken als meist vorübergehendes Problem bekannt sind, suchen viele Eltern den Rat ihres Kinderarztes. Sie fühlen sich durch das exzessive Schreien des Kindes in hohem Maße belastet. So empfehlen Reijneveld et al. (2001), bei der Definition eines »Schreibabys« nicht nur die Schreidauer zu beachten (»Wessel-Regel«), sondern auch die elterliche Stressbelastung zu berücksichtigen. Die an der kindlichen Entwicklung orientierte Beratung unterstützt die Eltern, zu einem verbesserten Verständnis der Entwicklung ihres Säuglings/Kleinkindes und seiner Signale in verschiedenen Alltagskontexten und zu entwicklungsgerechten Antworten auf aktuelle kindliche Bedürfnisse (z. B. beim Einschlafen, Füttern etc.) zu kommen. Ausgehend von der Annahme, dass exzessives Schreien ein Ausdruck einer dysregulierten Schlaf-Wach-Organisation mit kumulierendem Schlafdefizit und Überreiztheit ist, werden die Eltern anhand von zuvor über einige Tage geführten 24-Stunden-Protokollen (zu Mahlzeiten, Zeiten gelungener Interaktion, Schrei- und Unruhephasen, Schlafphasen) beraten. Möglichkeiten zur Beruhigung des Kindes, dem es aufgrund seiner erhöhten Erregbarkeit und Reaktivität schwerfällt, von Umweltreizen »abzuschalten« und einzuschlafen, werden mit den Eltern besprochen. Untersuchungen bestätigen die Wirksamkeit von Elternberatung und -anleitung und beschreiben eine signifikante Minderung der kindlichen Schreidauer nach Interventionen, die insbesondere auf die Strukturierung des Tagesablaufs, auf eine Reizreduktion und Vermeidung von Überstimulation und auf eine passende Unterstützung des Kindes bei der Entwicklung selbstregulatorischer Fähigkeiten fokussieren (McKenzie 1991; Wollwerth de Chiquisengo u. Papoušek 2004; Garrison u. Christakis 2000). Die Regelmäßigkeit der Tagesstruktur hat als sozialer Zeitgeber einen wesentlichen Einfluss auf die innere Uhr des Kindes und seine Synchronisation des Schlaf-Wach-Verhaltens
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mit dem Tag-Nacht-Wechsel (Jenni et al. 2008; vgl. auch 7 Kap. 14). In einer niederländischen Studie (van Sleuwen et al. 2006) wurden 398 gesunde, exzessiv schreiende Kinder im Alter von bis zu drei Wochen plus sechs Tage rekrutiert. Die Eltern erhielten eine verhaltensorientierte Beratung/Intervention, die eine regelmäßige Tagesstruktur unter Reizreduktion vorgab: zeitliche Abfolgen von Schlaf, Füttern direkt nach dem Schlaf, positiver spielerischer Interaktion mit dem Baby und kurzem Alleinspiel, Beobachtung von Müdigkeitssignalen und zeitnahes Zubettbringen. Die Regelmäßigkeit der Tagesstruktur trägt den Temperamentsunterschieden (vgl. 7 Abschn. 13.5.4) von vermehrt schreienden Babys gegenüber ihren unauffälligen Altersgenossen Rechnung. Die Hälfte der Kinder wurde nun zusätzlich vor dem Schlafen in ein Tuch eingebunden (»gepuckt«). Nach der ersten Interventionswoche hatte sich das Schreien in beiden Gruppen um 42 % reduziert. Dabei zeigte sich für Kinder unter acht Wochen ein signifikanter zusätzlicher Profit durch das Pucken mit einer stärkeren Abnahme der Schreidauer über die Interventionszeit. Für die älteren Babys erbrachte das Pucken keinen zusätzlichen Gewinn. Neuere Studien warnen vor einem möglichen erhöhten Risiko gepuckter Säuglinge, am plötzlichen Kindstod zu sterben, insbesondere wenn das Pucken mit der Bauchlage verbunden wird (Richardson et al. 2010; van Sleuwen et al. 2007).
13.7.3
Interaktions- und kommunikationszentrierte Ebene
Es ist von besonderer Bedeutung, dass Ärzte und Therapeuten die Eltern in ihrem hohen Leidensdruck ernst nehmen, ihnen wertschätzend begegnen und ohne Schuldzuweisung eine angemessene Hilfe anbieten. Betroffene Eltern fühlen sich durch das unstillbare Schreien ihres Kindes in hohem Maße belastet. Eine Interaktions- und Kommunikationsanleitung zielt darauf ab, die Eltern für die Bedürfnisse ihres Kindes zu sensibilisieren. In angeleiteten »Baby-Lese-Stunden« (Barth 2000) werden sie er-
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Kapitel 13 • Exzessives Schreien
Schrei-/Schlaf-/Füttertagebuch Datum
Vormittag 6
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Nachmittag 12
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Unruhe, Quengeln Schreien Schlafen Gesamtschlafzeit: 9 Stunden Quengeln/Schreien: 5 ½ Stunden
. Abb. 13.3
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Nacht 23
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Schlafprotokoll Carla (Erstgespräch)
mutigt, feinfühlig, kontingent und entwicklungsangemessen auf die Signale des Kindes zu antworten (Cierpka 2004). Dies kann in den belasteten Alltagskontexten geschehen (beim Füttern, Beruhigen, Schlafenlegen etc.). Gleichzeitig sollten auch unbelastete Interaktionsmomente (z. B. im Spiel) berücksichtigt werden, um Ressourcen zu erkennen und Eltern in ihrer Kompetenz zu stärken. Solche dyadischen oder triadischen Momente zwischen Mutter/Vater und Kind können während der Anamnese und Beratung, beim An- und Ausziehen, beim Wickeln und Füttern des Säuglings/ Kleinkindes beobachtet werden; der Vater sollte in die Beobachtung und Beratung mit einbezogen sein. z
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Weiter auf dem nächsten Blatt (Tag)
Uhrzeit Stillen, Füttern
Fallgeschichte
Die Eltern der knapp drei Monate alten Carla klagen im Erstgespräch über ein nicht zu beruhigendes Schreien ihres Kindes, das am Nachmittag beginne und bis in die Nacht hinein andauere. Die Eltern tragen Carla fast den ganzen Tag über zur Beruhigung in aufrechter Position umher, schauen mit ihr aus dem Fenster oder bieten ihr immer wieder neue visuelle und akustische Reize an. Das Mädchen habe von Beginn an mit »großen Augen und sehr wach in die Welt geschaut«; es habe scheinbar einen sehr geringen Schlafbedarf, denn es wehre sich regelrecht gegen das Einschlafen und schlafe während des Tages sehr wenig. Um Carla bei Laune zu halten, »muss sie entweder an die Brust oder ständig in Bewegung gehalten werden«. Immerzu sei ihr langweilig, und sie wirke insgesamt unzu-
frieden und quengelig. Am frühen Vormittag sei sie munter, lächle viel und beginne mit kleinen Tönen die Eltern auf sich aufmerksam zu machen. Später jedoch vermeide sie zunehmend den Blickkontakt. Die Eltern fragen sich, ob es Carla in ihrer Familie nicht gefalle und ob sie es als Eltern für ihre Tochter »nicht gut machen«, da Carla trotz all der Bemühung um sie so viel schreie und am Abend kaum noch zu beruhigen sei (vgl. das Schlafprotokoll in . Abb. 13.3). Um die Eltern in ihren Kompetenzen zu bestärken und sie gleichzeitig für die kindlichen Signale und ihre eigenen Antworten darauf zu sensibilisieren, kann das Gespräch kurz unterbrochen werden, z. B. mit den Worten: »Oh, jetzt gerade schaut Ihr Kind Sie ganz intensiv an – es wirbt richtig um Sie! Und jetzt sieht es den Papa an – es gefällt ihm, dass beide Eltern da sind. Und Sie haben es gleich bemerkt und konnten mit einem feinen Gefühl direkt auf den Blick des Kindes antworten. Sehen Sie, wie es sich jetzt darüber freut!« Oder die Eltern werden während der Beratung direkt auf ein Signal des Kindes angesprochen, z. B.: »Carla wird gerade ganz unruhig. Ich habe den Eindruck, dass Sie Ihr Baby in den wenigen Monaten seit seiner Geburt schon gut kennengelernt haben – was, denken Sie, braucht Carla jetzt? Was will sie mit ihrem Quengeln wohl ausdrücken? Was würden Sie zu Hause in einer solchen Situation tun?« Und nach der Antwort der Eltern, ihrem Kind sei es wohl jetzt langweilig und sie würden ihr Baby in einem solchen Moment umhertragen und ihm etwas Neues zeigen, könnte eine weitere Frage den Blickwinkel
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13.7 • Beratung/Therapie
Schrei-/Schlaf-/Füttertagebuch Datum
Vormittag 6
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Nachmittag 11
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Unruhe, Quengeln Schreien Schlafen Gesamtschlafzeit: 14 ½ Stunden Quengeln/Schreien: 30 Minuten
. Abb. 13.4
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Nacht 23
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6 Weiter auf dem nächsten Blatt (Tag)
Uhrzeit Stillen, Füttern
Schlafprotokoll Carla (zweite Sitzung)
der Eltern auf andere/neue Erklärungsmöglichkeiten erweitern: »Ja, Langeweile wäre eine Möglichkeit der Erklärung. Was könnte Carlas Unruhe eventuell noch bedeuten?« Vielleicht äußern Mutter und Vater dann: »Na ja, hungrig kann sie jetzt gerade nicht sein; eigentlich sieht sie doch etwas müde aus – aber sie ist doch erst seit drei Stunden wach!?« Der Therapeut könnte nach Zeichen fragen, die diese Hypothese stützen: »Ja, das ist auch ein wenig mein Eindruck – Ihr Kind wirkt tatsächlich müde. Wie zeigt Ihnen Carla denn sonst, dass sie müde ist? Konnten Sie ihre Müdigkeitszeichen schon kennenlernen? Wie lange sind denn die Phasen, in denen das Mädchen nach einem Schlaf zufrieden und munter ist? Kann Ihnen Carla schon recht deutlich zeigen, wann sie hungrig oder müde ist, wann ihr etwas weh tut oder wann sie Ihre Nähe sucht? Oder macht Ihnen Ihr Baby das Erkennen und Verstehen dieser Signale noch etwas schwer? Signalisiert es vielleicht, dass es, obwohl es müde ist, lieber herumgetragen werden möchte und sich Dinge anschauen will, anstatt sich einem Schläfchen zu überlassen? In welchen Situationen möchte Carla denn gestillt werden? Hat sie dann immer Hunger, oder benötigt sie das Stillen auch als Hilfe zur Beruhigung? Wie gelingt es Ihnen denn zu Hause, Carla in den Schlaf zu begleiten, und wie könnte man ihr helfen, besser ‚abzuschalten‘?« Als Beobachtungsaufgabe für zu Hause können die Eltern darauf achten, wie ihr Baby erste Zeichen von Müdigkeit signalisiert, noch bevor es beginnt, heftig zu schreien. So könnten die Eltern bemerken, dass ihr Kind in der Interaktion seinen Blick ab-
wendet, nicht mehr »erzählen« oder mit den Eltern spielen möchte, motorisch unruhig und »fahrig« wird, zu quengeln beginnt etc. Wenn die Eltern diese Signale erkennen, können sie unter Anleitung versuchen, ihrem Kind schon bei frühen Anzeichen von Müdigkeit unter passenden Hilfen und Routinen ein Schlafangebot zu machen, welches besser gelingt, wenn der Säugling noch nicht überreizt ist und begonnen hat, unstillbar zu schreien. In der zweiten Sitzung berichten die Eltern erfreut von häufigeren und längeren Schlafzeiten ihrer Tochter während des Tages. Zur Überraschung der Eltern haben sich die abendlichen Quengel- und Schreiphasen verkürzt, und Carla beginnt früher ihren Nachtschlaf (vgl. . Abb. 13.4). Die Eltern schildern beglückt viele schöne Momente im alltäglichen Miteinander mit ihrer kleinen Tochter. Ab und zu genieße sie sogar zufrieden ein kurzes Alleinspiel auf der Decke; die Eltern müssten sie nicht mehr beständig tragen. Sie hätten wohl Carlas Müdigkeitssignale als Zeichen von Langeweile missverstanden, ihr dann neue Umgebungsreize angeboten oder sie zur Beruhigung gestillt. Schon während der Beratung erhalten beide Eltern positive Rückmeldungen zu gerade gelingenden Interaktionen im dyadischen und triadischen Austausch. Sie erleben so eine Stärkung ihres elterlichen Selbstwertgefühls und ihrer intuitiven Fähigkeiten. Hierzu kann auch die videogestützte Arbeit mit jungen Familien (Papoušek 2000; ThielBonney 2002; s. auch 7 Kap. 29) einen wichtigen Beitrag leisten.
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Kapitel 13 • Exzessives Schreien
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Beratung Die entwicklungs- und interaktionsbezogene Beratung gelingt, wenn 5 die Bezugspersonen (noch) ausreichende Ressourcen und einen Zugang zu ihren intuitiven Kompetenzen mitbringen, 5 die kindliche Regulationsstörung 5 nicht kontextübergreifend ist, 5 maximal drei Monate besteht und 5 die Beziehung zwischen Eltern und Kind keine relevante Beeinträchtigung erfahren hat (s. auch von Hofacker et al. 2007). Oft zeigen sich die Eltern ermutigt, wenn sie entdecken, dass sie nicht »perfekt« sein müssen, sondern als »hinreichend gute« Eltern (Winnicott 1990) im Übergang zur Elternschaft der Entwicklung einer positiven Gegenseitigkeit vertrauen können; sie dürfen auch ihre eigenen Bedürfnisse ernst nehmen und ihrem Kind wachsende selbstregulatorische Kräfte unter ihrer Begleitung und passenden Unterstützung zutrauen. Im Rahmen dieser Beratungen gelingt eine Besserung oder Lösung der kindlichen Symptomatik meist in ca. zwei bis vier Sitzungen.
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Empfohlene Beratungsinhalte bei exzessivem Schreien (nach Zwart et al. 2007; von Hofacker et al 2007; Papousek et al. 2004a) 5 Strukturierung des Tagesablaufs mit Routinen, regelmäßigen Schlaf-Wach-Zyklen und einer Abfolge von Schlaf – Mahlzeit – Wachphase – Schlaf, jeden Tag nach dem Aufwachen neu beginnen. 5 Erkennen und Verstehen(-lernen) kindlicher Signale: Nähebedürfnis, Interaktionsbereitschaft, Hunger, Müdigkeit, Überreizung. 5 Im Umgang mit dem Säugling: am Körper Halt, Nähe und Sicherheit vermitteln, Ausnutzen kindlicher Phasen ruhiger und wacher Aufmerksamkeit für positiven Austausch; kurze Phasen des Alleinspiels zur Unterstützung der Selbstregulation. 5 Passendes, entwicklungsangemessenes Antworten auf kindliche Signale und Vermeiden überstimulierender Beruhigungs-
13.7.4
strategien (z. B. andauerndes Umhertragen, ständiges Anbieten vestibulärer, visueller und akustischer Reize). Eine für Kind und Eltern passende Beruhigungsstrategie aussuchen und diese beibehalten. Eventuell »Pucken« von Kindern unter acht Wochen bei vermehrter motorischer Unruhe/Hyperexzitabilität; dabei auf Rückenlage achten. Vermeidung kindlicher Übermüdung, Begleitung in den Schlaf bei ersten Müdigkeitssignalen (meist schon nach 1–1½ Stunden Wachzeit) unter Reizreduktion. Bei Dysregulation, erhöhter Irritabilität, Hyperreaktivität auf sensorische Reize: Handling-Anleitung, Ergotherapie, sensorische Integration. Bei Überlastung, eventuell mit Hinweis auf Misshandlungsgefahr: Timeout der primären Bezugsperson, Informieren über Gefahren des Schüttelns. Entlastung durch Einbeziehung von Partner, Familie und Freunden. »Verordnung« von Entspannungszeiten für die Mutter/die Eltern. Bei nicht mehr ausreichenden familiären Ressourcen und Gefahr der Dekompensation: z. B. Antrag auf Haushalts-/Familienhilfe (Krankenkasse/Jugendamt), eventuell (teil-)stationäre Behandlung einleiten.
Psychodynamisch-beziehungszentrierte Ebene: Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Psychotherapie
Die Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Psychotherapie (vgl. auch 7 Kap. 28 sowie Cierpka u. Windaus 2007) fokussiert auf elterliche Repräsentanzen, biografische Erfahrungen und Belastungen aus den Herkunftsfamilien sowie paar- und familiensystemische Aspekte und bezieht die psychosoziale Situation der Familie, ihre möglicherweise eingeschränkten Ressourcen und die Bearbeitung elterlicher Gefühle und Empfindungen (z. B. eigene
13.7 • Beratung/Therapie
Trennungs- und Verlusterlebnisse, Misshandlungsund Gewalterfahrungen, Traumatisierung etc.) mit ein. Elterliche Erinnerungen, Erfahrungen und Fantasien aus der eigenen Biografie und ungelöste mehrgenerationale Beziehungskonflikte aus den Herkunftsfamilien können sich als »Gespenster« aus der elterlichen Vergangenheit in die Interaktion mit dem Kind einmischen (Fraiberg et al. 1975), zu einer Fehlinterpretation der kindlichen Signale führen und eine entwicklungsgemäße Unterstützung des Kindes behindern. Ansatzpunkte in der Behandlung liegen in der Veränderung der »unrealistischen«, nicht entwicklungsgerechten Sicht der Eltern auf ihr Kind, mit der sie sein Verhalten deuten. Mit der Unterstützung des Therapeuten entdecken die Eltern in der Beobachtung ihres Kindes neue »Interpretationen« eines bestimmtes kindlichen Verhaltens und können eigene, biografisch gefärbte Wahrnehmungen von den entwicklungsbezogenen und altersgemäßen Äußerungen des »realen« Babys trennen. Wenn der Übergang zur Elternschaft gelingt, werden Mutter und Vater für ihr Kind emotional verfügbar und »sensitiv«, stärken ihr Kompetenz- und Selbstwertgefühl und können vorhandene eigene und familiäre Ressourcen nutzen (vgl. Lieberman et al. 2005; Papoušek 2011). Der Beitrag, den das Baby selbst mit seinen Schwierigkeiten und Ressourcen zu dem klinischen Bild leistet, muss in jedem Fall in der Behandlung sensibel berücksichtigt werden (vgl. Smart u. Hiscock 2007). z
Fallgeschichte
Die erschöpften Eltern der fünf Monate alten Selina berichteten, ihre Tochter habe zwei Wochen nach ihrer Geburt begonnen, »schrecklich zu schreien«, und habe unter heftigen »Dreimonatskoliken« gelitten. Sie habe wenig geschlafen und sei schon am frühen Nachmittag kaum noch zu beruhigen gewesen. Auch nach dem dritten Lebensmonat sei ihre Unruhe nicht zurückgegangen. Selina sei meist quengelig, beschäftige sich kaum einen Moment alleine, suche beständig Körperkontakt und sei erst dann »einigermaßen zufrieden«, wenn sie herumgetragen werde. Tagsüber lasse sie sich häufig gar nicht erst zum Schlafen bewegen, oder sie wache aus einem kurzen Schläfchen müde und unzufrieden wieder auf. Auch nachts erwache sie mehrfach.
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Bei längerem Schreien trügen die Eltern Selina so lange umher, bis sie sich wieder beruhigt habe. Selina lasse die Mutter »gar nicht mehr in Ruhe«, und ihr »forderndes, zeitweise aggressives Schreiverhalten« sei besonders schwer zu verkraften, da Selinas fünf Jahre alter, eher ruhiger Bruder Felix »schließlich auch noch Ansprüche« hätte. Wenn Selina anhaltend »mal verzweifelt, mal wütend« schreie, ertrage die Mutter die Situation nicht mehr. Sie gerate dann selbst in eine solch erschöpfte Anspannung, dass sie das Zimmer verlassen müsse, um sich »erst einmal selbst zu beruhigen«, was ihr jedoch immer weniger gelinge. Vor einigen Tagen sei sie plötzlich mit einem Kissen vor ihrer Tochter gestanden und habe den Impuls verspürt, deren Schreien damit zu ersticken. Diese Situation habe sie zutiefst erschreckt. Der sehr um seine Frau und seine Kinder bemühte Vater schilderte seine Sorge um die Familie und seine hohe berufliche Belastung. Zusätzlich erschwert werde die Situation durch massive Konflikte mit den Großeltern mütterlicherseits, die mit der Familie im Elternhaus wohnen. Die Mutter beschrieb den Umgang der eigenen Eltern mit ihr als überaus entwertend und verletzend: »Nie mache ich etwas gut genug! Jetzt benutzen sie auch noch meine Kinder, um sich gegen mich zu wenden!« Felix gerate zunehmend in Loyalitätskonflikte, vor denen sie ihn durch die räumliche Nähe zu den Großeltern nicht schützen könne – »dabei bin ich doch seine Mutter!« Inzwischen mache sie sich Sorgen um ihren Sohn, der seit Kurzem ein immer wieder unvermittelt auftretendes ängstliches Verhalten zeige. Die Eltern hätten schon oft über einen Auszug aus dem Elternhaus nachgedacht, hätten diesen Schritt jedoch nicht wirklich vollziehen können. Die Familie mobilisierte zunächst Hilfen für den Alltag der Mutter. Nachdem es gelungen war, ihre Beziehung zu Selina durch Momente ungeteilter Aufmerksamkeit und Nähe zu verbessern und Selinas Selbstregulation – z. B. durch das Einführen von Routinen und passenden Einschlafhilfen unter Beachtung früher Müdigkeitssignale – zu stärken, konsolidierte sich Selinas Schlaf. Schreien und Quengeln ließen nach, die Stimmung in der Familie erschien deutlich entspannter. In mehreren psychodynamisch und familientherapeutisch orien-
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Kapitel 13 • Exzessives Schreien
tierten Gesprächen wurde gleichzeitig das Ausmaß der familiären Belastung deutlich: Die Mutter hatte im Alter von 15 Jahren einen schweren sexuellen Übergriff erlitten. Der Täter, ein Bekannter ihrer Eltern, sei inzwischen aus der Haft entlassen worden und lebe wieder im Ort. Das Schreien des Kindes habe bei ihr immer wieder »Erinnerungen an diese schreckliche Zeit« heraufbeschworen, in der sie keinerlei emotionale Unterstützung durch ihre Eltern erfahren und zwischen Gefühlen von Verletzung, Verzweiflung und Wut geschwankt hatte. Sie hatte in ihrer Tochter sich selbst als das nach Hilfe rufende Mädchen gesehen, das von den Eltern nicht gehört worden war, keinen Schutz und keine Linderung erfahren hatte. Zudem schien ihre Tochter »in aggressiver Weise nicht von mir zu lassen«, obwohl sie überaus erschöpft war. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte hatte sie versucht, Tag und Nacht für ihr Baby da zu sein, sich jedoch überfordert gefühlt und war deshalb nicht in der Lage gewesen, für Selina wirklich emotional präsent zu sein. Mit ihrer eigenen Bedürftigkeit konfrontiert, hatte sie sich mit all den Anforderungen des Alltags und im Konflikt mit ihren Eltern auf sich allein gestellt gefühlt – Selina jedoch sollte sich auf keinen Fall alleine gelassen fühlen. In einem starken Ambivalenzkonflikt zwischen dem Wunsch nach Nähe, Fürsorge und Geborgenheit einerseits und nach Distanzierung von ihrer Herkunftsfamilie andererseits hatte die Mutter (wütend) versucht, sich nach den Wünschen und Lebensvorstellungen ihrer Eltern zu richten und »es ihnen recht zu machen«. Die gegenseitige Enttäuschung über das Misslingen hatte mehrfach zu wochenlangem, hoch angespanntem »Anschweigen« im Haus geführt, unterbrochen von verbalen Angriffen der Großmutter gegenüber der Tochter und deren Mann, was auch den kleinen Sohn überaus belastete. Im weiteren Verlauf der Behandlung berichteten die Eltern schließlich von einem Gespräch mit Selinas Großeltern: Die Mutter hatte ihren Eltern unter der stützenden Anwesenheit ihres Mannes mitgeteilt, wie es ihr nach der schlimmen Erfahrung von Gewalt ergangen war und welche Hilfe sie von ihren Eltern benötigt hätte. Nach diesem Gespräch habe ihr Vater geweint und sie umarmt. Eine solche Reaktion habe sie sich seit dem in ihrem 16.
Lebensjahr erlittenen Trauma »ersehnt«; ihr Vater habe sich seither jedoch vollständig von ihr zurückgezogen und sie nie mehr in den Arm genommen – so, als sei sie nach dem erlittenen gewaltvollen Übergriff nicht mehr liebenswert. Die Mitteilung an die Großeltern, dass die Familie sich nun eine eigene Wohnung in einem anderen Ort suchen würde, habe zu einer »gespenstischen, aber einigermaßen freundlichen Ruhe im Haus« geführt. Die von den Eltern befürchtete konflikthafte Eskalation zwischen den Generationen blieb aus; die Eltern vermuteten, ihre ruhige Entschiedenheit und gegenseitige Unterstützung habe wohl dazu beigetragen. Die Mutter äußerte ihren Stolz auf sich als Frau, der es nach dem Trauma in ihrer Jugendzeit gelungen war, eigene Kräfte zu entwickeln, gut für sich zu sorgen und eine »so wunderbare Familie« zu gründen. Sie hatte sich schon mit 15 Jahren alleine um eine für sie hilfreiche psychotherapeutische Behandlung gekümmert und wollte jetzt nochmals einige therapeutisch-begleitende Gespräche für sich in Anspruch nehmen. Selina wurde uns im Alter von 14 Monaten nochmals von der Mutter vorgestellt. Dabei wurden beginnende Grenzsetzungskonflikte mit dem Mädchen thematisiert, in denen die Mutter nicht immer adäquat reagieren konnte. Wieder war ihre Sorge präsent, dass sie ihre Tochter in ihrem Trotzverhalten und »in ihrer Verzweiflung« alleine lasse und ihr nicht genügend »Trost spende«. Es gelang der Mutter rasch, erneut eine Verbindung zu ihren biografischen Vorerfahrungen herzustellen und Selina in ihrem Ärger und ihren Abgrenzungs- und Autonomiewünschen passend und entwicklungsgerecht zu sehen und zu begleiten. Sie konnte ihrer Tochter auch die Bewältigung von kleinen Frustrationsmomenten zutrauen und ihr bei der Regulation ihrer Affekte hilfreich zur Seite stehen.
Indikationen für ein psychotherapeutisches Vorgehen Der psychotherapeutische Zugang zu dysfunktionalen Interaktions- und Beziehungsmustern kann entwicklungspsychologisch fundiert über verschiedene Wege erfolgen (Übersicht in Stern 1998; Lieberman u. Pawl 2000; s. auch 7 Kap. 28 bis 30), die sich in ihrer nachgewiesenen Wirkung auf kindliche Verhaltensprobleme, die psychische Verfas-
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13.7 • Beratung/Therapie
sung der Mutter und die Beziehungsentwicklung nicht grundsätzlich unterscheiden (Robert-Tissot et al. 1996, Cohen et al. 1999). Beratung und Psychotherapie sind dabei nicht als grundsätzlich voneinander getrennte Verfahren zu sehen: Auch in der Beratung werden beziehungsorientierte und psychodynamische Aspekte berücksichtigt. Umgekehrt sind entwicklungs- und interaktionsbezogene Aspekte wichtige Bestandteile der Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Psychotherapie. Eine Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Psychotherapie bei exzessivem Schreien ist indiziert (s. auch . Abb. 13.5 sowie von Hofacker et al. 2007), wenn das Schreiproblem 5 über drei Monate hinaus persistiert und sich nach entwicklungsorientierter Beratung keine wesentliche Besserung der kindlichen Symptomatik zeigt, 5 pervasiv auf andere Interaktionskontexte übergreift (z. B. Fehlen positiver Interaktionsmomente, Entstehen von Fütterproblemen), 5 mit dysfunktionalen, maladaptiven Interaktionsmustern und Vernachlässigungs- und Misshandlungsgefährdung einhergeht und sich deutliche Belastungen/Störungen in den Eltern-Kind-Beziehungen zeigen (z. B. Beobachtung eines feindseligen, aggressiven Umgangs, von verzerrter Wahrnehmung des kindlichen Bedürfnisses mit Schuldzuschreibung; bei eingeschränktem emotionalem Zugang zum Kind unter postpartaler Depression etc). Finden sich organische und/oder psychische/psychiatrische Erkrankungen der Eltern (z. B. schweres Überlastungssyndrom, (postpartale) Depression, Angststörungen, Psychose) oder schwerwiegende Paarkonflikte, sollten die Mütter/Väter in eine individuelle, z. B. psychotherapeutische/psychiatrische Behandlung oder in eine Paarberatung/-therapie vermittelt werden. Bei schwerer Beeinträchtigung des elterlichen Verhaltensrepertoires im Umgang mit dem Kind und ausgeprägter Interaktions- und Beziehungs-
13
störung, bei ausgeprägten kindlichen organischen/ konstitutionellen Belastungen (z. B. bei Frühgeburtlichkeit, organischer Erkrankung, schwerer Gedeihproblematik) und bei unmittelbarer Bedrohung des Kindeswohls, z. B. bei schwerer mütterlicher Psychopathologie, wird die Indikationsstellung zu einer teilstationären oder stationären Mutter-/Eltern-Kind-Behandlung notwendig. Der »Entscheidungsbaum« in . Abb. 13.5 fasst die Indikationsstellung zum therapeutischen Vorgehen bei frühkindlicher Regulationsstörung abschließend in einem Schaubild zusammen. Fazit Das exzessive Schreien sollte aufgrund seiner Persistenz und Pervasivität als möglicher Ausdruck oder als Folge belasteter Eltern-Kind-Beziehungen und wegen der möglichen Gefährdung der weiteren – insbesondere der sozial-emotionalen – Entwicklung des Kindes keineswegs bagatellisiert werden. Die verfügbaren wissenschaftlich überprüften Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten bei exzessivem Säuglingsschreien geben Beratern die Möglichkeit, primär/sekundär präventiv oder therapeutisch zu intervenieren. Indem die ersten Ansprechpartner der Eltern (meist die Kinderärzte und -ärztinnen) die Sorgen und Belastungen der Eltern ernst nehmen, selbst ein beratendes Angebot machen oder die Familien beim Erkennen von Gefährdungen an eine Spezialambulanz weiterverweisen, sind sie in der Lage, Weichen für die weitere positive Entwicklung des Kindes und seiner Familie zu stellen.
ja
· Gesprächszeit · Entlastung · Verständnis, Anerkennen der Belastung · Wertschätzung
ja
· Reizreduktion · Regelm. SchlafWach-Zyklen · Angemessene Einschlafhilfen · Tagesstruktur
nein
ja
ja
Psychische Störung der Mutter/Eltern?
ja
Tief greifende Beziehungsstörung/ Misshandlungsrisiko?
ja
Generalisierte Regulationsstörung mit exzessivem Schreien mit anhaltender Belastung / Störung der Beziehung
Eltern-SäuglingsPsychotherapie
»Eltern-SäuglingsSprechstunde« Entwicklungspsychologischinteraktionszentrierte Beratung und Therapie
evtl.
evtl.
Einzel-/ PaarTherapie
Teil-/Stationäre sozialpädiatrische/ psychosomatische/ psychiatrische Mutter-/Eltern-KindBehandlung (Kommunikations-/ Beziehungstherapie, mediz. Versorgung) Jugendamt/ Familienhilfe
wenn ja: Überweisung je nach Indikation an eine oder mehrere der unten genannten:
Manualtherapie
Physiotherapie
Ergotherapie
ja
Ausgeprägte Irritabilität? Entwicklungsneurolog. Störung? KISS?
ja
Exzessives Schreien mit Belastung / Störung der Beziehung
. Abb. 13.5 Entscheidungsbaum zum therapeutischen Vorgehen (aus: Papoušek et al. 2004a, mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Stiftung Kindergesundheit)
Schreiproblematik bleibt bestehen
Entwicklungsberatung, Regulationsprobleme verstehbar machen
Kinderärztliche Beratung
Pädiatrische Behandlung der organischen Erkrankung(en)
ja
Exzessives Schreien isoliert, ohne tief greifende Belastung / Störung der Beziehung
13 Therapeutischer Entscheidungsbaum: »Exzessives Schreien«
194 Kapitel 13 • Exzessives Schreien
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Kapitel 13 • Exzessives Schreien
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199
Schlafstörungen im Kindesalter Kerstin Scholtes, Marisa Benz und Hortense Demant
14.1
Definition frühkindlicher Ein- und Durchschlafstörungen – 200
14.2
Prävalenz, Verlauf und Prognose – 201
14.3
Entwicklung von Schlaf und Schlafverhalten – 201
14.3.1
Alterstypische regulatorische Entwicklungsaufgaben im Kontext des Schlafens – 202 Anforderungen an die Eltern – 203
14.3.2
14.4
Symptomatik und Ursachen frühkindlicher Ein- und Durchschlafstörungen – 203
14.4.1
Eltern-Kind-Kommunikation im Rahmen von Schlafstörungen – 204
14.5
Diagnostik – 204
14.5.1 14.5.2
Diagnostische Fragen – 205 Differenzialdiagnostik – 208
14.6
Interventionsansätze – 208
14.6.1
Präventive Elternberatung in der Praxis – 209
14.7
Schlafberatung in der Praxis – 209
14.7.1
Psychotherapie – 212
14.8
Parasomnien – 214
14.8.1 14.8.2 14.8.3
Prävalenz bei Parasomnien – 215 Diagnostik – 215 Therapie – 216
14.9
Abgrenzung zu Schlafstörungen im Erwachsenenalter – 216 Literatur – 217
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
14
200
Kapitel 14 • Schlafstörungen im Kindesalter
Ein- und Durchschlafstörungen in den ersten drei Lebensjahren zeichnen sich durch die persistierende Unfähigkeit des jungen Kindes aus, ohne elterliche Hilfe (wieder) einzuschlafen. Diese Schlafstörungen im Sinne frühkindlicher Regulationsstörungen zeigen eine deutliche Tendenz zur Persistenz bis ins höhere Kindesalter mit anhaltendem Einfordern elterlicher Einschlafhilfen. Daneben können ab dem zweiten/dritten Lebensjahr Episoden von abnormen Verhaltensmustern oder physiologische Ereignisse im Schlaf oder im Übergang vom Wach- zum Schlafzustand auftreten, die als Parasomnien bezeichnet werden, wie z. B. Pavor nocturnus oder kindliche Albträume. Neben einer Darstellung der Entwicklung von Schlaf und Schlafverhalten im frühen Kindesalter und einer Beschreibung verschiedener Erscheinungsbilder von Schlafstörungen in dieser Zeit werden Hinweise zu Prävention und Intervention gegeben.
14.1
Definition frühkindlicher Einund Durchschlafstörungen
Fallbeispiel
14
Die acht Monate alte S. erwacht jede Nacht bis zu zehnmal und schreit. Durch Herumtragen, Umherfahren im Kinderwagen und Stillen versuchen die Eltern, ihre Tochter wieder in den Schlaf zu bringen. Am Abend schläft S. an der Brust ein und wird bereits schlafend in ihr Bett gelegt. In der Nacht nimmt die Mutter S. mit ins Elternbett, damit sie nicht so oft aufstehen muss, um das Mädchen zu beruhigen. Am Tag ist S. meist in schlechter Stimmung und quengelt häufig. Sie schläft am späten Vormittag eine Stunde, im Tagesverlauf erscheint sie oft müde, verweigert aber Schlafangebote. Die Eltern sind erschöpft und gereizt. Der Vater ist vor einigen Tagen aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen, da er sich in den Nächten sehr gestört fühlt und bei seiner Arbeit durch den Schlafmangel unkonzentriert ist. Die Mutter erlebt sich im Alltag oft als überlastet und unkonzentriert. Nachts verspürt die Mutter großen Ärger auf ihre Tochter, da sie diese nicht beruhigen kann.
Im Kontext frühkindlicher Ein- und Durchschlafstörungen ist nicht der Schlaf als solcher gestört. Das Problem ist die Unfähigkeit des jungen Kindes, ohne Hilfe der Eltern einzuschlafen und/oder bei nächtlichem Erwachen wieder in den Schlaf zu finden. Unterstützung fordern die Kinder oft durch vehementes Schreien ein. Am Tag erscheinen die Kinder häufig erschöpft, leicht irritierbar und ständig unzufrieden. Die Eltern sind aufgrund des eigenen Schlafdefizits ebenfalls erschöpft und reizbar. Die Schlafsituationen sind durch dysfunktionale Interaktionsmuster gekennzeichnet, die die Einund Durchschlafstörungen aufrechterhalten: Das Anbieten ausgedehnter Einschlafhilfen (z. B. stundenlanges Herumtragen, Spielen, Umherfahren im Auto) behindert die Entwicklung selbstregulatorischer Fähigkeiten des Kindes im Kontext der Beruhigung, was wiederum das verstärkte Einfordern von Unterstützung durch die Eltern zur Folge hat (Papoušek 2007). Neben diesen Kriterien, die das subjektive Erleben der Beteiligten und deren Leidensdruck hervorheben, empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2007) in ihren Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von Regulationsstörungen im Säuglingsund Kleinkindalter folgende Kriterien, die ab dem sechsten Lebensmonat bis zum Ende des ersten Lebensjahres angelegt werden können: 5 Einschlafstörung: 5 Einschlafen nur mit Einschlafhilfe der Eltern, 5 Einschlafdauer im Durchschnitt > 30 Minuten. 5 Durchschlafstörung: 5 durchschnittlich mehr als dreimaliges nächtliches Aufwachen in mindestens vier Nächten der Woche, verbunden mit der Unfähigkeit, ohne elterliche Hilfen allein wieder einzuschlafen, 5 nächtliche Aufwachperioden im Durchschnitt > 20 Minuten, 5 Phasenverschiebung in der zirkadianen Verteilung der Schlaf-Wach-Phasen, 5 Beeinträchtigung der Wachbefindlichkeit. Schlafen im elterlichen Bett (»Co-Sleeping«) sollte nicht notwendigerweise als Symptom einer Schlaf-
14.3 • Entwicklung von Schlaf und Schlafverhalten
störung herangezogen werden, da es großen kulturellen und interindividuellen Schwankungen unterliegt und zumindest in den ersten Lebensmonaten weit verbreitet ist. Relevanter ist, ob das Co-Sleeping als problematisch empfunden wird und eine Belastung für die Eltern-Kind-Beziehung darstellt.
14.2
Prävalenz, Verlauf und Prognose
Bei 20 bis 30% der Säuglinge und Kleinkinder werden Ein- und Durchschlafstörungen beobachtet, in vielen Fällen mit Persistenz bis ins Vorschulalter (Barth 1999). Im Projekt »Gesunder Schlaf für Kölner Kinder« (Fricke-Oekermann u. Lehmkuhl 2007) wurden in einer repräsentativen Stichprobe bei 18% der untersuchten Einschulkinder Ein- und/ oder Durchschlafstörungen erfasst. Wolke et al. (1994) fanden in ihrer prospektiven repräsentativen Kohorte in Bayern Durchschlafprobleme bei 21,5% der fünf Monate alten Kinder, bei 21,8% der 20 Monate alten Kinder und bei 13,3% der 56 Monate alten Kinder. Auch Einschlafstörungen sind relativ häufig. Wolke et al. (1994) berichten von Einschlafproblemen bei 12,1% der 56 Monate alten Kinder. Die von Fegert et al. (1997) an einer repräsentativen Stichprobe erhobenen Daten belegen die ausgeprägte Tendenz frühkindlicher Schlafstörungen zur Persistenz und Chronifizierung: Von den Kindern, die im Alter von zwölf Monaten ein- oder mehrmals pro Nacht erwachten, waren im Alter von 18 Monaten 67% mehrmals pro Nacht auf elterliche Unterstützung beim Wiedereinschlafen nach nächtlichem Erwachen angewiesen. Im Alter von drei Jahren bestanden noch bei 55,2% der Kinder Durchschlafstörungen (Fegert et al. 1997). Dies widerlegt die Annahme, dass Kinder immer aus ihren »trivialen« entwicklungsbedingten Schlafproblemen herauswachsen und keine Intervention erforderlich sei.
14.3
Entwicklung von Schlaf und Schlafverhalten
In den ersten Lebensmonaten passen sich die Schlaf-Wach-Phasen an den Tag-Nacht-Rhythmus
201
14
an und gewinnen dabei an Regelmäßigkeit. Die Schlafphasen werden länger, und die Kinder lernen im Zuge wachsender Autonomiebestrebungen das selbstständige Einschlafen. In Bezug auf die Schlafregulation nehmen sowohl der zirkadiane Prozess als auch die Schlafhomöostase Einfluss. Der zirkadiane Prozess beschreibt einen regelmäßigen Tagesrhythmus (»innere Uhr«) und ist anatomisch in den suprachiasmatischen Kernen des Zwischenhirns lokalisiert (Jenni et al. 2008). Die innere Uhr wird mit regelmäßig wiederkehrenden Umgebungsfaktoren wie dem 24-Stunden-Tag-NachtWechsel synchronisiert. Neben dem Tageslicht als äußerem Zeitgeber spielen auch Lärm, soziale Kontakte und regelmäßige Nahrungsaufnahme bedeutungsvolle Rollen (Jenni 2009). Im ZweiProzess-Modell der Schlafregulation nach Borbély steht dem schlafunabhängigen zirkadianen Prozess der homöostatische schlafabhängige Prozess gegenüber (Borbély 1982). In der Wachzeit häuft sich eine sogenannte Schlafschuld an, die im Schlaf wieder abgebaut wird. Mit wachsender Schlafschuld steigt auch der Schlafdruck und damit die Bereitschaft einzuschlafen. Die Schlafhomöostase konnte im Unterschied zum zirkadianen Prozess noch nicht anatomisch lokalisiert werden, es gibt aber Annahmen, dass neuronale Prozesse (wie z. B. die Anreicherung von Adenosin; s. Porkka-Heiskanen et al. 1997) die Schlafhomöostase steuern. Die Reifung dieser beiden Prozesse beeinflusst in den ersten Lebensmonaten die Schlafentwicklung. Der zirkadiane Rhythmus ist bereits intrauterin funktionstüchtig, in Anpassung an das Tageslicht und soziale Zeitgeber findet in den ersten Lebensmonaten eine Synchronisation mit dem 24-StundenRhythmus statt (Jenni et al. 2006). Neugeborene regulieren ihren Schlaf noch nicht homöostatisch, d. h., es wird keine Schlafschuld in den Wachphasen aufgebaut, und Wachzeiten werden noch nicht durch tieferen oder längeren Schlaf kompensiert (Borbély et al. 1981; Jenni et al. 2004). Die homöostatische Regulation setzt gewöhnlich im zweiten/ dritten Lebensmonat ein (Jenni et al. 2008). Dies führt dazu, dass der polyphasische Zyklus mit sechs bis acht Schlafphasen, verteilt über 24 Stunden, langfristig in einen biphasischen Zyklus übergeht. Die optimale Abstimmung der beiden beschriebenen Prozesse bildet die Grundlage für stabile und
202
14
Kapitel 14 • Schlafstörungen im Kindesalter
aufmerksame Verhaltenszustände am Tag sowie einen ruhigen und erholsamen Nachtschlaf (Jenni 2009). Die Entwicklung und Abstimmung der beiden Steuerungsprozesse zeigt interindividuell große Unterschiede; Regelmäßigkeiten im Tagesablauf nehmen jedoch nur Einfluss auf die zirkadianen Prozesse (Jenni et al. 2008). Auch die Schlafarchitektur verändert sich im Laufe des ersten Lebensjahres. Der Schlaf Neugeborener ist durch einen hohen Anteil an REM(Rapid-Eye-Movement-)Schlaf gekennzeichnet (50% gegenüber 20% beim Erwachsenen; Louis et al. 1997), was die erhöhte Störungsanfälligkeit des Schlafes im Säuglingsalter erklärt. Im Laufe des ersten Lebensjahres nehmen aktive REM-Phasen und Übergangsstadien zugunsten ruhiger Tiefschlafstadien (Non-REM) ab (Papoušek et al. 2009). Der ultradiane REM-Non-REM-Zyklus umfasst bei Säuglingen 50 bis 60 Minuten (im Vergleich zu 90 Minuten bei Erwachsenen). Die REM-Phasen nehmen dabei zugunsten von ruhigem Tiefschlaf kontinuierlich an Dauer ab und verlagern sich in die zweite Nachthälfte. Bei Säuglingen im Alter von zwölf Monaten ähnelt der Schlaf in seiner Struktur bereits dem von Erwachsenen. Die Konsolidierung des Schlafes mit abnehmender Störanfälligkeit und eine verbesserte Regulation der Übergänge zwischen Wachen und Schlafen und beim Wechsel der Schlafstadien trägt zu einer Verlängerung der längsten ununterbrochenen Schlafphase bei: das von vielen Eltern herbeigesehnte und häufig von Gefühlen des Stolzes und der Erleichterung begleitete »nächtliche Durchschlafen«. Grundsätzlich ist der menschliche Schlafbedarf in jedem Alter von großer Variabilität gekennzeichnet. Die Zürcher Langzeitstudie zeigte, dass die tägliche Schlafdauer von Säuglingen zwischen 14 und 18 Stunden beträgt, wobei eine Variation zwischen 10 und 20 Stunden besteht (Iglowstein et al. 2003). Die Studie zeigte darüber hinaus, dass der individuelle Schlafbedarf eine über das Lebensalter hinweg relativ stabile Größe ist (Jenni et al. 2007). Im Zusammenhang mit der Frage nach Normwerten in Bezug auf kindliches Schlafverhalten sind daher zunehmend Kriterien in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt, die die Verfassung am Tag betrachten, wie z. B. Stimmung, Konzentrationsfähigkeit, Tagesmüdigkeit, altersgerechtes
Spiel- und Kontaktverhalten. In diesem Sinne wird auch schlafmedizinisch von »erholsamem Schlaf« gesprochen, was der großen Spannbreite an Individualität menschlichen Schlafverhaltens Rechnung trägt (Paditz 2006).
14.3.1
Alterstypische regulatorische Entwicklungsaufgaben im Kontext des Schlafens
Im ersten Trimenon steht die Regulation und Konsolidierung von Verhaltenszuständen – von aktiven über ruhige Wachzustände bis zum Schlafzustand – im Vordergrund. Dazu gehören die Gestaltung der Übergänge zwischen den Zuständen und deren zyklische Organisation. Im zweiten Trimenon treten infolge des ersten biopsychosozialen Entwicklungsschubs zunehmend mehr aktiv-aufmerksame Wachphasen auf, in denen auch eine Weiterentwicklung der kindlichen selbstregulativen Fähigkeiten beobachtet werden kann. In der Folge sind rund 70% der vier Monate alten Säuglinge in der Lage, bei entsprechender Müdigkeit und befriedigten Grundbedürfnissen (dazu gehört die ausreichende Sättigung) selbstgesteuert in den Schlaf zu finden und bei Erwachen wieder einzuschlafen. Die Abhängigkeit von externen Einschlafhilfen nimmt zugunsten von vom Kind selbst steuerbaren Regulationshilfen, wie z. B. Saugen an den Fingern oder am Schnuller, ab. Im zweiten Halbjahr des ersten Lebensjahres gibt es Anzeichen für eine erneute neurophysiologische Reorganisationsphase, auf die ein zweiter allgemeiner biopsychosozialer Entwicklungsschub folgt. Erneut erforderliche Anpassungs- und Reorganisationsleistungen scheinen um den achten Lebensmonat zu kulminieren, sodass es zu gehäuftem nächtlichen Aufwachen und Schreien kommt. Entwicklungspsychologisch stehen die Regulation von Nähe und Distanz, die Bewältigung von Trennungsängsten und die Verarbeitung von Ablösungsprozessen zwischen Mutter und Kind (z. B. beim Abstillen) an. Gegen Ende des ersten Lebensjahres kann ein vertrautes sogenanntes Übergangsobjekt (Winnicott 1951), z. B. ein getragenes T-Shirt der Mutter, ein Kuscheltier oder eine Schmusewindel, als Repräsentant der Nähe der vertrauten Be-
14.4 • Symptomatik und Ursachen frühkindlicher Ein- und Durchschlafstörungen
zugsperson dem Kind das zum Einschlafen wichtige Gefühl von Geborgenheit vermitteln, indem es auch bei physischer Abwesenheit der Bezugsperson an deren Existenz erinnert. Zu den zentralen gemeinsamen Entwicklungsaufgaben von Eltern und Kind gehört in der Mitte des zweiten Lebensjahres das Aushandeln und Regulieren einer guten Balance zwischen Autonomiebedürfnissen des Kindes und den gerade dadurch wieder verstärkt beobachtbaren Nähebedürfnissen sowohl des Kindes als auch der Eltern sowie das Einführen und Durchsetzen von Regeln und Grenzen, vor allem im Kontext des abendlichen Einschlafens. Im dritten und vierten Lebensjahr kann es in Zusammenhang mit der zunehmenden Fantasietätigkeit des Kindes zu einer Zunahme von abendlichen oder nächtlichen Schlafstörungen kommen. Die Kinder wachen voller Angst aus Albträumen auf, äußern Angst vor bzw. in der Dunkelheit und suchen die schützende Nähe der Eltern (Largo 2001).
14.3.2
Anforderungen an die Eltern
Durch die Vielzahl und das rasche Tempo der Veränderungen, die im Zusammenspiel physischer, psychischer und sozialer Prozesse im Entwicklungskontext des Schlafens stattfinden, werden an die Eltern immer wieder besondere Anforderungen gestellt. Im frühen Säuglingsalter sind dies: 5 die Einführung regelmäßiger, am Schlafbedürfnis des Kindes orientierter Schlaf-, Wach- und Ruhezeiten und die Gewöhnung an ein regelmäßiges Einschlafritual (Ziegler et al. 2004), 5 das Beachten und Beantworten von Signalen der Aufnahmebereitschaft, des Ruhebedürfnisses, der Müdigkeit, der Übermüdung und der Überforderung unter Vermeidung von Überreizung, 5 intuitiv abgestimmte Regulationshilfen durch Körperkontakt, Stillen, rhythmisches Streicheln und Wiegen und Vermitteln von Nähe, Sicherheit und Geborgenheit, 5 die Unterstützung selbstregulativer Fähigkeiten zum Einschlafen, 5 die Unterstützung der Regulation von Wachen, Schlafen und Wach-Schlaf-Übergängen.
203
14
Gegen Ende des ersten Lebensjahres kommen zunehmend Aufgaben der emotionalen Regulation dazu, wie der Umgang mit dem Gute-Nacht-Sagen als kleiner Abschied und vorübergehende Trennung für die Zeit der Nacht. Im zweiten Lebensjahr und später kann das Aushandeln von Bettgehzeiten leicht zu Machtspielchen entgleisen. Eine für alle Beteiligten individuell passende Lösung der jeweils altersgerechten Entwicklungsanforderungen bildet die Grundlage für die Bewältigung der jeweils nächsten Phase. Nicht ausreichend entwickelte Kompetenzen der Selbstberuhigung aufseiten des Kindes und ein mangelndes Vertrauen in die Bewältigungsmöglichkeiten des Kindes aufseiten der Eltern können z. B. das Finden adäquater Haltungen in Bezug auf wachsende Autonomiebedürfnisse im zweiten Lebensjahr deutlich behindern. Fallbeispiel Der dreijährige D. zögert das abendliche Zubettgehen über Stunden hinaus: Er möchte noch etwas trinken, die Eltern etwas fragen, er ruft Mutter oder Vater in sein Zimmer, weil es zu warm, zu kalt, zu hell oder zu dunkel ist. Meistens schläft er gegen 22 Uhr mit Nachtlicht und bei geöffneter Tür ein. Drei- bis viermal in der Woche erwacht er nachts, krabbelt zu den Eltern ins Bett und ist nicht zu einer Rückkehr in sein Zimmer zu bewegen. Morgens ist er schwer zu erwecken, im Kindergarten gähnt er häufig und ist unkonzentriert. In sozialen Kontakten reagiert er empfindlich und weinerlich. In letzter Zeit häufen sich plötzliche emotionale Ausbrüche, während deren er andere Kinder anschreit oder Sachen durch die Gegend wirft.
14.4
Symptomatik und Ursachen frühkindlicher Ein- und Durchschlafstörungen
Nächtliches Erwachen und Schwierigkeiten, in den Schlaf zu finden, sind in den ersten Lebensjahren nicht per se pathologisch, stellen aber eine Belastung für die psychische Entwicklung des Kindes und die Eltern-Kind-Beziehung dar und sind damit ein Entwicklungsrisiko. Isolierte Ein- und Durchschlafstörungen treten auch oft als passagere Erscheinungen im Rahmen
204
14
Kapitel 14 • Schlafstörungen im Kindesalter
der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben oder in Belastungs- oder Veränderungssituationen auf (z. B. bei Kindergarten- oder Schuleintritt, Wechsel des Wohnortes, Trennung der Eltern, Geburt eines Geschwisterkindes). Die vielfältigen Anpassungsund Reorganisationsprozesse, die sich im Laufe des ersten Lebensjahres in der Schlaf-Wach-Organisation vollziehen, können ebenfalls wiederholt zu vorübergehenden Schlafstörungen führen. Im ersten Trimenon können Überreizung, Übermüdung und Überforderung des Kindes den Prozess der Konsolidierung eines Schlaf-WachRhythmus erschweren. Schwierigkeiten bei der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe äußern sich häufig in einer Zunahme von Quengeln, Schreien und allgemeiner Unruhe im Tagesverlauf mit einem Gipfel in den späten Nachmittagsund Abendstunden (zwischen 17 und 24 Uhr) bei vergleichsweise ruhigen Wach- und Schlafphasen am Morgen und Vormittag. In der Folge findet das abendliche Einschlafen und damit der Beginn der Nachtschlafphase oft erst spät statt. Von Eltern wird zudem häufig der Eindruck geschildert, dass die Kinder gegen das Einschlafen anzukämpfen scheinen. Durch einen extrem späten Nachtschlaf und häufig zu kurze, nicht ausreichend erholsame Schlafphasen am Tag ( Der Aufbau von Schlafdruck, z. B. durch Wachhalten, wie er bei der Behandlung von Einschlafstörungen im Erwachsenenalter angezeigt ist, ist aufgrund der sich noch in Entwicklung befindenden zirkadianen und schlafhomöostatischen Prozesse beim Säugling und Kleinkind (7 Abschn. 14.3) und der noch begrenzten Fähigkeiten zur Selbstberuhigung kontraindiziert
Können Eltern ihren intuitiven Kompetenzen nicht vertrauen, wenn es um die altersgerechte Unterstützung des Kindes geht, ist Wissen um die Entwicklung des Schlafes in der frühen Kindheit und die typischerweise damit einhergehenden, phasenweise auftretenden Schwierigkeiten wichtig. Das Anpassen der elterlichen Unterstützung bzw. deren schrittweise Zurücknahme erfordert daneben das Wahrnehmen kindlicher Kompetenzen im Bereich der Selbstregulation und deren Unterstützung. Letztlich müssen die Eltern Zutrauen gewinnen, dass ihr Kind den Schritt, selbstständig einschlafen zu können, unbeschadet meistern kann. Die evidenzbasierte Wirksamkeit von Behandlungsmöglichkeiten bei Schlafstörungen wurde z. B. im Rahmen einer Metastudie von Mindell et al. (2006) untersucht. Die Ergebnisse flossen in die Leitlinien der American Academy of Sleep Medicine (Morgenthaler et al. 2006, s. auch von Gontard 2010) ein. Grundsätzlich erwiesen sich verhaltenstherapeutische Maßnahmen als sehr viel wirksamer als Pharmakotherapie. Mit einem Evidenzgrad von II–III bzw. III werden z. B. die Psychoedukation der Eltern und die Einführung positiver Schlafroutinen als wirksame Interventionsmöglichkeiten deutlich. Die Extinktion, bei der nach Sicherung der Schlafumgebung und körperlichen Unversehrtheit des Kindes dessen Schreien z. T. völlig ignoriert werden soll, erhielt hohe Evidenzgrade (I). Allerdings sind derartige Vorgehensweisen für Eltern und Kinder äußerst belastend. Für viele Eltern ist eine solche Gestaltung des Umgangs mit ihrem Kind nicht akzeptabel, da sie langfristige emotionale Schäden befürchten. Eine wissenschaftliche Untersuchung, wie die Erfahrung einer solchen Intervention sich langfristig auf die Entwicklung z. B. der kindlichen Autonomie auswirkt, steht noch aus. Ein individu-
209
14.7 • Schlafberatung in der Praxis
ell angepasstes, abgestuftes Vorgehen ist daher in vielen Fällen anzuraten.
14.6.1
Präventive Elternberatung in der Praxis
Im frühen Säuglingsalter, speziell bei dysregulierten jungen Säuglingen mit exzessivem Schreien, kann eine präventive Elternberatung zur Einübung positiver Schlafgewohnheiten und zur Unterstützung eines regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus wirksam zur Prävention späterer Schlafstörungen beitragen. Einübung positiver Schlafgewohnheiten (nach Papoušek et al. 2006) 5 Ein regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus (Aufwachen – Stillen/Füttern – Wachzeit mit Zwiegespräch und ruhigem Beobachten – Schlafenlegen bei Müdigkeit) sollte unterstützt werden. 5 Die Angst vor Verwöhnung ist unangebracht. In den ersten drei bis vier Lebensmonaten sind viele Säuglinge noch auf elterliche Regulationshilfen (wie Körperkontakt, vertrauter Geruch und Stimme, sanftes Wiegen, Saugen an der Brust) angewiesen. 5 Die Eltern sollten lernen, kindliche Signale von Aufnahmebereitschaft, Erholungsbedürfnis, Müdigkeit, Überreizung sowie von Hunger und körperlichem Missbehagen zu erkennen und zu verstehen, damit sie sich bei der Gestaltung von Angeboten davon leiten lassen können. 5 Übermüdung ist zu vermeiden, z. B. durch frühzeitiges Einlegen von Ruhepausen und rechtzeitige Schlafangebote. 5 Auch Überstimulation sollte vermieden werden. Eine Überstimulation kann z. B. entstehen, wenn das Kind bei Unruhe und Schreien stundenlang herumgetragen oder heftig geschaukelt wird oder wenn die Eltern versuchen, es bei Äußerungen des Missbehagens durch ständig neue Reize abzulenken. Speziell vor dem Schlaf-
14
enlegen sind Reizabschirmung und Reizreduktion ratsam. 5 Nächtliche Wachzeiten sollten reizarm gestaltet werden. Eine Stimulation (z. B. durch Licht oder Spielen) sollte vermieden werden.
Sollte das Baby nach dem Entwicklungsschub mit drei Monaten noch immer nur in engem Körperkontakt mit den Eltern oder an der Brust einschlafen, ist zu empfehlen, ein kleines Intervall zwischen dem beruhigenden Einschlafritual und dem endgültigen Einschlafen im eigenen Bettchen einzufügen und dieses schrittweise zu verlängern. Das Kind wird z. B. in entspanntem, noch wachem Zustand ins Bettchen gelegt und kann – zunächst noch im Beisein eines Elternteils – die Erfahrung machen, dass es selbstreguliert in den Schlaf finden kann. Gelingt dies, können die Eltern sich schrittweise früher verabschieden, damit das Kind die Erfahrung macht, dass es auch in Abwesenheit von Mutter oder Vater einschlafen kann.
14.7
Schlafberatung in der Praxis
Fallbeispiel (Fortsetzung) Die Eltern der inzwischen elf Monate alten S. suchen eine Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Beratung auf. Die Einführung eines Abendrituals mit Baden, Singen und Kuscheln, das der Mutter von Bekannten empfohlen wurde, hat nicht funktioniert. Das Schreien steigerte sich eher, und der Zeitpunkt des abendlichen Einschlafens schob sich weiter nach hinten. Da die Mutter mit ihren Kräften am Ende ist, lässt sie S. durchgehend im Elternbett schlafen, während der Vater weiter im Wohnzimmer übernachtet. Beide Eltern sind mit der Situation nicht zufrieden und suchen zunächst das Gespräch mit ihrem Kinderarzt. Dieser rät zum Besuch einer Beratungsstelle. Im Anschluss an das erste Gespräch beobachten die Eltern ihre Tochter zunächst über einige Tage: Wann zeigt sie Müdigkeitssignale? Wann braucht sie Pausen? Kann sie sich schon selbst vor äußeren Reizen abschirmen? An diesen Beobachtungen orientieren die Eltern sich und gewinnen den Eindruck, dass S. schon viel früher in den Abend-
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Kapitel 14 • Schlafstörungen im Kindesalter
schlaf gebracht werden kann. Mit dem Gefühl, dass ihre Tochter wirklich müde ist, und dem Eindruck, dass sie Hilfe beim Abschalten braucht, halten die Eltern das Schreien aus, das bei der erneuten Einführung eines ruhigen, reizarmen Einschlafrituals auftritt. Außerdem setzen die Eltern sich, angeregt durch die Beratung, mit der Frage auseinander, wie sie das Schlafen des Kindes im Elternbett erleben: Die Mutter genießt die noch intensive körperliche Nähe des Kindes, fühlt sich aber auch im Schlaf gestört. Der Vater formuliert klar, dass er sich durch die Anwesenheit des Kindes auch im Hinblick auf seine sexuellen Bedürfnisse eingeschränkt fühle.
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In der Beratung ausgeprägter Ein- und Durchschlafstörungen hat sich die Kombination von auf der Verhaltensebene ansetzenden Techniken unter Berücksichtigung der individuellen Situation und der Möglichkeiten von Eltern und Kind bewährt. Eine weitverbreitete und nachgewiesenermaßen wirksame Möglichkeit einer verhaltenszentrierten Intervention ist das als Selbsthilfeansatz bekannt gewordene »Checking«, auch »Ferber-Methode« genannt (s. Ferber 1985). Im deutschsprachigen Raum ist die Methode vor allem durch den Elternratgeber Jedes Kind kann schlafen lernen von KastZahn u. Morgenroth (1995) bekannt geworden. Das Buch greift die Ferber-Methode auf und gibt konkrete Verhaltensanweisungen und Tipps zur Durchführung der Methode bei Kindern ab sechs Monaten. Die Intervention nach Ferber (1985) sieht folgende Vorgehensweise vor: Der Beginn der Nachtschlafphase sollte durch beruhigende Zubettgeh-/ Einschlafrituale für das Kind kenntlich gemacht werden, die außerhalb des Bettchens mit ungeteilter Aufmerksamkeit durchgeführt werden und jeden Abend zur gleichen Zeit stattfinden sollten. Um einen Zeitpunkt für den Beginn des Einschlafrituals zu finden, können die Eltern sich zunächst an Müdigkeitssignalen des Kindes orientieren. Das Kind sollte wach ins Bettchen gelegt werden, um den Prozess des Einschlafens mitzuerleben. Nach einer ersten Begleitung, die das Ankommen im eigenen Bettchen unterstützen soll, können die Eltern sich verabschieden und den Raum verlassen. Manchen Kindern und Eltern hilft es, die
Tür einen Spalt offen zu lassen, damit die Trennung nicht zu abrupt erlebt wird. Während der Intervention ist zu erwarten, dass das Kind schreit. Darauf sollten die Eltern vorbereitet sein. Das Schreien kann Ausdruck sein 5 von Protest gegen Verletzung der bisherigen Gewohnheiten, 5 eines hartnäckigen Versuchs, das Vertraute wieder zu erreichen, 5 des Austestens von Grenzen, 5 von Trennungsängsten und Verlassenheitsgefühlen. Selbst steuerbare Einschlafhilfen, wie Schmusewindel, Teddy oder auch Schnuller, helfen dem Kind, die Trennung von den Eltern und den Übergang in den Schlaf zu bewältigen. Diese können in ElternKind-Interaktionen, die tagsüber stattfinden (z. B. Wickeln), eingeführt werden, damit das Kind diese Objekte als symbolische Repräsentanz der Eltern verinnerlichen kann. Bei anhaltendem Schreien geben die Eltern dem Kind in regelmäßigen, vorher festgelegten und nicht durch Schreien gesteuerten Abständen (ca. 5 Minuten) kurz Zuwendung und Rückversicherung, ohne es dabei aus dem Bett zu nehmen oder ihm die Flasche oder die Brust anzubieten. Dabei ist entscheidend, dass die Eltern dem Kind Wärme und Verlässlichkeit vermitteln und ihm signalisieren, dass es nicht alleine ist. Bewährt haben sich dabei z. B. ein kurzes Auflegen der Hand auf den Körper des Kindes und ruhiges, monotones Sprechen. Eindeutige, sich wiederholende Abläufe in diesen Interaktionen vermitteln dem Kind Sicherheit. Die Eltern beruhigt das Zutrauen, dass das Kind grundsätzlich in der Lage ist, sich selbst zu beruhigen und in den Schlaf zu finden. Sobald das abendliche Einschlafen gelingt, können die Eltern bei nächtlichem Aufwachen und Schreien ebenso vorgehen wie am Abend (nach Ferber 1985). Insbesondere im Hinblick auf die Darstellung als »Wundermittel« wird die Methode bzw. der Ratgeber Jedes Kind kann schlafen lernen (Kast-Zahn u. Morgenroth 1995) in Fachkreisen und unter Eltern kontrovers diskutiert. Die Intervention stellt hohe Anforderungen an die Selbstregulationsfähigkeit und die Bindungssicherheit des Kindes sowie an die emotionalen Ressourcen der Eltern. Trotz der
14.7 • Schlafberatung in der Praxis
wissenschaftlich positiven Evidenz nehmen viele Eltern von diesem Vorgehen wieder Abstand oder brechen vorzeitig ab. Vor allem aufgrund ambivalenter elterlicher Gefühle, der Reaktualisierung eigener Erfahrungen aus der Kindheit und Ängsten, das Kind zu überfordern oder sogar zu traumatisieren, bleibt diese Intervention des Öfteren erfolglos. Die Wahrscheinlichkeit eines Versagens oder vorzeitigen Abbrechens ist erhöht bei hoch ambivalenten Eltern mit geringen Ressourcen, bei extrem dysregulierten Säuglingen und bei generalisierten Regulationsstörungen. Aus diesem Grund hat sich die Einbettung einer abgestuften Variante dieser Methode in ein umfassendes Beratungskonzept bewährt, welches die aktuellen Schwierigkeiten in der Eltern-Kind-Kommunikation, die psychische Verfassung der Eltern und den aktuellen Entwicklungsstand des Kindes in den Mittelpunkt stellt. > Erfolg versprechend ist die Ferber-Methode dann, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind (Papoušek et al. 2006): Beide Eltern sollten sich sicher und einig sein, dass sie ihrem Kind das Erlernen des Einschlafens zutrauen. Beide Eltern sollten sich einig darüber sein, dass sie die mit der Durchführung einhergehenden Belastungen (vermehrter Protest und Schreien) aushalten. Das Kind sollte körperlich und psychisch gesund sein. Mit der Veränderung sollte zu einem Zeitpunkt begonnen werden, an dem beide Eltern ausreichend Zeit haben und keine größeren Veränderungen anstehen.
Der Unterstützungsbedarf der Eltern in diesem Prozess ist individuell unterschiedlich. Um sicherzugehen, ist es wichtig, Erwartungen, Ängste und ambivalente Gefühle im Vorhinein anzusprechen und die zu erwartende Belastung gegen die bisherigen Belastungen durch die Schlafstörung mit ihren negativen Auswirkungen auf die ganze Familie abzuwägen (Schieche et al. 2004). Bei erfolgreicher Durchführung der Intervention führt die Befriedigung des Ruhe- und Schlafbedürfnisses aller Beteiligten zu einer Verbesserung des Wohlbefindens von Kind und Eltern am Tag, was sich positiv auf die Interaktionsgestaltung im Wachzustand aus-
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14
wirkt. Das Erleben elterlicher Selbstwirksamkeit wirkt sich positiv auf die emotionale Verfassung aus und trägt zur Zufriedenheit in der Paarbeziehung bei. Manche Eltern bevorzugen dennoch ein noch weiter abgestuftes Vorgehen, das akut weniger belastet, aber in der Regel sehr viel länger dauert. Dabei liegt der Fokus zunächst auf der Anpassung der Bettzeit an den Schlafbedarf und auf der Regelmäßigkeit des Tagesablaufs. Durch die Eltern gesteuerte Einschlafhilfen werden zur stufenweisen Verbesserung der selbstregulativen Fähigkeiten des Kindes in kleinen Schritten reduziert. In der konkreten Umsetzung kann eine individuelle Anpassung des Vorgehens in Richtung auf mehr Autonomie für das Kind im Kontext des Schlafens wie folgt aussehen: 5 Das Kind auf dem Arm herumtragen, bis es ruhig und entspannt ist. 5 Das Kind noch wach ins Bett legen. 5 Dem Kind durch Sitzen am Bett Nähe signalisieren, zunächst mit körperlichem Kontakt (z. B. die Hand auf den Bauch des Kindes legen), dann ohne Körperkontakt. 5 Nach einer Verabschiedung den Raum verlassen. 5 Die Tür auflassen oder bis auf einen Spalt schließen, damit das Kind sich an das Alleinsein im Raum gewöhnen kann. Um den Erwerb von Strategien zur Selbstberuhigung zu unterstützen, welche das Kind auch zum (Wieder-)Einschlafen in der Nacht benötigt, kann es hilfreich sein, diese zunächst am Tag zu fördern. In kleinen Abgrenzungs- und Trennungssituationen durch das Einrichten von Zeiten geteilter und ungeteilter Aufmerksamkeit lernt das Kind, dass es Zeiten gibt, in denen es die volle Aufmerksamkeit seiner Eltern bekommt, und andere Zeiten, in denen es sich auch für kurze Zeit selbst beschäftigen kann und muss. Dies trägt zur Entwicklung einer guten Balance zwischen Nähe- und Distanzbedürfnissen im Zuge der fortschreitenden Autonomieentwicklung bei. Das Durchhalten solcher kurzer Trennungssituationen fällt sowohl Eltern als auch Kindern im möglichst ausgeruhten Zustand leichter als am Abend und in der Nacht. Dadurch werden auf beiden Seiten die Aussichten auf ein
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Kapitel 14 • Schlafstörungen im Kindesalter
Erfolgserlebnis erhöht und das Vertrauen in die selbstregulativen Fähigkeiten des Kindes gestärkt. Immer einbeziehen sollte ein Beratungskonzept die akute und die längerfristige Entlastung der Eltern und der Paarbeziehung (z. B. durch kurze Erholungspausen am Tag gemeinsam mit dem Kind, die Einbeziehung beider Elternteile in die Versorgung des Kindes in der Nacht und klare Absprachen darüber, Möglichkeiten der Unterstützung durch das soziale Umfeld und Anregungen zur Pflege der Paarbeziehung).
14.7.1
Psychotherapie
Fallbeispiel
14
Die Mutter der 23 Monate alten P. berichtet im Erstgespräch, dass das Mädchen nachts bis zu zehnmal erwache und nur in seltenen Fällen alleine in den Schlaf finde. Sie schlafe abends im eigenen Bett ein, aber nur, wenn sie dabei an der Hand der Mutter zupfen könne. Schnuller, Kuscheltiere, Musikbegleitung oder Nachtlicht reichten nicht aus, um ihr »das Einschlafen schmackhaft zu machen«. Nach zwei Stunden erwache P. und wechsle ins Elternbett. Dies begleitet die Mutter, die alleine erscheint, weil der Vater beruflich eingebunden ist, mit ambivalenten Gefühlen: Einerseits genießt sie die körperliche Nähe zu P., die in ihren Augen »viel zu schnell groß geworden ist«, andererseits fragt sie sich, ob es für die Entwicklung des Mädchens nicht schädlich ist, sie im Elternbett schlafen zu lassen. Nach der Sichtweise ihres Partners gefragt, berichtet die Mutter, dass dieser P. das Schlafen im Elternbett lassen wolle, »weil sie doch noch so klein ist«. Am Tag sei P. schnell unzufrieden, quengele (»nichts kann man ihr recht machen«) und zeige eine große Anhänglichkeit an die Mutter. Versuche, P. durch motorische Angebote richtig müde zu machen, seien gescheitert. Die Anwendung des Vorgehens aus Jedes Kind kann schlafen lernen (Kast-Zahn u. Morgenroth 1995), das sie gelesen habe, halte sie für »brutal«, das könne sie »nicht machen«. Zur Lebenssituation berichtet die Mutter, dass ihr deutlich älterer Ehemann ein Kind aus einer früheren Beziehung habe. Da sie die meiste Zeit mit P. verbringe, erhebe sie Anspruch darauf, bei allen Entscheidungen das letzte Wort zu haben.
Ein deutliches Autonomie- und Kontrollbedürfnis der Mutter wird deutlich, aber auch eine Überforderung mit der aktuellen Situation, in der sie sich durch den Partner wenig unterstützt fühlt. Mutter und Kind halten sich häufig und oft auch über mehrere Tage bei den Eltern der Mutter auf, dort fühlt die Mutter sich wohl. Die Familie denkt über einen Umzug in die Nähe der Großeltern nach. Die Mutter äußert den Wunsch, auch Zeit ohne Kind zu haben, dies sei aber nur möglich, wenn ihre Mutter P. betreue. Sie selbst schleiche sich dann heimlich weg, weil sie den Protest des Kindes beim Abschied nicht aushalte. Meist treffe sie P. bei ihrer Rückkehr zufrieden spielend an, was bei ihr ambivalente Gefühle auslöse. Auf der einen Seite sei sie froh, dass P. sich wohlfühle und es ihr gut gehe, auf der anderen Seite sei es schwer für sie zu akzeptieren, dass ihre Tochter bereits nach so kurzer Zeit »nicht mehr an mich denkt«. Im Erstgespräch wirkt die Mutter von P. müde, unkonzentriert und etwas ungepflegt. Sie klagt über den anhaltenden Schlafmangel, abendliches Grübeln, Einschlafschwierigkeiten und eine anhaltende körperliche Anspannung. Das Mädchen sitzt während der ganzen Begegnung auf dem Schoß der Mutter. Es zeigt keine Wünsche zur Exploration des Raumes. Gelegentlich quengelt es, will etwas zu trinken, etwas essen, nach Hause gehen … In der Interaktion erscheint die Mutter zunächst zugewandt, doch im Zuge immer neuer Forderungen des Kindes fällt es ihr immer schwerer, ruhig zu bleiben. Sie wirkt angespannt, wütend, hat Tränen in den Augen. Schließlich sagt sie verzweifelt: »Wenn ich sie doch nur verstehen würde! Wann kann sie endlich sprechen?«
In Spezialambulanzen, Beratungsstellen und psychotherapeutischen Praxen sind diejenigen Eltern anzutreffen, für die Verhaltensanweisungen und Selbsthilfemaßnahmen alleine keine ausreichende Lösung darstellen. Im individuellen Rahmen können Fragen wie die, warum es ein Kind nicht schafft, alleine ein- und durchzuschlafen, bzw. warum Eltern ihr Kind nicht alleine schlafen lassen können, betrachtet werden. Diagnostisch und therapeutisch werden bewusste und unbewusste Hintergründe betrachtet, die es Eltern erschweren, dem Kind die zum Ein- und Durchschlafen erforderlichen Funk-
14.7 • Schlafberatung in der Praxis
tionen übergangsweise bereitzustellen bzw. die im Zusammenhang damit auftretende Beunruhigung des Kindes auszuhalten und zu modulieren. Unerträgliche Gefühle, die z. B. auftreten, sobald es um das abendliche Einschlafen geht, hängen oft mit frühkindlichen Erfahrungen der Eltern zusammen, die durch Schwangerschaft, Geburt und die erste Zeit mit dem Kind als »Gespenster der Vergangenheit« (Fraiberg et al. 1975) mobilisiert werden. Das Aufnehmen, Halten und Bewahren negativer kindlicher Gefühlsäußerungen, das sogenannte Containment (vgl. 7 Kap. 6), ist vor diesem Hintergrund nicht möglich. Das Schreien des Kindes im Kontext des Schlafens kann dann z. B. zu einer übermäßigen Aktivität der Eltern führen, weil sie den erlebten inneren Spannungszustand nicht aushalten. Schuldgefühle, dem Kind zu viel zuzumuten, müssen z. B. sofort durch verstärkte körperliche Nähe wiedergutgemacht werden, die aber von ambivalenten Gefühlen begleitet ist. Das Containment ist eng verbunden mit der Fähigkeit zur Mentalisierung (Fonagy et al. 2004; vgl. 7 Kap. 4), d. h. zum Nachdenken über und Differenzieren von eigenen und fremden seelischen Zuständen, die wiederum ein Verstehen eigenen und fremden Verhaltens ermöglichen. Die Mentalisierungsfähigkeit ermöglicht Eltern, sich in die Bedürfnislage des Kindes einzufühlen, auf dieser Basis Signale, wie z. B. Schreien, als Ausdrucksmöglichkeit des Kindes zu verstehen und für die Gestaltung der Interaktionen mit dem Kind rund um das Schlafen im Zuge der Abstimmungs- und Begleitungsprozesse zu nutzen. Dies schafft die Grundlage für das Wahrnehmen und adäquate Interpretieren kindlicher Signale und für eine daran angepasste entwicklungsangemessene Unterstützung des Einund Durchschlafens. In einem psychotherapeutischen Prozess kann gemeinsam mit den Eltern versucht werden, sich, orientiert an Signalen des Kindes, in dessen Befinden einzufühlen, darauf zu antworten und mögliche kindliche Reaktionen einzuschätzen. In einer solchen Interaktion erlebt das Kind sich verstanden und gehalten. Die Eltern können sich als kompetent und selbstwirksam erleben – ein Gefühl, das vielen Müttern und Vätern nach der Erfahrung, ihr Kind in vielen Situationen nicht beruhigen und nicht in den Schlaf bringen zu
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14
können, verloren gegangen ist, was zu einer tiefen Verunsicherung beigetragen hat. Bei P. in unserem Fallbeispiel handelt es sich um eine über den sechsten Lebensmonat persistierende Ein- und Durchschlafstörung, die vor dem Hintergrund der mit dem selbstständigen Ein- und Durchschlafen verbundenen Trennungsthematik bei Eltern und Kind verständlicher wird. Im Sinne der Bindungstheorie stellt das Einschlafen eine Trennungssituation dar, während das nächtliche Erwachen mit einer Wiedervereinigung gleichsetzbar ist. Untersuchungen des Zusammenhangs von Bindungsmustern bei 18 Monate alten Kindern und Schlafstörungen bei Kindern im Alter von 30 Monaten (Nolte et al. 2006) zeigten, dass sicher gebundene Kinder häufiger kombinierte Ein- und Durchschlafstörungen hatten. Vermutet wird, dass das sensible Einstellen auf kindliche Bedürfnisse und deren Beantwortung der frühen Bindungsentwicklung zuträglich sind, aber die für das selbstständige Ein- und Durchschlafen erforderlichen Schritte der Autonomieentwicklung behindern können. Unsicher gebundene Kinder zeigten ausgeprägte selbststimulierende Verhaltensweisen (z. B. an den Fingern saugen o. Ä.), vermutlich, um negative Affekte und Bindungsverhalten im Kontext des Schlafens zu unterdrücken (Nolte et al. 2006). Daneben können Kinder die Anforderung im Zuge der Autonomieentwicklung nur dann selbstständig bewältigen und sich zum Schlafen von ihren Eltern lösen, wenn diese die kindliche Autonomieentwicklung gutheißen und unterstützen. Eigene Konflikte der Eltern in der Auseinandersetzung mit Nähe- und Autonomiebedürfnissen können durch das Erleben dieser Entwicklungsschritte beim Kind reaktualisiert oder verstärkt und entsprechend den Bewältigungsformen der Eltern beantwortet werden. P.s Mutter erscheint wenig abgegrenzt von ihrer eigenen Mutter und wiederholt diese Beziehungsgestaltung mit der eigenen Tochter. Das Aufrechterhalten intensiver elterlicher Unterstützung beim Einschlafen kann ein Nähebedürfnis der Eltern von P. befriedigen, hält das Kind aber auch gleichzeitig in der Abhängigkeit und behindert die Entwicklung selbstregulatorischer Fähigkeiten. Das Verstehen der Bedeutung kindlicher Schlafstörungen im Kontext der elterlichen Lebensgeschichte ermöglicht eine Bearbeitung im psychotherapeutischen
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Kapitel 14 • Schlafstörungen im Kindesalter
Setting, die Eltern das Begleiten der kindlichen Entwicklung und das Einstellen auf unterschiedliche Entwicklungsphasen ermöglichen kann (Barth 1999). Das Gleiche gilt für Schlafstörungen im Rahmen von generalisierten Regulationsstörungen sowie von Störungen der Bindungssicherheit (Papoušek 2007), bei denen ein Schlaftraining Trennungsängste oder Verlassenheitsgefühle wecken oder verstärken könnte (7 Kap. 4).
am Ende der ersten Tiefschlafphase statt. Der auch »Nachtschreck« genannte Pavor nocturnus geht mit wenig Reagibilität auf Außenreize, schwerer Erweckbarkeit und anschließender Desorientiertheit einher. Sein Auftreten ist mit Stress, emotionalen Belastungen, fiebrigen Erkrankungen, Lärm oder Schlafmangel als auslösenden Bedingungen assoziiert. Fallbeispiel
14.8
14
Parasomnien
Parasomnien im Kindesalter sind in der Regel reifungsbedingte, vorübergehende Phänomene, die den Schlafprozess unterbrechen, aber keine primäre Störung des Schlaf-Wach-Zustands darstellen (Fonagy et al. 2004, Papoušek 2007). Sie zählen nicht zu den frühkindlichen Regulationsstörungen, kommen jedoch bereits gegen Ende der Kleinkindphase vor. Sie werden nach ICSD–2 (International Classification of Sleep Disorders) wie folgt klassifiziert (Schramm u. Riemann 1995): 5 Aufwachstörungen bzw. Arousalstörungen: 5 Pavor Nocturnus (der »Nachtschreck« oder »sleep terror«), 5 Somnambulismus (Schlafwandeln), 5 Schlaftrunkenheit; 5 REM-Schlaf-gebundene Parasomnien: 5 nächtlicher Albtraum, 5 Verhaltensstörung im REM-Schlaf, 5 wiederkehrende, isolierte Schlaflähmung; 5 andere Parasomnien, z. B.: 5 schlafbezogene Enuresis, 5 schlafbezogene dissoziative Störung, 5 schlafbezogene Halluzinationen. Der Pavor nocturnus verunsichert aufgrund seiner beeindruckenden Symptomatik Eltern von Kleinkindern oft sehr. Nächtliche Albträume sind die häufigste Form der Parasomnien im Kindesalter. Diese beiden Parasomnien stehen als Beispiele für diese Gruppe von Störungsbildern im Mittelpunkt der folgenden Abschnitte. Der zu den Aufwachstörungen zählende Pavor nocturnus äußert sich in einer unvollständigen Weckreaktion aus dem Non-REM-Schlaf und findet in der Regel im ersten Drittel des Nachtschlafs
Ein panischer, plötzlicher Schrei aus dem Kinderzimmer schreckt die Eltern zwei Stunden nach dem Zubettbringen ihres 18 Monate alten Sohnes D. hoch. Sie finden D. mit weit aufgerissenen Augen und einem besorgniserregenden Angstausdruck im Gesicht in seinem Bettchen. Er weint, zupft an der Bettdecke herum, schlägt dann wild um sich und droht sich selbst durch Kopfschlagen zu verletzen. Er schwitzt stark, zittert und ist in großer Anspannung. Nach ein paar Minuten zieht er sich an den Gitterstäben seines Bettchens hoch, rüttelt wie wild an den Stäben und tobt weiter. Er wirkt wie von Sinnen, und obwohl er wach erscheint, ist er nicht ansprechbar. Die besorgten Eltern versuchen D. auf den Arm zu nehmen. Er wehrt sich gegen Berührung und schreit scheinbar panisch weiter. Die Eltern haben einige Mühe, D. zu wecken. Als sie ihn schließlich wachgerüttelt haben, blickt er verwirrt um sich und reagiert kaum auf die beruhigenden Worte seiner Mutter. Er lässt sich ins Bett legen und schläft nach kürzester Zeit wieder ruhig ein. Am nächsten Morgen erwacht D. ein bisschen quengelig, der nächtliche Schrecken hat jedoch keinerlei sichtbare Spuren hinterlassen.
Solche meist nur wenige Minuten andauernden Episoden eines Pavor nocturnus erschrecken und schockieren viele Eltern. Der Zustand geht beim Kind mit einer hohen vegetativen Erregung einher, die den Eltern wie panische Angst erscheint. Weder körperlich noch psychisch sind langfristige Schädigungen bekannt. Befindet sich das Kind in einer sicheren Umgebung, ist die Verletzungsgefahr während einer solchen Attacke äußerst gering. Während beim Pavor nocturnus affektive Reaktionen wie Angst und Schrecken im Vordergrund stehen, kommt es beim zeitlich später auftretenden Schlafwandeln (Somnambulismus), das wie der Pa-
215
14.8 • Parasomnien
vor nocturnus zu den Aufwachstörungen zählt, zu komplexen motorischen Handlungen. Bei Albträumen schrecken betroffene Kinder aus einer Traumphase auf, sind wach oder leicht erweckbar und binnen weniger Augenblicke orientiert. In aller Regel besteht unmittelbar und auch am nächsten Morgen eine lebhafte und detaillierte Erinnerung an Trauminhalte (Fricke-Oekermann u. Lehmkuhl 2008). Durch das Erinnern der angstauslösenden Eindrücke aus dem Traum ist ein Wiedereinschlafen erschwert. Treten Albträume gehäuft auf, entstehen bei Kindern wie bei Eltern ein hoher Leidensdruck sowie sekundäre Einschlafprobleme. Fallbeispiel Der dreijährige M. wälzt sich im Bett herum, stöhnt, schreckt schließlich aus dem Schlaf und schreit nach seinen Eltern. Er sitzt zitternd und weinend im Bett. Er wiederholt ständig dieselben Satzfetzen, die seinen Sturz vom Klettergerüst am Tag zuvor beschreiben. Die Mutter nimmt M. in die Arme und beruhigt ihn. M.s Aufregung lässt nur langsam nach. Nachdem seine Mutter ihn ins Bett zurückgelegt hat, weigert sich M., die Augen zuzumachen, und wehrt sich gegen den Schlaf. Sehr erschöpft nimmt die Mutter M. schließlich mit ins Elternbett, wo er binnen weniger Minuten einschläft.
14.8.1
Prävalenz bei Parasomnien
Aufwachstörungen zeigen sich bereits im zweiten Lebensjahr und haben ihren Häufigkeitsgipfel im Vorschulalter, wobei sich innerhalb der Aufwachstörungen eine Verlagerung vom Pavor nocturnus hin zum Schlafwandeln zeigt (Vella 2003). Beide verlieren sich spätestens in der Pubertät meist spontan und persistieren dann in der Regel nur innerhalb eines psychopathologischen Geschehens. Zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr begegnen rund ein Drittel aller Kinder dem »Schrecken der Nacht« (Largo 2001). Albträume sind ab dem dritten Lebensjahr feststellbar und erreichen eine Prävalenz von 14% bei Kindern im Einschulalter (Fricke-Oekermann u. Lehmkuhl 2007). Sehr häufig finden sich rhythmische Bewegungen beim Übergang in den Schlaf wie Kopfwackeln
14
und Schaukeln im zweiten Lebenshalbjahr. Sie treten als vorübergehendes Phänomen ohne Krankheitswert bei über der Hälfte der Babys auf und gehören nicht zur Gruppe der Parasomnien (FrickeOekermann u. Lehmkuhl 2007).
14.8.2
Diagnostik
Neben dem ausführlichen Gespräch mit dem Kind und den Bezugspersonen sowie dem Führen eines Schlaftagebuchs kann das Aufzeichnen einer nächtlichen Episode auf Video durch die Eltern hilfreich sein (Vella 2003). Differenzialdiagnostisch sollten bei häufig auftretendem Pavor nocturnus epileptische Geschehen und andere neurologische Erkrankungen ausgeschlossen werden (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2007). Bei ständig wiederkehrenden Albträumen im Kleinkindalter können Interaktions- oder Bindungsstörungen zwischen Kind und Bezugspersonen oder andere emotionale Belastungen vorliegen. Pavor nocturnus und Somnambulismus lassen sich als Aufwachstörungen in einigen Details von Albträumen abgrenzen: 5 Nachtschreck und Schlafwandeln entstehen aus einer Tiefschlafphase, Albträume dagegen aus einer REM-Schlafphase heraus. 5 Bei Aufwachstörungen besteht eine schwere Erweckbarkeit mit anschließender Desorientierung. Bei Albträumen dagegen ist das Kind leicht erweckbar und zeigt keine oder eine geringe Desorientierung. 5 Während das Kind nach einem Nachtschreck oder nach einer Schlafwandelepisode schnell und ohne Schwierigkeiten einschläft, kommt es nach Albträumen häufig zu einem verzögerten Wiedereinschlafen, häufig verbunden mit Ängsten. 5 Begleitende physiologische Erregung, die sich z. B. in Schwitzen, Tachypnoe und Tachykardie äußert, ist beim Pavor nocturnus am stärksten ausgeprägt. Sie kann beim Somnambulismus in weniger ausgeprägter Form auftreten und zeigt sich bei Albträumen in noch geringerer Form.
216
Kapitel 14 • Schlafstörungen im Kindesalter
5 Nach Pavor-nocturnus- oder Schlafwandelepisoden besteht beim Wiedererwachen keinerlei Erinnerung. Albträume werden dagegen häufig gut erinnert.
14.8.3
14
Therapie
Bei Aufwachstörungen wie dem Pavor nocturnus ist die erste wichtige Intervention das konsequente Sichern der Schlafumgebung, um Verletzungen zu verhindern. Informationen über Aufwachstörungen als Entwicklungsphänomen wirken entlastend auf die häufig sehr besorgten Eltern. Da das Kind bestenfalls fragmentarische Erinnerungen an die nächtlichen Episoden hat, sollten die Eltern ihre Kinder nicht durch insistierende Befragungen verunsichern (Rabenschlag 2001). Auf der Verhaltensebene ist das Sorgen für ausreichende Schlafhygiene, z. B. das Einhalten eines regelmäßigen SchlafWach-Rhythmus mit ausreichender Schlafdauer, eine weitere wichtige Intervention. Daneben gilt es weitere mögliche Belastungen, die als mitauslösende Bedingungen in Frage kommen, zu bearbeiten. Nur in sehr seltenen Fällen sind im Kindesalter medikamentöse Behandlungen oder weitere psychotherapeutische Maßnahmen bei Aufwachstörungen notwendig (Fricke-Oekermann u. Lehmkuhl 2008). Albträume sind in der frühen Kindheit genauso normal wie das Träumen von schönen Dingen. So stellt das angstbesetzte Träumen nicht unweigerlich eine psychische Störung dar (Largo 2001). Erst wenn Albträume häufig (mehrmals pro Woche) über einen längeren Zeitraum hinweg auftreten und das Kind auch tagsüber durch das nächtliche Erleben verängstigt wirkt, besteht Interventionsbedarf. Eine Beratung der Eltern bezüglich des entwicklungspsychologischen Stellenwertes von Albträumen und des individuellen Bedarfs an einer nächtlichen Verarbeitungsmöglichkeit kann ein Verstehen und eine erste Entlastung ermöglichen. Der Umgang mit entwicklungsbedingten Trennungserfahrungen und das Schaffen einer Balance zwischen Autonomiestrebungen und Abhängigkeitswünschen kann bei Kindern Angst auslösen, die z. B. in Albträumen Ausdruck findet. Diese wichtige Entwicklungsaufgabe der Kleinkindphase
fordert von den Eltern einerseits, für ausreichendes Erleben von Nähe und Geborgenheit zu sorgen, und andererseits, dem Bedürfnis ihres Kindes nach Autonomie genügend Raum zu gewähren (Largo 2001). Im Rahmen psychotherapeutischer Gespräche kann z. B. die Bearbeitung einer Autonomieproblematik der Eltern, die die Begleitung der Entwicklung des Kindes beeinträchtigt, notwendig sein.
14.9
Abgrenzung zu Schlafstörungen im Erwachsenenalter
Der Übertrag von Erkenntnissen über Klinik, Diagnostik und Therapie von Schlafstörungen im Erwachsenenalter auf kindliche Schlafstörungen ist aufgrund entwicklungsabhängiger Besonderheiten, z. B. des Schlafmusters, und noch nicht ausreichend entwickelter selbstregulatorischer Fähigkeiten im frühen Kindesalter kontraindiziert. Besonderheiten bei der Klassifikation kindlicher Schlafstörungen wird in der ICD-10 nicht ausreichend Rechnung getragen (Deutsche Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2007). Als Beispiele dafür seien die diagnostisch relevante Tagesmüdigkeit, das »Sichbeschäftigen« mit dem erlebten Schlafdefizit und das explizite Leiden unter Schlafmangel genannt. Kinder zeigen diese Symptome in aller Regel nicht (Fricke-Oekermann u. Lehmkuhl 2007). Anders als bei Erwachsenen zeigen sich Folgen von gestörtem Schlaf bei Kindern oft in hyperaktiv anmutenden Verhaltensmustern. Die Diagnose kindlicher Schlafstörungen sowie diesbezügliche Interventionen müssen entwicklungsabhängige Parameter berücksichtigen. Fazit Das frühzeitige Erkennen kindlicher Ein- und Durchschlafstörungen und Parasomnien kann zur Vermeidung ungünstiger, chronifizierender Entwicklungsverläufe beitragen. Die Aufklärung der Eltern über kindliches Schlafverhalten und die spezifische Schlafstörung ihres Kindes unter Berücksichtigung von Alter und Entwicklungsstand kann zu einer ersten Entlastung der Gesamtsituation beitragen und ein Verständnis für die Problematik entstehen lassen. Sowohl in diagnostischer Hinsicht
Literatur
als auch im Hinblick auf mögliche Interventionen ist die Einbeziehung entwicklungsbedingter Parameter hoch relevant.
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14
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218
Kapitel 14 • Schlafstörungen im Kindesalter
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14
219
Fütterstörungen in der frühen Kindheit Consolata Thiel-Bonney und Nikolaus von Hofacker
15.1
Trinken, essen und füttern: Entwicklung von Essfertigkeiten im sozialen Kontext – 220
15.2
Definition und Symptomtrias der Fütterstörung – 221
15.2.1 15.2.2 15.2.3
Störung der kindlichen Verhaltensregulation beim Füttern – 222 Dysfunktionale Interaktion – 224 Elterliches Überforderungssyndrom – 224
15.3
Prävalenz, Verlauf, Prognose – 224
15.4
Einflussfaktoren bei der Entwicklung von Fütterstörungen – 225
15.4.1 15.4.2 15.4.3 15.4.4 15.4.5
Organische Belastungsfaktoren – 225 Probleme der Verhaltensregulation und Temperamentsfaktoren – 227 Traumatische frühkindliche Erfahrungen – 227 Elterliche und familiäre Einflussfaktoren – 228 Fütterstörung und Bindung – 230
15.5
Diagnostik – 230
15.5.1 15.5.2 15.5.3
Diagnostische Klassifikation nach ICD-10 und DSM-IV-TR – 230 Fütterstörung in der DC:0–3R – 232 Diagnostische Schritte im Fütterkontext – 233
15.6
Beratung und Therapie – 234
15.6.1 15.6.2 15.6.3 15.6.4
Somatische Ebene – 235 Entwicklungsbezogene Ebene – 238 Interaktions- und kommunikationszentrierte Ebene – 239 Psychodynamisch-beziehungszentrierte Ebene: Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Psychotherapie – 240 Indikationen für die ambulante und die stationäre Behandlung – 242
15.6.5
Literatur – 245
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
15
220
Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
Frühkindliche Fütterstörungen mit Problemen bei der Umstellung der Ernährung in den ersten Lebensmonaten, mit kindlicher Nahrungsverweigerung, mangelnder Akzeptanz neuer Geschmacksrichtungen, Nahrungskonsistenzen und -texturen und mit mangelndem Gedeihen führen die besorgten Eltern schnell zum Kinderarzt als dem ersten Ansprechpartner. Für die Wahrnehmung der Eltern steht das kindliche Überleben auf dem Spiel. Entsprechend zeigen sich die Eltern emotional meist hoch belastet. Die Forschung bestätigt Beeinträchtigungen der kindlichen Entwicklung und der Eltern-Kind-Beziehung bei Fortbestand der Fütterproblematik. Dieser Artikel ermöglicht einen Einblick in Diagnostik, Beratung und Therapie und möchte einen Beitrag dazu leisten, dass Fütterstörungen frühzeitig erkannt werden können und Kind und Eltern fachkundige Hilfe erfahren.
15.1
15
Trinken, essen und füttern: Entwicklung von Essfertigkeiten im sozialen Kontext
Trinken und Essen sind überlebensnotwendig und bedeuten ein biologisches Grundbedürfnis des Menschen. Die Nahrungsaufnahme allein sichert jedoch nicht das Überleben und die Entwicklung des jungen Kindes. Kind und Eltern benötigen die oft beglückende emotionale und soziale Erfahrung im Zwiegespräch, im gemeinsamen Spiel und beim Füttern und Gefüttertwerden, um sich kennenzulernen, Befriedigung und Kompetenz zu erleben, ihre Beziehung zu festigen und körperlich-seelisches Wohlbefinden in einer positiven Gegenseitigkeit zu erfahren. Ca. 50 % seiner wachen Zeit verbringt das Neugeborene beim Gefüttertwerden, das so zu einer wesentlichen ersten sozialen Erfahrung wird (Wolke 2005). Die süße (Mutter-)Milch führt zudem über den Geschmacksreiz zur Minderung der körperlichen Aktivität des Säuglings und zur Beruhigung, zur Senkung der Herzrate, zur Augenöffnung und zu vermehrten Hand-MundBewegungen, unterstützt also die Regulation der Verhaltenszustände (Blass u. Ciriamitaro 1994). Das gesunde Neugeborene verfügt über die Fähigkeit, Hunger und Sättigung zu signalisieren und
die Trink- und Nahrungsmenge, angepasst an den Kaloriengehalt der Nahrung, selbst zu regulieren (Papoušek 2002). Im weiteren Entwicklungsverlauf gelingt es dem Kind, sich an neue Geschmacksrichtungen, an breiige und feste Nahrung, veränderte Konsistenzen und Texturen anzupassen und den Übergang von der Milchnahrung zur Breinahrung vom Löffel zu bewältigen. Spezifische sensible Zeitfenster, z. B. für das Einführen neuer Geschmacksrichtungen und Texturen zwischen dem vierten und achten Lebensmonat, erleichtern die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben. Neben Hunger, Durst und Appetit, die für die innere Motivation des Kindes zur Nahrungsaufnahme eine wichtige Rolle spielen, ist es auch der Wunsch des Kindes, sich mit eigener Initiative an der Fütterinteraktion zu beteiligen und schließlich selbstständig zu essen. Die Eltern unterstützen das Kind dabei regulatorisch, sorgen für ein altersangemessenes Nahrungsangebot zu passenden Zeiten, für eine reizarme Umgebung und eine dem Entwicklungsstand des Kindes angepasste Fütterposition. Schließlich füttern die Eltern ihr Kind in intuitiver Abstimmung auf seine Hunger- und Sättigungssignale (Papoušek 2002). Kindliche (somatische, entwicklungs- und verhaltensorientierte) und elterliche Faktoren, die Beziehung und Interaktion zwischen den Partnern und der soziale und ernährungsbezogene Kontext des Fütterns stellen den komplexen Rahmen für die Entwicklung kindlicher Kompetenzen dar. Die kindlichen Entwicklungsaufgaben im Kontext der Ernährung sind in . Tab. 15.1 zusammengefasst dargestellt (für eine differenzierte Übersicht s. Papoušek et al. 2004; Wolke 2005; van den EngelHoek 2008). Sie sind definiert durch die Übergänge zwischen den verschiedenen Nahrungsmitteln (Konsistenz, Geschmack, Textur) und Hilfsmitteln (z. B. Flasche, Löffel, Becher), durch zunehmende mundmotorische und soziale Fertigkeiten und durch das Erlangen der Unabhängigkeit beim Essen: vom Saugen an Brust und Flasche zum Essen breiiger, stückiger und fester Nahrung bis zum selbstständigen Essen mit den Händen und dem Löffel (Sheppard 2008) am Familientisch. Für eine ungestörte Nahrungsaufnahme ist ein komplexes und koordiniertes Wechselspiel unterschiedlicher somatopsychischer und interaktioneller Prozesse verantwortlich. Hierzu zählen neben der physio-
221
15.2 • Definition und Symptomtrias der Fütterstörung
. Tab. 15.1
15
Entwicklungsverlauf im Fütterkontext
Alter
Nahrung
Entwicklungs- und Anpassungsaufgabe
1. Trimenon
Muttermilch/Flaschennahrung
Saugen (Brust/Flasche), Rhythmus von Hunger und Sättigung
2. Trimenon
Flaschennahrung, Beginn mit pürierter, breiiger Nahrung
Übergang zur Flaschennahrung, erhöhte Intensität des Saugens, Anpassung an die Löffelkost
2. Halbjahr
Löffelkost, zunehmend stückig, grob und handlich
Neue Geschmacksrichtungen, Konsistenzen und Texturen, zunehmend sitzende Position
2. Jahr
Grob gehackte und klein geschnittene Nahrung, rohes Obst und Gemüse, später regelmäßige Mahlzeiten am Tisch; Trinken aus der Tasse
Selbstständiges Essen und Trinken
3. Jahr
Tischkost
Zunehmende Übernahme familiärer und kultureller Konventionen
logischen (Appetit, Hunger, Sättigung, Atmung, Kreislauf u. a.), motorischen und sensorischen Regulation auch die Regulation der Verhaltenszustände, Lernprozesse (z. B. Antizipation von Nahrungsangeboten) sowie die sozial-emotionale Regulation in der Fütterinteraktion zwischen Säugling und Bezugsperson. Bei der Bewältigung dieser (Entwicklungs-)Aufgaben kann es immer wieder zu Anpassungsschwierigkeiten kommen, die meist vorübergehender Natur sind und von Eltern und Kind gemeinsam gemeistert werden. Nicht immer jedoch gelingt die Ernährung eines Säuglings oder Kleinkindes problemlos. Die Themen »Essen« und »Entwicklung/Leben« sind emotional eng miteinander verknüpft. Zeigt ein Kind keinen Hunger oder Appetit, trinkt und isst es nicht genügend, lässt es sich nicht altersgemäß füttern und ernähren oder verweigert es gar die Nahrungsaufnahme und nimmt an Gewicht ab, erleben die Eltern eine tiefe Verunsicherung in ihrem Selbstwertgefühl und eine existenzielle Angst um das Wohlergehen und Überleben ihres Kindes. Frühkindliche Fütterprobleme sind daher ein häufiger Anlass, der Eltern in die pädiatrische Praxis oder in eine Spezialsprechstunde führt.
15.2
Definition und Symptomtrias der Fütterstörung
Der Terminus »Fütterstörung« hat sich gegenüber Begriffen wie »frühkindliche Ess(verhaltens)störung« oder »Ernährungsstörung« durchgesetzt, um dem interaktionellen Aspekt dieser Probleme gerecht zu werden. Zur Definition der Fütterstörung Eine Fütterstörung liegt gemäß den Leitlinien (von Hofacker et al. 2007) vor, wenn 5 die Störung seit mindestens einem Monat besteht und die Fütterinteraktion von den Eltern als problematisch und belastend empfunden wird, 5 die einzelne Mahlzeit durchschnittlich mehr als 45 Minuten beansprucht und/ oder 5 das Intervall zwischen den Mahlzeiten weniger als 2 Stunden beträgt. Die Fütterstörung kann mit einer frühkindlichen Gedeihstörung einhergehen, die den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (von Hofacker et al. 2007) und den Leitlinien der Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung (2007) entsprechend folgende Kriterien aufweist:
222
Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
5 für Säuglinge mit einem Geburtsgewicht auf oder oberhalb der 3. Perzentile: – Gewichtsabfall unter die 3. Perzentile und/oder – Wechsel von mehr als 2 Perzentilenkurven durch Gewichtsverlust oder -stillstand über einen Zeitraum von mindestens 2 Monaten (bei Alter des Kindes ≤ 6. Lebensmonat) bzw. 3 Monaten (bei Alter des Kindes > 6. Lebensmonat) 5 für Säuglinge mit einem Geburtsgewicht unterhalb der 3. Perzentile: – jede fehlende Gewichtszunahme über mindestens einen Monat – erniedrigtes Längensollgewicht Der mangelnden Gewichtszunahme oder der Gewichtsabnahme folgt in der Regel eine Wachstumsstörung.
15
Die Unterscheidung einer organischen (»organic failure to thrive«, OFT) von einer nicht organischen (»non organic failure to thrive«, NOFT) Gedeihstörung oder Fütterstörung ist empirisch nicht belegt und klinisch nicht sinnvoll (von Hofacker et al. 2004). Mehr als ein Drittel der Kinder einer NOFT-Gruppe zeigten bei genauerer Untersuchung eine oral-motorische Dysfunktion (Reilly 1999) oder es fand sich eine primäre, inzwischen überwundene organische Erkrankung (z.B. eine Refluxerkrankung), die diese Fütterprobleme mit nachfolgender problematischer Fütterinteraktion, Essensverweigerung oder geringer Nahrungsaufnahme getriggert hatte (Levy et al. 2009). Andere Autoren (Drewett et al. 1999 u. 2002) konnten bei vorliegender Gedeihstörung nur in 9 % der Fälle relevante medizinische Bedingungen nachweisen. Umgekehrt fanden Burklow et al. (1998) in 85 % der Kinder mit komplexen Fütterstörungen eine Verhaltenskomponente, die mit organischen Belastungsfaktoren interagierte. Mögliche Unterschiede der Bindungsklassifikation zwischen Kindern mit primär organischer und Kindern mit nicht organischer Gedeihstörung konnten in Studien nicht bestätigt werden (7 Abschn. 15.4.5). Die hohe »Komorbidität« zwischen organischen Belastungsfaktoren und Problemen in der
Fütterinteraktion weist von Beginn an auf ein komplexes Zusammenspiel von somatischen, psychosozialen und interaktionellen, von elterlichen und kindlichen Aspekten in der Natur der Fütterstörungen hin. Entsprechend sollte die Trennung von organischer und nicht organischer und von Fütter- und Gedeihstörung nicht weiter aufrechterhalten werden (von Hofacker et al. 2004; Benoit 2000; Papoušek 2002; Wolke 2005; Bryant-Waugh et al. 2010). Fütterstörungen sind vom Beziehungskontext, in dem sie sich entwickeln, nicht zu trennen. Sie sind, wie andere frühkindliche Regulationsstörungen (s. auch 7 Kap. 11, 13, 14, 18), durch eine Symptomtrias gekennzeichnet (Papoušek et al. 2004; von Hofacker et al. 2004): 5 Fehlentwicklung der kindlichen Regulation bei der Nahrungsaufnahme und Auffälligkeiten im kindlichen Trink-/Essverhalten, 5 dysfunktionale Interaktions- und Kommunikationsmuster zwischen Eltern und Kind im Fütterkontext; Beeinträchtigung der koregulatorischen elterlichen Unterstützung, 5 elterliches Überforderungssyndrom mit Belastung oder Störung der Eltern-Kind-Beziehung. Diese multifaktoriellen Einflüsse auf die »Natur« von Fütterproblemen erfordern von Beginn an eine interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Diagnostik und Therapie der frühkindlichen Fütterstörung. Nicht berücksichtigt werden in diesem Beitrag dysfunktionale Fütterinteraktionen, die mit einem kindlichen Übergewicht einhergehen. Obwohl die Adipositas im Kindesalter zunimmt, gibt es bisher noch keine empirischen Untersuchungen oder ausreichende klinische Erfahrungen mit dieser Gruppe von Fütterstörungen (Papoušek et al. 2004).
15.2.1
Störung der kindlichen Verhaltensregulation beim Füttern
Viele Säuglinge und Kleinkinder mit Fütterproblemen zeigen unklare Signale von Hunger und Sättigung, was die Kommunikation im Fütterkontext erschwert (Lindberg et al. 1996). Die Kinder haben scheinbar keinen Appetit und demonstrieren dies
15.2 • Definition und Symptomtrias der Fütterstörung
auf vielfältige Weise: durch Wegdrehen des Kopfes, Ausspucken oder Wegstoßen von Nahrung sowie durch Würgen/Erbrechen ohne eine zugrunde liegende organische Ursache. Andere verweigern passiv die Nahrungsaufnahme, indem sie den Mund geschlossen halten, Nahrung im Mund behalten oder sie herauslaufen lassen. Manche Kinder wehren sich gegen das Sitzen am Tisch, sind überaus ablenkbar und stellen die Nahrungsaufnahme bei attraktiven äußeren Reizen sofort ein; andere lassen sich erst unter solchen Ablenkungsmanövern füttern. Viele Kinder benötigen sehr lange für eine Mahlzeit und/oder nehmen nur geringe Mengen an Nahrung zu sich, oder sie zeigen ein überaus wählerisches Essverhalten mit einer selektiven Verweigerung von Nahrungsmitteln mit neuen Geschmacksrichtungen, Texturen und Konsistenzen (»picky eater«) (Jacobi et al. 2003; Papoušek et al. 2004; Zero To Three 2005). Zudem finden sich häufig weitere regulatorische Probleme mit exzessivem Schreien und Problemen in der Aufrechterhaltung eines wachen, aufmerksamen Zustands (7 Kap. 13), was die Nahrungsaufnahme und das Einführen eines passenden Schlaf-, Mahlzeiten- und Spielrhythmus erschwert. In ihrer Not weichen die Eltern auf nächtliche Stillmahlzeiten aus oder füttern ihr Kind im Halbschlaf. Andere Säuglinge und Kleinkinder zeigen eine heftige angstgetönte Abwehr bei der Berührung im Gesichts-, Mund- oder Rachenbereich, beim Füttern (häufig mit Widerstand gegen das Herunterschlucken der Nahrung) oder auch schon vor Beginn der Mahlzeit, wenn sie die Flasche oder den Teller erblicken. Dieser Störung ist meist ein belastendes oder traumatisierendes Ereignis in der Vorgeschichte vorausgegangen (z. B. nach Beatmung, Sondierung, forcierter Fütterung; 7 Abschn. 15.4.3), in dessen Folge sich das Kind gegen jeden »Eingriff« in die orale Intimsphäre wehrt, an Gewicht abnimmt und nicht selten sondiert werden muss, was den Teufelskreis zwischen aversiver Erfahrung und Abwehr eines Nahrungsangebotes noch verstärken kann. Die Genese der Fütterstörung steht im engen Zusammenhang mit phasentypischen Anpassungsund Entwicklungsaufgaben im Kontext der Nahrungsaufnahme (Papoušek et al. 2004):
223
15
5 Beim Anlegen des Kindes an die Brust und beim Stillen/Flaschegeben nach der Geburt: hier kann eine anfängliche Saugschwäche oder ungenügende Abstimmung zwischen Mutter und Kind zu ersten Beeinträchtigungen beim Füttern und in der Beziehungsentwicklung führen. Die Mütter können sich in ihrem Selbstwert und in ihrer genuinen Kompetenz infrage gestellt fühlen. 5 In den ersten drei Lebensmonaten finden sich vermehrt Fütterprobleme in Verbindung mit Problemen der kindlichen Zustandsregulation und Erregungsmodulation, mit ausgeprägter Irritabilität und exzessivem Schreien (s. auch 7 Kap. 13 u. 7 Abschn. 15.4.2). Die Feinabstimmung zwischen Mutter und Kind ist erschwert. Gelingt es der Mutter nicht, dem Baby unterstützenden Halt und Ruhe zu vermitteln, kann dies zu einer »Fütterstörung mit Beeinträchtigung der homöostatischen Regulation« (Chatoor et al. 1997) führen. 5 Im vierten bis sechsten Lebensmonat entstehen Fütterprobleme meist im Kontext der Umstellung auf die Brei-/Löffelkost; im achten Lebensmonat kann ein erschwerter Übergang zur festen Nahrung beobachtet werden. Eltern berichten hier z. B. von Schwierigkeiten des Kindes beim Einführen der »Achtmonatsgläschen«, in denen stückige Nahrungsanteile im Brei den sensorisch besonders empfindsamen Säugling besonders herausfordern können (Chatoor 2008). Das Abstillen bedeutet zudem eine Herausforderung für Mutter und Kind: Mütterliche Ambivalenzen und Probleme bei der langsamen Loslösung vom Kind sowie kindliche Nähebedürfnisse und Bindungsunsicherheiten erschweren diesen Entwicklungsschritt und bilden sich im Fütterkontext ab. 5 Im zweiten Lebenshalbjahr entwickelt das Kind zunehmende Autonomiewünsche; es entstehen Konflikte im Fütterkontext um die Themen Abhängigkeit, Autonomie und Kontrolle. Eine provokative Abwehr von Fütterversuchen und heftige Ausbrüche von Wut und Ärger können die Fütterszene in eine »Kampfbühne« verwandeln (Dunitz-Scheer et al. 2007).
15
224
Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
15.2.2
Dysfunktionale Interaktion
Die Eltern eines Kindes, das schlecht isst, geraten schnell unter einen immensen emotionalen Druck, sind sie doch »Garanten« für die Ernährung und das Gedeihen ihres Kindes. Hat ein Kind bei einer Mahlzeit wenig Appetit gezeigt und nur geringe Nahrungsmengen akzeptiert, so füttern es die Eltern häufig schon nach kurzer Zeit erneut – aus Sorge, es könnte an Gewicht abnehmen. Die Mahlzeiten dauern lange, sind hoch angespannt, und nicht selten wenden die Eltern ein Füttern unter Zwang an, um eine genügende Kalorienaufnahme zu sichern. Häufige Milch- und Nahrungswechsel lassen das Kind in der Folge als vulnerabel erscheinen (Forsyth u. Canny 1991) und verunsichern Eltern und Kind zusätzlich. Im Alltag der Familien dreht sich schon bald alles um das Thema »Essen« – ein freudiger Austausch im Spiel findet kaum noch statt. So schilderte ein Vater, er habe sein Kind »nur noch als Bauch wahrgenommen«. Die Sensibilität der Eltern erscheint zunehmend eingeschränkt. Es gelingt ihnen immer weniger, die Eigeninitiativen und guten Entwicklungsschritte ihres Kindes bei den Mahlzeiten und in anderen Alltagskontexten zu erkennen, während der Mahlzeit eine angenehme, raumgebende und gleichzeitig strukturierte Atmosphäre zu schaffen und dem Kind positive Rückmeldungen zu geben, wenn es z. B. zu Beginn des Fütterns Signale von Hunger und Essenslust zeigt oder einige Löffel Brei mit Freude isst. Machen die Eltern zudem noch ablenkende (Spiel-) Angebote während der Mahlzeit, wird das Verweigern des Essens möglicherweise für das Kind besonders »interessant«. In einem solchen Fütterkontext erhält das Kind keine ausreichende Unterstützung seiner Selbstregulation im Rahmen der Ernährung und beginnt sich zunehmend gegen die elterliche Kontrolle zu wehren. Im Vordergrund der Fütterinteraktion stehen ängstlich-überfürsorgliche Zuwendung der Eltern mit Ablenkungsstrategien oder verstärkt kontrollierende Verhaltensweisen mit Ausübung von Druck und Zwang (Lindberg et al. 1996, Papoušek et al. 2004). Das soziale Miteinander bei der Mahlzeit ist in einen Kreislauf negativer Gegenseitigkeit geraten (s. auch Ammaniti et al. 2004).
15.2.3
Elterliches Überforderungssyndrom
Insbesondere die Mütter von Kindern mit einer Fütterproblematik erleben sich bald in ihrer genuinen Rolle als »Nährende« ihres Kindes infrage gestellt. Das Thema der »Mutterschaftskonstellation« (Stern 1998) mit der Frage: »Kann ich das Überleben und Gedeihen meines Babys gewährleisten?« entfacht häufig sehr früh in der Mutter die Angst, ihr Kind könnte sterben, wenn sie es nicht ausreichend gut ernähren kann. War das Überleben des Kindes zuvor zudem – z. B. im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation, einer komplizierten Schwangerschaft mit Blutung und drohender Fehlgeburt, einer schwierigen oder zu frühen Geburt oder einer Erkrankung des Kindes – infrage gestellt, kann dies von Beginn an zu einer erhöhten und angespannten Aufmerksamkeit im Rahmen der Fütterinteraktion führen. Trinkt oder isst das Kind dann schlecht, erleben Mütter und Väter schnell tief greifende Ängste, ihr Kind zu verlieren. Sie fühlen sich erschöpft und hilflos-ohnmächtig der Verweigerung ihres Kindes ausgeliefert, was schließlich in einem verletzten Selbstwertgefühl, in Depression und/oder heftigen Ambivalenzkonflikten mit Schuldgefühlen und wütend-aggressiven Impulsen münden kann. Die Sorge um die Trink- und Essensmenge und um das kindliche Gewicht führt häufig zu antizipatorischen Ängsten der Mütter vor jeder Mahlzeit und kann zum alles beherrschenden Thema des Familienlebens werden.
15.3
Prävalenz, Verlauf, Prognose
Vorübergehende Fütterschwierigkeiten sind in der Entwicklung gesunder Säuglinge häufig und werden von ca. einem Drittel der Eltern im ersten Lebensjahr berichtet (Forsyth u. Canny 1991). Sie manifestieren sich meist in den Übergängen zu einem neuen Entwicklungsschritt als Anpassungsproblem an einen neuen Fütterungsmodus, neue Geschmacksrichtungen und Texturen (Wurmser 2009). Fergusson et al. (1985) fanden eine Rate von 15 bis 25 % leichterer bis mittelschwerer Fütterstörungen in den ersten beiden Lebensjahren. In einer englischen Kohortenstudie gaben 20 % der Eltern
225
15.4 • Einflussfaktoren bei der Entwicklung von Fütterstörungen
Fütterprobleme bei ihren 30 Monate alten Kindern an (Wright et al. 2007). Schwere Fütterstörungen werden in der Literatur mit 3 bis 12 % angegeben. Die Prävalenz von Gedeihstörungen beträgt ca. 3 bis 4 %; sie lag in einer Population der Münchner Sprechstunde für Schreibabys bei 7 % (von Hofacker et al. 2004). Kinder mit Entwicklungsstörungen sind zu 35 bis 80 % durch Fütterstörungen belastet (Burklow et al. 1998). Frühkindliche Fütter- und Gedeihstörungen weisen eine erhebliche Persistenzrate bis ins Grundschulalter auf (Dahl et al. 1994). In einer prospektiven Untersuchung einer Geburtskohorte wurden 48 % der sechs Monate alten Kinder mit einem Fütterproblem auch im Alter von zwei bis vier Jahren von ihren Müttern noch als solche eingeschätzt (McDermott et al. 2008, s. auch Dahl 1987). Marchi u. Cohen (1990) fanden eine signifikante Stabilität maladaptiver Essverhaltensweisen von Kindern zwischen dem ersten und zehnten Lebensjahr. Für die weitere Entwicklung des Kindes ist es von Bedeutung, ob ein ausreichendes Gedeihen erreicht werden kann (von Hofacker et al. 2004). Aber auch bei erhöhter Kalorienzufuhr und einem verbessertem Ernährungsstatus bleiben Kinder mit einer Gedeihstörung häufig später kleiner und leichter als ihre Altersgenossen. Die sozialemotionale Entwicklung der Kinder erscheint bei allen Formen der Fütterstörung belastet mit einer erhöhten Rate an kindlichen Verhaltensproblemen, insbesondere hyperaktiven und ängstlich-depressiven Symptomatiken (Dahl 1987; Dahl u. Sundelin 1992; Burklow et al. 1998, Wolke 2005; McDermont et al. 2008). Persistierende Regulationsprobleme (exzessives Schreien, Schlaf- und Fütterprobleme) sagten Defizite im Anpassungs-/Lernverhalten und in den sozialen Kompetenzen des Vorschulkindes voraus (Schmid et al. 2010; vgl. auch 7 Kap. 13). Die körperliche Gesundheit ist bei Kindern mit anhaltenden Fütter- und Gedeihstörungen häufig beeinträchtigt, z. B. durch ein reduziertes Körpergewicht und Längenwachstum und eine erhöhte Infektanfälligkeit (Benoit 2000; Lindberg et al. 2006; Dahl 1987; Wright et al. 2007). Die Befundlage zur kognitiven Entwicklung dieser Kinder stellt sich nicht einheitlich dar (Drewett et al. 1999; Chatoor et al. 2004; Benoit 2000, Wolke et al. 1990); eine neue Untersuchung von Wolke et al. (2009) fand einen
15
geringen, aber signifikanten Effekt von Schrei- und Fütterproblemen auf die kognitive Entwicklung von Risikokindern im Vorschulalter. Ob frühkindliche Fütterstörungen als Präkursoren für eine Essstörung in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter gesehen werden können, ist in Ermangelung prospektiver Studien noch nicht ausreichend geklärt. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass frühkindliche Fütterprobleme das Risiko einer Essstörung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter erhöhen (Kotler et al. 2001). So sagte für eine Gruppe von Säuglingen mit Nahrungsverweigerung ein niedriges Geburtsgewicht höhere Levels von gestörtem Essverhalten und einer weniger positiven Selbstwahrnehmung im Alter von 16 Jahren voraus (Rydell u. Dahl 2005). Die mangelnde Selbstregulation von Appetit und Nahrungsaufnahme und Probleme bei der Selbstkontrolle des Essverhaltens könnten wichtige Aspekte für die mögliche Entwicklung einer späteren Essstörung bedeuten, insbesondere auch für die Entwicklung eines Übergewichtes (Marchi u. Cohen 1990; Duke et al. 2004; Faith u. Kerns 2005; Agras et al. 2007).
15.4
Einflussfaktoren bei der Entwicklung von Fütterstörungen
In der neueren Forschung und Literatur setzen sich zunehmend systemische und multifaktorielle Sichtweisen im Hinblick auf die Entwicklung von Fütterproblemen durch. Fütter- und Gedeihstörungen entstehen in einer komplexen Wechselwirkung zwischen multiplen organischen, psychosozialen, elterlichen und kindlichen Faktoren (Papoušek et al. 2004) und können in einem bio-psychosozialen Bedingungsgefüge verstanden werden. Im Fütterkontext begegnen sich kindliche und elterliche Ressourcen und Belastungen und bedingen sich gegenseitig in einem Kreislauf positiver oder negativer Gegenseitigkeit (. Abb. 15.1)
15.4.1
Organische Belastungsfaktoren
Organische Erkrankungen allein finden sich in Populationsstichproben nur in unter 10 % als ur-
226
Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
POSITIVE GEGENSEITIGKEIT Zunehmend besser gelingende Selbstregulation der Nahrungsaufnahme
KIND • Somatische Belastungen • Temperaments- und konstitutionelle Selbstregulierte Eigenschaften Nahrungsaufnahme
Elterliche koregulatorische Unterstützung d. Nahrungsaufnahme
Fütterinteraktion Essen am Familientisch
• Geschmacks- und sensorische Erfahrungen Mangelndes Zulassen/Unterstützen der kindlichen selbstregulierten Nahrungsaufnahme
ELTERN • Mütterliche/elterliche Belastungen & Ressourcen Elterliche intuitive Unterstützung
• Wahrnehmungen, Interpretationen, Gefühle, Erwartungen in Bezug auf die Nahrungsaufnahme • Familiäre u. kulturelle Gewohnheiten
NEGATIVE GEGENSEITIGKEIT Fortschreitend dysfunktionale Fütterinteraktion Kindliche Gedeihstörung
. Abb. 15.1 acker 2009)
15
Modell einer interaktions- und beziehungsfokussierten Ätiologie frühkindlicher Fütterstörungen (von Hof-
sächlich für eine Fütterstörung (7 Abschn. 15.2; Drewett et al. 2002; Wolke 2005). In klinischen Stichproben liegt die Rate medizinischer Belastungen, je nach Schwerpunkt der Behandlungseinrichtung, bei 25 bis 80 % (Benoit 2000; Rommel et al. 2003). Alle Erkrankungen, die mit chronischem Appetitverlust, Erbrechen, Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme und Verdauung einhergehen, können mit Fütterproblemen in direktem Zusammenhang stehen (Papoušek 2002). Zu nennen sind z. B. Probleme des Magen-Darm-Traktes (z.B. gastroösophagealer Reflux, Mathisen et al. 1999), Nahrungsmittelintoleranzen, Cystische Fibrose, Zöliakie), Erkrankungen des Herzens und der Atemwege, Leber- und Nierenfunktionsstörungen, endokrinologische Erkrankungen, syndromale und strukturelle Erkrankungen/Fehlbildungen, neurologische Erkrankungen und Störungen der kindlichen Entwicklung (Rommel et al. 2003; Manikam u. Perman 2000; Field et al. 2003; Miller 2009; Bernard-Bonnin 2006). Auch bei primär gesunden, füttergestörten Säuglingen und Kleinkindern zeigen sich in 43 % leichtere, passagere neurologische Auffälligkeiten, die dem Kind die Nahrungsaufnahme möglicherweise erschweren (von Hofacker
et al. 2004). Kinder mit Fütterproblemen weisen vermehrt ein geringes Geburtsgewicht auf (Unlü et al. 2008). Mundmotorische und -sensorische Probleme (Hypotonie der Lippen und Kaumuskulatur, Überempfindlichkeit im Mundbereich, Zungenfunktionsstörungen, unzureichendes Saugen, sensorische Abwehr gegen Berührung durch bestimmte Nahrungsmitteltexturen, Intoleranz gegenüber altersgerechter Kost, Schluckprobleme) und Störungen der Saug-Schluck-Atmungskoordination sollten beachtet werden (von Hofacker et al. 2004; Papoušek et al. 2004; Mathisen et al. 1989). Die Zahl der Kinder mit Schluckstörungen nimmt zu, auch aufgrund höherer Überlebensraten Frühgeborener (Arvedson 2008). Sensorische Empfindlichkeiten können die Nahrungsakzeptanz beeinflussen und den Kindern Übergänge zu neuen Geschmacksrichtungen und Texturen erschweren. Studien konnten belegen, dass manche Erwachsene (sogenannte »Supertaster«) bestimmte Geschmacksrichtungen sehr viel intensiver empfinden als andere – die Dichte ihrer Zungenpapillen ist signifikant höher (Chatoor 2008; von Hofacker 2009).
227
15.4 • Einflussfaktoren bei der Entwicklung von Fütterstörungen
Organische Faktoren sind in Diagnostik und Therapie immer zu berücksichtigen; sie sind jedoch meist in weitere psychosoziale Belastungen eingebettet. Ergibt die körperliche Untersuchung des Kindes keinen Hinweis auf eine organische Ursache, so ist die Wahrscheinlichkeit, bei weiteren invasiven Untersuchungen doch noch auf eine solche zu stoßen, sehr gering (von Hofacker et al. 2004). In diesem Fall sollte daher mit eingreifenden Untersuchungen zurückhaltend umgegangen werden, insbesondere um weitere oral-aversive Erfahrungen für das Kind zu vermeiden.
15.4.2
Probleme der Verhaltensregulation und Temperamentsfaktoren
Bedeutsamer als organische Bedingungsfaktoren sind frühkindliche regulatorische Probleme, die den Fütterkontext, aber auch andere regulatorische Bereiche betreffen können (von Hofacker et al. 2004; Wolke 2005). Ein nach dem dritten Lebensmonat persistierendes exzessives Säuglingsschreien (7 Kap. 13) erhöhte die Prävalenz von Fütterstörungen in einer deutschen Geburtskohorte von 2,7 % auf 19 % (von Kries et al. 2006). Eine andere Studie untersuchte Säuglinge im Alter von sechs bis acht Wochen: Exzessiv schreiende Babys (»colic group«) zeigten mehr Fütterschwierigkeiten mit desorganisierten Verhaltensweisen beim Füttern, einem weniger rhythmischen, nutritiven und nicht nutritiven Saugmuster, mehr Zeichen von Unbehagen nach der Mahlzeit und einer geringeren Responsivität während der Fütterinteraktion (Miller-Loncar et al. 2004). In einer Stichprobe aus der Münchner Sprechstunde für Schreibabys waren Fütterstörungen, je nach Alter des Kindes, sehr häufig mit anderen regulatorischen Problemen (z. B. Schlafproblemen, exzessivem Schreien und Trotzen, dysphorischer Unruhe, aggressiven Verhaltensweisen) verbunden (von Hofacker et al. 2004). Temperamentsfaktoren beeinflussen kindliche Verhaltensweisen in der Fütterinteraktion. »Schwierige« Temperamentsmerkmale wie Unruhe/Schwierigkeit, Unvoraussagbarkeit, mangelnde Anpassungsfähigkeit, Irritabilität, Hartnäckigkeit und mangelnde Tröstbarkeit (von Hofacker et al. 2004) und eine negative Affektivität (»mealtime
15
negativity«; Farrow u. Blisset 2006c) erschweren es dem Kind, sich auf eine Mahlzeit einzustellen, und machen es den Eltern nicht leicht, ihr Kind beim Füttern passend zu unterstützen. Kindliche Temperamentsmerkmale und die Feinfühligkeit der Eltern in der Reaktion auf das kindliche Signal beim Füttern interagieren miteinander: In einer schwedischen Studie wurden mehr Fütterprobleme bei zweijährigen Kindern mit einem »schwierigen« Temperament beklagt, wenn die Mütter weniger sensitiv auf kindliche Signale eingehen konnten (Hagekull et al. 1997). Auch Wolke et al. (1990) beschrieben Säuglinge mit Gedeihstörung als irritabler, fordernder und weniger kontaktfreudig. Diese Säuglinge zeigten sich zudem in ihrem Verhalten hartnäckiger/beharrlicher und weniger aufgabenorientiert. Die Mütter begegneten ihren Kindern im Spiel häufiger mit negativen Emotionen.
15.4.3
Traumatische frühkindliche Erfahrungen
In der Entstehungsgeschichte von Fütter- und Gedeihstörungen finden sich häufig kindliche Traumatisierungen im Mund-Rachen-Schlundbereich. Nicht selten sind frühgeborene Kinder betroffen, die im Rahmen intensivmedizinischer Behandlung intubiert und abgesaugt und über einen längeren Zeitraum mit einer Mund- oder Nasensonde ernährt werden mussten. Auch die Bougierung einer zu engen Speiseröhre oder die operative Versorgung von Kindern mit Spaltbildungen oder einer Ösophagusatresie führt zu schweren Eingriffen in den Gesichts-/Rachenbereich. Andere Kinder erlebten ein Verschlucken mit Erstickungsangst (Chatoor et al. 1988), litten unter schmerzhaften Entzündungen der Speiseröhre bei einem gastroösophagealen Reflux oder erfuhren die Anwendung von Zwang beim Füttern (Festhalten, gewaltsames Mundöffnen, Füttern beim Schreien). Nach all diesen Erfahrungen kann jegliche Nahrungsaufnahme mit einem heftigen aversiven Reiz verbunden sein; das Aufnehmen und Schlucken von Nahrung wird antizipatorisch mit einer Aversions- oder Schmerzerfahrung assoziiert. Das Kind zeigt in der Folge eine angstgetönte bis phobische Abwehr gegenüber jeglicher Berührung und Stimulation im Mund-
228
Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
Rachen-Bereich und verweigert die Nahrungsaufnahme und das Schlucken von Nahrung (Chatoor et al. 2001). Es entwickelt sich eine »posttraumatische Fütterstörung«. Frühgeborene Kinder sind mit mehr als einem Drittel (Rommel et al. 2003) innerhalb der Gruppe von Kindern mit Fütterstörung überrepräsentiert. In unserer Heidelberger Spezialambulanz für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern gaben 45 % der Eltern frühgeborener Kinder Fütterprobleme als einen Vorstellungsanlass an; Eltern reifgeborener Kinder nannten diesen Grund bei der Anmeldung nur in 20 % der Fälle (Thiel-Bonney 2006). Insbesondere Kinder mit einem niedrigen Geburtsgewicht, bezogen auf das Gestationsalter, und mit vorausgegangenen Atemhilfen oder einem verzögerten enteralen oder oralen Nahrungsaufbau sind von Fütterproblemen betroffen (Rommel et al. 2003; Hawdon et al. 2000). Hawdon und Kollegen (2000) fanden in einer prospektiven Studie unter Risikoneugeborenen eine hohe Rate von unreifen und abnormen Mustern bei der Nahrungsaufnahme mit einer erheblichen Persistenz von Fütterproblemen bis ins erste Lebensjahr.
15.4.4
15
Elterliche und familiäre Einflussfaktoren
Soziodemografische Faktoren wie Sozialschicht, sozioökonomischer Status, Geschlecht, Bildung, Alter der Eltern, Anzahl der Geschwister etc. scheinen, entgegen früheren Forschungen, kaum einen Zusammenhang mit Fütterstörungen zu zeigen (Wright et al. 2007; Wolke 2005). Allerdings findet sich in klinischen Stichproben von Kindern mit schwerer Gedeihstörung auch eine Gruppe hoch belasteter Familien mit Armut, niedriger Intelligenz/geringem Bildungsstand, psychischer/psychiatrischer Erkrankung der Eltern, sozialer Isolation, Gewalt, Vernachlässigung und dysfunktionalen familiären Beziehungsmustern (Benoit 2000; Papoušek et al. 2004). Gedeihstörungen sind jedoch nur in ca. 9 % der Fälle Ausdruck von emotionaler Deprivation und Vernachlässigung (Wolke 2005). Wright et al. (2006) diskutieren in diesem Zusammenhang eine Verzerrung des Bildes, da Kinder, die an klinische Einrichtungen überwiesen werden,
häufig vielfältige familiäre Belastungen aufweisen. Dies reflektiert jedoch möglicherweise die Tatsache, dass diese Familien verstärkt an Facheinrichtungen überwiesen werden, und bedeutet nicht primär eine Verbindung der Gedeihproblematik mit einer erhöhten Deprivation. Elterliche, biologische und psychosoziale Belastungen stehen in enger Wechselwirkung mit kindlichen Einflussfaktoren. Daten aus der Münchner Sprechstunde für Schreibabys demonstrieren eine erhöhte Rate von prä-, peri- und postnatalen Belastungsfaktoren, die die intuitive Kompetenz der Eltern im Fütterkontext und die kindliche Selbstregulation beeinträchtigen können (von Hofacker et al. 2004; Papoušek et al. 2004). Es fand sich z. B. eine erhöhte Prozentzahl vorausgegangener Fehlgeburten (30 %) und vorzeitiger Wehen (25 %), was schon in der Schwangerschaft tief greifende elterliche Ängste um das Überleben und Gedeihen des Kindes hervorrufen und Trennungs- und Verlustängste aktivieren kann. 7 % der Neugeborenen waren Mangelgeborene mit einem Gewicht unter der dritten Perzentile. 18 % der Eltern mussten sich früh von ihrem Säugling trennen, da er verlegt werden musste. Postnatal litten fast 30 % der Kinder an rezidivierenden Infektionen, und in 20 % der Fälle waren die Kinder schon stationär behandelt worden. Lebensbedrohliche Geburtskomplikationen auf mütterlicher und/oder kindlicher Seite fanden sich bei Fütterstörungen in 8 % der Fälle. Auch psychosoziale mütterliche Belastungsfaktoren vor und nach der Geburt zeigten sich bei Fütterstörungen im Kindesalter von 1 bis 39 Monaten mit großer Häufigkeit: übermäßige Ängste (28 %) und psychosozialer Stress (22 %) in der Schwangerschaft, Partnerschaftskonflikte (präpartal 22 %, postpartal 54 %), Konflikte mit der elterlichen Herkunftsfamilie nach der Geburt (43 %), belastende Kindheitserfahrungen (43 %), traumatische Verlusterfahrungen in der Vorgeschichte (12 %), soziale Isolation (33 %), »Broken-home«-Biografien und psychische Störungen (31 % Wochenbettdepression, 31 % neurotische Beziehungsstörungen, 11 % Persönlichkeitsstörungen) deuten auf hohe Belastungen hin, die die Beziehungsaufnahme zwischen den Müttern/Eltern und ihrem Kind behindern können. In nur 5 % der Fälle wurde die Mutter-
15.4 • Einflussfaktoren bei der Entwicklung von Fütterstörungen
Kind-Beziehung als gut adaptiert eingeschätzt (von Hofacker et al. 2004). Mütterliche persistierende Depressionen und Ängste leisteten in der Untersuchung einer umfangreichen Geburtskohorte einen signifikanten Beitrag zur mütterlichen Wahrnehmung von Fütterproblemen bei ihren zwei bis vier Jahre alten Kindern (McDermott et al. 2008). Kinder von Müttern mit hohen Depressionswerten in der Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS) hatten im Alter von vier Monaten signifikant weniger an Gewicht zugenommen als ihre Altersgenossen mit unbelasteten Müttern und zeigten erhöhte Raten einer stagnierenden Gewichtsentwicklung mit einer Störung des Gedeihens (Wright et al. 2006). Die elterliche Psychopathologie wirkt sich möglicherweise je nach Art der Störung (Depression, Angststörung, Essstörung) unterschiedlich auf Jungen und Mädchen aus (Blissett et al. 2007); die Studienergebnisse zeigen sich insgesamt jedoch uneinheitlich. Mütter, die vor der Geburt aufgrund einer Essstörung stationär behandelt worden waren, hatten in einer Studie von Sollid et al. (2004) ein 2-fach erhöhtes Risiko, ein Kind mit einem geringen Geburtsgewicht (»low birth weight (LBW) infant«) zu gebären; das Risiko der Geburt eines SGA-(»small for gestational age«)-Frühgeborenen war um 70 bis 80 % erhöht. Eine britische longitudinale Studie fand bei Müttern mit einer bulimischen Störung signifikant höhere Raten von vorausgegangenen Fehlgeburten, und die Babys von Müttern mit der Vorgeschichte einer Anorexia nervosa wiesen auch hier ein signifikant niedrigeres Geburtsgewicht auf (Micali et al. 2007). Neuere Studien betonen zudem Zusammenhänge zwischen mütterlichen Essstörungen und frühkindlichen Fütterproblemen (Micali et al. 2009; Blisset et al. 2005; Blisset u. Meyer 2006): Die Fütterinteraktion ist bei Müttern mit einer Essstörung häufig gekennzeichnet durch vermehrte Konflikte bei den Mahlzeiten. Die Mütter zeigen Schwierigkeiten, die Signale des Kindes bei den Mahlzeiten zu erkennen und passend zu beantworten, und sind weniger in der Lage, die Autonomiebestrebungen des Kindes während der Mahlzeit zu unterstützen. Beim Füttern werden vermehrt kontrollierend-intrusive Verhaltensweisen und eine negative Emotio-
229
15
nalität beobachtet. Diese Konflikte erklärten in Studien 20 % der Varianz des kindlichen Gewichts im Alter von einem Jahr; sie gelten somit als ein wichtiger vermittelnder Faktor zwischen elterlichen Essstörungen und kindlicher Gewichtsentwicklung (Stein et al. 1994; Stein et al. 1999). Wurden die Säuglinge gestillt, berichteten die Mütter nach einem Jahr weniger negative Fütterinteraktionen und Konflikte bei den Mahlzeiten, was möglicherweise über eine von Beginn an geringere Kontrollmöglichkeit bezüglich der Nahrungsmenge vermittelt wird (Farrow u. Blissett 2006a); die kindliche Selbstregulation von Hunger und Sättigung wird so gefördert (Li et al. 2010). Bei den Mahlzeiten sind die Restriktion und das Ausüben von Druck, zu essen, als die wichtigsten Aspekte von Kontrolle über das kindliche Essverhalten zu sehen (Scaglioni et al. 2008). Unkontrolliertes mütterliches Essverhalten (Bulimie, Binge Eating) scheint eher mit einer Tendenz verbunden zu sein, die Kinder (vor allem die Töchter) beim Füttern zu begrenzen (Restriktion; Reba-Harrelson et al. 2010). Möglicherweise führt die eigene Schwierigkeit, Kontrolle über das Essen zu behalten, zu einem vermehrt kontrollierenden Verhalten, insbesondere gegenüber den Töchtern (Haycraft u. Blissett 2008). Zudem könnte die Sorge, beim Füttern des Kindes eine bulimische Attacke auszulösen, einen Rückzug aus der Fütterinteraktion bewirken. Eine hohe mütterliche Kontrolle im Fütterkontext (Druck und Restriktion) interferiert mit der kindlichen Essregulation (Farrow u. Blisset 2006b) und steht in Verbindung mit einem niedrigeren kindlichen Körpergewicht im Alter von zwei Jahren (Farrow u. Blisset 2008). Mit dem Zuwachs an kindlicher Autonomie im weiteren Entwicklungsverlauf scheint die Restriktion bei den Mahlzeiten jedoch eher ein Risiko für die Entwicklung einer kindlichen Adipositas darzustellen (Faith u. Kerns 2005). In einer britischen prospektiven Longitudinalstudie waren bereits die neun Monate alten Kinder bulimischer Mütter im ersten Lebenshalbjahr mit einer höheren Wahrscheinlichkeit übergewichtig (Micali et al. 2009; im Gegensatz zu Farrow u. Blissett 2008). Erstaunlicherweise werden erst neuerdings die Väter in Untersuchungen rund um das Thema »Es-
230
Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
sen mit Kindern« einbezogen. Die Unzufriedenheit des Vaters mit seinem Körper bei der Geburt seines Kindes sagte einen erhöhten Druck zu essen auf Töchter und Söhne im Fütterkontext voraus (Duke et al. 2004). Symptome einer elterlichen Psychopathologie standen grundsätzlich in Verbindung mit einer vermehrt kontrollierenden Fütterinteraktion; am stärksten waren dabei die Mädchen betroffen (Blisset et al. 2006; Haycraft u. Blissett 2008). Konflikte bei den Mahlzeiten, Kämpfe um das Essen und desorganisierte, unangenehme und belastete Mahlzeiten in der frühen Kindheit bedeuten Risikofaktoren für die Entwicklung von Essstörungen im Jugend- und frühen Erwachsenenalter (Kotler et al. 2001; s. auch Cooper et al. 2004).
15.4.5
15
Fütterstörung und Bindung
Noch stärker als exzessives Schreien oder schwerwiegende Schlafprobleme können Fütterstörungen, insbesondere wenn sie mit einer Störung des kindlichen Gedeihens einhergehen, die Beziehung zwischen Eltern und Kind belasten (Papoušek et al. 2004). Umgekehrt können Probleme der Eltern, eine positive Beziehung (auch im Sinne des »Bonding«) zu ihrem Kind zu entwickeln und zu gestalten, das kindliche Essverhalten beeinträchtigen. Ist die Eltern-Kind-Beziehung belastet, so schließt dies eine Gefährdung der kindlichen Bindungsentwicklung mit ein (Papoušek et al. 2004). Insgesamt zeigten mehr gedeihgestörte Kinder im Alter von zwölf Monaten eine unsichere Bindung als ihre gesunden Altersgenossen, andererseits zeigte jedoch etwa die Hälfte der Kinder eine sichere Bindung an die Mutter (Brinich et al. 1989). Bei Kindern mit einer »infantilen Anorexie« fanden Chatoor et al. (1998) vermehrt hochgradig unsichere Bindungsmuster. Auch in einer weiteren Untersuchung zeigten sich bei gedeihschwachen Kindern in 46 % (Kontrollgruppe: 16 %) desorganisierte und nur in 34 % (Kontrollgruppe 66 %) sichere Bindungsmuster (Ward et al. 2000). Beeindruckend war die hohe Anzahl von Müttern, die in einem Bindungsinterview (Adult Attachment Interview, AAI) ihrerseits unsichere Bindungsmuster aufwiesen; die Berichte dieser Mütter wiesen insbesondere auf eigene Trauma- und Verlusterfahrungen
hin (7 Abschn. 15.4.4). In einem weiteren Interview (Working Model of the Child Interview, WMCI), das die elterlichen Repräsentanzen (Wahrnehmung des Kindes, subjektive Erfahrungen mit dem Kind, Beziehung zum Kind) untersucht, fanden sich vermehrt nicht balancierte mentale Repräsentationen. Die Fütterinteraktionen erschienen weniger in einem positiven dyadischen Miteinander gestaltet (Coolbear u. Benoit 1999; Feldman et al. 2004). Die positive Gegenseitigkeit erschien zudem in den Mustern körperlicher Berührung beeinträchtigt (Feldman et al. 2004): Die Mütter berührten ihre 9 bis 34 Monate alten Kinder mit problematischem Fütterverhalten beim Essen und Spielen deutlich weniger, setzten sich vermehrt in einem Abstand zu ihrem Kind, der keine Berührung zuließ, oder sie zogen sich vom Körperkontakt mit ihren Kindern zurück. Die Kinder mit einer Fütterstörung zeigten ihrerseits weniger zärtliche Zuwendung zu ihren Müttern und mehr Zurückweisung, wenn sie berührt wurden. Das Suchen nach körperlicher Nähe ist ein wichtiger Aspekt des Bindungsverhaltens, das Kontakt herstellt und Sicherheit und Schutz gewährleistet. Die Beobachtung einer beeinträchtigen körperlichen Berührung bei Kindern mit einer Fütterproblematik könnte einen Hinweis auf eine Belastung in der Beziehungs- und Bindungsentwicklung bedeuten.
15.5
Diagnostik
Die somatische und psychosoziale Diagnostik sollte von Beginn an in einem integrativen und interdisziplinären Prozess gestaltet sein. Nur so ist es möglich, den komplexen Wechselwirkungen zwischen somatischen, psychosozialen, interaktionellen und beziehungsorientierten Faktoren bei einer Fütterstörung gerecht zu werden.
15.5.1
Diagnostische Klassifikation nach ICD-10 und DSM-IV-TR
Noch immer fehlt es an international verbindlichen und einheitlichen Kriterien zur Diagnostik der Fütterstörung (Papoušek et al. 2004). Als einzige unter den frühkindlichen Regulationsstörungen wurde
15.5 • Diagnostik
die Fütterstörung in die diagnostischen Systeme ICD-10 (Dilling et al. 2010) und DSM-IV-R (Saß et al. 2003) aufgenommen (s. die Übersichten im Kasten). Die Komplexität der Störung bildet sich dort aus unserer Sicht jedoch nur ungenügend ab. Fütterstörung im frühen Kindesalter nach ICD-10 (F98.2) (Dilling et al. 2010) Laut ICD-10 handelt es sich um eine für das frühe Kindesalter spezifische Störung beim Gefüttertwerden mit unterschiedlicher Symptomatik. Die Störung umfasst Nahrungsverweigerung und extrem wählerisches Essverhalten bei 5 angemessenem Nahrungsangebot, 5 einer einigermaßen kompetenten Betreuungsperson, 5 Abwesenheit einer organischen Erkrankung. Die Fütterstörung kann auch von Rumination begleitet sein. Weil geringere Schwierigkeiten beim Essen im frühen Kindesalter recht verbreitet sind, sollte eine Störung nur dann diagnostiziert werden, wenn ihr Ausmaß deutlich außerhalb des Normbereichs liegt, wenn das Essproblem qualitativ abnorm ist oder wenn das Kind nicht zunimmt bzw. über einen Zeitraum von mindestens einem Monat an Gewicht verliert. Differenzialdiagnostisch sollte die Störung unterschieden werden von 5 (1) Umständen, bei denen das Kind von anderen erwachsenen Personen als den gewöhnlichen Betreuungspersonen problemlos Nahrung annimmt, 5 (2) einer organischen Krankheit, die die Nahrungsverweigerung hinreichend erklärt (…), 5 (4) einer umfassenderen psychiatrischen Störung, 5 (6) Fütterschwierigkeiten und Betreuungsfehlern 5 (7) Fütterproblemen bei Neugeborenen.
231
15
Fütterstörung im Säuglings- und Kleinkindalter nach DSM-IV-TR (307.59) (Saß et al. 2003) Nach DSM-IV-TR ist die Fütterstörung im Säuglings- und Kleinkindalter folgendermaßen definiert: Die Störung 5 manifestiert sich in dem Unvermögen, über den Zeitraum von mindestens einem Monat adäquat zu essen. In dieser Zeit tritt keine deutliche Gewichtszunahme bzw. ein deutlicher Gewichtsverlust auf; 5 geht nicht auf eine begleitende Erkrankung des Magen-Darm-Trakts oder einen anderen medizinischen Krankheitsfaktor (z. B. ösophagealer Reflux) zurück; 5 kann nicht durch eine andere psychische Störung (z. B. Ruminationsstörung) oder durch Nahrungsmangel besser erklärt werden; 5 beginnt vor dem Alter von sechs Jahren.
Im Kontext eines multifaktoriellen Geschehens im Rahmen einer Fütterstörung sind folgende Aspekte kritisch zu sehen (in den Überblickskästen kursiv gesetzt): 5 Was bedeuten eine »einigermaßen kompetente« Bezugsperson und »Betreuungsfehler«? Betreuungsfehler und belastete Bezugspersonen führen hier möglicherweise zum Ausschluss. 5 Fütterstörungen können mit oder ohne zugrunde liegende organische Erkrankung entstehen oder auch nach Ablauf einer organischen Erkrankung bestehen bleiben – eine organische Krankheit sollte daher in der Diagnosestellung nicht ausgeschlossen werden. 5 Fütterstörungen können mit oder ohne Gedeihstörung beobachtet werden; das Kriterium des Gewichtsverlustes oder einer mangelnden Gewichtszunahme sollte daher nicht Teil der Definition sein (s. auch 7 Abschn. 15.2 u. Wolke 2005). 5 Weitere Verhaltensstörungen/psychiatrische Störungen bedeuten Ausschlusskriterien; z. B. ist eine Fütterstörung mit oppositioneller Störung ausgeschlossen.
232
Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
5 Auch Ernährungs-/Fütterprobleme beim Neugeborenen können an einer beginnenden Fütterstörung beteiligt sein.
15.5.2
Fütterstörung in der DC:0–3R
Auf dem Hintergrund ihrer langjährigen Forschungstätigkeit und ausgedehnten therapeutischen Erfahrung brachte die Arbeitsgruppe von Irene Chatoor (2009) ein differenziertes Klassifikationssystem der frühkindlichen »Essverhaltensstörung« in die Diagnostische Klassifikation 0–3 (DC:0–3R – revidierte Fassung) der Arbeitsgruppe Zero To Three ein (Zero To Three 2005). Die im Kasten dargestellten Untergruppen werden auf der Achse I »klinische Störungen« verschlüsselt. Das Schema trägt den Entwicklungsbedingungen der ersten Lebensjahre mit der Einführung der Achse II zur Klassifikation der Eltern-Kind-Beziehung besonders Rechnung (von Hofacker et al. 2007). Die Achsen III bis V nehmen schließlich medizinische Konditionen/umschriebene Entwicklungsstörungen, psychosoziale Belastungsfaktoren und das emotionale Entwicklungs- und Funktionsniveau auf (vgl. 7 Kap. 11). Fütterstörung im Sinne der Arbeitsgruppe von Chatoor (2008 u. 2009) und der diagnostischen Klassifikation DC:0–3R (Zero To Three 2005)
15
5 Achse I: Klinische Störungen: 600. Fütterstörung (FS) – 601. Fütterstörung mit Beeinträchtigung der homöostatischen Regulation: Das Kind zeigt Schwierigkeiten, einen ruhigen, ausgeglichenen Zustand beim Füttern zu erreichen oder zu erhalten (»Regulationsstörung«), z. B. ist es zu schläfrig, zu agitiert und/oder zu sehr erregt, um gefüttert zu werden. Beginn in der Neugeborenenperiode. Das Kind nimmt nicht genügend zu oder verliert an Gewicht. – 602. Fütterstörung mit unzureichender Reziprozität: Das Kind zeigt beim Füttern einen Mangel an entwicklungsgerechten Zeichen sozialer Wechsel-
seitigkeit mit der Bezugsperson (z. B. Blickkontakt, Lächeln, Vokalisieren). Der Mangel an Bezogenheit und die bestehende Störung des Gedeihens/ Wachstums sind dabei nicht allein auf eine körperliche Erkrankung oder eine tief greifende Entwicklungsstörung zurückzuführen. Beginn meist zwischen dem 2. und 8. Lebensmonat; häufig in Verbindung mit psychischer Erkrankung der Mutter/Eltern, Armut, Alkohol, Drogen, Vernachlässigung, Missbrauch. – 603. Infantile Anorexie: Das Kind verweigert eine angemessene Nahrungszufuhr über mindestens einen Monat. Der Beginn der Nahrungsverweigerung geschieht, bevor das Kind 3 Jahre alt ist, meist zwischen dem 8. und 18. Lebensmonat, während des Übergangs von der Flaschen- zur Löffelnahrung und beim Erlernen des selbstständigen Essens. Das Kind zeigt kaum Hungersignale oder Interesse am Essen, jedoch ein starkes Interesse an der Exploration und/oder an der Interaktion mit der Bezugsperson. Es besteht ein deutliches Gedeih-/Wachstumsdefizit mit einer akuten/chronischen Mangelernährung. Die Nahrungsverweigerung steht zeitlich nicht im Zusammenhang mit einem traumatischen Ereignis und ist nicht Folge einer medizinischen Erkrankung. – 604. Sensorische Nahrungsverweigerung: Das Kind verweigert konsequent bestimmte Nahrungsmittel aufgrund der Konsistenz, des Geschmacks, der Textur und/oder des Geruchs. Die Verweigerung beginnt während der Einführung eines neuen Nahrungsmittels (z. B. trinkt das Kind nur eine Sorte Milch und verweigert eine andere, isst eine Sorte Gemüse und verweigert eine andere, trinkt Milch, isst aber keine Babynahrung). Wenn ihm die bevorzugten Nahrungsmittel angeboten werden, isst das Kind ohne Schwierigkeiten. Es treten Ernährungsdefizite oder eine Verzögerung der oralmotorischen und
233
15.5 • Diagnostik
sprachlichen Entwicklung auf. Meist besteht keine Gedeihstörung. – 605. Fütterstörung im Zusammenhang mit einer somatischen Erkrankung: Das Kind beginnt bereitwillig mit der Mahlzeit, zeigt jedoch zunehmende Anzeichen von Stress im weiteren Verlauf des Fütterns und verweigert schließlich die weitere Nahrungsaufnahme. Es besteht gleichzeitig eine aktuelle medizinische Erkrankung, auf welche der Arzt die Fütterproblematik zurückführen kann. Mit der medizinischen Behandlung bessert sich das Fütterproblem, wird jedoch nicht vollständig behoben. Das Kind nimmt nicht ausreichend an Gewicht zu oder verliert an Gewicht. – 606. Fütterstörung in Verbindung mit Eingriffen in den Gastrointestinaltrakt/posttraumatische FS (PTFS): Die Nahrungsverweigerung folgt auf eine bedeutende aversive Erfahrung oder auf wiederholte Eingriffe im Bereich des Mund-Rachenraums oder des Gastrointestinaltrakts (z. B. Würgen, schweres Erbrechen, Reflux, Sondierung, Beatmung, Absaugen), die für eine intensive Stresserfahrung des Kindes verantwortlich sind. Der Beginn der FS ist in jedem Alter möglich. Erinnerungen an das traumatische Ereignis belasten das Kind und zeigen sich in antizipatorischen, angstgetönten Reaktionen, z. B. wenn das Kind in die Fütterposition gebracht wird. Die Abwehr steigert sich beim Anblick der Nahrung, und das Kind zeigt einen großen Widerstand, die in den Mund eingeführte Nahrung zu schlucken. Das Kind vermeidet z. B. jegliche orale oder feste Nahrung, trinkt nur im Schlaf aus der Flasche, oder es trinkt gar nicht aus der Flasche, akzeptiert jedoch die Nahrung vom Löffel. Die Nahrungsverweigerung bedeutet eine akute oder langfristige Bedrohung der Gesundheit des Kindes, seines Ernährungszustands und Wachstums und eine Beeinträchti-
15
gung seiner (oralmotorischen) Essentwicklung.
Die Klassifikation der Fütterstörung in der DC:0– 3R wird im deutschsprachigen Raum kontrovers diskutiert (Kroll 2011). Chatoors Beobachtungen beschränken sich auf ein bestimmtes klinisches Setting, und die vorgeschlagenen Subgruppen, Behandlungsprogramme und -ergebnisse sind empirisch noch nicht ausreichend validiert (BryantWaugh et al. 2010; von Hofacker et al. 2007; von Gontard 2010). Zudem sind auch hier eine mangelnde Gewichtszunahme oder ein Gewichtsverlust in den meisten Subgruppen zwingend. Davies und Kollegen (2006) weisen darauf hin, dass das Füttern junger Kinder einen »fundamental beziehungsorientierten und multisystemischen Prozess« darstellt, und kritisieren ein »reduktionistisches« Vorgehen, das systemische Einflüsse erst nach der diagnostischen Einschätzung der Fütterstörung in Subgruppen geltend macht (s. insbesondere die Achsen II und IV) und primär auf das Kind als Individuum fokussiert. Die Arbeitsgruppe schlägt Kriterien einer »Fütterstörung zwischen Eltern und Kind« vor, die die gesamte Komplexität der Fütterstörung von Beginn an umfasst. Eine multiaxiale Diagnostik sollte kindliche Komponenten (medizinische, entwicklungs- und verhaltensorientierte Charakteristiken), elterliche Anteile, die Eltern-Kind-Beziehung und den sozialen und ernährungsbezogenen Kontext des Fütterns gleichermaßen beschreiben.
15.5.3
Diagnostische Schritte im Fütterkontext
Die Diagnostik erfolgt leitlinienorientiert (von Hofacker et al. 2007; s. auch von Hofacker 2009) mit 5 einer störungsspezifischen Anamnese der Symptomatik, jeweils bezogen auf 5 das Kind und die Eltern, 5 die Interaktion und Beziehung, 5 die Familie/das kindliche Umfeld;
234
Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
5 einer (videogestützten) Verhaltensbeobachtung und Analyse der Fütterinteraktion und weiterer interaktiver Kontexte, 5 Verhaltensprotokollen und Tagebüchern (z. B. Schrei-, Fütter-, Schlafprotokolle; »Fragebogen zum Schreien, Füttern und Schlafen«, Groß et al. 2007; vgl. 7 Kap. 11); Elternfragebögen (z. B. »Fragebogen zur Ess- und Fütteranamnese«, von Hofacker et al. 2002; »Anamnesebogen frühkindliche Fütterstörung und Sondenentwöhnung« (AFS), Wilken u. Jotzo 2009), 5 beziehungsbezogenen Interviews, eventuell mit standardisierten Skalen, z. B. zu kindlichen Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Child Behaviour Checklist 1½–5, Achenbach u. Rescorla 2000) und zum kindlichen Temperament (z. B. ICQ, Bates et al. 1979), zu Belastungen in der Paarbeziehung und in der Familie (vgl. 7 Kap. 35) und zur Belastung der Beziehung zwischen Eltern und Kind (z. B. ParentInfant Relationship Global Assessment Scale (PIR-GAS) im DC:0–3R (Zero To Three 2005; vgl. 7 Kap. 11)
15
Um funktionale und dysfunktionale Muster aufzufinden und die Eltern möglichst konkret beraten zu können, ist es bei der Symptomatik der Fütterstörung für den Therapeuten von besonderer Bedeutung, die Fütterinteraktion während einer Mahlzeit zu beobachten und möglichst eine Videoaufzeichnung anzufertigen, die später ressourcenorientiert mit den Eltern besprochen werden kann (s. auch 7 Kap. 29). Hierbei wird das Geschehen gemäß der Trias kindlicher, elterlicher und interaktioneller Anteile analysiert (Papoušek et al. 2004; von Hofacker et al. 2004; . Tab. 15.2). Der Schweregrad einer Fütterstörung (von Hofacker et al. 2007; Papoušek et al. 2004) bemisst sich schließlich anhand 5 der Dauer der Fütterproblematik, 5 der Generalisierung und Pervasivität der Regulationsproblematik (z. B. in Verbindung mit exzessivem Schreien, Trotzen und Schlafproblemen), 5 der Beeinträchtigung der somatischen (Gedeihstörung), mentalen, psychosozialen und sprachlichen Entwicklung des Kindes und der Bewältigung seiner Entwicklungsaufgaben und
5 des Ausmaßes der Belastung der Eltern-KindBeziehung. Die . Abb. 15.2 fasst die diagnostischen Schritte nochmals in einem »diagnostischen Entscheidungsbaum« zusammen.
15.6
Beratung und Therapie
Eine erfolgreiche Therapie der frühkindlichen Fütterstörung kann nur in einer tragfähigen Beziehung zwischen den Eltern und dem/den Helfer(n) gelingen. Häufig geht einem ersten therapeutischen Kontakt ein langer Weg der Familie durch verschiedene Institutionen voraus, der die Eltern weiter verunsichert und ihre Schuldgefühle vertieft. Die folgende Äußerung einer Mutter spricht dafür, von Beginn an alle ätiologisch bedeutsamen Faktoren interdisziplinär in Diagnostik und Therapie zu berücksichtigen: »Wir waren schon überall, aber die Ärzte haben organisch nichts gefunden. Nun haben sie uns zu Ihnen geschickt und gesagt, das Essproblem unseres 18 Monate alten Sohnes sei sicher seelisch bedingt. Da ich im Alltag meist für die Mahlzeiten zuständig bin, habe ich wohl bisher alles falsch gemacht. Ich habe das Gefühl, schuld daran zu sein, dass er nicht isst. Wir wissen nicht mehr weiter!« Um einem breiten Spektrum kindlicher Störungsbilder mit individueller Ausprägung und mit unterschiedlichen organischen und psychosozialen Einflussfaktoren gerecht zu werden, sollten Beratungs- und Therapiekonzepte somatische, entwicklungsorientierte und verhaltensnahe Interventionen ebenso einschließen wie psychodynamische und familiendynamische Aspekte. In einer wertschätzenden Begegnung können sich die Eltern mit ihren Sorgen, aber auch mit ihren Kompetenzen in dem Bemühen um ihr Kind anerkannt und respektiert fühlen. Nur dies ermöglicht den Eltern, auch ambivalente Gefühle bis hin zu aggressiven Impulsen, die sie ihrem Kind gegenüber empfinden, zu artikulieren und Vertrauen in die eigenen Kräfte zu entwickeln, die sie als »Co-Therapeuten« und Partner im therapeutischen Prozess benötigen. Oftmals sind mehrere Therapeuten mit einem Kind befasst (z. B. Kinderärzte, Logopäden, Ergo-
235
15.6 • Beratung und Therapie
. Tab. 15.2
15
Beurteilung der Fütterinteraktion
Kindliches Verhalten
Elterliches Verhalten
Interaktions- und Beziehungsmerkmale
– Stimmungslage – Ess-/Fütterfertigkeiten (Saugaktivität, Kauen, Schlucken) – Zeichen von Interesse an aktiver, selbstständiger Beteiligung – Klarheit kindlicher Signale von Appetit, Hunger, Durst, Sättigung – Hinweis auf sensorische Besonderheiten, selektive Nahrungsverweigerung – Ablenkbarkeit, angstgetönte Abwehr, provokativ-trotzige Verhaltensweisen
– Positionierung von Kind und Bezugsperson – Grundstimmung der Bezugsperson(en) – Strukturierung der Mahlzeit, Klarheit von Beginn und Ende sowie von Grenzen – Responsivität bzgl. kindlicher funktionaler vs. dysfunktionaler Verhaltensweisen – positive/negative verbale und nonverbale Begleitung und Rückmeldungen an das Kind; Konsistenz der Botschaften – Art und Angemessenheit motivationaler Unterstützung, Ablenkung vs. Kontrolle, Druck, Zwang – Unterstützung kindlicher Autonomie und Selbstregulation bei der Nahrungsaufnahme – elterliche Modellfunktion
– Gelingende Sequenzen positiver Gegenseitigkeit, erfolgreiches, an kindliche Signale und Bedürfnisse angepasstes Fütterverhalten – dysfunktionale, nicht angepasste Interaktionsabläufe – Ausmaß an Anspannung, Konflikten, Machtspielen während der Mahlzeit – Hinweis auf inkonsistente Verhaltensweisen auf Paarebene; Paarkonflikte
therapeuten, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten/Kinderpsychosomatik), da bei einer Fütterstörung meist mehrere Funktionsbereiche betroffen sind (Wilken et al. 2008). Für den Erfolg einer Behandlung ist es von Bedeutung, dass die Therapeuten kooperieren und eine gemeinsame Linie im therapeutischen Prozess verfolgen. Dies gewährleistet zudem die größtmögliche Sicherheit für das Kind und seine Eltern, die sich schnell unterschiedlichen Sicht- und Handlungsweisen ausgesetzt fühlen. Der »therapeutische Entscheidungsbaum« (vgl. . Abb. 15.3; Papoušek et al. 2004) fasst das Vorgehen in der Beratung und Behandlung der Fütterstörung zusammen. Von einer vorübergehenden Krise im Fütterkontext bei ausreichenden kindlichen und elterlichen Ressourcen bis zur schweren Beeinträchtigungen der Beziehung zwischen Eltern und Kind umfasst das therapeutische Spektrum vier Ebenen, die im Folgenden erläutert werden sollen.
15.6.1
Somatische Ebene
Somatische Grund- und Begleiterkrankungen (7 Abschn. 15.4.1) müssen ausreichend berücksichtigt und ggf. mitbehandelt werden (vgl. . Abb. 15.2 u. . Abb. 15.3). Die Eltern werden sich nur dann emotional auf den oft belastenden und langwierigen (psycho-)therapeutischen Prozess einlassen können, wenn die Sorge um das körperliche Wohl des Kindes im Blick des Therapeuten bleibt und die Eltern dafür nicht die alleinige Verantwortung tragen müssen. Wenn Kinder ausreichend wachsen/ gedeihen und sich normal entwickeln, sollten die Eltern von den Ärzten eine Rückversicherung erhalten, dass keine weitergehenden körperlichen Untersuchungen indiziert sind (Bernard-Bonnin 2006). Eine Ernährungsberatung ist insbesondere bei einer stagnierenden Gewichtsentwicklung hilfreich, um die Kalorienaufnahme im Rahmen einer Mahlzeit zumindest vorübergehend zu erhöhen (z. B. durch kalorisches Anreichern der Nahrung, Angebot hochkalorischer Zusatznahrung). Ein gutes medizinisches Management bedeutet jedoch nicht immer, dass das Fütterproblem im Anschluss
15 Diagnostisches Gespräch: Art, Dauer, Ausmaß der Fütterstörung; Belastung der Mutter / Eltern nein
Pädiatrische Untersuchung organisch / neurologisch auffällig?
. Abb. 15.2 sundheit)
nein
Fütter-/Gedeihstörung i.R. einer generalisierten Regulationsstörung und belasteter / gefährdeter / gestörter Eltern-Kind-Beziehungen
ja
* Beurteilung, ob auch: mangelnde / verzerrte elterliche Wahrnehmung, Fantasien zu den Fütterproblemen (z.B.: »Kind lehnt mich / meine Milch ab«) Abwertung / Ablehnung des Kindes, auffällige Bezogenheit
Isolierte Fütter-/Gedeihstörung im Rahmen belasteter / gefährdeter / gestörter Eltern-Kind-Beziehungen
ja
nein
* Bei fast allen finden sich: dysfunktionale Interaktionsmuster in der Füttersituation (z.B. Füttern mit Ablenkung / Druck / Zwang - kindliche Verweigerung / Abwehr; Kind zeigt kein Hungergefühl; Überforderungssyndrom der Eltern)
Diagnostischer Entscheidungsbaum (aus: Papoušek et al. 2004; mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Stiftung Kinderge-
Unkomplizierte, vorübergehende Fütterstörung ohne tief greifende Belastung / Störung der Beziehung
nein
ja
Weitere Bereiche der gemeinsamen Regulation betroffen? (z. B. Zust. nach exzessivem Schreien; persistierendes Schreien, Schlafstörung, Trotz, Anklammern; Ängste, auffällige kindl. Temperamentsmerkmale)
weiterführende somatische Diagnostik Anthropometrie
Organische Diagnose (Gedeihstörung; GÖR, Allergien; Orale sensomotorische Störungen; Fehlbildungen; Stoffwechselstörungen u.a.)
ja
Dysfunktionale Eltern-Kind-Interaktion
Verhaltens-, Interaktions- und Beziehungsdiagnostik: Beobachtung / Gespräch: Kindliche Regulationsfähigkeiten; Eltern-Kind-Interaktion beim Füttern / in anderen Kontexten. Belastung der Eltern-Kind-Beziehung
Leitsymptom Fütterstörung mit / ohne Gedeihstörung
Diagnostischer Entscheidungsbaum: Frühkindliche Fütter- und Gedeihstörung
236 Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
ja
Gesprächszeit Entlastung Verständnis, Anerkennen der Belastung Wertschätzung
ja
ja
Psychische Störung der Mutter/Eltern? ja
Beziehungsstörung / Vernachlässigung / Misshandlung?
ja
ja
Gedeihstörung
Fütter-/Gedeihstörung im Rahmen einer generalisierten Regulationsstörung im Rahmen belasteter/gefährdeter/gestörter Eltern-Kind-Beziehungen
Eltern-Säuglings-u. Kleinkind-Psychotherapie
Eltern-Säuglings-u. Kleinkind-Sprechstunde Entwicklungspsychologischinteraktionszentrierte Beratung und Therapie
evtl.
evtl.
Einzel-/ Paartherapie
Begleitende Gewichtskontrolle durch den Pädiater
Physiotherapie
Logopädie
Ergotherapie
Orofaziale Th.
Teil-/Stationäre sozialpädiatrische/ psychosomatische/ psychiatrische Mutter-Eltern-KindBehandlung (Kommunikations-/ Beziehungstherapie, mediz. Versorgung)
Je nach Auffälligkeiten Indikation für eine oder mehrere der nachfolgenden Interventionen. Bei Kindeswohlgefährdung immer Entscheidung, ob Einbezug des Jugendamtes indiziert.
ja
Oralmotorische Störung? Neurologisch auffällig? Temperament auffällig?
ja
Isolierte Fütter-/Gedeihstörung im Rahmen belasteter / gefährdeter/ gestörter Eltern-Kind-Beziehungen
237
. Abb. 15.3 Therapeutischer Entscheidungsbaum (nach: Papoušek et al. 2004; mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Stiftung Kindergesundheit)
ja
nein
Regelm. Mahlzeiten Nahrungspausen Steuerung v. Hunger u. Sättigung angem. Angebot
Fütterproblematik bleibt bestehen
Entwickungsberatung Regulationsprobleme verstehbar machen
Kinderärztliche Beratung
Pädiatrische Behandlung der organischen Erkrankung(en)
ja
Unkomplizierte, vorübergehende Fütterstörung ohne tiefgreifende Belastung / Störung der Beziehung
Therapeutischer Entscheidungsbaum: Frühkindliche Fütter- und Gedeihstörung
15.6 • Beratung und Therapie
15
238
Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
gelöst ist. So konnten Fallstudien zeigen, dass Kinder mit einem gastroösophagealen Reflux auch nach medizinischer und operativer Behandlung weniger energiereiche Nahrung zu sich nahmen, geringere adaptive Fähigkeiten und eine geringere Bereitschaft zum Essen fester Nahrung zeigten, dass sie häufiger Nahrung verweigerten und während der Mahlzeiten fordernder und »schwieriger« erschienen (Bernard-Bonnin 2006; Nelson et al. 1998; Mathisen et al. 1999). Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie sind in vielen Fällen unverzichtbar, insbesondere bei der Behandlung eines Kindes mit (oral-)sensorischen und -motorischen Entwicklungsproblemen.
15.6.2
15
Entwicklungsbezogene Ebene
Die entwicklungspsychologisch orientierte Beratung informiert und berät die Eltern zur Reifung und Entwicklung des kindlichen Essverhaltens (7 Abschn. 15.1) und zur Bereitschaft der Anpassung an neue Ernährungsgewohnheiten, zur Bedeutung von Hunger und Sättigung für die Regulation der Nahrungsaufnahme, zur qualitativ und quantitativ altersgerechten Ernährung und zum Erkennen und entwicklungsgerechten Beantworten der kindlichen Signale im Fütterkontext. Es wird besprochen, mit welchen entwicklungspsychologischen Themen sich das Kind und seine Eltern gerade auseinandersetzen (z. B. verstärkte Autonomiebestrebungen des Kindes), wie diese Themen in die Fütterthematik eingebettet sind und wie die Eltern sie im Kontext der Mahlzeiten passend berücksichtigen können. Schließlich werden »Essensregeln« (s. Übersicht im Kasten) eingeführt, die sich am kindlichen Entwicklungsstand orientieren und individuell mit den Eltern abgestimmt werden. Sie verfolgen das Ziel, dem Kind eine durch Hunger und Sättigung gesteuerte eigenständige Regulation der Nahrungsaufnahme zu ermöglichen (von Hofacker et al. 2004).
Essensregeln (nach Papousek et al. 2004, von Hofacker et al. 2004 u. Bernand-Bonnin 2006) 5 Feste Mahlzeiten in einem regelmäßigen Tagesablauf, möglichst gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern (Lernen am Modell, soziale Verstärkung). 5 Kein Nahrungsangebot zwischen den Mahlzeiten; Wasser ad libitum, jedoch nicht kurz vor der Mahlzeit. 5 Eltern bestimmen, wann, wie oft und was das Kind isst. 5 Kind bestimmt, ob und wie viel es isst. 5 Schaffen einer entspannten, angenehmen Atmosphäre während der Mahlzeit. 5 Beachtung kindlicher Hunger- und Sättigungssignale: kein Nahrungsangebot ohne kindliches Signal! 5 Kleine Portionen anbieten. 5 Kein Spiel, keine Ablenkung während der Mahlzeiten. 5 Vermeiden von Druck oder Zwang, keine Forcierung der Nahrungsaufnahme. 5 Positive Zuwendung bei Interesse am Essen und aktiver Teilnahme; Unterstützen und Verstärken von altersangemessenem, zunehmend selbstständigem Essverhalten. 5 Ignorieren von Zeichen kindlicher Vermeidung, Abwehr, Ablenkung; eventuell pausieren während der Mahlzeit, bis das Kind wieder Interesse zeigt. 5 Dauer der Mahlzeiten: höchstens 30 Minuten. 5 Grenzsetzung nach festgesetzten Regeln bei unangemessenem Essverhalten, z. B. durch Wegräumen des Essens nach 10 bis 15 Minuten, wenn das Kind nur mit der Nahrung spielt, oder Beenden der Mahlzeit, wenn das Kind wütend Essen umherwirft. 5 Mund abwischen nur nach Beenden der Mahlzeit. 5 Nahrungsmittel sollten nicht als Belohnung oder Geschenk eingesetzt werden.
Geht die Fütterstörung mit weiteren Regulationsproblemen einher (z. B. mit Schlafproblemen), so
239
15.6 • Beratung und Therapie
sollten diese zuerst bzw. mit behandelt werden; häufig lässt sich so auch die Regulation der Nahrungsaufnahme verbessern (von Hofacker et al. 2007). Bei frühen Regulationsstörungen (z. B. in Verbindung mit exzessivem Schreien, erhöhter Irritabilität und chronischer Unruhe; s. auch 7 Abschn. 15.4.2) erhalten die Eltern Unterstützung und Anleitung, auf welche Weise sie ihr Baby beruhigen und es in seiner Selbstregulation stärken können (von Hofacker 2009). Die Eltern sollten ihr Kind möglichst bei ersten Hungersignalen in einem wachen und ausgeruhten Zustand und in einer altersangemessenen Position füttern und auf ruhige und störungsfreie Umgebungsbedingungen bei der Mahlzeit achten – dies gilt auch für das Essen mit älteren, leicht ablenkbaren Kindern. Diese sollten zudem dazu angehalten werden, den Tisch nicht vor Beendigung der gemeinsamen Mahlzeit zu verlassen, da sie häufig nur bei ausreichender Mahlzeitendauer genügend essen; der Anreiz, ein neues Spiel zu beginnen, ist meist größer als die Motivation, sich so lange mit dem Thema »Essen« zu beschäftigen, bis eine ausreichende Sättigung erreicht ist (s. auch den Überblick in 7 Abschn. 15.5.2, darin: »Infantile Anorexie«, sowie Chatoor 2009).
15.6.3
Interaktions- und kommunikationszentrierte Ebene
Interaktions- und kommunikationszentrierte Beratung möchte die Eltern verstärkt für die Bedürfnisse ihres Kindes sensibilisieren (vgl. 7 Kap. 13). Die Eltern werden, meist videogestützt (Thiel-Bonney 2002, vgl. 7 Kap. 29), angeleitet und ermutigt, entwicklungsangemessen und kontingent auf die Signale des Kindes zu antworten. Dies geschieht in belasteten Kontexten (z. B. beim Füttern, Zubettbringen, in Grenzsetzungsmomenten), sollte jedoch auch in unbelasteten Interaktionsmomenten (z. B. im Spiel) berücksichtigt werden, um Ressourcen zu erkennen und Eltern in ihrer Kompetenz zu stärken. Dabei verleiht der Therapeut dem Kind eine Stimme und »übersetzt« seine Signale so, dass die Eltern sie besser verstehen und feinfühlig beantworten können (vgl. auch Wilken et al. 2008). Dies geschieht z. B. in Fragen an die Eltern, wie sie
15
ein bestimmtes Zeichen (z. B. von kindlicher Abwehr beim Trinken oder Essen) verstehen, welche möglichen Alternativen es in der »Interpretation« dieses Signals gibt (z. B. »Ablehnung der Mutter« vs. »Wunsch, etwas selbst zu machen«) und welche Antwort der Eltern die kindliche Selbstregulation und Autonomie unterstützen und somit zu einer Entspannung bei der Mahlzeit beitragen kann. Bei der Arbeit mit Videosequenzen wird den Eltern im Sinne eines kompetenzstärkenden und ressourcenorientierten Vorgehens zunächst eine gelingende Fütterepisode gezeigt und gemeinsam überlegt, warum diese Situation gerade für Eltern und Kind entspannt verläuft. Erst dann kann eine eher dysfunktionale Sequenz betrachtet und erörtert werden. Gemeinsam wird diskutiert, wie Aspekte des Gelingens auf weitere Fütterepisoden übertragen werden können. Der Vater sollte immer in das Gespräch und in die Beobachtung dyadischer und triadischer kommunikativer Momente einbezogen sein. Die Sorge um die Ernährung eines Kindes mit einer Fütterstörung beherrscht meist vollständig das Alltagsleben der Familie; Zwiegespräch, Spiel und Entspannung sind kaum noch präsent. Der therapeutischen Unterstützung gemeinsamer freudiger Interaktions- und Beziehungsmomente im Spiel kommt daher eine besondere Bedeutung zu. z
Besonderheiten bei sensorischer Nahrungsverweigerung und posttraumatischer Fütterstörung
Das Nahrungsmittelspektrum ist aufgrund einer sensorischen Überempfindlichkeit mancher Kinder und in Wechselwirkung mit elterlichen Verhaltensweisen oft erheblich eingeschränkt. Die kindliche Abwehr lässt sich bei einer sensorischen Nahrungsverweigerung und bei posttraumatischen Fütterstörungen durch Hunger allein nicht einfach beseitigen. Im Rahmen einer »systematischen und graduellen Desensibilisierung« wird das Kind bei der sensorischen Nahrungsverweigerung nach einem abgesprochenen Plan schrittweise an neue, ursprünglich abgelehnte Speisen gewöhnt, wobei das Modellverhalten von Eltern und ggf. Geschwistern am Familientisch eine große Rolle spielt. Etwas anders verläuft die Desensibilisierung bei der posttraumatischen Fütterstörung. Hier werden dem
240
15
Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
Kind häufig (z. B. alle ein bis zwei Stunden) und für kurze Zeit kleine Mengen an Nahrung angeboten, bis an die Schwelle erster angstgetönter Reaktionen und ohne Forcierung der Nahrungsaufnahme (von Hofacker et al. 2007). Aversive Reize oder unangenehme Erfahrungen müssen unbedingt vermieden werden. Kinder dürfen anfangs im Spiel frei mit Nahrungsmitteln experimentieren (»Spielessen«, Dunitz-Scheer et al. 2001; »Baby-Picknick«, Wilken et al. 2008). Eine Exposition von Nahrung unterschiedlicher Geschmacksrichtungen und Konsistenzen in der Nähe des Kindes außerhalb der Füttersituation (»Herumliegenlassen« von Nahrung) unterstützt die autonome und angstfreie Annäherung des Kindes an Nahrungsmittel im Spiel und den allmählichen Abbau der kindlichen Abwehr. Wenn jegliche Berührung im Mundbereich zur Ablehnung führt, ist häufig auch eine Desensibilisierung im Mundbereich notwendig. Dann sollte eine Berührung des Kindes zunächst außerhalb der Füttersituation erfolgen, zuerst spielerisch durch Streicheln und leichtes Massieren des Körpers, dann durch die Berührung des Kopfes, der oberen Gesichtshälfte und zuletzt des Mundbereichs (Wangen, Kinn, Lippen), sowohl mit der Hand als auch mit Spielzeug (Wolke 2005). Eine begleitende mundmotorische/orofaziale Therapie, Trainersets zum Zähneputzen, das Greifen nach dem Löffel und das Spiel mit Essutensilien unterstützen die kindliche Exploration und Desensibilisierung. So lernen Säuglinge und Kleinkinder, vielfältige sensorische Reize hungerunabhängig als eine angenehme, nicht bedrohliche Form der Stimulation zu empfinden. Alternative Verfahren wie das wiederholte Überschreiten der kindlichen Abwehrschwelle im Sinne des »Flooding«, z. B. durch wiederholtes Berühren der Lippen mit Nahrung über eine festgelegte Zeitspanne, benötigt eine große Erfahrung und Sicherheit des Therapeuten und ist noch wenig empirisch abgesichert (Benoit u. Coolbear 1998; Überblick verhaltenstherapeutischer Methoden in Wolke 2005). Bei Säuglingen mit akut aufgetretener posttraumatischer Nahrungsverweigerung kann vorübergehend eine Fütterung im Schlaf über zwei bis drei Monate hilfreich sein und die angstbedingte Abwehr im Wachzustand schrittweise »löschen«.
Idealerweise erhält das Kind durch die Schlaffütterung so viel Nahrung, dass es im Wachzustand nur bis jeweils an die Schwelle angstgetönter Reaktion gefüttert werden muss. Schließlich kann die Nahrungsmenge am Tag langsam wieder gesteigert werden. Während Kinder mit sensorischer Nahrungsverweigerung in der Regel ausreichend, aber hoch selektiv essen, sind Kinder mit posttraumatischer Fütterstörung häufig zunächst nur mit Sonde zu ernähren. Eine Sondenentwöhnung kann unter besonderen Voraussetzungen ambulant durchgeführt werden, erfolgt jedoch meist unter stationären Bedingungen und kann hier nicht ausführlicher dargestellt werden. Dunitz-Scheer et al. (2007) beschreiben eine neue Gruppe von kleinen Patienten, die als »sondendependent« bezeichnet wird. Dies sind Kinder, die als Frühgeborene oder nach chirurgischen Eingriffen meist primär mit einer nasogastrischen Sonde versorgt und dann sekundär von der Sondenernährung abhängig wurden, da der Übergang zum selbstgesteuerten Essenlernen nicht erfolgte. Bei Sondenversorgung sollten daher immer die erwartete Dauer besprochen und sekundärpräventive Maßnahmen ergriffen werden, um eine Gewöhnung an die Sondenernährung zu verhindern.
15.6.4
Psychodynamisch-beziehungszentrierte Ebene: Eltern-Säuglings-/KleinkindPsychotherapie
Aufgrund der vitalen Bedeutung der Ernährung und der Sorge um das Gedeihen und Überleben sind die Eltern eines Kindes mit einer Fütterproblematik meist hoch belastet. Bei den sich mehrmals täglich wiederholenden gemeinsamen Mahlzeiten werden tief sitzende elterliche Ängste aktiviert, die nicht selten in eigenen Verlusterfahrungen ihren Hintergrund haben (s. 7 Abschn. 15.4.4). Die Eltern fühlen sich zutiefst infrage gestellt und haltlos (Wilken et al. 2008) und benötigen eine tragende therapeutische Beziehung, um sich eigenen Unsicherheiten, Ängsten und Ambivalenzen stellen zu können, aber auch, um Ressourcen und Stärken bei sich selbst und ihrem Kind zu entdecken. Be-
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15.6 • Beratung und Therapie
gleitende psychodynamisch-psychotherapeutische Gespräche sind daher unverzichtbar. Erfahrungen, Erinnerungen und Fantasien aus der Lebensgeschichte der Eltern können in der Fütterinteraktion (vgl. auch 7 Kap. 13), als »Gespenster« aus der elterlichen Vergangenheit auftauchen und auf der wiederkehrenden Bühne der Mahlzeiten »Regie führen« (Jacubeit 2004). Die Eltern sehen dann nicht das »reale« Kind mit seinen Stärken und Schwächen vor sich, sondern wiederholen in der Interaktion mit ihrem Baby Beziehungsmuster aus der Vergangenheit. Dies kann zu einer verzerrten/abwertenden Wahrnehmung und Fehlinterpretation der kindlichen Signale führen und eine entwicklungsgemäße Unterstützung des Kindes behindern. In diesen Fällen sollte in der elterlichen Biografie auf frühkindliche Vernachlässigung, Trennungs- und Verlusterlebnisse und traumatische Erfahrungen (Gewalt, sexueller Missbrauch) geachtet werden. Bei organischen Erkrankungen oder sensomotorischen Problemen des Kindes benötigen die Eltern ein hohes Maß an Flexibilität und Adaptationsbereitschaft, um das Kind bei der Mahlzeit angemessen zu unterstützen. Sind die Bezugspersonen selbst durch Sorgen um die Gesundheit ihres Kindes (z. B. nach Frühgeburtlichkeit), durch einen schwelenden Paarkonflikt, durch transgenerationale Konflikte (z.B. Abhängigkeits-/ Autonomiekonflikte) oder eine eigene psychische Erkrankung belastet, beeinträchtigt dies ihre intuitiven Kompetenzen und überlagert die Interaktion im Fütterkontext (Jacubeit 2004). Die im Kasten beispielhaft zusammengestellten Äußerungen von Eltern stammen aus Beratungskontexten und zeigen einige psychodynamische Aspekte auf, die die Eltern-Kind-Interaktion dysfunktional (mit-)gestalten können. Psychodynamische Aspekte der Fütterinteraktion 5 Angst um Leben, Gedeihen und Wachstum – »Mein Kind ist schon in meinem Bauch fast verhungert und kam dann zu früh auf die Welt – und jetzt schaffe ich es immer noch nicht, es ausreichend zu ernähren.« 5 Angst vor Verlust
5
5
5
5
15
– »Mein erstes Kind hatte einen Herzfehler und hat nicht getrunken – es starb kurz nach der Geburt. Das werde ich nicht noch einmal zulassen!« Kontrolle/Zwang vs. Autonomie – »Sie will immer alleine essen – aber das kann sie doch noch gar nicht!« – »Ein bisschen Druck muss sein – das ist immer noch besser als die Sonde.« Symbiose, Selbstwert, eigene Bedürftigkeit/narzisstische Kränkung – »Obwohl ich mich beim Kochen wieder besonders bemüht habe, hat sie mir nicht gegessen.« – »Wenn meine Tochter schlecht gegessen hat, ist der Tag für mich gelaufen.« Paarkonflikte – »Mein Mann traut ihr zu, dass sie von alleine genug isst und das Essen selbst regeln kann – er würde sie glatt verhungern lassen!« – »Wie beim Essen will meine Frau auch sonst immer sagen, wo’s lang geht!« Essstörung der Eltern – »Ich war früher sehr dünn, und man hat mich zum Essen gezwungen. Heute bin ich übergewichtig und habe kein Gefühl für die Mengen – mein Kind soll nicht so dick werden!« (Adipositas des Vaters) – »Wenn sie nicht aufgegessen hat, dann esse ich den Rest und erbreche ihn wieder.« (Bulimie der Mutter)
Bei der Beobachtung des sozialen Miteinanders während der Mahlzeiten offenbaren sich bedeutsame Interaktionsmuster und Konflikte in einer ungewohnten emotionalen Dichte; sie liegen buchstäblich »auf dem Tisch« (von Hofacker et al. 2004). Um zu erkennen, wie das Fütterproblem in die jeweilige Beziehungskonstellation eingebettet ist und welche (psycho-)therapeutische Unterstützung das Kind und seine Familie benötigen, ist die Erweiterung des therapeutischen Blickwinkels von der Dyade über die Triade hin zum komplexen familiären Beziehungsgefüge von großer Bedeutung und die Beobachtung einer gemeinsamen Mahlzeit im
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Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
therapeutischen Setting oder mithilfe eines Homevideos unabdingbar. Die Essenssituation stellt jedoch nicht nur die »Bühne« für tägliche Kämpfe und Konflikte dar, sondern sie bedeutet auch einen Raum für Fürsorge und Nähe, für Regulationsprozesse und positive soziale Erfahrungen zwischen Eltern und Kind, für einen freudigen kommunikativen Austausch und für die kindliche Entwicklung von Hand- und Mundmotorik, Explorationsverhalten, Aufmerksamkeitssteuerung und Autonomiestreben. Diesen positiven Erfahrungsraum gilt es mit Eltern und Kind gemeinsam (wieder) zu gewinnen.
15.6.5
15
Indikationen für die ambulante und die stationäre Behandlung
Die ambulante, entwicklungspsychologisch fundierte und interaktionszentrierte Beratung kann durchgeführt werden, 5 wenn das körperliche Wohl des Kindes (z. B. das Gedeihen) nicht oder nicht bedrohlich beeinträchtigt und keine traumatischen Vorerfahrungen des Kindes zu eruieren sind, 5 wenn die Bezugspersonen über (noch) ausreichende psychosoziale Ressourcen verfügen und Zugang zu den eigenen intuitiven Kompetenzen haben, 5 wenn die Beziehung zwischen Eltern und Kind keine relevante Beeinträchtigung erfahren hat und keine Gefahr der Kindesvernachlässigung und -misshandlung besteht, 5 wenn die kindliche Störung nicht kontextübergreifend ist und maximal drei Monate besteht (s. auch von Hofacker et al. 2007). Eine Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Psychotherapie ist indiziert (s. auch . Abb. 15.2 u. von Hofacker et al. 2007), wenn 5 die Fütterstörung über drei Monate hinaus persistiert und sich nach entwicklungsorientierter Beratung keine wesentliche Besserung der kindlichen Symptomatik zeigt, 5 andere Interaktionskontexte betroffen sind (z. B. Fehlen positiver Interaktionsmomente, Schlafprobleme, exzessives Trotzverhalten, Spielunlust/chronische Unruhe, schwerwie-
gende Grenzsetzungsprobleme) und/oder längere störungsfreie Phasen in der kindlichen Entwicklung fehlen, 5 die Fütterstörung mit dysfunktionalen, maladaptiven Interaktionsmustern und Vernachlässigungs- und Misshandlungsgefährdung einhergeht, 5 sich deutliche Belastungen/Störungen in den Eltern-Kind-Beziehungen zeigen, z. B. bei Beobachtung eines feindseligen, aggressiven Umgangs, verzerrter Wahrnehmung der kindlichen Bedürfnisse mit Schuldzuschreibung, Beeinträchtigung der intuitiven elterlichen Kompetenzen und eingeschränktem emotionalem Zugang zum Kind. Finden sich organische und/oder psychische/psychiatrische Erkrankungen (z. B. schweres Überlastungssyndrom, (postpartale) Depression, Angststörungen, Psychose) der Eltern oder schwerwiegende Paarkonflikte, sollten die Mütter/Väter in eine individuelle, z. B. psychotherapeutische/psychiatrische Behandlung oder in eine Paarberatung/-therapie vermittelt werden. Zeigt die ambulante Therapie keinen ausreichenden Erfolg, misslingt die Umsetzung interventions- und beziehungszentrierter Interventionen im häuslichen Alltag, besteht eine ausgeprägte organische/konstitutionelle Belastung des Kindes (z. B. bei Frühgeburtlichkeit, organischer Erkrankung, schwerer Gedeihproblematik) und/oder eine schwere Psychopathologie der Eltern, so wird eine teilstationäre oder stationäre Therapie mit Aufnahme der Bezugsperson notwendig. Die (teil-)stationäre Aufnahme ermöglicht bei einer unmittelbaren Bedrohung des körperlichen oder seelischen Kindeswohls, bei schwerwiegender Belastung des psychosozialen Umfelds/sozialer Isolation sowie bei schwerer Interaktions- und Beziehungsstörung und/oder Erschöpfung der Eltern die engmaschige Überwachung und multimodale Therapie in einem interdisziplinären Team. Wie in Spezialambulanzen sollten auch in (Tages-)Kliniken die Fachdisziplinen Pädiatrie (insbesondere Neuropädiatrie und Gastroenterologie), Entwicklungspsychologie, nach Bedarf Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie und die Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Psychotherapie verfügbar sein. Die Mütter/Eltern können
15.6 • Beratung und Therapie
die Kontrolle der Kalorienzufuhr und des Gesundheitszustands an den Kinderarzt abgeben und erleben dies häufig als wesentliche Entlastung. Das therapeutische Team sollte besonders geschult sein, um die Mütter und Väter in ihrer hohen emotionalen Anspannung ruhig begleiten und stützen zu können und Eltern und Kind einen Entwicklungsraum für die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Autonomie und Kompetenz bereitzustellen. Schwere Gedeihstörungen, ausgeprägte posttraumatische Fütterstörungen und die Sondenentwöhnung werden meist unter stationären Bedingungen behandelt.
Fallgeschichte »Wenn das so weitergeht, dann gehen wir alle noch daran kaputt! Sein Verhalten beim Essen treibt uns noch in den Wahnsinn!« Voller Anspannung, Angst und Ärger berichten die Eltern des zweieinhalbjährigen Simon L. von persistierenden Essschwierigkeiten, die bereits seit der Geburt (mit einem normalen Körpergewicht) bestünden. Simon esse nur sehr wenige, ausgewählte Nahrungsmittel, behalte die Nahrung lange im Mund und »sortiere« sie dort. Was er nicht möge, spucke er wieder aus. »Zornig und aggressiv« wehre er sich gegen Fütterversuche der Eltern. Die Mutter sei stundenlang mit dem Essen beschäftigt, das unter Ablenkung oder Zwang erfolge. Im verzweifelten Bemühen, »etwas in ihn hineinzubekommen«, laufe sie Simon durch verschiedene Räume hinterher und versuche ihn auf diese Weise »nebenbei« zu füttern. Vor dem ersten Gesprächstermin in unserer Ambulanz hatte die Kinderärztin den Jungen zur Abklärung der Gedeihproblematik in die Kinderklinik überwiesen und den Eltern mitgeteilt, ihr Sohn befinde sich in einem bedrohlichen körperlichen Zustand und müsse »sofort über eine Sonde ernährt werden«. Sein Körpergewicht lag knapp unter der 3. Perzentile. Der Arzt der Klinik nahm jedoch zunächst Kontakt mit uns auf, da er bezüglich der Sondierung Zweifel hatte und befürchtete, diese Maßnahme könnte Simon »den letzten Rest seines Interesses am Essen nehmen«. Die Eltern berichten anamnestisch, die Schwangerschaft mit Simon sei nach einer ICSI-Behandlung eingetreten. Schon in den ersten beiden Le-
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benswochen habe Simon schlecht getrunken. Aus Angst um sein Überleben habe die Mutter im dritten Lebensmonat begonnen, ihren Sohn mit Brei zu füttern, was er jedoch »ebenfalls abgelehnt« habe. Nur mit Mühe habe sie sein Körpergewicht auf der 3. Perzentile halten können. Die Beziehungsaufnahme nach der Geburt sei sehr belastet gewesen, da die Mutter Simon aufgrund einer Komplikation zwei Tage lang nicht sehen konnte und ihn als »fremd« erlebte. Zudem habe er vom dritten Lebenstag an »Schreiattacken« gezeigt – nur selten hätten die Eltern entspannte und freudige Momente im Alltag mit ihrem Baby genießen können. Erst im zweiten Lebenshalbjahr sei das Schreien und Quengeln des Jungen etwas zurückgegangen. In der Untersuchungssituation präsentiert sich Simon als ein aufgeweckter, fröhlicher und feinsinniger Junge, der während seines wenig zentrierten und durch immer neue Impulse unterbrochenen Spiels den Eltern sehr aufmerksam zuhört und sich mit kurzen Kommentaren zu Wort meldet. Er findet einen Joghurt und beginnt diesen eigeninitiativ zu probieren. Sofort richten beide Eltern ihre Aufmerksamkeit vollständig auf Simon – unter ihren kontrollierenden und dysfunktionalen Versuchen, ihn beim Essen zu »unterstützen«, verliert er sofort das Interesse. Zum zweiten Termin bringen die Eltern ein Homevideo mit, in welchem Simon zunächst unauffällig und mit Freude seine Mittagsmahlzeit isst. Bei eintretender Sättigung und nachlassendem Interesse am Essen greift die Mutter mit kontrollierenden Fütterversuchen ein. Simon schiebt schließlich wütend den Teller von sich und will den Tisch verlassen – es beginnt ein eskalierender Machtkampf. In einer zweiten Sequenz sitzen Vater, Mutter und die Großmutter mütterlicherseits am Tisch und konzentrieren alle Aufmerksamkeit auf Simon. Nur kurze, heftige Aufforderungen vonseiten der Mutter, Simon solle endlich mit dem Essen beginnen, unterbrechen die hoch angespannte Stille am Tisch. Dabei entziehen Mutter und Großmutter Simon mehrfach den Teller, da das Essen nun kalt geworden sei und wieder erwärmt werden müsse. Schließlich führen intrusive Fütterversuche zu einem massiven Abwehrverhalten des Jungen, der das Essen schnell komplett verweigert.
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Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
Die Füttersituation gestaltet sich als ein Machtkampf zwischen Eltern und Kind, in dessen Verlauf heftige Affekte von Enttäuschung, Ohnmacht und Wut auftreten. Häufig sei auch die Großmutter beim Essen anwesend; sie bewohnt eine eigene, nicht abgeschlossene Wohnung im Haus der Familie. In der Therapiesitzung wird die Mutter schnell laut und verbietend, während sich der Vater eher gewährend und zurückhaltend zeigt. Die elterliche Kommunikation befasst sich fast ausschließlich mit dem kindlichen Essverhalten; nahezu stündlich fragt der Vater von seinem Arbeitsplatz aus zu Hause an, was und wie viel Simon gegessen habe. Unter psychodynamischen Aspekten relevant, beschreibt Simons Mutter frühe depressive Stimmungen und eine deutliche Selbstwertproblematik. Während der Adoleszenz habe sie nach einer Phase des Übergewichts eine Anorexie entwickelt, die inzwischen überwunden sei. Bis heute habe sie »immer für alle in der Familie gesorgt, jedoch nie genügt«. Nun erlebe sie sich als ungenügende Mutter und fühle sich besonders im Essenskontext von ihrem Sohn abgelehnt. Ihr Selbstvertrauen orientiert Frau L. intensiv am Verhalten ihres Sohnes, was zu einem ausgeprägt kontrollierenden Beziehungsmodus und einer Parentifizierung des Jungen führt: Immer wieder muss Simon der Mutter auf deren Aufforderung hin und in Übernahme der Verantwortung für ihr seelisches Wohlbefinden bestätigen: »Mama ist die Beste!« Aus seinen biografischen Vorerfahrungen nachvollziehbar, versucht der Vater sich eher aus Konflikten herauszuhalten und erscheint im konkreten Alltagsgeschehen nur wenig präsent. Die Paardynamik zeigt sich verdeckt konflikthaft – die Eltern neigen dazu, Konflikte jenseits des Fütterkontextes zu verleugnen. Offenkundig werden Konflikte primär über Interaktionen mit Simon ausgetragen, in denen er bei Spannungen Verantwortung übernimmt und die Eltern über ritualisierte Handlungen wieder vereint. Familiendynamisch wird eine massive Autonomie- und Abgrenzungsproblematik zur Großmutter und innerhalb des Paares erkennbar. Simon entzieht sich der elterlichen Grenzsetzung, indem er »einfach zur Oma hochgeht«. Es besteht eine hohe Ambivalenz bei Frau L., die sich einerseits wünscht,
Simon möge auf sie »hören« und mit Freude essen, ihn jedoch andererseits dafür bewundert, dass er sich mit Willensstärke und seinem »Nein!« durchsetzt, was ihr selbst nie gelungen ist. z
Therapieverlauf
In einem wechselnden Beratungssetting (Eltern/ Kind; Großmutter/Mutter/Kind; Mutter alleine) fanden sechs Sitzungen statt. Zunächst war es wichtig, Informationen zu anstehenden kindlichen Autonomieschritten zu vermitteln, Simons Stärken und schöne Momente im Alltag mit ihm für die Eltern erfahrbar zu machen und mit ihnen zu vereinbaren, intrusive Fütterinteraktionen zu vermeiden. Simon durfte außerhalb der Mahlzeiten mit Essbarem selbstständig experimentieren und beim Zubereiten der Mahlzeiten helfen. Währenddessen begann er, verschiedene Nahrungsmittel zu probieren. Es gelang, den Vater intensiver in den Alltag zu involvieren und gemeinsame Mahlzeiten (unter Einführung der »Essensregeln«, 7 Abschn. 15.6.2) in der Familie zu gestalten, bei denen die Eltern Simon mehr Freiraum zugestanden. Im Spiel konnte der Junge zunehmend initiativ werden; unter Anleitung nahmen die Eltern ihre Kontrolle langsam zurück und unterstützten Simon mit begleitender Sprache. Der Vater zeigte sich in der Folgezeit emotional weniger starr und wirkte im Kontakt freudiger und »lebendiger«. Vater und Sohn genossen anregende und körperorientierte »Papa-Spiele«. Unter Einbezug der gesamten Familie in die Behandlung gab es nun Absprachen, wann sich Simon bei der Großmutter aufhalten konnte und wie sich die Erwachsenen in Grenzsetzungssituationen verhalten wollten. Die Mutter übernahm mehr Verantwortung. Zu ihrer Überraschung zeigte sich die Großmutter einsichtig und bereit, die Familie zu unterstützen. In dieser positiven Atmosphäre gelangen Autonomieschritte von Frau L. gegenüber ihrer eigenen Mutter. So gestärkt, konnte sie nun auch die entwicklungsgerechten Autonomiebestrebungen ihres Sohnes adäquat unterstützen und ihm in Konfliktsituationen passend begegnen. Mit der Beobachtung, dass Simon als pfiffiger, lebensfroher Junge zeigen kann, wann er Hunger hat und wann er satt ist, verloren die Eltern langsam die Sorge um sein Überleben. Die Eltern-Kind-Beziehung zeigte sich gestärkt. Simon interessierte sich für die
Literatur
Mahlzeiten und hatte genügend an Gewicht zugenommen. Sechs Monate später meldeten sich die Eltern erneut, um über aufgetretene zwanghaft anmutende Verhaltensweisen des Kindes und neue Grenzsetzungskonflikte zu sprechen. Simons Körpergewicht war stabil geblieben; die Essenssituation hatte sich weiter entspannt. Die Eltern berichteten weiterhin über einen guten Gesprächskontakt zwischen ihnen als Paar und gelingende Absprachen mit Simons Großmutter. Die von den Eltern geschilderten Probleme waren nach einer weiteren Therapiesitzung kaum noch vorhanden, und die Eltern fühlten sich im Umgang mit Simon nun ausreichend sicher. Fazit Fütterstörungen neigen zur Persistenz und bedeuten somit eine Gefahr für die weitere körperliche, geistige und sozial-emotionale Entwicklung des Kindes und für die Beziehungsentwicklung in der Familie. Sie sollten ernst genommen und frühzeitig erkannt und behandelt werden. Unter Berücksichtigung der Symptomtrias von kindlichen und elterlichen Belastungen und interaktionellen Auffälligkeiten dient die Therapie im interdisziplinären Kontext und auf verschiedenen, sich ergänzenden Ebenen auch der Prävention mit dem Ziel, spätere Entwicklungs- und Beziehungsstörungen zu minimieren und Eltern und Kind ein freudiges soziales Miteinander zu ermöglichen.
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Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
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Kapitel 15 • Fütterstörungen in der frühen Kindheit
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Entwicklungsgerechtes anklammerndes Verhalten und exzessives Klammern Kerstin Scholtes und Marisa Benz
16.1
Definition von anklammerndem Verhalten und Diagnosestellung – 250
16.2
Anklammerndes Verhalten im normalen Entwicklungsverlauf – 251
16.3
Exzessives Klammern – 253
16.3.1 16.3.2 16.3.3
Erscheinungsbild – 254 Häufigkeit – 254 Auslösesituationen und Einflussfaktoren – 255
16.4
Behandlungsansätze – 256
16.4.1 16.4.2 16.4.3
Entwicklungspsychologische Informationen – 257 Psychosoziale Beratung – 257 Eltern-Kind-Psychotherapie – 259
Literatur – 261
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
16
250
Kapitel 16 • Entwicklungsgerechtes anklammerndes Verhalten und exzessives Klammern
Anklammerndes Verhalten stellt eine Form der interpersonellen Affektregulation dar. Angst und Furcht tauchen im Laufe des ersten Lebensjahres als neue Affektsysteme auf, und das Kind muss erst Strategien entwickeln, um sich in diesen neuen Zuständen selbst beruhigen zu können. Bis die Selbstberuhigungsfähigkeiten ausreichend entwickelt sind, sind die Kinder auf die Koregulation, sprich die Modulation von Angstaffekten und Beruhigung, durch die Eltern angewiesen. An die Eltern stellt sich die Anforderung, das Kleinkind im Übergang von der dyadischen Regulation hin zur Selbstberuhigung angemessen zu begleiten. Bei einer diesbezüglich »guten Passung« von Eltern und Kind zeigt sich anklammerndes Verhalten als passageres Phänomen in den ersten drei Lebensjahren. Exzessives und persistierendes anklammerndes Verhalten belastet die Eltern-Kind-Beziehung und behindert die Autonomieentwicklung des Kindes. Neben einem Verständnis für das »normale« Anklammern sollen Auslöse- und Entstehungsbedingungen des exzessiven Klammerns vermittelt werden. Am Ende des Kapitels findet sich eine Übersicht über verschiedene Behandlungsansätze.
16.1
16
Definition von anklammerndem Verhalten und Diagnosestellung
Anklammerndes Verhalten stellt eine für Kinder früh verfügbare Möglichkeit dar, auf das Erleben von Angst zu reagieren und durch das Suchen bzw. Aufrechterhalten körperlicher Nähe Schutz und Beruhigung bei einer vertrauten Person zu finden. Insofern stellt das Anklammern nicht per se eine pathologische Reaktion dar, sondern eine zunächst altersgerechte Möglichkeit, auf einen Angst erzeugenden Umstand mit Aktivierung von Bindungsverhalten zu reagieren, solange noch keine ausreichenden Strategien zur Selbstberuhigung verfügbar sind. Typische Ängste in den ersten drei Lebensjahren sind die Fremdenangst (auch »Achtmonatsangst«), die zwischen dem sechsten und neunten Monat beginnt, und die etwas später auftretende Trennungsangst (vgl. 7 Kap. 2). Im Entwicklungsverlauf tritt die höchste Ausprägung des Fremdelns zwischen dem achten und dem 30. Le-
bensmonat auf, die Trennungsangst erreicht ihren Gipfel im zweiten und dritten Lebensjahr (Largo 2001). Auch die Konfrontation mit neuen, unbekannten oder plötzlich auftretenden Objekten oder Personen kann Beunruhigung und Angst auslösen, auf die Kinder mit anklammerndem Verhalten reagieren. Mit dem Aufrechterhalten der körperlichen Nähe zu einer Bezugsperson gehen zumeist ein ängstlicher mimischer Ausdruck und angstvolle Vokalisierungen (Weinen, das sich bis zu einem panischen Schreien steigern kann) sowie die Vermeidung von Blickkontakt zu anderen einher. Bei der Entwicklung von Fähigkeiten zur Regulation negativer Emotionen wie Angst, aber auch Frustration und Wut sind Kinder im ersten Lebensjahr auf die Koregulation von vertrauten Bezugspersonen angewiesen, an die sie sich mit ihren Bedürfnissen nach Sicherheit, Schutz, Kontakt und Kommunikation wenden können (Dornes 2001). Die Eltern begleiten ihre Kinder oft intuitiv auf dem Weg zu emotionaler Selbstregulation im Kontext von Angstbewältigung und damit auch perspektivisch zur Entwicklung von Angsttoleranz. Deutlich wird hier, dass, wie im Konzept der Entwicklungslinien von Anna Freud beschrieben, »die Beherrschung der Innenwelt und die Anpassung an die Außenwelt stufenweise fortschreiten« (1968, S. 2183). Eine im Sinne des Passungskonzeptes (Thomas u. Chess 1977) »ausreichend gute« gemeinsame Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe, die aufseiten der Eltern eine sensible Wahrnehmung und ein Verstehen der kindlichen Position erfordert, unterstützt die Entwicklung eines zunehmend objektunabhängigen Sicherheitsgefühls und personenunabhängiger Möglichkeiten der Angstbewältigung (vgl. 7 Kap. 2). Exzessives, persistierendes und nicht mehr entwicklungsgerecht auftretendes anklammerndes Verhalten steht im Zusammenhang mit unterschiedlichen Einflussfaktoren (7 Abschn. 16.3.3) und kann Ausdruck einer emotionalen Regulationsproblematik, einer Entwicklungs- oder einer Beziehungs-/Bindungsstörung sein. Die in diesem Kontext dysfunktionalen Interaktionsmuster bei Eltern und Kind, die durch hohe Anspannung und Ambivalenzen in der Nähe-Distanz-Regulation gekennzeichnet sind, stellen eine enorme Belastung und Gefährdung für die Eltern-Kind-Beziehung dar.
16.2 • Anklammerndes Verhalten im normalen Entwicklungsverlauf
Leitsymptome der Persistenz und übermäßigen Ausprägung von Fremdeln und Klammerverhalten (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2007) 5 Exzessives Klammern an die Bindungsperson ohne erkennbare Bedrohung, z. B. in Situationen geringer Anforderung. 5 Einfordern von permanenter Aufmerksamkeit. 5 Schwierigkeit oder Unfähigkeit der Bezugsperson, sich in Situationen, in denen dies angemessen ist, ausreichend klar abzugrenzen. 5 Altersunangemessene Hemmung der Spiel- und Explorationsbereitschaft trotz Gegenwart der Bezugsperson mit Anzeichen ängstlicher Gehemmtheit.
> Exzessives anklammerndes Verhalten im Kleinkindalter kann diagnostisch unter die Anpassungsstörungen im Sinne frühkindlicher Regulationsstörungen (ICD-10, F43.2) gefasst werden. Aufgrund der Beobachtung, dass frühkindliche Regulationsstörungen häufig Vorläufer für Verhaltensauffälligkeiten der späteren Kindheit darstellen (z. B. Laucht et al. 2004), kann ein anhaltendes Defizit im Bereich der Selbstberuhigung im späteren Kindesoder Jugendalter z. B. in die Diagnose einer emotionalen Störung mit Trennungsangst (ICD-10, F93.0) oder einer sozialen Phobie (ICD-10, F40.1) münden.
16.2
Anklammerndes Verhalten im normalen Entwicklungsverlauf
Im Zuge der voranschreitenden körperlichen, motorischen, geistigen und sozialen Entwicklung werden Kinder in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres zunehmend mit neuen Reizen und Anforderungen sowie Ansprüchen aus der Umwelt konfrontiert. Die Auseinandersetzung mit Unvertrautem führt zu kurzen oder auch länger anhalten-
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den Irritationen und Ängsten. Zur Bewältigung der im normalen Entwicklungsverlauf immer wieder auftretenden negativen Gefühlszustände, zu denen eben auch Angst gehört, sind wiederholte Prozesse der Neuorientierung und Anpassung erforderlich. Beispiel Die acht Monate alte Antonia sitzt auf dem Schoß der Mutter, ihr den Rücken zuwendend. Eine Freundin der Mutter ist zu Besuch, sie sitzt Mutter und Kind gegenüber. Antonia beobachtet die ihr wenig bekannte Person aufmerksam und interessiert aus der Distanz von ihrem sicheren Platz aus. Sie hantiert dabei mit einem Löffel, der ihr schließlich herunterfällt. Die Freundin der Mutter hebt ihn auf, nähert sich mit freundlicher Mimik und Worten dem Mädchen und möchte den Löffel wieder in Antonias Hände geben. Antonia wird unruhig und dreht sich zur Mutter. Als die Freundin die Hände des Mädchens berührt, zeigt Antonia stärkere Abwehrbewegungen, windet sich auf dem Schoß der Mutter, jammert weinerlich, presst ihr Gesicht gegen die mütterliche Brust und krallt sich am Pullover der Mutter fest. Diese beruhigt Antonia auf dem Arm, während die Freundin sich zurückzieht. Sie übergibt der Mutter den Löffel, die ihn an Antonia weiterreicht. Antonia spielt ruhig weiter, während die »fremde Frau« weiter aus der Distanz mit der Mutter spricht. Gelegentlich unterbricht Antonia ihr Spiel und beobachtet die Freundin.
Im Beispiel haben die beiden Erwachsenen sich gut in Antonia einfühlen und die Beunruhigung des Kindes verstehen können. Antonia zeigt durch Festhalten, Anschmiegen und letztlich Anklammern an die Mutter, dass sie in dieser Situation auf Beruhigung von außen angewiesen ist. Das Signal des Kindes »Komm mir (jetzt noch) nicht zu nahe« konnte verstanden werden. Antonia erhielt Gelegenheit, sich ihren Möglichkeiten entsprechend zu distanzieren und sich ihren Bedürfnissen folgend annähern zu können. Damit wird eine Gewöhnung an etwas oder jemand Fremdes, Unbekanntes oder Neues ermöglicht. Das sogenannte Fremdeln, auch »Achtmonatsangst« genannt, mit den typischen Reaktionen, die Antonia zeigt, wird oft als Zeichen für einen vor allem kognitiven Entwicklungsschritt, nämlich die
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16
Kapitel 16 • Entwicklungsgerechtes anklammerndes Verhalten und exzessives Klammern
Fähigkeit des Kindes, Personen zu unterscheiden, interpretiert (Largo 2001). Mit der Fähigkeit, Personen nach ihrer Bedeutung zu differenzieren, geht das bewusstere Wahrnehmen eines möglichen Verlust von Vertrautem einher (Cierpka u. Windaus 2007). Das Erschrecken vor Unbekanntem mit oft starken kindlichen Reaktionen der Ablehnung desselben bei gleichzeitiger Suche nach Nähe zu vertrauten Personen kann jedoch auch evolutionär verstanden werden: »Mit der Angst vor fremden Leuten sorgt die Natur dafür, dass sich das Kind in den ersten Lebensjahren an diejenigen Personen hält, die zuverlässig für sein körperliches und psychisches Wohl sorgen« (Largo 2001, S. 70). Im Zusammenhang mit der lokomotorischen Entwicklung im zweiten Lebenshalbjahr und der personenspezifischen Bindung treten Angst und Furcht als neue emotionale Systeme auf – dies kann auch im Sinne des Schutzes des Kindes interpretiert werden (Papoušek u. von Hofacker 2004). Das »Fremdeln« kann in diesem Verständnis als Vorläufer der Trennungsangst aufgefasst werden, die ihre Hochphase im zweiten und dritten Lebensjahr hat. In der Zeit vermehrter Trennungsangst können auf der Verhaltensebene häufig Unruhe und Unzufriedenheit beobachtet werden. Die Kinder erscheinen unentschlossen, nähern sich einer interessanten Person oder einem Gegenstand an, suchen dann aber wieder die Nähe der Eltern und schwanken zwischen diesen noch unvereinbar erscheinenden Polen hin und her. Es gelingt ihnen noch nicht, sich länger alleine zu beschäftigen, sie brauchen scheinbar viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Margaret Mahler (1975/2003) beschreibt dies in ihren Überlegungen zum Loslösungs- und Individuationsprozess. Sie unterscheidet das »Gleis der Individuation«, gekennzeichnet durch die Entfaltung von intrapsychischer Autonomie, Wahrnehmung, Gedächtnis, Erkennungsvermögen und Realitätsprüfung, von dem »Gleis der Loslösung«, charakterisiert durch Differenzierung, Distanzierung, Abgrenzung und Abwendung von der primären Bezugsperson. Optimale Situationen scheinen jene zu sein, in denen das Wahrnehmen einer Trennung von Mutter oder Vater parallel läuft mit dem selbstständigen, unabhängigen Funktionieren des Kindes. Im Laufe der Entwicklung kann sich das Hin-und-hergerissenSein zwischen Nähe- und Autonomiewünschen im
Bild einer sogenannten Wiederannäherungskrise zeigen (Mahler et al. 1978; vgl. 7 Kap. 6). Neben den kindlichen Einflüssen prägen die Beziehungswünsche und die psychischen Bedürfnisse der Eltern die Ausgestaltung dieser Phase. Cierpka u. Cierpka (2000) übertragen dies in ihrem Behandlungsmodell in das Bild der Waage: Autonomie und Verbundenheit sollen unter den Aspekten, die Eltern und Kind in die Waagschalen werfen, austariert werden (vgl. 7 Kap. 17). Auch die im Zuge der motorischen Entwicklung auftauchenden neuen Möglichkeiten, die Umwelt aktiv zu erkunden und Distanz zwischen sich und der Mutter oder dem Vater zu schaffen, führen oft zu einer kurzen, aber recht intensiven Phase mit vermehrtem Anklammern (Mahler 1975/2003). Bleiben die motorischen Fähigkeiten hinter dem Erkundungsdrang zurück, wirken die Kinder oft frustriert und gelangweilt. Viele Kinder drängen dann vermehrt darauf, umhergetragen zu werden, um die Objekte ihres Interesses zu erreichen, und fordern vor diesem Hintergrund mehr Nähe von ihren Bezugspersonen ein. In unbekannten oder allgemein verunsichernden Situationen zeigen Kinder ab der Mitte des ersten Lebensjahres Rückversicherungsverhalten: Sie orientieren sich am emotionalen Ausdrucksverhalten der Eltern, um zu einer eigenen emotionalen Einschätzung einer Situation zu kommen (»Soll ich das andere Kind mal anfassen?«). Dieses als »social referencing« bezeichnete Phänomen ist in dieser Phase handlungsleitend für die Kinder (Campos u. Stenbert 1981). Im Zuge der intersubjektiven Affektabstimmung greifen emotional verfügbare Eltern intuitiv kindliche Affekte auf und spiegeln diese, ohne auf der Handlungsebene zu stark Einfluss zu nehmen. Sie lassen dem Kind mimisch, gestisch oder verbal Informationen über die affektive Einschätzung einer Situation zukommen und fördern damit sowohl die Fähigkeit zur Selbstberuhigung (»Ist das überhaupt eine Situation, in der ich Angst haben muss?«) als auch die affektive Besetzung von Handlungszielen aufseiten des Kindes. Beispiel Der neun Monate alte Robin nähert sich krabbelnd neugierig einem gleichaltrigen Kind, durch ein Lächeln und Nicken des Vaters ermutigt. Als das interessiert erscheinende Kind sich etwas stürmisch
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16.3 • Exzessives Klammern
auf ihn zubewegt, schreit Robin ängstlich auf, blickt sich nach dem Vater um und bleibt wie versteinert an seinem Platz. Der Vater registriert Robins Angst, kniet sich neben ihn, nimmt ihn beruhigend in den Arm und verbalisiert den kindlichen Zustand in anteilnehmender Intonation: »Oh je, du hast nicht damit gerechnet, dass das Kind so schnell auf dich zukommt! Da bist du erschrocken.« Robin beruhigt sich und kann sich in der sicheren Nähe des Vaters dem Objekt seines Interesses wieder zuwenden.
Das im Beispiel dargestellte Aufgreifen der kindlichen Affektdynamik durch den Vater signalisiert elterliche Bezugnahme und erleichtert es dem Kind, sich seiner subjektiven Gefühlslage bewusst zu werden. Durch Stimmlage, Gesten und mimische Reaktionen verleiht der Vater dem kindlichen Affekt in einer anderen Modalität Ausdruck und trägt dadurch zur Modulation der kindlichen Erregung bei. Neben der auch im Beispiel beschriebenen Modulation, die der affektiven Abstimmung dient (Stern 1985), bieten Eltern im Idealfall die Funktion eines »Containers« im Bion’schen Sinne (Bion 1962/1984; vgl. auch 7 Kap. 6). Damit ist die mütterliche und väterliche Bereitschaft gemeint, sich verstehend in den Zustand des Kindes einzufühlen, das diffuse körpernahe Erleben zu versprachlichen und den unangenehmen Zustand mit auszuhalten. Dadurch wird dem Kind perspektivisch ein neuer innerer Verarbeitungsraum eröffnet. Erfährt ein Kind zuverlässig, dass es regulatorische Unterstützung findet, wenn es z. B. weint, so wird die Bezugsperson zur sicheren Basis, an die das Kind sich wenden kann. Macht das Kind vor allem die Erfahrung, dass die Bezugsperson sich abwendet, wenn es weint, wird es versuchen, negative Gefühle zu minimieren oder zu verbergen, um Zurückweisung zu vermeiden. Verhält die Bezugsperson sich auf das Weinen des Kindes hin inkonsistent, wird das Kind versuchen, sich die schützende Nähe durch übersteigertes Bindungsverhalten mit exzessivem Klammern, Fordern, Schreien und Trotzen zu sichern, auch wenn es dabei Gefahr läuft, Ablehnung zu erfahren (Papoušek u. von Hofacker 2004; vgl. auch 7 Kap. 4). Gegen Ende des ersten Lebensjahres werden bei der Bewältigung von negativen Gefühlen im Zusammenhang mit Trennungssituationen
16
im Zuge der beginnenden Ablösung von den Eltern sogenannte Übergangsobjekte (Winnicott 1951) bedeutsam (vgl. 7 Kap. 6).
16.3
Exzessives Klammern
Exzessives Klammern ist ein Hinweis auf noch nicht ausreichend bewältigte Schritte der Ablösung zwischen Eltern und Kind. Die Eltern-Kind-Beziehung erscheint meist belastet und gefährdet. Das kindliche Funktionsniveau ist beeinträchtigt, und die Bewältigung anstehender Entwicklungsschritte ist erschwert oder gar behindert. Symptomtrias des exzessiven Klammerns Im Übertrag auf die Symptomtrias frühkindlicher Regulationsstörungen (Papoušek 2004) stellt sich das exzessive Klammern wie folgt dar: 5 Das Kind ist noch nicht ausreichend in der Lage, sich bei inneren Anspannungszuständen, zu denen z. B. das Erleben von Ängsten, Irritation, Frustration oder Langeweile gehören, selbstgesteuert zu beruhigen. Es ist auf die Beruhigung durch primäre Bezugspersonen, in der Regel die Eltern, angewiesen. Aus diesem Grund versucht das Kind, körperliche Nähe zu den Eltern herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten 5 Die Eltern erleben, dass ihre Beruhigungsund Ermutigungsversuche nicht ausreichend erscheinen, und leiden im Zuge der scheinbar anhaltenden Nähewünsche des Kindes an Überforderungssyndromen. 5 Dysfunktionale Interaktionsmuster im Kontext des Beruhigens und Ermutigens halten das anklammernde Verhalten aufrecht. Unter Anspannung halten die Eltern Nähe aufrecht und schaffen keine klaren Abgrenzungskontexte.
16
254
Kapitel 16 • Entwicklungsgerechtes anklammerndes Verhalten und exzessives Klammern
16.3.1
Erscheinungsbild
Das Kind fällt durch häufiges Verlangen nach Körperkontakt auf. Eltern beschreiben, dass ihr Kind ihnen im wahrsten Sinne des Wortes »am Rockzipfel« hängt. Kinder, die noch gestillt werden, verlangen oft nach der Brust. Begleitet wird das scheinbare Fordern von Körperkontakt durch ängstliches, bisweilen sogar panisches Schreien. Kommt Nähe oder Körperkontakt zustande, kann beobachtet werden, dass dies oft nicht zur Beruhigung des Kindes führt und die unzufriedene, gespannte Stimmung weiter anhält. Im Alltag stellen Eltern oft ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der Forderungen ihres Kindes nach Nähe zurück, in dem Glauben, das Kind damit zufriedenstellen zu können. Manche Eltern schildern auch den Eindruck, dass ihr Kind dann besonders fordernd und anklammernd ist, wenn sie etwas »für sich« tun wollen (z. B. ein Telefonat führen, einen Kaffee trinken), und unterstellen dem Kind Intentionalität im Sinne von gegen sie gerichteter Aggressivität. Die Interaktionen zwischen Eltern und Kind sind von einer allgemein ängstlich-aggressiv getönten Grundstimmung sowie durch unsicher-ambivalentes Verhalten der Eltern gegenüber dem kindlichen Kontaktverhalten gekennzeichnet. Doppelbotschaften, ein automatisiert wirkendes Streicheln oder Schaukeln des Kindes unter wachsender Anspannung und der Wechsel von fürsorglicher Zuwendung und Zurückweisung vor dem Hintergrund unterdrückten Ärgers führen zu einem Muster hoher, aber dysfunktionaler Responsivität. Die Eltern scheinen oft physisch, aber nicht emotional verfügbar, und tun sich mit der Abgrenzung von ihrem Kind schwer. Es wirkt, als gestatteten sie sich nicht, die Aufmerksamkeit auch nur für einen Moment vom Kind abzuziehen. Zugleich versagt aber die Kommunikation, weil das anklammernde Verhalten, das von den Eltern als Bindungsverhalten interpretiert werden kann, die tatsächlichen Bedürfnisse des Kindes, z. B. nach der Regulation von Langeweile, Spielunlust oder nach Unterhaltung, nicht mehr klar erkennen lässt. Das Kind steckt unangemessen viel Energie in das Erregen elterlicher Aufmerksamkeit und das Herstellen von Kontakt. Der zu Exploration und Spiel nötige Abzug kindlicher Aufmerksamkeit von den Eltern findet so nicht statt, was zur Folge hat, dass die
Kinder nicht den nötigen Erfahrungsraum gewinnen, um selbstregulative Fähigkeiten entwickeln zu können. Gleichzeitig kann es auch den Eltern schwerfallen, das Kind gelegentlich aus ihrem Aufmerksamkeitsfokus zu entlassen und damit einen Freiraum zu schaffen. Das anklammernde Verhalten kann mit sozialer Gehemmtheit einhergehen. Diese ist gekennzeichnet durch eine altersunangemessene, anhaltende Hemmung der Explorations-, Spiel- und Kontaktbereitschaft in fremder Umgebung oder in der Begegnung mit fremden Personen. Die Kinder verharren oft regungslos, in hoher körperlicher Anspannung und anklammernd auf dem Arm oder Schoß der Bezugsperson. Bei Annäherungsversuchen zeigen sich verstärkte Angstreaktionen wie Abwenden oder Weinen. Auch exzessive Trennungsangst, die über die zu erwartende Phase vermehrter Angstreaktionen auf Trennungen im zweiten Lebenshalbjahr hinaus besteht, ist mit anklammerndem Verhalten assoziiert. Findet eine Trennung zwischen primärer Bezugsperson und Kind statt, kommt es zu ausgeprägten, altersunangemessenen Trennungsreaktionen wie Anklammern, Schreien und panikartiges Schluchzen. Tröstungsversuche, die oft unter dem Einfluss von massiven Schuldgefühlen, Verunsicherung und Ängsten der primären Bezugsperson stattfinden, führen meistens nicht zur Beruhigung, da dem Kind in dieser Gestimmtheit keine Sicherheit vermittelt werden kann (Papoušek u. von Hofacker 2004).
16.3.2
Häufigkeit
Während für emotionale und Verhaltensstörungen im Kindergartenalter in der Literatur umfangreiche Angaben zu finden sind, sind solche Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter zwar hinsichtlich entwicklungspsychologischer Fragestellungen diskutiert, bislang aber kaum in direktem Bezug auf klinische Störungsbilder untersucht worden (s. z. B. Belsky et al. 1996; Calkins 2002; Crockenberg u. Leerkes 2000; Laucht 2002). In der Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Ambulanz des Uniklinikums Heidelberg gaben 21 % der Eltern, die zwischen 1999 und 2009 ihre Kinder vorstellten, Trennungsangst als einen Anmeldegrund an (Thiel-
16.3 • Exzessives Klammern
Bonney 2009). Auf der Verhaltensebene steht dies oft im Zusammenhang mit exzessivem Klammern, aber auch mit Einschränkungen des Explorationsverhaltens (Spielunlust) oder Schlafstörungen. Papoušek u. von Hofacker (2004) zeigen eine Altersverteilung hinsichtlich der Auftretenshäufigkeit der Diagnose von »exzessivem Klammern« unter den Kindern, die in der Münchner Sprechstunde für Schreibabys vorgestellt wurden: Im zweiten Lebenshalbjahr werden 15,6 % der Kinder wegen exzessiven Klammerns vorgestellt, zwischen dem 12. und 18. Lebensmonat 19,5 %, zwischen dem 18. und 24. Monat 20,8 %, und bei den Kindern im dritten Lebensjahr und älter sind es 12,5 %.
16.3.3
Auslösesituationen und Einflussfaktoren
Angst und Furcht treten entwicklungsgerecht im Zuge der lokomotorischen Entwicklung und der Entwicklung personenspezifischer Bindung (Bowlby 1969) um den neunten Lebensmonat herum als neue emotionale Systeme auf. Das Abstillen ist ein um diese Zeit häufig stattfindender äußerer Schritt der Ablösung. Das Kind ist nun nicht mehr von der alleinigen Versorgung durch die Mutter abhängig, eine räumliche Trennung wird damit möglich. Auch das Schlafen im eigenen Bett ist ein Schritt, der eine wachsende Getrenntheit erkennen lässt. Das Differenzieren von Personen und damit die Fähigkeit zur bewussten Unterscheidung zwischen primären Bezugspersonen und Fremden kann Beunruhigung auslösen. Krabbelnd und laufend kann sich das Kind aus eigenem Antrieb von den Eltern fortbewegen und sich einen größeren Aktionsradius erobern. Mit all diesen neuen Errungenschaften treten Erlebensweisen auf, die als bedrohlich wahrgenommen werden können und somit potenziell Angst oder Furcht auslösen. Weitere alterstypische Auslöser für Angst in den ersten drei Lebensjahren sind soziale Trennungserfahrungen, z. B. häufige oder abrupte Wechsel von Betreuungspersonen, Überforderung beim Eintritt in die Kinderkrippe, eine fremde Umgebung nach einem Umzug oder im Urlaub, Veränderungen in der Familienkonstellation (z. B. die Geburt eines Geschwisterkindes oder eine Trennung der Eltern)
255
16
sowie tatsächliche oder gefühlte Beziehungsabbrüche (Letzteres z. B. bei einem Krankenhausaufenthalt der Mutter). Auf physiologischer Ebene zeigt sich Angst oder Furcht in einer hohen Erregung bei gleichzeitiger Verhaltenshemmung (Papoušek u. von Hofacker 2004), die zu einer Einschränkung des Explorationsverhaltens führt. Psychophysiologisch tritt die erstmals von Cannon (1929) beschriebene »akute Stressantwort« (auch »Hyperarousal«) mit den Handlungsalternativen Kampf oder Flucht auf. Je nach den motorischen Möglichkeiten des Kindes kann das Anklammern des Kindes im Sinne der Stressantwort »Flucht vor dem angstauslösenden Moment« die einzig passende Reaktion darstellen. Entscheidend für die Bewältigung ist die interpersonale Regulation der kindlichen Ängste durch die Bezugspersonen (Papoušek u. von Hofacker 2004). Kagan u. Snidman (1999) sehen einen Zusammenhang zwischen der Temperamentseigenschaft der Verhaltenshemmung (»novelty inhibited«), hoher Irritabilität sowie einer geringen Fähigkeit zur Emotionsregulation und einer Begünstigung der Entwicklung von emotionalen Störungen (vgl. 7 Kap. 3). Möhler et al. (2008) konnten zeigen, dass eine allgemeine negative Hyperreaktivität auf unvertraute Reize in frühester Kindheit, wie z. B. vermehrtes Weinen in Reaktion auf unbekannte Stimuli, mit dem Auftreten behavioraler Hemmung im zweiten Lebensjahr in Zusammenhang steht. Möglicherweise verhindern frühe soziale Ängste soziales Lernen, was Folgen für den weiteren Entwicklungsverlauf erklären kann. Ein weiterer Einflussfaktor sind die Interaktions- und Beziehungserfahrungen, die das Kind mit den Eltern macht. Nach Fonagy et al. (2008) entwickeln sich Affektregulation und Persönlichkeit über den Prozess der Mentalisierung. Im Rahmen von Interaktionen zwischen Eltern und Kind werden durch Affektspiegelungen, z. B. mimische oder vokale elterliche Antworten, affektive Zustände für das Kind kenntlich gemacht. Gefühlszustände werden dann zu Selbsterfahrungen und letztlich zu Konzepten, wenn die Eltern in dieser Rückmeldung erkennen lassen, dass es nicht um ihren eigenen Gefühlszustand geht, sondern um den des Kindes (Resch 2004). Dies setzt voraus, dass Eltern über die innere Fähigkeit verfügen, mentale Erfahrun-
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Kapitel 16 • Entwicklungsgerechtes anklammerndes Verhalten und exzessives Klammern
gen zu reflektieren und in Sprache, Affektreaktionen oder Handlungen zu übersetzen. Eltern, die aufgrund eigener (früh-)kindlicher Erfahrungen und/oder einer eigenen Angstsymptomatik in dieser Fähigkeit eingeschränkt sind, können diese Übersetzungsarbeit eventuell nicht leisten (s. dazu auch 7 Kap. 19). In der Interaktion zwischen Eltern und Kind kommt es zu einer wechselseitigen Angstansteckung. Weil nicht ausreichend differenziert wird, wer denn jetzt eigentlich wovor Angst hat, können diese Eltern ihrem Kind keine beruhigenden Funktionen zur Verfügung stellen. Im Zuge einer interpersonellen Abwehr durch Parentifizierung können Elternteile unbewusst erwarten, dass das Kind sie beruhigt. Dies kann zu einer Verstrickung (Minuchin 1977/1997) zwischen Eltern und Kind beitragen, wodurch auf beiden Seiten Schritte in der Ablösungsentwicklung behindert werden. Eine »genügend gute Mutter« im Sinne Winnicotts (1973) wird »mit einer fast völligen Anpassung an die Bedürfnisse des Neugeborenen beginnen und sich im Laufe der Zeit immer weniger anpassen, je mehr das Kind in der Lage ist, mit dieser Entsagung fertig zu werden« (Winnicott 1973, S. 20). Das wechselseitige Anklammern von Mutter/Vater und Kind in der oben beschriebenen Angstspirale hingegen hält Kind und Eltern in einer Abhängigkeit. Dem Kind wird die Entwicklung selbstgesteuerter Möglichkeiten der Angstregulation verwehrt. Eine im psychopathologischen Sinne elterliche Abwehr durch projektive Identifikation kann ebenfalls zum Aufrechterhalten exzessiven Anklammerns beitragen. In der Beruhigung des Kindes können die Eltern aktiv werden, während sie die eigene, auf das Kind verschobene Angst bei sich nicht mehr wahrnehmen. Eine bestehende Trennungsangst der Eltern wird im Rahmen dieser interpersonellen Dynamik abgewehrt. Die Eltern »lesen« eigene Eigenschaften oder Vorstellungen in ihr Kind hinein, die nicht zum Entwicklungsstand oder Wesen des Kindes passen (Fraiberg et al. 1975). Bedrohlich für das Kindeswohl wird dies, wenn dem Kind ein hohes Maß an Intentionalität zugeschrieben wird, wie in der folgenden Äußerung einer Mutter über ihren fünf Monate alten Sohn: »Der lässt mich nicht in Ruhe, weil er mich quälen will!« Eine Auflösung dieser verzerrten Wahrnehmung kann
in aller Regel nur in einem psychotherapeutischen Setting bearbeitet werden (7 Abschn. 16.4.3). Auf der Beziehungsebene müssen Eltern und Kind sich auf das »Paradox der Entwicklung« (Trad 1993) einlassen können. Der Erwerb neuer Kompetenzen im Bereich der emotionalen Selbstregulation kann im Familiensystem zu einem stärkeren Gefühl der Verbundenheit und Intimität führen. Andererseits kommt es entwicklungspsychologisch aufseiten des Kindes und lebenszyklisch aufseiten der Eltern zu verstärkter Autonomie und Abgrenzung voneinander. Gelingt eine Anpassung des Familiensystems, vor allem im Übergang von der Dyade zur Triade, an dieses Paradoxon nicht, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Manifestation des anklammernden Verhaltens (Cierpka u. Cierpka 2000; vgl. auch 7 Kap. 38).
16.4
Behandlungsansätze
Sowohl in der Beratung als auch bei einem psychotherapeutisches Vorgehen müssen die aktuelle, oft emotional hoch aufgeladene Situation der Familie sowie die Beziehungserfahrungen, die Eltern und Kind bis zu diesem Zeitpunkt gemeinsam gemacht haben, in den Blick genommen werden. Die Eltern suchen oft in einer Mischung aus Hilflosigkeit, Beschämung und Wut nach Hilfe; häufig ahnen sie, dass in den Schwierigkeiten, die das Kind in bisweilen imponierender Weise nach außen trägt, eigene ungelöste Themen auftauchen (Fraiberg et al. 1975). Entscheidend für die Wahl des passenden Ansatzes ist u. a. die Sicht der Eltern auf das Kind: Können sie das anklammernde Verhalten als Zuspitzung im Rahmen der Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe betrachten und bei allen Schwierigkeiten einen positiven Blick auf das Kind behalten? Dann profitieren sie womöglich von entwicklungspsychologischen Informationen. Stehen negative Momente zwischen Eltern und Kind deutlich im Vordergrund, und begegnen die Eltern ihrem Kind mit negativen Erwartungen? Dann kann eine Erarbeitung individueller Möglichkeiten zur Entwicklungs- und Beziehungsförderung im Rahmen einer psychosozialen Beratung der passende Weg sein. Reicht das Setting eines zeitlich begrenzten, niederfrequenten Beratungsangebots nicht aus, um
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16.4 • Behandlungsansätze
Veränderungen umzusetzen und den Leidensdruck zu reduzieren, ist eine Eltern-Kind-Psychotherapie indiziert (vgl. dazu auch 7 Kap. 28).
16.4.1
Entwicklungspsychologische Informationen
Anklammern stellt eine Möglichkeit des Kindes dar, auf das Erleben von Angst zu reagieren, solange es noch keine ausreichenden selbstgesteuerten, personenunabhängigen Möglichkeiten zur Selbstberuhigung zur Verfügung hat. Das Verständnis der Eltern und die Einsicht, dass ihr Kind hierbei noch auf ihre Unterstützung angewiesen ist, sind grundlegend für die Vermittlung entwicklungspsychologischer Informationen. Die Information über den Entwicklungsstand des Kindes und bereits bewältigte Entwicklungsaufgaben und der Blick auf bereits vorhandene Fähigkeiten und nutzbare Ressourcen des Kindes (z. B.: »kann im entspannten Zustand alleine spielen«, »exploriert seine Umgebung mit Blicken«) können eine positive und unterstützende Haltung der Eltern unterstützen. Folgende Anregungen zur Gestaltung von Abgrenzungskontexten können vermittelt werden: 5 Eindeutige Signale der Eltern, wenn eine Trennung ansteht, auch wenn es nur eine »kleine« Trennung ist (z. B.: »Ich setze mich jetzt da auf den Sessel und lese in meinem Buch. Du spielst hier noch ein bisschen weiter mit den Bausteinen. Ich komme gleich wieder zu dir.«) 5 Unterstützung von kindlichen selbstgesteuerten Spiel- und Explorationsbedürfnissen durch Ermutigung und Vermittlung von Sicherheit (z. B.: »Du siehst dir ganz interessiert die große Puppe auf dem Regal an, sollen wir da mal zusammen hingehen? Ich bleibe in deiner Nähe.«) 5 Einführen von Beruhigungshilfen, die personenunabhängig sind und die das Kind selbstständig erreichen kann. Diese sogenannten Übergangsobjekte, meist weiche Kuscheltiere, Decken oder Tücher, können stellvertretend für die Eltern eine tröstende und beruhigende Funktion übernehmen und bei vermehrter
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Angst in Zeiten elterlicher Abwesenheit wichtige Begleiter für das Kind sein. 5 Zur Modulation der kindlichen Affektlage, aber auch als Unterstützung zum Einfühlen in die kindliche Position dient die begleitende Sprache (z. B.: »Du weißt noch nicht so recht, was du von Onkel Willi halten sollst, da bist du erst mal vorsichtig. Guck ihn dir erst mal an, ich bin bei dir. Vielleicht magst du nachher ja mal mit ihm spielen.«)
16.4.2 z
Psychosoziale Beratung
Fallbeispiel
Der zwölf Monate alte Mark klammert sich, wenn er zur Tagesmutter gebracht wird, an die Eltern, schreit verzweifelt und mit steigender Intensität und ist kaum zu beruhigen. Die Eltern sind darüber sehr erstaunt und erschrocken, da sie ihren Sohn bislang als fröhliches und unkompliziertes Kind kannten. Seit den Besuchen bei der Tagesmutter klammere er sich auch in anderen Kontexten vermehrt an sie an. Besorgt sind die Eltern auch, weil Mark im Moment sehr irritabel erscheint, auf Trennungen und Grenzsetzungen heftiger reagiere, als sie es von ihm gewohnt seien, sich nicht selbst beruhigen könne, aber Hilfen von Elternseite ablehne. Bislang verbrachte der Junge viel Zeit zu Hause mit einem oder beiden Elternteilen und der fünfjährigen Schwester. Die Eltern schildern, dass Mark neue Situationen und Personen stets interessiert beobachte, am liebsten in der Nähe von Mutter oder Vater, und es dann erst nach einer gewissen Zeit schaffe, sich zu lösen und sich Dingen anzunähern, die ihn interessieren. Seit Beginn der Eingewöhnung bei der Tagesmutter dauere es noch länger, bis er sich Neuem zuwenden könne, oft wolle er sich auch gar nicht von ihnen lösen. Zu Hause beschäftige Mark sich alleine, »wenn er es will«. Die Mutter nutzt die Momente, in denen Mark in eine Beschäftigung vertieft ist, um sich »davonzuschleichen«. Sie ertrage das Geschrei nicht, wenn sie dem Jungen klarzumachen versuche, dass sie sich entfernen müsse. Deshalb harre sie oft ungeduldig und verärgert neben Mark aus, bis er sie nicht mehr beachte. Manchmal habe sie das Gefühl, dass Mark
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Kapitel 16 • Entwicklungsgerechtes anklammerndes Verhalten und exzessives Klammern
sie absichtlich ärgern wolle. Erfreut, aber auch etwas verunsichert berichtet die Mutter, dass Mark, der »nie ein Schmusekind war«, momentan häufig körperliche Nähe suche. Am Rande erzählen die Eltern, dass Mark nur in ihrer Anwesenheit einschlafe und die zweite Nachthälfte im Elternbett verbringe, wodurch sie sich gestört fühlten. Vor allem die Mutter sieht sich unter Druck, was die Eingewöhnung bei der Tagesmutter angeht, weil sie wieder arbeiten möchte und den Beginn ihrer Berufstätigkeit mit ihrem Arbeitgeber terminiert hat: »Bis dahin muss das mit der Tagesmutter klappen.« Gleichzeitig fragen die Eltern sich, ob sie den Jungen überfordern. Bislang scheint Mark noch wenig Gelegenheit gehabt zu haben, Erfahrungen im Umgang mit Trennungssituationen zu sammeln. Die Eltern haben es im Alltag vermieden, klare Abgrenzungskontexte und für das Kind erkennbare Trennungssituationen herzustellen. Die Nähe-Distanz-Regulation erscheint noch nicht ausreichend abgestimmt zwischen Eltern und Kind. Mark bestimmte bislang, wann eine Distanz zwischen ihm und den Eltern entstehen durfte, die Eltern passten sich dem unter Zurückstellung eigener Bedürfnisse an. Das Finden eines guten Gleichgewichts zwischen Nähe, die Trost, Sicherheit und Beruhigung verspricht, und Autonomie, die eine Befriedigung von Neugier und Erfahrungszuwachs verheißt, ist Eltern und Kind noch nicht gelungen. Die Eltern bemerken in Zuständen emotionaler Ausgeglichenheit die Verunsicherung des Kindes. Sie ahnen, dass sich für Mark mit den von ihnen initiierten Trennungen eine Schwierigkeit auftut, die er noch nicht alleine bewältigen kann. Stehen die Eltern hingegen selbst unter Anspannung oder einem inneren Druck, ist ihnen eine solche Einfühlung schlechter möglich. Sie erleben Ärger, der vermutlich auch aus dem oftmaligen Verzicht auf eigene Wünsche zugunsten der vermuteten kindlichen Bedürfnisse gespeist wird. Die Eltern sehen Mark als Ursache ihres Ärgers und schreiben ihm eine gegen sie gerichtete Intentionalität zu. Die auch in diesem Fall berichteten Schlafschwierigkeiten sind häufig mit anklammerndem Verhalten assoziiert, da es auch dabei um Schritte der Ablösung, Abgrenzung und Trennung geht, die Eltern und Kind gemeinsam bewältigen müssen (s. auch 7 Kap. 14).
In der Beratung wird – nach einer Einschätzung des bisherigen Ablösungsprozesses – vereinbart, gemeinsam mit den Eltern individuelle Möglichkeiten zu erarbeiten, ihren Sohn in Trennungssituationen altersgerecht zu begleiten. Die Frage, was die Eltern Mark und sich zutrauen, steht zunächst im Vordergrund. Die Eltern formulieren, dass sie Mark nicht das Gefühl geben wollen, von ihnen im Stich gelassen zu werden. Sie bemerken, dass Mark noch sehr auf elterliche Unterstützung angewiesen ist, um sich zu beruhigen und sich sicher zu fühlen. Um den Eltern die schrittweise Reduktion ihrer noch intensiven Hilfen zu erleichtern und Mark gleichzeitig bei der Entwicklung personenunabhängiger Möglichkeiten der Selbstberuhigung zu fördern, wird die Einführung eines Übergangsobjektes angeregt. Es werden gemeinsam Proberäume im Alltag entwickelt, in denen Mark und die Eltern Erfahrungen mit Abgrenzungen und Trennungen sammeln können. Dazu gehört z. B. die Gestaltung von kleinen Abgrenzungs- und Wiedervereinigungssituationen im Alltag, die von den Eltern initiiert werden, und das Kenntlichmachen von Trennungen durch bewusstes Verabschieden, damit Mark sich auf die Situation einstellen kann. Die Antizipation möglichen Protestes von Mark senkt die Erwartungshaltung der Eltern und dient der Enttäuschungsprophylaxe. Da es vor allem der Mutter schwerfällt, sich von Marks Nähe suchendem Verhalten abzugrenzen, und sie seinen Forderungen oft ärgerlich und widerstrebend nachgibt, wird angeregt, dass der Vater in solchen Momenten seiner Partnerin den Rücken stärkt. Die zunehmende Klarheit der Eltern in Bezug auf Abgrenzungen, aber auch Näheangebote mit einem Verständnis für die noch bestehenden regulatorischen Schwierigkeiten des Kindes vermitteln Mark Sicherheit. Die Erfahrung, dass die Eltern weggehen, er sich aber durch eine klare Verabschiedung darauf einstellen kann und weiß, dass sie wiederkommen, führt bei Mark im Laufe von zwei Wochen zu einer deutlichen Abnahme von Protestgeschrei und Anklammern. Das Übergangsobjekt, das ihn über einige Wochen ständig begleitet, wird in ein Verabschiedungsritual bei der Tagesmutter eingebunden. Mit zunehmender Gewöhnung an die Abläufe rund um den Besuch bei der Tagesmutter verliert es an Bedeutung, begleitet Mark aber weiter und
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16.4 • Behandlungsansätze
»wartet« nach der Verabschiedung immer an der Garderobe auf ihn. Die Eltern berichten mit großer Zuneigung und Freude über Marks Entwicklung und äußern Stolz darüber, diese schwierige Zeit als Familie gemeinsam bewältigt zu haben. Sie trauen sich jetzt zu, zeitnah Veränderungen der Schlafsituation anzugehen.
16.4.3
Eltern-Kind-Psychotherapie
Reicht eine entwicklungspsychologische Information oder die psychosoziale Beratung nicht aus, um zu einer entscheidenden Veränderung der Symptomatik beizutragen, kann eine Eltern-Kind-Psychotherapie angezeigt sein. Eine beeinträchtigte oder verzerrte elterliche Wahrnehmung und Interpretation kindlichen Verhaltens stellt ebenso wie eine Generalisierung der Regulationsproblematik oder das Auftreten maladaptiver Interaktionsmuster eine Indikation dar (vgl. 7 Kap. 28). Anhand des Modells der Waage nach Cierpka u. Cierpka (2000) kann das Zusammenspiel zwischen elterlichen und kindlichen Autonomie- und Nähebedürfnissen in Bezug auf das Auftreten exzessiven Anklammerns betrachtet werden. Die zentrale Annahme ist, dass Eltern und Kind gemeinsam Einfluss auf das sich einstellende Gleichgewicht und damit auf die Ausgestaltung und Persistenz der sich manifest darstellenden Symptomatik nehmen. Sowohl die Eltern als auch das Kind werfen belastende Aspekte, aber auch Ressourcen in die Waagschalen (s. hierzu auch 7 Kap. 17, . Abb. 17.1). Anklammerndes Verhalten kann aus verschiedenen Konstellationen der Eltern-Kind-Dynamik rund um Autonomie und Verbundenheit entstehen: 1. Das Kind zeigt ein hohes Autonomiebedürfnis vor dem Hintergrund eines ausgeprägten Neugierverhaltens (»novelty seeking« nach Cloninger 1987; s. auch 7 Kap. 3). Im Zuge seines daraus resultierenden aktiven Explorationsverhaltens gerät es immer wieder in Überforderungssituationen und ist dann auf Beruhigung durch die Eltern angewiesen. Diese wiederholte Erfahrung kann dazu führen, dass das Kind sich vielleicht nicht mehr von den Eltern wegwagt, da es, um Sicherheit zu erleben, von
16
ihrer Nähe abhängig ist, aber die Eltern diese Nähe nicht aktiv anbieten. Es kann sich auch ergeben, dass Eltern das Explorationsverhalten des Kindes eng begrenzen, da die Beunruhigung des Kindes Angst in ihnen auslöst. 2. Das Kind reagiert ängstlich auf Neues (»novelty inhibited« nach Cloninger 1987, vgl. auch 7 Kap. 3) und bleibt lieber eng mit den Eltern verbunden. Auf Ermutigungen der Eltern, sich der Umwelt zuzuwenden, reagiert das Kind mit ängstlich-anklammerndem Verhalten. In Anpassung an die Signale des Kindes können die Eltern auch wenig autonomiefördernde Angebote machen und bleiben in einer Verklammerung mit dem Kind. 3. Die Eltern haben ein hohes Autonomiebedürfnis und wehren damit z. B. eigene Nähebedürfnisse ab. Sie wünschen sich ihr Kind unabhängig und abgelöst. Abgrenzungen und Trennungen finden von Elternseite forciert statt. Erlebt das Kind dadurch Überforderung und Angst, kann es mit einem verstärkten Anklammern an die Bindungspersonen reagieren. 4. Die Eltern genießen aufgrund eigener großer Nähebedürfnisse die enge Verbundenheit mit dem Kind. In den Eltern lösen Bewegungen des Kindes in Richtung Autonomie Angst aus, sie wollen es eng bei sich halten. Im Zuge einer interpersonellen elterlichen Abwehr durch projektive Identifikation erlebt das Kind die elterliche Angst als eigene Angst und reagiert mit vermehrtem Anklammern.
z
Fallbeispiel
Zunächst erscheint Frau W. allein mit dem 23 Monate alten Max in der Eltern-Säuglings-/KleinkindAmbulanz. Sie berichtet, dass Max zur Beruhigung mit den Händen an ihren Brustwarzen spielen wolle. Er fordert aus Sicht der Mutter die Brust in Situationen, in denen er verunsichert oder ängstlich ist – dann könne sie sein Bedürfnis nach Beruhigung nachvollziehen. Sie äußert: »Er hat halt auch nichts anderes als die Brust – einen Schnuller hat er noch nie genommen.« Die Mutter findet Max’ Verhalten zwar nachvollziehbar, aber inzwischen dennoch unpassend. Außerdem findet sie es übergriffig von Max, dass er sich an ihr »bedient«. Sie schildert,
260
Kapitel 16 • Entwicklungsgerechtes anklammerndes Verhalten und exzessives Klammern
Autonomie
Verbundenheit Frau W.
Max
. Abb. 16.1 Frau W. drängt Max in die Autonomie; er sucht nach mehr Nähe
16
dass sie unter wachsender Anspannung und Ärger, bisweilen sogar mit einem Ekelerleben ausharre, bis Max von ihr ablasse. Als besonders schwierig erlebe sie Situationen, in denen sie Max Grenzen setze, er seinen Ärger ihr gegenüber durch Schreien ausdrücke, gleichzeitig aber auch immer wieder nach der Brust verlange. Sie beschreibt eine Situation aus dem Alltag: »Wir waren in einem Spielwarengeschäft. Max fing an, ausgestellte Kartons auszupacken. Ich habe es ihm verboten und ihn auf den Arm genommen. Max fing an zu schreien, alle haben mich angesehen, und ich konnte dieses schreiende Kind nicht beruhigen! Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst. Ich habe auf ihn eingeredet, ihm irgendwelche Sachen versprochen. Aber er schrie nur ‚Brust! Brust!‘ Da bin ich unglaublich wütend geworden. Ich weiß gar nicht, wie wir aus dem Geschäft gekommen sind, ich erinnere mich nur, dass ich ihn draußen gepackt und angeschrien habe: ‚Was willst du eigentlich von mir? Lass mich doch einfach mal in Ruhe, ich bin doch dauernd nur für dich da!‘ Als wir wieder zu Hause waren, habe ich mich wahnsinnig geschämt, so die Kontrolle über mich verloren zu haben. Max war wie erstarrt, er hatte richtig Angst vor mir, glaube ich. Ich habe ihn lange im Arm gehalten, und als er da in mein Dekolleté gegriffen hat, habe ich ihn gelassen.« Im Konfliktgeschehen rund um Autonomie und Verbundenheit entspricht das Geschehen der unter 3. beschriebenen Konstellation (. Abb. 16.1). Max ist das zweite Kind der Familie. Nach langer ungewollter Kinderlosigkeit entschlossen sich die Eltern zu einer In-vitro-Fertilisation. Nach mehreren Fehlversuchen und einer Fehlgeburt
wurde die Mutter schwanger, Max’ älterer Bruder wurde geboren. Vier Monate nach der Geburt des ersten Kindes wurde eine erneute Schwangerschaft festgestellt. Die Mutter berichtet, dass sie dies völlig aus der Fassung gebracht habe, sie habe die Schwangerschaft nicht wahrhaben wollen und das Gefühl gehabt, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Sie habe immer schon nur ein Kind gewollt, traue sich auch immer noch nicht zu, zwei Kinder angemessen zu versorgen. Es scheint, als habe sie Max schon vor seiner Geburt angelastet, »übergriffig« zu sein, ihr Bedürfnis nach einem selbstbestimmten Leben und Unabhängigkeit zu torpedieren. Retrospektiv wird Max als exzessiv schreiender Säugling beschrieben. Auch hier erlebte die Mutter sich dem Kind ausgeliefert, da ihre Hilfsbemühungen nicht zur Beruhigung des Kindes führten (vgl. 7 Kap. 13). Sie habe bemerkt, dass körperliche Nähe zu einer Beruhigung des Kindes führte, und habe ihm dies auch angeboten, aber sie habe sich dazu »gezwungen« gefühlt. An schöne Kuschelmomente könne sie sich nicht erinnern, bis heute erlebe sie bei seinem Anblick oder im körperlichen Kontakt vor allem negative Gefühle: »Ich fühle mich, als müsste ich dann einen Schutzschild aufgeben, der mich zusammenhält und einigermaßen angstfrei leben lässt.« Die Mutter schildert, dass sie sich durch Max fremdbestimmt fühle, weil er ihr nicht den Abstand lasse, den sie brauche. Im Verlauf der Therapie nimmt auf Einladung der Therapeutin auch der Vater an den Begegnungen teil. Er erlebt Max in den von seiner Frau beschriebenen Situationen vor allem ängstlich und hilflos. Aus seiner Sicht steigert sich in diesen Situationen die Erregung von Mutter und Kind wechselseitig. Den häufigen Impuls, den Jungen in den Arm zu nehmen und zu beruhigen, unterdrücke er im Beisein seiner Frau, da diese dann völlig außer sich gerate. Frau W. wirft ihrem Mann vor, Max darin zu bestärken, dass er ein Recht habe, sie körperlich so zu bedrängen. Dies macht deutlich, wie verzerrt die Mutter ihr Kind wahrnimmt, dem sie ein hohes Maß an Intentionalität zuschreibt. Der Vater kann sich in Max einfühlen, dessen Beunruhigung in Abgrenzungssituationen mit der Mutter wahrnehmen und hat eine intuitive Idee zur Lösung, nämlich das Anbieten einer Beruhigungshilfe. Er stimmt sei-
261
Literatur
ner Partnerin zu, dass Max zu seiner Beruhigung noch nichts anderes als das Spielen an der Brust zur Verfügung habe. Daher sei Max aus seiner Sicht in unguter Weise an die Mutter gebunden. Es kann erarbeitet werden, dass Frau W. zum einen große Zweifel hat, dass ihr Mann Max beruhigen kann. Zum anderen hat sie Sorge, dass es ihm doch gelingen könne und sie dann an Bedeutung für Max verliere. Das hier sichtbare Gatekeeping-Verhalten der Mutter behindert das Nutzen väterlicher Ressourcen und die Gestaltung der Beziehung zwischen Vater und Sohn (vgl. 7 Kap. 9 u. 10). Es kann aus der Angst der Mutter, Kontrolle – in diesem Fall über die Beruhigung des Kindes – zu verlieren, verstanden werden. Die Mutter kann im Laufe der Therapie erarbeiten, dass Max mit Abgrenzungssituationen überfordert ist und körperliche Nähe sucht, um sich zu beruhigen. Das dadurch bewirkte bewusste Wahrnehmen eigener Nähewünsche löst bei der Mutter große Angst aus, die zu einer Verstärkung kontrollierender Verhaltensweisen führt. Frau W. begibt sich im weiteren Verlauf in eine einzelpsychotherapeutische Maßnahme. Unter Anerkennung der eigenen Belastung gelingt es ihr, Betreuungsaufgaben an ihren Mann abzugeben. Dieser ist gut in der Lage, Max’ Bedürfnis nach Nähe mit einer angemessenen positiven Ermutigung zur Exploration in Verbindung zu bringen. Fazit Die Gestaltung von Abgrenzungen im Zuge der Autonomieentwicklung im zweiten Lebenshalbjahr stellt sich als gemeinsam zu bearbeitende Anforderung an Eltern und Kind. Aufgrund der sich noch entwickelnden kindlichen Selbstberuhigungsfähigkeiten haben Eltern in einer Übergangsphase die Aufgabe, kindliche emotionale Zustände mitzuregulieren. Das Verständnis von anklammerndem Verhalten als zunächst adäquate kindliche Reaktion auf Angsterleben und Wege, personenunabhängige Kompetenzen der Selbstregulation zu erwerben, steht im Mittelpunkt von Beratungsansätzen. Frühkindliche Regulationsstörungen, Temperamentsfaktoren, eine mögliche Psychopathologie der Eltern sowie frühe Beziehungs- und Interaktionserfahrungen nehmen Einfluss auf den Verlauf.
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262
16
Kapitel 16 • Entwicklungsgerechtes anklammerndes Verhalten und exzessives Klammern
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263
Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten Manfred Cierpka und Astrid Cierpka
17.1
Definition von Trotz und Trotzanfällen – 264
17.2
Trotzen und emotionale Entwicklung – 264
17.3
Die Veränderungen in der Familie – 267
17.4
Entwicklungsangemessenes Trotzen – 269
17.4.1 17.4.2 17.4.3
Häufigkeiten – 269 Auslösesituationen – 269 Informationen und entwicklungspsychologische Beratung für die Eltern – 270
17.5
Exzessives Trotzen und persistierende Trotzanfälle – 270
17.5.1 17.5.2 17.5.3 17.5.4
Definition – 271 Häufigkeiten – 271 Schweregrad, beeinflussende Faktoren, Prognose – 271 Behandlungsansätze – 273
17.6
Kleinkinder mit aggressivem Verhalten – 275
17.6.1 17.6.2 17.6.3 17.6.4 17.6.5
Definition – 275 Diagnose – 276 Häufigkeiten – 276 Beeinflussende Faktoren, Prognose – 276 Interventionsansätze – 277
17.7
Zusammenfassung und Fazit – 280 Literatur – 281
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17
264
Kapitel 17 • Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten
Der Trotz erwächst aus Spannungszuständen, die für ein Kind unerträglich sind, meistens nach Frustrationen. Für die weitere psychische Entwicklung ist es entscheidend, wie gut es dem Kleinkind gelingt, sich in diesen emotionalen Krisen nicht nur auf die Koregulation der Eltern zu verlassen, sondern sich zunehmend selbst zu regulieren, und – für die Eltern formuliert – wie gut es den Bezugspersonen gelingt, dem Kleinkind den Übergang von der dyadischen Regulation zur Selbstregulation seiner (manchmal auch heftigen und negativen) Emotionen zu ermöglichen. Wenn es dem Kleinkind und den Bezugspersonen »genügend gut« gelingt, sprechen wir von »normalem« Trotz und »normalen« Trotzanfällen in dieser Entwicklungsphase des zweiten und dritten Lebensjahres. Wenn das Trotzen exzessiv wird und vor allem persistiert, sind die Interaktionen und die Beziehungen zwischen Eltern und Kind belastet. Dies wird in 7 Abschn. 17.5 diskutiert. Kinder, die aggressives Verhalten zeigen und Regeln nicht einhalten können (was von den Eltern meistens als Ungehorsam empfunden wird), werden in 7 Abschn. 17.6 besprochen.
17.1
17
Definition von Trotz und Trotzanfällen
Das Trotzen (semantisch mit »trutzen«, »Trutzburg« etc. verwandt) des Kleinkinds ist meistens eine Reaktion auf eine entweder selbst initiierte oder von einem anderen ausgelöste Frustration. Trotzen ist beim Kind nicht von einer Absicht getragen, sondern oft Ausdruck des Nichtgelingens der emotionalen Regulation von Frustration. Charakteristisch ist der momentane und temporäre Verlust des Kontaktes zur Umgebung. Das Kind ist »drausgebracht« (Metzger 1972), »aus der Bahn geworfen«. Der Trotzanfall verläuft in Phasen: 1. Auslösesituation. 2. »Kurzschlussreaktion«, das Kind »steht neben sich«. Das sich verweigernde Verhalten geht vom verbalen »Nein!« und »Will nicht!« bis zum Kreischen und Schreien, schließlich Weinen und Wimmern. Am Ende steht die totale Erschöpfung des Kindes.
3. Das Drama geht zu Ende. Das Kind fühlt Erleichterung. Es sucht die Nähe von Mutter bzw. Vater. 4. Nach einem »Anfall« kommt es häufig vor, dass sich das Kind nicht mehr erinnert, was es eigentlich ursprünglich wollte. Trotz sollte nicht verwechselt werden mit anderen Formen des Nichtfolgenwollens. Der Ungehorsam gehört zum oppositionellen Verhalten und wird in 7 Abschn. 17.6 besprochen. Manchmal handelt das Kind vernünftiger als ein Erwachsener, wenn es scheinbar ungehorsam ist, sich also willentlich verweigert. Es kann auch sein, dass es wegen Scheu oder Gehemmtheit mit Verweigerung reagiert.
17.2
Trotzen und emotionale Entwicklung
Freud (1905) beschrieb in seinen triebtheoretischen Überlegungen, wie die anale Phase der sexuellen Entwicklung mit der Zunahme des eigenen Willens und der Kontrolle einhergeht. Heute steht die sich entwickelnde Fähigkeit zur Emotionsregulation im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Untersuchungen. Trotz oder gar Trotzanfälle sind mit heftigen Emotionen verbunden. Phänomenologisch hat der Trotzanfall des Kleinkinds Ähnlichkeit mit dem wütenden, nicht immer sehr rationalen Protest des Jugendlichen oder später der »blinden Wut« des Erwachsenen. Heftige Emotionen geraten außer Kontrolle. Als Emotionen/Affekte (in Bezug auf das frühe Kindesalter synonym verwendet) werden angeborene psychobiologische Reaktionsformen des Organismus beschrieben. Affekte dienen der Erfahrungsintegration, der Informationsverarbeitung und der Handlungsregulation. Nach der Bewertung einer Situation bereiten sie den Organismus durch Aktivierung psychophysiologischer Systeme und Handlungsbereitschaften auf ein Ereignis vor (funktionaler Aspekt). Affekte sind im sozialen Kontext darüber hinaus interaktive Signale (soziale Kommunikation), die ganz wesentlich den Dialog steuern (Krause 2002). Alle Emotionen sind Ausdruck von Erregung oder »Spannung«. Ob und wie sich eine Emotion
17.2 • Trotzen und emotionale Entwicklung
ausdrückt, ist vom Entwicklungsstand und dem situativen Kontext abhängig. Beides ändert sich mit dem Alter. Im zweiten Lebensjahr beginnt eine sprunghafte Entwicklung der kindlichen Autonomie, verbunden mit der Herausbildung des Selbst und der Entwicklung eines Selbstgefühls. Mehrere Entwicklungen in dieser dritten Transformationsphase fördern die Autonomie des Kleinkindes und gehen mit diesen emotionalen Herausforderungen einher (nach Sroufe 1995). Motorische und kognitive Reifung Die motori-
sche und kognitive Reifung führt zu größerer Unabhängigkeit. Das Laufenlernen bedeutet neue motorische Möglichkeiten. Das Kind kann jetzt seine Distanz zum Erwachsenen selbst regulieren. Das Kleinkind kann sich sogar außer Sicht der Erwachsenen begeben. Der beginnende Spracherwerb führt zu Willensbekundungen wie »Ja« oder »Nein« bzw. »Ich, ich«. Das Kind kann seinen Willen ausdrücken. Entwicklung des Selbstgefühls Das Kind wird sich seiner selbst bewusst. Viele psychoanalytische Säuglingsforscher beschrieben diese Phase der Selbstwerdung. Das Auftauchen des Selbst (Stern 1992) bzw. die verstärkte Individuation nach der symbiotischen Phase (Mahler et al. 1975) sind eine weitere Stufe in der Bildung des Selbst. Diese Stufen gehen nicht nur mit der Bewusstheit des entstehenden Selbst einher. In einem dialektischen Entwicklungskonzept gehen die Säuglingsforscher davon aus, dass das Selbst nicht nur entsteht, sondern auch motiviert ist zu handeln, was wiederum zur Entwicklung des Selbstgefühls beiträgt. Ich-Bewusstsein und Empathiefähigkeit Mit dem auftauchenden Selbst erkennt sich das Kind als eigenständige Person. Mit dem Rouge-Test konnte Amsterdam (1972) erstmals zeigen, dass 22 Monate alte Kleinkinder sich in der Regel selbst erkennen können. Sie können mit großer Sicherheit sagen, dass der Rougefleck auf ihrer Stirn, den sie im Spiegel sehen, zu ihnen gehört und nicht ein Fleck im Spiegel ist. Kinder, die jünger als 16 Monate sind, können dies meistens noch nicht. Das erwachende Ich-Bewusstsein geht mit der Entwicklung der Empathie (vgl. 7 Kap. 2) einher. Bischof-Köhler
265
17
(1989, 1994) konnte in experimentell angelegten Studien zeigen, dass Kinder, die sich ab dem 19. Monat selbst im Spiegel erkennen können, Empathie entwickeln und zunehmend fähig sind, prosoziales Verhalten zu zeigen. Bischof-Köhler (2001, S. 321) hebt hervor, dass es sich bei Empathie um eine primär emotionale Reaktion handelt, bei der die Erkenntnis in der Qualität des empathischen Empfindens selbst liegt, indem das mitempfundene Gefühl auf den anderen bezogen bleibt, gleichsam im Du verankert ist. Empathie tritt im zweiten Lebensjahr als Kompetenz auf, die es erlaubt, Einsicht in die subjektive Verfassung einer anderen Person zu gewinnen. Ein gutes »reflective functioning« der Bezugspersonen (Fonagy u. Target 2004) hilft dem Kind, die Erfahrungen in einem Prozess der Mentalisierung mit Sinn und Bedeutung in die eigene Welt zu integrieren. Präzisere Wahrnehmung des anderen Mit dem zunehmenden Selbsterkennen geht auch eine präzisere und komplexere Wahrnehmung des anderen einher. Wolf (1990) beschreibt drei Phasen in der komplexer werdenden Objektwahrnehmung: Zwölf Monate alte Kinder können schon feststellen, dass andere Dinge tun, die ihnen nicht gelingen. Später im zweiten Lebensjahr lernen sie zunehmend, zwischen sich und anderen zu unterscheiden. Aber erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres können sie sicher zwischen dem unterscheiden, was sie selbst tun, und dem, was die anderen machen. Wenn sich die Repräsentanzen des Anderen und des Selbst entwickeln, lernt das Kind zu symbolisieren und wird zunehmend von der unmittelbaren Anwesenheit anderer unabhängiger. Mit der Entwicklung der inneren Welt hat das Kind eine innere Probebühne für seine Wünsche und intendierten Handlungen zur Verfügung. Grenzen und Regeln Einhergehend mit den neuen autonomen Funktionen wird das Kind mit Grenzen, Regeln, Standards der Erwachsenen konfrontiert. Das »Nein« der Eltern speist sich nicht nur aus dem Sicherheitsdenken für das Kind. Erste pädagogische Haltungen und Handlungen vermitteln auch die Werte der Eltern. In der Regel beginnen die Kleinkinder in der Mitte des zweiten Lebensjahres zu verstehen, was verboten und was erlaubt
266
Kapitel 17 • Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten
ist. Wenn es den Eltern gelingt, dem Kind durch freundliches, konsistentes Überzeugen die Regeln zu vermitteln, und die Kinder dem elterlichen Verhalten folgen (»commited compliance«, nach Kochanska et al. 2001), werden die familiären Regeln und Grenzsetzungen internalisiert, was wiederum die selbstregulatorische Kompetenz des Kindes erhöht. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres erkennt es die negativen Emotionen der Eltern und kann auch mit Angst oder Ärger reagieren, wenn es selbst etwas Verbotenes tut. Die Bewertung des eigenen Verhaltens aus der Perspektive der sozialen Umwelt entsteht. Man kann diese Entwicklung des eigenen Willens am Beispiel des Neinsagens nachzeichnen: 5 1. Schritt: Der Säugling reagiert auf das Nein als Geste oder Wort zunächst nur rein funktional. In der Regel folgt er dem Hinweis der Person mit der größeren Erfahrung. 5 2. Schritt: Die funktionale Bedeutung des Neins wird im Trotzalter erweitert durch eine personale Bedeutung für das Kind im Sinne von »Du störst mich jetzt in meinen Absichten!« 5 3. Schritt: Es entwickelt sich die kognitive Fähigkeit, sich einer Dilemmasituation bewusst zu sein: der Ambivalenz zwischen Impulsdurchsetzung und Inkaufnahme von Trennungsangst bei Trennung von der Bezugsperson. 5 4. Schritt: Das Kind wagt das Nein zu sich selbst, wenn eine gute Beziehung zur Mutter/ zum Vater besteht. 5 5. Schritt: Das Kind verinnerlicht das Nein der Eltern und macht es zu seinem eigenen Nein.
17
Scham und Stolz Die zunehmende Selbstwahrnehmung, die Differenzierungsmöglichkeit von Selbst und Objekt und die erhöhte Fähigkeit, mit Erregung umgehen zu können, führen dazu, dass die Kleinkinder Emotionen wie Freude und Wut heftig ausdrücken können, ohne sofort die Kontrolle zu verlieren. Es kommen aber auch neue Gefühle wie Scham und Stolz hinzu, weil das Kleinkind sich inzwischen seiner selbst mehr bewusst ist. Das Aufkommen von Scham ist erst dann möglich, wenn das noch fragile Selbst sich den eigenen (oder fremden) Anforderungen nicht gewachsen sieht und von sich
selbst enttäuscht ist. Stolz auf etwas Erreichtes oder eine neue Erfahrung ist ebenfalls sehr besonders in diesem Alter. Manchmal wird dadurch aber auch die auffällig große Enttäuschung und Beschämung gebahnt, wenn der emotionale Switch vom stolzen zum frustrierten Kind dessen Kapazitätsreserve an Erregungsmodulation überfordert. z
Von der interaktionellen zur intrapsychischen Regulation der Emotionen
Vor allem Schore (1994) hat beschrieben, dass diese psychologischen Entwicklungen mit hirnstrukturellen und neurohumoralen Veränderungen beim Kleinkind einhergehen. Neben der Entwicklung des orbitopräfrontalen Cortex, dem überwiegend hemmende Funktionen zugeschrieben werden, ist offensichtlich die Reifung und hierarchische Integration des limbischen Systems entscheidend. In der Folge entsteht in diesem Alter eine Balance zwischen dem sympathisch erregenden und dem parasympathisch hemmenden zentralen Nervensystem (vgl. 7 Kap. 1). Das sich differenzierende kindliche Gehirn unterstützt die Sozialisation, gleichzeitig stimulieren die neuen Umgebungsbedingungen die Reifung der entsprechenden Hirnareale. Mehrere Studien (Sroufe 1983, 1995; Spangler 1989) belegen, dass es überwiegend nicht an den Temperamentsmerkmalen des Kindes liegt, sondern an der Funktionalität der Interaktion und Passung zwischen Eltern und Kind, wie diese Entwicklungen, die mit starken Emotionen einhergehen, gemeistert werden. Die Eltern sind in besonderer Weise gefordert, in Zeiten von emotionalen Krisen, wie z. B. beim Trotzen und bei Trotzanfällen, dem Kind temporäre Hilfestellungen zu geben. So lernt es, mit der Erregung fertig zu werden, ohne dass dies mit einem negativen oder gar beschämten Selbstbild einhergeht. Und es weiß, dass negative Gefühle akzeptiert werden können, ohne dass man Angst haben muss, den sicheren Hafen zu verlieren. Im zweiten Lebensjahr kann das Kleinkind sowohl die positiven als auch die negativen Emotionen schon besser ausdrücken. Dieser neue Entwicklungsschritt geht mit der Notwendigkeit einher, Emotionen zu kontrollieren und sie kontextabhängig zu modulieren. Die Entwicklung der Emotionen verläuft in differenzierbaren Stufen von anfänglich überwiegend interaktioneller Regula-
267
17.3 • Die Veränderungen in der Familie
tion beim Säugling in den ersten Lebensmonaten über Phasen, in denen das Kind zunehmend aktiver und gezielter an der interpsychischen Regulation teilnimmt, bis zum Übergang von der interpsychischen zur intrapsychischen Regulation im späten Kleinkind- und Vorschulalter. Während sich der Säugling im ersten Lebensjahr auf eine interaktionelle, meistens dyadische Regulation seiner Emotionalität durch die Bezugspersonen (Koregulation) stützen kann, entwickelt sich das Kind nach der Säuglingszeit durch seine zunehmende Autonomie aus der dyadischen Beziehung heraus. Nach und nach wird die dyadische Regulation durch die Selbstregulation der Emotionen abgelöst. Für eine gelingende Entwicklung der Selbstregulation im Kleinkindalter ist aber die sichere und unterstützende Bezugsperson nach wie vor notwendig. Zwar ist das Kleinkind schon in vielen Fällen in der Lage, mit seinen emotionalen Erregungen selbst fertig zu werden, doch in dieser Kontinuität gibt es immer wieder Einbrüche, und das Kind benötigt kurzfristig wieder die Unterstützung der stabileren Bezugsperson, insbesondere dann, wenn es frustriert ist und z. B. den emotionalen »Switch« von großem Stolz zu bitterer Enttäuschung nicht bewältigen kann. Das Kind ist für diesen Entwicklungssprung gut gerüstet. Die emotionale Entwicklung kann unmittelbar aufbauen auf dem »affective attunement« in der Face-to-face-Interaktion in den ersten Lebensmonaten (Stern 1992; Beebe et al. 2010), in dem die Mutter das empfindet, was das Kind im Moment wohl fühlt. Bei Gergely (Gergely u. Watson 1996; Gergely 1998) geht dieses »affective attunement« mit dem Erwerb der empathischen Fähigkeit einher. Durch Affektspiegelungen »markiert« die primäre Bezugsperson affektive Reaktionen des Kindes und wiederholt diese als Spiegelungen. Der Ausdruck des Kindes wird von der Mutter übertrieben dargestellt und transformiert. Insofern geht das »Spiegeln« der Mutter über das Spiegelbild, das nur das Gleiche darstellt, hinaus. Wichtig bei diesen Affektspiegelungen sind ein konsistentes und immer wieder Inkonsistenzen reparierendes Verhalten der Bezugspersonen (Tronick 1989) und eine tragfähige Hintergrundbeziehung. Negative Affekte des Kindes können »verdaut« werden, wenn sie von der Mutter aufgenommen und in einer verträglichen
17
Form wiedergegeben werden können. Außerdem kann das neue Autonomiebedürfnis auf den Erwerb innerer Bindungsrepräsentanzen bauen, die dem Kind eine basale Sicherheit für die anstehenden emotionalen Turbulenzen geben. Neugierige Exploration von unbekanntem (auch emotionalem) Terrain ist nur möglich, wenn eine sichere Basis vorhanden ist. Auf diesem Hintergrund kann das Kind erfahren, dass sehr spannungsreiche, manchmal auch negative, Emotionen möglich sind, die akzeptiert werden, wenn sie kontrolliert werden können. Wenn das Kind Gehör und regulatorische Unterstützung bei seinen positiven und negativen hochemotionalen Affekten findet, wird die Nähe zur Bezugsperson zu einer festeren Basis. Insofern werden im zweiten Lebensjahr die Bindungsstrategien erweitert. Die größere Autonomie führt zu einem neuen Bedürfnis nach Wirkmächtigkeit. Das Kind freut sich auf neue Herausforderungen und ist stolz über eigene Leistungen. Die Zunahme der eigenen Kompetenzen führt zu größerem Unabhängigkeitsstreben, es will jetzt mehr selbst machen oder auch selbst haben. Diese Zunahme des Ich-bewussten Wollens (Bischof-Köhler 1998) führt in den Interaktionen mit den Eltern oder auch Gleichaltrigen zu einer größeren Selbstbehauptungstendenz, die durchaus konflikthaft sein kann. Gegenüber den Eltern bedeuten die neuen Freiheiten auch neue Verunsicherungen. Die Unabhängigkeitstendenzen aktivieren Trennungsängste. Da das Kind vielen Herausforderungen noch nicht gewachsen ist und manchmal auch in seiner Sicherheit gefährdet ist, bleibt es immer noch abhängig von der Hilfestellung und den Grenzsetzungen der Eltern. Zusammengefasst: Im zweiten Lebensjahr geht es nicht mehr um Autonomie oder Nähe und Verbundenheit, sondern um Autonomie in Balance mit Verbundenheit.
17.3
Die Veränderungen in der Familie
Eine (wiedergewonnene) Lust an der Selbstentfaltung findet sich aber auch bei den Eltern nach der sogenannten Nestphase, die für sie – was das Partnerschaftsleben anbetrifft – auch eine Zeit der Ein-
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17
Kapitel 17 • Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten
schränkungen darstellt. Die Nestphase, die durch große Nähe und Kohäsion charakterisiert ist, wird langsam abgelöst. Jetzt kommen z. B. Babysitter häufiger zum Einsatz. Wenn beide Eltern berufstätig sind, wird über eine Tageskrippe oder eine Tagesmutter nachgedacht. Die Rückkehr zu größerer Autonomie erfordert Veränderungen im Beziehungssystem. Die Eltern werden vom Kind zunehmend auch in ihrer erzieherischen Kompetenz herausgefordert. Sie müssen deutlicher als zuvor ihre Rollen als Eltern übernehmen, ihre Regeln abstimmen und gegenüber dem Kind vertreten. Häufig werden auch die Beziehungen zu den eigenen Ursprungsfamilien neu formuliert. Diese müssen in die Großelternrolle hineinwachsen und werden dann oftmals in die Erziehungsfunktion integriert. Scheitern die Eltern in ihren Möglichkeiten, die individuellen und familiären Entwicklungsbestrebungen in eine strukturelle Veränderung der Kommunikationsformen, der Rollenverteilung und des affektiven Austauschs zu transformieren, können Probleme bzw. Symptome entstehen. Es ist also auch für die Eltern eine Zeit der Transformation, die mit Labilisierungen und Krisen einhergehen kann. In der Phase der zunehmenden Autonomie müssen sich Eltern in besonderem Maße in das »Paradox der Entwicklung« (Trad 1993, S. 23) einfühlen können: Führt einerseits der Erwerb der neuen Kompetenzen im »System Eltern und Kind« zu einem stärkeren Gefühl der Verbundenheit und Intimität, kommt es andererseits entwicklungspsychologisch beim Kind und lebenszyklisch bei den Eltern zu einer verstärkten Autonomie und damit Abgrenzung voneinander. Wenn sich das System an dieses Beziehungsparadoxon anpassen kann, wird dem Kleinkind ein weiterer entwicklungspsychologischer Schritt zur Objektkonstanz und werden den Eltern neue Beziehungsqualitäten in der Partnerschaft ermöglicht. Kinder brauchen in dieser affektiv schwierigen Phase stabile Bezugspersonen, die sich abstimmen und absprechen können. In dieser sensiblen Phase des immer häufiger werdenden aggressiven Verhaltens benötigen Kinder Eltern, die die phasentypischen Schwierigkeiten aus der kindlichen Perspektive empathisch betrachten können. Die Erfahrungen der Beteiligten in den Eltern-Kind-Interaktionen führen zu einem intersubjektiven System,
Autonomie
Verbundenheit Eltern
Kind
. Abb. 17.1 Idealtypische Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit bei Eltern und Kind
das durch die Erfahrenswelt im Umgang mit Macht und Ohnmacht, Kontrolle und Unterwerfung hergestellt wird. Die Verinnerlichung dieses intersubjektiven Systems erweitert die von Stern (1992) beschriebenen »relational patterns« um von Macht/ Ohnmacht determinierte Objektbeziehungsmuster und entsprechende Übertragungsbereitschaften. Wenn diese Integration von neuen Erfahrungen nicht gelingt, kann dies zur Entstehung von ElternKind-Konflikten beitragen, die zur Manifestation von Symptomen wie überstarker Trennungsangst oder zu oppositionellem Verhalten beim Kind und zu Distanzierungs- bzw. Bindungsbestrebungen der Eltern führen können. In unserem Behandlungsmodell (Cierpka u. Cierpka 2000; s. auch ◉ Abb. 17.1) verstehen wir Autonomie/Abgrenzung und Intimität/Verbundenheit als die beiden Schalen einer Waage, auf die die Eltern mit ihren unbewussten und bewussten Erwartungen und Projektionen Lasten verteilen und so das Gleichgewicht beeinflussen. Ein Kind zieht mit seiner Autonomietendenz bzw. seiner Tendenz zur Verbundenheit von unten an einer Waagschale. In . Abb. 17.1 ziehen bzw. drücken Kind und Eltern gleichermaßen an bzw. in die Waagschalen von Autonomie und Verbundenheit (die Vektoren sind gleich lang). In den allermeisten Fällen werden die Waagschalen jedoch auf unterschiedlicher Höhe liegen und die Vektoren unterschiedlich lang sein. Eltern können mit ihren negativen frühen Erfahrungen, die sie selbst zu einer forcierten Selbstständigkeit zwangen, durch (unbewusste) Erwartungen an das Kind in die Waagschale drücken. Kinder mit »Novelty-seeking«-Temperament (Kagan 1997, vgl. 7 Kap. 3) können eine Autonomietendenz haben und ziehen dann die Waagschale links nach
269
17.4 • Entwicklungsangemessenes Trotzen
unten. Auf der anderen Seite können Eltern, die in ihrer Kindheit ängstlich gebunden waren, diese Verbundenheit auch von ihrem Kind erwarten und dadurch in die rechte Waagschale drücken. Aber auch ein Kind kann durch ein eher gehemmtes Verhalten (»novelty inhibited«) an der Waagschale rechts ziehen. Wenn die Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit gestört ist und die Waage zu einer Seite kippt, löst dies beim Kind Trennungs- bzw. Selbstverlustängste aus. Dann muss es befürchten, im Nähe-Distanz-Konflikt entweder durch forcierte Autonomie das Objekt zu verlieren oder bei zu großer Verbundenheit mit dem Objekt zu verschmelzen und das Selbst zu verlieren. Da viele Eltern Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen, oft verbunden mit Gewalterfahrungen, gemacht haben, gibt es eine zweite Waage, die aus den Waagschalen Täter/Macht und Opfer/Ohnmacht gebildet wird. Die die Nähe-Distanz-Konflikte überlagernde Macht-OhnmachtsDynamik führt oft zu Eskalationen in der ElternKind-Dynamik. Therapeutisch geht es meistens um die Bearbeitung der Trennungsängste oder Kontrollverlustängste, die sich bei den Eltern aus ihren Vorgeschichten ergeben.
17.4
Entwicklungsangemessenes Trotzen
17.4.1
Häufigkeiten
Angelehnt an die amerikanische Einteilung von Kindheit, sind mit Kleinkindern (»toddler«) im Folgenden 13 bis 36 Monate alte Kinder gemeint. Bei fast allen Kindern ist das Trotzen ein entwicklungsbedingtes Durchgangsphänomen. Goodenough (1931) untersuchte als Erste seine Dauer und die auslösenden Bedingungen bei null bis sieben Jahre alten Kindern. Offenbar gibt es hinsichtlich des normalen Trotzens keine Häufigkeitsunterschiede bei Jungen und Mädchen (Potegal u. Davidson 2003; Österman u. Björkquist 2010). Bei der Mehrzahl der Kinder fängt der Trotz zwischen dem 15. und 19. Lebensmonat an. Die Spanne des Auftretens von Trotz ist groß und erstreckt sich vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr. Wenn das Trotzen darüber hinausgeht und die Trotzanfälle
17
persistieren, ist das Trotzen meistens mit oppositionellem Verhalten verbunden. Zum normalen Trotzen gehören auch entwicklungsangemessen erste körperliche und verbale Aggressionen. Aggressive Verhaltensformen zeigen bis zu 80 % der Kinder im Alter von 12 bis 17 Monaten: 70 % aller Kinder nehmen einem anderen ein Spielzeug weg, 46 % schubsen und stoßen andere, 21 bis 27 % beißen, kratzen, treten, schlagen und ziehen an den Haaren (Tremblay 1999). Der Häufigkeitsgipfel liegt bei den Zweijährigen. Diese Aggressionen gehören zur normalen Entwicklung von Jungen und Mädchen. Auch Trotzanfälle gehören zum normalen Spektrum in diesem Alter. Belsky et al. (1996) fanden in einer unausgelesenen Stichprobe von 15 bis 21 Monate alten erstgeborenen Jungen immerhin bei 62 % Trotzprobleme, Österman u. Björkquist (2010) bei bis zu neun Jahre alten Kindern eine Rate von 87 %. Die Trotzanfälle dauern meistens zwischen 30 Sekunden und 5 Minuten, bei exzessivem Trotzen auch länger. In mikroanalytischen Studien der Abläufe von Trotzanfällen fanden Potegal und Mitarbeiter (Potegal u. Davidson 2003; Potegal et al. 2003) typische Phasen von hoher Wut am Anfang und Schreien, Weinen und Klammern gegen Ende des »Anfalls«. Das Trotzverhalten nimmt üblicherweise im vierten Lebensjahr an Frequenz und Intensität ab (Potegal et al. 2003; Macfarlane et al. 1954), was mit dem zunehmenden Spracherwerb in Verbindung gebracht wird (Dionne et al. 2003). Es gibt Hinweise, dass Trotzanfälle bei Kindern ein universelles Problem sind. Sie wurden auch in Indien (Bhatia et al. 1990), in Peru bei den Indios (Johnson 2003), in Japan (Tomm u. Suzuki 1990) und in Zentralafrika (Fouts et al. 2005) beschrieben. Kulturelle Unterschiede im Umgang damit sind sehr wahrscheinlich.
17.4.2
Auslösesituationen
Frustrationen ergeben sich im Alltag. Sie werden ausgelöst, weil ein Kind in seinem Vorhaben gestört wird, seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden oder es sich selbst in seinem Vorhaben übernommen hat und von sich selbst enttäuscht ist. Es handelt sich um alltägliche Konflikte zwischen kindlichem Wunsch und elterlichen Absichten. Müdigkeit oder
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Kapitel 17 • Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten
Hunger können dazu beitragen, dass die Spannungstoleranz für das Meistern der Frustration zusätzlich vermindert ist. Beispiele: 5 Ein Kind ist ins Spiel vertieft und rastet aus, wenn die Eltern sagen: »Komm, wir müssen los.« 5 Anziehen, Waschen, Zähneputzen wird als Akt elterlicher Machtausübung empfunden. 5 Das Kind trödelt beim Anziehen, und die Eltern drängeln. 5 Das Kind lässt sich im Auto nicht festschnallen, obgleich seine Sicherheit dies erfordert. 5 Die Eltern wollen das Kind im Kindergarten abholen, das Kind möchte gern noch bleiben. 5 Die Kinder sind müde und wollen trotzdem nicht ins Bett. Meistens tritt das Trotzen in vertrauter Umgebung auf, manchmal aber auch in öffentlichen Situationen. Dann kann es wegen der Beschämungssituation für die Eltern besonders belastend sein. Interessanterweise tritt der Trotz in Gegenwart von Erwachsenen, jedoch nicht bei gleichaltrigen Kindern auf. Als zentralen Konflikt kann man das Pendeln zwischen Individuation und Abhängigkeit feststellen. Das Kind kann und will, aber dann erfährt es, dass es eben noch nicht (alles) kann, und es kann noch nicht so, wie es gerne will oder möchte. Und es fehlt ihm an Ausdauer und Geduld, obwohl es schon vieles kann.
17.4.3
17
Informationen und entwicklungspsychologische Beratung für die Eltern
Eltern sollte man Mut machen, dass das Trotzen ein vorübergehendes Phänomen ist. Eltern brauchen für die Trotzphase Geduld und Gelassenheit. Sie benötigen auch eine gewisse Geschicklichkeit und Fantasie, um die Kinder in ihrem Aufmerksamkeitsfokus abzulenken. Wenn das Kind nicht durch sein reizsuchendes Verhalten überstimuliert ist, hilft meistens ein neuer, spannender Reiz, um mit dem Kind aus der Situation zu entfliehen. Plötzlich sind Schmerz und alle Wut wie weggeblasen. Eltern müssen eine Haltung zum Kind aufbauen und
Lösungen für Konfliktsituationen entwickeln. Deshalb ist es auch sehr ratsam, mit den immer wiederkehrenden Konfliktsituationen vorausschauend umzugehen. Eltern hilft auch eine Neugier auf Grenzerfahrungen. Wenn sie dem Trotzen als kindlicher Machtdemonstration etwas abgewinnen können, halten sie selbst mehr Spannung aus. Ein Interesse an den »großen Gefühlen« wie Stolz und Wut überbrückt anstrengende und belastende Phasen in der Beziehung. > Es ist wichtig, dass Eltern verstehen, dass das trotzige Verhalten ihres Kindes keine Ablehnung bedeutet. Es kann in dieser Situation (noch) nicht anders. Das trotzende Kind liebt seine Eltern und möchte im »Anfall« das Gefühl erfahren, auch mit heftigen, unkontrollierten und manchmal auch sehr wütenden Emotionen angenommen zu sein. Insofern ist Trotz vom Ungehorsam klar zu unterscheiden. Normaler Trotz geht nicht mit einer ADHS einher.
17.5
Exzessives Trotzen und persistierende Trotzanfälle
Fallbeispiel Frau F. kommt mit ihrem 20 Monate alten Sohn Julian, weil dieser immer wieder »ausrasten« würde. Das komme zwei- bis dreimal am Tag vor. Die Anlässe seien meistens nichtig. Er wolle dann einfach nicht so, wie sie wolle. Wenn sie z. B. darauf bestehe, dass jetzt Essenszeit sei, er aber noch weiterspielen wolle, fange er an zu toben. Er werfe dann Spielsachen in seinem Zimmer herum und schlage und trete mit Fäusten und Füßen gegen die Wand oder die Tür. Wenn sie ihn beruhigen wolle und auf ihn zugehe, schlage er auch sie. Er sage dann zu ihr: »Geh weg!« Hinter verschlossener Tür beruhige er sich dann langsam. Besonders das abendliche Einschlafen sei schwierig. Julian schlafe, begleitet von langwierigen Ritualen und Geschrei, nur auf dem Arm ein. Erst dann könne er ins Bett gelegt werden. Wenn Julian einen seiner »Anfälle« habe, werde sie nach wenigen Minuten so wütend, dass sie Angst
271
17.5 • Exzessives Trotzen und persistierende Trotzanfälle
vor sich selbst bekomme. Dies sei der vorrangige Grund, weshalb sie jetzt um Hilfe nachsuche. Bislang habe sie ihre Wut und Ohnmacht immer »heruntergeschluckt«, sie sei jetzt aber am Ende mit ihrer Kraft.
17.5.1
Definition
Unangemessen häufiges, lange anhaltendes und intensives Trotzen, das manchmal wie ein »Trotzanfall« erscheint, belastet das Kind und die Eltern. In den Trotzphasen ist das Kind hoch erregt, zornig und neigt zu aggressiven, (auto-)destruktiven Handlungen. Es ist »außer sich« und kann sich nicht beruhigen. Oft kommt es zu aggressiven Handlungen des Kindes gegenüber Objekten oder häufiger Personen. Das Kind beißt z. B. ein anderes Kind in der Kinderkrippe oder lässt keine Gelegenheit aus, jüngere Geschwister zu schubsen oder zu treten. Manche Kinder schlagen in einer autodestruktiven Handlung den Kopf gegen die Wand oder den Boden. Dieses aggressive Verhalten kommt bei fast allen Kindern im Trotzalter vor und nimmt zunächst zu und dann wieder ab. Exzessives Trotzen muss nicht pathologisch sein. Wenn allerdings den Eltern die emotionale Regulation des Kindes in diesen Krisen nicht gelingt, persistiert die maladaptive Interaktion. Dann besteht das Risiko, dass das exzessive Trotzen später in oppositionelles Verhalten übergeht.
17.5.2
Häufigkeiten
Exzessives Trotzen und häufige, lang anhaltende Trotz-»Anfälle« sind bei Kindern im Alter zwischen 15 und 30 Monaten der häufigste Anlass für eine Beratungsanfrage. In unserer Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Sprechstunde am Universitätsklinikum Heidelberg (vgl. 7 Kap. 30) stellen 27 % der Eltern ihr Kind wegen exzessiven Trotzens und häufiger und intensiver Trotzanfälle vor. Exzessives Trotzen – von Needlman et al. (1991) mit mindestens drei Trotzanfällen pro Tag von jeweils mindestens 15 Minuten Dauer definiert – fanden Needlman und Kollegen bei 6,8 % der untersuchten Dreijährigen. Andere Studien zeigen ein Range von 5 % bis 20 %
17
(Chamberlin 1974; Macfarlane et al. 1954; Richman et al. 1982). In dieser Gruppe leiden Jungen häufiger als Mädchen unter exzessivem Trotzen (Ounstedt u. Simons 1978). Bei 17 Monate alten Kindern tritt das Trotzen bei 80 % auf, es hat einen Häufigkeitsgipfel bei den Zweijährigen und geht dann bis zum Alter von fünf Jahren langsam zurück (Shaw et al. 2000, 2001). Papoušek u. von Hofacker (2004) weisen mit Recht darauf hin, dass dieses aggressive Verhalten im engeren Sinne nicht destruktiv gemeint ist. Das Kind will nicht verletzen, sondern die Aufmerksamkeit der Bezugspersonen und seinen Willen durchsetzen. Ärger und Wut sind für die emotionale Entwicklung des Kindes notwendige Affekte im Sinne der Selbstbehauptung. Nicht das Auftreten der Aggression im zweiten Lebensjahr stellt das Problem dar, sondern die Faktoren, die dazu beitragen, dass die aggressiven Handlungen persistieren und zunehmend vom Kind instrumentalisiert werden. Das Kind lernt sehr schnell, dass es sich mit aggressiven Handlungen Vorteile verschaffen kann, wenn es keine Grenzen gesetzt bekommt.
17.5.3
Schweregrad, beeinflussende Faktoren, Prognose
Für die Einschätzung der Schwere des Problems ist es wichtig, sich ein Bild vom Kind, von den Eltern und der Interaktion zwischen Eltern und Kind zu machen. Mit Papoušek u. von Hofacker (2004) sehen wir die Verhaltensauffälligkeit des exzessiven Trotzens in einer Linie mit den Regulationsstörungen des Säuglingsalters. Symptomtrias des exzessiven Trotzens Die Emotions- und Selbstregulationsstörung beim exzessiven Trotzen und bei den Trotzanfällen zeigt sich in der Trias von 5 Verhaltensproblemen, 5 dysfunktionalen Mustern der Interaktion mit den Bezugspersonen, 5 psychophysischer Belastung des Kindes und der Familie. Wie das exzessive Schreien ist das exzessive Trotzen eine Extremvariante der emotionalen
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Kapitel 17 • Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten
Verhaltensregulation. Nicht das Auftreten, sondern die Persistenz kann zum Problem werden.
17
Wie bei den Regulationsstörungen des ersten Lebensjahrs fanden Wurmser u. Papoušek (2004) in ihren Untersuchungen der Münchner Inanspruchnahmeklientel bei den exzessiv trotzenden Kindern multiple prä-, peri- und postnatale organische und psychosoziale Belastungsfaktoren, die zur Einschränkung der selbstregulatorischen Kompetenz des Kindes beitragen. Rautava et al. (1995) fanden bei ehemals exzessiv schreienden Kinder im Alter von drei Jahren vermehrt Schlafprobleme und Trotzanfälle (vgl. 7 Kap. 13). Degnan et al. (2008) untersuchten jene zwei, vier und fünf Jahre alten Kinder, die in ihrem Trotzverhalten persistierten, und fanden spezifische Profile im »disruptive behavior« der Kinder und im interaktionellen Verhalten von Mutter und Kind, die sich anhand der Faktoren »Reaktivität auf Frustration«, »physiologische Regulation« und »mütterliches Verhalten« unterscheiden ließen. Eine hohe Reaktivität auf Frustration war mit hoher mütterlicher Kontrolle verbunden, eine niedrige regulatorische Kompetenz des Kindes eher mit niedriger mütterlicher Kontrolle. Auch Belsky et al. (1996) identifizierten dysfunktionales mütterliches Verhalten als einen Risikofaktor für exzessives Trotzen im zweiten Lebensjahr. Ein Zugang zur Einschätzung eines trotzigen Kindes besteht in der Beobachtung seines Spiels im Erstgespräch. Die Art der Kommunikation und die Beziehung zwischen Eltern und Kind kann durch die Beobachtung der Interaktion von Eltern und Kind im Konsultationszimmer eingeschätzt werden. Auch die erzieherischen Kompetenzen der Eltern lassen sich durch die Beobachtung ihres Umgangs mit dem Kind einschätzen. Psychodynamisch ist die Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik schnell im Raum. Eigene Ohnmachtsgefühle der Therapeuten verweisen auf die Gefühle von Eltern und Kind. Aufkommende eigene Aggressionen und Überlegungen zur Grenzsetzung können für die Arbeit mit der Familie nutzbar gemacht werden. An Szenen, die unbewusstes szenisches Verstehen möglich machen, mangelt es meistens nicht. Die Prognose ist abhängig von der Beeinträchtigung des kindlichen Funktionsniveaus. Das Tem-
perament des Kindes beeinflusst auch als konstitutioneller Faktor das Trotzen. Kinder mit hoher affektiver Reaktionsbereitschaft zeigen eine höhere Erregungsintensität und eine Neigung zur Impulsivität (Rothbart et al. 1994). In der Inanspruchnahmestichprobe der Münchner Sprechstunde (Wurmser et al. 2004) unterscheidet sich die Teilgruppe der besonders trotzigen Kinder von den übrigen Kindern in dieser Altersgruppe vor allem in Bezug auf die Temperamentsdimension »Unruhe/ Schwierigkeit«. Mittelwertunterschiede fanden sich bei den Zweijährigen auch bezüglich der Dimension »Hartnäckigkeit« und »Problemen im Sozialkontakt«. Auch die Einschätzung der Sprachentwicklung beim Kind ist wichtig. Wenn das Kind zu wenig spricht, kann es seine Bedürfnisse nicht angemessen äußern und ist schneller frustriert. Eine forcierte Sprachentwicklung und ein überwiegend verbaler Erziehungsstil der Eltern können das Kind überfordern. Beides kann zu vermehrtem Trotzen beitragen. Der Schweregrad des exzessiven Trotzens ist darüber hinaus von der Dauer der aktuellen und vorausgegangenen Regulationsstörungen abhängig (Persistenz). Vergleichbar mit dem Schweregrad bei den Regulationsstörungen im Säuglingsalter korreliert die Ernsthaftigkeit des Problems mit der Anzahl der Störungsbereiche (Pervasivität). Wenn Ein- und Durchschlafstörungen (s. Fallbeispiel) bzw. Fütterstörungen hinzukommen, ist das Problem gravierender. Rasch überforderte Eltern können nur eingeschränkt zur emotionalen Regulation der kindlichen Krisen beitragen. Überforderte Mütter von Jungen scheinen besonders zu aversivem Verhalten zu neigen (Calkins 2002). Im Verhalten sind diese Eltern meist impulsiv und unkontrolliert oder nachgiebig »um des lieben Friedens willen« und dadurch inkonsequent und inkonsistent in ihren Verhaltensantworten. In der Partnerschaft sind sie sich im erzieherischen Umgang mit dem Kind nicht einig. Autoritär-kontrollierende Väter tragen zu einer schlechteren Prognose nur dann bei, wenn sich auch die Mütter diesem Erziehungsstil anschließen (Belsky et al. 1996). Anzumerken ist, dass es an Forschung über den Beitrag der Väter mangelt.
273
17.5 • Exzessives Trotzen und persistierende Trotzanfälle
In der Münchner Untersuchung (Wurmser et al. 2004) zeigte sich, dass die Mütter signifikant häufiger unter »chronischer Überforderung«, »Frustration« und »Straftendenzen« litten. In der PIR-GAS war der Anteil der gestörten MutterKind-Interaktionen mit 24 % signifikant häufiger als in der nicht klinischen Vergleichsgruppe (9 %). Auffallend war auch die hohe Rate von Partnerschaftskonflikten. Jede zweite Paarbeziehung wurde als gestört bezeichnet. In 32 % der Fälle fanden sich auch schwere intergenerationelle Konflikte mit den Herkunftsfamilien der Eltern. Die ungünstigste Prognose haben affektiv leicht erregbare Kinder, die zu häufigen Trotzanfällen neigen, mit Eltern, die aufgrund ihrer eigenen belasteten Biografie, geringer emotionaler Modulationsmöglichkeiten, eingeschränkter erzieherischer Kompetenzen, schwerwiegender Partnerschaftskrisen und aktueller Belastungen zu wenig Ressourcen aufweisen. Wenn es den Eltern im Säuglingsalter ihres Kindes gelungen ist, frühe Regulationsstörungen zu bewältigen, ist dies ein Hinweis für eine günstige Prognose. Wenn die Eltern sich nicht von ihrem Kind abgelehnt fühlen und es ihnen gelingt, eine emotional positive Beziehung zu ihm aufrechtzuerhalten, sind dies, wie eine Langzeitstudie an »Trotzkindern« (Olson et al. 2000) gezeigt hat, die besten Prädiktoren für das Nichtauftreten externalisierenden Verhaltens.
17
eine inhaltliche Auseinandersetzung geht, der sie sprachlich begegnen sollten, sondern darum, dass sie selbst ruhig bleiben, Auswege aus der Situation zeigen und eindeutig bleiben. So könnten Therapeuten den Eltern beispielsweise sagen: 5 Es geht nicht darum, wer der Stärkere ist. Ihr Kind hat Schwierigkeiten, die Situation zu meistern! 5 Sein Tun ist nicht gegen Sie gerichtet! 5 Die Wut des Kindes darf sich nicht auf Sie übertragen. Lassen Sie Dampf ab, aber nicht beim Kind! 5 Konnten Sie feststellen, unter welchen Umständen Ihr Kind nicht zum Trotzen neigt? Im Umgang mit den Trotzanfällen können Therapeuten den Eltern erläutern, wie sie schon im Vorfeld versuchen können, die bekannten trotzauslösenden Situationen zu meiden. Die folgenden Fragen sind hierfür hilfreich: 5 Wie und in welcher Form zeigt sich das Trotzen? Bei welchen Anlässen? Bei welchen Personen? Gibt es einen Auslöser? Gibt es Ausnahmen?« 5 Wo tritt der Trotzanfall auf? Gibt es bestimmte wiederkehrende Situationen, die zur Eskalation führen? 5 Was sind die Hypothesen der Eltern?
Psychosoziale Beratung 17.5.4
Behandlungsansätze
Die beraterischen und psychotherapeutischen Ansätze müssen sowohl auf die aktuelle, belastende Situation eingehen als auch darauf ausgerichtet werden, dass es zu keinem persistierenden trotzigen Verhalten in Verbindung mit aggressiv-oppositionellem Verhalten kommt.
Information und entwicklungspsychologische Beratung Die eingehende Information und entwicklungspsychologische Beratung versucht den Eltern eine positiv-unterstützende Haltung und Einstellung dem Kind gegenüber zu vermitteln (s. oben). Wichtig ist, dass die Eltern verstehen, dass es in den spannungsreichen Situationen meistens nicht um
Eine psychosoziale Beratung ist dann notwendig, wenn die guten gemeinsamen Momente von Eltern und Kind in den Hintergrund getreten sind und die negativen Erfahrungen die Überhand bekommen haben. Meistens ist dann das gesamte System Familie schon erheblich belastet. In der psychosozialen Beratung geht es vorwiegend um die gemeinsame Erarbeitung von entwicklungs- und beziehungsfördernden Lösungen für Eltern und Kind. Wenn eine zeitlich sehr begrenzte symptombezogene Beratung möglich erscheint, reicht oft eine relativ geringe Anzahl von Kontakten aus. Im Fokus stehen dann die Besprechung und das Einüben von veränderten Interaktionen zwischen Eltern und Kind, um die Frequenz und Intensität des Trotzens und der Trotzanfälle zu verringern. Die Sprache spielt eine herausragende Rolle. Karp u. Spencer (2004) setzen an der noch mangelnden Sprachkompetenz
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17
Kapitel 17 • Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten
der Kinder an. Die Eltern sollen den Kindern ihre Emotionen spiegeln und diese »verwörtern«. Wenn die Eltern die Sprachentwicklung ihres Kindes fördern, tragen sie dazu bei, dass ihr Kind seine Bedürfnisse besser artikulieren kann und dadurch Frustrationen vermieden werden. Allerdings sollten Eltern ihr Kind nicht durch verbale Erklärungsversuche und inhaltliche Auseinandersetzungen überfordern. Kinder unter drei Jahren benötigen in ihrer kinästhetisch-taktilen Erfahrungswelt Eltern, die sie anleiten und ihnen zeigen, was sie von ihnen möchten oder nicht möchten. Wenn Eltern ihr eigenes Handeln sprachlich begleiten und beschreiben, warum sie was tun, fördert dies die Sprachentwicklung beim Kind. Dem Kind können in der emotionalen Krise Brücken gebaut werden durch Ablenkung, Verschieben des Aufmerksamkeitsfokus, Verändern des Kontexts. Die Eltern werden darüber informiert, dass sie autoaggressives Verhalten konsequent nicht beachten sollten, wenn die Sicherheit des Kindes nicht gefährdet ist, was in den allermeisten Fällen nicht der Fall ist. Dadurch wird das negative Verhalten des Kindes nicht mehr durch die erhöhte Aufmerksamkeit der Eltern in dieser Situation belohnt. Stattdessen kann mit den Eltern überlegt werden, welches positive Verhalten sie in diesem Moment bei ihrem Kind verstärken könnten, um es von den autodestruktiven Handlungen abzubringen. Ziel der Intervention ist es, erwünschtes Verhalten zu unterstützen und unerwünschtes Verhalten nicht zu beachten. Aggressives Verhalten gegenüber anderen sollte sofort angesprochen werden: »Nein, Julian, ich will nicht, dass du mich beißt. Das tut mir weh!« Es empfiehlt sich, sich dabei auf die Augenhöhe des Kindes zu begeben, um dem Satz im Blickkontakt mit dem Kind mehr Nachdruck zu verleihen. Nach der Krisensituation sollte versucht werden, dem Kind eine positive Beziehungserfahrung zu vermitteln, um das positive Verhalten des Kindes entsprechend zu loben. Die Eltern müssen wissen, dass sich das aggressive Verhalten nicht von einem Moment zum anderen verändern wird. Zu einer Veränderung kommt es durch ihre konsistente und konsequente Haltung dem Kind gegenüber. Manchmal eskaliert die Interaktion so stark, dass das Misshandlungsrisiko eine sofortige Dis-
tanzierung von Elternteil und Kind notwendig macht. Dann ist es hilfreich, wenn die Mutter bzw. der Vater das Zimmer verlässt, um die Affekte abzukühlen und die Kontrolle wiederzuerlangen. Nur nach entsprechender Beruhigung kann man nach alternativen Lösungen für die festgefahrene Situation suchen. Eingefahrene negativ eskalierende Interaktionszirkel können während der Beratung besprochen werden. Hierzu ist die Arbeit mit Videoaufnahmen und einem Videofeedback einer Spielszene zwischen Eltern und Kind sehr hilfreich (vgl. 7 Kap. 29). Nach dem Hinweis auf die gelungenen Szenen können die dysfunktionalen Szenen miteinander angeschaut und analysiert werden. Das Gewahrwerden der eigenen Gefühle (Wut, Ohnmacht, Trauer, Enttäuschung) hilft den Eltern meistens dabei, über ihre (unbewussten) Erwartungen an das Kind nachzudenken. Häufig sehen sie im Videofeedback auch die Hilflosigkeit ihres Kindes, was dann zu einer anderen, positiveren und stärker unterstützenden Einstellung beiträgt und die Negativismen dämpft. Psychodynamische Therapeuten werden in der Beratungssituation auf die eigenen Übertragungsund Gegenübertragungsgefühle achten, um sich besser in Kind und Eltern einfühlen zu können. Sie werden diese aber nicht interpretierend und deutend einsetzen. Die Abstimmung des Erziehungsverhaltens unter den Eltern findet manchmal wegen häufiger und schwerer Partnerschaftskonflikte nicht statt. Eine zusätzliche Beratung, die sich auf die Erziehung konzentriert, kann notwendig werden.
Eltern-Kind-Psychotherapie Eine längerfristige Eltern-Kind-Psychotherapie ist meist dann indiziert, wenn die »Dosis« der Beratung zu gering ist, um Veränderungen in der elterlichen Haltung, den erzieherischen Kompetenzen und dem maladaptiven Interaktionsstil herbeizuführen. In diesen Fällen sind die Eltern oft aufgrund ihrer eigenen (früh-)kindlichen Erfahrungen nicht in der Lage, die lösungsorientierten Ansätze einer Beratung kontinuierlich umzusetzen. Sie sind entweder mit sich selbst und mit ihrer Partnerschaft so beschäftigt, dass ihnen der Blick aufs Kind und dessen Bedürfnisse verstellt ist, oder sie nehmen
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17.6 • Kleinkinder mit aggressivem Verhalten
das Verhalten ihres Kindes aufgrund ihres eigenen Erlebens so verzerrt war, dass sie die Signale des Kindes als unangemessen interpretieren und entsprechend inadäquat reagieren. Bearbeitet werden vor allem die emotionalen Erfahrungen der Eltern und deren im Kontext der Trotzanfälle ausgelösten Affekte. Zu achten ist auf die erlernten (dysfunktionalen und leidvollen) Konfliktlösungsmuster der Eltern, die häufig auch mit Gewalterfahrungen einhergehen.
Elternkurse In strukturierten Elternkursen können Eltern im Sinne der primären Prävention in ihren elterlichen Kompetenzen gefördert werden. Auf dem Videofeedback basierende Kurse für die Eltern von Ein- bis Dreijährigen wurden von einer niederländischen Gruppe erarbeitet und in einer Vergleichsstudie auch überprüft (van Zeijl et al. 2006). Die Autoren bieten sechs Sitzungen im Haus der Familie an. Sie konnten in ihrer Studie zeigen, dass sie das Interaktionsverhalten zwischen Eltern und Kind signifikant verbessern können.
17.6
Kleinkinder mit aggressivem Verhalten
Zwei- bis dreijährige Kinder können bereits aggressives Verhalten zeigen, z. B., wenn sie sich selbst oder andere häufiger verletzen, wenn es ihnen schwer fällt, sich an die Vorgaben der Eltern zu halten, und sie beginnen, »ungezogen« zu wirken. Nach dem dritten Lebensjahr kann dieses Verhalten auch aufsässig und provokativ trotzig sein, dann spricht man von oppositionellem Verhalten. Bei Kleinkindern verwenden wir die Diagnose »aggressiv-oppositionelles Verhalten« noch nicht. z
Fallgeschichte
Als Anmeldungsgrund gibt Frau U. das aggressive Verhalten ihres Sohnes Paul an. Sie meide den Spielplatz, seitdem Paul dort eine Zweijährige in die Backe gebissen habe, weil er ein Spielzeug nicht bekam. Sie werde mit ihrem 26 Monate alten Sohn nicht mehr fertig. Die Mutter meint, dass sie »nicht mehr die Führung« habe. Manchmal mache Paul genau das Gegenteil von dem, was sie von ihm ver-
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lange. Wenn sie ihm sage, er solle aufräumen, nehme er Dinge aus den Regalen und werfe sie umher. Wenn er seinen Willen nicht bekomme, fange Paul an zu schreien und versuche nach ihr zu schlagen und zu treten. Bei der geringsten Frustration werfe er sich auf den Boden und schlage seinen Kopf so fest auf den Untergrund, dass er blaue Flecken und Beulen davontrage. Frau U. hat die Erfahrung gemacht, dass sie Paul nach einiger Zeit beruhigen kann, wenn er erschöpft ist und intensiven Körperkontakt zu ihr sucht. In letzter Zeit reagiert Frau U. extrem angespannt und aggressiv auf Pauls Ausbrüche. Sie schlägt ihn auch, »aber nicht ins Gesicht!«, wie sie betont. Sie ist sich sicher, dass ihm das nicht schadet. Er müsse spüren, dass es auch für sie Grenzen gebe. Diese Situationen setzen sich auch in der Nacht fort, wenn Paul bis zu fünfmal aufwacht, schreit und teilweise auch um sich schlägt. Frau U. schildert weinend, wie sehr die häufigen Auseinandersetzungen mit Paul an ihren Nerven zerren und einen normalen Alltag nahezu unmöglich machen. Und sie habe keinerlei Hilfe, »von niemandem!« Paul habe schon in den ersten Lebensmonaten viel geschrien. Frau U. berichtet, das Schlafen sei schon immer ein Problem gewesen, und Pauls nächtliches Schreien habe sie von Anfang an sehr belastet. Tagsüber sei Paul jedoch phasenweise auch ein sehr »sonniger« Säugling gewesen. Er habe sie ständig angelacht und »Quatsch« mit ihr machen wollen. In den letzten Monaten sei Paul weniger freundlich. Er lächle sie kaum noch an und sei überwiegend schlecht gelaunt und fordernd (Fortsetzung in 7 Abschn. 17.6.5).
17.6.1
Definition
Als »aggressives Verhalten« bezeichnet man verschiedene Formen aggressiven und verweigernden Verhaltens: 5 aggressives Verhalten gegenüber Geschwistern in der Familie und gegenüber Gleichaltrigen außerhalb der Familie, 5 Wutausbrüche und aggressives Verhalten gegenüber Eltern oder anderen Erwachsenen (meist bei Grenzsetzungen),
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Kapitel 17 • Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten
5 das beginnende Nichtbefolgen von Regeln und Grenzsetzungen. Für die Eltern steht meistens der Ungehorsam im Vordergrund. Sie haben den Eindruck, ihr Kind »tanze« ihnen »auf der Nase herum«. Ungehorsam ist insofern von Trotz zu unterscheiden, als das »ungehorsame« Kind den Eindruck vermittelt, dass es sich anders verhalten kann, dies aber nicht will. Postuliert wird, dass sich das Kind willentlich entscheidet, Widerstand zu leisten. Wenn die Eltern das trotzige und aggressive Verhalten als Ungehorsam deuten, entwickelt sich häufig ein Machtkampf zwischen Eltern und Kind. Die Eltern nehmen dann an, dass das »ungehorsame« Kind ihnen seinen Willen aufzwingen will. Eine Differenzierung von frühem und spätem Trotz kann zur Interpretation des aggressiven Verhaltens von Kindern in diesem Altersabschnitt hilfreich sein. Der frühe Trotz ist nicht Mittel zum Zweck. Es ist der Versuch eines Kindes, seine Spannung zu regulieren. Das Kind kann sich in dieser Entwicklungsphase nicht anders verhalten. Der späte Trotz vermischt sich mit negativem und aggressivem Verhalten, das vom Kind zunehmend auch willentlich eingesetzt wird, um seine Wünsche durchzusetzen.
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> Das unangemessen aggressive Verhalten muss nicht per se pathologisch sein. Bei den meisten zwei- bis dreijährigen Kindern mit aggressivem Verhalten handelt es sich um ein vorübergehendes, phasentypisches Verhalten. Für unter dreijährige Kinder ist die in der Definition von Aggression enthaltende Absichtskomponente strittig, weil die meisten dieser Kinder ihr aggressives Handeln noch gar nicht im vollen Umfang verstehen können. Entscheidend sind also die Persistenz und die Pervasivität und vor allem das Leiden von Kind und Eltern, wenn sie keinen Ausweg aus den maladaptiven Interaktionszirkeln finden.
17.6.2
Diagnose
Eine entsprechende Diagnose ist im DC:0–3 (Zero To Three 2005) nicht gelistet. Die Diagnose einer oppositionellen Verhaltensstörung – z. B. entsprechend der AACAP (2007) – ist erst für Kinder ab dem dritten Lebensjahr sinnvoll. Eine Diagnose kann dann zur Identifizierung einer Gruppe von hoch gefährdeten Kindern beitragen, deren besonders aggressives Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit persistiert, wenn die Kinder und ihre Eltern keine Hilfe erfahren.
17.6.3
Häufigkeiten
Die mithilfe der Behavior Checklist CBCL/2–3 erhobenen Prävalenzraten von Verhaltensauffälligkeiten bei zwei- bis dreijährigen Kleinkindern liegen sowohl in den USA (Achenbach 1992) als auch in den Niederlanden und in Deutschland (Fegert 1996) bei ungefähr 12 %, davon 2,3 % mit aggressivem Verhalten. In der Mannheimer Risikokinderstudie, einer Längsschnittstudie an einer risikobelasteten Kohorte, liegt die Prävalenzrate erwartbar höher, nämlich bei 19,1 %; 23,8 % bei den Jungen, 15,4 % bei den Mädchen (Laucht 2002). Das Geschlechterverhältnis wird durch die Studie von Rockhill et al. (2006) bestätigt und liegt bei 2 : 1. Wichtig ist, dass die Prävalenzraten bei älteren Kindern offenbar auf 2 bis 3 % zurückgehen (Rockhill et al. 2006).
17.6.4
Beeinflussende Faktoren, Prognose
Wie beim exzessiven Trotzen findet man multiple prä-, peri- und postnatale organische und psychosoziale Belastungsfaktoren (Rockhill et al. 2006), die zur Einschränkung der selbstregulatorischen Kompetenz eines Kindes mit aggressivem Verhalten beitragen. Die Studienlage (Shaw et al. 2000; Crockenberg u. Leerkes 2002) zeigt, dass neben dem Geschlecht (Jungen), einem unsicheren Bindungsverhalten (Typ D) und einem »schwierigen« Temperament vorwiegend psychosoziale Belastungsfaktoren
277
17.6 • Kleinkinder mit aggressivem Verhalten
wie dissoziales Verhalten des Vaters, Depression oder andere psychische Erkrankungen der Mutter, Partnerschaftskonflikte, ein schwieriges soziales Milieu, Gewalterfahrungen des Kindes das persistierende aggressive und oppositionelle Verhalten der Kinder bedingen und aufrechterhalten. Die Studienergebnisse der letzten Jahre zu den Risikofaktoren für Kinder in multipel belasteten Familien (vgl. 7 Kap. 7) zeigen, dass vermeintlich konstitutionell-biologische Faktoren wie das Temperament oder Störungen im Serotoninhaushalt durch die Umgebungsbedingungen schon in der pränatalen Zeit mitverursacht werden. Aggressives Verhalten scheint überwiegend durch Umgebungsbedingungen, im Wesentlichen durch dysfunktionales Kommunikations- und Interaktionsverhalten zwischen Eltern und Kind, bedingt zu sein. Die Bemühungen des Kindes, seine heftigen negativen Emotionen und seine Aggression zu regulieren, scheitern im Kontext der Beziehung zu den primären Bezugspersonen. Diese Annahme wird auch durch die Ergebnisse der oben erwähnten Studie von Papoušek u. von Hofacker (2004) unterstützt. Während die Autoren in der Teilgruppe der Trotzkinder im Vergleich zu einer nichtklinischen Vergleichsgruppe höhere Werte auf der Temperamentsdimension »Unruhe/Schwierigkeit« fanden, konnten sie diese Ergebnisse in der Teilstichprobe mit den aggressivoppositionellen Kindern nicht finden. Bei diesen Kindern sind die Umgebungsbedingungen für die ätiologische Betrachtung deutlich gewichtiger. Über dreijährige Kinder mit aggressiv-oppositionellem Verhalten haben in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung eine schlechtere Prognose als andere Kinder, weil die betreffenden Kinder unter Langzeitwirkungen zu leiden haben, die zu einer Beeinträchtigung auf allen Ebenen führen kann. Rund 60 % der Kinder sind auch im späteren Kindesalter noch verhaltensauffällig (Campell 1995; Laucht 2002). Deshalb sind im Sinne der Prävention frühe Hilfen und frühe therapeutische Maßnahmen notwendig (vgl. 7 Kap. 37 u. 38)
17.6.5
Interventionsansätze
Für den Einsatz von Psychopharmaka gibt es bei Kindern in dieser Altersgruppe keine Indikation.
17
Nur psychotherapeutische Ansätze sind erfolgreich. Die folgenden Interventionsmöglichkeiten kommen überwiegend bei über dreijährigen Kindern zur Anwendung. Sie können jedoch auch bei Kindern ab zwei Jahren mit entsprechenden Modifikationen eingesetzt werden.
Verhaltenstherapie Immer wieder findet sich ein spezifischer Teufelskreis der negativen Gegenseitigkeit in den Interaktionen, den Patterson (1982) als »coercive cycle« beschrieben hat: 5 Auf das aversive Verhalten des Kindes folgt das Gewährenlassen der Eltern, 5 so lange, bis die Eltern ihre aufgestaute Wut nicht mehr kontrollieren können, 5 dann strafen oder bedrohen die Eltern das Kind und zwingen es zur Unterwerfung, 5 was wiederum aversives Verhalten auslöst und die Situation eskalieren lässt. Dieses dysfunktionale Kommunikationsverhalten kann durch Veränderungen des elterlichen Verhaltens durchbrochen werden. Inhaltlich werden folgende Verhaltensänderungen angestrebt: 5 Aufbau und Unterstützung prosozialer Verhaltensweisen, 5 freundliche, klare Grenzsetzung bei aggressivem Verhalten und Anleitung zu prosozialem Verhalten, 5 Verständnis für die negativen Affekte des Kindes und Akzeptanz des Kindes bei gleichzeitig deutlicher Ablehnung des aggressiven Verhaltens, 5 Abbau von harschem, verbal oder physisch disziplinierendem elterlichen Verhalten, da solches als relevantes negatives Modell für das kindliche Verhalten dient, 5 Aufbau und Unterstützung des Empfindens von Selbstwirksamkeit und des Selbstwerts. In der Eltern-Kind-Psychotherapie ist der »Interaction-Guidance«-Ansatz von McDonough (1995; vgl. 7 Kap. 28) bekannt geworden. Elterntrainings (Übersicht der Elterntrainings in Sonuga-Barke et al. 2006; Steinhoff u. Lerner 2006; Greenhill et al. 2008) wie die Parent-Child Interaction Therapy (PCIT; nach Hembree-Kigin u. McNeil 1995) sind
278
Kapitel 17 • Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten
10 bis 15 Sitzungen umfassende Kurztherapien für die Eltern von zwei- bis siebenjährigen Kindern, in denen Eltern durch psychoedukative Inhalte und das Einüben von funktionaleren Verhaltensweisen lernen, das Sozialverhalten ihrer Kinder zu ändern. Diese Programme sind mehr auf Disziplin, Regeln und Grenzsetzungen fokussiert. Die Evidenzlage für diesen Ansatz ist gut, die Studien zeigen gute Effektstärken (Thomas u. Zimmer-Gembeck 2007; Larsson et al. 2009).
Familientherapie Da beim aggressiv-oppositionellen Verhalten der unmittelbare Beziehungskontext, meistens die Familie, für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Probleme maßgebend ist, ist es sinnvoll, an den Alltagsproblemen und täglichen Herausforderungen im familiären Zusammenleben anzusetzen und zielgerichtet konkrete Veränderungen in diesem Zusammenleben zu schaffen. In vielen Erziehungsberatungsstellen wird entsprechend gearbeitet. Erste spezifische Therapieformen werden zurzeit entwickelt. Die Multisystemische Therapie (MST; Henggeler et al. 2009) ist ein effektives Therapieprogramm zur Behandlung von Jugendlichen mit starken Verhaltensauffälligkeiten. Der Ansatz bezieht nicht nur die Eltern oder Erziehungsberechtigten ein, sondern auch all jene Systeme, die sie umgeben: die weitere Familie, die Schule, Freunde, Nachbarn, den Sporttrainer und all jene, die die Familie in ihrem Entwicklungsprozess unterstützen können. Die MST für Familien mit Kleinkindern ist zwar noch zu entwickeln, dürfte aber sehr sinnvoll und effektiv sein.
Psychodynamisch-interaktionelle Eltern-Kind-Psychotherapie
17
Zwei- bis dreijährige Kinder sind sehr engagierte Teilnehmer in der Therapie. Sie gestalten die Interaktion mit den Eltern und den Therapeuten aktiv mit. Nicht nur der Spracherwerb, auch die Fähigkeit, sich im Spiel mitzuteilen, eröffnet diagnostische und therapeutische Möglichkeiten. Viele Beratungen konzentrieren sich deshalb unmittelbar auf den Zusammenhang zwischen Beziehungsstörung und Symptom, der sich im Hier und Jetzt darstellt. Das behandlungstechnische Vorgehen entspricht im Wesentlichen dem klassischen psycho-
dynamischen Arbeiten, ergänzt durch die systemische Perspektive und verhaltenstherapeutische Strategien (vgl. 7 Kap. 28, 31). In unserem Behandlungsmodell für zwei- bis dreijährige Kinder mit aggressiv-oppositionellem Verhalten spielt sehr häufig die psychodynamische Arbeit an zwei intrapsychischen und interpersonellen Konflikten eine herausragende Rolle, die auch das »dominante Thema« (vgl. 7 Kap. 31) darstellen. Entscheidend für die therapeutische Arbeit ist die Wiedererlangung einer Balance im Konflikt Intimität/ Verbundenheit und Autonomie/Abgrenzung und im Konflikt Kontrolle/Macht und Unterwerfung/ Ohnmacht. Wie weiter oben skizziert, begreifen wir die spannungserzeugenden Konfliktanteile als die zwei Waagschalen einer Waage, auf die die Eltern mit ihren unbewussten und bewussten Erwartungen und Projektionen Lasten ablegen und so das Gleichgewicht beeinflussen. Eltern können aufgrund eigener Erfahrungen die Verbundenheit oder die Autonomie, die Kontrolle oder die Unterwerfung unangemessen stark oder unangemessen früh fördern bzw. behindern. Die Kinder können durch ihre Temperamentsvariablen das Problem potenzieren, wenn sie z. B. eher autonomiesuchend oder autonomiegehemmt sind. Diese dialektische Betrachtung erlaubt die schematische Darstellung von unterschiedlichen Beziehungsmustern (Cierpka u. Cierpka 2000). Im Folgenden zeichnen wir dieses therapeutische Vorgehen anhand des bereits eingeführten Fallbeispiels von Frau U. und ihrem Sohn Paul nach. z
Fallgeschichte (Fortsetzung)
Die dominanten Themen, definiert als die die Beziehungsdynamik bestimmenden Repräsentanzen, inszenieren sich im Erstgespräch mit Frau U. und Paul rasch. Während die 35-jährige Mutter über Pauls Verhalten klagt, erkundet Paul das Zimmer und schaut sich die Spielsachen an. Immer wieder kehrt er mit einem Spielzeug zur Mutter zurück, um es ihr zu zeigen. Sprachlich hat Paul noch wenig Möglichkeiten, sich verständlich zu machen. Die Mutter ist sehr in das Gespräch vertieft und entlastet sich emotional bei den Therapeuten, sodass sie auf Paul nicht weiter eingeht. Nach einigen Minuten kommt er wieder zu ihr, um sie mit sich zu ziehen. Sie soll ihm offensichtlich ein Spielzeug
17.6 • Kleinkinder mit aggressivem Verhalten
Forcierte Autonomie
Verbundenheit
Frau U.
Frau U.
Paul
Paul
. Abb. 17.2 Frau U. fordert mehr Autonomie von Paul; er wünscht sich mehr Verbundenheit
von einem Regal holen oder mit ihm spielen. Unwirsch sagt sie: »Lass mich doch!«, daraufhin tritt er mit dem Fuß nach ihr, trifft sie aber nicht. Wir fragen Frau U.: »Haben Sie eine Idee, was er gerade wollte?« »Nein, ich weiß nicht«. Wir: »Er zog Sie ja am Arm, er muss doch etwas vorgehabt haben …« »Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht, er ist immer so!« Und nach einer Pause des Überlegens: »Vielleicht wollte er mit mir spielen. Aber er muss doch sehen, dass ich gerade spreche. Er gibt dann nie nach, er will sich immer durchsetzen!« Obwohl das Sprechzimmer fremd ist, erkundet Paul in positiver Stimmung das Terrain. Er ist es gewohnt, beim Explorieren allein gelassen zu werden. Als es ihm langweilig wird, soll er sich gedulden. Frau U. geht mit ihm nicht wie mit einem Kleinkind um, das zunächst Vertrauen in die fremde Umgebung finden muss, sondern wie mit einem Jugendlichen. Wenn er zu ihr kommt, sieht sie nicht seinen Nähewunsch, sondern er stört dann »mit Absicht«. Diese unterstellte Intentionalität ist aber für einen Zweijährigen nicht altersgerecht. Es fällt der Mutter schwer, sich in die kindlichen Bedürfnisse einzufühlen und ihm zu helfen, in ein Spiel zu finden. Sie forciert seine Autonomie und vernachlässigt sein Bindungsbedürfnis. Er reagiert mit Wut und versucht ihre Aufmerksamkeit über das Treten zu erzwingen (vgl. . Abb. 17.2). Frau U.s Vorwürfe gegenüber Paul bestimmen weiter das Gespräch. Paul wird zunehmend frustriert, legt sich zu ihren Füßen und schaukelt mit dem Körper. Plötzlich schlägt er mit dem Kopf gegen das Tischbein – er erschrickt und hat sich offenbar auch wehgetan. Frau U. greift nach unten.
279
17
Wir denken, sie will ihn durch eine Berührung mit der Hand trösten – nein, sie nimmt ihm ein Spielzeug weg. Erst dann fängt er an zu schreien und »rastet aus«. Er versucht noch, sich selbst zu regulieren, in dem er sich auf den Bauch dreht und den Körper am Boden reibt, aber es gelingt ihm nicht. In der Gegenübertragung identifizieren wir uns mit dem Schmerz, der Ohnmacht und Hilflosigkeit von Paul, und wir können seine maßlose Wut auf die Mutter nachempfinden, im Schmerz, nicht angenommen und getröstet zu werden. Das Verhalten von Frau U. wird für uns verständlich, als wir ihre Lebensgeschichte hören und erfahren, wie sehr sie selbst vernachlässigt und misshandelt wurde. Frau U. wurde als Kind von ihrem Vater, der große Mengen Alkohol konsumierte, körperlich misshandelt. Sie beschreibt eine Szene, in der er ihr blaue Flecken und Blutergüsse beibrachte, weil sie in die Hose gemacht hatte. Beim Erzählen weint sie, und ihre Wut und Hilflosigkeit werden spürbar. Ihre Mutter sei ihr in solchen Situationen nicht zur Hilfe gekommen und habe sie nie geschützt. Sie hat einen älteren und vier jüngere Brüder, die nie so viele Schläge von ihrem Vater bekamen. Sie sei immer als das »Schlimmste« unter den Kindern betrachtet worden. In der Pubertät sei sie von ihrem Vater als »Schlampe« bezeichnet worden. Sie würde ihre Kindheit am liebsten vergessen. Das gelingt ihr aber nicht, weil Paul sie immer wieder an ihre Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Wut heranführt. Er erinnert sie immer wieder an das kleine, geschundene Mädchen von damals. Sie darf die Ohnmacht und den Schmerz bei ihm nicht wahrnehmen, so wie ihre Eltern diese Gefühle auch bei ihr nicht wahrgenommen haben. An Paul werden viele Erwartungen delegiert. Paul ist parentifiziert. Er soll sie in ihrer Einsamkeit unterstützen. Ihre Sehnsucht, von einem »Mann« verstanden zu werden und Angenommensein zu erleben, entspricht nicht Pauls Bedürfnissen. Es kommt zu massiven Enttäuschungen und entsprechender Wut. Paul wird dann ein »störendes« Kind, wie sie selbst es war, wenn er Fürsorge für sich einfordert. Von ihrem früheren alkoholkranken Ehemann und – nach der Scheidung – anderen Männern erfuhr Frau U. wiederholt Gewalt. Sie wollte aber trotzdem immer Mutter werden. Sie beschreibt, wie sie beim Anschauen von Baby-
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17
Kapitel 17 • Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten
werbung zu weinen begann, da sie sich so sehr auf ein Baby freute. Als sie von einem neuen Partner schwanger wurde, freuten sich Frau U. und nach ihren Angaben auch der Kindsvater anfänglich sehr auf das Kind. Aufgrund von Komplikationen in den ersten Schwangerschaftsmonaten wurde Frau U. ausführlicher ärztlich untersucht, und es wurde festgestellt, dass sie HIV-positiv ist. Pauls Vater ist nicht infiziert, d. h., dass sie die Erkrankung ohne ihr Wissen vermutlich schon mehrere Jahre in sich trägt. Pauls Vater verließ Frau U. dann drei Tage nachdem diese von ihrer Erkrankung erfuhr. Frau U. war während der Schwangerschaft sehr verzweifelt und mit dieser großen Belastung völlig auf sich gestellt. Sie hatte massive Ängste um die Gesundheit des Kindes, das zu ihrer großen Erleichterung jedoch ohne den Virus geboren wurde. Während des siebten Schwangerschaftsmonats wurde Frau U. mitgeteilt, dass sie einen Sohn bekommen würde. Vorher war man aufgrund der Ultraschallbilder von einem Mädchen ausgegangen. Frau U. hatte aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit Männern Angst davor, einem Jungen als Mutter nicht gerecht zu werden, weil sich ein Junge später ebenfalls zu einem gewalttätigen Mann entwickeln könnte. Die Mitteilung, dass sie einen Sohn erwartete, war für Frau U. so schockierend, dass sie nach der Geburt einige Tage lang das Kind nicht behalten wollte. Offensichtlich ist sie auch heute noch sehr ambivalent, ob sie zu Paul stehen oder ihn ablehnen soll. Die einjährige, einmal die Woche stattfindende Mutter-Kind-Therapie verfolgt zwei Ziele. Zum einen soll Frau U. Unterstützung und Anleitung in Spielinteraktionen mit Paul erfahren, weil sie »mit ihm nicht spielen kann«, so wie man mit ihr »auch nie gespielt« habe. Die Interventionen im Hier und Jetzt des Spiels fördern positive Interaktionen und sichern die Bindung von Paul an seine Mutter. Ihre eigene Spannungstoleranz verbessert sich zunehmend, seit sie eine Tagesmutter gefunden hat, sodass sie halbtags arbeiten gehen kann und »wieder Luft« bekommt. Zum anderen geht es um die tiefenpsychologische Bearbeitung der traumatischen Erfahrungen von Frau U. und die Auflösung der Parentifizierung von Paul. Vor allem die Spaltungen zwischen Täter- und Opferverhalten, Kontrolle und Unterwerfung stehen im Mittelpunkt der
borderlinespezifischen psychodynamischen Therapie (Pedrina 2010).
17.7
Zusammenfassung und Fazit
Kleinkinder im Alter zwischen 12 und 36 Monaten werden zunehmend autonomer. Sie entdecken sich als eigenständige Person und geraten jetzt häufiger mit den Regeln der sozialen Umwelt in Konflikt (Emde 1984). Wenn sie sich den Wünschen und Forderungen der Eltern widersetzen und verstärkt »Nein« sagen, fordert dies neue Beziehungsantworten der Eltern heraus. Der respektvolle Umgang der Eltern mit dieser Herausforderung bedeutet ein Abwägen, wie permissiv oder wie dominierend auf den Widerspruch eingegangen wird. Wenn Eltern und Kind im Trotzalter diese neue familiäre und individuelle Entwicklungsaufgabe meistern, erlangen beide neue Spielräume und Entwicklungsmöglichkeiten. So verstanden, ist das Trotzen und sind die »Trotzanfälle« ein transitorisches Phänomen. Wenn die Kinder den Regeln und Grenzsetzungen der Eltern folgen, machen sie sich zunehmend die Ziele der Erwachsenen zu eigen. Dies wird umso leichter gelingen, je ruhiger und konsistenter die sinnvollen Bitten und Aufforderungen an das Kind herangetragen werden. Die Kinder internalisieren letztendlich die Werte und Normen ihrer Familie. Fazit Über das normale Trotzen zum exzessiven Trotzen und zum aggressiven Verhalten wurde in diesem Kapitel ein Stufenkonzept dargestellt, das sowohl ein dimensionales Erklärungs- als auch ein Behandlungskonzept bedeutet. Es rückt die emotionale Regulation beim Kind und bei den Bezugspersonen in den Mittelpunkt. In dieser Linie – und in der Abfolge der Abschnitte in diesem Kapitel vom normalen zum dysfunktionalen Interaktionsverhalten – gelingt es den Eltern immer weniger, dem Kind bei seinen negativen Emotionen die notwendige interpersonelle Emotionsregulation zur Verfügung zu stellen. Die Interaktionen der trotzigen Kinder mit ihren Eltern, die meist von heftigen Affekten begleitet werden, zentrieren sich um die aggressive Selbstentfaltung. Das Kind benötigt für die Kontrolle seiner heftigen Affekte zunächst die
Literatur
interpersonelle Begrenzung und das Containment in der Beziehung, um sich zunehmend mehr selbst emotional regulieren zu können. Besonders wichtig ist es, die Eltern von Kindern, die ein unangemessen aggressives Verhalten zeigen, psychotherapeutisch zu unterstützen, damit diese Kinder nicht langfristig im Umgang mit ihren Aggressionen beeinträchtigt bleiben. Für die Entwicklung von aggressivem Verhalten und deren Kontrolle ist die Altersspanne von eins bis drei Jahren ein sensibles Zeitfenster, das verstärkt für präventive Ansätze in Betracht gezogen werden sollte.
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Kapitel 17 • Entwicklungsgerechtes Trotzen, persistierendes Trotzen und aggressives Verhalten
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17
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»Null Bock« in früher Kindheit: Regulationsprobleme von Aufmerksamkeit und Spiel Mechthild Papoušek
18.1
Frühkindliche Regulationsstörungen – ein ADHS-Risiko? – 286
18.2
Klinisches Erscheinungsbild der frühkindlichen Spielunlust – 286
18.2.1 18.2.2
Klagen der Eltern – 287 Entstehungsbedingungen anhand klinischer Vergleichsdaten – 287
18.3
Exkurs 1: Adaptive Funktionen des Spiels – 288
18.3.1 18.3.2
Zur Rolle der Kommunikation im gemeinsamen Spiel – 288 Spiel und Bindungssicherheit – 290
18.4
Exkurs 2: Reifung und Entwicklung der Aufmerksamkeitsregulation – 291
18.4.1 18.4.2 18.4.3 18.4.4
Basale Regulation von Arousal und Vigilanz – 291 Reifung und Entwicklung des hinteren Aufmerksamkeitssystems – 291 Selbstwirksamkeit und Spielmotivation – 292 Entwicklung des präfrontalen Aufmerksamkeitssystems – 292
18.5
Diagnostische Besonderheiten bei »Spielunlust« – 292
18.5.1
Auffälligkeiten aufseiten des Säuglings: Klinische Beobachtungen – 293 Auffälligkeiten im elterlichen Kommunikationsverhalten: Klinische Beobachtungen – 293
18.5.2
18.6
Störungsgeleitete Beratung und Therapie bei »Spielunlust« – 295
18.7
Stellenwert von »Spielunlust« im Kleinkindalter in der Entwicklungspsychopathologie von ADHS – 295 Literatur – 297
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
18
286
Kapitel 18 • »Null Bock« in früher Kindheit: Regulationsprobleme von Aufmerksamkeit und Spiel
Wie aus Langzeitstudien hervorgeht, besteht für Säuglinge und Kleinkinder mit persistierendem Schreien und multiplen Regulationsstörungen ein erhöhtes Risiko, im späteren Kindesalter Symptome eines ADHS zu entwickeln. Das Bemühen um Früherkennung der spezifisch gefährdeten Kinder lenkt die Aufmerksamkeit auf das frühkindliche Spiel, das in entwicklungspsychopathologischen Konzepten im Gegensatz zur Bindung bemerkenswert wenig beachtet wird. So leidet etwa jedes dritte der in einer Spezialambulanz für frühkindliche Regulationsstörungen vorgestellten Kinder zusätzlich unter einer auffälligen Spielunlust, die mit extrem kurzer Aufmerksamkeitsspanne, dysphorischer Unruhe und motorischer Umtriebigkeit einhergeht. Das Kapitel fasst klinische Studien und videogestützte Beobachtungen zum Erscheinungsbild sowie spieltherapeutische Interventionen zusammen und diskutiert Entstehungsbedingungen, Prognose und Ansätze präventiver Intervention in Bezug auf ADHS in Zusammenhang mit der frühkindlichen Entwicklung von Aufmerksamkeit und Spiel.
18.1
18
Frühkindliche Regulationsstörungen – ein ADHS-Risiko?
Unter den Eltern von Säuglingen und Kleinkindern mit frühkindlichen Regulationsstörungen ist die Sorge verbreitet, hinter den Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes verberge sich der Beginn eines Aufmerksamkeitsdefizit-/HyperaktivitätsSyndroms (ADHS). Die derzeit vorliegenden Daten bieten für die individuellen Ängste und Fragen der Eltern noch keine Antwort. Retrospektive Studien von Kindern mit ADHS belegen, dass der Störung in der Mehrzahl der Fälle Irritabilität und hohes Aktivitätsniveau, Auffälligkeiten im Schrei-, Schlafund Fütterverhalten sowie extreme Trotzreaktionen mit plan- und rastloser Aktivität und Impulsivität vorausgehen (Döpfner et al. 2000). In dem heterogenen Pool von Kindern mit frühkindlichen Regulationsstörungen befinden sich somit auch Kinder mit einem erhöhten Risiko, im Vorschuloder Schulalter mit ADHS-Symptomen auffällig zu werden.
Die wenigen prospektiven Langzeitstudien umfassen eine Katamnese im Schulalter von Säuglingen mit persistierendem Schreien und assoziierten Schlaf- und Fütterproblemen (Wolke et al. 2002), eine epidemiologische Studie an einer ähnlich definierten Teilstichprobe des ALSPACProjektes (Messzeitpunkte: null bis vier Jahre und acht Jahre) (Wolke et al. 2008) und die Mannheimer Risikolängsschnittstudie an einer Teilgruppe von drei Monate alten Säuglingen mit multiplen Regulationsproblemen (Messdaten: drei Monate bis elf Jahre) (Laucht et al. 2004). Diese kommen zu auffallend übereinstimmenden Ergebnissen: Säuglinge mit multiplen Regulationsproblemen stehen unter einem signifikant erhöhten Risiko in Bezug auf ADHS-Auffälligkeiten im Vorschul- und Schulalter, jedoch mit zwei Einschränkungen. Zum einen ist der Zusammenhang nicht spezifisch, insofern als sich in den Studien erhöhte Risiken ebenso oder noch ausgeprägter für Störungen des Sozialverhaltens und internalisierende Verhaltensstörungen finden. Zum anderen wird der spezifische Voraussagewert von multiplen und persistierenden Regulationsproblemen relativiert bzw. aufgehoben bei gleichzeitiger Kontrolle von bekannten ADHSrelevanten psychosozialen Risikofaktoren wie zerrütteter Herkunftsfamilie der Mutter (Laucht et al. 2004), familiären Risiken (Wolke 2008), mütterlicher Depression (Morrell u. Murray 2003) und frühen Interaktionsstörungen (Laucht et al. 2004; Morrell u. Murray 2003). Prospektive Langzeitstudien über Regulationsstörungen, die per Definition multiple, meist chronische Risikobelastungen des frühen Beziehungssystems einschließen (Papoušek 2004a), fehlen bisher. Ungeklärt ist auch, wie viele der Kinder mit frühkindlichen Regulationsstörungen langfristig gefährdet sind und welche Kinder mit welchen Früherkennungszeichen unter welchen Bedingungen ein behandlungsbedürftiges ADHS entwickeln.
18.2
Klinisches Erscheinungsbild der frühkindlichen Spielunlust
Bei der Suche nach spezifischen Vorzeichen von ADHS bei Säuglingen und Kleinkindern, die wegen persistierenden Schrei-, Schlaf- und Fütterstö-
287
18.2 • Klinisches Erscheinungsbild der frühkindlichen Spielunlust
rungen in Kombination mit exzessivem Klammern, sozialer Ängstlichkeit, Trotzen oder aggressivem Verhalten in einer Spezialambulanz vorgestellt wurden, fiel die Aufmerksamkeit auf ein bemerkenswertes Phänomen: Unter 590 konsekutiv vorgestellten Säuglingen und Kleinkindern (4 bis 30 Monate), fand sich bei gut einem Drittel der Kinder ein Syndrom von chronischer Spielunlust, gepaart mit Reizhunger oder Ablenkbarkeit, extrem kurzer Aufmerksamkeitsspanne, Misslaunigkeit und Umtriebigkeit (Papoušek 2004b).
18.2.1
Klagen der Eltern
Die Eltern klagen, ihr Baby lasse sich keinen Moment ablegen, sei ständig unzufrieden und quengelig, verlange herumgetragen und unterhalten zu werden. Ebenso wenig könne sich ihr Kleinkind allein beschäftigen, fordere ständig ihre Aufmerksamkeit und ein abwechslungsreiches Bespielungsprogramm, ohne sich auf längeres Explorieren einzulassen. Oft laufe es gelangweilt, ziellos und nörgelnd herum und hänge der Mutter quengelnd an den Beinen. Neues Spielzeug sei sofort wieder uninteressant. Spielsachen würden nur aus dem Schrank gerissen und herumgeworfen. Einzig reizvoll seien das Fernsehen und alles Verbotene, wie Computer, Steckdosen oder Fernbedienung. Das gemeinsame Spiel sei freudlos, das Kind bleibe nicht bei der Sache, sei rasch frustriert, gebe auf und laufe weg. Es falle den Eltern aus purer Erschöpfung selbst oft schwer, sich aufzuraffen, um mit ihrem Kind zu spielen. Andere Eltern können sich nicht erinnern, in ihrer Kindheit je gespielt zu haben. Sie fühlen sich von Unruhe getrieben, daheim falle ihnen die Decke auf den Kopf. Auch wenn sie bis zur Erschöpfung rund um die Uhr für ihr Kind im Einsatz seien, um ein attraktives Unterhaltungsprogramm zu inszenieren, fürchten sie, ihm nicht genug an Anregung und Förderung zu bieten.
18.2.2
18
Entstehungsbedingungen anhand klinischer Vergleichsdaten
Regulationsgestörte Säuglinge und Kleinkinder mit auffälliger Spielunlust (n = 209; 35 %) stimmen mit dem Rest der Gesamtstichprobe (n = 381) in Bezug auf einen hohen Anteil assoziierter Schlafstörungen (85 %) und Fütterstörungen (40 %) überein, zeichnen sich jedoch im zweiten und dritten Lebensjahr durch eine höhere Rate von exzessivem Trotzen (72 % vs. 45 %, p ≤ .001) und aggressiv-oppositionellem Verhalten (28 % vs. 13 %, p ≤ .01) aus (Papoušek 2004b). Über 90 % der Kinder dieser Gruppe hatten bereits in den ersten Lebensmonaten exzessiv geschrien. Die Spielunlust war in 80 bis 90 % der Fälle mit langwierigen Schlafstörungen und immer auch mit weiteren Störungsbildern assoziiert und trat im Kleinkindalter besonders häufig mit exzessivem Trotzen und aggressiv-oppositionellem Verhalten auf. Ausgeprägte Unterschiede zuungunsten der spielauffälligen Kinder zeigten sich vor allem in einem Zusammentreffen von extremen Temperamentsauffälligkeiten des Kindes, Häufigkeit und Schweregrad von psychosozialen Belastungsfaktoren, psychischen Störungen der Mütter und familiären Beziehungskonflikten. Es fanden sich signifikant erhöhte Raten von Kindern mit Extremausprägungen (ICQ; Bates et al. 1979; > 2 SD über Standardmittelwert) auf den Subskalen Unruhe/ Schwierigkeit(57 % vs. 24 %), Unvoraussagbarkeit und Mangel an Anpassungsfähigkeit(19 % vs. 5 %). Aufseiten der Mütter ergaben sich signifikante Unterschiede in der Häufigkeit der insgesamt seltenen pränatalen Depression und der Gesamtrate von postpartalen psychischen Störungen, die im Kleinkindalter mit 73 % gegenüber 39 % ein Maximum erreichte und insbesondere depressive Episoden, Persönlichkeitsstörungen und neurotische Beziehungsstörungen einschloss. Die Selbsteinschätzung mithilfe der Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS; Murray u. Carothers 1990) lag vor allem im ersten Lebensjahr der Kinder mit 41 % im Vergleich zu 26 % erheblich häufiger im klinisch relevanten Bereich über dem Cut-off-Wert von 12. Innerfamiliär waren die Raten ausgeprägter Paarkonflikte, ungelöster intergenerationaler Kon-
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Kapitel 18 • »Null Bock« in früher Kindheit: Regulationsprobleme von Aufmerksamkeit und Spiel
flikte mit den Herkunftsfamilien, belasteter Kindheitserfahrungen der Mütter und Mutter-Kind-Beziehungskonflikte signifikant erhöht. Die Untersuchung der Mutter-Kind-Beziehung, deren Qualität anhand der Parent-Infant Relationship Global Assessment Scale (PIR-GAS; Zero To Three 2005) eingeschätzt wurde, ergab in beiden Altersgruppen einen gegenüber der Vergleichsgruppe auf das Doppelte erhöhten Anteil bereits gestörter Beziehungen, wovon im ersten Lebensjahr jedes achte, im zweiten und dritten Lebensjahr jedes vierte Mutter-Kind-Paar betroffen war. Insgesamt zeichnet sich die Teilgruppe der regulationsgestörten Säuglinge und Kleinkinder mit »Spielunlust« gegenüber der klinischen Restgruppe durch ein Zusammentreffen von besonders hoher konstitutioneller Belastung im Bereich der basalen Verhaltensregulation und Reizverarbeitung auf kindlicher Seite, gehäufter Beeinträchtigung der psychischen Verfassung der Mutter und erhöhten Raten von innerfamiliären Beziehungskonflikten und mit dem Alter zunehmenden Gefährdungen und Störungen der Mutter-Kind-Beziehung aus. Zu klären bleibt, ob und wie die einzelnen Faktoren im Einzelfall zur Entstehung des Syndroms der Spielunlust beitragen konnten. Wie die individuelle Verhaltens- und Interaktionsdiagnostik ergab, trugen die multiplen Risikobelastungen dieser Familien in unterschiedlicher Gewichtung zu dysfunktionalen Kommunikationsmustern im gemeinsamen Spiel, einem eklatanten Mangel an positiven Spielerfahrungen und reizhungrig-umtriebigem Explorations- und Spielverhalten bei (vgl. . Abb. 18.1). Die Tragweite des Syndroms, seine Genese und langfristigen Risiken lassen sich deutlicher ermessen, wenn man sich zunächst die adaptiven Funktionen des frühkindlichen Spiels und die Entwicklung und Reifung von Aufmerksamkeit und Spielmotivationen vergegenwärtigt.
18
18.3
Exkurs 1: Adaptive Funktionen des Spiels
In klinischen und theoretischen Konzepten der Entwicklungspsychopathologie hat das Spiel, gewissermaßen im Schatten der Bindung, bemerkenswert wenig Beachtung gefunden. In Bezug auf
die Entwicklung der Aufmerksamkeitsregulation stellen Alleinspiel, spielerische Zwiegespräche und gemeinsames Spiel die wichtigsten frühkindlichen Lernkontexte dar. Wie die Bindung gehört das Spiel zu den biologisch angelegten Grundbedürfnissen des Kindes. Es verkörpert die elementare Lebensform, in der das Kind vom Säuglingsalter an den Großteil seiner Wachzeit verbringt. Es umfasst die Aktivitäten und integrativen Prozesse des Kindes, über die es mit seiner Umwelt in Beziehung tritt, und dies im Zustand wacher Aufmerksamkeit, unter stressfreien Bedingungen, aus innerer Motivation und Eigeninitiative, ohne äußere Zweckbestimmung (H. Papoušek 2003). Im frühkindlichen Spiel folgt das Kind seinem Bedürfnis, sich mit der sozialen und gegenständlichen Umwelt vertraut zu machen, sie zu begreifen, auf sie einzuwirken, Regelhaftes und Voraussagbares zu entdecken und diese Erfahrungen zu integrieren. Es ist angelegt als spontanes, selbstreguliertes implizites Lernen (Largo u. Benz 2003). Im Spiel erprobt und übt das Kind seine reifenden sensomotorischen, perzeptiven und integrativen Fähigkeiten und baut sich seine innere Erfahrungs- und Vorstellungswelt von Kategorien, Konzepten und Repräsentationen von sich und der Umwelt auf. Treibende Kräfte sind dabei seine biologisch angelegten inneren Motivationen, beginnend mit der Neugier gegenüber allem, was neu, unbekannt oder fremd ist und Anreize bietet für seine Aufmerksamkeit, sein früh erwachendes Bedürfnis nach Eigenaktivität, Selbstwirksamkeit und Urheberschaft, und – im Zuge der weiteren motorischen und kognitiven Entwicklung – für seine Explorations-, Erfolgs- und Kompetenzbedürfnisse (Heckhausen 1973).
18.3.1
Zur Rolle der Kommunikation im gemeinsamen Spiel
In Anbetracht der Bedeutung der kindlichen Initiative und Selbstwirksamkeit im Spiel besteht die Rolle der Eltern vor allem darin, eine sichere, anregende, greifbare und erkundbare Umgebung mit altersangemessenen Anreizen für die kindliche Aufmerksamkeit zu gestalten, vor Reizüberflutung, Überforderung und physischen Gefahren zu schüt-
Eskalation Ausbleibende Unterstützung der Selbstregulation Versagen beim Bewältigen der Entwicklungsaufgaben
Hyperexzitabilität Hyperreaktivität Eingeschränkte Selbstregulation
Teufelskreise negativer Gegenseitigkeit
Exzessives unstillbares Schreien
-
-
ADHS
- Präfronatale Reifung / Vernetzung - - - - - Defizite: Aufmerksamkeitsregulation, Kompetenz- und Lernmotivation, sequentielle Handlungssteuerung, emotionale Regulation und Impulskontrolle
Mangelnde Unterstützung von Selbstwirksamkeit, Aufmerksamkeit, Erfolgs-, Kompetenzmotivation, Handlungssteuerung
im Spiel
Dysfunktionale Kommunikation
289
. Abb. 18.1 Modell entwicklungspsychopathologischer Zusammenhänge von Spielunlust im Rahmen frühkindlicher Regulationsstörungen und ADHS im Vorschul- und Schulalter
-
Spielunlust
Hemmung der intuitiven elterlichen Kompetenz
Hemmung der intuitiven elterlichen Kompetenz im Rahmen von Schlafstörung Fütterstörung Exz. Klammern Exz. Trotzen Aggress. Verhalten
Belastete Beziehung Erziehungskrise
Belastete Beziehungsrepräsentation
Konstitutionelle Faktoren (Temperament) - - - Hyperreaktivität auf Neues / auf Einschränkung, mangelnde Tröstbarkeit und Selbstberuhigung, Unruhe-Schwierigkeit, hohes Aktivitätsniveau, Reizhunger, Ablenkbarkeit, mangelnde Anpassungsfähigkeit ---------
Pränatale somatische, psychosoziale Belastungen
Mutter/Eltern: Überlastungssyndrom Depression Wiederbelebung von Kindheitstraumen
Anhaltende psychosoziale Belastungen – geringe Ressourcen Postpartale Depression, belastete Kindheit der Mutter, Paarkonflikte, intergenerationale Beziehungskonflikte, soziale Isolation, u.a.
18.3 • Exkurs 1: Adaptive Funktionen des Spiels
18
290
18
Kapitel 18 • »Null Bock« in früher Kindheit: Regulationsprobleme von Aufmerksamkeit und Spiel
zen sowie in Antwort auf die Signale des Kindes einen unterstützenden Rahmen zu schaffen, in dem es seine heranreifenden Fähigkeiten selbstwirksam erproben und einüben kann. Eine ebenso wichtige Rolle kommt dem Gelingen der Kommunikation im gemeinsamen Spiel zu. Hier kommt das Repertoire der intuitiven elterlichen Kommunikationsfähigkeiten mit seinen spielerischen Elementen zum Tragen (M. Papoušek 2003). Voraussetzung gelingender Kommunikation ist die elterliche Bereitschaft, sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit und emotionaler Anteilnahme auf die Spielinitiativen und aktuelle Erfahrungswelt des Babys einzulassen, um seine Signale und Reaktionen intuitiv zu lesen und zu beantworten, die Aufschluss geben über Aufnahmebereitschaft und Toleranzgrenzen, Überforderung oder Unterforderung, Aufmerksamkeitsfokus und Spielthema, affektives Erleben und Motivation, Fähigkeiten und Schwierigkeiten. Ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus, emotionale Abstimmung, spielbegleitendes Sprechen, Kooperation und kleine Regulationshilfen in abgestimmtem Maß und im richtigen Moment unterstützen die kindliche Selbstwirksamkeit und Ausdauer im Spiel. Die Regulation der visuellen Aufmerksamkeit und das Erreichen von Blickkontakt spielen in den Eltern-Kind-Interaktionen von Geburt an eine zentrale Rolle. Das Repertoire des intuitiven Kommunikationsverhaltens ist reich an auffälligen Verhaltensmustern, deren Intensität und Variabilität im Zwiegespräch mit dem Säugling auf die kindlichen Signale von Aufnahmebereitschaft, Ermüdung und Toleranzgrenzen abgestimmt werden und die kindliche Aufmerksamkeit anregen und modulieren. Dank der elterlichen Regulationshilfen lernt der Säugling, seine visuelle Aufmerksamkeit zu fokussieren, aufrechtzuerhalten und sein Erregungsniveau durch Blickzuwendung und Abwendung zu regulieren. Mit seinem reifenden Interesse für die gegenständliche Umwelt beginnen die Eltern, seine Aufmerksamkeit auf Umweltaspekte zu lenken und Gegenstände zum Greifen und Explorieren anzubieten. Im zweiten Halbjahr rückt das gegenseitige Abstimmen eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus in vielen Alltagskontexten und im gemeinsa-
men Spiel in den Mittelpunkt. Der Säugling lernt, die Ausrichtung der elterlichen Aufmerksamkeit aus der Blickrichtung, den Zeigegesten und der Körperhaltung der Eltern abzulesen, und beginnt, die Aufmerksamkeit der Eltern durch Zeige- und Lautgesten zu lenken. Die Kommunikation im gemeinsamen Fokus ermöglicht Eltern und Kind, ihre Absichten, Interessen und Gefühle zu teilen, im Spiel zu kooperieren, auf Tätigkeiten oder Gegenstände Bezug zu nehmen, ihnen Bedeutung zu verleihen, sie sprachlich zu symbolisieren und einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund für Sprachverständnis und Wortschatzentwicklung aufzubauen (7 Kap. 5). Damit kommt dem gemeinsamen Spiel eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von intersubjektiver Bezogenheit, geteilter Intentionalität, sozialer Kognition und Empathie zu. Gemeinsames Spiel und Alleinspiel bilden langfristig eine Ressource sowohl für den Aufbau tragfähiger Eltern-Kind-Beziehungen wie für den Aufbau kindlicher Resilienz, indem das Spiel mit der Weiterentwicklung zum Symbol- und Rollenspiel neue Funktionen der »Daseinsbewältigung« in Bezug auf anstehende Entwicklungs- und Beziehungsthemen übernimmt (Oerter 2003; Papoušek 2001).
18.3.2
Spiel und Bindungssicherheit
Die Bereitschaft und Fähigkeit des Kindes, sich auf Exploration und Spiel einzulassen, setzt körperliches und seelisches Wohlbefinden, Gefühle von Geborgenheit und emotionaler Sicherheit voraus (Largo u. Benz 2003). Spiel- und Bindungsbedürfnisse stehen damit in einer elementaren Wechselbeziehung (Grossmann u. Grossmann 2004): Wird das Bindungssystem durch Hunger, Müdigkeit, Krankheit, Verunsicherung, Ängste, Trennung oder andere emotionale Belastungen aktiviert, wird im gleichen Zuge das Explorationssystem gehemmt. Umgekehrt entfalten sich Neugier, Explorations- und Unternehmungslust, sobald die Näheund Sicherheitsbedürfnisse des Kindes gestillt sind. Unsicher-ambivalente oder desorganisierte Bindungsrepräsentanzen können die Fähigkeiten zum Alleinspiel oder gemeinsamen Spiel beeinträchtigen, mit messbaren Auswirkungen auf Ausdauer und Aufgabenorientierung im zweiten Lebensjahr
18.4 • Exkurs 2: Reifung und Entwicklung der Aufmerksamkeitsregulation
(Crockenberg u. Leerkes 2000). Beeinträchtigungen der emotionalen Sicherheit in den primären Bindungsbeziehungen haben somit auch eine Beeinträchtigung des Spiels und seiner vielfältigen adaptiven Funktionen zur Folge.
18.4
Exkurs 2: Reifung und Entwicklung der Aufmerksamkeitsregulation
Nach Spitzer (2002) entsteht Aufmerksamkeit beim Erwachsenen aus dem Zusammenspiel von strukturell und funktionell differenzierbaren Systemen, die in der Kindheit nach und nach zur Ausreifung gelangen: der Vigilanz als allgemeinem Wachheitsgrad, der die allgemeine Informationsverarbeitungskapazität (Aufnahmebereitschaft) bestimmt, und der selektiven Aufmerksamkeit, die einem Scheinwerfer gleich Sinneswahrnehmung und integrative Prozesse auf eine Informationsquelle, eine Handlung oder ein Handlungsziel ausrichtet, während störende Reize ausgeblendet und ablenkende Impulse gehemmt werden. Neurobiologisch wird die Verarbeitungskapazität durch selektive Modifikation der synaptischen Übertragungsstärke in den beteiligten sensorischen, parietalen und temporalen Netzwerken des hinteren Aufmerksamkeitssystems bereitgestellt und durch Aktivierung des vorderen Aufmerksamkeitssystems mit seinen präfrontalen Netzwerken und exekutiven Kontrollfunktionen aufrechterhalten. Frühentwicklung und Reifungsschritte im Säuglings- und Kleinkindalter wurden vor allem in Bezug auf die visuelle Aufmerksamkeit erforscht. Eine umfassende Übersicht findet sich bei Ruff u. Rothbart (1996).
18.4.1
Basale Regulation von Arousal und Vigilanz
In den ersten Lebenswochen wird die Aufmerksamkeit vor allem über die basale Regulation von Erregung und Beruhigung und die Organisation von Verhaltenszuständen gesteuert (Papoušek 2009; Wolff 1987). Zustände wacher Aufmerksamkeit sind noch selten und flüchtig.
18.4.2
291
18
Reifung und Entwicklung des hinteren Aufmerksamkeitssystems
Im Zuge eines ersten Entwicklungsschubes im dritten Monat kommt es zur Zunahme und Stabilisierung aktiv aufmerksamer Wachzustände. Parallel zur Ausreifung der peripheren Sinnessysteme tritt das hintere Orientierungs-/Explorationssystem in Funktion. Es dient dem Säugling dazu, sich rasch zu orientieren und mit der unbekannten Umwelt vertraut zu machen. Die Aufmerksamkeit wird selektiv in Form von Orientierungsreaktionen (OR) mit Öffnung aller Sinneskanäle aktiviert, durch alles, was im Umfeld neu ist oder vom bereits Vertrauten abweicht. Die Regulation der OR geht im Dienst der Aufmerksamkeitsaktivierung mit einer Hemmung von allgemeiner Erregung und Spontanmotorik und einer dadurch bedingten Senkung der Herzrate einher. Sobald das Neue aufgenommen und integriert ist, wird die OR durch Habituationsprozesse gehemmt. Die Aufmerksamkeitsdauer liegt bei rein visuellen oder auditiven Signalen im Sekundenbereich, nimmt mit dem Alter ab und fällt umso kürzer aus, je effektiver die Information verarbeitet wird. Sobald sich die OR auf einen fokussierten Gegenstand abschwächt, können konkurrierende Ablenkungsreize die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Klingt die OR jedoch ab, ohne dass etwas Neues in Sichtweite ist, kann ein als unangenehm empfundener Zustand von geringer Erregungsintensität, von »Langeweile«, entstehen, der erst durch erneute Aufmerksamkeitsaktivierung überwunden werden kann. Wird einem Säugling im Zustand von Missbehagen ein Ablenkungsreiz angeboten, so hält die OR im Nebeneffekt die negative affektive Erregung durch Hemmungsmechanismen unter Kontrolle, allerdings ohne dass es zu anhaltender Beruhigung kommt; die negative Erregung kehrt auf ihr Ausgangsniveau zurück, sobald der Reiz an Neuheitswert verliert und habituiert wird. Die Aktivierung des hinteren Aufmerksamkeitssystems ist demnach auch im Umgang mit negativen Erregungs- und Affektzuständen ein wirksamer Regulationsmechanismus, den Eltern unwillkürlich nutzen, wenn sie negative Affektzustände ihres
292
Kapitel 18 • »Null Bock« in früher Kindheit: Regulationsprobleme von Aufmerksamkeit und Spiel
Babys durch Ablenkungsreize zu durchbrechen suchen.
18.4.3
Selbstwirksamkeit und Spielmotivation
Die reifenden Hirnfunktionen stellen schon im zweiten Trimenon wirksamere Regulationshilfen zur Aktivierung und Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit bereit. Die Entwicklung des Greifens ermöglicht dem Säugling, beim manuellen, oralen und visuell koordinierten tätigen Explorieren neue Eigenschaften und Details von Gegenständen zu entdecken. Dazu kommen zunehmend kognitive Anreize wie das Entdecken von Regelhaftigkeiten, das Wiederentdecken von Vertrautem, Erwartungen und Antizipation. Wie die Experimente von Watson (1972) und anderen Autoren zeigen, wird die Regulation ausdauernder Aufmerksamkeit durch Selbstwirksamkeitserfahrung und die damit verbundenen inneren Motivationsprozesse erreicht. Während beim passiven Beobachten eines aufziehbaren Mobiles das Interesse drei Monate alter Säuglinge nach kurzer Zeit versiegt, wird die Aufmerksamkeit für ein im Luftzug frei bewegliches Mobile durch das Bedürfnis aufrechterhalten, durch aktives visuelles Verfolgen verborgene Regeln zu entdecken. Erhält der Säugling dagegen Gelegenheit, das Mobile durch eigene Bein- oder Armbewegungen zu steuern, versetzt ihn die Selbstwirksamkeitserfahrung in einen Zustand lang anhaltender Aufmerksamkeit mit gezielten explorativen Bewegungen und positiven Emotionen. Die motivierende Erfahrung der Selbstwirksamkeit setzt die Habituationsmechanismen außer Kraft und scheint durch assoziierte Hemmungsprozesse vor Ablenkung zu schützen.
18.4.4
18
Entwicklung des präfrontalen Aufmerksamkeitssystems
Während sich die Dauer fokussierter Aufmerksamkeit beim selbstwirksamen Explorieren und Spiel meist in der Größenordnung von wenigen Minuten bewegt, wird eine länger anhaltende Aktivierung mit der Reifung des präfrontalen Aufmerk-
samkeitssystems und seiner Vernetzung mit den hinteren Orientierungs-/Explorationssystemen möglich. Die präfrontalen inhibitorischen Kontrollfunktionen beginnen sich ab Mitte des zweiten Halbjahres Hand in Hand mit den Fähigkeiten zu intentionalem zielorientiertem Handeln, zur Handlungsplanung und Ausführung sequenzieller Handlungen zu entwickeln. Um dabei die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, kontrolliert das präfrontale System das hintere Aufmerksamkeitssystem in zweierlei Hinsicht, indem es zum einen die Habituation zielrelevanter Reize hemmt und zum anderen die Orientierungsreaktionen auf ablenkende innere und äußere Reize sowie störende affektive und motorische Impulse und Ereignisse blockiert. Triebkräfte sind dabei die inneren Motivationssysteme mit ihren präfrontalen Vernetzungen: die Selbstwirksamkeitsbedürfnisse in Bezug auf die Realisierung eigener Zielvorstellungen, Erfolgs- und Kompetenzbedürfnisse sowie Belohnungserwartung und Bedürfnisse nach sozialer Akzeptanz.
18.5
Diagnostische Besonderheiten bei »Spielunlust«
Die klinische Gesamtdiagnostik bei pervasiven Regulationsstörungen mit assoziierter Spielunlust richtet sich nach den diagnostischen Empfehlungen für die infrage kommenden Regulationsprobleme (7 Kap. 11 bis 17 sowie Papoušek 2009). Für die speziell auf frühkindliche Regulationsprobleme von Spielmotivation und Aufmerksamkeit ausgerichtete klinische Diagnostik der »Spielunlust« stehen noch keine standardisierten und validierten Erhebungs- und Auswertungsverfahren zur Verfügung. Anhaltspunkte zum Schweregrad der kindlichen Verhaltensauffälligkeiten geben Fragebögen zum kindlichen Temperament (vgl. 7 Kap. 3) und für den Altersbereich von eineinhalb bis fünf Jahren standardisierte Verhaltenschecklisten in Bezug auf klinisch relevante Frühsymptome von externalisierenden und internalisierenden Verhaltensproblemen (z. B. CBCL/1½–5, Döpfner et al. 2000). Für den klinischen Bedarf haben sich videogestützte Verhaltensbeobachtungen gemein-
293
18.5 • Diagnostische Besonderheiten bei »Spielunlust«
samer Spielsituationen von Eltern und Kind (vgl. 7 Kap. 29), elterlicher Abgrenzungsbemühungen und Alleinspiel des Kindes bewährt, die ihrerseits als Grundlage für gezielte Beratung und Therapie genutzt werden können. Wie in den folgenden Abschnitten beschrieben, fokussiert die Verhaltensanalyse auf Aufmerksamkeitsregulation, Spielmotivation, Affektregulation und Spielverhalten des Kindes, auf Ausprägung und Abstimmung der intuitiven Kommunikationsfähigkeiten der Eltern sowie auf adaptive und dysfunktionale Kommunikationsmuster und Beziehungsqualität.
18.5.1
Auffälligkeiten aufseiten des Säuglings: Klinische Beobachtungen
Bei exzessiv schreienden Säuglingen mit erhöhtem Erregungsniveau, Irritabilität, Hyperreagibilität und mangelnder Anpassungsfähigkeit ist die frühe Regulation von Aufmerksamkeit und Reizverarbeitung in engem Zusammenhang mit konstitutionell bedingten basalen Regulationsproblemen von Erregbarkeit und Erregungshemmung erschwert (Papoušek 2009; Rothbart et al. 1994). Unruhig-überreizte Zustände überwiegen, ruhig-aufmerksame Wachzustände werden nur selten nach kurzem Schlaf und am ehesten in aufrechten, das Vigilanzsystem aktivierenden Körperpositionen mit Blick auf visuelle Reize erreicht. Häufig finden sich eine über den ersten Entwicklungsschub hinaus anhaltende ausgeprägte Hyperreagibilität und Reizoffenheit als Ausdruck einer generell erhöhten Erregbarkeit oder erniedrigter Reizschwellen in einem oder mehreren Sinnesbereichen. Diese Säuglinge nehmen die Umwelt »seismografisch« wahr, sodass ihnen keine Bewegung im Raum, kein Hintergrundgeräusch entgeht. Sie fallen durch hochgradige Ablenkbarkeit auf, benötigen ein reizarmes Umfeld, geraten rasch an ihre Toleranzgrenzen und reagieren bis ins Kleinkindalter auf ein Überangebot von neuen Eindrücken oder Spielzeug mit extremer Überreiztheit und Schlafstörungen. Persistierend schreiende Säuglinge neigen paradoxerweise dazu, in dysphorisch-unruhigen Affektzuständen einen »Reizhunger« zu entwickeln.
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Neue Reizangebote und die dadurch ausgelösten OR versetzen sie kurzzeitig in einen positiven Zustand fokussierter Aufmerksamkeit, der aufgrund der einsetzenden Habituation rasch wieder in den Unruhezustand zurückfällt. Wenn sich die Eltern durch die positiven Reaktionen des Babys in ihrem permanent wechselnden Reizangebot bestärkt fühlen, entsteht ein dysfunktionales Kommunikationsmuster mit langfristigen Folgen. Beobachtungen von Säuglingen mit persistierenden exzessiven Schreiproblemen über den dritten Monat hinaus lassen vermuten, dass sie in ihrer Aufmerksamkeitsregulation positive Selbstwirksamkeitserfahrungen weitgehend entbehren. Der Drang in die Vertikale und das Verlangen nach abwechslungsreichen visuellen Reizen bleiben bestehen. Die Kinder fordern quengelnd oder schreiend, mit freiem Blick in die Umwelt herumgetragen zu werden, aufrecht auf dem Schoß zu sitzen oder zu stehen und sich passiv unterhalten und bespielen zu lassen. Ihnen entgehen jedoch die selbstmotivierenden Erfahrungen beim tätigen Explorieren in entspannter Rückenlage, beim Erkunden des eigenen Körpers und Erproben reifender motorischer Fähigkeiten. Negative Selbstwirksamkeitserfahrungen machen sie dagegen mit ihrem erfahrungserprobten instrumentellen Schreien, auf das die Eltern dysfunktional mit Hochnehmen und – oft genervtem – Herumtragen reagieren.
18.5.2
Auffälligkeiten im elterlichen Kommunikationsverhalten: Klinische Beobachtungen
Die meisten Mütter kommen trotz Erschöpfung den permanenten Forderungen des Kindes nach Beschäftigung nach, lassen den Haushalt liegen, stellen eigene Bedürfnisse hintan und versuchen täglich viele Stunden lang, ihr Kind herumzutragen oder mit Spielzeug aller Art zufriedenzustellen und zu »bespaßen«. Oft geht es dabei aber nur darum, das unerträglich gewordene Quengeln und Schreien endlich abzustellen, das sie bis zum Überdruss mit ihrem Versagen konfrontiert und Gefühle von Verletzung, hilflosem Ausgeliefertsein, Angst oder auch ohnmächtiger Wut aufleben lässt. Weder das Herumtragen noch die gemeinsam verbrach-
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Kapitel 18 • »Null Bock« in früher Kindheit: Regulationsprobleme von Aufmerksamkeit und Spiel
ten Spielzeiten können das Kind in der erhofften Weise zufriedenstellen und werden auch von der Mutter nicht als erfüllend und befriedigend erlebt. Das Kind bleibt dabei passiv, quengelig, ist rasch gelangweilt und verlangt unersättlich nach immer neuen Reizen. Problematisch ist der offensichtliche Mangel an gelingender Kommunikation und emotionaler Bezogenheit. Die Eltern sind in ihrem intuitiven Kommunikationsverhalten blockiert oder gehemmt, wirken angespannt, lustlos, wie ausgebrannt, ideenlos gelangweilt oder verdeckt feindselig; ihr Verhalten erscheint unnatürlich stereotyp, forciert, wie aufgesetzt, oder sie verstummen, absorbiert von Sorgen und ungelösten Konflikten. Dies führt zu einem Mangel an responsiver kontingenter Abstimmung auf die genuinen kindlichen Spielbedürfnisse. Misslingt die Abstimmung auf die Aufnahmebereitschaft und die Toleranzgrenzen des Kindes, auf Zeichen von Ermüdung oder Überreiztheit, entsteht ein Muster von Überstimulation, Überforderung und kindlicher Abwehr. Auch im Alltag lassen volle Terminkalender, übervolle Spielzimmer und laufende Fernseher weder Kind noch Eltern zur Ruhe kommen, und es fehlt an Erholungspausen und Schlaf. Andere Eltern tun sich aufgrund von hohen Leistungserwartungen, Förder- oder Kontrollbedürfnissen schwer, dem Kind die Initiative zu überlassen. Sie folgen ihrer eigenen Agenda, neigen zu direktiv-kontrollierendem Verhalten, durchkreuzen seine zielorientierten Aktivitäten und suchen zu bestimmen, wie es »richtig« spielen sollte. Bei psychisch hoch belasteten Eltern und selbstregulatorischer Abwehr des Kindes kann solches Verhalten den Charakter von Zudringlichkeit und Übergriffigkeit annehmen. Bei besonders verunsicherten Eltern orientiert sich die eigene Agenda im Spielangebot eher an Altersnormen, Elternratgebern, am Spielzeugmarkt oder dem Entwicklungsstand gleichaltriger Kinder als am spontanen Interesse und an Feedbacksignalen des eigenen Kindes, sodass es leicht zu Unter- oder Überforderung kommt. Folgen die Eltern im gemeinsamen Spiel ihrer eigenen Agenda, ohne sich auf den Fokus der kindlichen Aufmerksamkeit und Spielintention einzulassen, wird das Kind entmutigt, verliert die Lust,
zieht sich in seine passive Rolle zurück und läuft gelangweilt weg, oder es kommt, speziell im Fall von hyperreaktiv-impulsiven Kleinkindern, zu eskalierenden Machtspielchen, die in einem impulsiven Trotzanfall enden. Nehmen überfürsorgliche oder ungeduldige Eltern den Erfolg einer Spielhandlung vorweg oder misslingt dem Kind eine Spielhandlung, da die Eltern die benötigten kleinen Hilfen zur Selbsthilfe nicht erkennen, bleiben Selbstwirksamkeits- und Erfolgserlebnisse aus. Die Aufmerksamkeit bricht ab, und das Kind gibt entmutigt oder frustriert auf. Die beschriebenen Auffälligkeiten der Eltern hemmen die biologisch angelegten Spielmotivationen und lassen die intuitiv abgestimmte elterliche Unterstützung von Selbstwirksamkeit, Zielorientierung, Erkundungslust, Erfolgs- und Kompetenzmotivation und ausdauernder Aufmerksamkeit vermissen. Es sind vor allem die multiplen psychischen Belastungen, Depression und Erschöpfung, die es den Eltern erschweren, sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit und emotionaler Einfühlung auf das Spiel mit ihrem Baby einzulassen. So übersehen sie die subtilen Zeichen von Befriedigung und Freude über ein gelingendes Spiel und können weder wahrnehmen noch wertschätzen, was ihr Kind bewegt, seinen Spieleifer und angestrengten Ernst, seine Bewegungslust, die unvermeidbaren kleinen Enttäuschungen und Misserfolge wie auch Freude und Stolz am Gelingen. Die Eltern berauben damit sich selbst und das Kind einer Quelle positiver Beziehungserfahrungen. Das Kind erwirbt seinerseits Strategien zur Überwindung eigener Zustände von dysphorischer Unruhe und Langeweile, indem es nach immer neuen erregungsintensiven Reizen sucht (»sensation seeking«) und abwechslungsreiche, passiv konsumierbare Unterhaltung (Fernsehen) einfordert. Langfristig problematisch erscheint dabei, dass sein Spielniveau auf einer oberflächlichen Ebene der neugiergesteuerten Reizverarbeitung verbleibt. Für die Ausdifferenzierung von Selbstwirksamkeit und reifen Spielmotivationen gibt es keinen Erfahrungsspielraum zum Erproben und Einüben, ebenso wenig wie für die Regulation von Aufmerksamkeit und Ausdauer und den nutzungsabhängigen Reifungsbeginn der inhibitorischen exekutiven
18.7 • Stellenwert von »Spielunlust« im Kleinkindalter in der Entwicklungspsychopathologie
Funktionen des präfrontalen Aufmerksamkeitssystems. Die Folge sind Aufmerksamkeitsprobleme, mangelnde Ausdauer und unstetes Herumlaufen mit Schnuller oder Nuckelflasche zur Selbstberuhigung.
18.6
Störungsgeleitete Beratung und Therapie bei »Spielunlust«
Die multifaktorielle Genese der »Spielunlust« im Rahmen pervasiver Regulationsstörungen erfordert ein entwicklungsdynamisches systemisches Gesamtbehandlungskonzept mit gestuftem Behandlungsplan, in den je nach Dringlichkeit alle Störungsbereiche einbezogen werden. Bei spielauffälligen Kindern mit besonders ausgeprägten konstitutionellen Problemen der Reizwahrnehmung und Verarbeitung empfiehlt sich eine ergotherapeutische Behandlung zur Förderung der sensorischen Integration. Die auf das gemeinsame Spiel ausgerichtete ressourcenorientierte Entwicklungsberatung und Kommunikations- und Beziehungstherapie hat ein dreifaches Ziel: 1. die kindliche Eigenaktivität, Spielmotivation und Ausdauer im Spiel zu stärken, 2. zur Stärkung der Bindungsbeziehung einen Erfahrungsraum für positive emotionale Beziehungserfahrungen zu schaffen und 3. den Eltern zu ermöglichen, die Erfahrungswelt ihres Kindes wahrzunehmen, zu verstehen und empathisch mitzuerleben. Die wichtigsten Module sind in . Tab. 18.1 zusammengefasst. Ansatzpunkte bieten spontane Spielsituationen im sicheren Hafen einer empathisch unterstützenden therapeutischen Beziehung und die videogestützte Verhaltensbeobachtung von gemeinsamem Spiel, Abgrenzungssituation und Alleinspiel.
18.7
295
18
Stellenwert von »Spielunlust« im Kleinkindalter in der Entwicklungspsychopathologie von ADHS
Im Rahmen frühkindlicher Regulationsstörungen verdient das Syndrom der »Spielunlust mit dysphorischer Bewegungsunruhe« volle Aufmerksamkeit und Behandlung aufgrund des hohen Leidensdrucks bei Kind und Eltern, der extremen Risikobelastung (. Abb. 18.1) und der Auswirkungen, die ein Mangel an Spielerfahrungen auf die Entwicklung und Reifung wichtiger psychischer und mentaler Funktionen hat. Ob dem Mangel an positiven Spielerfahrungen darüber hinaus ein spezifischer Voraussagewert in Bezug auf ADHS zukommt, muss noch in gezielten prospektiven Langzeitstudien geklärt werden. Entwicklungspsychopathologische Zusammenhänge werden vor allem durch drei klinische Aspekte nahegelegt: erstens durch die überraschend übereinstimmende multifaktorielle Genese mit ähnlicher Gewichtung von neurobiologischen, konstitutionellen, psychosozialen und beziehungsrelevanten Faktoren (vgl. . Abb. 18.1) (Carey 2002; Döpfner et al. 2000; Moll u. Rothenberger 2001), zweitens durch eine auffällige Verwandtschaft der Verhaltensprobleme und drittens durch die zu erwartenden Folgen der mangelnden altersgemäßen Spielerfahrung (z. B. Crockenberg u. Leerkes 2000; Panksepp 2007). Daraus lässt sich die folgende Arbeitshypothese zur Epigenese von ADHS-Auffälligkeiten im späteren Kindesalter ableiten (. Abb. 18.1): Aus dem Zusammenwirken von biologischer Vulnerabilität (genetische Disposition einer Kerngruppe, »schwierige« Temperamentsmerkmale) und Beeinträchtigung der elterlichen Kommunikationsfähigkeiten infolge multipler beziehungsrelevanter psychosozialer Belastungen resultieren zunächst – vermittelt durch dysfunktionale Kommunikationsmuster im Säuglings- und Kleinkindalter – pervasive Regulationsstörungen mit »Spielunlust«. Wenn keine Intervention erfolgt und die Risikokonstellation mit anhaltender Belastung von Bindungs- und Beziehungsaufbau bestehen bleibt, führen dysfunktionale Kommunikationsmuster im gemeinsamen Spiel mit Mangel an Selbstwirksam-
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Kapitel 18 • »Null Bock« in früher Kindheit: Regulationsprobleme von Aufmerksamkeit und Spiel
. Tab. 18.1 Störungsspezifische Entwicklungsberatung und videogestützte Kommunikations-, Spiel- und Beziehungstherapie bei »Spielunlust« im Säuglings- und Kleinkindalter (Papoušek 2004b)
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Unterstützende Rahmenbedingungen Empathisch-wertschätzende therapeutische Beziehung, sichere Basis, stressfreier Spielraum, gemeinsame Bodenspielzeit (»floortime«)
– Aufgreifen und Miterleben von spontanen Augenblicken positiver Gegenseitigkeit im Spiel – Aufspüren und Stärken der kindlichen und elterlichen Kompetenzen – Gemeinsames teilnehmendes Beobachten des Kindes: Beobachten, Abwarten und Staunen – Wahrnehmen und Stärken der kindlichen Motivationen (Selbstwirksamkeit, Erkundungs-, Erfolgs- und Kompetenzbedürfnisse) durch unmittelbares Miterleben – Erproben von ungeteilter Aufmerksamkeit und emotionaler Verfügbarkeit in kurzen gemeinsamen Spielepisoden und direktes Ansprechen und Bearbeiten von störenden Impulsen – Psychotherapeutisches Auflösen von elterlichen Hemmungen und Blockaden und Öffnen eines Zugangs zu den verschütteten intuitiven Kommunikationsfähigkeiten
Videogestützte spieltherapeutische Techniken Videofeedback im gemeinsamen Wiederbeleben von Augenblicken/Sequenzen positiver Gegenseitigkeit, im zweiten Schritt von dysfunktionalen Sequenzen
– Entdecken, wiederholtes Nacherleben und Genießen von Sequenzen positiver Gegenseitigkeit im gemeinsamen Spiel und von vertieftem Alleinspiel des Kindes – Wahrnehmen und Verstehen der kindlichen Signale von Aufnahmebereitschaft, Toleranzgrenzen, Hilfebedarf und Überforderung – Erkennen und Wertschätzen von Motivationen, Vorlieben, Interessen, Entwicklungsthemen und Stärken des Kindes – Erkennen der wechselseitigen Kontingenzen in Engelskreisen und in dysfunktionalen Teufelskreisen – Ansprechen und Bearbeiten des elterlichen Erlebens, der im Spielkontext geweckten Wahrnehmungen, Gefühle, Erinnerungsbilder, Gedanken und Beziehungsrepräsentationen
Ergänzende Entwicklungsberatung, orientiert am Entwicklungsstand des Kindes und seinen individuellen Stärken und Schwierigkeiten
– Strukturieren des Alltags durch den Wechsel von Episoden gemeinsamen Spiels mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit und Episoden von Alleinspiel bei relativer Abgrenzung – Befreien von Bespielungszwang und Förderdruck, stattdessen Zeit haben, teilnehmend beobachten und miterleben, helfen nur bei Bedarf, spielbezogenes Sprechen – Schützen vor Reizüberflutung und Überstimulation, Ruheinseln im Tagesablauf, ausreichend Schlaf, Zulassen von Langeweile – Zeit zur Erfüllung elterlicher Grundbedürfnisse
keits- und Spielerfahrungen – während einer kritischen Phase der neurobiologischen funktionalen und strukturellen Reifung und Vernetzung der präfrontalen Aufmerksamkeits- und Motivationssysteme – zu ADHS-relevanten Defiziten im Bereich von Arbeitsgedächtnis und exekutiven Funktionen, von Aufmerksamkeitsregulation, Kompetenz- und Lernmotivation, sequenzieller Handlungssteuerung, emotionaler Regulation und Impulskontrolle. In ähnlicher Weise geht Panksepp (2007) von der Annahme aus, dass freies gemeinschaftliches Spiel im Vorschulalter (»rough-and-tumble play«,
Fantasie- und Rollenspiele) der Entwicklung von ADHS entgegenwirke, indem es den Aufbau des »social brain« mit seinen prosozialen, impulsivitätshemmenden, empathischen und selbstreflexiven Fähigkeiten unterstütze. Ein Beispiel transaktionaler Wechselbeziehungen in einer risikoarmen Stichprobe geben die Longitudinalstudien von Morrell u. Murray (2003), die zeigen, dass direktiv-zudringliches Kommunikationsverhalten von Müttern mit postpartaler Depression bei Kindern im frühen Säuglingsalter durch unzureichende Unterstützung der frühkindlichen Selbstwirksam-
297
Literatur
keit zu Problemen der Aufmerksamkeitsregulation im zweiten Halbjahr beiträgt und diese bei Jungen im Alter von fünf Jahren ADHS-Auffälligkeiten voraussagen. Das Phänomen frühkindlicher Spielunlust scheint auch unabhängig von klinisch relevanten Störungen als »Null-Bock-Syndrom« der frühen Kindheit weit verbreitet und durch Zeitgeist und gesellschaftliche Faktoren begünstigt zu werden. Amerikanische Autoren (DeGrandpre 2002) sprechen von »Schnellfeuerkultur« oder »beschleunigten Gesellschaften« der Postmoderne. Sie verweisen damit auf die Schnelllebigkeit und Hektik einer Lebensweise mit übervollen Terminkalendern, verplanter Freizeit und Mangel an Muße und Erholung, auf die medienbedingte Informationsflut mit ihren sensationellen Reizen und der raschen Abfolge von kaum integrierbaren Informationen, auf die Überhäufung der Kinderzimmer mit erregungsintensiven Fertigspielzeugen und der Eltern mit Ratgebern und Förderprogrammen sowie auf neue Formen einer durch Fernsehen, Internet und Handy geprägten raschen, aber oberflächlichen Kommunikation und Informationsverarbeitung, die »Fastfoodgehirne« produziere und in den gewandelten Familienstrukturen die Eltern-KindKommunikation bei gemeinsamen Mahlzeiten und gemeinsamem Spiel verkümmern lasse. Fazit Dieses Kapitel zielt nicht darauf ab, das Phänomen der frühkindlichen Spielunlust zu pathologisieren und schon Kleinkinder mit der Diagnose einer Early Onset Attention Deficit Hyperactivity Disorder (EOADHD, Dunitz-Scheer et al. 2001) zu versehen. Es geht vielmehr darum, Fachleuten und Eltern die adaptiven Funktionen des Spiels als Resilienzfaktor der kindlichen Entwicklung nahezubringen. Unter den Einflüssen des »Zeitgeistes« ebenso wie im Rahmen frühkindlicher Regulationsstörungen sind jedoch die wichtigsten Voraussetzungen des Spiels gefährdet: Geborgenheit, Zeit und Muße und ein Umfeld, in dem es den Eltern gelingt, sich im Spiel aufmerksam und mit emotionaler Anteilnahme und intuitiver Responsivität auf die Kommunikation mit ihrem möglicherweise »schwierigen« Kind und auf seine Selbstwirksamkeitsbedürfnisse einzulassen. Je früher es gelingt, Entstehungsbedingungen der
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Spielunlust auf die Spur zu kommen, umso besser können Beratung und Therapie auf der Ebene des gemeinsamen Spiels aktuell und, wie zu vermuten ist, auch langfristig präventiv wirksam werden.
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298
18
Kapitel 18 • »Null Bock« in früher Kindheit: Regulationsprobleme von Aufmerksamkeit und Spiel
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Problemstellungen und Belastungen Kapitel 19
Depression und Angststörung im Postpartalzeitraum: Prävalenz, Mutter-Kind-Beziehung und kindliche Entwicklung – 301 Corinna Reck
Kapitel 20
Gewalt in der Familie – 311 Manfred Cierpka und Astrid Cierpka
Kapitel 21
Drogenabhängige Eltern – 325 Petra Habash
Kapitel 22
Teenagerschwangerschaften – 333 Daniel Nakhla, Daniela Doege und Martina Engel-Otto
Kapitel 23
Kultursensitive Beratung – 345 Jörn Borke und Heidi Keller
Kapitel 24
Das frühgeborene Kind: Entwicklungs- und familienorientierte Behandlung – 353 Eva Vonderlin
Kapitel 25
Eltern Früh- und Risikogeborener – 365 Martina Jotzo
Kapitel 26
Behinderte und chronisch kranke Kinder – 373 Rüdiger Retzlaff
Kapitel 27
Das Einschätzen der Belastung in Familien – 385 Andreas Eickhorst, Michael Stasch und Anna Sidor
III
301
Depression und Angststörung im Postpartalzeitraum: Prävalenz, Mutter-Kind-Beziehung und kindliche Entwicklung Corinna Reck
19.1
Prävalenz von Depressionen und Angststörungen im Postpartalzeitraum – 302
19.2
Bedeutung postpartaler Depressionen und Angststörungen für die Mutter-Kind-Beziehung – 303
19.2.1
Bondingprozesse bei postpartal depressiven und angsterkrankten Müttern – 303 Spezifische Interaktionsmuster in »depressiven« und »angstgestörten« Mutter-Kind-Dyaden – 304
19.2.2
19.3
Bedeutung postpartaler Depressionen und Angststörungen für die kindliche Entwicklung – 306
19.4
Fazit und Kritik des Forschungsstandes – 308 Literatur – 308
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
19
302
Kapitel 19 • Depression und Angststörung im Postpartalzeitraum: Prävalenz, Mutter-Kind-Beziehung…
Ca. 10 bis 15% aller Frauen entwickeln in der Zeit nach der Geburt eine Depression oder eine Angststörung. Postpartale psychische Störungen können sich nachteilig auf die Entwicklung des Kindes und den Aufbau einer stabilen Mutter-Kind-Beziehung auswirken, da die kindlichen Affekte in enger Beziehung zum mütterlichen Verhalten stehen, das seinerseits von den Zuständen des Kindes beeinflusst wird. Dabei ist die kindliche Sensitivität für mütterliche Affektzustände in den ersten Lebensmonaten grundlegend für das Verständnis des Einflusses mütterlicher psychiatrischer Erkrankungen auf die kindliche Entwicklung. In diesem Kapitel soll ein Einblick in Befunde zur Mutter-Kind-Beziehung unter Fokussierung auf mütterliche Bondingprozesse und Interaktionsverhaltensweisen depressiver und angsterkrankter Mütter gegeben werden. Im Weiteren wird die Bedeutung der mütterlichen Psychopathologie für die kindliche kognitive und affektive Entwicklung anhand von aktuellen Forschungsbefunden diskutiert.
19.1
19
Prävalenz von Depressionen und Angststörungen im Postpartalzeitraum
Depressive Störungen und Angststörungen im Postpartalzeitraum stellen mit einer Prävalenz von ca. 10% ein ernst zu nehmendes Risiko für die Gesundheit der Frau, für die Entwicklung einer intakten Mutter-Kind-Beziehung sowie für die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes dar. Nach epidemiologischen Studien – zumeist aus dem angloamerikanischen Sprachraum – erkranken etwa 10% der Frauen an einer postpartalen Depression (z. B. O’Hara et al. 1990). In Deutschland ließen sich in einer von unserer Arbeitsgruppe durchgeführten Prävalenzstudie (Reck et al. 2008) bei in den ersten zwölf Wochen nach der Geburt befragten Frauen Raten von 6% für Depressionen und 11% für Angststörungen nach DSM-IV-Kriterien nachweisen. Immerhin waren insgesamt 15% der 1034 untersuchten Frauen von einer klinisch relevanten Depression und/oder Angststörung betroffen.
Postpartale Depression Bei der Diagnosestellung »postpartale Depression« ist eine Zusatzkodierung »mit postpartalem Beginn« nach DSM-IV möglich, wenn sich die depressive Symptomatik in einem Zeitraum von vier Wochen nach der Entbindung zeigt. In der ICD-10 ist eine Zusatzkodierung möglich, wenn die Erkrankung innerhalb eines Zeitraums von sechs Wochen nach der Geburt auftritt. Diese Einschränkung ist jedoch im Hinblick auf aktuelle epidemiologische Untersuchungen kritisch zu bewerten. Nach O’Hara (1997) konnte in diesem Zusammenhang nachgewiesen werden, dass depressive Störungen im Postpartalzeitraum insbesondere in den ersten drei Monaten und nicht nur in den ersten vier Wochen nach der Geburt gehäuft vorkommen.
Als Risikofaktoren für eine postpartale Depression werden in der Literatur depressive Episoden in der Vorgeschichte, traumatische Erlebnisse/Vernachlässigung in der eigenen Kindheit, der sogenannte Baby Blues, Stressbelastung in der Schwangerschaft, Ungewolltheit der Schwangerschaft, traumatisches Erleben der Geburt, biologische Auslöser, sozioökonomische Faktoren, geringe oder gänzlich fehlende soziale Unterstützung und geringe Partnerschaftszufriedenheit diskutiert (z. B. Reck et al. 2009). In den Anamnesegesprächen mit den Patientinnen, die zwischen 2001 und 2003 in der Mutter-Kind-Einheit des Universitätsklinikums Heidelberg aufgenommen wurden, zeigte sich, dass kindliche Probleme und Regulationsstörungen sowie Partnerschaftskonflikte im Vorfeld der Behandlung gehäuft auftraten. Immerhin gaben insgesamt 50% der Mütter an, Probleme im Umgang mit ihrem Kind zu haben. In einer weiteren Studie zeigte sich, dass in Deutschland insbesondere junge Frauen ( 35 Jahre) wiesen hingegen ein deutlich geringeres Risiko auf, an einer postpartalen Depression zu erkranken. Dass vor allem junge Akademikerinnen ein erhöhtes Risiko für postpartale Depressionen aufweisen, könn-
303
19.2 • Bedeutung postpartaler Depressionen und Angststörungen…
te zum einen im Zusammenhang mit einer realen oder befürchteten Verringerung der Karrierechancen nach der Geburt eines Kindes, zum anderen mit mangelnden finanziellen Ressourcen zur Organisation einer adäquaten Kinderbetreuung sowie einem zumeist hohen Selbstanspruch bezüglich der Verwirklichung der Mutterschaft zusammenhängen. Postpartale Depressionen müssen differenzialdiagnostisch vom sogenannten Baby Blues (»Heultage«) und der postpartalen Psychose unterschieden werden (Reck et al. 2009). Baby Blues Beim sogenannten Baby Blues handelt es sich um eine vorübergehende, kurz andauernde psychische Störung mit einer milden depressiven Symptomatik, die durch Erschöpfung, Traurigkeit, Stimmungslabilität, Ängstlichkeit und Irritierbarkeit gekennzeichnet ist. Der Baby Blues tritt mit einer Prävalenzrate von ca. 50% zumeist zwischen dem zweiten und fünften Tag nach der Geburt auf, seine Dauer kann sich von wenigen Stunden bis zu wenigen Tagen erstrecken.
Postpartale Psychose Postpartale Psychosen (»Wochenbettpsychosen«) treten zumeist in den ersten Tagen nach der Entbindung auf. Die Häufigkeit der Erkrankung liegt mit ein bis zwei Fällen pro tausend Geburten (0,1 bis 0,2%; Brockington 2004) deutlich unter der der postpartalen Depressionen. Symptomatisch sind Verwirrtheitszustände, Störungen des Denkens, ängstliche Erregungszustände sowie Verfolgungs- und Beeinträchtigungserleben (Rohde 2004). Auch im Rahmen einer Depression können wahnhafte Symptome auftreten, die die unkorrigierbare Überzeugung der Mutter beinhalten können, als Mutter zu versagen und das Kind nicht richtig versorgen zu können. In schweren Fällen kann die Mutter zu der Überzeugung gelangen, dass es für das Kind und sie besser sei, tot zu sein. Selten kommt es dabei – zumeist im Rahmen eines »erweiterten Suizids« – zu einem Infantizid (Häufigkeit: insgesamt etwa 1 : 50.000 Geburten).
19.2
19
Bedeutung postpartaler Depressionen und Angststörungen für die Mutter-Kind-Beziehung
Postpartale psychische Störungen können sich nachteilig auf den Aufbau einer stabilen MutterKind-Beziehung (»mütterliches Bonding«) und die Entwicklung des Kindes auswirken, wobei unterschiedliche Wirkungszusammenhänge diskutiert werden. Zumeist wird in der Literatur die Annahme vertreten, dass die Störungen in der Mutter-KindInteraktion eine Folge der psychischen Erkrankung der Mutter sind. Eine andere Sichtweise ist, dass frühe Störungen in der Mutter-Kind-Interaktion selbst Auslöser der mütterlichen Erkrankung darstellen. Manche Autoren schließlich gehen davon aus, dass die Störung der Mutter-Kind-Beziehung eine eigene Untergruppe der postpartalen Störungen darstellt (Klier u. Muzik 2001). Vor diesem Hintergrund empfiehlt z. B. die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (2007), beim Auftreten von kindlichen Regulationsstörungen wie exzessivem Schreien, Schlaf- oder Fütterstörungen immer auch den psychiatrischen Status der Eltern mit zu erfassen. Anhand der im Folgenden dargestellten Befunde soll ein Überblick über spezifische, im Zusammenhang mit postpartalen Depressionen und Angststörungen beobachtete Beeinträchtigungen der Mutter-Kind-Beziehung gegeben werden. Hierbei sollen insbesondere die für die Anpassung an die Mutterschaft hoch bedeutsamen Bondingprozesse und spezifische Interaktionsmuster in der Mutter-Kind-Dyade fokussiert werden.
19.2.1
z
Bondingprozesse bei postpartal depressiven und angsterkrankten Müttern
Postpartale Depression und mütterliches Bonding
Das mütterliche Bonding ist eines der prominentesten Konzepte im Bereich der Postpartalforschung und leistet einen entscheidenden Beitrag zum Ver-
304
Kapitel 19 • Depression und Angststörung im Postpartalzeitraum: Prävalenz, Mutter-Kind-Beziehung…
ständnis der Klassifikation früher Störungen der Mutter-Kind-Beziehung (Brockington 2004). Bonding Brockington (2004) postuliert, dass es sich bei der Entwicklung eines »Bonds« zwischen Mutter und Kind um den wichtigsten psychologischen Prozess im Zeitraum nach der Geburt handelt. Nach Klaus u. Kennell (1982) beschreibt ein »Bond« eine einzigartige Beziehung zwischen zwei Menschen, die von sehr langer Dauer ist. Diese einmal aufgebauten Bindungen bleiben auch über lange zeitliche und räumliche Entfernungen bestehen.
Brockington (Brockington et al. 2001) verweist auf die Notwendigkeit, die Psychopathologie der Mutter und Bondingstörungen getrennt voneinander zu betrachten. Er schlägt vor, spezifische Diagnosekriterien für Bondingstörungen einzuführen und diese unabhängig von der mütterlichen psychischen Erkrankung zu diagnostizieren. Reck et al. (2006) untersuchten in Deutschland an einer repräsentativen Stichprobe (N = 862) erstmals den Zusammenhang zwischen einer Depression im Wochenbett und dem mütterlichen Bonding. Es zeigte sich ein signifikanter, jedoch moderater Zusammenhang zwischen Depressivität und Bonding: Je stärker die depressive Symptomatik, desto beeinträchtigter das Bonding. z
19
Postpartale Angststörungen und mütterliches Bonding
Reck et al. (in Vorbereitung) untersuchten erstmals auch die Auswirkungen von postpartalen Angststörungen (DSM-IV-Kriterien) an einer klinischen Stichprobe erkrankter Mütter (N = 37) im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe (N = 45). In der erst kürzlich abgeschlossenen Studie ließen sich deutliche Zusammenhänge zwischen Angststörungen im Wochenbett und Störungen des mütterlichen Bondings nachweisen. Darüber hinaus zeigten sich signifikante Zusammenhänge zwischen der Qualität des mütterlichen Bondings und dem kindlichen Temperament. Mütter mit geringer ausgeprägtem Bonding schätzen das Temperament
ihres Kindes negativer ein als Mütter mit höher ausgeprägtem Bonding. Sie geben an, dass ihre Kinder weniger lächeln, größeres Unbehagen bei neuen Reizen zeigen und eine höhere motorische Aktivität aufweisen.
19.2.2
z
Spezifische Interaktionsmuster in »depressiven« und »angstgestörten« Mutter-KindDyaden
Postpartale Depression und Mutter-KindInteraktion
Ausgehend von dem Wissen um die affektive Sensitivität in den ersten Lebensmonaten stellt sich die Frage, welche interaktionellen Angebote Säuglinge von ihrer sozialen Umgebung benötigen, um sich störungsfrei entwickeln zu können, bzw. unter welchen Bedingungen es zum Auftreten von langfristigen Entwicklungsdefiziten kommt. Der Depression als der häufigsten psychischen Störung junger Mütter im Postpartalzeitraum kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. > Das Interaktionsverhalten postpartal depressiver Mütter lässt sich zumeist durch mangelnde Sensitivität, mangelnde Responsivität, Passivität oder aber Intrusivität, weniger positiven Affekt, mehr negativen Affekt und ein geringeres expressives mimisches Ausdrucksverhalten charakterisieren (Überblick bei Reck 2008). Typische frühkindliche Verhaltensweisen in der Interaktion der Kinder mit ihren depressiv erkrankten Müttern sind vermehrtes Rückzugs- und Vermeidungsverhalten, insbesondere ein geringes Ausmaß an positivem Affektausdruck, sowie die Vermeidung des Blickkontakts (z. B. Tronick u. Reck 2009).
Zudem wird in der Literatur über einen Mangel an Sensitivität, Empathie und emotionaler Verfügbarkeit bei depressiven Müttern berichtet, d. h. über eine verringerte Fähigkeit, kindliche Signale wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und angemessen zu beantworten (z. B. Diego et al. 2002; Stanley et al. 2004).
19.2 • Bedeutung postpartaler Depressionen und Angststörungen…
Bei der Zusammenschau der aktuellen Studien zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Depressionen im Postpartalzeitraum und dysfunktionalen Mutter-Kind-Interaktionen in den ersten Lebensmonaten. Es muss jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass trotz der mehrfach nachgewiesenen Beeinträchtigung des Interaktionsverhaltens depressiver Mütter in der Literatur auch Untersuchungen referiert werden, in denen die beschriebenen interaktionellen Defizite postpartal depressiver Mütter nicht nachgewiesen werden konnten. Die voneinander abweichenden Befunde sollten vor dem Hintergrund unterschiedlicher Stichprobenzusammensetzung diskutiert werden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass interaktionelle Defizite insbesondere in den Stichproben mit schwerer und chronifizierter depressiver Symptomatik auftreten. Reck et al. (im Druck) konnten in einer aktuellen Studie mit Mutter-Kind-Dyaden (N = 68, davon N = 34 schwer depressive Mütter) zeigen, dass depressive Mütter und ihre Säuglinge in der Interaktion ein geringeres Ausmaß an positiver Affektabstimmung (»matching«) aufweisen und mehr Zeit benötigen, von einem nicht abgestimmten Affektzustand (»mismatch«) zu einem positiv »gematchten« affektiven Zustand zu gelangen (»interactive repair«). Ein weiteres Ziel der Studie war es, die Veränderung von mütterlichem Interaktionsverhalten im Krankheitsverlauf der Depression zu untersuchen. In der Studie zeigte sich nach der Remission der depressiven Symptomatik im Vergleich zur Akutphase eine Verschlechterung der mütterlichen Fähigkeit, kindliche Signale in der Interaktion wahrzunehmen und sensitiv auf sie einzugehen. Dies könnte zum einen durch die Dauer der depressiven Episode und zum anderen durch die Etablierung negativer Interaktionsspiralen zwischen Mutter und Kind bedingt sein (Zietlow u. Reck, in Vorbereitung). Dieser Befund steht in Übereinstimmung mit der Studie von Forman et al. (2007), die zeigen konnten, dass eine alleinige Behandlung der mütterlichen depressiven Symptomatik ohne eine spezifische Mutter-Kind-Therapie keine positiven Auswirkungen auf die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung hat.
z
305
19
Postpartale Angststörungen und MutterKind-Interaktion
Ebenso konnten Zusammenhänge zwischen postpartalen Angststörungen und Merkmalen der Mutter-Kind-Interaktion gefunden werden. In einer Studie zum interaktionellen Verhalten von angstgestörten Müttern fanden Whaley et al. (1999), dass diese sich im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe in der Interaktion mit ihren Kindern weniger warm und positiv, weniger autonomiefördernd, dagegen kritischer und katastrophisierender verhielten. > Das mütterliche Interaktionsverhalten, insbesondere eine mangelnde Förderung von Autonomie, erwies sich als herausragender Prädiktor des kindlichen Angststatus im Alter zwischen 7 und 14 Jahren.
Woodruff-Borden et al. (2002) konnten zeigen, dass sich Eltern mit einer Angststörung in einer für die Kinder experimentell hergestellten unlösbaren Problemsituation im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe signifikant weniger engagiert und zurückgezogener verhielten, möglicherweise aufgrund ihres eigenen Stresserlebens. Dies würde bedeuten, dass Kinder von Eltern mit Angststörungen weniger effektive Copingstrategien für den Umgang mit Stresssituationen lernen als Kinder von gesunden Bezugspersonen, was ihre Vulnerabilität für die Entwicklung einer Angststörung erhöhen könnte. Nicol-Harper et al. (2007) berichten in einer aktuellen Studie über ein höheres Ausmaß an intrusivem mütterlichen Interaktionsverhalten. Im Widerspruch dazu konnten Kaitz et al. (2010) bei Müttern mit Angststörungen und ihren Säuglingen im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe in der Mutter-Kind-Interaktion mehr positive Affekte nachweisen. Reck et al. (in Vorbereitung) konnten in einer aktuellen Studie bei Müttern mit Angststörungen im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe eine signifikant erhöhte Intrusiviät in der Interaktion mit ihren drei bis sieben Monate alten Säuglingen belegen. Kennzeichnend für das Interaktionsverhalten angstgestörter Mütter war interessanterweise eine Kombination aus einer hohen Ausprägung positiver und intrusiver Verhaltensweisen. Dies könnte zum einen Ausdruck
306
Kapitel 19 • Depression und Angststörung im Postpartalzeitraum: Prävalenz, Mutter-Kind-Beziehung…
einer durch die Symptomatik bedingten erhöhten Agitiertheit und Anspannung sein und zum anderen den ausgeprägten Leistungsdruck und Perfektionismus angstgestörter Mütter in der Interaktion mit ihren Säuglingen widerspiegeln.
19.3
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19
Bedeutung postpartaler Depressionen und Angststörungen für die kindliche Entwicklung
Postpartale Depression und kindliche Entwicklung
Aufgrund der hohen Plastizität des Gehirns und des fortlaufenden Prozesses der Hirnreifung (wie z. B. der Synapsenselektion in den ersten Lebensmonaten, vgl. 7 Kap. 1) ist anzunehmen, dass der Qualität des mütterlichen Interaktionsverhaltens für den weiteren Entwicklungsverlauf eine bedeutsame Rolle zukommt. So spielen die in den ersten Monaten gesammelten Eindrücke und Umwelterfahrungen hierbei eine entscheidende Rolle. Vor dem Hintergrund ihrer Studien mit Strauchratten kommen Bock u. Braun (2002) zu der Annahme, dass die sensiblen Phasen für frühkindliche Lernprozesse zeitgleich mit den synaptischen Reorganisationen in spezifischen Cortexregionen auftreten. Braun u. Bock (2008) konnten zudem die Bedeutung der frühen Bindungserfahrung mit dem Muttertier für die Synapsenselektion belegen (s. auch Katz 1999). Zahlreiche Untersuchungen belegen Entwicklungsauffälligkeiten von Kindern depressiver Mütter sowohl im emotionalen als auch im kognitiven Bereich (im Überblick: Hay 1997). Als konsistentester und mehrfach replizierter Befund zeigten sich bei Kindern depressiver Mütter Aufmerksamkeitsdefizite (z. B. Breznitz u. Friedman 1988). In einer Studie von Murray (1992) schnitten sie bereits im Alter von neun Monaten in Objektpermanenzaufgaben, welche fokussierte Aufmerksamkeit erfordern, wesentlich schlechter ab als »Kontrollkinder«. Laucht et al. (2002) untersuchten im Rahmen ihrer sorgfältig angelegten Mannheimer Risikokinderstudie (ausführliche Darstellung des Studiendesigns z. B. bei Laucht et al. 2000) den Entwicklungsverlauf bei 22 Kindern postpartal depressiver
Mütter im Vergleich zu 116 Kindern von gesunden Müttern vom Säuglingsalter bis zum Alter von acht Jahren. Es zeigte sich eine deutlich ungünstige Beeinflussung der kindlichen kognitiven Entwicklung durch die mütterliche postpartale depressive Symptomatik. Ab dem Alter von zwei Jahren wiesen die Kinder der klinischen Gruppe im Verhältnis zum Bildungsniveau ihrer Eltern einen signifikant niedrigeren Gesamt-IQ auf, der bis zum Alter von acht Jahren ca. 10 IQ-Punkte hinter dem der Vergleichsgruppe zurücklag. Brennan et al. (2000) belegten in einer prospektiven Studie mit einer Stichprobe von 4.953 Kindern von postpartal depressiven Müttern einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Schweregrad und der Chronizität der mütterlichen Depression und kindlichen kognitiven Defiziten und Verhaltensproblemen mit fünf Jahren. Im Rahmen mehrerer Forschungsarbeiten konnte gezeigt werden, dass eine mütterliche Depression mit einem erhöhten Risiko für das Kind einhergeht, einen unsicheren Bindungsstil zu entwickeln. So fanden Carter et al. (2001) in ihrer prospektiven Studie an 69 Mutter-Kind-Dyaden, dass vor allem Kinder von Frauen, die neben der Depression an einer weiteren psychischen Störung (im Verlauf ihres Lebens) erkrankt waren, ein deutlich erhöhtes Risiko für eine unsichere Bindungsqualität hatten. Auch Martins u. Gaffan (2000) zeigten anhand ihrer Metaanalyse, in welche sie sechs Studien aus dem angloamerikanischen Raum einschlossen, dass Kinder depressiver Frauen im Vergleich zu den Kontrollgruppen ein erhöhtes Risiko für ein unsicher-vermeidendes oder desorganisiertes Bindungsmuster aufwiesen. McMahon et al. (2006) bezogen neben den kindlichen Bindungsqualitäten auch die Bindungsstile der Mütter ein und kamen zu dem Ergebnis, dass depressive Mütter selbst häufiger unsichere Bindungsstile aufwiesen und Kinder von chronisch depressiven Frauen eine höhere Wahrscheinlichkeit hatten, ebenso unsicher gebunden zu sein. Zudem weisen Kinder mit unsicher-vermeidenden, unsicher-ambivalenten sowie desorganisierten Bindungsstilen häufiger einen erhöhten Cortisolspiegel auf. Dies wird darauf zurückgeführt, dass diese Kinder keine ausreichenden Copingstrategien für den Umgang mit Stress entwickelt haben (Spangler u. Grossmann 1993).
19.3 • Bedeutung postpartaler Depressionen und Angststörungen…
307
19
Mutter-KindInteraktion
Kognitive Entwicklung: Kindliche Verhaltensauffälligkeiten
Mütterliche Angststörung im Postpartalzeitraum
Mütterliche Merkmale: Soziodemographie Partnerschaft Krankheitsverlauf Erziehungsverhalten
. Abb. 19.1 Modell zu den Wirkungszusammenhängen: Prädiktive Bedeutsamkeit mütterlicher Angststörungen und der Mutter-Kind-Interaktion im Postpartalzeitraum für die kindliche kognitive Entwicklung und kindliche Verhaltensauffälligkeiten im Alter von fünf Jahren
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Postpartale Angststörungen und kindliche Entwicklung
Mütterliche Angsterkrankungen stellen ein Risiko für die psychische Gesundheit des Kindes dar. Kinder von Eltern mit Angststörungen weisen ein bis zu siebenfach erhöhtes Risiko auf, selbst eine Angststörung zu entwickeln (z. B. Hettema et al. 2001; Schneider 2004). Im Gegensatz zu der gut erforschten Bedeutung postpartaler Depressionen für die kindliche kognitive und affektive Entwicklung liegen für Angststörungen trotz der hohen Prävalenzraten keine Studien vor. Hinweise auf eine Beeinträchtigung der kindlichen Bindung im Falle einer postpartalen Angststörung aufseiten der Mutter geben beispielsweise O’Connor et al. (2003), die bei Kindern von Müttern mit Angst in der Schwangerschaft emotionale Probleme und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern im Alter von sechs Jahren belegen konnten. Entsprechende Ergebnisse konnten Van den Bergh und Mitarbeiter (2004) auch in ihrer aktuellen prospektiven Langzeitstudie belegen. Es
zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen erhöhter mütterlicher Ängstlichkeit während des zweiten Schwangerschaftstrimenons im StateTrait Anxiety Inventory (STAI; Spielberger et al. 1970) und kindlicher Hyperaktivität sowie erhöhter Ängstlichkeit im Alter von acht bis neun Jahren. Reck et al. (in Vorbereitung) konnten in einer erst kürzlich abgeschlossenen prospektiv angelegten Studie keinen Zusammenhang zwischen der mütterlichen postpartalen Angststörung nach DSM-IV und der kognitiven Entwicklung des Kindes belegen. Interessanterweise zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen kindlichen kognitiven Entwicklungsmaßen und einer positiven emotionalen Abstimmung zwischen Mutter und Kind (Matching) im Alter von drei bis sieben Monaten, was wiederum einen Hinweis darauf darstellt, dass spezifische mütterliche interaktionelle Qualitäten entwicklungsrelevant sind (. Abb. 19.1).
308
Kapitel 19 • Depression und Angststörung im Postpartalzeitraum: Prävalenz, Mutter-Kind-Beziehung…
19.4
Fazit und Kritik des Forschungsstandes
Trotz des Wissens um die Bedeutsamkeit der frühen Mutter-Kind-Beziehung als Quelle erster emotionaler Lernerfahrungen in der entwicklungssensitiven Phase der ersten Lebensmonate und der nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen Depression und kindlichen Verhaltensauffälligkeiten erscheint es verwunderlich, dass andere psychische Störungen im Postpartalzeitraum, wie z. B. Angststörungen, bisher kaum untersucht wurden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Störungsspezifität interaktioneller Merkmale, die nur in einer vergleichenden Studie unter Einschluss verschiedener mütterlicher Psychopathologien beantwortet werden kann. Es besteht die Annahme, dass bei der Entstehung von Entwicklungsauffälligkeiten bei Kindern postpartal depressiver und angstgestörter Mütter die Kombination einer konstitutionellen Vulnerabilität mit spezifischen Umweltfaktoren ausschlaggebend ist (Wood et al. 2003). Hierbei sind vermutlich insbesondere Lernerfahrungen in der frühen Eltern-Kind-Beziehung wie z. B. »social referencing« (de Rosnay et al. 2005) in der für die Gehirnentwicklung sensiblen Phase der ersten Lebensmonate bedeutsam. Fazit Aus dem Wissen um die hohe klinische Relevanz mütterlicher psychischer Erkrankungen für die frühkindliche Entwicklung leitet sich ein dringender Forschungsbedarf auf dem beschriebenen Gebiet ab. Die Identifizierung störungsspezifischer, entwicklungspsychologisch relevanter interaktioneller Muster bietet einen hervorragenden Ansatzpunkt für die Planung präventiver Maßnahmen zur Vorbeugung kindlicher Entwicklungsstörungen. Die Verknüpfung von Untersuchungsbefunden zur frühen Mutter-Kind-Interaktion bildet einen Bezugspunkt für die Entwicklung spezifischer, auf die Mutter-Kind-Dyade abgestimmter Behandlungskonzepte.
19
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309
19
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311
Gewalt in der Familie Manfred Cierpka und Astrid Cierpka
20.1
Definitionen – 312
20.1.1 20.1.2 20.1.3 20.1.4
Physische Kindesmisshandlung – 313 Psychische Kindesmisshandlung – 313 Sexueller Missbrauch – 313 Vernachlässigung – 313
20.2
Häufigkeiten – 314
20.3
Kindeswohlgefährdung und Kinderschutz – 314
20.4
Modelle der Gewaltentstehung in der Familie – 315
20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.4.4
Ergebnisse der Bindungsforschung – 315 Die Entstehung des Empathiedefizits – 316 Soziale, materielle und familiäre Faktoren – 317 Konstitutionelle Faktoren des Kindes – 317
20.5
Der Gewaltzirkel und die Transmission von Gewalt – 318
20.5.1 20.5.2 20.5.3
Identifikation mit dem Aggressor – 318 Projektion elterlicher Selbstanteile – 318 Empathiemangel – 319
20.6
Fallgeschichte – 320
20.7
Wie lässt sich der Gewaltzirkel durchbrechen? – 322 Literatur – 322
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
20
312
20
Kapitel 20 • Gewalt in der Familie
Gewalt zwischen Eltern und Kind tritt als körperliche und psychische Misshandlung, als sexueller Missbrauch und am häufigsten als Vernachlässigung auf. Mischformen sind eher die Regel. Die Langzeitfolgen bei gewaltbelasteten Kindern sind gravierend. Die Interventionen dienen dem Schutz des Kindes, der Förderung seiner Entwicklung und seiner Gesundheit, der Unterbrechung der transgenerationalen Weitergabe der Gewalt und der Unterstützung der Eltern und Familie. Das Kapitel gibt einen Überblick über die Gewaltformen, diskutiert die Entstehung der Gewalt, widmet sich der Transmission von Gewalt, auch dem möglichen Übergang vom Opfer zum Täter, und zeigt anhand eines Fallbeispiels die psychotherapeutischen Interventionsmöglichkeiten auf.
Die Langzeitfolgen nach Gewalterfahrungen in der Kindheit sind für die Kinder durch viele Studien belegt. Patienten mit solchen Kindheitstraumata leiden – wie schon Freud und Breuer (1893, S. 23) beschrieben haben – an Erinnerungen, die mit »unvollständig abreagierten psychischen Traumata« korrespondieren. Zahlreiche Forschungsbefunde belegen, dass Opfererfahrungen ein erhebliches Risiko für die kindliche Entwicklung darstellen (zusammenfassend Egle u. Cierpka 2006; vgl. 7 Kap. 7). Da das kindliche Gehirn zu Beginn des Lebens (prä-, peri- und postnatal) die größte Plastizität aufweist, kann es gerade in der frühen Kindheit zu entscheidenden Einschränkungen und Entwicklungsdefiziten kommen. Dazu kommt, dass die Menschenkinder, verglichen mit allen anderen Säugetieren, am längsten ihre Bezugspersonen, in der Regel ihre Familie, benötigen, um adäquat wachsen und reifen zu können. Dies kann zu einer jahrelangen negativen Einflussnahme auf die kindliche Entwicklung führen. Im Zusammenhang mit aggressivem Verhalten berichten Moffitt u. Caspi (2001) für die Gruppe der »life-course persisters« – also für diejenigen Kinder und Jugendlichen, deren antisoziales Verhalten früh einsetzt und oft über die gesamte Lebensspanne persistiert – ein vermehrtes Auftreten vorwiegend emotionaler Schwierigkeiten. Der Schulerfolg, die Lebensqualität und die seelische und körperliche Gesundheit leiden unter negativen Stresserfahrungen nach Gewalterfahrungen und bei Abwesenheit von protektiven Faktoren
(vgl. 7 Kap. 7). Glücklicherweise kommt es nach frühen innerfamiliären Gewalterfahrungen nicht regelhaft zu einem Umschlagen dieser Traumatisierung in gewalttätiges Handeln (7 Abschn. 20.5). Gewalt wird in der Familie in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen ausgeübt. Man unterscheidet 5 Partnergewalt 5 Gewalt gegen die (Ehe-)Frau 5 Vergewaltigung in der Ehe (Partnerschaft) 5 Gewalt der (Ehe-)Frau 5 Folgen für die Kinder als Zeugen elterlicher Gewalt 5 Gewalt zwischen Eltern und Kindern 5 körperliche Misshandlungen und Vernachlässigung 5 seelische Misshandlung 5 sexueller Missbrauch und Inzest 5 Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern 5 Gewalt zwischen Geschwistern 5 Gewalt gegen ältere Menschen in der Familie Die im Folgenden beschriebene Gewalt gegenüber Säuglingen und Kleinkindern ist ein Teil dieses Spektrums.
20.1
Definitionen
Gewalt ist meist ein körperlicher Akt, der mit der Absicht ausgeführt wird, einen anderen zu verletzen oder eine Sache zu beschädigen oder zu zerstören (vgl. Bründel u. Hurrelmann 1994). Unter »Gewalt in der Familie« ist die Gewaltanwendung zwischen Personen zu verstehen, die in einer auf gegenseitige Sorge und Unterstützung angelegten intimen Gemeinschaft zusammenleben (Schwind u. Baumann 1990, S. 72), wobei hier grundsätzlich auch familienähnliche Beziehungen eingeschlossen sind. In der Familie tritt Gewalt als Misshandlung, sexueller und emotionaler Missbrauch und als Vernachlässigung auf. Unter Misshandlung und Missbrauch von Kindern versteht man gewaltsame physische oder psychische Beeinträchtigungen von Kindern durch Eltern bzw. Erziehungsberechtigte, teilweise jedoch auch durch andere Erwachsene in der Umgebung. Die Gefährdungen des seelischen und körperlichen Kindeswohls und die Beeinträchtigungen für
313
20.1 • Definitionen
die Entwicklung der Kinder können durch aktive Handlungen (z. B. körperliche Misshandlung, sexuellen Missbrauch, verbale Beschimpfungen und Entwertungen), aber auch durch Unterlassungen (z. B. physische oder emotionale Vernachlässigung) bedingt sein.
20.1.1
Physische Kindesmisshandlung
Unter physischer (körperlicher) Kindesmisshandlung können alle Handlungen von Eltern oder anderen Bezugspersonen verstanden werden, die durch Anwendung von körperlichem Zwang bzw. Gewalt für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen des Kindes und seiner Entwicklung führen oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen bergen (Kindler 2006). Das unstillbare Schreien gilt als der wichtigste Trigger für eine frühe Misshandlung (Lee et al. 2007; Barr et al. 2006, vgl. 7 Kap. 13). Betroffen sind häufig Säuglinge in den ersten Lebensmonaten. Die schlimmste Kindesmisshandlung ist die Kindstötung. Die meisten Kindstötungen sind nicht beabsichtigt, sondern geschehen im Rahmen einer Misshandlung. Selten sind Eltern, die ihr Kind als eine Bedrohung für ihr eigenes Überleben empfinden und dann ihr Kind mit Vorsatz töten.
20.1.2
Psychische Kindesmisshandlung
Unter emotionalem Missbrauch (Engfer 2005) bzw. psychischen Misshandlungen werden alle Handlungen oder Unterlassungen der Betreuungsperson verstanden, die Kinder ängstigen, überfordern und ihnen vermitteln, sie seien wertlos. Wertlos meint, dass man ihnen bedeutet, sie seien voller Fehler, ungeliebt, ungewollt oder nur dazu nütze, die Bedürfnisse eines anderen Menschen zu erfüllen (American Professional Society on Abuse of Children/APSAC 1995). Diese subtile Form der seelischen Misshandlung wird oftmals gegenüber dem sexuellen Missbrauch oder der körperlichen Misshandlung übersehen. Unter psychische Kindesmisshandlung fällt auch das wiederholte Erleben massiver Formen der Partnergewalt in der Familie.
20.1.3
20
Sexueller Missbrauch
Engfer (2005, S. 12) versteht unter sexuellem Missbrauch sexuelle Übergriffe auf noch nicht ausgereifte Kinder und Jugendliche, die meistens gegen den Willen des Kindes durchgeführt werden. Dabei benutzen verwandte oder bekannte (zumeist männliche) Erwachsene Kinder zu eigenen sexuellen Stimulationen und missbrauchen das vorhandene Macht- oder Kompetenzgefälle zum Schaden des Kindes. Richter-Appelt (1995) verweist auf fünf Merkmale, die den sexuellen Missbrauch als Beziehungstat charakterisieren: 5 eine sexuelle Handlung, 5 eine Abhängigkeitsbeziehung, 5 die Bedürfnisbefriedigung des Mächtigeren, 5 die mangelnde Einfühlung des Täters in das Kind, 5 das Gebot der Geheimhaltung. Sexuellen Missbrauch gibt es schon im Säuglingsund Kleinkindalter (Cierpka u. Cierpka 1997), wobei zuverlässige Häufigkeitsangaben aufgrund der hohen Dunkelziffer fehlen.
20.1.4
Vernachlässigung
Kinder werden vernachlässigt, wenn sie von den Eltern oder den entsprechenden Betreuungspersonen unzureichend ernährt, gepflegt, gefördert, gesundheitlich versorgt, beaufsichtigt und/oder vor Gefahren geschützt werden. Die Definition der Vernachlässigung hängt von gesellschaftlichen Maßstäben ab; das als ausreichend gut bezeichnete Elternverhalten ist dementsprechend relativ. In unserer Gesellschaft bezeichnen wir als Vernachlässigung ein andauerndes oder wiederholtes Unterlassen fürsorglichen Handelns (bzw. Unterlassen der Beauftragung geeigneter Dritter mit einem solchen Handeln) durch Eltern oder andere Sorgeberechtigte, das für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen Beeinträchtigungen der physischen und/oder psychischen Entwicklung des Kindes führt oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen beinhaltet. Grundsätzlich gilt: Je jünger die betroffenen Kinder sind und je tiefgreifender sie vernachlässigt werden, desto grö-
314
20
Kapitel 20 • Gewalt in der Familie
ßer ist das Risiko nachhaltiger Schädigungen. Für Säuglinge können Versorgungsmängel schon nach kurzer Zeit lebensbedrohlich sein (Informationszentrum Kindesmisshandlung/Kindesvernachlässigung/IzKK des Deutschen Jugendinstituts/DJI).
20.2
Häufigkeiten
Nach den bisherigen Erkenntnissen stellt die Gewalt in der Familie die am meisten verbreitete Form von Gewaltausübung dar (Engfer 2005; Schwind u. Baumann 1990). Eine der häufigsten Formen häuslicher Gewalt ist die Gewalt gegen die (Ehe-)Frau, wobei die Vergewaltigung die schwerwiegendste Form von Gewalt in der Ehe ist. Gewalt von Männern gegenüber Frauen ist ca. 10-fach häufiger als Gewalt von Frauen gegenüber Männern. Frauen, die während einer Schwangerschaft physische und psychische Gewalt erleiden, entwickeln signifikant häufiger eine postpartale Depression. In einer prospektiven Studie von Ludemir et al. (2010), begonnen im dritten Trimenon der Schwangerschaft, fanden sich bei 25 % der Frauen nach der Geburt entsprechend erhöhte Werte im Screening in der Edinburgh Postnatal Depression Scale. Auch wenn die Gewalt primär vom Partner gegen die Mutter ausgeübt wird, leiden die Kinder sekundär unter der postpartalen Depression der Mutter. Ca. 10 bis 15 % der Eltern wenden schwerwiegendere und häufigere körperliche Bestrafungen bei ihren Kindern an (Engfer 2005). Die Misshandlungen beginnen schon sehr früh im Leben der Kinder. Laut Todesursachenstatistik kamen in Deutschland in den letzten Jahren (1998 bis 2008) zwischen 40 und 66 Kinder unter zehn Jahren jährlich durch einen sogenannten tätlichen Angriff im Sinne der ICD-10 ums Leben. Dazu gehören verschiedene Formen der Misshandlung und Vernachlässigung. Betroffen sind vor allem Säuglinge und Kleinkinder, die meisten (zwischen 19 und 35 im genannten Zeitraum) haben das erste Lebensjahr noch nicht vollendet (Statistisches Bundesamt 2010). Für exzessiv schreiende Säuglinge ist das Misshandlungsrisiko besonders hoch. In einem anonymisierten Fragebogen gaben 5,6 % von 3.259 untersuchten niederländischen Eltern von Kindern unter sechs Monaten an, ihr Kind schon mindes-
tens einmal aufgrund seines Schreiens geschlagen oder geschüttelt zu haben oder versucht zu haben, das Schreien zu ersticken (Rejineveld et al. 2004; vgl. auch 7 Kap. 13). Die Vernachlässigung ist die häufigste Form der Gewalt gegenüber kleinen Kindern. In der Klientel deutscher Jugendämter machen Vernachlässigungen ca. drei Viertel aller betreuten Fälle aus. Das Entdecken der mangelnden elterlichen Fürsorge führt dann oft zu Maßnahmen im Zusammenhang mit dem elterlichen Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht. Bei einer Befragung von Jugendämtern zu Fällen, in denen die Anrufung des Familiengerichts erforderlich war (Münder et al. 2000), fand sich in 50 % der Fälle vernachlässigendes Verhalten der Eltern als zentrales Gefährdungsmerkmal. Im Jahr 2009 (KOMDAT Jugendhilfe 2009) wurden 3.239 Kinder unter drei Jahren in Obhut genommen. Die Sensibilität gegenüber ausgeübter Gewalt in der Bevölkerung ist gestiegen. Die Zahl der Anzeigen bei Vernachlässigung und Misshandlung hat sich seit 1990 verdreifacht (polizeiliche Kriminalstatistik). Entsprechend stieg von 1995 bis 2005 die Zahl der vom Jugendamt in Obhut genommenen Kinder um 40 % (Statistisches Bundesamt 2010).
20.3
Kindeswohlgefährdung und Kinderschutz
Die Förderung und Sicherung des Kindeswohls sieht Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes vor: »Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.« Wenn Eltern dieses Kindeswohl gefährden, kommt dem Staat die Schutzfunktion zu. Eine Konkretisierung auf gesetzlicher Ebene erfolgte insbesondere im BGB im Hinblick auf die Aufgaben der Familiengerichte und im Achten Buch Sozialgesetzbuch – Kinder und Jugendhilfe – im Hinblick auf die Aufgaben des Jugendamtes. Besondere Bedeutung kommt dabei der Einfügung des § 8a SGB VIII durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) zum 1. Oktober 2005 zu (Wiesner 2006). Die neue Formulierung »Abschätzung des Gefährdungsrisikos« fordert die Erstellung von evidenzbasierter Diagnostik (Fegert
315
20.4 • Modelle der Gewaltentstehung in der Familie
2008). Bei der Entdeckung von Gewalt gegen Kinder müssen die Maßnahmen des Kinderschutzes zur Anwendung kommen, um das Kind aus aktuellem Anlass vor Verletzungen zu schützen, ihm weiterhin möglichst angemessene Umgebungsbedingungen für sein Heranreifen zu sichern und um Eltern und Familie zu unterstützen. Der Staat hat aber nicht nur die Wächterfunktion. Er hat auch die Pflicht, den Eltern zur Seite zu stehen. Auch dies ist gesetzlich geregelt. Eltern haben das Recht auf Hilfe zur Erziehung, »wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist« (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) werden den Familien oft auch dann angeboten, wenn es bereits zu einer Kindeswohlgefährdung gekommen ist. Bei jeder sechsten Hilfe geht es um Kindeswohlgefährdung (KOMDAT Jugendhilfe 2009). Das Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) von Kindler et al. (2006) dient der Information und Unterstützung von Fachkräften, die sich mit Fragen von Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB auseinandersetzen (müssen). Hierfür wurde der verfügbare Forschungsstand umfassend aufbereitet. Konkrete Hinweise, die die Einschätzungs- und Handlungssicherheit in der Praxis erhöhen, bilden einen Schwerpunkt des Handbuchs (mehr s. unter http://www.dji.de/asd). Kinderschutz ist nicht nur eine Angelegenheit für die Fachkräfte in allen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. dazu Körner u. Deegener 2005; Ziegenhain u. Fegert 2008; Herrmann et al. 2008), die FamilienrichterInnen, KinderärztInnen, PolizistInnen usw., es ist auch – über das sogenannte Meldeverfahren bei Wahrnehmung von Gewalt – eine Pflicht für alle Bürgerinnen und Bürger.
20.4
Modelle der Gewaltentstehung in der Familie
Die Familie ist nicht nur der häufigste Ort des Auftretens von Gewalt, sie ist auch der Ort, an dem Gewalt in einem vielschichtigen Prozess entsteht. Die Ergebnisse der empirischen Familienforschung
20
der letzten Jahrzehnte geben Aufschluss über aggressionsfördernde und Gewalt auslösende Interaktionszusammenhänge in der Familie. In einer komplexen Interaktionsmatrix zwischen Mutter und Kind entwickelt sich eine Beziehungsstruktur, die nach Lichtenberg (1990, 1991) eine Vorder- und eine Hintergrunddimension enthält. Während sich das aktuelle Geschehen mit befriedigenden und frustrierenden Erfahrungen im Vordergrund abspielt, wird der Hintergrund durch die generelle Einstellung der Eltern zu ihrem Kind, deren psychische und körperliche Verfassung sowie die sozioökonomischen Bedingungen geprägt. Wenn die Hintergrundatmosphäre zwischen primärer Bezugsperson und Kind überwiegend harmonisch ist, können Spannungen ausgeglichen werden, die durch Höhen und Tiefen im Vordergrund ausgelöst werden. Unter dieser Voraussetzung kann ein Säugling oder ein Kleinkind z. B. Wut, die durch eine unerwartete Abwesenheit der Bezugsperson oder durch erlebten Schmerz entsteht, so verarbeiten, dass weder die Beziehung dauerhaft beschädigt noch das Selbstgefühl beeinträchtigt wird. Ist jedoch die Hintergrundbeziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern gespannt, beispielsweise weil das Kind nicht erwünscht ist, die Eltern im Streit leben, krank oder süchtig sind oder sich aus anderen Gründen nicht auf ihr Kind einstellen können, dann werden sie nicht über die notwendigen Verhaltensmuster verfügen, um ihr Kind bei Kummer zu beruhigen, zu trösten oder in Wachphasen zu stimulieren. Aggressives Verhalten entsteht also auf dem Hintergrund spannungsreicher Beziehungen des Kindes zu seinen Bezugspersonen. Den frühen Interaktionen zwischen Kind und Bezugspersonen kommt dabei ein besonders großes Gewicht zu (Laucht 2003). Die entwicklungspsychologische Forschung konnte einige relevante Faktoren identifizieren, die bei der Gewaltentstehung maßgebend sind.
20.4.1
Ergebnisse der Bindungsforschung
Eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von aggressivem Verhalten des Kindes gegenüber der Bezugsperson spielt die Bindungsqualität. Nach
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20
Kapitel 20 • Gewalt in der Familie
Zeanah et al. (2000) kommt es bei den Kindern zu einer Störung der Sicherheitsbasis (»secure base distortions«), sie zeigen eine tief greifende Störung der emotionalen Sicherheit. Misshandelte Kinder weisen signifikant häufiger unsichere Bindungen zu ihren primären Bindungsfiguren auf als nicht misshandelte Kinder. Je nach Untersuchung wird der Anteil unsicherer Bindungen bei misshandelten Kindern mit 70 bis 100 % angegeben (Egeland et al. 1988), während man bei den nicht misshandelten Kindern lediglich in ca. 30 % solche Muster antrifft (Crittenden u. Ainsworth 1989). Ihr Verhalten ist durch ein Explorations- und Erkundungsverhalten in unbekannten Situationen ohne Rückversicherung charakterisiert. Die Kinder sind umtriebig und ruhelos und verhalten sich in Gegenwart der Bindungsperson aggressiv oder autoaggressiv, obwohl sie die Nähe zu ihr suchen. Daneben demonstrieren sie provokatives Verhalten, um die Aufmerksamkeit und den Schutz der sonst nicht verfügbaren Bindungsperson zu gewinnen. Trotz des gestörten Bindungsverhaltens haben sie aber eine klare Vorliebe für die Bezugsperson. Auffällig ist allerdings, dass ihre Suche nach Nähe häufig mit Ärger durchsetzt ist. Auch bei geringer Frustration kommt es bei diesen Kindern zu schweren und anhaltenden Wutanfällen. Das elterliche aggressionsfördernde Verhalten führt zu unterschiedlichen Bindungserfahrungen beim Kind (vgl. 7 Kap. 4): Ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster des Kindes geht häufig mit einem elterlichen Verhalten einher, das als vernachlässigend, furchteinflößend und/oder unempathisch charakterisiert werden kann. Die offene Zurückweisung der Kinder geht oft mit psychischen und physischen Misshandlungen einher. Ein unsicher-ambivalentes Bindungsmuster ist für unabgegrenzte Beziehungserfahrungen typisch. Das emotionale Überengagement seitens der wichtigen Bezugspersonen manifestiert sich in einengenden Kontrollversuchen oder in der Verweigerung von Autonomie. Kinder mit desorganisiertem Bindungsmuster zeigen abwechselnd Strategien der Kontaktaufnahme und der Kontaktvermeidung. Die Bezugspersonen geben dem Kind einerseits Sicherheit und Nähe, sie erzeugen andererseits aber auch Furcht. Das ergibt sich aus einer Sequenz von zu-
nächst konsistentem mütterlichen Verhalten, das plötzlich und unvorhersehbar durch indadäquates Verhalten abgelöst wird. Diese widersprüchlichen Beziehungsmuster finden sich bei Eltern mit unbewältigten Trauerreaktionen oder traumatischen Erfahrungen. Die Verunsicherung liegt für das Kind darin, dass sich seine auf die Mutter abgestimmten Erwartungen angesichts des veränderten Verhaltens als irreführend erweisen. Das sich entwickelnde Arbeitsmodell zeichnet sich dadurch aus, dass Angst und Kummer nicht kontrolliert werden können. Statt Trost zu suchen, bleiben die Kinder distanziert. Das Empfinden von Emotionen wird gemieden. Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Kinder aufgrund des Fehlens solcher Abstimmungsprozesse ganze Empfindungsbereiche im Repertoire für intime Beziehungen tilgen (Crittenden 2008). Main et al. (1985) konnten 80 % von zwölf Monate alten Kindern aus misshandelnden Familien diesem desorganisierten Bindungstyp zuordnen. Carlson et al. (1989) bestätigten, dass vor allem misshandelte Jungen zur Ausbildung dieses Musters neigen, insbesondere dann, wenn der Vater fehlt. Bindungsunsichere Kinder können sich nicht mehr genügend schützen und »übersehen« in der Folge schädigende Effekte von Misshandlung und Missbrauch (Zeanah u. Zeanah 1989), weshalb sie leichter erneut viktimisiert werden können. Es bedarf weiterer Untersuchungen, um die genauen Zusammenhänge der zugrunde liegenden Mechanismen erklären zu können. Ein wichtiger Schlüssel liegt im genaueren Verständnis der Entwicklung mentaler Fähigkeiten innerhalb einer sicheren Bindung. Fonagy stellt dar, dass sicher gebundene Kinder leichter eine »Theory of Mind« mit einem moralischen Bewusstsein entwickeln und damit besser vor gewaltsamem Handeln geschützt sind, weil sie sich besser in andere hineinversetzen können (Fonagy u. Target 1997, S. 10f.; Fonagy 1998a, b).
20.4.2
Die Entstehung des Empathiedefizits
Weil die Kinder keine Gelegenheit zur Teilhabe an den emotionalen Abstimmungsprozessen in gewaltbelasteten Familien hatten und sich nicht mit
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20.4 • Modelle der Gewaltentstehung in der Familie
einer »empathischen«, affektspiegelnden und die Gefühle des Kindes regulierenden Mutter identifizieren konnten, entsteht bei ihnen ein Entwicklungsdefizit für Empathie. Fonagy bezeichnet diesen Empathiemangel als Defizit der »reflexiven Funktion« (Fonagy u. Target 1997). Diesen Kindern fällt es dann auch schwer, 5 sich und andere als denkend und fühlend zu realisieren, 5 die Reaktion anderer zu antizipieren, 5 die Perspektive der anderen zu übernehmen, 5 die Veränderung von inneren Zuständen und deren Folgen zu reflektieren.
20.4.3
Soziale, materielle und familiäre Faktoren
Neben diesen Faktoren gibt es aber noch weitere familiäre und soziale Faktoren, die die Beziehung zwischen Eltern und Kind belasten. Das Ineinandergreifen der Faktoren haben wir im FamilienRisiko-Modell (Cierpka 1999; Ratzke u. Cierpka 2005) beschrieben. Ein größerer Teil der Eltern aus den sogenannten Risikofamilien, die in ihren Ressourcen im Hinblick auf die Erziehung des Kindes überfordert sind, kommen aus den unteren sozialen Schichten; sie sind und fühlen sich auch sozial benachteiligt. Allerdings fördern erst die mangelnde soziale Integration und die Neigung zum sozialen Rückzug die Gewaltbereitschaft innerhalb der Familie (Schwind u. Baumann 1990; Wahl 1990). Ökonomische Krisen, die z. B. durch die Arbeitslosigkeit des Vaters und/oder der Mutter mitverursacht werden, können zur Armut und damit zum Familienproblem führen. Aber: Armut allein muss nicht gefährdend für das Kind sein! Es müssen andere Faktoren hinzukommen. Die Eltern selbst stammen gehäuft aus sogenannten instabilen Herkunftsfamilien, von denen sie keine Unterstützung erfahren. Lahey et al. (1988) beschreiben, dass diese Kinder mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit bereits Eltern haben, die schon vor den abrupten Lebensveränderungen und Veränderungen in der Familienstruktur sogenannte antisoziale Züge aufwiesen. Gleichzeitig neigen Männer und Frauen mit antisozialen Persönlich-
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keitszügen zu häufigen und abrupten Lebensveränderungen. Oft leben diese Familien in Dauerkrisen. Die Instabilität in der aktuellen Familie wird mitverursacht durch häufige Beziehungsbrüche und die damit einhergehenden abrupten Veränderungen in der Familienstruktur, die für Kinder meistens mit einem Wechsel der Bezugspersonen verbunden sind (Rutter u. Giller 1983). So sind Scheidungen für das Kind ein elementares Verlusterlebnis, und der Wechsel zur Stiefelternfamilie oder zur Einelternfamilie (Franz 2004) bedeutet eine erneute Umstellung, die das Kind in seinen Bindungs- und Beziehungsmustern verunsichert. Je größer die Anzahl der Beziehungsbrüche, umso negativer wirkt sich diese Instabilität auf das Kind aus. Erhebliche Partnerschaftskonflikte tragen ebenfalls zur Belastung des affektiven Familienklimas bei. Die Instabilität in den Beziehungen verstärkt wiederum die Partnerschaftskonflikte. Gerade bei häufigen abrupten Veränderungen in einer Familie leidet aber nicht nur die Partnerschaft, sondern auch die elterliche Fürsorge und die Konsistenz im Erziehungsverhalten. Das besonders Tragische dabei ist, dass Kinder sich mit dem Konfliktlösungsstil der Eltern identifizieren. Oft liefern die Partnerschaftsbeziehung und die Eltern-Kind-Beziehung ein Modell der Konflikt- und Problemlösung, das von Aggressivität und Beziehungsabbruch gekennzeichnet ist (Cierpka u. Cierpka 1997).
20.4.4
Konstitutionelle Faktoren des Kindes
Auch das kindliche Verhalten kann für die Eltern zur Belastung werden und zur dysfunktionalen Eltern-Kind-Interaktion beitragen. Säuglinge, die durch Krankheit oder dauerhafte Schmerzzustände übermäßig viel Erregung bzw. hohe Anspannung erleben müssen, werden in ihren selbstregulatorischen Kompetenzen überfordert. Vor allem das kindliche Temperament nimmt Einfluss auf die Interaktion (vgl. 7 Kap. 3). So kommt es vor allem bei solchen Kindern zu externalisierenden Verhaltensstörungen, die sich eher impulsiv verhalten und unsicher gebunden sind (Burgess et al. 2003; Constantino 1995). Auch das Fehlen einer liebevollen Interaktion im frühen Säuglingsalter und
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20
Kapitel 20 • Gewalt in der Familie
eine verminderte mütterliche Verhaltensflexibilität gegenüber negativen Stimmungen des Säuglings korrelieren mit vermehrten externalisierenden Störungen im Schulalter (Laucht et al. 2000).
20.5
Der Gewaltzirkel und die Transmission von Gewalt
Gewalt hat in den oben beschriebenen Familien häufig eine mehrgenerationale Dynamik. Die Reinszenierung der eigenen Erfahrung als Opfer spielt bei Gewaltzyklen eine wichtige Rolle. Engfer (2005, S. 16) berichtet über verschiedene Untersuchungsergebnisse, in denen übereinstimmend etwa 30 % ehemals misshandelter Eltern die erlittene Gewalt an die Kinder weitergeben. Diese Zahlenangabe deckt sich etwa mit Ergebnissen von Widom (1989), die in ihren Untersuchungen zu gewalttätiger Kriminalität belegt, dass 26 % der kindlichen Opfer von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung in der Adoleszenz zu kriminellen Tätern werden. Etwa zwei Drittel dieser Kinder werden jedoch nicht zu Tätern. Sie hatten entweder protektive Lebensbedingungen, in denen die Traumatisierungen heilen konnten, oder sie erkranken psychisch oder psychosomatisch und bleiben in diesem Sinne Opfer erlittener Gewalt. Die Ergebnisse aus der Bindungsforschung belegen, dass ein unsicheres Bindungsverhalten über Generationen weitergegeben wird (vgl. die umfassende Literaturübersicht von Emde 1988, vgl. 7 Kap. 7).
20.5.1
Identifikation mit dem Aggressor
Die psychoanalytische Forschung erklärt, wie aus ehemaligen Opfern spätere Täter werden können, wie die transgenerationale Weitergabe über die Identifizierungen des der Gewalt ohnmächtig ausgelieferten Kindes mit dem Täter erfolgt. Da ein Kind existenziell von Erwachsenen abhängig ist, versucht es, Bindung und Beziehung trotz aller Gewalterfahrung über lange Zeit aufrechtzuerhalten. In einer asymmetrischen Beziehung verinnerlicht das Kind einen spezifischen Beziehungsmodus. Einerseits erlebt es sich bei der Gewalttat in einer
Opferbeziehung und als ohnmächtig und schwach, andererseits erlebt es den Täter als machtvoll und stark. Es internalisiert die eigene schwache Position und entwickelt eine Repräsentation des ausgelieferten Opfers, es identifiziert sich aber auch mit dem Aggressor (A. Freud 1936) und entwickelt eine Repräsentation von Stärke und Macht. So entstehen ein Opfer-Introjekt und ein Täter-Introjekt. Meissner (1984, S. 446ff.) beschreibt, dass diese Introjekte zwei Qualitäten haben: Sie sind narzisstisch und aggressiv gefärbt. Die Kinder haben mit den spezifischen narzisstischen Vulnerabilitäten und widerstreitenden Forderungen eines überlegenen und unterlegenen Introjektes zu kämpfen, zusätzlich in der aggressiven Dimension mit Belastungen durch polare Introjekte, die dem Bereich von Täter und Opfer entstammen. In der narzisstischen Dimension sind die Introjekte auf der einen Seite überlegen und grandios, auf der anderen Seite aber unterlegen, nichtswürdig und wertlos. In der aggressiven Dimension sind die Introjekte auf der einen Seite hasserfüllt, mächtig und wütend aggressiv und auf der anderen Seite schwach, hilflos und verwundbar. Täter- und Opfer-Introjekt stehen sich gegenüber und werden mithilfe von Spaltungsmechanismen voneinander getrennt gehalten, sind aber immer gemeinsam vorhanden. Wenn hinter dem depressiven, hilflosen Erleben eines Gewaltopfers die Wirksamkeit des Opfer-Introjektes steht, kann man bei gründlicher Exploration im Verborgenen auch Zeichen des Aggressor-Introjektes mit Wut und Gewalt ausmachen. Das Gleiche gilt für die polaren Bereiche Grandiosität und Nichtswürdigkeit in der narzisstischen Dimension. Wenn Opfer von früher erlittener Gewalt ihr Täter-Introjekt externalisieren und selbst aggressiv handeln (»Warum guckst du so?!«), dann verlagern sie durch die Projektion des Introjekts den inneren Konflikt auf die interpersonelle Bühne und sind von unerträglichen inneren Spannungen entlastet. Der Kreislauf der Gewalt schließt sich, das Opfer wird zum Täter.
20.5.2
Projektion elterlicher Selbstanteile
Als weiteren Transmissionsmechanismus von Gewalterfahrungen erwähnen Steele u. Pollock (1968)
319
20.5 • Der Gewaltzirkel und die Transmission von Gewalt
die Projektion negativer Selbstanteile misshandelter Eltern auf ihr Kind, welche dann die ElternSäuglings-Beziehung beeinflussen. In »fortwährender Überschätzung des Absichtselementes« (Hinde 1976) können Eltern dann Handlungen von Kindern im Neugeborenenalter verzerrt wahrnehmen. Dabei mischen sich elterliche gewalttätige Introjekte in den Dialog zwischen Eltern und Kind und werden so zu Furcht einflößenden Gespenstern im Kinderzimmer (Fraiberg 1980; s. oben). Für die kindliche Entwicklung ist dieser Vorgang insofern bedeutungsvoll, als die Reaktion der Mutter auf das Kind häufig der hineininterpretierten Bedeutung des kindlichen Verhaltens gilt. Fallbeispiel Frau L., die zusammen mit ihrer neun Monate alten Tochter Alice zu uns in die Eltern-Säuglings-Sprechstunde kam, berichtete von immer wiederkehrenden und zunehmend realer werdenden Fantasien, ihr Kind misshandeln zu müssen. Ihr eigenes »Gewaltpotenzial« machte der Mutter große Sorge. Einmal habe sie Alice bereits den Mund zugehalten, wobei sie jedoch darauf geachtet habe, dass die Nase frei blieb. Auch habe sie das Kind einmal aus 30 cm Höhe auf die harte Wickelunterlage fallen lassen. Das Schreien ihres Kindes sei für sie unerträglich und wecke Aggressionen in ihr. Um ein Ventil für ihre erheblichen Wutausbrüche zu finden, habe sie bereits die Küchentüre eingetreten. Häufig schlage sie gegen die Wand oder schreie selbst (dabei zeigt sie auf ihre blutig geschlagenen Fingerknöchel). Gleichermaßen beunruhige sie jedoch das befürchtete Gewaltpotenzial der Tochter, die ihr bereits zweimal beim Wickeln gegen die Brust getreten habe, was Frau L. als aggressiven Akt erlebte und nicht anders beantworten konnte als mit einem instinktiven »Klaps«. Alice müsse lernen, dass ihre schmerzhaften Tritte nicht straffrei bleiben können. Bereits in frühester Kindheit erlebte Frau L. von ihrer Mutter Gewalt in Form von Schlägen und Tritten, wobei sie am meisten unter den »hysterischen« Schreiattacken der Mutter gelitten habe. Manchmal sehe sie im Gesicht ihres Babys die »hysterisch« schreiende Mutter. In projektiver Wahrnehmungsverzerrung sah sie in ihrem schreienden
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Kind die eigene, intrusiv traumatisierende Mutter und verwechselte so die überwältigende Aggressivität ihrer Mutter mit dem hilflosen Schreien ihres Babys. Sogar unkoordiniertes Strampeln des Babys beim Wickeln wurde von der Mutter als absichtliche kindliche Aggression ihr gegenüber missverstanden. Glücklicherweise kam diese Frau rechtzeitig zu uns, nachdem sie ihre Misshandlungsimpulse mit bedrohlichen Durchbruchstendenzen wahrgenommen hatte.
Die Fortpflanzung von Beziehungs- und Bindungsstörungen in die nächste Generation kommt in diesem Fall über die projizierten bedrohlichen Elternrepräsentanzen zustande. Die Projektion eigener Aggression dürfte sich insbesondere dann gravierend auf die Mutter-Kind-Beziehung auswirken, wenn die »Gespenster« sehr negativ besetzte Bezugspersonen sind (Rabain-Jamin 1984).
20.5.3
Empathiemangel
In 7 Abschn. 20.4.2 wurde die Entstehung eines Empathiedefizits beim Kind beschrieben, die zu einer Einschränkung im Gefühlsrepertoire führen kann. Dieses Empathiedefizit eines ehemaligen Opfers kann zu späteren Gewalttaten beitragen, die das Opfer zum Täter werden lassen. Die katastrophale Empathiestörung von misshandelnden Erwachsenen besteht darin, dass sie die Bedürfnisse und Gefühle der Kinder nicht anerkennen und die Affekte nicht adäquat wahrnehmen. Die Gefühlsexpression des Kindes wird dann von der Bezugsperson entweder inadäquat oder nicht kontingent beantwortet. Wenn der Affekt von der Bezugsperson nicht angemessen reflektierend aufgenommen wird, findet auch keine Mentalisierung bei der Bezugsperson statt, der aufgetretene Affekt in der Beziehung wird nicht symbolisiert. Wenn die Gefühlsexpression des Kindes nicht symbolisiert wird, sondern nur expressiv einen Widerhall erfährt, müssen Affekte vom Kind häufig dissoziiert werden, damit es nicht von ihnen überschwemmt wird. Ein schreiendes Kind trifft dann im Extremfall auf einen schreienden Erwachsenen, der Affekt findet kein Containment in der Beziehung und wird nicht reguliert.
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20
Kapitel 20 • Gewalt in der Familie
Wenig empathische Eltern tragen so zur Entwicklung einer Empathiestörung bei ihren Kindern bei. In den Beratungsgesprächen berichten manche Eltern, dass es ihnen schwer fällt, empathisch zu sein, und sie stellen dann den Zusammenhang mit der »Unsensibilität« ihrer eigenen Eltern her. Wenn Eltern diesen Zugang zu ihrer Empathiestörung nicht haben, muss man den therapeutischen Schwerpunkt verschieben. Dann sollte man nicht nur über die mangelnde Empathie reflektieren, sondern die empathische Kompetenz im Gespräch mit den Eltern aktiv fördern. Die Behandlungstechnik bei Gewalt in der Familie soll an einem Fallbeispiel verdeutlicht werden.
20.6
Fallgeschichte
Herr A. meldet seine Familie in der Eltern-Säuglings-Sprechstunde an. Er kommt zusammen mit seiner Frau und dem neun Monate alten Sohn Stephan. Herr A will alles versuchen, um, wie er sagt, seine Familie zu retten. Sie hätten ein Schreibaby, das hauptsächlich bei ihm schreien würde. »Ich kann ihm offenbar kein guter Vater sein, und dabei wollte ich alles anders machen als mein eigener Vater.« Im Erstgespräch übernimmt Herr A. sofort die Initiative und berichtet, dass er sich von Stephan abgelehnt fühle. Seine Frau trage auch ihren Teil dazu bei. Sie entfremde seinen Sohn immer mehr von ihm, weil sie ihn nicht mehr mit ihm allein lassen wolle. Frau A. sagt darauf: »Ich habe Angst, dass du ihm wieder was antust!« Ihr Mann berichtet dann selbst, dass er manchmal die Geduld mit Stephan verliere, vor allem, wenn er sich abgelehnt fühle. So sei es auch gewesen, als sie mit Stephan einmal ins Krankenhaus gemusst hätten. Es stellt sich heraus, dass Herr A. seinen damals sechs Wochen alten Sohn so geschüttelt hatte, dass dieser eine Gehirnblutung mit Krampfanfällen erlitt. Eine Krampfneigung bestand noch immer. »Jetzt ist so etwas wieder passiert«, sagt Frau A. Beim Füttern habe ihr Mann Stephan den Löffel mit Gewalt in den Mund geschoben, sodass dessen Unterlippe aufgeplatzt sei und sie das Kind blutend aufgefunden habe.
Herr A. lebt inzwischen von seiner Frau getrennt. Zum Gespräch wollten sie aber zusammen kommen. Im Gespräch inszeniert sich die schon vollzogene Trennung: Die Mutter hält das Kind auf dem Schoß und versucht, ihren Mann nicht anzuschauen. Sie spricht nur zu den Therapeutinnen. Herr A. wirbt um seine Frau und auch um die Therapeutinnen. Vergeblich, wie sich schnell herausstellt. Am Ende des Gesprächs eröffnet ihm seine Frau, dass sie sich von ihm scheiden lassen wolle. Nach dem Gespräch entscheiden sich die Therapeutinnen, den Fall wegen Kindeswohlgefährdung an das Jugendamt zu melden, was von den behandelnden Ärzten bisher nicht in die Wege geleitet worden war. Dies soll Herrn A. im nächsten Gespräch mitgeteilt werden. Glücklicherweise kommen beide Eltern noch einmal zu einem weiteren Gespräch, wieder zusammen mit Stephan, »weil er bei niemandem außer seiner Mutter bleiben würde«, wie Herr A. zur Eröffnung sagt. Er will alles versuchen, um wenigstens Stephan nicht zu verlieren. In diesem Gespräch spricht Herr A. offen über seine Lebensgeschichte. Frau A. hört zu, bleibt aber am Ende des Gesprächs bei ihrem Entschluss, sich endgültig von ihrem Mann zu trennen. Herr A. hat vier Schwestern. Mit sechs Jahren wurde er von seinen Eltern in eine Pflegefamilie gegeben. Warum er und nicht eine der Schwestern weggegeben wurde, kann er nicht beantworten. Er sei schließlich mit zehn Jahren von der Pflegefamilie weg und in ein Internat gekommen und mit 16 zum Vater zurückgegangen. Sein Vater sei Alkoholiker gewesen und an einer Leberzirrhose verstorben, er habe ihn so gut wie nie gesehen. Erinnern kann er sich an die Prügel, die es setzte, wenn der Vater betrunken nach Hause kam. Zu seiner Mutter habe er in den letzten Jahren wieder Kontakt aufgenommen, sie wohne bei einer Schwester. Herr A. machte eine Ausbildung zum Chemielaborant, blieb Junggeselle, mied Frauen eher. Vor drei Jahren lernte er seine jetzige Frau kennen. Erste Probleme seien in der Schwangerschaft aufgetreten, als er sich zunehmend von seiner Frau abgelehnt gefühlt habe. Heftiger seien die Streitigkeiten geworden, als sein Sohn dann auf der Welt gewesen sei. Er habe den Eindruck gehabt, dass sein Kind ihn ablehne, weil das Schreien immer begonnen habe, wenn er das Zimmer betreten
20.6 • Fallgeschichte
habe, obwohl Stephan doch sein Wunschkind gewesen sei. Am Vorabend des Gesprächs war es zu einer ersten Tätlichkeit auch gegenüber seiner Frau gekommen. Als diese ihm »mit einem kalten Blick« erneut gesagt habe, dass sie eine sofortige und vollständige Trennung wolle, was das Verbot einschließe, Stephan zu besuchen, seien bei ihm wieder die Nerven durchgegangen. Er habe den Ehering von seiner Frau zurückverlangt. Nachdem diese ihm den Ring nicht freiwillig gegeben habe, sei er zu seiner Frau gegangen und habe sie in die Hand gebissen. Frau A. zeigt die Bisswunde und schüttelt nur den Kopf. Im Gespräch wird deutlich, dass die Impulsdurchbrüche von Herrn A. im Zusammenhang damit stehen, dass er sich »mit kaltem Blick« abgelehnt fühlt (wie er offensichtlich früher von seiner Mutter abgelehnt und weggegeben wurde). In dieser Ohnmachtssituation wird er »zum Tier« (wie er selbst sagt), wird also drängend und versucht, sich das Gefühl des Angenommenwerdens mit allen Mitteln zurückzuholen. Herr A. weiß nicht, dass er gerade wegen dieses Drängens die totale Ablehnung riskiert. In diesem zweiten Gespräch wird Herrn A. mitgeteilt, dass die Kindeswohlgefährdung dem Jugendamt gemeldet wurde. Wie erwartet, reagiert er aufgebracht, fühlt sich von den Therapeutinnen (wie von seiner Frau bzw. früher seiner Mutter) nicht verstanden und will das Zimmer verlassen. Er bleibt aber sitzen, als die Therapeutinnen ihm vorschlagen, eine Psychotherapie zu machen. Daran habe er auch schon gedacht. Er fügt sogar an, dass er auch in eine Gruppe für gewaltbereite Männer gehen wolle. Von den Frauen habe er offensichtlich sowieso nichts mehr zu erwarten. Eigentlich ist die Stunde schon vorüber, als es zu folgender Szene kommt: Beide Eltern sind mit dem Einpacken von Stephan in den Kinderwagen beschäftigt. Frau A. druckst etwas herum und sagt dann zu ihrem Mann, dass sie dringend noch einmal auf die Toilette gehen müsse. Dieser sagt: »Dann geh doch«, und sie übergibt Stephan dem Vater. Stephan fängt an zu schreien, als Frau A. das Zimmer verlässt. Der Vater will Stephan in den Kinderwagen setzen, Stephan schreit noch lauter und macht sich steif. Da er im Sitzwagen an-
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geschnallt werden soll, packt ihn der inzwischen ungeduldig und wütend gewordene Vater und wirft ihn mit wütender Miene gegen die Rückwand des Kinderwagens. Stephan beruhigt sich erst, als seine Mutter zurückkommt. Ganz offensichtlich wurde das Weinen und Schreien von Stefan durch die Trennung von seiner Mutter ausgelöst, die relativ abrupt und unvorbereitet für das Kind stattfand. In diesem Moment wollte er nicht zum Vater, sondern schrie nach der Mutter. Für Herrn A. wiederholte sich die Ablehnungsreaktion seines Sohnes. Die eigene ohnmächtige Verzweiflung und Enttäuschung führen dazu, dass er die Verzweiflung bei seinem Kind nicht empathisch wahrnimmt und es nicht trösten kann. Er reagiert impulsiv und gewaltbereit. Natürlich überrascht dieses impulsiv-aggressive Verhalten das Kind, das affektiv überwältigt wird. Wenn sich ein solches Kind immer wieder und mit zunehmendem Alter solchen impulsiv-überwältigenden Handlungen ausgesetzt fühlt, wird es sich nach und nach mit der impulsiven Handlung des Vaters und dessen begleitender Wut identifizieren (im Sinne der Identifikation mit dem Aggressor), es identifiziert sich aber auch mit der eigenen Ohnmacht und dem Gefühl des Ausgeliefertseins, das mit dieser Vater-Sohn-Interaktion verbunden ist. Wegen des Ausmaßes und der Intensität des väterlichen Impulses ist die Erfahrung für das Kind nicht integrierbar. Entwicklungspsychologisch kann diese Traumatisierung zur Dissoziation von Handlung und Affekt führen (NaumannLenzen 2003). Bindungstheoretisch liegt die Verunsicherung für Stephan darin, dass sich seine auf die Bezugsperson abgestimmten Erwartungen angesichts des impulsiven Verhaltens dieser Person als irreführend erweisen. Daher kann er kein funktionsfähiges inneres Arbeitsmodell entwickeln, was folgende Konsequenzen hat: 5 Angst und Kummer können von ihm (gegenüber seinem Vater) nicht kontrolliert werden. 5 Statt Trost zu suchen, wendet er sich zunehmend ab. 5 Er sucht mehr und mehr die Unabhängigkeit und vermeidet die Bindung (Zeanah u. Zeanah 1989).
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Kapitel 20 • Gewalt in der Familie
Bei Herrn A. ist gut nachvollziehbar, dass er die zuvor erlebte Beschämung und Selbsterniedrigung nach dem Geständnis seiner »Taten« im Erstinterview kompensieren muss. Stefan zeigt er kurzerhand, wer hier der Chef ist und wer hier wem zu folgen hat. Auch wenn er für einen kurzen Moment sein narzisstisches Gleichgewicht wiederfindet, kann er Stefan wiederum kein guter Vater sein. In seiner Kränkung wird er selbst zum wütenden Täter. Und eigentlich wollte er es ja ganz anders machen als sein Vater.
20.7
Wie lässt sich der Gewaltzirkel durchbrechen?
Eine transgenerationale Wiederholungstendenz setzt sich durch, wenn keine Unterbrechungen auftreten und nicht genügend protektive Faktoren die Belastungen kompensieren (Egle et al. 2005; Egle u. Cierpka 2006). Egeland et al. (1988) nennen als ein Ergebnis ihrer Studien drei Charakteristika von Menschen, die eigene Gewalterfahrungen nicht wiederholen: Nichtwiederholer 5 hatten in der Kindheit mindestens eine Person, an die sie sich mit ihrem Kummer wenden konnten, 5 hatten irgendwann in ihrem Leben eine längere (mehr als ein Jahr) Psychotherapie absolviert, 5 lebten gegenwärtig häufiger in einer befriedigenden Beziehung mit einem Ehepartner oder Freund. Supportive Beziehungserfahrungen scheinen also zum Unterbrechen des Gewaltzirkels unerlässlich zu sein. Vieles spricht dafür, dass im Kontext neuer Beziehungserfahrungen verzerrte Wahrnehmungen der Beziehungspartner korrigiert werden können, sodass vor allem die empathischen Fähigkeiten nachreifen können und sich die Affektregulation verbessert. Wenn in der Psychotherapie der Therapeut auf die Aggression des Patienten nicht mit Gegenaggressionen, sondern empathisch und grenzsetzend antwortet, dann kann der Gewaltzirkel unterbrochen werden, weil der Patient neue und andere Beziehungserfahrungen machen kann. Gewaltfantasien können berichtet und Traumati-
sierungen verarbeitet werden. Man wird auf diese Weise als Therapeut Zeuge für die wiedergefundenen Wahrheiten über die Traumatisierungen (Pfleiderer 1996, S. 282), und der Patient kann eine veränderte Beziehung, die er zum Therapeuten entwickelt, verinnerlichen und sein Beziehungsrepertoire entscheidend verändern. Herr A. machte eine längere Einzelpsychotherapie, in der seine strukturellen Defizite in der Selbststeuerung und in der Empathie als Therapieziele im Mittelpunkt standen. Er hatte sehr viel Trauerarbeit zu leisten, u. a. auch, weil er realisierte, dass er seinem Kind kein angemessen guter Vater sein konnte. Zum Therapieende entschied er sich, in den Pflegeberuf zu wechseln. Fazit Frühe Interventionen bei Kindeswohlgefährdung durch Gewalt von Eltern gegenüber dem Kind (Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung) dienen unmittelbar dem Kinderschutz. Maßnahmen sind auch im präventiven Sinne notwendig, um dem Kind die bestmöglichen Bedingungen für seine weitere Reifung und Entwicklung zu garantieren. Sie sind auch unerlässlich, um die Transmission von Gewalt von Generation zu Generation, den sogenannten Gewaltzirkel, zu durchbrechen. Die Eindämmung von Gewalt ist eine gesellschaftliche Aufgabe.
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Kapitel 20 • Gewalt in der Familie
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325
Drogenabhängige Eltern Petra Habash
21.1
Definition und Häufigkeit – 326
21.1.1
Folgen für das Kind – 326
21.2
Psychosoziale Situation – 327
21.3
Prä- und postnatale medizinische Betreuung von Mutter und Kind – 328
21.3.1 21.3.2
Substitution – 328 Stillen – 328
21.4
Psychosoziale Interventionen – 328
21.5
Eltern-Kind-Beziehung – 329 Literatur – 330
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
21
326
21
Kapitel 21 • Drogenabhängige Eltern
Kinder drogenabhängiger Eltern sind von Beginn ihres Lebens an einem erhöhten Entwicklungsrisiko ausgesetzt. Pränataler Drogenkonsum, eine Vielzahl abhängigkeitstypischer psychosozialer belastender Faktoren sowie Interaktionsschwierigkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung sind mit körperlichen, psychischen und sozialen Folgen für das Kind verbunden. Um Schädigungen des ungeborenen Kindes vorzubeugen und postnatal ungünstigen psychischen und sozialen Entwicklungsverläufen so weit wie möglich entgegenzuwirken, sind frühe Hilfen und eine frühzeitige Einbindung der Familie in ein multiprofessionell unterstützendes Netzwerk unabdingbar. Das folgende Kapitel bezieht sich auf substanzgebundene Abhängigkeiten. Es gibt jedoch starke Parallelen zu den nicht substanzgebundenen Abhängigkeiten, die das Verhalten der Betroffenen mit den damit verbundenen Folgen für das Kind tangieren.
21.1
ler Drogen (z. B. Cannabis, Opiate, Kokain, Ecstasy etc.). Die bekanntesten Formen nicht substanzgebundener Abhängigkeiten sind Spiel- und Internetsucht (Laux 2005). Sie treten häufiger bei Männern auf und haben ähnlich starke psychische Verhaltensstörungen und suchttypische Folgen wie die substanzgebundenen Abhängigkeiten (Deister 2005). Der kaum kontrollierbare Suchtdrang beherrscht das Alltagsleben der Betroffenen: Die Vernachlässigung von Verpflichtungen führt zum Abstieg auf persönlicher, familiärer und beruflicher Ebene, die Drogenbeschaffung treibt Abhängige in den finanziellen Ruin, die mit der Sucht verbundene Anspannung trägt zu Konflikten und – im Extremfall – zu strafbaren Handlungen bei. Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland ca. 30.000 bis 40.000 Kinder drogenabhängiger Eltern (Klein 2006). Von 1.000 Neugeborenen leiden vier bis sechs Kinder unter alkoholbedingten Schäden, und weitere drei Kinder sind während der Schwangerschaft dem Drogenkonsum ausgesetzt (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009).
Definition und Häufigkeit
Die Begriffe »Abhängigkeit« und »Sucht« werden synonym verwendet. Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (Dilling et al. 2010) zufolge handelt es sich dabei um einen zwanghaften Wunsch, psychotrope Substanzen zu konsumieren, verbunden mit einer verminderten Fähigkeit, den Gebrauch zu kontrollieren. Andere Tätigkeiten oder Interessen werden zugunsten der Substanzbeschaffung und Einnahme vernachlässigt (psychische Abhängigkeit). Es entwickelt sich eine Toleranz, die eine Dosissteigerung zur Folge hat. Bei Reduktion der Dosis treten Entzugssymptome auf (körperliche Abhängigkeit). Trotz massiver schädlicher Folgen auf körperlicher Ebene (z. B. Leberschädigung), psychischer Ebene (z. B. depressive Verstimmungen oder Beeinträchtigung kognitiver Funktionen) und sozialer Ebene (z. B. Verschuldung) wird der Konsum fortgesetzt. Prinzipiell wird zwischen substanzgebundenen und nicht substanzgebundenen Abhängigkeiten differenziert. Substanzgebundene Abhängigkeiten beziehen sich auf den Gebrauch legaler Drogen (z. B. Nikotin, Alkohol, Medikamente) und illega-
21.1.1
Folgen für das Kind
Psychotrope Substanzen (Nikotin, Alkohol und andere illegale Drogen) gelangen durch die Plazenta zum Fetus und können schon in geringen Mengen zu geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen führen. Dabei sind die wesentlichen Folgen Frühgeburten, Wachstumsretardierungen, körperliche Missbildungen und neurologische Spätschäden (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009). Das Risiko für den plötzlichen Kindstod ist ebenfalls erhöht (Speer 2007). Alkoholabusus in der Schwangerschaft zählt zu den häufigsten Ursachen für eine geistige Behinderung. Die gravierendste Form der Beeinträchtigung mit geistigen Entwicklungsstörungen, körperlichen Fehlbildungen (z. B. Herzfehler) und Minderwuchs wird als Fetales Alkoholsyndrom bezeichnet (Laux 2005; Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009). Ein weiterer Risikofaktor sind die mütterlichen Infektionserkrankungen, an denen sich ca. 5 % der Kinder prä- oder perinatal infizieren (Kästner et al. 2007).
21.2 • Psychosoziale Situation
Postpartal treten beim Säugling nach ca. 12 bis 48 Stunden körperliche Entzugssymptome (Kästner et al. 2007) mit Zittern, Unruhe, Niesen, schrillem Schreien, verkürzten Schlafphasen, Krampfanfällen, Fieber, Erbrechen, Durchfall und Atemstörungen auf (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009, S. 10). Kinder substituierter Mütter müssen daher intensiv überwacht und unter Umständen stationär behandelt werden.
21.2
Psychosoziale Situation
Für die Kinder birgt das familiäre Drogenmilieu sowohl wegen der körperlichen Folgen durch die Drogenexposition während der Schwangerschaft (vgl. 7 Abschn. 21.1.1), als auch wegen der zahlreichen psychosozialen Belastungen der Eltern und des Umfeldes hohe Entwicklungsrisiken (Winkler 2007). Schwangerschaften sind bei drogenabhängigen Frauen meist nicht geplant. Sie gelten nicht nur wegen des Drogenmissbrauchs, sondern auch aufgrund der häufigen Infektionserkrankungen (Hepatitis C, B und HIV) und des schlechten Ernährungszustandes der Frauen als Risikoschwangerschaften (Kästner et al. 2007). Die Schwangerschaften werden durch den unregelmäßigen Zyklus beim Konsum von Suchtmitteln durchschnittlich erst in der der 17. Schwangerschaftswoche festgestellt (Kästner et al. 2007). Trotz der ambivalenten Gefühle entscheidet sich die Mehrheit der drogenabhängigen Frauen für das Kind, da es Hoffnung auf ein neues, besseres Leben erweckt. Andererseits dominieren Scham- und Schuldgefühle dem Kind gegenüber, weil es bereits pränatal Drogen konsumiert und einer Lebensumgebung mit mangelnder Zukunftsperspektive ausgesetzt wird. Die Motivation, den Drogenkonsum einzuschränken oder gar einzustellen, ist groß. Wenn während der Schwangerschaft auf Drogen verzichtet wurde, so sind Rückfälle in der ersten Zeit mit dem Neugeborenen aufgrund der vielseitigen Belastungen sehr häufig (Kästner et al. 2007; Louwen 2000). Der biografische Hintergrund drogenabhängiger Eltern ist von belastenden, traumatischen Ereignissen geprägt: Konflikte und Trennungen der Eltern, emotionale Vernachlässigung, sexueller
327
21
Missbrauch, Gewalterfahrung und das Fehlen von stabilen Eltern als Vorbildern kennzeichnen den Lebensverlauf und die Persönlichkeitsentwicklung (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009; Kästner et al. 2007). Schwere körperliche und psychische Störungen können die Folge sein. Neben der Abhängigkeit bestehen häufig komorbide psychische Erkrankungen (z. B. Depression) (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009; Pajulo et al. 2001; vgl. 7 Kap. 7). Im Umgang mit dem eigenen Kind spiegeln sich ungünstige Kindheitserfahrungen wider. Verminderte Frustrationstoleranz, Stimmungslabilitäten und Einsamkeit erschweren die Bewältigung alltäglicher Aufgaben. Zudem weisen drogenabhängige Eltern Beeinträchtigungen im Bindungsverhalten auf. Studien zufolge verfügen Drogenabhängige häufiger über ein unsicheres bzw. unsicher-vermeidendes Bindungsmuster (vgl. 7 Kap. 4; Schindler et al. 2005). Für die soziale und emotionale Entwicklung des Säuglings stellt dies ein beträchtliches Risiko dar. Den Eltern fehlen Modelle für positives elterliches Erziehungsverhalten. Unsicherheit und ein instabiles Selbstwertgefühl beeinträchtigen die Wahrnehmung kindlicher Bedürfnisse und reaktivieren die eigene Eltern-Kind-Beziehung (vgl. 7 Abschn. 21.5). Es kommt häufig zu Konflikten in der Partnerschaft. Die Quote alleinerziehender Mütter ist hoch (Winkler 2007). Enttäuschung, Unzulänglichkeitsund Versagensgefühle sowie Hilflosigkeit lassen eine Änderung fast als unmöglich erscheinen. Konfliktsituationen werden aufgrund von Gefühlen der Hilflosigkeit und Ohnmacht vermieden und abgewehrt (Kästner et al. 2007). Verzweiflung und Disharmonien verleiten zu Drogenrückfällen, die ein Ventil für den hohen Leidensdruck sind und den Anschein erwecken, dass man die erlebten Belastungen selbstgesteuert regulieren kann (Kästner et al. 2007; Louwen 2000). Die Beschaffung von Drogen dominiert den Tagesablauf und hat erhebliche Konsequenzen: Sie bringt die Eltern in Konflikt mit dem Gesetz. Die Eltern werden strafverfolgt und leben in einer von Gewalt geprägten Szene, isoliert und geächtet vom sozialen Umfeld (Kästner et al. 2007). Die Familien leben in Armut und beengten Wohnverhältnissen. Durch Schul- und Berufsaus-
328
21
Kapitel 21 • Drogenabhängige Eltern
bildungsabbrüche sind sie häufig arbeitslos und auf Sozialhilfe angewiesen (Kästner et al. 2007). Nicht selten führen extreme Belastungen aufseiten der Eltern und ungünstige soziale und finanzielle Rahmenbedingungen (vgl. 7 Kap. 7) zu Misshandlungen, Missbrauch und Vernachlässigung des Kindeswohls (Kienberger Jaudes u. Ekwo 1995). Hinzu kommen Risikomerkmale aufseiten des Kindes (z. B. drogenbedingte Behinderungen und Schädigungen; vgl. 7 Abschn. 21.1.1), die zu einer Zuspitzung der hohen Anforderungen an die Eltern beitragen.
21.3
Prä- und postnatale medizinische Betreuung von Mutter und Kind
21.3.1
Substitution
Die Substitutionsbehandlung bei opiatabhängigen Schwangeren dient zum einen der Unterdrückung der Substanzsucht und zum anderen dem Schutz des Fetus vor starken Schwankungen des Drogenspiegels im Blutkreislauf (Kashiwagi et al. 2005). Vorsicht ist bei einem akuten Drogenentzug geboten, denn dieser kann zu einer Plazentainsuffizienz mit kindlicher Asphyxie bis hin zum intrauterinen Fruchttod führen und birgt somit höchste Gefahr für das ungeborene Kind (Kästner et al. 2007). Die Substitutionsbehandlung muss unter engmaschiger ärztlicher Begleitung stationär oder ambulant erfolgen. Standardmäßig stehen drei Substitutionsmedikamente zur Verfügung, wobei die Einstiegsdosis vom Mengenkonsum abhängig ist: Levomethadon (L-Polamidon®) bzw. Methadon-Razemat oder Buprenorphin (Subutex®) (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009; Kästner et al. 2007). Trotz erfolgreicher Substitutionsbehandlung konsumieren Drogenabhängige oftmals mehrere psychotrope Substanzen gleichzeitig, um Entzugssymptome zu mildern und Gemütsschwankungen entgegenzuwirken (sogenannter Beikonsum oder polytoxikomaner Konsum). In einzelnen Fällen ist eine Dosisreduktion bis hin zu einer kompletten Entgiftung während der pränatalen Phase möglich.
21.3.2
Stillen
Das Stillen beeinflusst die körperliche und emotionale Entwicklung von Säuglingen positiv, weswegen es bis auf wenige Ausnahmefälle grundsätzlich empfohlen wird. Die meisten drogenabhängigen Mütter rauchen. Es wird zu einer Reduktion der Zigarettenanzahl sowie zur Vermeidung des unmittelbaren Rauchens vor dem Stillen geraten (Kästner et al. 2007). Substitutionsmedikamente gehen nur in geringen Maßen in die Muttermilch über und stellen damit kein Stillhindernis dar (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009; Kashiwagi et al. 2005). Im Falle eines Beikonsums wird jedoch aufgrund der unklaren Substanzmengen in der Muttermilch das Abstillen empfohlen (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009). Je nach Einschätzung des Infektionsrisikos kann beim Vorliegen einer mütterlichen Hepatitis-C-Erkrankung gestillt werden; eine HIV-Infektion gilt hingegen als Kontraindikation (Kashiwagi et al. 2005).
21.4
Psychosoziale Interventionen
Um den speziellen Belangen drogenabhängiger Eltern im psychischen, sozialen und medizinischen Bereich nachzukommen, ist eine frühzeitige und lückenlose Unterstützung der Eltern bereits während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren des Kindes erforderlich. Die Maßnahmen müssen darauf ausgerichtet sein, für eine Stabilisierung der Familie zu sorgen und das Wohl des Kindes zu schützen. Dies kann nur durch die Zusammenarbeit von multiprofessionellem Fachpersonal (Gynäkologen, Psychiater, Pädiater, Hebammen, sozialpädagogische Familienhilfen) optimal gelingen (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009; Kästner et al. 2007). Die hohe Motivation der Eltern, grundlegende Veränderungen zum Wohle ihres Kindes vorzunehmen, ist groß, und je früher die Eltern erreicht werden, desto nachhaltiger wird Vertrauen aufgebaut. Die Bewältigung anschließender Aufgaben in den ersten Monaten nach der Geburt wird dadurch erleichtert. Die Eltern können ihr Kind in einem besseren häuslichen Umfeld versorgen, und befürchtete Konflikte oder
329
21.5 • Eltern-Kind-Beziehung
gar eine Gefährdung des Kindeswohls können vermieden werden. Die Substitutionsbehandlung dient in erster Linie der Stabilisierung der drogenabhängigen Mutter und der Schadensbegrenzung für den Säugling. Allerdings gibt es für den Erfolg der Behandlung keine Garantie, denn ein existierender Beikonsum, der aus Angst vor Verurteilung meist verheimlicht wird, kann die ohnehin vorhandene Gefährdung steigern. Die Behandlung, die in ambulantem oder stationärem Setting erfolgt (vgl. 7 Abschn. 21.3.1), sollte durch ein psychotherapeutisches Angebot und Selbsthilfegruppen komplementiert werden (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009; Kästner et al. 2007; Louwen 2000). Der therapeutische Rahmen bietet Raum für Reflexion und ermöglicht es, übertriebene Anforderungen zu erkennen und zu reduzieren. Rückfälle, die in Belastungssituationen mechanisch erfolgen, werden analysiert und Selbstvorwürfe sowie Schuld- und Versagensgefühle gemildert. Stressbewältigungsstrategien werden erarbeitet, um zukünftig bessere Lösungsmöglichkeiten zu finden. Des Weiteren wird die belastete Beziehung der drogenabhängigen Mütter und Väter zu ihrer Herkunftsfamilie thematisiert, da die Elternschaft häufig Erinnerungen an die erlebten Unzulänglichkeiten der eigenen Eltern hervorruft. Aufgrund der eigenen unsicheren Bindungserfahrung gestalten sich die Kontaktaufnahme und der Beziehungsaufbau zum Therapeuten jedoch häufig schwierig, und Therapieabbrüche sind keine Seltenheit (Kästner et al. 2007). Die Leistungen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) des Kinder- und Jugendamts, wie beispielsweise finanzielle Hilfen, Verbesserung der Wohnsituation, Schuldenberatung, Hilfen bei Strafverfahren, können für Entlastung sorgen. Häufig jedoch dominieren dem Jugendamt gegenüber Gefühle von Angst und die ständige Sorge, dass einem das Kind weggenommen werden könnte. Die aufsuchende Tätigkeit durch die Familienhebamme, deren Arbeit in den letzten Jahren als niederschwelliges Angebot an Bedeutung zugenommen hat, ist ein weiterer wichtiger Baustein des Hilfenetzwerkes. Hebammen gelten häufig als Vertrauenspersonen und leisten, nicht nur in medizinischer Hinsicht, einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung des ersten Lebensjahres. Sie stärken die
21
elterlichen Kompetenzen, motivieren die Eltern, Vorsorgetermine einzuhalten sowie weitere Hilfen anzunehmen (Cierpka 2009). Zur Erstellung eines optimal an die Familie angepassten Hilfeplans sind Konferenzen, an denen neben Fachpersonal auch Personen aus dem familiären Umfeld oder dem Freundeskreis teilnehmen und einen wichtigen Beitrag leisten können, ein geeigneter Rahmen. Indem Hilfen gemeinsam mit den Eltern diskutiert und koordiniert werden, können weitere Absprachen erleichtert werden. Gibt es Anzeichen für eine Gefährdung des Kindeswohls, sind rechtliche Maßnahmen einzuleiten, die zu einem Entzug des Sorgerechts und der Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie führen können. Statistiken belegen, dass ungefähr die Hälfte aller Kinder drogenabhängiger Eltern nach dem ersten Lebensjahr in Obhut genommen werden (Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. 2009; Kästner et al. 2007). Für das Fachpersonal ist Supervision hilfreich, um eigene Gefühlsreaktionen oder mögliche Vorwurfshaltungen zu reflektieren. Helfer werden für die Bedürfnisse der Familien sensibler und lernen Gefühle der Eltern, wie Misstrauen, Bevormundung, Kontrolle und Aggression, besser zu verstehen und damit umzugehen. Ein verständnisvolles Unterstützungsverhalten kann den Entwicklungsverlauf begünstigen (Kästner et al. 2007).
21.5
Eltern-Kind-Beziehung
Ein sicheres Bindungsverhalten ist für eine gesunde psychische Entwicklung des Kindes entscheidend. Wissenschaftlich ist inzwischen belegt, dass die elterliche Feinfühligkeit ein bedeutsamer Prädiktor für die Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung ist. Feinfühligkeit bezeichnet die Fähigkeit der Eltern, das Bedürfnis des Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und prompt und angemessen darauf zu reagieren (Winkler 2007; Brisch 2005; vgl. auch 7 Kap. 4).Die Kindheitserfahrungen mit der eigenen Bezugsperson prägen die Ausbildung eines internalen Arbeitsmodells, das die emotionale Verfügbarkeit im Umgang mit dem Kind maßgeblich beeinflusst und die Grundlage für die Gestaltung
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21
Kapitel 21 • Drogenabhängige Eltern
von Beziehung im Erwachsenenalter ist (Winkler 2007). Der Entwicklungsverlauf der Mutter-Kind-Beziehung ist aufgrund der extremen Belastungen in drogenabhängigen Familien besonders gefährdet. Hinzukommen können eigene ungünstige Beziehungserfahrungen der Eltern, die einen unsicheren Bindungsstil beim Kind begünstigen (vgl. 7 Abschn. 21.2). Drogenabhängige Mütter sind den kindlichen Bedürfnissen gegenüber weniger feinfühlig (Pajulo et al. 2001). Im Umgang mit ihrem Kind sind sie unsicher, ängstlich und überregulierend. Sie verbalisieren seltener und zeigen wenig Initiative und Freude, stattdessen ist die Haltung dem Kind gegenüber ambivalent (Suchman et al. 2004). Die Kinder entwickeln Verhaltensauffälligkeiten und Schwierigkeiten in der Selbstregulation: Sie zeigen starke Reaktionen auf Stimulation und sind irritierbarer. Der SchlafWach-Rhythmus ist gestört, und die Nahrungsaufnahme ist erschwert. Dies stellt die ohnehin belasteten Eltern vor zusätzliche Bewährungsproben im Umgang mit ihrem Kind (Winkler 2007). Forscher, die sich mit Behandlungsangeboten für drogenabhängige Familien beschäftigen, plädieren dafür, beziehungsorientierte Interventionsangebote zunehmend in das stationäre oder ambulante Behandlungssetting zu integrieren (Winkler 2007). Ziel ist es, die Mutter-Kind-Bindung durch die Steigerung der mütterlichen Feinfühligkeit in den ersten Lebensmonaten zu fördern. Dies kann erreicht werden, indem Mütter darüber informiert werden, wie Kinder altersangemessen ihre Bedürfnisse äußern, und bei der Interpretation kindlicher Signale unterstützt werden (vgl. 7 Kap. 29). Zudem kann die Erfahrung einer positiven Beziehung zu einem Therapeuten, der Halt, Orientierung und Sicherheit vermittelt, zu einer schrittweisen Veränderung eigener Beziehungsmuster führen, was sich wiederum positiv auf das Erziehungsverhalten auswirkt. Fazit Kinder drogenabhängiger Eltern sind vor und nach der Geburt besonderen Entwicklungsrisiken ausgesetzt. In der Phase des Übergangs zur Elternschaft, die ohnehin eine Herausforderung ist, können sich gesundheitliche, psychische, soziale sowie finanzielle Belastungen ungünstig verstärkend aus-
wirken. Die frühzeitige Unterstützung der Familie durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Professionen (Gynäkologen, Psychiater, Pädiater, Hebammen, sozialpädagogische Familienhilfen) kann sich auf den Entwicklungsverlauf der Kinder protektiv auswirken und Krisen mit der Folge einer Kindeswohlgefährdung vorbeugen. Neuere Ansätze sehen die stärkere Einbindung bindungsorientierter Therapieansätze als weiteren präventiven Baustein im Behandlungskonzept für drogenabhängige Eltern.
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331
21
333
Teenagerschwangerschaften Daniel Nakhla, Daniela Doege und Martina Engel-Otto
22.1
Ursachen und Hintergründe – 334
22.1.1 22.1.2
Prävalenz von Teenagerschwangerschaften – 334 Risikofaktoren und Erklärungsansätze für eine frühe Schwangerschaft – 335
22.2
Auswirkungen auf Eltern und Kinder – 336
22.2.1 22.2.2
Auswirkungen auf die Eltern – 336 Auswirkungen auf die Kinder – 336
22.3
Unterstützungsmöglichkeiten und Beratungskonzepte – 337
22.3.1 22.3.2 22.3.3 22.3.4
Unterstützungsbedarf – 337 Unterstützungsangebote – 337 Herausforderungen bei der Intervention – 341 Möglichkeiten des Umgangs mit den besonderen Herausforderungen der Zielgruppe – 342
Literatur – 343
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
22
334
22
Kapitel 22 • Teenagerschwangerschaften
Medienberichte suggerieren eine Zunahme von Teenagerschwangerschaften, faktisch weisen diese jedoch laut Geburtenstatistiken in den letzten zehn Jahren ein konstantes bis rückläufiges Niveau auf (BZgA 2007). Eine einheitliche systematische Datenerhebung fehlt jedoch bislang. Väter im Teenageralter werden meist gar nicht erfasst (ebd.). Jugendliche Schwangere und Eltern stellen hinsichtlich ihrer Belastungen eine heterogene Gruppe dar und stammen aus allen sozialen Schichten (Remberg 2005). In sozial schwachen, benachteiligten Familien kommen frühe Schwangerschaften jedoch häufiger vor. Unabhängig davon haben jugendliche Eltern aufgrund ihrer Entwicklungsphase erhöhte Anforderungen zu bewältigen: Die verfrühte Verantwortungsübernahme versetzt die Jugendlichen in ein Spannungsfeld zwischen dem Angewiesensein auf äußere Hilfen und pubertätsangemessenen Abgrenzungswünschen. Wenngleich viele jugendliche Eltern gut mit ihrer Situation zurechtkommen, ist angesichts der Kumulation von Risikofaktoren von einem erhöhten Unterstützungsbedarf auszugehen (Stucke 2004). Präventions- und Unterstützungsprogramme stehen aufgrund altersentsprechender Wünsche von Teenagereltern nach Selbstbestimmung der Herausforderung gegenüber, die Betroffenen überhaupt zu erreichen. Wichtig erscheinen dabei offene Angebote wie Elterntreffs und die Einbindung des sozialen Umfelds.
22.1
Ursachen und Hintergründe
Teenagerschwangerschaft Die internationale, wörtliche Definition fasst unter den Begriff der Teenagerschwangerschaft eine Schwangerschaft bei unter 20-Jährigen, manche Studien beziehen sich dagegen nur auf minderjährige, also unter 18-jährige Schwangere oder Eltern. Viele Interventionsprogramme zielen jedoch nicht nur auf Eltern dieser Altersstufe ab, sondern sind ein Angebot für junge Mütter und Väter im Sinne einer Risikogruppe, die zum Zeitpunkt ihrer Elternschaft bestimmte Ent-
wicklungsschritte ins Erwachsenenalter noch nicht abgeschlossen hat.
22.1.1
Prävalenz von Teenagerschwangerschaften
Eine methodisch einheitliche, systematische Erfassung der Schwangerschaften Jugendlicher in Deutschland fehlt bislang (BZgA 2007). Auch ergeben sich abhängig von der zugrunde liegenden Altersdefinition unterschiedliche Prävalenzen für Teenagerschwangerschaften. Rückschlüsse auf deren Anzahl in Deutschland lassen sich theoretisch aus Geburts- und Schwangerschaftsabbruchstatistiken errechnen. Diese Daten beziehen sich dementsprechend auf Mütter, während über die Anzahl minderjähriger Väter keine Aussage gemacht werden kann. Laut BZgA (2007) ist die Zahl der von minderjährigen Müttern Lebendgeborenen von 7.126 (0,9%) im Jahr 2000 auf 5.812 (0,8%) im Jahr 2007 gesunken. Die (absolute) Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche ist im gleichen Zeitraum zwar von 6.337 auf 6.175 gesunken, der relative Anteil damit jedoch von 4,7% auf 5,3% gestiegen. In der Summe ist also von einer ungefähr doppelt so hohen Teenagerschwangerschaftsrate auszugehen, wie die Geburtenstatistiken vermuten lassen. Im internationalen Vergleich ist die Minderjährigenmutterschaftsrate in Deutschland wie in den meisten europäischen Ländern sehr gering. Als Vergleichsgröße dient die Anzahl der Geburten von Müttern unter 20 Jahren pro 1.000 gleichaltrige (d. h. 15- bis 19-jährige) Mädchen in der Bevölkerung. Diese Zahl liegt in Deutschland bei 13,1 (UNICEF 2001) bzw. 8 (UNFPA 2010). Laut UNICEF (2001) haben die USA unter den OECDStaaten die mit Abstand höchste Rate (52,1 ‰). In Entwicklungsländern liegen die Raten z. T. über 100, aber auch dort besteht eine hohe Varianz (UNFPA 2010). Aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen erfolgte in den letzten 30 Jahren in fast allen Ländern ein Rückgang der Geburtenraten von Teenagern (UNICEF 2001).
335
22.1 • Ursachen und Hintergründe
Obwohl Teenagerschwangerschaften nicht nur in sozial schwachen Familien vorkommen, entsteht der Eindruck, dass diese in Studien vermehrt untersucht werden und das Bild der Gesamtgruppe von Teenagereltern ins Negative verzerren.
22.1.2
Risikofaktoren und Erklärungsansätze für eine frühe Schwangerschaft
Risikofaktoren, die eine frühe Schwangerschaft wahrscheinlicher machen, wurden vor allem in den USA beforscht (Zusammenfassung bei Coley u. Chase-Lansdale 1998). Dabei wurden geringe Schulleistungen und vorzeitiger Schulabbruch genannt, ebenso Arbeitslosigkeit, Migrationshintergrund, Alkohol- und Drogengebrauch sowie frühe sexuelle Aktivität. Besonders gefährdet sind Jugendliche alleinerziehender Elternteile oder solche, deren Herkunftsfamilien sich durch ein geringes Bildungsniveau und Armut auszeichnen. Diese Befunde stehen im Widerspruch zu Studien, nach denen Teenagerschwangerschaften kein schichtspezifisches Phänomen darstellen (Stucke 2004). Eine mögliche Ursache nach Häußler-Sczepan et al. (2005) könnte sein, dass sich Mädchen oder Frauen unterer sozialer Schichten im Vergleich zu Frauen mit höherem (angestrebten) Bildungsabschluss und besserer beruflicher Perspektive häufiger für die Austragung des Kindes entscheiden. Weitere potenzielle Ursachen für eine frühe Schwangerschaft und Familiengründung wie mangelnde Verhütung, psychologische und soziale Motive werden im Folgenden erläutert.
Selbstbewusstsein, deren Verwendung anzusprechen oder durchzusetzen (Remberg 2001), wird auch jugendlicher Egozentrismus (Elkind 1996) und die damit einhergehende Vorstellung, persönlich gegen unerwünschte Schwangerschaften gefeit zu sein, als Grund angeführt. z
Frühe sexuelle Aktivität und mangelnde Verhütung
Ein Grund für Schwangerschaften bei Jugendlichen wird in fehlender Planung bzw. ineffektiver Verhütung gesehen. So gaben 76% der in einer Interventionsstudie untersuchten Teenagermütter an, dass die Schwangerschaft nicht geplant war; 69% hatten nicht oder nur unregelmäßig verhütet (Ziegenhain et al. 2003). Neben einer eingeschränkten Fähigkeit, sexuelle Aktivitäten vorherzusehen, mangelhaften Kenntnissen in Bezug auf die richtige Anwendung von Verhütungsmitteln bzw. unzureichendem
Psychologische Motive: Sehnsucht nach Geborgenheit
Eine ungeplante Schwangerschaft kann erwünscht und unerwünscht sein. Ziegenhain et al. (2003) fanden, dass fast die Hälfte der Mütter sich das Kind gewünscht hatte. Diese Diskrepanz begründet sich zum einen in einem Auseinandersetzungsprozess mit Familie und Moralvorstellungen nach dem Feststellen der Schwangerschaft (ebd.), zum anderen werden auch unbewusste psychologische Motive angenommen, wie der in der eigenen Entwicklungsgeschichte zu kurz gekommene Wunsch nach Geborgenheit, Stabilität und emotionaler Nähe, der auf das Wunschkind projiziert wird und durch die Familiengründung erfüllt werden soll (Crittenden 1992). Die jungen Eltern möchten sich von ihrer Herkunftsfamilie unabhängig machen, konfliktbehafteten Verhältnissen entgehen und bessere Eltern sein, als ihre eigenen es waren (Häußler-Sczepan et al. 2005). Ein weiteres Motiv ist der Wunsch, den Partner durch ein gemeinsames Kind dauerhaft an sich zu binden (Remberg 2001). Bislang wenig beachtet wurde der Aspekt, dass der Kinderwunsch z. T. auch wesentlich von den zukünftigen Vätern ausging oder diese »stärker für das Austragen einer ungeplanten Schwangerschaft plädierten als die Schwangeren selbst« (ebd., S. 7). z
z
22
Soziale Motive: Sinngebung und Rollenfindung bei sozialer Benachteiligung
Eine dritte Hypothese geht davon aus, dass bei den Jugendlichen die Vorstellung besteht, durch eine Familiengründung Sinnfindung zu erlangen oder Lebenskrisen zu bewältigen. Soziale Ungleichheit und geringe Teilhabechancen (z. B. durch einen Schulabschluss, der die Erfüllung der eigenen Berufswünsche nicht ermöglicht), der Wunsch nach einem selbstständigen, selbstbestimmten Leben und gesellschaftlicher Normalität und Akzeptanz könnten Motive sein, die dazu beitragen, dass Teenagerschwangerschaften sich in unteren sozia-
336
Kapitel 22 • Teenagerschwangerschaften
len Schichten häufen (Häußler-Sczepan et al. 2005). Auch die kurzzeitige finanzielle Basissicherung kann ein Motiv sein (ebd.).
22
22.2
Auswirkungen auf Eltern und Kinder
Eine frühe Elternschaft birgt für die Eltern wie für ihre Kinder Risiken und Problematiken auf verschiedenen Ebenen. Die geschilderten Hintergründe erhöhen nicht nur die Wahrscheinlichkeit einer frühen Schwangerschaft, sondern stellen in sich schon gravierende Risikofaktoren dar. Das verdeutlicht, dass viele minderjährige Eltern mehrfach belastet sind und damit besondere Unterstützung benötigen. Im Umkehrschluss heißt das aber nicht, dass alle jungen Eltern gefährdet sind. Nach gängigen Annahmen über Schutz- und Risikofaktoren sowie Modellen der Familienstresstheorie kommen Vulnerabilitätsfaktoren erst dann zum Tragen, wenn entsprechende Ressourcen und Resilienzfaktoren fehlen oder verloren gehen und deshalb die Kumulation von Stressfaktoren und deren Wechselwirkungen nicht oder nicht mehr ausgleichen können (vgl. 7 Kap. 7). Als wesentliche Resilienzfaktoren bei jugendlichen Eltern werden Schulbildung, soziale Unterstützung oder eine stabile und sichere Bindung angenommen (7 Kap. 7).
22.2.1
Auswirkungen auf die Eltern
In Zusammenhang mit einer frühen Schwangerschaft werden vielfältige Nachteile im späteren Leben der Mütter genannt, wie Armut, Bildungsnachteile, Arbeitslosigkeit oder schlechte Wohnverhältnisse. Auch steige die Auftretenswahrscheinlichkeit einer Depression und eines Alleinerziehendenstatus (UNICEF 2001; Corcoran 1998; Klerman 2004; Rigsby et al. 1998). Dabei ist zu beachten, dass einige dieser Faktoren nicht durch eine frühe Schwangerschaft bedingt sind, sondern dieser vorausgehen; andererseits kann die jugendliche Elternschaft bereits vorhandene Risikofaktoren potenzieren (Coley u. Chase-Lansdale 1998). Beide Aspekte sind Teil einer Dynamik, die in vielen Familien für eine transgenerationale Weitergabe früher Schwanger-
schaft (ebd.) und eine Transmission von Bindungsqualität (Ziegenhain et al. 2004) sorgt. Die verfrühte Rollen- bzw. Verantwortungsübernahme trägt dazu bei, dass den Jugendlichen bestimmte Erfahrungen versagt bleiben, die sie zur erfolgreichen Bewältigung der adoleszenten Entwicklungsphase benötigen. Die Versorgung eines Kindes und die Anpassung des eigenen Lebensrhythmus an dessen Bedürfnisse schränken die eigene Autonomie enorm ein. Oft sind die jungen Eltern zudem auf Hilfe von außen (z. B. durch ihre eigenen Eltern) angewiesen. Das steht dem gleichzeitigen Streben nach Individuation und Autonomieentwicklung entgegen und kann zu innerpsychischen Konflikten oder interpersonellen Auseinandersetzungen, vor allem mit der eigenen Herkunftsfamilie, führen. Der unbewusste Wunsch nach Geborgenheit, der sich in einer frühen Schwangerschaft ausdrücken kann, birgt zudem das Risiko der Entstehung einer Konkurrenz zwischen Eltern und Kind um die Zuwendung des Helfersystems. Diese Konfliktdynamik erschwert auch die Beziehungen der Jugendlichen zu Helfenden im Rahmen institutioneller Unterstützungsangebote. Gleichzeitig geraten viele junge Eltern in eine zunehmende soziale Isolation. Aufgrund ihrer umfangreichen familiären Verpflichtungen können die Teenager nicht mehr im selben Maß an Aktivitäten mit Gleichaltrigen teilnehmen. Auch erleben sie eine zunehmende Diskrepanz zwischen ihrem Erleben und den Erfahrungen von Jugendlichen ohne Kind. Auf der partnerschaftlichen Ebene erhalten die Mütter oft nicht die erhoffte Bindung und Unterstützung des Kindsvaters. Stattdessen kommt es im Zuge der Elternschaft häufig zu vermehrten Konflikten und Trennungen (Remberg 2001), auch wenn die Entscheidung für das Austragen des Kindes gemeinsam getroffen wurde.
22.2.2
Auswirkungen auf die Kinder
Das junge Alter der Mütter an sich birgt kaum medizinische Risiken, weder für Schwangerschaft und Geburt noch für das Kind. Dennoch besteht für Minderjährige ein erhöhtes Risiko von Komplikationen in der Schwangerschaft, was auf einen
337
22.3 • Unterstützungsmöglichkeiten und Beratungskonzepte
schlechten sozioökonomischen Status und auf mangelndes gesundheitsbewusstes Verhalten zurückgeführt wird (UNICEF 2001). Es gibt Hinweise darauf, dass minderjährige Schwangere seltener, erst spät oder überhaupt nicht zu pränatalen Vorsorgeuntersuchungen erscheinen (Scharrel 2003). Die Kinder von Teenagereltern haben ein erhöhtes Risiko von Verhaltensauffälligkeiten, was auf ein eingeschränktes elterliches Pflege- und Erziehungsverhalten zurückgeführt wird (Ziegenhain et al. 2004). Jugendliche Mütter weisen häufig weniger Kenntnisse über Entwicklungsmeilensteine auf und bevorzugen strafende Erziehungsstile (Field et al. 1980). Einige Befunde weisen darauf hin, dass Kinder von Teenagermüttern häufiger einen desorganisierten Bindungsstil aufweisen (van Ijzendoorn et al. 1999). Teenagermütter interagieren mit ihren Kindern ebenso warmherzig wie ältere Mütter, jedoch scheinen Wechsel zwischen Unterstimulation (Schweigen, wenig emotionale Beteiligung) und Überstimulation (invasives Verhalten, »Knuffen« des Babys) typisch zu sein (Coley u. Chase-Lansdale 1998; Ziegenhain et al. 2004). Diese Befunde werden jedoch auch in Zusammenhang mit einer erhöhten Depressionsrate unter Teenagermüttern diskutiert (ebd.). Zu bedenken ist auch, dass die Teenagermütter in vielen Studien mit älteren Müttern höherer sozialer Schichten verglichen werden und die Unterschiede sich nach Kontrolle der sozioökonomischen Unterschiede verringern (Coley u. Chase-Lansdale 1998). Minderjährige Eltern kommen häufig aus der sozialen Unterschicht und verfügen über wenige materielle oder bildungsbezogene Ressourcen. Offenbar spielen diese psychosozialen Faktoren eine wichtigere Rolle für die Entwicklungsrisiken des Kindes als das Alter der Eltern. So wurde zwar bei Kindern von adoleszenten Müttern ein höheres Risiko für Lernbehinderungen gefunden, aber nach Berücksichtigung von Bildungs- und Familienstand, ethnischer Zugehörigkeit und Armut der Mütter zeigte das mütterliche Alter keinen Effekt mehr auf eventuelle Entwicklungsverzögerungen der untersuchten Kindergartenkinder (Gueorguieva et al. 2001).
22.3
22
Unterstützungsmöglichkeiten und Beratungskonzepte
Da sowohl die Gruppe der minderjährigen Eltern sehr heterogen ist als auch die unterschiedlichen Problemfelder weit gestreut sind, braucht es eine dementsprechende Bandbreite an verschiedenen Unterstützungsangeboten, um den vielfältigen Herausforderungen gerecht zu werden, mit denen die jungen Eltern konfrontiert sind.
22.3.1
Unterstützungsbedarf
Bei einer qualitativen Studie der BZgA (Friedrich u. Remberg 2005) unter minderjährigen Eltern wurde festgestellt, dass 70% der minderjährigen Paare und 29% der Alleinerziehenden in der Lage waren, ihren Alltag mit dem Kind zu bewältigen. Dennoch wurde zwei Jahre nach der Geburt deutlich, »dass die Mehrheit der jugendlichen Mütter und Paare (…) die ein oder andere Entwicklungsaufgabe, meist mehrere, ohne fachliche Unterstützung oder die eines sozialen Netzes nicht oder nicht adäquat bewältigen kann« (Friedrich u. Remberg 2005, S. 354). Nach Unterstützungsbedarf befragt, nannten die minderjährigen Mütter folgende Bereiche (ebd.): 5 Alltagsorganisation, 5 Umgang mit Geld, 5 Realisierung beruflicher Pläne, 5 Verbesserung der Mutter-Kind-Beziehung. Ein besonders hoher Unterstützungsbedarf zeigte sich bei Alleinerziehenden ohne Halt gebendes soziales Umfeld.
22.3.2
Unterstützungsangebote
Da Problemlagen in mehreren Bereichen auftreten können, kann ein multiprofessionelles Unterstützungsangebot hilfreich und notwendig sein (s. auch Stucke 2004). Hierzu zählen vor allem: 5 Prävention früher/erneuter Schwangerschaften, 5 Schwangerschaftskonfliktberatung, 5 familienfördernde und beratende Angebote,
338
Kapitel 22 • Teenagerschwangerschaften
5 ambulante Einzelbegleitung, 5 stationäre Hilfen.
22
Dabei ist vor allem aus Kostengründen umstritten, ob die Angebote spezifisch auf junge Eltern ausgerichtet sein müssen (Stucke 2004). Falls kein speziell auf diese Zielgruppe zugeschnittenes Angebot vor Ort existiert, kann eine intensive Vernetzung mit Institutionen, die in der Arbeit mit minderjährigen Müttern erfahren sind, dies z. T. kompensieren. z
Prävention früher/erneuter Schwangerschaften
Um Teenagerschwangerschaften zu verhindern, gibt es speziell ausgearbeitete Präventionsprogramme, beispielsweise die Information über Verhütungsmethoden mittels aufsuchender Bildung und Aufklärung in Schulen. Ein anderer Zugang ist die Antizipation eines Lebens mit Kind, z. B. durch das aus den USA stammende und adaptierte Projekt »Babybedenkzeit«. Dabei kümmern sich Jugendliche vier Tage lang um einen Babypuppe, welche die Bedürfnisse eines Säuglings simuliert (s. auch http://www.babybedenkzeit.de). Ein indirekter Ansatz, um Teenagerschwangerschaften zu verhindern, liegt in der Verbesserung der Lebensumstände und Perspektiven von Mädchen aus sozial schwachen Schichten (s. auch Harden et al. 2009). Bei minderjährigen Eltern können durch sekundäre Prävention Risiken und Probleme weiterer Schwangerschaften thematisiert werden (Brown et al. 1998; Rigsby et al. 1998). Die Effekte dieser Maßnahme liegen laut einer Metaanalyse von Corcoran u. Pillai (2007) jedoch eher in der Verzögerung als in der Verhinderung weiterer Schwangerschaften. z
Unterstützung durch das familiäre Umfeld
Für bereits schwangere Teenager ist es von besonderer Bedeutung, ob sie von ihrem Partner und ihrer Familie bei der Erziehung und Pflege des Kindes unterstützt werden. Oft ist jedoch eine frühe Schwangerschaft ein Versuch der Lösung aus prekären familiären Verhältnissen, sodass genau dieses Umfeld nicht zur Verfügung steht. Je weniger die jungen Eltern auf ihr Umfeld zählen können, umso eher benötigen sie institutionelle Unterstützung. Wenn die Herkunftsfamilie den jungen Eltern bei-
steht, wird ihr die herausfordernde Doppelrolle abverlangt, einerseits weitreichende Unterstützung zu geben, andererseits aber auch die Ablösung der jugendlichen Eltern zu akzeptieren und zu fördern. Dass es auch bei einem unterstützenden familiären Umfeld zu Konflikten kommen kann, zeigt das folgende Beispiel. Fallbeispiel C. ist 16, als ihr Sohn zur Welt kommt. Ihr vier Jahre älterer Partner, den sie seit zwei Jahren kennt, trennt sich kurz nach der Geburt von ihr und bricht den Kontakt zu ihr und dem Kind ab. Während der Schwangerschaft und der Geburt ist C. von ihrer Mutter, die selbst erst 18 war, als sie C. zur Welt brachte, fürsorglich unterstützt worden. Damit C. die Realschule abschließen kann, wird ihr Sohn von ihrer Mutter betreut. Währenddessen wird ihr jedoch immer stärker bewusst, dass ihr der emotionale Zugang zu ihrem Sohn schwerfällt. Nach anderthalb Jahren zieht C. aus und überlässt den Sohn ihrer Mutter, an die sie später auch das Sorgerecht abtritt. Sie selbst hält zu ihrem Kind regelmäßig Kontakt und sieht sich in der Rolle der »Babysitterin«, wenn die Mutter sie braucht. Mit 22 Jahren ist C. erneut schwanger, bekommt eine Tochter und leidet nun sehr darunter, ihr erstes Kind nicht bei sich zu haben. Schrittweise versucht sie, ihren Sohn wieder an sich und an den neuen Partner zu binden, schaltet das Jugendamt ein und beantragt das Sorgerecht für ihn. Es kommt zu Vorwürfen gegen ihre Mutter, die ihrer Ansicht nach den Sohn von ihr entfremdet. Unter den Spannungen und Konflikten leidet der Sohn so stark, dass C. sich letztlich entschließt, von weiteren rechtlichen Schritten abzusehen und den Sohn bei ihrer Mutter zu lassen.
Das Unterstützungspotenzial von Vätern wurde bislang im institutionellen Rahmen oft nicht ausreichend mitberücksichtigt. Die Kindsväter geraten »häufig aus dem Fokus des Helfersystems« (Lehmann et al. 2010, S. 359) und werden nicht hinreichend gefördert und unterstützt. Dabei zeigt Remberg (2005), dass minderjährige Paare deutlich besser mit der Aufgabenbewältigung zurechtkommen als minderjährige Alleinerziehende. Die Partner von minderjährigen Müttern, die bislang kaum systematisch erforscht wurden, sind meist
339
22.3 • Unterstützungsmöglichkeiten und Beratungskonzepte
gleichaltrig oder nur wenige Jahre älter (Wienholz 2005; Häußler-Sczepan u. Wienholz 2007) und zeigen ähnlich komplexe Problemlagen wie die jungen Mütter (Häußler-Sczepan et al. 2005). Expertenbefragungen beim Helfersystem hinsichtlich der Bedeutung des Vaters bei minderjährigen Müttern ergeben kein einheitliches Bild: Häußler-Sczepan et al. 2005 berichten, dass ein Drittel der Väter ihrer Stichprobe trotz des meist jungen Alters ausgesprochen engagiert und interessiert sei und eine entlastende Funktion für die Mutter übernehme. Trotzdem werden die Väter bei vielen Experten nur in einer marginalen Rolle bei der Versorgung des Kindes wahrgenommen (ebd.). Dies mag auch mit einer hohen Quote von alleinerziehenden Müttern zusammenhängen. Nicht wenige Partnerschaften zerbrechen entweder aufgrund der Schwangerschaft oder infolge der Belastungen rund um das Kind, zumal sich adoleszente Partnerschaftsbeziehungen typischerweise ohnehin durch weniger Stabilität und Kontinuität auszeichnen. Dass die meisten Angebote sich explizit an Mütter richten, liegt möglicherweise daran, dass Väter in ihrem Alltag meist weniger stark durch das Kind beeinträchtigt werden, weder auf körperlicher Ebene durch die Schwangerschaft noch bei der Fortsetzung der Ausbildung bzw. dem Engagement im Beruf. Sofern nicht gestillt wird, was aufgrund des ausgeprägten Autonomiebedürfnisses junger Mütter bei diesen häufiger vorkommt als bei älteren Müttern, basiert dieser Umstand jedoch eher auf dem impliziten Konsens einer klassischen Rollenaufteilung als auf einem biologischen Determinismus. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die jungen Mütter den Kontakt zum Vater bewusst unterbinden wollen und angeben, diesen nicht zweifelsfrei identifizieren zu können, um ihm kein Besuchsrecht beim Kind einräumen zu müssen. Die in der Konsequenz fehlende Unterhaltszahlung vom Vater wird meist als weniger einschneidend empfunden, da das Jugendamt den Unterhaltsanspruch auszahlt. Die Folgen eines Kontaktabbruchs sind vor allem vom Kind selbst zu tragen, das bezüglich seiner Herkunft auf Vermutungen angewiesen ist. Dabei entsteht schnell ein negatives Bild des Vaters, dem möglicherweise unberechtigt Verantwortungslosigkeit und mangelndes Interesse zugeschrieben werden (s. auch Metzger 2010).
z
22
Freie Angebote (Kommstruktur)
Hierzu zählen vor allem Beratungsstellen bzw. -angebote, die jedoch ein gewisses Maß an Eigenmotivation und Strukturierungsfähigkeit bei den Beteiligten voraussetzen. Außer auf die bereits erwähnte Schwangerschaftskonfliktberatung zielen diese Angebote häufig auf eine Verbesserung der Mutter-Kind-Beziehung, seltener auch auf die Beziehung zwischen Vater und Kind. Ein Beratungsmodell, das auch bei hoch belasteten minderjährigen Müttern angewendet und hinsichtlich seiner Wirksamkeit positiv evaluiert wurde, ist das Konzept der »Entwicklungspsychologischen Beratung« (EPB; Ziegenhain et al. 2003), das hier beispielhaft vorgestellt wird. Das Konzept der Entwicklungspsychologischen Beratung (EPB) nach Ziegenhain et al. 2003 Ziele der EPB sind: 5 Vermittlung von entwicklungspsychologischem Wissen, 5 Stärkung des Selbstwertgefühls der Bezugsperson, 5 Betonung der individuellen Fähigkeiten des Kindes, 5 Unterstützung des emotionalen Zugangs der Mutter zu sich und dem Säugling, 5 Förderung von Feinfühligkeit im Umgang mit dem Säugling. Das Programm kann sowohl präventiv als auch im Interventionsbereich eingesetzt werden und findet in Anwesenheit des Kindes in der Beratungssituation statt. Die EPB ist ein bindungstheoretisch fundierter, zeitlich begrenzter Beratungsansatz, der verhaltens- und ressourcenorientiert vorgeht (Ziegenhain et al. 2004). Neben der Vermittlung von entwicklungspsychologischem Wissen wird schwerpunktmäßig mit Videofeedback gearbeitet (s. auch 7 Kap. 29). Dabei wird eine Mutter-KindInteraktion aufgezeichnet und in Teilen nachbesprochen. Bedeutsam im Sinne der Ressourcenorientierung ist, dass gelungene Interaktionen vor problematischen Szenen besprochen werden. Dabei wird »Verhalten primär aus
340
Kapitel 22 • Teenagerschwangerschaften
der Perspektive des Kindes beschrieben und elterliches Verhalten darauf bezogen« (Ziegenhain et al. 2004, S. 228). Den Eltern werden »die spezifischen Ausdrucks-, Belastungs- und Bewältigungsverhaltensweisen« (ebd.) ihres Kindes nahegebracht, sodass sie z. B. Signale von Müdigkeit und Überforderung differenzieren sowie adäquat und prompt (im Sinne der Feinfühligkeit) beantworten können.
22
z
Ambulante Einzelfallbetreuung (Gehstruktur)
Diese findet in der Regel im Rahmen der Jugendhilfe statt und wird z. B. von Sozialpädagogischen Familienhilfen (SpFh) oder – in einigen Bundesländern – auch von Familienhebammen geleistet (s. auch Doege 2010 u. 7 Kap. 38). Dabei ist für die Erreichbarkeit und Arbeit mit den Familien von Bedeutung, ob die Hilfe auf freiwilliger Basis angeboten wird oder eine Auflage des Jugendamtes ist. Schwerpunktmäßig wird aufsuchend zu Hause die Bewältigung des Alltags unterstützt, z. B. bei der Strukturierung und Organisation des Alltags oder der Regelung von finanziellen Angelegenheiten. Ein wichtiger Bereich ist dabei die Unterstützung bei der Fortführung der schulischen bzw. beruflichen Ausbildung. Familienhebammen haben noch stärker die Mutter-Kind-Beziehung im Fokus und betreuen Familien z. T. auch im Team mit SpFhs (s. auch Borchardt et al. 2010). Fallbeispiel Eine Familienhebamme (FH) wird auf Veranlassung des Jugendamtes (JA) im Fall einer 15-jährigen Schwangeren, die in einer Einrichtung des Betreuten Wohnens lebt, hinzugezogen. Die Herkunftsfamilie der jungen Mutter ist dem JA bereits bekannt. Die Eltern der Minderjährigen leben getrennt; der Vater ist alkoholabhängig. Auch die 15-Jährige selbst hat zeitweise Drogen genommen. Das Kind ihrer Schwester ist bereits in Obhut genommen worden, was sie selbst auf jeden Fall vermeiden will. Die Partnerschaft mit dem 32-jährigen Kindsvater scheint trotz des Altersabstandes stabil zu sein.
Die FH wird trotz Eigenmotivation der jungen Mutter zunächst eher reserviert empfangen: Zu groß ist die Angst, die FH könne sich einmischen, sie kontrollieren oder ihr womöglich das Kind wegnehmen. Die junge Mutter wirkt auf die FH manchmal etwas »lustlos, motzig und wortkarg«, ist aber gleichzeitig zuverlässig, was die Einhaltung der vereinbarten Termine betrifft. Zu Beginn der Betreuung fragt sich die FH gelegentlich, ob die junge Mutter ihre Besuche wirklich möchte. Mit Geduld und Gelassenheit gewinnt sie jedoch allmählich ihr Vertrauen. »Einfach mal zuhören«, nicht auf bestimmte Dinge zu beharren und bedingungslose Neutralität scheinen ihr im Nachhinein diesen Prozess begünstigt zu haben. Zudem hätten das in der Öffentlichkeit positiv konnotierte Berufsbild der (Familien-) Hebamme und eigene Erfahrungen mit pubertierenden Kindern geholfen. Einerseits sei ihr wichtig gewesen, die junge Mutter in ihrer Erwachsenenfunktion zu respektieren, z. B., indem sie sie trotz des jungen Alters mit »Sie« angeredet habe, anderseits habe sie aber auch Toleranz aufgebracht, wenn die junge Mutter einfach mal »in Ruhe gelassen werden wollte«. Die FH unterstützt die junge Mutter dabei, sich von ihrer belastenden Herkunftsfamilie abzugrenzen, (»die wollte dort auch noch alles regeln«), damit sie sich stärker um eigene Belange kümmern kann. Geduldig beantwortet die FH die vielen Fragen zur Entwicklung und Ernährung des Säuglings, regt den Kontakt und Spiele mit dem Säugling an und steht der jungen Frau bei Schwierigkeiten wie dem vorübergehenden Gefühl der Einsamkeit oder bei Ausbildungsfragen zur Seite. Im Zuge dessen sei eine sehr enge Beziehung entstanden, sie sei für die junge Mutter quasi zu einer »Ersatzmutter« geworden. Aufgrund verschiedener positiver Entwicklungen wie der Fortführung der Schule, der Verbesserung der Mutter-Kind Beziehung und der Festigung der Partnerschaft (die junge Frau ist zu ihrem Partner gezogen) sieht die FH dem Ende der Betreuungszeit gelassen entgegen, zumal noch eine Mitarbeiterin im Auftrag des JA in der Familie bleibt. Im Vater des Kindes und dessen Familie hat die junge Mutter zudem eine gute Unterstützung, sowohl finanziell als auch im Umgang mit dem Kind.
341
22.3 • Unterstützungsmöglichkeiten und Beratungskonzepte
z
Stationäre Angebote
Mutter-Kind-Wohngruppen oder -heime richten sich an Mütter mit »fehlenden sozialen oder familiären Ressourcen bzw. persönlichem Belastungshintergrund« (Stucke 2004, S. 39). Übergreifendes Ziel dieser Einrichtungen ist die »Unterstützung bei persönlicher Entwicklung und Alltagsbewältigung mit dem Kind« (ebd., S. 39) sowie die Förderung der Verselbstständigung. Zusätzlich wird die Mutter-Kind-Interaktion gezielt gefördert (z. B. über Elterntrainings). Viele der Mütter kommen aus schwierigen familiären Verhältnissen und sind z. T. traumatisiert bzw. Opfer von Gewalt und/oder Missbrauch. Der Aufenthalt kann auf mehrere Jahre angelegt sein. Darüber hinaus gibt es sogenannte MutterKind-Stationen, die in der Regel an psychiatrische Kliniken angegliedert sind. Der Aufenthalt dort ist zeitlich eng begrenzt. Ziel des stationären Aufenthalts ist neben der psychiatrischen/ psychologischen Versorgung der Mutter vor allem die Verbesserung und Belebung der beeinträchtigen MutterKind-Beziehung (s. auch 7 Kap. 19).
22.3.3
Herausforderungen bei der Intervention
Trotz vielfach bestehender Unterstützungsangebote stellen die z. T. schlechte Erreichbarkeit der Zielgruppe und spezifische Probleme der Intervention bei minderjährigen Eltern Praktiker häufig vor besondere Herausforderungen. > Umfragen innerhalb der Helfersysteme ergaben, dass oftmals gerade diejenigen Teenagermütter schlecht zu erreichen sind, die Hilfe am nötigsten hätten (Remberg 2005). Aber auch die Mütter, die erreicht werden, zeichnen sich z. T. durch eine konflikthafte Behandlungs- /Beratungsbeziehung aus.
Daneben gibt es jedoch auch viele Beispiele von Interventionen, auf die sich die jungen Mütter überwiegend gut und dankbar einlassen konnten. Einige spezifische Probleme sollen im Folgenden exemplarisch dargestellt werden.
z
22
Mangelnde Antizipation von Hilfebedarf
Manchen jungen Müttern fällt es schwer, Hilfebedarf frühzeitig zu antizipieren. Die Mutterschaft wird während der Schwangerschaft z. T. idealisiert, und die damit verbundenen Folgen und Schwierigkeiten werden nicht erkannt bzw. geleugnet (Remberg 2005). Da jungen Müttern in unserer Gesellschaft hinsichtlich der Versorgungskompetenz oft misstrauisch begegnet wird (Ziegenhain et al. 2004), kann der Wunsch entstehen, es dem zweifelnden Umfeld beweisen zu wollen, mit der Folge, dass erst spät nach Hilfe gesucht wird. Diese wird bei einer Klientel mit überdurchschnittlich häufiger Selbstwertproblematik (Ziegenhain et al. 2003) z. T. als narzisstische Kränkung erlebt, was die Helferbeziehung beeinträchtigt. z
Bindungsrepräsentanz
Ziegenhain et al. (2004) haben in einer randomisierten Kontrollstudie an hoch belasteten Müttern aus einer stationären Einrichtung festgestellt, dass innerhalb der Interventionsgruppe vor allem diejenigen Mütter nur wenig profitierten (im Sinne einer verbesserten Feinfühligkeit), die eine unsichere Bindungsrepräsentanz verinnerlicht hatten. Diesen gelang es trotz Entwicklungspsychologischer Beratung nur schlecht, die Perspektive ihres Kindes einzunehmen, was die Grundlage für adäquates Handeln darstellt. z
Übertragungsphänomene und alterstypische Beziehungsgestaltung
Innerhalb der Beziehung zwischen dem Helfersystem und den Teenagereltern treten häufig konfliktträchtige Übertragungsphänomene auf. Die jungen Mütter und Väter reagieren dabei auf Helfer ähnlich ambivalent wie auf ihre Eltern: mit den gegensätzlichen Wünschen nach Ablösung und Unterstützung. Diese Dynamik beeinflusst sowohl die Erreichbarkeit der Klientel als auch die Arbeitsbeziehung, die dadurch unverbindlicher und diskontinuierlicher verläuft. Zum Teil verleugnen die Mütter dabei die eigene Bedürftigkeit und Abhängigkeit von den Helfern. Das Wissen um diese adoleszente Beziehungsgestaltung ist notwendig, damit sich Helfer nicht gekränkt oder frustriert zurückziehen oder vorschnell mit der autonomen Seite der Klientel identifizieren. Dabei bietet die
342
22
Kapitel 22 • Teenagerschwangerschaften
Helferbeziehung oft die einzige Möglichkeit für die Jugendlichen, Abgrenzung und Rivalität in einer stabilen Beziehung zu erfahren, da entweder die Herkunftsfamilie nicht zur Verfügung steht oder durch das Kind eine verschärfte Abhängigkeit von ihr entstanden ist. z
Rivalität mit den Helfern
Junge Mütter, insbesondere solche mit fragilem Selbstwertgefühl, erleben Hilfestellung schnell als Bevormundung und Entwertung ihrer Kompetenz. Zum Teil können sich die Mütter aus Sorge, dass das Kind auf die Helfer positiver reagieren könnte als auf sie selbst (Schöning 2004), schlecht auf die Helferbeziehung einlassen. Viele Mütter, die Defizite hinsichtlich der Versorgung des Kindes bei sich wahrnehmen, leben zudem in der Angst, dass das Jugendamt ihnen das Kind wegnehmen könnte, und verweigern deshalb den Helfern den Zugang zu sich und dem Kind. z
Diskrepanz zwischen dem Angebot und den Bedürfnissen der Zielgruppe
Qualitative Umfragen (Häußler-Sczepan et al. 2005; Friedrich u. Remberg 2005; Stucke, 2004) zeigen, dass minderjährige Mütter vor allem unter ihrer Einsamkeit leiden. Angebote fokussieren jedoch häufig eher auf die Bereiche Alltagsbewältigung und Mutter-Kind-Beziehung. Zu Schwierigkeiten kann es kommen, wenn Angebote die jungen Frauen einseitig in ihrer Funktion als Mütter ansprechen und die Bedürfnisse einer Jugendlichen dabei aus den Augen verlieren. Ebenso ist es problematisch, wenn die junge Mutter lediglich den Wunsch nach finanzieller Unterstützung hat und auf eine Beraterin trifft, die darüber hinaus noch ohne vorherige Auftragsklärung fördern und beraten will. Dieser Wunsch der Beraterin kann mit einer größeren Lebenserfahrung und Sensibilität für Problemlagen zusammenhängen. Häußler-Sczepan u. Wienholz (2007) reflektieren in diesem Zusammenhang kritisch, dass das Altersgefälle zwischen Mutter und Beraterin zum Problem werden kann, wenn die Beraterin wenig Zugang zu oder Einfühlung in jugendliche Erfahrungswelten hat.
z
Delegation von Verantwortung
Manchmal delegieren junge Mütter die Sorge um sich und das Kind an andere, die sich dann an ihrer Stelle Sorgen um Mutter und Kind machen. Je weniger die Mutter in diesem Fall bereit ist, Sorge zu tragen, umso stärker ist die Beraterin alarmiert und versucht möglicherweise forciert zu helfen, mit der Folge, dass die junge Mutter möglicherweise erst recht auf Distanz geht. Kann die Sorge um das Kind nicht wieder primär an die Mutter zurückgegeben werden, spitzt sich die Situation in manchen Fällen so weit zu, dass der Mutter das Sorgerecht entzogen werden muss.
22.3.4
Möglichkeiten des Umgangs mit den besonderen Herausforderungen der Zielgruppe
In der Arbeit mit jugendlichen Müttern haben sich einige Vorgehensweisen bewährt (nach Stucke 2004): 5 ein ressourcenorientierter Zugang zur Zielgruppe, 5 Jugendorientierung, 5 verlässliche Unterstützung, aber auch Förderung und Anerkennung von Eigenständigkeit, 5 ein Einstieg über praktische Fragen der Alltagsbewältigung, 5 wenn möglich, die Einbindung des sozialen Umfelds (unter Berücksichtigung kultureller Unterschiede) und die Förderung von sozialen Kontakten. Verschiedene Experten (Stucke 2004; Ziegenhain et al. 2003, 2004) teilen die Meinung, dass es wichtig ist, den Müttern offen und ressourcenorientiert entgegenzutreten, da viele Mütter bereits vor der Schwangerschaft ein fragiles Selbstwertgefühl haben und durch die Schwangerschaft zusätzlich verunsichert sind. Viele junge Mütter müssen sich ohnehin schon einem kritischen gesellschaftlichen Umfeld gegenüber behaupten, das die Schwangerschaft als »unzeitgemäß« empfindet (Ziegenhain et al. 2003) und den Müttern dementsprechend wenig zutraut. Die Mütter in ihren intuitiven Kompetenzen zu stärken und Beratungsbedarf sensibel anzu-
343
Literatur
bieten ist deswegen von besonderer Bedeutung. Am besten können die jungen Mütter unter Berücksichtigung altersspezifischer Vorlieben angesprochen werden. Dabei ist im Blick zu behalten, dass sich die jungen Mütter nicht allein mit der Mutterrolle identifizieren. Ein Angebot, das verschiedene Lebensbereiche schon im Titel zusammenführt, ist beispielsweise ein Treff der Caritas für junge Mütter in Bensheim mit dem Namen »Zwischen Windeln und Disko«. > Wichtig ist, die besonderen altersentsprechenden Charakteristika der Zielgruppe im Blick zu behalten. Dem Wunsch nach Unterstützung einerseits und Autonomie andererseits kommt der Ansatz »So viel Hilfe wie nötig und so wenig Hilfe wie möglich« entgegen.
Dabei ist auch entscheidend, welche Hilfe junge Mütter in dieser Zeit annehmen können und welche nicht. Wünscht die Mutter vor allem finanzielle Unterstützung, ist eine Beratung über die Verbesserung der Mutter-Kind-Beziehung (noch) nicht angezeigt. Um Ressourcen nicht ungenutzt zu lassen und einer Vereinzelung entgegenzuwirken, sollte neben der reinen Mutter-Kind-Beziehung auch immer das Umfeld (Partner, Familie, Freunde, Nachbarn) einbezogen werden, sofern es sich als hinreichend funktional erweist. Da viele minderjährige Mütter einen Migrationshintergrund haben, ist es wichtig, sich auch über die Bedeutung der Mutterschaft im jeweiligen Kulturkreis Gedanken zu machen. Unter Umständen ist die frühe Mutterschaft für das soziale Umfeld weniger problematisch als der Ledigenstatus der Mutter. Junge Mütter wollen nicht als besondere Problemgruppe gelten, fühlen sich aber unter den Teilnehmern regulärer Eltern-Kind-Angebote oft fremd und in ihrer Jugendlichkeit nicht genügend angesprochen. Aus diesem Grund und auch als neue Peergroup bieten sich offene Treffs an, in denen die Mütter sowohl Raum zum Austausch als auch die Möglichkeit haben, Unterstützung in verschiedenen Belangen zu bekommen. Verhindern oder erschweren jedoch soziale Ängste oder eine depressive Symptomatik die Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen, kann ein aufsuchendes Angebot,
22
z. B. durch Familienhebammen (s. auch 7 Kap. 38) oder Mitarbeiter der Jugendhilfe, nützlich sein und besser angenommen werden als ein offenes Angebot.
Literatur Borchardt S, Benz M, Eickhorst A, Scholtes K, Demant H, Götzinger K et al. (2010) Vermittlungswege in aufsuchenden Maßnahmen der Frühen Hilfen. In: Renner I, Sann A, Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hrsg) Forschung und Praxisentwicklung Frühe Hilfen. Nationales Zentrum Frühe Hilfen, Köln, S 260–280 Brown HN, Saunders RB, Dick MJ (1998) Preventing secondary pregnancy in adolescents: a model program. Health Care for Women International 20:5–16 BZgA (2007) Häufig gestellte Fragen zum Thema »minderjährige Schwangere«. http://www.BZgA.de/botmed_13050100.html [Zugegriffen: 18. August 2010] Coley RL, Chase-Lansdale PL (1998) Adolescent pregnancy and parenthood. Recent evidence and future directions. American Psychologist 53:152–166 Corcoran J (1998) Consequences of adolescent pregnancy/ parenting: a review of the literature. Social Work in Health Care 27:49–67 Corcoran J, Pillai VK (2007) Effectiveness of secondary pregnancy prevention programs: a meta-analysis. Research on Social Work Practice 17:5–18 Crittenden PM (1992) Treatment of anxious attachment in infancy and early childhood. Development & Psychopathology 4:575–602 Doege D (2010) Expertise zur Berücksichtigung von jungen Eltern/»Teenie–Eltern« im Präventionsprojekt »Keiner fällt durchs Netz«. Unveröffentlichtes Manuskript, Heidelberg. Elkind D (1996) Egocentrism in adolescence. Child Development 38:1025–1035 Field TM, Widmayer SM, Stringer S, Ignatoff W (1980) Teenage, lower-class, black mothers and their preterm infants. Child Development 51:426–436 Frey B, Scholtes K (2010) Arbeit mit dem Konzept »Das Baby verstehen«. Focus Familie, Heidelberg Friedrich M, Remberg A (2005) Wenn Teenager Eltern werden … Lebenssituation jugendlicher Schwangerer und Mütter sowie jugendlicher Paare mit Kind, Bd 25. Fachheftreihe Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung, Köln Gueorguieva RV, Carter RL, Ariet M, Roth J, Mahan CS, Resnick MB (2001) Effect of teenage pregnancy on educational disabilities in kindergarten. American Journal of Epidemiology 154:212–220 Harden A, Brunton G, Fletcher A (2009) Teenage pregnancy and social disadvantage: systematic review integrating controlled trials and qualitative studies. British Medical Journal 339(b4254)
344
22
Kapitel 22 • Teenagerschwangerschaften
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345
Kultursensitive Beratung Jörn Borke und Heidi Keller
23.1
Einleitung – 346
23.2
Differenzielle kulturelle Entwicklungspfade: Zwei Prototypen – 348
23.2.1 23.2.2 23.2.3
Psychologische Autonomie – 348 Hierarchische Relationalität – 348 Autonomie und Relationalität – 349
23.3
Konsequenzen für die Beratungshaltung und -struktur – 349
23.4
Konsequenzen für Interventionsansätze – 350 Literatur – 351
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
23
346
23
Kapitel 23 • Kultursensitive Beratung
In diesem Kapitel werden theoretische Hintergründe, empirische Befunde sowie daraus resultierende Ableitungen bezüglich einer kultursensitiven Beratung von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern dargelegt. Der kulturelle Kontext, in dem eine Familie aufgewachsen ist, hat eine entscheidende Bedeutung hinsichtlich dessen, was Eltern sich für die Entwicklung ihres Kindes wünschen, der Gestaltung von gemeinsamen Interaktionen sowie der jeweiligen Abläufe und Ausgestaltungen von Bearbeitungsprozessen und -ergebnissen der jeweiligen kindlichen Entwicklungsaufgaben. Auch lassen sich je nach kulturellem Hintergrund unterschiedliche Erwartungen an psychotherapeutische und beraterische Situationen und Abläufe beschreiben. Aus diesem Wissen leiten sich Grundlagen einer kultursensitiven Beratungsarbeit ab, die außer durch die Kenntnis unterschiedlicher Entwicklungspfade auch durch eine offene, interessierte, selbstreflexive und wertschätzende Haltung gekennzeichnet ist, um auf dieser Basis zu einem Beratungsverlauf zu gelangen, der für alle Beteiligten passend ist.
23.1
Einleitung
Fallbeispiel Herr und Frau M. kommen mit ihrer neun Monate alten Tochter Sarah zur Beratung in die Babysprechstunde Osnabrück. Sie berichten, dass ihre Tochter in einem eigenen Bett im Kinderzimmer schlafe, nachts bis zu zehnmal wach werde und sich dann nur wieder in den Schlaf bringen lasse, wenn entweder die Mutter oder der Vater zu ihr gehe, beruhigend auf sie einrede und sie streichle. Sie schlafe dann auch schnell wieder ein. Die Eltern sind aber sehr erschöpft, da sie wegen der häufigen nächtlichen Unterbrechungen wenig zum Schlafen kommen. Sie haben bereits versucht, Sarah mithilfe eines Schlaftrainings an ein selbstständiges Einschlafen zu gewöhnen, fanden es aber beide unerträglich, ihre Tochter alleine schreien zu lassen, sodass sie diesen Versuch nach sehr kurzer Zeit wieder abbrachen. Im Verlaufe der Beratung kommt die Frage auf, inwiefern sich die Eltern vor-
stellen können, Sarah mit in ihr Bett zu nehmen, um sie dort mit ihnen schlafen zu lassen. Die Mutter (eine gebürtige Brasilianerin, die seit ihrer Kindheit in Deutschland lebt) berichtet, dass sie schon darüber nachgedacht habe, auch da sie von ihrer eigenen Mutter wisse, dass dies in ihrer Heimat so gehandhabt wird. Sie und ihr Mann glauben aber, dass es, nach dem, was sie gelesen und von Freunden und dem Kinderarzt gehört haben, nicht wirklich gut für die kindliche Entwicklung ist, wenn Kinder länger im Bett der Eltern schlafen. Die Berater überlegen gemeinsam mit den Eltern, wie eine passende Schlafkonstellation für die Familie aussehen könnte. Da die Berater den Eindruck gewinnen, dass die Eltern ihre Tochter eigentlich ganz gerne mit in ihr Bett nehmen würden, dies aber aufgrund von Konventionen und Stimmen anderer nicht tun, geben sie dabei auch Informationen über kulturelle Unterschiede hinsichtlich der Schlafgestaltung in den ersten Jahren und erläutern, dass das Schlafen der Kinder in einem Bett mit den Eltern weltweit sehr verbreitet ist und auch eine lange stammesgeschichtliche Tradition hat. Die Eltern können so für sich den Mut und die Überzeugung gewinnen, es mit dem gemeinsamen Schlafen in einem Bett auszuprobieren. Zum zweiten Gespräch kommen beide Eltern bereits deutlich erleichtert und berichten, dass Sarah im Elternbett viel seltener wach werde und, falls sie erwache, für die Eltern viel unaufwendiger wieder in den Schlaf zu bringen sei. Die Situation hat sich so entspannt, dass die Eltern keinen Beratungsbedarf mehr sehen. Sie fühlen sich durch den Erfolg auch so gestärkt, dass sie diese Schlafkonstellation selbstbewusst ihren Freunden und den Eltern des Vaters gegenüber vertreten können, die diese Lösung nach wie vor eher kritisch sehen.
In der psychotherapeutischen bzw. beraterischen Arbeit mit Eltern von Säuglingen und Kleinkindern ist eine multidimensionale Herangehensweise unerlässlich. Zu diesen Dimensionen gehören die Art, wie die Eltern das Kind wahrnehmen, die jeweiligen Entwicklungsgeschichten und aktuellen Ressourcen und Belastungen der Eltern, die Qualität der Paarbeziehung, die Art der Interaktionen der Familienmitglieder miteinander, die materielle und gesundheitliche Situation sowie die soziale Vernetzung der Familie (Borke u. Eickhorst 2008; Pa-
23.1 • Einleitung
poušek et al. 2004). Unterstützungsbedarf kann auf einzelnen oder mehreren dieser unterschiedlichen Dimensionen bestehen. Wie der Beratungsansatz dann gestaltet wird, ist ebenfalls von verschiedenen Dimensionen abhängig. Zentral sind dabei das Anliegen und die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Familie, aber auch die Sichtweise der Berater sowie deren Beratungsansatz, der beispielsweise auf verhaltenstherapeutischen Interventionen, auf psychodynamischen Ansätzen oder auf systemischen Herangehensweisen beruhen kann. Eine wesentliche Dimension, die bislang häufig keine – und wenn doch, dann meist eine eher randständige und unsystematische – Berücksichtigung findet, betrifft die Kultur, in der die Familie lebt bzw. aufgewachsen ist. Eine systematische Einbeziehung dieser Dimension ist aber besonders bedeutsam, da die Herausforderungen aufgrund zunehmender kultureller Komplexität stetig steigen. Auch wirken die Einflüsse des jeweiligen kulturellen Hintergrundes auf alle oben angeführten Dimensionen, sodass diese ohne Einbezug einer kulturellen Ebene nur unzureichend eingeordnet werden können. Beispielsweise können die Rollenaufteilung zwischen den Geschlechtern oder die jeweiligen Bedürfnisse hinsichtlich einer sozialen Eingebundenheit in eine Großfamilie je nach kulturellem Hintergrund sehr voneinander abweichen. Die kulturelle Sozialisation wirkt sich auch substanziell auf den kindlichen Entwicklungsverlauf aus (Keller 2007). Je verschiedener die jeweiligen Kontexte sind, desto ausgeprägter gestalten sich diese Unterschiede (Borke et al. 2007; Keller et al. 2009). Kultur wird hier definiert durch geteilte Praktiken, Werte, Normen und Überzeugungen von Menschen, die in ähnlichen ökonomischen und soziokulturellen Situationen leben. Diese variierenden Kontextfaktoren führen zu jeweils sehr unterschiedlichen, aber eben für die jeweiligen Kontexte adaptiven Ausprägungen von Vorstellungen über Entwicklung und Erziehung sowie zu entsprechenden Praktiken. Es ist ein Spezifikum dieser kulturellen Entwicklungs- und Erziehungsvorstellungen, dass sie fest im Selbstbild verankert und relativ veränderungsresistent sind.
347
23
> Die jeweilige Kultur spielt eine bedeutende Rolle, und ihre Reflexion ist für den Beratungsprozess hoch bedeutsam.
Viele der psychologischen Theorien, Befunde und Interventionsansätze, die uns geläufig und selbstverständlich sind, basieren auf Erkenntnissen, welche vornehmlich einem bestimmten kulturellen Hintergrund entstammen. Sie betonen die individuelle Autonomie, die Selbstbestimmung und Wahlfreiheit, die aber nur für eine sehr begrenzte Gruppe von Menschen adaptiv ist, nämlich für die westliche Mittelschichtsgesellschaft. Sie werden aber häufig so verstanden und angewandt, als wären sie universell gültig und für alle passend. In multikulturellen Gesellschaften treffen Familien mit sehr unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen zu Sozialisation und kindlicher Entwicklung aufeinander. In Deutschland beispielsweise stammen viele Familien mit Migrationshintergrund aus eher ländlichen Gegenden der Türkei oder Russlands, in denen die gemeinsame Verbundenheit eine deutlich größere Rolle spielt als die Eigenständigkeit des Einzelnen, und sie treffen häufig auf eine urbane öffentliche Kultur, die mit ihrer Autonomieorientierung ihren Werten und Normen diametral entgegengesetzt ist. Unterschiedliche kulturell geprägte Sichtweisen können aber, wie oben angedeutet, nicht nur aufeinandertreffen, wenn eine Familie aus einem türkischen Dorf in eine deutsche Großstadt zieht, sondern auch bei Begegnungen zwischen Menschen, die aus sehr unterschiedlichen Schichten und Bildungsbereichen stammen. Auch kann dies der Fall sein, wenn verschiedene Generationen aufeinandertreffen, und es kann auch ein Thema zwischen Eltern sein, da natürlich beide nicht in komplett identischen Kontexten aufgewachsen sein können. Die Berücksichtigung von unterschiedlichen kulturellen Hintergründen ist daher zum einen bedeutsam, weil Schwierigkeiten und Belastungen von Familien entstehen können, wenn verschiedene Vorstellungen in ihrem Alltag zusammentreffen (wie z. B. beim Austausch mit anderen Familien, in der Kita oder beim Kinderarzt). Zum anderen können unterschiedliche kulturelle Hintergründe von Klienten und Beratern auch zu Missverständnissen, gegenseitigen Frustrationen und damit zu
348
23
Kapitel 23 • Kultursensitive Beratung
tief greifenden Schwierigkeiten beim Verlauf von Beratungsprozessen führen. Im Folgenden werden zunächst zwei prototypische Entwicklungspfade dargestellt, die deutlich machen sollen, wie verschieden die Entwicklungsaufgaben der ersten Lebensjahre gelöst und begleitet werden können (natürlich ließen sich dazwischen noch viele Mischtypen und hybride Ausprägungen definieren). Diese Prototypen eignen sich gut, um die Unterschiede, denen Berater bzw. Therapeuten in ihrer Arbeit mit Familien begegnen können, sehr deutlich und greifbar darzustellen. In den anschließenden Abschnitten werden dann die aus diesem Wissen resultierenden Konsequenzen für Beratungshaltungen, -strukturen und -inhalte dargestellt.
23.2
Differenzielle kulturelle Entwicklungspfade: Zwei Prototypen
Im Laufe des evolutionären Prozesses der Menschheitsgeschichte haben sich universelle Entwicklungsaufgaben herausgebildet, deren Bewältigung sich für das erfolgreiche Überleben der Spezies als besonders hilfreich erwiesen hat (Chasiotis 2008; Keller u. Chasiotis 2008). Dazu gehören in den ersten drei Lebensjahren beispielsweise das Aufbauen von engen Beziehungen zu anderen Menschen, das Erlernen des freien Gangs und der Sprache sowie das Erlangen eines kategorialen Selbstbildes (Bischof-Köhler 1989; Largo 2006). Die erfolgreiche Bewältigung dieser Aufgaben ist also weltweit für alle Säuglinge und Kleinkinder notwendig, es lassen sich aber sehr unterschiedliche Herangehensweisen und Lösungswege finden, die sich aus den Gegebenheiten und Anforderungen des jeweiligen kulturellen Kontextes ergeben (Keller 2007).
23.2.1
sich in urbanen Kontexten mit hoher formaler Bildung, spätem Erstgeburtsalter, wenigen Kindern pro Familie sowie kernfamiliären Strukturen (Keller 2007). Dies betrifft in erster Linie Familien der westlichen Mittelschicht. Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein sowie Eigenständigkeit und Kreativität von Kindern spielen hier eine sehr große Rolle und werden von Eltern als bedeutende Sozialisationsziele angegeben. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Eltern häufig schon recht früh erwarten, dass ein Kind durchschlafen und auch alleine schlafen kann (ab ca. drei bis vier Monaten; Abels 2008), sowie durch die große Beliebtheit von Elternratgebern, die diesen Weg unterstützen und anleiten. Kinder werden von Anfang an als quasi gleichberechtigte Partner angesehen (Keller 2003), deren Meinung zählt und denen Wahlen angeboten werden, damit sie Entscheidungen fällen können: »Möchtest Du mit dem Ball spielen, oder sollen wir uns lieber ein Buch angucken?« (Demuth 2008). Auch wird großer Wert darauf gelegt, den Kindern von Anfang an viel Raum zu geben, damit sie eigene Ideen entwickeln und die Initiative ergreifen können, was die Bezugspersonen nach Möglichkeit abwarten sollten, um dann sensitiv auf diese zu reagieren (Keller et al. 2010). Entsprechende Vorstellungen von positiver und förderlicher Eltern-KindInteraktion sind z. B. im Sensitivitätskonzept nach Mary Ainsworth enthalten (Ainsworth et al. 1974). Diese Vorstelllungen lassen sich aber auch in Interventionsansätzen wie beispielsweise Watch, Wait and Wonder (Cohen et al. 2003; vgl. 7 Kap. 28) erkennen. In pädagogischen Bildungskonzepten finden sich die gleichen Vorstellungen, z. B. im Ansatz der Selbstbildung, bei dem ein Schwerpunkt darauf liegt, dass Kinder selber Ideen und Interessen entwickeln und die Erzieherin sich dann auf diese einlässt (Schäfer 2008). Es kann aber eben nicht davon ausgegangen werden, dass diese Konzepte und Ansätze eine universelle Gültigkeit besitzen.
Psychologische Autonomie 23.2.2
Als Entwicklungsorganisator des ersten hier vorgestellten prototypischen Entwicklungspfades kann die psychologische Autonomie, also das Streben nach Unabhängigkeit und Selbstmaximierung, angesehen werden. Dieser Entwicklungspfad findet
Hierarchische Relationalität
Der zweite prototypische Entwicklungspfad ist kennzeichnend für subsistenzwirtschaftlich lebende Gemeinschaften mit niedriger formaler Bildung, einem frühen Erstgeburtsalter, vielen Kindern und
349
23.3 • Konsequenzen für die Beratungshaltung und -struktur
einem Leben in großfamiliären Strukturen, wie sie vor allem in nicht westlichen ländlichen Gegenden zu finden sind. Hier ist nicht die psychologische Autonomie, sondern die hierarchische Relationalität, also die Zusammengehörigkeit bzw. Gemeinschaftlichkeit, der Organisator des Entwicklungspfades (Keller 2007). Eltern geben Respekt, Gehorsam und Hilfsbereitschaft als die wichtigsten Sozialisationsziele an und sehen das Kind nicht so sehr als gleichberechtigten Partner, dem auf gleicher Ebene begegnet werden sollte, sondern eher als Lehrling, der durch Anleitung des Erwachsenen lernt und sich weiterentwickelt (Keller 2003). Es stehen also nicht so sehr die eigenen Ideen und Initiativen der Säuglinge und Kleinkinder im Mittelpunkt, sondern es geht eher darum, wie die Eltern oder andere Bezugspersonen dem Kind eine gute Anleitung geben können (Keller et al. 2010). Die Kinder schlafen in diesen Kontexten häufig lange mit der Mutter, den Eltern oder anderen Familienmitgliedern im selben Bett, es wird lange und nach Bedarf gestillt, und die Kinder erfahren viel Körperkontakt. Durch diese Nähe wird schon von Anfang an eine starke Verbundenheit mit der Familie vermittelt, welche die Grundlage für die später von den Kindern erwartete Rollenerfüllung, Anpassung und Gehorsamkeit legt (Keller et al. 2004). Es vollzieht sich nämlich recht früh ein Übergang in eine verglichen mit den ersten Lebensjahren deutlich veränderte Umgangsform. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kinder sich in ein hierarchisches System eingliedern müssen, welches klare Rollen vorgibt und klare Erwartungen und Anweisungen beinhaltet. Von den Kindern wird erwartet, dass sie sich gehorsam in dieses System eingliedern und dort den Regeln der Familie sowie der Gemeinschaft entsprechend funktionieren.
23.2.3
Autonomie und Relationalität
Autonomie und Relationalität sind als generelle und grundlegende menschliche Bedürfnisse anzusehen, die für alle und überall wichtig sind; sie treten aber in sehr unterschiedlichen Gewichtungen auf bzw. werden je nach Kontext sehr unterschiedlich definiert und unterstützt.
23
Zwischen den hier beschriebenen beiden Prototypen gibt es viele unterschiedliche Mischformen. So besteht für viele Familien, die von einem eher relationalen Kontext in einen eher autonomieorientierten migrieren (eine Situation, die in Deutschland auf viele Familien mit Migrationshintergrund zutrifft), durch den Prozess der Akkulturation eine Herausforderung darin, psychologische Autonomie zu entwickeln, dabei aber die hierarchisch relationale Familienstruktur nicht aufzugeben (Kağıtçıbaşı 2005), also Wege zu finden und Umgangsformen zu entwickeln, die beide Bereiche integrieren (was für die Familien mal mit mehr, mal mit weniger Schwierigkeiten und erlebten Belastungen geschehen und zu mehr oder weniger auffälligem Verhalten bei den Kindern führen kann). Bei der Beratung von Familien mit Säuglingen und Kleinkindern begegnen Berater sehr häufig Familien mit verschiedenen kulturellen Hintergründen. Es ist für eine erfolgreiche und gut abgestimmte Arbeit wichtig, die jeweiligen Hintergründe und Einstellungen der Familien herauszufinden und den Beratungsprozess auf diese abzustimmen. > Eine systematische Berücksichtigung des kulturellen Kontextes bei der Beratung hat Folgen sowohl für die Beratungshaltung und -struktur als auch für die jeweiligen Interventionen.
23.3
Konsequenzen für die Beratungshaltung und -struktur
Für Menschen mit einem Hintergrund, der eher von der Förderung der psychologischen Autonomie geprägt ist, ist es häufig stimmig, dass sie gleichberechtigt in Beratungsprozesse einbezogen sowie maßgeblich an der Suche nach Lösungswegen beteiligt werden. Sie erwarten auch seltener vorgegebene Lösungswege von den Beratern, sondern möchten eher gemeinsam mit den Beratern individuelle Veränderungsmöglichkeiten für die jeweilige Situation erarbeiten. Hier ist oftmals eine Beratungshaltung passend, bei der die Berater wenig direktiv vorgehen und den Eltern stattdessen einen Rahmen zur Verfügung stellen, in welchem diese gemeinsam mit den Beratern einen jeweils für
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23
Kapitel 23 • Kultursensitive Beratung
die spezielle Familiensituation passenden Weg erarbeiten können (Borke u. Eickhorst 2008). Diese Haltung kann aber für Familien, die einen Hintergrund haben, der stark durch relationale Aspekte geprägt ist, irritierend und weniger zielführend sein. Solche Familien kommen häufig aus einem System, in dem Helferpersonen als Experten in einer deutlichen Hierarchie fungieren und entsprechend eher direktiv auftreten. Das bedeutet, dass diesen Familien häufiger klare Handlungsanweisungen vertraut sind. Es besteht dann möglicherweise die Erwartung, dass die Berater sehr stark die Initiative im Beratungsprozess übernehmen sollten; ein deutliches Sichzurücknehmen der Berater kann zu dem Eindruck führen, dass hier nicht genügend Expertentum und Kompetenz vorliegt. Relationalität bedeutet auch, dass das Wohl der Gemeinschaft im Vordergrund steht und nicht die Interessen von Individuen. Entsprechend sind Themen wie Selbstverwirklichung und Abgrenzung der eigenen Interessen von denen anderer bei Familien mit einem relationalen Hintergrund oft wenig passend bzw. sogar kontraproduktiv, da hier bei Lösungsansätzen immer die sozialen Verflechtungen mitbedacht und die Gefühle, Interessen und Funktionen von nahestehenden und familiär verbundenen Personen miteinbezogen werden müssen (Dwairy 2006; Katz 1985). Auch können je nach kulturellem Hintergrund sehr unterschiedliche Konventionen hinsichtlich des sozialen Austausches in einer Beratungssituation bestehen. Bezüglich der Frage, ob, und wenn ja, wann und wie Gefühle gezeigt und intrapsychische Vorgänge angesprochen werden können oder auch wann etwas als beschämend oder ehrverletzend empfunden wird, können sich je nach kulturellem Kontext sehr unterschiedliche Fragen und Antworten konstruktiv auf das Beratungssetting auswirken (Dwairy 2006; Katz 1985; Schernewski 2009). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass Menschen aus der nicht westlichen Welt häufig ein anderes Zeit- und Pünktlichkeitsverständnis haben, was natürlich bei eng getakteten Terminen zu Problemen und Frustrationen der Berater führen kann. Die Kenntnis dieser Unterschiede ist bedeutsam, um nicht fälschlicherweise auf Desinteresse oder Gleichgültigkeit zu schließen (Katz 1985). Dieses Wissen kann dabei helfen, den eigenen Ärger über
Unpünktlichkeit zu reduzieren, sowie eine Grundlage für die Suche nach Strategien darstellen, die der Familie das Einhalten von Vereinbarungen erleichtern (z. B. vorherige Telefonate oder Hausbesuche). Natürlich ist es nicht möglich, bei jeder Familie eine komplett andere Haltung einzunehmen und eine komplett andere Struktur anzubieten, und es soll hier auch nicht dafür geworben werden, sich von seinen Erfahrungen und erlernten Konzepten völlig zu lösen, wohl aber dafür, die Hintergründe der zu beratenden Familien zu erkunden und ein Gespür sowie eine Flexibilität dafür zu entwickeln, das Beratungssetting den Familien anpassen zu können.
23.4
Konsequenzen für Interventionsansätze
Auch bei der Wahl und Anwendung der gebotenen Interventionsstrategien und -verläufe ist eine Sensitivität für den jeweiligen kulturellen Kontext der Familie wichtig. So ist es z. B. entscheidend, bei elterlichen Verhaltensweisen und kindlichen Entwicklungsverläufen keine Normativität zugrunde zu legen, da hier, wie oben angedeutet, eine sehr große Varianz besteht. So gibt es beispielsweise auf die Fragen, wie sich der Tagesablauf und wie sich der Umgang mit Autorität und Gehorsam gestalten kann, sehr unterschiedliche Antworten (Abels 2008; Gonzalez-Mena 2008; Rogoff 2003), und auch hinsichtlich der Gestaltung von Esssituationen sowie der generellen Beziehung bestehen unterschiedliche Vorstellungen. In eher relationalitätsorientierten Kontexten gilt es beispielweise als Zeichen von tiefer Liebe und Nähe, wenn die Kinder auch noch im Schulalter ab und zu durch die Mutter oder andere nahe Bezugspersonen gefüttert werden (Gonzalez-Mena 2008). Das Erlernen des selbstständigen Essens hat hier nicht denselben Stellenwert wie in autonomieorientierten Kontexten. Bei Familien aus relationalitätsorientierten Kontexten lässt sich oftmals eine sehr große Nähe zwischen Eltern und Kindern beobachten, die dem Berater möglicherweise symbiotisch und pathologisch erscheinen kann. Sie ist aber eher Ausdruck
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Literatur
eines adaptiven Modells, das die familiäre Nähe über die Autonomieentwicklung stellt (Markus u. Kitayama 1991). Es ist wichtig, dass Berater diese Hintergründe bei der Wahl ihrer Interventionsrichtungen einbeziehen und ungerechtfertigte Problematisierungen und Pathologisierungen vermeiden. Einer Familie mit einem relationalitätsorientierten Hintergrund zu raten, das Kind in einem eigenen Zimmer schlafen zu lassen, könnte beispielsweise zu großem Unverständnis und zum Abbruch der Beratung führen. So war es im eingangs dargestellten Fallbeispiel von großer Bedeutung für den positiven Verlauf, dass die Berater den kulturellen Hintergrund der Mutter in die Suche nach geeigneten Ansätzen zur Veränderung der Schlafsituation einbezogen haben. Eine vielfach eingesetzte Intervention in der Beratungsarbeit mit Familien von Säuglingen und Kleinkindern stellt die Videointeraktionsanalyse dar (vgl. 7 Kap. 29). Hier ist es bedeutsam, unterschiedliche Konzepte von Interaktionsqualitäten zu berücksichtigen. Bei Familien, die einen eher relationalistischen Hintergrund haben, kann das alleinige elterliche Benennen und Beschreiben des kindlichen Verhaltens unpassend sein, hier wäre es unter Umständen angebracht, die Eltern vor allem in der Frage zu unterstützen, wie sie gute Lenkungs- und Leitungsmomente zeigen können, wie sie also auf eine passende Art die Initiative übernehmen können. Es gibt Interventionsansätze, die prinzipiell alle diese Interaktionsverhaltenweisen berücksichtigen – z. B. die Marte-Meo-Methode (Bünder et al. 2009) –, also durchaus das Potenzial für eine kultursensitive Arbeit beinhalten. Allerdings werden die elterlichen Verhaltensweisen dort nicht systematisch bezüglich verschiedener kultureller Kontexte differenziert. Dadurch kann konzeptionell nicht zwischen einer eher kindzentrierten und damit autonomieunterstützenden Herangehensweise und einer eher auf Lenkungs- und Leitungszentrierung durch die Eltern ausgerichteten Herangehensweise, die der Unterstützung eines relationalistischen Entwicklungspfades entsprechen würde, differenziert werden. Dies wäre aber notwendig, um bei der Anwendung nicht in eine unangemessene Normativität zu verfallen.
23
Fazit Aufgrund einer zunehmenden kulturellen Vielfalt, auf die Berater und Therapeuten in ihrem Berufsalltag treffen, wird eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Kontexten und Entwicklungspfaden sowie die Übertragung dieses Wissens auf die Beratungsarbeit mit Familien von Säuglingen und Kleinkindern immer bedeutsamer. Sie stellt eine notwendige Grundlage dar, um Familien mit unterschiedlichen Hintergründen verstehen und die jeweilige Beratung entsprechend anpassen zu können. Außerdem ist sie die Basis dafür, den Familien mit Verständnis und Wertschätzung entgegenzutreten und dann einen Beratungsweg zu gestalten, der sowohl den Familien als auch dem Berater gerecht wird und somit die Wahrscheinlichkeit eines positiven Verlaufs erhöht. Dazu bedarf es natürlich auch des Wissens, der Sensibilität sowie der Erfahrung, um erkennen und einordnen zu können, inwiefern vermeintlich problematische Verhaltensweisen eher auf maladaptiven Interaktionsverläufen oder Schwierigkeiten in den Familien beruhen oder eher Ausdruck eines anderen, in sich stimmigen und adaptiven kulturellen Modells sind.
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23
Kapitel 23 • Kultursensitive Beratung
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Schernewski C (2009). Handlungs- und Interaktionsmodelle von Erziehungsberatern und -beraterinnen für die Arbeit mit Familien mit Migrationshintergrund. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Osnabrück
353
Das frühgeborene Kind: Entwicklungs- und familienorientierte Behandlung Eva Vonderlin
24.1
Frühgeburt – ein schwerer Start ins Leben – 354
24.1.1 24.1.2 24.1.3 24.1.4
Definition und Häufigkeit – 354 Umgebungsbedingungen, Schmerz- und Stresserfahrungen – 354 Medizinische Risiken und Langzeitentwicklung – 355 Elterliche Belastung, Eltern-Kind-Beziehung – 357
24.2
Familien- und entwicklungsorientierte Behandlung bei Frühgeburt – 357
24.2.1 24.2.2 24.2.3
Autonomie der Eltern, Einbezug der Eltern in Entscheidungen – 357 Integrative Versorgung, Rooming-in – 358 Schmerz- bzw. Stressreduktion, entwicklungsfördernde Interventionen – 358 Elternkompetenz, Eltern-Kind-Beziehung, Stillförderung – 359 Psychosoziale Begleitung, Elterngruppen – 360 Nachsorge – 361
24.2.4 24.2.5 24.2.6
Literatur – 362
M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0 – 3, DOI 10.1007/978-3-642-20296-4_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
24
354
24
Kapitel 24 • Das frühgeborene Kind: Entwicklungs- und familienorientierte Behandlung
Schwangerschaft und Geburt eines Kindes sind einschneidende Erlebnisse in der Biografie von Frauen und Männern. Neben körperlichen Veränderungen sind eine Reihe von psychischen und sozialen Anforderungen zu meistern, wie die Entwicklung einer Identität als Mutter oder Vater, Veränderungen von Lebenszielen und Werten sowie eine Neuorganisation auf der Paarebene (7 Kap. 8 u. 9). Eine wichtige Hilfe zur Bewältigung dieser Anforderungen ist die Aussicht auf ein beglückendes Geburtserlebnis und ein gesundes Baby. Treten im Verlauf der Schwangerschaft hingegen medizinische Komplikationen auf oder wird die Schwangerschaft vorzeitig durch eine Frühgeburt beendet, wird dieser Anpassungsprozess an die Elternschaft empfindlich gestört. Das folgende Kapitel gibt zunächst einen Überblick über die Situation von Frühgeborenen und deren Familien in den ersten Lebenswochen sowie über die Entwicklungschancen der Kinder. Im zweiten Abschnitt werden Konzepte und Interventionsansätze vorgestellt, die in den letzen Jahren entwickelt wurden, um die Behandlung frühgeborener Kinder von Beginn an entwicklungsfördernd zu gestalten und auf die Bedürfnisse junger Familien abzustimmen.
24.1
Frühgeburt – ein schwerer Start ins Leben
Fallbeispiel J. wird infolge vorzeitiger Wehen und einer mütterlichen Infektion in der 27. Schwangerschaftswoche mit 860 g per Kaiserschnitt geboren. Es folgen sechs Wochen intensivmedizinische Behandlung mit Antibiose, künstlicher Beatmung und anschließender Sauerstoffgabe. In der dritten Lebenswoche erleidet J. eine leichte Hirnblutung mit Krampfanfällen. Während der ersten sechs Wochen wird er über eine Magensonde ernährt. Nach insgesamt vier Monaten Klinikaufenthalt wird J. mit 2.600 g entlassen. Zunächst erhält er wöchentliche Krankengymnastik wegen Haltungsasymmetrie und niedrigem Muskeltonus, ab dem zweiten Lebensjahr Frühförderung aufgrund einer allgemeinen
Entwicklungsverzögerung. Die Eltern hoffen, dass J. in seiner Entwicklung weiter aufholt und mit drei Jahren einen Regelkindergarten besuchen kann.
24.1.1
Definition und Häufigkeit
Von einer Frühgeburt spricht man, wenn die Entbindung vor vollendeten 37 Schwangerschaftswochen (SSW) erfolgt (»regulär«: 40 SSW). In Deutschland betrifft dies jährlich rund 60.000 Kinder (7 % aller Geburten), darunter sind ca. 10.000 Kinder (2 %), die mehr als acht Wochen zu früh auf die Welt kommen. Durch rasante intensivmedizinische Fortschritte haben mittlerweile auch Babys eine realistische Überlebenschance, die mit 23 und 24 SSW bzw. mit ca. 500 g geboren werden. Neben der organischen Reife eines Frühgeborenen, ausgedrückt in Schwangerschaftswochen, stellt das Geburtsgewicht einen entscheidenden Risikofaktor dar (. Tab. 24.1). Obgleich der individuelle Gesundheitszustand bei Babys gleichen Reifealters oder Geburtsgewichts sehr unterschiedlich sein kann, nimmt in der Regel die Intensität der medizinischen Versorgung und das Risiko für zusätzliche Komplikationen zu, je kürzer die Schwangerschaftsdauer und je niedriger das Geburtsgewicht ist. Ein besonders hohes Entwicklungsrisiko haben Säuglinge, die im Vergleich zum Reifealter ein zu niedriges Geburtsgewicht aufweisen, vermutlich bedingt durch eine intrauterine Mangelversorgung (Zabransky 2006).
24.1.2
Umgebungsbedingungen, Schmerz- und Stresserfahrungen
Aufgrund der notwendigen Behandlung werden in der Regel Neugeborene unter 35 SSW (ca. 2.500 g) getrennt von ihren Eltern stationär in Kinderkliniken aufgenommen. Folglich nehmen Väter häufig den ersten Kontakt zum frühgeborenen Baby auf, während die Mütter noch in den Frauenkliniken verbleiben und ihr Kind erst nach einigen Tagen sehen können. Benötigt der Säugling eine intensivmedizinische Versorgung, ist vielfach zunächst kein Körperkontakt möglich, und das Baby ist über Tage und Monate hinweg einem extrem unphysiologi-
355
24.1 • Frühgeburt – ein schwerer Start ins Leben
. Tab. 24.1
Frühgeborene nach Gewicht und Reife
Geburtsgewicht/Schwangerschaftswoche
Bezeichnung
1.500–2.500 g/ca. 33–37 SSW
Low birthweight infant (LBW)
1.000–1.500 g/ca. 28–32 SSW
Very low birthweight infant (VLBW)