Thomas Wiedenhorn Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, Eltern- und Lehrersicht
Thonlas Wiedenhorn
Die Bildungsents...
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Thomas Wiedenhorn Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, Eltern- und Lehrersicht
Thonlas Wiedenhorn
Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, EIternund Lehrersicht
III VS VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation, eingereicht an der Pädagogischen Hochschule weingarten, 2010 Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades Dr. phü, der Pädagogischen Hochschule Weingarten vorgelegt von Thomas Wiedenhorn, geb. 24.06.1972 in Radolfzell am Bodensee Vorlage 2010bei der Fakultät I; Disputatio im Juli 2010 Erstgutachter: Prof. Dr. Ursula Pfeiffer Zweitgutachter: prof. Dr. Thorsten Bohl Wiesbaden, 2011
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch I Priska Schorlemmer VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer sclence-auslness Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung desVerlags unzulässig undstrafbar. Das gilt insbesondere für vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. DieWiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen. warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und dahervon jedermann benutztwerden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18060-1
Inhalt
1
Einleitung.... .. .. . . .. .. .. ..... .. .. .. . . .... .. .. .. . . .. ..... ... .. .. .. ... ....... ....
2
Grundlagen der Bildungsentscheidung in Baden-Württemberg
2.1
Historische Entwicklungslinien eines gegliederten Schulsystems 2.1.1 Historische Eckpunkte der Ausbildung des gegliederten Schulsystems 2.1.2 2.1.3 2.1.4
2.2 2.3
11
15 . 15
Vom schulischen Dualismus zum gegliederten Schulsystem. . .. .. .. . . . . . .. ... . . .. .... ........ .... ....... .....
22
Von der historischen Genese zur Bildungsexpansion der 60er Jahre.. ........... ..
24
Bildungsexpansion der 1960- und 70erJahreeine Option für mehr Chancengleichheit? ..............
27
Der gegenwärtige organisatorische und rechtliche Rahmen der Bildungsentscheidung . . .. . . . . . . . .. . ..... ................... Übergangsregelung in den einzelnen Bundesländern .... .... 2.3.1
2.4
Bundesländer mit eingeschränktem Schulübergang (Groppe 1) 2.3.2 Bundesländern mit teilweise eingeschränkter Schulwahl (Gruppe 2) 2.3.3 Bundesländern mit uneingeschränktem Schulübergang (Groppe 3) Die drei Entscheidungsträger im Bildungssystem
33 34
Die rechtliche Position von Schülern im Bildungsentscheidungsprozess 2.4.2 Die rechtliche Position von Eltern im Bildungsentscheidungsprozess 2.4.3 Die rechtliche Position von Lehrerinnen und Lehrern im Bildungsentscheidungsprozess Zusammenfassung.. .... . . .. .... .
36 41 44 46
2.4.1
2.5
46 47 48 49
Inhalt
6
3
4
Das theoretische Konzept zur Ausrichtung des Untersuchungsschwerpunkts 3.1 Zum Begriff der Bildungsentscheidung und Chancengleichheit im Bildungswesen- Komponenten des Entscheidungsbegriffs . 3.2 Die Schulartwahlals Bildungsentscheidung 3.3 Zum Diskurs von Bildungsentscheidung und Chancengleichheit 3.4 Der Rational-Choice Ansatz als ein theoretisches .. Erklärungsmodell für Bildungsentscheidungen 3.4.1 Die Grundstruktur der Rational-Choice-Theorie 3.4.2 Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Rational-Choice 3.4.3 Boudons Modell zur Erklärung von Wahlentscheidungen und Bildungsungleichheit ....... 3.4.4 Verschiedene Theorieansätze zur Beschreibung des primären und sekundären Effekts 3.4.5 SozialeBildungsbeteiligung als Folge "natürlicher" Begabung ..... ....... .... ..... ... 3.4.6 Indirekte schulische Einflussfaktoren auf die Bildungsbeteiligung . 3.4.7 Sozialeund gesellschaftliche Merkmale als Teil der Bildungsentscheidung .... ................... ................. 3.4.8 Das SEU-Modell als Grundstruktur für die Bildungsentscheidung .... .................................. 3.5 Das Essersehe Modell für die Bildungsentscheidung in die Sekundarstufe - "Framing" - vom Routinehandeln zu Leitmotiven . 3.6 Zusammenfassung .... .... . ... Theoretische und empirische Anbindungsstellen an die Forschung zu Bildungsentscheidung 4.1 Theoretische Anbindungsstellen zur Bildungsentscheidung ... 4.2 Empirische Anbindungsstellen zur Bildungsentscheidung ... 4.2.1 Empirische Studien und Daten zur Bildungsentscheidung in Baden-Württemberg 4.2.2 Nationale und internationale Studien zur Schulartwahl und Bildungsentscheidung ..... .. 4.3 Die Schnittstelle zum aktuellen Forschungsstand 4.4 Zusammenfassung. ... ..... .... .. ... ........ ........ ...... ....
51 55 57 61 61 68 69 72 72 74 74 77 81 87
90 92 92 94 96 98
Inhalt
5
6
7
Anlage der Untersuchung und methodische Vorgehensweise 5.1
Theoretische Herleitung der grundlegenden Fragestellung ........
101
5.2
Verlauf der Untersuchung ... .. . . .... . ... . . .. . .. . .. .. . . .. . . .. .. . . ......
107
5.3 Zusammenfassung ............... ............... ............ ......... Darstellung der schriftlichen Befragung 6.1 Der Verlauf der schriftlichen D atenerhebung zum 1. Messzeitpunkt ..... .. .. ...... .. .. ...... .. ... ... .. .. ................... 6.2 Die Entwicklung der Instrumente ... ........ ......... .............. 6.3 Stichprobenbildung ..... ...... . . .............. ...................... .... 6.3.1 Schichtungskriterien und Stichprobenziehung .... ... ... 6.3.2 Stichprobe .... ......... ................ . ....... .......... . . .. Der Rücklauf nach Schülern-, Eltern- und Lehrerstichprobe .... 6.4 6.4.1 Beschreibung der Teilstichprobe - Schülerinnen und Schülern (1) .. ........ .. . ................ .. ............... . .. . 6.4.2 Beschreibung der Teilstichprobe - Eltern (2) .......... 6.4.3 Beschreibung der Teilstichprobe Grundschullehrerinnen (3) ...... .......... ....... ......... 6.5 Ergebnisse der empirisch-quantitativen Untersuchung . ... ....... 6.5.1 Beurteilung des Schulübergangs aus Schülerinnenssicht ...... . .... ..... ........ . . ...... ....... ... 6.5.2 Beurteilung des Schulübergangs aus Elternsicht ..... ... 6.5.3 Grad der Beteiligung an der Schulartwahl nach Eltern, Schüler und Lehrern .... .. .. . . .... ... . .. ... . . ... ... 6.6 Das log-lineare Modell als Auswertungsverfahren .... .... . . . ..... 6.6.1 Die Grundlagen der log-linearen ModelleMultivariaten Kreuztabellen .... ....... .... ....... . . ......... 6.6.2 Modellbildung und signifikante Werte im vorliegenden log-linearen Modell .. . ..... . .. . . . . .. .... ..... 6.7 Wirksame Einflusskonstellationen der primären Effekte auf den Schulartübergang ..... ...... . . ........ . ....... . ......... ........ . 6.8 Wirksame Einflusskonstellationen der sekundären Effekte auf den Schulartübergang .... . .. .. . . . ... .... . .... ... . . . ....... . ... .......... 6.9 Berechnung von LLM für die sekundären sozialen Effekte von Schülerseite .... . .. . . . . .. .. . . . . . . . .. . . . . .. ... . . . . .. . ....... .. . .. . .. . ...... 6.10 Zusammenfassung ... . .. . .. . . . . ..... .. . .. . .... . . .. . ... . .. . . . . .. . .........
110
111 112 121 123 125 127 128 129 135 135 135 139 143 151 151 154 156 174 182 188
Inhalt
8 7
Darstellung der mündlichen Befragung 7.1
D as Erhebungsverfahren der mündlichen Befragung
191
Zum Ablauf der mündlichen Befragung . . . .. Die Auswahl und Ansprache der Probanden und Verlauf der Befragung ,. .. . . . . . .. . Leitfadengestützte Intervi ews zur Durchführung der qualitativen Untersuchung 7.2.1 Zur Funktion des Interviewleitfadens
191 194
Die Forschungsfragen für das Leitfadeninterview Die Vorgehensweise bei der Auswertung. ... ....... . . . . . ..... .. ...
198 201
7.1.1 7.1.2
7.2
7.3 7.4
7.4.1
7.5 7.6 7.7
7.8
7.4.2
Die qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungsinstrument .... Konzeption des Kategoriensystems
7.4.3
Beschreibung des Kategoriensystems
..
....
7.4.4 Schrittfolge der Datenauswertung Ergebnis der qualitativen Erhebung - Kategorisierung der Sichtweisen und Handlungsverläufe Darstellung der Ergebnisse einer strukturierenden Inhaltsanalyse. Die kritisch-resignative Schulartwahl am Beispiel der Familie Allhamdani (Interview 6) 7.7.1 Der Verlauf der kritisch-resignativen Schulartwahl aus Schülersicht (Int. 6) 7.7.2 Der Verlauf der kritisch-resignativen Schulartwahl aus Elternsicht (Int, 6) . 7.7.3 Die Ebenen der Schulartwahl aus Sicht der Grundschullehrerin (2. MZP , Int. 6) ........ .. .. .. ... .. ... 7.7.4 Die Ebenen der Schulartwahl aus Sicht der Hauptschullehrerin (3. MZP , Int. 6) Die kritisch-initiative Schulartwahl am Beispiel der Familie Chemni (Interview 5) 7.8.1 Der Verlauf der kritisch-initiativen Schulartwahl aus Schülersicht (Int, 5) 7.8.2 Der Verlauf der kritisch-initiativen Schulartwahl aus Elternsicht (Int, 5) 7.8.3 Die Ebenen der Schulartwahl aus Sicht der Grundschullehrerin (2. MZP, Int. 5) 7.8.4 Die Ebenen der Schulartwahl aus Sicht der Realschullehrerin (3. MZP, In t. 5) .... .. .... ..... .. .. .. ...
196 196
201 202 204 207 210 216 217 217 223 231 233 237 238 242 248 249
Inhalt
9
7.9
7.10
7.11 8
9
Die kritisch-abwärtsgerichtete Schulartwahl am Beispiel der Familie Walk (Interview 1) 7.9.1 Der Verlauf der kritisch-abwärtsgerichteten Schulartwahl aus Schülerinnensicht ...................... 7.9.2 Die Sicht der Eltern auf die kritisch-abwärtsgerichtete Schulartwahl .... . . . . . . ... . . . ...... ...... .... ........ ......... 7.9.3 Die Ebenen der Schulartwahl aus Sicht des Grundschullehrers (2. MZP , Int, 1) 7.9.4 Die Ebenen der Schulartwahl aus Sicht der Realschullehrerin (3. MZP , Int. 1) Die beidseitig-konforme Schulartwahl am Beispiel der Familie Koch-Marmia (Interview 2) 7.10.1 Der Verlauf der beidseitig-konformen Schulartwahl aus Schülersicht .. . . .... . ..... 7.10.2 Der Verlauf der beidseitig-konforme Schulartwahl aus Elternsicht 7.10.3 Die Ebenen der Schulartwahl aus Sicht der Grundschullehrerin (2. MZP , Int. 2) 7.10.4 Die Ebenen der Schulartwahl aus Sicht der Gymnasiallehrerin (3. MZP , Int. 2) Zusammenfassung
254 254 260 266 266 270 270 275 283 285 288
Ergebnisse und Diskussion
8.1
Zusammenfas sende Beantwortung der drei Forschungsfragen .
292
8.2 8.3 8.4
Diskussion der Ergebnisse . . . . .. .... Methodische Grenzen der Untersuchung Weiterführende Ergebnisse - Forschungsdesiderate
305 307 309
...
Anhang
9.1 9.2 9.3
Tabellenverzeichnis Abbildungsverzeichnis Literaturverzeichnis Weitere Informationen finden sie im Download unter: http://www.vs-verlag.de/Buch/978-3-531-18060-1 /DieBildungsentscheidung-aus-Schueler-komma-Eltern-undLehrersicht.html.
313 316 317
"Chancengleichheit besteht nicht darin, dass jeder einen Apfel pflücken darf, sondern dass der Zwerg eine Leiter bekommt." Zitiert nach: Hansen & Pfeiffer 1989: 54.
1
Einleitung
Die vorgelegte Veröffentlichung mit dem Titel "Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, Eltern- und Lehrersicht" ist eine empirische Untersuchung im Fachbereich der Erziehungswissenschaften auf dem Gebiet der Bildungsforschung. Sie stellt eine Schnittstelle zwischen dem Arbeitsbereich der Bildungssoziologie und der Schulpädagogik dar und ist als pädagogisches Teilgebiet in der Übergangsforschung angesiedelt. "Bildungsabschlüsse sind in modernen Gesellschaften zu einem wesentlichen Bestimmungsfaktor für die Lebenschancen von Individuen geworden" (Geißler 1987: 79). Mit der Ausprägung von arbeitsteiligem Lohnerwerb sind es Bildungswege, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen Startchancen für die zukünftige Positionierung am Arbeitsmarkt bieten. An deren Ende steht in der Regel ein Zertifikat, das über Schulabschlüsse und berufliche Ausbildung vergeben wird und formale Qualifikationen ausweist. Auf dem Weg dahin erhalten Bildungsempfehlungen und Schulübergänge den Status von "Türöffnern" für die nächst höheren Stufen, ohne sie ist eine biographische Berufswahlmöglichkeit und Weiterentwicklung nur schwer oder auf zeit- und kostenintensiven Umwegen möglich. Auch wenn sich mit Schulübergängen letztlich keine Garantien verbinden, können sie als Träger von Bildungschancen gesehen werden. Aus Sicht der Beteiligten kann der schulische Übergang in eine weiterführende Schulart als ein "latent ereignisreiches Moment"! gesehen werden, bei dem eine individuelle Problemhaftigkeit dann auftritt, wenn die Bildungswünsche und Einschätzungen der betei1igten Schüler, Eltern und Lehrer auseinander gehen. Bleibt den Familien eine freie Schulart versagt, verschärft sich die Kontroverse. In zunehmend mehr Bundesländern deutet sich der Trend zur Beschränkung des Elternrechts beim Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe an. Mit der Verlagerung der Verantwortlichkeit von der freien elterlichen Wahl hin zu einer schulischen Zuweisungspraxis ist die leistungsorientierte Selektion meist an Schulnoten gebunden. Um eine nach allen Seiten "gerechte" Entscheidung zu treffen, Das Zitat geht auf eine Anmerkung von Staubert, B. zu "Doing gender in transitions" vorgetragen am 11.02.10 auf der Tagung "Forschungskonzepte zu übergängen von Schulabsolventen mit mittleren Bildungsabschlüssen in betrieblichen Ausbildungsgängen" an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
T. Wiedenhorn (eds.), Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, EIternund Lehrersicht, DOI 10.1007/978-3-531-93060-2_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
12
Einleitung
müssen sich Lehrer und Eltern dann fast ausschließlich an dem Prognoseinstrument der Ziffemnote orientieren. In Baden-Württemberg ist ein dreigliedriges Schulsystem institutionalisiert, das auf einem solchen Verfahrensweg beruht. Die Grundschullehrerinnen vergeben Mitte des vierten Schuljahrs eine verbindliche Bildungsempfehlung, die sich an den Kernfachnoten ausrichtet. In der laufen die Einschätzungen der Grundschullehrerinnen zusammen und ermöglichen den Zugang in eine, zwei oder drei Schularten. Den Familien bleibt bei einer konträren Einschätzung die Teilnahme an einem Test- und Beratungsverfahren als Interventionsmöglichkeit. Bei ihren innerfamiliären Entscheidungen spielt in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein möglicher Gymnasialübergang in der Wunschvorstellung der Eltern eine immer wichtigere Rolle, denn mitderweile gilt sie als die vermeintliche "Volks-"schule (StatistischeLandesamt 2007). Eine Tendenz, die vor allem den Familien Probleme bereitet, die nicht auf die nötigen sozialen Ressourcen zurückgreifen können und deren Bildungsentscheidungen sich sehr wohl auf Kostenaspekte (Schauenberger 2006) oder auf mangelndes kulturelles Kapital beziehen. Diese Eltern sehen sich permanent gezwungen, mit offenem oder unterschwelligem Druck auf eine gute Bildungsempfehlung hinzuarbeiten (Hurrelmann 1992). In der Arbeit wird eingeschränkte Bildungsentscheidung in BadenWürttemberg untersucht. Sie knüpft an dem bundeslandspezifischen Kontext an und erhebt anband von drei Forschungsfragen die Schulartwahl aus Sicht der Schüler, Eltern und Lehrer. Das Forschungsinteresse richtet sich dabei auf die entscheidungsbedingenden Einflussfaktoren für die Schulartwahl-, Zunächst geht es darum, wie die drei beteiligten Gruppen die Schulartwahl entsprechend ihrer Entscheidungsoptionen beurteilen. Die Bandbreite der möglichen Verläufe reicht von einer problemlosen Abwicklung außerhalb der bewussten Realisierung bis zum hochgradig emotional aufgeladenen Übergangsszenario, das ein Überangebot an Beratungssituationen bereithält und letztlich in ein Test- und Beratungsverfahren mündet. Aus Schüler- und Elternperspektive ist das bestmögliche Bildungsangebot zu erzielen und dabei scheinen "Eltern [...] eine eindeutige Rangordnung der verschiedenen Schulformen im Kopf zu haben" (Hurrelmann 1992: 27). Ob das Gymnasium oder die Realschule dabei wirklich immer die leistungsadäquat und entwicklungsgerecht richtige Entscheidung ist, scheint für manche Eltern in den Hintergrund zu treten. In Baden-Württemberg kollidiert institutionell verankertes Schulrecht mit den individuellen Einschätzungen, Wünschen und Erwartungen der Eltern und Schüler. Im Falle zunehmender Divergenz kann das Verfahren als 2
In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff der Schulartwahl und der Bildungsentscheidung synonym verwendet . Für Mahr-George (1999) vollzieht sich die Bildungsentscheidung in einem zweistufigen Prozess, der aus 1.) der Schulartwahl und 2.) der Wahl einer Schule. Die Schulwahl in Baden-Württemberg spielte bislang eine untergeordnete Rolle, da den Eltern hier nur sehr begrenzte Handlungsoptionen eingeräumt werden.
Einleitung
13
hochgradig problembehaftet angesehen werden (Mitzfall; Wiederhold 1998: 17). Nach Böttcher setzt schulisches Lernen wesentliche Qualifikationen voraus, was höhere Schichten mit dem entsprechenden kulturellen Kapital tendenziell begünstigt (Böttcher 2002). Insofern scheint die Schule eher zur Verstärkung als zum Abbau von differenten Startbedingungen beizutragen (vgl. Becker; Lauterbach 2004). Auf den Entscheidungsträgern lastet somit ein enormer Druck bei der Festlegung auf eine bestimmte Schullaufbahn, vor allem bei Nichtakzeptanz der Bildungsempfehlung und der anschließenden Einleitung eines Test- und Beratungsverfahrens. Neben der Eigen- und Fremdeinschätzung von Leistungs- und Sozialverhalten spielen bei dieser Entschlussfassung die elterliche Förder- und Opportunitätssttuktur und die Statustransformation eine wichtige Rolle (Georg 2006). Für die Beantwortung der Frage nach den Einflussfaktoren auf die Schulartwahl spielen deshalb nicht nur soziodemografische Aspekte eine Rolle. Auch die Einstellung der Kinder, Eltern und Lehrer- zur Schule, zum Lernen und zur Bildung sowie die Formen und Probleme mit der Leistungsbeurteilung sollen mit berücksichtigt werden. Die dritte Forschungsfrage fokussiert die Schnittstelle zwischen familiären und schulischen Entscheidungsträgern und fragt nach den Anteilen von Schülern, Eltern und Lehrern am eingeschränkten Entscheidungsprozess. Nach Boudon sind es ausschließlich die Eltern und Lehrer, die als alleinige Entscheidungsträger für die Schulartwahl in Frage kommen (Boudon 1974). Inwiefern die Kinder aus Sicht der Beteiligten an diesem Entscheidungsprozess teilhaben, steht im Mittelpunkt des Interesses dieser Untersuchung. Die Arbeit gliedert sich insgesamt in acht Kapitel, wobei sich das nachfolgende in zwei Teilabschnitte aufteilt. Anfangs wird die regionalspezifische Entstehungsgeschichte der Grundschule vor dem Hintergrund der weiterführenden Schularten dargestellt. Im zweiten Abschnitt werden die schulrechtlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen Bundesländern skizziert und verglichen . Damit lässt sich die Übertragbarkeit der Ergebnisse entsprechend affiner Übergangsregelungen in den verschiedenen Bundesländern abschätzen. Im dritten Kapitel wird ein Modell zum handlungstheoretischen Verlauf der Bildungsentscheidung entwickelt, das der empirischen Erhebung zugrunde liegt. Der Fokus richtet sich hierbei auf die Erhebung von Ungleichheitmechanismen im Übergangsprozess. Das darauf folgende vierte Kapitel bietet eine Bestandaufnahme der empirischen Forschung auf die drei Fragestellungen hin und zeigt die entsprechenden Anknüpfungsstellen auf. Es schließt sich im fünften Kapitel die Darstellung des Designs, der Modellbildung und der dezidierten Forschungsfragen für die schriftliche und mündliche Befragung an. Im sechsten Kapitel werden dann die spezifische Anlage und die 3
In den nachfolgenden Ausführungen wird die männliche und weibliche Form in zufälliger Form verwendet.
14
Einleitung
erzielten Ergebnisse für die schriftliche Fragebogenerhebung dargelegt. Die Resultate der mündlichen Befragung folgen im siebten Kapitel. Abgeschlossen wird das Werk mit dem Kapitel "Zusammenfassung und Diskussion", in dem die verschiedenen Forschungserkenntnisse zusammengeführt und umfassend erörtert werden. Im Verlauf der Entstehungszeit dieses Buchprojekts bin ich auf unterschiedliche Weise von Personen und Institutionen unterstützt worden. Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Prof. Dr. Ursula Pfeiffer, die mich von Beginn der Forschung an begleitet hat und mir immer mit fachkompetenten und konstruktiven Rückmeldungen zur Seite stand. Zudem danke ich Prof. Dr. Thorsten Bohl, den ich zu jeder Zeit ansprechen konnte und der mir wichtige Hinweise für die Entwicklung meiner Untersuchung gab. Für Anregungen und Hilfestellungen bei Problemen der statistischen Modellbildung gehen Dankesworte an Dr. Leo Gürtler, Dr, Katharina Müller und Beate Vomhof. Ebenso möchte ich mich besonders bei allen Schulen bedanken, ohne die eine solche Untersuchung nicht möglich gewesen wäre. Viele Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrer räumten mir, trotz aller Belastung und Stress im Schulalltag, Zeit für meine schriftliche und mündliche Befragung ein.
2
Grundlagen der Bildungsentscheidung in BadenWürttemberg
2.1 Historische Entwicklungslinien eines gegliederten Schulsystems Dem deutschen Schulsystems mit seinen individuellen Wahl- und Entfaltungsmöglichkeiten liegt die Idee zugrunde , dass eine ,,[...] freie Entfaltung des von feudalen Bindungen emanzipiertes Individuums" (Herrlitz u.a 2005: 23) möglich erscheint. Ein Mittel der "Freisetzung" des unfreien Einzelnen hin zu einem mündigen Bürger ist die institutionalisierte Erziehungs- und Vermittlungsanstalt Schule, die eine auf Gleichheit, Freiheit und Solidarität beruhende Gesellschaftsform möglich machen soll. Das Schulsystem als "Mobilitätskanal" fungiert dabei als ein Gradmesser der gesellschaftlich verwirklichten Forderung nach Chancengleichheit und des Abbaus von Ungleichheit. Der historische Diskurs über den Entwicklungsgang des gegliederten Schulsystems und der Übergangspassagen aus institutions- und regionalgeschichtlicher Perspektive soll einen Einblick in die historischen Schnittstellen und den Grad der Umsetzung der grundrechtliehen Forderungen bieten. Der nachfolgende Versuch einer Überblicksdarstellung der Geschichte einer Schulart bzw. des Schulsystems in Baden-Württemberg für das 19. und 20. Jahrhundert unterliegt der Schwierigkeit, dass eine Vielzahl von differierenden Faktoren zugrunde gelegt werden müssen. In ihrer Komplexität lassen sich die verschiedenen Aspekte, Entwicklungen und Problemstellungen nur ansatzweise darstellen. Erst im Prozess einer zielgerichtet retrospektiven Systembildung entsteht die Darstellung eines einheitlich kodifizierten Schulsystems mit den Typenbezeichnungen wie Volks- und Lateinschulen und Gymnasien (Götz; Sandfuchs 2001). Im Zuge der Ausbildung dieser drei verschiedener Schularten treten vermehrt Übergänge auf, so dass Passagen, Hindernisse oder Brüche für das Individuum nicht mehr prinzipiell vermeidbar sind. Es steigt zwangsl äufig die Notwendigkeit deren strukturelle Gestaltung in den Blick zu nehmen. Nach Weinert sollten neben den bildungspolitischen und institutionelle auch die didaktischen und sozialen Gesichtpunkte bedacht werden, um aus Übergängen nicht Abstürze und aus Brüchen nicht Gebrochene werden zu lassen (Weinert 1989: 18). Jedoch greifen pädagogische Harmonisierungsversuche vor dem Hintergrund von historisch-institutionell verfestigter Strukturen oft nur bedingt.
2.1.1 Historische Eckpunkte der Ausbildung des gegliederten Schul!Jstems Die Entwicklung des deutschen Schulsystems in der Moderne zeigt im Hinblick auf die Chancengleichheit einen bemerkenswerten Verlauf. Dies lässt sich anhand zweier konvergenter Modernisierungsbewegungen erklären. Zunächst führt eine T. Wiedenhorn (eds.), Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, EIternund Lehrersicht, DOI 10.1007/978-3-531-93060-2_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
16
Grundlagen der Bildungsentscheidung in Baden-Württemberg
"Demokratisierung von Bildung" zu steigenden Zugangsmöglichkeiten aller im Schulwesen. Im 19. Jahrhundert wird unabgängig vom Besitzstand der Familien, von der regionalen und sozialen Herkunft, der Religionszugehörigkeit und dem Geschlecht des Einzelnen ein kollektiver Alphabetisierungs- und Grundbildungsprozess in Gang gesetzt. Eine zweite Bewegung der "Deklerikalisierung von Bildung" zieht eine verstärkte Verweltlichung und Verstaatlichung des Bildungswesens nach sich (paulson 1966: 171). In der Folge eines zwei Jahrzehnte andauernden Kulturkampfs zwischen Staat und katholischer Kirche muss der Klerus das Aufsichtsrecht über das Unterrichtswesen an die staatlichen Aufsichtsbehörden abgeben (Fenner 1987: 11). Auf mittleren und niederen Verwaltungsebene bedeutet das eine Stärkung der regionalen Schulautonomie (badisches Rgbl. 1834: 177 aus Schmidt 1931). Beide Verläufe lassen sich anhand zentraler gesellschaftspolitischer Entwicklungslinien in dem sich ausdifferenzierenden Bildungswesen nachweisen. Im Hinblick auf die Ausbildung der verschiedenen Schularten soll das anhand der historischen Entwicklung Baden-Württembergs deutlich gemacht werden. Ein wichtiger Startpunkt für die Gliederung des Schul- und Bildungswesens in Süddeutschland ist die Felbingersche Schulreform zum Ende des 18. Jahrhunderts. Für die Neuorganisation des Österreichischen Schulwesen ausgearbeitet, wird sie in Form der ,,Allgemeinen Schulordnung" bis 1779 in allen kaiser- und königlichen Erbländern eingeführt und unterschied drei Arten von Schulen: 1. Normalschulen, in der Hauptstadt jeder Provinz als Musterschule und Lehrerseminar. 2. deutsche Hauptschulen, in allen größeren Städten, jedoch mindestens eine in jedem Kreis und 3. die gemeine Deutsche- oder Trivialschule. Sie sollte es in allen kleineren Städten, Marktflecken und Landorten geben, in denen eine Pfarrkirche fehlte (Fenner 1987: 16). Entsprechend der finanziellen Möglichkeiten ihrer Einwohner, die mit ihrem Schulgeld den Schulmeister, weltlichen Lehrer oder Gehilfen unterhalten müssen, gibt es in den vorwiegend ländlichen Regionen nur eine Trivial- oder Elementarschule. In der Übergangszeit vom 18. ins 19. Jahrhundert bietet die deutsche Schullandschaft im Südwesten noch ein einigermaßen "buntes" Bild. Familien mit entsprechend finanziellen Mitteln konnten überregional auf "Vorschulen" und regional zwischen "Winkelschulen", " Kippschulen", "Nebenschulen", oder " H eckschulen" w ählen (Reyer 2006: 34). Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird das Angebot an Schulen mit staatlicher oder kirchlicher Oberaufsicht immer weiter verringert, weil sie eine erhebliche finanzielle Konkurrenz zu den etablierten Schulen darstellen. Die "Konkurrenz-Schulen" schmälern das Einkommen der Volkschullehrer, da sie der Grund für ein geringeres Schüleraufkommen sind. Zudem stellen sie das kirchlich-staatliche Schulmonopol in Frage und spielen in Anbetracht der strengen Oberaufsicht und Konkurrenzsituation in Württemberg und Baden eine untergeordnete Rolle (Mecking 1953). Nach dem Organisationsmanifest von 1806 gibt es aus den genannten Gründen keine katholisch und evangelisch ausgerichtete Volksschulen mehr (Friederich 1984).
Grundlagen der Bildungsentscheidung in Baden-Württemberg
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Lange Zeit empfinden Eltern die Teilhabe am Unterricht nicht als Privileg, weil damit erhebliche Folgekosten verbunden sind. In den bäuerlichen Großfamilien können sich viele Eltern einen Schulbesuch mehrere Kinder parallel nicht leisten. Zudem benötigten sie die Kinder als Arbeitskräfte in der heimischen Landwirtschaft. Ein Arbeitstag von bis zu 15 Stunden ist für die Heranwachsenden oft keine Seltenheit. Trotzdem gibt es staatlicherseits immer wieder das Bestreben die Schulbesuchspflicht durchzusetzen. Gesetzlich wird sie u.a, mit dem 13. Organisationsedikt von 1803 oder der Schulverordnung von 1855 geregelt. Es weist die Eltern an ,,[...] bey nachdrücklicher Strafe" (Reyer2006: 32) ihre Kinder im Winter täglich und im Sommer mindestens zwei- bis dreimal mit dem entsprechenden Schulgeld in die Schule zu schicken (ebd.). Schrittweise kommt es in allen deutschen Ländern zur Einführung und Durchsetzung der Schulpflicht, die sich auf der Grundlage der verbesserten 4. Erwerbslage und ohne Spezifikationen und Ausnahmen durchsetzen lässt. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein kontinuierlicher Anstieg der Schülerzahlen. Doch eine liberale Auslegung der Verordnungen gegenüber vermögenden Eltern lässt in beiden Ländern die Anstellung eines Hauslehrers zu, sofern dieser von der Normalschule geprüft und zugelassen ist (Ioos: 8). ,,Aber die Schulpflichtverordnung beider Systeme strichen zwei Gesichtspunkte besonders heraus: Erstens erhob der Staat einen öffentlich-rechtlichen Anspruch auf Beschulung seiner Untertanen auch gegen den Willen der Erziehungsberechtigten , damit staatliches Eigeninteresse in sozial- und staatspolitischer Hinsicht durchgesetzt werden konnte (Schulpflicht = Eltcrnpflicht) ; zweitens leitet der Staat auch diesem Er ziehungsanspruch sein Recht ab, mit verwaltungsrechtlichen Zwangsmaßnahmen die Schulpflicht durchs etzen zu dürfen (Schulpflicht Staatspflicht) (Friederich 1987: 126).
=
Mit der rechtlichen Regelung des Schulbesuchs setzt sich der Staat über die Interessen der Bürger hinweg und formuliert damit einen Machtanspruch auf das einzelne Individuum. Zugleich übernimmt er die Verantwortung für die staatlich reglementierte und strukturierte schulische Ausbildung, die einen Gleichheits- bzw. Chancengleichheitsanspruch impliziert. Der Anspruch, dass die "unteren Stufen bis zur Erkenntnis der individuellen Anlagen gemeinsam" (Dilthey 1971) verlaufen sollen, ist dabei ein weiterer Aspekt des neuen schulischen Gefüges. Die Umsetzung der Schulpflicht leistet in Württemberg und Baden einen Beitrag zur Lösung der sozialen Frage und zur gleichberechtigten Teilhabe an schulischer Bildung.
4
Gesetzliche Bestimmungen zur regionalen Schulpflicht u.a, durch die "prineipia regulativa" des Königs Friedrich Wilhe1m I. (1717) eingeführt, aber ihre Umsetzung lässt zu wünschen übrig. 1802 wird etwa in Bayern die allgemeine sechsjährigc Schulpflicht eingeführt, aber in der Realität gehen nicht mehr als 60% aller Kinder in die Schule (vgI.Herrlitz 200S: SOff.).
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Grundlagen der Bildungsentscheidung in Baden-Württemberg
Zu Beginn des 19.Jahrhundert leitet die aufkommende Industrialisierung eine Auflösung der ständischen Gesellschaft ein. Bis dato ist dem Einzelnen "sein Platz in der durch die christliche Glaubenslehre sanktionierten und legitimierten "gottgewollten" Ordnung" zugeteilt worden (Herrlitz u.a 2005: 15). Die soziale Herkunft bildet im Deutschen Reich den Kristallisationspunkt, aus dem sich Art und Umfang der gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten innerhalb der Stände begründet. Hierüber legitimieren sich weitere abgestufte Privilegien und juristische Rechtsoptionen, die auf die Bildungsmöglichkeiten und den Zugang zu bestimmten Berufsgroppen bezogen sind. Mit der fortschreitenden Ausbildung eines sozioökonomisehen Wirtschaftssystems im 19. und 20. Jahrhundert geht eine allmähliche Öffnung der ständischen Lebensordnung einher. In Städten wie Stuttgart, Mannheim, Freiburg und Ulm bildet sich eine bürgerliche Marktgesellschaft. In deren Kreisen spielen ökonomische Zweck-Kontrakte (Weber 1964: 514) eine wichtige Rolle. Es entsteht ein wirtschaftliches System von Arbeitsteilung auf der einen und notwendig gewordenen Verträgen zwischen juristisch gleichgestellten Rollenträgern (Herrlitz u.a.: 17) auf der anderen Seite. "Formal freie und rechtsgleiche Individuen sollten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse in einen ungehinderten gewaltlosen Tauschverkehr eintreten, um ihre gleichen Entfaltungschancen selbstverantwortlich und frei gestalten zu können." (ebd. 2005: 18). Schließlich stellt die Einführung der Gewerbefreiheit ab 1859 und das Niederlassungsrecht von 1810 eine wesentliche Grundlage für das Prosperieren der bürgerlichen Mittelschicht dar. Neben Adel und Klerus bildet sie die "dritte Kraft" im Staat und mit zunehmendem Einfluss können ihre bürgerlichen Erziehungsinteressen in den Vordergrund treten (Bohl 2000). In ihren Ämtern in regionalen Gremien wie Gemeinderat, Bürgerausschuss und Stiftungsvorstand tragen Bürger zur Ausgestaltung des staatlicherseits verordneten Schulwesens bei. Im Prozess der schulischen Weiterentwicklung gewinnen die Realien als Bildungsobjekte eine immer größere Bedeutung (ebd.). Die Begründungen für die Implementierung orientieren sich zum einen wie bei Johann J. Hecker an den neu geschaffenen Berufsbildern oder wie bei Basedow an der Vorstellung der Realien als notwendigem Bestandteil einer Bürgerbildung. Diese sollte seiner Ansicht nach in Bürger- und Realschulen vermittelt und als mitderer Abschluss zertifiziert werden. Wie Felbinger sieht auch Basedow eine gewisse Durchlässigkeit zwischen den jeweiligen Schularten vor. Die Idee der Reform- und Aufklärungsbewegung ist getragen von den wirtschaftlichen Umbrüchen und einer erheblichen Bevölkerungszunahme, deren gesellschaftsverändernde Konsequenz letztlich eine Reform des Bildungswesens notwendig macht. Als "verderblichen Wahn" postuliert Jachmann Bildungseinschränkungen in der Zeit, die geburtsständisch durch soziale Herkunft oder zukunftsbezogen durch den künftigen Beruf (jachmann 1812: 70) bedingt sind. Doch der von Neuhumanisten formulierte Anspruch der allgemeinen und freien Menschenbildung (Humboldt, v. W. 1986), der die Grundlage des Schulwesens sein
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soll, lässt sich mit den bestehenden Schulformen nicht umsetzen. Die Realsituation an den Schulen weist eine erheblich Diskrepanz zum pädagogisch formulierten Anspruch auf, wie das Beispiel einer Schule im Südwesten zeigt. "Mit dem Ansteigen der Schülerzahl in der hiesigen Volksschule stieg die Schülerzahl bis 1887 auf 345 Kinder an. Deshalb wurde im Stadtrat über eine Neueinstellung von 2 Lehrern diskutiert, obwohl die gesetzmäßig Mindestzahl von 100 Schülern pro Lehrer noch nicht erreicht war" (Fenner 1987: 60). Der Reformbedarf verschärft sich mit der technisch-industriell veränderten Arbeitswelt, die den Bedarf nach einem "weiterführenden" mittleren Schultyp mit berufsvorbereitendem und -bildendem Charakter dann auch offen zu Tage (Herrlitz, u.a. 2005: 109) treten lässt. Im 19. Jahrhundert tritt das Schulwesen mit den Allgemeinen Bestimmungen von 1872 und der Reichsgründung auch in Württemberg und Baden stärker in den Fokus der Allgemeinheit. Die Schularten werden auf allen Ebenen grundlegend erweitert, differenziert und umstrukturiert. Von der wirtschaftlichen und industriellen Weiterentwicklung profitiert insbesondere die mittlere Schulebene. Zunächst erhalten alle Einrichtungen zwischen Volksschule und höherer Schule die einheitliche Bezeichnung "Mittelschule" (Maskus 1979: 26; nach Bohl 2000). Sie sind weniger wissenschaftlich ausgerichtet als das Gymnasium und sehen als Regelfremdspache Französisch, in bestimmten Regionen auch Englisch vor. Nach unten bauen sie auf den Elementar- und Volksschule auf, die nach oben einen erweiterten berufsbezogenen Charakter haben und nach zähen Auseinandersetzungen auch weitere Zugänge in die Universität oder Technische Hochschulen ermöglichen. Damit kommt man von staatlicher Seite dem gesteigerten bürgerlichen Bildungsinteresse über die reine Untertanenerziehung hinaus nach. Als Ersatz für die lateinische und griechische Sprache dienen die "neuen" Sprachen, was den aufkommenden internationalen Handelsbeziehungen entspricht. Durch den Einsatz von naturwissenschaftlichen Fächern soll dem technischen, industriellen Wandel Rechnung getragen werden (Fenner 1987). Eingeführt werden unter dem Einfluss der falkschen Bestimmungen von 1872 (Herrlitz, u.a., 2005: 109) die Real- oder Mittelschulen in den Typen: 1a.) Realgymnasium, 1b.) Realprogymnasium, 2.) Realschulen oder 3.) Höhere Bürgerschulen. Auf lange Sicht ist allerdings der Qualifikationsbedarf der Industrie nicht allein durch Volks- und Mittelschul-Absolventen zu decken. Es entsteht in den 80er und stärker noch in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts ein differenziertes brachenspezifisches Fachschulsystem (ebd.: 110).
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Den einzigen Zugang zu Universitäten und Technischen Hochschulen bieten bis dahin nur die Lateinschulen und Gymnasien (Reyer 2006). Aufgrund des erhobenen Schulgeldes bleiben sie bis auf kleine Ausnahmen den oberen, zahlungskräftigeren Schichten' vorbehalten. Diese strukturelle Exklusion wird in der Folge des demografischen Wandels, der allmählich einsetzenden Demokratisierung und dem Grad an Technologisierung ab 1800 modifiziert. Auf Betreiben der bürgerlichen Mitte soll das Schulgeld für die weiterführenden Schulen abgeschafft und der Zugang an Hochschulen über Mittel-, Real- und Fachschulen ermöglicht werden. Es soll jedoch längerfristig die Durchlässigkeit des Schulwesens erhöht werden, um damit letztlich eine Erhöhung des vertikalen Bildungsaufstiegs zu ermöglichen. Von Beginn des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sind die meisten der beschriebenen Schularten als Ganztagesschulen angelegt gewesen. Der Schulunterricht reicht dort am Vormittag von 8.00 bis 12.00 Uhr und am Nachmittag von 14.00 bis 16.00 Uhr. Diese temporäre Zweiteilung orientiert sich am Arbeitsrhythmus eines Handwerkers. Auf Betreiben der höheren Schulen setzt sich Ende des 19. Jahrhunderts der Vormittagsunterricht mit der Argumentation durch, dass die Arbeitsbelastung durch den täglich 4-fachen Schulweg und den Hausaufgaben zu groß sei. In einigen Schulen lässt sich durch einen Tausch der Schülerschaft ein Schichtbetrieb einrichten. Nur auf diese Weise kann gerade in städtischen Gebieten die große Zahl an Schüler unterrichtet werden. Reformpädagogen weisen schon früh auf den Vorteil der Ganztagesschule hin, in denen nicht nur gelernt, sondern auch gelebt werden soll (vgl. Zickgraf 2006), was schon damals vor allem den Kindern aus weniger situierten Familien zugute kommt. Das 20. Jahrhundert ist in den ersten vier Dekaden geprägt von konstitutiven Wandelungen, Krisen und Kriegen und dennoch bringt die Weimarer Republik gegenüber dem Kaiserreich eine wesentliche Veränderung des Schulwesens. Die Einführung der obligatorischen Grundschule kann als Beginn des Umbaus eines segregierten Systems von höherer und niederer Bildung in ein nach der vierten Klasse vertikal verzweigtes Bildungssystem verstanden werden (Herrlitz 2005: 127).
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Ein Blick in die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte zeigt, dass die Menschen in den verschiedenen historischen Epochen und Kulrurkreisen immer in ein System von verschiedenen Kasten , Ständen oder Klassen eingebunden worden sind (Hadril 2001). Diese Einteilung wird bestimmt durch die Herkunft des jeweiligen Individuums oder dessen Besitz an Produktionsmittel und Machtpositionen. Darüber hinaus transformiert sich dieser soziale Status oder nicht Status von Generation zu Generation. Die traditionelle Schichtungsforschung des 20. Jahrhunderts sieht die als Schichten bezeichneten Statusgruppen einer Gesellschaft vertikal übereinander angeordnet, wobei zwischen diesen Statusgruppen entsprechend ihrer Ausstattung mit Vermö gen, Einkommen, Macht, Prestige und Bildung unterschieden wird. Zudem haben sich in fortgeschrittenen Industriegesellschaften, über die verschiedenen Schichten hinweg, horizontale Formen sozialer Ungleichheit herauskristaIlisiert. Daher wird die modeme, komplexere Sozialstrukrur in ncueren soziologischen Konzepten durch Begriffe wie Lebensstile, Milieus und soziale Lagen charakterisiert (vgl. Korte 1995: 145 fl).
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Der Kampf um die Verankerung und Erweiterung einer mitderen Schulart aufbauend auf der Grundschule und unterhalb des Abiturs unterstützt den Prozess. Mit den "Bestimmungen über die Mittelschulen in Preußen" (vgl. Stolzen; Remus 1931: 7ff.) erreicht der Differenzierungsprozess, der mit den Falkschen Bestimmungen von 1872 begonnen hat sein vorläufiges Ende (Herrlitz 2005). Die Vertreter der Länder einigen sich erst 1931 auf eine Lösung, die das mittlere allgemeinbildende Schulwesen, die höhere Schule in Normal- und Aufbauform, einbezieht (Stolze; Remus 1931). Dies gilt vor allem für Baden und Württemberg, die bislang über keine eigenständige Mittelschule verfügen. Für die bundesweite Entwicklung des höheren Bildungswesens stellen drei Entwicklungstendenzen einen langfristigen Wandel dar. Die allgemeinen Voraussetzungen hierfür gründen sich auf:
1.
2.
3.
Die differenzierte Ausgestaltung des Schulwesens in dessen Strukturaufbau bis 1918 lässt alle nachfolgen Reformen in den Entwicklungswegen fortschreiten und stellt sie nicht mehr grundsätzlich in Frage. Aus dem Grund verlaufen die zeitgenössischen Diskussionen um eine "Einheitsschule" nicht vor dem Hintergrund einer Ersetzung der vorhandenen Schularten, sondern auf eine Ergänzung im Schulsystem hinaus (Herrlitz 2005: 129). Seit den 1860er Jahren hat sich der moderne Interessenpluralismus auch auf die etablierten Bildungsinstitutionen ausgebreitet und das höhere Schulwesen mit Einflussmöglichkeiten und Interessenvertretern besetzt. In der Reichsschulkonferenz von 1920 wird rasch deutlich, dass ein einheitliches Schulwesen über Länderinteressen hinweg nicht zu machen ist (ebd.). Spätestens seit den 1890er Jahren hat sich das moderne Bildungsstreben so weit dynamisiert, dass sich der Zugang zu den weiterführenden Schulen durch "administrative Gegensteuerungen" nicht mehr be- oder eingrenzen lässt. Als grundlegendes Muster der Lebensplanung setzt sich immer mehr die Einstellung durch, dass steigender Besitz und sozialer Aufstieg der Kinder eine gute Ausbildung und Berufsbildung zur Voraussetzung haben (ebd.) ,
Es dauerte jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert, bis die strukturellen Ungleichheitsmechanismen, die sich nach der Herkunft ausrichten, über die entsprechende Zuweisung in die Schulart bis zur beruflichen Verortung durchbrochen werden können:
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I
Soziale Schichtung:
1. Oberschicht 2. Mittelschicht 3. Unterschicht
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Betriebliche Hierarchie und Qualifikationsanfordemngen:
Stratifikation des Bildungswesens:
r
1. Gymnasium 2. Mittelschule 3. Volksschule
i
""r
1. Öffentlicher Dienst 2. Militär 3. Privatwirtschaft
I
Abbildung 2.1: Reproduktion so:daler Ungleichheit durch Bildung (Becker; Lautenbach 2004:22) Der Wert der Schulbildung für Mädchen und junge Frauen bleibt in diesem Regelkreis über Jahrhunderte ohne Beachtung. Selbst die Elementarschulen, Mädchenund "Höhere Töchterschulen" bereiten die heranwachenden Frauen vorwiegend auf ihre Aufgaben in der zu gründenden Familie vor. Eine Berechtigung für den Zugang zur Universität wird Mädchen auch in der Höheren Töchterschule lange verwehrt. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird einem Teil dieser Schulen das Recht eingeräumt Abiturprüfungen abzunehmen. Schließlich problematisiert die erste Welle der Frauenbewegung die Fragen der geschlechterspezifischen Anteilnahme am Schulwesen und das Recht auf Bildung.
2.1.2 Vom schulischen Dualismus if/mgegliederten Schul.[ystem
Am Ende des 17. Jahrhundert kommt es zu einem Überangebot an klerikalen Akademikern, die sich um nicht ausreichend viele Dienststellen an Staats- und Kirchenämtern bemühen. Das sehen vor allem die gebildeten Bürgerlichen als Begrenzung ihrer Chancen an. In den folgenden Jahren führt der aufkommende öffentliche Druck zu einer Reform des Universitätswesens (Herrlitz 2005). Die Veränderungen wirken sich auch auf die oberste Schulebene aus. Bis in das Jahr 1810 werden aus 400 Lateinschulen im Land 91 als Gymnasien klassifizierte gelehrte Schulen (Fenner 1987). Als Schulabschluss ist für sie die Reifeprüfung vorgesehen, die einen gleichberechtigten Zugang zum Universitätsstudium ermöglicht. Es wird nach verbindlichen landeseinheitlichen Lehrplänen gelehrt und endgültig das Jahr-
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gangsklassensystem eingeführt. Ab 1834 kann nur noch derjenige ein Hochschulstudium beginnen, der das Abitur erfolgreich abgeschlossen hat. "Hier sollte die zukünftige Elite geschult und gesinnungsmäßig durchgeformt werden, in exklusiver Distanz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, zum Arbeitszwang und zur Lebensnot des einfachen Volkes . Und wegen dieses universalistischen Leistungsanspruchs hat sich das humanistische Gymnasium weder im Vormärz noch später nach unten vollständig abschließen können; je nach langfristigen Bedarfslagen blieb es für begabte Aufsteiger aus dem einfachen Volk immer ein stückweit offen" (Herr-
litz 200S: 38).
Zudem werden bis 1872 im Zuge der "Falkschen Bestimmungen" im gesamten Kaiserreich Mittel- und Fachschulen mit explizit gewerblicher, sprachlicher und kaufmännischer Ausbildung gegründet. Im Königreich Baden und Herzogtum Württemberg herrscht davor ein bildungsadministrativer Dualismus, der neben der Elementar- und Volksschule als weiterführende Schulen nur die Lateinschule oder das Gymnasium vorsieht. Die Trias der Schularten gründet auf der Grundlage eines gesellschaftlichen Schichtenmodells (Geiger 1987; Kecks 1968; Tönnies 1905; vgl. Abb. 2.1.1). Die Realschule ist hierbei die "Mittelstufe" zwischen dem einfachen Erwerbstätigen ohne Ausbildung und dem studierten Gelehrten auf der anderen Seite. Der realistische "formalbildende" Unterrichtsstoff soll nach Aussagen des Ulmer Gelehrten Nagels aus der "Einbindung" in die "lateinische Einheitsschule herausgenommen und zum eigenen Inhalt einer selbständigen Schule, der Realschule, umgeformt und um die mathematisch-naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Fächer konzentriert" werden (Kecks 1968: 210). Noch 1852 hat eine Realkommission das Bestreben in Richtung einer Dreigliedrigkeit für erstrebenswert befunden und ,,[.. .] mehrfach durchgreifende Änderungen in der damaligen Einrichtung des fraglichen Unterrichtszweiges, [. . .] gefordert, aber es war wohl noch nicht an der Zeit (ebd., 222). Mit den Falkschen Reformen wird ein Differenzierungsprozess initiiert, der den "weiterführenden", berufsorientierenden Charakter der Real- oder Bürgerschule gegenüber der elementaren Volksschule deutlich betont (Herrlitz, u.a. 2005: 109). Auf dem Gebiet des Herzogtums Württemberg richten zwischen 1783 und 1834 rund 20 Städte Mittel- oder Bürgerschulen ein. Die erste Gründung gibt es 1783 in Nürtingen, wo Herzog Karl Eugen der Plan zur Errichtung einer "Bürgerschule für Künstler, Professionisten und Handwerker" vorgelegt worden war (Blattner 2000: 3). In Baden kann das Großherzogtum im Südwesten bis zum Schuljahr 1901/02 schon 12 Bürgerschulen einrichten, die rund 600 Schüler und Schülerinnen aufnehmen können (Fenner 1987: 67). Im Südwesten ist in der mitderen Schulform ein Konglomerat aus verschiedenen weiterführenden Schulen, wie die höhere Mädchenschule, die Knaben-, Stadt- und Bürgerschule u.a.m, aufgegangen. Sie muss sich in einem segregierten
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System zwischen Volksschule und Gymnasium behaupten. Aus der klassischen Mittelschule, die im Kampf um die Verankerung und Erweiterung mit mitderer Berechtigung unterhalb des Abiturs bis dahin eine wichtige Triebfeder darstellt, geht in Baden-Württemberg erst flächendeckend 1964 die heutige Realschule hervor. Der Zugang zum Gymnasium oder Realgymnasium ist in den allermeisten Fälle der obersten gesellschaftlichen Schicht vorbehalten und trotz der allgemeinen Schulpflicht durchlaufen wohlhabende Kinder oft nicht wie vorgesehen die Elementar- oder Trivialschule. Im Südwesten bereiten sie sich meist mit Hilfe eines Privatlehrers auf den Übergang in ein Gymnasium vor. Im Schuljahr 1902/03 besuchen im Südwesten rund 95% aller Schülerinnen und Schüler nach der vierjährigen Grundschulzeit die Volksschule. Dafür sorgen nicht nur die statusbezogenen Zuweisungen der Lehrer, sondern auch das Schulgeld, das fehlende regionale Angebot an weiterführenden Schulen und eine mangelnde Beratung der Eltern. Einer "Objektivierung" der Übergangsauslese sind enge Grenzen gesetzt (Naves 1962: 134) und in den entsprechenden Schulgesetzen fallt die Formlosigkeit des Aufnahmeverfahrens auf. Die finanziellen Aufwendungen für die Schule sind wohl das stärkste Selektionsinstrument und sie sorgen für einen "natürlich" dualen Zuweisungsmodus. In den preußischen Richdinien für die "Aufnahme in die mitdere und höhere Schule" vom 12. März 1924 (Stolz; Remus 1931: 282ff.) wird einerseits auf mögliche Kooperationen von Lehrern beim Schulübergang und andererseits auf die Verbindung von meritokratischen und sozial gesteuerten Elementen verwiesen. In der weiterführenden Schule wird eine negative, vorrangig eigen gesteuerte Auslese vorangetrieben, die Strukturen sind implizit so angelegt, "dass der demokratische Anspruch an eine Prüfung "aller Leistungsfähigkeiten nicht offen verletzt wurde" (Herrlitz, u.a., 2005: 122). In der Praxis hingegen ist es eine soziale Auslese, die noch stärker als heute auf den vom Schüler mitgebrachten Wissenshintergrund und Ressourcen basiert.
2.1.3 Von der historischen Genese:(!lr Bildungsexpansion der60erJahre Die Standardgeschichte der Grundschule umfasst nicht nur deren eigene Genese, sondern sie ist auch eine grundschulpädagogische Geschichte (Tenorth 2000: 541). Der Entwurf einer integrierten Eingangsstufe, in der alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden, hat nach 1918 die standes- und konfessionsorientierte Vorschule abgelöst (Einsiedler; Götz, Hacker; u.a, 2001: 30). Mit den Freiheits- und Demokratiebestrebungen von 1848 wird erstmals der Ruf nach einer schulischen Gleichbehandlung in einer Einheitsschule laut. Eine Petition von 500 Lehrern in die Frankfurter Nationalersammlung enthält die Forderung, dass "nicht nur der zufällige Besitz [...] die zukünftige Lebensrichtung bestimmen dürfe, sondern nur noch die Befähigung des Kindes. Zudem wird ne-
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ben einer gemeinsamen Volksschule die Abschaffung des Schulgeldes verlangt (Knörzer, u.a. 2000: 32). Ihre Geschichte unter dem Begriff der Grundschule beginnt in der Weimarer Republik . In dieser Zeit erfährt sie eine Ausgliederung aus der Volkschule und erhält den Status einer eigenständigen Schulart. Die Lesart ihrer Entwicklung scheint eine Erfolgsgeschichte zu sein, die einem erstaunlich kontinuierlichen Erzählmuster folgt (Tenorth 2000). Die Grundschule als undifferenzierte Elementar- bzw. Grundschule, in die alle schulpflichtigen Kinder, außer denen, für die eine sonderpädagogische Beschulung vorgesehen ist, mit Beginn der Schulpflicht eingeschult werden, gibt es auch in Baden-Württemberg seit der Einführung des Grundgesetztes 1918. Bis 1919 ist die Grundschule teils dem niederen oder höheren Schulwesen zugeordnet und fungiert nicht selten als Vorschule für die höheren Lehranstalten (Sandfuchs; G ötz 2001). Mit dem faktischen Umbau geht eine grundlegende Neuordnung des Schulwesens einher, die langfristig zur Aufgliederung in Primar- und Sekundarstufe führt. Ausgangspunkt der Implementierung ist das staatliche Verbot privater "Vorschulen und Haus- und Privatlehrer" bei paralleler gesetzlicher Verordnung von Elementar- oder Grundschulen. Diese Initiative soll eine weitere schichtspezifische Abspaltung bestimmter Bevölkerungskreise verhindern. Es ist die verpflichtende, unentgeltliche Bildungsinstitution für alle Kinder, die der neu etablierten Grundschule eine weitreichende sozialintegrative Funktion zukommen lässt. Viele betuchte Städter hält das aber nach wie vor nicht davon ab ihre Sprösslinge weiter in die gut ausgestatteten privaten Einrichtungen zu schicken. Abgeschreckt werden sie von dem allgemein schlechten Zustand der staatlichen Kinderzucht, was ihrer Ansicht die Ursache hat , dass viele ,,[. ..] Eltern selbst nicht gebildet waren" (Götz 1971). Die Weimarer Koalition verankert für den gesamten Staat eine einheitlichobligatorische Primarstufe im Grundschulgesetz vom 28.04.1920. Dieser Schulartikel wird in die Reichsverfassung der Weimarer Republik aufgenommen und die Grund- oder Elementarschule als Teil der Volksschule etabliert. Die Verknüpfung der pädagogischen und staatlichen Vorstellung ist eine Schule, die den demokratischen Ansprüchen und den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden soll. Formal ausformuliert, liest sich ihre Funktion im Gesetzestext so: "Die G.[rundschule] ist diejenige Stätte in unserem deutschen durch Art. 146 der Reichsverfassung im Prinzip begründeten Ei nh eitsschulwesen [. . .], der alle Kinder des deutschen Volkes die Hälfte der für die Volksschulbildung überhaupt vorgesehenen Zeit angehören müssen. Sie hat nicht bloß altgeheiligte und lebensnotwendige Elementarfächer, sondern sie soll die Einwurzelung des Kindes in seine geistige Heimat [. . .] anbahnen (Eberhard s.v.: Grundschule. RGG, 2. Auf}. (1927-1932),2. Bd. Sp 1514-1518 . zit, nach Tenotth 2000: 543.
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Der Schulrat, nach dem diese Textstelle zitiert ist, versieht die Zuschreibung schon damals mit den Hinweisen, dass die Forderung des Deutschen Lehrervereins auf eine sechsjährige Dauer (Sp. 1514) unberücksichtigt geblieben ist. Die Polemik bürgerlicher Eltern gegen die "Zwangsvierjahre" (Sp. 1518), die die Grundschule für "begabte und reife Schüler" darstellt und deren Forderung nach einer Verkürzung der Schulzeit auf drei Jahre, fügt er ebenfalls mit an (zit, nach Tenorth 2000: 543). Im Verbund mit den anderen Schularten stellt die Grundschule einen wichtigen Bestandteil des "organisch ausgestalteten Schulsystems" dar, so wie es der "Weimarer Schulkompromiss" vorsieht: "Die Grundschulklassen (-stufen) sollten unter voller Wahrung ihrer wesentlichen Aufgaben als Teile der Volksschule zugleich die ausreichende Vorbildung für den unmittelbaren Eintritt in eine mittlere oder höhere Lehranstalt gewährleisten (§ 1, Abs, 2 des Grundschulgesetztes vom 28.04.1920. zit, nach Michael; Schrepp Bd. 2:76)."
Zum ersten Mal in der deutschen Schulgeschichte ist die frühe Selektion von höheren und niederen Bildungsgängen durchbrochen. "Indem alle Schüler - bis auf die Hilfsschüler - zum Besuch der unteren vier Klassen verpflichtet wurden, bekam diese Schulstufe die Funktion der Zuteilung der Schüler auf die voneinander getrennten Zweige der Gymnasien, an Mittelschulen und der oberen Klassen der Volksschule" (Herrlitz, u.a 2005: 122). Im Anschluss an diese und eine Reihe weiterer grundlegender Veränderungen kann mit einem Andrang von Schülern auf die mittleren und höheren Schulen gerechnet werden. Um einen Ansturm auf die weiterführenden Schulen zu verhindern, verschärft das Ministerium (Stolz; Remus 1931: 291ff.) zugleich die meritokratischen Elemente. Es macht den Übergang von einem schriftlichen Gutachten und von den Grundschulzeugnissen abhängig. Kommt zu einem Überangebot an Bewerbern auf die weiterführenden Schulen wird eine (mündliche) Prüfung vorgeschaltet. Diese Maßnahme soll eine "sachlich besser begründete verschärfte Auslese" ermöglichen (ebd. 292ff.). Diese Auslesepraxis hat bis weit in die Nachkriegszeit bestand. Erst auf der Grundlage einer verbesserten wirtschaftlichen Lage der Gesamtbevölkerung und der kritischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit sind auch in der Bildungspolitik weitere umfassende Reformen möglich. Knapp ein halbes Jahrhundert nach der Einführung einer verbindlichen vierjährigen Grundschule soll sie einer breiten Masse die schulische Option auf einen von sozialen Gesichtspunkten unabhängigen Zugang in die höheren Schularten ermöglichen.
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2.1.4 Bildungsexpansion der 1960- und 70erJahm - eine Option./Ur mehr Chancengleichheit? Die Ambition zur Verwirklichung einer "offenen Gesellschaft" in den 70er Jahren ist auch an eine weitgehende Durchlässigkeit der Schulformen mit einem hohen Anteil an "intergenerativer sozialer Mobilität" (Vaskovics 2004: 128) geknüpft. Ab Mitte der sechziger bis Ende der siebziger Jahre sollen überproportionale Investitionen von Bund und Ländern in das Bildungswesen zu einem gesteigerten Bedarf an qualifizierenden Abschl üssen bei gleichzeitiger Anhebung der Qualität von institutionalisierter Bildung und Ausbildung führen. Die Zielsetzung für die aufkommende Bildungsexpansion ist hinsichtlich des Aspekts der Chancengleichheit, "[...] die Bedingungen des Lernens so zu organisieren, dass alle Schüler, ungeachtet ihrer Herkunft und anderer Merkmale, die gleiche Aussicht auf Bildungserfolg haben" (Teichler 1974: 203). Unter dem Begriff der Bildungsexpansion sind in der Regel eine gesteigerte Bildungsbeteiligung, eine längere Verweildauer in den Bildungsinstitutionen und eine Zunahme an höheren Bildungsabschlüssen gemeint. Im Hinblick auf den Abbau von Bildungsungleichheit zeichnet sich jedoch ein ambivalentes Bild (Becker 2003). Während geschlechtspezifische Ungleichheit im allgemeinen Schulwesen bis heute mehr als abgebaut werden konnte, sind " Bildungschancen (. ..) schichtspezifisch verteilt und existieren - wenngleich abgeschwächt - weithin in Stadt-Land-Unterschieden" (Henz; Maas 1995) und es bleiben ausländische Jugendliche bzw. Migrantenkinder die am stärksten benachteiligte Gruppe im Bildungssystem (Solga;Wagner 2001). Im nachfolgenden Abschnitt sollen die Grundmuster der Bildungsexpansion, die verschiedenen Ansichten der Realisierung von Chancengleichheit und die Argumentationslinien hierfür aufgezeigt werden. Die Bildungsexpansion in den 60er und 70er Jahren hat ihre Wurzeln in der Schulentwicklung vornehmlich des 19. Jahrhunderts (Müller, u.a. 1997) und in der Zwischenkriegszeit (Blossfeld 1993). Müller u.a. machen drei Phasen der Bildungsentwicklung in diesen Ausdehungsphasen innerhalb Europas aus. Eine erste Etappe zeichnet sich zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg ab, in der sich nationale Bildungssysteme institutionell etablieren. Staatlich entwickelte Verwaltungen übernehmen zusehends anstelle der Kirche die Aufsicht über die Bildungsinstitutionen. Die Umsetzung der gesetzlichen Schulpflicht ermöglicht allen Kindern einen Zugang zur Elementarschule. Somit soll ein Mindestmaß an Grundbildung vermittelt und der Analphabetismus auf ein Minimum reduziert werden. "In einer 2. Etappe nach dem 1. Weltkrieg kam es im Zuge der Institutionalisierung der Demokratien in Europa zu einem breiten Zugang aller Bevölkerungsschichten zu weiterführender Schulbildung im Sinne einer Massenbildung" (Hadjar; Becker 2006: 12). Nach Becker und Hadjar ist mit der Einführung der Grundschule 1919 und der gleichzeitigen Aufhebung des parallelen Verlaufs von Volkschule und Gymnasium ein Anstieg der Schülerzahlen bei einer stärkeren Gliederung des Schulwesens zu verzeichnen. Es entstehen
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institutionell festgeschriebene Übergänge, die den Zugang in die einzelnen Schulformen regeln. Doch bleibt der Mehrheit der Bevölkerungsschichten ein Übergang in weiterführenden Schularten zunächst aus finanziellen Motiven verwehrt. Eine Grundbildung soll nach dem gesellschaftlichen Willen auch über die Volkschule zu verwirklichen sein. Eine dritte Phase der Bildungsexpansion lässt sich für die Bundesrepublik in den 1960er und 70er Jahren ausmachen. Sie ist politisch motiviert und durch eine Bildungsreform eingeleitet. Den Zugang in die Sekundarstufe gilt es gezielt zu erweitern, auch wenn die Schülerschaft in den einzelnen Schularten dadurch heterogener wird. Noch immer ist der größte Teil der Schülerinnen und Schülern aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit, Konfession, regionalen Herkunft oder ihres Geschlechts aus der weiterführenden Schule exkludiert (Hadjar; Becker 2006). Anfang der 60er Jahre besuchen noch zwei von drei Kindern die Volksschule, wobei die Chance einen Übergang in die weiterführende Schule zu realisieren bei 0,7% liegt (peisert 1967: 19). Das Ausmaß an Gleichheit bzw. Ungleichheit des damaligen Bildungssystems lässt sich eindringlich in der "Kunstfigur" des katholischen Mädchens vom Lande abbilden. Sie charakterisiert die vier Felder der Chancenungleichheit, wovon lediglich die konfessionelle heute gänzlich an Bedeutung verloren hat (Klemm 1999: 2). Aufgezeigt wird der Misstand über eine empirische Forschung von Peisert, der in einer langjährigen Arbeit Volkszählungsdaten aus dem Jahr 1961 auswertet. Als Reaktion folgt eine vornehmlich bildungsökonomisch motivierte Initiative zur "Ausschöpfung der Begabungsreserven", die die demokratietheoretisch begründete Forderung nach mehr "Chancengleichheit im Bildungswesen" (Lersch 2001: 140) einschließt. Seit Beginn der 60er Jahre stehen der wirtschaftliche Modemität- und Qualifikationsrückstand und die Appelle nach Abbau von sozialen Ungleichheiten der Klassen- und Sozialstruktur im Mittelpunkt eines breit geführten gesellschaftlichen Diskurses. Das Schlagwort von der "Deutschen Bildungskatastrophe" (picht 1964) oder der Dahrendorfschen Formel von der "Bildung als Bürgerrecht" (Dahrendorf 1965) bringen die ursprüngliche Reaktion auf die tiefgreifende ökonomische Rezension pointiert auf den Punkt. Für das deutsche Bildungswesen ist eine umfassende und breit angelegte Expansions- und Reformbewegung die Folge. Besonders in strukturschwachen Regionen werden unzählige Schul- und Hochschulneubauvorhaben geplant und letztlich mit enormem finanziellem Aufwand realisiert. Ganz gezielt soll damit die "Bildungsabstinenz der Arbeiterschaft" verringert werden. "Die Bildungsausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden verfünffacht sich von 17,5 Mrd. DM im Jahr 1965 auf 77,1 Mrd. DM in 1980. Ihr Anteil am Bruttosozialprodukt steigt somit im gleichen Zeitraum von 3,4% auf 5,2%" (1975 sogar einmalig auf 5,5% vgl. Weiß 1995, nach Lersch 2001: 142). Das vornehmliche Ziel der Bildungsexpansion der 3. Phase ist die "Ausschöpfung der Begabungsreserven", die in den bildungsfernen Schichtet vermutet werden (Floud
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1967), und die Erhöhung der "Chancengleichheit durch Bildung" (Friedeburg 1992 198). Getragen von sozialstaatliehen und wirtschaftlichen Motiven ist das Ziel einer expansiven Bildungsbeteilung zur Chancengleichheit aller Beteiligten beizutragen. Mit gezielten bildungspolitischen Vorgaben werden im Schulwesen Hindernisse, Hürden und Schwellen abgebaut. In der Sekundarstufe 1 soll eine zweijährige Orientierungsstufe die Durchlässigkeit erhöhen und Aufnahmeprüfungen für die Realschule und das Gymnasium den Zugang in die beiden Schularten erleichtern. Die bundesweit eingeführten Gesamtschulen sollen als ergänzende Schulart Kindern und Eltern die Wahl eines Bildungswegs lange offen halten, gemeinsames Lernen über die vier Felder der Ungleichheit hinweg ermöglichen und frühe soziale Exklusion vermeiden helfen (Klemm 1999). Arrangieren lassen sich die ressourcenintensiven Maßnahmen auf der Basis eines kollektiven Wohlstands und der Vorstellung, dass für diese Bildung ein unverzichtbares Mittel darstellt.
Ursachen undErklärungenftir die Bildungsexpansion Für den Prozess der Bildungsexpansion kommen zwei Faktoren als Ursache zum Tragen. Becker (2000a, 2003) unterscheidet als endogenen Faktor die zunelunende Eigendynamik des Prozesses, die mit den exogenen Faktoren eines ökonomischen und politischen Wandels einhergehen. Neben den Ursachen und Gründen für die Bildungsexpansion gilt es nachfolgend ein Erklämngsmuster zu suchen, das den Zusammenhang von Individuum, Bildungsniveau und eröffneter Bildungschance aufzeigt. Theoretisch lassen sich zwei gegensätzliche Erklärungsmodelle unterscheiden. In einem bildungsökonomischen Ansatz wird "die menschliche Arbeitskraft vor allem als Humankapital im Wirtschaftssystem betrachtet [vgl. kritisch zu diesem "Manpower-Ansatz" Hartung; Nutlunann; Teichler 1976)", und die Vermittlung von Bildung und Wissen unter dem Aspekt des Mehrwerts des Wirtschaftswachstums gesehen. Die stärkere Nachfrage nach Bildung vor allem in den 60er und 70er Jahren erklärt sich in dem Ansatz durch eine hohe Rendite, die aus Bildungsinvestitionen ableitbar und kalkulierbar (Müller u.a 1997: 180) ist. Setzt in einem Wirtschaftsraum eine Phase des Wachstums und technisch- und technologischen Fortschritts ein, bildet sie die Grundlage einer möglichen Bildungsexpansion. Für den Einzelnen müssen Bildungsinvestitionen und das Erreichen höherer Einkommen in Zusammenhang stehen. Bei einer verminderten Bildungsexpansion lassen sich der These zufolge Ausbildungsinvestitionen nicht mehr in höhere Gewinne überführen (Hadjar; Becker 2006) und die Nachfrage nach Qualifizierung nimmt allmählich ab. In den 60er Jahren wird die Konkurrenzsituation zwischen den Einzelstaaten als Ursache für ein mögliches Zurückbleiben Deutschlands gegenüber den Nachbarstaaten ausgemacht. Der drohende Facharbeitermangel sei einer der entscheidenden Gründe für ein Zurückbleiben hinter der Konkurrenz aus
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anderen Ländern. "Die Begründung für eine Steigerung des Qualifikationsniveaus zielte folglich darauf ab, den diagnostizierten Bildungsnotstand (vgl. Picht 1964) zu beseitigen, indem die "Begabungsreserven", mithin die von sozialer Ungleichheit Betroffenen in der Gesellschaft, ausgeschöpft werden sollten (preißert 2003)". Dieser Forderung liegt ein Paradigmenwechsel im Verständnis von Begabung und Lernen (Roth 1980) zugrunde, der eine Gleichbehandlung und den Abbau von Ungleichheit impliziert. Er legt die Ablösung eines statischen durch einen dynamischen Begabungsbegriff zugrunde. Verbunden ist damit die Vorstellung, dass alle Kinder von Geburt an nicht nur das gleiche Potential besitzen, sondern auch in der Lage sind dieses durch eine adäquate Förderung in entsprechende Bildungszertifikate umsetzen zu können. Ein zweiter stärker an Gesellschaftsreformen orientierter Ansatz stellt hingegen die "Legitimität von sozialen Unterschieden in der Gesellschaft aufgrund askriptiver Merkmale der Menschen infrage (ebd.: 123)." Den Bildungsinstitutionen kommt dabei die Rolle der Vergabeinstanz von Sozialchancen zu (Sche1sky 1957: 17). Schelsky charakterisierte die Schulen als zentrale soziale Dirigierungsstellen für den künftigen sozialen Rang und das Ausmaß der Konsummöglichkeiten. Bildung wird zum gesellschaftlichen Mittel der Differenzierung und Selektion, da sie als "Bildungsmeritokratie" entworfen ist. Einzig die individuelle Leistung soll Berufsposition und sozialen Status begründen. Die "Politik der offenen Gesellschaft" scheint Chancengleichheit als gesellschaftspolitisches Mittel zur Behebung von Qualifikations- und Legitimationsdefiziten zu verstehen. Damit wird dem Bildungssystem eine neue gesellschaftspolitische Funktion zugeschrieben, die Hanf u.a. (1975) als Wandelthese beschreiben. Sie besagt, dass ,,(...) das Bildungswesen in entscheidender Weise die Verteilung von Einkommen und Status beeinflusst und damit die Struktur der Gesellschaft" (ebd.). Wenn das Bildungswesen eine Veränderung erfährt, so folgt dieser auch eine auf gesellschaftlicher Seite. Für Anhänger dieser These ist mit Dahrendorf der 'Wandel der Bildung der Hebel der Gesellschaftspolitik' (ebd.: 128). Unter dem Motto "Bildung als Bürgerrecht" (Dahrendorf 1965) formuliert er die Chancen auf Selbstverwirklichung und Entfaltung der eigenen Pers önlichkeits, Die Reform der gesellschaftlichenVerhältnisse, das gesellschafts-politische Ziel eines individuellen sozialen Aufstiegs (vgl. kritisch Kappelhoff 2000) durch "lebenslanges Lernen" sowie die Bereitschaft zur Mobilität und Flexibilität sind kongruent, denn durch bildungspolitische Anstrengungen soll 6
In einen Vortrag entwickelt Regine Aeppli einige interessante Thesen zur Funktion von Bildung, die ihrer Ansicht nach u.a, ein "Cornmon good" ist. So geht sie davon aus, dass Bildung nicht verkauft oder gekauft werden kann. Bildung kann also als ein Menschenrecht gesehen werden, wobei das Allgemeingut Bildung bei weitem nicht von allen freiwi1lig geteilt wird. Der Zugang zu Bildung wird zum Beispiel durch Studiengebühren, teuren Lehrgängen und Bücherkosten erschwert. Die Aufgabe eines "öffentlichen Bildungswesen" besteht darin den Zugang zur Bildung zu wahren.
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die individuelle Mobilität erhöht und in ihrer Folge auch die Ungleichheitsstruktur in der Gesellschaft abgemildert werden (preißert 2003). Das Ziel der staatlichen Reform des Bildungssystems besteht folglich darin, "über ein System von Vorklassen, Förder- und Orientierungsstufen, Leistungskurssystemen und Spezialisierungen das leistungsstarke, kompetente, den wechselnden Berufserwartungen gewachsene und 'selbstverantwortlich' handelnde Individuum" auszubilden (Trotha 1982: 271, sich auf den Bildungsgesamtplan 1973 beziehend) . Eine Zielsetzung besteht nach Teichler darin, "die Bedingungen des Lemens so zu organisieren, dass alle Lernenden, unbeschadet ihrer Herkunft und anderer Merkmale, die gleiche Aussicht auf Bildungserfolg haben" (Teichler 1974: 203). Doch stellt sich bald heraus, dass trotz erhöhter individueller und kollektiver Mobilitätschancen die übergänge in weiterführende Schulen immer noch bestimmt sind vom sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilie. Die angebliche Durchlässigkeit bezieht sich am ehesten noch auf die Mittelschicht (vgl. Daheim 1961, Kleining 1971/75, Bolte 1988). So lautet eine weitere richtungsweisende Hypothese, dass sich die Arbeitsplatzerfahrungen der Eltem maßgeblich auf die Erziehungsziele und Erziehungspraktiken auswirken. Die Eltemwünsche ändem sich nach der Bildungsexpansion in den 70er Jahren entsprechend der neuen Verteilung der Eltemberufe nach Arbeitem (47,8%), selbständigen Erwerbstätigen (14,2%) und Akademikem, Beamten und leitenden Angestellten (38%) hinsichtlich der Schulart. Die elterliche Erwartungshaltung hat sich über diesen Zeittaum den veränderten Bildungschancen angepasst. Beck interpretiert diese empirischen Daten als "Fahrstuhleffekt": Es kann insgesamt ein Anstieg des Bildungsniveaus verzeichnet werden , aber die vertikale über- und Unterordnung in der sozialen Hierarchie bleibt dadurch unverändert. "Weitere Bedingungen für die Perpetuierung der sozialen Ungleichheit stellen die unterschiedlichen schichtspezifischen Bildungschancen, schichtspezifischen Vererbungsströme, aber auch die relative Stabilität der Familienstruktur der vorherrschenden traditionellen Kemfamilie und die relative Undifferenziertheit und traditionelle Festlegung der Elternrolle in der vorherrschenden Kemfarnilie dar" (Vaskovics 2004: 128). So haben Eltem von Mittel- und Oberschichtkinder einiges in die höhere Bildung und Weiterbildung ihrer Kinder investiert, mit der Erwartungshaltung, diese vor dem sozialen Abstieg zu bewahren und bestenfalls eine Aufstiegschance zu haben. Für eben diese Gruppe lässt sich zeigen, dass sie nur im Umfang ihres prozentualen Anteils an der Gesamtbevölkerung von der Bildungsexpansion profitieren können. Bis heute bildet die Grundschule in Deutschland die Primarstufe des Schulwesens. Sie stellt nach wie vor ein Bindeglied zwischen dem Elementarbereich und der gegliederten Sekundarstufe 1 dar. Mit der Einschulung in die Grundschule ab dem 5. Lebensjahr beginnt für alle Schülerinnen und Schüler die allgemeine Schulpflicht. In Baden-Wfuttemberg ist sie eine Regelschule mit schulrechtlich selbständiger Organisationseinheit (Einsiedler, W.; u.a. 2005: 30). Die pädago-
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gische, organisatorische und strukturelle Gestaltung ihrer Übergänge und die Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtsaufgaben für eine heterogene Schülerschaft stellen zwei zentrale Aufgaben für die aktuelle Prlmarbildung dar. Um dieser gerecht zu werden bedarf es einer Anbindung an die Grundschulpädagogik und die Erziehungswissenschaft (ebd.: 11). Mit den Ergebnissen der PISA-Studie und deren empirischem Nachweis, dass 15-Jährige mit niedriger sozialökonomischer Herkunft und Migrationshintergrund erhebliche Kompetenz- und Leistungsdefizite aufweisen, rückt für die Grundschule neben dem Problemfeld der Heterogenität auch die soziale Disparität von Schulleistungen in den Blickpunkt (Cortina, K S. u.a. 2008: 325). Es zeigt sich vor allem, dass die schulischen Leistungen der Gruppe von Kindern mit Migrationshintergrund, die in der zweiten Generation hier leben, gegenüber der Elterngeneration noch abgesunken sind. Von Beginn an erhält die Grundschule die Aufgabe Kinder aus sozial benachteiligten Schichten besonders zu fördern . Diese Forderung bekommt in Deutschland sogar Verfassungsstatus (Neuhaus 1974) und ist in die Formulierung einer "gemeinsamen Bildung" für eine einheitliche Grundschule eingeflossen. Bis heute spielt der Anspruch eine wichtige Rolle, wie aus den jüngst diskutierten Fördermaßnahmen und Aufgabenschwerpunkten zu erkennen ist:, wie die Ausweitung der Grundschule auf die Jahrgangsgruppe der 5-Jährigen., die Einführung von Sprachfördermaßnahmen in den gesamten Elementarbereich., der Aufschub der Selektion im vierten Schuljahr und längeres gemeinsames Lernen oder die Einführung von Ganztagesschulen (Cortina, K S. u.a. 2008: 328). Denn die Grundschule hat seit der Weimarer Republik ein Bildungsverständnis, das sich nicht ausschließlich auf die Vermittlung der Kulturtechniken wie Lesen, Rechnen und Schreiben bezieht (Einsiedler 2005), sondern die Allgemeinbildung anbahnt. Ihr Anspruch ist es eine umfassende Persönlichkeitsbildung in Bereichen wie Ich-Stärke und Ich-Identität, Selbstwertgefühl und Selbstkonzept zu vermitteln. Dabei sollte Heterogenität für das einzelne Kind nicht, wie umgangssprachlich üblich, als das "Ausmaß der Abweichung von einer Norm" verstanden werden (Cortina, K S. u.a. 2008). Es ist eine differenzierte pädagogische Sicht auf Heterogenität notwendig, die den Kontext als Unterschied in den Entwicklungsmustern auffasst und positiv als Individualität und Einzigartigkeit interpretiert. Dass die Unterschiedlichkeit nicht nur auf schulische Leistungen begrenz bleibt, sondern vor allem im Hinblick auf Geschlecht, Kultur, Sprache, ethnische Herkunft, Sozialstatus und familiäre Strukturen gesehen werden muss, die Aspekte der physischen und psychischen Ausstattung mit einbezieht, wird häufig vergessen (ebd.: 330).
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2.2 Der gegenwärtige organisatorische, rechtliche und personale Rahmen der Bildungsentscheidung Um im Schulsystem eine prinzipielle Affinität und Vergleichbarkeit zwischen den einzelnen Bundesländern zu erzielen, legt sich die Bundesrepublik mit dem Düsseldorfer Abkommen (1955) auf die dreigliedrige Struktur nach Volkschule, Mittelschule und Gymnasium fest . Das Hamburger Abkommen (1964) stellt darüber hinaus die "Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens" sicher (Harazd 2007). Geregelt ist demnach die Anerkennung von Prüfungen und Schulpflicht in den verschiedenen institutionellen Organisationsformen. Der Versuch die Ausführungen in den einzelnen Ländern aufeinander abzustimmen und anzugleichen soll über die "Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK)" der Landesminister bzw. Senatoren realisiert werden. Mit diesem Gremium gilt es, die Unterschiedlichkeit der Systeme in einem Mindestmaß auszutarieren. Alle Bundesländer folgen zudem nach Artikel § 7 Abs . 1 des Grundgesetzes dem föderalen Prinzip, wonach die Gesamtaufsicht über das Bildungswesen beim Staat liegt. Die Realisierung der Bildungsarbeit steht aber dennoch in der Zuständigkeit der einzelnen Länder, während die Gemeinden und Städte auf kommunaler Ebene die Räumlichkeiten, Ausstattung, sowie das Wartungs-, die Verwaltungs-, Instandhaltungsund Reinigungspersonal bereitstellen. Die Aufteilung der Bildungsaufgaben wird im Grundgesetz mit der Formulierung präzisiert: "Die Ausübung der Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist die Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt" (GG. Art. 30). Die Struktur des Schulsystems zeichnet sich durch diese multizentrale Aufteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aus, die einem demokratischen Grundsatz entspringt. Vertikal lässt sich das Schulwesen in eine Primar- und Sekundarstufe einteilen, in der die Klassenstufen 1 - 4 die Primarstufe bilden, auf die die Klassen 5 -10 als Sekundarstufe 1 aufbauen (jürgens, u.a. 1997). Im gegliederten Schulsystem setzten sich die Schularten aus Haupt-, Realschulen und Gymnasien, sowie Förder- oder Sonderschulen zusammen. Diese Aufteilung stellt eine äußere Differenzierung dar, bei der die Schüler idealtypisch in leistungshomogenen Gruppen an räumlich getrennten Orten unterrichtet werden. In einigen Bundesländern werden die drei Schularten der Sekundarstufe um die Gesamtschule erweitert. Dort findet Unterricht in einigen Fächern über Schularten hinweg für alle Lernenden gemeinsam statt. In den Kernfächern Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften und Fremdsprachen wird äußerlich differenzierter Unterricht in Kursen mit unterschiedlichen Leistungsniveaus erteilt (Köller & Baumert 2002). Die schulartübergreifende Gesamtschule ist gegenwärtig ungleich über die Bundesländer verteilt und ihr Anteil an 14-Jährigen beträgt im Bundesdurchschnitt nur etwa zehn Prozent (Schneider 2005). In Baden-Württemberg, Bayern, Thüringen und SachsenAnhalt stehen den Schülern und Eltern nur wenige oder keine Gesamtschulen zur
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Verfügung. Im gegliederten Schulsystem kommt es beim Übergang von einer Schulart in eine andere zu einer Schnittstelle, die eine personelle, räumliche, strukturelle und inhaltliche Zäsur für die Schüler mit sich bringt. Sie steht aufgrund der auftretenden Unwägbarkeiten und Festschreibungen für den weiteren Verlauf der Bildungsbiografien immer wieder in der Diskussion.
2.3 Übergangsregelung in den einzelnen Bundesländern In den sechzehn Bundesländern gibt es aufgrund der länderspezifischen Zuständigkeiten, den historisch gewachsenen Strukturen und politischen Dispositionen eine große Vielfalt an Schulwesen. Die Grundstruktur zeigt eine länderübergreifend schematisierte Darstellung (vgl. Abb. 2.2.2). Aktuelle Modifikationen gibt es vor allem bei der 1970 eingeführten Orientierungsstufe (vgl. Deutscher Bildungsrat 1970: 142ff.), die mit der Einführung von standard- und kompetenzorientierten Bildungsplänen 2004 in ihrer ursprünglichen Intention als Instrument zur Erweiterung der Durchlässigkeit immer mehr an Bedeutung verliert. Die detailreichen Unterschiede und Differenzen der länderspezifischen Schulübergänge werden im Folgenden in drei Gruppen gegliedert dargestellt. In die 1. Gruppe gehen die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen ein. In allen vier Ländern ist ein zwei- bzw. dreigliedriges Schulsystem installiert, das den Zugang in die Sekundarstufe 1 über leistungsbezogene Beschränkungen in Form von Bildungsempfehlungen vorsieht. Werden die vorgegebenen Maßgaben nicht erreicht, so ist eine Überprüfung mittels einer Aufnahmeprüfung (Baden-Württemberg, Sachsen), eines Probeunterrichts in der Wunschschule (Bayern) oder beidem (Thüringen) möglich. In den Ländern ist das Schulrecht dem Elternrecht und damit einer freien Wahl der Schulart übergeordnet. In Bayern und Baden-Württemberg sieht das Schulrecht eine schu1artgenaue Bildungsempfehlung vor. Mit ihr wird eine personenbezogene Schulartzuweisung vorgenommen und eine Leistungsselektion angewandt, die nur die Wahl der empfohlenen oder die darunter liegenden Schularten vorsieht. In den aufgeführten Bundesländern kann nicht auf die Gesamtschule als Alternativform für einen optionalen Bildungsweg zurückgegriffen werden. Auch wenn die Verteilungsströme in den verschiedenen Bundesländern große Unterschiede aufweisen, die wesentlich durch die unterschiedlichen Schulstrukturen zustande kommen, wird deutlich, dass die Übergangsquote in die Hauptschule ein starkes Gewicht einnimmt. Der Anteil an Schulwechsel von der Grund- in die Hauptschule liegt in Baden-Württemberg im Durchschnitt bei 28% und in Bayern sogar bei 39% (s.h. Abb. 2.2.2). Thüringen und Sachen sollte durch die Zusammenlegung der beiden Schularten zu einer Regelschule die Problematik der Hauptschule als " Restschule" vermieden werden. Ein Vergleich des Abschneidens der Länder in internationalen Schulleistungstests scheint dem
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differenzierten Zuweisungsverfahren einen Vorteil hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der dreigegliederten Schulsysteme einzuräumen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (H.rsg.) 2008). Die 2. Gruppe umfasst die Bundesländer Berlin, Hamburg, Hessen, Saarland und Sachsen-Anhalt, in denen ein Mischverfahren angewandt wird. Vom Grundsatz her soll der Übergangsmodus den Eltern und Kindern einen größeren Entscheidungsspielraum einräumen. Dennoch unterliegt vor allem der gymnasiale Schulzweig einer Zugangsbeschränkung, die sich deutlich an der Leistungsbewertung als Selektionskriterium orientiert. Wird eine festgelegte Leistungsnorm in den Kernfächern nicht erzielt, ist ein Probehalbjahr (Berlin), eine Probezeit (Hessen), eine Orientierungs- (Niedersachsen, Rheinland-Pfalz) oder Förderstufe (Hamburg) von ein bis zwei Schuljahren vorgesehen. In diesem Zeitraum erfolgt auf der Seite des Schülers eine individuelle Förderung, während die Eltern beraten und unterstützt werden. Damit soll ein idealer Abgleich zwischen den Anforderungen der gewählten Schulart und der Lern- und Leistungsentwicklung der Kinder möglich sein. Berlin und Brandenburg dagegen sind die beiden einzigen Bundesländer mit einer verlängerten gemeinsamen Lernzeit (sechsjährige Grundschule), in deren Anschluss ein Übergang in die Haupt-, Real-, Gesamtschule oder Gymnasium möglich ist. Grundlage für den elterlichen Entscheidungsprozess ist eine Empfehlung, die bei Übergangsnachfrage der Schularten Realschule und Gymnasium in Form eines Aufnahmetests oder Beratungsgesprächs dem Zeugnis ergänzend beigelegt wird. In den Ländern der Gruppe 2 gehören die Gesamtschulen zum festen Bestandteil des Bildungssystems, für die es in der Regel keine Zugangsbeschränkungen gibt. In der 3. Gruppe ist der Elternwillen nicht durch Vorgaben schulischerseits eingeschränkt. In Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein gibt es momentan weder eine Aufnahmeprüfung noch eine Probezeit. Die folgende Grafik zeigt die drei Gruppen im Überblick:
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Grundlagen der Bildungsentscheidung in Baden-Württemberg Eltern als Entscheidungsträger
Schule als Entscheidungsträger Eingeschränkte Schulartwahl 1. Baden WÜIttemberg ..... 2. Bayern 3. Sachsen 4. Thüringen
o
~ (1)
4 von 16 Bundesländer
o
~ (1)
Teilweise eingeschränkte Schulartwahl SchulüberZugangsbeschränkung gang auf Gymnasium Probe 5. Saarland 7. Berlin 6. Sachsen8. Hamburg Anhalt 9. Hessen
IV
Freie Schulartwahl
o
~ (1)
l>.l
5 von 16 Bundesländer
10.Brandenburg 11.Bremen 12.MecklenburgVorpommern 13.Niedersachsen 14. NordrheinWestfalen 15. Rheinland-Pfalz 16.Schleswiz-Holstein 7 von 16 Bundesländer
Tabelle 2.1: Übersicht i!' den verschiedenen Schulübergängen in Deutschland 2.3.1 Bundesllinder mit eingeschränktem Schulübergang (Gmppe 1) In Baden-Württemberg erfolgt der Schulübergang in die Sekundarstufe nach dem vierten Schuljahr in eine der drei Schularten des dreigliedrigen Schulsystems. Über eine von der Grundschule ausgesprochene Bildungsempfehlung wird die Wahl der Eltern in die höheren Schularten eingeschränkt (§ 88 Abs. 1 BWSchG). Die Empfehlung resultiert aus einer Beschlussfassung der Klassenkonferenz. Als Bezugsnorm dient der in der ersten Hälfe erzielte Notendurchschnitt in den Fächern Deutsch und Mathematik. Bei der Entscheidungsfindung soll das Lern-, Arbeitsund Sozialverhalten des Kindes und die Persönlichkeitsentwicklung über die Grundschulzeit hinweg Berücksichtigung finden , Fällt das Votum der Grundschule für die weiterführende Schulart auf die Hauptschule, sieht diese nur den einen Übergang vor, lässt den Familien aber die Option eines Beratungs- und Testverfahrens offen (bindende Schulartwahl), mit der sich die Bildungsempfehlung überprüfen lässt. Eine Bildungsempfehlung für die Realschule ermöglicht den direkten Wechsel in die Realschule und zudem die Wahl der darunter liegenden Hauptschule (eingeschränkte Schulartwahl). Liegt eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium vor, so kann ein Wechsel in alle drei Schularten Haupt-, Realschule und Gymna-
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sium erfolgen (freie Schulartwahl). Damit entsteht folgende Rangfolge der Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Schulartwahl im dreigliedrigen Schulsystem: Hauptschule (HS), Hauptschule (HS) oder Realschule (RS), Hauptschule (RS), Realschule (RS) oder Gymnasium (GYM) (§ 4 Abs. 1,2 BWSchG). Die Mindestanforderung für einen Wechsel in das Gymnasium liegen in Baden-Württemberg bei einem Hauptfachdurchschnitt von 2,5 und besser. Für den Besuch einer Realschule muss der Notendurchschnitt zwischen 2,6 und 3,0 liegen. Erzielt der Schüler ein Notenmittel in Deutsch und Mathematik von 3,1 und schlechter, wird die Hauptschule empfohlen. Erforderlicher Notendurchschnitt in Deutsch und Mathematik für das Erreichen der Schulart: Hauptschule (HS)
Realschule (RS)
Gymnasium (GY)
< 3,1
2,6-3,0
> 2,5
Tabelle 2.2: Notengrenzenftir den Schulübergang in Baden-Württemberg Bei besonderen Lernhemmnissen kann schon im Verlauf der Grundschulzeit ein Test durchgeführt und den Eltern eine Überstellung des Kindes in die Förderschule vorgeschlagen werden. Dem müssen die Eltern jedoch explizit zustimmen. Das Übergangsverfahren beginnt im Verlauf des ersten Schulhalbjahrs der vierten Klasse mit einer Informationsveranstaltung der Grundschule, an der sich die Eltern über die Zielsetzungen, Konzeptionen und Inhalte der weiterführenden Schulen informieren können. Im Anschluss an die Ausgabe der Halbjahresempfehlung spricht die Schule für jeden Schüler eine Bildungsempfehlung aus. Diese geht auf einen Vorschlag der Klassenlehrerin zurück, den es in der Klassenkonferenz zu beraten und festzulegen gilt. Die Bildungsempfehlung ist ein bedingt selbständiger Verwaltungsakt und kann aus dem Grund theoretisch einer juristischen Überprüfung unterzogen werden. Nach mehreren Urteilen von Oberlandesgerichten (VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990, 246) handelt es sich bei dem Schulübergangsverfahren um ein mehrstufiges Verfahren, in dem die Bildungsempfehlung nur die erste Stufe eines einheitlichen Verfahrens ist (Frey 2007: 142). Den Eltern und Kindern bieten sich im Falle einer Nichtübereinstimmung zwei voneinander unabhängige Kontrollinstanzen. Sie können zum einen ein Beratungsverfahren in Anspruch nehmen, in dem sie die Meinung einer schulunabhängigen Grundschullehrerin mit einer Zusatzausbildung einholen. Stimmen sie auch nach dem Beratungsverfahren noch immer nicht mit der Empfehlung überein, so schließt sich daran das Testverfahren an. Dieses kann auch unabhängig vom Beratungsverfahren eingeleitet werden. Die ausgesprochene Bildungsempfehlung wird erst rechtskräftig, wenn die Erziehungsberechtigten schriftlich ihre Zustimmung erteilen. Stimmen die Eltern
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zu, so gilt diese als angenommen und das Kind kann für das nachfolgende Schuljahr an der vorgegebenen Schulart angemeldet werden. Die abschließende Entscheidung über eine Zustimmung oder die Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren liegt auf Seiten der Eltern bzw. Kinder. Schülern und Schülerinnen, bei denen der eigene Wunsch und/ oder der der Erziehungsberechtigten nicht mit der Bildungsempfehlung übereinstimmen, ist es auf Antrag der Eltern möglich an einem besonderen vom Ministerium für Kultur, Jugend und Sport festgelegten Beratungsverfahren teilzunehmen (s.h. K.u.U. vom 10. Juni 1983, §5 (2): 476). Mit diesem kann die Schulartempfehlung überprüft, letztlich aber nicht hinter diese zurückgefallen werden. Im Beratungsverfahren werden ein oder mehrere Kinder von einer psychologischpädagogisch geschulten Beratungslehrkraft getestet . Sie ist regional für mehrere Grundschulen zuständig, unterrichtet aber selbst nicht an den zugewiesenen "Beratungsschulen". Zwei standardisierte Intelligenz- und Begabungstests geben Auskunft über den Lern- und Entwicklungsstand des jeweils untersuchten Kindes . Die Tests sind nach Aussagen des Ministeriums landesweit einheitlich standardisiert und werden nach vorgegebenen Normen ausgewertet (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (Hrsg.) Spektrum Schule September 2006: 5). Im Anschluss an die Tests führt die Beratungslehrkraft ein Gespräch mit den Eltern und Kindern. In einer eigenen Klassenkonferenz werden die Ergebnisse des Beratungsverfahrens besprochen und diskutiert. Gemeinsam mit der Beratungslehrkraft, die bei der abschließenden Abstimmung stimmberechtigt ist, wird eine "Gemeinsame Bildungsempfehlung" beschlossen. Entspricht die Empfehlung den Vorstellungen der Eltern, so können sie ihr Kind in der gewünschten Schulart anmelden. Stimmt diese nicht überein, obliegt es den Familien sich für die Aufnahmeprüfung anzumelden. Das Testverfahren besteht nach der "Verordnung des Ministeriums über das Aufnahmeverfahren für die Realschulen und die Gymnasien der Normalform zur Aufnahmeprüfung" aus einer schriftlichen und mündlichen Prüfung und wird an einem vom Kultusministerium festgelegten Termin und an zentral gelegenen Grundschulen durchgeführt (Kultus und Unterricht von 1983: 476). Im Fach Deutsch sind ein Aufsatz und eine Nachschrift, in Mathematik ein Test ähnlich einer Klassenarbeit zu absolvieren. Für beide Fächer werden die Prüfungsaufgaben landeseinheitlich gestellt und über das Kultusministerium ausgegeben. Nach Abs. 3 (§ 10) haben "Schüler , die im Durchschnitt der Noten in den Fächern Deutsch und Mathematik mindestens 3,0 und in jedem der Fächer mindestens 4,0 erzielen, die Aufnahmeprüfung für die Realschule bestanden (K.u.U. von 1983: 477)" . Schüler, die mindestens die Note 2,5 und besser erreichen, ist ein Übergang in das Gymnasium möglich. Dabei liegt es im Ermessen der Prüfungskommission bei einem entsprechenden Gesamtleistungsbild mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit die nächst höhere Schulart zu empfehlen. In der Gesamtschau verläuft das Übergangsverfahren in den folgenden Etappen:
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Im Bundesland Beyer« wird wie in Baden-Württemberg die Schulwahl- bzw. Bildungsentscheidung der Eltern durch Vorgaben in Form von Empfehlungen eingeschränkt. Nach der vierjährigen Grundschule gliedert sich die Sekundarstufe 1 in Hauptschule, Realschule, das Gymnasium und die Wirtschaftschule. Eine beschränkte Schulartwahl erfolgt in die Realschule, die Wirtschaftsschule und das Gymnasium, da für diese eine entsprechende Bildungsempfehlung erforderlich ist. Lediglich die Hauptschule kann ohne eine Notenrichtlinie besucht werden, während für die Realschule ein Durchschnitt von 2,33 in den Fächern Deutsch, Mathematik und Mensch-Natur-Kultur (Heimat- und Sachkunde) nötig ist. Für den Übergang in die Wirtschafts schule gilt derselbe Notendurchschnitt für die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch. Diese hat im Gegensatz zur Realschule ein stärker berufsorientiertes Profil (vgl. Bayrische Schulordnung; GVBl. WSO 2005: 971ff.). Eine eingeschränkte Eignung wird für beide Schularten ausgesprochen, wenn der Schüler ein Notenspektrum zwischen 2,33 und 2,66 erreicht wird. Auch das Gymnasium kann mit demselben Schnitt besucht werden (GVBl. GSO 2005: 681ff.). Hierzu ist jedoch das Erreichen einer zusätzlichen Notengrenze in den Fächern Deutsch und Mathematik von mindestens 2,0 notwendig . Eltern und Kinder entscheiden sich nach einem Beratungsgespräch mit der Grundschullehrkraft. Differieren der Schulwunsch der Eltern- und/oder Kinder und die erzielten Schulnoten, kann ein dreitägiger Probeunterricht in der Real-, Wirtschaftsschule oder dem Gymnasium absolviert werden. Die Lehrerkonferenz der aufnehmenden Schulen entscheidet in den Fällen der bedingten Eignung nach dem Probeunterricht, ob dieser erfolgreich absolviert ist oder nicht (KMK 2006: 11). Der Bildungsentscheidungsprozess in Bayern ist noch stärker durch leistungsorientierte Vorgaben reglementiert, als dies in Baden-Württemberg der Fall ist. Wird ein Probeunterricht durchgeführt, liegt die Entscheidung bei den aufnehmenden Sekundarstufenlehrern bzw. -klassenkonferenzen. Auch im Bundesland Sachsen steht das Schulrecht über dem Elternrecht. Am Ende der dritten Klasse werden die Eltern über den Bildungsauftrag und die Leistungsanforderungen von Mittelschule und Gymnasium informiert. Danach teilen die Eltern den Klassenlehrern mit, welche der beiden Schularten nach dem vierten Jahr in der Grundschule angestrebt wird. Im nachfolgenden Schulhalbjahr erhalten die Familien dann eine Bildungsempfehlung für die Mittelschule oder das Gymnasium. Für den Übergang in das Gymnasium ist einen Notendurchschnitt in den Fächern Deutsch und Mathematik von mindestens 2,5 notwendig. Zudem sind ein Lern- und Arbeitsverhalten und eine Leistungsentwicklung in der Grundschule erforderlich, die in vollem Umfang den Anforderungen des Gymnasiums entsprechen. Trifft eine dieser drei Bedingungen nicht oder nur zum Teil zu, so erhält das Kind eine Empfehlung für die Mittelschule. Gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Schulwunsch der Eltern und der Bildungsempfehlung, so können die Erziehungsberechtigten einen Antrag auf die Teilnahme ihres Kindes an einer Aufnahmeprüfung in das Gymnasium stellen. Erzielt das Kind in
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den Prüfungsfachern Deutsch und Mathematik einen Notendurchschnitt von 2,5 und besser, ist die Aufnahme in die Klassenstufe 5 des Gymnasiums bestanden (KMK 2006: 28). In Thüringen werden die Eltern der Viertklassschüler in einer Elternversammlung und in persönlichen Gesprächen mit der Klassenlehrerin über die möglichen Übergangswege informiert. Als Schularten stehen die Regelschule oder das Gymnasium zur Auswahl. Die Regelschule vereint die Bildungsabschlüsse der Haupt- und Realschule und alle Kinder, die nicht die Anforderungen für das Gymnasium erfüllen, treten in diese Schulart über. Für einen solchen Übergang gilt es in den Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachkunde mindestens eine 2,0 zu erreichen. Auf Antrag der Eltern kann eine Empfehlung der Klassenkonferenz eingeholt werden. Lässt sich über diese beiden Punkte keine Empfehlung für das Gymnasium erzielen, dann bleibt nur noch das Ablegen einer Aufnahmeprüfung. Diese besteht aus einem Probeunterricht, der an drei aufeinander folgenden Tagen mit jeweils vier Unterrichtsstunden stattfindet. Die Entscheidung trifft die aufnehmende Schule.
2.3.2 Bundesliinder mit teilweise eingeschränkter Schulwahl (Gruppe 2) In Berlin endet die Grundschule nach sechs Jahren und im Rahmen der letzten Halbjahresinformation erhalten die Schülerinnen und Erziehungsberechtigten ein Gutachten, in dem die Klassenkonferenz die am besten geeignete Schulart nach Haupt-, Real-, integrierte Gesamtschule oder Gymnasium vorschlägt. Die Basis für das Gutachten sind die erzielten Leistungen und die beobachten Kompetenzen (KMK 2006: 13). Bei Erreichen der Durchschnittsnote von einschließlich 2,2 - beim vorgezogenen Übergang in die Sekundarstufe 1 am Ende der 4. Klasse von 2,0 - ist eine Gymnasialempfehlung, von 2,8 bis 3,2 für eine Realschul- und ab 3,8 eine Hauptschulempfehlung auszusprechen (ebd..: 13) . Für die Gesamtschule ist kein bestimmter Notendurchschnitt erforderlich und als Alternative zu einer überfrequentierten Schulart oder Schule wird auf sie auch immer verwiesen. Nach Erhalt des Gutachtens melden die Eltern der Grundschule ihren Schulwunsch und werden im Fall einer Abweichung der Bildungsaspiration zum Gutachten von der Schule beraten. Gibt es an der Wunschschule einen Überhang an Bewerbern, informiert die zuständige Schulbehörde die Eltern über eine Alternative in der näheren Umgebung. Ein Schulübergang in das Gymnasium oder die Realschule erfolgt immer unter Vorbehalt. Kann ein Schüler den Anforderungen innerhalb des ersten Probeschuljahrs nicht erfüllen, so muss er die Schulart verlassen. Für die Gesamtschule gilt diese Regelung nicht. In Hamburg entscheiden nach dem Schulgesetz (vgl. § 42 Hamburger Schulgesetz vom 16.04.1997) die Eltern eigenverantwortlich nach einer
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eingehenden Beratung über die zukünftige Schulart. Mit der Versetzung in die Klasse 5 wechseln die Schülerinnen und Schüler entweder in die Gesamtschule oder in die Beobachtungsstufe der Haupt- und Realschule bzw. des Gymnasiums über. Eine schriftliche Grundschulempfehlung soll den Erziehungsberechtigten bei ihrer Entscheidung helfen. Grundlage hierfür bilden die bisherige Leistungsentwicklung, der erreichte Lernstand in den Fächern Mathematik, Deutsch und Sachkunde, sowie die Beherrschung der Arbeitstechniken und -verfahren. Die Reglementierung setzt erst am Ende der Klasse 6 ein. Sollte das Kind den Anforderungen der weiterführenden Schule dann nicht gerecht werden, muss es die Schulart verlassen (KMK 2006). Im Laufe der Klassen 5 und 6 der Beobachtungsstufe der Haupt- und Realschule und der Beobachtungsstufe des Gymnasiums erwerben die Schülerinnen und Schüler mit den von ihnen erbrachten schulischen Leistungen Berechtigungen zum Besuch der Klasse 7 einer weiterführenden Schule; eine Versetzung findet nicht statt. Jede Schülerin und jeder Schüler, die oder der die Klasse 6 einer der beiden Beobachtungsstufen besucht hat, kann in die Klasse 7 der Hauptschule übergehen (vgl. §§ 23 und 24 der Zeugnis- und Versetzungsordnung). Für Schüler einer Beobachtungsstufe der Haupt- und Realschule besteht die Möglichkeit in die Klasse 7 der Realschule überzugehen, wenn er im Durchschnitt aller Fächer mindestens ein 3,0 erbracht hat, darunter mindestens in zwei der Fächer Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache. Für den Übergang auf das siebenstufige Gymnasium muss eine Durchschnittsnote von 2,5 erreicht werden. Dabei muss in den Fächern Deutsch, Mathematik und 1. Fremdsprachen mindestens eine 2,0 erbracht sein (vgl. § 23 Zeugnis- und Versetzungsordnung) Ein weiteres Bundesland, in dem eine Bildungsempfehlung ausgesprochen wird, ist Hessen. Der Schulübergang wird in Hessen zum Ende des ersten Schulhalbjahres von Klasse 4 mit einer Informationsveranstaltung eingeleitet. Alle interessierten Eltern werden von den Vertretern der unterschiedlichen Schulformen über die Ziele, Inhalte und Konzepte des regionalen Schulangebots informiert. Von den Grundschullehrer/innen können sich die Eltern zudem über die individuell geeignetste Schulart für ihr Kind beraten lassen. Die eigentliche Entscheidung zur Schulwahlliegt auf Seiten der Eltern und Kinder. Zur Wahl stehen die Hauptschule, Realschule, das Gymnasium und falls regional vorhanden eine schulartbezogene oder integrierte Gesamtschule (KMK 2006: 21). Die Klassenkonferenz spricht eine unverbindliche schriftliche Bildungsempfehlung für den Fall aus, dass sich die Familien für die Realschule oder das Gymnasium in der integrierten oder gegliederten Variante entscheidet. Gibt es keine Übereinstimmung zwischen der Wunschschulart und der Bildungsempfehlung, wird ein weiteres Beratungsgespräch angeboten. Wählen sie die Förderstufe oder die schulformunabhängige Gesamtschule, spricht die Grundschule keine Bildungsempfehlung aus und Eltern und Kinder können damit die Entscheidung für eine bestimmte Schulart bis zum Ende der Sekundarstufe offen gestalten. Ein Anspruch besteht in Hessen lediglich auf den Übergang in
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die gewünschte Schulart, nicht jedoch auf den Besuch einer bestimmten Schule. Besucht ein Schüler eine weiterführende Schulart ohne Empfehlung und erzielt zum Schulhalbjahr oder Schuljahresende nicht die erforderlichen Leistungen, dann könne er in eine andere Schulart versetzt werden (Querversetzung) (KMK 2006). Im Saarland sind die erweiterte Realschule und die integrierte Gesamtschule Pflichtschulen. Eine der beiden Schularten muss ein Kind nach der vierjährigen Grundschule besuchen. Wollen Eltem und Kinder hingegen einen Wechsel in das Gymnasium, so muss ähnlich wie in Baden-Württemberg in der " zusammenfassenden" Beurteilung zum Halbjahreszeugnis eine Empfehlung für das Gymnasium vorliegen . Die Eignung für die Wahlschule Gymnasium wird vergeben, wenn der Schüler erstens eine adäquate Lem- und Leistungsentwicklung, Arbeitshaltung, Art des Lemens und Arbeitens, ein Sozialverhalten, Denkvermögen und sprachliche Ausdrucksfähigkeit für diese Schulart erwarten lässt. Als zweites Merkmal gilt, dass der Schüler im Halbjahreszeugnis der Klassenstufe 4 in einem der Fächer Deutsch und Mathematik mindestens die Note "gut" und in dem anderen der beiden Fächer mindestens die Note "befriedigend" erreicht haben soll. Die Klassenkonferenz reglementiert einzig den Zugang zum Gymnasium, der mit einem Ermessenspielraum versehen ist, da das Kriterium zum Lern, Arbeits-, Sozial- und Motivationsverhalten der Leistungsbeurteilung übergeordnet werden kann. Streben Eltern und Kinder dennoch einen Gymnasialübergang bei fehlender Beurteilung an, so gilt es ein Übergangsverfahren zu durchlaufen. Das Kind muss sich einer zweitägigen Prüfung unterziehen, die in den Fächem Deutsch und Mathematik durchgeführt wird. Danach legt die Klassenkonferenz in ihrem Ermessensspielraum die endgültige Eignung für die Wahl- oder Pflichtschule fest. Nach erfolgreichem Besuch des 4. Grundschuljahrs können die Schülerinnen in Sachsen Anhalt auf die weiterführende Sekundarstufe, die Gesamtschule oder das Gymnasium wechseln. Die Voraussetzung für die Wahl eines öffentlichen Gymnasiums ist dabei eine entsprechende Schullaufbahnempfehlung oder eine hinreichende Eignungsfeststellung. Im vierten Schuljahr der Grundschule beschließt die Klassenkonferenz auf der Grundlage eines Eignungsgutachtens des Klassenlehrers. In das Gutachten fließen die Leistungen im Halbjahreszeugnis, die Lementwicklung und das individuelle Lemverhalten während der Grundschulzeit ein. Empfohlen wird der Besuch eines Gymnasiums oder der Sekundarstufe. Für den Besuch einer integrierten Gesamtschule gelten beide Empfehlungen gleichwertig (vgl. Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (SASchG) (2005): GVBl. Änderungsverordnung 08/2005, §1-9). Alle weiteren Bundesländer stellen im Gegensatz zu Baden-Württemberg das Eltem- über das Schulrecht.
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2.3.3 Bundesländer mit uneingeschränktem Schulübergang (Gruppe 3) Das zweitgrößte Bundesland Brandenburg hat gegenüber den anderen Ländern ebenfalls eine um zwei Jahre verlängerte Grundschulzeit. Im Unterschied zu Berlin gibt es keine Probezeit oder eine Aufnahmeprüfung im Fall des Nichterreichens der Leistungsnorm. Die Grundschule erstellt nach Ausgabe der Halbjahreszeugnisse der Klasse 6 ein Gutachten, das Aussagen über Fähigkeiten, Leistungen und Neigungen und die allgemeine Entwicklung des Kindes im Bildungsgang der Grundschule sowie eine Empfehlung für die weiterführende Schulart enthält (KMK 2006: 15). Danach wählen die Eltern eine Schule aus und teilen dies der Grundschule mit. Eine Auswahl ergibt sich über die vorhandenen Plätze in der Sekundarstufe 1 bzw. an den einzelnen Schulen. Entsprechend den vorhandenen Plätzen und dem Überhang können die weiterführenden Schulen nach der Bildungsempfehlung aussuchen, welche Kinder sie aufnehmen. In einem solchen Fall ist eine Auswertung des Grundschulgutachtens unter Berücksichtigung der Bildungsgangempfehlung vorzunehmen. Ergänzend kann auch das Halbjahreszeugnis der 6. Jahrgangsstufe und das Ergebnis eines Aufnahmetests herangezogen werden (ebd.: 15). In Bremen entfällt die Orientierungsstufe mit dem Schuljahr 2005/06 und so endet für den größten Teil der Grundschüler die gemeinsame Lernzeit nach dem 4. Schuljahr. An einigen Schulen erstreckt sich die Bremer Primarstufe über sechs Jahre. Diese arbeiten dann eng mit Gesamtschulen und integrierten Stadtteilschulen zusammen. Nach einer eingehenden Beratung liegt die Entscheidung, welche Schulart ihr Kind zukünftig besuchen wird, bei den Erziehungsberechtigten. Sie entscheiden auch hier auf der Basis von eingehenden Empfehlungen und Beratungen. Nehmen die Eltern jedoch nicht an den Beratungen teil, so muss das Kind am Ende der Grundschulzeit den Vorgaben der Schule folgen (BremSchlG, § 37a Abs. 1). Auch in Mecklenburg-Vorpommem liegt die Entscheidungshoheit bei den Familien, unabhängig von den erzielten Halbjahresnoten im vierten Schuljahr. Begleitet werden die Eltern zum einen durch regelmäßige Beratungsgespräche und zum anderen durch einen Lernstandsbericht. Dieser enthält Angaben über die Entwicklung ihres Kindes in den Bereichen Lern-, Arbeits-, Leistungs- und Sozialverhalten. Da die fünfte und sechste Klasse der regionalen Schulen und kooperativen Gesamtschulen eine Orientierungsstufe darstellen, an deren Ende eine Bildungsempfehlung ausgesprochen wird, gibt es für Eltern und Schule eine zweite Möglichkeit der Rückversicherung. In Niedersachen ist wie in Baden-Württemberg die schulformunabhägige Orientierungsstufe als eigenständige Schulform weitgehend abgelöst. Mit dem Halbjahreszeugnis der vierten Grundschulklasse erhalten die Familien eine Information über die voraussichtlich richtige Schulartwahl. Danach entscheiden die Familien eigenverantwortlich, welche weiterführende Schule ihr Kind besuchen wird (KMK 2006). Unterstützung erfahren die Eltern im Entscheidungsprozess
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durch eine Reihe von Beratungsgespräche. An die vierjährige Grundschule schließt sich eine zweijährige Förderstufe an (NSchG, § 184a), so dass ein Wechsel der Schulart in dieser Zeit noch möglich ist. Die Bildungswege in die weiterführenden Schulen sind anders wie in Baden-Wfuttemberg aufeinander abgestimmt. Dadurch soll im Rahmen einer Standard- und Kompetenzorientierung eine höhere Durchlässigkeitgewährleistet werden (KMK 2006: 23). In Nordrhein-Westjalen besteht bis 1997 die Regelung, dass den Eltern und Kindern, die einen Übergang in die Realschule oder das Gymnasium wünschen, ein entsprechendes Gutachten der Grundschule vorliegen muss. Mittlerweile können die Eltern und Kinder zwischen den Schularten der Haupt-, Real-, Gesamtschule und dem Gymnasium frei wählen (MSWF 1997). Dennoch wird eine schriftliche Schulformempfehlung ausgestellt, die eine Einschätzung der abgebenden Grundschule über die weitere schulische Förderung enthält. "Die Begründung der Empfehlung sollte den Leistungstand, die Lernentwicklung und die Fähigkeiten des Kindes schlüssig beschreiben" (Harazd 2007). Die Eltern werden in einem kooperativen Beratungsprozess schon in der Grundschule über die Schwierigkeiten der Prognoseinstrumente und die Risiken möglicher Bildungsmisserfolge in weiterführenden Schulen unterrichtet. Die Entscheidung wird über einen längeren Beratungszeitraum angebahnt und soll letztlich in einem Kompromiss zwischen Eltern und Klassenlehrerin münden. Gibt es eine Diskrepanz zwischen der Empfehlung für die weiterführende Schule und dem Elternwunsch, so lädt der Schulleiter die Eltern zu einem abschließenden Beratungsgespräch ein (ebd.). Die Wunschschule kann das Kind lediglich mit der Begründung einer "erschöpften" Aufnahmekapazirät ablehnen, woraufhin die Schulaufsicht die Möglichkeiten an der angefragten und ggf. an einer umliegenden Schule prüft . Ein ähnliches Verfahren wird in Rheinland-Pfalz vorgenommen, das dem Schulrecht das Elternrecht überordnet. Im Laufe des 4. Schuljahres wird der Übergang in die weiterführende Schule durch eine Schulartempfehlung vorbereitet. Diese wird von den Lehrkräften der Grundschule und den aufnehmenden Schulen erstellt, die entsprechend der erzielten Leistungen, die für das Kind am besten geeignetste Schulart vorschlägt (KMK 2006: 25). Ausschlaggebend für die Empfehlung sind die bisherige Entwicklung, das Lernverhalten und die erzielten Leistungen des Kindes. Zur Wahl stehen die Haupt-, Realschule, regionale Schulen, Gymnasium, integrierte Gesamtschule und die schulartiibergreifende Orientierungsstufe eines Schulzentrums. Die Durchlässigkeit des Schulübergangs soll über eine Orientierungsstufe in Klasse 5 und 6 erhöht werden. Ziel der Orientierungsstufe ist eine Absicherung der Schulartwahlentscheidung über den Zeitraum der Erprobung, Förderung und Beobachtung in Zusammenarbeit mit den Eltern (Harazd 2007: 27). Auch in Schleswig-Holstein entscheiden die Eltern auf der Grundlage einer Schulübergangsempfehlung über den Verbleib ihrer Kinder in einer der vier Schularten. In den ersten beiden Klassen der Haupt-, Real-, Gesamtschule und des Gym-
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nasiums gibt es eine Orientierungsstufe. Für Lehrer, Eltern und Schüler steht die Beratung, Förderung und Beobachtung im Mittelpunkt, weshalb ein besonderes Augenmerk auf die Kooperation und Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule gelegt wird. Das Übergangsverfahren ist wie in Bremen zeitverzögert beschränkt, da es grundsätzlich alle Schulformen offen lässt. Die elterliche Entscheidung fällt auf der Grundlage der Leistungsentwicklung erst am Ende der Orientierungsstufe.
2.4 Die drei Entscheidungsträger im Bildungssystem Im Prozess zur Schulwahl spielen drei Akteure eine zentrale Rolle: Schüler, Eltern und Lehrer haben jeweils eine ganz eigene Sichtweise auf die Bildungsentscheidung und nehmen eine unterschiedliche Gewichtung als Entscheidungsträger ein. Neben der Rechtsstellung der Personen nach dem bürgerlichen Gesetzbuch sind es nicht zuletzt die Schulverfassungen der einzelnen Bundesländer, die eine explizite rechtliche Positionierung im Schulsystem festschreiben. Eine wichtige Zielsetzung der modernen Schulauffassung ist es, die Interessen und Anliegen aller Beteiligten in einem kollektiv-kooperativen Willensbildungsprozess zusammenzuführen. Aus dem Grund ist das Zusammenspiel von Lehrern, Schülern und Eltern im Entscheidungsverlauf so geregelt, dass sie die innere Organisation der Schule normiert (Cortina, K. S. u.a. 2008: 187). Mit der Dahrendorfschen Losung "Bildung als Bürgerrecht" kommt in den 70er Jahren allmählich ein Diskurs über die Bildungsrechte in der Bundesrepublik in Gang. Ein Individualrecht oder -anspruch auf Bildung besteht in der heutigen Schulgesetzgebung nicht, aber es ist nach Richter (1995) ein "Minimumgrundrecht" zu erkennen. Aus Art. 2 Abs. 1 GG (Würde des Menschen) und Art. 2 Abs. 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit) lässt sich in Verbindung mit dem Prinzip des Sozialstaats, das jedem Mensch eine freie Willensbildung ermöglicht und eine Entfaltung der individuellen Begabung und Interessen zugesteht, ein "Mitbestimmungsrecht" an der Bildungsentscheidung ableiten. (Cortina, K. S. 2008: 184).
2.4.1 Die rechtliche Position von Schülern im Bildungsentscheidungsprozess In der Bundesrepublik Deutschland ist im Gegensatz zu vielen anderen Ländern kein Kinderrecht explizit im Grundgesetz verankert. Im Jahr 2002 wird dafür die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert und diese bundesweit rechtsverbindlich festgeschrieben. Zu den geltenden Gesetzmäßigkeiten für die Heranwachsenden gehören damit das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, auf Bildung, auf Entfaltung der Persönlichkeit, auf staatliche Unterstützung bei Erziehungs- und Lernschwierigkeiten und auf Schule und Ausbildung. Jedes Kind ist
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darüber hinaus unabhängig von seinem Alter, seiner Herkunft und seinem Bildungsstand Grundrechtsträger und eine mögliche Partizipation am Entscheidungsfindungsprozess begründet sich mittelbar aus den grundgesetzlichen Vorgaben . Ein Grundrecht auf die Beteiligung des Schülers an den schulischen Willensbildungsprozessen gibt es jedoch nicht. Die Einschränkung seiner Grundrechte ist nur zulässig durch ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz in Form einer Rechtverordnung oder Verwaltungsvorschrift, die auf den Grundgesetzen basiert (ebd. 2008). Dennoch unterliegen minderjährige Schüler/innen laut Gesetzgeber einem eingeschränkten Entscheidungs- und Handlungsrahmen. Aufgrund ihres Alters können sie rechtserhebliche Handlungen auch im schulischen Kontext nur bedingt vornehmen, da das Elternrecht die Rechte der Kinder überlagern kann. Erst mit Vollendung des 18. Lebensjahrs geht das Entscheidungsrecht von den Eltern auf den Heranwachsenden über. Die Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung werden durch die Bildungsentscheidung nicht eingeschränkt, sondern sie sind im Schulwahlprozess gegen die Inanspruchnahme des ebenfalls grundrechtlich geschützten Bildungsauftrags des Staates (Art. 7 Abs. 1 GG) oder die Schulgesetze der einzelnen Bundesländer abzuwägen. Für die Beteiligung der Schülerinnen und Schülern an der Bildungsentscheidung im innerfamiliären Aushandlungsprozess gibt es keine rechtliche Grundlage. Der Umfang, in dem die Erziehungsberechtigten ihre Schutzbefohlenheit wahrnehmen, liegt in deren Ermessen. Sie treffen eine Stellvertteterentscheidung, die auf den individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Bezugsrahmen zurückreicht. In heutiger Zeit wird die Kindheit zunehmend mehr als gesellschaftliches Konstrukt verstanden (Honig 1999: 28ff.). Kinder agieren als kompetente Akteure (vgl. Hoffmann 2006), die im Verlauf ihres Heranwachsens einen Reife-, Entwicklungs- und Mündigkeitsprozess durchlaufen, der sie letztlich zu verantwortlichem Handeln führen soll. Dazu bedarf es der Unterstützung durch die Erziehungsberechtigten und der Lehrkräfte, die nach § 1 Abs. 1 SGB VIII dazu verpflichtet sind.
2.4.2 Dierechtliche Position von E ltem im Bi/dungsentscheidungsprozess In Artikel 6 des Grundgesetzes wird das Elternrecht ausdrücklich festgeschrieben : "Die Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (Art. 6 Abs. 1 GG)" Die Grundlage des Elternrechts ist darin begründet, dass sie als Stellvertreter die Grundrechte für ihre Kinder wahrnehmen können. So liegt auch die häusliche Erziehung im Zuständigkeitsbereich der Eltern, während die schulische Bildung eine öffentliche Aufgabe ist und einzig der Schule untersteht (Art. 7 Abs. 1 GG). Der Staat verpflichtet sich im Grundgesetz das Schulwesen in einer pluralen, freiheitlichen, sozialen und partizipativen Form zu gestalten. Durch
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diese Festschreibung sollen die individuellen Rechte und Interessen der Eltern und mittelbar die der Kinder gestärkt werden. Die Erziehungsberechtigten haben darüber hinaus eine gesetzliche Mitbestimmungsmöglichkeit, da "das Recht der Eltern, die Erziehung und Bildung ihrer Kinder mitzubestimmen, zu achten" ist (§ 1 Abs. 3 Schulgesetz) (nach Hermann, U. 2009). Aus der Vorgabe des Schulgesetzes leitet sich das Recht der Eltern auf die Wahl des Bildungsgangs ab (ebd.: 187). Sofern der Staat das Schulwesen differenziert gestaltet oder zur Differenzierung verpflichtet ist, haben die Eltern das Mitbestimmungsrecht (BVerfGE 34, 165, 184 nach Cortina, K. S. 2008: 187). In vielen Bundesländern wird die freie Schulartwahl beim Übergang in die Sekundarstufe durch umfassende Leistungsvorgaben eingeschränkt. Die Kopplung der Bildungsentscheidung an den Schulerfolg in der Grundschule löst die Kinder aus der elterlichen Fürsorge heraus und überführt sie im Bereich der staatlich- öffentlich allgemeinbildenden Schulen in eine schul-bürokratische Erziehungs-, Bildungs- und Ausbildungsfürsorge (Hermann 2009). Das Elternrecht steht folglich in Konkurrenz zum schulischen Selektions- und Steuerungsanspruch, der sich vor allem auf die besonders präferierten höheren Schulformen der Realschule und des Gymnasiums bezieht. Das Mitbestimmungsrecht der Eltern als Kernpunkt, das um die Beteiligungsvorgaben ergänzt wird, verliert somit wesentlich an Relevanz, obwohl es sich aus dem Grundgesetz und der Staatszielbestimmung des Demokratie- und Sozialstaatsprinzips ableitet. Ein Weg für Eltern dem vorgezogenen Zuweisung von Bildungschancen zu entgehen, ist die Suche nach alternativen Schulformen für ihre Kinder.
2.4.3 Die rechtliche Position von Lehrerinnen undLehrern im Bildungsentscheidungsprozess In der Landesverfassung von Baden-Württemberg heißt es: "Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf seine Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung." (LVBW Art. 11), und daran geknüpft ist die Maßgabe "das öffentliche Schulwesen ist nach dem Grundsatz der Berücksichtigung der individuellen Begabung und der mannigfaltigen Lebens- und Berufsaufgaben zu gestalten" (Art. 11, Ziff. 2 LV, §3 Abs. 2 Schulgesetz). Dementsprechend ist das Schulsystem staatlicherseits zu gestalten und für Lehrkräfte gilt es diese Forderung umzusetzen. Lehrer sind aus diesem Grund in der "Ausübung hoheitlicher Rechte Angehörige des öffentlichen Dienstes" und stehen meist in einem "öffentlich-rechtlichen" Treueverhältnis (Art. 33 Abs. 4 GG) zwischen dem Staat auf der einen und den Lernenden und deren Familien auf der anderen Seite. In seiner beruflichen Tätigkeit genießen die Lehrenden gegenüber anderen Beamten eine Sonderstellung, da ihnen in ihrer unterrichtlichen Aktivität eine "pädagogische Freiheit" eingeräumt wird. Sie können in "eigener pädagogischer Verantwortung" bilden, erziehen und beurteilen. Dieses "die beamtenrechtliche
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Stellung des Lehrers ergänzende und zugleich modifizierende Prinzip sichert den Pädagogen einen unabhängigen Gestaltungsraum im Rahmen einer eigenverantwortlichen Erziehung" (Avenarius; Heckel 2000: 341). Mit ihren Einschätzungen, Leistungsrückmeldungen und Zensuren steuert die Lehrkraft einen innerschulischen Verteilungsprozess, der im Einklang mit dem verfassungsmäßigen Gleichheitsgebot (Art. 3 Abs. 3 GG) stehen muss. Im Bildungsentscheidungsprozess nehmen die Grundschullehrer so eine multifunktionale Position ein. Diese Konstellation entsteht in den Schulwesen mit einem eingeschränkten oder teilweise eingeschränkten Übergang. Derzeit trifft das auf neun von sechzehn Bundesländern zu (s.h. Abb. 2.2.2). 2.5 Zusammenfassung Es ist das wirtschaftliche und industrielle Wachstum des 19. Jahrhunderts, das einer breiteren Bevölkerungsschicht einen gewissen Wohlstand bringt. Von der Entwicklung profitieren im Schulsystem maßgeblich die Mittelschulen, die zunächst alle Einrichtungen zwischen Volksschule und höherer Schule umfasst. Davor besucht die überwiegende Mehrzahl der Kinder die Volksschule, die in der Regel als Ganztageseinrichtungen angelegt ist. Das 20. Jahrhundert hält in seinen ersten vier Dekaden eine Reihe von sozialen und gesellschaftlichen Umbrüchen, Krisen und Kriege bereit. In der Weimarer Republik wird erstmals eine umfassende Reform des Schulwesens vorgenommen. Es ist die Einführung der verbindlichen Grundschule, die den Beginn des Umbaus eines segregierten Systems von höherer und niederer Bildung in ein nach der vierten Klasse vertikal verzweigtes Schulwesen markiert. Bis heute hält die Grundschule die Passage von der Primarstufe in die Sekundarstufe bereit und stellt als fakultativer Elementarbereich einen de facto Gesamtschulcharakter dar. Die Schulart steht vor der Herausforderung, die Bedingungen ihres schulischen Lernens so zu organisieren, das sie allen Schülerinnen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft einen Bildungserfolg ermöglichen soll. Auf diese Weise versucht sie den steigenden elterlichen Bildungsaspirationen gerecht zu werden. Mit dem Übergang in die Sekundarstufe 1 hält sie hingegen eine Passage für die unterschiedlichen Kinder bereit, an der sich die systemimmanente Chancengleichheit abzeichnet. Aktuell sieht das deutsche Schulsystem in den meisten Bundesländern nach vier Grundschuljahren eine institutionelle Schnittstelle und damit einen zwingenden Schulartwechsel für alle Schülerinnen und Schüler vor. Über die Beratungen und Information zur Sekundarstufe soll eine intensive Einbindung der Familien in den Prozess der Bildungsentscheidung garantiert werden. Die Kultusministerkonferenz (KMK) stellt den einzelnen Bundesländern frei, ob die Schulartenempfehlung der abgebenden Grundschule die Grundlage für
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die Entscheidung bzw. Entscheidungshilfe für den weiteren Bildungsgang der Schülerinnen und Schüler ist. Die Bildungsentscheidung kann folglich entweder auf Eltern- oder Schulebene getroffen werden. Dieser rechtliche Spielraum wird von den einzelnen Bundesländern ganz unterschiedlich ausgefüllt, wobei momentan noch diejenigen Länder überwiegen, die das Elternrecht über das Schulrecht stellen. Von 16 Ländern liegt die Entscheidungsrelevanz bei 12 auf Seiten der Eltern, während nur vier der Schule bzw. der Schulaufsicht die Verfügungshoheit einräumen. Diese sind Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen. In BadenWürttemberg gilt eine vierjährige Grundschulzeit, die für die Kinder mit der Einschulung im Alter von fünf bzw. sechs Jahren beginnt und dem Übergang in die weiterführende Schule endet. In den ersten beiden Jahren werden die Grundfähigkeiten, -kenntnisse und Schlüsselkompetenzen im fachlichen, methodischen und sozialen Bereich vermittelt. Während im 3. und 4. Schuljahr der Fokus auf die Förderung und spätere Leistungsdifferenzierung gerichtet ist. Grundsätzlich obliegt den Eltern die Erziehung und Pflege ihrer Kinder, was über den Artikel 6 des Grundgesetzes festgeschrieben ist. Das Elternrecht kann in schulischen Belangen durch das jeweilige Schulrecht des entsprechenden Bundeslandes eingeschränkt werden. Auf schulischer Seite sind die Lehrer für die Erziehung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen zuständig. Im Verlauf des Schulartwahlprozess kommt den Grundschullehrern in einer Reihe von Bundesländern noch die Aufgabe einer selektiven Aufteilung der Schüler in die sich anschließenden Schularten zu. Zudem müssen sie im Rahmen ihrer multifunktionalen Rolle die Eltern zudem bei deren Bildungsentscheidung begleiten und beraten. Der Schulübergang in Baden-Württemberg erfolgt in einem eingeschränkten Rahmen und ist somit der ersten Groppe, in der die Ländern Bayern, Thüringen und Sachen vertreten sind, zuzuordnen. Es wird eine leistungsbezogene Schulartzuweisung vorgenommen, die die Eltern indirekt beteiligt. Grundsätzlich liegt die Entscheidungshoheit schulrechtlich gesehen jedoch auf Seiten der Grundschullehrer und -lehrerinnen. Zu Beginn des zweiten Schulhalbjahres der 4. Klasse legt die Klassenkonferenz unter Vorsitz des Schulleiters die Bildungsempfehlungen für jedes Kind fest. Es werden sogenannte "Empfehlungen" für den Übergang in die Hauptschule (HS), die Haupt- oder Realschule (RS), die Haupt-, Realschule oder des Gymnasiums (GY) ausgesprochen. Diese orientieren sich vorwiegend an den erzielten Noten der Schülerinnen und Schüler in den Fächern Deutsch und Mathematik . In zweiter Linie können soziale oder individuelle Gesichtspunkte in Form von Lern- und Arbeitsverhalten berücksichtigt werden. Stimmen die Familien der Richtlinie der Grundschule zu, wird die Bildungsempfehlung rechtskräftig. Liegt die Durchschnittsnote in den beiden Hauptfächern bei 2,5 oder besser, dann kann der Schüler das Gymnasium besuchen. Bei einem Durchschnitt zwischen 2,6 und 3,0 ist der Besuch einer Realschule möglich und für alle Schulleistungen, die den Grenzwert unterschreiten, ist die Hauptschule vorgesehen.
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3.1 Zum Begriff der Bildungsentscheidung und der Chancengleichheit im Bildungswesen - Komponenten des Entscheidungsbegriffs Im Zuge der Bildungsexpansion der 1960er und 70er Jahre ist ein deutlicher Anstieg der Bildungsbeteiligungsquote insbesondere der Schulübergänge in die weiterführenden Schulen zu verzeichnen. Gleichzeitig hat die Bildungsforschung in verschiedenen Untersuchungen jedoch nachgewiesen, dass einem erheblichen Teil der Kinder der Weg in die weiterführenden Schulen verschlossen bleibt. Mit der Veröffentlichung der Pisa-Studien (Baumert 2001, 2006) ist die Debatte um die Chancengleichheit im Bildungssystem und die Struktur des Schulsystems neu aufgenommen worden. Während bislang Handlungsansätze häufig an einer Defizitperspektive von Merkmalen betroffener Schülerinnen und Schülern, ihrer familiären Umwelt und "Kultur" ansetzen, rücken ,,(...) die internationalen Leistungsvergleiche die Notwendigkeit in den Blick, institutionelle Barrieren abzubauen, die dem Lernerfolg im Weg stehen" (Gomolla 2004). Hinzu kommt der explizite Nachweis über die erheblichen sozialen Disparitäten bei der Bildungsbeteiligung in der gegliederten Sekundarstufe. Der vorherrschende Gerechtigkeits- und Gleichheitsdiskurs macht deutlich, dass die auf normativen Ansätzen und Auslegungen beruhenden Theorien um fundiertes Datenmaterial aus empirischen Forschungen und Erkenntnisse erweitert werden müssen. Der primäre Forschungsfokus richtet sich bis dato an symbolischen Spuren von differierenden Ungleichheitskontexten aus. In einer Reihe dezidierter Untersuchungen werden in den 80er und 90er Jahren die bipolaren Beziehungen von Sozialstruktur und Kultur (Haferkamp 1990, Eder 1993: 7ff.), Lagen und Milieus (Hradil 1987, 1987a, Vester 1998), Beruf und Wunsch, Klassenbildung und Schichtung (Haller 1989, Strasser 1987, 1988), Einkommensstatus und Lebensstil (Vester u.a, 1993, Vester u.a. 1995) der am Schulwahlprozess beteiligten Akteure untersucht'', In den 90er Jahren fokussierten sich die theoretischen Arbeiten zunächst auf die Erklärung von Bildungsungleichheit und -chancen in Übergangsprozessen. Dabei wird ausschließlich die Tragweite und Stabilität der Ungleichheitstrukturen analysiert'" , Neuerdings ist eine Trendwende des Forschungsinteresses festzustellen, die von der Makro- auf die Mikroebene geht und sich deshalb stärker auf den familiären Entscheidungsprozess ausrichtet. Mit der Fokussierung des Verhältnis 9
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Unter Akt eur wird im Folgenden ein allgemein handelndes Individuum verstanden. Entgegen handlungstheoretischer Annahmen ist der Begriff nicht auf Kollektive oder Aggregate bezogen, die auch Organisationen, Klassen oder Staat umfassen könnten (vgl. Braun 1999). Einen dezidierten Überblick bietet die Veröffentlichung von Kristen (1999).
T. Wiedenhorn (eds.), Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, EIternund Lehrersicht, DOI 10.1007/978-3-531-93060-2_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ses von Bildungsrenditen, -kosten und Erfolgswahrscheinlichkeiten " (...) ergab sich für die Bildungsentscheidung in den Familien ein neuer Forschungsschwerpunkt" (Harazd 2007: 47). Bislang ist der familiäre Einfluss bei der Schulwahlentscheidung auf die Herkunftseffekte (vgl. Müller 1975, Ditton 1992) und den Zusammenhang von kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital bezogen (Bourdieu; Passeron 1971, Coleman 1990), was mittlerweile hinreichend untersucht ist. In einer Reihe von Forschungen werden die zugrunde liegenden Mechanismen oder die Entscheidungskriterien häufig durch "black box"- Annahmen ersetzt, so dass die Mechanismen nur unzureichend erforscht sind. Mit entscheidungstheoretischen Modellen zur Erklärung (Georg 2006; Becker, Lautenbach 2007) nähern sich die Analytiker den unterschiedlichen Bildungsentscheidungsverläufen an, die mittlerweile als zentrales Moment für Bildungsungleichheit angesehen werden (ebd.). Die hier konzipierte Studie fokussiert sich auf den Bildungsentscheidungsprozess aus Sicht von Schülern, Eltern und Lehrern, um mit der Erforschung der drei Sichtweisen weitere Grundlagenarbeit zu leisten. Im ersten Abschnitt des Theorieteils wird eine adäquate Begriffsbestimmung für den Entscheidungsbegriff und die Bildungsentscheidung auf der Grundlage von Chancengleichheit erarbeitet. Diese vorgestellte Definition bildet den Ausgangspunkt für die Aufklärung der Mechanismen von Chancengleichheit im Verlauf von Bildungsentscheidungen. Mit dem Ansatz von Boudon wird eine strukturelle Erklärung von Bildungsungleichheit in die Rational Choice Theorie integriert und um eine theoretische Begründung der primären und sekundären Faktoren aus verschiedenen Disziplinen erweitert. Auf diese Weise soll der Rational-Choice Ansatz nicht nur auf der Mikroebene, sondern auch auf der Makroebene zur Erklärung von Bildungsungleichheit dienen. Die Vorgehensweise einzelner Akteure lässt sich so auf der Handlungs- und Entscheidungsebene beschreiben und auf der Makroebene deuten. Die theoretische Konstruktion des Entscheidungsprozesses im zweiten Kapitel baut auf dem Wert-Erwartungs-Ansatz (SEU) nach Esser auf, der das Rational-Choice-Modell (Kap. 3.4) mit dem boudonschen Erklärungsansatz für Bildungsungleichheit (Kap. 3.4.3) zusammenführt. Für die individuelle Schulartwahl entsteht so eine mathematisch-logische Beschreibung der wichtigsten Einflussvariablen. Durch die Integration der drei Theorien entsteht für die qualitativen und quantitativen Untersuchungsteile eine tragfähige Konstruktion, die stringent aufeinander aufgebaut ist. Die Entscheidungsforschung hat eine lange und über Einzeldisziplinen hinausreichende Tradition, deren theoretischer und empirischer Schwerpunkt mittlerweile in der Ökonomie, Psychologie, Mathematik und Philosophie verankert ist. Setzt man das Grundpostulat rationalen Handelns voraus, dann lassen sich zwei einander ergänzende Forschungsrichtungen ausmachen. Die präskriptive Entscheidungstheorie liefert formalisierte Regeln und Verfahren zur Strukturierung und
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Verarbeitung von anfallenden Informationen, um Akteuren in schwierigen Situationen eine unterstützende Handlungsanweisung zu geben (Jungermann u.a 2005). Dagegen entwickelt die deskriptive Forschung Theorien und Modelle des realen Verhaltens in Entscheidungssituationen, um diese einer empirischen Überprüfung zu unterziehen. Entsprechend der beiden Ausrichtungen gibt es eine Vielzahl von Begriffsbildungen zu Entscheidungsprozessen mit differenten fachlichen und methodischen Ausrichtungen. Eine Entscheidung kann bei einem rationalen Entscheidungsverlauf als ein mehr oder weniger "überlegtes, konfliktbewusstes, abwägendes und zielorientiertes Handeln" angenommen werden (ebd.: 3). Aus psychologischer Sicht erklärt es sich nach dem Wert-Erwartungs-Modell als Ergebnis einer Auswahl zwischen vorgegebenen Möglichkeiten, die als Prozess der vergleichenden Beurteilung und Wahl gekennzeichnet und von der intrapersonalen Grundhaltung des Akteurs abhängig ist. "Entscheidung setzt - wie andere kognitive Funktionen - immer Wissen und Motivation voraus und ist oft abhängig von der Emotion" (ebd.), In diesen Situationen greift der Entscheidende auf Erfahrungen in ähnlichen Situationen oder auf eingetretene Konsequenzen zurück. Ist die Aktivierung von Wissen und Vorwissen an intrinsische Motivation geknüpft, kann eine Entscheidung nach bestimmten Zielsetzungen oder -vorgaben herbeigeführt werden. In deren Folge bilden Alternativen (Ereignisse), Konsequenzen und Ziele die zentralen Elemente einer Entscheidungssituation (Eisenführ; Weber, 2003 zit, nach Eisnach 2005). Bei der Untersuchung der Merkmale von Entscheidungssituationen auf Mikroebene lag der Fokus lange Zeit auf den potentiellen Handlungsoptionen. Unter dem Aspekt des Wertes und der Wahrscheinlichkeit ihrer Konsequenzen sollten die Wahlmöglichkeiten von Akteuren angenommen und beurteiltet werden, um dann die bestmögliche Option auszuwählen (ebd.). Der Nutzen einer Entscheidungsfolge ist dann der Wert, den jemand der möglichen Konsequenz seiner Wahl beimisst. Diese Konsequenzen als Folgen einer Handlung können positiv oder negativ ausfallen. Simon differenziert den Entscheidungsbegriff im Weiteren nach choice (Wahl) und preference (Pr äferenz) auf der einen und utility (Nutzen) auf der anderen Seite (Simon 1964). Wichtigstes Kennzeichen einer realen Entscheidung ist seiner Ansicht nach die Wahlmöglichkeit mit einer Mindestzahl an Optionen für den Entscheidungsträger. Die Wahl einer Alternative basiert auf begründeten Entscheidungskriterien, die zielgerichtet sind. "Je vollständiger und detaillierter diese Kriterien vorformuliert sind, desto stärker ist der Ermessens- und Interpretationsspielraum bei der Auswahl eingeengt". Von Alternativen kann dann die Rede sein, "wenn es sich um sich gegenseitig ausschließende Verhaltensmöglichkeiten" (Biehl 1982: 27) handelt. Bei einer reflektierten oder rationalen Entscheidung geht der Wahl ein bewusster Prozess der Bewertung der gegenwärtigen Situation voraus (ebd.: 50). Der Begriff der Präferenz wird hierbei als eingeschätzter Nutzenwert
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müssen bewusst über eigene Zielvorstellungen und Präferenzen nachdenken und selbständig Entscheidungsalternativen generieren Gungermann u.a 2005). Die Vorgabe von vorstrukturierten Wegen oder Handlungsoptionen erfolgt nicht oder in einem geringen Umfang. Damit ist im Gegensatz zu allen anderen Entscheidungsformen ein Höchstmaß an kognitiver Anforderung notwendig. Die Bildungsentscheidung kann aufgmnd ihres eingeschränkten Handlungsrahmens bzw. der Vorstmkturierung und der Ausrichtung des kognitiven Verlaufs als Bewertungsprozesses vorläufig als reflektierte Entscheidungen eingestuft werden.
3.2 Die Schulartwahl als Bildungsentscheidung Aus struktureller Sicht ergeben sich Entscheidungen als Wahl- oder Auswahlsituationen beim Übergang von vorschulischen in schulische Einrichtungen, im Verlauf der Schulzeit in weiterführende Schulen und anschließend in die Berufsausbildung, Diese temporären Festschreibungen bilden im hierarchisch-selektiven Arrangement des Bildungssystems zwangsläufig Durchgänge und Korridore, an deren institutionellen Schnittstellen sich aus den Wahl- oder Auswahlpassagen Bildungsentscheidungen ergeben (vgl. Lemmermöhle 2002: 63). Unter dem Begriff der Bildungsentscheidung wird ein stmkturierter Entscheidungsprozess verstanden, der Bildungschancen für den öffentlich-sozi alen Raum eröffnet oder begrenzt. Selektiert werden die Akteure hauptsächlich nach der Qualität ihrer erzielten Leistungsziffern, die als " Eintrittskart en" in einem formalisierten Übergangsverfahren fungieren. Deren Vergabe erfolgt durch Lehrerinnen und Lehrer, die wie "Gatekeeper" wirken und die Bewegungs- und Erfahrungsräume im gesellschaftlichen Prozess der Differenzierung vorwiegend nach Leistung, aber auch nach Herkunft, Geschlecht, Ethnie, Region und Religion (vgl. ebd.) erschließen. Begrifflich fokussiert sich die Bildungsentscheidung in der vorgelegten Untersuchung zunächst auf die Wahl- oder Auswahl eines (Status-) Übergangs gemäß der temporär notwendigen Wechsel in die weiterführenden Bildungsinstitutionen (s.h. Abb . 3.1). Der Begriff der Schulartwahl umfasst in diesem Kontext die entscheidenden Phasen des schulischen Übergangs an den Schnittstellen des Bildungssystems. Für einen solchen Übergang sind ,,(...) in der Regel gut durchdachte, konsequenzenreiche und mit Risiken verbundene Entscheidungsprozesse (...)" (Meulemann 1985) auf Schüler-, Eltern- und Lehrerseite notwendig. Die Beschreibung der Verläufe soll über den Schu1artwahlbegriff hergestellt werden, über den sich die Entscheidungsebenen aufspannen. Nach Becker ergeben sich Bildungsentscheidungen weniger aus Routineverhalten, ,,(...) sondern [sie E.d.A.] bestehen vielmehr aus komplexen Entscheidungsprozessen, denen in der Regel eine mehr oder weniger umfassende Informationssuche, selektive Informationsverarbeitung und darauf basierende Abwägungs-
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prozesse vorausgehen" (Becker 2000: 451). Die Thematik ist auf die sich ergebenden oder erwarteten bildungsbiografischen Lebenschancen bzw. -risiken hin aufgeladen. Als Schulartwahl wird im staatlichen Bildungswesen eine von drei Passagen mit institutionalisiertem Auswahlprozess verstanden.
Abbildung 3.1: Die Schulartwahl alsTeilder Bildungsentscheidung Bezogen auf den Begriff der Bildungsentscheidung, liegt eine Schulwahlmöglichkeit streng genommen erst dann vor, wenn erfassbare Entscheidungskriterien gegeben sind. Zudem müssen mindestens eine Wahlmöglichkeit oder Handlungsoption, d.h. zwei Schularten oder im Fall einer eingeschränkten Schulartwahl die interdependente Interventionsmöglichkeit gegeben sein. " It is intimately bound up with the German three-pronged school system and refers to aselection process rather than a true choice, an Auswahl rather than a Wahl. (Herbst 2006: 135)" Eine solche Auswahl erfolgt nach bestimmten Entscheidungskriterien, die sich etwa auf Zielsetzungen, Aspirationen oder Wertehaltungen beziehen können. "Je vollständiger und detail1ierterdiese Kriterien vorformuliert sind, desto stärker ist der Ermessens- und Interpretationsspielraum bei der Auswahl eingeengt. Von Alternativen kann man nur dann sprechen, wenn es sich um gegenseitig sich ausschließende Verhaltensmöglichkeiten (.. .)" (Biehl 1982: 27) handelt. Bei der Schulwahl im dreigliedrigen
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Schulsystem trifft dies trotz der den Schularten zugedachten Funktionen!' nur bedingt zu. Vor allem in der Primarstufe ist die Grundspannung der Leistungsbewertung offensichtlich, die pädagogisch wirksame Rückmeldung (Förderorientierung) mit sanktionswirksamer Leistungskontrolle (Ausleseorientierung) zu verbinden versucht (Cortina, K, u.a. 2008: 363).
3.3 Zum Diskurs von Bildungsentscheidung und Chancengleichheit Der Begriff der Chancengleichheit ist Teil des Diskurses der bildungssoziologischen Ungleichheitsforschung, deren Fragehorizont sich auf reale Inklusion- und Exklusionsprozesse erstreckt. Das bildungspolitische Konzept gestaltet sich äußerst komplex und wird sowohl in Politik und Wissenschaft sehr unterschiedlich interpretiert. Eine grundlegende Definition liefert der Soziologe Meulemann für Chancengleichheit als ,,(. . .) die Gleichheit der Ergebnisverteilung für unterschiedliche Startbedingungen im Wettbewerb um die Verteilung der Ergebnisse (...): Arbeiterkinder und Beamtenkinder sollten mit den gleichen Prozentsätzen wieder Arbeiter und Beamte werden. Chancen sind bedingte Wahrschein1ichkeiten" (Meulemann 2004: 119). Nach seiner Auffassung ist soziale Ungleichheit in modemen Gesellschaften nicht grundsätzlich vermeidbar. Die gesellschaftliche Forderung ist so gelagert, dass die Start- und Wettbewerbsvoraussetzungen der Individuen so angelegt sein müssen, dass niemand "durch Lebensbedingungen, in die er hineingeboren wurde oder die ihm zugefallen sind, bevorzugt oder benachteiligt" wird (Hoffmann 2006: 25). Das gilt insbesondere für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Groppe oder Schichtung, die Einfluss auf die gesellschaftliche Positionierung hat. Auf die Lebensbiografie, insbesondere die Bildungsentscheidungen können sich "traditionell schichtspezifische, geschlechtspezifische, ethnische, konfessionelle und regionale Faktoren" (vgl. Klemm; Rolff 2002) auswirken. Unter Einbeziehung einer personalisierten Sichtweise lassen sich die Faktoren in sechs Momente der Chancengleichheit überführen:
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Den baden-württembergischen Bildungsplänen nach richtet sich die Hauptschule an Schüler mit einer höheren praktischen Begabung, während potentic1le Realschüler aufgrund ihres größeren theoretischen Abstraktionsvermögens dementsprechende Berufe und weiterführende Schulen anstreben können. Gymnasiasten erlangen aufgrund ihrer vielseitigen Kompetenzen, Interessen und Lembereitschaft mit ihrem Abschluss eine allgemeine Studierfähigkeit. (Bildungspläne für Haupt-, Realschuleund Gymnasium 2004).
Momen de Chancengleichheit
Wermalle IndividuenidealerWehe auf derBuis 'Von Gleichheit: behandelt ~ ut eine gnmdlegendc: Differenz zar Ungtc:lcl1hdt ~ben) die nidtt ausgek1atoJnett weldcn kann.. Viel.tndtt &ind beide KatcgorleD in einer Wc:chsc!:wttkung zu sehen, SO dus G1eicl1heit zu realisieren mcbt ohne e-ventue11e Ungleichheit er.reicht ~en kann, diese aber nicht gmndlegend lc:gitimic:rr. Der A~punltt _ Gc5C:1lscbaftcn ist das &.:ic und selbsttätige Individuu!n und die ~uBg aufttetende situa~ odee struhurcllc Ungldcbbeitt die nicht. mehr du Produkt der Gesellach.aft; von Stmdc:8prlvfu:gien oder einer GIau'bensfrage ~ sondern. das Ergebnis einer _ Bi1dungu:nstreoguDg und Leiatungafihig~ In der Annahme von CbAncetJgleichheit ~binden sich &eiheitli~
soziale und Hbct2lc: Denbnsit%e. Eine liberale Vorstl:Ihmg von Chancenglcichhdt ist dann gegeben, wenn der geset%1ic:he Weg tur SelbstverwiDlichung des Eim:elneo. mOglicht ut und die Geedlsc1Wt notfVJIs gezidtc materldlc Hilfe bw:itstcll~ um witlxhaftHche Schwicben I.Ulzugieichen. Du postmodeme VelStindniS von O1ancengleichheit gehtvon mindestens zwei .bnmm.coten Gmndmoddlen für Cbanccng1cichhdt12 llUSt die einer kritischen Reflexion bedürfen. Beim dtnplett Ptopotzlnodc11 werden die Abtl:ilc der vemchicdeaea geseD.schlft1i.che.a Gruppen e.o.tspreehe:od ihres prozentua1en Vorkommens auf den verschiedenea hierat:cl1ischen Bbc:o.en der B~onen mit den
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Anteilen der Gesamtbevölkerung verglichen. Dabei spielen die Merkmale wie Geschlecht, Herkunft, Religion usw . eine Rolle. "Proportionale Chancengleichheit ist verwirklicht, wenn die Gruppen auf den verschiedenen Ebenen des Bildungssystems anteilsmäßig so vertreten sind wie in der Bevölkerung" (Geisler 2005: 72). Je weiter diese prozentuale Verteilung von der idealen auseinander geht, desto geringer fällt die Chancengleichheit der einzelnen Schichten aus. Die Ergebnisse der Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre wurden mit Hilfe des Proporzmodells so gedeutet: Es ist zwar zu einer signifikanten Steigerung der Bildungschancen über alle Schichten hinweg gekommen, die Anteile sind insgesamt nur auf ein höheres Niveau transponiert worden, um dort schichtspezifisch stabil zu bleiben (vgl. Ditton 1992: 87). Das meritokratischen Modell indes begründet Chancengleichheit auf dem Prinzip der Leistung, welches mit der Ablösung der Ständeordnung im 19. Jahrhundert Einzug gehalten hat (vgl. Kampshoff; Lumer 2002). Danach ist an die Stelle von ererbten Machtpositionen und Güter eine Struktur getreten, die dem Leistungsprinzip folgt und nach der eine gesellschaftliche Positionierung ausschließlich über erzielte Leistungen und Kompetenzen erfolgen soll. Für die Schule legitimiert dieses Paradigma so die Aufteilung der Schüler nach Leistungsstufen (Vester 2005: 40). Eine empirische Bestandsaufnalune zur meritokratischen Chancengleichheit ist äußerst schwierig, da die individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen durch ihren Platz in einer mehrdimensionalen Sozialstruktur erworben werden. Aus diesem Grund ist das Ergebnis immer abhängig von den Instrumenten der Leistungsmessung. Solga (2005: 19ff.) verweist darauf, dass die Messung nicht durch sozial stark geprägte Schulnoten und Lehrerempfehlungen, sondern über weniger beeinflusste standardisierte Tests vorgenommen werden können. Zudem hat die kritische Interpretation der Ergebnisse unter den genannten Kriterien einen wesentlichen Einfluss auf das "gemessene" Leistungspotential. In Analogie zur heutigen Situation führen Dahrendorf, Picht und andere mit ihren empirisch angelegten Untersuchungen in den 1960er Jahre den Nachweis, dass eine konfessionelle, schicht-, geschlecht-, und regionalspezifische Ungleichheit bei jeglicher Art von Bildungsentscheidungen besteht. Für Teichler sieht damals die Zielvorgabe für Chancengleichheit, nämlich ,,(.. .) die Bedingungen des Lernens so zu organisieren, dass alle Lernenden, unbeschadet ihrer Herkunft und anderer Merkmale, die gleiche Aussicht auf Bildungserfolg haben" (feichler 1974,: 203), nicht erreicht. Die Forderung nach einer Veränderung des Bildungssystems begründe sich seinerzeit vor allem aus einer bildungsökonomisch - meritokratischen Perspektive, die sich in der Pichtsehen Formulierung als "die Deutsche Bildungskatastrophe" (1964) manifestiert und zu der Dahrendorfschen Forderung nach der "Bildung als Bürgerrecht" führt. Durch eine aktive Bildungspolitik, die u.a. die Einführung der Gesamtschule mit sich bringt, sollen die "Begabungsreserven", der von unterproportionaler Bildungsbeteiligung betroffenen Schülerschichten besser genutzt werden.
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Aktuell wird zusehends auf soziale Disparitäten als Ursache für mangelnde Bildungschancen im Zuweisungsverfahren hingewiesen. Davon betroffen sind noch immer vor allem niedrige Sozialschichten (vgl. Baumert; Stanat; Watermann 2006). Die empirisch belegte Tatsache, dass trotz einer gestiegenen Bildungsbeteiligungsquote nicht allen Kindern in gleicher Weise der Zugang in die Sekundarstufe offen steht, rückt wieder in den Fokus der aktuellen Bildungsdebatte. Die wichtigste Weichenstellung bei der Verteilung von Bildungschancen erfolgt beim Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe. Über die Relevanz herrscht bei allen Beteiligten Konsens. In der schulischen Realität steht die Chancengleichheit in den Fällen auf dem Prüfstand, in denen die Erwartungen auf Schüler- und Elternseite nicht hinreichend erzielt werden. Die landesrechtliche Regulierung des Übergangsverfahrens hinsichtlich einer Austarierung des Elternversus Schulrecht bergen strukturelle Risiken. Ditton weist in seinen Studien darauf hin, " dass bei der Freigabe des Elternwillens bei Übertrittsentscheidungen soziale Disparitäten zunehmen, da die stärker an die schulischen Leistungen gebundene regulierende Funktion von Übergangsempfehlungen verloren geht" (Ditton 2005: 129, zit. nach Ramseger; Wagener 2008: 23). Nach Lamprecht und Stamm dienen die erzielten Leistungsziffern im Bildungssystem durchaus dazu die Chancen einzelner zu verteilen, aber das Verteilungssystem als solches zeichnet sich durch soziale Ungleichheit aus (Lamprecht; Stamm 1996). "Über die Selektion- und Allokationsfunktion von Schule wird neben der Verteilung von Chancen allerdings auch eine Legitimierung von Macht- und Ungleichheitsstrukturen bewerkstelligt" (ebd.).13 Die Verteilungsmuster richten sich wiederum an meritokratischen Regeln aus. Eine erste Relevanz erlangen die Überlegungen zur gesellschaftlichen Positionierung erstmals mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Ab dem Zeitpunkt wurde allen Individuen die theoretische Möglichkeit auf einen gleichberechtigten Zugang zu den Bildungsinstitutionen eingeräumt. "Ungleichheit auf der Basis von Gleichheit zu erzeugen, machte die Effizienz und Anschlussfähigkeit der Schule für Differenzierungs- und Inklusionsprozesse aus (Strobel-Eiseie 1992: 198)" . Die staatlicherseits eingerichtete erste Passage ließ sich nur über eine verpflichtende Teilnahme bis zum Ablauf der Schulpflicht einführen. Doch nur wer es sich leisten konnte, schickte seine Kinder nach der Vorschule in das Gymnasium (s.h. Kapitel 2.1.3). Für die heutige "Wissensgesellschaft" hat die Forderung nach Chancengleichheit nichts an Aktualität eingebüßt. Sie muss lediglich in einem um13
Auf den Zusammenhang der Verschleierung von sozialer Ungleichheit im Bildungswesen weisen Bourdieu und Passeron (1971) in ihrem Werk " Ideologie der Chancengleichheit" eindrücklich hin.
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fassenderen Sinne legitimiert, empirisch überprüft und gesellschaftlich verankert werden: "Das Bildungswesen hat die Voraussetzungen zu schaffen, dass alle Menschen, unabhängig von ihrem sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund, ihrer ethischen und kulturellen Herkunft und ihren individu ellen Voraussetzungen, Bildungsangebote wahrnehmen können, die ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechen . Förderung von Bildungschancen bedeutet insbes ondere die Überwindung von Barrieren , die einer gleichberechtigten Teilnahme an der Bildung und einer optimalen Förderung entgegenstehen. (00') Sie erschließt Potentiale für die Gesellschaft und ist ein konstitutives Element der Demokratie (Arbeitsstab Forwn Bildung 2001: 4)"
In der Bundesrepublik beruht Chancengleichheit als Option zur gesellschaftlichen Teilnahme mehr denn je auf Bildung und dies lässt sich am Rückgang der Schülerzahlen in die Hauptschule bei gleichzeitigem Anstieg der Übergangsquote in die Realschule und das Gymnasium ablesen. Ein gesellschaftlicher Diskurs wird fortlaufend darüber geführt, welches Verteilungsmodell zum Zuge kommt, in welcher Form Bildungschancen empirisch erhoben werden und was letztlich der optimale Weg ihrer Realisierungist. Im nachfolgenden Abschnitt gilt es das Zustandekommen von Bildungsentscheidungen und die hierbei relevanten Kriterien und Leitmotive auf theoretischer Ebene zu klären.
3.4 Der Rational-Choice Ansatz als ein theoretisches Erklärungsmodell für Bildungsentscheidungen
3.4.1 DieGrundstruktur der Rational-Cboice-Theorie Die Rational-Choice-Theorie folgt den Grundsätzen des methodologischen Individualismus und entstammt den strukturell-individualistischen Richtungen (vgl. u.a, Raub, Voss 1981, Coleman 1991; Esser 1991; Büschges; Abraham 1998; Abraham 2001a,b; König 2003). Mit diesem theoretischen Konstrukt lassen sich sozialwissenschaftlich relevante Ereignisse auf die Mikrostrukturen des Handelns zurückführen (Schmidt 1998: 22). Alle Ausrichtungen der RC-Theorie folgen der Theorietradition des Utilitarismus und begründen sich zum einen auf die Vertragstheorie von Hobbes und Locke und zum andern auf die Tauschtheorie nach Hume und Smith (ebd.). Im Mittelpunkt steht die Annahme, dass "intentionale Handlungen rational handelnder Akteure die Phänomene der Sozialwelt bestimmen" (ebd.: 22). Seiner Entscheidung und der nachfolgenden Aktion oder Reaktion legt der Akteur einen maximal zu erwartenden Nutzen zugrunde. Das Handeln ist situativ abhängig vom Interdependenzgrad weiterer beteiligter Akteure. Entsprechend der Situation lässt sich zwischen einer strategischen Unabhängigkeit und Interdependenz unter-
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scheiden. Das Ergebnis einer Handlung kann von einem oder mehreren Akteuren abhängig sein. Ist das Resultat einer Handlung nur durch die eigene Handlungswahl bedingt, spricht man von einer Situation strategischer Unabhängigkeit. Wenn das Ergebnis der Handlung und der nachfolgenden Entscheidung von der Wahlhandlung weiterer Personen abhängt, ist von einer Situation strategischer Interdependenz die Rede (ebd .), Das bedeutet, dass egal auf welcher Ebene der Einzelne agiert, dessen sozialer Kontext und die entsprechenden Präferenz- oder Werteordnungen zu berücksichtigen sind. Situationen mit strategischer Unabhängigkeit lassen sich in drei verschiedene Richtungen ausdifferenzieren, insofern die Akteure sich über den Ausgang ihrer Handlungswahl unsicher, weniger sicher oder sicher sind. Situationen strategischer Interdependenz unterscheiden sich nach der Möglichkeit gegenseitige Vereinbamngen treffen zu können, wie das im Gefangendilemma'" der Fall ist. RCTheoretiker wie Voss (Diekmann; Voss 2004) und Opp (1999) verweisen vor allem auf soziale Situationen strategischer Interdependenz, in denen kooperatives Verhalten für nicht durch externe Instanzen eingeschränkte Akteure zwar vorteilhaft ist, jedoch schwierig zu erreichen. Der umgekehrte Fall liegt bei Bildungsentscheidungen vor, bei der Eltern und Kinder zu einer Einigung kommen müssen. Diese gilt es gegen die Bildungsempfehlung der Lehrer zu behauptet oder durchsetzen. Da die Eltern eine Entscheidungshoheit gegenüber den Kindern besitzen, ist anzunehmen, dass es nur in wenigen Fällen zu einer Diskrepanz kommt. Eine Einigung ist so für beide Seiten grundlegend wichtig. Im Verständnis des rationalen Handelns reicht die Bildungsentscheidung entsprechend der äußeren Konstellation von einer strategischen Unabhängigkeit im Fall einer Elternentscheidung bis hin zu einer strategischen Interdependenz für den Fall, dass Eltern, Kinder und Lehrer gleichermaßen Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben. In einer Übersicht lassen sich die beiden Ausrichtungen so darstellen:
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In der Originalfassung des Gefangenendilemmas müssen zwei Komplizen ins Gefängnis. Sie sollen wegen eines Deliktes verurteilt werden, für das ihnen jeweils zwei Jahre Haft droht. Jeder der beiden hat die Chance die Tat zu gestehen, was ihm einen Freispruch einbringen würde und dem Komplizen die Höchststrafe von 7 Jahren. Gestehen allerdings beiden die Tat, dann erhalten sie jeweils nur vier Jahre Haft Gungermann u.a. 2005: 336).
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Theorie rationalen Handelns Strategische Unabhängigkeit Strategische Interdependenz (Nutzentheorie) (Spieltheorie) Unsicherheit Risiko Sicherheit bindende bindende VereinbaVereinbarung (objektive (Wahrscheinrungen (subjektive nicht möglich Wahrscheinlichkeit Wahrscheinmöglich lichkeit) nach lichkeit) (nicht-koope(kooperative ooder 1) rative Spiele) Spiele)
Tabelle 3.2: Zweige der Theorie rationalen HandeIns (5chmidt 1998:23) Die Deutung komplexer Phänomene wie der Bildungsentscheidung setzt die Verbindung zu einer allgemeineren Gesetzmäßigkeit voraus, deren nomologischer Kern sich als Gesetzmäßigkeit auf der Makro-Ebene verankert (Esser 1991: 40). Das Rahmenkonzept verknüpft die Handlungsebene mit der Gesellschaftsebene: 1. 2.
Die Makroebene bildet das kollektive Verhalten ab und die Mikroebene erklärt die Handlungen des Individuums, die ein soziales System bilden.
Eine Aufklärung kollektiver Phänomene kann nicht allein auf die Makroebene beschränkt bleiben, ,,(.. .) sondern erfordert zwingend den Rückgriff auf die Mikroebene und die handelnden Akteure, die diese bilden" (ebd.). Sie allein kann nicht klären, wie die sozialen Prozesse auf der Mikroebene zustande kommen: Ausgangsbedingungen der Umwelt
Kollektive Handlungsfolgen
Abbildung 3.3: Dasstrukturell-individualistische Erkliirungsschema (Abraham 2001:3)
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Es sind wenigstens drei Arten von theoretischen Aussagen notwendig (vgl. Coleman 1991: 24), die im Folgenden dargestellt sind: Grundlage für diese schematische Darstellung des handlungstheoretischen Rahmens ist das anreizorientierte und zie1gerichtete Verhalten des Individuums'", Werden die verschiedenen Faktoren individueller Handlungen innerhalb dieses Rahmens empirisch untersucht, tritt das Problem der Unvollständigkeit's auf. In der Folge kommen häufiger unaufgeklärte Mechanismen als "Warum -Fragen" in funktionalen Analysen auf und die allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten werden über konkrete Verhältnismäßigkeiten immer mehr in Frage gestellt (Esser 1991). Das trifft vor allem auf die Variabilität und Instabilität von sozialen Beziehungen und die Bedingungen des menschlichen Problemlöseverhaltens zu. "Die Grundüberlegung ist nun die, die speziellen sozialen Bedingungen des Handelns explizit mit den theoretischen Thermen der allgemeinen Theorie des Problemlöseverhaltens über eigene Hypothesen zu verbinden" (ebd.:42). Dazu werden in einem ersten Schritt sogenannte Brückenhypothesen formuliert, die eine Verbindung zwischen der individuellen Handlungs- oder Entscheidungssituation und der Ausgangssituation auf der Makroebene entstehen lassen. Als Interaktionsbeziehungen werden die rechtliche Ordnung, institutionelle Regelungen oder der soziale Kontext vorausgesetzt, die Handlungsmöglichkeiten und -ziele mitbestimmen. "Diese Faktoren bestimmen Handlungsspielräume, setzen Handlungszwänge und bieten Handlungsmöglichkeiten von wechselseitig miteinander verbundenen Personen. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den institutionellen Regeln zu. Neben Brauchtum, Sitten und anderen Verhaltenskodizes beeinflussen diese z.B, in Form von Verträgen oder Rechtsregeln individuelles Verhalten und Handeln wie seine Folgen.'?" (Abraham 2001: 2).
In einem zweiten Schritt gilt es die Annahmen auf dem Hintergrund der Entscheidungsweise der Akteure mit den resultierenden Handlungsfolgen zu verknüpfen. Grundlage für diesen handlungstheoretischen Ansatz ist, dass sich die Individuen vorwiegend zielgerichtet verhalten. Im Fokus stehen dabei ihre jeweiligen Möglichkeiten und die gegebenen Umstände. Die Brückenhypothesen müssen in der Rea15
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Eine grundlegende Ein führung in die Rational-Choice-Theorie findet sich u.a. bei Büschges; Funk ; Abraham 1998; Opp 1999; Diekmann; Voss 2004 und aus wirtschaftss oziologischer Sicht bei Coleman 1991. Kritisch diskutiert wird der Ansatz z.B, in Coleman und Fararo 1992 oder Ultee 1996. Eine Übersicht über den ncucren empirischen Forschungsstand bietet Diekmann u.a, 2008. Nach E sser lässt sich das Problem der Unvollständigkeit durch die Allgemeinheit der Regel zur Handlungswahl erklären. Ein Akteur wählt aus einer Reihe von Alternativen diejenige aus, die die relativ höchste subjektive Nutzenerwartung erzielt. Seiner Ansicht nach ist das die Kemaussage des Theoricprogramms und als solches nicht weniger risikobchaftet, wie andere soziologische Gesetze (Esser 1991: 60). Scott (Scott 1995: 92-113) bietet einen Einblick in die empirische Forschung über den Einfluss von Institutionen auf organisatorische Phänomene (nach Abraham 2001).
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lität an Einzelfällen empirisch kontrolliert und auf die Zielsetzung hin begründet werden, um so deren Anbindung zu überprüfen. Mit dem skizzierten Verfahren lässt sich die Rational-Choice-Theorie als allgemeines Erklärungsmodell auf soziale Handlungen hin modifizieren. Sie bildet so die theoretische Grundlage, um etwa Bildungsentscheidungsprozesse nutzenorientiert erklären zu können. Den Akteur im Rahmen von Rational-Choice Ansätzen skizziert Lindenberg als " homo oeconornicus" und legt grunds ätzlich ein offenes Menschenbild zugrunde . Kritisch gesehen ist der Akteur ein atomisiertes und seine eigenen Interessen verfolgendes Wesen (Lambert 2000). Die Rational-Choice-Theorie in den Sozialwissenschaften beschreibt den Handelnden ohne bestimmte Restriktionen als "restricted, resourceful, expecting, evaluating, maximizing man", was als RREEMM-Modell in die Literatur Eingang findet. (Lindenberg 1995: tOOf.). Der Akteur kann zum einen aus verschiedenen Handlungsmöglichkeiten auswählen (resourceful), dennoch unterliegt er verschiedenen Beschränkungen (restricted), die seine Erwartungen hinsichtlich seiner Handlungsmöglichkeiten einschränken (expecting). Die gegebenen Optionen werden nach seiner Präferenzordnung bewertet und abgewogen (evaluating), damit er mit möglichst geringem Aufwand sein Ziel erreichen kann (maximizing) (ebd.). Diese Faktoren lassen sich auf das Handeln des Entscheidungsträges abbilden, der auf dem Hintergrund seiner begrenzten Informationsverarbeitung und seines Wissens agiert. Dabei muss er zunächst die Entscheidungssituationen spezifisch interpretieren, um prozedural rational zu handeln (Esser 1999). Die Situationsinterpretation kann sich entsprechend der intra- und interpersonalen Disposition unterscheiden. "Menschen handeln demnach also nicht aufgrund objektiver Faktoren, sondern aufgrund ihrer mehr oder weniger gut validierten subjektiven Situationsdefinitionen" (Harazd 2007: 40). Die individuell-situative Einschätzung der Einzelakteure wird in der RC-Theorie zumeist nach dem "framing"-Konzept (Goffmann 1996) erklärt. Es findet in einer Situation eine Orientierung und Selektion der subjektiven Situation statt. "Diese "Definition" der Situation geht von den inhaltlichen Bestimmungen der äußeren und der inneren Bedingungen, den Restriktionen, den institutionellen Regeln und den signifikanten Symbolen wie der Identität des Akteurs aus" (Esser 1999: 173). Eben für die Einbeziehung der Akteure als Entscheidungsträger spielen die institutionellen Regeln und sozial zugeschriebene Symbole und Normen eine wichtige Rolle. Sie bestimmen das soziale Recht auf Kontrolle bestimmter Handlungen oder Entscheidungen eines Akteurs durch einen anderen (Müller; Schrnidt 1998: 118). Das Resultat einer Situationseinschätzung ist die Zusammenstellung eines logischen Sinnzusammenhangs, von dem aus die Entscheidungsfindung ausgeht. Unter inneren Bedingungen, die die Handlungen des Akteurs bestimmen können, sind augenblickliche Motive, Kognitionen und Emotionen zu fassen (Harazd 2007: 40). Darüber hinaus gehen noch Wünsche, Bedürfnisse, eigenes Wissen und er-
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worbene Informationen, Fähigkeiten und Fertigkeiten und die gemachten Erfahrungen mit in die Entscheidungsfindung ein. Über diese Komplexität und Differenziertheit hinweg muss der Akteur für sich eine Reduzierung vornehmen, denn eine "bewusste Infonnationsaufnahme (Wahrnehmung) und die Informationsverarbeitung (Analyse, Bewertung und Entscheidung) aller Reize ist unmöglich (ebd.). Deshalb wird die Komplexität aktiv reduziert. Um eine kognitive Überforderung zu vermeiden, stellen die Handlungsakteure unwichtige Aspekte und Faktoren an den Rand oder blenden diese ganz aus. Auf die Weise grenzen sie ihren Rahmen ein (frame) und handeln dann nach einer reduzierten Interpretation der sozialen Wirklichkeit (Hill2002) . Der Handelnde geht nach einer an seinen Vorannahmen, Überlegungen, Vorlieben und Erfahrungen orientierten Präferenzordnung vor. Für eine Entscheidungsfindung sind die Randbedingungen von einer nicht unerheblichen Relevanz, weil sie der Ausgangspunkt für ein mögliches Entscheidungshandeln sind. "Die Präferenzen sind für sie "exogen" vorgegeben und einfach da. Das wird der Nutzentheorie oft vorgehalten, besonders von soziologischen Handlungstheorien, die alle - irgendwie - versuchen, auch die Entstehung ihrer eigenen Randbedingungen zu erklären" (Esser 1999: 298). Eben diese sozialen Randbedingungen der Schulartwahl spielen als Kriterien für den weiteren Erklärungszusammenhang eine wichtige Rolle. Grundlage für die vorliegende Analyse der Bildungsentscheidungsprozesse an der Schnittstelle von Bildungsaspirationen und Schullaufbahnen ist das Rational Choice Modell. Innerhalb dieses Ansatzes wird das Bildungsverhalten als Prozess des Abwägens der erwarteten Kosten und Erträge, sowie des wahrscheinlichen Erfolgs über die Schullaufbahn hinweg erklärt (vgl. Ditton 1992, Becker 2000a, 2001). Nach dem Ansatz greifen Entscheidungsträger lediglich auf diejenige Alternative zurück, bei der der erwartete Nutzen die angenommenen Kosten übersteigt oder beide Variablen in einem besseren Verhältnis zueinander stehen (Ditton 2005: 122). Die Prozesse der Entscheidungsfindung setzen dabei auf Eltern- und Schülerseite keinesfalls perfekt informierte und "kalkulierende" Akteure voraus (Esser 1991). Ihre Entscheidung treffen die Beteiligten "rational" auf der Grundlage der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen und den für sie relevanten Kriterien. Rationalität meint dabei, dass der Handelnde ,,(. ..) die Alternative wählt, die ihm am vorteilhaftesten erscheint" (Hill2002: 50). Bezogen auf den Theoriezusammenhang wird darunter vor allem das Handeln in ,,(...) Übereinstimmung mit den Annahmen (Axiomen) einer Entscheidungstheorie" verstanden (Diekmann; Voss 2004: 13). Ein solches Vorgehen legt die implizite Voraussetzung zugrunde, dass der ,,(. ..) Nutzen eines Individuums objektiv bestimmbar ist und zwar aus den Merkmalen der objektiv vorliegenden Situation, in die das Individuum gerade involviert ist" (Lambert 2000: 13).
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Die eine Theorie rationalen Handelns, zumeist als Rational-Choice-Theorie oder RC-Theorie bezeichnet, gibt es nicht, sondern eine Reihe von Varianten, die dem Grundprinzip des methodologischen Individualismus als Verwendung von "gesetzmäßigen" Annahmen über menschliches Verhalten oder Handeln folgen. Bezogen auf die Gesellschaft oder andere Sozialformen bedeutet ein solches naturwissenschaftliches, individualistisches Verständnis von Sozialwissenschaft, dass das Individuum allem übergeordnet ist und als " Resultat zielorientierter Handlungen (...) verstanden" wird (Ortmann; u.a. 2008: 219). Der Kerngedanke bildet die Hypothese, dass Individuen anreizorientiert handeln und dabei diejenigen Alternativen wählen, die mit den für sie selbst günstigsten zu erwarteten Konsequenzen verbunden sind. (Diekmann; Eichner; Schmidt; Voss 2008: 7). Ihre Entscheidungssituation grenzen sie im Zuge eines framings ein und greifen nachfolgend auf übergeordnete Kriterien zurück. Die Verwendung der RC-Theorie für diese Untersuchung erscheint als Erklärung von Bildungsentscheidungen aus drei Gründen überzeugend: 1. 2. 3.
In der RC-Theorie bilden wie in der Bildungsentscheidung die Akteure den Ausgangspunkt aller Aktionen. Die Handelnden verfügen über Ressourcen (bzw. agieren eingeschränkt durch Restriktionen), haben Präferenzen oder Handlungsziele und können wenigstens zwischen zwei Alternativen wählen. Die Theorie bzw. der Entscheidungskontext gibt Regeln vor, die der Akteur ausführen kann oder wird (Diekmann; Voss 2004: 15).
Überdies setzt der RC-Ansatz die Annahme voraus, dass alles Handeln auch einer " ökonomischen" Rationalität unterliegt. Hierbei wird das Augenmerk der Konstruktion in erster Linie auf das Ziel objektivierbarer Erklärungen gelegt. Mit dem Ansatz einher geht die Ausblendung der Kategorien "Sinn" und "Bedeutung" und die strikte Orientierung an den Regeln der analytischen Wissenschaftstheorie (Esser 1991: 39). Die Reichweite beschränkt sich auf die mikrosoziologische Ebene, da es für die Lösung und Erklärung von sozialen Prozessen des Menschen als "homo oeconomicus" eine Reihe von Variabilitäten und Instabilitäten gibt. Nur auf dem Hintergrund differenzierter normativer Setzungen und Vorannahmen sind die Einzelheiten des Rational-Choice Modells so zu verstehen (ebd.). Bei der Modellierung und Auswahl einer solchen handlungs- und verhaltenstheoretischen Tiefenerklärung führen Lindenberg und Wippler folgende Auswahlkriterien an. Für ein potentielles Modell müssen sich eine überschaubare Anzahl an Parametern ableiten und typische Situationen, Erwartungen, Motivationen und Muster von Handlungsalternativen berücksichtigen lassen (Wippler; Lindenberg 1987). Neben der empirischen Erklärkraft ist ein " sparsames" Modell zu präferieren, das mit wenigen Annahmen möglichst weitreichende Erklärungen er-
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laubt (Lindenberg 1992). "Die Grundüberlegung ist nun die, die speziellen sozialen Bedingungen des Handelns explizit mit den theoretischen Termen der allgemeinen Theorie des Problemlöseverhaltens über eigene Hypothesen zu verbinden ." Diese werden mittels gesonderter empirischer Einzelfallprüfungen analysiert. Ergeben sich begründete Verbindungen zwischen den Annahmen, werden sie als Brückenhypothesen bezeichnet. (Esser 1991: 42). Die Formulierung von Theorie-Empirie geleiteten Brückenhypothesen soll in einfacher Weise möglich sein, da sie einer Variablenprüfung der aufgestellten Gleichung entspricht. Mit einer solchen logischmathematischen Überprüfung der Verhältnismäßigkeiten von Einzelfaktoren lassen sich wichtige soziale Aspekt der Bildungsentscheidung untersuchen. Die standardisierte Vorgehensweise erlaubt eine quantitative Erfassung und Erhebung von Bezugsgrößen. Ein solches Vorgehen ist bezogen auf die Entscheidungsfaktoren unpsychologisch, da mit ihm die Kriterien und Motivation der Akteure nicht hinterfragt werden können. Für das geplante Vorhaben ist eine Aufteilung in quantitativer und qualitativer Untersuchung deshalb wichtig, um die verschiedenen Faktoren für eine rational und emotional begründete Bildungsentscheidung zu erheben und so eine Prüfung der handlungstheoretischen Annalunen und Theoreme vorzunehmen (vgl. Esser 1991: 50). Darüber hinaus gilt es die Parameter der Handlungstheorie möglichst präzise zu fassen, wobei zu berücksichtigen ist, dass äußere Faktoren, wie Emotionen, das Entscheidungshandeln mitbestimmen. Mit einer solchen erweiterten Interpretation des Rational Choice Ansatzes soll der Kritik Rechnung getragen werden, dass die in den Blick genommenen Sozialbeziehungen nicht ausschließlich von utilitaristischen Gesichtspunkten geleitet sind. RC wird auf einer sehr "bescheidenen" Ebene als Instrument zur Analyse von Entscheidungssituationen begriffen, die nach Ferejohn und Satz (1994) gerade dann am erklärungskräftigsten ist, wenn die Handlungsoptionen begrenzt sind. Die Bildungsentscheidung von Eltern und Schülern in Baden-Württemberg ist aufgrund rechtlicher Vorgaben äußerst eingeschränkt (s.h. Kapitel 2.4.1). Einen Teil ihrer Entscheidungshoheit müssen sie aufgrund der erstrangigen Stellung der Bildungsempfehlung an die Lehrerinnen und Lehrer abgeben.
3.4.2 Das Verhältnis von Individuum undGesellschaft im Rational-Choke
,Jede Theorie
wird durch die analytische Perspektive bestimmt, aus der sie ihren Gegenstand, im Falle der Sozialtheorie also die Gesellschaft, betrachtet" (Kappelhoff 2000). Grundlage der Rational Choice Theorie als individualistischer Ansatz ist, dass der Einzelne im Zentrum des Handelns steht und somit der Gesellschaft übergeordnet ist. Das komplexe und vielschichtige Gebilde, das wir als Gesellschaft kennen, wird der Bedingung nach zum " (.. .) Resultat zielorientierter Handlungen autonomer Akteure (...)" (ebd.: 219) und Gesellschaft zur Summe aller interes-
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senge1eiteten Individuen. Dem grundlegenden Axiom des Ansatzes folgend kann der Akteur als Ausgangspunkt und Zweck gesellschaftlicher Organisation aufgefasst werden. Die soziale Konstruktion von Familie auf der Meso- und Gesellschaft auf der Makroebene unterliegen so dem Postulat eines ahistorisch verstandenen Optimierungskalküls (vgl. ebd.) und leiten sich daraus ab. Aus dem Zusammenspiel von Handlungen auf der Mikroebene transformieren sich schrittweise Handlungsresultate auf die Makroebene. Die Freiheitsgrade sozialer Groppen leiten sich ausschließlich aus der Handlungsautonomie des Einzelnen ab. Soziale Stellungen oder hierarchische Platzierungen rücken theoretisch ebenso in den Hintergrund, wie ein interaktionistisch, lerntheoretisch oder symbolisch ausgerichteter Bezugrahmen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass nur Individuen handeln können, das heißt, dass jede Begründung und Erklärung sozialer Tatbestände letztlich auf individualistische Gesetzmäßigkeiten zurückgreift. Eingeschränkt werden kann die Handlungsfreiheit auf der Makroebene durch institutionelle Vorgaben, wie dies in Form von notenbezogener Bildungsempfehlungen möglich ist. "Eine Berücksichtigung der gesellschaftlichen Konstitution des Individuums würde das Beziehungsgeflecht zyklisch schließen und zu einer Theorie anderen Typs führen, nämlich letztlich zu einer Komplexitätstheorie, die Entwicklungsprozesse und Emergenzphänomene als Koevolution einer Vielzahl gleichberechtigter Ebenen systemtheoretisch erfaßt (ebd.: 221). Auch Theoretiker des Rational-Choice Ansatzes erkennen zuweilen Strukturen oder Präferenzen als Randbedingungen an, die die Nutzenkalkulation rationalen Handelns in eine bestimmte Richtung lenken (Münch 1998: 79). Nach den Aussagen von Kliemt (1993) ist das Handeln vieler Akteure "nicht nur von den zukünftigen Kausalfolgen (...) motiviert, sondern ist ebenso von inneren Beschränkungen, Bindungen bzw. Festlegungen bestimmt (vgl. Kliemt 1993: 306). In den folgenden Kapiteln erfolgt die Transformation des Rational Choice Ansatzes als "Nutzen-", oder "WertErwartungstheorie" auf den Bildungsentscheidungsprozess in Form der Subjective Expected Utility (SEU) oder Wert-Erwartungs-Theorie. Aus den vielen diversen theoretischen Modellen wird der konzipierten Untersuchung der Wahlentscheidungsansatz nach Boudon (1974) und die Weiterentwicklung im SEU-Ansatz von Hartmut Esser (1999) zugrunde gelegt und im Folgenden die Einfluss- und Beclingungsfaktoren einer eingeschränkten Bildungsentscheidung aus Schüler-, Eltern und Lehrersicht analysiert.
3.4.3 Boadons Modell ~r Erklärung von Wahlentscheidungen undBildungsungleichheit Die Modellierung der Bildungsentscheidung auf der Grundlage der RC-Theorie zielt auf die Erklärung individualistischer Faktoren und Zusammenhänge ab. Um den Prozess der Bildungsentscheidung auch strukturell aufzuklären, werden die bisheri-
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gen Grundlegungen um den Ansatz von Boudon erweitert. Das boudonsche Modell basiert ebenfalls auf der Re-Theorie, zielt aber auf die strukturelle Ebene der Wahlentscheidung ab. Boudon zufolge ist Bildungsungleichheit das Ergebnis individueller Bildungsentscheidungen, die in einem institutionellen Kontext des Bildungssystems getroffen werden. Er berücksichtigt dabei zunächst, dass die Beteiligten bei ihrer Entscheidungsfindung nicht umfassend informiert sind, daher ihre Entscheidungen subjektiv treffen und die Konsequenzen ihres Handelns nur ungefähr einschätzen können (Harazd 2007). Für die Erklärung unterschiedlicher Bildungsentscheidungen führt er die Differenzierung nach primären und sekundären Effekten der Sozialschichtenzugehörigkeit ein (Boudon 1974). Primäre Effekte beziehen sich auf die schichtspezifischen Unterschiede im kulturellen Hintergrund und deren Auswirkungen auf die schulischen Leistungen (Boudon 1974: 29f.) Je niedriger der Sozialstatus einer Familie ist, desto geringer fällt das kulturelle Angebotspotential aus. Dies hat wiederum Auswirkungen auf den Schulerfolg, was letztlich bedeutet, dass bestimmte kulturferne Schichten oder Milieus von Anfang an in ihrer schulischen Erfolgswahrscheinlichkeit zurückgesetzt sind und zwangsläufighinter ihren Bildungsaspirationen zurückbleiben. Der sekundäre Effekt bezieht sich auf das Entscheidungsverhalten der Familien in Abhängigkeit zu ihrer Position im Statussystem. Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung führt Boudon auf eine unterschiedliche Bewertung der Kosten und Nutzen in den Statusgruppen zurück. So können identische Bildungskosten je nach Einkommenshöhe die Familien unterschiedlich stark belasten (Harazd 2007: 42). Dieser Unterschied in der Kosten-Nutzen-Bilanz in Abhängigkeit von der sozialen Position besteht auch bei gleichen schulischen Leistungen (Ditton 2005). Hinzu kommt die Annahme, dass Bildungserträge umso höher ausfallen, je höher die soziale Position der Familien ist. Privilegierte Schichten fürchten den Statusverlust bei der Nichtwahl eines höheren Bildungsganges, während in den darunter angesiedelten Schichten ein niedrigerer Bildungsabschluss nicht unbedingt zum Statusverlust führt. Die Wahl einer höheren Schulart würde demnach für privilegierte Familien einen größeren Vorteil bedeuten (ebd.). Bildungsungleichheit lässt sich somit auf die Unterschiede in den schulischen Erfolgswahrscheinlichkeiten zurückführen (primärer Effekt) und auf die unterschiedliche Belastung durch Bildungskosten sowie auf schichtspezifisch variierende Bildungserträge (sekundärer Effekt).
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Primäre Herkunftseffekte: Sotjalisation im Elternhaus, schulische Performanv kulturelle, psychologische, genetische Einflüsse des Elternhauses
Ressourcen nach sozialer Herkunft 1) Ökonomisches Kapital b~. Enverbsklassen 2) Bildungsnä"he oder -distanz auf Grundder Positionierung in sotjalen Schichtungen
I I I I I I I I
Bildungschance, -erfolg und Bildungsungleichheiten
T Sekundäre Herkunftseffekte: Elterliche Schulwahlentscheidung nach Bildungskosten, -rendite undErfolgswahrscheinlichkeit - Bildungsaspiration; Beurteilung Nutzen-Kosten
Abbildung 3.4: Modell der Bildungsentscheidung nach Boudon (1974) leicht modiJitjert; In der Forschung ist man sich mittlerweile einig, dass Bildungsungleichheit durch das Zusammenwirken dieser beiden Effekte bedingt wird (Baumert & Schüler 2001). Becker und Lautenbach (2007: 29) ziehen folgendes Fazit für den derzeitigen Forschungsstand der Bildungsungleichheit: ,,(...), so bleibt festzuhalten, dass wir über viele detaillierte Beschreibungen von Bildungsungleichheit verfügen, aber wenige theoretische Erklärungen, die sich zudem empirisch bewährt haben, und noch weniger systematische Anwendungen von Theorien und Modellen der sozialen Ungleichheiten von Bildungschancen." Zur empirischen Überprüfung des Ansatzes und seiner theoretischen Tragweite sollten zukünftig systematisch zeitbezogene
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Daten, die nicht nur beobachtbares Verhalten beinhalten, sondern auch ,,(.. .) individuelle Orientierungen, Präferenzen, Motivationen und Wissensbestände genauso wie individuelle Entscheidungen einbeziehen" erhoben werden (Blossfeld 1993: 57), um Bildungsentscheidungen eingehender zu klären. Die geplante Untersuchung möchte einen Beitrag dazu liefern, diese Lücke für das dreigliedrige Schulsystem in BadenWürttemberg zu schließen, in dem u.a. die individuelle Sicht auf die Bildungsentscheidung und der Beteiligungsgrad von Schülern, Eltern und Lehrern erhoben werden. Die primären und sekundären sozialen Effekte gilt es auf theoretischer Ebene in die quantitativ-empirische Konzeption mit einzubinden. Mittels Itemkonstrukten zur Erfassung der primären und sekundären Effekte soll die Frage nach dem Zustandekommen von struktureller Bildungsungleichheit beim Übergang in die weiterführende Schulart erhoben werden.
3.4.4 Verschiedene Theorieansätze if/r Besch~ibung des primä~n undsekund;i~n Effekts Die beiden von Boudon differenzierten Faktoren zur Erklärung von Bildungs-ungleichheit konnten bislang nur als Aggregatdaten in Ex-post Untersuchungen nachgewiesen werden. Ob ein Kind weniger Erfolg hat, weil es zum einen an Leistungspotential mangelt oder das Leistungsvermögen nicht erkannt oder richtig gefördert wird, ist empirisch schwierig zu erheben. Eine Aufteilung in primäre und sekundäre soziale Effekte erlangt in der Praxis erst dann Relevanz, wenn im familiären oder schulischen Alltagsgeschehen das potentielle Leistungsniveau und der faktisch erreichte Schulerfolg getrennt voneinander ermittelt werden kann (MüllerBenedict 2007: 616). Auf der Makroebene ist dies vielfach nachgewiesen (u.a. Bou-don 1974; Baumert u.a. 2006). Nach Müller-Benedict (2007) gelingt eine Trennung beider Effekte zunächst nur auf der Ebene von Aggregatdaten, wie sie etwa in Form der Korrelation von Lesekompetenzen und Schullaufbahnempfehlung in der Kess 4-Studie (Bos; Pietsch 2004: 53) erhoben wurden. Für die Praxis bedeutsam wird diese Trennung, wenn sich einzelne Ursachen für die Ungleichheit des Schulerfolgs auf der individuellen Schüler- und Schulebene dem primären oder sekundären Effekt zuordnen lassen. Im Folgenden werden verschiedene Theorien und fachtheoretische Ansätze zur Erklärung von sozialer Ungleichheit des Schulerfolgs auf die beiden Effekte hin geprüft, die für die spätere empirische Untersuchung eine Rolle spielen.
3.4.5
So~ale
Bildungsbeteiligung alsFolge "natürlicher" Begabung
Die Frage, in welchem Maß die Bildungsbeteiligung von sozialen Herkunftsmerkmalen abhängig ist, stellt eine zentrale Frage der Bildungssoziologie dar. Biologi-
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sehe Ansätze erklären Ungleichheit meist mit der Tradierung von genetischem Material in der Generationenfolge der Eltern. Der Schulerfolg hängt demnach wesentlich von dem einen endogenen Faktor ab, der über eine genetische "Mitgift" der Eltern den Schulerfolg determiniert. Ein solches Verständnis von Begabung legt das Leistungspotential eines Kindes mit der Geburt fest und weist den primären Faktor in Form des Leistungs- und Begabungspotentials aus (ebd.)18. Nach Herrnstein und Murray (1994: SOff.) wird der Bildungserwerb stark von der biologischen Grundausstattung bestimmt und ihrer Ansicht nach verstärkt sich dieser Aspekt in der Zukunft noch weiter. Nur bedingt kann ein Kind im Laufe seiner Schulbiografie aufgrund intrinsischer Motivation, äußerer Lernanreize und eigener Lernleistungen eine Kompensation erwirken. Ein solcher individuell-biologischer Ansatz erklärt schulische Ungleichheit vom natürlichen Standpunkt her und reduziert exogene Faktoren auf ein Minimum. Lüscher und Liegle (2003: 224) formulieren hierzu ein Postulat der Chancengleichheit und sehen darin die Notwendigkeit sozial bedingte Leistungsentwicklungen und Bildungsbeteiligungen auszugleichen. " Insoweit individuelle Unterschiede in den Anlagen bestehen, ergibt sich hieraus eine Orientierung des Handelns nicht am Prinzip der Bildungsgleichheit ~)Jedem das Gleiche«), sondern am Prinzip der Bildungsgerechtigkeit ~~edem das Seine«), Insoweit jedoch individuelle Unterschiede auf die in familialen Generationenbeziehungen erfahrenen Bildungsanregungen und andere Rahmenbedingungen des Familienlebens und der -erziehung zurückzuführen sind, ergibt sich hieraus die Verpflichtung der öffentlichen Bildungseinrichtungen, zum Abbau der sozial bedingten Ungleichheiten beizutragen (postulat der »Chancengleichheit«) (zit, nach Schneider 2005: 17). Die Diskussion, ob und in welchem Umfang die Leistungsfähigkeit eines Menschen von der biologischen Veranlagung oder dem sozialen Umfeld abhängig ist, wird im Englischen unter dem Begriff des "nature und nurture" gefasst. Um empirisch eine Messung der natürlichen Voraussetzungen vornehmen zu können, wird in der Regel aufIntelligenztests zurückgegriffen. Sowell (1995) weist etwa mit der Entwicklung von IQ-Werten bei Einwandererfamilien in den USA über mehrere Generationen hinweg nach, dass einige dieser Groppen eine Steigerung der Testwerte in der Generationenfolge aufweisen. Es ist zu vermuten, dass IQ-Werte keine absoluten Maße für individuelle Begabung sind, sondern in besonderer Weise auch die sozialen Umweltfaktoren (familiär bedingtes Vorwissen, Problemlöse- und Konfliktstrategien, Wohnumfeld usw.) spiegeln. Nach Aussagen des renommiertesten Verhaltensgenetikers Brody (1992: 167) lässt sich der Anteil, den die Gene an der Intelligenz eines Menschen ausmachen, auf ca. 50% beziffern. Als Messgröße für diese Untersuchung sind sie aus den genannten Gründen nicht vorgesehen . In den Argumentationslinien der Eltern wird der biologische Ansatz vermut18
Kritisch diskutiert wird diese Position von Devlin 1997 und Vreeke 1999
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lieh eine wichtige Rolle spielen, da sie ihre Kinder fortwährend in der biologischen Entwicklung begleiten.
3.4.6 Indirekte schulische Einflussfaktoren aufdie Bildungsbeteiligung Bestimmte schulische Richtungen in der Erziehungswissenschaft führen unterrichtlichen Erfolg theoretisch auf die unterschiedlichen Arten der Vermittlung von Lerninhalten und eine entsprechende Unterrichtsorganisation zurück. Der effektive Einsatz von methodisch-didaktischen Strategien sorgt durch eine gezielte Strukturierung und Organisation von Lehr-Lern-Situationen für ein effizientes Lernen. Bezogen auf soziale Ungleichheit gehen diese Ansätze etwa darauf ein, " (...) wie sozial eher homogene Klassen, die durch Aufteilung der Schüler im vertikal gegliederten Schulsystem entstehen, dazu führen, dass Kinder einer bestimmten sozialen Herkunft bevorzugt werden" (Solga; Wagner 2001). Auch die Form der Kommunikation, die Auswahl und Aufbereitung von Unterrichtsinhalten richtet sich nach sozialen Gesichtspunkten aus (vgl. Ditton 2005), wobei meist die Mittelschicht als Bezugsgröße dient. Viele Gymnasiallehrer stammen selbst aus dieser Schicht, so dass Rolff in seinen Untersuchungen zur Erklärung unterschiedlichen Schulerfolgs darauf verweißt, dass diese Lehrer Kinder aus derselben Schicht eher wahrnehmen und im Unterricht fördern, weil sie in ihnen den gleichen Habitus wieder erkennen (vgl. Rolff 1997). Diese Ergebnisse verweisen direkt auf den sekundären Effekt: "Ungeachtet des Leistungspotentials der Kinder führen Schulorganisation und Unterrichtskommunikation dazu, dass bestimmte soziale Schichten mehr Schulerfolg erreichen" (MüllerBenedict 2007: 618). Kinder mit ähnlichem "Habitus" und sozialer Verhaltensweise rücken stärker in den Fokus dieser Lehrerklientel.
3.4.7 So!(jale undgesellschaftliche Merkmale alsTeilder Bildungsentscheidung Ditton bekräftigt mit seinen Untersuchungen den Zusammenhang zwischen Bildungsempfehlung, -übergang und sozialer Herkunft der Kinder. Seine empirischen Untersuchungen zeigen einen "Sozialbonus" in Form eines Vertrauensvorschusses für Schüler bildungsnaher Schichten auf, die im Unterricht aber lediglich durchschnittliche bis unterdurchschnittliche Leistungen erzielen. Obwohl den Lehrern die soziale Positionierung der Eltern häufig nicht bekannt ist, fließen sie über äußere Indikatoren wie Sprache, Habitus und Gestus in die Bewertungen und damit letztlich in die Bildungsempfehlung mit ein. "Zum einen nimmt der Lehrer die in größerem Umfang verfügbaren Ressourcen zur Sicherung des Schulerfolges in höheren Soziallagen wahr" (Ditton 1992: 121). Zum anderen wirkt auf ihn bei einem drohenden sozialen Abstieg von Elternseite ein erheblicher Druck ein.
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Soziologische Theorien führen die Ursache für Differenzen des Schulerfolgs auf Unterschiede beim sozialen und kulturellen Kapital der Schüler zurück (lungbauer-Gans 2004, zit. nach Müller-Benedict 2007: 618). Das lässt sich an vier Indikatoren für den primären Effekt als familiäreRessource aufzeigen:
1.
2.
3. 4.
Die Eltern und Kinder der verschiedenen sozialen Schichten messen der schulischen und beruflichen Ausbildung unterschiedliche Bedeutungen bei. In bildungsnahen Elternhäuser werden die Schulbiografien schon früh thematisiert und geplant. Eltern und Kinder sind gut über die verschiedenen Möglichkeiten informiert und setzen ihre Bildungsaspirationen unter Umständen auch gegen die Empfehlungen der Lehrerinnen durch (Boudon 1974; Goldthorpe 1996a). Eltern sind dabei meist ein Beispiel für gelungene Bildungsbiographien und tradieren diese über die Fokussierung bei den eigenen Kindern und motivieren sie in diese Richtung (Müller-Benedict 2007). Die elterliche Bildungsbiographie spielt für die Schulartwahl der Kinder eine wichtige Rolle. Kinder aus bildungsnahen Schichten wachsen in einem sprachlich komplexer agierenden Umfeld auf. Ihnen fällt es leichter sich adäquat auszudrücken, mitzuteilen und in den Unterricht einzubringen. Schulische Aufgabenstellungen, Herausforderungen und auch soziale Integration lassen sich mit einer ausgeprägteren Sprachkompetenz leichter bewältigen (Hurrelmann 1994). In Familien wird immer auch ein bestimmter kultureller Standard vermittelt. Entspricht dieser den Vorgaben der Schule, so wird sich das für das Kind ebenfalls als nützlich erweisen (Bourdieu 1989). Darüber hinaus erfahren Kinder aus bildungsnahen Schichten eine umfassendere Unterstützung im Verlauf ihrer Bildungsbiographie, als dies in bildungsfernen Familien der Fall ist. Diese greifen weniger oft auf institutionelle Unterstützung zurück und auch eine Förderung und Kontrolle durch die Eltern lässt sich nur im Rahmen der eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen realisieren (MüllerBenedict 2007: 618).
So verfügen Familien in oberen sozialen Schichten häufig über eine bessere finanzielle Ausstattung, sprich ein größeres ökonomisches Kapital. Entsprechend der ökonomischen Ansätze kann zwischen direkten und indirekten Kostenträgern unterschieden werden, beide sind auf der Ebene der sekundären Effekte wirksam und tangieren direkt oder indirekt die Bildungsentscheidung und damit die Bildungsbiografien der Kinder. Zu den direkten Kosten zählen die Ausgaben für das Erreichen von schulischen Einrichtungen, die Anschaffung von Schulmaterialien aller Art, die Kosten für Klassen- oder Ausflugsfahrten oder außerschulische Fördermaßnahmen und Lernmittel. Indirekte Kosten fallen an, wenn sich das Kind zwar im arbeitsfähigen Alter befindet, aber aufgrund der schulischen Ausbildung nicht seinen eigenen Unterhalt erwirtschaftet. "Alle diese Kosten wiegen dann umso schwerer, einen je
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größeren Teil des gesamten Familieneinkommens sie ausmachen, und haben deshalb ein desto größeres Gewicht, je niedriger die soziale Schicht ist" (ebd.). Denn Eltern können ihre Kinder im Laufe derer Bildungsbiografie nur entsprechend ihrer finanziellen Möglichkeiten unterstützen und fördern, auch wenn das nicht den eigenen Bildungsaspirationen entspricht. Bei der Erhebung schulischer Leistungspotentiale kann im Umkehrschluss davon ausgegangen werden, dass die familiäre Förderung in Form von gemeinsamer Lernzeit, Vermitdung von Lösungs- und Lernstrategien, aber auch über mittelbaren oder unmittelbaren Leistungsdruck, mit einfließt. Alle elterlichen Handlungen , die nicht direkt auf die Schülerleistungen wirken, sondern sich auf die Verbesserung der häuslichen und schulischen Kontextbedingungen beziehen, zielen auf die Verbesserung des sekundären Effekts. Hierzu zählen vorrangig Gespräche mit der Grundschullehrerinnen und -lehrern, aber auch mit den Eltern der Mitschülerinnen und Mitschülern, den Elternvertretern oder ggf. mit der Schulleitung. Sie haben oft zum Ziel, die Lern- und Arbeitsbedingungen des eigenen Kindes zu verbessern, individuelle Förderung einzufordern und die eigenen Ansprüche deudich zu machen und sind somit häufig von den elterlichen Bildungsaspirationen abgeleitet. Selbst das persönliche Engagement der Eltern im schulischen Kontext, etwa durch die Mitwirkung in Elternvertretungen oder das Einbringen von Mittel oder Fachkompetenzen in schulische Vorhaben können hierauf abzielen. Die Umsetzung der elterlichen Bildungsaspiration hat zum einen das Ziel eine direkte Leistungssteigerung zu erzielen (primärer Effekt) und zum andern auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen, schulischen Einflussfaktoren und Voraussetzungen hinzuarbeiten (sekundärer Effekt), die letzdich den Übergang in eine bestimmte Schulart befördern sollen. "Damit bewirken die soziologischen und ökonomischen Ursachen der sozialen Ungleichheit zum größten Teil primäre Effekte" (ebd.: 620). Mit den dargelegten Ansätzen und Überlegungen kann deudich gemacht werden, dass primäre und sekundäre Effekte auf Schüler- bzw. Elternebene nachweisbar sind und sich sogar jeweils bestimmte Ursachen oder Effekte damit erklären lassen. Der primäre Effekt ist zum einen die Voraussetzung in Form einer kognitiven Grundausstattung des Kindes, die die Familie als familiäre, biologische, soziale, kulturelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellt. Über den sozialen und finanziellen Effekt lassen sich die direkten Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern erklären. Der sekundäre Effekt dagegen bezeichnet nach Boudon Bildungsentscheidungsverläufe, die durch die soziale Herkunft der Schülerfamilien beeinflusst werden. Indirekt fließen die Schulstruktur, -organisation und Unterrichtskommunikation, sowie die Entscheidung für eine bestimmte Schulart mit ein, die sich aus der Bildungsaspiration der Eltern ergibt. Der sekundäre Effekt bildet sozusagen den "harten Kern" der sozialen Ungleichheit, weil der als externer Faktor nur bedingt behoben werden kann. Er bleibt auch bestehen, wenn der primäre Effekt ausgeglichen worden ist (ebd.: 620).
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3.4.8 Das SEU-Modell alsGrundstrukturftr die Bildungsentscheidung Die bislang aufgezeigten Zusammenhänge bedürfen einer weiteren Präzisierung im Hinblick auf eine handlungstheoretische Verknüpfung. Aus den drei bisher beschriebenen theoretischen Ansätzen geht nach langjähriger Forschungspraxis in psychologischer Richtung, unter Einbezug der statistischen Entscheidungs-Theorien und der soziologischer Handlungserklärungen (vgl. Langenheder 1975; Vanberg 1975) die Wert-Erwartungs- oder SEU-Theorie hervor. Die Grundidee der SEU-Theorie 19 (vgl. Ricker; Ordeshook 1973) führt den Rational Choice Ansatz und die Erklärung struktureller Bildungsungleichheit nach primären und sekundären Herkunftseffekten zusammen, indem sie die verschiedenen Faktoren auf das Wesentliche reduziert: "Personen wählen aus einem set überhaupt verfügbarer oder möglicher Handlungsalternativen diejenige, die am ehesten angesichts der vorgefundenen Situationsumstände bestimmte Ziele zu realisieren verspricht" (Esser 1991: 54). Die SEU beruht auf einer deduktiv-nomologischen Erklärung sozialwissenschaftlicher Explananda (Schmidt 1998: 82), wobei sie die Theorie der rationalen Wahl als universal nomologische Hypothese voraussetzt. Mit dem Versuch der Erklärung eines rationalen Entscheidungsprozesses gründet sie auf der Kantschen Urteilskraft, die "jenseits des Schematismus der reinen Vernunft das Allgemeine mit dem Besonderen (.. .)" verbindet (vgl. Kant 1994). Nach Kants Vorstellung sind die Begriffe weder im Verstand noch in der Vernunft angelegt, sondern entstehen spontan und sind zudem sinnstiftend. Esser hingegen versucht innerhalb einer mathematischen fassbaren Logik ein auf Rationalität basierendes Erklärungsschema zu konstruieren . Rationalität ist seiner Vorstellung nach "weich" und theoretisch offen angelegt. Einzige Voraussetzung für rationales Handeln ist die Auswahl aus einer Reihe von Handlungsoptionen. "Eine gewählte Handlung muss dabei nicht die objektiv angemessenste sein im Hinblick auf die Realisierung eines Ziels" (Schmidt 2000: 84). So versteht Esser Rationalität als "universelles" Gesetz, nach dem Menschen zielgerichtet und subjektiv nutzenmaximierend handeln. Der Prozess der Handlungswahl wird in ihrem Verlauf in drei Schritte zerlegt: Die Kognition der Situation umfasst neben der Wahrnehmung und Einschätzung der Situationsumstände den Informationsaustausch und die Kommunikation mit dem sozialen Umfeld über die Gegebenheiten. Dabei spielen bestimmte Rollenstereotype und der institutionelle Rahmen eine wichtige Rolle. In der Phase der 19
Die Subjektivitäteiner SEU-Hypothese lässt sich tendenziell nach zwei verschiedenen Richtungen hin unterscheiden: zum einen bezieht sich diese auf die Abkehr von objektiven Erwartungen und damit auf die Berücksichtigung von Entscheidungen unter Unsicherheit ~.bounded rationality"). Zum anderen kann die Subjektivität der Erwartungen auch auf die Annahme einer subjektiv gewichteten Wahrnehmung von Wahrscheinlichkeiten mittels einer nicht-linearen Gewichtungsfunktion bezogen werden (MayerI200B).
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Kognition konstituieren sich auf Seiten der Entscheidungsträger subjektive Erwartungen, wobei eine Aktualisierung und Akzentuierung ihrer Alltagstheorien auf der Grundlage zugänglicher Informationen erfolgt (Esser 1991: 54). Findet dieser Schritt bei mehreren Akteuren gleichzeitig und mit analoger Zielausrichtung statt, kann es zu einem parallelen Verlauf kommen . Bedeutsam für die Kognition ist die Kommunikation, der Zugang und Austausch von Information und deren jeweilige Gewichtung. Zu beachten ist die hierarchischen Beziehungen, in denen die Akteure in deren Folge zu einander stehen (z.B. Eltern-Kind) . Auf die Phase der Kognition der Situation folgt die Evaluation der Handlungsalternativen, wie im vorangegangenen Abschnitt aufgezeigt wurde. Sie bezieht sich auf die Bewertung der Handlungsalternativen vor dem Hintergrund der subjektiven Präferenzen und der Einschätzung, dass die Wahl einer bestimmten Handlung eine absehbare Folge (outcomes) mit sich bringt (vgl. Lindenberg 1989: 176). In dieser Phase werden einer bestimmten Verhältnisverteilung zufolge für jede Bildungsalternative, sprich Schulart, ein rechnerischer subjektiv-expected-utility-Wert (subjektiv-erwarteter Nutzenwert oder SEU-Wert) zugesprochen. Den theoretischen Überlegungen folgend ergibt sich die Gleichung aus dem Satz an Zielsituationen Ui, U2 ... ,Uj ...,Un, und den dazugehörigen Handlungsalternativen At, A2 ... ,Ai ... ,Am. Mit den Zielen sind die Handlungsalternativen verknüpft, die über die Variable p als subjektive Erwartung pu, .. .,Pij ...,pnm einfließt. "Für jede Handlung werden in der Phase der Evaluation diese Produkte für jedes Ziel bestimmt und dann - getrennt für jede Handlungsalternative - über alle Ziele aufaddiert' (Esser 1991: 55). Für die empirische Erhebung von Ungleichheit ist dies insofern wichtig, da sich über diese Verhältnismäßigkeit aus der Zielsituation für die Bildungsentscheidung auf der einen und den schulischen Vorgaben mittels Bildungsempfehlung auf der anderen Seite die Handlungsalternativen ergeben. In der nachfolgenden Phase der Selektion wird eine Entscheidung herbeigeführt, für die in der Theorie der rationalen Wahl das Kriterium der subjektiven Nutzenmaximierung angenommen wird. Dazu müssen alle errechneten, geschätzten bzw. angenommenen Werte miteinander verglichen werden, um diejenigen Alternative abzuleiten, die den höchsten subjektiven Nutzen aufweisen. Die Gewichtung der Erwartungen für eine Entscheidung erfolgt somit als Produkt aus der WertErwartungsverknüpfung. Der Rückgriff auf diese Dreiteilung ist bei Esser so nicht vorgesehen, er geht zurück auf eine Kritik von Lüdemann und Rothegang (1996: 285). Diese weisen nach, dass die Wahl eines dominierenden Handlungsmotivs und die Situationsdefinition nicht zusammenfallen. Der eigentliche Verlauf des Wert-Erwartungsschemas unterscheidet deshalb sechs Schritte, die im Laufe der (Bildungs-) Entscheidung von den beteiligten Akteuren durchlaufen werden:
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AbbiJJlmg 3.5: SedJ.r S&hrit18 h Wm-ETJl/arhmgs-MotkJli8Tlln,g
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Gemäß seiner Handlungswahl kann der Akteur entsprechend dem Prinzip der Nutzenmaximierung die Matrix H als Basis verwenden. Mathematisch enthält sie die folgenden Elemente:
1. 2.
3. 4.
die Reihe bewerteter Zieldefinitionen Ur, U2, U3,....U], ...U m, (Bildungsaspirationen) die Reihe bewerteter Handlungsalternativen H 1, H2, H3, .. ., H , ... H n (alternative Schulart) die Reihe von Wahrscheinlichkeiten, die indiziert sind sowohl mit der Handlung als auch mit der Zielsituation: pu, ..., pij, .. ., porn. (primäre Effekte) Mit einem Gewicht w, das die Abweichung der subjektiven Erwartungen von objektiven Wahrscheinlichkeiten wiedergibt (Esser 1999: 344).
Die vier Elemente spielen in der Formel SEU (;)
=L. W(Pij)• U]
zusammen. Aus der objektiven Nutzenerwartung EU mit der gleichen Grundformel wird durch die Erweiterung des Faktors weine subjektive Gewichtung und folglich eine subjektive Nutzenerwartung SEU17. Daraus ergibt sich eine formalisierte Beschreibung des subjektiv erwarteten Nutzens für jede situative Handlungsalternative über alle weiteren Ziele hinweg. Das Ergebnis der Addition bildet den SEU-Wert der Handlungsalternativen H zur Realisierung des Zieles U, Um zu einer Entscheidung zu kommen vergleicht der Akteur die Bewertung aller zur Frage stehenden Handlungsalternativen und bildet für jede einen entsprechenden SEU-Wert. Letztlich entscheidet sich der Akteur dann für diejenige Option, die ihm den maximal erwarteten Nutzen einbringt (vgl. Esser 1991). Ein wichtiges Korrektiv der Essersehen Annahmen bringen die empirischen Untersuchungen zur Kosten-Nutzen-Rechung von Boudon. Seinen Erhebungen nach neigen Angehörige unterer sozialer Schichten dazu, den künftigen Nutzen und die potentiellen Chancen einer schulischen Investition tendenziell zu unterschätzen. Im Gegenzug überschätzen sie die gegenwärtigen Nachteile einer schulischen Investition, sowie die möglichen Risiken (Boudon 1980: 177). Boudon, der sich mit dem primären Effekt auf die Unterschiede der kulturellen Ausstattung in den Familien bezieht und deren Auswirkung auf die schulische Leistung, schätzt die Chance für Schulerfolg bei niedriger kultureller Ausstattung entsprechend schlechter ein. Der sekundäre Effekt wirkt sich auf die Schulartwahlentscheidung 17
Die erste Statistik, die der Idee der subjektiven Nutzenerwartung folgte, wurde aller Voraussicht von Frank P. Ramsey in die Entscheidungstheorie eingeführt. Der Begriff der " personalen Wahrschein-lichkcit ist auf Leonhard J. Savage zurückzuführen (Ramsey, F. P. 1978: 58-100; Savage, L. J. 1954: 27ff.; vgl. Esser 1999: 344-345).
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der Eltern entsprechend ihrer sozialen Positionierung aus. In Abhängigkeit ihrer sozialen Lage erweisen sich unterschiedliche Handlungen als rational und die Schülerfamilien bewerten Kosten - Nutzen Relationen anders. Eltern höherer sozialer Schichten fürchten einen sozialen Abstieg über die Schulart der Kinder mehr, als dies Eltern niederer sozialer Schichten tun. "Bei den Ober- und Mittelschichten hingegen hängen die Bildungsentscheidungen in einem höheren Ausmaß als bei unteren Sozialschichten von elterlichen Bildungsmotivationen ab" (Becker; Lautenbach 2007). Die Wahl der Hauptschule ist für Familien mit niedrigem sozialem Status nicht gleichbedeutend mit einem sozialen Abstieg (Harazd 2007: 42), aber das soziale Ansehen sinkt mit einem Übergang in die Hauptschule. Die Wahl eines Gymnasiums hat für Familien mit höherem sozialem Status eine erheblichere Bedeutung und größere Vorteile. Vergleichbare Modelle zur Erklärung von Bildungsbeteiligungen wie das von Breen und Goldthorpe greifen ebenfalls auf die primären und sekundären Effekte als wichtige Einflussgrößen zurück, gewichten diese jedoch anders. Esser betont den Faktor des Statuserhalts bei der Wahl einer Schulart stärker. Bei Erikson und Jonsson (1996) bleiben hingegen primärer und sekundärer Effekt gleichrangig. " Sie gehen auch nicht davon aus, dass Individuen umfassende Kalkulationen ihres Lebenseinkommens vornehmen, sondern nur ungefähr den Nutzen der Bildungsinvestition (Einkommenserträge, Status, Prestige, Arbeitsbedingungen) schätzen (Harazd 2007: 42). 3.5 Das Essersehe Modell für die Bildungsentscheidung in die Sekundarstufe - ttFraming" - vom Routinehandeln zu Leitmotiven Bei der Weiterentwicklung des SEU-Konzepts zur Modellierung von Bildungsentscheidungen für den Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe greift Esser auf das von Boudon entworfene Grundgerüst der primären und sekundären Herkunftseffekte zurück und versucht die Modelle von Erikson und Jonsson (1996) und Breen und Goldthorpe (1996a) mit einzubinden. Sie geben die Grundaussage vor, dass Eltern der Oberschicht versuchen werden, die Wahrscheinlichkeit des Schulübergangs in eine höhere Schule zu maximieren. Die Eltern der Mittelschicht dagegen legen ihr Augenmerk auf die Minimierung des Abstiegsrisikos (Kristen 1999: 33). Für Eltern der Unterschicht geht es ihrer Meinung nach bei der Bildungsentscheidung um eine Verbesserung ihres Status. "Allerdings unterscheiden sich die beiden Ansätze in Hinblick auf die Bedeutung, die dem Motiv des Statuserhaltes bzw. der relativen Risikoaversion zukommt. Breen und Goldthorpe zeigen in ihrem Modell, daß Bildungsentscheidungen an den jeweiligen Übergängen im Bildungssystem maßgeblich durch die jeweilige Wahrscheinlichkeit, mit der eine entsprechende Wahl zu Abwärtsmobilität führt, beeinflußt wird" (ebd.: 34). Der
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wichtigste Faktor für Bildungsentscheidungen scheint den beiden Vorgängermodellen der Wunsch nach Statuserhalt zu sein. Um die überlegungen bzw. Aussagen für die empirische Untersuchung nutzen und überprüfen zu können, soll das Essersehe Modell in den Grundzügen dargestellt werden. Die mathematische Gleichung entspricht einem WertErwartungsmodell, wie es beim Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe Verwendung finden könnte, und bezieht den Kosten-Nutzenfaktor mit ein. Im Sinne einer einfachen Formel zur Ermittlung der Nutzen-Erwartung setzt sich der Zusammenhang aus folgenden Variablen zusammen:
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U ist der kalkulierte Nutzen für die angestrebte weiterführende Schulart hierbei ist W der ihr beigemessene Wert, der sich aus der Differenz des geschätzten zukünftigen Nutzens B und den gegenwärtig aufkommenden Kosten C bildet. E ist die erwartete Wahrscheinlichkeit diesen Wert zu realisieren. U = E *W => U = E * (B - C)
Die Ermittlung des kalkulierten Nutzens als Abwägungs- und Bewertungsprozess für schulartspezifische SEU-Werte lässt sich nur hinsichtlich der potentiell zukünftigen Kosten und des Nutzens schichtenspezifisch deuten. Die Kosten-NutzenRechnung bezieht sich auf die Abwägung und Bewertung der zukünftigen Kosten und Nutzen einer bestimmten Schulart. Nach Boudons Theorie der primären und sekundären Effekte zeigt sich in der Praxis, dass Angehörige der unteren sozialen Schichten dazu neigen, den künftigen Nutzen einer schulischen Investition zu unterschätzen (1), die gegenwärtigen Nachteile einer schulischen Investition (1I) sowie ihre Risiken (lII) zu überschätzen (Boudon 1980). Diese drei Aspekte spielen in der vereinfachten Formel noch keine Rolle. Zum Kosten-Nutzen Aspekt, der in Richtung auf die soziale Schichtung gedeutet werden kann, kommt für die Bildungs entscheidung noch eine Komponente zur Unterscheidung nach den Schularten. Esser greift für die Erweiterung auf die Grundformel (U E * W) zurück und unterscheidet zunächst lediglich zwischen Hauptschule (An) bzw. weiterführender Schule (Ab) und lässt die folgenden Elemente einfließen:
=
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Das Produkt EU (An/Ab) als der erwartete Nutzen einer Alternative ergibt sich aus der Wahrscheinlichkeit eines Statusverlustes c entsprechend der Schulart und dem zu erwartenden Statusverlust (-SV).
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Für die Wahl eines Übergangs in die Hauptschule spielen das Produkt aus der Höhe des Statusverlusts und die Wahrscheinlichkeit des Eintretens zusammen. Der Wert für den minimal möglichen Übergang ergibt sich aus folgender Formel: (1) EU (An) = c· (-SV) In Essers Modell wird die Grundgleichung auf der Basis der ,,(.. .) Wert-Erwartungs-Theorie in die Höhe des Statusverlusts (SV) und die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens (c) zerlegt" (Schneider 2005: 67). Die Variante für die Wahl eines Hauptschulabschlusses wird von den Entscheidungsträgem umso wahrscheinlicher in Betracht gezogen, je eher diese Variante dem eigenen Status entspricht oder sich damit kein Statusverlust verbindet . Die beiden Variablen c • (-SV) fließen in die Formel für die höheren Schularten als gewichtiger Teil der Bildungsmotivation mit ein. Für die Wahl einer weiterführenden Schule ergibt sich die Entscheidungslage nach der Gleichung: (2) EU (Ab) = P • U + (1 - p) • c • ( - SV) - C In diese geht neben dem möglichen Statusverlust (-SV) und der erwarteten Wahrscheinlichkeit für das Erreichen eines bestimmten Schulabschlusses (c) noch
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die mögliche Wahrscheinlichkeit p (Erfolgserwartung) ein, die mit dem Bildungsertrag U der weiterführenden Schulart verknüpft ist. Dem Produkt aus der Wahrscheinlichkeit und Statusverlust werden die Kosten für die weiterführende Schule abgezogen. Damit ergibt sich EU für den erwarteten Gesamtnutzen für die jeweilige Handlungsaltemative.
Im Gegensatz zu Boudon nimmt Esser für C (Kosten für den Schulabschluss) und U (Nutzen durch den Schulabschluss) keine schichtspezifische Varianten an, so neigen Eltem seiner Meinung nach weder zur Überschätzung von C und U noch zu einer Unterschätzung. Über die Variable Kosten (C) fließen jedoch die monetären Möglichkeiten der Einzelfamilien mit ein, so dass für Familien mit einem geringeren Budget die möglichen Kosten für jedes einzelne ihrer Kinder stärker ins Gewicht fallen. Nach Ansicht Essers wird eine weiterführende Schulart dann gewählt, wenn die Summe der Gleichung für die weiterführende Schule größer ausfällt, als der für die Hauptschule . Mathematisch lässt sich das so darstellt: EU(Ab) > EU(An) und zeigt die Nachrangigkeit der beiden Schulwahloptionen. Verkürzt lässt sich der Vergleich beider Formeln aus (1) und (2) in einer Ungleichung zusammenfassen: U + cSV > C/p. Auf der Basis dieser Wert-Erwartungsgleichung findet dann eine Abwägung der Schularten statt, die auf den Variablen U + cSV als Bil-
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dungsmotivation (mit den Größen Bildungsertrag und Statusverlust) und elp als Investitionsrisiko (mit den Größen Kosten der weiterführenden Bildung und Realisierungserfolg) basieren (Schneider 2005). Die Entscheidung für eine weiterführende Schulart fällt dann, wenn das Verhältnis aus anfallenden Kosten für die gewünschte Schulart und dem potentiellen Realisierungserfolg geringer eingeschätzt werden, als die Bildungsmotivation der Schüler und Eltern. Entsprechend unwahrscheinlich ist somit ein Statusverlust für eine Familie mit einem höheren Status. Ein zentraler Punkt ist der Zusammenhang zwischen zwei grundlegenden Variablen für das Essersehe Theorem: die Erfolgserwartung p für das Erreichen des weiterführenden Schulabschluss und die mögliche Wahrscheinlichkeit c eines Statusverlustes. Beide Faktoren sollten eine entsprechende Gewichtung in einer quantitativ-empirischen Untersuchung Berücksichtigung finden, in der Analysepraxis sind sie schwierig empirisch zu fassen. Für Bildungsentscheidungsprozesse ist wie bei allen anderen Entscheidungssituationen davon auszugehen, dass dieser kalkulatorische Abwägungsverlauf nicht ausschließlich unter mathematischen , sondern unter einer ganzen Reihe weiterer Einschätzungsgesichtpunkten verläuft, die als endogene oder exogene Faktoren eine Rolle spielen. Für die nachfolgende empirische Untersuchung ist wichtig, die Handlungssituationen aus Schüler-, Eltern- und Lehrersicht genauer zu untersuchen und so der Forderung von Blossfeld und Müller nachzukommen, bei der Untersuchung von Bildungsungleichheit auf ,,(.. .) systematisch zeitbezogene Daten, die nicht nur beobachtbares Verhalten beinhalten [zurückzugreifen, Erg. d. A.], sondern auch individuelle Orientierung, Präferenzen, Motivationen und Wissensbestände genauso wie individuelle Entscheidungen einbeziehen (Blossfeld; Müller 1996: 407, zit. nach Harazd 2007). Aus dem Grund gilt es die Bildungsentscheidung aus Schüler-, Eltern- und Lehrersicht unter entwicklungsbiologisehen, schulischen, familial-sozialen und kulturellen Gesichtspunkten zu untersuchen. Die Handlungssituationen als Entscheidungsfindungsprozess spielen nicht als Ganzes, sprich in dem dargestellten mathematisch-logischen Zusammenhang, sondern in einer reduzierten Form eine Rolle. Im nachfolgenden Abschnitt wird aufgezeigt, wie eine solche Reduzierung der Bildungsentscheidungsprozess theoretisch vorgenommen werden kann. Nach Esser setzt das Handeln in Alltagssituationen eine habitualisierte Befolgung von Routinen und deren Ausrichtung an Einschränkungen und Relevanzstrukturen voraus. Doch muss seiner Ansicht nach in den Situationen der Rationalitätsbegriff relativiert werden. "Alltagshandeln sei rational relativ zu den subjektiven Überzeugungen und Vermutungen der Akteure, es sei rational relativ zu den gegebenen Knappheiten an Ressourcen, rational relativ zur Brauchbarkeit auch grober Rezepte und rational relativ zu der Tatsache, dass die Wahl standardisiert und mechanisiert ist" (Schmidt 1998: 69). Das beinhaltet vor allem einen nicht umfassend informierten Handelnden, anders als ihn das Konstrukt des Menschen
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im RREEMM-Modell vorsieht. An der Stelle greift der Akteur auf seine schon bestehende Wissensstruktur zurück. Das bedeutet, dass er bekannte in Alltagssituationen verwandte Entscheidungsroutinen verwendet. Es ist anzunehmen, dass Eltern und Schüler als Entscheidungsträger auch in sehr eingeschränkten und standardisierten Bildungsentscheidungssituationen auf ganz ähnliche sehr nutzenorientierte Entscheidungsstrategien zurückgreifen. Der Verweis auf den Begriff der " Habits", als Bündel von Handlungssequenzen, die eine Mittel-Struktur des Handelns betrifft, bezeichnet Esser in Anlehnung an Schütz als Routinen oder Rezepte (Esser 1991: 438). Sie helfen die Auswahl an entscheidungsrelevanten Informationen zu bündeln und zu einer ersten Situationsdefinition bzw. -einschätzung zu kommen. Die Situationsdefinition eines solchen Entscheidungshandelns beinhaltet für Esser die Fesdegung von Leitmotiven: Die "Definition der Situation" - die Bestimmung des jeweiligen "Leitmotivs" des Handelns - kann demnach als Teil der routinemäßigen Abwicklung (".) von Alltagshandlungenaufgefasst werden" (Esser 1991:438).
Für Bildungsentscheidungen spielen die Leitmotive eine gleichermaßen entscheidungsbegründende Rolle. .Ähnlich dem Alltagshandeln ist in Bildungsentscheidungen eine Situationsdefinition vorzunehmen, die zur Auswahl von Leitmotiven führt. Hierzu wählen die Entscheidungsträger aus dem Alltagshandeln bekannte Motivfelder aus und generieren in einem ersten Entscheidungsschritt ein Motiv mit zentraler Platzierung. Bei der Definition der Situation, in der die einzelnen Akteure ihre Leitmotive der Relevanz bzw. dem Nutzen nach ordnen, treten einzelne Leitmotive in den Hintergrund. Esser bezeichnet diesen Prozess der Präferenzbildung als "Framing". " Frarnes sind (.,,) Vereinfachungen in der vom Akteur zu berücksichtigenden Struktur der Ziele. Sie beruhen auf der " Definition" der Situation insofern, dass die Akteure von der (deutlichen) Dominanz bestimmter Ziele in der Situation und der Geltung von bestimmten (...) " Leitmotiven", " Codierungen" und Regeln der Selektion von dominierenden Gesichtspunkten ausgehen können. (Esser 1991: 65)
Frames vereinfachen somit die Zielstruktur des Handelns und stellen gleichzeitig dominierende Handlungsziele heraus. Die Gleichsetzung von Habits und Routinehandeln stellt in der Logik der Handlungswahl eine weitere Vereinfachung des Entscheidungsprozess im Alltag dar. Nach Esser vereinfacht routinehaft-selektives Vorgehen eine Orientierung. Eigentlich wird über den Prozess der schrittweisen Ermittlung einzelner SEU-Werte für jede Handlungsalternative jeder möglichen Option ein genauer Wert zugeordnet. Beim Framing greift der Akteur auf ein routinehaftes Auswahlverfahren zurück, das von einem Leitmotiv getragen wird. Es ist zu vermuten, dass dies bei Eltern, die .. .
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Das theoretische Konzept zur Ausrichtung des Untersuchungsschwerpunkts sich kaum oder gar nicht mit dem Übergangsverfahren auseinander gesetzt haben, resignativ an den Prozess herangehen, da sie keine Entscheidungsoptionen sehen oder ihnen keine Entscheidungsoptionen jenseits eines Interventionsmodus eingeräumt werden, der Fall ist.
Eine weitere Möglichkeit kann bei Schülerinnen und Schülern der 4. Klasse gegeben sein, da sie aufgrund ihres Entwicklungsstandes einen an routinenhaftem Entscheidungsverhalten orientieren oder einen durch die jeweiligeLehrerinnen- oder Elternsichtweise beeinflussten Entscheidungsprozess durchlaufen. In der Theorie ist der Akteur unter dem Aspekt seines nutzenorientierten Vorgehens beschrieben, ansonsten wird er voraussetzungsfrei konstruiert. Offen bleibt, wie sich die situativen Bedingungen in linearen Entscheidungsverläufen bei einer wechselseitigen Einflussnahme mehrerer Akteure innerhalb eines gemeinsamen Entscheidungsprozess auswirken, wie dies bei der ersten Bildungsentscheidung von der Grund- in die Sekundarstufe der Fall ist. Genau diese Rand- oder Rahmenbedingungen sind nur beriicksichtig, so lange die Parameter, die seine Entscheidung bedingen, die gleichen bleiben. "Ändern sich die Parameter, so muss der Akteur entsprechend der Konzeption des Ansatzes seine Wahlentscheidung ändern" (Schmidt 1998: 77). Die SEU-Theorie ist nicht reflexiv aufgebaut und kann somit nur als Grundgeriist für eine empirisch-quantitative Erhebung dienen; sie konzipiert den Menschen als regelhaftes Wesen. Das heißt für den Akteur im Bildungsentscheidungsprozess, dass er schemengeleitet und rational vorgeht. Eine Regelbefolgung in einem komplexen Entscheidungsprozess aber ist mehr als regelhaftes Handeln (vgl. Schnädelbach 1998: 84). Ein Entscheidungsträger verfügt prinzipiell über die Kompetenz der Regelanwendung, ein anderer ist dazu nur bedingt oder aber gar nicht in der Lage. Dem SEU-Ansatz wohnt eine stark deterministische Tendenz inne, denn entsprechend der Handlungslogik ist jede Entscheidung für eine Option das Ergebnis einer Abwägung aller objektiven und subjektiven Parameter (Schmidt 1998: 78). Im Laufe der Entscheidung werden bestimmte Annahmen über mögliche Handlungswirksamkeiten und Bewertungen der Folgen der Handlung (outcomes) miteinander in Beziehung gesetzt und die Ergebnisse miteinander verglichen. Grundlage der Entscheidungen sind bestimmte Präferenzen und Randbedingungen, auf deren Grundlage die Wahl oder Auswahl getroffen wird. Unter Präferenzen werden hier Handlungstendenzen verstanden, die ein Akteur für bestimmte Objekte,
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Zustände oder Varianten einer Auswahlrnöglichkeit hat. Die sind in den Axiomen der Vergleichbarkeit 18 und Transitivität'? festgelegt. Die bisher ausgeführten Überlegungen für die formalen Rahmenbedingungen einer nutzenorientierten Schulartwahl beschreiben die Bildungsentscheidung stringent aus Kosten-Nutzen Sicht. Im Verlauf einer Bildungsentscheidung müssen aus Schüler-, Eltern- und Lehrersicht eine Reihe von verschiedenen Kriterien zusammengeführt, gewichtet und ausgewertet werden, um eine der Bildungsaspiration entsprechenden Wahl zu treffen. Nach Krisren verläuft die Entscheidungsfindung im Schulwahlprozess nicht nur nach rationalen Gesichtspunkten, sondern es wird in dessen Verlauf auf individueller Ebene auf eine Reihe von weiteren Kriterien oder Motiven zurückgegriffen. Die subjektiven Raster für die Kriterien bezeichnet sie als "decision set" (Kisten 1999). Die Beteiligten gewichten die einzelnen Gesichtspunkte in einer grundlegenden Orientierung nach Kosten-Nutzen Gesichtspunkten entsprechend ihrer sozialen Herkunft, ihren Bildungsaspirationen und ihrer Bildungsmotivation. Die einzelnen Kriterien können ihrer subjektiven Argumentationslinie folgend entsprechend der primären oder sekundären Effekte (s.h. Kap . 3.4.4) zugeordnet werden. In dieser Untersuchung werden die Entscheidungslinien von Schülern und Eltern (Kristen 1999) auf der Grundlage des Rational Choice Ansatzes zusammengeführt und um den Einfluss des Lehrers erweitert. Die kriteriengebundene Bildungsentscheidung kann so unter Berücksichtigung der primären und sekundären Herkunftseffekte entlang der Essersehen Überlegungen untersucht werden.
3.6 Zusammenfassung Der Rational-Choice-Ansatz als theoretische Grundannahme als forschungstheoretischer Ausgangspunkt für die Erklärung der Bildungsentscheidungen wird der Untersuchung die Rational-Choice-Theorie zugrunde gelegt. Mit seiner ökonomischen Grundausrichtung bietet sie die Grundlage für die Analyse von Schulartwahlprozessen an der Schnittstelle von Bildungsaspirationen und Schullaufbahnen (Esser 1991, 1999). Das Wahlverhalten wird als Prozess des Abwägens der erwarteten Kosten und Erträge, sowie des wahrscheinlichen Erfolgs über die Schullaufbahn hinweg gesehen (Ditton 1992, 2005; Becker 2000, 2001). Nach den Rational 18 19
Das Axiom der Vergleichbarkeit besagt, dass wenn ein Individuum zwei Objekte oder Entscheidungsoptionen miteinander vergleicht, dann muss eine der drei Varianten zutreffen: A wird B oder B wird A vorgezogen oder keines der beiden wird gewählt (Esser 1999: 298). Das Axiom der Transitivität gilt bei drei Objekten A, B oder C oder dreier Entscheidungsvarianten (At, fu., 113). Zieht das Individuum A das Objekt B, und B dem Objekt C vor, dann wird auch A dem Objekt C vorgezogen. Diese Regel gilt auch bei Indifferenz bzw. Nichtwahl (ebd.),
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Choice Modellen greifen Entscheidungsträger auf die Alternative zurück, bei welcher der erwartete Nutzen die erwarteten Kosten übersteigt oder beide Variablen in einem besseren Verhältnis zueinander stehen (Ditton 2005: 122). Letztlich wird diejenige Wahl präferiert, die den größtmöglichen Erfolg verspricht.
Dieprimiiren undsekundären Herkunftse.ffekte alsso!(jale Indikatoren ungleicher Bildungsentscheidungen Boudon (1974) nimmt auf der Grundlage von ungleicher Bildungs- und Sozialchancen eine differenzierende Analyse von Bildungsentscheidungen vor und beschreibt diese als Resultat der Abwägung von Nutzen (Vor-) und Kosten (Nachteilen) verschiedener Bildungsalternativen. Zur Erklärung unterschiedlicher Entscheidungsvarianten führt er die Differenzierung nach primären und sekundären Effekten der Sozialschichtenzugehörigkeit ein (Boudon 1974). Die primären Effekte beziehen sich auf die schichtspezifischen Unterschiede des kulturel1en Hintergrunds der Eltern und deren Auswirkungen auf die schulischen Leistungen (Boudon 1974: 29f.) Demnach korreliert der Sozialstatus einer Familie mit deren kulturellen Angebotspotential. Das hat direkte Auswirkungen auf den Schulerfolg, was letztlich bedeutet, dass bestimmte kulturferne Schichten oder Milieus von Anfang an in ihrer schulischen Erfolgswahrscheinlichkeit und damit auch hinter den eigenen Bildungsaspirationen zurückbleiben. Der sekundäre Effekt bezieht sich auf das Entscheidungsverhalten der Familien in Abhängigkeit von ihrer Position im Statussystem. Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung führt Boudon letztlich auf eine unterschiedliche Bewertung der Kosten und Nutzen in den Statusgruppen zurück. DerSBU-Ansatz zur theoretischen Beschreibung der Schulartwahlprozesse Hartmut Esser erweitert mit seinem SEU Ansatz die boudonschen Überlegungen und bietet somit eine Schnittstelle von der Makro- auf die Mikroebene des individuel1en Entscheidungshandelns an. Die Schulartwahl kann ihm zufolge als kriteriengeleiteter Übergangsprozess verstanden werden, in dem die Familien über ein "framing"-Verfahren zu ihren individuellen Entscheidungen kommen. .Ähnlich dem Alltagshandeln ist für die Bildungsentscheidung eine Situationsdefinition vorzunehmen, die zur Auswahl von Leitmotiven führt . Hierzu wählen die Entscheidungsträger aus dem Alltagshandeln bekannte Motivfelder aus und legen eine Situationsdefinition fest. In einem zweiten Entscheidungsschritt wird ein Motiv mit zentraler Bedeutung generieren. Bei der Definition der Situation, in der die einzelnen Akteure ihre Leitmotive der Relevanz bzw. dem Nutzen nach ordnen, treten einzelne Beweggründe in den Hintergrund. Esser bezeichnet diesen Prozess der Präferenzbildung als " framing", was einen Prozess der Vereinfachung von Handlungsstruktur darstellt, in dem dominierende Handlungsziele hervorgehoben werden.
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Theoretische und empirische Anbindungsstellen an die Forschung zur Bildungsentscheidung
Mit den theoretischen Ausführungen von Kruschka (1991) zur Bildungsentscheidung wird Anfang der 90er Jahre erstmals eine Einordnung des Stellenwerts der Passage zwischen den Schularten vorgenommen. Bezogen auf die Forschungen zur Bildungsungleichheit stehen diese in einer langen Tradition der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung, deren Vertreter Mitte der sechziger Jahre ausdrücklich auf den Aspekt der Reproduktion sozialer Ungleichheit in Schule und Familie verwiesen. Eine solche liegt grundlegend vor, "wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den ,wertvollen Gütern' einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten" (Hradil 2001: 30). Vor allem Bildung und formale Bildungszertifikate gehören aufgrund ihrer potentiellen Bedeutung für den sozialen Aufstieg zu den wichtigsten Instrumenten gesellschaftlicher Steuerung. Mit ersten richtungsweisenden theoretischen und empirischen Untersuchungen von Dahrendorf, Picht und Peisert zu der Thematik werden in den 60er und 70erJahren als wichtigste Faktoren für Schulerfolg die Geschlechter-, Schicht-, Regional- und Religionszugehörigkeit ausgemacht (Dahrendorf 1965, Peisert 1967, Picht 1964). Obgleich sich der Zusammenhang von schichtspezifischer Sozialisation und Schulsttuktur als Ungleichheitsmerkmalletztlich nie vollständig nachweisen ließ (Böttcher 1995), führten die ersten empirischen Untersuchungen und die mit ihnen einhergehende gesellschaftliche Debatte zur Einrichtung einer eigenen Forschungsrichtung innerhalb der Erziehungswissenschaft (Kruschka 1991). Diese trägt die Diskussion um die starke Differenzierung der Bildungsungleichheit im Schulsystem bis heute, zeigen doch internationale Leistungsvergleiche eindrücklich, dass sie auch auf internationaler Ebene geführt werden kann. Eine wichtige Rolle in diesem Diskurs spielen die Quoten der Bildungsbeteiligung einzelner Schichten oder Milieus bezogen auf schulartbezogene und berufliche Übergangsquote als Indikatoren für die Chancengleichheit (Cortina, u.a. 2006). Der Schulartübergang oder -wechsel als "exogener Zentralzusammenhang" (Mayer 1990) lässt sich im Zuge einer Aufführung der theoretischen und empirischen Anknüpfungs- und Forschungsstellen in zwei Phasen differenzieren: in einem ersten Abschnitt wird die grundlegende Wahl der Schulart als Bildungsentscheidung vorausgesetzt (u.a. Blossfeld 1988; Lehmann u.a. 1997; Lauterbach, Lange 1998; Mahr-George 1999; Bos, W. u.a. 2003; Harazd 2007). An diese schließt sich die Entschlussfassung für eine bestimmte Schule im individuellen Umfeld als Schulwahl an. Ebner (2001) untersucht in dem Kontext die Gründe von Eltern sich für den Besuch eines kirchlichen Gymnasiums zu entscheiden, und Speiser (1993) beschäftigt sich mit den elterlichen Motiven ihr Kind auf eine Privatschule zu schicken. Eine Untersuchung an der Universität Mannheim hingegen T. Wiedenhorn (eds.), Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, EIternund Lehrersicht, DOI 10.1007/978-3-531-93060-2_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Theoretische und empirische Anbindungsstellen an die Forschung
analysierte die Wahl- und Nichtwahlkriterien von Eltern für eine bestimmte Schule (u.a, Clausen 2005). Ein weiteres Forschungsfeld schließt sich in der Folge mit den späteren Schulformwechseln nach dem Übergang an und thematisiert die sich daraus ableitende Durchlässigkeit der Schularten (u.a, Kanders, M. Rösner, E. 2001; Schmeiser 2003; Weinert, F. E. 2002; Schneider 2005). Trotz bestehender Unterschiede im Detail wird in den beiden Phasen eine sehr ähnliche Form individueller Entscheidungsfindung angenommen, die sich unmittelbar auf die Bildungs- oder Schulwahlentscheidungen übertragen lässt (Kristen 2007). Im nachfolgenden Abschnitt soll die theoretische und empirische Anschlussfähigkeit an den aktuellen Forschungsstand geprüft und in verschiedenen Details dargelegt werden.
4.1 Theoretische Anbindungsstellen zur Bildungsentscheidung Eine Reihe von theoretischen Arbeiten versucht seit den 70er Jahren das Zustandekommen von Bildungsentscheidungen innerhalb der Familie zu klären (u.a. Boudon 1974, Breen & Goldthorpe 1997, Erikson & Jonsson 1996, Esser 1999, Garnbetta 1987). Zwei "klassische" Ansätze bilden den Ausgangspunkt für die maßgeblichen Richtungen der Erklärungsmodelle. Die eine Forschungsrichtung legt prinzipiell ökonomische Axiome und Annahmen zugrunde und vermutet diese als Grundmotive für das Entscheidungsverhalten der Individuen. Eine zweite Richtung beruft sich auf ein sozialphilosophisches Verständnis und baut auf dem Marxschen Kapitalbegriff auf. Auf diese Weise wird der Bildungsentscheidungsprozess in ein Modell des Sozialraums überführt. Ein wichtiger Vertreter dieser Richtung ist Pierre Bourdieu, der Hierarchien innerhalb einer Gesellschaft auf der Grundlage von drei Kapitalarten hin deutet. Diese werden als "strategische" Ressourcen eingesetzt, um die Kapitalausstattung eines Akteurs zu steigern und so Macht zu erlangen. Auch in der vorliegenden Studie wird in indirekter Form auf den begrifflichen Hintergrund der Sozialraumtheorie zurückgegriffen, wenn es etwa darum geht, Kategorien für Argumentationslinien der an Bildungsentscheidungen Beteiligten zu generieren. Bourdieu liefert zudem einen wichtigen Ansatz zur Erklärung von Ungleichheit, der auch auf schichtspezifischen Übergangsquoten begründet ist. Sein Modell betont ebenso den Marxschen Kapitalbegriff, nach dessen Vorstellung die Klassenstruktur einer kapitalistischen Gesellschaft das Ergebnis eines spezifischen Besitz- und Produktionsverhältnisses ist. Aus dem Grund teilt Marx die Gesellschaft in eine herrschende (Besitzer von Produktionsmitteln) und eine beherrschte Klasse (Arbeiterklasse) ein. Eine erste wichtige Modifikation auf Bildungsentscheidungen hin erfährt der Ansatz durch die Erweiterung in Richtung auf die Humankapitaltheorie (u.a,
Theoretische und empirische Anbindungsstellen an die Forschung
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Becker 1993, Mincer 1962, Schultz 1961), die eine vertiefte Anwendung des Begriffs auf menschliche Ressourcen hin darstellt. Nach der Zusammenführung sind ,,[.. .] die individuellen Lebenschancen, die berufliche Platzierung sowie die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft nicht allein vom Sachkapital abhängig, sondern auch vom Wissen und den Fertigkeiten der (erwerbstätigen) Gesellschaftsmitglieder" (Schneider 2005: 23). Diese Kenntnisse können über eine Ausbildung, Fortbildung oder über individuell erworbene Erfahrungen erweitert werden. Ein solches neoklassisches Wirtschaftsmodell nimmt den vollkommenen Wettbewerb bei gleichzeitiger Entlohnung des Individuums nach seiner Produktivität an. Bildung wird zu einem wichtigen Faktor, wenn sie sich trotz der anfallenden Kosten lohnt. Das setzt eine neue Sicht auf das Humankapital voraus, die besagt, dass die zugrunde gelegten Qualifikationen, Fähigkeiten und Fertigkeiten modifizierbar sind und letzdich Bildung als Differenzierungsfaktor für Produktivität und Effektivität fungiert (Krais 1986: 202; vgl. Becker 1993: 19). Mit einem solchen Ansatz arbeiten Forscher vorwiegend dann, wenn sie den Zusammenhang von Auswirkungen der Humankapitalinvestitionen auf spätere Einkommensverhältnisse untersuchen möchten. Bildungsungleichheiten lassen sich mit diesem komplexen Modell zunächst nur bedingt erklären. Bourdieu legt seinen Kapitalbegriff mit einem stärkeren Bezug zur gesellschaftlichen Ebene aus und greift bei der Erklärung der unterschiedlichen Positionierung von Akteuren im sozialen Raum auf vier Kapitalarten zurück. Nach seiner Ansicht lässt sich die soziale Stellung eines Individuums in der Gesellschaft nicht aufgrund der Zugriffsmöglichkeiten auf ökonomische Ressourcen allein erklären. Die zentrale Ungleichheiten bedingenden Kapitalarten sind ilun zufolge "primär ökonomisches Kapital (in seinen diversen Arten), dann kulturelles und soziales Kapital, schließlich noch symbolisches Kapital als wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee, usw. bezeichnet)" (Bourdieu 1983: 11). Boudon dagegen bezieht sich zur Erklärung von Ungleichheit zunächst nur auf die personale und familiale Ebene der sozialen Herkunft, ohne ein Gesellschaft erklärendes Modell zugrunde zu legen. Dabei fokussiert er seinen Ansatz auf eine mögliche Bildungsentscheidung, die sich mittels zweier Herkunftseffekte erklären lässt. Seinen Begründungszusammenhang legt er auf den primär-individuellen und einen sekundär-familiären Faktor aus, die beide von den ökonomischen Grundlagen der Familien bedingt sind. Diese begriffliche Eingrenzung auf nur zwei Aspekte ermöglicht eine dezidiertere empirische Festschreibung der Begrifflichkeiten, die nicht auf ein komplexes Konzept zurückreichen. Zudem legt das boudonsehe Modell dem Entscheidungsprozess ausschließlich ein relatives Verhältnis von Kosten-Nutzen zugrunde. Damit verbleibt Boudon zur Erklärung der Bildungsentscheidung auf einer individuellen Ebene. Eine solche lineare Eingrenzung erleich-
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tert eine empirisch-quantitative Erhebung, da die den Daten zugrunde gelegten Definitionen direkt aus dem Modell abgeleitet werden können. Der primäre soziale Effekt als familiale Sozialisation zeigt sich im Ergebnis als das erzielte Leistungsniveau, während sich der sekundäre soziale Effekt in Form von Bildungsaspirationen der Familien ablesen lässt. Im empirisch-qualitativen Teil müssen die primären und sekundären Herkunftseffekte um einen Erklärungszusammenhang auf Meso- und Makroebene erweitert werden. Zur Auffindung potentieller Motive und Kriterien gilt es die Äußerungen der Bildungsbeteiligten auf allen drei Ebenen zu untersuchen. In deren Argumentation können sich dem Ansatz nach Schüler, Eltern und Lehrer sowohl auf individuelle und familiäre (Mikro-), schulische (Meso-), wie auch auf gesellschaftliche Aspekte (Makroebene) beziehen. Eine qualitative Strukturanalyse hat zum Ziel anhand der Akteursäußerungen die Bedeutsamkeit von individuellen Motiven und Ursachen für die Bildungsentscheidung in deren Gewichtung und Tragweite zu erheben . Hierzu zählt die Risikoeinschätzung ebenso wie die Bildungsmotivation und -aspiration der Betroffenen . Mit einer solchen Ausrichtung knüpft die Arbeit auch an die Untersuchungen an, die dem bourdieuschen Ansatz folgen, wie die von Schneider (2005), der den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung erhoben hat. 4.2 Empirische Anbindungsstellen zur Bildungsentscheidung Der Forschungstand zur empirischen Bildungsforschung des Schulübergangs zeigt, dass eine Vielzahl von Studien mit ganz unterschiedlichen Ausrichtungen vorliegen. Die meisten empirischen Arbeiten wurden Ende der sechziger bzw. Anfang der siebzigerJahre im Anschluss an die Bildungsexpansion durchgeführt. Entsprechend der gewählten Theorie und dem Forschungsinteresse folgend, wurde von der Einflussnahme des Lehrers bei der Schulwahl (Gresser-Spitzrnüller 1973, Preuß 1970) bis hin zur Entscheidungssituation in den Familien (u.a. Bauer 1972, Bolder 1978) eine breite Themenpalette untersucht. Inhaltlich gilt es an die aktuellen Arbeiten anzuknüpfen und eine Weiterentwicklung in mindestens einem Forschungsbereich vorzunehmen. Die meisten dieser Untersuchungen greifen einen der drei im Theorieteil beschriebenen Konstrukte auf.
4.2.1
Empirische Studien undDaten ~r Bildungsentscheidung in Baden-Württemberg
Auf die Bildungslandschaft Baden-Württembergs bezogene Erhebungen zur Bildungsentscheidung gehen auf die Arbeitsgruppe empirische Bildungsforschung mit dem Projekt "Elternhaus und Bildungschancen" (Bauer 1972) zurück. Hierbei wur-
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den ab 1968 ausgewählte Entscheidungskriterien beim Schulübergang untersucht. Zeitgleich beginnt das Projekt "Lehrerurteil und Bildungschancen", welches den Einfluss der Lehrer auf die Wahl der weiterführenden Schule mittels Lehrerbefragung erhebt. Ein Forschungsvorhaben an der Universität Konstanz verfolgt in einer Längsschnittstudie von 1982-1984 die Bildungsverläufe von Arbeiterfamilien und weist deren Unterrepräsentanz in allen weiterführenden Bildungseinrichtungen nach (Meulemann 1985). Anfang der achtziger Jahre wird die Bildungsentscheidung mit Untersuchungen von Fauser erneut Gegenstand empirischer Studien. Mit einer Reihe von Kollegen untersucht er die Übergangsentscheidung an zwei Erhebungszeitpunkten und dehnte das Befragungsgebiet über verschiedene Bundesländer hinweg aus. Dabei stellt er u.a. fest, dass sich in Niedersachen ein Drittel der Eltern über die Bildungsempfehlung hinwegsetzten, während Eltern in BadenWürttemberg den Grundschulempfehlungen nahezu folgten (pauser, u.a, 1987: 51ff.). Diese Übereinstimmung des Elternwunsches mit der Bildungsempfehlung für die Hauptschule hat aktuell über alle Schichten hinweg stark nachgelassen. Eine Studie des Instituts für Schulentwicklung weist 1979 bundesweit noch 37% an Eltern aus, die sich für ihre Kinder die Hochschulreife wünschen, dagegen sind es 1995 schon 51%. Im gleichen Untersuchungszeitraum sinkt dagegen der Wunsch der Eltern für ihr Kind einen Hauptschulabschluss anzustreben von 31% auf 5% (Rolff, H.-G.; u.a. (Hrsg.) 1998: 16). Im Schuljahr 2005/06 liegt die Nichtzustimmung bei Erhalt einer Hauptschulempfehlung von Eltern im Schulamtsbezirk Stuttgart bei rund 29%, im Landkreis Ravensburg bei 23% (Statistisches Landesamt 2006). Auf die Untersuchungen von Fauser und Bauer bauen die Nachfolgeuntersuchungen von Wiese (1982) und de Graaf (1988) auf. Es sind Sekundäranalysen, die sich auf die beiden bis dato vorliegenden Erhebungsdaten für den Schulübergang in Baden-Württemberg stützen. Strukturell vernetzte überregionale Forschungsaktivitäten gibt es in dem aufgezeigten Forschungsbereichen bislang nur wenige, auch wenn in einzelnen Institutionen immer wieder kleinere Erhebungen angelegt werden. Ein Beispiel hierfür ist die seit 2006 in Heidelberg durchgeführte Längsschnittstudie PRISE, mit der die Entwicklung der Schüler vor und nach dem Übergang untersucht wird. Als Entwicklungsfaktoren sind schulische und kognitive Fähigkeiten, motivationale Faktoren und Merkmale des soziokulturellen Hintergrunds einbezogen (Roos; Schöler 2004). Für Baden-Württemberg kann im Vergleich zu anderen Bundesländern auf eine geringe Anzahl an überregional ausgerichtete Daten zurückgegriffen werden. Es sind vorrangig die statistischen Landesämter, die jährlich Übergangsinformationen zu den jeweiligen Schulsystemen in den einzelnen Bundesländern sammeln. Sie besitzen nur eine regional auf einzelne Bundesländer beschränkte und keine kontrastiv-vergleichende Aussagekraft.
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4.2.2 Nationale undinternationale Studien if/r Sehulwahl undBildungsentseheidung Eine ganze Reihe von empirischen Arbeiten zum Schulwahlverhalten von Eltern beim Übergang in die Sekundarstufe gibt es bislang vorwiegend aus dem angelsächsischen Sprachraum. Eine der frühesten Studien von West et al. aus dem Jahr 1984 fokussiert die Haltung der Eltern bezüglich der Schule und fragt nach deren Entscheidungsgründen für eine einzelne Einrichtungen. In einer Studie von Alston (vgl. West 1994) wurden Eltern nach deren wichtigsten Faktoren der Schulwahl gefragt. Für Vater und Mutter war der Wunsch des Kindes (65%) ein zentraler Aspekt der Schulwahl gefolgt von der Nähe zum Wohnort (53%) und dem guten Ruf der Schule hinsichtlich des Verhaltens und der Disziplin (48%). E. West & Varlaam (1991) und Coldron und Boulton (1991) erhoben ebenfalls die Schulwahlgründe der Eltern. Hier zeigt sich deutlich, dass sich Bildungsentscheidungen von Eltern- und Kinderseite vorwiegend auf individuelle und schulische Faktoren begründen. Über die Motive von Eltern ihre Kinder eine weniger qualifizierende Schulart besuchen zu lassen, gibt es bislang keine Untersuchungen. In einer Reihe qualitativer und quantitativer Studien der 90er Jahre werden Bildungsentscheidung und Schulwechsel als kritisches Ereignis fokussiert. Sie können in den Bereich der Lebensereignisforschung subsumiert werden (Sirsch 2000). Für Kruscka ist ein Schulübergang eine ,,[...] Schnittstelle individueller biografischer Verläufe und sozialer Strukturen, Verzweigungen gesellschaftlich vorgeformter Entwicklungsbahnen. Sie markieren Brüche, die es zu überbrücken gilt, sie sind das Nadelöhr für gesellschaftlichen Erfolg, aber auch Stationen des Scheiterns und Misserfolgs" (Kruschka 1991: 113). Der Übergang hält eine Prozedur bereit, (1) die universell verläuft und nicht reversibel ist (2) die in einer neuen Schuleinrichtung mündet und (3) die institutionell geregelt ist und deren Verfahren Entscheidungen mit prägen können (ebd.: 115). Helmke und Pekrun (1993) stellen klar, ,,[...] dass das staatliche Schulwesen mit dem einschneidenden Eintritt in die Schullaufbahn einerseits und dem leistungsselektiven Übertritt in das weiterführende Schulwesen andererseits zwei kritische Entwicklungsübergänge bereithält." Eine Untersuchung in Österreich von Speiser u.a (1993) erhebt die Determinanten bei der Wahl zwischen öffentlich- und privat geführten Schulen bei Kindern, die sich vor dem Schuleintritt und nach der siebten Klassenstufe für eine weitere Schullaufbahn entscheiden müssen. In dem Kontext geben von den 946 befragten Eltern 56% als Grund für die Nicht-Wahl von Privatschulen die finanziellen Kosten an. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die vorgelegte Arbeit bietet die Untersuchung von Mahr-George (1999), der eine Analyse der Entscheidungssituation von Eltern unter dem Einfluss des Angebots teilintegrierter Schulformen vornimmt. Die empirische Forschung stützt sich dabei auf die Ergebnisse einer Befragung im Frühjahr 1996 in sechs rheinland-pfälzischen Regionen. Hierbei befragt er
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Eltern von Kindern aus 34 Grundschulen mittels vollstandardisierter Fragebögen zur Bildungsentscheidung und der Schulwahl. Seinen Ergebnissen nach lassen sich die Bildungsaspirationen der Eltern recht gut über den Informationsstand der Eltern vorhersagen (Pseudo-Re 54%20), darüber hinaus erklärt das Vorliegen einer Gymnasialempfehlung den Abschlusswunsch Abitur bereits zu 40% (ebd..: 215). Mahr-George zeigt zudem, dass Eltern mit Bildungsaspiration für das Gymnasium häufiger auf leistungsbezogene Kriterien (92%) zurückgreifen. Diese umfassen die erzielten Noten, die Empfehlung des Klassenlehrers oder der Klassenlehrerin und die Bildungsempfehlung der Grundschule. Zudem messen 85% der Eltern dem Wunsch ihres Kindes eine große Bedeutung bei. Eltern mit der Bildungsaspiration für die Haupt- oder Realschule betonen hingegen die Durchlässigkeit des Schulsystems, insbesondere die Übergangsmöglichkeiten, Orientierungsstufe und die berufliche Verwertbarkeit des Abschlusses im Hinblick auf eine berufliche Ausbildung. Als wichtig erachteten sie zudem pädagogische Gesichtspunkte, wie die Unterrichtsmethoden und das Angebot an Arbeitsgemeinschaften, die Anzahl an Schuljahren und die Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer an der gewählten Schule (ebd.: 161). Die erzielten Leistungen und Noten der Kinder in der Schule sind nicht nur für die Bildungsaspirationen der Eltern von entscheidender Bedeutung, sondern auch für die tatsächliche Wahl der Schulart. Wessel, Merkens und Dohle (1997) bestätigen in ihrer Untersuchung den starken Zusammenhang zwischen den erreichten Noten in Deutsch und Mathematik mit der gewählten Schulart (r. = .61). Der Zusammenhang spielt für die eigene Arbeit eine wichtige Rolle, da sich somit eine leistungsbezogene Argumentation im Hinblick auf die Schulartwahl ableiten lässt. Die Erwartungshaltung von Kindern und Eltern an die zukünftige Schule hinsichtlich des Lemens und deren Infrastruktur sind in nachfolgenden Forschungen sehr genau untersucht. Den Ergebnissen von Koch und Büchner (2001) nach zu schließen legen Eltern ihrer Entscheidung als gewichtigstes Auswahlkriterium die Vermittlung von Fach- und Allgemeinwissen zugrunde . Des Weiteren soll die zukünftige Schule Raum für individuelles und soziales Lernen bieten. In Abhängigkeit von der gewählten Schulart eröffnen oder verschließen sich den Kindern bestimmte Optionen im Rahmen der allgemeinen kindlichen Biographieentwicklung. Je früher dieser Übergang erfolgt, desto früher findet eine entsprechende 20
Pseudo-Rs ist ein mode!bezogenes Maß, das die Erklärkraft mindestens zweier Modelle miteinander vergleicht. Dabei wird von einem Nu1lmodell (Modell ohne abhängige Variable) mit einem geschätzten Modell verglichen. Somit drückt der ermittelte Wert die Fehlerreduktion bei Vorhersage der abhängigen Variable aus, wenn Kenntnis über die unabhängige vorliegt. Der Wert des Pseudo R2liegt definitionsgemäß zwischen 0 und 1, d.h, zwischen 0 und 100%. Nach Andreß , Hangaars und Kühne! deutet ein Wert unter 5% auf einen eher geringen Zusammenhang hin, liegt der Wert über 20% kann hingegen ein starker Zusammenhang angenommen werden und ein Wert über 40% kann nur ganz selten erreicht werden (Andreß ; Hangaars; Kühne! 1997: 288).
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Umorganisation der außerschulischen Lebenssituation statt (ebd.: 8) Das Freizeitverhalten der Schülerinnen und Schüler ändert sich entsprechend der besuchten Schulart. Büchner und Koch zeigen nicht nur eine schulische Ebene der Entscheidung an, sondern weisen vielmehr auf die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung der Schulartwahl hin. 4.3 Die Schnittstelle zum aktuellen Forschungsstand
Nachfolgende Arbeiten betonen zum einen den interdisziplinären Kontext und beziehen sich zudem stärker auf die Untersuchung von Schulwechseln im Lebenslauf (Heinz 2000). Ausführungen aus Grundschulsicht finden sich zum Übergang bei Hurrelmann (1992), Hacker (1988, 1997) und Portmann (1997). Aus der Position der Sekundarstufe liegen keine relevanten Untersuchungen vor, weshalb die hier vorgelegte Arbeit diese Perspektive umfasst. Die Thematik wird seit den internationalen Schulleistungsvergleichen zunehmend unter sozialen Aspekten thematisiert. "Nicht die Schülerleistungen allein sind entscheidend, sondern die soziale Herkunft stellt eine wichtige moderierende Variable dar" (van Ophuysen 2005). Schülerinnen und Schüler mit :Migrationshintergrund oder Arbeiterkinder haben weniger Chancen den Übergang in höhere Schulen zu schaffen als Akademikerkinder (Deutsches PISA Konsortium 2001). Müller-Benedict weist an Hand der Ergebnisse der Pisa 2000 Studie erstmals nach, dass der sekundäre soziale Effekt mit 24% einen stärkeren Einfluss ausweist, als der primäre Effekt, der nur rund 11% ausmacht. Kategorisiert man die Teilnehmerinnen der Pisa-Studie in Unterund Oberschicht und nimmt fiktiv ein gleiches Leistungspotential an, dann kann so der primäre Effekt egalisiert werden. Für diesen fiktiven Fall steigt der Übergang der Unterschicht ins Gymnasium um 11%. "Weist man dagegen unter Beibehaltung ihres ursprünglichen, schlechteren Leistungspotenzials fiktiv dieselben Übergangsquoten wie Schülern der Oberschicht zu und schaltet damit den sekundären Effekt aus - würde sich der Anteil von Schülern aus der Unterschicht auf dem Gymnasium um 24% erhöhen" (Müller-Benedict 2008). Letztlich lässt sich diese Interpretation der Pisa-Daten so deuten , dass mit der Verringerung des sekundären Effekts ein potentiell weitergehender Abbau der sozialen Ungleichheit einhergeht. Eindrücklich belegt wird das Faktum der sozialen Ungleichheit auch durch die "Lernausgangsuntersuchungen" (LAU-Studien 2002, 2004). Ein Teilergebnis der Forschung zeigt, dass in Hamburg von 43,1% der Kinder, die einen Übergang in das Gymnasium vollzogen, nur 36,9% auch wirklich eine Empfehlung für diese Schulart erhalten hatten (Harazd 2007: 51). In 6,2% der Fälle setzten sich die Eltern über den Vorschlag der Schule hinweg, da die Entscheidungshoheit bei ihnen liegt. Bezogen auf die erzielten Leistungen ist zu sagen, dass auch Schülerinnen und Schüler mit einer Hauptschulempfehlung die höchste Kompetenzstufe im
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Lesen erreichen konnten (Bos, u.a, 2003). Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Lehrerinnen und Lehrer neben der Leistung noch weitere immanente Kriterien für die Schulartempfehlung zugrunde legen, was als Gegenstand für das eigene Forschungsvorhaben fokussiert werden soll. Die LAU-Studien zeigen überdies den Zusammenhang von sozio ökonomischem Hintergrund der Kinder und der Notenvergabe bzw, Bildungsempfehlung auf. Kinder aus bildungsschwachen Familien (Väter mit oder ohne Hauptschulabschluss) müssen Leistungen erbringen, die um 50% höher liegen als die der empfohlenen Kinder aus bildungsstarken Schichten (Väter mit Abitur) (Lehmann; Peek; Gänsfuß 1997). Um eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten, reichten bei Kindern, deren Väter eine Hochschulreife besitzen, 65 Punkte", Dagegen mussten Kinder, deren Väter keinen Schulabschluss hatten, eine Punktezahl von 98 erzielen (ebd.). An sie wurden viel strengere Maßstäbe für eine Bildungsempfehlung in das Gymnasium angelegt. Aber auch wenn Schüler der Unter- und Mittelschicht gleich gute Noten erzielen konnten, so standen deren Chancen schlechter eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Zur Selektion beim Eintritt in die Sekundarstufe kommt im Verlauf der Bildungsbiografie der Kinder eine "durch die Fachleistungen nicht gedeckte tendenzielle Bevorzugung von Kindern, [...] deren Eltern einen höheren Bildungsabschluss besitzen" (Lehmann; Gänsefuß; Peek 1999) zum Tragen. Mit der Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU) wird der Einfluss des Berufsstands der Väter auf die Schulartwahl für das gesamte Bundesgebiet belegt. Dem zufolge liegen die Chancen von Kindern, deren Väter in "oberen Dienstklassen" tätig sind, etwa 2,68 Mal höher eine Gymnasialempfehlung zu erreichen (Harazd 2007: 53). Nicht der primär soziale Effekt in Form des individuellen Leistungspotentials eines Kindes gibt den Ausschlag für einen Schulübergang, sondern es ist der sekundäre Effekt als entscheidungsbedingender Aspekt, der massiven Einfluss auf den Schulübergang hat. Neueste Untersuchungen zu dezidierten Problemstellungen regionaler Übergangsthematiken liegen für einzelne Bundesländern vor (u.a. Maaz, u.a. 2006; Furtner-Kallmünzer, Hössl 2004; Schauenberg 2006). Neben schulsystembezogenen Aspekten greifen diese für die Wahlentscheidung zum einen auf die Rational Choice Theorie oder auf die kulturtheoretischen Ansätze Bourdieus (u.a. MahlGeorge 1999) zurück, mit der sich bildungssoziologische Ungleichheitsphänomene erklären lassen. In die Überlegungen der hier geplanten Studie fließt im Rahmen des theoretischen Konzepts zur Bildungsentscheidung vor allem der Rational Choice Ansatz ein. Eine thematische Affinität besteht zur Untersuchung von Büchner; Koch (2001) und Koch (2001), in denen das Denken und Handeln von 21
Die Skalen bzw. die Punkte wurden nach dem " Kombinierten Schulleistungstest Harnburg HST HAM 4/5" (Mietzel;Willenberg 1996) vergeben.
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Theoretische und empirische Anbindungsstellen an die Forschung
Schülerinnen , Eltem und Lehrem im Kontext des Sekundarstufenübergangs aus schulischer und außerschulischer Sicht mit quantitativen und qualitativen Methoden erforscht wurde . Die größte Affinität besteht zu den Forschungsarbeiten von Mahl-George (1999) und Harazd (2007), die Kriterien und Nicht-Wahl der Schulformempfehlung im Hinblick auf soziodemografische Merkmale und den Bildungsstatus der Familien untersuchen. Sie konnten zeigen, dass die Motive der Eltem mit der Einstellung zur Schule bzw. zum Schulwahlprozess und den soziodemografischen Merkmalen zusammen hängen . Nach Harazd erhöht sich für Familien, deren Eltemteile keinen bzw. einen Hauptschulabschluss haben, das Wahrscheinlichkeitsverhältnis um das 3,5fache die von der Schule vorgegebene Schulart zu wählen (ebd.: 168). Gegenwärtig eröffnen Eckert u.a, (Eckert 2007) mit empirischen Untersuchungen zum Übergangsmanagement im Kontext von regionalen Lernräumen und lebenslangem Lemen eine Perspektive auf Übergänge im Bildungswesen aus personaler, sozialer, institutioneller und gesellschaftlicher Perspektive . Diese aktuelle Forschung stellt, wie die von Stubbe (2009) mit seiner Studie zu sozialen Disparitäten in Hamburg, eine weitere Schnittstelle zur hier vorgelegten Untersuchung dar. 4.4 Zusammenfassung
Dieforschungstheoretischen Anbindungsstellen Die vorangegangenen forschungs theoretischen Überlegungen machen deutlich, welchen Stellenwert formale Bildungszertifikate für den sozialen Aufstieg und als Verortungsinsttument im historischen und zeitgenössischen Gesellschaftsdiskurs einnehmen. Der Schulübergang wird theoretisch als "exogener Zentralzusammenhang" (Mayer 1990) verstanden, in dessen zweiphasigem Verlauf zunächst eine Festlegung auf eine bestimmte Schulart und in der Folge eine bestimmte Schule ausgewählt wird.. Der Prozess der Bildungsentscheidung lässt sich theoretisch mit verschiedenen Ansätzen modellieren . Mit der Sozialraumtheorie nach Boudrieu erklärt die Bildungsentscheidungen auf der Grundlage von drei verschiedenen Kapitalarten. Diese reichen bis in die Biografien der einzelnen Akteure hinein und lassen sich empirisch deshalb nur schwer fassen. Boudon hingegen führt die Ursache für Ungleichheit auf die personale und familiale Ebene sozialer Herkunft zurück und baut diese auf einen primär-individuellen und einen sekundär-familiären Faktor aus, die beide von den ökonomischen Grundlagen der Familien bedingt sind. Er gründet seinen theoretischen Ausführungen zur Bildungsentscheidung auf den Rational-Choke Ansatz und greift für die Erklärung von Schulartwahlprozessen auf der Makroebene zurück. Ergänzt wird der Ansatz um die SEU-Theorie, die als Bindeglied auf der Mikro-
Theoretische und empirische Anbindungsstellen an die Forschung
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ebene fungiert und mit dem sich das individuelle Vorgehen der Akteure bei der Schulartwahl anband von primären und sekundären sozialen Herkunftseffekten erklären lässt.
DieAnbindungsstellen an vorhandene Forschungsergebnisse Die Bildungsforschung steht aktuell vor dem Problem, dass sich wenige theoretische Erklärungsansätze für Ungleichheit empirisch bewährt haben und auf noch weniger systematische Anwendungen von Theorien und Modellen der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen zurückgegriffen werden können. Aus dem Grund gibt es die Forderung nach einer Forschung, die neben beobachtbarem Verhalten auch "individuelle Orientierungen, Präferenzen, Motivationen und Wissensbestände genauso wie individuelle Entscheidungen einbezieht" (Blossfeld & Müller 1996: 407). Entsprechend soll das vorgelegte Forschungsvorhaben längsschnittlieh empirisch erhobenen Daten für die eingeschränkte Schulartwahl liefern und diese unter dem Focus möglicher Bildungsungleichheit auswerten. Die Ausgangsbasis für die Untersuchung zur "Bildungsentscheidung aus Schüler-, Eltern- und Lehrersicht" bilden grundlegend die Ergebnisse der nationalen und internationalen Schulleistungsvergleichsstudien. Grundlage für die kognitive und motivationale Ausgangslage der beteiligten Schülerinnen und Schüler liefert die PRISE-Studie. Auf die IGLU Studie wird im Hinblick auf die bundeslandspezifischen Grundkompetenzen Bezug genommen. Dagegen liefert die LAU-Studie Erkenntnisse über eine systematische Ungleichbehandlung der verschiedenen sozialen Gruppen. Zentrale Anknüpfungsstellen für das Schulwahlverhalten der Eltern sind die angelsächsischen Studien von Alston und West, die Erkenntnisse zu den Kriterien der Schulwahl liefern. Die Untersuchungen von Bauer (1972), Fauser, u.a. (1987) und Roos, Schöler, (2004) liefern wichtige empirische Erkenntnisse für das Schulartwahlverhalten von Eltern und Lehrer in Baden-Württemberg. MahrGeorge (1999), Koch; B üchner (2001) und Schneider (2005) hingegen untersuchen den Bildungsentscheidungsprozess in ähnlicher Weise in anderen Bundesländer und greifen auf ähnliche theoretische Konstrukte, Ansätze und Instrumente zurück. Das gilt besonders für die Arbeit von Harazd (2007).
5
Anlage der Untersuchung und methodische Vorgehensweise
5.1 Theoretische Herleitung der grundgelegten Fragestellung Die im vorangegangenen Kapitel dargelegten Theorien zur Bildungsentscheidung bilden die Grundlage für die im Folgenden abgeleiteten Fragestellungen. Sie richten sich an der zentralen Zielsetzung der Arbeit aus und beziehen sich auf die beiden Untersuchungsteile. Es soll der Schulartwahlprozess in seinem eingeschränkten Rahmen aus Sicht der beteiligten Schüler-, Eltern und Lehrer auf die Einflussfaktoren, den Beteiligungsgrad und die situative Beurteilung des Schulübergangs hin untersucht werden. Wichtige Bezugs- oder Richtgröße ist, wie in den theoretischen Überlegungen von Boudon zugrunde gelegt, das Moment der Bildungsungleichheit. Der Forschungsgegenstand wird zunächst in eine allgemeine Formulierung überführt, theoretisch fundiert , um die drei Fragebereiche daraufhin auszurichten. In den nachfolgenden Kapiteln erfahren die Fragehorizonte dann eine Spezifizierung auf die schriftlichen und mündlichen Erhebungsinstrumente. In Baden-Württemberg erfolgt der Schulübergang wie in den anderen Bundesländern der Gruppe 1 Bayern, Thüringen und Sachen auf der Grundlage einer leistungsbezogenen Schulartzuweisung, die über eine schulische Bildungsempfehlung festgeschrieben ist. Entscheidungstheoretisch weist die "Zustimmung" oder "Intervention" bezogen auf die Bildungsempfehlung wesentliche Merkmale einer stereotypen Entscheidungsfindung aus (vgl. Kap . 3.1.1). Von Eltern- und Schülerseite werden sie trotz Einschränkung durch die Bildungsempfehlung auf die bestmögliche Variante hin ausgerichtet (s.h. Kap. 3.1). Die Schulartwahl verläuft auf Seiten der Schule formalisiert und nach einem regelgeleiteten Schema, das in seiner Rangordnung die Lehrerentscheidung über die Elternund Schülermeinung stellt. Die Hauptkriterien der Grundschulklassenlehrerin sind entsprechend der Schulgesetzgebung vorrangig die erzielten Leistungsziffern des Schülers in den Kernfächern Deutsch und Mathematik. Nachfolgend wird das theoretische Erklärungsmodell für den Entscheidungs- und Schulartwahlprozess auf die rechtlichen Vorgaben des eingeschränkten Übergangsmodus für Baden-Württemberg adaptiert und daraufhin die detaillierten Fragestellungen abgeleitet. Der eingeschränkte Schulartwahlprozess wird hierbei grundlegend als ein zielgerichteter und auf einen möglichst großen "Erfolg" im Sinne eines Erreichens der höchstmöglichen Schulart ausgerichteter Prozess verstanden, der durch die boudonschen Bedingungsfaktoren nach primären und sekundären sozialen Herkunftseffekten unterschieden werden kann. Wird dem Prozess der Eltern- und Schülerentscheidung für den Schulübergang der RationalChoice Ansatz zugrunde gelegt, ist ein nutzenorientierter Schulartwahlprozess T. Wiedenhorn (eds.), Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, EIternund Lehrersicht, DOI 10.1007/978-3-531-93060-2_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Anlage der Untersuchung und methodische Vorgehensweise
anband des RREEMM-Modells (Lindenberg 1995: 100f.) (vgl. Kap. 3.4.1) genauer abgebildet werden. Nach diesem findet als erster Schritt vor der eigentlichen Schulartwahl auf Eltem- und Kinderseite eine individuelle Situationsdefinition statt, die zum einen auf bestimmten individuellen Kriterien basiert und die Rahmenbedingungen mit berücksichtigt. Zurückgeführt werden kann die Definition etwa auf die sekundären sozialen Effekte. Zudem geht die schulische Leistung als Bedingungsfaktor mit ein, die mit aus den primären sozialen Effekten resultieren. Trotz der einschränkenden Bildungsempfehlung (restricted) sind verschiedene Handlungsoptionen (resourceful) möglich. In der vorliegenden Praxis können sich die Familien für die empfohlene oder die nachrangige Schulart entscheiden oder ein Testund Beratungsverfahren anstreben. Werden die Bildungsaspirationen in Form der Wunschschulart nicht erreicht, kann der Übergang durch die strukturellen Vorgaben eingegrenzt werden (expecting). Die gegebenen Optionen lassen sich nach ihrer Präferenz bzw, Wichtigkeit bewerten und gegeneinander abwägen (evaluating). Streben die Eltern eine Intervention an und schlagen eine " nichtkonforme" Schulartwahl ein, so ist das im Hinblick auf eine zu erzielende Nutzenorientierung zu sehen (maximizing) (ebd.). Für den Verlauf der Schulartwahl in Baden-Württemberg stellt sich der Ablauf des Entscheidungsprozess schematisch so dar:
103
Anlage der Untersuchung und methodische Vorgehensweise
E ntscheidungstrliger
Eltern Vater
Schüler
Mutter
+ + Individuelle Situationsdefinition Sekundiire so:dale Effekte Bedingungsfaktor (restricted)
Individuelle Situationsdefinition aus Elternsicht
(resourceju~
Nutzenorientierter
Abwägungsprozess (maximi:rin2J
+ Individuelle Situationsdefinition aus Schülersicht
+ Individuc1lc Situationsdefinition aus Lehrersicht
•
- - - -- - - - -•- - - - - - ---.. Schulische Leistung (als primärer sozialer Effekt)
~ Mögliche Handlungsalternativen
Lehrer
~
HS-RS-GYObergango. Test- u. Beratungsverfahren
~
~
Bildungsaspiration vs. Bildungsempfehlung
Schulische Leistung (als primärer sozialer Effekt)
~
HS-RS-GY Übergango. Test- u. Beratungsverfahren
~ Bildungsaspiration vs. Bildungsempfehlung
Notenbasierte schulische Leistung (als primärer sozialer Effekt)
~ HS-RS-GY
~ Bildungsempfehlung
Tabelle 5.1: Schulartwahlprozess nach dem RREEMM-Modell(I...Jndenberg 1995)
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Anlage der Untersuchung und methodische Vorgehensweise
Den theoretischen Überlegungen von Boudon zufolge ist Bildungsungleichheit das Ergebnis einer individuellen Schulartwahlentscheidung, die in einem institutionellen Kontext getroffen wird. Ist dieser schulische Entscheidungsrahmen aufgrund von äußeren Vorgaben in Form von Bildungsempfehlungen eingeschränkt, nehmen die Wahlmöglichkeiten der beteiligten Familien erheblich ab. Damit steigt die Möglichkeit, dass sich eine Differenz zwischen den schulisch vorgegebenen Schularten und der Wunschschule der Eltern und Kinder ergibt. Auf familialer Ebene kann dies als latente Ungerechtigkeit und Benachteiligung wahrgenommen werden. Auf diese theoretische Betrachtungsweise hin lässt sich die erste Forschungsfrage ableiten:
Wie beurteilen die Schiiler-, Eltem- und Lehm die Schulartwahl und welchen Problemgehalt messen sie dem Obergang tf'? (FU). Für die Beteiligten spannt sich die Schulartwahl zwischen leistungsorientierter Bildungsempfehlung als familiärer Einschränkung und der Zielsetzung einer bestmöglichen Schulart auf. Dies soll mit Hilfe eines schriftlichen Fragebogens erhoben werden, in den neben der Wunschschule der Beteiligten, deren Bereitschaft zur Teilnahme an einem Test- und Beratungsverfahren, die Übereinstimmung mit der Bildungsempfehlung und der Schulübergang als besonderes Ereignis eingehen. In der mündlichen Befragung liegt der Fokus vorrangig auf der strategischen Vorgehensweise von Eltern und Kindern und auf der Situationsdefinition. Mit der zweiten Fragestellung (F2.1) soll die Eltem- und Schülergruppe auf deren Bedingungsfaktoren für die jeweils zu erwartenden Schulübergänge hin untersucht werden. Zunächst gilt es die soziodemografischen Merkmale der Beteiligten zugrunde zu legen, was einem standardisierten Verfahren in der Ungleichheitsforschung entspricht (Harazd 2007: 84). Berücksichtigt werden im quantitativen Ansatz der Migrationshintergrund, die Muttersprache der Familie, das Geschlecht des Kindes, der Bildungsstatus, der höchste Schulabschluss und Berufsstand in der Familie22 als Indikatoren für primäre soziale Effekte. Demgegenüber stehen die sekundären sozialen Effekte als Einflussfaktoren auf elterlicher Seite, wie der Grad der Inforrniertheit, die Bildungsempfehlung als Bezugsinstrument und die Sicherheit im Entscheidungsprozess. Für Eltern und Schüler gehen die Einschätzungen zur gemeinsamen Unterstützung in emotionaler und schulischer Hinsicht mit ein, so dass insgesamt vier Skalen auf ihren Einflussgrad auf die Schulartwahl hin untersucht werden. Das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren ist in der nachfolgenden Grafik modellhaft dargestellt: 22
Korupp, S. E.; Ganzenboom, H. B. G. und Sanders, K. (2002) zeigen in ihrem Aufsatz zur Statusvererbung über die Eltcrngeneration auf, dass in den letzten Jahrzehnten die berufliche Statusverorrung der Elterngeneration zunehmend unwichtiger für die Positionierung der Kinder geworden ist.
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Anlage der Untersuchung und methodische Vorgehensweise
Werden die ausgewählten Indikatoren für den primären und sozialen Effekt in der abgebildeten Form zueinander in Beziehung gesetzt , kann ein möglicher Zusammenhang von soziodemografischen Merkmalen als primärem sozialen Effekt und den sekundären sozialen Effekten bestehen und unter folgenden Fragestellung erhoben werden :
Mit der ifVeiten Fragestellung sollgekllirt werden, welche der erhobenen soiJalen Effekte der Eltem- und Schülergruppe einen Einfluss auf den :@ erwartenden Übergang haben und in welcher Intensitlit sie sich auswirken. Für die berechenbaren Schulübetgangsmb'glichkeiten in die HSRS sollen die Bedingungsfaktoren der primiiren und sekundliren soiJalen Herkunftse.ffikte auf die Schulartwahl hin untersucht werden (F2.1). Die nachfolgenden Berechungen beziehen sich auf die theoretisch dargelegte Thematik einer potentiellen Bildungsungleichheit in Schulartwahlsituationen. In diesen können sich Konstellationen der fünf Faktoren ergeben, die von den Einzelfaktoren wie Geschlecht, dem Migrationsstatus und der sozialen Schichtzugehörigkeit abhängen, sich aber auch wechselseitig auf den Übergang auswirken können. Bezüglich des Geschlechts ist eine Benachteiligung von Schülerinnen im allgemeinbildenden System nicht mehr zu erwarten, vielmehr könnte ein zahlenmäßig höherer Übergang in die Realschule oder das Gymnasium von Mädchen vorliegen. Mädchen erzielen durchschnittlich höhere Schulleistungen in Form von Noten als Jungen und gehen somit häufiger auf höhere Schulen über und sind in ihren Schullaufbahnen erfolgreicher (Schneider 2005). Für Kinder aus Migrantenfami1ien wurde in der PISA-Studie zwar eine reduzierte Chance des Realschul- und Gymnasialbesuchs ermittelt, doch ist der Effekt rückläufig, wenn die soziale Schichtung mit kontrolliert wird (vgl.Baumert; Schürmer 2001). Zu vermuten sind hier Effekte des sozialen Status, des Geschlechts oder des Migrationshintergrundes, die bei steigendem Sozialstatus zurückgehen. Ergänzt werden die Ergebnisse der schriftlichen Erhebung, die in einem log-linearen Modell berechnet werden, um die Erkenntnisse der mündlichen Befragung. Als mögliche Erklärung für die unterschiedlichen Bildungsentscheidungen führt Boudon die Differenzierung nach primären und sekundären Herkunftseffekten (Harazd 2007) ein. Auf diese Annahme hin ist in den Interviews ein dezidierter Blick auf die Einzelfälle in den Grenzbereichen der Notenintervalle für die drei Schularten zu richten.
Die Untersuchung sollaufzeigen, welcher der beiden Effekteftir die Beteiligten relevant ist und deshalb in den Interviews vorrangig thematisiert wird (F2.2). Nach Boudon richtet sich die Bildungsentscheidung gänzlich auf die Eltern als ursächliche Entscheidungsträger aus, da sie auf fami1iärer Seite die wichtigsten Bedingungsfaktoren einbringen. Sie werden außerfami1iärvon Lehrern und innerfami1iär von ihren Kindern beeinflusst. Bei Eltern und Kindern ist von einer gemeinsame
Anlage der Untersuchung und methodische Vorgehensweise
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Basis für die Situationsdefinitionen über die primären und sekundären Herkunftseffekte auszugehen. Hieraus entsteht ein unterschiedlicher gegenseitiger Einflussbereich, der zunächst abhängt ist vom Erreichen oder Nichterreichen der elterlichen Bildungswünsche. Die dritte Fragestellung zielt somit auf die obige These Boudons, in der er der elterlichen Schulwahlentscheidung eine zentrale Bedeutung im Bildungsentscheidungsprozess zuspricht. Im eingeschränkten Übergang sind es die Grundschullehrer, die für Bildungsempfehlung verantwortlich sind, da sie zunächst die möglichen Schularten vorgeben . Der situativen Charakterisierung nach ist zu erwarten, dass von den drei Beteiligtengruppen hauptsächlich die Lehrer und Vater und-Ioder Mutter als maßgebliche Entscheidungsträger angesehen werden. Den Kindern und weiteren Verwandten müsste demnach eine Nebenrolle zukommen (F3.1).
Eine Einschät:@ng der Entscheidungsträger über ihre Beteiligung am Biidungsentscheidungsprozess steht bei der dritten Forschungsfrage im Vordergrund, die danach fragt, wie die drei Beteiiigtengruppen ihren Anteil am eingeschränkten Schulartwahlprozess einschiitzen. Der Beteiligungsgradwird ifJnächst in der schriftlichen Befragung erhoben und in den leitfadengestiitifen Interviews atifdie individuellen Einschät:@ngen hinspe#:derl. 5.2 Verlauf der Untersuchung Das längschnittlich-explorative Forschungsvorhaben zur Schulartwahl untergliedert sich entsprechend der Fragestellungen in eine schriftliche und eine mündliche Befragung, die an drei zeitlich aufeinander folgenden Untersuchungsabschnitten erhoben wird. Den Anfang bildet der empirisch-quantitative Untersuchungsteil, in dessen Verlauf die schriftliche Fragebogenerhebung von Schülern, Eltern und Lehrern als grundlegende Basis für Aussagen zum Schulartwahlverhalten von allen drei Akteuren im dreigliedrigen Schulsystem mit bindender Bildungsempfehlung seht. Zeitlich geht sie der Ausgabe der schulischerseits ausgesprochenen Bildungsempfehlungen im März des Jahres 2007 voraus. Die nachfolgenden empirisch-qualitativen Erhebungsschritte schließen sich im selben und darauf folgenden Jahr an und erfolgen bei den Nichteilnehmern des schriftlichen Teils mit Hilfe eines leitfadengestützten Interviews. Der Erhebungsverlauf richtet sich nach dem folgenden Untersuchungsplan aus:
108
Anlage der Untersuchung und methodische Vorgehensweise
~ Untersuchung
Schrijtliche Befragung Standardisierte Fragebögen
2007/08
2007/08
2008/2009
---
---
1. MZP Schüler, Eltern und Lehrer (AtA3) Klasse 4 (GS)
2.MZP
Mündliche Befragung Leitfadengestützte Interviews
---
3.MZP
Schüler, Eltern und Lehrer (Bt-B3)
Schüler, Eltern und Lehrer (Ct-C3)
Klasse 4 (GS)
Klasse 5 (HS,RS, GY)
Tabelle 5.2.: Erhebungsphasen undMesszeitpunkte (MZP) Die Fragebogenuntersuchung zum ersten Messzeitpunkt findet für alle drei Gruppen von Beteiligten schriftlich mit Hilfe von standardisierten Fragen statt, die vorwiegend Items mit geschlossenen Antwortvorgaben enthält. Diese basiert auf dem theoretischen Konstrukt des Rational Choice und der Theorie des primären und sekundären sozialen Effekts (Boudon 1974). Vor dem Hintergrund der im dritten Kapitel herausgearbeiteten theoretischen Zusammenhänge gilt es die forschungsleitenden Fragestellungen zu beantworten. Das Forschungsdesign wird auf zwei ergänzende Verläufe hin ausgelegt. Die Fragebogenuntersuchung orientiert sich dabei vor allem auf die Kontexterhebung von primären und sekundären sozialen Faktoren. Das heißt, mit Hilfe der Fragebögen soll eine grundlegende empirische Datenbasis gelegt werden, um insbesondere das Schulartwahlverhalten und im speziellen sozialspezifische Disparitäten ausfindig zu machen. Zur Vertiefung ist zunächst eine zweite quantitative Folgeuntersuchung geplant, die nach der Schulartwahl Aufschluss über Verlauf, Einschätzung und Merkmale bieten soll. Aufgrund der spezifischen Zusammensetzung des Rücklaufs und den sich daraus ableitenden Hinweisen zu den Nichtteilnehmern des ersten Messzeitpunkts ist mit der Notwendigkeit einer Modifikation des Untersuchungsdesigns zu rechnen. Eine "ergänzende" qualitative Untersuchung der Nichtteilnehmer soll insbesondere Auskunft über die-
Anlage der Untersuchung und methodische Vorgehensweise
109
jenigen Familien geben, die aus den verschiedensten Gründen keine Auskunft über den eigenen Schulübergang geben wollen. Ein solches Vorgehen lässt sich nicht nur durch den gegenwärtigen Forschungsstand begründen, sondern auch durch die Notwendigkeit einer Methodentriangulation im Verlauf der Datenerhebung. Die schriftliche und die mündliche Befragung sind auf unterschiedliche Zieldimensionen und Forschungsschwerpunkte ausgerichtet. Um die jeweiligen Forschungsrichtungen und -schwerpunkte als Stärken zu nutzen, wird eine Kombination des Instrumentariums für sinnvoll erachtet (vgl. Friebhäuser 1997). Methodische Quintessenz der empirisch ausgerichteten Studie ist die Verknüpfung von quantitativer Fragebogenerhebung mit den qualitativen Interviews. Die gegenstandsbezogene Forschungslogik der beiden methodischen Schritte soll im Verlauf der Untersuchung möglichst transparent werden und eine Anbindung der schriftlichen zur mündlichen Beftagung hin aufzeigen. Mit einer solchen Vorgehensweise kann die hergeleiteten Forschungsfragen möglichst mehrdimensional beantworten werden. In die Beantwortung der Forschungsfragen gehen die Ergebnisse beider Teile mit ein und werden im Schlusskapitel zusammengeführt. Das Vorgehen folgt der Methodentriangulation, die in diesem Fall aus einer Kombination von empirisch-qualitativer und empirisch-quantitativer Forschungsmethode gebildet wird. Die zugrunde gelegte Vorstellung von Methodentriangulation folgt der Anschauung eines forschungsmethodischen Vorgehens, dass sich als methodological appropriateness versteht. ,,(.. .) Methodological appro-priateness means that designs should be judged on the extent to which they answer the inquiry question at hand, not whether they adhere to some preordinate standard. Making .. . the gold standard puts the method before the question, a fundamental violation of inquiry in any field (...). (patton, M. Q. 2006, zitiert nach einer Vortragsvorlage von Huber und Gürtler 2007). Die schriftlich erhobenen Daten stellen die Basis für die forschungsmethodische Herangehensweise und Erhebung der drei Fragestellungen dar. Ein solches Vorgehen kann als gemischt-sequenzielles Forschungsdesign (sequential mixed methods design) beschrieben werden, das zwei parallelen Durchführungsmodi folgt und hierbei aufeinander aufbaut . Die Stichprobe des schriftlichen Abschnitts wird im zweiten Teil um den der qualitativen ergänzt bzw. erweitert.
110
Anlage der Untersuchung und methodische Vorgehensweise
5.3 Zusammenfassung: Untersuchungsdesign undftrschungsmethodisches Vorgehen In der Untersuchung findet ein schriftliches und ein mündliches Auswertungsverfahren zur Beantwortung der drei Fragestellungen Verwendung. Zum ersten Messzeitpunkt kommt ein standardisierter Fragebogen zum Einsatz, mit dem eine breite Datenbasis gelegt wird und der einen Feldzugang mit ersten Hinweisen zum Schulübergang ermöglicht. Für den zweiten und dritten Messzeitpunkt erfolgt die Untersuchung mit Hilfe von leitfadengestützten Interviews, die einen individuellen Blick auf die Übergangssituation in den Familien bietet. Die Forschungsmethoden werden entsprechend der Fragestellung und der Interpretationsreichweite gewählt. Mit Hilfe der Methodentriangulation sollen die Nachteile der jeweiligen Instrumente ausgeglichen und eine erweiterte Sicht auf die Einschätzungen der Schüler-, Elternund Lehrerpositionen ermöglicht werden. DieAtlSwertungsmethoden undForschungsfragen der Untersuchung Die Wahl der forschungsmethodischen Auswertungsverfahren richtet sich an der jeweiligen Fragestellung aus. Das empirisch-quantitative Fragebogenmaterial wird zunächst einer deskriptiven Beschreibung zugeführt, um hiernach die zweite Fragestellung anhand eines log-linearen Modells auszuwerten. Für die Analyse der mündlichen Interviewtranskripte kommt die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring zum Einsatz. Die Auswertung der Schüler-, Eltern- und Lehrerinterviews wird über ein induktiv-deduktiv gebildetes Kategoriensystem vorgenommen, in deren Folge die Codes in eine strukturierende Textauswertung münden. Das Forschungsvorhaben wird dabei von drei zentralen Fragestellungen geleitet: 1.
Wie beurteilen die Schüler-, Eltern- und Lehrer die Schulartwahl und welchen Problemgehalt messen sie dem Übergang zu? (Fl.l)
Die zweite Fragestellung teilt sich in einen qualitativ und quantitativ ausgerichteten Teil auf: 2.
Welche primären und sekundären sozialen Herkunftseffekte wirken sich in welcher Intensität auf den Schulübergang aus? (F2.1). Auf welche der vier Ebenen (persönlich, schulisch, familial und sozial/gesellschaftlich) beziehen sich die Beteiligten im Entscheidungsprozess der Schulartwahl und welche von ihnen werden als besonders relevant erachtet? Welche Kriterien legen Eltern und Lehrer ihrem Schulartwahlprozess zugrunde? (F2.2)
3.
Wie schätzen Schüler, Eltern und Lehrer ihre Anteile an der Schulartentscheidung entsprechend ihrer individuellen Wahlsituation ein? (F3.1)
6
Darstellung der schriftlichen Befragung
Die schriftliche Befragung ist als erste sequenzielle Teilerhebung angelegt und richtet sich in ihrem Design, Auswertungsverlauf und der Interpretation der Teilergebnisse zielbezogen an den Forschungsfragen aus. Von der Stichprobenziehung, der Konstruktion und Anlage des Fragebogens für die Schüler-, Eltern und Lehrer bis hin zur computergestützten Auswertung der Daten mit SPSS orientiert sich die Erhebung zunächst an der Frage nach der Sicht der Probanden auf die Schulartwahl. Welche Einschätzungen haben Schüler und Eltern zum Verlauf der Bildungsentscheidung, ihrer Zielsetzung und zur Übereinstimmung mit den schulischen Vorgaben. Mit der zweiten Frage soll untersucht werden, wie sich primäre und sekundäre Herkunftseffekte auf die Übergänge in die Haupt- und Realschule auswirken. Mit der dritten Fragestellung gilt es die Einschätzung der Beteiligten am Entscheidungsprozess zu erheben. 6.1
Der Verlauf der schriftlichen Datenerhebung zum 1. Messzeitpunkt
Die schriftliche Untersuchung zum ersten Messzeitpunkt erfolgte an 17 Grundschulen, die sich aus zwei ausgewählten Schulamtsbezirken Baden-Württembergs zusammensetzte. Nach der Stichprobenziehung erging eine Anfrage an die jeweiligen Grundschulen. Bei einer Nichtteilnahme wurde auf die Ersatzschulen aus der Stichprobenziehung zurückgegriffen. Von 23 angefragten Grundschulen erklärten sich 17 bereit an der Untersuchung teilzunehmen. An vielen Schulen überließen die Schulleitungen die Beteiligung den jeweiligen Grundschulklassenlehrerinnen, die der Erhebung sehr offen gegenüberstanden. Die Anfrage richtete sich jeweils an alle vierten Klassen der beteiligten Schulen. Lag eine Zusage der Einrichtung vor, wurden die einzelnen Klassen über das Vorhaben informiert und die elterliche Zustimmung für eine Teilnahme der Schülerinnen und Schüler eingeholt. Vor der Durchführung der schriftlichen Befragung erfolgte eine persönliche Einführung der Grundschullehrerinnen zu untersuchungsrelevanten Inhalten und organisatorischen Details der drei Fragebogenreihen. Der zeitliche Rahmen zum Verlauf und etwaige Unklarheiten sollten dadurch vorab aufgearbeitet werden. Auf der gemeinsamen Grundlage konnte die Datenerhebung nach einem einheitlichen Standard verlaufen . Jeder Lehrer terminierte entsprechend der eigenen Planung die Ausgabe der Schüler- und Elternfragebögen innerhalb eines zweiwöchigen Zeitfensters. Um allen beteiligten Eltern eine anonyme Datenerhebung zu ermöglichen, erhielten die Eltern den Fragebogen über die Grundschullehrerinnen in Umschlägen, die verschlossen an die Klassenlehrerinnen zurückgeben werden sollten. Die schriftliche Befragung erfolgte bei den Schülern im Rahmen einer Unterrichtsstunde. ZeitT. Wiedenhorn (eds.), Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, EIternund Lehrersicht, DOI 10.1007/978-3-531-93060-2_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
112
Darstellung der schriftlichen Befragung
gleich mit den Schüler- wurden auch die Elternfragebögen an die beteiligten Familien ausgegeben und mit einer einwöchigen Rücklauffrist versehen. An vier der siebzehn Schulen nahm der Forscher die Durchführung der Schülerbefragung selbst vor. Bei dem Großteil der Stichprobenklassen lag die Durchführung der schriftlichen Erhebung der Schüler bei den Klassenlehrerinnen. Aus 17 Grundschulen gingen die Fragebögen entsprechend der angegebenen Rücklaufquote (vgl. Tabelle 6.2) ein.
6.2 Die Entwicklung der Instrumente Die eingesetzten schriftlichen Fragebögen richten sich an Eltern, Schüler und Lehrerinnen der vierten Klassenstufe und wurden speziell für die jeweilige Zielgruppe konzipiert. Der Elternfragebogen umfasst vier Fragekomplexe und gliedert sich in 18 Teilfragen mit 72 Einzelitems auf. Der standardisierte Fragebogen beinhaltet lediglich eine offene Frage zur Anzahl der Beratungsgespräche der Eltern mit der Grundschullehrerin. Von den 18 basieren zehn Fragen auf der Vorgängeruntersuchung zum Schulwahlprozess in Nordrhein-Westfalen, die am ISF Dortmund durchgeführt wurde (IFS-Umfrage 2005). Entsprechend des eigenen spezifischen Fragehorizonts sind fünf Fragen an das Design adaptiert und im Pre-Test auf deren Reliabilität hin getestet. Lediglich drei Fragen sind in dem entsprechenden Skalenniveau neu konstruiert worden. Die Eltern sollten ihre persönlichen Angaben und die ihres Kindes verschlüsseln, was eine Zuordnung von Eltern- und Schülerfragebögen in den einzelnen Klassen ermöglichte. Die Fragebögen sind aus dem Grund mit einer einführenden Anleitung und Hinweisen versehen. Auf die theoretischen Grundannahmen (vgl. Kap. 3) und die drei zentralen Fragestellungen hin sind die Schüler- und Elternfragebögen angelegt, die sich jeweilsin vier Themenbereiche gliedern:
1. 2. 3. 4.
Beurteilung des Schulübergangs und der Bildungswünsche (Einschätzungen und Prioritätensetzungen), soziodemografische Rahmenbedingungen (Indikatoren der primären sozialen Faktoren als Migrationshintergrund, Muttersprache, Bildungshintergrund, Geschlecht des Kindes und höchster Berufsstand der Eltern), Beurteilungen zur abgebenden und aufnehmenden Schule (Grad der Informiertheit, Grundhaltung der Eltern, innerfamiliäre Unterstützung) und Beurteilung der Bildungsempfehlung, Entscheidungssicherheit und Klassifikation der Entscheidungsträger.
Der Lehrerfragebogen ist auf die Gewinnung elternhausspezifischer Einschätzungen der Schüler- und Elterngruppen auf die individuelle Übergangspraxis und eine
Darstellung der schriftlichen Befragung
113
mögliche Klassifikation der Entscheidungsträger hin angelegt. Ausgangspunkt für die Fragebogenkonstruktion bildete zum einen das Übergangsprojekt des Instituts für Schulforschung (IFS) Dortmund (IFS-Umfrage (2005), zum andern zwei Vorgängeruntersuchungen (u.a. Mahr-George 1999, Harazd 2007). Das Design der Fragebögen fokussiert sich auf die Schüler- und Elternperspektive, während die schriftliche Befragung der Grundschullehrer ergänzenden Charakter hat. Mit ihr werden gmndlegende apersonale Informationen und Einschätzungen zur jeweiligen Schulklasse erfragt. Für das Antwortformat kommt in allen drei Fragebögen vorwiegend ein vierstufiges Antwortformat zum Einsatz, das auf "trifft zu" (4), trifft eher zu (3), trifft eher nicht zu (2) und "trifft nicht zu" (1) verbalisiert ist. In Einzelfällen wird auf eine fünfstufige Skala zurückgegriffen, um etwa dezidiert die Entscheidungssicherheit oder die Notenzufriedenheit zu erfragen. Mit den Fragen gilt es zum einen die Bewertung der Eltern hinsichtlich der Sicherheit bei der Schulartwahl zu erheben, die als Einzelitems in die Untersuchung eingehen. Auch bei der Erhebung der beruflichen Stellung der Eltern und deren höchster Schulabschluss soll auf eine entsprechend differenziertere Skala zurückgegriffen werden. Beide Fragen sind Teil der Erhebung des primären sozialen Effekts mit vier weiteren Fragestellungen, die als Teilaspekt der soziodemografischen Merkmale auf der Eltenseite zurückgehen. Hierzu zählen die Muttersprache, ein möglicher Migrationshintergmnd, der höchste Bildungsabschluss und das Geschlecht des Kindes. Die nachfolgende Abbildung zeigt die fünf Indikatoren der soziodemografischen Merkmale, die als unabhängiger Faktor in das Modell einfließen:
Geschlecht
Indikatoren
Muttersprache der Familien
für den primären Effekt als
Beruf der Elrcrn
sozial-demografische höchster Schulabsch1uss
Migrationshintergrund
Abbildung 6.1: Indikatorenfiirprim/ire so~ale Herkunftseffekte
Merkmale
114
Darstellung der schriftlichen Befragung
Der Fragekomplex "so~odemograftsche Rahmendaten" wird vorrangig bei den Eltern erhoben und umfasst sechs Fragen (1.E23, 8.E-12.E) , die von "Ich habe einen Sohn oder eine Tochter" bis zu "In welcher beruflichen Stellung sind Sie tätig" reichen . Diese werden als Indikatoren für die primären Effekte eingesetzt und stammen aus der Untersuchung von Harazd (2007). Dagegen geht der Fragebereich "Einschii!ifingen if/r Schulartwahl undden Bildungsaspirationen" auf die IFS-Umfrage (2005) von Holtappels und Ophuysen zurück, die diesen für das Bundesland Nordrhein-Westfalen entwickelt haben und der entsprechend der Schularten im dreigliedrigen Schulsystem adaptiert ist. Der Schwerpunkt liegt im vorliegenden Fragebogen auf dem Kontext der Wunschschule der Eltern und der Einschätzungen zum Schulübergang-s und -abschluss. Den Überlegungen Mahr-George (1999) folgend kann ein Indikator für die Bildungsaspiration der Eltern aus dem gewünschten Schulabschluss bzw. die elterliche Wunsch schule gebildet werden (ebd., S. 104). Die nachfolgenden Skalen gehen alle auf bereits validierte Instrumente aus vorangegangenen Forschungen zurück, die entsprechend der bundeslandspezifischen Situation angeglichen sind. Zur Überprüfung der Relevanz von Kosten-Nutzen-Aspekten ist eine verkürzte Skala aufgenommen, die von jeweils zwei Items ausgeht und die die von Harazd (2007) und Mahr-George (1999) hinreichend geprüfte Nutzenorientierung für diese Arbeit bestätigen soll. Die Items basieren auf materiellen Kosten im monetären Sinn mit der Frage nach der Berücksichtigung von Bildungskosten im Zusammenhang mit der Schulartwahl (ebd. 2007, S. 94) und der Bedeutung von höherer Bildung. Ähnlich dem Nutzenaspekt sollten die vier Items zu den Kosten lediglich als Überprüfungsinstanz verwendet werden. Diese Skalen gehen aufgrund der geringen Testitems nicht in die Hauptuntersuchung ein. Welchen Einfluss die " Entscheidungsträger" auf die Schulartwahl haben, gilt es mit der Skala "Entscheidungsträger" zu prüfen, die abfragt, "welchen Anteil Grundschullehrerin, Eltern, Schüler und andere Beteiligten an der Schulartwahl haben". Erhoben wurden die zehn Testitems schüler-, eltern- und lehrerseits. Als Kontrollitem taucht die Fragestellung nach einzelnen Entscheidungsträgern in zwei weiteren Fragekontexten auf und ist aufgrund ihrer Bedeutsamkeit doppelt kodiert. Auch diese Fragestellung stammt aus der Vorgängeruntersuchung von Harazd (2007). Inhaltlich ist zu berücksichtigen, dass es in dem eingeschränkten Entscheidungsfindungsprozess eine schulische und familiäre Ebene der Schulartwahl gibt. 23 24
D ie angegebene Ziffer gibt die Nummer im Fragebogen an und die Abkürzung stehen für E = Eltern-, S Schüler- und L Lehrerfragebogen (vgl. Anhang und beigelegtem Datenträger). Eine Untersuchung des Max-Planck-lnstitutes (Arbeitsgruppe Bildungsbericht am MPI für Bildungsforschung 1994, S. 222ff.) weist erstmals darauf hin, dass die Beteiligten am Schulübergang in der Grundschule zu dem Zeitpunkt nur bedingt das Nachholen von Bildungsabschlüssen auf dem zweiten Bildungsweg in Betracht ziehen.
=
=
Darstellung der schriftlichen Befragung
115
Während auf schulischer Seite die möglichen Schulartoptionen vorgegeben werden, kann es zwischen den Familiemitgliedern zu einem ganz individuellen Entscheidungsprozess kommen. Die Bandbreite reicht von "der Empfehlung folgen" bis zu "diese gänzlich in Frage stellen" . Auf familiärer Ebene entsteht situationsspezifisch ein eigener Entwicklungsgang mit einem Entscheidungsrahmen für Eltern und Kinder. Den Eltern als Entscheidungsträgern kommt im Verlauf der Schulartwahl eine große Verantwortung zu. Zwischen dem Leistungsvermögen des eigenen Kindes und den eigenen Bildungsaspirationen muss eine Entscheidung für eine bestimmte Schulart getroffen werden. In dem Zusammenhang ist wichtig, über welchen Informationsstand die Eltern bezüglich der weiterführenden Schularten verfügen . Aus dem Grund kommt der Frage, mit welcher "suijektiven Itiformiertheif' sie ihre Wahl oder Nicht-Wahl vornehmen, eine besondere Bedeutung zu. Die entsprechenden Items sind dichotom angelegt, da die Eltern zunächst angeben sollten, welche der Beratungsinstanzen wie Elterngespräche, Elternabende, schulische Informationsveranstaltungen oder Besichtigungen sie wahrgenommen haben. Auch diese Skala ist aus der IFS-Umfrage (2005) übernommen und auf die spezifische Situation hin adaptiert. Nicht erfasst wurde mit den Fragen, welche Vorerfahrungen die Eltern etwa durch Geschwisterkinder haben. Dennoch sind die Items so angelegt, dass diese nicht ausschließlich auf die aktuelle Übergangssituation hin gesehen werden müssen. Zudem wurde nicht die Qualität der subjektiven Informiertheit der Eltern erhoben, sondern lediglich die Art und der Umfang der besuchten Veranstaltungen. In Verbindung mit der Einschätzung ihrer Nützlichkeit lässt sich eine weitergehende Einschätzung ableiten. Zur Einschätzung des Informationsaspektes ist eine Skala zur Messung der ,,NiitiJichk eit von Beratungsinstanzen" der Eltern hinsichtlich der drei Schularten im baden-württem-bergischen Bildungssystem angelegt. In fünf Items sollten Eltern ihren individuellen Nutzen durch den Besuch von Informationsveranstaltungen einschätzen. Die vierstufige Antwortskala zur Einschätzung reicht von ,,1" sehr hilfreich, ,,2" relativ hilfreich, ,,3" weniger hilfreich und ,,4" gar nicht hilfreich. Sie geben Auskunft darüber, ob sie persönliche Gespräche mit der Grundschullehrerin geführt, eine Informationsveranstaltung der abgebenden oder aufnehmenden Schule besucht oder Informationsmaterial verwendet haben (van Ophuysen 2005). Die Lehrerinnen sind mit Hilfe von vier vorgegebenen Fragestellungen zu ihren Beratungsfunktionen und -schwetpunkten befragt worden. Hierbei geht die Ausrichtung der Fragen geht auf Skalen von Harazd (2007) zurück. Die Items sind auf die Fragestellung hin konstruiert und auf die schulartbezogenen Besonderheiten fokussiert . Zum Einsatz kommt ein vierstufiges Antwortformat von "trifft nicht zu" bis " trifft sehr zu". Grundlegend ist der Ansatz zum Beratungsgespräch in Abhängigkeit von der Beratungskompetenz der Lehrerin (Neubauer 1997) zu sehen. Nehmen die Eltern die Lehrerin als "Expertin" wahr, so wird sie eher ak-
116
Darstellung der schriftlichen Befragung
zeptiert, was tendenziell eher zu einer Einstellungsänderung führen kann (Chaiken, u.a.1989). Die Skala zur "Beurteilung derfamilialen Zusammengehiirigkeit und UnterstiiliJ4ng (so:dal-emotionale UnterstüliJ4ntJ" ist aus fünf Items gebildet und wird auf Eltern- und Schülerseiten abgefragt. Diese basiert auf dem Elternfragebogen des Instituts für Schulentwicklung (IFS-Umfrage (2005), S. 8). Auch die Skala zur Einschätzung der Beteiligung an der Schulartwahl basiert auf eben dem Instrument, das von sieben auf fünf Items reduziert wurde. Im Fokus stehen die Fragen nach der gemeinsam verbrachten Zeit in der Familie, der Zuwendung durch andere Familienmitglieder, dem Geborgenheitsgefühl, dem selbsteingeschätzten Grad der Unterstützung und schließlich das Zusammengehörigkeitsgefühl. Bei den Angaben der Eltern und Schülern können diese im Einzelfall einer angenommenen sozialen Erwünschtheit folgen, dennoch zeigen Mittelwert und Standardabweichung in Kombination mit der Reliabilität eine stabile Skala. Sie liefert den besten Wert an innerer Konsistenz und wurde eltern- und schülerseits erhoben. Der "Bildungswunsch alsdas E m ichen eines bestimmten Schuliibergangf' ist maßgeblich aus den Fragen der Eltern gebildet, die nach der Wunschschule und dem erwarteten Bildungsabschluss befragt wurden. Angelegt ist das Item für Eltern auf die Frage hin "welchen Schulabschluss wünschen Sie sich für Ihr Kind" (Frage 2E.) und die Schüler sollten Auskunft geben zur Fragestellung "auf welche Schulart würdest du gerne nach der 4. Klasse gehen" (Frage 6S.; 4E.). Die beiden Skalen weisen jeweils die im dreigliedrigen Schulsystem möglichen Schularten Haupt-, Realschule und Gymnasium und die Förderschule aus und bieten zudem die Option, potentielle Unentschiedenheit anzuzeigen. Werden die drei Items zu einer Skala zusammengefasst, liegt die innere Konsistenz gemessen mit Cronbachs Alpha nur ganz knapp unter dem angenommenen Grenzwert und kann daher als Skala "Bildungswunsch von Eltern und Schülern" in die weiteren Berechnungen aufgenommen werden. Die drei Items sind theoretisch als Indikator für den elterlichen Bildungswunsch bzw. -aspiration zu deuten. Der Lehrerfragebogen diente der Erfassung der Rahmendaten zu ihrer Klasse, wie etwa der Klassengröße, der sozialen Zusammensetzung und wie lange die Lehrerin oder der Lehrer in der Klasse unterrichtet und in welchem Umfang. Zudem sollten die Grundschullehrkräfte eine Beschreibung der Klassengemeinschaft auf der Grundlage des Fragebogens des IFS vornehmen (ebd.). Darüber hinaus wurden auch die Grundschullehrerinnen und -lehrer nach ihrer Einschätzung der Entscheidungsträger befragt. Eine eigens konstruierte Skala sollte die Kooperation der Grundschullehrer mit anderen Schularten sowie die persönliche Beratung der Eltern erheben. Nicht in dem Umfang geprüft wurden die materiellen und immateriellen Kosten und Nutzen, die im Rahmen der Rational-ChoiceTheorie angenommen werden. Zugrunde gelegt sind hier die Ergebnisse der Vorgängeruntersuchung von Mahr-George (1999) und Harazd (2007). Mit zwei Kon-
Darstellung der schriftlichen Befragung
117
trolliterns wurde der Zusammenhang nebenrangig geprüft. Einen Nachweis für die Relevanz von Kosten-Nutzen-Relationen liefert Harazd 200725• Zur Reliabilitätsschätzung der Items und der Skalen wurde die gebräuchlichste Methode eingesetzt und die Skalen auf den Wert des Cronbachs Alpha hin überprüft. Nachfolgend sind alle in die Modellrechnung eingehenden Skalen für den Elternfragebogen dargestellt:
Skala
Beispielitern
Iternanzahl
c. 's alpha
Quelle
1.
Entscheidungsträger
Der Vater des Kindes .. . (18.1-18.5.E)
5
0.621
Harazd
2.
Nützlichkeit von Beratungs-instanzen
5
0.727
IFSFragebogen
3.
subjektive Informiertheit
Relevanz der Informationsveranstaltung (13.1a.-13.4aE.) Teilnahme an Informationsveranstaltungen zum Schulübergang (13.1 b.13.4bE.) Mein Sohn/ meine Tochter soll die HS, RS, GY besuchen (2-4E) Wir nehmen uns Zeit, einander zuzuhören . (15.1E-15.5E)
5
0.723
IFSFragebogen
3
0.697
Harazd
5
0.795
IFSFragebogen
N r,
4. 5.
Bildungswunsch (Bildungsaspiration) familiär-emotionale Unterstützung
Abbildung 6.2: Kodiemng der Modellvariablen der Eltern Die Reliabilitätsprüfung erfolgte als Einzelitem und als kumulierte Skalen und findet in der Regel Verwendung ab einem Cronbachs Alpha> 0,7 (Spector 1992). Diese Voraussetzung bleibt von zwei Skalen unerfüllt. Da die Skala "Bildungswunsch" aus nur drei Items gebildet wird und Cronbachs Alpha von der Testlänge abhängt, reichen die verbleibenden Items nicht, um die Vorgabe zu erfüllen. Die Skala zu den "Entscheidungsträgem", die aus einer der Vorgängeruntersuchungen stammt, liegt ebenfalls knapp unter dem Grenzwert. Trotzdem werden beide Skalen in die Analyse einbezogen. Bei der Entwicklung des Schülerfragebogens fand das bewährte Prinzip der Spiegelung von Itemkonstrukten Verwendung, hierbei erfolgt eine Transformation von Eltem- auf die Kinderfragen (vgl. 25
In ihrer Faktorenanalyse konnte Harazd (2007) anhand von den vier Faktoren immateriellematerielle Nutzen und Kosten 62,95% der Gesamtvarianz erklären.
118
Darstellung der schriftlichen Befragung
Büchner; Fuhs; Krüger 1996). Ein Teil der beiden Fragebögen ist somit strukturell deckungsgleich. Dennoch wurde bei der Anlage Wert darauf gelegt, den Kinderfragebogen in eine kind- und altersgerechte sprachliche Form zu bringen. Die Fragen sollten möglichst auf der Handlungs- und Entscheidungsebene der Kinder bleiben (Büchner; Koch 2001, S. 38). Auf diese Weise sollte es möglich sein, die Einschätzungen der Eltern zur Entscheidungssicherheit oder den Entscheidungsträgern mit denen der Kinder vergleichen zu können . Mit der Skala " Unterstül:(Jlng in schulischen Belangen" wurde die Hausaufgabenhilfe durch Eltern oder Nachhilfelehrer aus Sicht der Kinder erhoben. Zugrunde gelegt ist, dass in der Grundschule die meisten Eltern eine ausreichende Fachkompetenz besitzen, um die Kinder selbst zu unterstützen. Der Grad der Hilfestellung durch die Eltern ist zunehmend unter zeitlichen, finanziellen und aspirativen Gesichtspunkten zu sehen. In der Untersuchung des IFS-Dortmund (2005) ging es um die Erfassung der Qualität elterlicher Unterstützung. Die Konstruktion im vorliegenden Fragebogen sollte vorrangig die individuelle Einschätzung zum Vorhandensein einer elterlichen Kontrollinstanz und der strategischen Unterstützung erheben. Eine Grundannahme war, dass die Schülerinnen in der Lage sind, diese persönlichen Sachverhalte ihrer Sichtweise nach am besten beurteilen zu können. Einbezogen wurden bei der Reliabilitätsprüfung vier von sechs Items der dazu angelegten Schülerfragen (11.1S.-S.11.4). Die Einschätzung zur "familiär-emotionalen Unterstützung" bezogen auf den Schulübergang gehen auf Schüler- und Elternseite zur Prüfung in die nachfolgend berechneten Modelle ein: Bei der Reliabilitätsprüfung der vier Schülerskalen reichten zwei Skalen knapp über und zwei unter den vorgegebenen Grenzwert. Alle weiteren Skalen liegen deutlich darunter und bleiben deshalb unberücksichtigt. Bei der Skala "Beziehung zur Klassenlehrerin" begründet sich der knappe Cronbachs Alpha auch wiederum durch die geringe Anzahl an Items. Aus dem Grund wurde auch die Skalain der Modellrechnung mit getestet. Sollte keine Tendenz eines Einflusses auf die Schulartwahl festzustellen sein, so bleibt sie unberücksichtigt. Die Items zu den "Entscheidungsträgern" stammen von wiederum aus dem IFS Fragebogen (2005) von Holtappels und Ophuysen und sind umfassend auf Reliabilität getestet. Der unbefriedigende Wert wird daher nicht auf die Skalenkonstruktion, sondern auf die Datenlage in der Stichprobe zurückgeführt.
Darstellung der schriftlichen Befragung
119
Nr.
Skala
Beispielitem
Itemanzahl
c. 's alpha
Quelle
1.
Entscheidungs träger
Mein Vater wird .. . 14.1.) -14.5)
5
0.660
Harazd
2.
Beziehung zur Klassenlehrerin
Wir haben viel Vertrauen zu unserer Klassenlehrerin 14.1)-14.3)
3
0.680
IFSFragebogen
Unterstützung in schulischen Belangen familiäremotionale Unterstützung
Mit mir macht zu Hause jemand Hausaufgaben. 11.1S) - 11.4S) Wir nehmen uns Zeit, einander zuzuhören. (4.1S-4.5S)
4
0.727
5
0.713
3.
4.
IFSFragebogen IFSFragebogen
Abbildung 6.3: KtJdierung der Model/variablen der Schiiler Neben den Eltern und Schülern wurden zudem die Grundschullehrerinnen mit den gleichen Fragen betraut. Die Lehrersicht sollte hinsichtlich der Entscheidungsträger mit in die Untersuchung eingehen, wenn nach Auswertung der ersten Fragestellung eine entsprechende Homogenität vorliegt . Die Reliabilitätsanalyse ergab, dass sich die Item-Skala der Grundschullehrerinnen wesentlich durch das Auslassen des Items "Die Großeltern werden ... beteiligt" verbessert werden konnte. Aus dem Grund wurden in die neu generierte Lehrerbeteiligungsskala nur vier Items überführt. Nr.
Skala
Beispielitem
1.
Entscheidungsträger
2.
Beratungsfunktionen der GSlehrerinnen
3.
Zusammenarbeit und Unterstützung in der Klasse
Der Vater wird ... 14.1.) 14.5) Wir beraten die Eltern bezüglich der Entscheidungen für die neue Schulart ... 12.2.) -12.4) In dieser Klasse arbeiten die Schülerinnen und Schüler gut zusammen . . . 6.1L.) -6.4L.)
Itemanzahl
c:s
Quelle
5
0.699
Harazd
3
0.731
Wiede nhorn
4
0.775
IFSFragebogen
Abbildung 6.4: Kodierung der Model/variablen der Grundschul/ehrer
alpha
120
Darstellung der schriftlichen Befragung
Für die Berechnung von möglichen Einflussfaktoren in einem log-linearen Modell müssen die Einzelitems zunächst zu Skalen zusammengeführt werden. Nach der Priifung der inneren Konsistenz der Skalen kann entsprechend der dargestellten Ergebnisse eine Zusammenführung der Skalen erfolgen. Die nachfolgenden Berechnungen des Einflussgrades der einzelnen Skalen auf die Schulartwahl werden nach der Modellierung in Abbildung 6.5 vorgenommen.
4 Skalen
Schülerli:agebogen
,, )~ , "'\~--------. r------------.,I
'------------''\
\
,~--------'
\
5 Skalen
Eltemf:ragebogen
'------------'" '\ ,,0---------' ")", ,
r------------.~I
Lehrerfragebogen
"l.
Entscheid-
ungs-
faktoren zur Schulartwahl
~ I \
, ... -.. log
"
\
.JiMttI:e6
,
MotkJl
,_,.,-.tI
,,~--------.
3 Skalen
In die Auswertung der Ergebnisse wurden nur diejenigen Skalen aufgenomm~ für die sich ein rechnerischer Nachweis für einen signifikanten Einfluss auf den Schulübugang ausweisen lassen konnte. Auf Lehrerseite sollten diese als Kontroll- oder Ergä.n2u.ngsvsriablen eingesetzt werden. Die Skalen wurden einer Reliabilitätspriifung unteeeogen, wobei das Interesse primär auf der Homogenität der Skalen lag. Für jede Skala.galt es den Cronbachs Alpha Koeffizient als ,,~die Standardmetbode zur Schätzung der inneren Konsistenz" (Büchner 2004, S. 122) zu berechnen26 • Die Methode basiert auf einem mathematischen Verfahren äbnlicb der Varianzanalyse, das den Test in entsprechend viele Teile aufteilt, wie Item.s vorliegen, der berechnete Wett kann dabei zwischen 0 und 1 liegen (ebd.). Das Verhältnis der Summe der einzelnen Itemvarianzen hängt von der Gesamtvarianz ab. ~,Ein niedriges Cronbachs Alpha ergibt sich dann, wenn die ltemvarianz hoch und die Testvarianz niedrig ist, bzw. andersherum, sind die Itemvarianzen im Vergleich zur Testvarianz niedrig, resultiert daraus ein hohes Cronbachs Alpha.ce (ebd.).
'
I
I
Darstellung der schriftlichen Befragung
121
Die festgestellte Menge an homogenen Testitems beeinflusst nicht nur die Reliabilität, sondern auch die Testkennwerte. Aus dem Grund wurde auch eine Itemanalyse vorgenommen, die eine Prüfung der Normalverteilung und Berechnung der Streuung umfasste. Nur in einigen Fällen lag eine mittels KolmorovSmimov-Test nachweisbare Normalverteilung der Skalen vor. Deshalb sollte für die Berechnung möglicher Einflussfaktoren, die mit der zweiten Forschungsfrage einhergeht, mittels log-linearem Modell statt mit einer Regressionsanalyse berechnetwerden. Die konstruierten Skalen sind theoretisch gebündelt und haben nicht den Anspruch auf Eindimensionalität. Vielmehr soll mit ihrer Hilfe ein Zusammenhang von primären und sekundären Effekten als unabhängige Variable auf den Übergang in eine bestimmte Schulart als abhängige Variable geprüft werden. Insgesamt weisen alle theoretisch angelegten Skalen zufriedenstellende Werte zwischen 0.6 und 0.9 für die innere Konsistenz aus. Von einer weiteren Zusammenführung der Items oder Skalen wurde aufgrund fehlender Gütemaßstäbe abgesehen. Die Itemanalyse ergab über den standardisierten Fragebogen hinweg in den allermeisten Fällen eine fehlende Normalverreilung-".
6.3 Stichprobenbildung Die Gesamtstichprobe der Untersuchung setzt sich aus zwei einander ergänzenden Teilstichproben zusammen. Zun ächst sollte für die schriftliche Erhebung eine Hauptstichprobe gebildet werden. Eine wichtige Zielsetzung für die Zusammensetzung der Stichprobe war es, eine idealtypische Abbildung der Grundgesamtheit für das Referenzschuljahr 2006/2007 durch eine kritieriengebundene Auswahl der Probanden zu erhalten. Die Auswahlmethode einer Stichprobe ist in der Praxis oft von größerer Bedeutung als der Umfang der Stichprobe selbst. "Es kommt dabei oft gar nicht darauf an, ein Ergebnis auf ein oder zwei Prozent genau zu erhalten. In vielen Fällen ist die Tendenz viel wichtiger, die sich aus den Daten abzeichnet und dafür genügen vielfach Ergebnisse, die einen maximalen Fehler bis zu 5% aufweisen" (Holm 1975, S.143)28. Die spezifischen regionalen Konstellationen 27
28
Gemessen am 5-%igen Signifikanzniveau des Kolmogorov-Smimov-Tests für größere Stichproben (über 50), der als Ergebnis eine Irrtumswahrscheinlichkeit p kleiner 0,05 vorgibt. Wird der Wert nicht erzielt, weicht die vorliegende Verteilung signifikant von einer Normalverteilung ab. Bei einem Random-Sample besteht die Möglichkeit die Abweichung einzelner Mittelwerte zu schätzen. Als Maß wird die Varianz oder Streuung, also die mittlere quadratische Abweichung verwendet. Diese Streuung ist der eigentliche Stichprobenfehler, die häufig auch als "Standardfehler" bezeichnet wird. Der Stichprobenfehler einer kleinen Stichprobe wird folgendermaßen berechnet:
122
Darstellung der schriftlichen Befragung
bilden den Ausgangspunkt für die Stichprobenbildung in der vorliegenden Untersuchung. Eine Randomisierung, d.h. eine zufällige Auswahl der Probanden nach bestimmten Schichtungskriterien war aufgrund des Umfangs der Schüler-, Eltempopulation von rund 113.790 Schülerinnen und Schülem (Stand: Schuljahr 2006/07; Statistisches Landesamt) und die Größe des Untersuchungsgebiets aus ökonomischen Gründen nicht möglich (Kromrey 2002, S. 94). Deshalb sollte in einem ersten Schritt auf eine nicht-zufällige Stichprobe zurückgegriffen werden. Für den quantitativen Teil der Arbeit wurde eine Quotenstichprobe (Rost 2007, S. 92) eingesetzt, mit der ein zweischrittiges Auswahlverfahren als Mischung aus bewusster und zufälliger Auswahl möglich ist. Bei einer festgelegten Quote wird zunächst nach bekannten Merkmalsausprägungen der Grundgesamtheit eine Vorauswahl getroffen (Dieckmann 2008). Eine Stichprobenziehung kann für Baden-Württemberg zum einen anhand von statistischen Kennwerten oder zum andem anhand mehrerer Merkmalsgruppen gebildet werden, wie etwa über das Einkommen oder die Farniliengröße als bekannte Merkmalkombinationen. Aus einer solchen Gruppe ist dann eine Zufallsstichprobe zu ziehen, die ein entsprechendes Abbild der Population darstellt. Mit der Quotenstichprobe kommt für das Untersuchungsgebiet ein praktikables Verfahren zum Einsatz, das eine Stichprobe liefert, die möglichst übertragbare Aussagen für das untersuchte und weitere Bundesländer mit ähnlichen Schulübergangsverläufen zulässt. Die Ausgangsbasis bildete eine fundierte Analyse der statistischen Daten und eine zweckgebundene Ableitung von Quoten, die eine proportionale Verteilung ermöglichte. Für die vorliegende Untersuchung wurde aus den 45 Stadt- und Landkreisen, Regionen und Regierungsbezirken Baden-Würrtembergs-? ein Stadt- und ein Landkreis nach urbaner und ländlicher Verortung ausgewählt. Beide Kreise sollten auf der S , 29
= ~ x ~1
- ;
~ohn 1975,S. 140)
Baden-Württemberg teilt sich in 45 Stadt- und Landkreise, Regionen und Regierungsbezirke auf. Von diesen sind 9 sogenannte Stadtkreise (SKR),die sich aus den "Ballungs"-räumen Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe und Stuttgart, sowie den Mittelstädten Heilbronn, Baden-Baden, Pforzheim, Ulrn und Freiburg i. Br, ergeben. In den neun städtischen Regionen leben etwa 60% der gesamten Bevölkerung Baden-Württembergs. Die Übergangsquoten von der Grundschule in die Sekundarstufe fallen im Untersuchungsgebiet auffällig heterogen aus. Im untersuchten Bundesland erreichten im Schuljahr 2006/07landesweit 27,7% aller Kinder den Übergang in eine Hauptschule 28,1% in eine Realschule 33,4% und 38,2% in ein Gymnasium. Das Übertrittsverhalten variiert in den einzelnen Stadt- und Landkreisen sehr stark. Bei den Hauptschulen schwankt die Übergangsquote von in den meist akademisch geprägten Gebieten wie Freiburg (14,9%), Tübingen (19,3%) oder Heidelberg (14,0%) zu sehr hohen Werten in gewerblich orientierten Kreisen oder solchen mit hohen Ausländerantellen. So weist die Stadt Heilbronn 36,2% Hauptschüler aus, der Kreis Waldshut 34,6% oder der Zollemalbkreis 35,1% auf (Schwarz-Jung2008, S. 22).
Darstellung der schriftlichen Befragung
123
Grundlage der statistischen Daten für das Schuljahr 2006/07 die baden-württembergische Übergangsquote in die drei Schularten Haupt-, Realschule und Gymnasium abbilden. Die Wahl fiel auf den Landkreis Ravensburg und den Stadtkreis Stuttgart, aus denen eine geschichtete Stichprobe nach den sozialen Merkmalen sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige und dem Bodenleitwert gezogen wurde (s.h, Kap. 5.2.1). Bei der Festlegung des Stichprobenumfangs erfolgte die Ausrichtung an der Richtgröße von v. Alemann (1984, S. 91ff.). Dieser stellt eine Stichprobengröße von 500 Probanden als eine ausreichende Stichprobe für spezifische Grundgesamtheiten, wie Berufsgruppen oder regionale Zugehörigkeit und spezifischer Fragestellung heraus. Gerade bei der Erhebung sollten systematische Ausfälle bei der Befragung bedacht werden, da es trotz des Umfangs durch Nichtteilnehmerinnen zu Verzerrungen kommen konnte. "Man weiß heute, dass Angehörige unterer sozialer Gruppen seltener an Untersuchungen teilnehmen und häufiger ihre Teilnahme verweigern" (Böhm-Kasper u.a 2009). Für das vorgestellte Forschungsvorhaben sollte vor allem das Schulartwahlverhalten dieser Gruppe von besonderem Interesse sein. Ein "sozialer Überhang", d.h. eine Überrepräsentativität höherer sozialer Gruppen, kann in der Regel nicht in aller Gänze vermieden werden. Neben der Berücksichtigung der sozialen Merkmale durch die beiden Schichtungskriterien, sowie bei der Planung und Durchführung der Untersuchung ist auch die Problematisierung etwaiger sozialgruppenspezifischer Stichproben bei der Diskussion erzielter Ergebnisse vorgesehen. Ein besonderer Stellenwert kommt daher einer nach sozialen Gesichtspunkten geschichteten Stichprobe zu.
6.3.1 Schichtungskriterien undStichprobeniJehung "Für die Bildung einer Stichprobe ist von Bedeutung, eine sich über alle sozialen Schichten aufspannende Stichprobe zu erhalten" (Kromrey 2002). In der Stichprobe sollten möglichst alle sozialen Gruppierungen und berufliche Gliederungen entsprechend der Population abgebildet werden'", Vor allem in städtischen Gebieten ist von einer räumlichen Gliederung der sozialen Gruppen nach Quartieren und Stadtbezirken auszugehen. Solche Aufteilungen ergeben sich durch die unterschiedlichen Bonitäten und daraus resultierende Unterschiede in den ökonomischen Möglichkeiten zur Finanzierung von Wohnraum. Letztlich hängen die verschiedenen Einkommen von den ausgeübten Tätigkeiten der Eltern ab. Das führt in der Regel zur Segregation nach sozialen Schichten, die sich über die Teil30
Es ist darauf hinzuweisen, dass Auswahl- und Untersuchungseinheiten nicht identisch sind. Auch wenn die Schulen als geschichtete Auswahlstichprobe eingeordnet werden kann, sind Schüler und Eltern die eigentliche Untersuchungseinheit.
124
Darstellung der schriftlichen Befragung
habe am Arbeitsmarkt ausbildet. Letztlich sind es bestimmte Berufsgruppen mit entsprechenden Einkommen, die sozial spezifische Wohnquartiere nutzen. Für die Stichprobenbildung spielte das insofern eine Rolle, da sich vor allem in urbanen Wohngebieten eine Aufteilung auf engstem Raum vollzieht, die häufig schwierig zu identifizieren ist. Aus dem Grund sollte die Quotierung (Schichtung) die beiden Merkmalsausprägungen nach zwei Kriterien abbilden, die als statistisch belegte Auswahlfaktoren vorliegen. Es sind die Kosten für Wohnraum und die Beteiligung am Erwerbsleben, die auch im theoretischen Ansatz von Boudon zur Begründung der Bildungsentscheidung eine Rolle spielen. Zunächst wurde der Anteil der sozialversichungspflichtigen Erwerbstätigen in der Bevölkerung im Alter zwischen 15 bis 64 Jahre ermittelt. Dieser lag im Bundesgebiet im Jahr 2006 bei 48,1%. In Stuttgart und Ravensburg ist ein Anteil an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten von 47,3% (S) und 49,7% (RV) gegeben, was exakt dem Durchschnittswert für diese Gruppe entspricht. Beide Schulamtsbezirke wurden entsprechend ihrer Durchschnittsquoten in wertegleichen Gebiete eingeteilt. Damit sollte gewährleistet sein, dass der Anteil an Erwerbs- und Nichterwerbstätigen in einer ähnlichen Größenordnung in der Stichprobe vertreten ist. Für die beiden Kreise lagen die Durchschnittsquoten bei den sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen zwischen 39,8% und 51,0%. Die Werte wurden gemittelt und in vier Intervallgruppen aufgeteilt. In einem zweiten Schritt erfolgte das gleiche Verfahren in beiden Untersuchungsgebiete für den Bodenleitwert. Der Wert ergab eine Spanne von 400 bis 1100 €/m2 (Mietspiegel 2006) für Ravensburg und Stuttgart. Die Aufteilung erfolgte in 150,- € Schritten und ermöglichte so eine gestaffelte Zuordnung der Wohnräume. Die regionalen Preisunterschiede der ländlichen und hochverdichteten Wohngebiete betrugen hierbei etwa das 3,5-fache. Diese beiden Schichtungskriterien lassen eine regionale Einteilung der Stadt- und Landkreise nach deren örtlichen Wohnraumkosten und der gruppenspezifischen Anteilnahme am Erwerbsleben zu. Zur Stichprobenziehung wurden alle Grundschulen beider Kreise ermittelt und den beiden Schichtungskriterien in affinen Wertepools zugeordnet. Eine Kennzeichnung der Grundschullose ermöglichte eine anteilige Ziehung nach den beiden Stadt- und Landkreisen. Für die Gewichtung der eingehenden Stuttgarter und Ravensburger Grundschulen wurden nach den Gesamtschülerzahlen der Kreise im Verhältnis 2:1 vorgenommen. Für die zweifach geschichtete Stichprobe wurden zunächst 25 Grundschulen in der vorgesehenen Verteilung aus den Kreisen Stuttgart und Ravensburg gezogen, von denen 20 angefragt wurden und letztlich 17 an der Untersuchung teilnahmen. Die Grundschulen teilen sich in sechs Ravensburger und elf Stuttgarter Grundschulen auf.
Darstellung der schriftlichen Befragung
125
6.3.2 Stichprobe Die Auswertung der schriftlichen Befragung umfasst den ersten Messzeitpunkt und setzt sich aus einer Stichprobe von 17 Grundschulen zusammen, in die insgesamt 42 Grund- und Grund- und Hauptschulklassen in Stuttgart und Ravensburg eingegangen sind. Die Gesamtstichprobe lässt sich nach den Personengruppen in drei Teilstichproben aufteilen, auf die zur Beantwortung der Forschungsfragen zurückgegriffen wird. Der Stichprobenumfang aller Beteiligten ergab sich aus den in der Ziehung hervorgegangenen Grundschulen, an denen jeweils alle vierten Klassen angefragt wurden. Bei der Stichprobenziehung blieb die Größe der Schule bzw. die Zügigkeit der vierten Klassen zunächst unberücksichtigt. Die Gesamtanteile der Teilstichproben bilden aufgrund der quotierten Stichprobenziehung und der Gesamtgr öße" die Grundlage für eine präzise Datenanalyse. Diese kann über Baden-Württemberg hinaus auch für Bundesländer in Gruppe 1 gelten, die eine Schulartwahl mit einem ähnlichen Übergangsmodus ausgestattet sind. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass sich die Stichprobe auf einen spezifisch bundeslandbezogenen Übergang bezieht, der sich an einer leistungsbezogenen Selektion ausrichtet (vgl. Kap. 2.2). Umfang und Anlage der Stichprobe ist auf dem Kontext des explorativen Studiendesigns zu sehen, mit dem erste Entwürfe über mögliche Sichtweisen der Beteiligten zur Schulartwahl gewonnen werden sollen. Aufgrund weitgehend fehlender statistischer Daten für die Grundgesamtheit der Beteiligtengruppen oder entsprechender empirischer Untersuchung mit ähnlichem Untersuchungsgegenstand kann nur sehr bedingt ein Vergleich von Stichprobe und Population erfolgen. Sofern es möglich ist, soll an den entsprechenden Schnittstellen auf die IGLU- (Bos, u.a. 2004, 2006) oder PISA- (Baumert, u.a. 2006) Studie verwiesen und auf das statistische Material des hiesigen Landesamtes zurückgegriffen werden. Neben der Gesamtzahl und Größe der Stichprobe ist deren innere Zusammensetzung hinsichtlich der drei Beteiligtengruppen Schüler, Eltern und Lehrer in den beiden Schulamtsbezirken wichtig. Die Aufteilung nach den beiden Schulamtsbezirken zeigt sich in der Tabelle 6.1.
31
Die Stichprobengröße wurd e in einem größeren Umfang angelegt, um für die Analysen im loglinearen Modell eine ausreichende Zellenzahl bei Schületinnen und Schülern mit Übergänge in die Schularten HS-RS-GY zu erhalten.
126
Darstellung der schriftlichen Befragung
Anzahl der vorhandener Fragebögen
Eltern und Schüler
Schulamtsbezirk
Nur Schüler Schulamtsbezirk
Nur Eltern
Lehrer
Keine Angaben
Schulamtsbezirk
Ausfüller Eltern
Schüler Lehrer
Gesamt
Stuttgart
305
295
15
615
Ravensburg
159
166
6
331
Gesamt
464
461
21
946
Stuttgart
---
44
---
44
Ravensburg
---
10
---
10
Gesamt
---
54
---
54
Stuttgart
55
---
---
55
Ravensburg
9
9
Gesamt
64
-----
64
15
15
Stuttgart
---
-------
Schulamtsbezirk
Ravensburg
---
---
6
6
Gesamt
---
---
21
21
Schulamtsbezirk
Stuttgart
---
---
6
6
Tabelle 6.1: Vorhandene Fragebogen nach Region undAusftller Insgesamt sind im Schuljahr 2006/07 an den 17 untersuchten Grundschulen durchschnittlich 2,5 Klassen an der Erhebung beteiligt gewesen.
Darstellung der schriftlichen Befragung
127
6.4 Der Rücklauf nach Schülern-, Eltern- und Lehrerstichprobe Von den 1000 an Schüler und Eltern ausgegebenen Fragebögen kamen 464 von Eltern und 461 von Schülern ausgefüllte Fragebögen zurück. Von den 42 beteiligten Grundschulklassenlehrern beteiligten sich 21 mit einem Fragebogen an der Untersuchung. Insgesamt gingen 946 gültige Fragebögen in die Stichprobe von Schüler-, Eltern und Lehrerinnen ein, was einem " durchschnittlichen" Wert entspricht. Der Vergleich mit entsprechenden Forschungsarbeiten zeigt, dass themengleiche Studien eine geringfügig höhere Rücklaufquote zu verzeichnen haben32• Aus der Gesamtzahl aller ausgegebenen Fragebögen ergab sich ein endgültiger Rücklauf zum ersten Messzeitpunkt von 461 auf Schüler-, 464 auf Eltern- und 21 Lehrerseite. Im Überblick zeigen sich die gmppen- und regionenspezifischen Rücklaufquoten wie folgt: Fragebogenrücklauf beim 1. Messzeitpunkt (Ausg. FB 1000)
=
Eltern und Schüler
Rücklauf in % Anzahl 46,3
925
vorhandene Eltern Fragebögen Schüler
46,4
464
46,1
461
Lehrer
50,0
21 (von 42)
47,5
946
Gesamt N
= 946
Tabelle 6.2: Riickltiufe inAnzahl undProzent nach Schülern, Eltern undLehrern Lediglich an einer Stuttgarter Grundschule blieb die Durchführung der Untersuchung auf die Schülerinnen und Schüler beschränkt. Aus nicht geklärten Gründen wurden die Eltern- und Lehrerinnenfragebögen nicht ausgegeben. Der Rücklauf bei den Eltern hat meine Erwartungen bezüglich einer Teilnahme übertroffen und liegt noch über dem der Kinder. Für Elterngmppen mit Migrationshintergmnd lagen die Fragebögen in übersetzter Ausfertigung vor. Eine Auswahl der länderspezifischen Übersetzungen wurde auf der Basis der statistischen Daten zu den regionalen Migrantengmppen in Baden-Württemberg 32
Harazd (2007) weist für Teiluntersuchungen ihrer Dissertation eine Rücklaufquote von 57% aus; Merkens und WesseI (2002) können mit rund 50% einen nur geringfügig besseren Rücklauf erzielen.
128
Darstellung der schriftlichen Befragung
vorgenommen (Statistisches Landesamt 2007/ Migration). Bei der Ausgabe der Fragebögen wurde darauf geachtet, dass diese Gruppen sowohl einen deutschen als auch eine entsprechende Übersetzung bekamen. Insgesamt wurden 200 türkische und 150 italienische Fragebögen ausgegeben. Der Rücklauf von in türkischer Sprache ausgefüllten Fragebögen beträgt 23, was einem Anteil 4,95% ausmacht. Ausschließlich in italienischer Sprache ausgefüllte Fragebögen liegen lediglich 9 (1,9%) vor. Der Rücklauf von übersetzten Fragebögen fällt bei einem angenommen landesweiten Anteil von 23,3% an Kindern mit türkischem und 11% an italienischem Migrationshintergrund weit hinter die Erwartungen zurück.
6.4.1
Beschreibung der Teiistichprobe - Schülerinnen undSchülern (1)
Eine erste Sichtung der Schüler-, Eltern- und Lehrerfragebögen im Rücklauf ergab, dass keine der ausgegebenen Fragebögen aufgrund ungültiger oder fehlenden Angaben unberücksichtigt bleiben mussten. In die Gruppe der Schülerinnen und Schüler können somit 461 ausgegebene Fragebögen in die Beschreibung und Auswertung der quantitativen Daten eingehen. Die Mehrzahl der 257 Grundschülerinnen und Grundschüler ist zehn Jahre alt und ihr Durchschnittsalter beträgt zum Erhebungszeitpunkt 9,5 Jahre. Nur fünf Kinder sind noch jünger, während bei 23 Kindern, die älter als zehn Jahre sind, eine Klassenwiederholung zu vermuten ist. Beim Geschlechterverhältnis ist ein leichter Überhang zugunsten der Mädchen auszumachen. Ihr Anteil in der Stichprobe liegt bei 53,3%, während die Jungen nur mit 46,7% vertreten sind. Eine geschlechterspezifische Verzerrung der Ergebnisse ist somit nicht zu erwarten. Das Stadt-Land Verhältnis wurde in vier Kategorien unterteilt, um eine Verteilung der Probanden in den unterschiedlich dicht bewohnten Lebensräumen der Schülerinnen abbilden zu können (:x2 = 71,06, df = 2, P = -0,001). Während sich das Verhältnis bei den Ravensburger Kindern stärker in den mittelstädtischländlichen Gebieten'? ausrichtet, kehrt sich die Verteilung in Stuttgart nahezu um. Insgesamt wohnen 20,6% der Kinder in ländlichen, 40,9% in mittelstädtischen und 38,4% in städtischen Gebieten. Bei den Schülern ist dieser Zusammenhang signifikant bei einem großen Chi-Quadrat Wert, der einen großen Unterscheid zwischen den Regionen ausweist.
33
Die Schülerinnen und Schüler wurden entsprechend des Schulortes zugeordnet. Ein ländliches Gebiet wurde definiert mit einer Einwohnerzahl bis 2000, ein mittelstädtisches von 2001 bis 10.000 und städtisches bei einer Einwohnerzahl von mehr als 10.001.
Darstellung der schriftlichen Befragung
129
Gebiet von städtisch-ländlich
Region StuttgartRavensburg Gesamt
Stuttgart
städtisch
mittelstädtisch ländlich Randzone
Gesamt
132
124
39
295
65
56
166
189
95
461
Ravensburg 45 177
Tabelle 6.3: Verteilung der Schüler nach städtischem, mittelstädtischem und ltindlichem Lebensraum 6.4.2 Beschreibung der Teilstichprobe - Eltern (2) Die familienspezifischen Daten, die Aufschluss über die primären und sekundären sozialen Effekte geben, wurden vorrangig auf Seiten der Eltern erhoben. In drei Viertel (340) aller Familien ist der Fragebogen von den Müttern ausgefüllt worden. 85 Väter gaben an die Beantwortung ausgeführt zu haben und 20 Eltern füllten gemeinsam aus. Einen ähnlichen Erfahrungswert meldeten die beteiligten Grundschullehrerinnen für die Beteiligung der Eltern an Klassenpflegschaften zurück, die in der Grundschule vorwiegend von Müttern besucht werden. Weitere Hinweise über die Zusammensetzung der Stichprobe gibt der Anteil an Eltern mit Migrationshintergrund. Der Elternfragebogen lag in türkischer und italienischer Sprache vor, die in Baden-Württemberg die beiden größten Migrantengruppen 34 bilden. Als Richtgröße dient die landesweite Durchschnittsquote 35 von Mitbürgern mit Migrationshintergrund in Baden-Württemberg. Dieser liegt bei für das Referenzjahr 2007 bei einem Bevölkerungsanteil von 23%. Diese überaus heterogene Gruppe's teilt sich zur einen Hälfte in Menschen (1,4 Mil.; 13%) mit deutscher Staatsangehörigkeit'? und knapp 1,3 Millionen ausländische Bürgerinnen ohne deutsche Staatsbürgerschaft (12%) auf. Eine erhebliche 34
35
36 37
Der Mikrozensus Baden-Württemberg 2007 liefert folgende Anteile an Migrationsgruppen nach Herkunft in Prozent: Türkei 23%, Italien 12%; Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina 13% und Griechenland 5% (Statistik aktuell 2009). Ein Vergleich der Grundschuleltem der Stichprobe mit der gesamten Bevölkerung BadenWürttembergs ist an der Stelle nicht unproblematisch. Da kein weiteres statistisches Datenmaterial vorliegt, greife ich auf diesen Wert als Orientierungs- oder Richtgröße zurück. Die Differenz zur Gesamtsumme entsteht durch den Anteil von 2,7% an fehlenden Angaben. Dieser Anteil ist zumeist schon in zweiter oder dritter Generation in Deutschland und hat eine deutsche Staatsbürgerschaft, d.h, ein ständiges Bleiberecht, eine Arbeitserlaubnis, einen festen Wohnsitz in Deutschland und darüber hinaus weitere Bürgerrechte und -pflichten.
130
Darstellung der schriftlichen Befragung
Differenz zeigt sich beim Vergleich der regionalen Einzelwerte, die liegen im Landkreises Ravensburg bei 18% und dem Stadtkreis Stuttgart bei rund 40% (Statistisches Landesamt 7/2008, S. 10-14). Vergleichbare Werte liefern die Daten der IGLU-Studie, nach der "wachsen gut 25 Prozent der Kinder in den alten und 4 Prozent in den neuen Bundesländern in Familien auf, in denen mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren ist (Bos, u.a. 2004, S. 168). Ein solcher Anteil entspricht am ehesten der Population der Teilstichprobe von Grundschuleltern und soll als Richtwert herangezogen werden. In der Stichprobe liegt die Prozentzahl der Familien, in denen mindestens ein Elternteil in einem anderen Land als Deutschland geboren ist, bei 26,7%. Mit dem Wert ist ein zufrieden stellender Ausländer- bzw. Migrantenanteil in der Stichprobe vertreten. Die Befragung richtet ihr Forschungsinteresse nicht auf die Erhebung des Geburtslandes beider Elternteile, da eine Differenzierung der Elterhäuser nach Deutschen mit Migrationsgeschichte und Ausländern nicht zwingend notwendig erschien. Der Anteil an Erziehungsberechtigten, die in Deutschland geboren sind, liegt bei 70,5%, was einen Anteil an Migranteneltern von 26,7% für ein Elternteil ausweist. Diese Mütter und Väter teilen sich auf zwölf verschiedene Länder auf, von denen fünf außerhalb Europas geboren sind. In baden-württembergischen Schulen wird der Regelunterricht in deutscher Sprache abgehalten. Deutsch kann als Majoritätssprache betrachtet werden und um schulischen Erfolg zu erzielen, muss sie auf einem angemessenen Niveau beherrscht werden (Bos 2004, S. 168). Als weiteren Faktor für den primären sozialen Effekt der Kinder im häuslichen Umfeld soll die Muttersprache oder Zweisprachigkeit der Kinder Hinweise auf einen möglichen Einfluss auf die Schulartwahlliefern. In der Stichprobe sind die Eltern nach der häuslichen Majoritätssprache befragt worden und 74,4% aller Eltern gaben an, ausschließlich deutsch mit ihren Kindern zu sprechen. Nach Elternaussagen kommunizieren demnach 22,8% vorwiegend in einer anderen als der Deutschen Sprache. Der Anteil an Familien mit einem türkischsprachigen Elternhaus bildet mit 8,2% die größte Einzelgruppe. Italienisch sprechen im häuslichen Rahmen nur 1,3 %. Insgesamt zeigt sich mit 14 benannten Sprachen mit einem Anteil von weniger als 1% ein ähnlich heterogenes Bild, wie bei den Herkunftsländern. Der Vergleich mit den Migrantionssprachen in der Stichprobe der IGLU-Studie zeigt, dass dort 5,4% der Kinder türkisch, 6,5% italienisch und 1,0% bosnisch oder serbisch sprachen (ebd., S. 170). Der hohe Anteil an Familien mit türkischer Migrationsgeschichte könnte auf regionale Unterschiede in der Verteilung der Population hindeuten, mehr aber ist von einer Unterrepräsentation der anderen Familien mit Migrationsgeschichte auszugehen. Bestätigt wird diese Vermutung durch die Anteile an Eltern, die einen Fragebogen in einer der beiden Landessprachen ausgefüllt haben. Die Rücklaufergebnisse zu den in türkischer und italienischer Sprache ausgegebenen Fragebögen zeigen eine geringe Beteiligung der beiden Teilgruppen. Auf dem Weg konnte
131
Darstellung der schriftlichen Befragung
meines Erachtens nur wenig Anreiz geschaffen werden , an der Untersuchung teilzunehmen. Ein wichtiger Aspekt die soziale Herkunft betreffend ist neben dem Migrationshintergrund auch die Berufstätigkeit der Eltern, die Aufschluss geben kann, in welchem sozialen Kontext die Familien leben. Einen indirekten Hinweis auf die primären sozialen Effekte liefert die Frage nach dem Umfang der elterlichen Berufstätigkeit. In der Teilstichprobe gaben 262 Elterpaare an, dass sowohl der Vater als auch die Mutter erwerbstätig sind. Dieser Wert entspricht mit 56,5% mehr als der Hälfte aller Befragten. Bei gut einem Drittel der Familien geht ausschließlich der Vater und bei 10% nur die Mutter einer Beschäftigung nach. Im Fragebogen wurde nicht der Stundenumfang der Beschäftigung erhoben, jedoch zeigt ein Vergleich mit den Daten des Landesamtes, dass von einem Richtwert von 27,6% an Teilzeitbeschäftigung'" ausgegangen werden kann. Einen Überblick über die Berufstätigkeit der erwachsenen Familienangehörigen stellt sich in der Stichprobe wie folgt dar:
Häufigkeit Prozent
gültige Prozente
kumulierte Prozente
10
2,2
2,2
2,2
148
31,9
31,9
34,1
44
9,5
9,5
43,5
Beide
262
56,5
56,5
100,0
Gesamt
464
100,0
100,0
Keine Angaben Vater gültig Mutter
Tabelle 6.4: Berufsta'tigkeit in den befragten Familien In über der Hälfte (56,5%) der Fälle sind beide Eltern in das Erwerbsleben eingebunden, was vor allem im städtischen Umfeld mit höheren Lebenshaltungskosten keine Besonderheit darstellt. Das bestätigt sich in der nachfolgenden Kreuztabelle, die zeigt, dass anteilig deutlich mehr Frauen, aber weniger Elternpaare in ländlichen Gebieten arbeiten (i'2 = 10,603, df = 3, P = -0,014).
38
Die Teilzeitbeschäftigung wird danach definiert als eine bis einschließlich 34 Wochenstunden geleistete Arbeitszeit (Statistisches Landesamt 2006, S. 30).
Darstellung der schriftlichen Befragung
132
lOE) Wer ist in Ihrer Familie berufstätig? Keine Angaben
Gesamt
Vater
Mutter Beide
9 Region Stuttgart Stuttgart - Ravensburg Ravensburg 1
91
22
183
305
57
22
79
159
Gesamt
148
44
262
464
10
Tabelle 6.5: Kreuifabelle if/m Umfang der Berufsta'tigkeit undRegion des Schulstandortes Die soziale Zusammensetzung der Stichprobe kann weitere wichtige Erkenntnisse zu ungleichheitsbegründenden Momenten der Schulartwahl liefern. Aus dem Grund gehen der höchste Schulabschluss und die berufliche Stellung'? der Eltern als primäre soziale Herkunftseffekte in die nachfolgenden Berechnungen mit ein. Aus dem Elternfragebogen wird die Verteilung der Eltern nach deren höchstem Schulabschluss und beruflichen Stellung dargestellt, um etwaige Über- oder Unterbelegungen in einzelnen Gruppen ausmachen zu können. In der Stichprobe sind Eltern mit einem höheren Schulabschlüssen (Abitur, Hochschulreife) mit einem Anteil von 42,7% vertreten. Werden diejenigen Eltern mit einer Fachhochschulreife hinzuaddiert, liegt der Gesamtumfang aller Studienberechtigten bei insgesamt 52,4%. Ein Viertel oder 25,8% machen diejenigen Befragten aus, die einen Realschulabschluss angeben . Den kleinsten Teil umfassen Elternteile mit einem Hauptschulabschluss. An der Befragung nahmen 17, 4% Eltern mit einem solchen Schulabschluss teil. Die verbleibenden Prozentwerte teilen sich auf die Eltern ohne Schulabschluss (3,2%) und Erziehungsberechtigte, die keine Angabe (1,3%) machten.
39
Die Definitionen der jeweiligen Erwerbsklassen und Schulabschüsse für die beiden Frageformate gehen auf die Vorgaben des statistischen Landesamres zurück (Statistisches Landesamt 2007, S. 67-72).
Darstellung der schriftlichen Befragung
133
Häufigkeit Prozent
Gültig
Keine Angaben
6
1,3
1,3
1,3
Keine Schulabschluss/ Abgangszeugnis
15
3,2
3,2
4,5
Hauptschulabschluss/ \ToIksschulabschiuss
79
17,0
17,1
21,6
119
25,6
25,7
47,3
Fachhochschulreife
46
9,9
9,9
57,2
Hochschulreife/ Abitur/ allgemeine Hochschulreife
198
42,7
42,8
100,0
Gesamt
463
99,8
100,0
464
100,0
Ftealschulabschluss/
Reife
Gesamt
Gültige Kumulierte Prozente Prozente
~ttlere
Tabelle 6.6: Häufigkeiten iJim höChsten Schulabschluss der Eltern Mit einem Anteil von 46,9% sind in der Stichprobe Eltern vertreten, die in einem Angestelltenverhältnis tätig sind und damit ist diese Groppe fast doppelt so groß, wie die zweitgrößte Groppe der Arbeiter, die mit knapp 20% folgen. Lediglich 36 Mütter oder Väter gaben an freiberuflich Selbständig zu sein, was einem Umfang von 7,7% entspricht. Beamtinnen oder Beamten sind in der Stichprobe mit 5,8% vertreterr'", Ein Indiz dafür, wie sensibel diese Fragestellung ist, zeigt der hohe Anteil von knapp 9% an Eltern, die keine Angaben zu ihrem Berufsstand machen wollten. Grund hierfür könnte sein, dass sie momentan nicht erwerbstätig" sind. Das Frageformat gibt darüber hinaus wenig Aufschluss über den qualitativen Rahmen der Erwerbstätigkeit bezüglich der Einkommensverhältnisse, die Art und Dauer der Erwerbstätigkeit oder die genaue berufliche Positionierung. 40
Ein Anhaltspunkt über die Verteilung der Stichprobendaten liefern die statistischen Kennwerte
41
aller Erwerbstätigen in Baden-Württemberg (Stand 2006) zu einer ersten Orientierung herangezogen werden: Angestellte 53,4%, Arbeiter/innen 29,8%, 10,1 Selbständige, Beamte 5,4 und 1,2 mithelfende Familienangehörige (Quelle: Mikrozensus, 2005; entnommen aus: Statistisches Landesamt 2007) Ein Vergleich mit den Arbeitslosenquoten in dem untersuchten Stadt- und Landkreis zeigt einen ähnlichen Wert . Für den Landkreis Ravensburg liegt der Anteil aller Erwerbslosen für das Reverenzjahr bei 5,2% (Statistisches Landesamt 2007) und im Stadtkreis Stuttgarc bei 9,4%. Für beide Kreise ergibt das ein gemittelter Durchschnittswert für die zivilen Erwerbslosen von 7,3%, was etwa dem Landesjahresdurchschnitt von 7,1% entspricht (ebd.),
Darstellung der schriftlichen Befragung
134
Gültig
Häufigkeit Prozent
Gültige Prozente
Kumulierte Prozente
Keine Angaben
40
8,4
8,4
8,4
Arbeiter
97
20,9
21,0
29,4
Angestellte/r
218
47,0
47,1
76,5
Beamter/ Beamte
27
5,8
5,8
82,3
Selbständige/r
46
9,9
9,9
92,2
Freiberuflich Selbständiger/ 36 Selbständige
7,8
7,8
100,0
100,0
100,0
Gesamt
464
Tabelle 6.7: Häufigkeiten der beruflichen Stellung der Eltern Die Verteilung der Eltern in der Stichprobe legt den Schluss nahe, dass der Kreis der teilnehmenden Eltern tendenziell eine höhere Schulausbildung ausweist. Hingegen sind Eltern mit keinem und niedrigeren Schulabschlüssen unterrepräsentiert, was der Vergleich mit der Population für das Land Baden-Württemberg zeigt42. Danach liegt der Anteil an Eltern mit einem Hauptschulabschluss entsprechend dem Elternjahrgang der dreißig- und fünfunddreißigjährigen zwischen 3035%. Nimmt man den Anteil an ausländischen Mitbürgern oder Migranten erster Generation noch hinzu , die aufgrund der Migration oft keinen Abschluss machen konnte, ist ein noch höherer Wert zu erwarten. Dies legt meinem Erachten nach die Vermutung nahe, dass in der Stichprobe eine Überrepräsentanz an höhergebildeten Eltern gegeben ist.
42
Es muss darauf hingewiesen werden, dass es nur sehr wenige Daten zur Population von Grundschule1tem gibt, die als Bezugsgröße dienen könnte. Aus dem Grund wird in den Ausführungen in dem Kapiteln immer wieder auf die Gesamtpopulation Baden-Württembergs verwiesen. Diese Abweichung muss leider in Kauf genommen werden.
Darstellung der schriftlichen Befragung
135
6.4.3 Beschreibung der Teilstichprobe - Grundsehuiiehrerinnen (3) Die erhobenen Daten bei den Grundschullehrerinnen sind vorrangig auf deren .fu:beitsumfeld und die jeweils unterrichtete Klasse bezogen. Das Bild bei den Grundschullehrerinnen stellt sich äußerst heterogen dar und die meisten Eingangsdaten wurden bereits in den Vorgesprächen thematisiert, was ein wichtiger Grund für die umfangreiche Nichtteilnahme der Lehrerinnen sein dürfte. Die Stichprobe setzt sich aus 18 Lehrerinnen und drei Lehrern zusammen, von denen zwölf ausschließlich in der Grundschule und neun in der Grundund Hauptschule unterrichten. Die Grund- und Hauptschullehrer sind alle als Klassenlehrer in der vierten Klasse eingesetzt und geben in der Mehrzahl die Fächer Mathematik, Deutsch und den Fächerverbund Mensch-Natur-Kultur. Über die Hälfte unterrichtete entweder 12 bzw. 14, die andere rund 20 oder mehr Stunden. Die vier Kollegen, die in beiden Schularten tätig sind, arbeiten in Vollzeit. Die befragten Klassenlehrerinnen unterrichteten die Schüler bis zum Zeitpunkt der Befragung im vierten Schuljahr bereits ein halbes Jahr. Auf die Frage, wie lange sie bereits in der untersuchten Klasse arbeiten, wurde das laufende Schuljahr als Ganzes mit eingerechnet. Demnach ist die überwiegende Zahl der 21 Grundschullehrerinnen, nämlich 13, das zweite Schuljahr in der Klasse. Für diese liegt ein zweijähriger Turnus als Klassenlehrerinnen vor , der sich für die Grundschule in das 1.- 2. und 3.- 4. Schuljahr aufteilt. Nur vier Lehrerinnen lehren im ersten bzw. vierten Schuljahr. Ein vierjähriges Klassenlehrerinnenmodell ist an den 18 Stichprobenschulen nur in einer geringen Anzahl verbreitet. Die Klassengrößen variieren zwischen 14 und 27 Schülern. Der Durchschnitt liegt bei 21,76 Kindem pro Klasse und liegt damit leicht über dem Landesdurchschnitt von 21,5 liegt. Einen erkennbaren Unterschied zwischen den beiden Regionen hinsichtlich der Klassengröße gibt es nicht. Die Grundschulen sind vorrangig zwei- oder dreizügig. Lediglich die Anzahl der Züge an den Schulen ist in Stuttgart höher, was auf größere Schulen hinweist.
6.5
Ergebnisse der empirisch-quantitativen Untersuchung
6.5.1 Beurteilung des Schulübergangs ausSehülerinnensieht Für die Beantwortung der ersten Forschungsfrage kann auf Eltern- und Schülerseite auf eine Reihe von Items im Fragebogen zurückgegriffen werden. Der Ausgangspunkt für die Einschätzungen der Schülerinnen zum Verlauf des Schuljahres und ihrer Sicht der Schulartwahl hängt bei einem leistungsorientierten Übergangsverfahren erwartungsgemäß stark von den erzielten Noten ab. Aus dem Grund wird zunächst eine Übergangsquote aus der Deutsch- und Mathematiknote be-
Darstellung der schriftlichen Befragung
136
rechnet. Die Notenwerte wurden in den Fragebogen von Schülern und Eltern aufgenommen, um die Angaben auf der Grundlage der statistischen Kenndaten für das Bezugsschuljahr 2006/07 (GY=38,2%, RS=33,8% u. HS =28%) hin vergleichen zu können. In Deutsch liegt der Median der Schulnoten bei 2,00 (SD= 0,801), ebenso wie in Mathematik 2,00 (SD=0,834) und aus dem Durchschnitt beider Fächer konnte entsprechend der Notengrenzen der drei Schularten eine Übergangsquote berechnet werden. Nach den Schülerangaben würden 346 Schülerinnen das Gymnasium und 51 die Hauptschule besuchen. In die Realschule sollten danach nur 64 Kinder wechseln. Zu den statistischen Daten ergibt sich eine Übergangsdifferenz in das Gymnasium von mehr als 40%, was die Angaben der Schülernoten als wenig realistisch erscheinen lässt. .Alle notenbasierten Berechnungen sollten nach eingehender Prüfung auf die Elterndaten bezogen werden. Zu ihrer Wunschschule befragt, gaben die Schüler vor Erhalt der Bildungsempfehlung eine eindeutige Auskunft. Nur neun von 461Kindern hatten sich zum Befragungszeitpunkt noch für keine Wunschschule entschieden. Das weist darauf hin, dass die Schülerinnen eine genaue Wunschvorstellung von der zukünftigen Schulart haben. In Tabelle 6.8 wird die Tendenz zur höchst möglichen Schulart deutlich. 59% aller Schülerinnen und Schüler wünschen sich einen Gymnasialübergang und immerhin noch 34,3% sprechen sich für die Realschule aus. Nur für 4,3% ist ein Übergang in die Hauptschule wünschenswert. Die Bildungswünsche der Kinder richten sich deutlich am Gymnasium und an der Realschule aus, die beiden Schularten präferieren zusammen 93,3%.
Prozent
Gültige Prozente
Kumulierte Prozente
Keine Angabe 2
,4
,4
,4
Hauptschule
20
4,3
4,3
4,8
Realschule
158
34,3
34,3
39,0
Gymnasium
272
59,0
59,0
98,0
2,0
2,0
100,0
100,0
100,0
Häufigkeit
Gültig
Unentschieder 9 Gesamt
461
Tabelle 6.8: Schulwunsch der Schülerinnen ~ Mitte des Schuliahres (6.S) Diese Einschätzung deutet über die gesamte Stichprobe hinweg auf eine erkennbare Diskrepanz zwischen der Wunschschule der Kinder und den wirklich erzielten Leistungen hin. Entsprechend der regionalen Unterschiede lässt sich in Baden-
Darstellung der schriftlichen Befragung
137
Württemberg für das Referenzschuljahr 2006/07 für nur rund 30 bis 40% aller Kinder ein Übergang ins Gymnasium realisieren. Die Ausrichtung an der höchsten Schulart verdeutlicht auch die Aussagen zur Zufriedenheit der Kinder hinsichtlich ihrer persönlichen Schulleistungen. Nicht einmal die Hälfte ist zum Zeitpunkt der Erhebung mit den erzielten Leistungen zur Mitte des 4. Schuljahres zufrieden. Mit der Aussage "sehr zufrieden" beschrieben gerade einmal 8,5% ihre Leistungen und 33,6% aller Schüler waren mit den erzielten Leistungen sogar "sehr unzufrieden". Trotzdem sich die Grundschulkinder bei den Schulleistungen in Deutsch und Mathematik zu gut einschätzten, sehen viele den erwarteten Schulübergang anband dieser Frage kritisch. Die deutliche Unzufriedenheit kann auf dem Hintergrund einer Abweichung zwischen real erzielter Leistung und der individuellen Wunschschule der Schülerinnen gesehen werden.
Gültig
Häufigkeit Prozent
Gültige Prozente
Kumulierte Prozente
Keine Angabe
2
,4
,4
,4
sehr zufrieden
39
8,5
8,5
8,9
eher zufrieden
76
16,5
16,5
25,4
zufrieden
100
21,7
21,7
47,1
eher unzufrieden 89
19,3
19,3
66,4
sehr unzufrieden 155
33,6
33,6
100,0
Gesamt
100,0
100,0
461
Tabelle 6.9: Einschä'ti!'ng der Schüler if/r er.{jelten Leistungen in der 4. Klasse Bei der Frage nach einer möglichen Teilnahme am Testverfahren fällt das Ergebnis dagegen nicht ganz so deutlich aus. Nur ein Viertel der Befragten (11T) würde im Zweifelsfall auf jeden Fall an einem Test teilnehmen. Das trifft auf 164 Schülerinnen "gar nicht" zu. Diese Ergebnisse beruhen auf einem Mittelwert von 2,56 und einer Standardabweichung von 1,290, was auf eine breite Streuung der Daten hinweist. Die nicht gemachten Angaben zeigen, dass sich die Kinder hier mit einer etwas schwierigeren Frage konfrontiert sahen, denn der Wert steigt um das siebenfache (15) zur vorangegangenen Frage.
Darstellung der schriftlichen Befragung
138
Gültig
Häufigkeit
Prozent
Gültige Prozente
Kumulierte Prozente
Keine Angaben
15
3,3
3,3
3,3
trifft zu
117
25,4
25,4
28,6
trifft eher zu
87
18,9
18,9
47,5
trifft eher nicht zu
78
16,9
16,9
64,4
trifft nicht zu
164
35,6
35,6
100,0
Gesamt
461
100,0
100,0
Tabelle 6.10:Erwägung eines Übergangstests aufSchülerseite Die dargestellten Daten aus Schülersicht geben erste Hinweise auf die Beurteilung der Schülerinnen zur Schulartwahl. Rund 60% der Kinder halten das Gymnasium für die erstrebenswerteste Schulart. Mit ihren Leistungen auf die Schulartwahl hin gesehen zufrieden sind 25,4%, während 52,9% nicht mit den erzielten Leistungen zufrieden. Fast genau die gleiche Prozentzahl wurde nicht an einem Test- und Beratungsverfahren teilnehmen (52,5%), was dafür spricht, dass die Schüler ihre Leistungen eher kritisch einschätzen, jedoch viele Kinder sehen die entstandene Leistungsdiskrepanz nicht in dem Maße als handlungsleitend an, um eine Testung in Erwägung zu ziehen. Das Ereignis "Schulübergang" als solches schätzen die Schüler als nicht Besonders ein, das voten 62% unter der Rubrik "trifft nicht" oder "eher nicht" zu. Nur 16,5% der Schüler sehen darin ein besonderes Ereignis. 7.3S u 5.2E) Der Schulübergang stellt für mich kein besonderes Ereignis dar. Keine trifft Angaben zu 16 Anzahl Ausfüllet nach % innerhalb Eltem- Schüler von Ausfüller 3,5% Kindernach ElternLehrer Kinder-Lehrer
trifft eher zu
Getrifft trifft samt eher nicht nicht zu zu
76
83
106
180
461
16,5 %
18,0%
23,0%
39,0 %
100,0%
Tabelle 6.11: Kreu:(fabelle if/r EinschäfiJ'ng der Schulübergang alsbesonderes Ereignis
Darstellung der schriftlichen Befragung
139
6.5.2 Beurteilung des Schuliibergangs aus Elternsicht Um einen Einblick in die elterliche Sicht auf den Schulartwahlprozess zu erhalten, wurden die Eltern an verschiedenen Stellen im Fragebogen nach ihrer Einschätzung gefragt. Zum einen sollten die Erziehungsberechtigten einschätzen, wie gut die Bildungsempfehlung den Leistungstand ihres Kindes wiedergibt. Für über die Hälfte aller Eltern trifft die schulische Empfehlung die Leistungen ihres Kindes gut wieder, lediglich 2.4% aller Befragten teilten die Einschätzung nicht. Die überwiegende Mehrheit der Väter und Mütter halten die schulische Vorgabe für ein adäquates Mittel der Leistungswiedergabe, was sich für die beiden Items "trifft zu" und "trifft eher zu" auf 86,2% zutrifft.
14.1E) Die ausgesprochene Bildungsempfehlung wird den Leistungsstand meines Kindes Gegut wiedergeben samt keine trifft trifft trifft nicht An- trifft zu eher eher zu zu nicht zu gaben Anzahl 235 25 Ausfüller % innerhalb nach Eltern- Eltern von Ausfüller nach Kinder5,4% 50,6% EltemLehrer KinderLehrer
165
28
11
464
35,6%
6,0%
2,4%
100,0 %
Tabelle 6.12: Kreu:{!abelle ~r Einschä~ng der Eltern ~r Biltlungsempfthlung alsInstrument ~r Wiedergabe des Leistungsstandes Zu einer fast identischen Einschätzung kommen die Eltern bei der Frage, ob sie sich bei der Schulartwahl nach der Bildungsempfehlung richten, was sich mit den obigen Ergebnissen der Tabelle 6.12 deckt. Ein weiterer Gradmesser für die Beurteilung der Schulartwahl stellt eine mögliche Übereinstimmung mit der Einschätzung der von der Grundschullehrerin beratenen Schulart. Vor dem Hintergrund geben über 80% der Väter und Mütter an mit der Lehrerin übereinzustimmen. Eine Abweichung ist nur in den wenigsten Fällen gegeben, so dass von einer hohen Affinität zwischen elterlichen und schulischen Einschätzung gegeben ist.
140
Darstellung der schriftlichen Befragung 17E-12S) Stimmen Sieund die Grundschullehrkraftbei einermöglichen Einschätzung der Schulartempfehlung ihres Kindes übcrein? Nein,ich Ja, stimme Keine ich stimme nicht mit Angaben mit ihnen ihnen überein überein
13 Anzahl Ausfüller nach % innerhalb von Eltern- Eltern Ausfüller nach 2,8% KinderEltern-KinderLehrer Lehrer
GeNein, aber samt siekonnten michüberzeugen
389
38
24
464
83,8%
8,2%
5,2%
100,0 %
Tabelle 6.13: Kreuifabelle ~r Obereinstimmung der Eltern mit der Einschä~ng der Grundschullehrerin Einen Hinweis auf den Bildungswunsch (Bildungsaspirationen) der Eltern liefert die Angabe über die angestrebte Schulart. Während bei den Schülern nach ihrer Wunschschule gefragt wurde, sollten die Eltern den Wunsch des zu erreichenden Schulabschlusses angeben. Auf diese Weise galt es unabhängig vom situativen Kontext die langfristig anvisierte Wunschschulart zu ermitteln, ohne dass sich die Eltern von der gegenwärtigen Entscheidungssituation leiten lassen sollten.
Gültig
Häufigkeit Prozent
Gültige Prozente
Kumulierte Prozente
Hauptschulabschluss
12
2,6
2,6
2,6
Realschule
123
26,5
26,5
29,1
Abitur/ Fach- / Hochschulabschluss
312
67,2
67,2
96,3
Unentschieden
17
3,7
3,7
100,0
Gesamt
464
100,0
100,0
Tabelle 6.14: Hä'uftgkeiten
~m
Schulabschusswunsch der Eltern
Bei 67,2% der Eltern besteht der Wunsch, dass ihr Sohn oder ihre Tochter am Ende ihrer Schullaufbahn einen Abschluss mit Studienberechtigung erzielt, was sich in etwa mit den Angaben zum höchsten elterlichen Schulabschluss deckt.
Darstellung der schriftlichen Befragung
141
Immerhin noch 26,5% halten den Mittleren Schulabschluss für erstrebenswert und 2,6% aller Eltern wünschen sich einen Hauptschulabschluss. Von den 464 Eltern sind zum Zeitpunkt der Befragung 3,7% noch unentschieden, welcher Abschluss anzustreben ist. Bei diesen Eltern könnte es sich um Fälle handeln, bei denen die erzielten Noten keine eindeutige Zuordnung zulassen. Ein Vergleich mit den Ergebnissen der Schülerbefragung zur Wunschschule zeigt ein deutliches Bestreben der Eltern nach höheren Bildungsabschlüssen. Einen Hauptschulabschluss streben noch weniger Eltern als Schüler an und beim mittleren Bildungsabschluss liegt die Differenz bei 7,7%. Das heißt, es streben fast 10% mehr Eltern einen höheren Bildungsabschluss an, als die Kinder das tun. Deutlich weniger Eltern wünschen sich für ihr Kind die Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren für den Fall, dass nicht die angestrebte Schulart erreicht wird.
Gültig
Häufigkeit Prozent
Gültige Prozente
Kumulierte Prozente
Keine Angaben
28
6,0
6,0
6,0
trifft zu
61
13,1
13,1
19,2
trifft eher zu
64
13,8
13,8
33,0
trifft eher nicht zu
77
16,6
16,6
49,6
trifft nicht zu
234
50,4
50,4
100,0
Gesamt
464
100,0
100,0
Tabelle 6.15: Hliufigkeiten if/m Teilnahmewunsch der E ltern am Test- undBeratungsveifahren Während 13,1% der Eltern es gerne sehen würden, wenn das Kind in einem solchen Fall einen Test macht, ziehen es 13,8% eher in Betracht. Die beiden Items gegen eine Testteilnahme sind mit zusammen 67% deutlich überbelegt. Immerhin 50,4% der Eltern votieren gegen eine Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren. Auf Elternseite stimmen damit im Vergleich zu den Schülern 14,4% weniger für die Nichtteilnahme an einer solchen Interventionsmaßnahme. Für viele Eltern wird ein solches Votum nur dann zustande kommen, wenn sie nicht mit den Leistungen der eigenen Kinder zufrieden sind. Die Einschätzung der Leistungszufriedenheit zeigt eine eindeutige Tendenz .
142
Gültig
Darstellung der schriftlichen Befragung
Häufigkeit
Prozent
Gültige Prozente
Kumulierte Prozente
Keine Angabe
4
,9
,9
,9
sehr zufrieden
181
39,0
39,0
39,9
eher zufrieden
111
23,9
23,9
63,8
zufrieden
87
18,8
18,8
82,5
eher unzufrieden
63
13,6
13,6
96,1
sehr unzufrieden
18
3,9
3,9
100,0
Gesamt
464
100,0
100,0
Tabelle 6.16: Häufigkeiten
~r Leistungs~friedenheit
der Eltern
Der größte Teil der Eltern ist mit den Leistungen "sehr zufrieden" (39,0%) und noch 23,9% sind "eher zufrieden". Damit sind auch hier über 60% mit dem Verlauf der 4. Klasse zufrieden und sehen demzufolge keine Veranlassung ein Testund Beratungsverfahren anzustreben. Knapp 17,5% der Eltern sind mit der Entwicklung bis zur Bildungsempfehlung unzufrieden. Bei der Einschätzung des Schulübergangs votieren die Eltern fast im gleichen Umfang wie die Kinder. 33,2% der Eltern sehen im anstehenden Übergang kein besonders Ereignis für ihr Kind, als eher beachtenswert schätzen es immerhin noch 29,1% ein. Als ein besonderes Ereignis für ihr Kind sehen es gerade einmal 12,7% aller Erziehungsberechtigten an. Die Angaben der Eltern zu den Leistungsziffern in den Kernfächern deuten ebenfalls darauf hin, dass sich an der Befragung vorrangig Elternhäuser mit Kinder aus dem leistungsstärkeren Spektrum beteiligt haben. Elternseits tendieren die angegebenen Leistungsziffern für die beiden Kernfächer stärker zwischen den Noten gut und befriedigend. Bei der Deutschnote liegt der Median bei M=2,50 in Mathematik bei M=2,40 und die Standardabweichung bei SD=0.92 und SD=0.90 . Die beiden Notenwerte ergeben eine errechnete Übergangsquote von 20,4% für das Gymnasium, 54, 8% würden demnach in die Realschule übergehen und 24,5% in die Hauptschule (1,3% keine Angabe). Diese Werte liegen mit einer Differenz von rund 15% zu statistischen Kennwerten deutlich näher an erzielten Übergangsquoten für das Bezugsjahr.
Darstellung der schriftlichen Befragung
143
6.5.3 Gradder Beteiligung an der Schulartwahl nach Eltern, Schiiier undLehrern Zur deskriptiven Analyse der dritten Forschungsfrage nach den Entscheidungsträgern der Schulartwahl wird die Einschätzung der Akteure zum Grad der Beteiligung im Fragebogen herangezogen. Der Aussage Boudons zufolge ist zu erwarten, dass hauptsächlich die Lehrerinnen und Eltern die Schulartwahl treffen und als maßgebliche Entscheidungsträger in der Befragung benannt werden (F1.3). Zur Untersuchung werden die Antworten der Frage zur Einschätzung des Beteiligungsgrads (F.18.1-18.4) an der Schulartwahl nach Eltern, Lehrer und Schüler entsprechend der Häufigkeiten der Nennungen in einer Kreuztabelle analysiert. Gebildet wird diese zum einen aus dem jeweils Beteiligten und zum anderen deren Antwortformat zum Grad der Beteiligung des Vaters, der Mutter, dem Schüler und der Grundschullehrerin eingeherrs, Zunächst wird die Beteiligung der Eltern geprüft, die nach der Einschätzung der Mutter und des Vaters unterschieden werden können. Für den Vater sehen Mutter, Schüler, Grundschullehrerinnen und er selbst die Beteiligung den Vater zu 50,1% "sehr stark beteiligt". Nach Einschätzung der Grundschullehrerinnen liegt dieser Wert sogar bei 61,9%. Immerhin noch 30% aller Akteure voten den Vater an der Schulartwahl als "beteiligt". Lediglich 75 Schüler schätzen den Vater nicht in dem Maße beteiligt, was einem Sechstel der Schülerstichprobe entspricht. Das mag daran liegen, dass in der Grundschule die beiden Hauptbezugspersonen der Vater und die Mutter sind. Viele Väter werden aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit nicht in dem Maße wie die Mütter in den schulischen Kontext involviert sein und aus dem Grund ist zu vermuten, dass für eine Reihe von Kindern der Vater weniger beteiligt ist. Zudem könnte es sich auch um Haushalte mit allein erziehenden Müttern handeln, in denen die Väter wenig oder gar nicht präsent sind.
43
Aus der beobachteten H äufigkeit kann mittels Randsummenvetteilung die empirisch zu erwartende Anzahl an Nennungen und somit die standardisierten Residuen berechnet werden. Das gibt an, in welchem Maß die beobachtete Häufigkeit von der erwarteten Häufigkeit abweicht. Es ist für die vier folgenden Kreuztabellen anzumerken, dass in einigen Fällen die vorausgesetzte Zellenhäufigkeit von <S unterschritten werden kann. Der Grund hierfür ist, dass vor allem bei der Lehretinnengruppe mit N=21 nur ein geringer Rücklauf vorhanden ist. Teilen sich diese auf fünf Zellen auf, kommt es leicht zu einer Unterschreitung.
144
Darstellung der schriftlichen Befragung 18.2E-13.2S) Der Vater des Kindes wird ... Ge-
"Sehr nur stark be" gar nicht samt genng Angaben b etciligt teiligt b eteiligt beteiligt
v
Kerne
Anzahl
25
228
133
Erwartete Anzahl
27,8
231,0
% innerhalb von Schüler Ausfüller nach Eltern- 5,4% Kind-Lehrer
Ausfüller nach EI Eltern tem -KindLehrer
461
135,5 32,7
34,1
461,0
49,5%
28,9% 8,5%
7,8%
100,0 %
-,5
-,2
-,2
1,1
,3
Anzahl
31
233
138
28
34
464
Erwartete Anzahl
28,0
232,5
136,4 32,9
34,3
464,0
% innerhalb von Ausfüller nach Eltern- 6,7% Kind-Lehrer
50,2%
29,7% 6,0%
7,3%
100,0 %
Standardisierte Residuen
,0
,1
-,8
-,1
13
7
10,5
6,2
°
°
61,9%
1----------+---I-----+---I-----+-----t----1
Erwartete Anzahl
Gesamt
36
Standardisierte Residuen
,6
Anzahl Leh
39
1,3
% innerhalb von rer Ausfüller nach Eltern- 4,8% Kind-Lehrer
1,5
21
1,6
21,0
33,3% ,0%
,0%
100,0 %
Standardisierte Residuen
-,2
,8
,3
-1,2
-1,2
Anzahl
57
474
278
67
70
946
Erwartete Anzahl
57,0
474,0
278,0 67,0
70,0
946,0
50,1%
29,4% 7,1%
7,4%
100,0 %
% innerhalb von Ausfüller nach Eltern- 6,0% Kinder-Lehrer
Tabelle 6.17: Kreu:<jabelle ~ Ausfiiller des Fragebogens * Beteiligung des Vaters
Darstellung der schriftlichen Befragung
145
Die Tabelle 6.17 weist mit einem niedrigen Chi-Quadrat44-Wert aus, was auf eine hohe Übereinstimmung von beobachteter und erwarteter Häufigkeit schließen lässt (x2 = 6,567, df= 8, p= 0,584). Da p >0,05 ist, liegt keine signifikante Diskrepanz zwischen Erwartungswerten und beobachteten Nennungen vor. Eine Analyse der Residuen bestätigt die Vermutung, da die errechneten Residuen kleiner +-2 sind und somit keine Signifikanz ausweisen. Der Zusammenhang der Variablen wurde zudem über den Korrelationkoeffizienten nach Spearmarr'! geprüft, der mit rsp0.05
Z=0
Z=-0,071;
>=0.05
>=0.01 > =(1.0 1
>=0.001 > = 0.001
fL~------+------+1-----;----+-------+------+ ~
Signifikanz p Signifikanz
I Deutsch I I~====~II
I
HS-weibl+ HS-\vcibl+ Muttersprache Murrcrspra chc
-Hauptschule; Legende: HS -H auptschule; RS - Realschule Realschu le
I
RS -wciblt -weibl.+Muttersprache Murrcrsprachc
Deutsch
Abbildung 6.10: Ergebnis des UMs mit Ubergang HS -RS und Geschlecht + Muttersprache (.AusZUg tier ermittelten EinJlussfaktoren) Modell HS - RS mit Geschlecht, Muttersprache undhochstem Schulabschluss der Eltem alsZU pmjende EinJlussfaktoren Nachfolgend wird der hochste Bildungsabschluss der Eltern mit in die Berechnungen iiberfuhrt. Die Verteilungen auf die jeweils in drei bzw. vier Kategorien unterteilten elterlichen Schulabschliisse stellt Tabelle 6.29 dar.
Darstellung der schriftlichen Befragung
167
Z eIIe nhiaufil~Jk eiten ' un d R esild uen-ab
Elterlicher Schulabschluss Schulübergang HS-RS der nach drei Kategorien Kinder
Beobachtet
Erwartet
Anzahl %
Anzahl %
Hauptschule
3
75,0%
3
75,0%
Realschule
1
25,0%
1
25,0%
Niederer o. kein Schulab- Hauptschule schluss Realschule
32
46,4%
32
46,4%
37
53,6%
37
53,6%
Hauptschule
19
30,2%
19
30,2%
Realschule
44
69,8%
44
69,8%
Hauptschule
13
20,0%
13
20,0%
Realschule
52
80,0%
52
80,0%
Keine Angaben
Mitderer Schulabschluss Höherer Schulabschluss
a, Modell: Multinomial Logit; b. Design: Konstante
Tabelle 6.29: Kreuifabelle von Schulabschluss der Eltern und Übergang der Kinder von HS-RS Derzufolge gaben die meisten Eltern als höchsten Schulabschluss die Mittlere Reife an. Das gilt auch im Fall einer Unterbelegung des Hauptschulfeldes. Es wird jedoch an der prozentualen Verteilung deutlich, dass die Differenz mit steigendem Schulabschluss zwischen HS und RS-Übergang der Kinder ansteigt, was ein Vergleich der Verhältniszahlen belegt. Insgesamt sind 69 Eltern in der Stichprobe, die keinen oder einen niedrigen Schulabschluss habe . Deren Kinder besuchen in 32 Fällen eine Hauptschule und in 37 eine Realschule . Das entspricht einem Verhältnis von 1:1,15. Die Verteilung steigt bei denjenigen Kindern von Eltern mit einer mittleren Schulbildung deutlich an. Im Gegenzug sinkt die Anzahl von Hauptschülerinnen auf 19, während 44 Kinder in die Realschule gehen, was einem Verhältnis von 1:2,31 für die mittlere Schulbildung der Eltern entspricht. Bei Kindern mit Eltern einer höheren Schulbildung ist eine weitere Distanz auszumachen, denn das Verhältnis zwischen Haupt- und Realschulbesuch liegt hier bei 1:4. In dem berechneten log-linearen Modell wirkt sich die Differenz mit einem signifikanten Wert für die Zellenbe1egung bei einem niedrigen oder keinem Schulabschluss der Eltern und einem erwarteten Übergang in die Hauptschule aus. Dieser Zusammenhang wurde in der Kreuztabelle bereits deutlich und bestätigt sich durch beide unterschiedlichen Berechnungswege. Die Schätzung der Parameter für den errechneten Schulübergang in die RS und HS und dem Schulabschluss der Eltern zeigt in der Mode11zusammenstellung die folgenden Über- und Unterbelegungen:
168
Darstellung der schriftlichen Befragung
Parameterschätzerse Parameter
Schätz- Std.Fehler ung
Z
Sig.
95%-Konfidenzintervall Untergrenze
Obergrenze
Kein oder niedriger Schul3,611" abschluss der Eltern Kons- MittlererSchulabschluss tante der Eltern
3,784"
Höherer Schulabschluss der Eltern
3,951" ,310
-4,471
,000 ***
-1,994
-,779
1,196
2,078
,038
,142
4,828
Schulübergang Hauptschule* kein oder niedriger Schulabschluss der 1,241 Eltern (10Schülerinnen)
,393
3,158
,002 **
,471
2,011
Schulübergang Hauptschule* mittlererSchulabschluss der Eltern ,547 (23 Schülerinnen)
,414
1,320
,187
-,265
1,358
Schulübergang Hauptschule
-1,386
Schulübergang Realschule
Ob
Schulübergang Hauptschule* keineAngaben zum Schulabschluss der Eltern
2,485
b. DIeser Parameter WIrd auf 0 gesetzt; c. Modell: Multinomial Logit
Tabelle 6.30: L.og-lineares Model/pr den errecbneten Schulübergang HS-RS der Eltern
* Schulabschluss
Die Konstanten weisen eine relative Gleichverteilung der Schulabschlüsse für die drei Parameter A = 3,611, A = 3,784 und A = 3,951 aus. Eine tendenziell deutlichere Überbelegung ist für die Verknüpfung von Hauptschule und keinem oder einem niedrigen Schulabschluss der Eltern mit Z = 3,158 und A = 1,241 gegeben. Die Differenz bei der Belegung ist der Grund für das signifikante Ergebnis mit p=0.002**, das sich für zehn Schülerinnen ausmachen lässt. Aus dem Z-Wert in positiver Richtung kann auf eine Überbelegung der Zelle der errechneten Hauptschüler mit Eltern ohne oder einem niedrigem Schulabschluss gefolgert werden. Das deutet für eine gewisse Zahl von Familien mit oder ohne Hauptschulabschluss auf eine Transformation des Übergangs hin. Letztlich wird der Hauptschulabschluss an die Kinder "weitergegeben" und unter
Darstellung der schriftlichen Befragung
169
Umständen kann das sogar als „Aufstieg“ verstanden werden, wenn die Eltern selbst keinen Abschluss erreicht haben. Das lässt sich anhand der erhobenen Daten aber nicht genauer unterschieden. Die nachstehende Abbildung zeigt den Zusammenhang des Schulübergangs der Kinder in die HS und den Einflussfaktor der elterlichen Schulabschlüsse nochmals grafisch auf. Ein signifikantes Ergebnis ergibt sich bei der Berechnung von vier Variablen für die Kombination zweier Einflussfaktoren. Modell HS-RS + Geschlecht + Muttersprache + höchster elterl. Schulabschluss 3.2
+ Z-
2.5
1.9
0
-1.96
-2.58
- Z-
-3.29
>0.05
>=0.05
>=0.01
Z=3,51; p=0,002
Z=0
>=0.001
Signifikanz p
HS - höchster Schulabschluss RS - höchster Schulabschluss
Legende: HS-Hauptschule; RS-Realschule
Abbildung 6.11: Ergebnis des LLMs für den Übergang HS-RS und Geschlecht + Muttersprache höchster Schulabschluss der Eltern (Auszug der ermittelten Einflussfaktoren) Modell HS – RS mit Berufsstand der Eltern, Schulabschluss der Eltern und Migrationshintergrund als zu prüfenden Einflussfaktoren Die Einbindung des nächsten primären Faktors ist die berufliche Stellung der Eltern, die in fünf Unterkategorien nach Arbeiter, Angestellte, Beamte und zwei Gruppen von Selbständigen erhoben wurde. Für die Berechnung erfolgte eine Reduzierung der fünf Berufsgruppen in drei Kategorien52. 52
Aufgrund des geringen Umfangs an Probanden bei den Berufsgruppen Beamten und Selbständigen erschien es sinnvoll diese zusammenzufassen, da ansonsten eine Zellenunterbelegung eine Berechnung erschwert hätte. Von einer möglichen Erhebung der als kritisch eingestuften Angabe der Erwerbslosigkeit wurde aufgrund der Erfahrung eines deutlichen Anstiegs von Probanden, die keine Angaben machen, abgesehen.
170
Darstellung der schriftlichen Befragung
Zunächst soll eine Kreuztabelle über die Verteilung der Eltern in die einzelnen Berufsgruppen und dem erwarteten Schulübergang nach Haupt- und Realschule Aufschluss geben . Insgesamt gehen in die Berechnungen 200 Fälle oder 21,1% der Probanden der Gesamtstichprobe ein. Die größte Berufsgruppe bilden die Angestellten, die mit einer Quote von 1:2,7 auf HS und RS aufgeteilt sind und deutlich stärker in der Realschule vertreten sind. Bei der Gruppe der Arbeiterkinder ist die Verteilung auf Haupt- und Realschule mit 35 und 36 in der Realschule fast gleich groß. Ein signifikantes Residuum von +2,3 weist darauf hin, dass diese Schüler dagegen in der Hauptschule überproportional vertreten sind. Die Selbständigen- und Beamtenkinder bilden zwar die kleinste Gruppe, aber beide Berufsstände sind in der Realschule stärker vertreten, was aus der spaltenweisen Prozentangabe abzulesen ist. über die Beamtenkinder lässt sich mit sechs Berufsvertretern nur wenig aussagen. Die Kinder von selbständig tätigen Eltern mit einer Verteilung von 1:3,5 von der Haupt- zu Realschule sind wieder ungleich vertreten. Die Gütemaße können mit X2 = 12,712, df= 4, Korr.spcar. R =0,168 angegeben werden. Bei der Analyse ist mit p= 0,013 ein signifikanter Unterschied zwischen den elterlichen Berufsständen hinsichtlich der beiden Übergänge festzustellen. Die Prüfung der Parameter für die drei in Kombination als relevant erachteten Einflussfaktoren soll durch die Modellrechnung weiteren Aufschluss über eine mögliche Einflusskonstellation dieses Parameters liefern. Werden die berufliche Stellung, der höchste Schulabschluss der Eltern und der Migrationshintergrund auf den Übergang hin überprüft, zeigen sich einige relevante Verknüpfungen.
Darstellung der schriftlichen Befragung Kreuztabelle Schulübergang HS-RS
171
* Berufliche Stellung berufliche Stellung
Anzahl
Keine ArbeiAnter gaben
Angestellte
GesSelbamt Beamte ständige
4
35
21
1
6
67
23,8
26,5
2,0
9,0
67,0
49,3%
26,6%
16,7%
22,2%
33,5 %
Erwartete Anzahl 5,7 % innerhalb von 23,5 HS berufliche % Stellung Schulübergang HS-RS
Standardisierte Residuen
-,7
2,3*
-1,1
-,7
-1,0
Anzahl
13
36
58
5
21
133
47,2
52,5
4,0
18,0
133,0
50,7%
73,4%
83,3%
77,8%
66,5 %
Erwartete Anzahl 11,3 % innerhalb von 76,5 RS berufliche % Stellung
Gesamt
Standardisierte Residuen
,5
-1,6
,8
,5
,7
Anzahl
17
71
79
6
27
200
71,0
79,0
6,0
27,0
200,0
Erwartete Anzahl 17,0
% innerhalb von 100,0 100,0 berufliche 100,0% 100,0% 100,0% 100,0% % % Stellung
Tabelle 6.31: Kreu:(/abelle!{!im Schulübergang HS-RS undder beruflichen Stellung der Eltern Eine umfassende Berechnung des Modells für alle Faktoren ergibt für vier Verknüpfungen (Hw.6.30.1-Hw.6.30A) einen relevanten Zusammenhang. Es ist eine Überbelegung für diejenigen Kinder mit einem errechneten Realschulübergang festzustellen, deren Eltern als Angestellte tätig sind und in Deutschland geboren wurden (Hw.6.30.1). Entsprechend der Ergebnisse der Kreuztabelle deutete sich eine solche Tendenz an, die aber lediglich für sieben Schüler nachzuweisen ist. Mit einem sehr signifikanten Ergebnis bestätigt die Verknüpfung einen Zusammenhang von primärem sozialen Herkunftseffekt und Schulübergang HS-RS für die Ein-
172
Darstellung der schriftlichen Befragung
flussfaktoren berufliche Stellung der Eltern, elterlichem Schulabschluss und einem möglichen Migrationshintergrund. Im Gegensatz dazu ist eine Überbelegung für fünf Kinder auszumachen, die in die Hauptschule übergehen und deren Eltern eine Tätigkeit als Arbeiter ausführen. Hinzu kommt, dass diese Eltern keinen oder einen Hauptschulabschluss besitzen, was sich im Vergleich mit den Kindern mit einem erwarteten Realschulabschluss nachteilig auswirkt (Hw.6.30.2). Auffällig ist zudem, dass sich bei den Hauptschülern der Aspekt des Migrationshintergrundes als nicht relevant auswirkt. Bestätigt wird das erzielte Ergebnis zum Einflussfaktor durch den Schulübergang von Arbeiterkindern in die Realschule. Auf die Gruppe von acht Schülern wirkt sich ein Realschulabschluss der Eltern positiv auf den Schulübergang aus (Hw.6.30.3). In der letzten Verknüpfung (Hw.6.30A) zeigt sich eine Überbelegung für die Kinder mit einem Realschulübergang, deren Eltern auch einen Realschulabschluss erzielt haben und in Deutschland geboren sind. Auf die Schüler scheint sich der Bildungsabschluss und die Herkunft der Eltern positiv auf den erwarteten Übergang auszuwirken, was die Ergebnisse im Gesamtkontext bestätigt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass alle vier Ergebnisse nur durch eine geringe Anzahl von Schülerinnen und Schülern zu belegen sind. Zudem liegt die Verknüpfungen der Hw.6.30.3 und Hw.6.30A an der Signifikanzgrenze. Im Rahmen einer größeren Erhebung könnte sich dieses Ergebnis durchaus als signifikant erweisen. Die grafische Darstellungs! bietet nochmals einen Überblick über die Lage und Tendenz der Einflussfaktoren:
53
Für die nachfolgenden Abbildungen der Einflussfaktor en auf die Schulanwahl entfallen die Nullreferenzen zugunsten einer größeren Übersichtlichkeit.
Darstellung der schriftlichen Befragung
173
Modell HS-RS + Berufsstand + höchst. Schulabschluss + Migrationshintergrund
3.29
+Z
2.58
1.96
0
-1.96
-2.58
- Z --3.29
>0.05
Z=1,94 p=0,05
>=0.05
Z=2,2 p=0,02
>=0.01
=0.001
Z=1,9; p=0,05
Z=-2,91 p=0,004
Signifikanz p
RS–Angestellter + deutscher HS-Arbeiter + kein o. HS-abschl.
RS – deutscher Herkunft + Realschulabschl.
Legende: HS - Hauptschule; RS - Realschule
RS – Arbeiter + Realschulabschl.
Abbildung 6.12: Ergebnis des LLMs für den Übergang HS-RS und Berufsstand + höchster Schulabschluss und Migrationshintergrund der Eltern (Auszug der ermittelten Einflussfaktoren) Modell HS – RS mit allen fünf Variablen als zu prüfende Einflussfaktoren Ebenfalls berechnet wurde ein ungesättigtes log-lineares Modell auf der Grundlage aller fünf gebildeten primären Faktoren für den erwarteten Schulübergang Hauptund Realschule. Es lassen sich jedoch keine annehmbaren Konstanten und Z-Werte mehr erzielen und auch die Lambda-Werte überschreiten die Grenzwerte oder bewegen sich mit übergroßen Zahlenwerten im negativen Bereich. Deutlich zeigt sich, dass eine ganze Reihe von Zellenbesetzungen und Parameterkonstellationen über- oder unterbesetzt sind, obwohl einige der Verknüpfungen in der SPSS-Darstellung als signifikant ausgegeben werden. Letztlich ist eine sinnvolle Ableitung von Ergebnissen nicht mehr möglich und aus dem Grunde wird auf eine ausführliche Darstellung verzichtet.
174
Darstellung der schriftlichen Befragung
6.8 Wirksame Einflusskonstellationen der sekundären Effekte auf den Schulartübergang Die sekundären sozialen Effekte können entsprechend der theoretischen Vorannahmen ebenfalls einen Einfluss auf die Schulartwahl haben. Anschließend folgt die Berechnung der einzelnen bzw, mehrerer Variablen in einem log-linearen Modell, deren relevante Ergebnisse nachfolgend dargestellt und diskutiert werden.
Asifarbeitung der Daten ~ den Entscheidungsträgem Die Skala der "Entscheidungsträger" bildet den Einflussgrad der Akteure ab und setzt sich aus den Einschätzungen der drei Beteiligtengruppen nach deren Entscheidungsrelevanz an der Schulartwahlentscheidung zusammen. Für die nachfolgende Übersicht in der Kreuztabelle wird exemplarisch auf die Daten der Eltern zurückgegriffen, in die Berechnungen im log-linearen Modell wurde hingegen die gesamte Skala ein bezogen: Es zeigt sich eine deutliche Differenz der Einschätzung einer " sehr starken" Beteiligung der Eltern zwischen den Schularten Haupt- und Realschule. Während die Erziehungsberechtigten in der Realschule bei 41,9% der Nennungen sich an der Entscheidung "stark beteiligt" sehen, sind es für die erwarteten Hauptschulübergänge lediglich 31,6%, das ergibt ein Residuum von -1,2. In der folgenden Kategorie "beteiligt" schätzen sich die Befragten mit einem erwarteten Hauptschulübergang ebenso wenig involviert. Knapp 49,1% der Probanden halten sich für "beteiligt", wogegen 41,9% eine Beteiligung beim Realschulübergang angeben. Alle nachfolgenden Kategorien sind relativ ausgeglichen. Insgesamt votieren die Eltern mit Kindern eines erwarteten Hauptschulübergangs nicht in dem Maße beteiligt, wie dies die mit einem Realschulübergang tun. Die Güternaßstäbe weisen keine Signifikanzaus (:x2 = 6,201, df = 4, P = -0,185). Auch die symmetrischen Maße mit der Korrelation nach Spearman von r = -0,02 erbringen keinen signifikanten Zusammenhang für die Entscheidungsträger. Asifarbeitung der Daten ~m Bildungswunsch (Bildungsaspirationen) Mit der Variable "Bildungswunsch der Eltern" wird erhoben, welchen Schulabschluss sich die Eltern für ihre Kinder in der Zukunft wünschen. Der Bildungswunsch der Eltern ist für die beiden erwarteten Schularten in einer eindimensionalen Kreuztabelle dargestellt und macht deutlich, zu welchem Schulabschluss der Vater und/ oder die Mutter tendieren. Obwohl über 200 Befragte in dieser Gruppe vertreten sind, ist keine Normalverteilung gegeben, sondern vielmehr ist die Hauptschule unter- und die Realschule überrepräsentiert.
Darstellung der schriftlichen Befragung
Kreuztabelle Bildungsaspirationen der Eltern
*
175
Schulübergang HS-RS Kreuztabelle Schulübergang HS-RS Hauptschule Realschule
HS
RS Bildungswunsch der Abitur/ Eltern Fach- / Hochschulabschluss
unentschieden
Gesamt
Gesamt 3
1,0
°2,0
% innerhalb von Schulübergang HS-RS
4,5%
,0%
1,5%
Standardisierte Residuen
2,0*
-1,4
Anzahl
56
84
140
Erwartete Anzahl
46,7
93,3
140,0
% innerhalb von Schulübergang HS-RS
83,6%
62,7%
69,7%
Standardisierte Residuen
1,4
-1,0
Anzahl
7
50
57
Erwartete Anzahl
19,0
38,0
57,0
% innerhalb von Schulübergang HS- RS
10,4%
37,3%
28,4%
Standardisierte Residuen
-2,8**
1,9
Anzahl
1
1
Erwartete Anzahl
,3
°,7
% innerhalb von Schulübergang HS-RS
1,5%
,0%
,5%
Standardisierte Residuen
1,2
-,8
Anzahl
67
134
201
Erwartete Anzahl
67,0
134,0
201,0
% innerhalb von Schulübergang HS- RS
100,0%
100,0%
100,0%
Anzahl
3
Erwartete Anzahl
3,0
1,0
Tabelle 6.32: KTeuifabellefiir Bildungsaspirationen der Eltern * Sehulübergang HS-RS
176
Darstellung der schriftlichen Befragung
Es zeigt sich, dass bei den 201 Fällen eine Überbelegung für die Eltern mit einem erwarteten Hauptschulübergang und einem ebensolchen Abschlusswunsch gegeben ist. Die Kategorie weist jedoch nur drei Fälle auf und fällt höher aus als rechnerisch erwartet. Möglicherweise sind hier Eltern vertreten, die selbst keinen Abschluss erzielen konnten, was die signifikante Überbelegung (Residuum +2,0*) erklären würde. Von den Eltern mit Schulwunsch Hauptschule geht aller Voraussicht nach kein Kind in die Realschule. Eine weitere Unterbelegung ist in die andere Richtung gegeben, denn bei den Eltern mit einem höheren Schulabschluss werden nur sieben in die Hauptschule wechseln bei einem erwarteten Wert von 19 Schülern. D as führt zu einem sehr signifikanten Residuum von -2,8**. Hingegen weist der errechnete Übergang von diesen Kindern 50 für die Realschule aus und ist mit einem positiven Residuum von 1,9 verbunden. Für die Mehrzahl, nämlich 83,3% aller möglichen Hauptschuleltern, scheint die Realschule oder der Realschulabschluss das Minimalziel für eine gelungene Schulbildung zu sein. Zum Zeitpunkt der Befragung haben nahezu alle Eltern der beiden erwarteten Übergangswege eine klare Vorstellung von der gewünschten Bildungsbiografie. Für die Kreuztabelle liegen die Gütemaße bei X2 = 22,168, df = 3 und p = 0,01. Die Analyse ergibt einen Unterschied zwischen den errechneten Haupt- und Realschulübergängen. Ein signifikanter Zusammenhang zwischen den einzelnen Variablen kann mit einer Korrelation von r,pe = 0,276 nicht ausgemacht werden.
Alifarbeitung der Daten ilJrNUlifJng schulischer Informationsquellen Auf Elternseite ist als Weiteres die Nutzung von schulischen Informationsquellen erhoben worden, die als sekundäre soziale Effekte eingehen. In die ersten Berechnungen wird die vierfache Likert-Skala in eine dichotome Skala überführt. Diese soll die Einschätzung zur subjektiven Informiertheit anhand von schulischen Informationswegen wiedergeben. Mit der Skala bleibt unberücksichtigt, ob sich die Eltern möglicherweise auf anderen Informationswegen über die Schulartwahl oder die Schularten informiert haben. Die Angaben sind insofern von Bedeutung, da sie indirekt Aufschluss geben, inwiefern die Eltern auf Beratungsgespräche oder Elternabende mit Informationscharakter oder weitere Informationsveranstaltungen zurückgreifen.
Darstellung der schriftlichen Befragung
177
Kreuztabelle Nutzen schulischer Informationsquellen * Schulübergang HS-RS Schulübergang HS-RS RS
Anzahl
3
3
6
Erwartete Anzahl
1,8
4,2
6,0
% innerhalb von Schulübergang HS-RS
5,1%
2,2%
3,1%
Standardisierte Residuen
,9
-,6
Anzahl
38
97
135
Erwartete Anzahl
40,8
94,2
135,0
% innerhalb von Schul übergang HS-RS
64,4%
71,3%
69,2%
Standardisierte Residuen
-,4
,3
Anzahl Keine Informiert- Erwartete Anzahl heit über % innerhalb von Schul schulische übergang HS-RS Infoquellen Standardisierte Residuen
18
36
54
16,3
37,7
54,0
30,5%
26,5%
27,7%
,4
-,3
Anzahl
59
136
195
Erwartete Anzahl
59,0
136,0
195,0
100,0%
100,0% 100,0%
Keine Angaben
Nutzen schulischer Informationsquellen
Gesamt
HS
Hohe Informiertheit über schulischer Infoquellen
Gesamt
% innerhalb von Schul-
übergang HS-RS
Tabelle 6.33: Kreu:4abelleJiirden Schulübergang HS-RS * Nutzen schulischer Infoquellen Die Verteilung der Eltern der beiden Schularten zeigt, dass sich die Eltern mit einem err echneten Realschulübergang höher informiert einschätzen, als dies die Eltern mit möglichen Hauptschulkindern tun. Während sich bei Eltern mit Hauptschulübergang nur 64,4% als Nutzer schulischer Informationsangebote sehen, sind das in der Realschule 71,3%. Die Differenz beträgt 6,9% und könnte auch zufällig zustande gekommen sein. Zumindest lässt sich für die Tabelle keine signifikante Korrelation (r 0,103) der Variablen ausweisen (x2 1,635, df 2, P 0,442).
=
=
=
=
178
Darstellung der schriftlichen Befragung
Aufarbeitung der Daten if/r suijektiven Informiertheit der Eltern Als letzte Variable geht die Angabe der Eltern zur subjektiven Infonniertheit in die Untersuchung ein. Angelegt ist die Skala dichotom und fasst die Angaben aus einem Komplex von fünf Fragestellungen zusammen. Diese erheben, in welchem Maße sich die Eltern über die Schule Informationen zum Schulübergang angeeignet haben und welchem Stellenwert sie den Informationen beimessen. Hierbei gilt wieder zu berücksichtigen, dass nicht berücksichtig wurde, ob sich Eltern bereits bei früheren Kindern oder anders Informationen haben zukommen lassen.
Kreuztabelle .. Skaia 8Ub' nektive In fiormier iertheit eu d er EItem * Sc hulüb u ere-ane- HSRS Schulübergang HS-RS RS
Anzahl
17
26
43
Erwartete Anzahl
14,6
28,4
43,0
24,6%
19,4%
21,2%
,6
-,4
Anzahl umfassend Erwartete Anzahl über schulische Info% innerhalb von Schulüberträgem inforgang HS-RS miert Standardisierte Residuen
40
92
132
44,9
87,1
132,0
58,0%
68,7%
65,0%
-,7
,5
Anzahl wenig über die Erwartete Anzahl schulischen % innerhalb von SchulüberInfoträger informiert gang HS-RS
12
16
28
9,5
18,5
28,0
17,4%
11,9%
13,8%
Standardisierte Residuen
,8
-,6
Anzahl
69
134
203
Erwartete Anzahl
69,0
134,0
203,0
% innerhalb von Schulübergang HS-RS
100,0%
100,0% 100,0%
Keine Angaben
% innerhalb von Schul übergang HS-RS Standardisierte Residuen
Skala subjektive Informiertheit der Eltern
Gesamt
Gesamt
HS
Tabelle 6.34: Kreu:{fabelleftir die suijektive Informiertheit der Eltern * Sehulübergang HS-RS
Darstellung der schriftlichen Befragung
179
Auffällig ist die relativ große Anzahl an Eltern, die nach eigenen Angaben in großem Umfang auf schulischem Weg auf Informationen zurückgreifen (x 2 2,370, df 2, P 0,306). Auf Seiten der erwarteten Realschulübergänge voten das 92 Eltern, hingegen sind es nur 40, deren Kinder einem HS-Übergang entgegensehen. Das ergibt ein Verhältnis von 1:2,3. Insgesamt schätzen sich die Realschuleltern mit 68,7% umfassend informiert ein, während das auf Seiten der potentiellen Hauptschuleltern knapp 10% weniger tun.
=
=
=
Berechnung von UMfiir die sekundären soiJalen Effekte von Elternseite Für die Berechnung der Parameterschätzung im log-linearen Modell wird wie bei den primären sozialen Effekten eine kleinschrittige Vorgehensweise gewählt. In einzelnen Berechnungsabschnitten sind jeweils die einzelnen Skalen in die Berechnungen eingebracht, um im Einzelfall die möglichen Einflussfaktoren ausfindig zu machen. Auf diese Praxis wird zurückgegriffen, sofern es die Daten zulassen oder zusätzliche Erkenntnisse erzielt werden können. Aus bereits vorliegenden Untersuchungen sind die Schwierigkeiten bei der Erhebung von den "soft skills" im schulischen Kontext bereits thematisiert (Büchner 2006) . Im Folgenden gehe ich auf das Modell ein, in dem sich annähernd relevante Ergebnisse ausweisen lassen.
Parameterschätzers-s Parameter Konstante
Schätz- Std.Fehler Z ung 2,099
,577
1,903
Schulübergang Hauptschule
1,099
1,154 ,952
Schulübergang Realschule
O·
95%-
Sig.
Konfidenzintervall Unter-
Ober-
grenze
grenze
,057
,833
2,230
,341
1,361
2,164
Entschcidungsträger Vater 3,593 ,585 6,139 ,000 2,446 stark beteiligt Entschcidungsträger Mutter 3,593 ,585 6,139 ,000 2,446 stark beteiligt Entschcidungsträger Grund1,846 ,621 2,971 ,003 ,628 schullehrerin - stark beteiligt Schulübergang HS*EntschcidungsträgerVater - stark ,811 1,204 ,674 ,051 -1,548 beteiligt (2 Schüler) (Hw.6.35.1) a. Dieser Parameter wird auf0 gesetzt, daerredundant ist; b. Modell: Poisson
4,740 4,740 3,063 3,170
Tabelle 6.35: Log-lineares Modellfiir den Übergang HS-RS und die Entscheidungsträger
Darstellung der schriftlichen Befragung
180
Ein erster Hinweis ergibt sich aus dem LLM von Haupt- und Realschulübergang und den Entscheidungsträgern. Es zeigt sich, dass in zwei Fällen eine Überbelegung in der Zelle für den Schulübergang Hauptschule und dem Vater als starker Entscheidungsträger besteht (Hw.6.35.1). Um welchen familiären und kulturellen Hintergrund es sich bei diesen Familien handelt, ist nicht zu sagen. Eine weitere Bestätigung der Verknüpfung kann im Modell nicht nachgewiesen werden. Modell HS-RS + Entscheidungsträger Vater (stark beteiligt) 3.2 9
+Z
2.5 8
1.9 6
0
-1.9
-2.5
-Z
-3.2
>0.05 >=0.05
Z=0,674 p=0,051 >=0.01
>=0.001
Signifikanz p
HS- Entscheidungsträger Vater stark beteiligt (Hw.34.1)
Legende: HS - Hauptschule; RS -Realschule
Abbildung 6.13: Ergebnis des LLMs für den Übergang HS-RS und Entscheidungsträger Vater (stark beteiligt) (Auszug der ermittelten Einflussfaktoren) Ein weiteres Modell konnte für den Einflussfaktor des Bildungswunschs der Eltern gerechnet werden.
Darstellung der schriftlichen Befragung
181
Parameterschätzeres Parameter
Schät zung
Std.Fehler
Z
Sig.
Konstante
2,693
1,414
1,090
Schulübergang Hauptschule 1,099
1,633
95%-Konfidenzintervall Untergrenze
Obergrenze
,624
1,465
2,079
,673
,501
-2,102
4,299
Schulübergang Realschule
O'
Bildungswunsch der Eltern Realschule
5,130
1,418
3,617
,000
2,350
7,910
Bildungswunsch Eltern Gymnasium
4,615
1,421
3,247
,001
1,830
7,401
,847
2,225
,381
,703
-3,514
5,209
-1,501
1,642
-,914
,361
-4,719
1,717
-2,006
1,679
-1,790
-,073 -2,297
Sehulübergang Hauptschule * Bildungswunsch der Eltern Hauptschule Schulübergang Hauptschule * Bildungswunsch der Eltern Realschule Schulübergang Hauptschule * Bildungswunsch der Eltern Gymnasium (Hw.36.1)
,286
a. Dieser Parameter wird auf 0 gesetzt, da er redundant ist.; b, Modell: Poisson
Tabelle 6.36: Log-lineares Modellftir den Übergang HS-RS mit Bildungswunsch der Eltern Mit p= -0,073 zeigt sich für die Verknüpfung von Hauptschulübergang und Bildungswunsch der Eltern für das Abitur ein nicht signifikant Ergebnis, das im Ralunen der bisherigen Ergebnisse und Überlegungen einen interessanten Hinweis liefert. Es bestätigt die Erkenntnisse der Kreuztabellenanalyse. Die Unterbelegung der Zelle deutet auf eine "Anpassung des Bildungswunsches" der Eltern hin (Hw.6.36.1). Eltern mit einem erwarteten Hauptschulübergang haben nicht das visionäre Ziel des Abiturs im Blick, sondern deren Kinder sollen vielmehr die Mittlere Reife erreichen und schaffen, um sich weitere Bildungschancen zu wahren.
Modell HS-RS + Bildungswunsch der Eltern zum Übergang ins Gymnasium 3.29
2.58
+Z
1.96
0
1.96
2.58
3.29
-Z
0.05 Z=-1,79; p=0,07
>=0.05
>=0.01
>=0.001
HS- elterlicher Bildungswunsch Gymnasium (Hw.35.1)
Legende: HS - Hauptschule; RS - Realschule
Darstellung der schriftlichen Befragung
183
schullehrerin entgegengebracht wird, einschätzen. Die neue Skala zeigt hinsichtlich der beiden Schularten keine Unterschiede. Um eine Übersicht über die Tendenzen der Einschätzungen der Grundschillerinnen zu ihren Klassenlehrerinnen zu erhalten, wurde die Skala zunächst dichotom angelegt. Mit überwältigender Mehrheit votieren die Kinder für ein gutes Verhältnis zur Klassenlehrerin. Auf Seiten der errechneten Realschulübergänge sind es 95,1%, während die Hauptschiller in 90,9% der Fälle eine solche Einschätzung treffen. Zu berücksichtigen ist, dass die Schiller und Lehrer gerade gemeinsam ein belastendes Selektionsverfahren durchlaufen haben, was die Lehrer-Schiller-Beziehung jedoch nicht negativ zu beeinflussen scheint. Das Gesamtbild stellt sich so dar:
Kreuztabelle Schulübergang HS-RS
* Beziehung zur Klassenlehrerin Beziehung zur Klassenlehrerin
HS Schulübergang HS-RS RS
Gesamt
Gesamt
Gute Beziehung
Weniger gute Beziehung
Anzahl
40
4
44
Erwartete Anzahl
41,3
2,7
44,0
% innerhalb von Sehulübergang HS-RS
90,9%
9,1%
100,0%
Standardisierte Residuen
-,2
,8
Anzahl
116
6
122
Erwartete Anzahl
114,7
7,3
122,0
% innerhalb von Sehulübergang HS-RS
95,1%
4,9%
100,0%
Standardisierte Residuen
,1
-,5
Anzahl
156
10
166
Erwartete Anzahl
156,0
10,0
166,0
% innerhalb von Sehulübergang HS-RS
94,0%
6,0%
100,0%
Tabelle 6.37: KreuiJabelleftir Schuliibergang HS -RS unddie Be:dehung ~r Klassenlehrerin Der Vergleich der beiden Schularten zeigt keine größeren schulartspezifischen Unterschiede in der Schülereinschätzung. Zwischen den einzelnen Kategorien liegen die Residuenunterschiede im nichtsignifikanten Bereich. Diese Skala geht in ihrer
184
Darstellung der schriftlichen Befragung
ursprünglichen Konstruktion als vierfach likert-skalierte Konstruktion in das LIM ein und liefert als einzige der drei Skalen ein informatives Ergebnis.
Aufarbeitung der sot/al-emotionalen Unterstü'ifing ausSehülersieht Eine weitere Skala im Rahmen der sekundären sozialen Effekte bezieht sich auf die Einschätzung der Schülerinnen zur emotionalen Unterstützung. Die Schüler wurden nach Ansprechpersonen in der Familie oder dem innerfamiliären Rückhalt befragt. Auffallend ist, dass die Aussagen der Kinder mit einem errechneten Hauptschulübergang diese Unterstützung von Seiten der Familien als wesentlich weniger gegeben ansehen als die Kinder mit Realschulübergängen. Das Gesamtbild der Nennungen über die drei Kategorien zur emotional-familiären Situation zeigt das wie folgt:
Kreuztabelle Schulübergang HS-RS
* Familiär-emotionale Unterstützung Familiär Lern- und Arbeitsunterstützung in schulischen Belangen Keine stark weniger gegeben Angaben gegeben gegeben
HS
SchulübergangHSRS
RS
Gesamt
Anzahl
5
36
19
1
61
Erwartete Anzahl
2,5
40,1
17,7
,6
61,0
62,5%
28,3%
33,9%
50,0%
31,6%
Standardisierte Residuen
1,6
-,7
,3
,5
--
Anzahl
3
91
37
1
132
Erwartete Anzahl
5,5
86,9
38,3
1,4
132,0
37,5%
71,7%
66,1%
50,0%
68,4%
-1,1
,4
-,2
-,3
--
% innerhalb von familiären Unterstützung
% innerhalb von familiären Unterstützung Standardisierte Residuen
Tabelle 6.38: Kreu:dabellefir Sehulübergang HS-RS undfamililir-sot/ale Unterstü'ifing Die Verteilung auf die drei Kategorien richtet sich auf die Kategorie "stark gegeben" aus und dennoch ist keine errechnete Residuendifferenz auszumachen
Darstellung der schriftlichen Befragung
185
Cx 2 = 4,609, df = 3; P = 0,203). Das Korrelationsmaß mit r = -0,001 weist eine negative Korrelation zwischen den beiden Schulartvariablen aus, die tendenziell gegenläufig belegt sind. Kteuztabelle Schulübergang HS-RS
* S- 11- Unterstützung- in- schulischen Belangen S_ll Unterstützungin schulischen Belangen
Anzahl
Gesamt
Keine immer Angaben
häufig
manchnie mal
1
8
24
12
0
45
15,8
21,1
6,6
,3
45,0
17,8%
53,3% 26,7%
,0%
100,0 %
ErwarteteAnzahl 1,3 HS % innerhalbvon Schul2,2% übergang HS-RS Schul-
Standardisierte Residuen -,3
-2,0*
,6
2,1
-,5
übergang HS-RS
Anzahl
4
52
56
13
1
126
ErwarteteAnzahl
3,7
44,2
58,9
18,4
,7
126,0
% innerhalbvon Schul3,2% übergang HS-RS
41,3%
44,4% 10,3%
,8%
100,0 %
Standardisierte Residuen ,2
1,2
-,4
-1,3
,3
Anzahl
60
80
25
1
RS
Gesamt
5
171
Tabelle 6.39: Kreuifabelle ftir Schulübergang HS-RS und Unterstiil:(JJng in schulischen Belangen Darüber hinaus ist bei den Schülern die familiäre Unterstützung bei der Lern- und Hausaufgabenpraxis zu ermitteln. Der größte Unterschied liegt hier in der Kategorie ,,immer", die bei den errechneten Hauptschülern mit einem Residuum von -2,0* signifikant unterbelegt ist. Entsprechend der Prozentwerte beträgt die Differenz zwischen Schülern mit Haupt- und Schülern mit Realschulübergang 23,5%. Hingegen weist die Tabelle die potentiellen Hauptschüler in der Kategorie "manchmal" mit 16,7% über dem Wert der Vergleichsgruppe aus, was die nachfolgende Kreuztabelle belegt. In schulischen Belangen scheinen die Kinder unterschiedliche Unterstützung aus den Elternhäusern zu erhalten. Die kann von gemeinsam gemachten Hausaufgaben über die Ergebniskontrolle bis hin zu einer Nachhilfelehrerin reichen. Die Schülerinnen und Schüler aus der Stichprobe wurden hierzu befragt
186
Darstellung der schriftlichen Befragung
und die Ergebnisse zeigen einen deutlichen Unterschied zwischen den beiden Schularten.
Berechnungen eines UMs mit sekundiiren soiialen Effekten aus Schiilersicht Auf die Berechnungen im LLM haben die drei Skalen nur eine geringe Relevanz hinsichtlich der errechneten Übergänge. Gehen die drei Skalen in die Parameterschätzung eines log-linearen Modells ein, ist lediglich für einen Parameter einen leichten Zusammenhang erkenn-bar.
Parameterschätzerw Parameter
Std.Schätzung Z Fehler
Konstante
1,792
,408
Schulübergang Hauptschule
-,405
Schulübergang Realschule
0'
Gute Beziehungzur Klassenlehrerin 2,962
Sig.
95%-Konfiden.zintervall Untergrenze
Obergrenze
4,389 ,000
,992
2,592
,645
-,628 ,530
-1,671
,860
,419
7,074 ,000
2,141
3,782
,671
-,982 ,326
-1,974
,656
wenigergute Beziehungzur Klassen- O, lehrerin Schulübergang Hauptschule * gute
Beziehung zur Klassenlehrerin (Hw. -,659
40.1) (1 Schüler)
Schulübergang Hauptschule * wenigergute Beziehungzur Klassen- O, lehrerin Schulübergang Realschule * gute Beziehungzur Klassenlehrerin
0'
Schulübergang Realschule * weniger gute Beziehungzur Klassenlehrerin 0'
Tabelle 6.40: E1J!,ebnis des UMs fiir den Übe1J!,ang HS-RS und der Beiiehung if/r Klassenlehrerin (.Ausif/g der ermittelten Einflussfaktoren) Die Zellenbelegung weist eine nichtsignifikante Unterbelegung für den Schulübergang in die Hauptschule und die Beziehung zur Klassenlehrerin aus (Hw. 40.1). Doch dies trifft nur für einen Schüler zu und deshalb soll lediglich auf diese Verknüpfung hingewiesen werden. Letztlich deutet der Wert auf ein "nicht so gutes Verhältnis" von Hauptschulübergängern zur Grundschulklassenlehrerin hin. Eine
Modell HS-RS + Beziehung zur Klassenlehrerin
3.2
+Z
2.5
1.9 6
0
-1.9
-2.5
-Z
>0.05 Z=0,98 >=0.05
>=0.01
>=0.001
Signifikanz p
HS: Beziehung zur KL
Legende: HS-Hauptschule; RSRealschule
-3.2
188
Darstellung der schriftlichen Befragung
6.10 Zusammenfassung Der vorangegangenen Analyse zur Beantwortung der drei Forschungsfragen liegt eine deskriptive Beschreibung der Schüler-, Eltern- und Lehrerantworten in der schriftlichen Befragung zugrunde.
Beurteilung des Sehulübergangs aus Sehüler- undEltemsieht Zur Einschätzung des Verlaufs der Schulartwahl wurden die Eltern und Schüler zur Zufriedenheit der erzielten Leistungen, einer möglichen Teilnahme am Testund Beratungsverfahren und zu dem von ihnen erwünschten Schulabschluss bzw. ihrer Wunschschule befragt. Für über die Hälfte der befragten Eltern kommt eine Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren gar nicht in Frage. Ausgangspunkt dafür sind unter anderem die Leistungen der Kinder im 4. Schuljahr, die knapp 40% der befragten Eltern sehr zufrieden stellend einschätzten. Immerhin noch 23% der Eltern waren mit den Leistungen ihrer Kinder zufrieden. Als zusätzlichen Indikator kann auf Elternseite die ebenfalls abgefragte Kernfachnote herangezogen werden und die lag im Durchschnitt bei gut bis befriedigend. Auf Elternseite muss von einer hohen Erwartungshaltung ausgegangen werden, denn nach dem gewünschten Schulabschluss für ihr Kind gefragt, gaben 67% an, dass sie sich einen Abschluss wünschen, der einen Hochschulzugang ermöglicht. Einen Hauptschulabschluss ziehen hingegen nur 3% in Betracht. Aus den Einschätzungen der befragten Eltern lässt sich schließen, dass sie vorwiegend eine positive Sichtweise auf den Entscheidungsprozess haben. Das ist in der Deutlichkeit überraschend, weil etwa der Anteil an Eltern mit Migrationshintergrund dem Landesdurchschnitt entspricht und knapp ein Viertel der Kinder zweisprachig aufwachsen. Auf der Datenbasis wäre ein höherer Anteil an Familien zu erwarten gewesen, die eine schwierigere Schulartwahl durchlaufen und in höherem Maße das Test- und Beratungsverfahren in Betracht ziehen. Eine solche Vermutung legen zumindest die Ergebnisse der PISA-Studie (2006) nahe. Aus Schülersicht ergibt sich für den Verlauf des bisherigen Schuljahrs unter Leistungsgesichtspunkten ein etwas anderes Bild. Gerade einmal 8,5% der Kinder sind mit ihren Leistungen " sehr zufrieden", 16,5% sind noch " zufrieden" und 33% der Kinder gaben an gar nicht zufrieden zu sein. Das wirkt sich auch auf die Aussagen zu einer möglichen Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren aus. Bei den Kindern würden ein Viertel im Zweifelsfall unbedingt an einem Test- und Beratungsverfahren teilnehmen und nur für 35,5% der Kinder kommt eine Teilnahme gar nicht in Frage. Damit fällt die Einschätzung der Kinder zur Schulartwahl insgesamt etwas kritischer aus als bei den Eltern. Obwohl die Kinder sich bei den Noten gut einschätzten, deuten die beiden anderen Fragen auf einen schwierigeren Verlauf des ersten Schulhalbjahrs der vierten Klasse hin als erwartet.
Darstellung der schriftlichen Befragung
189
Ein Ergebnis der Fragestellung nach der Einschätzung des Schulartwahlverlaufs aus Sicht der Akteure ist, dass Eltern höherer sozialer Schichten den Verlauf als tendenziell unproblematischer ansehen. Indirekt werden damit die Erkenntnisse der LAU-Studien (Lehmann, u.a. 1997) bestätigt, die für diese Gruppe einen niedrigen Aufwand nachweisen in die höheren Schularten zu gelangen. Ebenso lässt sich eine Parallele zu den Resultaten von Büchner und Koch (2005) ziehen, die den Einfluss dieser Familien auf eine positive Schulleistungsentwicklung der Kinder in der Grundschule nachweisen. Mit den hier erhobenen Einschätzungen lässt sich nun für die teilnehmende Elternschaft eine Aussage zur geringen Relevanz von Interventionsoptionen und deren hohen Bildungsanspruch auf Elternseite treffen.
Einflussfaktoren aufden eingeschränkten Schu/iibergang in Haupt- undRealschule Der zweiten Fragestellung liegt ein Konstrukt von primären und sekundären Herkunftseffekten zugrunde. Aus den beiden Effekten sollten mit Hilfe einer loglinearen Mode1lrechnungmögliche Einflussfaktoren für den Übergang Haupt- und Realschule ermittelt werden. Ein erster signifikanter Hinweis ergibt sich für die Kombination aus den drei Faktoren Geschlecht des Kindes, seiner Muttersprache und dem höchsten Schulabschluss der Eltern. In der Verknüpfung ergibt sich ein signifikantes Ergebnis für die Kombination aus errechnetem Hauptschulübergang und keinem oder einem niedrigen Schulabschluss der Eltern und somit ist eine Überbelegung in der Zelle vorhanden (p=0,002). Bei einigen Schülern scheint sich der niedrige Schulabschluss der Eltern negativ auf den eigenen Schulübergang auszuwirken. Darüber hinaus gibt es bei den primären Effekten noch den Hinweis auf Einflüsse der Herkunft und der beruflichen Stellung der Eltern . Während die Kinder von Angestellten ohne Migrationshintergrund in der Realschule überrepräsentiert sind, gehen mehr Arbeiterkinder mit elterlichem Migrationshintergrund in die Hauptschule. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Stubbe (2009) und Harazd (2007) mit ihren Untersuchungen im Hinblick auf die sekundären Herkunftseffekte. Auch sie weisen den Bildungsstatus der Eltern als Einflussfaktor auf den Schulübergang nach, der sich mit den vorliegenden Ergebnissen punktuell bestätigen lässt. Einschä'r.(Jing i!' den Entscheidungsträgern nach Schiiler-, Eltern- undLehrersicht Für die Beantwortung der dritten Forschungsfrage ging die Einschätzung der Beteiligung am Schulartwahlprozess in eine eindimensionale Kreuztabelle ein, mit der die erhobenen den erwarteten Nennungen gegenübergestellt wurden. Nach Ansicht der Kinder sind sie mit 63,3% "sehr stark beteiligt" an der Entscheidungsfindung und die Eltern votieren mit 57% für eine ebensolche Beteiligung ihrer Kinder. Von den Grundschullehrerinnen sehen nur knapp 19% die Kinder " sehr stark beteiligt" und weichen damit signifikant (Residuum -2,4) vom erwarteten Wert ab. Auf die
190
Darstellung der schriftlichen Befragung
Mütter entfielen 65,4% der Nennungen für die Kategorie "sehr stark beteiligt" und sie ist damit am höchsten eingeschätzt. Der Vater wird von den Akteuren deutlich weniger "sehr stark beteiligt" gesehen, denn ihn votieren nur 50% in diese Kategorie. Insgesamt aber werden die Eltern als die Hauptentscheidungsträger angesehen. Auf die Grundschullehrerinnen entfallen auf "sehr stark beteiligt" gerade einmal 35% und die Lehrerinnen liegen damit fast ein Drittel hinter den anderen Akteuren zurück, obwohl die Lehrkraft für die Vergabe der Bildungsempfehlung verantwortlich ist. Eltern und Kinder sehen sich hingegen als die beiden zentralen Akteure des innerfamiliären Schulartwahlprozesses, der abgekoppelt ist von der schulischerseits ausgesprochenen Bildungsempfehlung. Die Ergebnisse lassen auf einen inner- und außerfamiliären Entscheidungsfindungsprozess schließen, der sich nach den schulischen Vorgaben ausrichtet. Auf Seiten der Grundschule erfolgt die Festschreibung notenbasiert und ohne direkte Beteiligung der Eltern. Innerfamiliär richtet sich die Schulartwahl auf der Grundlage der Bildungsempfehlung am Urteil der Mutter, des Vater und des Kindes aus. Nach Einschätzung der Beteiligten im untersuchten Entscheidungsrahmen wirken Kinder aus eigener Sicht und der der Eltern sehr wohl an der Schulartwahl mit. Das erweitert die Beurteilung Boudons (1974), der die Eltern und Lehrer als vorrangige Entscheidungsträger sieht.
7
Darstellung der mündlichen Befragung
7.1
Das Erhebungsverfahren der mündlichen Befragung
Die mündliche Befragung ist als zweite sequenzielle Teilerhebung angelegt und richtet sich in ihrem Design, Auswertungsverlauf und der Interpretation der Teilergebnisse zielbezogen an den drei Forschungsfragen aus. Von der Auswahl der Probanden, der Entwicklung des Leitfadens für die Schüler-, Eltern- und Lehrerinterviews bis hin zur computergestützten Auswertung der Daten mit dem Programm Atlas.ti orientierte sich die Erhebung zunächst an der Frage nach der Sicht der Probanden auf die Schulartwahl und welche Einschätzungen sie zur Erreichung ihrer Zielsetzung und zum Verlauf des Entscheidungsprozess haben. Mit der zweiten Frage wird geklärt, welche Einflussfaktoren die Akteure hinsichtlich der Schulartwahl anführen, um ihre individuelle Perspektive oder Argumentation deutlich zu machen. Schließlich wird mit der dritten Fragestellung der Umfang der Beteiligten am Entscheidungsprozess untersucht.
7.1.1 ZumAblaufder mündlichen Befragung Bei der Durchführung der qualitativen Interviews kamen drei bzw. vier Instrumente zum Einsatz: ein Gesprächsleitfaden, eine elektronische Tonaufzeichnung, das Postskriptum und auf Elternseite ein Kurzfragebogen. Vor dem eigentlichen Interview wurden in den Familien über einen Kurzfragebogen demografische Daten abgefragt, um das nachfolgende Interview nicht mit einem "Frage-AntwortSpiel" beginnen oder beenden zu müssen. Die Aufzeichnung der Gespräche mit einem elektronischen Aufnahmegerät ermöglichte die "authentische und präzise Erfassung des Kommunikationsprozesses" (Witzel2000, S. 4). Im Anschluss sollten die Interviews möglichst rasch transkribiert und die Rahmendaten in einen elektronischen Steckbrief eingearbeitet werden. Darin wurden Anmerkungen zu Gesprächskontexten, -verläufe, "inhaltliche und thematische Auffilligkeiten" in die Memos der den Beteiligten zugeordneten "Primary Documents" eingegeben und als Postskriptum abgelegt. Zur Analyse fand die Auswertungssoftware Atlas.ti Verwendung. Die Gespräche mit den Lehrerinnen und Lehrern erfolgten überwiegend an deren Schulen und dauerten in der Regel 45-60 Minuten. Hierbei wählten die Lehrkräfte der weiterführenden Bildungseinrichtungen meist Hohlstunden in ihrem vormittäglichen Unterrichtsablauf aus. Auf Seiten der Grundschullehrerinnen wurden vorwiegend Nachmittagstermine im schulischen und häuslichen Rahmen angestrebt. Um ein möglichst natürliches Gespräch zustande kommen zu lassen, sollten alle Eltern- und Schülerinterviews im familiären Wohnumfeld der ProbanT. Wiedenhorn (eds.), Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, EIternund Lehrersicht, DOI 10.1007/978-3-531-93060-2_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Darstellung der mündlichen Befragung
192
den stattfinden. In dem Rahmen erstreckten sich die Elterngespräche etwa über einen Zeitraum von 60-90 Minuten. Die durchschnittliche Gesprächsdauer bei den Schülerinnen und Schülern lag hingegen bei knapp 25-30 Minuten. Die Eltern waren im Vorgespräch darum gebeten worden nicht an den Interviews ihrer Kinder teilzunehmen und umgekehrt. Bei einer solchen Konstellation ist mit einer beeinflussenden Wirkung auf alle Beteiligten auszugehen. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die Eltern als Korrektiv fungieren und die Kinder in deren Aussagen und Redefluss unterbrechen und verbessern. Doch nicht immer ließ sich das bei allen Interviews vermeiden, so dass u.a. kleinere oder größere Geschwister oder eben Eltern am Interview direkt oder indirekt teilnahmen. Zu Beginn eines jeden Gesprächs wurde den Beteiligten die Gewährleistung ihrer Anonymität zugesichert. Die Befragung erfolgte jeweils einzeln oder mit beiden Elternteilen zusammen. Der folgende zweite Erhebungstermin lag zeitlich gesehen nach der Ausgabe der ersten Halbjahresinformation in der weiterführenden Schille und erstreckte sich über einen Zeitraum von Februar bis April. Bis dahin sollte der Übergang in vollem Umfang vollzogen und die Schüler über die Einfühmngsphase in der neuen Schu1art hinausgekommen sein. Auch hier fanden alle Interviews im häuslichen Umfeld der Familien statt. Für die Durchfühmng der Interviews bewährte sich die Reihenfolge, zuerst die Schüler und dann die Eltern zu befragen. Für den zweiten Messzeitpunkt ergab sich folgendes Forschungssample: Bildungsemp-
fehlung
Interview
-
nummer.
LKRStK/ Region
Geschl. Kind/ Alter/
Geschwisterzahl/ Alter
Familienstand/ Beruf 01-M)/ berufstätig
Interview mit...
2/6]. u. 13J.
verheiratet/ D ipl.-Ing. Fördertechnik (V)/ nein Magister in Anglistik (M)/ nein
S-M-V
1/11].
verheiratet/ Maurer (V)/ ja Arzthelferin (M)/ ja
T-MV (nur MZP 2)
Hauptschule (realisierte Schulart)
HS
Interview Nr.6 (Familie A1lhamdani)
Stu/ hv,
HS
Interview Nr.7
Rav./ länd.
M/lO].
W/9].
Darstellung der mündlichen Befragung
HS
Interview Nr.9
Stu./ hv.
W/1O].
193
1/18].
geschieden/ Küchenhilfe (M)/ ja
T-M
3/6]. 14J. u. 19].;
mit Partner/ Servicetechniker (P)/ ja Rechtsanwaltsgehilfin (M) / nein
T-M
1/8].
verheiratet/ Handel Im-Export M/ ja Vorarbeiterin (M)/ ja
T-M
Realschule (realisierte Schulart)
GY
HS
Interview Nr.l (Familie Walk) Interview Nr.S (Familie Chemni)
Stu./ vd.
Rav./ Länd.
W/9].
W/ll]'
Gymnasium (realisierte Schulart)
GY
Interview Nr.4
Stu./ vd.
W/l0],
1/7].
GY
Interview Nr.3
Rav./ Länd.
W/9].
2/6]. u. SW.
GY
Interview Nr.2 (Familie KochMarmia)
Stu./ hv,
M/9].
1/8].
verheiratet/ KFZ-Meister M/ ja Hausfrau (M)/ nein verheiratet/ Selbständiger M/ ja Hausfrau (M)/ nein geschieden/ Sozialpädagogin (M) / ja
T-MV T-MV
S-M
Gymnasium (Wechsel in ein anderes Bundesland) (realisierte Schulart)
GY
Interview Nr.8
Stu./ hv.
W/8].
2/10]. u.12].
verheiratet/ Akademischer Mitarbeiter M/ ja Hausfrau (M)/nein
T-M
Legende: T = Tochter; S = Sohn ; V =Vater; M = Mutter; W = Weiblich; M = Männlich ; P = Partner; W. = Wochen; hv. = hochverdichtet; v, = verdichtet; länd. = ländlich ; HS = Hauptschule; RS = Realschule; GY = Gymnasium; Mag. = Magister (univcrs , Abschluss), J. = Jahre ; Stu. = Stuttgart; Rav, = Ravensburg
Abbildung 7.1: Sample der vorliegenden Untersuchung !\!im 2. Messzeitpunkt (Juli 2008)
194
Darstellung der mündlichen Befragung
7.1.2 DieAtiSwahl undAnsprache der Probanden und Verlaufder Befragung Bei der Auswahl potentieller Interviewteilnehmerinnen im qualitativen Teil stand zunächst das Kriterium der Nichtteilnahme an der schriftlichen Befragung zum Messzeitpunkt (1. MZP) im Vordergrund. Nach ersten Hinweisen der Grundschullehrerinnen beim Einholen der Rückläufe, die sich später durch die deskriptiv-statistische Eingangsprüfung bestätigten, war die Teilnahme von Eltern bzw. Kindern mit einem Schulübergang im unteren Grenzbereich in einem schwierigen sozialen Umfeld nur in sehr geringen Umfang repräsentiert. Bei der Ausrichtung der qualitativen Untersuchung ging es zunächst darum, die im quantitativen Abschnitt teilnehmenden Probanden der Gesamtstichprobe zu spezifizieren, um den fehlenden Anteil der Stichprobe auf die Grundgesamtheit hin ergänzen zu können. Was sich zunächst als Vermutung darstellte, spezifizierte sich nach der deskriptiven Auswertung der quantitativen Fragebogendaten in vier Kernpunkten.
•
•
•
•
Der Stichprobe fehlen zur Population in Baden-Württemberg vorrangig Eltern und Schüler mit abweichender Einschätzung zur Bildungsempfehlung in die Hauptschule und das Gymnasium. Im ersten Untersuchungsabschnitt haben lediglich 43 Eltern (von 461) bzw. 64 Schüler (von 464) und Eltern teilgenommen, die im Fragebogen angaben, nicht mit der Schulartempfehlung der Grundschullehrerin überein zu stimmen. Zudem ist die Fragebogenerhebung unterrepräsentiert an Schülern, für die eine Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren in Frage kommt. Nur ein Viertel aller Schüler (25,4% oder 117) gaben an im Falle einer uneindeutigen Notenlage ein Test- und Beratungsverfahren durchlaufen zu wollen. Die Stichprobe weist eine Diskrepanz zum statistischen Durchschnitt aller Beschäftigten in Baden-Württemberg an Arbeitern aus, zudem gibt es keine Angaben im Elternfragebogen über Eltern, die nicht erwerbstätig sind. Nach Aussage einer ganzen Reihe von Grundschullehrerinnen konnten diejenigen Eltern und Schüler mit einem Haupt- oder Sonderschulübergang auf dem Kontext schwieriger Lebensumständen und einem problematischen sozialen Umfeld nicht mit dem Fragebogen erreicht werden. (s.o. Kapitel 4.2.1).
Für den weiter zu planenden Untersuchungsverlauf leiteten sich hieraus drei Kriterien für die Auswahl von möglichen Probanden einer mündlichen Befragung ab. Die in gewisser Weise "typischen fehlenden Fälle" werden über die Merkmale des geplanten Schulübergangs (Noten), die Abweichungen von Eltern- und Schülerwille von der ausgesprochenen Bildungsempfehlung und eine Teilnahme am Test-
Darstellung der mündlichen Befragung
195
oder Beratungsverfahren ausgemacht. Die Ansprache und die Einholung der familien- und schulartspezifischen Informationen zu den einzelnen Familien sollten erneut über die Klassenlehrerinnen erfolgen. Sie stellten das Bindeglied zwischen Forscher und Schulklasse dar, was die Gefahr beinhaltete, dass wiederum eine Reihe von angesprochenen Eltern die Kontaktaufnahme im schulischen Kontext ablehnte. Aus dem Grund galt es vor einer möglichen Auswahl die Bereitschaft, der zur Verfügung stehenden Eltern , abzuwarten. Alle Eltern und Schüler, die nicht an der Fragebogenuntersuchung zum ersten Messzeitpunkt (1. MZP) teilnahmen, wurden durch einen Eltern-Schülerbrief über den weiteren Untersuchungsverlauf informiert. Über eine direkte Kontaktaufnahme konnten zwölf Schüler-Eltern Paare für eine Teilnahme gewonnen werden. Von diesen stellten sich nach Rückfrage neun Eltern zur Verfügung. Das entspricht einer Gesamtzahl von 54 möglichen Befragungen, von denen sich zu den beiden Messzeitpunkten 44 Interviews mit Eltern, Schülern und den schulartbezogenen Lehrerinnen realisieren ließen. Aufgrund der geringen Anzahl an Probanden kam es in zwei Fällen zu einer Dopplung der Grundschulklassenlehrerinnen, d.h. die interviewten Schülerinnen besuchten die gleiche Grundschulklasse. Eine Auswahl der Interviews sollte für den Fall einer Auswahlmöglichkeit nach den drei folgenden Kriterien vorgenommen werden, die sich zum einen aus den theoretischen Überlegungen ableiteten und zum anderen als Ergänzung der Stichprobe um die fehlenden Probanden fungierten. 1.
2. 3.
Die Schülernoten lagen im Grenzbereich für den Übergang in die Haupt-, Realschule oder das Gymnasium. Eine Auswahl erfolgte in der Reihenfolge der Schulartwahl nach 1.) Hauptschule, 2.) Gymnasium und 3.) Realschule. Bei Familien mit Migrationshintergrund sollte ein ähnlicher kultureller Hintergrund gegeben sein. In den ausgewählten Interviews ist es in zwei Fällen ein arabischer Kulturkreis.
Zu den neun Interviewpaaren wurden zum zweiten Messzeitpunkt die Grundschullehrerinnen einbezogen, von denen zwei aus Krankheitsgründen nicht teilnehmen konnten. Zwei Interviewpaare (Eltern-Schüler) gingen im Rahmen eines Pretests mit in die Untersuchung ein. Zum dritten Messzeitpunkt nahm eine Familie aus ungenannten Gründen nicht mehr an der Befragung teil. Eine weitere Familie zog nach Nordrhein-Westfalen um, so dass das Schüler-, Eltern- und Lehrerinterview nicht persönlich erfolgen konnte . In diesem Fall erklärte sich die Mutter bereit, die Fragen schriftlich zu beantworten und das Interview mit ihrer Tochter zu führen. Von den Lehrerinnen und Lehrern der weiterführenden Schulen standen bis auf die Lehrerin des vom Umzug betroffenen Kindes alle für ein Interview zur Verfügung.
196
Darstellung der mündlichen Befragung
7.2
Leitfadengestützte Interviews zur Durchführung der qualitativen Untersuchung
Die standardisierten Fragebögen, die beim ersten Messzeitpunkt zum Einsatz kamen, eröffnen einen Blick auf die deskriptive Verteilung eines größeren Ausschnitts aus der Population der drei Beteiligtengruppen. Mit der Erhebung der Interviews sollte eine subjektiv-exemplarische Darstellung des schulartspezifischen Übergangs in die Haupt-, Realschule und das Gymnasium aus Sicht der Familien und der beteiligten Lehrerinnen im "Grenzbereich" möglich werden. Auf der Grundlage der Technik eines qualitativen Leitfadeninterviews (vgl. Friebertshäuser 1997. S. 375 ff.) wurden die Befragungen durchgeführt und mit Hilfe elektronischer Medien aufgezeichnet. Zum Einsatz kam ein halbstandardisierter Gesprächsleitfaden, der einerseits durch vorformulierte Fragestellungen und Stichpunkte strukturierte und andererseits im Hinblick auf einen flexiblen Verlauf den individuellen Schulartwahlverlauf und die individuelle Sichtweise auf den Übergangsprozess offen legte. Im Vordergrund der Auswertung standen die von den Gesprächspartnern vertretenen Positionen und subjektiven Perspektiven, die direkt oder indirekt herausgearbeitet wurden . Der Leitfaden sollte die Möglichkeit bieten, mit einer flexiblen Abfolge der Fragen und Themen dem individuellen Gesprächsverlauf zu folgen. Der Leitfaden diente als Gerüst und wurde so offen formuliert, ,,[.. .] dass er dem Gesprächspartner die Möglichkeit bietet, frei seine Sichtweisen zu erzählen" (ebd., S. 384). Bei der Interviewführung galt es den Befragten einen möglichst großen Artikulationsraum einzuräumen. Um eine inhaltsspezifische Vergleichbarkeit herzustellen, waren neben der individuellen-problemorientierten Ausrichtung verschiedene Themenschwerpunkte vorgesehen. Der Erarbeitung der Leitfragen lagen die Forschungsfragen und der Theoriehintergrund der vorangegangenen Kapitel zugrunde. Eine offene Anlage der Interviews hatte sich in den vier als Pretest durchgeführten Interviews nicht bewährt. Die Eltern und Schüler blieben in allen Fällen auf einer ganz eigenen problemorientierten Ebene stehen, die in den jeweiligen Relevanzstrukturen und Argumentationslinien nicht themenbezogen miteinander verglichen werden konnten.
7.2.1 Zur Funktion des Interoiewleitfatlens Zum zweiten Messzeitpunkt kam der folgende Leitfaden zum Einsatz (Tab. 7.1), der für Face-to-Face Interviews Verwendung fand. Ziel war es, die persönliche Meinung und Haltung der Probanden durch halboffene Fragen einzuholen (vgl. Mayer 2004, S. 36f.). Zudem galt es, die Interviewten ihre "Story" von der Bildungsentscheidung und von der Schulartwahl aus ihrer individuellen Sicht schildern zu lassen, die quantitativen Detailinformationen des ersten sollten um die des
Darstellung der mündlichen Befragung
197
zweiten Messzeitpunkts spezifizieren werden. Die Fragen mussten so gestellt sein, dass sie prägnant, präzise, eindeutig verständlich und leicht zu beantworten waren (vgl. Brosius; Kosehel 2001. S. 111f.). Zu berücksichtigen galt es dabei das spezifische Alter der Schülerinnen und Schüler bei der Entwicklung, das zum Zeitpunkt des Interviews in der Regel zwischen 9 und 10 Jahre lag. Während die Lehrerinnen mit einem Expertinnenwissen in das Interview gingen, wurde bei den Eltem eine ganz individuelle auf das eigene Kind ausgerichtete nutzenorientierte Sichtweise vorausgesetzt. Der Leitfaden diente im Interview der Orientierung und Gedächtnisstütze'e, anband dessen nach einer möglichst offen formulierten Eingangsfrage darum möglichst viele Erzählanreize an zu bieten . Der Forschende sollte auf die Leitfragen ,,im Idealfall als eine .Art Hintergrundfolie" zurückgreifen können (Schmidt-Wenzel2008, S. 64). Die Konstruktion der Interviewleitfaden für Schüler und Lehrerinnen basierte thematisch auf dem Grundgerüst des Eltem- und Schülerleitfadens. Diese beiden standen im Mittelpunkt der Erarbeitung, da sich hieraus die zentralen familiären Basisinformationen ableiteten. Das Lehrerinneninterview hingegen wurde als ein "Experteninterview" mit einer professionalisierten Lehrkraft angesehen und wurde spezifisch auf die jeweilige Schul-, Klassen- und Schülersituation hin ausgerichtet. Auf Seiten der Lehrerinnen war eine distanziert -reflektierte Grundhaltung zu erwarten, so dass die Aussagen zur Bildungsentscheidung auf einem hohen Abstraktionsniveau erfolgen konnten. Eltem- und kinderseits sollte eine Frageausrichtung auf Suggestiv- oder Erwünschtheitsebene vermieden werden . Hierzu zählten auch etwaige direkte Fragen nach Bildungskosten oder die Beteiligung der Kinder bei der Schulartwahl. Sollte sich im Verlauf des Interviews bestimmte Tabuthemen herauskristallisieren, so galt es diese nicht weiter zu verfolgen. Für die Transkription gab es feste Regeln, nach denen die Interviews verschriftlicht wurden. Die Erarbeitung und Festschreibung erfolgte noch vor der Durchführung.
54
"Der Einsatz eines strukturierten Interviewverfahrens ist dadurch begründet, dass sich das Erkenntnisinteresse auf einen klar definierten Wirklichkeitsausschnitt richtet [...]." In den Interviews werden die Beteiligten als Repräsentanten der institutionellen Praxis der SchulartwahI gesehen. In dieser Praxis wird ihnen ein Expertenstatus zugesprochen (Schweppe 2003, S. 110).
198 7.3
Darstellung der mündlichen Befragung Die Forschungsfragen für das Leltfadeninterviewse
Drei zentrale Fragekomplexe wurden der Entwicklung des Kategoriensystems und des Interviewleitfadens bei der Erarbeitung zugrunde gelegt. Dabei standen diejenigen Übergänge im Fokus, bei denen Bildungsaspirationen und -empfehlungen auseinander gingen und die im "Noten-Grenzbereich" verliefen:
Erster Leitfragenbereich: Wie beurteilen die Schüler-, Eltern- und Lehrer den Schulübergang und welchen Problemgehalt messen sie ihm bei? (F.1.1) Zweiter Leitfadenbereich: Auf welche der benannten Ebenen (persönlich, schulisch, familial und sozial/gesellschaftlich) beziehen sich die Beteiligten im Entscheidungsprozess der eingeschränkten Schulartwahl und welche von ihnen werden als besonders relevant erachtet? Welche Kriterien legen Eltern und Lehrer ihrem Schulartwahlprozess zugrunde? (F2.2) Dritter Leitfadenbereich: Wie schätzen Schüler, Eltern und Lehrer ihre Anteile an der Schulartentscheidung entsprechend ihrer individuellen Wahlsituation ein? (F3.1) Die drei Fragekomplexe bildeten das Grundgerüst und den Ausgangspunkt für die leitfadengestützten Interviews (vgl. Abb. 7.2). Zu den drei Bereichen wurden vertiefende Fragen für den Leitfaden erarbeitet. Diese beziehen sich zum einen auf vertiefende Informationen zu den primären und sekundären sozialen Effekten. Darüber hinaus wurden die Fragebereiche Schule und Beratung, Kosten-Nutzen Aspekte der Schulartwahl und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes aufgenommen. Der vorrangig zum ersten Messzeitpunkt zum Einsatz kam und zum 2. MZP in entsprechender Form an die temporären Veränderungen angepasst wurde. Für den ersten Messzeitpunkt sieht der Leitfaden folgendermaßen aus:
55
Der Begriffe des Leitfadeninterviews ist der Oberbegriff für das Vorgehen im Interview nach einer bestimmten Art und Weise. Der Leitfaden kann hierbei unterschiedlich stark strukturiert sein, so dass die Befragten das Gespräch selbst lenken oder der Interviewer den Gesprächsfluss vorgibt. Bei der geschlosseneren Variante entscheidet der Interviewer, wann welches Thema angesprochen wird. Der Interviewleitfaden kann deshalb eine Reihe von unterschiedlich dezidierten Fragen aufweisen (vgl. Helfferich, C. 2005).
Darstellung der mündlichen Befragung
199
~: Der Forscher sagt kurz etwas zu seiner Person und seinem Forschungsvorhaben. Für die Eltern ist folgender Einführungstext vorgesehen: Mit meinen Fragen geht es darum herauszufinden, wie Sie sich für die Haupt-, Realschule oder das Gymnasium entschieden haben, was Sie sich dazu überlegt haben und wer alles daran beteiligt war.
N
r
I. Einschätzungen zum Schulartwahlverlauf Schulwechsel auf die weiterführende Schule
1 Fragen zum Stand der Schulartwahl?
Schulische Leistungen in der Grundschule
2
Wie ist das 4. Schuljahr Ihres Sohnes/ Ihrer Tochter verlaufen?
• Auf welche Schulart wird Ihr Sohn/ Ihre Tochter im nächsten Schuljahr Kinf Welche Wunschschule hatte Ihr Kinfd Welche Bildungsempfehlung wurde für Ihr Kind ausgesprochen? Entspricht die zukünftige Schulart Ihrem Wunsch oder Ihren Vorstell~en? Sind Sie mit den schulischen Leistungen Ihres Kindes zufrieden? Stimmen die schulischen Leistungseinschätzungen mit Ihren eigenen überein? Wie gestaltete sich die Entwicklung der Noten im 3. und 4. Schuljahr (in den Hauptfächern)? Kam es im Verlauf des Schulwahlprozess zu Problemen? Hat Ihr Kind irgendein Defizit, das die schulischen Leistungen einschränkt? (ADHS/ LRS usw.) Halten Sie die erzielte Bildungsempfehlung und die Noten für 2erechtfe~?
·
II. Phasen der Entscheidungsfindung Entscheidungsprozess der Schulartwahl
3 Ihr Weg zur Bildungsentscheidung
- Wie reibungslos verlief der Schulartwahl- prozess aus Ihrer Sicht? Gründe? - Gab es kritische Stellen? - Wie zufrieden sind Sie mit der Unterstützung von Seiten der Schule? - Wie viele Beratungsgespräche haben Sie mit dem Klassenlehrer zur Schulwahl gef"lihrt? Was wurde thematisch angesprochen? • Wie sehr haben Sie sich von der Einschätzung der Lehrerin leiten lassen?
III. Kategorien der Schulwahlkriterien
Schule und Entscheidung
4 Der Einfluss der Grundschullehrerin
- Geht Ihr Kind gerne in die Grundschule? - Wie schätzen Sie Ihr Verhältnis zur Klassenlehrerin ein? - Wie schätzen Sie die Leistungen von ... (Name des Kindes) im 4. Schuljahr in Deutsch und Mathematik ein? - Wie wichtig war Ihnen die Meinung der Klassenlehrerin zur Schulartwahlentscheidung? - Welche Erwartungen haben Sie an die neue Schule? - Was verrändert sich mit der neuen Schulart?
200
Darstellung der mündlichen Befragung
Informationen, Verlauf und Beratung
5 Wie ist die Schulartwahl verlaufen?
Äußere Einflussfaktoren 6 Welche äußeren Einflüsse kamen im Verlauf dazu?
7
Innerfamiliärer Entscheidungsfindungsprozess Die Familie entscheidet - wer alles Anteil hat?
8
1fateriellerundimmaterieller Nutzen und Kosten Von Kosten und Nutzen von Bildung
Der persönliche Entwicklungsprozess des 9 Kindes Persönliches zum Kind
- Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie sich für Ihren Sohn/Ihre Tochter bald für eine bestimmte Schulart entscheiden müssen? - Wie kamen Sie zu Ihren Informationen über die drei Schularten? - Können Sie sich noch an einzelne Abschnitte/Schritte der Schulartwahl erinnern? - Welche Zeit während der Wahl ist Ihnen noch besonders in Erinnerung (warum)? - Wäre für Sie ein Beratungs- oder Testverfahren für Ihr Kind in Frage gekommen? - Ist für Sie der Wahlvor~abgeschlossenj - Wie wichtig waren für Sie Gespräche mit Verwandten, Freunden oder anderen Eltern? - War das Wahlverhalten Thema bei Elternabenden oder Stammtischen? - Wie schätzen Sie den Einfluss der Freunde oder Mitschüler auf die Entscheidung Ihres Kindes ein? - Darf ich Fragen welchen Schulabschluss haben Sie und Ihr Mann und welchen Beruf üben Sie aus? - Haben Sie sich über die Länge der Schulzeit usw. Gedanken gemachti' - Wie wichtig waren für Sie Gespräche mit Verwandten, Freunden oder anderen Eltern? - War das Wahlverhalten Thema bei Elternabenden oder Stammtischen? - Wie stark schätzen Sie den Einfluss der Freundinnen oder Klassenkarneradinnen auf die Entscheidung Ihres Kindes ein? - Darf ich Fragen welchen Schulabschluss haben Sie und Ihr Mann und welchen Beruf üben Sie aus? - Wie schätzen Sie die drei Schularten hinsichtlich deren Bildungschancen ein? - Wie sind Ihrer Meinung nach die Berufschancen Ihrer Tochter mit dem zu erwartenden Abschuss? - Haben Sie sich Gedanken gemacht über etwaige Kosten für Schule oder Ausbildung? - Glauben Sie, dass Ihr Sohn seine beruflichen Wünsche mit dem erwarteten Schulabschluss verwirklichen kann? - Wie ist die persönliche Entwicklung Ihres Kindes im letzten Jahr verlaufen? - Wie wird Ihr Kind ihrer Einschätzung nach mit dem Schulübergang und den Anforderungen der neuen Schulart zurechtkommen? - Wo liegen die Stärken und Schwächen Ihres Kindes?
Am Schluss des Interviews bedankt sich der Forscher für das Gespräch.
Tabelle 7.1: Leitfragenfiir das Elteminterview
Darstellung der mündlichen Befragung 7.4
201
Die Vorgehensweise bei der Auswertung
Für die Auswertung wurden zunächst alle Interviews nach den Transkriptionsregeln (s.u. Anhang) transkribiert und in die Auswertungssoftware Atlas.ti importiert. Das Programm ist auf dem Hintergrund der in der qualitativen Sozialforschung vorherrschenden Auffassung zu verwenden, dass eine Software nicht die Aufgabe des Auswertens übernehmen kann. Es ermöglichte lediglich die Automatisierung im Sinne einer Strukturierung und zeitnahen Auswertung einer größeren Menge von Interviewdaten. Eine Analysesoftware hilft zudem ,,[...] Formalisierungspraktiken wie Kodierung, Paraphrasierung oder Sequenzierung zu medialisieren und damit zu veräußerlichen. Sie hat dabei den Vorteil, dass die Äußerungen im Volltext durchsucht, Kodings strukturiert ausgegeben sowie Zuordnungen und komplexe Strukturen abgebildet werden können" (Wrana 2006,.: 166). Die Software ist ursprünglich für die Auswertung von Grounded Theory Forschungen entwickelt worden und orientiert sich strukturell an deren Vorgehensweise (vgl. Muht 1994). Für die Auswertung werden die Schüler-, Eltern- und Lehrerinneninterviews einer Familie für beide Messzeitpunkte jeweils als Einheit behandelt, um leichter Analogien und Differenzen ausmachen und Vergleiche vornehmen zu können. Im Anschluss gilt es alle Interviews entsprechend dem Auswertungsmanual zu kodieren und im Hinblick auf die Fragestellungen auf ihre inhaltlichen Bedeutungsebenen hin zu analysieren. Über alle Interviews hinweg wird eine strukturierende Inhaltsanalyse angewandt, um die inneren Zusammenhänge entsprechend der thematischen Ausrichtung und Argumentation zu untersuchen. Mit einem Auswertungsmanual soll eine Strukturierung der Antwortformate nach inhaltsgleichen Aussagen möglich sein. Aus den vergebenen Kodes wird eine nach den Forschungsfragen gegliederte schriftliche Strukturierung verfasst, die alle wichtigen Interviewsequenzen zusammenführt. Sie soll die Sichtweise und die den Argumentationsverläufen zugrunde liegende Struktur einer individuellen Schulartwahl offen legen. Für die zweite Fragestellung werden die Kodes auf ihre thematischargumentativen Linien hin untersucht. Diese sollen Aufschluss über die Verteilung der zur Entscheidungsfindung thematisierten primären und sekundären sozialen Effekte geben. Um möglichst nahe an den Kodes und der Zielrichtung der Aussagen zu bleiben, wird auf die vorgesehene Themenfrequenzanalyse verzichtet. Stattdessen wird für die Auswertung auf die strukturierende Inhaltsanalyse nach Mayring (2003) zurückgegriffen.
1.4.1 Die Verfahrensweise der strukturierenden InhaltsanaIJse Die zentralste inhaltsanalytische Auswertungstechnik soll helfen, mögliche Strukturen aus dem Interviewmaterial herauszuarbeiten. "Alle Textbestandteile, die durch
202
Darstellung der mündlichen Befragung
die Kategorien angesprochen werden, werden dann aus dem Material systematisch extrahiert" (ebd., 75). Zunächst gilt es die grundlegenden Strukturierungsdimensionen aus den Fragestellungen und den theoretischen Begründungen heraus abzuleiten. Dabei wird auf die Kodes zurückgegriffen, die im Rahmen des ersten Auswertungsschrittes zu Kategorien zusammengefasst werden. In einem weiteren Differenzierungsprozess müssen die einzelnen Dimensionen ausdifferenziert und zu einem Kategoriensystem zusammengestellt werden. Mit Hilfe von Kategoriendefinitionen, Ankerbeispielen und Kodierrege1n ist genau festgeschrieben, wann ein Materialbestandteil unter eine bestinunte Kategorie fällt. Auf diesem Weg kann eine innere Struktur des Materials herausgearbeitet oder eine inhaltliche Strukturierung des Textes vorgenommen werden (Flick 2002, S. 281). Es hängt grundlegend von der Ausrichtung bzw. der Fragestellung von Untersuchungen ab, welche der Analysetechniken zum Einsatz kommen. Für die einzelnen Arbeitsteile sind Mischformen oder Methodenwechsel denkbar. "Die Interpretation bzw. Reduktion des kodierten Textes wird solange wiederholt, bis das vorher im Leitfaden definierte Aktionsniveau erreicht ist" (Sturm 2007, S. 77). Alle erzielten Teilergebnisse können dann in einem letzten Schritt statistisch weiter analysiert oder diskutiert werden. Die strukturierende Inhaltsanalyse nach Mayring ist ein praktikables, gut beschriebenes und hinreichend erforschtes Verfahren, das sich in der Praxis trotz seiner guten Reliabilitätswerte (vgl. Gläser-Zikuda 2005) immer noch nur schwer behaupten kann. Ein wichtiger Aspekt ist zudem, dass die Kategorienbildung nicht nur induktiv, sondern auch deduktiv erfolgen darf (vgl. hierzu die Diskussion in Reinhoffer 2005: 127ff.). In dieser Studie wird eine induktive und deduktive Kategorienbildung angewandt, da sich die Untersuchung zum einen nach der Ra-tionalChoice Theorie ausrichtet, aber die angelegten Kategorien den Erklärungshorizont im Bildungsentscheidungsprozess erweitern sollen. Eine solche qualitative Inhaltsanalyse lässt eine qualitativ wie auch quantitativ ausgerichtete Auswertung zu, hat doch die qualitative Inhaltsanalyse eine grundlegende Affinität zur qualitativen Forschungsmethodologie, die einer methodisch kontrollierten Auswertung folgt (Mayring 2000). Die Kombinationsmöglichkeiten, die dieses Verfahren zulässt, kommen insbesondere bei der Auswertung der leitfadengestützten Interviews zum Tragen.
1.4.2 Konzeption des Kategoriensystems Die Entwicklung des Kategoriensystems folgte dem beschriebenen Ablauf, demnach zunächst induktive oder bottom-up Kategorien zu bilden waren. Dies setzte eine intensive Auseinandersetzung mit dem erhobenen Interviewmaterial voraus. Im Gegensatz dazu wurden top-down Kategorien aufgrund einer Theorie oder dem speziellen Forschungsinteresse gebildet (vgl. Reinhoffer 2005). Ein solches
Darstellung der mündlichen Befragung
203
Vorgehen ermöglichte ,,[. ..] eine größtmögliche Systematik und Regelgeleitetheit, und [. ..], die prinzipielle Offenheit gegenüber dem Material (Müller 2009, S. 130). Neben der Bildung induktiver Kategorien erfolgte in einem zweiten Schritt die Ableitung deduktiv-theoriegeleiteter Kategorien, um das gesamte Interviewmaterial mit Hilfe des Kategoriensystems kriteriengestützt zu systematisieren. Entsprechend des Auswertungsinteresses und des Forschungsdesigns wurde das Manual in einem mehrschrittigen Verfahren bezogen auf die einzelnen Forschungsfragen hin entwickelt: 1.
2.
3.
Alle Interviews des zweiten Messzeitpunkts gehen als Ausgangsmaterial der Schüler-, Eltern- und - Lehrersicht in die Auswertung mit ein. Redundante Passagen und inhaltsleere TextsteIlen bleiben unberücksichtigt oder sind zu extrahieren. Die erste Fragestellung soll helfen, eine Struktur für die gesamten Interviews nach entsprechend favorisierten Übergangsoptionen und der gewählten Vorgehensweise abzuleiten. Vorrangig werden die Schüler- und Elternäußerungen dafür in den Blick genommen, in denen nach der Einschätzung des Verlaufs und den möglichen Schrittfolgen gefragt wurde. Nach dem zweiten Messzeitpunkt erfolgte eine induktive Kodebildung, auf deren Basis vier mögliche Varianten der Schulartwahl (vgl. C.C Al.l- C.CA1.3) gebildet wurden. Zum 3. Messzeitpunkt spielte der Fragekomplex dann eine untergeordnete Rolle. Die aus der Theorie deduktiv-theoriegeleiteten Kriterien wurden für die zweite Fragestellung direkt in ein Manual überführt. Als wichtiger Einflussfaktor auf der Ebene der primären sozialen Effekte ging das erzielte Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler als Kategorie oder Kode56 für die Kemfachnoten mit ein. Eine ganz Reihe weiterer Kodes wurden auf der Grundlage der sekundären sozialen Effekte mit aufgenommen, so etwa die häusliche Unterstützung bei den Hausaufgaben (CC.2 _C.2.4 familiale Unterstützungssysteme oder CC.2_C.2.4.1 externe Unterstützungssysteme).
Bei den Interviews zum 3. Messzeitpunkt standen die inhaltlichen Kodes zur Erhebung der wichtigsten Einflussfaktoren, Kriterien und Umstände der Schulartwahl im Fokus des Forschungsinteresses. Das Material wurde nach dem zweiten Messzeitpunkt gesichtet und analysiert, so dass sich induktiv eine Auswahl an meistgenannten Aspekten ableiten lassen. Um eine individuelle Rangfolge bei Eltern und Lehrern bilden zu können, wurden beiden Beteiligtengruppen zum 3. Messzeitpunkt die Kriterien vorgelegt. Sie sollten dann eine individuelle Rangfolge bilden. 56
Der Begriff Kategorie wird in dem Zusammenhang verstanden als zentrales Ordnungsmerkmal, unter das die verschiedenen Kodes zugeordnet werden. Kodes sind danach die einzelnen textimmanenten Bedeutungseinheiten, die den Kategorien zugeordnet werden.
Darstellung der mündlichen Befragung
Z04
Die dritte Frage bezieht sich auf die in Boudons Theorie benannten Haupt- und Nebenakteure (Boudon 1974). Die Interviews sollten in quantifizierender Weise den Beteiligungsgrad der jeweiligen Akteure erheben. Die Frage nach dem Anteil an der Schulartwahl ist bereits Gegenstand des Fragebogens zum 1. Messzeitpunkt (f18.1-5E, fl0.1-5L u. f13.1-5S). In den Leitfaden ging die Fragestellung nun in adaptierter Frage- und Erhebungsform ein.
7.4.3 Beschreibung des Kategoriensystems Das Kategoriensystem besteht aus sechs Hauptkategorien (vgl. Tab. 7.2), die sich auf 55 Kodes aufteilen'" , Alle Kodes sind mit einer Rubrik für Kodename, Grundlage des Kodes (Definition), Eingrenzung, entsprechenden Ankerbeispiel und Kodierhinweis für Eltern-, Schüler oder Lehrerinterview im Manual vertreten. Für die Auswertung des 3. Messzeitpunkts wurde es entsprechend adaptiert und unter der Rubrik " Kodierung in /Frage im Interview" dem neuen Leitfaden angepasst. Bei der Entwicklung der Kodes musste die Passung zum 3. MZP bereits berücksichtigt sein, so dass lediglich zwei neue Kodes eingefügt werden mussten. Sechs Kodes galt es auf den 2. Messzeitpunkt hin nochmals zu überarbeiten und zu adaptieren.
C.CAl.l- C.1_A.1.8.Z
Frage nach der Art der Bildungsentscheidung (Schulartwahl)
CC.Z_B.l.l- CC.Z_B.l.l0
Kriterien auf der individuellen Ebene zur Bildungsentscheidung
CC.2_C.2.1- CC.Z_C.2.5
Kriterien auf familialen Ebene zur Bildungsentscheidung
CC.Z_D.3.1 - CC.Z.3J).3.5 CC.Z_EA.1 - CC.Z_EA.5 CCC.3_G.1.0 - CCC.3_G.1.3
Kriterien auf schulischer Ebene zur Bildungsentscheidung Kriterien auf sozial-gesellschaftlicher Ebene der Bildungsentscheidung Kategorien zu den Entscheidungsträgem der Bildungsentscheidung
Tabelle 7.2: Die sechs Hauptkategorien des Auswertungsmanuals
57
Das Auswettungsmanual ist im beigelegten Datenträger enthalten.
Darstellung der mündlichen Befragung
205
Im Manual werden die Hauptkategorien entsprechend der Chronologie der Forschungsfragen nacheinander aufgelistet und mit einem C (für Kode) gekennzeichnet. Auf jede weitere Forschungsfrage wird mit einem weiteren Buchstaben übergeleitet. Zur eindeutigen Kennzeichnung ist der Kategorie ein weiteres C (C-CCC) hinzugefügt, bis schließlich alle drei Fragestellung aufgelistet sind. Die aufeinander bezogenen Einzelkategorien sind mit gleichen Zahlenwerten (1-3) und der Kennzeichnung A,1 - A,6 in ihrer Abfolge zu den einzelnen Fragestellungen gekennzeichnet. Die formale Vergabe der Kodes ist im Manual für alle möglichen Auswertungskontexte genau festgelegt. Wird im Interview nach der persönlichen Beziehung der Eltern oder Schüler zur Klassenlehrerin gefragt, so ist in dem Fall ein bestimmter Textabschnitt zu kodieren, der mit einer ganz bestimmten Frage versehen ist. Wird der Textabschnitt als Kode von den Auswerterinnen vergeben und bedarf es ihrerseits nur wenig Interpretationsaufwand, so kann von einem niedrig-inferenten Kode gesprochen werden. Diese machen den größten Teil der vergebenen Kodes aus. Kodierung
CC.2_
B.1.6 persönliche Beziehung zur Klassenlehrerin
Grundlage des Kodes (Definition) Hier wird kodiert, wie die einzelnen Probanten (Eltern und Kinder) ihre Beziehurig zur Klassenlehrerin beschreiben. Dieser Sachverhalt wurde als direkte Frage im Interview erfragt und kann als solcher auch kodiert werden. Es können darüber hinaus noch weitere Textstellen thematisch darauf verweisen.
Eingrenzung
Mit diesem Kode wird die Beziehungsebene zwisehen ElternKlassenlehrerin und Schüler-Klassenlehrerin geklärt.
AnkerBeispiele
S: "mit meiner Klassenlehrerin komme ich ganz gut aus",E: "Die Klassenlehrerin hat sich um unserer Belange gekümmert."
Kodierung in / Frage im Interview Eltern- und Schülerinterviews
Fragen im Interview: Wie würden sie ihre Beziehung zur Klassenlehrerin beschreiben?
Tabelle 7.3: Ausschnitt aus dem Auswertungsmanualftir eine niedrig-inftrente Kodierung Es sind vorrangig Kodes zur zweiten Forschungsfrage, die in einem größeren Umfang eine interpretative Kompetenz der Auswerterinnen voraussetzt. Von 55 Kodes können 11 Kodes im zweiten Frageblock als hoch-inferent eingestuft wer-
206
Darstellung der mündlichen Befragung
den (vgl. Tabelle 7.4). Es handelt sich vor allem um Kodes, die sich auf Einstellungen oder Einschätzungen zu Handlungen oder Personen beziehen.
Kodierung
CC.2_
D.3.1 individuelle Einstellung zur Institution Schule aus LehrerlEitern
-/Schülersicht
Grundlage des Kodes (Definition) Mit diesem Kode wird die Einstellung der drei Probanten zur Institution Schule erhoben. Es ergeben sich drei unterschiedliche Sichtweisen, die Eltern, Schüler und Lehrer haben und die den Prozess der Schulwahl vielschichtig erscheinen lassen sollen . So können etwa Bedingungen des Arbeitens oder Lernens thematisiert oder Kritik hinsichtlich des Übergangs formuliert werden.
Eingrenzung
Es ist wichtig bei dieser Kategorie nur die Positionierungder Probanten zur Institution der "Grund-" Schule zu erfassen und nicht deren Einschätzungen zu bestimmten Lehrem oder Schülern oder Eltern. Letztlich könnte hierin ein Teilaspekt der eingeschätzten für eine spezifische Art von Chancengleichheit liegen.
AnkerBeispiele S: "Ich bin eigentlich gerne in die Grundschule gegangen, aber das hat sich mit der Zeitverändert [.. .l-" (Schüler), L: "Ich bin vor allem für meine Schüler da, der Rest interessiert mich nur wenig." (Lehrer), E: "Eigentlieh hatte ich ein gutes Gefühl, was die Schule angeht." (BI-
Kodierung in I Frage im Interview
Fragen im Interview: 1.) Gehst du gerne in die Grundschule? (Schülerinterview 1) 2.) Hat sich an deiner Einstellung zur Schule etwas geändert? (Schülerinterview 2)"
tern)
Tabelle 7.4: Ein Beispiel aus dem Manualftir einen hoch-inferenten Kode Die Vergabe der hoch-inferenten Kodes setzt voraus, dass die inhaltliche Äußerung der Interviewten verständlich und nachvollziehbar ist. Darüber hinaus muss der Auswerter den Kontext der verbalen Äußerung in den Gesamtzusammenhang einordnen, ohne dabei die Fragestellung aus dem Blick zu lassen. Diese hoch-inferenten Kodes zeichnen sich in der Regel durch eine höhere inhaltliche Komplexität und individuelle Stringenz aus. Aus diesem Grund ist es wichtig, einen klar umrissenen Rahmen für die Vergabe solcher Kodes festzulegen:
Darstellung der mündlichen Befragung
•
•
207
Wird das Themengebiet durch eine Frage oder den Interviewten aufgeworfen, so ist der gesamte Abschnitt mit dem entsprechenden Kode zu versehen. Entsteht der Eindruck, dass das Thema an einer anderen Stelle nochmals aufgegriffen wird, so ist diese ebenfalls zu kodieren. Es muss immer der gesamte Sinnzusammenhang mit dem entsprechenden Kode versehen werden. Die Kürze, Länge oder Lage der Aussage spielt dabei keine Rolle. Selbst wenn die Aussage in einem anderen Fragehorizont getätigt wird.
Für eine gemeinsame Auswertung aller Interviews über zwei Messzeitpunkte ist eine genau Abgrenzung und Definition bzw. Weiterentwicklung der Kodes über die beiden Befragungsabschnitte hinweg notwendig. Der EinzelKodierung durch studentische Hilfskräfte ging zunächst eine gemeinsame thematische Einarbeitung voraus. In einer gemeinsamen Arbeitsphase wurde das Auswertungsmanual an einer Interviewtrias bestehend aus Schüler-, Eltern- und Lehrerinterview erprobt. Eine Klärung von kontextbezogenen Verständnis- und Anwendungsschwierigkeiten erfolgte gemeinsam und immer im Hinblick auf die entsprechende Forschungsfrage. Im Anschluss wurde eine Interviewtrias von allen drei Auswerterinnen unabhängig voneinander bearbeitet und mit der Lösungsmatrize verglichen. Neben der Schulung in der verwendeten Auswertungssoftware Atlas.ti wurden die Probeinterviews dezidiert besprochen und die Abweichungen gemeinsam diskutiert. Erst danach erfolgte der eigentliche Auswertungsvorgang.
7.4.4 Schritifolge der Datenauswertung Nachdem alle Interviews nach dem 2. und 3. Messzeitpunkt transkribiert vorlagen, wurde diese und die vom Interviewer formulierten Ergänzungsinformationen zur ,,familiären Situation, Wohnlage, Wohnumfeld, Interviewbedingungen, usw. im Postskriptum mit in das auswertungsrelevante Material aufgenommen. Die Grundlage für den ersten Auswertungsschritt bildete der Kodierleitfaden , in dem alle Kategorien auf der Grundlage von umfassenden Ankerbeispielen und den dazugehörigen Kodierregeln definiert sind (vgl. Mayring 2003, S. 93f.). Der Leitfaden für die Auswertung des ersten Messzeitpunkts beinhaltet eine Mischung aus deduktiven und induktiven Kategorien und richtet sich explizit an den drei Forschungsfragen aus. Für die Auswertung sollen die Interviews bezogen auf das Erkenntnisinteresse hin untersucht werden. Das besondere Interesse liegt vor allem auf der zweiten Fragestellung, mit der die Kategorien, Standpunkte und Argumentationslinien der am Schulartwahlprozess Beteiligten erhoben werden. Bei der Auswertung der Fragen 1 und 3 hingegen geht es mehr um den Standpunkt, die Argumentationsstrukturen und die Entscheidungsverläufe zum einen und der
Vorläufiger Leitfaden
Es wurde zunächst ein vorläufiger Leitfaden deduktiv aus den Fragestellungen entwickelt. Ein Pretest erfolgte an vier Probanden, der zu einer Überarbeitung des Leitfadens führte und zu einer Erweiterung um induktive Kategorien. Nach der Interviewphase wurde eine erste Kodierung über alle Interviews hinweg vorgenommen.
1. Kodierung Vorliegende Interview Transkribierte Interviewpassagen und - aussagen für Schüler-, Eltern und Lehrerinter-
Zuordnung der Aussagen in den Schüler-, Eltern und Lehrerinterviews nach den vorgegebenen Kategorien durch vier Kodierer im ersten Interview.
1.) Einschätzung zum Schulwahlverlauf 2.) Phasen der Entscheidungsfindung 3.) Einflussfaktoren und Kriterien des Schulwahlprozess
Ein schüler-, elternund lehrerspezifi scher Kodierleitfaden
4.) Persönliche Informationen
view
2. Kodierung Reduktion Erste Testkodierung
Gliederung des Kodierleidfadens
3. Reduzierung Kodierdurchgang des 2. und 3. MZPs:
Reduzierungsdurch gang des 2. und 3. MZPs:
4. Zusammenfassung
Zweite Testkodierung Diskussion und gemeinsame Überarbeitung und Präzisierung der Kodes. Zweiter Kodierdurchgang an denselben Interviews.
Kodierung der Interviews des 2. und 3. MZPs und Erhebung der Interraterreliabilität an den zentralen Kodes. Nachbesprechung der Kodierung und Diskussion der Ergebnisse.
Die Interviews werden Kodeund kontextbezogen reduziert. Zusammenfassung der Aussagen in Textform.
Einheitliche Zuordnung der Interviewaussagen 2. Reduzierung und Zusammenführung in Textform für den 2. und 3. MZP.
Darstellung der mündlichen Befragung
210
1.
Motivation und Durchhaltevermögen (induktiv)
9.
Leistungsvermögen des Kindes (deduktiv)
2.
Gespräche mit der Grundschullehrerin (induktiv)
10.
Schulwunsch der Eltern (deduktiv)
3.
Entwicklung meines Kindes in der Grundschule (induktiv)
11.
Lebensentwurf des Kindes (deduktiv)
4.
Rückmeldung in den Beratungsgesprächen (induktiv)
12.
Schulwunsch des Kindes (deduktiv)
5.
Selbständigkeit im Lernverhalten (induktiv)
13.
Leistungseinschätzung der Grundschule (deduktiv)
6.
Eigene Schulerfahrung / 14. Eigene Schulbiografie (induktiv)
Soziale und berufliche Stellung der Eltern (deduktiv)
7.
Motivation und Durchhaltever15. mögen meines Kindes (induktiv)
Meine berufliche bzw. soziale Position (deduktiv)
8.
Eigene Nennungen der Eltern und Lehrer (induktiv)
Einschätzungen zur Bildungschance der gewählten Schulart (deduktiv)
16.
Tabelle 7.6: Auswahlkriterien der Schulartwahlftir den dritten Messzeitpunktftir Eltern und Lehrer 7.5
Ergebnis der qualitativen Erhebung - Kategorisierung der Sichtweisen und Handlungsverläufe
Die Beurteilung des Schulübergangs aus Schüler-, Eltern- und Lehrersicht wird mit Hilfe einer induktiven Kategorien- oder Typenbildung beantwortet. Die Ausführungen in den Interviews müssen dazu mit Hilfe der Kategorien extrahiert werden. Es gilt unterschiedliche Strukturen oder Muster in den Interviews aufzufinden, die die Sicht auf den Prozess offen legen. Ausgangspunkt ist eine zustimmende oder ablehnende Haltung gegenüber der Bildungsempfehlung und die "intervenierende" Option der Teilnahme am Test- und/oder Beratungsverfahren. Die Inter-
Darstellung der mündlichen Befragung
211
viewtranskripte zeigen unterschiedliche Übergangsverläufe auf Seiten der Familien, für die sich in der Praxis die verschiedensten nutzenorientierten Planspiele ergeben. In acht von neun Fällen orientieren sich die Eltern und Schüler am Gymnasium als der höchstmöglichen Schulart. Die wird auch in einer ähnlichen Größenordnung als idealtypische Wunschschule angegeben. Realisiert wird der Übergang in das Gymnasium letztlich von vier der neun Familien. Das Planspiel einer Situationsdefinition für die Schulartwahl bei beteiligten Eltern und Schülern geht oft von mindestens zwei Szenarien aus. Es sind vorrangig die Schülerinnen, die in der Hälfte aller Fälle von einem optimalen und einem weniger optimalen Schulartzuweisungsprozess ausgehen. ,,Also, wenn alles gutgeht, dann ist Real f schule, E.dA] kein Problem, aber andernfalls gehe ich halt in die Haupt [...]" [SCh_MZ1_0:13-0:14]. Das vorhandene Wissen und die mit den Eltern abgestimmten Entscheidungen werden häufig anhand des erzielten Leistungsstands für die drei Schularten durch"gespielt", wie das im Fall von Anna58 geschieht: "[ ...] ich warauch nicht so schlechtftir die Hauptschule. Ich wollte eigentlich auch nicht auf das Gymnasium, weil ich könnteja dann immer noch, wenn ich ifJ gutftir die Realschule binaufs Gymnasium hoch, aber ich wollte nicht alljdas Gymnasium, weilda muss manhalt:demlieh vie~ja arbeiten oder Hausaufgaben machen, dahatman garkeine Freizeitftir die Freunde [.. .]" [SWa_MZ1_0:82-0:85]. Eltern dagegen bringen neben den Noten noch eine Reihe anderer Kriterien vor, die ihre Sicht auf die Schulartwahl bedingen, wie etwa die eigenen Erfahrungen mit Lehrerinnen, bestimmten Schulformen oder den eingeschränkten beruflichen Werdegang durch das Fehlen eines Bildungsabschlusses. Im nächsten Auswertungsschritt erfolgt der Versuch einer einfachen Typisierung der Handlungsmöglichkeiten bei einer solchen eingeschränkten Schulartwahl von Eltern und Schülern. Diese wird anband der individuellen Sichtweise, den möglichen Verläufen des Schulübergangs und den sich für Eltern und Schülern ableitenden Handlungsoptionen vorgenommen. Ziel ist es, die unterschiedlichen Verläufe der Schulartwahl im Hinblick auf deren spezifischen Übergangsituation geleitet von den strukturellen Vorgaben aufzuschlüsseln. In der folgenden Übersicht sind die wichtigsten Faktoren der Beteiligten zusammengestellt und mit den schulischerseits vorgegebenen Optionen kombiniert:
58
Alle verwendeten Vor- und Nachnamen sind zur Wahrung der Anonymität und zum Zwecke des Datenschutzes geändert worden.
Darstellung der mündlichen Befragung
212 Variante Aspekte der Entscheidungssituation
Vorgabe der GrundschulLehrerin
1. Variante
2. Variante
3. Variante
4. Variante
Bildungsempfehlung (BE)
Bildungsempfehlung (BE)
Bildungsempfehlung (BE)
Bildungsempfehlung (BE) Nicht eindeutig (im Grenzwertbereich)
Noten in den Kernfächem (D-M)
eindeutig
eindeutig
nicht eindeutig (im Grenzwertbereich
Positionierung der Familie zur zur Bildungsempf.
stimmen zu
stimmen nicht zu
stimmen zu
Stimmen nicht zu
Entscheidung der Familien
kein Einspmch
Testund/oder Beratungsverfahren
Testund/oder Beratungsverfahren
Kein Einspruch
Interview Nr.
1,2,3,4,8
7,9 (kein TestBera.-V.)
S
6
Tabelle 7.7: Varianten der Schulartwahl im dreigliedrigen Schu4Jstem mit Bildungsempjehlung Bei der Einordnung der Interviews wird schnell deutlich, dass eine wirkliche Trennschärfe nur bedingt gegeben ist. S der 9 Interviews lassen sich der ersten Variante zuordnen. Das Interview 9 unterscheidet sich von den anderen, denn das Notenbild ist eindeutig und die Familie stimmt mit der Bildungsempfehlung nicht überein . Dennoch nimmt die Schülerin nicht am Test- und Beratungsverfahren teil. Während in der empirisch-quantitativen Untersuchung vorrangig Varianten 1 und 3 in der Stichprobe vertreten sind, scheint auch in den Interviews ein großer Anteil an zustimmenden Schulübergängen vertreten zu sein. Zumindest legt dies die erste Zusammenschau nahe. Ein differenzierterer Blick in die Interviews zeigt jedoch,
Darstellung der mündlichen Befragung
213
dass die Situationsdefinitionen der einzelnen Familien eine weitaus größere Varianz an Handlungsalternativen aufweisen. Aus dem Grund werden weitere Kategorien in die Synopse aufgenommen, um den Entscheidungsrahmen der Schüler und Eltern und deren Sicht auf die Schulartwahl noch genauer abbilden zu können. Die Lehrerinnen sind durch die Ausstellung von notenorientierte Bildungsempfehlungen feste Grundkonstanten und werden nicht mehr mit eingebracht. Für eine vertiefte Kategorienbildung bietet die Intervention oder Nichtintervention einen wichtigen Indikator für das Vorgehen der einzelnen Familien. Unterschieden werden die Interviews danach, ob eine Übereinstimmung von Familienseite und Bildungsempfehlung vorliegt. Stimmen die Eltern der schulischen Bildungsempfehlung zu, so wird von einer beidseitig-konformen Bildungsentscheidung ausgegangen. Beidseitig bedeutet in dem Zusammenhang, dass die Eltern der Lehrereinschätzung zu der vorgegebenen Schulart folgen und keinen formalen Einspruch einlegen. Ist dieser gegeben, stehen die Eltern der Bildungsempfehlung " kritisch" gegenüber. Die familiären Aspirationen gehen nicht konform mit der Leistungseinschätzung oder der Bildungsempfehlung für die eine oder andere Schulart. Die Familien können nun eine unabhängige Beratung einholen und/oder eine Überprüfung der Leistungsfähigkeit des Kindes im Testverfahren vornehmen lassen. Stimmen die Familien nicht mit der Bildungsempfehlung überein, schließen aber aus welchen Gründen auch immer ein Test- und Beratungsverfahren aus, kann von einem kritisch-resignativen Bildungsentscheidungsprozess gesprochen werden. Eine dritte Variante der handlungsstrukturierenden Systematik ist die aktive Teilnahme an den Interventionsverfahren. Das kann zum einen das Beratungsverfahren sein, an dem die Eltern zusammen mit den Kindern teilnehmen. Eine Modifikation der Empfehlung lässt sich hingegen ausschließlich über die Teilnahme am Testverfahren erreichen. Alle Familien, die aufgrund ihrer Unzufriedenheit über die vorgegebenen Schularten eines der beiden Verfahren durchlaufen, werden unter der Kategorie kritisch-initiative Bildungsentscheidung eingeordnet. Die kategoriale Auflistung der neun Probandenfamilien'? zeigt, dass die veränderte Einteilung trotz der Verringerung der Merkmale einen größeren Unterscheidungsgrad bietet.
59 Alle
Familien-, Personen- und Schulnamen und wurden aus Datenschutzgründen geändert.
Darstellung der mündlichen Befragung
214
Verlauf Interview Nr.
kritischresignative Bildungsentscheidung
1
---
2
---
---
3
---
---
4
---
---
5
--X
6
(GS
~
HS; E: HS)
kritisch initiative Bildungsentscheidung (GS
~
beidseitig konforme Bildungsentscheidung
X RS; E: GY)
--X (GS ~ GY; E :GY)
X (GS ~ GY; E : GY)
X (GS ~ GY; E :GY)
X (GS
~
RS; E: HS)
---
---
---
X
---
7
---
8
---
---
X
---
---
Zwei k.- r. Verläufe
drei k. - i. Verläufe
vier b. - k. Verläufe
Cohens 100
Cohens 92
Cohens 100
9
(GS ~ HS; E : HS)
Von 9 Interviews Interraterreliabilität
(GS ~ HS; E: HS)
X (GS ~ GY; E: GY)
Legende : X = trifft ZU; GS = Grundschule; ~ realisierter Übergang; HS = Hauptschule; RS = Realschule; GY Gymnasium; E : E mpfehlung,
=
=
Tabelle 7.8: Zuordnung der neae« Interviews nach kritischen undkonformen Bildungsentscheidungen Die Systematisierung nach den drei Kategorien ist Teil des Auswertungsmanuals und eine nachfolgende Überprüfung der Interraterreliabilität zeigt, dass sich eine Zuordnung der Familien mit einer hohen Zuverlässigkeit (größer Wert für cohens kappa) vornehmen lässt. Eine nachfolgende erweiterte Analyse der Interviews nach den drei Kategorien zeigt bei den studentischen Hilfskräften eine hohe Übereinstimmung mit den angegebenen Schulartwahlprozessen. Nur für den Übergangsprozess von
Darstellung der mündlichen Befragung
215
Familie Walk60 (Interview 1) konnte keine entsprechend übereinstimmende Zuweisung in eine Kategorie vorgenommen werden. Die Schulartwahl fällt insofern kritisch-initiativ aus, dass diese Familie nicht mit der schulischen Bildungsempfehlung übereinstimmt. Für die Tochter Anna wurde als höchste Schulart das Gymnasium empfohlen. Entgegen der Meinung der Grundschullehrerinnen zieht die Familie, insbesondere die Mutter, für Anna einen Übergang in die Realschule vor und präferiert so eine "abwärtsgerichtete Wahl". Die induktive Ableitung der Kategorien erfordert deshalb eine Erweiterung, so dass alle vorhandenen Interviews subsumierbar sind. Eine kritisch-initiative Bildungsentscheidung liegt vor, wenn die Familie nicht mit der Bildungsentscheidung konform geht und sich deshalb für eine Teilnahme am Test- und/oder Beratungsverfahren entscheidet. Diese soll eine Revision der Bildungsempfehlung, möglichst eine Verbesserung mit sich bringen. Die Schulartwahl kann differieren wie im vorliegenden Fall, wenn die Eltern und Kinder eine abweichende Haltung zur EmpfeWung einnehmen. Grund ist eine negative Einstellung zur empfohlenen Schulart. Familie Walk nimmt bewusst eine abwärtsgerichtete Wahl vor und entscheidet sich für die Realschule statt für das Gymnasium. Folglich richtet sich die Schulwahl nicht ausschließlich an der höchsten empfohlenen Schulform aus, sondern folgt einer anderen Kriterienausrichtung, als in den theoretischen Überlegungen erwartet. Für die Beantwortung der Forschungsfragen soll nun aus den vier abgeleiteten Kategorien das Schüler-, Eltern- und Lehrerinterview von jeweils einer Familie beispielhaft in die weitere Darstellung aufgenommen werden. Eine Auswahl der exemplarischen Interviews nach den vier Kategorien erfolgt nach den Kriterien 1. 2. 3.
Noten im Grenzbereich der Schularten: Hauptschule-Realschule-Gymnasium Ein- oder Zweisprachigkeit in der Familie; Migrationshintergrund Vollständigkeit der Interviews: Schüler, Eltern und Lehrern
Daraus ergibt sich die folgende Auswahl an Interviews, die umfassend dargestellt werden: 1. kritischresignative Schulartwahl Interview Nr. 6 Familie Allhamdani
2. kritischinitiative Schulartwahl
3. kritischabwärtsgerichtete Schulartwahl
Interview Nr. 5 Familie Chemni
Interview Nr. 1 Familie Walk
4. beidseitigkonforme Schulartwahl Interview Nr. 2 Familie Koch-Marmia
Tabelle 7.9: Bxemplarisch-kriteriengeleitete Auswahlder Interviews 60
Vor- und Nachnamen aller Familien wurden aus datenschutztechnischen Gründen geändert.
216 7.6
Darstellung der mündlichen Befragung Darstellung der Ergebnisse einer strukturierenden Inhaltsanalyse
Anhand der zentralen Aussagen, den aus Kurzfragebögen und den Post Skripten extrahierten Daten zu den familiären Rahmenbedingungen soll eine strukturierte Darstellung der vier Interviews folgen. Die innere Struktur der Interviewdarstellung leitet sich aus den vergebenen Kodes des Gesamtgesprächs ab und stellt ein Exzerpt der wichtigsten Positionen dar. Die Gliederung für die drei Beteiligtengruppen der Schüler-, Eltern- und Lehrerinterview in der nachfolgenden Darstellung ist nach den drei Fragestellungen gegliedert:
A. Persönliche und leistungsbezogen Grundinformationen zum Schüler und den Eltern B. Situationsdefinition der Schulartwahl aus Sicht der Eltern und des Schülers (2.-3. MZP) - Fragestellung 1 C. Bezugsebenen der Schulartwahl nach primären und sekundären sozialen Effekten zum a.
zweiten Messzeitpunkt (2. MZP, Interview)
}F rageb. dritten Messzeitpunkt (3. MZP, Interview) stellung 2 D . Einschätzung des Beteiligungsgrads an der Schulartwahl (2.-3. MZP) Fragestellung 3 E. Die Situationsdefinition der Grundschullehrerin und deren verwandten Ebenen für eine Einschätzung der Schülerin im Schulübergang (2. MZP) Fragestellung 1 F. Die Situationsdefinition der Sekundarstufenlehrerin und deren verwandten Ebenen für die Einschätzung des Schülers (3. MZP) Fragestellung 1 Den einzelnen Interviews sind jeweils persönliche und leistungsbezogene Angaben aus dem Post Skriptum vorangestellt (A.). Die Einschätzungen aus den Lehrerinneninterviews teilen sich in die der Grundschulklassenlehrerin (vor dem Übergang) und die der Klassenlehrerin der weiterführenden Schule (nach dem Übergang) auf. Um eine gute Übersicht zu ermöglichen, sind den jeweiligen Auswertungsabschnitten die Buchstaben (A-F) der obigen Gliederung vorangestellt. Entsprechend der Tabelle 7.9 sind die Interviewanalysen nummeriert (1.4) und mit dem jeweiligen Anfangsbuchstaben des befragten Akteurs versehen (Schüler = s, Eltern = E, Lehrerin = L).
Darstellung der mündlichen Befragung 7.7
Die kritisch-resignative Schulartwahl am Beispiel der Familie Allhamdani (Interview 6)61
7.7.1 A.St
217
Der Verlaufder kritisch-resignativen Schulartwahl ausSchülersicht
Der familiale und schulische Hintergrund des Schülers Carirn
Alter
10 Jahre;
Einsehnlungsalter Carim
7 Jahre
(Kind)
Geschlecht
männlich
Wohnsituation mittelstädtische Wohnverhältnisse
-
Neubaugebiet mit Wohnblocks
Wohnort
StK Stuttgart
Herkunft der Eltern
Vater: Irak Mutter: Irak
Geschwisterfolge
mittleres vonzwei Geschwisterkin-
dem
---
4- jäh-
Zweispra-
ehigkeit ja (arabisch-
deutsch)
riger Bruder und 13jährige Schwes-
ter
Schulische Unterstützung (Artu. Umfang) Emotionale familiäre Unterstützung, elterliche Unterstützung, Fürsorgeund Hilfe; die Eltern bernühen sich,aber ihnen fehlt es an Deutschkenntnissen
---
kurzfristige "externe"
fachliche Nachhilfe
Informati-
onen zum
Kind Das Kind wächst im arabisehen Kultur-
kreis auf. Mit den Eltern spricht es vorrangig arabisch, mit seinen Geschwistem
deutsch.
Tabelle 7.10: Persönliche undsotjale Rahmendaten if/m Kindmit kr.-re. Schulartwahl Die Empfehlung des 10-Jährigen Carims, dessen Eltern aus dem Irak stammen, wird ihn nach der 4. Klasse in eine Stuttgarter Hauptschule führen. Seiner Wunschschule entspricht das überhaupt nicht, denn seine Wünsche sind "Real- oder Gymi (lacht)" [SAl_MZ2_0:20]. Im Interview beschreibt er seine Schulleistungen als gut bis mittelmäßig. Nach Angaben der Grundschullehrerin erhält er in Mathematik eine 3,0 und in Deutsch eine 4,0. Das entspricht einem Durchschnitt von 3,5 und ergib eine Bildungsempfehlung für die Hauptschule. 61
Der Begriff wird im Folgenden mit Int. abgekürzt und bezieht sich auf die Nummerierung der Einzelinterviews in Tabelle 9.
218
Darstellung der mündlichen Befragung
Nach dem Umzug der Familie in einen anderen Stadtteil am Ende der dritten Klasse wechselt Carim auch automatisch seine Schule und besucht eine staatliche Montessori Grundschule in einem Stuttgarter Vorort. Dieser entstand in den 80er Jahren im Rahmen eines sozialen Wohnungsbauprojekts und kann nach Meinung der Schulleiterin als "sozialer Brennpunkt" bezeichnet werden. B. S1 Die Situationsdefinition zur kritisch-resignativen Schulartwahl des Schülers Carim
Einen Entscheidungsfmdungsprozess hat die Familie aus Sicht Carims nicht durchlaufen, da er nur auf die Hauptschule gehen darf, und so stimmt er auch der Bildungsempfehlung überhaupt nicht zu. Nachdem feststeht, dass er nicht am Testund Beratungsverfahren teilnimmt, gibt es aus seiner Sicht keine Möglichkeit mehr den Übergang in die Hauptschule abzuwenden. Den Ausgangspunkt für die Nichtteilnahme sieht Carim in der Meinung seiner Eltern begründet, die nach Gesprächen mit der Grundschullehrerin keine faire Chance gesehen haben. "Denen musste ich halt versprechen, dass ich mich in der Hauptschule atganstrenge, denn nach denen sollich so schnell wie möglich dahin wechsel'" [SACMZ2_2:55]. Für ihn war es ,,[...] ganz allein die Schule und Lehrer, [.. .]" [SACMZ2 _2:56], die über seine Wechselmöglichkeiten entschieden haben. Er konnte seiner Aussage nach sowieso keinen Einfluss nehmen und war der Situation ausgeliefert. Weder er noch seine Eltern hatten ein Mitspracherecht, da war ,,[...] gar nichts. Gar nichts. Nein" [SAl_MZ2_2:60]. Der nicht vorhandene Entscheidungsfindungsprozess konnte familienintern lediglich kommentiert werden und deshalb haben sie das zu Hause nicht thematisiert. ,,Ich hab mal beim Einkaufen mit meinem Vatergesprochen und erhatgesagt ich sollmich mehr anstrengen" [SACMZ2_1:75-1:78]. Die Möglichkeit einer weitergehenden Anteilnahme oder Intervention gibt es für ihn nicht. Somit steht für Carim auch fest, wer an seinem "erzwungenen" Übergang in die Hauptschule schuld ist, denn einzig und allein die Lehrerinnen haben die Entscheidung zu verantworten. Carim sieht sich in der Situation der Schulartwahl als unbeteiligter Außenstehender, der aufgrund äußerer Umstände schlechte Leistungen erzielt hat und dafür recht wenig kann . Die Entscheidungsverantwortung liegt für ihn bei der Grundschulklassenlehrerin und er sieht die Ursache für seinen misslungenen Schulartwahlprozess in den veränderten schulischen Lern- und Arbeitsformen und in seinem regelunkonformen Verhalten. Für die Bildungsempfehlung in die Hauptschule zeigt er indirekt Verständnis, denn die Lehrerin hätte gar nicht anders handeln können. Am Test- und Beratungsverfahrens hätte er gerne teilgenommen. Seine Grundschullehrerin sieht er als "Begleiterin", die ihr bestes gibt, ihm aber nicht wirklich helfen kann. Das Bild gegenüber der Hauptschullehrerin wandelt sich massiv in Richtung einer Erzieherin, die ihn ungleich und ungerecht behandelt und gegenüber seinen Mitschülern zurücksetzt. Die Schulartwahl löst in dem "abge-
Darstellung der mündlichen Befragung
219
brüht" wirkenden Jungen in beiden Interviews Wut und Aggressionen aus. Carim ist es, anders als die große Schwester, nicht gelungen, den hohen elterlichen Erwartungen gerecht zu werden.
c.1s Die Ebenen der Schulartwahl aus Schülersicht (2. MZP, Int. 6) Die Schülersicht auf die schulische Ebene - schulische Lemkonzepte Seiner Meinung nach war er in der vierten Klasse von seinen Leistungen her zu schlecht und sagt dazu, ,,[. . .] ich bin könnte es besser noch und ich weiß das (spricht leise und schnell)" [SAl_MZ2_ 0:24]. Eine Erklämng für seine unterdurchschnittlichen Noten gibt er mit dazu. "Ich denke mal es lag an dem Umzug. Davor war ich ja [...] in der anderen Schule [...l" [Sal_MZ2_ 0:28].
Es liegt seiner Meinung aber nicht an den Folgen des Umzugs, sondern vielmehr an der neuen Schule und den veränderten pädagogischen Rahmenbedingungen, wie etwa ,,[.. .]ja} die Freiarbeit und das andere Lernen [...]" [SAl_MZ2_0:32]. Dabei kann er sich durchaus selbst kritisch hinterfragen und stellt für sich als weitergehende Ursache heraus: "Ich arbeite da halt viel und rede dann auch viel (lacht) [...]" [SAl_MZ2_0:36]. Sein Lern- und Arbeitsverhalten beschreibt er als unausgewogen, da er ebensoviellernt, wie er sich mit seinen Mitschülern unterhält. An der Vorgängerschule arbeitete er für sich gesehen vergleichsweise deutlich effektiver. Carim zieht den Unterricht, in dem ,,[...] die Lehrerin mehr spricht und Fragen stellt [...j" dem an Freiarbeit ausgerichteten offenen Unterricht vor. ,,[... ] In der Freiarbeit kann ich rumlaufen und machen , was ich will. Die Lehrerin sagt ja nichts, weil ich kann ja sagen, ich suche mir ein Fach aus" [SAl..-MZ2.-0:60-0:61].
Carim fällt auch zu Hause ein selbstverantwortetes und strukturiertes Lernen schwer. In den Freiarbeitsarbeitsphasen bieten sich ihm zu viele Freiräume für Rede- und Ruhephasen ohne die nötigte Fremdkontrolle. Deshalb schätzt er die Chancen in seiner alten Grundschule mit lehrerzentrierterem Unterricht höher ein einen Realschulübergang realisieren zu k önnen'S , Immer wieder thematisiert er die Freiarbeit und mit der er nicht zu Recht zu kommen scheint. Den wesentlichen Unterschied zum "anderen" Unterricht sieht er in der freien Wahl des Unterrichtsmaterials und vor allem in der uneingeschränkten Bewegungsmöglichkeit. Denn da kann ich "während dem Unterricht rumlauftn [. ..]" [SALMZ2_0:81-0:82]. 62
In einem informellen Gespräch mit der " alten" Grundschullehrerin, das ich nach dem 2. MZP geführt habe, wurde folgendes deutlich: Trotz gegenteiliger Behauptungen des Schülers und der Eltern hätte Carim ihrer Einschätzung nach auch an der Vorgängerschule eine Bildungsempfehlung für die Hauptschule erhalten.
Darstellung der mündlichen Befragung
220
Die Schülersicht auf die individuelle Ebene - Arbeits- und Sozialverhalten Offen kritisiert der Schüler sein eigenes Verhalten im Unterricht, ,,[. ..] ich passe nicht auj / / Hm, ich rede ein bisschen viel mehr, also so reirl' [SACMZ2_0:86]. In der "alten" Grundschule war er fest integrierter Bestandteil der Klassengemeinschaft, die sich von Anfang an kannte und sich über die drei Jahre aneinander gewöhnen konnte. Darum ist sein Empfinden, dass es ,,[. . .] drüben in der alten Schule es haltbessergeklappt hat, wie hier. Ich weiß nicht woran das liegt. Weil wahrscheinlich drüben mich alle kannten" [ebd.]. Die Grundschullehrerin dort lernte ihn und die Eltern schon im Kindergarten kennen und konnte sich über mehrere Hausbesuche ein ganz eigenes Bild von der Familienstruktur machen. Die Schülersicht auf die schulische Ebene - schulische Problemfelder An der neuen Grundschule ist das nicht ganz so. " Hier komme ich viel weniger dran, wenn ich mich melde . / / und die sagen halt, du brauchst Geduld. Drüben in der Katzenbachschule 63da dauerte es nicht so lange. Also, wenige Kinder melden sich, weil die Aufgaben halt ein bisschen schwerer sind wie hier.
/r [SALMZ2.-0:90-0:93].
Der Hauptgrund für den Wechse! der Grundschule in der vierten Klasse lag vor allem an der räumlichen Nähe , denn die neue Schule befindet sich direkt vor der neuen Wohnung, während die "alte" Schule nur umständlich mit dem Bus zu erreichen gewesen wäre. Dieser schwierigen Entscheidung ist er sich durchaus bewusst und beschreibt die Ausgangslage nach dem Umzug in das neue Umfeld so: "Ich wollte eigentlich gar nicht wechseln, aber ich dacht, wenn die Schule gleich hier ist" [ebd.]. Mit dem Schulwechse! wird er auch schnell mit dem anstehenden Schulübergang konfrontiert, auf den ihn die neue Lehrerin ganz zu Anfang hinweist. Im Nachhinein kann er die letztlich ausgesprochene Bildungsempfehlung durchaus nachvollziehen, "Ichfand das eigentlich ganzfair, weil hier habe ich haltMistgebaut unddrüben nicht. Also in der Katzenbachschule. Ja, die kb'nnen ja nur machen, was sie miissen[...] / I" [SAl_MZ2_ 1:30-1:32]. Den möglichen Übergangstest lassen die Eltern nicht durchführen. " Ich wollte eigentlich. Meine E ltern wollten es anfangs auch. / / Ich wollte es mehrmals. Ja, aber ich findc es voll doof, wcgen der Lehrerin haben wirs dann nicht gemacht. Das ist doch voll unfair" [SAl_MZ2 _1:39-1 :40].
Die Gründe für die Nichtteilnahme bleiben für Carim unklar und mit seiner Lehrerin spricht er darüber auch nicht . Die Durchführung der Hausaufgaben stellt für Carim eine große Herausforderung dar, denn nach eigenen Aussagen kann er nicht 63
Der Namen der angegeben Grundschule ist geändert und entspricht keiner vorhandenen Schule,
Darstellung der mündlichen Befragung
221
länger als zehn Minuten still sitzen und konzentriert an seinen Hausaufgaben arbeiten. Aus dem Grund haben die Eltern ihm einmalig eine Nachhilfelehrerin zur Seite gestellt. ,,Mein Vater hat extra eine hergeholt. Aber die kam haltnurkurz./iirDeutsch [...]" [SAl_MZ2_2:68]. Noch immer hat Carim Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Die beschreibt er selbst: ,,[...] ich schreib ein bissehen Fehler, mit Fehler. Ich schreib auchfehlerfrei undich kann schlecht redetI' [SAl_MZ2_2:85].
.G.s1 Die Ebenen der Schulartwahl aus Schülersicht (3. MZP. Int. 6) Die Schülersicht auf die schulische Ebene - Sozialverhalten Mit seiner Lage ist Carim gut ein halbes Jahr nach dem Übergang in die Hauptschule noch weniger zufrieden und das liegt ,,[ ] ein:dg und allein an den Lehrern" [SAl_MZ3_0:25]. Die sind seiner Ansicht nach ,,[ ] nicht wirklich ganz sauber'~ ,,Außer die Mathelehrerin, die ist noch nOT7lJa!' [SAl_MZ3_0:25]. Seiner Meinung nach muss er für bestimmte Fehltritte in der Klasse herhalten und ist der " Sündenbock". Bei den meisten Mitschülern wird das übersehen oder nicht geahndet, aber er ist es, der immer wieder sanktioniert wird. ,,[. . .] Ich verhalte mich in der Schule wie alle anderen. Ich strecke, sie [die Klassenlehrerin, E.d.A] nimmt mich nicht dran, dann rufe ich halt raus. Dann schreibt sie mir eine Bemerkung hin" [SAt-MZ3_ 0:60].
Während allen anderen Schülern ein Strich an der Tafel gemacht wird, bekommt er seiner Einschätzung nach sofort eine Bemerkung. Für ihn ist da keine Gleichbehandlung gegeben und das ist vor allem bei seiner Hauptklassenlehrerin der Fall, die zudem auch noch seine Deutschlehrerin ist. Ein weiterer Streitpunkt sind seine Leistungen, die er gänzlich anders einschätzt als sie. Eine solche Behandlung wie an dieser Hauptschule möchte sich der Schüler nicht weiter bieten lassen und strebt daher einen Schulwechsel an. ,,Auf jeden Fall Nicht [. ..] auf eine Hauptschule, eher auf eine Realschule" [SAl_MZ3_0:77; 0:81] . Seinen ersten dreitägigen Unterrichtsauschluss thematisiert er im Interview nicht. Die individuelle Ebene des Schülers - Lem- und Arbeitsverhalten Der Lern- und Arbeitsaufwand hat sich auch nach dem Übergang in die Hauptschule nicht verändert. "Für die Hausaufgaben brauch ich schnelle 10-15 Minuten, aber nicht jeden Tag. Wir kriegen sowieso nicht jeden Tag Hausaufgaben. Wenn ich sie mache" [SALMZ3_1 :02}. Trotz des geringen Lern- und Arbeitsaufwandes stellt er keine Verbindung zu seinen Noten her. Die Eltern unterstützen ihn gelegentlich bei den Hausaufgaben. Manchmal macht er sie mit seinem Vater oder mit seiner Mutter, wenn er sie anfertigt. Hinzukommt, dass, er die Hausaufgaben h äufig vor dem Fernseher erledigt. Wenn wichtige Sport- oder sonstige Events im TV übertragen werden, ,,[.. .] dann lerne ich nicht' [SAl_MZ3_1:16-1 :17] . Die Lern- und übungszeit
222
Darstellung der mündlichen Befragung
über die gesamte Woche schätzt er auf cirka eine Stunde, abzüglich der Zeit, die er für die Hausaufgaben benötigt. Seine schlechten Leistungen in der Schule haben seiner Meinung nach einen ganz einfachen Grund. ,,[...] DieLehrerinnen, Hnd so,haben wasgegen AHsländer, das ist immerso.Diemachen dann immer die Araber[...] an[SA I...JJ,Z3_1:67-1:68'I" Seine Nachhilfelehrerin steht ihm in dem Schuljahr nicht mehr zur Verfügung, denn ,,[...] das warnurfür die Grundschule, aber die (Nachhi!fe-, E.dA.) Lehrerin hat dann beruflich was anderes:{J' tun [...] [SAl_MZ3_2:97]. Im weiteren Gespräch entsteht bei mir der Eindruck, als besteht ein Zusammenhang zwischen dem Nichterreichen der elterlichen Wunschschule und der Bereitschaft für weitere Ausgaben für eine Nachhilfelehrerin. ~la+b Eine Übersicht zu den Einflussfaktoren der Schulartwahl des 2. u. 3.
MZPs
Carim stellt im ersten Interview eindeutig die schulische Ebene in den Vordergrund und macht nur wenige Aussagen zu den individuellen Faktoren der Schulartwahl. Benannt werden von ihm insbesondere die schulischen Problemfeldem, die die Ursache für das misslungene vierte Schuljahr sind, woraus der Übergang in die Hauptschule resultiert. Carim hebt neben dem Umzug der Familie in einen anderen Stadtteil besonders den damit einhergehenden Wechsel in eine Montessori Grundschule hervor. Er kommt mit der neuen Lemform nicht zurecht, denn es fehlen ihm die soziale Kontrolle und eine vorgegebene Lemstruktur. Darüber hinaus benennt er selbstkritisch sein eigenes Verhalten und die fehlende Leistungsbereitschaft als kritisches Moment. Die schulischen Einflussfaktoren spielen auch im zweiten Gespräch eine zentrale Rolle, da Carim immer noch mit erheblichen schulischen Problemfeldem zu kämpfen hat. Nach dem Übergang in die Hauptschule ist es vorrangig sein Verhalten, das zu Problemen mit der Klassenlehrerin führt. Von ihr fühlt er sich ungerecht behandelt, denn aus seiner Sicht wertet sie die Verhaltensweisen personenabhängig. Auf individueller Ebene zeigt er auf, dass er um eine Steigerung seines schulischen Arbeitsverhaltens im 1. Halbjahr bemüht ist, um die nötigen Leistungen für einen Übergang in die Realschule zu erzielen. Sein Lem- und Arbeitsverhalten im häuslichen Rahmen erfährt weiterhin keine Veränderung und sein Freizeitverhalten steht nach wie vor über den schulischen Belangen.
I1s1 Die Entscheidungsträger der Schulartwahl aus Schülersicht ant. 6) Über seine Einschätzungen zu den Entscheidungsträgern macht Carim zum 2. und 3. Messzeitpunkt auch auf Nachfrage nur sehr wenige Aussagen. Eines steht für ihn aber fest: ,,[.. .] ich kann nichts machen da:{J' und eine Schule kannt ich auch nicht auswiihlen. Ich undmeine Eltern auch nicht' [SAl_MZ2_2:89]. Als er im Interview die Anteile der drei Beteiligtengruppen aufzeigen
Darstellung der mündlichen Befragung
223
soll64, will er keine Hinweise geben. " Was sollich da einstellen, wenn ich nicht dabei wal' [SAl_MZ2_3:0S]. Das Thema der Schulartwahl macht ihn traurig, weil er weder seine Erwartungen noch die seiner Eltern erfüllen konnte. Zum 3. Messzeitpunkt sieht Carim seine persönliche Schulartwahl noch nicht abgeschlossen, die ist aus seiner Sicht erst mit seinem Übergang in die Realschule beendet. Die Entscheidungsträger sind vor allem die Grundschule, die Grundschullehrerinnen und die Schulleitung. Seinen Anteil an der Entscheidungsfindung schätzt er nach wie vor sehr gering ein. Die Lehrerin hingegen hat nicht nur die Schulartwahl festgelegt, sondern vielmehr mit darüber entschieden, dass er nicht am Test- und Beratungsverfahren teilnehmen kann. Die Idee baldmöglichst auf die Realschule zu gehen, stammt seiner Ansicht nach ,,[...] von mir. Erst von mir und dann von meinen Eltern [.. .]" [SAl_MZ3_3:17-3:3S]. Die Frage nach seinen Anteilen zu den Entscheidungsträgern der Schulartwahl beantwortet Carim letztlich nur indirekt. Eine Wahlmöglichkeit für sich und seine Eltern kann der Schüler nicht ausmachen. Der Entscheidungsträger seines Übergangs in die Sekundarstufe ist die Schule.
7.7.2 Der Verlaufder kritisch-resignativen Schulartwahl aus Eltemsicht (Int. 6) Teil· nahme
am Inter-
view
Mutter
Vater
ja
Berufliehe Stellung
rwerbslos Studium ngl. Liteatur)
ja
rwerbslos Studium Ölförderechnik)
Umfang der Berufstätigkeit
"Vollzeit" als Hausfrau
keine
Höchs· ter
Schul-
abschluss Hoehsehul-
berechtigung Hochschulberechtigung
Migrati onshintergrund
Familiäre Besonderheiten
- Es gab Probleme bei der Einhalrung der vereinbarten Termine kunfts- Die Eltern sprechen land: trotz ihres zehnjährigen Irak Aufenthalts in Deutschland wenig deutsch. - Das Interview wurde Hervon Seiten der Mutter auf kunftsEnglisch und vom Vater land: auf gebrochenem Irak Deutsch geführt. Her-
Tabelle 7.11: Persönliche undsoiJale Rahmendaten der Eltern mit kr.-re. Schulartwahl Als Familie Allhamdani die Bildungsempfehlung vorliegt, sind Vater und Mutter sehr überrascht, dass nur die Hauptschule als Schulart angegeben ist. Die Noten, 64
Bei den Schülerinneninterviews wurde ein Modell verwendet, bei dem wie an einer Uhr mit Hilfe von drei Zeigern das Aufzeigen des Beteiligungsumfangs ermöglichte. Eine indirekte Abbildung der prozentualenVerteilungensollte auf diese Weisemöglichwerden.
224
Darstellung der mündlichen Befragung
die ihnen ihr Sohn Carim im Verlauf der vierten Klasse vorgelegt hat, waren alle gut bis befriedigend gewesen und so entstand der Eindruck, er würde mindestens in die Realschule kommen . In einem Elterngespräch mit der Grundschullehrerin offenbart sie das schulische Notenbild in den Kernfächern. Zu dem Zeitpunkt steht die Bildungsempfehlung bereits fest und die Mutter kommentiert die Tatsache so: "Ich habe versucht das zu verändern, ich habe es versucht. Und ich suchte so sehr, dass ich diese Entscheidung verändern kann. FÜ! mich war es sehr schwierig, wenn Carim auf die Hauptschule muss, [00'] gehe ich am Stock, wenn Carim auf die Hauptschule geht . Weil die ganze Familie / / die möchten alle die Schule und das Studium und du wirst ein Doktor und du wirst ein Ingenier" [EAl_MZ2_5 :50-5:58].
Darin kann das elterliche Leitmotiv gesehen werden, das in der Verwirklichung des gesellschaftlichen Aufstiegs der eigenen Kinder über den Erwerb eines akademischen Berufs zu sehen ist. BOBt Die Situationsdefinition zur kritisch-resignativen SchulartwahJ aus Eltemsicht
Die Eltern sehen sich überhaupt nicht in den Entscheidungs- oder Schulartwahlprozess eingebunden. Im Zusammenhang mit der Schule des Sohnes erleben sie immer neue "böse Überraschungen". Dennoch halten sie an ihren Bildungsaspirationen zu beiden Messzeitpunkten fest und wollen Carim unbedingt aufs Gymnasium schicken. Mit einer vier in Deutsch und einer drei in Mathematik wird der Junge den hohen Bildungserwartungen der Eltern aber nicht gerecht. Bereits in der dritten Klasse ziehen sie deshalb eine Klassenwiederholung in Betracht. Die Kommunikation mit der Grund- wie mit der Hauptschullehrerin gestaltet sich als schwierig. Neben den sprachlichen Hürden ergeben sich auch grundlegende Differenzen hinsichtlich der Erziehungsstile. Während Carims Eltern für einen liebevoll-partnerschaftliehen Umgang mit den Kindern plädieren, nehmen sie die Lehrerinnen als zu hart und teilweise ungerecht gegenüber ihrem Sohn wahr. Nach einem Gespräch mit der Grundschulklassenlehrerin kommen sie selbst von ihrem Vorhaben ab, Carim das Test- und Beratungsverfahren durchlaufen zu lassen. Sie sehen durch die Teilnalune keine " faire Chance" für ihn ein besseres Ergebnis zu erzielen. Stattdessen versuchen sie über das Jugendamt eine Unterstützung oder einen Alternativweg für ihren Sohn zu finden, um ihn doch noch in eine höhere Schulart schicken zu können . Die Mutter sieht die Mitarbeiterin als eine externe Unterstützungsinstanz und holt sich bei ihr immer wieder Rat in schulischen Belangen ein. Nach Vorstellung der Mutter sollte das Jugendamt eine unterstützende Maßnahme für ihren Sohn bezahlen, dass er nicht auf die Hauptschule muss.
Darstellung der mündlichen Befragung
225
Die Eltern sehen die Schulartwahl als wichtigen Baustein der Bildungsbiografie an, der für ihren Sohn in einer akademischen Karriere münden muss. Für sie stehen die möglichen Berufsbilder bereits fest. Aufgrund der fehlenden Bildungsempfehlung sucht vor allem die Mutter nach Möglichkeiten die schulischen Vorgaben für einen möglichen Wechsel in die Realschule zu erreichen oder zu umgehen. Die Grund- und Hauptschullehrerinnen sehen die Eltern nicht als Beraterinnen, sondern vielmehr als Funktionsträgerinnen eines abnehmerorientierten Schulsystems. C.B 1 Die Ebenen der Schulartwahl aus Eltemsicht (2. MZP, Int. 6)
Die Eltemsicht aufdie familiale Ebene - Das Lemumfe1d Mutter und Vater Allhamdani machen zu Beginn des Interviews rasch deutlich, dass eine Bildungsempfehlung für die Hauptschule auf einen familiär bedingten Umzug und den damit verbundenen Schulwechsel zurückzuführen ist. Als sich Carims Negativentwicklung an der neuen Schule andeutet, schaltet die Mutter das Jugendamt ein, so dass die zuständige Mitarbeiterin ab der dritten Klasse über die Probleme der Familie, den Schulwechsel zur vierten Klasse hin und die schwierige Schulartwahl informiert ist. Direkt weiterhelfen kann die Sachbearbeiterin den Eltern nicht. Auch von der Schule erwarten sie Hilfe und fragen deshalb bei der Klassenlehrerin bezüglich einer zusätzlichen Förderung nach. " Ich bin zu ihr gegangen und habe sie gefragt, wie sie uns helfen könne. Nur das. Manchmal kam sie um nachzufragen, warum Carim zu spät zum Unterricht kam [. . .]" [EAl_MZ2_3:81-3:83].
Direkt helfen kann die Lehrerin nicht, sie weist aber immer wieder auf die fehlende strukturelle Unterstützung durch die familiale Seite hin. Die Mutter möchte ihrem Sohn helfen, der aber lehnt dieses ab. Der Vater versucht das so zu erklären: "Mein Sohn wann freu nicht arbeit [übers .: wenn Carim keinen Spaß an der Arbeit hat, E .d.A], nicht machen das ist Hausaufgabe" [EAl.MZ2.-2:86-2:89]. Die Mutter ergänzt, "Sie haben kein Deutsch- oder Mathebuch, aber ich habe ihm jeden Tag gesagt , dass er alle Sachen einpacken muss . Manchmal habe ich es geprüft und manchmal nicht. Weil ich sehr viel zu tun habe (lacht)" [EAl_MZ2_3:01-3:08].
Die Unterstützung des Sohnes wird nicht nur durch fehlende intrinsische Motivation eingeschränkt, sondern es fehlen den Eltern nach eigenen Angaben auch die nötigen Sprachkenntnisse. Beide Elternteile stammen aus dem Irak und leben seit über zehn Jahre in Deutschland. Während der Vater sich in sehr gebrochenem Deutsch zu verständigen versucht, greift die Mutter auf das Englische zurück.
226
Darstellung der mündlichen Befragung
Die Eltemsicht aufdie schulische Ebene - die Anforderungen der Sek. I Für den Vater sind die Probleme des Sohnes in erster Linie schulsystembedingt, da die leistungsrelevanten Noten nur innerhalb eines kleinen Zeitfensters erhoben werden. "Das ist nur i]JJei oder drei Monate von die Halbjear [Halo/ahr (E.d.A.)). Das ist viele Test, viele Test mit das ist und dann fertig. Das istfalsche System" [EACMZ2_3:95-3:95]. Darüber hinaus geben seiner Ansicht nach die Anzahl an Schulen in seinem Umfeld Aufschluss auf die vorgegebene Übergangs quote. Aus dem Grund mahnt der Vater:
"N ur ein Schule die Gymnasium, aber die Realschule [.. .j" undseine Frau ergiini! "i]JJei, oder drei Schulen'~ [..J und er beendet den Satz "aber die Hauptschule, vielleicht sechs, warum das?' [EACMZ2_4:43-4:48]65. Den Grund dafür, dass es sieben Hauptschulen und nur zwei Gymnasien oder Realschulen gibt, sieht er im fehlenden Bedarf der Wirtschaft nach qualifizierten Arbeitskräften. "Das ist, dass ich denken die System in Deutschland nicht so brauchen, äh, jelifätle. Jelif nicht brauchen viele gehen nach Gymnasium, brauchen [.. .]" [EACMZ2_4:49-4:51]. Für den Einzelnen sieht die Mutter die Situation hingegen relativ entspannt, da ihrer Ansicht nach ja nicht alle Kinder auf das Gymnasium müssen. "Andere möchten vic1lcichtnicht studieren , so ist das auch in Ordnung. Dann sollen sie auf eine andere Schule und gut [...] [EAI_MZ2_4:57-4:59].
Ihren Sohn sieht sie auf jeden Fall in der Gruppe der Studierenden, weil er die nötigen Voraussetzungen mitbringt. Die erforderliche Intelligenz hat sie sich von der Sachbearbeiterin des Jugendamtes und dem Kinderarzt bestätigen lassen. Mit den schulischen Leistungen ihres Sohnes ist die Mutter aber nicht zufrieden. Dafür besteht eine zu große Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen und den erzielten Ergebnissen. Es entsteht im Gespräch der Eindruck, dass der erstgeboren Sohn der Familie kulturbedingt unbedingt auf das Gymnasium gehen müsse. Die ältere Schwester hat diesen Übergang bereits geschafft und so ist der Weg auch für den erstgeborenen Sohn vorgezeichnet.
Die Elternsicht aufdie familiale Ebene - elterliche Bildungsaspirationen Mit der momentanen Lage hinsichtlich des Schulübergangs in die Hauptschule will sich die Mutter aber nicht abfinden und plant schon jetzt einen schnellen Wechsel in die Realschule. Falls möglich sollte diese aber ganz übersprungen werden, falls die Möglichkeit besteht. Ganz sicher ist sie sich aber nicht und fragt deshalb nach :
"wenn du azg der Hauptschule bist, musst du atifdie Realschule unddann ins Gymnasium. Man kann nicht von der Hauptschule ins Gymnasium" [EAl_MZ2_6:43-6:44]. Das Mindeste ist eine Karriere auf dem zweiten Bildungsweg, um über den "Umweg" das erwartete Studium zu erreichen. 65
Die Eltern vermuten, dass es viel mehr Hauptschulegcbäude als Realschulen und Gymnasien gibt und aus dem Grund entsprechende Übergangsquoten gibt.
Darstellung der mündlichen Befragung
227
C.El Die Ebenen der Schulartwahl aus Eltemsicht (3. MZp, Int. 6) Die Eltemsicht auf die schulische Ebene - Carims Leistungsentwicklung
Auch nach dem ersten Schulhalbjahr in der Hauptschule ist Carims Mutter immer noch "ratlos" und "traurig", dass ihr Sohn die Hauptschule besuchen muss. "Die anderen Kinder sindalle in anderen Schulen. Wenn ich mit ihm ifisammensitze und rede über seine Situation fängt er an ifi weinen" [EALMZ3_0:21-0:22]. An der Situation stören sich sowohl die Eltern als auch Carim selbst. Seine Reaktionen hierauf sind ebenso emotional, wie die der Eltern. Auf den ersten Blick scheint sich das Notenbild von Carim verbessert zu haben. Trotzdem er seinen häuslichen Arbeitsaufwand ähnlich gering hält wie in der Grundschule, gelingt es ihm, sich in Englisch und Mathe zu steigern und seine Note in Deutsch zu stabilisieren: " In E nglisch hat er drei Tests zurückbekommen und da hatte er dreimal eine eins. In Mathe hat er eine zwei und in Deutsch eine drei. Diese Noten hat er bekommen, ohne zu lernen. Wenn er lernen würde, wäre sehr viel besser [EALMZ3_0:25-0:26].
Die Eltemsicht aufdie schulische Ebene - Arbcits- und Sozialvcrhalten Die Leistungen gehen jedoch einher mit "sehr vielen Problemen", die in der Schule auftreten. Verantwortlich macht die Familie größtenteils die Lehrerin für diese schwierige Situation. Ihr scheint es nicht zu gelingen alle Kinder gleich "gerecht" zu behandeln. Die Mutter beschreibt die schulischen Vorkommnisse aus ihrer Sicht: ,,[...] Alles was er [Carim, E .d.A.] tut oder sagt, führt sofort zu einer Bemerkung. Wenn er seine Arbeitsmaterialien vergisst, bekommt er sofort eine Bemerkung, wenn er mit anderen Kindem spricht, bekommt er eine Bemerkung. Wenn er dann mit der Lehrerin spricht, dann bekommt er auch dafür eine Bemerkung. Alles was bislang war, führte zu einer Bemerkung und er hat bislang einen Untertichtsausschluss. Da war ich in der Schule und fragte die Lehrerin warum es zu so einer Strafe kam . Sie sagte, dass Carim im Kunstunterricht ein Glas Wasserfarbenwasser getrunken hat , damit die anderen Kinder über ihn lachen. Ich fragte, warum Carim das getan hat ? Das haben zu viele Kinder gemacht und alle Kinder müssen dann raus . Warum hat Carim und nur er dann den Ausschluss bekommen? Er hat zudem noch andere Kinder geschlagen . Als ich Carim fragte, sagte er, das ist richtig dass er das getan hat [00'] ' "Ja, ich habe die anderen geschlagen , weil sie mich auch geschlagen haben. Deshalb musste Carim die Schule für drei Tage verlassen" [EAI~Z3_0:46-0:55].
Zur Auseinandersetzung mit seinen Mitschülern kommt es nach Ansicht der Mutter, weil die Mitschüler ihn provozieren und schlecht behandeln. Der Ausgangspunkt ist nicht er, sondern der liegt bei den anderen, so dass er ihr zur Folge lediglich reagiert und die Situation dann eskaliert.
228
Darstellung der mündlichen Befragung
Die Eltemsicht aufdie schulische Ebene - Beziehung zur Klassenlehrerin Einen Wechsel in die Realschule strebt die Mutter noch immer an, aber ,,[...] ich glaube, das hängt von seinen Noten ab. Er hat abergerade viele Problem. "Und sie fragt sich, "warum gibt esso viele Probleme in der Schule [. ..]' [EAl_MZ3_0:63-0:64]. Aus Sicht des Vaters sind diese normal, wenn viele Kinder zusammenkommen und "zusammen spielen". Während die Mutter Carims Verhalten relativiert und aus ihrer Sicht als normgerecht einordnet, hat der Vater noch eine ganz andere Erklärung für die Probleme seines Sohnes mit der Lehrerin. ,,Aber warum macht die Lehrerinnen das? Die Lehrerin muss die alle gleich freundlich sein, wie die Sohn. Von die alle LAnd nicht nur die Deutschland" [EChcMZ3_0:86-0:87]. Die Aussage des Vaters ist dahingehend zu verstehen, dass die Lehrerin alle Kinder gleich behandeln muss, egal welcher Nationalität sie angehören, was als eine unterstellte Fremdenfeindlichkeit der Klassenlehrerin zu deuten ist. Seine Erklärungen für Carims Fehlverhalten gehen noch weiter. "Kinder versuchen immer den Lehrer oder die Lehrerin [zu, E .d.A.] imitieren. [...] Wenn das Kind den Lehrer mag, ist er ruhig und hört auf ihn und er wird alles tun was dieser sagt. Wenn er ihn aber hasst, dann ist dann alles negativ" [EChe_MZ3 _0:98-0:99].
Seinem Verständnis nach beruht die Autorität der Lehrerin auf der persönlichen Ebene, deren Basis die gegenseitige Sympathie oder Antipartie ist. Carim mag seine Klassenlehrerin nicht nur nicht, sondern seiner Aussage nach ist die Antipartie noch stärker ausgeprägt. ,,[Als Carim, E.d.A.] am ersten Schultag nach Hause kam, sagte er Mami, die Lehrerin in Mathe ist ok, die mag mich, aber die in Deutsch hasst mich" lEAl_MZ3_0:99-1:00]. Diese persönliche Abneigung führt dazu, dass er eben bei der Lehrerin im Unterricht auffällt. Nach dem pädagogischen Verständnis des Vaters dürfte es zu einer solchen Verhaltensweise seines Sohnes gar nicht kommen . "D as Problem sprechen mit Klassenlehrerin , wenn das ist ein Problem mit Carim, z.B, wenn ein Problem, dann muss mit Liebe Carim bekommen gleich. Jetzt, wann die Sohn größer ich bin Freund von Dich nicht ich bin Vater von das" [F--AI_MZ3_1 :15-1:16].
Die Eltemsicht aufdie schulische Ebene - häusliches Arbeitsverhalten Der häusliche Lernumfang liegt aus Sicht der Eltern immer noch bei etwa zehn Minuten, denn auch da wird der Sohn durch die individuelle Auseinandersetzung mit der Lehrerin "blockiert". Zusätzlichen Lernaufwand betreibt er fasst gar nicht und auch Strafarbeiten macht er nur gelegentlich und dann nur unter Aufsicht der Eltern. Im schulischen Kontext wird deutlich, dass immer dann, wenn äußerer Druck aufgebaut wird, Carim seine Mitarbeit einstellt: "Manchmal ich sitzen mit Carim zehn Minuten oder [... ]. Die Problem nicht die lieben die Lehrerin. Z.B. man machen das ist Lehrerin muss machen du musst Strafe. Das ist normal von Lehrerin die sagt das. Wann sagen immer, immer, immer (betont) und Carim das nicht machen"[EALMZ3_1:37-1 :39].
Darstellung der mündlichen Befragung
229
Dabei liegt das Anforderungsniveau der Hauptschule laut Aussage der Mutter eher unter dem der Grundschule. Das Lern- und Arbeitsverhalten Carims lässt ihr zufolge trotzdem sehr zu wünschen übrig. Zum ersten Mal nach einem halben Jahr macht der Junge einen Teil seiner Hausaufgaben zu Hause: "Vorgestern wir schauen Carim iJim ersten Mal machen hier Hausaufgaben. Und immer machen das in Schule [...]" [EACMZ3_1:47-1:49]. Im häuslichen Umfeld taucht das Problem auf, dass er nach Einschätzungen der Eltern nur 50% seiner Hausaufgaben überhaupt zu Hause macht, den Rest scheint er in der Schule zu machen, was sie bislang nicht als Problem wahrgenommen haben. Zusätzliche Hausaufgabenkontrolle oder Lemzeiten fordern sie von ihrem Sohn nicht ein. C.EJs+b
Eine Übersicht zu den EinDussfaktoren der Schulartwahl des 2. u. 3.
MZPs Der elterliche Fokus richtet sich im ersten Halbjahr auf die familiären Veränderungen durch den Umzug, den sie im weitesten Sinne für das schlechte Abschneiden verantwortlich machen. Neben ihrer Sichtweise auf das Schulsystem und den Anforderungen der Sekundarstufe, thematisieren die Eltern vorrangig auf der familialen Ebene. Eingehend thematisieren sie auf die eigenen Vorstellungen von der Bildungsbiografie ihres Sohnes und den damit verbundenen Leistungsvorgaben. Zum 3. Messzeitpunkt verbleiben sie hingegen ausschließlich auf der schulischen Ebene und den damit verbundenen Problem feldern. Es ist die Lehrerin, die sie für die misslungene Leistungsentwicklung und die Schwierigkeiten ihres Kindes verantwortlich machen. Die Annahme scheint bei ihnen zu dominieren, dass die Verantwortung für das schulische Lernen der Schule obliegt und für das Gelingen müssen sie im häuslichen Rahmen nicht unbedingt dazu beitragen. Vor allem die Mutter ist sehr bemüht den Übergang in die Hauptschule abzuwenden, aber nicht auf Kosten einer Beeinträchtigung ihrer Beziehung zum Sohn. Diese wollen sie nach Angaben des Vaters auf einer freundschaftlichen Ebene ausgestalten. Bei der Auswahl und Gewichtung ihrer wichtigsten Kriterien für die Schulartwahl legen sich Herr und Frau Allhamdani zum 3. Messzeitpunkt deshalb auch vorrangig auf den Wunsch des Kindes und der Eltern fest. Die schulischen Voraussetzungen setzen sie folglich an den Schluss ihres Kriterienrankings: 1.
Schulwunsch der Eltern und des Kindes
2. Lebensentwurf des Kindes 3.
Soziale und berufliche Stellung der Eltern
4.
Motivation und Durchhaltevermögen
230
Darstellung der mündlichen Befragung
5.
Notwendige Unterstützung durch Außenstehende
6.
Leistungsvermögen des Kindes
Tabelle 7.12: Rangfolge der Schulartwahlkriterien der Eltern (Int. 6) D' B I Die Entscheidungsträger der SchuJartwahJ aus Elternsicht (Int. 6) Die Entscheidung für den Besuch der Hauptschule und gegen ein Test- und Beratungsverfahren haben die beiden Elternteile gemeinsam getroffen. Nach Aussage der Mutter hat sich die Familie die Entscheidungsfindung nicht leicht gemacht und lange diskutiert. Der eigenen Einschätzung nach hat sie dem Sohn dabei die Hälfte an Mitsprache eingeräumt. Dies ist auf dem Hintergrund der Überlegung für oder gegen die Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren erfolgt. Darin sieht die Mutter in ihrer Situation die einzige Möglichkeit an der Schulartwahl Anteil zu haben. Nachdem der Sohn von der Möglichkeit eines Tests erfahren hatte, wollte er auf jeden Fall teilnehmen. " Ich meine, er wollte es. / Eeer, bestand darauf diesen Test zu machen. Und er hoffte, wünschte sich, dass er gute Noten bekommt" [EAl.MZ2.-7:0S-7:06]. Trotzdem entscheiden vor allem die Eltern ihn nicht teilnehmen zu lassen . Die Mutter stellt das aus ihrer Sicht so dar : ,Ja. ja, ja, wir und wir haben die Lehrerin gefragt und sie sagte kein Problem versuchen sie es" [EAl_MZ2_6:96].
Letztlich hat sich die Familie nach weiteren Gesprächen mit der Grundschullehrerin gegen einen Versuch entschieden. Eine wirkliche Entscheidungsmöglichkeit sehen die Eltern für sich nicht. Die alles bestimmende Komponente ist die Bildungsentscheidung und die ihr zugrunde liegenden Noten und die hat Carim nicht erreicht. Sie selbst haben nur den Brief mit dem Ergebnis erhalten, aber nicht an der Entscheidung mitgewirkt. Ob die Eltern wirklich verstanden haben, um was es bei dem Test- und Beratungsverfahren geht und welche Möglichkeiten sich ergeben, lässt sich auch durch mehrmaliges Nachfragen im Interview nicht aufklären. Die Eltern können den Ratschlag der Lehrerin nicht nachkommen und sehen darin eine "Täuschung" im institutionellen Rahmen. An vielen Stellen im Interview wird deutlich, dass sie kein Vertrauen in die Arbeit der Lehrerinnen haben und sich lieber auf den Rat der Expertin im Jugendamt verlassen. Nur auf dem Hintergrund ist nachzuvollziehen, warum sie Carim nicht am Test- und Beratungsverfahren teilnehmen lassen. Aus ihrer Sicht scheint der Schulartwahlprozess ohne ihre Beteiligung abzulaufen.
Darstellung der mündlichen Befragung
231
7.7.3 Die Ebenen der Schuiartwahl ausSichtder Grundschullehrerin (2. MZP , Int. 6) E.L! Die Situationsdefinition aus Lehrerinnensicht zur Schulartwahl
Für Frau Klimpert, die Grundschu11ehrerin Carims, sind die Noten der wichtigste Teil der Bildungsempfehlung. Bei den Kindem, deren Leistungen auf den vorgegebenen Notengrenzen liegen, empfiehlt die Junglehrerin, wie sie selbst sagt, aufgrund der ihr fehlenden Erfahrung meist das Test- und Beratungsverfahren. Es sind ihrer Ansicht nach die Noten, die die Grundlagen für die Bildungsentscheidung bilden. " E s liege, wenn die Noten stimmen, also das ist ja natürlich das zweite Wichtige, liegt es ja schon, ja, anders , die Noten müssen natürlich erst mal stimmen und dann kann ich noch die Empfehlung geringfügig ja davon abweichend machen." [LWLMZ2.-3:713:73]
Trotzdem gibt es für sie einen Ermessenspielraum des Lehrers, der in seinen Fächern für den Unterricht, die Vermittlung von Inhalten und die Notenbildung verantwortlich ist. Die Pädagogin versteht sich als das ,,[.. .] Zünglein an der Waage und, ja, kann das schon beeinflussen in welche Richtung das geht, kein Frage. Aber es ist, ich denke, es ist auch gerne, also, da ist schon die Frage inwieweit arbeitet man dann auch intuitiv, also, bei welchem Schüler hat man das Gefühl , er kann, er geht in die Richtung weiter oder er packt das emotional gar nicht." [LWCMZ2_3:77 -3:81]
Insgesamt sieht sie die Bildungsempfehlung als eine Momentaufnahme mit der Möglichkeit für persönliche Entwicklungen in eine positive als auch in eine negative Richtung. Als Lehrerin mit dem vorgegebenen Instrument der Notengebung "kann ich es wirklich nicht vorhersehen} was in der weiteifiihrenden Schule mit dem einzelnen passieren wird." [LWLMZ2_4:06]. Im kognitiven Bereich spielt für sie das logische Denken und die Auffassungsgaben eine zentrale Rolle. E.L! Die Lehrerinnensicht auf individueller Ebene - Carims Leistungspotentia!
Bei Carim sieht sie diese Fähigkeiten nicht in dem Maße gegeben. Er ist halt [. . .] (lacht) nicht so intelligent und kriegt auch nichts auf die Reihe [...] [LWi_MZ2_2:08-2:09]. Die Situationen im Unterricht mit ihm waren nicht immer ganz einfach. "Der Carim war ja jemand, der zwischen rein gesprungen ist, den habe ich ja noch gar nicht lange in der Klasse. Hatte aber auch schon mehrere Gespräche oder gerade auch am Anfang war das recht intensiv mit der Mutter, so wie es intensiv sein konnte, weil sie halt selber kaum Deutsch spricht und mit dem Vater hatte ich , der spricht überhaupt
232
Darstellung der mündlichen Befragung kein Deutsch, der spricht auch glaube ich kein Englisch. Das war halt dann einfach schwierige r." [. . .] [LWLMZ2_3:27-3:30]
Aus Sicht der Lehrerin sind es meist die Familien, bei denen den Eltern und Kindern deutlich wird, dass die Leistungsentwicklung nicht mit der Wunschschule übereinstimmt. Steht die gewünschte Schulart "auf dem Spiel", fokussieren einige der Eltern die Leistungsbewertungen in besonders kritischer Art und Weise. Im Kreise ihrer Kolleginnen entscheiden sie sich in den Grenzfällen nach folgendem Modus: ,,[...] Wenn's von den N oten her gerad e so reicht, dass man sagt, ja klar, wir sehen oder ich sehe , dieses Kind, ja, hat da Defizite oder kann dort damit umgehen und damit nicht und ich sche das positiv oder negativ, denke es kann' s schaffen oder nicht. Aber letztendlich müssen sie ja damit zurechtkommen, auch es ist ja, also, im Prinzip die ganze Tragweite, die müssen sie ja dann auch auffangen und , also, wir gebens im Prinzip oft an die E ltern wieder ab. So, dass wir sagen, ok, wir geben ihm die Gymnasialempfehlung, schätzen das Kind aber so und so ein und wenn sie's jetzt unbedingt haben möchten, dann müssen sie auch die Konsequenzen tragen. Also, das heißt, wir lassen 's offen, indem wir die Empfehlung eben ermöglichen, aber dann schon mitgeben. Also , da muss die häusliche Unterstützung vorhanden sein. Die und die Arbeiten werden auf sie zukommen und dass man die Eltern aufklärt in einer gewissen Weise '; / [...] Und das machen wir natürlich nicht immer so, das gibt halt knappe Fälle und da gings dann schon. [LWLMZ2_1:62-1 :70]"
Bei den Kindern, deren Notenbild keine eindeutige Schulattzuweisung möglich macht, sind es letztlich die Eltern, die durch ihr Beharrungsvermögen und ihre Hartnäckigkeit den Übergang in die nächst höhere Schulart erwirken. Aus Sicht der Lehrerin wird die ihr obliegende Entscheidungsbefugnis mit der damit einhergehenden Verantwortung für das Kind an die Eltern übertragen. Doch neben dem Leistungsbild und den angeführten Leistungskriterien spielt ein weiterer wichtiger Effekt eine entscheidungstragende Rolle: Als ich darüber mit der Rektorin drüber gesprochen habe, gings dann schon um den sozialen Hintergrund eben, um Strukturen, Hilfen und so weiter. Kann das Kind da[E .d.A. durc h die Sekundarstufe 1] durchkommen oder nicht . Und die hängen natürlich wieder vom sozialen Hintergrund ab, also. [LWi...,MZ2_1:62-1:70]
Es ist der familiäre Hintergrund der Familie und die häuslichen Unterstützungsmöglichkeiten, die von Lehrerin und Rektorin in Betracht gezogen werden. ,,[. ..] Also} wenn ein Kindauf der Kippe stehtund man weiß eshat einen guten Hinte'l,rund und da sinddie Elternauch unterstützend und das ist daje!if nichtverloren undgehtdagnadenlos unter, dann klar" [LWLMZ2_':73-':75}. Es zeichnet sich in den Aussagen der Grundschullehrerin ab, dass sie ihre Bildungsempfehlung nicht ausschließlich nach Leistungsgesichtspunkten vergibt, sondern in "Grenzfallen" auch soziale Kriterien mit einfließen lässt. Die Vorgabe der Schule bleibt der Aussage nach nicht wie die
Darstellung der mündlichen Befragung
233
schulrechtlichen Vorgaben vorsehen auf die primären sozialen Effekte beschränkt, sondern bezieht auch die sekundären sozialen Effekte mit ein.
7.7.4
DieEbenen der Schulartwahl aus Sicht der Hauptschullehrerin (3. MZP) Int. 6)
F' L1 Die Situationsdefinition zur Schulartwahl aus Hauptschullehrerinnensieht
Mit der Schulartwahl ist die Hauptschullehrerin trotz der räumlichen Nähe zur Grundschule nicht tangiert. Für sie ist klar, dass sich von allen Eltern in den fünften Klassen und darüber hinaus natürlich niemand freiwillig einen Übergang in die Hauptschule wünscht. Es ist für sie eine schulische Notwendigkeit, die sich aus den Leistungen des Kindes ergibt. "Allgemein ist bei den meisten [Eltern, E.d.A.] der Wunsch , dass sie ans Gymnasium dürfen und es versuchen. 80% der Eltern haben die Hoffnung, dass das Kind noch auf die Realschule kommt. Die Hauptschule ist ein muss und da will keiner freiwillig hin." [LKu_MZ3_0:85-0:87]
Die Arbeit der Hauptschullehrerin wird zum einen von dem Vorurteil erschwert, dass ihre Schulart eine "Rest-Schule" ist und zum anderen , dass "ihre Schule" trotz relativer Randlage einen schlechten Ruf hat. Ihre Aufgabe mit den Schülern dieser Schulart sieht sie so, ,,[.. .] wirversuchen die [Schüler, E.dAJ ja am Ende auch so weit :
,,[...] spielen die Eltern eine Rolle, also wie stark setzen die sich für das Kind ein? Sitzen sie sich auch mal bei den Hausaufgaben [...]" [LKu~3_1:11-1 :12] . Bei den Kindern in ihrer Klasse, da ,,[...] sieht [man, E.d.A.] es nur bei wenigen Schülern, dass die Eltern da hinterher sind. Hausaufgaben machen, Schulranzen überprüfen, auf Klassenarbeiten mit ihnen lernen, ja das ist hier nicht gegeben." [LKu_MZ3_ 1:16-1:19].
Manche ihrer Kinder sind in ihrer Freizeit ganz oder teilweise auf sich allein gestellt. Ihrer Einschätzung nach sind es die wenigsten Kinder in ihrer jetzigen Klasse, mit denen auch privat " aktiv" etwas unternommen wird. n[.. J Und dann sindes eben sprachliche Probleme bei vielen Schülem unddann gibtes wenige Schüler, die so etwas
234
Darstellung der mündlichen Befragung
wie eine Rechenschwa'che haben, ja. Die meisten Schüler sindwirklich mit sprachlichen Problemen undohne Hi!fe der Eltern."[ebd.] Nach Meinung der befragten Klassenlehrerin fehlt es bei Carim eben genau an dieser elterlichen Unterstützung, den nötigen Hilfestellungen und Anleitungen in schulischen Belangen. " D a ist die Hilfe unserer Meinung nach nicht vorhanden. D ie El tern schätzen ihn falsch ein und denken er ist ein schlaues Kerlchen und das stimmt so aber nicht. Er ist ein schlaues Kerlchen, aber er macht nicht genug draus. Er denkt er wäre sehr schlau und müsste deshalb nichts machen und das wirkt sich dann auf Verhalten und Noten eben auch aus. Die Gespräche mit den E ltern, jetzt nach den Ferien findet auch wieder eins statt, muss ja immer mit Dohnetscher stattfinden, weil uns das [00'] da kommt sonst nicht das rüber, was wir eben auch sagen wollen . Die finden schon recht selten statt, weil es eben schwierig ist sie hierher zu holen und einen Dohnetscher zu organisieren." [LKu_MZ3_1 :28-1:34]
Die Lehrersicht auf die individuelle Ebene - Carims Arbeitsverhalten Für jede Klasse wird an Frau Bühlers Hauptschule ein Ordner angelegt, in den die Vorinformationen wie die Fehl- und Vergessenslisten eingehen. Carim findet sich nach Angaben der Klassenlehrerin in dieser indirekten Dokumentation des Arbeitsverhaltens der fünften Klasse recht häufig wieder. "Beim Carim dürfte das die Hälfte sein: 50% Vergessensliste, dass er nichts macht. Wobei es dabei hauptsächlich darum geht Arbe iten abzuliefern zu Hause, Unterschreiben zu lassen und Verbesserungen zu machen und Strafarbeiten uns abzuliefern und das macht er halt gar nicht. D ie drei Punkte sind so das gröbste" [LKu_MZ3_0:74-0:76].
Im ersten Gespräch mit der Klassenlehrerin haben die Eltern deutlich gemacht, dass die Hauptschule nicht ihre Wunschschule ist und Carim schnellstmöglich auf das Gymnasium kommen soll. Die Lehrerinnensicht auf die individuelle Ebene - Carims Leistungsentwicklung Diskussionsgegenstand ist in vielen Fällen eben genau das Sozialverhalten des Kindes. "Da kommt bei uns oft die Diseussion.]« die Notensindvorhanden, aber das Verhalten ist überhaupt nicht so, dass man das Kind weitergeben kann" r...] [LKu_MZ3_2:642:67]. In seltenen Fällen kommt es auch zu einem Nichtwechsel in die Realschule, obwohl die Noten ausreichen würden 66 • Carim hat sich im Schuljahresverlauf nach Ansicht der Lehrerin angestrengt und in Mathematik eine 2,5, in Deutsch eine 3,5 und in Englisch eine 3 erzielt. Im zweiten Halbjahr wurden die Noten zunehmend 66
Für einen Übergang in die Realschule müssen die Schülerinnen einen Notendurchschnitt von 2,33 in Mathe, Deutsch und Englisch erreichen. Zudem benötigt der wechselwillige Schüler die Zustimmung der Klassenkonferenz. Sind die Noten erreicht, kann das Gremium lediglich aufgrund des Sozia1verhaltens seine Bedenken einräumen den Wechsel aber nicht verhindern.
Darstellung der mündlichen Befragung
235
schlechter. Die letzten Arbeiten in den drei Kernfächern liegen nun zwischen 4 und 5 [LKu_MZ3_2:99-3:05]. " E s kann gut damit zusammenhängen, Wir haben ilun natürlich schon klar gemacht, dass das so nicht reicht. Zwei zweier muss er haben und er schafft das nicht in einem halben Jahr um eine ganz Note sich zu verbessern in den drei Hauptfächern. Das ist nicht möglich. Vielleicht wäre es manchmal möglich, aber bei Carim haben wir es eben nicht als Möglichkeit gesehen. Ahm, ich denke, dass das schon ein Frust für ihn war . Das für ihn dann klar war ich schaffe es eh nicht und was wir eben von zu Hause auch gehört haben, dass er von den Eltern ganz arg unter Druck gesetzt wurde: Du musst die Realschule schaffen, weil sonst [...]. Das war schon recht heftig in dem Sinne "D u bist sonst nichts wert" und ich weiß nicht, wenn man das als Kind immer gesagt bekommt, vielleicht baut man sich ja mal eine Antihaltung auf," [LKu_MZ3_3:52-3:59]
In der arabischen Familie scheint laut Einschätzung der Lehrerin der erstgeborene Sohn eine kulturbedingte Sonderrolle einzunehmen und besondere Privilegien und Freiheiten zu genießen. Die Lehrerin sieht ihn innerhalb der Familie als "den kleinen Prin~' [LKu_MZ3_3:64] und so können sich die Eltern seine Verhaltensauffälligkeiten in der Schule überhaupt nicht erklären. Die Lehrerin vermutet, dass Carim in den beiden sozialen Kontexten zwei gänzlich verschiedene "Rollen einnimmt oder vielmehr spielI' [ebd.].
Lehrerinnensicht auf die schulische Ebene - zukünftige Entwicklung Die schulische Entwicklung der letzten Wochen erläutet die Klassenlehrerin mit Bestürzung: "Aus unserer Sicht hat er sich zum Negativen entwickelt. Der Carim hat jetzt einige Einträge bekommen dieses Schuljahr. Viele Verhaltensbemerkungen oder -einträge, ähm . (pause) Wir denken oft um sich vor Klassenkameraden aufzuspielen und als Klassenclown oder als große Person dazustehen. Das wird jetzt gerade noch schlimmer seid er zwei Wochen bei einem Auszeitprojekt dabei war und wir die H offnung hatten, dass sich da das Verhalten ein bisschen ändert. Ahm, jetzt seid er da zurückgekommen ist, es ist noch nicht lange her, ist sein Verhalten ganz negativ. Er versucht uns Lehrern gegenüber so " den netten Schüler" zu geben und verständnisvoll zu sein. Wir bekommen aber einfach mit, dass es nur aufgesetzt ist und wir hören das auch von den Mitschülern, wie er sonst redet. Also, er versucht jetzt nur noc h rumzuprahlen und fällt nu r noch negativ auf." [LKu~Z3_ 3:70-3:77]
Sein Verhalten in der Schule scheint immer an die Grenzen des Erlaubten zu gehen und an einigen Stellen auch darüber hinaus. Die Lust am Unterricht ist ihm gänzlich vergangen. Immer wieder kommt es zu Konflikten zwischen Carim und seinen Lehrerinnen. Zurzeit steht er ihr zufolge kurz vor einem Schulausschluss, der ein letzter Schritt gegen das regelignorante Verhalten des Jungen wäre. Für die Hauptschullehrerin ergeben sich abschließend fünf wichtige Schulartwahlkriterien, die für einen positiven Schulartübergang in eine weiterführende Schule zentral sind. Das Leistungsvermögen des Kindes hat für sie kein Alleinstellungsmerkmal, sondern es
236
Darstellung der mündlichen Befragung
muss um die Motivation und das Durchhaltevermögen ergänzt werden. Daran scheint es vor allem den Kindern in der Hauptschule zu mangeln.
Schulartwahlkriterien aus Sicht der Hauptschullehrerin: 1. Leistungsvermögen des Kindes
I
1. Motivation und Durchhaltevermögen
2.
Lebensentwurf des Kindes
3.
Bildungschance der eigenen Schulart
4.
berufliche oder soziale Stellung der Eltern
Tabelle 7.13: Schulartwahlkriterien aus Sicht der Hauptschullehrerin von Carim (In!. 6)
Darstellung der mündlichen Befragung 7.8
237
Die kritisch-initiative Schulartwahl am Beispiel der Familie Chemni (Interview 5)
1.8.1 Der Verlaufder kritisch-initiativen Schularlwahl ausSchiilersicht A. S2 Familialer und schulischer Hintergrund der Schülerin Rosana
Alter
12 Jahre; Einschulungs alter Rosana (Kind)
8 Jahre
Ge-
Wohnsituation Mittelstädtisehe Wohnverhältnisse
-
Altbauwohnungan einer großen Einfallstraße
schle-
cht
Wohnort
weiblich
StK. Stuttgart
Herkunft der Eltern
Vater: Libanese Mutter: Deutsehe
Geschwi sterfolge
jüngstes zweier Kinder ---
13jährige Zweisprachigkeit Ja (deutscharabisch)
Schwes
TeL
schulische Unterstüt-
zung (Art u. Umfang)
familiäre Unterstützungdurch die große Schwester; ---
"externe" Nachhilfe 23 Mal die Woche
Informationenzum Kind Das Kind wächst im deutschenund arabischen Kulturkreis auf. Mit den Eltern spricht sie vorrangig deutsch. Rosanawar eineFrühgeburrim 5. Monatrnit einemGewicht von 1000g; bis heute verz ögerte körperlieheEntwicklung
Tabelle 1.14: Persönliche undsoiJale Rahmendaten i!'m Kindmit kr.-in. Schularlwahl Rosana ist die Schülerin mit dem knappsten Schulübergang, was die Ergebnisse des Test- und Beratungsverfahrens angeht. Die Eltern stehen einer Teilnahme an dem Interventionsverfahren anfangs skeptisch gegenüber, da sie ihr Kind nicht überfordern wollten. Rosana war eine Frühgeburt im 5. Monat und ihre körperliche Entwicklung liegt noch immer sichtbar hinter der von gleichaltrigen Mädchen zurück. Erst seit knapp zwei Jahren kann sie ein " normales Leben" führen, bis dahin
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Darstellung der mündlichen Befragung
musste sie zusätzlich beatmet werden und eine Reihe von Medikamenten einnehmen. Der Besuch eines speziellen Kindergartens und einer Vorschule ermöglichte es ihr, spezielle Fördermaßnahmen wahrzunehmen und mit acht Jahren in eine Regelgrundschule überzugehen. Das Interview mit Rosana und Familie Chemni fand aufgrund mehrerer familienbedingter Absagen zu einem sehr späten Zeitpunkt statt, so dass sie das Test- und Beratungsverfahren bereits abgeschlossen hatten . Meinem Eindruck nach tritt Rosana äußerst bestimmt auf und mit großer Sicherheit hinsichtlich eines Übergangs in die Realschule. In Mathematik kann Rosana lediglich eine ausreichende und in Deutsch eine befriedigende Note erzielen. Das leitende Motiv dieser kritisch-initiativen Schulartwahllässt sich als ein aus der Arbeiterschicht "erkämpfter Übergang" in die Realschule beschreiben. Bos? Die Situationsdefinition zur kritisch-initiativen Schulartwahl der Schülerin Rosana
Eine richtige Wahl sieht auch Rosana für sich nicht, aber sie weiß, dass ihre schlechten schulischen Leistungen in den Kernfächem ohne das Test- und Beratungsverfahren nicht für die Realschule ausgereicht hätten . " Also, ähm , als ich in die 4. Klasse gekommen bin , habe ich dann beim ersten Test ein auch ein Vierer dann geschrieben und dann habe ich halt auch gemerkt, dass es dann halt wieder, dass ich dann halt wieder schlechter werde . Ja. Dann habe ich halt das Halbjahreszeugnis gesehen, ja, und dann habe ich halt gedacht, dass ich ' s halt nicht mehr schaffe wegen Mathe" [SChe~Z2_0:67-0:701 .
Trotz der schlechten Noten ändert sich die positive Einstellung des Kindes zur Schule nicht und sie fasst für sich den Entschluss, dass sie auf jeden Fall den Übergangstest machen möchte. Schon vor Erhalt der Bildungsempfehlung konstatiert sie deshalb, " da [In der Realschule , E.d.A.] weiß ich halt, dass ich mich halt mehr anstrengen muss halt, also mehr aufpassen muss als jetzt" [SChe~Z2_1:50] . Die Entscheidung, aufweiche Schule sie kann , trifft ihrer Ansicht nach die Grundschullchrerin. Abe r wenn sie die Noten nicht schafft, ,,[...] dann kann ich ja immer noch einen Test machen" [SChe_MZ2 _1:62].
Es bleibt unklar, warum Rosana der Entscheidung der Lehrerin entspricht, nicht aber berücksichtigt, dass sie die Schulartwahl über die erzielten Kemfachnoten und die Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren selbst bestimmen kann. Die zehnjährige möchte geme Ärztin werden und strebt deshalb mindestens den Realschulabschluss an. Während ihre Eltem sie nicht überfordem möchten und schon das Testverfahren als besondere Stresssituation ansehen, wäre ein weiterführender Schulabschluss jedoch durchaus in ihrem Sinne. In ihren Aspira-
Darstellung der mündlichen Befragung
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tionen sind Eltern und Tochter aber ,,gleicher Meinung' [SChe_MZ2_2:21]. Nachdem Rosana die Maßgabe "Realschule" vorgegeben hat, schließen sich die Eltern ihrer Meinung an. In dieser "gemeinsamen" Form treffen sie die Entscheidung für einen Übergang in die Realschule, der noch durch die Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren bestätigt werden muss. Der Test liefert im ersten Durchlauf kein eindeutiges Ergebnis und Rosana erhält die Bildungsempfehlung für die Realschule erst nach einer erneuten mündlichen Testung durch den Beratungslehrer und einer nachfolgenden Abstimmung in der Klassenkonferenz. Zu ihrer Grundschullehrerin hat Rosana nach eigener Einschätzung ein gutes Verhältnis. Durch sie wurde sie bestärkt das Verfahren zu durchlaufen und auch sonst sieht sie sie als wohlwollende Lern- und Lebensbegleiterin, deren Rat sie schätzt und annehmen kann. C..s 2 Die Ebenen der Schulartwahl aus Schülersicht (2. MZP, Int. 5) Schülersicht auf die schulische Ebene - Rosanas schulische Problemfelder ,,[.. .] In der 2. hatte ich eine Lehrerin, die war halt dwnm, die hat mir auch die schlechte Note gegeben und in der 3. hatte ich halt eine andere Lehrerin, bei der hatte ich in Mathe halt inuner Einser und in der 4. hatte ich halt wieder die gleiche Lehrerin wie im 2. Schuljahr, da habe ich dann wieder Vierer geschrieben" [SChe_MZ2_0:140:15].
Diesen Lehrerinnenwechsel stellt Rosana als zentrales Moment für den Wechsel in die vierte Klasse heraus. Für sie zeigt sich der Schuljahreswechsel " [...] ähm, von den Noten haltauch schwierig' [SChe_MZ2_0:63]. Den Verlauf des Halbjahres bis zur Halbjahresinformation fokussiert sie auf die Probleme im Fach Mathematik, und führt dies auch als Grund für das Nichterreichen des Übergangs in die Realschule an, ,,[...] und dann habe ich haltgedacht, dass ich 's halt nicht mehr sch4fe wegen Mathe" [SChe_MZ2_0:67-0:70]. Trotz der schlechten Leistungsrückmeldungen ändert sich ihre Lernbereitschaft und Motivation nicht. Nach wie vor lernt sie regelmäßig und erledigt gemeinsam mit ihrer Schwester die Hausaufgaben und wird ,,[...] tJVei oder drei Mal die Woche" [SChe_MZ2_2:69] von einer studentischen Nachhilfelehrerin Unterstützung. Mit ihr erledigt sie die Hausaufgaben und bereitet den Lernstoff für Klassenarbeiten auf. Dass ihr die Schule wichtig ist, betont die Zehnjährige immer wieder. Schülersicht auf die individuelle Ebene - familienintemes Rollenverhalten Bei der Frage nach ihren Stärken beschreibt das Kind sich zunächst als launisch und dickköpfig und sieht sich fami1ienintern als "bestimmend" an. Als Frühgeburt mit verlangsamter körperlicher Entwicklung ist von außen seit ihrer Geburt das Moment des Schützenswollens und der Besorgnis gegeben. In der Situation der
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Darstellung der mündlichen Befragung
Schulartwahl scheint die Heranwachsende die Erwartungen der Eltern übertreffen zu wollen und gibt deshalb die Zielsetzung der Schulart vor. So ist ihre Aussage zu verstehen, dass ,,[.. .] ich eigentlich schon [/ /} ich hab alles votgegeben. Eigentlich schon" [SChe_MZ2_3:69]. Rosana kann sich gegenüber den Familienmitgliedern einiges erlauben und nimmt vor allem beim Vater eine privilegierte Stellung ein.
C:s2 Die Ebenen der Schulartwahl aus Schülersicht O. MZP. Int. 5) Schülersicht auf die schulische Ebene - Lemaufwand und Leistungsanforderungen in der Sek. 1 Ihre Leistungen an der neuen Schule schätzt sie gut ein und das Leistungsniveau beschreibt sie als "machbar". Sie kann in allen Fächern dem Unterrichtsverlauf folgen, auch wenn es "schwieriger undkompli:dertergeworden [...] [SChe_MZ3_0:59]" ist. Für sie bleibt Mathematik nach wie vor das schwierigste Fach, was sich schon in der Grundschule abgezeichnet hat. In Englisch und NWA hat sie keinerlei Probleme und beziffert ihren häuslichen Lernaufwand auf ,,[...] iJVei, drei Stunden [...]" [SChe_MZ3_0:95]. In dieser Zeit bearbeitet sie gemeinsam mit einer bezahlten Nachhilfelehrerin die Hausaufgaben. Die zusätzliche Zeit nutzt sie um Inhalte zu wiederholen und zu vertiefen. Da ihr dieses Zeitfenster aber nicht ausreicht um alle schulischen Arbeiten und das nötige Lernaufkommen zu erledigen, lernt sie noch an den Wochenenden. Ihr Tagespensum ist bestimmt durch die fachspezifischen Vorgaben und die Terminierung der Klassenarbeiten. Schülersicht auf die individuelle Ebene - Reaktion auf psychische Belastung Nach dem Übergang hat sich die Schülerin nach eigenen Aussagen in ihrem Verhalten gegenüber ihren Mitschülerinnen und Mitschülern verändert. ,,Also, ich binjet':(!. Die wirddasschon manchmal merken, weil [. ..] ich weiß nicht. ZNm Lehrer binich schon nett, eher :;;}I den Kindern nicht. Eher :;;}IMädchen. / / " [ebd.]. Das negative Verhalten richtet sich tendenziell gegen die
Mädchen in ihrer Klasse und Rosana führt offen ihre Antipathie gegen einige der Mitschülerinnen an. Während sie in der Familie bestimmend scheint, legt sie in ihrer Klasse ein selektives Verhalten an den Tag. Den Lehrerinnen gegenüber ist sie freundlich, während sie vor allem ihren Mitschülerinnen nicht den Respekt und die Freundlichkeit entgegenbringt und es so immer wieder zu Auseinandersetzungen kommt. Schülersicht auf die schulische Leistungsanforderungen der Sek. 1
Ebene
Lemaufwand
und
Die neue Schule hat auch einen erheblichen Mehraufwand an Lern- und Vorbereitungsarbeit für die Zehnjährige mit sich gebracht.
Darstellung der mündlichen Befragung
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"Gm, das ich / [...] ich hab jetzt nicht mehr so viel Zeit für andere Sache, älun Sachen, halt" [SChe_MZ3_1:81]. Der Wochenverlauf sieht für sie so aus: ,,D ienstags, [.. .] Ich geh in Kunst AG. Und da komm ich halt auch erst um [...], da bin ich halt auch erst um halb 4 zu Hause. [...] Ja, und dann tu ich halt auch noch ein bisschen Mathe lernen oder EWG oder so. Was ich am nächsten Tag hab . / / und mittwochs da hab ich auch um 12 aus, aber da hab ich nicht so viele Fächer, nur drei Fächer. / / und ja, da lerne ich halt auch für Deutsch" [SChe~Z3_2:05-2:08] .
Einen großen Anteil an der regelmäßigen häuslichen Lern- und Arbeitszeit hat die Nachhilfe1ehrerin, die nachmittags für ihre Schwester und sie zur Verfügung steht. Es werden wie schon in der Grundschule Hausaufgaben gemacht, kontrolliert und besprochen. Die studierte Nachhilfelehrerin wurde beauftragt, ,,[...], weil ich halt oft die Hausaufgaben nicht kapiert hab, dann muss sie mir die halterklliren und dann machen wir die halt ~sammen" [SChe_MZ3_2:14-2:33]. Ein weitaus wichtigerer Gesichtspunkt war es, eine längerfristige Leistungssteigerung vor allem in Mathematik zu erzielen. Dafür sollten die beiden Töchter an vier Nachmittagen eine dreistündige Nachhilfe erhalten. Y
2a+b
Eine Übersicht zu den Einflussfaktoren der Schulartwahl des 2. u. 3.
MZPs
Rosanas Ausführungen zur Schulartwahl ist bestimmt von der schulischen und individuellen Ebene, in deren gemeinsamem Zentrum das Bestreben den gewünschten Schulübergang zu erzielen steht. Den Ausgangspunkt bildet die individuelle Ebene auf der von Seiten der Tochter die Entscheidung für den angestrebten Realschulübergang und die Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren gefallen ist. Aus Sicht von Rosana sind die schlechten Mathematikleistungen und die Notwendigkeit für den Übergangstest vor allem auf eine Fachlehrerin zurückzuführen. Auf familiärer Ebene steht ihre besondere Rolle im Mittelpunkt, die sie in der Familie einnimmt und der sie mit entsprechenden schulischen Leistungen gerecht werden möchte. Beide Faktoren führen sie letztlich zur Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren. Im zweiten Interview rückt Rosana mehr die Leistungsanforderungen der Sekundarstufe in den Vordergrund, die eine besondere Herausforderung für sie darstellen. Trotz einiger schulischer Problemfelder sieht sie den weiteren Verbleib aber nicht gefährdet, Die hohe Lern- und Arbeitsbelastung scheint auf individueller Ebene erste Wirkungen zu hinterlassen. Rosana bekundet selbst eine erste Verhaltensänderung gegenüber ihren Mitschülern. Ihr eigenes Auftreten gegenüber den Klassenkameradinnen beschreibt sie als respektlos und wertet diese mit abfälligen Äußerungen ab. Das Verhältnis wird zunehmend disharmonischer und angespannter, wohingegen sie sich den Lehrerinnen gegenüber stets als ruhige, freundliche und bemühte Schülerin zeigt.
Darstellung der mündlichen Befragung
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D. s? Die Entscheidungsträger der Schulartwahl aus Schiilerinnensicht Für Rosana steht fest, dass sie innerhalb ihrer Familie die Entscheidung für die Schulartwahl getroffen hat . "Das hab ich ganz allein entschieden. Mit meinen Eltern hab ich klar gesprochen." [SChe_MZ2_1:77-1:78]. Mit aller Deutlichkeit geht sie von einer durch sie bestimmten Schulartwahl in die Realschule aus. Mit den Eltern gemeinsam hat sie festgelegt, dass zunächst der Test gemacht werden soll. Den Eltern weist sie einen Anteil von einem Viertel zu, während sie Dreiviertel der Entscheidung auf sich verbucht. Für Rosana steht fest, dass sie beim Testverfahren nichts zu verlieren hat.
7.8.2 DerVerlatifder kritisch-initiativen Schulartwahl aus Elternsicht (Int. 5) Teil-
nahme am
Interview
Mutter Ja
ja Vater
(2. MZP)
Nein
(3. MZP)
Berufliche Stellung
Umfang der Berufstätigkeit
höchster Sehnlabschluss
Migrationshintergrund
Vorarganztägig beiterin
Hauptschule
nein
Selbständiger
kein Schulabschluss
ja Herkunftsland: Libanon
ganztägig
Familiäre Besonderheiten Die Familie lebt mit den Großeltern in einem Haus, die für die Kinder wiehtige Bezugs- und Betreuungspersonen sind.
Tabelle 7.15: Persönliche undso:(jale Rahmendaten der Eltern mit kr.-in. Schulartwahl Rosanas Eltern sind beide ganztägig berufstätig und können sich nur selten um die schulischen Belange der Tochter kümmern. Dennoch versuchen sie über eine externe Nachhilfe die regelmäßige Erledigung der Hausaufgaben sicher zu stellen. Erste Erfahrungen mit dem Schulübergang konnten sie bei Rosanas großer Schwester sammeln, die einen ähnlich knappen Verlauf nahm und aktuell die 8. Klasse der Realschule besucht. Mutter und Vater sind bei dem Thema hin und her gerissen, da sie ihre Tochter nicht überfordern möchten. Immer wieder stellen sie heraus, wie schwierig die Entwicklung in den Jahren vor der Einschulung verlief. Dennoch wollen sie unbedingt, dass es ihre Tochter auf die Realschule schafft,
Darstellung der mündlichen Befragung
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wenn sie das selbst möchte. Mit dieser Rückversicherung ziehen sie gemeinsam in den "Kampf', um der Tochter den bildungsbiografischen Aufstieg zu ermöglichen, der ihnen verwehrt geblieben ist. Rosana spricht mit ihrem Vater ab und zu arabisch, aber innerhalb der Familie wird überwiegend auf die deutsche Sprache zurückgegriffen, die auch der Vater versteht und sprechen kann.
B' E2 Die Situationsdefinition zur Schulartwahl aus Eltemsicbt Von einer Schulartwahl im eigentlichen Sinne möchte die Mutter nicht sprechen, denn ,,[.. .] der Briefwar da und dann haben wir halt eingewillig~ wir haben da nicht viel getro.ffen,ja" [EChe_MZ2_4:04-4:05]. Für sie sind es die Leistungen von Rosana und ihr Wunsch auf die Realschule zu gehen, der sie dazu bewogen hat sich für das Test- und Beratungsverfahren zu entscheiden. Die eigenen Bildungsaspirationen stellt der Vater hinten an. Er sichert seiner Tochter alle nur erdenkliche Unterstützung zu. In erster Linie ist es den Eltern zufolge der Wunsch von Rosana ,,[...] und wir wollten, wir waren auch, egal was ist, was es uns koste~ wir waren hinter ihrgestanden" [EChe_MZ2_4:24]. Nach Meinung der Mutter durchläuft die Tochter völlig aus eigenem Antrieb das Testverfahren, dass sie laut "P.fYchologe, äh der P.fYchiater beim Test nicht bestanden hat' [EChe_ MZ2_4:49-4:50]. Daraufhin spricht die Mutter nochmals mit ihm und es werden aufgrund des knappen Ergebnisses nochmals einige Tests wiederholt. Als die Tochter vom zunächst negativen Ergebnis erfahrt. ,,[...] war[sie E.dA.] fix undfertig, weil sie 's nicht bestanden bat, dann habe ich gesag~ nein, das muss sie nicht noch mal durchmachen. Für uns war das dann aber erledig~ ja" [EChe_MZ2_4:514:55]. Der Beratungslehrer empfiehlt der Mutter weitere Tests, von denen die Mutter aber aufgtund der psychischen Belastung für ihre Tochter absieht. Aus dem Testverlauf leitet die Familie eine Bildungsempfehlung für die Hauptschule ab. Sie wissen bis zum Erhalt der umgewandelten Bildungsempfehlung nicht, dass der Schulleiter in Absprache mit der Klassenlehrerin und dem Beratungslehrer schlussendlich zugunsten einer Realschulempfehlung votiert hat. Im Hinblick auf das Test- und Beratungsverfahren und die Schulartwahl insgesamt resümiert sie, dass es schade ist, in der Form den Noten der Lehrer ausgeliefert zu sein, mit denen dann die Entscheidung begründet wird. Aufgrund der fehlenden Abstimmung und des fehlenden Informationsaustausches fühlen sich die die Eltern auch ganz schön alleingelassen mit dem Ganzer!' [EChe_MZ2_4:67] .
"r...]
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Darstellung der mündlichen Befragung
C.B2 Die Ebenen der Schulartwahl aus Eltemsicht zum 2. MZP (Int. 5) Die Eltemsicht auf die schulische Ebene - Rosanas schulischen Problemfelder Als Hauptgrund für das schlechte Abschneiden der Tochter stellt die Mutter die insgesamt schlechte Leistungsbewertung durch die Mathematiklehrerin in den Vordergrund. Während die Familie mit den Leistungen der Tochter insgesamt zufrieden ist, thematisiert sie im Verlauf des Gesprächs immer wieder diese Problematik. "[ . . .] die haben .Ärger gehabt mit der Mathelehrerin im 4. Schuljahr und das ist eigentlich auch schade, weil das ist das, was eigentlich für sie spricht, für die Zukunft und das hat die Lehrerin vermasselt" [EChe~:L 0:43-0:45]. Bis zur 3. gings eigentlich ganz toll, aber in der 4. hat's wieder eigentlich, die anderen Fächer gingen, aber Mathe war schon... Da hat alles, die Benotung hat nicht gestimmt. Alles hat einfach nicht gestimmt" [EChe_MZ2_0:43-0:45].
Im Verlauf der vierten Klasse wurde ein Gespräch mit der Schulleitung und der Mathematiklehrerin organisiert und durchgeführt. "Dann hat sie sich ein bisscben gebessert, aber ~m Schluss hin war es wiedergleich" [EChe_MZ2_1:01-1:02]. Die Kontroversen im Unterricht zwischen der Lehrerin und den Kindern, die schlechte Bewertungspraxis und die daraus resultierende Unlust am Fach macht die Mutter als Hauptgrund für das Verfehlen der Bildungsempfehlung für die Realschule verantwortlich. In dieser Zeit haben sich die Eltern Gedanken gemacht, ob das Kind die vierte Klasse wiederholt. ,Ja, wir waren auch am Überlegen, dass sie die 4. Klasse jel:(!
wiederholt, aber dass sie ' sjel:(! doch geschajJt hat, haben wirgesagt, jel:(!probieren wir' s half' [EChe_MZ2_0:66-0:67]. Grundlage der Schulartwahlentscheidung ist der Austausch mit den Eltern der Schulklasse, die sich über die Probleme mit der Mathelehrerin solidarisieren . Ansonsten gibt es nach Angaben der Mutter viele Gespräche mit Verwandten und Bekannten, in denen es darum ging herauszufinden, wie die Einschätzungen zum Leistungsvermögen der Tochter lauten. Die Schulartwahlentscheidung erfolgt bei Familie Chemni auch auf der Basis externer Meinungsbilder, die sich die Eltern im weiteren Familien- und Freundeskreis einholen. Vor allem die Belastbarkeit der Tochter im Hinblick ihrer lange anhaltenden Entwicklungsverzögerung durch die Frühgeburt ,,[...] ist ftir mich als Mutter ein großer Unsicherheitsfaktot" [EChe_MZ2 _2:03].
Eltemsicht auf die individuc1le Ebene - Wunschschule von Tochter und Eltem Eine Beeinflussung der Tochter in deren EntscheidungsfIndungsprozess schließt die Mutter aus. ,,[...] egal was ist, die können sie mit egal was locken. Sie bleibt dann immer
Darstellung der mündlichen Befragung
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aufihrem Standpunkt' [EChe_MZ2_3:72-3:73]. Aus Sicht der Mutter ist ihre Tochter eine Kämpferin und das schon von Geburt an. "Rosana warein richtiges Friihchen und kam schon mit 5 Monaten und 1000g aufdie Welt. Bis in den Kindi warsie etwas verzögert in ihrem Wachstum und so. E ine besondere Betreuung hat sie gekriegt, da sie ja immer mit einer SauerstojJJlasche rumlauftn musst' [EChe_MZ2_4:14-4:17]. Die Eltern weisen im Gespräch immer wieder auf die Frühgeburt und die verzögerte Entwicklung hin. Damit begründen sie auch ihre innere Zerrissenheit bei der Schulartwahl, da sie ihr Kind aufgrund der besonderen Biographie nicht überfordern möchten, aber es dennoch gerne auf der Realschule sehen würden. Dass die Entscheidung für die Realschule richtig ist, legitimiert die Mutter zum einen mit ihrem Mutterinstinkt, der Willenskraft der Tochter und deren Berufswunsch. "Hm, weil vor allem, wenn sie sagt, sie willKinderä'rztin werden, ich denke, dass wird dann schon, wird nicht in 5 oder 6 Jahre vorbei sein" [EChe_MZ2_3:86-3:87].
C'E2 Die Ebenen der Schulartwahl aus Eltemsicht zum 3. MZP (Int. 5) Das Elterngespräch zum 3. Messzeitpunkt findet nur mit der Mutter statt und dauert aufgrund weiterer Termine ihrerseits lediglich 45 Minuten. Es erfolgt unter einem entsprechenden Zeitdruck.
Eltemsicht aufdie schulische Ebene - schulische Problemfelder Rosanas Die zweifache Mutter gibt zunächst einen Einblick in die Leistungsentwicklung der jüngsten Tochter. Zuvor hebt sie den konfliktfreien Schulartwahlverlauf hervor.
"Nee, da ist eigentlich garnichts. Sie hältsich im Rahmen mit der Note, so iJVischen Zwei und Drei. Nee, eigentlich so weit nicht' [EChe_MZ3_0:40-0:45]. Mit dem Übergang der älteren Tochter vor zwei Jahren hat sie schon etliche Erfahrungswerte gewonnen und ist sich sicher, dass sie die Voraussetzungen der jüngsten Tochter richtig einschätzen kann. Obwohl die Mutter im ersten Interview noch Bedenken bezüglich eines Wechsels der Tochter geäußert hatte, ist sie gegenwärtig der Ansicht, dass ,,[... ] sie in der Realschule angekommen ist" [EChcMZ3_0:32]. Die angeführten körperlichen Indikatoren durch eine Frühgeburt und eine sich aus der verzögerten Entwicklung mögliche Überforderung steht nicht mehr zur Debatte. Außer einem geplanten privaten Umzug ist keinerlei weitere Überlegungen für einen Schulartwechsel gegeben. Die größten Probleme in der neuen Schule hat die Tochter in Mathematik, ,,[. ..] das warschon immer so" [EChe_MZ3_0:62] . Aber sie bekommt externe Unterstützung. " Sie kriegt Nachhilfe, hat früher auch geh abt in der Grundschule. Was heißt Nachh ilfe? Hausaufgabcnbctreuung, weil ich halt arbeite und das brauchen die dann. Ja, aber sonst eigentlich [...]. Bissehen intensiver lernt sie jetzt halt, weil sie weiß jetzt ist es ernst gewo rden" [EChc_MZ3_0:66-0:68].
Darstellung der mündlichen Befragung
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Den zeitlichen Lernaufwand, den die beiden Töchter mittags ableisten, liegt bei rund drei bis vier Stunden. Bei der Nachhilfe soll es vorrangig um die Erledigung der Hausaufgaben gehen. Das eigentliche Lernen auf Klassenarbeiten muss Rosana über die Betreuung hinaus selbst leisten und diese Zeitfenster fallen sehr ,,[...] unterschiedlich [aus} E.dA]} wie sie graddraufist. Mal brauchtsie !(jemlich lange undmalgeht es :digit' [EChe_MZ3_0:80]. Klares Ziel der Mutter ist es, ihren Kindern einen Realschulabschluss zu ermöglichen. Ein Elterngespräch mit der Klassenlehrerin fand schon statt, aber auf die besprochenen Themen möchte die Mutter nicht weiter eingehen. Für sie ist Rosana ,,[...] einfach selbständiger {geworden} E.dA.]. Nicht bloß in der Schule) sondern sonst auch. Erwachsener auch denke ich istsie geworden} erwachsener" [EChe_MZ3_1:28].
Eltemsicht aufdie individuelle Ebene -psychische Belastungen Rossnes Grundsätzlich ist die Mutter der Meinung, dass Rosana ,,[.. .] in der Realschule angekommen ist' [EChcMZ3_0:32] . Die angeführten körperlichen Indikatoren wie Schlaflosigkeit vor Klassenarbeiten oder das temporär aggressive Verhalten ihrer Tochter gegenüber Klassenkameradinnen bringt die Mutter nicht in Zusammenhang mit einer möglichen Überforderung. Einen Schulartwechsel schließt sie zum Schluss des Gesprächs noch einmal kategorisch aus, der steht "meiner Meinung nach ftir uns nicht an" [ebd.]. Eine große Belastung stellt sich aus Sicht der Mutter eher innerfamiliär, da sich der Vater von ihr und der Familie getrennt hat und momentan nicht mehr in der Familie lebt. "Das belastet Rosana gerade sehr stark} da ist die Schule eher außen vol' [EChe_MZ3_1:09]. Bei der Auswahl und Gewichtung ihrer wichtigsten Kriterien der Schulartwahllegt sich Frau Chernni auf sieben Punkte fest und stellt die Selbständigkeit im Lernverhalten und die Rückmeldung der Grundschullehrerin an erste Stelle. Beides seien für sie die Voraussetzungen gewesen Rosana beim Übergang in die Realschule zu unterstützen.
11. Rückmeldung in
1.
Selbständigkeit im Lernverhalten
3.
Lebensentwurf meines Kindes
4.
Leistungseinschätzung der Grundschule
5.
Leistungsvermögen unseres Kindes
6.
Motivation und Durchhaltevermögen unseres Kindes
7.
Entwicklung meines Kindes in der Grundschule
Beratungsgesprächen
Tabelle 7.16: Rangfolge der Schulartwahlkriterien ausSichtder Eltern (Int. 5)
Darstellung der mündlichen Befragung
247
Im ersten Gespräch mit den Eltern liegt der Schwerpunkt ihrer Sicht der Schulartwahl zum einen auf einem spezifischen schulischen Problemfeld. Sie machen die schlechte Leistungsbewertung durch die Mathematiklehrerin vorrangig für den Erhalt einer Hauptschulempfehlung verantwortlich. Dem stellen die beiden Eltern die individuelle Ebene mit der biologischen Komponente des Kindes als Frühgeburt gegenüber. Abgewogen wird von beiden Eltern auf der Zieldimension, die im Übergang in die Realschule liegt. Es spannt sich eine Diskrepanz zwischen den schulischen Vorgaben und den Vorstellungen und Wünschen der Eltern auf, die in keiner der weiteren Familienkonstellationen so deutlich wird. Das zweite Gespräch nach dem Übergang lenkt die Mutter ebenso, wie im ersten Interview, auf die schulischen Problemfelder, die noch immer im Bereich der Mathematik liegen. Den Lehrern in der Realschule macht sie trotz einer noch schlechteren Leistungsrückmeldung keinen Vorwurf. Auf der individuellen Ebene sieht sie ihre Tochter in einer guten Entwicklung, die sie noch reifer und erwachsener werden lässt. Eine Verhaltensänderung in negativer Richtung oder eine besondere Belastungssituation durch den Übergang in die Realschule sieht die Mutter nicht gegeben. Vielmehr begründet sie die mäßigen schulischen Leistungen mit der innerfamiliären Krisensituation, die durch die Trennung der Eltern zustande gekommen ist. D' m Die Entscheidungsträger der Schulartwahl aus Eltemsicht
Dem elterlichen Anteil an der Entscheidungsfindung räumt die Mutter einen ganz kleinen Anteil von ,,[. . .] 10% von mir aus gesehen [. ..]" [EChcMZ3_1:38] ein. Den umfassendsten Part als Entscheidungsträgerin fällt "asifsie selber, also die E ntscheidung hat sie selbst gemacht oder getroffen [.. .]." lEChe_MZ3_1 :42]. Grund dafür ist die Durchsetzungsfähigkeit oder der "Dickkopf' des Kindes und ihre ausgeprägte Persönlichkeit, die nach Aussagen der Eltern nicht von außen beeinflusst werden kann. Während die Mutter das Kind zu Beginn des Entscheidungsfindungsprozess nicht leiden lassen möchte. "Sie [Rasana, E.d.AJ hat selber gekämpft weil ähgegen uns
alle} weil ich habe ihr auch gesag~ mein Mann ist asifihrer Seite} ersteht immer hier, erwollte auch} dass sie asif die Realschule komm~ aber ich wollte nich~ dass sie leidet'
lECh c MZ 2_1:88-1:89 ]. Auch die Teilnahme am Test- und Beratungsverfahren hat die Tochter nach Aussagen beider Seiten selbst getroffen. ,,Auch sie wollt es auch selbst (pause).
Obwohl wir ihr abgeraten haben} weil jeder gesagt hat nee und wir auch} aber [...]." lEChe_MZ3_1:58-1:62]. Die Mutter hat im Verlauf der Entscheidungsfindung das Kind nach eigenen Angaben weder: "Bestärken direkt nich~ (pause) aber ich glaube abraten auch nicht' lEChe_MZ3_1:58-1:62]. Rosana wurde die Entscheidung selbst überlassen, doch es ist schwierig auszumachen, wie hoch der Anteil des elterlichen Einflusses wirklich ist.
248
Darstellung der mündlichen Befragung
Im Schulartwahlprozess fokussieren sich die Eltern auf die gesteckten Ziele und setzen den Rahmen ihrer Entscheidung so, dass die Leistungsfähigkeit der Tochter oder eine mögliche Überforderung ausgeblendet werden. Ihren eigenen Anteil schätzen sie in dem Prozess zu gering ein, denn die Hinführung auf eine Zielführung ist sicher den Eltern zuzuschreiben, auch wenn dabei der großen Schwester eine Vorbildfunktion zukommt.
1.8.3 DieEbenen der Schulartwahl aus Sicht der Gmndschullehrerin (2. MZP , Int. 5) F -S2 Die Situationsdefinition der Grundschullehrerin zur Schulartwahl Die Klassenlehrerin Frau Bungert hat grundsätzlich einen sehr kritischen Blick auf den Bildungsentscheidungsprozess in der Grundschule, den sie für sich wahrnimmt als ,,[...] tragisch, dramatisch, furchtbar und schrecklich / / [Lachen], weil es kein Schulwahlprozess ist." [LPcMZ2_O:13]. Für sie ist es eine Schulzuweisung, die den Eltern unter dem Begriff der Bildungsempfehlung verkauft wird. Ihr zufolge kommt der baden-württembergische Modus nicht nur einem Etikettenschwindel gleich, sondern viel Schlimmer ist, dass ,,Eltern und Kinder eine besonders dreiste Bevormundung erfahren" [LPcMZ2_0:13]. Die Pädagogin kann auf sieben Durchläufen mit vierten Klassen zurückblicken und unterrichtete in den letzten Jahren auch vorwiegend in der Klassenstufe drei und vier. Für sie gibt es drei Anhaltspunkte, nach denen sie die Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf eine bestimmte Schulartzuweisung hin einschätzt. An erster Stelle steht für sie die Lernbereitschaft der Kinder im Unterricht und im häuslichen Lernumfeld. Vor allem im Verlauf der Entscheidungsphase, in der viele Tests und Klassenarbeiten geschrieben werden, sind die Kinder einer ,,großen physischen Belastunt' [LPcMZ2_0:20] ausgesetzt. Nach den Erfahrungswerten der Lehrerin kann sie schon sehr schnell absehen, welche Kinder belastbar sind und welche nicht. In ihrer Klasse gab es in dem Zeitfenster viele Kinder, die etwa wegen verschiedenster Krankheiten ausfielen. Für sie hängt dieser Punkt auch mit der Lernfreude der Kinder zusammen. Nur mit der entsprechenden Freude am Lernen könnten ihre Schüler eine solche Belastungs- und Stressphase überstehen. Erst an dritter Stelle steht für die Lehrerin in der Rangfolge das über Noten erzielte Leistungsniveau, auch wenn das die schulrechtliche Voraussetzung für die Zuweisung darstellt. Die Lehrerinnensicht auf die familiale Ebene - interne u. externe Unterstützung. Manche Familien lassen sich von vermeintlichen Vorgaben aus Medien, dem Umfeld oder der eigenen Bildungsbiografie leiten und für ,,[.. .] manche Eltern hier ist es ganzfurchtbar if/ hb'ren, ihr Kind kommt in die Hauptschule, weil sie auch gesellsch4tlich ganz klar signalisiert bekommen, das ist "unterstes Niveau" itgendwo."
Darstellung der mündlichen Befragung
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[LPcMZ2_0:39-0:41]. Somit scheiden bestimmte Schularten, wie die Haupt- oder die Förderschule aus einem möglichen Spektrum im Portfolio der Schularten einfach aus. ,,Mit ihnen wlire eingesellschtiftlicher Abstiegftirsie undihr Kindverbunden, den es unbedingt:@ vermeiden gilt' [LPcMZ2_0:43-0:44] . Auf Seiten der Väter und Mütter spielen aus ihrer Sicht bei den potentiellen Unterstützungsmöglichkeiten ihrer Sprösslinge zwei Faktoren eine Rolle: ,,[...] es gibtEltern mit Zeitundauch selber mit der Fähigkeit, ihre Kinder:@ unterstützen, undE ltern, die das nicht kiinnen." [LPcMZ2_O:450:47]. Damit verknüpft Frau Bungert auf theoretischer Ebene den primären sozialen Effekt der Leistungsvoraussetzungen des jeweiligenKindes mit den sekundären sozialen Effekten auf Elternseite. Sie benötigen die erforderliche Zeit und die damit verbundene Bereitschaft sich der Förderung und Unterstützung anzunehmen. Doch reichen diese beiden Voraussetzungen nicht immer aus, wenn die Eltern etwa aufgrund sprachlicher Defizite schon in der Grundschule keinerlei oder nur wenig Support bieten können, denn ,,[.. .] in unserer Halbtagesschule oder:@m Teilauch DrittelTages-Schule konnte ich ftir mich je~ die Kinder, :@m Teilnicht so jbrdern, wie sie es gebraucht hätten. Da ist einfach die Zeit:@ knapp [... ]" [LPcMZ2_O:47-0:48] . Somit gibt die Grundschullehrerin einen Teil der Lernverantwortung an die Eltern weiter und verdeutlicht, dass ,,[...] wenn dann die Kinder Eltern haben, die sie unterstützen können, dann klapptdass natürlich besser wie Kinder, die das nicht haben" [LPcMZ2_0:49]. Die Lehrersicht auf die farniliale Ebene - Schulwunsch der Eltern Das Test- und Beratungsverfahren der Familie Chemni hat Frau Bungert aufmerksam verfolgt und sich letztlich für Rosana über ihren Erfolg gefreut. ,,Aberganz ehrlich, das Kindwird sich atifder Realschule sehr schwer tun mit den Noten, die sie bei unsgemacht hat. Auch wenn die Eltern alles tun, um ihre Tochter atif der Realschule :@ halten" [LPcMZ2_ 0:57-0:59]. Aber wenn der Übergang einmal geschafft ist, dann ist der Beharrungsdruck enorm und ihrer Meinung nach wechselt dann keiner mehr freiwillig nach unten . Die Eltern haben im Verlauf des Schulartwahlprozess alle Hebel in Bewegung gesetzt und in alle Richtungen einen enormen Druck aufgebaut. "Ob die Rosana den so herbeigesehnten Übergang in die Realschule wirklich so sehr selbst wollt, will ich malbei]Veifeln. Aber die E lternwollten es beide seht" [LPcMZ2_1 :01-1:03].
7.8.4 DieEbenen derSchulartwahl aus Sicht der Realschullehrerin (3. MZP, Int. 5)
F.12 Die Situationsdefinition der Realschullehrerin zur Schulartwahl Aus Sicht der Realschullehrerin ist es eindeutig die Grundschule, die mit der Bildungsempfehlung den Rahmen für die Schulartwahl festschreibt. In dem Prozess steht die Kollegin unter dem Druck der Eltern, die versuchen, Einfluss auf die Grundschullehrerinnen zu nehmen. Ein wesentlicher Faktor ist für sie dabei, aus
250
Darstellung der mündlichen Befragung
welcher Schicht die Kinder kommen. ,,Ich alsRealschullehrerin habe damit aber auch gar nichts mehr am Hut. Für mich ist die Schulartwahl abgeschlossen, wenn die Kinder vor mir sitzen" [LBo_MZ3_0:20-0:21] Die Schulartwahl sollte für sie von Elternseite entspannter angegangen werden. "Ich denke auch, dass manche Eltern ini]Vischen das G 8 scheuen undihren Kindern einfach diesen langsameren Weg ~gestehen wollen. Mache einen guten Realschulabschluss und dann sattelst du das Abitur noch drauf' [LBo_MZ3_1:64-1:65]. Nach Frau Rosas Standpunkt mangelt es an einem klaren Konzept für die drei Schularten. Was mittlerweile zu einem fließenden Übergang verkommen ist, der aus den Angsten derjenigen gesteuert wird, die keine Chancen mit einem Hauptschulabschluss sehen. Ihrer Meinung nach ist das dreigIiedrige Schulsystem ein "altes Modell", nach dem die Schüler zu je einem Drittel nach den drei Schularten aufgeteilt werden. Letztlich bedeutet das für sie, dass momentan zu viele Schüler die Realschule besuchen. Die könnten mit gutem Erfolg an der Hauptschule unterrichtet werden und gegebenenfalls einen Werkrealschulabschluss schaffen. Das Instrument der Bildungsempfehlung stellt Frau Rosa für einige Schüler aus ihrer Klasse in Frage und hat folgende Meinung zur Vorgehensweise bei der Vergabe: ,,Also bei zwei, drei Kindem in meiner Klasse die haben ein Realsehulempfeh1ung, da würde ich sagen nein, da hätte ich jetzt keine gegeben. Ähm , dann habe ich mich allerdings auch schon gewundert andersrum bei einem Kind das eine Gymnasialempfehlung eigentlich hat, wie schwer es sich doch tut. Also aus so, das wahrscheinlich sehr richtig ist, dass die Eltern das so entschieden haben, es ist ein Mädchen das bei uns ist, die ist noch so, die ist eben von der Reife her so verhalten und so schüchtern und zögerlich und da geht es jetzt noch gar nicht. Es war eine weise Entscheidung die in die Realschule zu tun trotz ihrer Gymnasialempfehlung, also so was habe ich auch in der Klasse und dann die Eltern haben das eigentlich ganz gut entschieden und dann habe ich noch mal einen Sohn drinnen, einen J ungen der hat eine Gymnasialempfehlung und da finde ich auch diese Eltern haben das gut entschieden, der ist so hampelig, der ist ein unglaublich hampeliges Kind , was immer tausend Ideen hat". [LBo_MZ3_2:36-2:44]
Ihrer Meinung nach sind es genau diese individuell wählenden Eltern, die eine "kindgerechte Entscheidung" unter der Fragestellung ,,[...] willich meinem Kind eigentlich diesen Dauerstress Realschule ~muten, mit ständig schlechten Noten, mit ständigen Misserfolgserlebnissen, Jahr umJahr?' [ebd.]. Eben diese Frage stellten sich zu wenige Eltern, vor allem nicht die, die so "drücken". Und das bringt dann die Verantwortung für Eltern deren Kinder nicht so leistungsstark sind, was sie ihren Kindern eigentlich antun, wenn das zu ständigen Misserfolgserlebnissen führt.
Darstellung der mündlichen Befragung
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F .S2 Die Lehrerinnensicht auf die individuelle Ebene - Rosanas Leistungsentwicklung
Die Klassenlehrerin von Rosana in der Realschule unterrichtet die Schülerin in Deutsch und EWG und zeigt vorab ein dezidiertes Bild von ihrem Leistungstand auf: "Wackelig, also Rosana hat jetzt noch eine Drei in Deutsch, ob die die halten kann so auf die Länge der Zeit hin, mache ich mal ein großes Fragezeichen. Sie ist noch ein bissehen schwach im Diktat und nicht sehr redegewandt und [. . .] jetzt reicht es noch . Aber das wird ja auch schwieriger, das wird ja umfassender, man muss ja mehr einsteigen inhaltlich und sich sprachlich auch vielfältiger ausdrücken und da schätze ich fast, dass das Richtung Vier gehen wird. Ich weiß es nicht, ob sie es in der Sechsten schaffen kann mit der Drei, jetzt kriegt sie sie noch. IMathe ist sie eine schwache Vier, Vier bis fünf eher, also da sagr die Lehrerin schwach, Englisch geht wohl so ganz gut, EWG bei mir steht sie auf einem Vierer jetzt so schon fast, also sie ist eigentlich von denen in der Klasse die sich am schwersten tun. So mit zu laufen, also da gibt es wesentlich aufgewecktere Kinder. Aber auch in ihrer Art ist sie halt ein bissehen, na ja, so [...]." [LBo_MZ3_0:S70:64]
Rosana ist für sie eine ruhige, zurückhaltende und gewissheitsorientierte Schülerin, die es vor allem den Lehrern Recht machen möchte. Aber im Unterricht arbeitet sie auf sehr niedrigem Leistungsniveau. Die Einschätzungen der Klassenlehrerin lassen vermuten, dass sich für Rosana die Mitarbeit am Unterricht sehr schwierig gestaltet. " Sie will es schon recht machen, das möchte sie. Eifrig, ist eigentlich eine, so die dann gerne vorne mal am Pult steht und das habe ich gemacht und schauen sie mal und so, ja ja so was schon, aber wenig selbstständig, wenig Eigeninitiative . N icht so aufgeweckt einfach, ein nettes Mädchen, aber I . Oft schweigt sie auch inzwischen, sie merkt das wohl auch selber, dass sie nicht immer so mitkommt, also es wird dann schon oft der Weg gesucht, eben dass sie sich nicht meldet, und dass sie nichts sagt, weil es nämlich für sie schon schwer ist. Also am Anfang war sie noch redefreudiger, aber es zieht halt überall an, es zieht in Deutsch an, es zieht in EWG an, in ITG überall, also ITG ist der Computerunterricht. Ja sie wird jetzt noch relativ ordentlich die Unterstufe schaffen, aber dann wird es schwierig. Ich wundette mich ein bisschen über die Grundschulcmpfehlung bei ihr, muss ich sagen." [LBo_MZ3_0:68-0:7S]
Vor allem in ihrem Fach Deutsch sieht sie bei Kindern wie Rosana mit Migrationshintergrund immer wieder Probleme bei der Fähigkeit Sprache und Schrift zu erfassen und zu verarbeiten .
Die Lehrerinnensicht auf die schulische Ebene - die Leistungsanfordenmgen der Sekundarstufe 1 Die Entwicklung von Rosana stagniert nach Einschätzung der Klassenlehrerin momentan nach anfänglich leicht ansteigender Tendenz. Die Folge ist innere Immigration, Passivität und Niedergeschlagenheit, die die Lehrerin als Reaktion der Schüle-
Darstellung der mündlichen Befragung
252
rin auf die schlechten Leistungsriickmeldungen deutet. Über diese Entwicklung ist die Klassenlehrerin etwas in Sorge. ,,[. . .] Sie ist nicht mehr so aktiv dabei, so ganz aktiv war sie so wie so nie,! aber, / / ja es liegt sicherlich auch daran , da sind recht fitte Kinder in der Klasse, richtig fitte, muss man schon sagen ich habe eine echt gute Klasse und da ist sie echt am Schwanz und das merkt sie halt auch." [LBo_MZ3_1:53-1 :60]
Zur persönlichen Leistungsentwicklung von Rosana und ihrer Perspektive an der Realschule findet die Klassenlehrerin deutliche Worte . Der Schülerin scheinen die persönlichen Ansprachen und Individualbetreuung der Grundschule zu fehlen. Eine solche kann und will die Lehrerin sich nicht leisten und rechtfertigt dies mit ihrer Arbeitsbelastung: ,J a, Rosana wirkt auf mich unsicher. Wie gesagt sie bräuchte wahrscheinlich noch so ein Lehrer, der immer, das tue ich aber nicht, der immer so nach ihr guckt, ja also ich glaube die hängt noch so ein Stück in diesem Grundschul-, ährn [...] in dieser Art von der Grundschule, dass der Klassenlehrer halt alles so betreut und schaut, Rosana was hast du gemacht und so und nachhakt und Hausaufgaben und Lob und Kärtchen vielleicht vergibt, ich weiß nicht was man da alles für Methoden hat die dann halt noch viel intensiver das einzelne Kind sehen. Ich habe jetzt in der Klasse Deutsch mit vier Stunden, EWG mit 2 Stunden und noch eine ITG Stunde, das sind acht Stunden in der Woche aus das andere sind Fachlehrer, so eine intensive Betreuung ist gar nicht mehr möglich, das geht schlicht nicht, da müsste ich also sehr viel Übersrunden machen, um das so zu betreuen. [...] Ich kenne es aber von der Förderschule, da musste ich auch so betreuen, so intensiv und sie scheint mir ein Kind zu sein, der das fehlt. Die da ein bissehen verloren ist, so angesichts der Tatsache, dass da ständig ein neuer Lehrer reinkommt und sie schon so viel selbstständig organisieren muss und selbstständig gucken muss , dass sie ihr Zeug in Ordnung hat und überlegen muss, was sie denn jetzt noch alles wirklich intensiv zu Hause tun muss, da scheint sie mir, sich schwer zu tun. / Aber das ist so mein Eindruck jetzt, ja und Mathe, Mathe schwächelt sie. Rosana wird es schaffen, sie wird die Fünfte und die Sechste hier schaffen, mit aller, es sei denn sie klemmt total in der Mathematik, aber voraussichtlich wird sie es schaffen, aber man merkt schon so eine Tendenz einfach , das merkt man eben, / wo sich die Schwietigkeiten eben auftun können."[ LBo~Z3_1 :69-1:83]
Die Lehrerinnensicht auf die individuelle Ebene zukünftige Leistungsentwicklung Rosanas Bei Rosana sieht die Klassenlehrerin zwar nicht unbedingt das kognitive Potential für die Realschule gegeben, aber sie hat allem Anschein nach den Willen für diese Schulart. Rosanas Stärke sieht sie in der intrinsischen Motivation auf der Realschule bleiben zu wollen. Sie erledigt ihre Hausaufgaben, blockiert nicht, ist freundlich und legt es nicht auf Störungen an. Das sind für sie zunächst die Grundvoraussetzungen für einen Verbleib. Ihre späteren Chancen schätzt sie hingegen mit einem schlechten Realschulabschluss eher mäßig ein. ,,[...] LeP.(flich entlässt aber meine ichja, jederder drei Schulrypen entlässt heute nicht mehr sicher in einen Beruf, keinen der Schulrypen."
Darstellung der mündlichen Befragung
253
[LBo_MZ3_4:24-4:25]. Ihre Einschätzung leitet sie aus den für sie wichtigsten Kriterien für eine erfolgreichen Schulübergang und eine ebensolche Karriere an der Realschule . .An erster Stelle steht unbestritten das Leistungsvermögen jedes einzelnen Kindes, das mit einer gewissen Motivation und individuellem Durchhaltevermögen gepaart sein muss . Für Frau Rosa folgt die berufliche bzw. soziale Stellung der Familien, die direkt oder indirekt in die Leistungsbewertung eingehen. Ihre Einschätzung findet sie ,,[...] jep.(! ein bissehen hart, aber ich glaub es ist fast so [... ]." [LBo_MZ3_3:48] .
Schulartwahlkriterien aus Sicht der Realschullehrerin: 1. Leistungsvermögen des Kindes 2. Motivation 3. Durchhaltevermögen des Kindes 4. Die berufliche bzw. soziale Stellung der Familie 5. Leistungseinschätzung der Grundschule 6. Selbständigkeit im Lernverhalten
Tabelle 7.17: Schulartwahlkriterien aus Sicht der Realschullehrerin oon Rosana (Int. 5)
254 7.9
Darstellung der mündlichen Befragung
Die kritisch-abwärtsgerichtete Schulartwabl am Beispiel der Familie Walk (3. MZP, Int. 5)
7.9.1 Der Verlaufder kritisch-abwiirtsgerichteten Schulartwahl ausSchülerinnensicht
Alter
10 Jahre;
Anna (Kind)
Einsehnlungsalter
Wohnsituation Dörfliche Wohnverhältnisse - gewachsenes Wohngebiet;Rei-
6 Jahren
henhaussiedlung;
Geschlecht
Wohnort
weiblich
StK Stuttgart
Herkunft der Eltern
Geschwisterfolge
Vater: deutsch
mittleres von vier Geschwisterkindern
Mutter: deutsch
---
3- und 14jährige Schwestemund 19-jähri-
Zweisprachigkeit
ger Bru-
Nein
der
schulische Unterstützung (Art u. Umfang)
Infonnationenzur Familie
Das Kind wächstin einerPatchworkfamilie auf. Die Mutter hat --einen neuen Hilfe erfolgt Partner und durch lebt im Eltern Umland und Gevon Stuttschwister
familiäre Unterstützung, falls notwendig;
gart.
Tabelle 7.18: Persdnlid» undso:jale Rahmendaten ~m Kindmit krit.-abw. Schulartwahl A. S3 Farnilialer und schulischer Hintergrund der Schülerin Anna
Anna ist zu Beginn des Interviews sehr zurückhaltend und schüchtern. Das Gespräch mit ihr verläuft stockend und muss immer wieder durch Impulse vorangebracht werden. Zudem kommt es fortlaufend zu Unterbrechungen, die durch andere Familienmitglieder oder Baulärtn aus der Umgebung bedingt sind. Die 10Jährige wohnt mit ihren drei größeren Geschwistern, ihrer Mutter und deren neuem Partner in einem kleineren Ort im Umland von Stuttgart. In der Grundschule erzielt Anna im vierten Grundschuljahr gute Noten und kann in der Halbjahresinfonnation eine zwei in Deutsch und Mathematik ausweisen . Vor allem die Mathematiklehrerin hält einen Übergang von Anna ins Gymnasium für sinnvoll und rät ihrer Schülerin die Bildungsempfehlung der Grundschule für das Gymnasium anzunehmen und diese Schulart zu wählen.
Darstellung der mündlichen Befragung
255
B.S,3 Die Situationsdefinition zur kritisch-abwärtsgerichteten Schulartwahl der Schülerin Anna Anna möchte gerne in die Realschule gehen und ihre Wunschschulart wird sie nach eigenem Bekunden auch nach den Sommerferien besuchen. Sie zieht zunächst alle drei möglichen Schularten in ihre Wahlüberlegungen mit ein. Ein Schulartwechse1 in die Hauptschule kommt für die 9-Jährige nicht in Frage, ,,[...] weil da gehen halt keine Freunde von mir hin, ja undich wollte da nicht hin" [SWa_MZ2_0:23]. Ihrer Noten zieht sie dann für die weiteren Überlegungen mit ein: [...] ich warauch nicht so schlecht
für die Hauptschule, ich wollte eigentlich auch nicht mif das Gymnasium, weil ich kb'nnteja dann immer noch, wenn ich ZU gutfür die Realschule binaufs Gymnasium hoch, aber ich wollte nicht auf das Gymnasium, weil da muss man halt :demlieh viel, ja arbeiten oder Hausaufgaben machen, da hat man gar keine Freizeit für die Freunde." [SWa_MZ2_0:85-90]. Aus ihrer Sicht schätzt sie den Arbeitsaufwand in der Realschule als überschaubar ein und auch der zweite Bildungsweg steht ihr nach eigenen Angaben immer noch offen. Die Argumentationslinien von Tochter und Mutter weisen hier deutliche Affinitäten auf und es kommt bei mir der Eindruck auf, als habe die Tochter einige Argumente adaptiert: ,,[...] ich wollte nicht aufs Gymnasium. Das warbei meiner Schwester das gleiche und die wollte auch nicht aufs Gymnasium" [SWa_MZ2_0:95-0:97]. Selbst die Klassenlehrerin konnte daran nichts ändern. So sehr sie einen Übergang in das Gymnasium ausschließt, so wenig kommt für Anna ein Wechsel in die Hauptschule in Frage. Einen solchen lehnt sie rundweg ab und würde ihn für sich auch nicht wollen. "Wenn ich eine Hauptschulempfehlung halte, dann halte ich den Testschon gemacht?" [SWa_ MZ2_0:99]. Anna entscheidet sich bei ihrer Schulartwahl nicht für die Realschule, sondern gegen die beiden anderen Schularten. Für sie stimmen alle äußeren Ralunendaten, wie der Übergang wichtiger Freundinnen und ein überschaubarer Lern- und Arbeitsaufwand, und aus dem Grund scheint es für sie keinen Interventionsgrund zu geben . C.S3
Die Ebenen der Schulartwahl aus Schülersicht zum 2. MZP
ant. 1)
Die Schülersicht auf die schulische Ebene - individuelle Leistungsentwicklung Nach dem Wechsel von der 3. in die 4. Klasse zeigt sich bei Anna eine deutliche Veränderung im Lern- und Arbeitsverhalten. ,,[...] also ich lern haltauch nicht mehr wie
in der dritten, da waralles easy und ich konnts so nebenher [. ..}, aberjel:(! muss ich schon viel mehr machen und irgendwie wollt ich immer was anderes machen als Hausaufgaben..." [SWa_MZ2 _ 0:56-0:57]. Mit dem gestiegenen Lernaufwand in der vierten Klasse lässt ihre Bereitschaft eigenverantwortlich die Hausaufgaben zu machen und darüber hinaus noch zu lernen, nach. Die Schülerin hat nicht mehr den Spaß am Lernen wie in den vorhergehenden Klassen. Zudem nimmt die Nervosität vor den
256
Darstellung der mündlichen Befragung
Klassenarbeiten merklich zu. Entsprechend zweideutig fällt die Antwort auf die Frage aus, wie gerne sie in die Schule geht. ,,Also ich geh schon also, also ichgeh nicht so gerne, aber ich geh gern eher mehrgerne als [...]" [SWa_ MZ2_1:75]. Während sie zu Beginn des vierten Schuljahrs gute Leistungen erzielen konnte, lassen diese zur Mitte des Halbjahrs nach. Das fällt in den Zeitraum, in dem vorwiegend Klassenarbeiten geschrieben werden, die sich am Niveau der weiterführenden Schulen orientieren. Die Phase vor Erstellung der Bildungsempfehlung empfindet sie als schwierig und benennt für die Zeit einen spürbaren Leistungsabfall. "Das waren haltauch schwerere Arbeiten, das hat die Frau Bierhoff, also unsere Klassenlehrerin auch gesagt, dass da auch das let'{fe Diktat da hatte ich ne ~ei bis drei und das war auch wirklich schwer, das warkein richtiges schiJnes Diktat' [SWa_MZ2_1:90-1:92] . Selbst in Mathematik, ihrem stärksten Fach, bricht die Schülerin von den Noten her gesehen ein und scheint verunsichert hinsichtlich ihres Könnens. Immer wieder thematisiert sie den erlebten Leistungseinbruch in der weiterführenden Schule und äußert Bedenken. Schülersicht auf die schulische Ebene - Erwägungen zur zukünftigen Schule Über die zukünftige Schule hat Anna nur Gutes gehört und kennt sie auch von Schulfesten und anderen öffentlichen Veranstaltungen. Negativbeispiele misslungener Übergänge aus dem Freundeskreis unterstützen das "konstruierte Bild" des Gymnasiums. Das Beispiel, dass sie anführt, "hat eine Freundin von mir ef':(jihlt, dass ihr
Bruder aufs Gymnasium gegangen ist und er war dann auch gut, aber er warja auch in der dritten, vierten gut und so, aber dann ist ernicht so gut, dann ist erschlechtergeworden aufdem Gymnasium und dann ist er auf die Realschule runtel' [SWa_MZ2_2:29-2:32]. Ihre Erwartungen hinsichtlich der neuen Schulart sieht sie durch die Realschule am besten bestätigt, da "meine Schwester erzählt halt Sachen von den Lehrern und [... ]" [SWa_MZ2_2:36]. Obwohl die beiden ältesten Geschwister ein weiterführendes Gymnasium besuchen, ist diese Option gar nicht im Fokus des Kindes. Durchweg alle ihre großen Geschwister bauen nämlich auf den Realschulabschluss auf und holen die Hochschulreife durch den Besuch eines berufspezifischen Gymnasiums nach. Die Schülersicht auf die individuelle Ebene - Annas Kriterien der Schulanwahl Neben der Aussicht eine Schulart zu besuchen, der sie von ihrem Leistungsvermögen auf jeden Fall gut gewachsen ist, spielen an zweiter Stelle die Freundinnen eine wichtige Rolle. ,,Es ist schon wichtig, dass ein paarFreunde auf die Schule kommen, also wo ich hin wil4 dagehen auch ein paar, ja [... ]" [SWa_MZ2_2:49-2:51]. Sicher werden zwei Freundinnen, wie sie, den Übergang in die Realschule machen, von denen beide nur eine Realschulempfehlung ausgesprochen bekommen haben. Selbst im familiären Umfeld lassen sich Beispiele für einen gelungenen Übergang in die Realschule
Darstellung der mündlichen Befragung
257
finden. ,,Alsoich hab schon,ja also mein Cousins, also ich hab vier Cousin, mein einer Cousin, der geht auf die Realschule, der kommt da auch gut voran" [SWa_MZ2_2:75-2:76]. Auch für die Umsetzung ihrer Zukunftsvorstellungen wählt das Kind eine ähnlich sicherheitsorientierte Strategie: ,,[...] ich denk ich mach erstmal so eine richtige Arbeit, ich weiß nichtso bei Handelshof oder so dann arbeiten und dann guck ich mal ob ich das hinkriege dann mit dem weiß ich noch nicht' [SWa_MZ2_2:89-2:91]. Gegen Ende ihrer Ausführungen fasst das Kind die zentralen Positionen zur Schulartwahl nochmals zusammen . ,,Also, es sindfast alle, es sindeigentlich alle mein Bruder, meine mittlere Schwester und mein älteste Schwester, jet:(! noch auf die Realschule, und meine Mutter wollte eigentlich auch nicht, dass ich aufs Gymnasium gehe undich wollte es eigentlich auch nicht' [SWa_MZ2_3:043:06]. Die Schülersicht auf die farniliale Ebene - farnilieninteme Unterstützung Anna soll ihre Hausaufgaben und die Vorbereitung selbständig durchführen. Die Mutter steht nur dann zur Verfügung, ,,[...] wenn ich was nicht verstanden habe, dann haben sie mir schon geho!ftn, dass ich es versteh [.. .]" [SWa_MZ2_3:11-3:12] . Auf Klassenarbeiten und Tests bereitet sie sich eigenverantwortlich vor. Bei den Hausaufgaben fungiert die Mutter ausschließlich als Kontrollinstanz. Alles in allem misst die 10-Jährige der Schule doch einen recht großen Stellenwert zu, ,,[. . .] weil wenn ich jet:(! nicht lerne würde oder sagen wirich lern nicht, dann würde ichja schlechte Noten schreiben, dann würde ich wahrscheinlich dann in der zehnten oder den Abschluss nicht schtiffen [...]"[SWa_MZ2_3:60-3:61]. Eine sehr klare Aussage trifft die Schülerin hinsichtlich ihrer zukünftigen Selbständigkeit und bringt das in folgendem Satz zum Ausdruck: ,,[...] Aufjeden Fall willich if/r Arbeitgehen und Geld verdienen, weil ich kriegja nicht immer Geld reingeschoben von meinen Eltern. Dann später [.. .]" [SWa_MZ2_3:653:66]. ~
Die Ebenen der Schulartwahl aus Schülersicht zum 3. MZP
ant. 1)
Die Schülersicht auf die schulische Ebene - individuelle Leistungsentwicklung Nach dem ersten Halbjahr an der neuen Schule gefällt ihr "der Unterricht und die Klassenkameraden viel besser als an der Grundschule" [SWa_MZ3_0:27], das liegt ihrer Meinung nach auch daran, dass einige aus ihrer Grundschule mit gewechselt haben. ,Ja, ich hab viele neue Freunde gefunden. Ja, und ein paar alte aus meiner Klasse sind if/m Glück auch in die gleiche Klasse gekommen" [SWa_MZ3_0:31]. Eine große Umstellung war für sie, dass sie viele neue Lehrerinnen in allen möglichen neuen Fächern bekommen hat. Damit hat sich für sie auch die Anforderung in vielerlei Richtungen verändert. "Die Grundschule waretwas leichter, es warauch nicht leicht, aber die Realschule ist schon ein bisscben schwerer" [SWa_MZ3_0: 58]. Mit Annas Einstufung des qualitativen Schwierigkeitsgrades für beide Schularten erklärt sie ihren dezenten Leistungsabfall.
258
Darstellung der mündlichen Befragung
Sie glaubt, dass es in der neuen Schule "schwieriger geworden [ist, E.dA.], was sich aber nicht so auf meine Note ausgewirkt hat' [SWa_MZ3_0:71]. Aber diese empfindet sie nicht in dem Maße homogen, dass sie in einem Fach besondere Schwierigkeiten hat, sondern ,,[...] manchmal ist Mathe auch ganz leicht und Deutsch ist schwer" [SWa_MZ3_0:75]. Neu einstellen muss sich die Schülerin auch auf das besondere Einbeziehen der Schülerinnen und Schüler in das Unterrichtsgeschehen, die in komplexeren Zusammenhängen erfolgen. "Frau Fritz, unsere Klassenlehrerin, ruft jemanden auf und der muss das dann machen, z.B, den Brenner anschließen und anmachen" [SWa_MZ3_0:83-84]. "Also in der Grundschule muss man fast gar nichts machen . Da hatte man keine Vokabeln und jetzt muss man Vokabeln lernen und vor der Klassenarbeit muss man ziemlich arg lernen. Das ist dann auch mehr als in der Grundschule" [SWa~3_1 :04-1 :05].
Die Schülersicht auf die schulische Ebene - Arbeits- und Sozialverhalten In der Realschule muss sie sich schon in der Schule gut organisieren und alle Hausaufgaben aufschreiben. Zudem ist ein gezieltes Lernen auf jede Klassenarbeit notwendig und ein regelmäßiges Vokabellernen unumgänglich. Für die häusliche Lern- und Arbeitszeit veranschlagt Anna etwa eine Halbe- bis Dreiviertelstunde Zeit. Darüber hinaus lernt sie nach eigener Einschätzung ,,[...] immer so eine Stunde oder eineinhalb und [. ..] i!'sä~ich" [SWa_MZ3_1:27-1:28]. Dennoch kann sie ansonsten keine großen Veränderungen zwischen den beiden Schularten feststellen. Auf die Realschule geht sie "eigentlich" gerne, aber die soziale Einfindungsphase in die Klassengemeinschaft sieht sie noch als schwierig an. Die Klassenlehrerin sagt immer ,,[. ..] wirsollen unsan die Klassenregeln halten und das mache ich dann auch. Aber die Jungen eher nicht, die prügeln sich halt' [SWa_MZ3_1:60-1:61]. Aussagen über die schulische Ebene hinaus gibt Anna nicht. C..s3a+ b Eine Übersicht zu den Einflussfaktoren der Schulartwahl des 2. u. 3.
MZPs Bereits beim ersten Interview wird auf den zweiten Blick deutlich, dass sich Anna mit dem Thema Schulartwahl intensivauseinandergesetzt hat. Sie bezieht viele Überlegungen in ihren Schulartwahlprozess mit ein und kommt zu einer "eigenen" Entscheidung. In ihrer Argumentation reichen ihre Ausführungen von der individuellen über die familiale bis hin zur schulischen Ebene. Einen besonderen Stellenwert scheinen für sie die Einflussgrößen Familie und Freunde zu spielen. Hinzu kommt, dass sie auf individueller Ebene eine Veränderung des Lernverhaltens ausmacht, bzw. diese von außen an sie herangetragen wird. Im zweiten Interview bleibt Anna in ihren Ausführungen ganz auf der schulischen Ebene. Sie schätzt zunächst ihre Leistungsentwicklung nach dem Real-
259
Darstellung der mündlichen Befragung
schulübergang ein und stellt neben einem "dezenten" Leistungsabfall auch einen Anstieg des Schwierigkeitsgrades von der Grund- zur Realschule fest. Zu ihrer neuen Klassenlehrerin hat sie schnell eine sehr gute Beziehung aufgebaut . D.s 3 Die Entscheidungsträger der Schulartwahl aus Schülersicht ant. 1) Auch den Verhuf der innerfamiliären Entscheidungsfindung bringt sie in der ihr eigenen Art auf den Punkt. ,.Also als Erstes wollte ich und meine Mutterdann auch, also wir wollten schon meine Mutterwollte von Anfang an, dass ich auf die Realschule geh, und ich wollte eseigentlich auch, ich wollt auch nicht aufs Gymnasium [...]" [SWa_MZ2_3:11-3:12]. Trotz der von ihr beschriebenen Rollenverteilung im Entscheidungsfindungsprozess beträgt ihr Anteil mindestens die Hälfte, während sie die andere Hälfte der Mutter zurechnet. Der Stiefvater wird von Anna nicht erwähnt und spielt im Verlauf der Entscheidungsfindung wohl eine untergeordnete Rolle. Aber auch sein beruflicher Werdegang baute auf dem zweiten Bildungsweg bzw. einem Realschulabschluss auf und so ist zu vermuten, dass auch er einen solchen Weg für Anna befürwortet. Nach der Schulartwahl ist Anna der Meinung, dass sie im wahrsten Sinne den "Mittelweg" oder die " Sandwich-Lösung" gewählt hat. ,,Also, ich und meine Eltern balt, weil ich wollte haltnichtauf die Hauptschule undnicht aufs Gymnasium. Ich wollte schon auf die Realschule" [SWa_MZ3_1:88-1:89]. Letztlich korrigiert sie ihre Aussage hinsichtlich ihres Anteils nochmals und will diesen höher eingeschätzt sehen, als den ihrer Eltern. Eine Beeinflussung oder Anteilnahme der Eltern schätzt sie gering ein. Gerade deshalb ist sie sehr mit der getroffenen Entscheidung zufrieden und könnte sich "keine bessere, aber auch keine schlechtere Entscheidung vorstellen" [SWa_MZ 3_2:03]. Interviewteilnahme
Berufliche Postition
Umfang der Berufstätigkeit
Höchster Schulabschluss
Mutter ja
Keine "V01l2eit" (Steuerfach- als Hausgehilfin) frau
Abitur
Vater
Angestellter (SystemV01l2eit techniker)
Fachhochschulreife
nein
Migrationshinter-
grund
nicht gegeben
Familiäre Beson-
derheiten - Es herrschte Hektikund Länn,da das Haus der Familie umgebaut wurde.
Tabelle 7.19: Persönliche undsoiJale Rahmendaten derEltern mit krit.-abw. Schulartwahl
260
Darstellung der mündlichen Befragung
7.9.2 DieSicht der Eltern aufdie kritisch-abwärtsgerichtete Schulartwahl Familie Walk ist eine sechsköpfige Familie, die im Patchwork Format zusammenlebt. Die Mutter ist vorrangig als Haushaltsmanagerin für die Belange der Kinder und den Haushalt zuständig. Zum Zeitpunkt der beiden Interviews werden Umbauarbeiten an ihrem Reihenhaus durchgeführt, die sie planen und koordinieren muss. Den Schulübergang hat sie bereits mit zweien ihrer größeren Kinder vollzogen und bringt eine Menge eigene Schul- und Übergangserfahrungen mit. B.BJ Die SituationsdeDnition zur Schulartwahl aus Eltemsicht
Für Frau Walk sieht sich mit der Gymnasialempfehlung ihrer Tochter Anna in einer "privilegierten Situation", da für sie eine "wirkliche" Auswahl gegeben ist. Ihrer Einschätzung nach differieren die Vorstellung von einer passenden Schulart für die Tochter zwischen ihr und der Grundschullehrerinnen deutlich. Für die Mutter steht schon jetzt fest, dass die lO-Jährige die Realschule besuchen wird. Eine gymnasiale Schulbildung hat ihrer Ansicht nach einen erheblichen Nachteil für das Kind und die Familie, den sie in dem erheblich gesteigerten Lemaufwand sieht. Vor dem eigentlichen Schulwahlprozess findet in der zweiten und dritten Klasse ihrer Meinung nach eine abwärts gerichtete "Vor-Selektion" in die drei Schularten statt. Den Prozess beschreibt sie so: ,,[...] wo ich gesehen habe sie bringt diese Leistung, um nicht aufHauptschule i!' müssen. Also sie hat eigentlich von Anfangan, lag sieja immer so um die Zwei und dann war uns klar, dass auch sie die Realschule macht" [EWa_MZ2_3 :19-3:21] . Anband des Notenbildes, das die Richtgröße der Mutter darstellt, wird wie bei allen älteren Kindern eine "abwärtsgerichtete" Schulartwahl getroffen. Diese ist letztlich davon beeinflusst, dass die Mutter sehr gute Erfahrungen mit der örtlichen Realschule gemacht hat und somit ist die Schulartwahl auch an die Entscheidung für eine ganz bestimmte Schule gebunden. Frau Walk beschreibt ihre Abwägungen hinsichtlich ihrer eigenen Bildungsaspirationen und den Risiken eines schulischen Misserfolgs mit einer Abwägung von Kosten und Aufwand. Entsprechend ihrer eigenen Einschätzung stellt sie eine erfolgreiche Realschulbiografie über eine Gymnasial-"karriere" mit Wiederholungen, schlechtem Abschluss oder verfrühtem Abgang. Ihre eigene Bildungsbiografie entspricht genau diesen Erfahrungen. Mit einer Klassenwiederholung und befriedigendem Abitur lässt sie sich zur Steuerfachgehilfin ausbilden. "Den Berufhät ich mit der Mittleren Reife machen kiinnen, was mirim nachhinein gesehen viel Atger und Anstrengung erspart h;itte" [EWa_MZ2_3 :32]. Der Erfahrungswert bildet das Leitmotiv für den Schulartwahlprozess der Mutter, die kinder- und elternseits eine angst- und stressfreie Schulzeit ermöglichen will.
Darstellung der mündlichen Befragung
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C'B J Die Ebenen der SchulartwahJ aus Eltemsicht zum 2. MZP (Int. 1) Die Eltemsicht aufdie individuelle Ebene - individueUes Arbeitsverhalten In der Grundschule fungieren die Eltern nach Einschätzung von Frau Walk noch vorrangig als Instanz für schulische Lernunterstützung. Von dieser Rolle möchte sich die vierfache Mutter zunehmend distanzieren und verlangt insbesondere von Anna eine grundlegende Selbständigkeit im schulischen Lern- und Arbeitsverbalten, Auf dem Hintergrund ist auch die Aussage der Tochter zu sehen: " Wenn ich was nicht verstanden habe, dann haben sie mir schon geholfen, dass ich es versteh [... ]" [SWa_MZ2_3:11-3:12]. Im Verlauf des Gesprächs entsteht der Eindruck, dass die Mutter vom eigenen Arbeitsverhalten auf das ihrer Kinder schließt. Dazu berücksichtigt sie den Lemaufwand des jeweiligen Kindes, aber insgesamt erscheint ihr der Arbeitsaufwand für alle ihre Töchter und Söhne ,,[.. .] um noch Kindsein :{!I kiinnen und kindgerecht entwickeln :{!I können" [SWa_MZ2_ 3:20-3:21] im Gymnasium zu hoch. Die Befragte hebt hervor , dass ihre Kinder erst als Jungendliche eine hinreichende intrinsische Motivation entwickeln konnten. "Ich denke, wenn man [ctzt den Benjamin [älterer Sohn, E.d.A.] fragen wird, er hat gewusst mit sechzehn, dass wenn er auf das Gymnasium geht, dass er lernen muss und dass es schwieriger wird und hat das durchgezogen und ich hab nicht dahinter her sein müssen, er hat von selber gewusst, er will das und macht das und dann ist das ok und ich denk, wenn sie sechzehn sind und einen Realschulabschluss haben, dann können sie sich überlegen, möchte ich eine Lehre machen oder möchte ich das Abitur machen. Und ich denke da ist der Verstand einfach mehr da und mit zehn sind sie einfach Kinder."
Als Jugendlicher wäre er mit mehr Selbstverantwortung und Eigenmotivation zwar derselbe, doch ohne dass damit ein mehr an innerfamiliärer Belastung einhergeht. Ins Zentrum stellt die Mutter ihre persönliche Begründung für eine abwärts gerichtete Wahl und fügt an, dass eine grundlegende Selbständigkeit und -verantwortung bei den Kindern gegeben sein müsse. "Lef:(flich habe ich keine Lust, dahinter her sein :{!I müssen, dass meine Kinder sich hinsetzen undlemerl' [SWa_MZ2_3:42-3:43] .
Die Eltemsicht aufdie familiale Ebene - Bildungsaspiradonen der Mutter Entscheidend für die Schulartwahl sind letztlich die positiven Erfahrungswerte, die die Familie mit den Übergängen der ältesten Geschwister erzielt hat. Die Schulartwahlentscheidung wird von Frau Walk aber durchaus auch dialektisch gesehen, insofern sie den Bildungschancen die Abschlussrisiken entgegenstellt. Entsprechend der Gewichtung der schulischen Notenleistungen in Baden-Württemberg ist nicht immer sicher abzusehen, ob das jeweilige Kind den angestrebten Abschluss erreicht. Die Folgen eines Misserfolgs müssen deshalb mit in Betracht gezogen werden. Zu dieser Eventualität gehört etwa die Option auf eine Nachhilfeinstitution zurückgreifen zu müssen. Eine solche Entscheidung hängt für sie auch immer
262
Darstellung der mündlichen Befragung
mit den Bildungsaspirationen der Eltern zusammen. Frau Walk beschreibt ihre Abwägungen hinsichtlich der eigenen Wunschschule und den Risiken eines schulischen Misserfolgs mit den Worten: ,,[.. .] sehe ich garnicht ein, dass man dann mit Nach-
hilfe sch4fen muss, weil das ist ein Kostenaufwand wo ich einfach nicht einsehe bloß weil ich meinen Ehrgeiz durchsetzen mochte, dass mein Kindaufs Gymnasium geht und dann eigentliche dieses Versagen, dieses eigene Versagen, ich sdiaffdas ja hier gar nicht. " [CC.2_EA.2.3]. Folglich schätzt die Mutter eine gelungene Realschulbiografie höher ein, als eine Gymnasial-"karriere" mit Wiederholungen, schlechtem Abschluss oder verfrühtem Abgang. Ihre eigene Bildungsbiografie entspricht genau dieser Einschätzung.
C'BJ Die Ebenen der Schulartwahl aus Eltcmsicht zum 3. MZp, (Int. 1) Die Elternsicht auf die individuelle Ebene - Annas Lcistungsentwicklung und Lernverhalten Anna ist trotz einer Bildungsempfehlung für das Gymnasium in die Realschule übergegangen und die Mutter fühlt sich in ihrer Schulartwahl bestätigt. "Sie hat sich
aufjeden Fall verschlechtert und tut sich schwer. Ich kann das jel:(! nicht oijektiv beobachten." [EWa_MZ3_ 0:08-0:10]. Ihre Leistungen sind im ersten Schulhalbjahr deutlich abgesunken. Noch immer schätzt die Mutter das Lernverhalten des Kindes kritisch ein: "Hm, Anna so von wegen ich mache immer freiwillig Hausatifgaben" [ebd.], und so bleiben die erwarteten Auseinandersetzungen und Kämpfe zwischen Tochter und Mutter nicht aus. ,.Annajel:(! gehst lernen und dann kann sein sie kriegt hier einen ganz kleinen .Ausraster: Oder wenn es an Klassenarbeiten gehtifJm lernen da hat sie manchmal so.
Da weiß sie nicht wie sie anfangen soll und na dann geraten wir ein wenig aneinander' [EWa_MZ3_0:14-0:16]. Obwohl sie meistens ihre Hausaufgaben selbständig erledigt, ist die Mutter alles in allem nicht zufrieden. Lernen wird die Schülerin in absehbarer Zeit nur unter sozialer Kontrolle. "Zeitweise muss sie mir das dann auch
wieder zeigen, einfach um die Kontrolle ifJ haben undja, wie gesagt sie tut sich schwerer wie in der Grundschule" [EWa_MZ3_0:17-0:18]. Und deutlicher drückt sich das in der folgenden Aussage aus: "Bei ihrmuss manimmer ein bissehen, sie muss immer das Ge.ftihl haben es sil:(! ihrjemand imNacken undbeobachtet sie" [EWa_MZ3_0:42-0:44]. Die Eltemsicht aufdie schulische Ebene - Erwägungen zur gegenwärtigen Schulan In die neue Klasse ist Anna ,,[...] sehrgut integriert undmit Frau Fritz kommtsie wunderbarklar. Die hathaltauch einefeine Art. UndAnna ftihlt sich denke ich malsehr wohl in der Klasse in der Schule. Da ist sie sehr unkompli:dert muss ich sagen. Da ist es ok" [EWa_MZ3 _0:28-0:33]. Der Schule lastet sie die fehlende intrinsische Motivation der Tochter nicht an, mit der ist sie sehr zufrieden. In ihrer zentralen Begründung stellt die vierfache Mutter dann auch klar, warum sie sich für die Realschule als Standardschule für ihre Kinder und insbesondere für Anna entschieden hat:
Darstellung der mündlichen Befragung
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,,[. . .] Unsere Einstellung ist die, dass wir kein Kind auf das Gymnasium tun wollen. Haben das auch nicht gemacht und dieses G8 ist für mich immer noch sehr mysteriös und hab ihr einfach erklärt, dass ihre G eschwister auf der Realschule einfach, ja glücklich und zufrieden waren und das gut geschafft haben. Ich habe ih r gesagt du hast dann nachmittags einfach noch Zeit, um mit deinen Freundinnen etwas zu machen oder in den Sport zu gehen und hab ihr das auch ein klein wenig schmackhaft gemacht. Und hab ihr gesagt, dass man im Gymnasium einfach viel, viel mehr lernen muss , auch Mittagsschule hat und sie ist ja jemand, wenn sie dann kein Lust hat, dann will sie nicht lernen. So sind wir dann auf die Realschule gekommen und sie war damit dann auch gleich einverstanden" [ebd.].
Die Elternsicht auf die individuelle Ebene - Annas Leistungsentwicklung und Arbeitsverhalten Während sie in Deutsch auf dem gleichen Notenstand wie in der Grundschule steht, beträgt der Leistungsabfall in Mathematik eine Note. In diesem Fach ,,[...] hatsie einfach ihre Schwierigkeiten unddawird sie auch nie ein Zweierkandidat sein. Dasglaube ich einfach nicht. Ist aber nicht tragisch, wie gesagt. Wir dürfen einfach nicht. Wir müssen aufPassen, dass wirdie .Annanicht an den Maßstäben ihrer älteren Geschwister messen" [EWa_MZ3 _0:74-0:78]. Der tägliche Lernaufwand in der Realschule hat deutlich zugenommen, so dass Anna ,,[...] schon mehr hinsitzen muss. Sie hat mehr Hausalifgaben und natürlich mehr Fächer, das ist natürlich schon mehl'[EWa_MZ3_0:97]. Dabei kann die Mutter die effektive Lernzeit nicht wirklich abschätzen, denn den Ablenkungsfaktor schätzt sie recht hoch ein, weil die Tochter in ihrem eigenen Tempo lernt. "Ich weiß nicht, wie lange gucktsie if/m Fenster hinaus undschaut, ob dairgendwelche Vijgel sitzen oder [...]. Sie bleibt je~ nicht konstant an etwas dran, sondern sie schaut dann herum und lässt sich ganz leicht ablenken. Deshalb ist es auch so schwierig if/ sagen sie lerntje~ eine Stunde oder eine Dreiviertelstunde" [EWa_MZ3_1 :01-1:04]. Die Verantwortung für den eigenen Lernprozess gibt die Mutter zumeist an die Tochter ab. Konfliktpunkte ergeben sich wiederholt bei der Erstellung der Hausaufgaben, die als Schnittstelle zwischen schulischem und häuslichem Lernen gesehen werden. Im Zusammenhang mit der Hausaufgabenpraxis wird der Standpunkt der Mutter nochmals deutlich: "Ich hab ihr dann auch gesagt, wegen mir muss sie die Hausaufgaben nicht machen. Sie muss es ja am nächsten Tag ihrem Lehrer erklären, warum sie keine Lust hatte Hausaufgaben zu machen. Das sage ich ihr auch , denn wenn ich mich mit ihr dann streiten muss , dann gehen wir beide aneinander hoch. Und so sage ich ihr dann, ok dann lass dass mit den Hausaufgaben. Ist mir egal, wenn dann halt ein Brief kommt oder wenn du dann drei Striche hast, dann badest du das selber aus und dann gibt es hier dann die Konsequenzen" [EWa_ MZ3_1:14-1:18] .
Mit einer als "mittelmäßig" eingeschätzten Lernmotivation gelingt die Vorbereitungen auf Klassenarbeit nur gemeinsam, so dass sich die beiden in der Regel noch zwei Stunden in der Woche "eben noch auf Arbeiten, Vokabeltests vorbereiten" [EWa_MZ3_1:22-1:23]. Werden keine Arbeiten geschrieben, bleiben zusätzliche
Darstellung der mündlichen Befragung
264
Lernzeiten aus. Die Parallelen hinsichtlich der Lernbereitschaft von Mutter und Tochter sind unverkennbar und genau der Punkt gibt wohl den Ausschlag bei Annas abwärtsgerichteter Schulartwahl. Nach Aussage von Frau Walk ,,[...] hängt sich die Grundschule ausschließlich
mal an der Note aufund die waren bei der Anna so. Ahm, wobei ich denk die Klassenlehrerin hat das vielleicht auch so gesehen, wenn ich argumentiert habe" [EWa_MZ3_2:14-2:18]. Dabei darf eine abwärtsgerichtete Schulartwahl ihr zufolge nicht als eine Abwertung des kognitiven Potentials der Kinder gesehen werden. Denn eine solche Entscheidung ruft auch Reaktionen in der Richtung hervor, "wie kannst du deinem Kind
die Zukunft verbauen mit so einem Schnitt nur auf die Realschule schicket!' [EWa_MZ3_2:23-2:29] . Sie setzt dagegen ihr Vertrauen in das Potential ihrer Kinder auch mit dem Realschulabschluss, den für sie richtigen Bildungsweg zu finden. Bei der Auswahl und Gewichtung ihrer wichtigsten Kriterien zum 3. Messzeitpunkt stellt Frau Walk, wie zu erwarten, die Erfahrungen in ihrer Bildungsbiografie an die erste Position, die in der Wichtigkeit gefolgt wird von der individuellen Entwicklung der Kinder in der Grundschule, Die ersten drei Punkte spiegeln genau die im Interview distinguierte Position der Mutter wieder: 1.
Meine eigene Schulerfahrung / Meine eigene Schulbiografie
2.
Entwicklung meines Kindes in der Grundschule
3.
Motivation und Durchhalteverm ögen meines Kindes
4.
Selbständigkeit im Lernverhalten
5.
Leistungsvermögen des Kindes
6.
Leistungseinschätzung der Grundschule
7.
Einschätzungen zur Bildungschance der gewählten Schulart
Tabelle 7.16: Rangfolge der Schulartwahlkriterien der Eltern (Int. 1) C'ma+b Eine Übersicht zu den EinOussfaktoren der Schulartwahl des 2. und 3.MZPs Im ersten Interview bilden das individuelle Lern- und Arbeitsverhalten ihrer Tochter den Ausgangspunkt für die mütterlichen Überlegungen. Auf der individuellen Ebene erfolgt die Analyse bezüglich der Aspekte Selbständigkeit im Lernprozess, intrinsische Motivation und Problemlöseverhalten des Kindes. Die Einschätzungen der Mutter werden mit ihren eigenen bildungsbiografischen Erfahrungen in der höchstmöglichen Schulart verglichen, um diese den Erwartungen an einen
Darstellung der mündlichen Befragung
265
gelungenen Schulverlauf entgegenzusetzen. So entsteht ein Abgleich von individueller und schulischer Ebene mit der Schlussfolgerung, dass nicht die höchstmögliche Schulart die "beste Option" darstellt, sondern vielmehr zunächst der vermeintlich "leichtere Weg" der Entwicklung der Tochter am förderlichsten ist. Um ihre maßgebliche Entscheidung zu rechtfertigen, zeichnet die Mutter nach dem übergang die schulische Leistungsentwicklung der Tochter nach und zeigt die existierenden Problemfelder auf. Die Vermutungen der Mutter scheinen sich zu bestätigen und die abwärtsgerichtete Wahl als richtig darzustellen. Letztlich wurde die Entscheidung zur Schulartwahl durch die positiven Erfahrungswerte der älteren Geschwister mit der Schulart Realschule und einer bestimmten Schule verstärkt.
D'EJ Die Einschätzung der Eltern zum Betciligungsgrad Als " federführend bei der Schulartwahl" beschreibt die Mutter ihre Anteile an der Entscheidungsfindung. Die Mutter trifft auch die Schulartwahl für "ihre" Kinder ganz alleine, denn weder der neue Partner noch die Kinder können aus ihrer Sicht die Erfahrungen im Gymnasium nachvollziehen. Alle Söhne und Töchter "müssen" eine solche abwärtsgerichtete Wahl vollziehen, gleichwohl sie alle eine Gymnasialempfehlung erhalten haben. Die Mutter begründet die Entscheidung mit der eigenen Bildungsbiografie und den schlechten Erfahrungen, die sie im Gymnasium gemacht hat. Immer wieder wird die Argumentationslinie von Seiten der Mutter im Interview vorgebracht und es erscheint mir, als wolle sie sich und die Kinder auf das gemeinsame Ziel des Realschulübergangs einschwören. Selbst die Mutter, die ihren Anteil mit gut dreiviertel beschreibt, billigt der Tochter noch immer ein gutes Drittel an Entscheidungskorrektiv zu. Letztlich entsteht der Eindruck, dass neben den Einzelmeinungen auch die "Einflussnahme als kollektiver Druck der Familie", die allesamt die "abwärtsgerichtete" Entscheidung als "gute, weil praktikable Wahl" beschreiben, besteht. Die offizielle Aussage der Mutter im Interview lautet auch nach dem übergang immer noch, dass die Entscheidung zur Schulartwahl ,,gemeinsamgetroffen" [EWa_MZ3_1:82] wurde, selbst wenn sie sich immer noch dreiviertel des Anteils zuschreibt und sich für die Überzeugungsarbeit gegenüber der Tochter verantwortlich sieht. Die momentane Schulsituation Annas bestärkt sie in ihrer Entscheidung, dass die Schulartwahl "Realschule" die richtige Wahl ist, ,,[. ..] aufjeden Fall' [EWa_MZ3_1:95] und aus ihrer Warte hat die Grundschule ,,[...] gar keinen Anteil an meinerpersönlichen Entscheidung, denn die haben nurdie Gymnasialempfthlung vergeben und gesagt sie könnte es schtiffen" [EWa_MZ3_1:99]. 7.9.3 DieE benen der Schulartwahl aus Sicht des Grundschullehrers (2. MZP, Int. 1)
266
Darstellung der mündlichen Befragung
Ein Interview mit der Grundschulklassenlehrerin von Anna war leider aus Krankheitsgriinden nicht möglich, so dass in der Kategorie keine Lehreraussagen vorliegen.
7.9.4 DieEbenen derSchulartwahl aus Sicht der Realschullehrerin (3. MZP, Int. 1) F.L3 Die Situationsdefinition zur Schulartwahl der Realschullehrerin Frau Fritz ist die Klassenlehrerin von Anna und unterrichtet sie nach dem Schulübergang an einer Stuttgarter Realschule. Sie kann auf eine langjährige Berufserfahrung in Mittel- und Gesamtschulen zurückgreifen. Ihrer Meinung nach ist sie als Sekundarstufenlehrerin nicht in den Schulübergang oder gar die Entscheidungsfindung involviert. Jedoch stellt sie als Beobachterin gewisse Tendenzen im Wahlverhalten der Eltern fest. In den letzten Jahren pr äferierten Eltern bei der Schulartwahl wieder vermehrt das Gymnasium, ,,[...] das zeigen auch die aktuellen AnmeldeifZhlen spei/eil an unserer Schule. Wir haben wirklich einen E inbruch erlebt [... ]" [ebd.], Die Eltern wollen ihre Kinder zum größten Teil ins Gymnasium schicken. Unabhängig davon, ob das Kind jetzt wirklich die Empfehlung hat oder auch ihrer Meinung nach geeignet ist. Nach dem Motto "Schickeich das Kindaufs Gymnasium, dann ist die Zukunft gerettet." [LCa_MZ3 _0:23-0:29]. Vorsichtiger waren einige Eltern lediglich temporär nach der Einführung des achtjährigen Gymnasiums, aber das hat ihrer Meinung nach wieder nachgelassen. Die Bildungsempfehlungen entsprechen aus Sicht der erfahrenen Lehrerin schon nicht mehr der Realität, da sie sich nach der Gaußsehen Normalverteilung ausrichten müsste, denn keiner der bisherigen Jahrgänge aus der Grundschule ist so überdurchschnittlich gebildet und die Erfahrungen mit den aufnehmenden Schülerinnen zeigt das. Wenn" [.. .] ich spei/eil an meine 5. Klasse denke, dann würde ich sagen, dass die Hä'!fte nicht an diese Schule hiergehö'rI' [LCa_MZ3_0:14-0:18].
Die Lehrersicht auf die individuelle Ebene - Annas Leistungsentwicklung Anna beherrscht ihrer Aussagen nach die grundlegenden Kompetenzen, wie Lesen, Schreiben, die Grundrechenarten, sowie die nötige Feinmotorik. "Sie istja ein sehr ordentliches Kind, sehr bemüht [.. .]" [LCa_MZ3_0:74-0:76]. Anfangs gab sie sich den Beobachtungen ihrer Klassenlehrerin nach freundlich schweigend und sehr zurückhaltend, so dass viele Lehrer an der neuen Schule eine leistungsschwache Schülerin vermuteten. ,,[...] Das Problem bei Anna ist sie ist i# stil4 sie ist unglaublich ruhig undunheimlich i#riickhaltend und das bäre ich auch von den Kollegen" [LCa_MZ3_0:74-0:88]. Mittlerweile zeigt sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse vor allem in den Fächern und Fachgebieten, die sie interessieren und in denen das " Zutrauen in die eigenen Kompetenzen" vorhanden ist. Das obligate kognitive Potential ist aus Sicht der Realschullehrerin bei Anna gegeben.
Darstellung der mündlichen Befragung
267
Anfangs ,,[...] hatte [man, E.dA] dann auch den Eindruck, ach ja ein naives kleines Kindchen. Die auch im kognitiven nicht viel dral!fbat und das Bild hat sich gewandelt' [LCa_MZ3_0:80-0:88]. Mittlerweile hat Anna gezeigt, dass viel mehr in ihr steckt und sie den Anforderungen der Realschule durchaus gewachsen ist. In EWG hat sie als Referat ,,[. . .] das Thema Weltall gehabt und da sei die Anna wie gedopt [gewesen fE.dA]. Sie warso was von lebhtifi gewesen und hätte ftir ihr Alter ein ungeheueres Wissen gezeigt. Sie sei richtig gutgewesen. Sie sagte sie seisprachlos gewesen, was die alles weiß und wie gut die Dinge erklären konnte in dem Bereich" [LCa_MZ3_0:86-0:88] . Bei Interesse und in den ,,[...] Themenbereichen, die ihr bekannt sind, wo sie schon malwas gehö'rt hat, da wird sie ungeheuer lebhaft und da kann sie richtig gut was beitragen ~m Unterricht [...]" [LCa_MZ3_0:95-0:96], da kann Anna viel Leistungspotential entfalten und wird zunehmend mehr zur Leistungsträgerin. Als die Lehrerin von der Bildungsempfehlung für das Gymnasium erfahrt, ist sie sichtlich überrascht, denn aufgrund der Erfahrungen mit ihren größeren Geschwistern "waren wir alle etwas erstaunt, dass die Anna so ein ~rückhaltendes Kindist' [LCa_MZ3_1:09-1:17]. Die anderen Kinder der Familie Walk waren auch zurückhaltend und eher introvertiert, verstanden es aber besser ihr Wissen und ihre Stärken zu zeigen. Anna ,,[. . .] hat sich richtig ge~ert mit einem ~ reden" [LCa_MZ3_1:16-1:17]. Die Lehrersicht auf die individuelle Ebene - das Arbeits- und Sozialverhalten Bei Anna stechen nach Ansicht der Lehrerin die sozialen Kompetenzen hervor. Sie hat schon ,l ast etwas mütterliches" [LCa_MZ3_3:60-3:68] und kümmert sich sehr um die Belange einzelner Kinder in der Klasse. Mittlerweile ist das Leistungsbild stabil und das wird in Zukunft auch so bleiben, ,,[.. .] die Leistung die sie bringt unddas Bild das ich von ihr hatte das hat irgendwie nicht ~sammengepasst und sie hatjelif allerdings da~ gebracht mein Bild ~ ändern. Die Leistungen, die sie jelif bringt sind die die man erwarten kann" [LCa_MZ3_1:33-1:42]. Dennoch wird Anna in den nachfolgenden Zeugnissen auch weiterhin mit einer schlechteren Leistungsbewertung rechnen müssen, denn ,,[...] sie selber trägt nichts dazu bei, dass man ihr das zutraut. Es wird auch so bei ihr wahrscheinlich immer sein, dass ihre Leistungen nicht so eindeutig rüberkommen im Zeugnis. [...] Sie ist aus Sicht der Lehrerin ,,[...] aber viel ~ stillundbringt keine selbständigen Beiträge. Also, man muss sie wirklich ansprechen. Sie ist sehr passiv und kassiert so mündlich immer schlechte Noten" [LCa_MZ3_1:48-1 :52].
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Darstellung der mündlichen Befragung
Die Lehrersicht auf die familiale Ebene - Bildungsaspirationen und Entscheidungsträger Frau Walk scheint für sich und ihre Kinder eine zufriedenstellende Schulartwahlstrategie gefunden zu haben. Anna ,,[...] ist in der Klasse sehrgut eingebunden, sie hat da ihre Freundinnen und sie hat innerhalb der Familie positive Erfahrungen gemacht mit diesem Weg." Deshalb glaubt Frau Fritz nicht, dass sie in irgendeiner Weise eine Gefahr sieht, irgendeine Chance vergeben zu haben [LCa_MZ3_1:71-1:73] . Aus Sicht der Lehrerin haben Eltern , wie Annas Mutter, in der Grundschule schon eine ganz klare Vorstellung, welche Schule ihr Kind einmal besuchen soll und dann ,,[...] ist es völlig ega~ was die Lehrer dai!' sagen, ob sie es empfehlen oder nicht [.. .]" [LCa_MZ3_2:82-2:84] . Die Schulartwahl wird aus Sicht der befragten Realschullehrerin vorrangig von den Eltern oder der Grundschullehrerin entschieden. Die Kinder sind für sie insofern beteiligt oder betroffen, ,,[...] dass die Eltern sehr stark en E influss nehmen auf die Kinder. Ich glaube nicht, dass die Kinder so arg gefragt werden, ob sie das wollen" [LCa_MZ3_2:88-2:90] . Und gerade weil die Eltern einen Einfluss auf die Kinder nehmen, ,,[...] entscheiden sie mehr als50%. Lehrer entscheiden damit, wo die Eltern verunsichert sind' [LCa_MZ3_2:94-2:99]. Ihrer Meinung nach werden viele Eltern sagen, dass sie die Schulartwahl mit ihren Kindern gemeinsam getroffen haben, 50% zu 50%, das glaubt die Lehrerin ehrlich gesagt nicht. Eltern zeigen besondere Reaktionen, wenn sich eine Differenz zwischen Bildungsaspiration und Leistungsriickmeldung auftut. Im Fall der Familie Walk ist das ein wenig anders gelagert. "Ich glaube, dass die Mutter genau weiß, das es eigentlich egal ist, ob ihre Kinder aufdas Gymnasium gehen oder auf die Realschule. Sie sagt das auch: ,,Meine Kinder machen ihren Weg(~ Sie ist so unglaublich stolzauf ihre ifVei großen Kinder, die ja den Weg schon gegangen sind, dass sie einfach glaubt, dass das eine gute Sache ist." [LCa_MZ3_3:15-3:20] Ein gewichtiger Grund scheint aus Sicht der Lehrerin auch zu sein, dass die Mutter ihren Kindern die Chance geben möchte noch etwas länger Kind zu sein. Im Fall von Anna hat die Mutter die Entscheidung getroffen, denn nach Einschätzung des elterlichen Entscheidungsverhaltens setzt die Lehrerin voraus, ,,[.. .] dass sie [die Mutter, E.d.A] sehr starkE influss daraufgenommen hat." [LCa_MZ3_3:24]. Bei der Auswahl und Gewichtung ihrer wichtigsten Kriterien bei der Schulartwahl legt sich Frau Fritz auf drei zentrale Punkte fest und stellt nochmals die Leistungsorientierung als wichtigster Aspekt des Schulübergangs heraus:
Darstellung der mündlichen Befragung
Schulartwahlkriterien aus Sicht der Realschullehrerin: 1.
Leistungsvermögen des Kindes
2. Lebensentwurf des Kindes
3.
2. Motivation und Durchhaltevermögen des Kindes
Selbständigkeit im Lemverhalten
Tabelle 7.21: Schulartwahlkriterien ausSichtder Realschullehrerin uon Anna (Int. 1)
269
Darstellung der mündlichen Befragung
270
7.10 Die beidseitig-konforme Schulartwahl am Beispiel der Familie KochMarmia (Interview 2)
7.10.1 Der Verlaufder beidseitig-konformen Sehulartwahl aus Schülersicht A. FA Familialer und schulischer Hintergrund des Schülers Peter
Alter
10 Jahre;
Peter (Kind)
Einschulungsalter 6Jahre Ge schlecht
männlich
Wohnsituation städtisches Wohnver hältnisse
---
Mietswohnung in einem Stadtteil Wohnort StK Stuttgart
Herkunft der Eltern Vater: Südarnerika Mutter: Deutsch land Zweisprachizkeit deutschspanisch
Geschwisterfolge
Ältestes Geschwisterkind
---
4-
jährige Schwester
schulische Unterstüt-
zung (Artu. Um-
Informationen zur Familie
fang)
Umfassende familiäre Unterstützung durch die Mutter;
---
Legasthenie -Training in einer spezialisierten Nachhilfeeinrichtung
Die beiden Kinder leben allein bei der Mutter, der Vater spielt für in erzieherisehen Fragen eine Nebenrolle. Die Mutter ist die alleinige Hauptbezugsperson der Kinder.
Tabelle 7.22: Persönliche undsoiialeRahmendaten if/m Kindmit beid.-konf. Sehulartwahl Der 10-jährige Peter wächst in einem Stuttgarter Stadtteil in einem dicht besiedelten Stadtteil Stuttgarts auf und wohnt mit seiner Mutter und der kleinen Schwester in einem großen 7-stöckigen Mietshaus. Seine Mutter arbeitet den ganzen Tag und der Junge ist nach der Kernzeitbetreuung alleine zu Hause. Möglichst selbstverantwortlich soll er seine Hausaufgaben erledigen und den nötigen Lernstoff aufarbeiten. Im Verlauf seiner Grundschule wird er von einem Kinderpsychologen betreut, der neben Legasthenie eine akute Prüfungsangst diagnostiziert. Seine schulischen Leistungen in der vierten Klasse sind nicht unerheblichen Schwankungen unterworfen. Zu Beginn des vierten Schuljahrs erhält Peter zudem noch eine neue Klassenlehrerin. Seine Deutsch- und Mathematiknoten liegen im Grenzbereich zwischen gut und befriedigend und entsprechend seiner Leistungsentwicklung entscheidet sich, ob er die angestrebte Bildungsempfehlung für das Gymnasium erreichen kann.
Darstellung der mündlichen Befragung
271
B.E4 Situationsdefinition zur kritisch-resignativen Schulartwahl aus Sicht des Schülers Peter Für Peter nimmt die Schulartwahl einen besonderen Stellenwert ein, denn er will oder soll den Übergang in das Gymnasium auf jeden Fall schaffen. Nicht von seiner Klassenlehrerin, sondern erst über die Bildungsempfehlung er erfährt von der Entscheidung der Klassenkonferenz. Hinter ihm liegt eine intensive Phase der schulischen, außerschulischen und elterlichen Forder- und Förderphase im Verlauf der Grundschulzeit. Neben individuellen Lerneinheiten mit der Mutter besucht er eine auf Legasthenie spezialisierte Nachhilfeeinrichtung und wird seit frühester Kindheit von einem Kinderpsychologen betreut. Über seine angestrebte Schulart ist sich der Junge nach eigenen Angaben schon recht früh klar. ,,Also, ich wollt schon in der Ersten, glaub ich schon, aufdas Gymnasium, gleich, ich wollt [... ]" [SKro_MZ2_0:99] . Aufgrund der zusätzlich diagnostizierten Legasthenie scheint das aber ungeachtet einer überdurchschnittlichen Grundintelligenz nicht so einfach . Peter erläutert, dass seine Mutter mitbekommen hat , dass ,,[...] ich ungern Deutsch mache und:demlieh ungern schreibe, unddaratdlJin hat sie mich auf diese Lese- und Rechtschreibschwä'che testen lassen [... ]" [SKro_MZ2_1 :02]. Die Hinweise des Kindes in Richtung auf seinen "misslungenen" Schulübergang sind deutlich formuliert: ,,[. . .] ja, es war von Anfang an knapp und dann warich auch noch schlecht in der 4. Klasse undda dachte ich schaffdas nicht' [SKro_MZ2_0:58]. Seine Defizite beim Lesen und Schreiben sieht Peter als eine der größten Schwierigkeiten. Der Druck von Seiten der Schule und der Mutter nimmt im Verlauf des Schuljahres kontinuierlich zu, der von ihm unter anderem auf die unmittelbaren Leistungsrückmeldungen der Lehrerin an die Mutter zurückgeführt werden. "Sie
[die Klassenlehrerin, E.dA] hat auch oft bei meiner Mutter angerufen. Dann warsie meistens immer enttäuscht, dass ich dann schlechte Noten geschrieben hab" [SKro_MZ2_1:38-1 :39]. Unmittelbar vor der Entscheidung über die Bildungsempfehlung erhöht sich der Leistungsdruck für den Schüler nochmals . ,,Als meine Lehrerin bei meiner Mutter mal
angerufen hat undgesagt hat, wenn ich in den !{JVei Wochen jett! da, ich mal eine Dreischreib, komm ich nicht aufs Gymnasium" [SKro_MZ2_ 1:07-1:08]. Da fühlt sich der Neunjährige nach eigener Aussage ,,:demlich unter Druck gesetif' [SKro_MZ2_1:12] und spricht dies auch offen an. Er selbst beschreibt die Auswirkungen auf den Unterricht so: "Ich war, ich wardatotal aufgeregt undhab dann manchmal unleserlich geschrieben, so dass das keinen Punktgab oder manchmal ich dawas verlesen hab" [MZ2_1:96-1:97].
272
Darstellung der mündlichen Befragung
C. E4 Die Ebenen der Schulartwahl aus Schülersicht zum 2. MZP
an!.2)
Die Schülersicht auf die schulische Ebene - individuelle Leistungsentwicklung "Ich hab :demlich oft, ich hab :demlieh gut gelernt, bloß dauernd hab ich es dann beim Test vermiest' [SKro_MZ2_0:58]. Hauptsächlich in den beiden Kernfächern kann er das Gelernte nicht gut abrufen. "Die Diktate sindalle überhaupt nichtgutgelaufen undMathe ging auch so [...]" [SKro_MZ2_0:62] . Zu Beginn des vierten Schuljahrs erfolgt ein Klassenlehrerinnenwechsel und Peter muss sich zum zweiten Mal auf eine neue Lehrerin einstellen. "Die neue Lehrerin mocht ich eigentlich, aber meine Klassenarbeiten waren halt recht schlecht' [SKro_MZ2_ 0:70-0:72]. Er versucht es der Mutter und der Lehrerin recht zu machen. Aus der Sicht des Jungen gestaltet sich der Schuljahresverlauf dann in etwa so: "Von Anfang ... / / bis ~m Schu!Jahresanfang, vierte Klasse, bis ~m Halbjahr, / / daging es:demlieh schlecht, weilich daftir die Fahrradpriifung üben musste. Ich war, ich habmich da auch beim Boxen angemeldet und konnte nicht Seilspringen und dann auch noch wegen dem Deutsch, also / / da musste ich da was üben, dann musste ich noch Seilspringen üben undDeutsch üben. / / Das warein totaler Stress" [SKro_MZ2_0:82-085]. Die Schülersicht auf die familiale Ebene - das häusliche und schulische Lemumfe1d Aufgrund der Berufstätigkeit der Mutter wird er an der Grundschule betreut, was eine Schwierigkeit mit sich bringt. ,Jch konnte kaum üben, weil ich auch noch bisum Vier bei der Kemzeit bin" [SKro_MZ2_1:16] . Somit verlagern sich die Lern- und Arbeitsphasen in die Abendzeit und das Wochenende. Sein Lern- und Arbeitsverhalten und die entsprechende Motivation sind sehr abhängig von den jeweiligen Fächern, die er zu bedienen hat . "In Deutsch versuch ich mich meistens dann durch irgendwas ab~/enken. Mathe, da arbeite ich, MNK [lvfensch-Natur-Kttltur, E.dA] bin ich schnellfertig, also :demlieh, totalgut konzentriert und in Englisch auch" [SKro_MZ2_3:85-3:87]. Spätnachmittags ist Peter allein zu Hause und muss seine Hausaufgaben selbständig erledigen, ,,[.. .] was ich nicht immer geschqfft hab und bin dann lieber spielen gegangen" [SKro_MZ2_3:90-3:92] . Die Schülersicht auf die individuelle Ebene - Freizeitgestaltung und Arbeitsverhalten Ungeachtet dessen, dass der Junge einen großen Teil seiner Freizeit mit Lernen verbringt, bleibt ihm noch Zeit mit Freunden Fußball oder Didgeridoo zu spielen. Boxen, zu dem er sich selbst angemeldet hat, sieht er als idealen Ausgleich für den Stress in der Schule. Schulisch gesehen sticht für ihn im vierten Schuljahr auf jeden Fall seine "Tiepräsentation über das Reh oder "Capreolus capreol»:" [lat, Schreibweise, E .d.A.]" [SKro_MZ2_3:98-4:00] heraus, dass er in MNK gemacht hat. "Da habich einen Vortrag gehalten, wie großdas ist, wo eslebt, die Fress-, die Feinde, dann, was des frisst,
Darstellung der mündlichen Befragung
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wie'! aussieht' [ebd.]. Seine Stärken kann er vor allem dann zeigen, wenn er sich ein Thema selbst aussuchen und in seinem eigenen Tempo bearbeiten kann. Treten Schreib- oder Leseaufgaben in den Hintergrund, kann er sein Wissen anbringen und bessere Noten erzielen. C. E 4b Die Ebenen der Schulartwahl aus Schülersicht zum 3. MZP ant. 2) Die Schülersicht auf die schulische Ebene - schulische Lemumfeld Am Gymnasium gefällt es Peter wesentlich besser als in der Grundschule, in der er sich ein wenig benachteiligt gefühlt hat, zumindest was die Schulartwahlentscheidung anbelangt. Die neue Schule ist dagegen ganz anders. "Also, meine Klassenkameraden sind recht freundlich. Die Sehule ist groß, offen und neu und es gibt viele Unterrichtsfächer [.. .]" [SKro_MZ3_0:12-0:17]. [... ] " Die Gänge sehen schöner aus als an der anderen Sehule, weil an der Grundsehule waren die meist beschmiert. Die älteren Schüler sind auch netter, In der neuen habe ich mehr Unterriehtsstoff und mehr Unterricht" [SKro~3_0:25-0:261.
Seine Klassenlehrerin im Gymnasium ist auch ganz "ok} und eigentlich sehr nett[... ]" [SKro_ MZ3_0 :21], so dass er mit ihr gut zu Recht kommt. Den Schulartwechsel würde er heute ganz genauso vollziehen wollen, wie vor einem dreiviertel Jahr. ,Ja} der warrecht einfach und so erwartet [. ..]" [SKro_MZ3_0:35]. Obwohl er in fast allen Fächern von den Noten her gesehen schlechter geworden ist. Selbst in Mathematik, seinem Paradefach, ist es so ,,[...] da hab ich auch nureine drei und das halte ich nicht gedacht" [SKro_MZ3_0:37]. In Latein ist er am Besten, auch wenn da der Lernaufwand für ihn am größten ist. ,,[...] Besonders gut bin ich auch in E nglisch" [SKro_MZ3_0 :53-0:55]. Alles in allem braucht Peter im Gymnasium noch viel mehr Zeit für seine Hausaufgaben und um zu lernen als in der Grundschule. "Ich muss etwas mehr lernen. Ich brauche etwa doppelt so viel Zei~ wie in der Grundschule. Dorthabe ich nuretwas gelern~ wenn ein Testoder eine Klassenarbeit anstand" [SKro_MZ3_0:63-0:64]. Die Schülersicht auf die schulische Ebene - häusliche Lemumfeld Seine Hausaufgaben und das Lernenaufkommen bewältigt er nach wie vor allein, weil seine Mutter den ganzen Tag arbeitet. Sie kontrolliert lediglich abends seine Arbeiten und gibt ihm darüber hinaus Lerntipps und Ratschläge. In der Grundschule hat er nach eigenen Angaben nur das "Nötigste" gemacht. Für alle Hausaufgaben braucht er in der Regel "eine halbe bis dreiviertel Stunde". Am Wochenende muss er noch weitere Lernzeit aufbringen. Dennoch besucht er viele lieber das Gymnasium als die Grundschule und sagt, ,,[...] ich gehe lieber in die Schule alsfrüher in die Grundschule" [SKro_MZ3_0:89]. Peter ist trotz des wesentlich höheren Lernaufwands und der Arbeitsbelastung und der notwendigerweise selbständigen Erledigung aller Aufgaben mit der Schulartwahl zufrieden. "Ich würdjederzeit wieder aufs Gymnasium gehen" [SKro_MZ3_0:91], etwas ungeschickt findet er lediglich den
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Darstellung der mündlichen Befragung
Schulweg, der ihn täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Innenstadt führt. Für Peter ist das vor allem ein Nachteil, weil ,,[...] alle meine Freunde in einem ganz anderen Stadtteil wohnen und ich die gar nicht if' Fuß erreichen kann" [SKro_MZ3_ 1:19-1:20] . Aber das hat ihm seine Mutter schon im letzten Schuljahr erklärt, das liegt an seiner Legasthenie, die von anderen Schulen voll in die Noten eingerechnet wird und an seinem Gymnasium eben nicht. Dass seine kleine Schwester aller Voraussicht nach nicht auf das gleiche Gymnasium geht, findet er nicht besonders schade. "Dann kann ich mir einigen Aiger und Genorgel ersparen" [SKro_MZ3_1:22]. C.E4.+b
Eine Übersicht zu den Einflussfaktoren der Schulartwahl des 2. u. 3.
MZPs Die Schwerpunkte von Peters Ausführungen liegen auf der schulischen Ebene in der Beschreibung seiner Leistungsentwicklung. Diese stellen sich von Außen gesehen als " Leidenszeit" dar, denn der Junge scheint alle Kräfte aufbieten zu müssen, um den erwünschten Übergang ins Gymnasium realisieren zu können . Auf der familialen Ebene beschreibt er seine häusliche Lernumgebung, die dem 10-Jährigen ein hohes Maß an Selbstdisziplin abverlangt, da er seine Hausaufgaben ohne elterliche Unterstützung erledigen muss. Eine Zeit ohne Druck, Selbstdisziplin und Verantwortung erfährt der Junge in seinen sportlichen Aktivitäten. Nach dem Übergang scheint sich die Situation nicht merklich verändert zu haben, denn der schulische Lernaufwand ist noch weiter angestiegen. Zudem bietet die neue Lernumgebung auf schulischer Ebene weiter Herausforderungen für den Jungen . So kommen ein weiterer Schulweg und der Besuch eines altsprachlichen Gymnasiums hinzu. Im Interview thematisiert er außerhalb der schulischen Ebene keine anderen relevanten Ebenen, was als Einflussnahme durch die Schule anzusehen ist. Die Entscheidungsträger der Schulartwahl aus Schülersicht ant. 2)
Peter erinnert sich noch sehr genau an den Zeitpunkt der Zustellung der Bildungsempfehlung. ,,Ahm} als da irgendwo auf einem Papier stand, das wurde uns if'geschick4 da stand dann Gymnasium} also} wo wir, wo ich hingehen konnte} da wardann angekreuih Gymnasium} Real und Haupt / /" [SKro_MZ2_1:25-1:26]. Wiederholt spricht der Vierklässler seine Wunschschulart an und betont, dass er im Falle des Nichterreichens auf jeden Fall das Test- und Beratungsverfahren durchlaufen hätte. Mutter und Sohn stimmen in ihrem Schulartwunsch überein und so schätzt der Sohn die Anteile dieser Wahl etwa gleichgewichtig verteilt. Bei der genauen Verteilung legt er fest, dass die Mutter etwas mehr als die Hälfte und er etwas weniger als die Hälfte Anteil an der Entscheidung hatte. Nach dem Übergang schätzt er das hingegen etwas anders ein. Im Nachhinein gesehen haben seine Eltern die Schulartwahlentscheidung getroffen und da be-
Darstellung der mündlichen Befragung
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zieht er seinen Vater mit ein. Das ist ungewöhnlich, da Peters Vater weder in der Familie noch im Umfeld wohnt und er ihn nur sporadisch an Wochenenden sieht. Seine Hauptbezugsperson ist die Mutter, dennoch räumt er ihr damit einen geringeren Entscheidungsanteil ein. 7.10.2 DerVerlaufder beidseitig-konforme Schulartwahl aus Elternsicht (2. MZP, Int. 2) Teilnahme am
Interview Mutter
Berufliehe Stellung
Umfang der Berufstätigkeit
höchster Schulabschluss
Migrationshinter-
grund
Angestellte ja
Vater nein
(Sozial-
arbeiterin)
k.A.
Vollzeit
k.A.
Abitur
k.A.
kein
Familiäre Besonderheiten - die dreiköpfige Familie lebt allein
Herkunftslebt in einer land: Peru, neuen PartSüdamenerschaft rika
Tabelle 7.23: Persönliche undsoiJale Rahmendaten derEitemmit beids.-konj. Schulartwahl Peters Mutter ist als Sozialarbeiterin in einer Stuttgarter Einrichtung für "gestrandete Jungendliche" tätig. Kurz nach der Wende übersiedelt sie nach Westdeutschland und muss Teile ihres Studiums nachholen, um einen anerkannten Abschluss zu erhalten. Ihre Bildungsbiografie ist geprägt von den Erfahrungen mit dem ostdeutschen Schulsystem und den aus ihrer Sicht eingeschränkten Bildungschancen. "Bildung warftir mich das einiJge, was man mir nicht nehmen konnt, deshalb ist mir das ftir Peterauch so wichtig' [EKro_MZ2_2:80-2:81] . Diese Aussage kann als Leitmotiv der Mutter gelten, die darauf abzielt den höchstmöglichen Schulabschluss zu erreichen, um die besten Bildungs- und Berufschancen zu haben.
B. EA Die Situationsdefinition zur Schulartwahl aus Sicht der Eltern Die Schulartwahl ist für Frau Koch-Marmia gekennzeichnet durch einen erheblichen Vorbehalt gegenüber der " verordneten Bildungsempjehlung' [ebd.] Im Falle des Nichterreichens der Gymnasialempfehlung hätte die Mutter alle Mittel ausgeschöpft und trotz der Prüfungsangst von Peter das Test- und Beratungsverfahren
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durchlaufen. Für die Mutter hätte sich die Frage bei dem Erhalt einer Realschulempfehlung gestellt: ,,[...] würde ich ihm das dann auch iJimuten, eventuell tatsächlich auch diese Niederlage,ja, aber ich denk, was man aJ1dem ersten Bildungsweg machen kann, verkü'i! und, undich wollte die Mijglichkeiten einfach auch ausreize1l' [EKro_MZ2_2:70-2:74]. Die Divergenz zwischen Prüfungsangst des Sohnes und der Anspruchhaltung der Mutter sind ihr sehr wohl bewusst. Ihre Bildungsaspirationen erklären sich für sie durch die eigenen beruflichen Erfahrungen mit schwer erziehbaren und obdachlosen Jugendlichen, die ,,[...] nicht mal die Hauptschule gesch4ft haben mit einem IQ von 120 und mehr, ja wo ich dann einfach sehe, was da alles schieflaufen kann unddie dann garnichts mehr aJ1die Reihe kriegen" [EKro_MZ2_3:11-3:13]. Aus dem Grund möchte sie für ihre Kinder eine solche Karriere mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln vermeiden. "Bei der Schulartwahl hatich überhauptgarnicht den Eindruck, dass ich eine Entscheidung getroffen habe. Ich hätte eine Entscheidung getroffen, wenn es dann geheißen hä"tte, n;i / / ich hab versucht, ich hab gerudert, die Entscheidung iJi beeinflussen / / aber wirklich iJi denken, ich hä"tte eine Entscheidunggetroffen, eigentlich nicht' [EKro_MZ2_4:64-4:67].
C'B4 Die Ebenen der Schulartwahl aus Eltemsicht zum 2. MZP (Int. 2) Die Eltemsicht aufdie individuelle Ebene - TeiUeistungsstörungen Schon in der dritten Klasse beginnt die Mutter mit einer Therapie für ihren Sohn, dessen Teilleistungsstörungen immer deutlicher Zutage treten. Peters Leistungen werden schlechter und seine Bereitschaft zu lesen sinkt zusehends. "In der Situation bin ich dann [. ..] auch in Aktionismus ausgebrochen und schier ve'iJVeifelt also, es warschon, also ich finde den Druck schon :demlich enorm. Peter sollte doch nicht in die Hauptschule" [EKro_MZ2_1:17-1:19]. Es folgen Diagnosetests, Therapien und die Anmeldung in einer Legasthenie-Fördereinrichtung. Im Rahmen der Behandlung lässt die Mutter bei Peter einen Intelligenztest durchführen, in dem der Junge einen IQQuotienten von 130 erzielen kann. Das Ergebnis legt die Mutter der Grundschullehrerin vor. Begleitet wird die Grundschulzeit Peters von der Scheidung der Eltern und einem Wechsel der Grundschulklassenlehrerin zu Beginn des vierten Schuljahrs. Die Eltemsicht aufdie familiale Ebene - gemeinsame Wunschschule Trotzdem ist nach ihrer Aussage für Mutter und Sohn das Ziel einen Übergang ins Gymnasium zu realisieren, ,,[. . .] weil ich hab ihm schon auch gesagt, Mensch, wenn es die Realschule wird' es gibtnoch einen ~eiten Bildungswe~ ja undso hab ich ihn schon auch in die Richtun~ dass ernichtgariJi enttäuscht ist" [EKro_MZ2_1:12-1:13]. Der Anspruch und die Zielsetzung der Mutter sind hinsichtlich der sich verringernden Freizeitmöglichkeiten für ihr Kind durchaus nachvollziehbar: ,,[...] so ein Stückchen Freiheit muss
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so ein Kindauch haben, klar / / [. ..] also, so ein bissehen Spielraum muss auch noch da sein" [EKro_MZ2_1:14-1:15].
Die Eltemsicht aufdie individuelle Ebene - Petcrs extern Unterstützung und sein Freizeitverhalten Im selben Abschnitt zählt sie die wöchentlichen Termine des Sohnes auf: ,,[.. .] er geht ~eimal die Woche if/m LOS (E.dA. LOS Lehrinstitut ftir Orthographie und Schreibtechnik), einmal in der Woche if/r Therapie, einmal in der Woche if/m Boxen - irgendeinen Ausgleich braucht manja, ne - / / Hm / / und, undif/r Sport-AG geht erauch: also, die Woche ist voll' [EKro_MZ2_1 :27-1:29]. Hinsichtlich der zeitlichen Ausgestaltung
=
seiner Freizeit scheinen die beiden Aussagen im Gegensatz zueinander zu stehen. Was seine Lemzeit angeht, hat die in Vollzeit berufstätige Mutter eine ähnliche Position: " Und wenn er, wenn erjei:(! schon sii:(! undpaukt, was willerdann am Gymi ma-
chen. So ein bissehen Spielraum muss auch noch da sein. Wenn ich mit Ach und Krach das gerade so schaffe. " [EKro_MZ2_1 :29-1:31]. Die Eltemsicht aufdie schulische Ebene - schulische Problemfelder Nach Meinung der Mutter wird Peter keinen ähnlich knappen Übergang ins Gymnasium realisieren. Dafür möchte sie auch durch einen intensiven Kontakt mit der Klassenlehrerin sorgen. Sie beschreibt den Austausch mit der Klassenlehrerin als intensiv, doch ihrerseits bemängelt sie die widersprüchlichen Aussagen ihres Gegenübers. ,)Jalwar erganzgut unddann wiedergrottenschlecht und das hat mich fast ein bissdien überfordert' [EKro_MZ2 _1:45-1:48]. Dennoch versucht sie Peter zu helfen seine Defizite weiter abzubauen. "Da hab ich mich auch ein bisschen unter Druck gesetzt gefühlt, ich weiß, das war sehr gut gemeint von, von der Lehrerin, mir anzurufen, aber die hat, also sie hat angerufen und dann mal, ja, und der Peter ist super und ich muss den anderen erklären, was er sagt, weil er, weil die gar nicht so einen Wortschatz haben und so und dann, eine Woche später, oh Gott, und ich war dann hin und her gerissen [.. .]," [EKro~Z2_1 :49-1:53] .
Im Falle des Nichterreichens der Gymnasialempfehlung hätte die Mutter alle Mittel ausgeschöpft und trotz der Prüfungsangst des Kindes das Test- und Beratungsverfahren durchlaufen. Im Fall des Erhalts einer Realschulempfehlung war für sie die Frage: ,,[...] wiirde ich ihmdas dann auch if/muten, eventuell tatsächlich auch diese Niederlage,
ja, aber ich denk, was man azifdem ersten Bildungsweg machen kann, verküT':(f und, und ich wollte die Miiglichkeiten einfach auch ausreizen" [EKro_MZ2 _2:70-2:74]. Die mögliche Divergenz zwischen der Prüfungsangst des Sohnes und den eigenen Bildungsansprüchen sind der Mutter sehr wohl bewusst. "Hm, ja, da sieht man mal, in welchem Dilemma man da steckt also das ist wirklich nicht so ohne. Das hat mich etliche graue Haare, gekostet nicht, hatmiretliche grauen Haare eingebracht [... ]" [EKro_MZ2_2:80-2:81].
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Darstellung der mündlichen Befragung
C'B4 Die Ebenen der Schulartwahl aus Eltemsicht zum 3. MZP (Int. 2) Die Eltemsicht aufdie schulische Ebene - Erwägungen zur gegenwärtigen Schulan Peter hat den erwünschten Übergang geschafft und nun ist die Mutter "erstmal [. ..] froh, dass der Peter aufs Gymnasium gekommen ist' [EKro_MZ3_0:13]. Um einen Aufschluss über das Leistungsvermögen ihres Sohnes zu erhalten, hat Frau KochMarmia einen Intelligenztest durchführen lassen , der trotz Legasthenie seine überdurchschnittlichen Fähigkeiten zeigen sollte. Nach Erhalt der Ergebnisse ,,[.. .] ist es das erste Mal seit vier Jahren, dass er gerne in die Schule geht. Er hat sich echt vier Jahre durch die Grundschule gequält, obwohl er imme r das Glück hatte immer nette Klassenlehrerinnen zu haben. Daran lag es jetzt eigentlich nicht, ich denke dass er teilweise unterfordert war in der Grundschule und teilweise durch die Legasthenie sehr schlechte Erfahrungen auch gemacht hat" [EKrojiZ3_0:16-0:19].
Dabei lässt die Mutter keinen Zweifel daran, dass sie die Entscheidung zum Wohl ihres Kindes trifft. Für den Übergang ins Gymnasium muss man aus ihrer Sicht nicht unbedingt besonders begabt sein. ,,Es ist noch gar nicht mal so schwer bei dem
Schnitt, denn 2,5 istja wirklich nicht die Wel~ ja. Dass das wirklich begabte Kinder unbedingt sein müssen, sondern wirklich da, wo die Eltern Interesse zeigen undwissen, dass Bildung einfach ein Kapital ist' [EKro_MZ3_0:16-0:19] . Auch wenn sie das ihrem Kind nicht bieten kann, hat sie doch alles versucht durch ihr Engagement dieses Manko auszugleichen. Zur Grundschule stellt die Mutter im Vergleich erhebliche Unterschiede fest: ,,[.. .] dass es unpersönlicher wird. Durch die vielen Fachl ehrer und dadurch [00'] Pet er hat in der Woche vier oder fünf Stunden mit seiner Klassenlehrerin und wenn man die direkt auf etwas anspricht, dann hat man immer das Gefühl, das das gar nicht so interessiert. D ie Klasse ist ziemlich groß 30 Schüler, da tut er sich etwas schwer. Er meldet sich gar nicht und er braucht seine Zeit um warm zu werden. Ich denke das kommt dann noch , entsp rechend die mündliche Note zählt halt auch, entsp rechend ist sein Durchschnitt auf drei" [EKrojiZ3_0:26-0:32].
Eine Überforderung des Kindes sieht die zweifache Mutter nicht gegeben, obwohl sie es aufgrund ihrer Vollbeschäftigung nicht in dem Maße unterstützen kann. Von der Grundschule fordert sie deshalb die Einübung eines selbständigeren Lern- und Arbeitsverhaltens ein. Dem "Spagat zwischen Über- und Unterforderung" könnte durch die Vermittlung von Lernmethoden schulischerseits entgegengetreten werden. Ein effektiveres und strukturierteres Lernverhalten könnte ihrer Meinung nach auch die fehlende Freizeit wettmachen.
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Die Eltemsicht aufdie individueDe Ebene - TeiDeistungsdefizite Ein Gespräch mit der neuen Klassenlehrerin hat die Mutter bislang noch nicht geführt, aber sie hat ihr alle wichtigen Unterlagen bezüglich seiner Legasthenie zukommen lassen. Dass er deshalb schlechtere Noten hat als seine Mitschüler, spielt aus ihrer Warte eine untergeordnete Rolle: "Da habe ich aber auch gesagt der Peterist so ta./t dass erdas realisie'; das das die reale Note ist, aber nicht so relevant, wie ftir einen andem Schüler. Dassdas einfach so stehen bleiben kann" [EKro_MZ3_0:71-0:72]. Leider wirken sich die Defizite im orthografischen Bereich vor allem auch in den Nebenfächern aus, wo ihm auch in Klassenarbeiten alle Rechtschreibfehler angerechnet werden. Bei der Förderung von Kindern mit Legasthenie sieht die Mutter eine soziale Ungleichheit. Es sind ,,[.. .] so:dal schwache Familien, die dann ihre Kinder nicht aufs Gymnasium schicken kö'nnen, obwohl sie die Kapa:dtät häTten, weil das einfach 168 Euro im Monat sind, die man [für die Nachhilfestunden in einem staatlich anerkannten Legastheniezentrum, E.d.A.] privatbe~hlen muss" [EKro_MZ3_0:82-0:84]. Für Petcrs Schulbiografie war ihrer Ansicht nach wichtig, die schlechten Rechtschreib- und Lesefähigkeiten als "Krankheit" diagnostiziert zu bekommen. Vor allem in der dritten Klasse macht sie diese für seine massive Schulunlust verantwortlich. Schuld für die psychische Situation Peters gibt die Mutter eindeutig der Grundschule, der es nicht gelingt Freude am Lernen zu vermitteln und gleichzeitig die Defizite des Kindes aufzufangen. "Durch diese Art und Weise der Bildung, die dort vermittelt wird, oder durch das so:dale Umfeld oder alles ~sammen, dass das einem Kindso vermiest werden kann. Eigentlich ein Kind, das aufgeweckt und neugierig ist. Das ist eigentlich schade" [EKro_MZ3_1 :02-1:04]. Die Eltemsicht aufdie schulische Ebene - Petcrs Leistungsentwicklung Bislang ist es vor allem die Deutschnote, die von 2,5 auf 4 abgesunken ist, die der Mutter Sorge bereitet. Seine Mitarbeit lässt insgesamt zu wünschen übrig, da er Angst hat Fehler zu machen und sich deshalb kaum meldet. ,,[...] Er braucht seine Zeit, erbraucht auch so bei Bekanntschqften oder so mindestens ein Jahr um einen Menschen so auf den ~~gehen. [. ..]. Er ist sehr, sehr vorsichtit' [EKro_MZ3_1 :29-1:30]. In Mathematik ist eine ähnliche Entwicklung abzusehen. ,,DasProblem ist, erist ~ langsam. E r ist schlechter geworden in Mathe von 2 mif 4 auch" [EKro_MZ3_1:34-1:35]. Davon lässt sich die Mutter jedoch nicht unterkriegen, denn sie sieht hier noch erhebliches Potential und kein grundsätzliches Problem gegeben. Zudem hat sie eine Erklärung dafür: [. ..] das Problem ist er macht zwar alles richtig, schafft aber nur die Hälfte und es ist trotzdem ein vier (lacht) Das sind jetzt so Sachen, wo ich jetzt nicht verzage, weil einfach ich denke , wenn jemand das Aufnahmevermögen nicht hat und es nicht begreift , ist es für mich noch mal schlimmer, ja, weil dann muss er es erst begreifen " [EKro_MZ3_1:35-1 :37].
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Darstellung der mündlichen Befragung
So lange sie das Gefühl hat, Peter begreift den Stoff und kann ihn wiedergeben, sieht sie das Problem in seinem langsamen Vorgehen, seiner Schrift, vor allem in der Legasthenie. Doch Zweifel kommt an der ein oder anderen Stelle auf: ,,[...] Er tut sich schwer bei alle den Sachen, wo er sich intensiv hinsetzen und sich auseinander setzen muss. Da ist er manchmal ungeduldig oder auch überarbeitet, vielleicht manchmal" [EKro_MZ3_1:70-1:71].
Die Eltemsicht aufdie individue1le Ebene - individuelles Arbeitsverhalten Mit seiner Hausaufgabenpraxis ist sie aber grundsätzlich zufrieden, obwohl diese ganz unterschiedlich ausfällt. " Meistens ist es so, dass wenn er nachmittags herkommt, ohne dass ich daheim bin , dann, sagen wir mal in 70% aller Fälle, dann setzt er sich schon hin und fängt die Hausaufgaben an. In 5-10% der Tage ist es so, ich komm nach Hause und frag, hast du noch Hausaufgaben und er sagt ich hab schon alles gemacht" [EKro_MZ3_1:77-1:79].
Darüber hinaus benötigt Peter noch zusätzliche Lernzeit, für die die Mutter ihm jeden Tag "so zehn Minuten" gibt, "das mache ich dann mit der Eierab)" [EKro_MZ3_2:03], um ihm die nötige Struktur zu geben.
Die Eltemsicht aufdie familiale Ebene - elterliche Bildungsbiografie "Das ist einfach so meine Überlegunggewesen, dass ich meinen Kindern das Beste eigentlich bieten milchte, die beste Chance" [EKro_MZ3_2:24-2:25]. Ihre eigene Bildungsbiografie versteht sie als ein abschreckendes Beispiel: "Ich hätte bestimmte kein Abitur gemacht. Meine Mutter warNull interessiert an meiner Bildung undvon daher binich ganzfroh, dass es einen gewissen Automatismus hatte" [EKro_ MZ3_2:60-2:61]. In ihrer Kindheit und in der Schule wollte sie eigentlich nur "gesehen", sprich wahrgenommen werden, denn in einer großen Familie aufzuwachsen empfand sie als Nachteil. Das sie nicht die besten Startvoraussetzungen besaß, stört sie dabei nicht und lässt sich ihres Erachtens nach durchaus kompensieren. " Also, ich möchte schon behaupten, dass man eigentlich erwarten kann, dass zwei Leute mit einem Hochschulabschluss auch irgendwo auch ihre Intelligenz weitervererben. So wie die Augenfarbe oder Haarfarbe und dann natürlich in einem Umfeld aufwachsen, wo Bücher vorhanden sind, wo nicht Berieselung aus dem Fernseher läuft, wo Struktur ist, wo sie auch sehen, da wird was geschafft und da kommt auch im Rücklauf was . Also auch materiell, ja dass man sich was leisten kann und so. Die Motivation ist ja eine ganz andere, als jemand, da hab ich halt leider mit zu tun, sieht die Eltern sind zu Hause, schaffen nichts , die leben halt von Harz IV und alles ist egal und der Vaterstaat ist der große Versorger. Da ist keine Motivation hinter, wofür lohnt es sich dann es ist einfach so eine Sache das ist einmal Umwelt, klar und dann Anlage, auch klar. Es gibt dann nur wirklich wenige Kinder, die schon in jungen Jwen so funktionieren, dass sie sagen ich will es ganz anders machen und das sind wirklich dann Leute , die Power haben" [EKro~Z3_2:70-2:78].
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Darstellung der mündlichen Befragung
Für sie zählt nicht die Herkunft, sondern einzig das Geleistete und diese Sichtweise möchte sie an ihre Kinder weitergeben. Das berufliche Fortkommen lässt sich in vielen Tätigkeiten zudem nicht ausschließlich über Intelligenz realisieren, sondern vielmehr durch eine bestimmte Merkfähigkeit, wie sie am Beispiel einer Mitschülerin erläutert: "Die war wunderbar im Auswendiglernen, die lasert Augen, die ist Augenärztin geworden . Das ist so ein typischer Beruf, in dem man alles auswendig können muss und das ist auch gut . Und Juristen müssen auch viel auswendig lernen . Also, da findet sich für jeden eine Nische [...]" [EKro~Z3_2:97-2:99] .
Ihre Anschauungen münden in einer differenzierten Kriterienrangfolge. Bei der Auswahl und Gewichtung ihrer wichtigsten Kriterien bei der Schulartwahl stellt Frau Koch-Marmia das Leistungsvermögen und Durchhaltevermögen voran, die sie als übergeordnet sieht. Als einziges Elternteil zieht sie die Bildungschancen in ihre Überlegungen mit ein. 1. Leistungsvermögen meines Kindes als Voraussetzung
2. Motivation und Durchhaltevermögen meines Kindes
-. 1. und 2. beide als Überbau für Bildungschancen . 3.
Einschätzungen zur Bildungschance der gewählten Schulart
4.
Rückmeldungen in Beratungsgesprächen (soziale Entwicklung, wegen Legasthenie)
5.
Leistungseinschätzung der Grundschule (als zentrales Moment der Selektion)
6.
Entwicklung meines Kindes in der Grundschule (auch nicht unbedingt, einseitig in der GS)
Tabelle 7.24: Rantfolge der Schulartwahlkriterien der Eltern (Int. 2)
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Darstellung der mündlichen Befragung
C.B4 Eine Übersicht zu den EinOussfaktoren der Schulartwahl des 2. und 3. MZPs Im ersten Gespräch steht bei der Mutter die schulische Ebene im Vordergrund, denn zu dem Zeitpunkt ist noch nicht klar, ob Peter den erwünschten Übergang erreicht. Neben der Kommunikation mit der Klassenlehrerin beschreibt die Mutter dezidiert die Teilleistungsstörungen ihres Kindes und setzt dem den Nachweis seiner Intelligenz durch den IQ-Test entgegen. Damit führt sie noch vor dem Testund Beratungsverfahren eine weitere Instanz der standardisierten Testung ein und weist so die Grundintelligenz ihres Kindes nach. Auf individueller Ebene geht sie auf die verschiedenen Freizeitaktivitäten ein, die ihrem Kind einen Ausgleich zur Schule bieten. Schon mit zehn Jahren hat Peter einen strikt geregelten Tagesablauf und trägt für seine nachmittägliche Lem- und Arbeitspraxis die Verantwortung. Damit arbeitet er auf das gemeinsame Ziel hin, denn alles andere als einem Gymnasialübergang käme für beide einer Niederlage gleich. Das zweite Interview gibt auf familialer Ebene Aufschluss über die biografischen Hintergründe der Mutter und eine Erklärung ihrer gesteigerten Bildungsaspirationen. Der Mutter fehlte in ihrer Schulzeit die elterliche Unterstützung und die möchte sie nun Peter zu Teil werden lassen. Auf individueller Ebene traut sie ihrem Sohn trotz der momentanen Anfangsschwierigkeiten und einem deutlichen Leistungseinbruch eine positive Entwicklung im Gymnasium noch immer zu. Nicht umsonst hat sie extra ein Gymnasium ausgesucht, das die Teilleistungsstörungen ihres Kindes bei der Notengebung berücksichtigt.
D. B4 Die Einschätzung der Eltem zum BeteiJigungsgrad Wie sehr die Mutter in den Bildungsentscheidungsprozess emotional involviert ist, zeigt ihre Äußerung zur Testung: "Ich hab [. ..] auch noch mal einen Testgemacht oder machen lassen" [EKro_MZ2_0:35-0:37]. Im Nachhinein ist die zweifache Mutter zufrieden mit der Schulartwahl, die im "Löwenanteil" von der Grundschule und zwar über die Bildungsempfehlung getroffen wurde. Ihr eigener Anteil liegt in dem Zusammenhang nur bei unter einem Drittel. Hierbei unterscheidet sie zwischen einem schulischen und einem innerfamiliären Entscheidungsprozess und den letzteren schreibt sie ganz klar sich selbst zu. Die Last an "Arbeit und an Emotionen" lag einzig bei ihr, auch hat sie die Aufbau- und Überzeugungsarbeit bei Peter übernommen. "Wenn ich da an seinen Vater denke, klar hat der sichjep.(! gefreut, aber erist i!' keinem Beratungsgespräch oder irgendwohin gegangen. [. ..] Ich würde sagen, die habe ich alleine getroffen die Entscheidung' [EKro_MZ3_4:22-4:31]. Mit dem Übergang ins Gymnasium scheint aus Sicht der Mutter die schwierigste Hürde überwunden. Es ist Peter mit ihrer Hilfe gelungen ins Gymnasium überzugehen, alles Weitere muss er sich zukünftig erarbeiten.
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7.10.3 DieEbenen der Schulartwahl aus Sicht der Grundschullehrerin (2. MZP, Int. 2) E'E4 Die Situationsdefinition zur Schulartwahl aus Grundschullehrerinnensieht Nach Meinung von Peters Grundschullehrerin ist für viele Kinder der Schulübergang klar und bringt untereinander keine große Missgunst mit sich. " Unsere Katbi geht auf das Gymnasium undda hatte Saria überhaupt kein Problem damit undeine Kann wird niemals abftillig über die Saria sprechen so, also das waren einfach so viele klare Fälle" [... ] [LAl_MZ2_0:46-0:48]. Ihre Grundschule liegt in einem sozialen Brenpunktviertel und trotzdem kann sie keinen Fall ausmachen, in dem die finanziellen Mittel mittelbar eine Rolle gespielt hätte. Die Äußerungen der Eltern weisen ihrer Ansicht nach eher die gegenläufige Tendenz auf: ,,[...] Ich denk, damachen sich auch einige keine Gedanken be:dehungsweise habe ich mal hin und wieder gehört und wenn mich das das lef:?!e Hemdkostet, unterstütze ich mein Kindmit Nachhiffe" [LAl_MZ2_0:76-0:78]. Den Stellenwert der schulischen Bildung schätzen die meisten Eltern an ihrer Schule trotz sozialem Brennpunkt schon entsprechen hoch ein. Bei den schwierigen Fällen, in denen die entsprechenden Schülerinnen und Schüler auf der Kippe standen, ging es in den Elterngesprächen vorwiegend um das Akzeptieren oder Nichtakzeptieren der Noten. Die Eltern stellen dann nicht die Leistungen ihres Kindes in Frage, sondern mehr das ,,[...] Zustandekommen der Note in einem Fach und es entschieden sich alle Eltern und Kinder für die höchstmögliche durch die Bildungsempfehlung vorgegebene Schulart . Eine abwärtsgerichtete Schulart gibt es in ihre r Klasse nicht, ,,[...] also ich hatte jetzt keinen Fall wo irgendjemand gesagt hätte, ja gut es wäre vielleicht doch besser , es gcht nicht auf die Schulart wofür die Note reicht" [LAl_MZ2_0 :94-0:96].
E'E4 Die Lehrerinnensicht auf die individuelle Ebene - Peters Leistungsentwicklung Eine ähnliche Einschätzung trifft die Klassenlehrerin für das Verfahren von Peter, für den sie eigentlich einen eindeutigen Realschulübergang vorsieht. ,,[...] Also bei dem einen Realschüler da kam es zu keinem Verfah ren, da war es aber auch wahnsinnig kritisch, da hab ich auch viele Gespräche geführt, das ist total sinnlos gewesen . Also ich kann mir das nicht vorstellen , dass er das irgendwie schafft, er hat dann immer wieder gelernt, noch mal und es ist trotzdem, da ist die Note auch noch mal abgesunken jetzt im zweiten Halbjahr" [LAI_MZ2_1:00-1:03].
Bei ihrer Einschätzung stellt die Lehrerin nicht die Legasthenie des Jungen in den Vordergrund, sondern vielmehr das außerordentliche Lernpensum, das Peter schon in der Grundschule zu bewältigen hat. Mit Peters Mutter führte die Grundschulleh-
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Darstellung der mündlichen Befragung
rerin mehrere Gespräche und hat ihr ihre Position deutlich gemacht. In der "heißen Phase" kurz vor der Entscheidung zur Bildungsempfehlung standen sie dann sogar telefonisch in Kontakt. ,,Aber die Mutter war durch nichts von ihrem Weg ab: