Das Buch Mit zwanzig hat man noch Tr¨aume – besonders wenn man, wie die College-Absolventin Nicki McBain aus Chicago, j...
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Das Buch Mit zwanzig hat man noch Tr¨aume – besonders wenn man, wie die College-Absolventin Nicki McBain aus Chicago, jung, h¨ ubsch und ambitioniert ist. Ihr gr¨oßter Wunsch ist es, irgendwann eine erfolgreiche Juristin zu werden. Doch dann bricht u ur sie ¨ber Nacht die Welt f¨ zusammen: Ihre Tage sind gez¨ahlt, ihre Zukunftspl¨ane auf ein paar Monate beschr¨ankt. Nach dem ersten Schock beschließt Nicki, in der ihr verbleibenden Zeit das Leben richtig zu genießen. Mit ihren besten Freunden plant sie eine Kreuzfahrt durch die ¨ ais, um dort noch einmal aus dem vollen zu sch¨opfen. Ag¨ Aber unter der griechischen Sonne passiert ihr schließlich das, womit sie am wenigsten gerechnet hat. Sie begegnet dem Bordfotografen Michael und erf¨ahrt zum ersten Mal im Leben, was wirkliche Liebe ist. Eine aufregende Zeit beginnt, in der sich Momente h¨ochsten Gl¨ ucks mit solchen großer Hoffnungslosigkeit abwechseln. Weil Nicki weiß, daß es keine gemeinsame Zukunft f¨ ur sie geben kann, bricht sie die Reise verzweifelt ab. Doch wahre Liebe kennt keine Grenzen. . .
Die Autorin Liz Nickles lebt in Los Angeles, wo sie sehr erfolgreich in der Werbebranche und als Beraterin großer Unterhaltungsfirmen t¨atig ist. Von einer großen Frauenzeitschrift wurde sie zu einer der zehn Topfrauen des Jahres gew¨ahlt. Sie hat bereits mehrere Drehb¨ ucher und Romane geschrieben. Die Filmrechte an dem Roman F¨ ur jetzt und alle Ewigkeit sind bereits verkauft.
Liz Nickles
Fu ¨r jetzt und alle Ewigkeit Roman
Aus dem Amerikanischen von Angela Nescerry
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel All the time in the World bei Avon Books, Inc., New York
Scan, Korrektur und Layout: Shaya Version: 1.0
Ungek¨ urzte Lizenzausgabe der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und der angeschlossenen Buchgemeinschaften c Copyright 1999 by Liz Nickles c Copyright 2000 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH und Co. KG, M¨ unchen Umschlag- und Einbandgestaltung: Hep & Ko, Berlin Umschlagfoto: Tony Stone Satz: Gramma GmbH, M¨ unchen Druck und Bindung: GGP Media GmbH Printed in Germany 2000 Buch-Nr. 06161 4
F¨ ur die wirkliche Nicole
Prolog
Jetzt muß ich die Augen schließen, damit ich diesen Augenblick, wie mit einer Kamera, f¨ ur immer festhalte. Ich sp¨ ure, wie der Wind durch mein langes Haar streicht; die Str¨ahnen wehen mir ins Gesicht und verfangen sich in meinem weit ge¨offneten, lachenden, schreienden Mund. ¨ aische Meer warm und Tief unter mir kr¨auselt sich das Ag¨ einladend an den Felsen. Und er steht neben mir, h¨alt meine Hand. Ich kann es nicht. Wie k¨ onnte ich springen? Ich mag keine Klippen. Ich mag es nicht, in die Tiefe zu ¨ schauen. Ich mag keine Uberraschungen – und vor allem mag ich keine schroff abfallenden Felsen, keine spitzen Steinbrocken und keine Schw¨arme von Haien, die vermutlich genau an der Stelle kreisen, an der ich ins Wasser eintauchen werde. Nat¨ urlich kannst du. Er ist von der beharrlichen Sorte. Kann ich nicht. Ich trete zur¨ uck. Ich bin noch nicht soweit. In deinem Gesicht sehe ich Mut, behauptet er. Mutig? Ich? Ich schaffe es nicht. Du schaffst es. Wir haben es schon oft gemacht. Du schaffst es. Er greift nach meiner Hand und streichelt sie. 7
Ich habe Angst, fl¨ ustere ich. Nimm meine Hand. Ich umklammere sie, so fest ich kann. Eins, zwei. . . Du springst mit, in Ordnung, Nick? In Ordnung. Der Wind erstickt meine Stimme. Kann er mich u ¨berhaupt h¨oren? Wir springen zusammen, sagt er. Seine beruhigende Stimme macht es irgendwie leichter. Ich atme ganz tief ein. An diesen Augenblick will ich mich erinnern, ich will ihn nie verlieren. Ich halte seine Hand, und wir springen. Und dann falle ich ins Sonnenlicht. Es ist ein tiefer Sprung, aber ich bin nicht allein. Er ist da, h¨alt immer noch meine Hand. Kann ich u ¨berhaupt wirklich fallen, solange mich noch jemand festh¨alt? Wir springen zusammen, in Ordnung? In Ordnung. Jetzt fliege ich, irgendwo zwischen Erde, Himmel und Meer. Ich halte seine Hand und fliege. Manche Menschen glauben, daß der Tod das endg¨ ultige Alleinsein ist. Wir werden allein geboren, und wir sterben allein. So denken sie. Aber da t¨auschen sie sich. Denn wenn man liebt und geliebt wird, ist man nie allein. Niemals. Da kenne ich mich aus. Und ich werde Ihnen erz¨ahlen, wieso.
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Erstes Kapitel
Wenn man einundzwanzig Jahre alt ist und gerade seinen College-Abschluß macht, gehen einem viele Dinge durch den Kopf, aber der Tod geh¨ort bestimmt nicht dazu. Es ist einfach so: Ich habe gar keine Zeit zu sterben. Wann sollte ich das einschieben? Zwischen meinen Vorstellungsgespr¨achen f¨ ur eine Praktikumsstelle in einer Anwaltskanzlei? Bevor ich meine Rede bei der Abschlußfeier halte? Um zwei Uhr morgens, nach meiner Schicht als Kellnerin? Vielleicht sollte ich meine Verabredung mit Tim heute abend absagen, das einzige in meinem Leben, das entfernt an ein Privatleben erinnert. Das werde ich wohl nicht tun. H¨atte ich nur einen Augenblick lang ernsthaft daran gedacht, daß ich sterben k¨onnte, h¨atte ich diese vielen Termine gar nicht vereinbart. Ich h¨atte andere Pl¨ane gemacht, oder besser gesagt, gar keine Pl¨ane. Vielleicht habe ich mich deshalb so lange geweigert, die Kopfschmerzen zur Kenntnis zu nehmen. Ich hatte zuviel zu tun, als daß ich sie h¨atte ernst nehmen k¨onnen. Man sagt sich: Okay, es sind Kopfschmerzen, daran werde ich schon nicht sterben. Und dann wirft man ein extrastarkes Kopfschmerzmittel ein und vergißt sie, oder versucht es zumindest. Gegen Ende des letzten College-Jahres muß man sich mit einigem herumschlagen. Da sind die Abschlußpr¨ ufun9
gen, und dann muß man die alte Wohnung aufgeben, eine neue suchen, einen Praktikumsplatz finden, sich u ¨berall verabschieden – alles, was ein neuer Anfang so mit sich bringt. Ich kann nicht behaupten, daß mir die Wohnung fehlen wird. Ich glaube, im Geiste hatte ich meine Sachen l¨angst wieder eingepackt, bevor ich mich u ¨berhaupt vor zwei Jahren hier niederließ. H¨atte Emily nicht schon den Mietvertrag unterschrieben gehabt, w¨are ich wohl nie eingezogen. Zwar liegt sie g¨ unstig, nicht weit vom Campus, aber sie hat keine Atmosph¨are: niedrige Decken, Erdgeschoß (im Maklerjargon: Gartenwohnung), Holzfußb¨oden, die seit Jahrzehnten keine Schleifmaschine mehr gesehen haben. Die M¨obel stammen aus der Remise von Emilys Großmutter; wir haben sie mit Bettlaken abgedeckt, damit wir sie nicht anschauen m¨ ussen. Aber seit Emily, Eric, Tim und ich hier wohnen, ist es mein Zuhause. Es f¨allt mir schwer zu glauben, daß wir nun getrennte Wege gehen, aber Eric studiert Medizin, Tim hat einen Job in einem Architekturb¨ uro in der City, Em zieht nach New York und er¨offnet dort eine Boutique, und ich hoffe, daß ich mein Praktikum bekomme, bevor im Herbst das Jurastudium beginnt. Tim und ich sind nun seit vier Jahren zusammen – ¨ wir sind wie ein altes Ehepaar. Keine Uberraschungen in diesem Bereich. Em und Eric sind ebenfalls ein Paar, wenn auch auf eine etwas andere Art. Sie haben viel gemeinsam: Em ist auf der Suche nach dem idealen Mann, und Eric auch. Bisher hat keiner von beiden ihn gefunden. Tim und ich ziehen zusammen in eine Wohnung in Printer’s Row, eine Gegend, die als das Soho von Chicago gilt, oder wenigstens beinahe. Ich werde Em und Eric vermissen. Wer wird mir in Zukunft sagen, was ich anziehen soll? Zusammen bildeten sie meinen Berater10
stab in Sachen Kleidung und bereiteten mich f¨ ur das richtige professionelle Auftreten bei Avery, Gardener und Brown vor. Eric entdeckte in einem Secondhand-Laden das dunkelblaue Kost¨ um, Em k¨ ummerte sich um mein Make-up. Zufrieden habe ich mich heute morgen im Spiegel betrachtet: eins achtundsechzig groß, zweiundf¨ unfzig Kilo, das braune Haar ungewohnt glatt und ordentlich zur¨ uckgek¨ammt und von einer Schildpattspange gehalten, die haselnußbraunen Augen nur leicht betont, und zur Abrundung Ems echte Perlenohrstecker. Kurz gesagt, ich sah aus wie eine Anw¨altin, und das war genau der gew¨ unschte Effekt. Die Frage ist nur, ob ich mich in dem Vorstellungsgespr¨ach auch wie eine Anw¨altin benommen habe. Ist es mir gelungen, sie von meinen F¨ahigkeiten zu u ¨berzeugen? W¨ahrend des Gespr¨achs plagten mich Kopfschmerzen, aber in letzter Zeit scheine ich st¨andig Kopfschmerzen zu haben. Ich sp¨ urte sie, als ich heute morgen aufwachte, gestern beim Packen, und gestern abend, als ich meiner Abschiedsrede den letzten Schliff gab. Das kommt von dem vielen Streß: Nehmen Sie zwei Aspirin und rufen Sie mich morgen fr¨ uh wieder an. Und jetzt steuere ich wieder auf unser Appartement zu. Schon unten auf der Straße h¨ore ich laute Musik. Wenn die alte Dame im ersten Stock nicht so schwerh¨orig w¨are, h¨atten wir schon l¨angst die K¨ undigung bekommen. F¨ ur die Lautst¨arke ist Emily verantwortlich: Sie ist fest davon u ¨berzeugt, daß jedes Ereignis eine Feier verdient. Gleichzeitig pl¨arrt das Cubs-Spiel aus dem Fernseher – schließlich soll es die Musik u ¨bert¨onen. Als ich die Wohnungst¨ ur o¨ffne, ist es wie ein Frontalangriff auf den H¨ornerv. Erz¨ ahl schon, Nick, wie ist es gelaufen? Eric ist mit einer Stimme gesegnet, die Lautsprecher und Fernseher 11
u utzlich erweisen, wenn er ¨bert¨ont. Das wird sich als n¨ sp¨ater Notfall! schreien muß. Er sieht nicht aus wie ein Arzt – noch nicht. Zumindest habe ich noch nie einen schwarzen Arzt mit rasiertem Sch¨adel, Tattoo und Ohrring gesehen. Kann ich laut genug schreien? Ich glaube, es ist gut gelaufen, aber wer weiß? Es war, als ob man mit den steinernen Gesichtern von Mount Rushmore spricht. Ich schaue zu Tim, seine Augen sind fest auf den Bildschirm geheftet. Siebtes Inning, zwei Outs, die Cubs f¨ uhren. Soweit seine Reaktion. Wir haben eine Beziehung, aber man darf seine Erwartungen nicht zu hoch schrauben. Eric zuckt mit den Schultern. Was hast du dir vorgestellt? Immerhin sind sie Anw¨alte. Berichtigung. Sie sind Avery, Gardener und Brown, die besten Umweltanw¨alte im ganzen Land. Sie haben es nicht n¨otig, zu sprechen. Ich w¨ unschte, sie w¨ urden die Musik leiser stellen. Mein Kopf dr¨ohnt im Einklang mit dem Baß. Ich lasse mich auf Tims Schoß fallen und streiche durch sein blondes Haar. Es ist also gut gelaufen? Endlich zwingt er sich, seine blauen Augen von der Flimmerkiste zu l¨osen. Ich dr¨ ucke seinen Arm: Er hat einen beeindruckenden Bizeps. Ich habe sie mit meinem Artikel umgehauen. Sie konnten nicht glauben, daß er tats¨achlich in der Tribune erschienen ist. Wieviel hast du verlangt? H¨ or mal, Tim, da bringst du etwas durcheinander. Es geht hier um ein Praktikum in den Ferien. Das große Geld winkt nach dem Jurastudium. Eric reicht mir ein Bier. Ach, das ist noch gar nichts. Bei mir wird es noch fast zehn Jahre dauern, bis ich genug Geld zum Leben verdiene. 12
Emily rauscht herein, ein Traum in Schwarz, das blonde Haar mit den orangefarbenen Str¨ahnen ist gnadenlos toupiert, ihre Zigarette hinterl¨aßt eine Rauchspur in der Luft. Asche schwebt zu Boden, als sie mit den H¨anden herumfuchtelt. Niemand hat dich dazu gezwungen, Humanmedizin zu studieren. Du h¨attest Tierarzt werden k¨onnen. Das dauert genauso lange, meint Eric achselzuckend. Hunde sind auch Menschen! Ems Lieblingsspruch. Gut. Dann kannst du ja Tierarzt werden. Diese Unterhaltung kennen wir schon. Tim ignoriert die beiden. Er sieht mich mit gerunzelter Stirn an. Du h¨attest sie trotzdem auf die Bezahlung ansprechen sollen. Bei einem Vorstellungsgespr¨ach geht es nicht nur um den Arbeitgeber. So etwas muß man schließlich wissen. Immerhin hast du ein riesiges Darlehen zur¨ uckzuzahlen. Erinnere mich nicht daran. Emilys Zigarettenrauch zieht in meine Richtung. Warum gibst du nicht auf und bittest deine Eltern um Hilfe? Bevor ich Emily erw¨ urgen kann, schaltet Eric sich ein. Das wollen wir doch nicht schon wieder durchkauen. Gl¨ ucklicherweise klingelt in diesem Augenblick das Telefon. Das Verh¨altnis zu meinen Eltern geh¨ort nicht zu meinen Lieblingsthemen, zumindest nicht seit ihrer Scheidung, und der Zeitrahmen umfaßt inzwischen rund ein Viertel meines Lebens. Von dem Augenblick an, als meine Mutter und mein Vater sich trennten, fiel es mir schwer, uns als Familie zu betrachten, wohl haupts¨achlich deshalb, weil wir keine Familie sind. Emily greift nach dem H¨orer. Emily ergreift jede sich bietende Gelegenheit, um nach dem H¨orer zu greifen. Sekunden sp¨ater gestikuliert sie mit den blauschwarz angepinselten Fingern¨ageln 13
einer Hand in meine Richtung, w¨ahrend sie Tim mit der anderen bedeutet, Fernsehen und Musik leiser zu drehen. F¨ ur dich! Ich bin ersch¨opft. Im Augenblick m¨ochte ich eigentlich mit niemandem sprechen. Ich bin nicht zu Hause. Emily zieht die Augenbrauen hoch. Glaub mir, du bist zu Hause. Sie dr¨ uckt mir den H¨orer in die Hand. Bei den ersten Worten erkenne ich den Bostoner Tonfall von Arnold Gardener, dem ich vor etwa einer Stunde gegen¨ ubergesessen habe. Ja, Mr. Gardener. Hier spricht Nicole. W¨ahrend unserer Unterhaltung vergesse ich beinahe meine Kopfschmerzen. Mr. Gardener benutzt Worte wie Chance, Vision und Humanressourcen. Das muß es sein – das Angebot. Ich erz¨ahle ihm, wie sehr ich bewundere, welche Richtung seine Kanzlei eingeschlagen hat, wie gern ich Mitglied seines Teams w¨are. Auf einmal ist alles, wof¨ ur ich seit vier Jahren arbeite, zum Greifen nah. Ich sehe meinen Namen auf dem Briefkopf, auf der B¨ urot¨ ur, auf der Firmenkarte. Ich sehe meine Zukunft. Danke, Mr. Gardener. Danke f¨ ur Ihren Anruf. Eric, Emily und Tim erwachen zum Leben. Also? fragt Tim. Also? Also? Sie sprechen im Chor. Also. . . Ich grinse und genieße den Augenblick. Dann werfe ich mich in Tims Arme. Also, sie wollen mich!
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Zweites Kapitel
Das Pink Cadillac geh¨ort zu den Lokalen, die eine Vergangenheit wiederaufleben lassen wollen, die es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Ich habe die Fifties nicht erlebt, aber wenn damals ein Ort wie dieser existiert haben sollte, mit gl¨anzendem Chrom, Resopaltischen und Nischen mit roten, vinylgepolsterten B¨anken, dann vermutlich allenfalls bei den Dreharbeiten zu einem Elvis-Film. Aber die Leute kommen gern, und das Trinkgeld ist meistens ziemlich großz¨ ugig, also ist es mir nie sehr schwergefallen, hier zu arbeiten, ungeachtet der Tatsache, daß ich einen Rock mit einer Pudelapplikation und zweifarbige Sportschuhe tragen muß. Nat¨ urlich ist der Pudelrock mikrokurz, sozusagen als Zugest¨andnis an die Gegenwart. Aber vor allem habe ich Emily und Eric vor vier Jahren im Pink Cadillac kennengelernt. Emily war nat¨ urlich Gast. Sie mußte noch nie arbeiten. Eric war eine Attraktion als Gesch¨aftsf¨ uhrer-Bindestrich-Performer. Ich sage ihm immer, daß er die besten Trinkgelder kassiert hat, weil er der gr¨oßte Schmierenkom¨odiant ist. Jedenfalls war ich noch ganz neu als Kellnerin und ließ an einem meiner ersten Abende ein Tablett mit Schoko- und Erdbeershakes in Emilys Schoß fallen. Und weil Emily nun einmal Emily ist, drohte sie mir mit einer Schadenersatzklage, weil ich ihre neue Prada-Tasche ruiniert h¨atte. Eric schaltete sich ein. Zun¨achst entschuldigte er sich f¨ ur meine Un15
geschicklichkeit, und dann griff er nach der Tasche und leckte sie sauber. Schließlich brachen wir alle drei in hysterisches Gel¨achter aus. Emily vergaß ihre Klage, und wir wurden die allerbesten Freunde. Ich glaube, daß wir deshalb so gut miteinander auskommen, weil wir vollkommen verschieden sind. Keiner versucht auch nur ansatzweise, den anderen zu verstehen. Ich bin in J. Crew Wilmette aufgewachsen, und dort ist mir niemand u ¨ber den Weg gelaufen, der auch nur ann¨ahernd wie Emily war, mit ihrer t¨aglich wechselnden Haarfarbe, ihren extravaganten Kleidern und ihrer bedingungslosen Begeisterung f¨ ur Tiere, ausgenommen solche, die man plattgefahren von der Straße kratzen muß. Sechs Wochen lang beherbergten wir im Studentenwohnheim einen Waschb¨aren, den sie am Rand des Naturschutzgebietes aufgegabelt hatte, bis er durch das Fenster entwischte. Und Eric, dem zu jeder Gelegenheit ein passender Spruch einf¨allt, wurde unsere inoffizielle Herbergsmutter. Es war also nur logisch, daß wir uns zusammen eine Wohnung suchten, und inzwischen wohnen wir seit zwei Jahren hier. Heute abend ist meine letzte Schicht im Pink Cadillac, daher genehmige ich mir nostalgische Erinnerungen, w¨ahrend ich meine Haare zum vorgeschriebenen Pferdeschwanz hochbinde. Es wird seltsam, wenn die beiden nicht mehr da sind, sage ich zu Tim. Ja, aber dann sind wir endlich f¨ ur uns. Er k¨ ußt mich fl¨ uchtig auf den Nacken. Tim u ¨bernimmt als Untermieter die Wohnung eines Cousins, der nach Washington zieht. Außerdem werden sie sowieso st¨andig vor der T¨ ur stehen. Ohne uns sind sie doch gar nicht lebensf¨ahig. Wo ist dein Terminplaner? Ich w¨ uhle in meinem Rucksack nach meinem elektronischen Timer, einem Geschenk meines Vaters zum 16
College-Abschluß. Dummerweise habe ich nie Zeit, alle Informationen einzutippen, die ich ben¨otige. Aber ich muß zugeben, daß es ein n¨ utzliches Spielzeug ist. Bei Tim und mir dreht sich in letzter Zeit alles um Terminplaner. Du zuerst. Der Mietvertrag beginnt in zwei Wochen. K¨ onnen wir bis dahin hier raus und in der neuen Wohnung sein? Ich habe schon gepackt. Toll. Ich habe das erste Wochenende f¨ ur Putzen und Anstreichen eingeplant. Mein Cousin l¨aßt uns seine M¨obel da. Sie sind zwar h¨aßlich, aber wir sparen Geld. ¨ Ich habe eine Ubersicht angelegt mit den Kosten, die auf jeden von uns zukommen. Tim ist noch besser organisiert als ich. Er hat unsere ganze Zukunft geplant, bis hin zur Einkommensteuererkl¨arung. Wir wollen beide alles unter Kontrolle haben: Das verbindet uns. Ich sage immer, daß Tim mich vom Rande des Abgrunds gerettet hat, weil ich ihn kennenlernte, als mein Laptop abgest¨ urzt war und beinahe meine gesamte Existenz mit sich gerissen h¨atte. Ich saß in der Bibliothek und h¨ammerte hilflos auf die Tastatur ein, als Tim dazukam und es ihm gelang, sich einen Weg in meine Festplatte und mein Leben zu bahnen. Wenn zwei Wochen lang niemand Zeit hat, sich um die W¨asche zu k¨ ummern, und wir anderen alle aus dem Waschkorb leben, gelingt es Tim, aus den Tiefen seines Kleiderschranks noch ein frisch geb¨ ugeltes rosa Hemd zu zaubern. Und genau das tut er auch in diesem Moment. M¨ ussen wir ausgerechnet jetzt die Kosten verteilen? Ich komme zu sp¨at zur Arbeit. Ich schnappe meinen Angorapulli und steuere auf die T¨ ur zu. Heute ist die große Abschlußfeier. Im Pink Cadillac wird es drunter und dr¨ uber gehen. 17
Tim zuckt mit den Achseln. Na gut, vertagt. Dann l¨achelt er. Heute abend feiern wir. Du meinst, du feierst. Ich muß arbeiten. Das Pink Cadillac ist gerammelt voll, dabei ist es noch nicht einmal sieben. Die Nischen quellen u ¨ber, vor der T¨ ur hat sich eine Schlange gebildet. Jennifer, deren Schicht zu Ende ist, wirft mir einen Ich mache mich aus dem Staub-Blick zu, ich atme tief durch und beziehe mit dem Bestellblock in der Hand Position. Mitten im Raum, umgeben von roten Vinylnischen, steht ein 1956er Eldorado-Cabrio ohne Sitze, das auch als B¨ uhne dient. Eric tanzt mit Gigi, dem weiblichen Diskjockey. Gigi wiegt um die hundertzwanzig Kilo, tr¨agt ein phosphoreszierendes Hawaii-Kleid und bildet mit Eric ein sch¨ones Paar, w¨ahrend die beiden zu My Boyfriend’s Back abrocken. Nicki! Emily winkt mir aus einer Nische hektisch zu. Sie tr¨agt einen schwarzen Gucci-Overall und eine Secondhand-Jacke aus Kunstleopard. Sie springt von ihrem Sitz, st¨ urzt auf Gigi zu, entreißt ihr das Mikrophon und st¨ urmt auf die K¨ uhlerhaube des Eldorado. H¨ort mal alle her, ich m¨ochte eine Durchsage machen! Unsere Lieblingskellnerin, Nicki McBain aus dem Pink Cadillac, hat eine Anstellung bei Avery, Gardener und Brown bekommen! Sie bricht in ein Freudengeheul aus, und die Meute gr¨olt begeistert mit. Nicki, schreit Gigi, komm her! H¨ ort alle her, wir wollen unsere kleine Nicki geb¨ uhrend in die kalte, harte Welt der Jurisprudenz verabschieden! Ich ducke mich und halte nach einem geeigneten Versteck Ausschau, aber Eric zerrt mich schon auf den Caddy. F¨ ur so etwas werde ich nicht bezahlt! protestiere ich. 18
Komm schon, Nicki, sei zur Abwechslung mal locker! Er hebt mich auf die K¨ uhlerhaube. Daf¨ ur werde ich mich revanchieren! Wer ist eure Mama? kreischt Gigi ins Mikro. Du bist unsere Mama! schreit die Menge einvernehmlich. Die Musik geht in Twist and Shout u ¨ber, und Tim springt zu uns auf die K¨ uhlerhaube, gefolgt von Emily. Wir legen einander die Arme um die Schultern und tanzen im Kreis.
Am n¨achsten Morgen wache ich mit Kopfschmerzen auf. Kein Wunder, es war eine lange Nacht. Aber wenn du zum letzten Mal im Leben eine Arbeit verrichtest, von der du hoffst, daß du sie nie wieder machen mußt, und kurz davorstehst, das zu tun, was du dein Leben lang tun wolltest, hast du schließlich eine kleine Feier verdient. Ich versuche, die Kopfschmerzen zu vergessen, und gehe meinen Vortrag f¨ ur die Abschlußfeier durch. Es hat mich drei Wochen gekostet, eine Rede zu formulieren, die etwa zehn Minuten dauern wird. Ich muß an Lincoln und die Ansprache von Gettysburg denken – kurz und perfekt, und niemand hat sie je vergessen. So soll meine Rede sein. W¨ahrend ich vor dem Badezimmerspiegel stehe und mich schminke, u ¨be ich noch einmal. Und dann noch einmal. Ich weiß, daß ich noch packen muß, aber an die neue Wohnung in Old Town und Tims Kosten¨ ubersicht kann ich erst sp¨ater denken, wenn die Abschlußfeier vorbei ist. Eric steckt den Kopf herein. Ausstrahlung! Er betont das Wort wie ein Operns¨anger. Zwerchfell! Ich gehe davon aus, daß sie ein Mikrophon haben. Brauchst du Hilfe beim Packen? Ich sch¨ uttle den Kopf und forme mit den Lippen weiter die Worte meiner Ansprache. 19
Mein Vater kommt und hilft mir mit den Kisten. Bleiben deine Eltern u ¨ber Nacht? ¨ Eltern. Uber Nacht. Ich kann mir einen Seufzer nicht verkneifen. Ja, sie bleiben. Glaube ich. Mein letzter Informationsstand ist, daß meine Mutter mitten im Gespr¨ach mit Dads Frau einfach aufgelegt hat. Wonder Woman gegen Batgirl. Bleiben Sie dran! Die Wiederholung wird langsam langweilig. Es ist jedesmal dasselbe: Dad kommt mich besuchen. Diesmal ganz bestimmt. Wirklich. Um wieviel Uhr paßt es mir? Er kann es gar nicht erwarten, mich wiederzusehen, genau wie Kate und Justin. Wie war das, wann will er hiersein? Vorspulen zum fraglichen Termin. Dad taucht nicht auf. Es tut ihm leid, es tut ihm ja so leid, aber es ist etwas dazwischengekommen. Daf¨ ur habe ich doch sicher Verst¨andnis? Ende der Folge. Bis zum n¨achsten Mal. Und dann meine Mutter. Sie hat sich nie damit abgefunden, daß Dad sie f¨ ur eine j¨ ungere Frau verlassen hat, und daraus mache ich ihr nat¨ urlich keinen Vorwurf. Aber wie lange soll ich mir ihre Schwierigkeiten mit meinem Vater noch anh¨oren? Der Eheberater konnte das Problem nicht l¨osen, wie sollte ich dazu in der Lage sein? Und wo bleibe ich? Genau zwischen den St¨ uhlen. Das kannst du deiner Mutter ausrichten. Sag das deinem Vater. Und dann ist da noch Kate. Abgesehen von der Tatsache, daß sie das Leben meiner Mutter und mein Leben zerst¨ort hat, ist sie im Grunde harmlos. Ich vermute, sie hat irgendein Psychogeschwafel u utter gelesen, ¨ber Stiefm¨ denn sie redet st¨andig davon, daß sie etwas mit mir teilen will, außerdem unternimmt sie sehr offensichtliche Ann¨aherungsversuche und bringt mir bei jeder Begegnung ein Geschenk mit. Fr¨ uher f¨ uhrte ich regelrecht Krieg gegen sie. Ich tat mein M¨oglichstes, damit sie wieder von der Bildfl¨ache verschwindet, aber jeder Schuß ging nach
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hinten los. Und nachdem sie meinem Vater einen Sohn und Erben geschenkt hat, sieht es ganz danach aus, daß sie bleibt. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen mein Vater tats¨achlich auftaucht, sitzt er immer neben Kate, und ich f¨ uhle mich wie das f¨ unfte Rad am Wagen. Vergessen wir es. Ich habe meine College-Ausbildung selbst finanziert. Ich habe es geschafft, daß ich im n¨achsten Herbst mit dem Jurastudium beginnen kann. Ich weiß, daß ich es in den n¨achsten zwanzig Jahren irgendwie abbezahlen muß. Sie haben ihr Leben, ich habe meines. Im Spiegel sehe ich einen schwarzen Schatten hinter mir im Schlafzimmer. Emily l¨aßt sich aufs Bett fallen, immer noch im selben Aufzug wie gestern abend. Oh mein Gott. Em legt einen Arm u ¨ber ihr Gesicht, als ob die Sonne ihre Wimperntusche zum Schmelzen bringen k¨onnte, oder zumindest den Rest, den sie noch nicht auf den Wangen verschmiert hat. Wie sp¨at ist es? Ich werde niemals rechtzeitig zur Abschlußfeier fertig. Eric feixt. Du bist eben eine Schlampe. Halt den Mund! Was weißt du von den Bed¨ urfnissen einer Frau? Vielleicht sehe ich Brian nie wieder. Nick, wann h¨altst du deine Rede? In vierundf¨ unfzig Minuten. Tim bereitet mit dem Festkomitee alles vor. Kannst du daraus nicht anderthalb Stunden machen? Tut mir leid. Nat¨ urlich wird sie trotzdem dasein. Em ist immer f¨ ur mich dagewesen, seit dem Tag, als ich ihre Handtasche in Milkshake gebadet habe. Ihr Leben ist so ganz anders als meines: eine reiche Familie und Internate, Reisen nach Europa und Pferde, aber wir waren beide viel allein, da21
von verstehen wir eine Menge. Deshalb f¨ uhlen wir uns wie Schwestern, obwohl wir uns u ¨berhaupt nicht ¨ahnlich sind. Jetzt kann ich genausogut meinen Talar anziehen und das Barett aufsetzen. Ich glaube, ich habe das bis zuletzt hinausgez¨ogert, weil die Abschlußfeier so endg¨ ultig ist. Nach vier Jahren totaler Gemeinsamkeit l¨osen Emily, Eric, Tim und ich unsere kleine Familie auf. F¨ ur mich sind Em und Eric die Geschwister, die ich nie hatte. Eigentlich habe ich ja einen Bruder, einen Stiefbruder, um genau zu sein. Justin. Er ist vier Jahre alt, aber ich kann nicht behaupten, daß wir uns nahestehen. Im Grunde kenne ich ihn kaum. Und – klingt das sehr schlimm? – ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich ihn kennenlernen will. Wenn der eigene Vater dich durch ein Baby ersetzt, ist das nicht einfach, auch wenn du schon fast erwachsen bist. Em sagt, es sei absurd, daß ich mit einem Kindergartenkind konkurrieren will, aber ich kann nun einmal nichts daf¨ ur. Ich muß immer wieder an die Zeit denken, als ich noch klein war und mein Vater nicht f¨ ur mich da war. Dad arbeitete bis sp¨at abends, am Wochenende, eigentlich immer. Er war st¨andig unterwegs und nahm uns nie mit. Jetzt ist er wieder verheiratet – mit Kate, seiner fr¨ uheren Verwaltungsassistentin, die ihren Job in der Sekunde an den Nagel geh¨angt hat, als sie Mrs. McBain wurde. Und Dad hatte eine Erleuchtung und ist Justin ein vorbildlicher Vater. Nie vers¨aumt er eine Verabredung am Sandkasten oder eine Besprechung im Kindergarten. Er hat sogar samstags mit seinem Spr¨oßling an einem Daddy und ich-Kurs teilgenommen. Kein Wunder, daß ich Kopfschmerzen habe. Ein großer Blumenstrauß taucht vor mir auf: gelbe Osterglocken, meine Lieblingsblumen. Tim nimmt mich in die Arme. F¨ ur meine liebste Abschlußrednerin. Er 22
beugt sich um den Strauß herum und gibt mir einen Kuß, sein weiches blondes Haar ist so hell wie die Osterglocken. Tim und ich bewegen uns auf einer gemeinsamen Linie durchs Leben. Wir machen einfach immer weiter. Seit meiner Laptop-Krise im ersten College-Jahr mußte sich keiner von uns beiden mehr u ¨ber Verabredungen oder Beziehungen Gedanken machen, und das ist sehr praktisch, wenn man sowieso kaum Zeit zum Ausgehen hat. Tim, Emily und Eric – die drei sind meine Familie. Ich mag nicht daran denken, was passiert, wenn nun bald jeder seine eigenen Wege geht. Das ist das schlimmste am College-Abschluß, aber wenigstens weiß ich, daß Tim und ich zusammenbleiben werden. Im Spiegel sehe ich, wie Emily hinter mir im herumhantiert. Sie versucht, den klassischen Talar mit Hilfe von G¨ urtel und Schmuck umzugestalten. Tim bringt sein Barett und die Troddel in Position. Barett und Talar, die großen Gleichmacher, verk¨ undet er. Damit sieht jeder wie ein Vollidiot aus. Du vielleicht, schnaubt Emily. Sie hat ihr Barett mit einem Schleier umh¨ ullt. Ihr ganz pers¨onlicher Stil. Diese Frau wird frischen Wind in die Modebranche bringen. Mein Kopf f¨ uhlt sich an, als ob er jeden Moment platzen m¨ ußte, wie ein hartgekochtes Ei, das zu lange im Wasser war. Ich greife nach den Aspirintabletten und lasse Wasser in ein Glas laufen. Auf einmal scheint alles zu beben; das Glas rutscht mir aus der Hand und zerbricht auf den Kacheln. Tausende von kleinen Splittern knirschen unter meinen F¨ ußen, w¨ahrend ich versuche, mich am Waschbecken festzuklammern. Ich hole den Staubsauger, erkl¨ art Tim. Konzen triere dich auf deine Rede. Unm¨oglich, aber ich tue mein Bestes. 23
Nick, ruft Eric u ¨ber das Geheul des Staubsaugers hinweg, deine Mutter ist da. Nicht zu fassen. Sie hat es tats¨achlich geschafft, ohne sich unterwegs durch eine Straßensperre aufhalten zu lassen. Ich fahre noch einmal durch mein Haar, streiche es u ¨ber den Schultern glatt. Sehe ich heute, an meinem letzten Tag als College-Studentin, anders aus? Dieselben braunen Augen, dieselbe helle Haut, derselbe Mund, dem Lippenstift einfach nicht steht, aber heute versuche ich es trotzdem. Vorsichtig zeichne ich die Konturen nach und lege Dunkelrot auf. Meine Hand zittert, und die Farbe verschmiert. Ich tupfe sie wieder ab. Vergessen wir es. Hallo, Liebes! Meine Mutter ist kleiner als ich und sehr elegant. Sie tr¨agt maßgeschneiderte Hosenanz¨ uge, dazu immer ein farblich abgestimmtes Tuch um den Hals. Heute ist der Anzug weiß und das Tuch pastellfarben. Eigentlich habe ich immer gedacht, daß meine Mutter viel h¨ ubscher ist als ich. Ich sehe aus wie eine dunkelhaarige Aquarellversion von ihr – weiche Konturen, sanftere Gesichtsz¨ uge, weniger dramatisch. Hallo, Mom. Wie viele Leute passen eigentlich in ein Badezimmer? Du hast es geschafft. Keine Straßensperre? Nicole, glaubst du, ich w¨ urde es mir entgehen lassen, mit meiner brillanten Tochter zu feiern? Sie gibt mir ein kleines Paket. Das ist f¨ ur dich. Mom, ich bin in Eile. Komm her, ich helfe dir. Sie reißt die Verpackung auf. Schau, Liebes. Sie ¨offnet die Schachtel und fischt ein goldenes Armband mit Anh¨angern heraus. Danke, Mom. Es ist nicht mein Stil, aber sie gibt sich soviel M¨ uhe, wie meistens, wenn sie mir etwas schenkt, was ihr gef¨allt. Ich bin ihre Tochter, aber ich glaube nicht, daß sie mich wirklich kennt. Sie war immer
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viel zu sehr damit besch¨aftigt, sich mit meinem Vater zu streiten, und hatte gar keine Zeit, mich wirklich kennenzulernen. Fr¨ uher habe ich es getragen. Sieh mal – diesen Anh¨anger habe ich zu meinem College-Abschluß bekommen. Sie greift nach meinem Handgelenk und legt mir das Armband um. Es klingelt, wenn ich meinen Arm bewege. Emily st¨ urzt herein und nimmt meine Hand. Das ist phantastisch, Lori, findest du nicht, Nick? Ja, irgendwie – retro. Mehr f¨ allt mir dazu beim besten Willen nicht ein. Nachdem Emily als Modep¨apstin ihr Urteil verk¨ undet hat, l¨aßt sie meinen Arm los und verschwindet. Mom lacht, aber ihr ist klar, daß mir das Armband nicht gef¨allt. Wahrscheinlich ist es nicht mehr modern, aber es bedeutet mir viel. Ich m¨ochte, daß du es bekommst. Danke, Mom. Es paßt zu meinem Pudelrock. Sobald sie mir den R¨ ucken zudreht, ¨offne ich den Verschluß und lasse das Armband unter dem Talar in meine Tasche gleiten. Es ist nun mal nicht mein Stil, und außerdem will ich nicht, daß es vor dem Mikrophon herumbaumelt, w¨ahrend ich meine Rede halte. Wir gehen ins Wohnzimmer, und in dem Augenblick treffen Dad, Kate und Justin ein. Dad sieht aus wie immer – Anzug, klassische Krawatte, keine Spur von Grau im zur¨ uckgek¨ammten Haar, stets darauf bedacht, m¨oglichst schnell wieder zu verschwinden, obwohl er gerade erst angekommen ist. Kate ist gr¨oßer als mein Vater, d¨ unn, tr¨agt ein Armani-Kost¨ um. Sie hat ihr platinblondes Haar modisch kurz schneiden lassen, eine Spange h¨alt den Pony aus dem Gesicht. Justin ist eine Naturgewalt. Er st¨ urmt in den Raum, springt auf die Couch, h¨ upft auf und nie25
der, ein Tornado mit einem B¨ urstenschnitt, immer auf der Suche nach etwas zum Kaputtmachen. Nicki! ruft Dad. Meine Abschiedsrednerin! Schatz, wir sind ja so stolz auf dich! Er umarmt mich ¨ ungest¨ um. Uber meine Schulter sieht er Mom und nickt ihr h¨oflich zu. Lori. Mom senkt ihr Kinn zwei Zentimeter. Dan. Es erstaunt und erschreckt mich, wie man eine Ehe nach f¨ unfzehn Jahren, etwa f¨ unftausend zusammen verbrachten N¨achten und der gemeinschaftlichen Produktion eines Kindes auf ein Nicken reduzieren kann. Ich hoffe, wir sind nicht zu sp¨ at dran, sagt Kate atemlos. Wir sind gestern abend aus Barcelona zur¨ uckgekommen. Justin leidet ein wenig unter dem Zeitunterschied. Justin! Mein Schatz! Runter vom Sofa! Komm her – hier hast du etwas zu essen. Sie l¨achelt und gibt ihm Pl¨atzchen und eine Saftt¨ ute. In Barcelona ist es jetzt Zeit f¨ ur einen Snack. Snack-Attacke! Justin kichert, als er nach der T¨ ute grabscht und sie kr¨aftig zusammenquetscht. Traubensaft spritzt durch den Raum, direkt auf die weiße Jacke meiner Mutter: Volltreffer! Oh mein Gott! Es tut mir so leid, und Justin auch, nicht wahr, Justin? Er ist so aufgeregt, weil er seine große Schwester wiedersieht. Habt ihr Soda im Haus? Damit bekommen wir den Fleck sofort heraus. Tut mir leid. Ist alles schon verpackt, sagt Eric, der einen hoffnungslosen Fleck auf den ersten Blick erkennt. Wir u ¨bernehmen die Reinigungskosten, bietet Kate an und greift vergebens nach der Saftt¨ ute. Justin saust an ihr vorbei, wedelt mit der T¨ ute herum und garniert alles mit lila Spuren. Meine Mutter tupft mit einem Kleenex an ihrer Jacke herum und kocht innerlich, aber sie winkt 26
ab. Mein Vater, ein Experte darin, schwierigen Themen aus dem Weg zu gehen, tut so, als ob nichts passiert w¨are. Wir sehen uns bei der Feier, Nicki, sagt Mom und macht sich auf den Weg. Dad, kannst du dieses Kind nicht unter Kontrolle halten? >Dieses Kind< ist zuf¨ allig dein Bruder, Nicki. Du h¨attest dich in dem Alter sehen sollen. Du warst immer außer Rand und Band. Als w¨ arst du jemals dagewesen und h¨attest es mitbekommen, zische ich. Irgendwie passiert das immer. Eins f¨ uhrt zum anderen, und dann bricht die Lawine los. Ich liebe meine Eltern wirklich, aber es gibt einfach so viele Probleme, so viele Fußangeln, so viele Wunden aus der Vergangenheit, daß es manchmal nicht einfach ist, dar¨ uber hinwegzugehen. Deshalb habe ich die beiden nie um finanzielle Unterst¨ utzung f¨ ur mein College-Studium gebeten. Es war nicht einfach, das Stipendium zu bekommen, und abends arbeiten zu m¨ ussen war alles andere als lustig, aber insgesamt immer noch besser, als ihren st¨andigen Streitereien, wer wem was schuldet, neue Nahrung zu liefern. Kate stellt sich zwischen uns und l¨achelt ein wenig zu breit. Und wo essen wir heute zu Abend? Eigentlich habe ich keinen Hunger. Nicki, bis dahin sind es noch sechs Stunden. Ich habe Kopfschmerzen. In sechs Stunden? Immer diese Kopfschmerzen. St¨andig, das ist nicht gelogen. Und diese Situation macht es nicht besser. Ich reibe mir die Schl¨afe. Dad klopft mir auf die Schulter. Du hast dir zuviel zugemutet. Ich sehe nicht, warum. . . 27
Ich vermute, genau das ist der Punkt. Seit Kate und er ein Paar sind, sieht er nicht viel außer ihr. Und Justin. K¨onnen wir bitte das Thema wechseln? frage ich. Wenn wir so weitermachen, vergesse ich noch, worum es bei meiner Rede eigentlich geht. Ich muß los. Was gibt es noch zu sagen? Vielleicht noch eines. Ich habe das Praktikum bei AG&B. Ein perfekter Abgang. Ich stehe auf dem Podium, bin mitten in meiner Rede und spreche gerade u ¨ber unser aller Verpflichtung der Umwelt gegen¨ uber, als eine riesige Faust nach meinem Sch¨adel greift und ihn wie ein Schraubstock umklammert. So schlimm war es noch nie. Als B¨ urger dieser Welt sind wir eine ganz besondere Partnerschaft eingegangen, haben wir uns verpflichtet, die Erde zu respektieren, jeder auf seine Weise. . . Ich habe keine Ahnung, wie die Ansprache auf meine H¨orer wirkt. All meinen sorgf¨altigen Recherchen, ¨ Entw¨ urfen, Anderungen zum Trotz lese ich jetzt die Worte von meinen Stichwortkarten ab, um es nur irgendwie hinter mich zu bringen. Mein Kopf f¨ uhlt sich an, als ob er gleich explodieren w¨ urde, die Schrift auf den Karten verschwimmt. Mein Gott, was f¨ ur eine Migr¨ane! Einfach unglaublich. Irgendwie bekomme ich die Silben heraus, wie ein Kind, das eine Sprech¨ ubung herunterleiert. Ich schaffe es bis zum Schluß. Ich h¨ore, wie der Applaus durch den Saal hallt. Die Gesichter verschmelzen vor meinen Augen zu einer unkenntlichen Masse. Danke, Nicole McBain. Der Dekan steht neben mir und sch¨ uttelt mir die Hand. Danke, Dekan Crawford. Ich ringe mir ein L¨ acheln ab und steuere auf meinen Sitz auf der B¨ uhne zu. 28
Und nun die Abschlußklasse des Jahres Zweitausend. . . Die Kapelle stimmt die Schulhymne an. Gelobt sei Lila, gelobt sei Weiß, wir gr¨ ußen dich, Northwestern. . . Die Klasse bricht in Geschrei aus. Barette fliegen durch die Luft. Ich werfe mein Barett nicht. Ich f¨ uhle mich sonderbar. Ein metallischer Geschmack erf¨ ullt meinen Mund, und ich sehe alles doppelt. Ich bin noch nie in Ohnmacht gefallen, aber jetzt habe ich das Gef¨ uhl, es k¨onnte jeden Augenblick passieren. Meine Knie geben nach. Was geschieht mit mir? Als ich die Augen wieder ¨offne, starre ich in einen Halbkreis aus besorgten Gesichtern. Emily wedelt mit einem Programm, f¨achelt mir Luft zu. Dekan Crawford spricht nerv¨os in ein Handy. Wo bleiben die Sanit¨ ater? fragt er. Sanit¨ater? Mir geht es gut, bringe ich heraus. Oh Gott, das ist alles so peinlich – bei der eigenen Abschlußfeier auf der B¨ uhne umzukippen. Ich muß aufstehen. Eric h¨alt mich zur¨ uck. Setz dich nicht zu schnell auf. Er f¨ uhlt meinen Puls. Meine Mutter ist auch da. Nicki, was ist passiert? Bist du gest¨ urzt? Es ist der Streß, verk¨ undet Emily entschlossen. Das habe ich schon ¨ ofter erlebt. Eins der M¨adchen im Studentenwohnheim im zweiten Studienjahr. Einfach umgefallen. Ich f¨ uhle mich selbst, als ob ich in Ohnmacht fallen m¨ ußte. M¨ochtest du einen Schluck Wasser, Nick? Oder ein Pfefferminz? Es geht ihr besser, erkl¨ art Tim. Ich merke, daß mein Kopf in seinem Schoß liegt. Sanit¨ater in weißen Kitteln kommen mit einer Trage herauf. Eine Trage! Das muß ein Witz sein. Ich setze mich sofort auf.
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Machen Sie bitte den Weg frei, ruft jemand. Das ist l¨acherlich, behaupte ich. Ich habe nur Kopfschmerzen. Sie haben das Bewußtsein verloren, Nicki, schaltet sich Dekan Crawford ein. Es geh¨ort zu den Vorschriften unseres Colleges, daß Sie untersucht werden. Wirklich, es geht mir gut, flehe ich. Nat¨ urlich geht es Ihnen gut, beschwichtigt der Dekan. Eine reine Routineuntersuchung. Ich sehe ihm an, daß er an einen Schadenersatzprozeß denkt. Die Sanit¨ater bestehen darauf, daß ich mich auf die Bahre lege. Ich komme mir albern vor, aber ich gehorche. Eric f¨ uhlt immer noch meinen Puls. Sind Sie Arzt? fragt einer der Sanit¨ ater. Nun, antwortet Eric, es kann sich nur noch um Minuten handeln. Die Menschenmenge macht den Weg frei, um mich und mein Gefolge durchzulassen. Ein paar Leute, die mich kennen, kommen herbei und rufen mir ermutigende Worte zu. Ich setze mich auf, der Gedanke, wie eine Kranke dazuliegen, behagt mir nicht. Schließlich bin ich nicht krank. Was immer mit mir los ist – das hier ist absolut peinlich. Die Sanit¨ater bahnen uns den Weg zu einem Notausgang und auf die Straße, wo der Krankenwagen am Bordstein wartet. Ich kann laufen. Sie bleiben liegen. Vorschrift. Ich f¨ uhle mich wie in einer Szene von Emergency Room. Am liebsten w¨ urde ich im Erdboden versinken. Statt dessen versuche ich, mich mit der Situation abzufinden, als sie mich in den Krankenwagen bef¨ordern. Eric folgt mir, die T¨ uren werden geschlossen.
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Drittes Kapitel
Mir war immer klar, daß ich eine Abschlußparty geben wollte, allerdings h¨atte ich nicht im Traum daran gedacht, daß sie in einem Krankenhaus stattfinden w¨ urde. Nach¨ dem die Arzte mich einen ganzen Tag lang als Geisel dabehalten haben, weigern sie sich, mir wenigstens ein bißchen Freiraum zuzugestehen. Fast k¨onnte man meinen, sie haben ihren eigenen Abschluß vergessen. Nichts scheint wichtig außer Blutproben, Blutproben, Blutproben und noch einmal Blutproben, bis so gut wie gar kein roter Saft mehr herauszuholen ist. Ach ja, und nicht zu vergessen das Computertomogramm. Das haben sie nat¨ urlich auch gemacht. Tim, Eric und Emily waren großartig. Eric ist meine ¨ medizinische Schnittstelle – er u ¨bersetzt mir den Arztejargon und hat sich bereits mit den Assistenz¨arzten angefreundet. Dank Eric war innerhalb von drei Minuten das Kabelfernsehen in meinem Zimmer angeschlossen. F¨ ur so etwas ist er geboren. Emily tr¨agt mein Krankenhaushemd. Sie ist begeistert von dem Teil, das hinten offen bleibt. Ich weigere mich, es zu tragen. Das ist etwas f¨ ur Kranke. Ich bevorzuge das Abendkleid aus dem Secondhandshop, das ich mir extra angeschafft habe, weil ich gestern abend mit Tim tanzen gehen wollte. Jetzt trage ich es eben hier. Wenn sie mir Blut abzapfen wollen, m¨ ussen sie 31
sehen, wie sie mit gut zwanzig Meter schwarzem T¨ ull und einem Diadem zurechtkommen. Eric hat die Musikanlage mitgebracht, und eine Horde von Freunden ist vorbeigekommen. Gigi hat mir eine Torte geschickt. Tim hat eine Bettpfanne konfisziert und sie in einen Eisk¨ ubel f¨ ur den Champagner umfunktioniert, das Abschlußgeschenk von Ems Onkel. In Anbetracht der Umgebung geht es uns also gar nicht u ¨bel. Emily f¨ uhrt das Krankenhemd vor und l¨aßt es auf und zu flattern. Vielleicht sollte ich etwas in dieser Art tragen, wenn ich meine Boutique er¨offne. Ich werde jede Minute entlassen, gew¨ ohne dich besser nicht an die Tracht, bemerke ich und schl¨ urfe Champagner aus einem Pappbecher. Emily runzelt die Stirn. Ich hoffe nur, daß sie die Sache in den Griff bekommen. In ihrem Ton schwingt etwas mit, wor¨ uber ich lieber nicht nachdenke. Alles wird gut. Oder etwa nicht? Eigentlich waren die ersten beiden Tage nicht schlecht. Der dritte Tag und der vierte Tag, also heute, treiben mich in den Wahnsinn. Inzwischen habe ich kaum noch Blut und noch weniger Geduld. Ich kann mir nicht vorstellen, was so lange dauert, aber Eric hat mir erkl¨art, daß Krankenh¨auser am Wochenende im Schneckentempo arbeiten und an Feiertagen praktisch zum Stillstand kommen, und so mußten wir uns vor dem Labor in die Warteschlange zum Volkstrauertag einreihen. Nur mit kritischen F¨allen befassen sie sich u ¨ber die Feiertage, behauptet Eric, demnach ist, was immer ich habe, wohl nicht kritisch. Wenigstens hoffe ich das, aber wer weiß? Wenn man einmal im Krankenhaus ist, wird man krank, selbst wenn man es vorher nicht war. Man beginnt, sich Dinge einzubilden, zum Beispiel seltene tropische Krankheiten, die 32
man sich von verseuchtem Obst holen kann, oder einen Geburtsfehler, der seit Jahren im K¨orper schlummert und sich nun langsam den Weg an die Oberfl¨ache bahnt. Zumindest gehen mir solche Sachen sp¨at nachts durch den Kopf, wenn ich allein bin und nicht schlafen kann. Ich gr¨ uble: Wenn ich noch hier bin, kann etwas nicht stimmen. Dann kommt der Morgen, und man sch¨ uttelt diese Gedanken ab. Aber ich muß leider zugeben, daß es mir immer schwerer f¨allt, sie abzusch¨ utteln. Meinen Freunden wird die Umgebung langsam langweilig, und daraus mache ich ihnen keinen Vorwurf. Sie m¨ ussen ihr Leben weiterleben. Ende n¨achster Woche l¨auft unser Mietvertrag aus, die Wohnung muß ger¨aumt werden. Em und Eric m¨ ussen praktisch allein saubermachen, aber sie beklagen sich nicht. Tim ist mit unserem Umzug nach Old Town besch¨aftigt, aber ich muß immer noch einiges organisieren und packen. Außerdem beginnt mein Praktikum. Was soll nur werden, wenn sich dieses Wasimmer-es-ist noch l¨anger hinzieht und mein Eintrittstermin n¨aherr¨ uckt? Vielleicht warten AG&B nicht auf mich, vielleicht vergeben sie meinen Praktikumsplatz an einen anderen Kandidaten, w¨ahrend ich hier wie ein menschliches Nadelkissen in meinem Gitterbett hocke. Auf dem Flur h¨ore ich meine Eltern – die beiden sind gemeinsam eingetroffen. Das ist neu. Normalerweise versuchen sie, einander bei ihren Besuchen aus dem Weg zu gehen. Sie kommen zusammen herein: Das ist noch ungew¨ohnlicher. Keine Kate. Sofort bin ich in Alarmbereitschaft. Dr. Graham, der f¨ ur mich zust¨andige Arzt, folgt ihnen. Jetzt ist mir alles klar – sie lassen mich nach Hause. Endlich. Mom marschiert sofort zum Kopfende des Bettes und setzt sich neben mich. Dad blickt zu Boden. Wen will er nicht ansehen – mich oder Mom? 33
Ich darf also nach Hause? sage ich zu dem Arzt, mehr eine Feststellung als eine Frage. Nicht direkt, Nicki. Bitte h¨ oren Sie genau zu, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich h¨ ore. Die Ergebnisse Ihres Tomogramms und Ihrer Blutproben liegen vor. Und? Ich w¨ unschte, es g¨abe einen leichteren Weg, Ihnen das zu sagen. Am besten fange ich mit den Tatsachen an. Tatsachen? Mom greift nach meiner Schulter, ihre N¨agel graben sich durch den Stoff meines T-Shirts. Ich weiß sofort, daß ich diese Tatsachen nicht h¨oren will. Was ist los? Nicki, Ihre neurologischen Symptome r¨ uhren daher, daß Sie unter einer Krankheit namens Neurofibromatose leiden, kurz NF2. Sie sp¨ uren bereits seit einiger Zeit leichte Symptome, aber alle Befunde deuten auf ein fortgeschrittenes Stadium hin. Wollen Sie damit sagen, daß ich einen Gehirntumor habe? Er hat es nicht ausgesprochen, aber ich weiß es. Ich weiß es so sicher, wie ich in diesem Bett sitze, wie man eben gewisse Dinge u ¨ber sich selbst und die Fasern seines K¨orpers weiß. Selbst wenn man es nicht wahrhaben will, weiß man es. Es ist nicht so einfach, nicht schwarz und weiß, aber grunds¨atzlich ja. Ich habe mit Ihren Eltern gesprochen, und sie waren der Meinung, daß Sie die Wahrheit wissen m¨ochten. Ich betrachte Dad. Mit zusammengeballten H¨anden starrt er den Arzt an. Mom weint. Ihr Tumor ist b¨ osartig, f¨ahrt Dr. Graham fort, aber bis zu einem gewissen Grad kann man ihn behan
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deln. Bis zu welchem Grad? frage ich, w¨ ahrend ich versuche, diese Informationen zu verarbeiten. Es gibt Therapien. . . Er h¨ alt R¨ontgenaufnahmen ¨ hoch, damit ich den Ubelt¨ater in meinem Kopf genauer betrachten kann. Aber ich f¨ uhle mich bestens. Sind Sie ganz sicher? Das ist doch nicht m¨oglich. Nicki, ich w¨ unschte, es w¨are so, aber in Ihrem Zustand ist die Prognose leider – Dann ist es Krebs? Er nickt. Ich springe im Bett auf die Knie. Ich kann nichts daf¨ ur, es ist ein Reflex. Ich will nichts mehr h¨oren! Gott, was rede ich da? Es w¨ are zu gef¨ahrlich, den Tumor zu operieren, und es haben sich bereits Metastasen gebildet. Wir k¨onnen aber versuchen, den Prozeß durch eine Chemotherapie zu verlangsamen. Wovon redet er? Moment mal. Wollen Sie mir sagen, daß mich dieses Ding t¨oten wird? Der Doktor verlagert sein Gewicht. Eine gute Anw¨altin erkennt ein Ausweichman¨over sofort. Nun, es hat F¨alle gegeben. . . Neben mir schluchzt meine Mutter auf. Um Gottes willen, Lori, sagt Dad. Halt den Mund! kreischt sie. Halt einfach den Mund! Jetzt werde ich hysterisch. Hier geht es nicht um euch! Es geht um mich. K¨onnt ihr beiden nicht dreißig Sekunden aufh¨oren, euch zu streiten, w¨ahrend ich mir erkl¨aren lasse, ob ich leben oder sterben werde? Ich zittere, aber ich will mich nicht von ihnen einsch¨ uchtern las35
sen. Schließlich geht es hier um mein Leben. Ich versuche, mich zu konzentrieren. Nicki, f¨ ahrt Dr. Graham fort, wir m¨ ussen sehen, was Ihnen hilft. Und wie ich schon gesagt habe, es gibt Behandlungsm¨oglichkeiten. . . Dad unterbricht. M¨ ussen wir das jetzt besprechen, Dr. Graham? Sie hat einen schweren Schock erlitten. . . Ich schneide ihm das Wort ab. Wieviel Zeit bleibt mir noch, Doktor? Ich muß das wissen. Er sieht mir ins Gesicht; wir starren einander an. Sagen Sie es mir, verdammt noch mal! Einmal in meinem Leben soll mir jemand die Wahrheit sagen. Eine Art rauchiger, grauer Nebel erf¨ ullt den Raum. Pl¨otzlich verliert meine Umgebung alle Farbe. Aber was immer sie mir zu sagen haben, ich muß es h¨oren. Jetzt. Auf Besch¨onigungen kann ich verzichten. Der Doktor wendet sich Dad und Mom zu, und nacheinander nicken sie langsam. Warum braucht er ihre Genehmigung, um mit mir zu sprechen? Schließlich bin ich die Patientin. Ich. Eine Patientin. Wie ist das u ¨berhaupt m¨oglich? Vor einer Minute war ich noch CollegeAbg¨angerin. Und jetzt bin ich todkrank. Zwei bis drei Monate, sagt Dr. Graham. Ich falle zur¨ uck auf das Bett, als ob mich jemand gestoßen h¨atte. Zwei bis drei Monate. Zweibisdreimonate. Die Worte fahren durch mich hindurch wie ein elektrischer Schlag. Es ist unm¨oglich, sie aufzunehmen, sie zu glauben. Ich w¨ unsche mir nichts sehnlicher als eine Reise zur¨ uck in die Zeit, als das alles noch nicht wahr war. Diese vier Tage ausl¨oschen. Sie aus meinem Leben herausschneiden. So ist das, wenn man zum Tode verurteilt wird. Nicht, daß ich mich je daf¨ ur interessiert h¨atte. Ich habe mich oft gefragt, wie sich bestimmte Dinge anf¨ uhlen w¨ urden – ein 36
Genie zu sein zum Beispiel, oder ein Baby zu bekommen. Ich habe mich immer gefragt, wie es ist, an einem Bungee-Seil in die Tiefe zu springen. Ein Hochzeitskleid mit Schleppe zu tragen. Echten Schmuck zu besitzen. Das Nordlicht zu sehen. Bei Sonnenaufgang zu tanzen. Es gibt viele Dinge, an die ich in diesem Zusammenhang gedacht habe. Irgendwie stand Sterben nicht auf der Liste. Nun, sie haben einen Fehler gemacht. Soviel steht fest. Ich sterbe nicht, Wiederholung, nicht. Ich habe soeben das College abgeschlossen. Arbeiten. Leben. Diese Dinge tut man nicht, wenn man stirbt. Man stirbt nicht vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Das kann einfach nicht stimmen. Vielleicht haben Sie sich geirrt, stelle ich in den Raum. Keine Reaktion. Na und? Diese Leute sind nicht Gott. ¨ Arzte irren sich st¨andig, das weiß man doch. Was sagt ¨ Eric immer – f¨ unfzig Prozent aller Arzte lagen unter ihrem Klassendurchschnitt. Vielleicht geh¨ort Dr. Graham in diese Kategorie. Vielleicht t¨auscht er sich. Ich akzeptiere diese Diagnose nicht, erkl¨ are ich der Gruppe, die sich um mein Bett versammelt hat. Ich bin nicht krank. Ich habe nur Kopfschmerzen. Ich nehme wahr, wie Dad von experimentellen Therapien spricht. Dr. Graham verwendet Begriffe wie Onkologe, Lobus und endg¨ ultig. Der Fernseher an der Wand dr¨ohnt weiter, eine Seifenoper. Ich h¨ore sie durch den Kopfh¨orer auf meinem Kopfkissen. Wer braucht Seifenopern? Ich lebe selbst in einer. Oder vielmehr sterbe ich in einer. Gef¨ uhle rasen durch meinen K¨orper, diesen Kelch des Verrats, wie eine Horde Flederm¨ause, die in einem viel zu kleinen Schrank eingesperrt sind. Ich schließe die Augen und versuche mich zu sammeln. Versetzen Sie sich bitte in meine Lage. Jetzt versuchen Sie zu weinen 37
oder auch nur zu sp¨ uren oder gar zu glauben, daß dies Ihnen widerf¨ahrt. Einmal habe ich eine Wassermelone von vorn nach hinten durchgeschnitten, das Messer bewegte sich schneller, als ich erwartet hatte, und glitt tief in meinen Finger. Die Wunde ging bis auf den Knochen, aber im ersten Augenblick f¨ uhlte ich gar nichts. Ich starrte nur auf meinen Finger, aufgeschnitten wie ein Filet, und fragte mich, was als n¨achstes passieren w¨ urde. Aber f¨ ur diese Situation gibt es kein Drehbuch, zumindest keines, das ich gelten lassen k¨onnte. Betrachten wir einmal die M¨oglichkeiten. Sollte ich ein Gebet sprechen, versuchen, einen Handel mit Gott abzuschließen? Oder einfach mit bloßer Willenskraft meine Genesung erzwingen? Meine Großmutter ist an Krebs gestorben. Sie haben ein St¨ uck nach dem anderen von ihr abgeschnitten. Sie hat das Krankenhaus nie mehr verlassen. Die Vorausschau auf mein Leben oder vielmehr auf das, was noch davon u ¨brigbleibt, flackert vor meinen Augen. Szene 1: Krankenhausbett. Szene 2: Chemotherapie. Szene 3: Krankenhausbett. Szene 4: Behandlungsraum. Szene 5: Transfusion. Szene 6: Krankenzimmer. Weiter wage ich mich nicht an das Ende heran. Das ist der Stoff f¨ ur einen sehr, sehr schlechten Film. Einen Film, den ich nicht sehen will. Meine Meinung dazu: Die ganze Sache ist l¨acherlich. Ich bin nicht krank. Die ¨ Arzte irren sich, und wenn ich noch eine Minute l¨anger hier drin sein muß, glaube ich ihnen am Ende wom¨oglich. Ich muß hier weg, bevor es zu sp¨at ist. W¨ahrend der Arzt mit meinen Eltern diskutiert, setzt sich mein K¨orper in Bewegung. Er richtet sich auf, schwingt beide Beine aus dem Bett und steht auf. Ich gehe, verk¨ unde ich. Es ist alles in Ordnung. Sie h¨oren auf zu reden und starren mich eine Sekunde lang an. Dann st¨ urzen sie alle hinter mir her. 38
Liebes! Meine Mutter greift panisch nach meinem Arm. Bitte. Wir m¨ ussen Spezialisten konsultieren. Ich kenne jemanden an der Universit¨at von Chicago. Wir lassen Tests durchf¨ uhren. . . Um was zu beweisen? Ich habe genug. Ich verschwinde von hier. Ich nehme meine Handtasche und gehe zur T¨ ur. Ich bin weder in Panik noch verr¨ uckt. Vielleicht wird alles wieder normal, sobald ich hier herauskomme. Bitte. Bitte. Bitte. Mom und Dad sind direkt hinter mir. Nicki, fleht Dad. H¨or dir an, was der Doktor zu sagen hat. Gut. Ich drehe mich um und gehe zu Dr. Graham. Okay, Doktor, ich h¨ ore. K¨onnen Sie mich heilen? Wir m¨ ussen uns zusammensetzen und die M¨oglichkeiten besprechen, Nicki. Gibt es M¨ oglichkeiten? Es gibt verschiedene Vorgehensweisen. Chemotherapie. Bestrahlung. . . Schatz, unterbricht Mom ihn. Es gibt neue Methoden. Wir k¨onnen in die Mayo-Klinik. . . Dad wirkt pl¨otzlich irgendwie außer sich. Ob ersch¨ uttert oder w¨ utend, ist schwer zu sagen. Leg dich wieder ins Bett, Nicki, befiehlt er. Wieder ins Bett? Entschuldige mal, wem passiert das ¨ hier? Ich kann es nicht glauben. Wenn diese Arzte rein zuf¨allig recht haben sollten, erwarten meine Eltern von mir, daß ich ins Grab gehe und mich dabei wie ein Kind behandeln lasse. Und das schlimmste ist, daß sie vielleicht recht haben. Ich bin ein Kind. Ich habe nie die Chance gehabt, in der wirklichen Welt zu leben, habe nie etwas außer dem College gesehen und meinem langweiligen Kellnerjob. Und jetzt soll ich mich darauf einstellen, daß ich nichts anderes mehr erleben werde.
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Mom dreht sich w¨ utend zu ihm um. Das ist nicht deine Entscheidung, Dan. Das betrifft die ganze Familie. H¨or auf, alles zu bestimmen, wenigstens dieses eine Mal. Sogar jetzt gehen sie einander an die Gurgel. Alle Mann raus, h¨ore ich mich. Verlaßt das Zimmer. Sofort. Ich muß nachdenken! Ich bin sauer – w¨ utend, genauer gesagt. Schatz. . . Mom streckt die Hand nach mir aus. Raus! Es ist ein langer, gedehnter Schrei. Erschrocken gehen sie tats¨achlich hinaus. T¨ ur zu! rufe ich hinter ihnen her. Allein im Zimmer, f¨ uhre ich eine Unterredung mit mir selbst, die ungef¨ahr so abl¨auft: Du hast dich gerade noch unter Kontrolle. Du mußt davon ausgehen, daß alles ein schrecklicher, dummer Irrtum ist. Ein Computerfehler bei einem Test. Zwei Blutproben wurden vertauscht. Das Computertomogramm von jemand anders. Eine Fehldia¨ gnose. Arztliches Versagen. Andererseits: Was ist, wenn ich wirklich krank bin? Ich weiß, daß dieses Krankenhaus der letzte Ort ist, an dem ich sein m¨ochte, auf dem R¨ ucken liegend, auf Deckenplatten und Neonleuchten starrend, ohne je die Sonne zu sehen. Ich sp¨ ure, wie mir alles entgleitet, was ann¨ahernd an Selbstbeherrschung erinnert, und schreie so laut, daß jeder vor der T¨ ur es h¨ort: Ich bleibe nicht hier, und wenn es das Letzte ist, was ich tue! Genauso stellen sie es sich ja vor. Wer will die Peperoni? Die T¨ ur geht auf. Eric tritt herein und balanciert drei große Pizzakartons. Emily bringt mir Blumen, Tim ein eingepacktes, mit einer h¨ ubschen rosa Schleife verziertes Geschenk. Sie werfen einen Blick auf mich und erstarren. Oje, sagt Eric. Sollen wir lieber sp¨ ater wieder kommen? Nick? fragt Tim. 40
Sie k¨onnen es auch sofort erfahren. Angeblich gibt es kein Sp¨ater. Das hier kotzt mich an. Ich werde nicht hierbleiben und mich zum Opfer des Systems machen lassen. Hauen wir ab! Ich springe aus dem Bett, laufe an mei¨ nen Eltern und den Arzten vorbei den Korridor entlang. Tim rennt hinter mir her und legt den Arm um mich, aber er schaut mich an, als w¨are ich verr¨ uckt. Und das bin ich ja tats¨achlich. Nicki, was ist los? Was geht hier vor? fragt Tim und st¨ utzt mich, w¨ahrend ich durch den Korridor haste. Inzwischen kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Meine Knie sind butterweich, vor meinen Augen verschwimmt alles. Mom kommt hinter uns her, und ein paar Schritte weiter h¨ore ich, wie Dr. Graham Dad informiert: Sie befindet sich in der Verweigerungsphase. Das ist normal. Normal f¨ ur die Abgr¨ unde des Hades vielleicht. Was geht hier vor? fragt Emily. Diese Idioten glauben, daß ich sterbe. Der ultimative Konversationskiller. Gefolgt von einem panischen Chor: Was? Was! Mach keine Witze, sagt Em. Das ist nicht komisch. Lori? Tim wendet sich an Mom. Sie kann ihn nicht ansehen. Wir schaffen es bis zum Warteraum. Dr. Graham muß mich als hoffnungslosen Fall abgeschrieben haben, denn er ist verschwunden. Meine Mutter und mein Vater streiten sich heiser fl¨ usternd, w¨ahrend sie mir folgen. Mom meint, ich solle zu ihr kommen. Dad verlangt, daß ich bei ihm einziehe. Beide wollen, daß ich wieder ins Krankenhaus gehe. Emily raucht, obwohl es verboten ist. Tim hat einen Arm um mich gelegt, und Eric hat sich auf die Seite meiner Eltern geschlagen. Er versucht mich zur 41
R¨ uckkehr in dieses verdammte Krankenzimmer zu u ¨berreden und scheint nicht zu begreifen, daß ich genau das niemals tun werde. Kannst du das glauben? Ich gestikuliere in Richtung meiner Eltern, die in ihre u ¨bliche Streiterei versunken sind. Tim zuckt mit den Schultern. Sie lieben dich. Vergiß es. Mein Gott, das passiert doch nicht wirklich. Nick, meldet sich Eric, in der Medizin lautet die erste Regel immer, daß man eine zweite Diagnose ein¨ holen sollte. Selbst Arzte geben das zu. Nat¨ urlich kann ihnen ein Fehler unterlaufen, oder es gibt eine andere Meinung. Das bist du uns allen schuldig, und ganz besonders dir selbst. Aber du kannst diese Sache nicht einfach verdr¨angen. Emily nickt. Ihr Gesicht ist tr¨anenverschmiert, die Wimperntusche l¨auft in zwei schwarzen Spuren ihre Wangen hinunter. Sie sieht aus wie eine Kerze, die gerade zerfließt. Ich lege meinen Arm um sie. Es ist ein Irrtum, sage ich. Ihr werdet sehen. Eine Schwester taucht bedrohlich am Eingang zum Warteraum auf. Wenn Sie rauchen wollen, m¨ ussen Sie das Geb¨aude verlassen. Gehorsam dr¨ uckt Emily ihre Zigarette aus. Sobald die weiße Uniform um die Ecke verschwunden ist, z¨ undet sie sich die n¨achste an. Einen Plan, murmelt sie. Wir brauchen einen Plan. Sie reibt sich die Wangen und verschmiert das Make-up noch mehr. Ich lehne mich an Tim. Als ich an der Northwestern anfing, hatte sich meine Familie aufgel¨ost, aber dann habe ich Tim gefunden, und jetzt kann ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Tim wußte schon immer, daß ich Jura studieren w¨ urde, und Tim hat mich zu dem Praktikum u ¨berredet. Zusammen sind wir unschlagbar. 42
Wir haben uns Priorit¨aten gesetzt: Der Beruf steht an erster Stelle. Tim will als Architekt Karriere machen, und ich, nun, Sie wissen ja, welche Richtung ich einschlagen wollte. Das Praktikum war nur der erste Schritt. Gemeinsam w¨ urden wir die Welt erobern. Und jetzt diese Bescherung. Tim, flehe ich stumm, sei mein Fels in der Brandung! Ich h¨ore meine Eltern. Mom: Ich nehme mir sofort frei, und Nicki zieht bei mir ein. Dad: Laß uns doch erst einmal abwarten, was der Onkologe zu sagen hat, Lori. Wir brauchen mehr Informationen, bevor wir Entscheidungen f¨allen. Mom: Hast du den Doktor nicht geh¨ort, Dan? Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, daß du auf Distanz gehst. Diesmal nicht, das lasse ich nicht zu. Dad: Wer will denn auf Distanz gehen? Ich habe nur gesagt. . . Alles ist besser, als diese Streitereien weiter anzuh¨oren. Ich kann es nicht fassen – sie schieben mich hin und her wie eine Schachfigur, behandeln mich, als w¨are ich hilflos. H¨ ort auf! schreie ich. Dad h¨alt inne, mitten im Satz. Mom l¨aßt ihre Tasche fallen, Schl¨ ussel und Kosmetika rollen u ¨ber den Boden. Wahrscheinlich glauben sie, daß ich jetzt endg¨ ultig durchdrehe. Sollen sie doch. H¨ort zu, verk¨ unde ich, die ganze Geschichte ist ein schrecklicher Irrtum. Glaubt mir. Wenn euch das gl¨ ucklich macht und euch beruhigt, lasse ich mich von einem anderen Arzt untersuchen, damit wir zumindest eine zweite Meinung h¨oren. Aber wenn die erste und die zweite Diagnose u ¨bereinstimmen, wird die dritte meine eigene sein. Mein Liebling, sagt Tim und zieht mich noch enger an sich. Alles wird gut, Nick. Du wirst schon sehen. Er 43
streckt den Daumen hoch. Ich bete zu Gott, daß er recht hat.
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Viertes Kapitel
Meine Mutter hat eine Verl¨angerung unseres Mietvertrages ausgehandelt, und Eric, Tim und Emily haben mit Volldampf gearbeitet, um Informationen zu sammeln und daf¨ ur zu sorgen, daß ich in den Genuß der besten ¨ Arzte, Behandlungsmethoden und Forschungserkenntnisse gelange. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen und bin noch einmal eine Woche ins Northwestern Memorial gegangen, bin zur Universit¨at von Chicago gepilgert und habe Spezialisten aufgesucht. Obwohl ich keine Ahnung habe, warum man diese Leute Spezialisten nennt, denn auch sie haben keine neuen Erkenntnisse f¨ ur mich. Im Grunde haben alle nur eine Antwort, und die lautet immer gleich: Die Diagnose ist kein Irrtum. Ich habe NF2. Oh Gott. Meine Mutter hat versucht, mich dort zu halten, im Krankenhaus, angekettet an einen Infusionstropf, aber ich habe mich angezogen und bin geflohen. In dem Augenblick, als mir klar wurde, daß ich tats¨achlich sterben werde, wußte ich auch, daß ich keine weitere wertvolle Sekunde meines verbleibenden Lebens im Krankenhaus verbringen w¨ urde. In einem alten Schwarzweißfilm, der um drei Uhr morgens im Fernsehen lief, habe ich einmal eine Nachbildung der Kommandozentrale gesehen, in der die Alliierten die Invasion in der Normandie planten. Abgesehen davon, 45
daß Eisenhower und Winston Churchill fehlen, bietet sich ¨ mir beim Offnen der Wohnungst¨ ur so ziemlich das gleiche Bild in unserem Wohnzimmer. Tim fahndet im Internet nach Informationen. Eric telefoniert u ¨ber einen Kopfh¨orer. Ich bestehe darauf, mit Dr. Auermann pers¨onlich verbunden zu werden, und zwar sofort, verk¨ undet er. Sie verstehen nicht. . . ¨ Emily spricht in ihr Handy. Uberall Stapel von Papier, Computerausdrucke und medizinische Fachb¨ ucher. An der Wand h¨angt eine Weltkarte, auf der die St¨adte mit den wichtigsten Kliniken rot eingekreist sind. Leere Gl¨aser, Pizzakartons und zusammengekn¨ ulltes Papier bedecken alles. Die stummen Zeugen einer Belagerung. Die drei erstarren, als ich hereinkomme. Vielleicht hatten sie sich damit abgefunden, daß ich das Krankenhaus nicht verlassen w¨ urde. Nie mehr. Ich m¨ochte nicht mit ihnen sprechen. Sie wissen nicht, was ich durchmache. Davon hat niemand die geringste Ahnung. Ich gehe direkt in mein Zimmer und laufe gleich weiter ins Bad. Mir ist, als ob ich mich u ußte. Hinter mir f¨allt ¨bergeben m¨ die T¨ ur ins Schloß. Ich setze mich auf den Badezimmerfußboden, er f¨ uhlt sich k¨ uhl und tr¨ostlich an. Ich lege die Arme um meine Beine und ziehe die Knie ganz eng an den K¨orper. Das hier ist dasselbe Bad, in dem ich jeden Tag gestanden habe, als ich noch normal war, bevor dieser Alptraum begann. Dort vor dem Spiegel habe ich mit verschiedenen Lippenstiftfarben experimentiert, mein Haar hoch zu einem Pferdeschwanz geb¨ urstet oder ausprobiert, welche Bluse am besten zu meinem Vorstellungskost¨ um paßt. Das ist jetzt gerade zwei Wochen her. Das Badezimmer ist dasselbe, aber ich bin es nicht. F¨ ur mich hat sich alles ge¨andert. Der Tod ist auf der Bildfl¨ache erschienen, auf mei46
ner Bildfl¨ache, und zwar un¨ ubersehbar. Alles andere ist von einer Sekunde auf die andere bedeutungslos geworden. Die Tatsache, daß ich das College mit einem EinsKomma-Null-Durchschnitt abgeschlossen habe und dazu auserkoren wurde, f¨ ur meinen Jahrgang die Abschiedsrede zu halten, ist belanglos. Was n¨ utzt mir das? Soll ich es mir auf meinen Grabstein meißeln lassen? Nicole McBain 1,0. ¨ Ich frage mich, ob ich nicht einfach eine Uberdosis von irgendwas nehmen soll, t¨odliche Pillen bunkern oder eine Infusionsflasche vergiften. Es schnell zu Ende bringen, so wie man einen Lichtschalter ausknipst. Wenigstens h¨atte ich dann die Kontrolle. Ist der Tod besser, wenn man ihn sich aussucht, als wenn man von ihm ausgesucht wird? Vermutlich nicht. Der Tod ist nie die bessere L¨osung. Das Leben ist besser. Das ist es, was ich will. Leben. Tatsache ist, daß ich sterbe, definitiv. Null Aussichten auf Genesung. Aber was niemand weiß: Ich bin l¨angst tot. Die Nicole, die sie kennen, ist im Krankenhaus gestorben. Ich habe sie selbst get¨otet. Sie war schwach, schwach genug, um sich auf das hier einzulassen. Ich weiß, daß ich ein anderer Mensch werden muß, wenn ich u ¨berleben will, ein Mensch, der mit dieser Situation umgehen kann. Es klopft an der T¨ ur. Nicki? Das ist meine Mutter. Sie war unmittelbar hinter mir, als ich das Krankenhaus verließ. Ich habe deinen Vater angerufen. Er kommt direkt her. Geh weg! Laß mich allein. Die Kopfschmerzen sind wieder da, und der Raum verschwimmt. In meiner Tasche sind Tabletten, die sie mir im Krankenhaus gegeben haben. Ich stehe auf, gieße mir ein Glas Wasser ein und nehme zwei. Was passiert, wenn ich drei nehme? Vier? Oder gleich die ganze Flasche? Den gesamten Inhalt des Medizinschranks? Das ist die alte Nicki, die so spricht. Mein 47
neues, starkes Selbst schaltet sich ein und u ¨bernimmt die Kontrolle. Es klopft wieder. Nicki? Diesmal ist es Tim. Ich bin besch¨ aftigt. Geht einfach alle weg. Ich schließe die T¨ ur ab und stopfe ein Handtuch in den Spalt darunter. Wieder weine ich. Kontrolle? Wer hat hier die Kontrolle u ¨bernommen? Ich jedenfalls nicht. Und warum auch? Ich muß sterben, und ich kann absolut nichts dagegen tun. Man sagt, wenn jemand stirbt, l¨auft sein ganzes Leben vor seinen Augen ab. Zumindest habe ich das irgendwo gelesen. Bei mir ist das Gegenteil der Fall. Nicht mein Leben l¨auft vor meinen Augen ab, es sind die Vers¨aumnisse meines Lebens. Die vielen Dinge, die ich noch nicht erlebt habe. So vieles habe ich auf sp¨ater verschoben. So viele Pl¨ane, so wenig Taten. Ich werde so vieles niemals erfahren: wie es ist zu lieben, zu heiraten, ein Kind zur Welt zu bringen, alt zu werden, Spaß zu haben, frei zu sein, einfach nur zu sein. Die Wissenschaft sollte ein Paket entwickeln, in dem all diese Dinge enthalten sind, damit man sie alle auf einmal kaufen kann: Das Leben, das ich leben wollte. Eine weitere Tatsache wird mir bewußt: Der Badezimmerboden ist sehr unbequem, ganz besonders, wenn man sich in Embryohaltung zusammengerollt hat und mit dem Kopf an die Toilette st¨oßt. Wer sich nicht umbringen will, hat hier nichts zu suchen, so lautet mein Entschluß, nachdem ich gut eine Stunde lang auf dem Boden gelegen und mir die Augen ausgeheult habe. Was ich hier tue, ist auf seine Art mindestens so abstoßend wie der Tod. Eine Verschwendung wertvoller Zeit. Es gelingt mir, mich wieder in den Griff zu bekommen. In diesem Augenblick sterbe ich noch nicht, also sollte ich mir lieber eine Alternative u ¨berlegen, mit der ich leben kann. Diese Runde 48
geht an mein neues Selbst. Das muß sie auch, denn das neue Selbst ist alles, was ich habe. Steh auf. Erhebe dich vom Boden. Setz deinen K¨orper in Bewegung. Ich verlasse Badezimmer und Schlafzimmer und betrete das Wohnzimmer. Alle sehen mich ¨angstlich an. Ich f¨ uhle mich m¨achtig, mein erster Vorgeschmack auf die Macht, die mein bevorstehender Tod auf meine Umgebung aus¨ ubt. Alle wissen, daß du nichts zu verlieren hast, also kannst du tun und lassen, was du willst. Der Himmel weiß, was. Ich greife mir eine Handvoll Computerausdrucke. Was ist das? Wir haben uns u ¨ber NF2 informiert, antwortet Em. Ich gebe euch allen eine Eins. Stapel f¨ ur Stapel werfe ich die Seiten in den Papierkorb. Tim steht direkt hinter mir. Was machst du da? Er versucht, die Bl¨atter wieder herauszufischen. Ich greife sie mir wieder und zerreiße so viele wie m¨oglich. Ich stelle die dritte Diagnose, schon vergessen? Auf dem Computerbildschirm lese ich: Patienten mit NF2 entwickeln h¨aufig auf der Außenseite des Gehirns andere Arten von Tumoren. Diese Tumore k¨onnen, je nach Lage, unterschiedliche neurologische Symptome verursachen. Ich dr¨ ucke auf die L¨oschtaste. Hey! protestiert Tim. Dieser Abschnitt meines Lebens ist abgeschlossen. Jetzt widme ich mich dem Rest. Ich habe in Seattle angerufen, Nicki, verk¨ undet Dad. Sch¨ on f¨ ur dich. An neuen Behandlungsmethoden bin ich nicht interessiert. Auch nicht an Therapieversuchen. An u ¨berhaupt nichts in dieser Richtung. Tim, was gibt es zu essen? Ich habe Hunger auf einen Hamburger, Pommes frites und einen Erdbeershake. Mit extra viel Sahne. Das 49
ist eindeutig ein Vorteil – u ¨ber Kalorien brauche ich mir keine Gedanken mehr zu machen. Tim sieht mich unsicher an. Was immer du willst, Schatz, aber. . . Kein aber. Ich weiß, daß ihr euch um mich sorgt, Mom, Dad, ich liebe euch. Aber ich muß den Rest meines Lebens leben, und der Begriff >Leben< trifft den Nagel auf den Kopf. Ich habe dar¨ uber nachgedacht, was ich als n¨achstes tun will, und es hat absolut nichts mit Medizin zu tun. Es gibt so vieles, was ich noch nicht erlebt habe. Und ich habe beschlossen, daß ich soviel wie m¨oglich ausprobieren werde – solange ich es noch kann. Nicki, das alles ist zuviel f¨ ur dich, schaltet Dad sich ein. Dad! H¨ or mir zu, nur dieses eine Mal. Ich werde ja wohl kaum noch eine weitere Chance bekommen, oder? Was soll er darauf erwidern? Wie ihr wißt, habe ich viele Jahre hart gearbeitet. Doppelschichten im Restaurant, zwei Hauptf¨acher auf dem College. Ich weiß, daß du und Mom mich unterst¨ utzt h¨attet, aber ich wollte es so. Damals. Jetzt w¨ unsche ich mir eine Zeit ohne Verantwortung, ohne Untersuchungen, ohne Druck. Nur ein bißchen Zeit, um herauszufinden, wie es ist, sein eigenes Leben zu f¨ uhren. Schließlich sieht es nicht danach aus, als ob ich eine zweite Chance bekommen w¨ urde. Mom, Dad, wenn ihr mich wirklich liebt, helft mir bitte. Bitte! Ich weiß, daß sie sich dar¨ uber streiten werden, wie sie sich u ¨ber alles streiten. Ich weiß, daß es h¨aßlich zugehen wird. Sie werden nie aufh¨oren, nach einer Behandlung zu suchen, die mich heilen kann oder mich zumindest am Leben erh¨alt. Sie werden weitere Spezialisten konsultieren, recherchieren, sich u ¨ber Medikamente, Therapien und Statistiken informieren. Aber ich sehe ihren Gesich50
tern an, daß sie außerdem alles tun werden, damit mein Wunsch Wirklichkeit wird. Weil sie mich lieben. Am selben Abend gehen Eric, Emily, Tim und ich zu Barnes & Noble und pl¨ undern die Reiseabteilung. Atlanten, Landkarten, B¨ ucher u unfzig Dollar ¨ber Reisen zu f¨ am Tag und Reisen zu f¨ unfhundert Dollar am Tag – wir sammeln alles ein. Unser Plan sieht so aus: Wir gehen auf eine Reise. Keine Ahnung, wohin. Das ist der Beginn meines Abenteuers. Ab heute ist mein Stil r¨ ucksichtslose Hemmungslosigkeit. Immerhin f¨ uhle ich mich endlich wieder lebendig. Zur¨ uck in der Wohnung, legen wir Musik auf und verwandeln die Kommandozentrale in eine weltweite Reiseagentur. Wie w¨ are es mit der Karibik? schl¨agt Emily vor. Zu zahm, finde ich. Alaska? meint Tim. Zu wild. Paris, l¨ aßt Eric verlauten. Zu zivilisiert. Wir werden uns nie einig, bef¨ urchtet Emily. Sie hat recht. Und f¨ ur Unentschlossenheit habe ich weder die Zeit noch die Geduld. Wir werden uns in dieser Minute entscheiden, bestimme ich. Eine Topmanagement-Entscheidung, getroffen durch. . . , ich pfl¨ ucke einen Dartpfeil von einer der T¨ uren, . . . diesen Pfeil. Alle einverstanden? Ich lasse ihnen keine Zeit zu antworten, halte mir eine Hand vor die Augen und werfe mit der anderen den Pfeil auf die große Weltkarte an der Wand. Er landet mitten in einem Meer. Wo ist das? Ich kneife die Augen zusammen. ¨ ais. Tim zieht den Pfeil heraus. Die Ag¨ Das ist es! Eine Kreuzfahrt zu den griechischen Inseln. Perfekt. Das Schicksal hat entschieden. Ich h¨atte 51
meine Entscheidungen viel ¨ofter auf diese Weise treffen sollen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Tim und mich, wie wir im Mondlicht auf Deck tanzen, im warmen Meer schwimmen und antike Tempelruinen besichtigen. Es muß ein Segelschiff sein. Nick, deine Eltern haben zwar versprochen, daß sie f¨ ur alles aufkommen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie das gemeint haben. Eine Kreuzfahrt f¨ ur uns alle? Nach Griechenland? Eric blickt skeptisch drein. Betrachten wir es einmal so, erkl¨ are ich ihm. Sie haben nicht einen Cent f¨ ur das College bezahlt. Das wird meine Ausbildung. Unsere Ausbildung. In welchem Fach? erkundigt sich Tim. In allen F¨ achern, die wir auf dem College vers¨aumt haben. Guter Wein, k¨ostliches Essen, romantische Abende und endlose Partys. Eric rennt in die K¨ uche und erscheint mit einer Flasche Champagner, die von der Abschlußfeier u ¨briggeblieben ist. Er l¨aßt den Korken knallen. Auf die Kreuzfahrer! Warte, sage ich und greife nach der Flasche, bevor du uns einschenkst. Ich weiß, daß ihr alle Pl¨ane habt. Wegen mir braucht ihr sie nicht aufzuschieben. Ich wollte mir sowieso einen Monat frei nehmen, behauptet Emily. Meine Kurse fangen erst im September an, meint Eric. Außerdem stecken wir alle zusammen in dieser Sache, habe ich recht? Stimmt, erkl¨ art Tim. Emily h¨alt eine goldene Karte hoch. Und ich habe Daddys Kreditkarte! Seid ihr sicher? Was sind das f¨ ur Freunde, die ihr eigenes Leben aufgeben, um mir zu helfen, weil ich in 52
Schwierigkeiten stecke? Wir sind f¨ ur dich da, wo auch immer, wann auch immer, wie auch immer, verk¨ undet Eric. Ich nehme sie alle in den Arm, dann schenke ich den Champagner ein. Da ist nur noch ein Problem, gibt Emily zu bedenken. Was? frage ich. Ich bin ein schlechter Mundschenk. Champagner sprudelt u ¨ber den Rand ihres Glases. Bikinis. Stichwort Tanga. Sobald am n¨achsten Morgen die Gesch¨afte ¨offnen, stehen wir in den Startl¨ochern und probieren die ersten Tangas an. Tim muß sich in seinem Architekturb¨ uro blicken lassen, aber Emily und Eric sind dabei. Die Reservierungen haben wir per Internet gemacht – zehn Tage auf einem wundersch¨onen zweihundertf¨ unfzig Meter langen Windjammer mit Namen Circe, zwei Suiten mit allen Extras. Die Suite, die ich mir mit Emily teilen werde, hat eine eigene Terrasse und einen Whirlpool. Nicht u ¨bel. Als ich ein paar der Stoffstreifen hochhalte, die heute als Badeanz¨ uge durchgehen, kann ich mir kaum noch vorstellen, daß ich gerade zwei Tage zuvor in einem sarg¨ahnlichen Computertomographen gelegen und mich gefragt habe, ob ich das Krankenhaus lebend verlassen w¨ urde. Und jetzt bin ich hier. Ich weiß, daß ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich f¨ uhle mich gut. Zumindest im Augenblick, und das ist alles, was in diesem Spiel z¨ahlt. Glaubst du, daß ich damit durchkomme? Ich schwenke einen Bikini in Emilys Richtung. Tim werden die Augen aus dem Kopf fallen. Ich finde immer noch, er h¨ atte sich den Tag frei nehmen sollen, erkl¨art Em und f¨ uhrt mir einen Sonnenhut 53
vor. Schließlich ist das hier wichtig. Eric zuckt mit den Schultern. Nun, wir kennen Tim. Er hat eben seine Priorit¨aten. Emily wirft ihm einen Blick zu. Wenn wir einmal ganz ehrlich sind, hat Eric Tim nie wirklich gemocht. Wohl haupts¨achlich deshalb, weil Eric sich mir gegen¨ uber wie ein großer Bruder f¨ uhlt. F¨ ur seine kleine Schwester ist ihm niemand gut genug. Ich ignoriere die Bemerkung u ¨ber Tim und nehme Emily den Hut ab. Ich werde beides zusammen anprobieren. In der Kabine unterziehe ich mich einer kritischen Musterung. Einsachtundsechzig, gl¨anzendes Haar, sch¨one Haut, einwandfreie Figur, w¨ urde ich sagen. Der Inbegriff von Gesundheit. Wie ein perfekter Pfirsich, der von außen appetitlich aussieht, aber wenn man hineinbeißt, ist das Fruchtfleisch unter der Schale verfault. Ich ziehe den Bikini aus, steige in Jeans und T-Shirt und steuere wieder auf die Kleiderst¨ander zu. Nimm dich zusammen, sonst sieht sie dich noch so! h¨ore ich Eric u ¨ber sechs Reihen Bikinis. Er hat mich noch nicht entdeckt. Emily ist an einen Spiegel gesunken und weint. Er zieht sie am Arm hoch. Emily, um Gottes willen, hier geht es nicht um dich! Nicki ist unsere beste Freundin, und sie braucht uns. Ems Stimme dringt ged¨ampft durch das Kleenex, das sie an ihre Nase gepreßt h¨alt. Wie kann sie einfach so weitermachen, als ob gar nichts passiert w¨are? Das verstehe ich nicht. H¨ or zu, zischt Eric. Sie weiß, was Sache ist. Sie hat ihre Entscheidung getroffen. Und wir geh¨oren dazu. Was immer das bedeutet, weißt du noch? Du bist ihre beste Freundin, also benimm dich auch so! Hast du Augentropfen dabei? Schnell! Er greift einen Badeanzug und schiebt Em in Richtung Umkleidekabinen. Da sieht 54
er mich. Em probiert nur eben etwas an. Wie paßt deiner? Er zieht den Vorhang vor der Kabine zu. Was habe ich erwartet? Habe ich mir eingebildet, sie w¨ urden nicht registrieren, daß ich sterbe, oder sie w¨ urden es vergessen? Die Tatsache, daß ich sterben muß, ist auch f¨ ur meine Freunde nicht einfach. Vielleicht ist es f¨ ur sie sogar noch schwieriger als f¨ ur mich. Ich ziehe den Vorhang vor der Kabine zur¨ uck. Okay, Leute, wir m¨ ussen reden. Em l¨aßt den Kopf h¨angen. Sie will sich nicht anmerken lassen, wie traurig sie ist. Ich weiß, wie schwer das alles f¨ ur euch beide ist. Aber ich weiß nicht, was ich ohne euch anfangen w¨ urde. Wir brauchen einander jetzt wirklich, aber ich mache euch keinen Vorwurf, wenn ihr damit nicht zurechtkommt. Endlich sieht Em mich an. Der Zustand ihrer Augen l¨aßt vermuten, daß sie ihre Augentropfen vergessen hat. Nick, wie machst du das nur? Du tust so, als ob alles noch wie fr¨ uher w¨are. Aber das ist es nicht. Ich lege meinen Arm um sie. Wenn man zwei Wochen lang von allen m¨oglichen Leuten bemitleidet wurde, ist es ein unglaublich gutes Gef¨ uhl, jemand anders tr¨osten zu k¨onnen. Ich weiß, daß es anders ist, Em. Aber f¨ ur eine kurze Zeit m¨ochte ich denken k¨onnen, daß alles unver¨andert ist. Jemand kommt auf uns zu. M¨anner haben keinen Zutritt zu den Kabinen! sagt eine Verk¨auferin vorwurfsvoll. Ich bin kein Mann, kontert Eric. Ich bin ihr Stilberater. Wir brechen in hysterisches Gel¨achter aus. Alles wird gut.
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Am Abend geht Tim mit mir zum Navy Pier, einem meiner Lieblingsorte, weil es hier zwei meiner Lieblingsdinge gibt – den See und das Riesenrad. Abends, wenn die vielen Lichter die Skyline beleuchten, wirkt das Seeufer wie eine glitzernde Tanzfl¨ache, die von einer riesigen Hand direkt aus dem Himmel auf die Wasseroberfl¨ache gesetzt wurde. Tim und ich schlendern Hand in Hand an dem Riesenrad vorbei, das wie ein drei Stockwerk hoher, strahlender Weihnachtsbaum in den Himmel ragt, betrachten Caf´es und Menschen. Musik weht durch die Nacht, und ich atme k¨ostliche D¨ ufte ein: den See und das Essen, den leichten Nebel, der vom Wasser heraufzieht und alles in ein sanftes Licht taucht. Ich genieße, daß alles so normal wirkt: Wenn man uns ansieht, sieht man zwei verliebte junge Leute, die am Pier entlangspazieren. Im Augenblick ist Normalit¨at etwas ganz Besonderes f¨ ur mich. Es wird einfach klasse, sage ich zu Tim. Dieses Schiff ist ein Traum – es hat ein Dutzend Segel, und wir legen an sechs verschiedenen Inseln an. Und vergiß nicht, dir eine Taucherbrille und einen Schnorchel zu besorgen. Sie m¨ ussen unbedingt gut sitzen. Du hast doch sicher einen Paß? Auf gar keinen Fall darfst du deinen Paß vergessen. Tim schweigt. Sein Mund wirkt schmal, so als ob er ihn krampfhaft zusammenpreßt. Diesen Mund kenne ich an ihm. Nun komm schon. Was ist los? Nick, ich muß mit dir reden. Mir f¨ allt das alles nicht leicht. Er starrt zu Boden. Genau wie Em und Eric. Wir haben dar¨ uber gesprochen, und jetzt ist alles in Ordnung. Aber f¨ ur mich ist es nicht in Ordnung. Ich kann nicht dabeisitzen und zusehen, wie du dir etwas vormachst. Wir bleiben stehen. Tim starrt mit geballter Faust an mir vorbei. 56
Wer macht sich hier etwas vor, Tim? Realer kann es gar nicht werden. Schließlich sieht er mich an. Was passiert, wenn sich dein Zustand unterwegs verschlechtert? Dann fahre ich nach Hause. Oder ich sterbe und werde auf See bestattet, wie ein Wikinger. H¨ or auf! Was willst du mir sagen? Ich m¨ ochte dir sagen – daß ich nicht mitkommen kann. Was? Wir haben doch alles geplant. In drei Tagen geht es los! Wir haben gebucht und dein Ticket gekauft. F¨ urchtest du dich wirklich so sehr davor, mit mir zusammenzusein? Ich strecke die Hand nach ihm aus, aber sein K¨orper f¨ uhlt sich hart an, wie Zement. Es hat nichts mit dir zu tun, Nick. Meine Firma hat ein großes Projekt u ¨bernommen. Mein Chef will es mir anvertrauen – das hat er mir heute mitgeteilt. Das ist der Durchbruch, auf den ich gewartet habe. Aber es sind doch nur zehn Tage. Flehe ich ihn tats¨achlich an? Nick, ich versuche, Architekt zu werden. Das Projekt l¨auft f¨ unf Jahre. Seine Stimme klingt sachlich, als ob er versucht, das Thema mit Vernunft anzugehen. Darauf falle ich nicht herein. Verstehe. Tut mir leid, aber ich glaube nicht, daß ich das noch erleben werde. Dabei kann ich mir nicht vorstellen, die griechischen Inseln ohne Tim zu sehen. Eigentlich f¨allt es mir schwer, mir u ¨berhaupt etwas ohne Tim vorzustellen, aber ich weiß, daß er seine Entscheidung getroffen hat und daß ich in seinen Pl¨anen nicht vorkomme. Tim schließt mich in die Arme. Ich habe ein schlechtes Gewissen, Nick. Ich wollte wirklich mitfahren. Das
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glaubst du mir doch, nicht wahr? Ich versteife mich. Ja, ich glaube dir. Und jetzt will ich die Wahrheit wissen. Im Augenblick habe ich nichts f¨ ur Spielchen u ¨brig. Ich verdiene die Wahrheit. Er seufzt. Es ist so verdammt schwer. Ich kann nicht damit umgehen. Ich kann nicht glauben, daß mir das passiert. Daß es ihm passiert. Ihm. Ich trete einen Schritt zur¨ uck. Ich verstehe. Ich drehe mich um und gehe weg. Nat¨ urlich folgt Tim mir. Ich sch¨ uttele ihn ab. Nicht. Laß mich. Ich bin nicht wirklich w¨ utend, denn das Schlimmste an der Sache ist, daß ich ihm keinen Vorwurf machen kann.
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Fu ¨nftes Kapitel
Wir stehen am O’Hare International Airport bereit zum Einchecken, Tickets und P¨asse in der Hand, als mein Vater seinen letzten Trumpf ausspielt. Er, Kate und Justin sind zur Unterst¨ utzung meiner Mutter als offizielles Verabschiedungskomitee angetreten. Justin ist s¨ uß – er hat mit buntem Papier und Wachsmalkreide eine Gute-ReiseKarte gebastelt. Meine Mutter bleibt erstaunlich gefaßt, allerdings haben wir bereits eine Serie von n¨achtlichen Diskussionen und Heulorgien hinter uns. Inzwischen hat sie resigniert. Und ich kann es kaum erwarten, endlich im Flugzeug zu sitzen. Allerdings will ich weniger meine Eltern loswerden, als endlich zu mir selbst finden. Sollte man nicht vor seinem Tod unbedingt noch herausbekommen, wer man eigentlich ist? Die meisten Menschen haben ein paar Jahrzehnte Zeit, um das zu ergr¨ unden. Ich muß den Prozeß wohl ein wenig beschleunigen. Wenn das Flugzeug abhebt, lasse ich alles hinter mir und behaupte, daß ich mit meinen besten Freunden auf einer aufregenden Abschlußreise bin. Na ja, irgendwie trifft das ja auch zu. Dad ist immer noch nicht ganz u ¨berzeugt. Er beißt die Z¨ahne zusammen: Das ist das erste Anzeichen. Ich sehe den Muskel an seinem Unterkiefer, der ein Eigenleben entwickelt, sobald er nerv¨os wird. Er nimmt mich beiseite und legt seine H¨ande an meine Wangen. Ich habe mit 59
Dr. Robert Carmichael telefoniert. Er ist der f¨ uhrende Spezialist f¨ ur NF2 und w¨ urde dich aufnehmen. Mom kann sich nicht mehr beherrschen. Dan, hast du es vergessen? Sie hat sich entschieden. Wir haben versprochen, das zu respektieren. Er wirft ihr einen Blick zu, der besagt: Sie begeht Selbstmord. K¨ ummert dich das gar nicht? Ihre herausfordernde Antwort heißt: Mehr als alles auf der Welt. Deshalb lasse ich sie gehen. Schachmatt. Das ist das Sch¨one an Paaren, bei denen jeder seit vielen Jahren zum Leben des anderen geh¨ort – auch wenn das Leben nicht unbedingt unter demselben Dach stattfindet. Sie k¨onnen sich ohne Worte verst¨andigen. Mom strafft ihre Schultern und wendet sich mir zu. Okay, Liebes. Genieße die Reise! Deine Tabletten sind ¨ eingepackt. Eric ist von den Arzten bestens instruiert, und du weißt, was du zu tun hast. Außerdem hast du dein Satellitentelefon. Du kannst mich jederzeit anrufen. Eigentlich d¨ urfte nichts schiefgehen. Pl¨otzlich f¨ urchte ich, daß ich gleich weinen muß. Ich rufe dich ganz bestimmt vom Schiff aus an, Mom. Ich liebe dich. Dad und ich sehen uns an. Ich bin f¨ ur dich da, wenn du mich brauchst, Kleines , sagt er leise. Bevor wir richtig sentimental werden k¨onnen, rettet eine laute Stimme die Situation: Eric stimmt den Titelsong aus Titanic an: My heart will go o-o-on! Er zwinkert mir zu und reicht mir galant seinen Arm. Gehen wir an Bord, Rose. Wohl eher die unversenkbare Molly Brown, erwidere ich und lege meinen Arm auf seinen. Emily nimmt meinen anderen Arm, und dann geht es tats¨achlich los. 60
Unser Schiff hat einen wunderbaren Namen: Circe. In der griechischen Mythologie war Circe eine Magierin, und an diesem Punkt meines Lebens kann ich von Magie gar nicht genug bekommen. Das Schiff ist herrlich, weiß, schlank und romantisch, mit einem Wort: perfekt. Zweihundertf¨ unfzig Meter lang, mit vier turmhohen Masten, erwartet es uns am Kai von Pir¨aus, dem großen Hafen Athens. Pir¨aus selbst ist eine h¨ ugelige, betriebsame Halbinsel, verrußt und laut, mit gitterartig angeordneten Straßenz¨ ugen voller gesichtsloser Wohnbl¨ocke – nicht unbedingt das vertr¨aumte, malerische Bild, das wir erwartet haben. Hochh¨auser, Reedereib¨ uros, Banken und Autoschlangen wetteifern mit dem tiefen Blau des Himmels und der See. Hier gibt es keine romantischen, gepflasterten Gassen. Auf dem Weg zur Anlegestelle kann sich Eric nur durch einen beherzten Sprung zur Seite vor einem Motorrad retten, das auf dem Bordstein einen Stau umf¨ahrt. Ah, das Paradies, witzelt er. In den letzten dreitausend Jahren hat es sich offenbar ein wenig ver¨andert. Emily winkt uns, w¨ahrend wir uns hinter ihr durch die Menschenmenge einen Weg zum Dock bahnen. Von Banalit¨aten l¨aßt sie sich nicht aufhalten. Sie hat Großes vor und z¨ahlt uns schon mal ein paar Punkte ihres Programms auf: Als erstes lassen wir uns massieren. Manik¨ ure, Pedik¨ ure. Und heute abend essen wir am Kapit¨anstisch. Dabei k¨onnen wir die anderen Passagiere unter die Lupe nehmen. An Bord erleidet Emily eine Schuhkrise und schwankt auf ihren zehn Zentimeter hohen Manolos hin und her. Willkommen an Bord der Circe! Ein Mann in einer weißen, maßgeschneiderten Uniform l¨achelt uns an, offensichtlich der Kapit¨an. Er ist in den Vierzigern, nicht sehr groß und spricht mit griechischem Akzent. Neben 61
ihm steht ein baumlanger, kr¨aftig gebauter Mann, den ¨ er als seinen Ersten Offizier vorstellt. Uberall auf Deck huschen Mitglieder der Crew umher, die vornehmlich aus attraktiven M¨annern in weißen Hemden und schwarzen Jeans zu bestehen scheint. Emily deutet auf einen jungen Mann, der sich direkt vor uns an den Tauen zu schaffen macht. Meinst du, das ist der Masseur? Ich schiebe meine Sonnenbrille herunter und betrachte ihn eingehender. Tolle Muskeln, etwa einsf¨ unfundachtzig, dunkelblonde Haare. Nicht u ¨bel, aber nicht mein Typ. Vielleicht bin ich auch schon so lange mit Tim zusammen, daß ich gar keinen Typ mehr habe. Und u ¨berhaupt, warum soll ich mir u ¨ber Aff¨aren Gedanken machen? Die Aussichten auf diesem Gebiet sind sozusagen t¨odlich eingeschr¨ankt. Ich halte mich an den Whirlpool. Wenn er dir nicht gef¨ allt – wo der herkommt, gibt es noch mehr , kl¨art Emily mich auf und inspiziert ein paar weitere Mannschaftsmitglieder, ganz besonders den Ersten Offizier. In diesem Augenblick verfange ich mich doch tats¨achlich mit dem Fuß in einem der Taue am oberen Ende des Landungsstegs. Entschuldigen Sie, Miss. Britischer Akzent. Der große Blonde kniet nieder und befreit meinen Fuß. Normalerweise binden wir unsere Passagiere nicht gleich zu Beginn der Reise fest. Seine Finger streifen meinen Kn¨ochel, und ich sp¨ ure, wie ich rot werde – das passiert mir sonst nie. Aber etwas an der Kombination aus leicht s¨ uffisantem L¨acheln und seinem Akzent bringt mich aus der Fassung. Ich springe aus dem Tau und versuche weltgewandt und blasiert dreinzublicken, so als ob ich st¨andig an Bord gr¨oßerer Kreuzfahrtschiffe gehe. Danke, bringe ich heraus. Al62
les in bester Ordnung. Ich schiebe meine Schultertasche wieder in Position und haste hinter Emily her, die zu unserer Kabine gef¨ uhrt wird. Der Whirlpool ist, wie erwartet, sensationell. Kaum haben wir die T¨ ur unserer Suite hinter uns geschlossen, ziehe ich alles aus und tauche bis zum Kinn in den Schaum. Das Auspacken kann warten. Wir haben einen kleinen Wohnraum mit Sofa, Fernseher, Video und CDPlayer. Außerdem hat die Suite eine Bar mit Eismaschine, und im holzverkleideten Schlafzimmer stehen unter einem Oberlicht zwei Doppelbetten mit frischen blauweißen Laken. Glast¨ uren vom Boden bis zur Decke geben den Blick auf unsere Terrasse und ein unglaubliches Panorama frei. Em setzt sich auf den Wannenrand und gießt eine halbe Flasche Champagner hinein. Du liegst schon eine Ewigkeit im Wasser. Ich dachte, du k¨onntest Nachschub vertragen. Ich gew¨ ohne mich nur an den Seegang. Weißt du, an diesem Leben k¨onnte ich wirklich Gefallen finden. Ich habe mir die Route angesehen. N¨ achster Hafen Mykonos. Sie faltet die bunte Brosch¨ ure auseinander. H¨ or dir das an! Hier geht es um die Clubszene. Dann von Mykonos der Abstecher in die Vergangenheit. In eine Zeit vor ungef¨ahr einer Million Jahre. Das ist Delos. Sagenhafte Ruinen. Danach geht es nach Ios, Santorin, Kreta, Rhodos, Symi. . . Ich greife mit meiner feuchten Hand nach der Brosch¨ ure. Laß mich mal sehen! Lauter Bilder von Ruinen, zwischendurch Zeichnungen der verschiedenen G¨otter und G¨ottinnen. Hmm . . . hier steht, daß die G¨otter und G¨ottinnen gern ihrem Vergn¨ ugen fr¨onten, insbesondere bei Feierlichkeiten zu ihren Ehren. Also widme ich diese Reise Venus, der G¨ottin der Liebe, und all denen, die geliebt haben und jemals lieben werden. Es klopft 63
an der T¨ ur. Ich bin’s, Eric. Er steckt seinen Kopf durch den Durchgang und pr¨asentiert einen riesigen Blumenstrauß. Fleurop. Seht ihr? Es funktioniert. Ich wette, die sind von Tim. Eric reicht mir die Karte. N¨o. Von Dad, Kate und Justin. Soviel zum Thema Liebesg¨ottin. Ich kn¨ ulle die Karte zusammen und werfe sie quer durch den Raum in den Papierkorb. Zwei Punkte. Beeil dich, sagt Emily. Genug gebadet. Wir wollen die Ausfahrt aus dem Hafen doch nicht verpassen. Laut Brosch¨ ure ist es ein unvergeßliches Schauspiel. Als das Schiff ablegt, rufen und winken die Passagiere durcheinander, und die Kapelle spielt griechische Volksweisen. Konfetti fliegt durch die Luft, von allen Seiten h¨ort man Geschrei und Gel¨achter. Emily und Eric tanzen wie Alexis Sorbas und schwenken ihre Taschent¨ ucher. Ich k¨ampfe mich an den Rand der Menge durch, wo es ein wenig ruhiger ist, und werfe eine Rose aus meinem Blumenstrauß ins Kielwasser. Irgendwie stimmt die Abfahrt mich traurig, denn sie bedeutet, daß die Reise sich ein St¨ uck weiter ihrem Ende gen¨ahert hat. Den Rest des Tages verbringen wir damit, das Schiff zu erkunden, dann ziehen wir uns langsam f¨ ur das Dinner am Kapit¨anstisch um. Es soll leger zugehen, meint Emily, aber der erste Eindruck ist immer der wichtigste. Ihr Rock ist so kurz, daß er kaum noch in die Kategorie Oberbekleidung f¨allt. Dazu tr¨agt sie ein enges lila Top, das ihr Schultertattoo zeigt, und bis zu den Oberarmen ist sie mit Armb¨andern beh¨angt. Eric erscheint in T-Shirt, Weste und Scheitelkappe. Im Speisesaal schlendern die Passagiere umher und sehen sich um. Der Kapit¨an steht neben dem Animateur am Eingang und sch¨ uttelt H¨ande. Das Vorspeisenbuffet w¨ urde f¨ ur mehrere hungernde Nationen reichen. Wir er64
kunden das Territorium rund um die Bar, und Emily und Eric geben Kommentare u ¨ber unsere Mitreisenden ab. Es dauert nicht lange, bis ich meinen dritten BelvedereMartini intus habe, inklusive Oliven. Prost. Eric lehnt sich zu mir her¨ uber. Nick, laß es langsam angehen. Darfst du zu deinen Tabletten u ¨berhaupt Alkohol trinken? Ich zucke mit den Schultern. Wen interessiert schon das Kleingedruckte? Ich bin im Urlaub, erinnere ich ihn. Urlaub von all dem. Weißt du, Sch¨ atzchen, unterbricht mich eine rauhe, schleppende S¨ udstaatenstimme, ich habe Martinis an der Copa getrunken, ich habe Martinis in Harry’s Bar in Venedig getrunken und im Ritz in Paris. Eine Frau in einer rosa Chiffonstola schiebt sich auf den Barhocker neben mir. Sie nickt mir zu und senkt dabei die Lider wie eine Eidechse. Selbst wenn sie mich nicht angesprochen h¨atte, w¨are sie mir mit ihrem mandarinenfarbenen Haar, der juwelenbesetzten Zigarettenspitze und den langen, baumelnden Ohrringen sofort aufgefallen. Man k¨onnte sie als extravagant bezeichnen. Auf mein Wort, fl¨ ustert sie verschw¨orerisch, hier gibt es die besten. Sie steigen einem direkt zu Kopf. Sie prostet mir zu, leert ihr Glas und zieht gen¨ ußlich an ihrer Zigarette. Die ersten Abende an Bord sind die besten, man hat noch alles vor sich. Ein bißchen so, als ob man jung ist – so wie Sie. Ich muß lachen, und die Pink Lady grinst. Emily taucht auf. Wir sollten an unseren Tisch gehen. Noch nicht, ich unterhalte mich gerade mit meiner Freundin – Shirley. Mit meiner Freundin Shirley. 65
Shirley schwenkt ihre Zigarette und verteilt den Rauch. Auf einer Kreuzfahrt findet man so viele neue Freunde. Ich habe drei meiner Exm¨anner auf Kreuzfahrten kennengelernt. Zwei waren Witwer und einer Zahlmeister auf dem Schiff. Die drei Exm¨anner lassen Em aufhorchen. Was ist ein Zahlmeister? erkundigt sie sich. Shirley schnaubt: Jemand, der darauf achtet, daß du zahlst. Aber seither bin ich ein guter Menschenkenner, das k¨onnen Sie mir glauben. Sehen Sie sich den zum Beispiel an. Sie deutet auf einen Mann, der sich mit der Kamera im Anschlag n¨ahert. Ich wette, der hat einen umwerfenden Charakter. Shirley l¨achelt anz¨ uglich. Der Mann mit der Kamera hat sie nicht geh¨ort und macht Anstalten, sich vorzustellen. Verzeihung, meine Damen. Ich bin Michael Schuster, der Bordfotograf. Britischer Akzent – der Typ mit den Tauen. In seinen engen schwarzen Jeans und dem Hemd mit offenem Kragen sieht er nicht u ¨bel aus. Er ist ein wenig ¨alter als ich und strahlt eine f¨ ur mich ungewohnte Weltgewandtheit aus – ganz bestimmt nicht die Sorte Mann, die man zum Beispiel mit einer Baseballkappe auf dem Kopf antreffen w¨ urde. Was mir besonders auff¨allt, sind seine H¨ande. Er hat starke, wundersch¨one, langgliedrige H¨ande und h¨alt damit seine Kamera wie ein Baby. Emily kneift die Augen zusammen. Haben wir Sie nicht an den Tauen gesehen? Oder war es beim Deckschrubben? Ihre Ironie entgeht ihm. Oder er ist daran gew¨ohnt. Hier herrscht ein strenges Regiment. Jeder muß alles machen. Erst heute nachmittag hat der Kapit¨an mir die Haare geschnitten. Er l¨achelt und hebt die Kamera. Miss, h¨ atten Sie etwas dagegen, wenn ich eine Aufnahme von Ihnen mache f¨ ur unsere neue Brosch¨ ure? 66
Sie wollen mich doch nicht fotografieren? sage ich. Genau das! Er fummelt mit dem Belichtungsmesser herum. Schon wieder diese H¨ande. Und jetzt bemerke ich auch seine Wimpern; sie sind so lang, daß sie Schatten auf seine Wangen werfen. Ich zwinge mich, derartige Details nicht zu beachten, aber ich frage mich doch: Wenn die Dinge nicht so w¨aren, wie sie sind, w¨ urde ich es mir dann erlauben, mit diesem Mann zu flirten? Aber weil die Dinge nun einmal so sind, weiß ich, daß ich es nicht darf. Er h¨alt mich vermutlich f¨ ur eine eingebildete Zicke, aber damit kann ich leben – immer noch besser, als ihm die Wahrheit zu sagen. Shirley stellt sich neben uns und drapiert ihre Stola. Mich k¨ onnen Sie jederzeit fotografieren. Ich habe schon einmal f¨ ur Herb Ritts Modell gestanden. Der Ausl¨oser klickt. Meine G¨ ute, fl¨ ustere ich Emily zu. Hier geht es zu wie auf dem Traumschiff. Jetzt wendet er sich wieder an mich. Sind Sie sicher? Ich – ich bin wirklich nicht in der Stimmung, h¨ ore ¨ ich mich zu meiner Uberraschung stottern. Warum wollen Sie u ¨berhaupt ein Foto von mir? Er gibt auf und tritt einen Schritt zur¨ uck. Nun, es tut mir leid. Ich hatte es als eine Art Kompliment gemeint. Nat¨ urlich ist es ein Kompliment, schaltet Emily sich ein. Meine Freundin leidet noch unter dem Jetlag. Es war eine lange Reise von Chicago. Woher kommen Sie? New York, sagt er in seinem etwas abgehackten Tonfall. Emily wirft sich in Positur, und er macht ein paar Bilder. Dieses M¨adchen ist f¨ ur die Kamera geboren. Sie klingen gar nicht wie ein New Yorker, sagt sie ihm.
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Eigentlich bin ich in Leeds aufgewachsen, aber jetzt arbeite ich außerhalb der Saison in New York. Super. Das ist ja nur zwei Stunden von Chicago entfernt! Langsam muß ich mich einschalten. Em ist wirklich zu schamlos. Chicago ist keineswegs zwei Stunden von New York entfernt, Emily. Mit dem Flugzeug schon. Eric taucht mit meinem n¨achsten Glas auf. Ich greife danach, kippe es herunter wie Shirley und benutze Eric als Ausrede, um mich loszueisen. Wir kommen zu sp¨at zum Essen, verk¨ unde ich. Im Weggehen h¨ore ich Michael zu Emily sagen: Was f¨ ur ein Problem hat Ihre Freundin denn? Vielleicht habe ich einfach ein Problem damit, daß jemand ein Foto von mir macht, das aller Voraussicht nach l¨anger existieren wird als ich. Aber Em erwidert: Nichts. Sie hat kein einziges Problem auf der großen weiten Welt. Auf der Circe gibt es vier Speises¨ale. Das Kapit¨ansdinner heute abend findet im Clubrestaurant statt, das mit Brokatst¨ uhlen, pfirsichfarbenen Tischdecken, dicken Teppichen und kleinen Lampen mit Schirmchen auf jedem der runden Tische ausgestattet ist, wie ein Cabaret. An einem Ende steht ein langer Tisch f¨ ur zehn Personen, an dem der Kapit¨an hofh¨alt, neben ihm Shirley, die zielstrebig darangeht, ihn zu erobern. Eric, Emily und ich finden unsere Pl¨atze zu Emilys großer Freude neben dem Ersten Offizier George. Am anderen Ende des Speisesaals entdecke ich Michael, den Fotografen, er geht von Tisch zu Tisch und macht Aufnahmen. Der Raum ist sanft beleuchtet, doch ich bemerke, daß er zu mir her¨ ubersieht. Aber vielleicht t¨ausche ich mich auch – in diesem Licht ist das schwer zu sa
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gen. Jedenfalls h¨alt er mich sowieso f¨ ur wunderlich, denn außer mir weigert sich niemand, sich knipsen zu lassen. Vielleicht bin ich eine Herausforderung f¨ ur ihn geworden, das einzige Objekt, das sich nicht von ihm einfangen l¨aßt. Ich konzentriere mich auf meine Langustenvorspeise, als er pl¨otzlich hinter meinem Stuhl auftaucht. Sehen kann ich ihn zwar nicht, aber irgendwie sp¨ ure ich seine Anwesenheit. Michael, machen Sie ein Bild von George und mir! ruft Emily, als sie ihn ersp¨aht. Er ber¨ uhrt leicht meinen R¨ ucken. Keine Sorge, Sie kommen nicht aufs Foto, ich nehme die beiden u ¨ber Ihre Schulter auf. Ich nippe an meinem Champagner und drehe mich nicht um, versuche, ihn zu ignorieren. Er ist eindeutig l¨astig. Emily gelingt es, George auf die Tanzfl¨ache zu lotsen, und Michael st¨ utzt sich auf die Lehne ihres Stuhls. Gewisse primitive V¨ olker wollen nicht, daß man sie fotografiert, weil sie f¨ urchten, das Bild k¨onnte ihre Seele auf das Papier bannen. Geh¨oren Sie zu einem dieser V¨olker? Ich halte mich nicht f¨ ur primitiv. Ich besitze einen Mikrowellenherd. Fotografie kommt mir einfach narzißtisch vor. Wer ist narzißtisch, der Fotograf oder sein Objekt? Das Objekt nat¨ urlich. Wer will schon sein eigenes Bild ansehen? Er lacht. Nun, das ist eine Erleichterung. Ich dachte schon, ich m¨ ußte Ihre Ablehnung pers¨onlich nehmen. Und dann ist er weg. Am n¨achsten Morgen unternehmen wir unseren ersten Abstecher an Land, einen Badeausflug an den Paradies¨ Strand auf Mykonos. Bei der Uberfahrt zum Hafen sauge ich den Anblick f¨ormlich auf. Die blendendweiß ge69
strichenen H¨auser mit den roten Ziegeln sehen aus wie Zuckerw¨ urfel, an den H¨ ugel geklebt und mit strahlendblauem Holz verziert, davor schaukelt ein Durcheinander von bunt gestrichenen Booten auf den Wellen. Auf einem Berg u uhlen in einer Reihe. ¨ber dem Hafen stehen Windm¨ Das Panorama ist wundersch¨on, wirkt aber ganz und gar nicht idyllisch oder malerisch – vor uns liegt eindeutig ein betriebsamer Hafen, auch wenn die Stahl-und-BetonBauwerke fehlen, die ich von zu Hause gew¨ohnt bin. Als wir das Ufer erreichen, klettern wir u ¨ber eine Leiter vom Wassertaxi ins flache, warme Wasser, Michael steht schon bereit und macht Fotos von uns allen. Nur von mir nicht. Vermutlich hat er gestern abend den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Emily posiert im Sand, und er steuert schon wieder in unsere Richtung. Vielleicht h¨ attest du Model werden sollen, meint Eric. Emily winkt Michael zu. Aber er geht an Emily vorbei auf mich zu. Das mit gestern abend tut mir wirklich leid, sagt er. Ich wollte Sie nicht ver¨argern und Ihnen wegen der Bilder auf die Nerven gehen. Er tr¨agt nur eine Badehose und ist gebr¨aunt und muskul¨os. Einen solchen K¨orper verdient man sich mit harter Arbeit und nicht vor dem Spiegel im Fitneßclub. Emily, m¨ utterlich wie stets, antwortet f¨ ur mich. Manchmal ist sie eben nicht in geselliger Stimmung, in Ordnung? Offensichtlich gibt es vor ihm kein Entrinnen. Du brauchst keine Entschuldigungen f¨ ur mich zu erfinden, Em. Manchmal bin ich eben nicht in geselliger Stimmung, wiederhole ich, das ist alles. Ich weiß, was Sie meinen. Mir geht es zeitweise ¨ ahn70
lich. Deshalb verstecke ich mich hinter der hier. Er h¨alt seine Kamera hoch. Emily starrt Michael an, dann mich, dann Eric. ¨ Ahm – ich sehe einen Eisverk¨aufer. Komm, wir ge hen , sagt Eric und zerrt Emily hinter sich her. Wir treffen uns dann am Strand wieder, Nick. Ihr Verhalten ist so gar nicht auff¨allig. Sind alle Fotos f¨ ur die Brosch¨ ure? frage ich Michael. Wir stehen nur Zentimeter voneinander entfernt, praktisch nackt. Pl¨otzlich frage ich mich, ob mein Bikini nicht vielleicht zu knapp ist. Ich zupfe am Oberteil. Eigentlich habe ich gerade Pause, sagt er. Ich sammle Fotos f¨ ur eine Ausstellungsmappe. In Soho gibt es eine Galerie, die gelegentlich neue Fotografen ausstellt. Werden dort Ihre Arbeiten gezeigt? Wir wandern in Richtung Strand und sehen schon von weitem ein buntes Treiben. Aus den umliegenden Bars dr¨ohnen die neuesten Hits. Wir schlendern an einem Querschnitt der gesamten Menschheit vorbei, jeder erdenkliche Typ ist vertreten: schwul, heterosexuell, gepierct, t¨atowiert, rasiert, was man sich nur vorstellen kann. Michael zielt mit seiner Kamera auf die ausgeflippteren Gestalten. Ich weiß noch nicht, ob ich wirklich gut bin, erkl¨ art er, w¨ahrend er die Blende einstellt. Wenn Sie es nicht versuchen, werden Sie es nie herausfinden. Er l¨achelt u ¨ber seine Kamera hinweg. Wenn ich jemals eine Ausstellung habe, m¨ ussen Sie unbedingt kommen. Seltsam, mir war gar nicht aufgefallen, daß er auf einer Seite ein Gr¨ ubchen hat – nur auf der einen Seite. Tut mir leid, murmele ich. Ich f¨ urchte, das wird sich nicht einrichten lassen. 71
Michael senkt die Kamera. Moment mal. Woher wollen Sie das wissen? Manche Dinge weiß man einfach. Zum Beispiel? Ich versuche, das Thema zu wechseln. Menschen, die sich hinter ihrer Kamera verstecken, haben etwas zu verbergen. Er greift in seine Kameratasche und reicht mir eine Flasche Sonnenmilch. Ich denke, Sie sollten sich eincremen. Die Sonne ist hier sehr stark. Er ist gut – er lenkt so elegant von meiner Bemerkung ab, daß es mir gar nicht aufgefallen w¨are, wenn ich nicht kurz zuvor das gleiche Man¨over versucht h¨atte. Ich nagle ihn fest. Sie schweifen ab. Wir haben gerade u ¨ber Sie gesprochen. Was sollte ich zu verbergen haben? Ich bin nur der Typ mit der Kamera. Jeder hat etwas zu verbergen. Manchmal sogar vor sich selbst. Zwei M¨adchen schlendern oben ohne vorbei. Michael zieht hinter seiner Sonnenbrille die Augenbrauen hoch. Die haben jedenfalls nicht viel zu verbergen. Ich kann nicht anders, ich fange an zu lachen – das erste richtige Lachen seit Wochen. Okay, lenke ich ein. Sie brauchen mir Ihre Geheimnisse nicht zu verraten, weil ich Ihnen meine nicht verraten werde. Ein fairer Handel. Es klingt wie eine Herausforderung. Aber ich werde ihm nie erz¨ahlen, was mit mir los ist. Vielleicht h¨atte ich gar nichts dagegen, fotografiert zu werden oder mich mit ihm zu unterhalten. Andererseits w¨are es mir absolut nicht recht, wenn er Mitleid f¨ ur mich empfinden w¨ urde. Er nimmt mir die Sonnenmilch aus der Hand. Wie ich sehe, sind Sie sehr dickk¨opfig. Er gießt einen Spritzer 72
Lotion in seine Hand und verreibt sie auf meinem Arm. Sie holen sich einen Sonnenbrand. Emily und Eric gehen direkt vor uns her. Ich trotte hinterher und versuche, sie einzuholen. Es ist ein gutes Gef¨ uhl, hier zu sein, u ¨ber den heißen, weißen Sand zu laufen. Die letzten Wochen haben nie stattgefunden. Ich verbanne sie f¨ ur alle Zeiten aus meinem Leben. Haben wir etwas verpaßt? erkundigt Eric sich. Ich wende mich an Michael. Michael verabreicht Sonnenmilchanwendungen. Emily l¨aßt ihren Tr¨ager heruntergleiten. Ich f¨ urchte, ich bekomme einen Sonnenbrand, genau hier, Michael, ruft sie u ¨ber ihre Schulter und streicht sich u ¨ber den Brustkorb. Michael holt uns ein und schaut auf ihr Dekollete. Da haben Sie wohl recht. H¨ uten Sie sich vor Bl¨aschen! Bitte sch¨on. Er wirft ihr die Flasche zu. Em lehnt sich zu mir her¨ uber und fl¨ ustert: Das war’s. Er hat den S¨auretest bestanden. Wenn ein Mann neben dir und mir steht und meine Brust ignoriert, kann das nur eins bedeuten: Er ist hundertprozentig hinter dir her. Meine Wangen brennen. Werde ich rot, oder ist das ein Sonnenbrand? Gl¨ ucklicherweise dr¨ohnt die Musik so laut, daß Michael wohl nichts bemerkt hat. Ich g¨onne mir den Luxus, mich v¨ollig normal zu f¨ uhlen, so zu tun, als ob ich so bin wie jede andere junge Frau, f¨ ur die sich ein Mann vielleicht, vielleicht aber auch nicht interessiert. Doch dieses Gef¨ uhl h¨alt nicht lange an. Ich muß an Tim und seine Reaktion denken. Wie w¨ urde ein Fremder reagieren, wenn er es w¨ ußte? Ob Michael oder irgend jemand sonst auf der Welt mich nun mag oder nicht, spielt im Grunde keine Rolle. F¨ ur mich wird das Ende immer gleich aussehen: Sackgasse. Vielleicht eine wenig geistreiche Wortwahl, aber es ist nun einmal die Wahrheit. 73
Pl¨otzlich f¨ uhlt sich der Sand sehr kalt an, und ich laufe durch die Menschenmenge zum Wasser hinunter. Eine Minute lang stehe ich einfach da und atme tief durch. Die See spielt um meine Kn¨ochel, ein Meer wie ein K¨atzchen, sanft und warm. Ich gehe in die Knie, dann springe ich kopf¨ uber in die Fluten und schwimme los. Es ist einige Zeit her, daß ich zum letzten Mal weite Strecken geschwommen bin, ich bewege einfach Arme und Beine, immer weiter, ruhig und gleichm¨aßig. Mein Gesicht ist unter Wasser, Salz brennt in meinen Augen. Ich habe keine Ahnung, wohin ich schwimme. Ich ziehe an anderen Schwimmern und ein paar kleinen Booten vorbei. Der Horizont sieht einladend aus. Ich steuere geradewegs darauf zu. Auf die offene See. Im Salzwasser bin ich schwerelos, wie in einer riesigen Geb¨armutter. Irgendwann schl¨agt eine Welle u ¨ber mir zusammen, ich schlucke Wasser. Hustend drehe ich mich um und erkenne nur noch schemenhaft das Ufer. Bin ich wirklich so weit geschwommen? Inzwischen bin ich m¨ ude und schnappe nach Luft. Was passiert, wenn ich es nicht zur¨ uck an Land schaffe? Ich schließe die Augen und lasse meinen K¨orner schlaff werden, ich hoffe, daß ich untergehe. Vielleicht ist es am besten, hier und auf diese Art zu sterben. Ich schlucke noch mehr Wasser und w¨ urge. Ein Teil von mir will einfach nachgeben, aufgeben. Aber ein anderer Teil k¨ampft trotz allem. Ich hebe den Kopf und sch¨atze die Entfernung. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich es nicht bis ans Ufer schaffe. Mittlerweile bin ich sogar so weit von den kleinen Booten entfernt, daß sie mich nicht mehr sehen k¨onnen. Emily und Eric glauben wahrscheinlich, daß ich am Strand spazierengehe. Ich trete Wasser und muß gegen mich selbst und gegen das Meer ank¨ampfen. 74
Pl¨otzlich greift aus dem Nichts eine Hand nach meinem Bikinioberteil und h¨alt mich an der Wasseroberfl¨ache. Ich werde in ein Boot gezogen und auf eine Schwimmweste gelegt. Dabei zerreißt mein Bikinioberteil, ich ringe nach Atem und spucke Salzwasser, aber ich bin in Sicherheit. Es ist Michael. Er beugt sich u ¨ber mich und klopft mir auf den R¨ ucken. Sind Sie verr¨ uckt geworden? schreit er. Hier draußen gibt es gef¨ahrliche Str¨omungen. Sie h¨atten direkt auf die offene See hinausgetrieben werden k¨onnen! Wem sagt er das. Ich setze mich zitternd auf, hole r¨ochelnd Luft, dann f¨allt mir auf, daß ich kein Oberteil anhabe. Ich kreuze meine Arme vor der Brust. Keine Sorge, das hier ist ein Oben-ohneStrand. Michael holt das Segel ein, dreht das Ruder, wir wenden und steuern auf den Strand zu. Das kleine Boot h¨ upft u ¨ber die Wellen. Geht es Ihnen gut? ruft Michael gegen den Wind an. Ich nicke. Ja, verehrte Damen und Herren, es geht mir gut, die Seifenoper ist vor¨ uber. Ich hatte die Chance, eine Abk¨ urzung zu nehmen, und habe mich f¨ ur den langen Weg entschieden. Ich hab aufgeschaut und gesehen, daß Sie aufs offene Meer zusteuern. Durch mein Teleobjektiv konnte ich erkennen, daß Sie in Schwierigkeiten waren, also habe ich mir dieses Boot ausgeliehen. Sie d¨ urfen niemals allein so weit schwimmen! Das ist viel zu gef¨ahrlich. In Zukunft werde ich vorsichtiger sein. Im flachen Wasser l¨aßt Michael das Segel los, das Boot verlangsamt seine Fahrt und stoppt. Er hilft mir beim Aufstehen; meine Beine sind wie aus Gummi. Ich wate unsicher an den Strand, w¨ahrend er das Boot an Land zieht. 75
Emily kommt herbeigelaufen. Wart ihr segeln? Ich bin neidisch. Verwundert starrt sie auf meine nackte Brust. Bist du zu den Eingeborenen u ¨bergelaufen? Ich habe mein Oberteil im Wasser verloren. Ich beginne zu zittern. Em kramt in ihrer großen Strandtasche und reicht mir ein T-Shirt, das ich u ¨ber meinen Tanga ziehe. Ich gehe jetzt Eric suchen. Ist bei dir alles in Ordnung? Ich nicke, und Emily marschiert von dannen. Michael reicht mir eine Cola. Hier, sp¨ ulen Sie das Salzwasser herunter. Er schaut mich pr¨ ufend an. Mir geht es gut, behaupte ich. Danke, daß Sie mich gerettet haben! Mir ging langsam die Puste aus. Als Michael sich abtrocknet, holt Emily die Kamera aus ihrer Tasche und reicht sie ihm. Alles wirkt so normal. Niemand ahnt, was beinahe passiert w¨are. Eine alte Frau in einem altmodischen schwarzen Kleid geht mit einem ausgefransten Strohkorb vorbei. Sehen Sie, was f¨ ur einen Kontrast sie zu den anderen Menschen hier bildet? fragt Michael und z¨ uckt die Kamera. Sie ist so klassisch und zeitlos, die anderen so modern und verr¨ uckt. Der Kontrast macht das Bild interessant. Der Ausl¨oser klickt, und sein Film spult weiter. Sie sind Fotograf – warum arbeiten Sie auf diesem Schiff? frage ich. Michael zieht die Schultern hoch. Ich mußte einfach weg, sagt er. Zu Hause hab ich es nicht mehr ausgehalten. Mein Vater hat mich unter Druck gesetzt, daß ich in unser Familienunternehmen einsteige. Was ist das f¨ ur ein Unternehmen? W¨ urste. Oh. Irgendwie kann ich Sie mir nicht f¨ ur den Rest Ihres Lebens mit W¨ ursten vorstellen. 76
Ich auch nicht. Aber mein Vater hat mir nicht zugetraut, daß ich es als Fotograf schaffe. Seine Stimme wird scharf. Zwischen uns sind harte Worte gefallen. Also habe ich mich auf eine Anzeige beworben und diesen Job angenommen. Ich habe eine Abmachung mit dem Kapit¨an: Wenn ich die Bilder mache, die sich die Reederei vorstellt, l¨aßt er mich die Bilder machen, die ich mir vorstelle. Ich bin von zu Hause weggekommen, kann reisen und dar¨ uber nachdenken, was ich wirklich tun will. Das deckt sich ungef¨ ahr mit dem Grund, warum ich hier bin. Sie laufen auch vor etwas davon? Das kann man so sagen. Was mag das sein? Ein Geheimnis. Eine geheimnisvolle Frau. Vielleicht verraten Sie mir Ihr Geheimnis. Ich weiß, daß etwas in Ihnen vorgeht. Ich bin Ihnen zum Wasser gefolgt, weil Sie am Strand so ungl¨ ucklich wirkten, als ob die Welt zu Ende ginge. Das habe ich Ihrem Gesicht angesehen. Warum sind Sie so weit hinausgeschwommen? Sie machen sonst gar keinen leichtsinnigen Eindruck. Sie sagen mir nicht die Wahrheit, habe ich recht, Nicole? Die Ereignisse sind nur ein wenig u ¨ber meinem Kopf zusammengeschlagen. Michael schaut auf die Uhr. Das kann man wohl sagen. Und das ist alles? Das ist alles. Er sch¨ uttelt den Kopf. Jedenfalls muß ich jetzt zur¨ uck zum Schiff. Meine Schicht beginnt. Wenn Sie wieder trocken sind, sollten Sie dar¨ uber nachdenken, ob Sie heute abend die Discos in der Stadt unsicher machen m¨ochten. Das w¨ urde Sie auf andere Gedanken brin
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gen. Wieder dieser forschende Blick; er sieht in mich hinein. Die Discos? Ich sp¨ ure, daß ein ausgelassener Abend mit Michael nur der Anfang von etwas anderem w¨are, mit dem ich nicht zurechtk¨ame. Der beste Laden ist das Pierro. Ich werde nach dem Abendessen dort sein und Aufnahmen machen. Vielleicht sehen wir uns? Vielleicht. Wir stehen da und schauen einander an. Er wartet auf meine Antwort, darauf, daß ich mitspiele. Noch einmal vielen Dank f¨ ur die Bootsfahrt. Also, falls Sie sich entschließen sollten, vorbeizukommen, ich bin der Typ mit der Kamera. Er grinst, ist aber offensichtlich verwirrt. Kein Wunder. Mein Verhalten ist schließlich nicht gerade logisch, h¨ochstens f¨ ur jemanden in einem Laborkittel, der sich in letzter Zeit meine Tomogramme angesehen hat. W¨ahrend Michael u ¨ber den Strand zum Wassertaxi l¨auft, betrachte ich seine Fußspuren im Sand. Nach einer Minute haben die Wellen sie fortgesp¨ ult, und als ich aufblicke, ist er verschwunden.
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Sechstes Kapitel
Die Stimme der Vernunft fl¨ ustert mir zu, das Pierro zu meiden. Es muß doch noch andere Lokale geben, in denen man sich vergn¨ ugen kann, Lokale, in denen ich mich nicht unbehaglich f¨ uhle, weil ich Michael u ¨ber den Weg laufen k¨onnte. Inzwischen ist mir eines ziemlich klar: Wenn ich ihn noch ¨ofter sehe, werde ich meine Situation erkl¨aren m¨ ussen, und das wird katastrophale Folgen haben. Aber das Gespann Emily, Eric und Shirley reißt mich mit wie eine Naturgewalt. Wenn ich nicht mit ihnen gehe, muß ich den Abend allein an Bord verbringen, und ich bin bestimmt nicht den weiten Weg nach Griechenland gereist, um einsam in meiner Kabine zu hocken, Whirlpool hin oder her. Shirley ist schon ¨ofter im Pierro gewesen und behauptet, daß sich dort die Szene trifft, eine dem Pantheon mindestens ebenb¨ urtige Attraktion, die man auf keinen Fall vers¨aumen darf. Nat¨ urlich gibt es noch mehr heiße L¨aden, meint sie. Die Windmill Disco und noch ein paar andere, das wechselt von Jahr zu Jahr, aber ich mag das Pierro. Es liegt an der Hauptstraße und wird von den Reichen und Sch¨onen frequentiert. Shirley muß es wissen. Emily hat sich f¨ ur diesen Anlaß gruftim¨aßig ausstaffiert: langer schwarzer Rock, Schlitz bis zur H¨ ufte, kombiniert mit einem winzigen T-Shirt, das ihren gepiercten Nabel freigibt, und ein Sammelsurium von Kreuzen, die 79
an Ketten um ihren Hals klimpern. Ihr Haar ist, Eric sei Dank, zu Z¨opfen geflochten. Ich trage ein kurzes weißes Kleid, die Haare habe ich mit Gel nach hinten gek¨ammt. Dank meiner frischen Sonnenbr¨aune sehe ich ziemlich gut aus – zumindest von außen. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, erscheint es mir unm¨oglich, daß im Inneren meines Kopfes ein Selbstmordkommando am Werk sein soll. Eine positive Entwicklung kann ich allerdings vermelden: Die Kopfschmerzen sind dank der Steroide und der Tablettencocktails unter Kontrolle, und ich w¨ urde gern glauben, daß ich diese Sache vielleicht – sehr vielleicht – besiegen kann. Na gut, gehen wir also ins Pierro. Die Stadt ist ein Labyrinth aus belebten Gassen. Autos sind hier verboten, und nach Einbruch der Dunkelheit verwandelt sich der ganze Ort in eine riesige Party – Musik dr¨ohnt aus Dutzenden von Clubs den Hafen entlang und den H¨ ugel hinauf, Menschen schw¨armen weithin h¨orbar durch die Straßen. Das Pierro ist das u ullteste ¨berf¨ Lokal von allen. Ich schaffe es noch nicht einmal, mich hineinzuzw¨angen, also lasse ich mich zusammen mit Emily in einem kleinen Caf´e auf der anderen Straßenseite nieder, wo ich durch die großen Fenster die Lage peilen kann. Irgendwie ist es Shirley und Eric nicht nur gelungen, sich einen Weg auf die Tanzfl¨ache zu bahnen, die beiden haben sich gleich bis ganz nach vorn durchgek¨ampft, wo sie auf einem riesigen Lautsprecher herumwirbeln. Auf einem anderen Lautsprecher tanzt ein wie Marie Antoinette ausstaffierter Transvestit in einem Kost¨ um, bestehend aus Brokatkleid und riesiger gepuderter Per¨ ucke mit einem Vogelk¨afig obenauf. Emily st¨oßt mich an. Schau mal, wer da ist! Michael verl¨aßt mit seiner Kamera den Club, entdeckt uns und arbeitet sich durch die Meute zu unserem Tisch 80
vor. Er tr¨agt ein blaues Baumwollhemd mit aufgerollten ¨ Armeln, dazu Jeansshorts, die seine wohlgeformten Beine zur Geltung bringen. Sobald ich ihn sehe, vergesse ich umgehend, daß ich ihm heute nacht eigentlich aus dem Weg gehen wollte. Ich habe eine tolle Aufnahme von Marie Antoinet te , erz¨ahlt er aufgeregt. F¨ ur die Brosch¨ ure? frage ich. Nein, daf¨ ur habe ich Shirley geknipst, erwidert er lachend. Sie ist meiner Bitte nur zu gern nachgekommen. Marie Antoinette ist f¨ ur meine Privatsammlung. Eric taucht v¨ollig durchgeschwitzt an unserem Tisch auf. Shirley ist von einem Grafen aufgefordert worden. Jetzt bist du dran, Emily. Er nimmt ihre Hand und f¨ uhrt sie durch die Menge, Michael und ich bleiben zur¨ uck. Also, setze ich an, ist Ihre Schicht schon vorbei? Er sieht auf die Uhr. In drei Minuten habe ich es hinter mir, aber ich u uher ¨berlege gerade, ausnahmsweise fr¨ Feierabend zu machen. Was halten Sie von einem kleinen Abstecher? Wohin? An einen besonders exklusiven Ort. Wenn ich ganz ehrlich bin, ist mir pl¨otzlich v¨ollig egal, wohin wir gehen, denn in diesem Augenblick ist es f¨ ur mich einfach selbstverst¨andlich, daß ich mit Michael gehe, ganz gleich wohin. Handle ich egoistisch? In Anbetracht der Umst¨ande vielleicht. Aber, so u ¨berzeuge ich mich selbst, was kann falsch daran sein, die Gesellschaft eines Mannes zu genießen, mit dem man sich offensichtlich gut versteht? Und war das nicht u ¨berhaupt der Grund, warum ich nach Griechenland gekommen bin – um einmal egoistisch zu sein? W¨ahrend wir uns einen Weg durch das Get¨ ummel bahnen, muß Michael meine Hand festhalten, damit wir 81
uns nicht verlieren. Wir gehen an einem Dutzend Bars vorbei, vor denen sich jeweils Menschenmengen dr¨angen. Ich bin froh, daß Michael die F¨ uhrung u ¨bernommen hat, denn in dieser Stadt k¨onnte man sich leicht verlaufen. Die Straßen scheinen wie ein Irrgarten, gewunden und voller Menschen. Es gibt keine Autos, nur Menschen, und gelegentlich streift eine Katze meine Beine, die vorsichtig durch den Pulk schleicht. Wie finden Sie sich hier nur zurecht? frage ich, w¨ahrend wir eine weitere verwirrende Kurve umrunden. Ich habe inzwischen vollkommen die Orientierung verloren. Michael lacht. Die Stadt wurde fr¨ uher aus einem ganz bestimmten Grund so angelegt. Zum Schutz vor Piraten. Die Kykladen waren ein beliebter Anlaufpunkt f¨ ur Pl¨ underer. Vermutlich glaubten die Bewohner, wenn sie die Angreifer gen¨ ugend verwirrten, w¨ urden sie von allein das Weite suchen. Die Geb¨aude waren damals dunkel angestrichen, damit sie den vorbeisegelnden Freibeutern nicht ins Auge fielen. Wir n¨ahern uns dem Hafen. Dutzende unterschiedlich großer Schiffe liegen mit Festbeleuchtung vor Anker. Die Menschenmenge verl¨auft sich. Wir wandern u ¨ber einen kleinen H¨ ugel und erreichen schließlich eine breite Hafenmauer, vor der sich an Felsbrocken die Wellen brechen. Wohin gehen wir? frage ich. Michael bleibt stehen. Genau hierher. Hier ist die Tanzfl¨ache nicht so u ullt. Er klettert auf die Mauer, ¨berf¨ reicht mir seine Hand und zieht mich nach oben. Die Musik in der Ferne wird durch die Ger¨ausche des Meeres ged¨ampft, aber die Lieder kreisen um uns herum, als ob die Noten von den Sternen herabschweben und auf dem Wasser treiben w¨ urden. Michael streckt die Arme aus und l¨adt mich zum Tanzen ein. 82
Ich glaube nicht, daß Sie die noch brauchen. Ich nehme ihm die Kamera ab und deponiere sie auf einem Vorsprung. Was machen Sie jetzt ohne Ihr Schutzschild? Vermutlich bin ich Ihnen hilflos ausgeliefert, sagt er und lacht. Ich trete n¨aher, und wir beginnen zu tanzen. Gut, sage ich. Dann sind wir ja quitt. Ich schmiege mich in seine Arme, wir bewegen uns ganz langsam. Mein Kopf sinkt an seine Schulter, ich f¨ uhle sein Herz schlagen. Seine Hand liegt auf meinem R¨ ucken, und ich bin auf einmal sehr froh, daß Tim mich auf dieser Reise nicht begleitet. Es ist seltsam, daß es sich trotz der Jahre mit Tim so nat¨ urlich anf¨ uhlt, mit Michael zusammenzusein, seine N¨ahe zu sp¨ uren. Aber dann sage ¨ ich mir, daß er vermutlich Ubung hat. Bringen Sie alle M¨adchen hierher? Nein, sagt er in mein Haar. Nicht alle M¨ adchen. Nur eine Frau. Frau. Er sieht mich als Frau – was jedes M¨adchen f¨ ur die Zukunft als selbstverst¨andlich voraussetzt und ich nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Unsere Gesichter sind so eng beieinander, daß ich seinen Atem f¨ uhle, und er muß meinen sp¨ uren. Ich schließe die Augen und versuche, mich zu entspannen, was mir tats¨achlich irgendwie gelingt. Ich kann mir nicht helfen, ich empfinde etwas Neues. Vielleicht bin ich ja verr¨ uckt. Da bin ich nun in einem Land und einer Stadt, in der ich noch nie zuvor war, in den Armen eines Mannes, den ich kaum kenne, und habe auf einmal das Gef¨ uhl, zu Hause angekommen zu sein, als ob ich hierher geh¨orte, in diesem Augenblick. Mit ihm. Die Nacht umf¨angt uns, und ohne Zweifel befinden wir uns in einer sehr romantischen Umgebung. Ich w¨ urde am liebsten das Atmen einstellen aus Angst, die perfek
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te Balance dieses Augenblicks zu zerst¨oren. Wir sind wie zwei Magneten. Es gibt Seiten an uns, die sich anziehen, aber wir bieten einander zuerst die entgegengesetzten Pole, die sich abstoßen – obwohl uns beiden bewußt ist, daß sich alles mit der leichtesten Verschiebung der Balance ¨andern wird. Michael schmiegt sich an mich und gibt mir einen sanften Kuß, leicht wie ein Bl¨ utenblatt. Auf gewisse Art ist er sehr zur¨ uckhaltend – respektvoll, fast altmodisch, als ob er um Erlaubnis bittet f¨ ur etwas, von dem wir beide wissen, daß es unausweichlich ist. Dabei u ¨berschreiten wir keine Grenzen. Und dennoch tun wir beide in diesem Augenblick genau dies. Wir erwischen das letzte Wassertaxi zum Schiff, und ich schl¨ upfe so leise wie m¨oglich in unsere Suite. Ohne Erfolg. Beim ersten Ger¨ausch des Schl¨ ussels im Schloß wird Emily wach und setzt sich im Bett auf. Mein Gott, murmelt sie verkatert, beinahe h¨ atte ich mir Sorgen gemacht. Du warst pl¨otzlich verschwunden. Schhhh – leg dich wieder hin! Ich will mir nur meine Turnschuhe holen. Ich klettere in das Kr¨ahennest. Was zum Teufel ist ein Kr¨ ahennest? Das weiß ich nicht so genau – jedenfalls bin ich dort mit Michael verabredet. Mit einem Schlag ist sie hellwach. Was!! Mit den Turnschuhen in der Hand mache ich mich aus dem Staub. Wie viele Herzschl¨age dauert es, bis man einen Mastkorb (denn darum handelt es sich bei einem Kr¨ahennest) erklommen hat? Ich glaube, es ist mein Herz, das diese Frage stellt, denn es schl¨agt viel schneller 84
als sonst, w¨ahrend ich mit Michael den Mast hinaufklettere. Seine Hand liegt auf meinem R¨ ucken, der Wind f¨ahrt durch mein Haar und l¨aßt die weißen Schaumkronen tief unter uns auf und ab tanzen. Wie hoch sind wir? erkundige ich mich mutig. Einen bis anderthalb Meter. Immer einen Schritt nach dem anderen. Wir schieben uns millimeterweise nach oben. Einhundert bis einhundertf¨ unfzig Meter, meinst du wohl. Nun, ich wollte dich ja nicht mit nach oben nehmen. Das verst¨oßt gegen s¨amtliche Vorschriften. Aber wir haben es fast geschafft. Schau jetzt nur nicht nach unten! Und was immer du tust, st¨ urz mir nicht in die Tiefe. Wenn du f¨allst und sie erfahren, daß ich dich mitgenom¨ men habe, k¨onnte ich eine Menge Arger bekommen. Wir schaffen es in den Mastkorb, und ich klammere mich an den Seitenw¨anden fest, Michael hat seine Arme um mich gelegt. Noch nie habe ich mich so sicher gef¨ uhlt. Hier oben ist der friedlichste Ort auf der ganzen Welt, verk¨ undet er. Es ist wundervoll. Ich sehe die Lichter des Hafens und der Stadt vor mir, ausgebreitet wie der Inhalt einer Schmuckschatulle, der sich den H¨ ugel hinab ergießt. Mich u uhl, daß es mir vorbestimmt war, in ¨berkommt das Gef¨ diesem Augenblick mit Michael genau hier zu sein, auf diesem Schiff einen Platz zu buchen, nach Griechenland zu fliegen, den Dartpfeil genau an diese Stelle auf der Landkarte zu werfen. Du hast doch nicht etwa Angst? fragt Michael. Ich denke zur¨ uck ans Krankenhaus, an die Infusionen, den Computertomographen, die Krankenbl¨atter und die ¨ Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern der Arzte. Wovor sollte ich mich da noch f¨ urchten? Absolut nicht. 85
Nun, sagt er, aber ich. Wovor? Vor uns. Dir und mir. Die Sache geht mir ein bißchen zu schnell. Das verstehst du nicht, berichtige ich ihn. Eigentlich geht sie nicht schnell genug. Nicki, wir haben alle Zeit der Welt. Ich sollte es ihm sagen. Aber was passiert, wenn er es erf¨ahrt? Wozu sollte es gut sein? Ich sehe noch den Ausdruck auf Tims Gesicht. Nein, ich werde Michael nichts sagen. Niemals. Ich sp¨ ure seine Lippen in meinem Haar und wende mich ihm zu. Diesmal ist sein Kuß gar nicht sanft und s¨ uß. Nicht wie auf einer kitschigen Geburtstagskarte. Mehr wie ein Zusammenprall, dem man nicht ausweichen kann. Wir k¨ ussen uns und halten einander lange in den Armen. Es gibt nur Michael, die Sterne und mich. Ist das okay? fragt Michael mit sanfter Stimme. Ich kann nur nicken, weil es einerseits in Ordnung ist und andererseits nicht. Ich spiele mir und diesem Mann etwas vor, und er weiß es nicht. Mir ist klar, daß das weder ihm noch mir gegen¨ uber fair ist, aber ich kann mich nicht zwingen, nicht bei ihm sein zu wollen, ihn nicht zu halten, mich nicht in ihn zu verlieben. Es ist irrational und doch perfekt. Aufregend und schrecklich zugleich. Wunderbar und f¨ urchterlich. Aber ich will es mehr als alles, was ich mir je gew¨ unscht habe. Ich habe keine andere Wahl, als es zuzulassen. Als ich die Augen wieder ¨offne, ist die Nacht fast vor¨ uber, der Himmel beginnt zu leuchten, die ersten Sonnenstrahlen k¨ undigen sich an. Ich w¨ unschte, ich k¨onnte die Sonne u unschte, die ¨berreden, nicht aufzugehen. Ich w¨ Zeit w¨ urde stehenbleiben, es w¨ urde nie ein neuer Tag anbrechen.
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Junge Dame, sagt Michael, wir m¨ ussen Sie wie der sicher auf Deck bringen. Ich liege immer noch in seinen Armen, und keiner von uns beiden bewegt sich. Die Crew steht jeden Moment auf – eigentlich d¨ urftest du gar nicht hier oben sein. W¨ahrend er spricht, taucht eine Gestalt in weißer Uniform auf. Das ist George, der die morgendliche Checkliste durchgeht. George verschwindet wieder unter Deck, und wir klettern vorsichtig den Mast hinunter. Auf dem langen Abstieg f¨ urchte ich mich u ¨berhaupt nicht vor der Tiefe. Oder vor sonst etwas.
Sp¨ater am Tag muß Emily mich aus dem Bett zerren, damit ich den Ausflug nach Delos nicht verpasse. Wir nutzen den Shuttleservice in den Hafen von Mykonos, von dort bringt uns die F¨ahre in vierzig Minuten nach Delos. Ich kann nicht glauben, daß du das alles beinahe verschlafen h¨attest, sagt Emily, als wir auf der F¨ahre stehen. Delos! Die Insel galt als einer der heiligsten Orte des antiken Griechenland. Stell dir vor, das ganze Eiland ist ein einziges arch¨aologisches Museum! Es soll unglaublich sein. Sie h¨alt mir ihren Reisef¨ uhrer hin. Lies. Ich muß zugeben, daß ich immer noch benommen von der letzten Nacht bin. Der Abend war wie ein Traum. Ist mir das wirklich passiert? Emily sieht mich an. Also, was war los? Sie kneift Eric in die Seite. Ich habe vor lauter Sorge kein Auge zubekommen. Sie kam erst in die Kabine, als es draußen schon hell wurde. Tats¨ achlich? Eric zieht die Augenbrauen hoch. Hast du mit ihm geschlafen? Nein! Er war ein perfekter Gentleman. 87
Mit anderen Worten, er ist schwul, vermutet Eric. Ganz bestimmt nicht, protestiere ich und ziehe Eric eins mit dem Reisef¨ uhrer u ¨ber. Dein Pech! Muß ich wirklich mein Sexualleben auf einem Schiff voller Menschen diskutieren? M¨ ussen sich eure Gedanken denn immer auf Gossenniveau bewegen? Ein wacher Verstand will nun einmal immer alles ganz genau wissen, gibt Eric zu bedenken. Wenn ihr unbedingt darauf besteht: Wir sind in das Kr¨ahennest geklettert. Was zum Teufel ist ein Kr¨ ahennest? Emily ist inzwischen der Verzweiflung nahe. Ich glaube, das ist der Ort, an dem ich mich verliebt habe. Was! Liebe! Einzelheiten, ich will Einzelheiten! Es gibt keine. Ruhig beginne ich, den Reisef¨ uhrer zu studieren. Em will ihn mir aus der Hand reißen. In einem Moment wie diesem kannst du nicht lesen! Ich drehe mich in meinen Sitz und weiche ihr aus. Selbstverst¨ andlich kann ich das. Hmm. Hier steht, daß die Athener im Jahr 426 vor Christus alle Geburten und Todesf¨alle auf der Insel Delos durch ein Edikt verboten haben. Ich klappe das Buch zu und gebe es Emily zur¨ uck. Perfekt. Ich brauche einfach nur auf Delos zu bleiben, und schon sind meine Probleme gel¨ost. Gute Idee, stimmt Em mir zu. Die F¨ahre legt an, s¨amtliche Passagiere springen auf. Emily nimmt meinen Arm. Du mußt uns alles erz¨ahlen. Was meinst du mit verlieben? will Eric wissen. Ich w¨ unschte, ich k¨onnte es euch erkl¨aren, aber das kann ich nicht.
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Du k¨onntest es doch wenigstens versuchen, bohrt Emily weiter. Zuerst muß ich es selbst verstehen. Zwar habe ich in den letzten Jahren meine Gedanken immer mit Eric und Emily geteilt, doch meine Gef¨ uhle f¨ ur Michael w¨ urde ich gern f¨ ur mich behalten, zumindest im Augenblick. Alles ist so neu und so anders verglichen mit meinen Empfindungen f¨ ur Tim, als ich ihn kennenlernte und sogar auf dem H¨ohepunkt unserer Beziehung. Tim war einer von uns, jemand, der in mein Leben hineinpaßte, ein Freund eben. Auf Michael trifft nichts davon zu. Das wirft die Frage auf: Was genau ist er eigentlich? Und was, wenn u ¨berhaupt, bedeute ich ihm? Wir verlassen die F¨ahre, schieben uns am Fahrkartenschalter vorbei und verbringen die n¨achsten drei Stunden damit, die Sehensw¨ urdigkeiten zu besichtigen. Als erstes suchen wir einen Markt auf, wo jahrtausendealte ¨ Uberreste von Bauwerken stehen. Emily verliebt sich auf der Stelle in die L¨owenterrasse. F¨ unf antike, verwitterte Steinl¨owen von urspr¨ unglich sechzehn halten Wache. Die alten Griechen wußten, wie man mit Tieren umgeht, verk¨ undet sie respektvoll, als wir uns gegenseitig vor den L¨owen fotografieren. Sie haben sie verehrt. Von hier geht es weiter zum Heiligen See und dann zu Ausgrabungen von Villen. Eric erkl¨art das Haus der Kom¨odianten zu seinem Lieblingsgeb¨aude. Schließlich be¨ sichtigen wir die Uberreste eines Theaters, in dem fr¨ uher u unftausend Menschen Platz fanden. Es ist unglaub¨ber f¨ lich, soviel Geschichte auf einer kleinen Insel konzentriert zu finden und sich vorzustellen, daß diese Ruinen vor langer Zeit mit Leben erf¨ ullt waren und nun nur noch ein Teil der Vergangenheit sind. Wenn ich dar¨ uber nachdenke, ist mir nicht nach Reden zumute. Ich nehme einfach alles in mir auf. Zum ersten Mal seit der Zeit im Kran
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kenhaus habe ich das Gef¨ uhl, daß mein Leben wieder eine Perspektive bekommt. Ich f¨ uhle mich nicht mehr wie ausgestoßen. Inzwischen ist mir klargeworden, daß es ein Muster gibt – alles hat seine Zeit, und irgendwann ist sie abgelaufen. Niemand, ganz egal wer, kann diesen endlosen Kreislauf aufhalten. Ich kann es nicht, genausowenig wie es die f¨ unftausend Menschen konnten, die einst hier in diesem Theater zusammenkamen. Die alten Griechen gingen mit dem Unausweichlichen um, indem sie sich Rituale und G¨otter schufen. In gewisser Weise hatten sie es gut. Wir m¨ ussen all das ganz allein f¨ ur uns herausfinden. Die n¨achste Gelegenheit, Michael zu sehen, ist beim Mittagessen, einem Buffet auf dem Promenadendeck der Circe. Griechische Volksmusik erklingt, die meisten Passagiere tragen Badeanz¨ uge oder Shorts. Shirley belegt Eric mit Beschlag und zeigt ihm, wie man mit einer Serviette tanzt. Der Kapit¨an, George und die Offiziere gehen zwischen den Gruppen umher, der Kapit¨an steuert auf Emily und mich zu. Genießen die Damen die Reise? fragt er und l¨aßt sein strahlendweißes L¨acheln aufblitzen, das nach Erics Diagnose komplett aus Jacketkronen besteht. Der Mann sieht so aus, als ob er unter Tausenden von Bewerbern f¨ ur diese Rolle ausgew¨ahlt worden w¨are. Er betrachtet Emily durch seine Sonnenbrille. Sehr, antworte ich. Haben Sie schon unsere griechischen Spezialit¨ aten gekostet? Auf diesem Schiff servieren wir die beste Mous¨ ais. saka der ganzen Ag¨ Oh ja, schw¨ armt Emily, die nur Salate ißt. Ich liebe Moussaka. Vielleicht glaubt sie, daß er von einer griechische Salatsorte redet. 90
Heute findet nach dem Lunch ein Unterhaltungsprogramm statt, bei dem sich alles um die Odyssee dreht. Einige Orte aus den alten Geschichten laufen wir bei dieser Kreuzfahrt an. Vielleicht gef¨allt es Ihnen. Ich bin auf jeden Fall dabei, versichert Emily. Und wenn Sie sich die Sehensw¨ urdigkeiten ansehen, Ladys, rate ich Ihnen zur Vorsicht. Junge Damen wie Sie sollten sich in acht nehmen, insbesondere im Umgang mit M¨annern. Dabei schaut er mich an. Mir ist klar, daß er u ¨ber meinen Ausflug in den Mastkorb informiert ist. Der Kapit¨an wendet sich anderen G¨asten zu, und ich erwische Michael. Hallo. Er blickt stur geradeaus. Ich arbeite, sagt er, w¨ahrend er das Objektiv wechselt. Wann k¨ onnen wir miteinander reden? Ich weiß nicht. Er l¨ aßt mich stehen und fotografiert eine Obstschale. Stimmt etwas nicht? Dabei ist es offensichtlich, daß etwas nicht stimmt. Ich weiß, daß ich interessanter bin als eine aufgeschnittene Mango. Nein. Ich muß nur arbeiten. Er versteckt sein Gesicht hinter der Kamera und dr¨ uckt auf den Ausl¨oser. Der Schutzschild steht wieder zwischen uns. Verdammt noch mal, Michael, soll das ein Spiel sein? In dem Fall habe ich n¨amlich keine Lust mitzuspielen. Ich kann im Augenblick nicht reden, erkl¨ art er. Michael! bellt der Kapit¨ an, und Michael wendet sich abrupt ab. Was hat er denn? erkundigt sich Emily. Wer weiß? Irgendwas. Sieht ganz danach aus.
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Ich folge ihm aus der Lounge in einen Gang. Es ist eng, und unsere K¨orper ber¨ uhren sich beinahe. Also? will ich von ihm wissen. Widerstrebend wendet er sich mir zu. H¨or zu, Nicki, wenn ich mit dir spreche, gehe ich ein großes Risiko ein. Genau wie ich. Mir ist es n¨ amlich gar nicht recht, daß ich das Bed¨ urfnis habe, mit dir zu sprechen. Ich bin auf diese Reise gegangen, um Spaß zu haben, alles in meinem Leben zu vergessen, jeglichen Streß hinter mir zu lassen. Michael reibt sich die Stirn. Nicki, es geht um meinen Job. Der Kapit¨an h¨atte mich fast kielholen lassen. Ich weiß, daß er uns gesehen hat. Das ist nicht gut, oder? ¨ Nein. Uberhaupt nicht gut. Mitgliedern der Crew ist es verboten, mit den Passagieren zu – wie hat er es genannt? – >fraternisierenFraternisieren