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Norben Fischer / Dieter Hattrup (Hrsg.)
Schöpfung, Zeit und Ewigkeit Augustinus: Confessiones 11-13
Ferdinan...
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Norben Fischer / Dieter Hattrup (Hrsg.)
Schöpfung, Zeit und Ewigkeit Augustinus: Confessiones 11-13
Ferdinand Schöningh Paderborn . München ' Wien ' Zürich
Tuelbild:
'VA :006.
Benouo Gozzoli. [kr heilige Augustinus als Lehrer. Fresko in der C hitsa di Sant' Agostino in San Gimignano bei Florenz
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Bibliografische Information Dcr Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek vCr7.e1Ms wird auch auf die Werkangabe: verzichtet, so daß nur Buch- und Paragraphennununem angegeben werden: etwa 11. Buch, P"'8"'ph 27, 11,27.
Confessiones,
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32 C Agustin Corti Sinn des zeitlichen Treibens eines endlichen Wesens vor dem ewigen Gott, eröffnet das elfte Buch. Innerhalb dieser Koordinaten erhebt sich für Augustinus die Frage nach dem Sein der Zeit. Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht darin, die Rolle der Ewigkeit in der Zeituntersuchung auszuloten. Der Begriff der Ewigkeit soll zunächst aus diesem erweiterten Rahmen des ganzen elften Buches rekonstruiert bzw. einige seiner unterschiedlichen textimmanenten Funktionen in Bezug auf die Zeit analysiert werden. Danach wird die Interpretation der Zeituntersuchung Augustins in Heideggers Frühwerk dargestellt und problematisiert. Daraus soll ein Beitrag zur wirklichen Auslegung des elftes Buches bei Heidegger geleistet werden, nicht aus einer fehlerhaft reko nstruierten, diskreditierenden Vorstellung von der Philosophie Heideggers. Vor allem darf die Wirkungsgeschichte nicht mit den Grundtexten verwechselt werden.
1. Die ,distentio animi' als Zeichen der Ewigkeit Bereits im Proömium der Confessiones des Augustinus heißt es, die Menschen seien trotz ihrer Sterblichkeit auf Gott hingeschaffen. Wenn Augustinus am Anfang des elften Buches diese Annahme wieder aufnimmt, kehrt er die Fragestellung zum Bezug der Ewigkeit auf die Zeit um. Die berühmte Passage vom Anfang der Confessiones .. tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te er inquietum est cor nostrum, do nec requiescat in te"(l,l), die man den basso continuo des Werkes nennen kann, tritt im elften Buch vertieft zu Tage. Die ersten Paragraphen des elften Buches analysieren auf verschiedene Weise, was ,Ewigkeit' für das Vergängliche bedeutet. Daß die Frage ,quid est tempus?' in der Reflexion über die Ewigkeit Gottes und im Schöpfungsbericht vorkommt, bedeutet: der Ko ntrast zwischen Ewigkeit und Zeit strebt nicht vorzüglich eine Klärung des Seins der Zeit an. sondern die Aufklärung des Bezugs von Gott zum Menschen. Da das Denken von der menschlichen Seite betrieben wird, trägt es auch die Bestimmung des Endlichen. Die Betrachrung über die Zeit macht einen selbstständigen, sogar den zentralen Teil des elften Buches aus, fungj,ert aber trotzdem nicht als sein einziges Ziel.
a) Ewigkeit als beständige Gegenwart Wenn Augustinus clie Ewigkeit von Gott aussagt, greift er auf eine lange platonisch und neuplatonisch geprägte Geschichte zurück. Die kosmologj,sche Tradition. clie sich auf Betrachrungen in Platons Thimaios und Plo rins Enneade IlI, 7 beruft, bestimmt zweifellos die Grundlage von Augustins Frage. Unter dem
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Ewigkeit und Zeit 33 Blickwinkd des Anliegens. über die Schöpfung Gottes nachzudenken, erscheinen die einleitenden Paragraphen nicht befremdlich. Augustinus bleibt aber nicht o hne weiteres bei dieser Überlieferung. Seine Zeitbetrachtung erhält dabei ihre eigene Betonung. Im Anklang an die neuplatonische Überlieferung der kosmologischen Untersuchung über die Entstehung der Welt, kommt Augustinus zur Ewigkeit Gottes und zugleich zur Zeit, die das menschliche Wesen durchaus bestirrunt. Jedoch betont Augustinus bereits im zweiten Paragraphen einerseits die Kos tbarkeit der Zeit (11,2: "cara mihi valent stillae temporum'j und andererseits seine Absicht, das Wort Gottes (ebd.: ,,lnardesco meditari in lege rua'j ausgehend von der Schö pfung zu bedenken (11.3: ..ab usque principio. in qua fecisti caelum et terram'j.l. Die Veränderlichkeit des Geschaffenen führt zu einem Parado xon: obwohl der unveränderliche Gon die Wdt geschaffen hat, fangt alles in der Welt einmal an und hö rt irgendwann auf zu sein. Obwohl dem Geschaffenen Beharrlichkeit feWt, finden sich bei ihm doch als Kriterien das Schö ne. das Gute und das Sein, die auf die Schönheit, die Güte und das Sein Gottes verweisen. Das Endliche hängt ganz von seinem Schöpfer ab und besitzt im Vergleich mit ihm diese Prädikate nur im Modus der Defizienz.15 Wie hat Gott also diese Welt schaffen kö nnen, wenn er uns andersartig als sie erscheint, wenn er das ewige Sein und die Welt ihrerseits vergänglich ist? Die Antwort Augustins besagt im Anklang an die biblische Tradition, Gott habe die Welt in seinem Wort geschaffen. Dieser neue Aspekt führt nun zu einem wichtigen Punkt, in dem die Ewigkeit des Wortes Gottes beto nt wird - im Unterschied zum Sprechen des Menschen. das in der Zeit stattfindet. Bereits hier wird die Wandelbarkeit des Zeitlichen im Vergleich zur Beharrlichkeit des Ewigen festgestellt; und auf diesem Boden setzt die Zeiruntersuchung ein. Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit (11.8: .. 'verbum autem' dei mei supra me .manet in aetemwn"j. Anders als menschliche Worte beginnt und endet das ewige Wort nicht (11,9). An dieser Stelle geht Augustinus einen Schritt weiter und behauptet, das Wort Gottes sei zeitlich und nicht ewig, wenn es votübergin-
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Im fünften Pangn.phen fo rmuliert AugusUnus urunittelbar im Anschluß an du Proömium erneut sW1 Ziel; ..audiam et intelligam. quomodo .in principio' fecisti ,caelum et teuam'" (li , 5). Dennoch besagt w.s H örm und Einsehm nicht die Anna.hme einer gegebenen Wahrheit. vielmehr soU ctie Auslegung im Lichte der Wahrheit s~tt6nden. Zwischen dem. was but AugusUns Kenntnissen Moses in der Gent1is geschrieben hat. und dem, W8.5 AugusUnus einzusehen sucht, steht die Wahrheit als Vennittler: es ist die Wahrheit und nicht der Text oder seine Auslegung, welche die Richtigkeit sichert; heide weisen auf das Wort Gottes zurück, vgl. 11,5: •.intus utique mihi, intuS in do micilio cogi~tionis nec He· braea nec Graeca nec Latina nee barbara. veri~s sine ons et lingua.e organis, sine snepitu syllabarum dice.ret: verum dieit et ego s~tim certus con6denter illi homini tuo dicuem: verum dieis." Augustinus: Was ist Zeit! OmfossitJnes Xl. 76, Anm.. 55.
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ge (11,9): ..non e.tgo quidquam verbi Ni cedit atque succedit, quoniam vere immortale atque aetemum est. et ideo verbo tibi coaeterno simul et sempiterne dieis omnia, quae dieis, er fit, quidquid dicis ut fiat u. Im Unterschied zur Ewigkeit geht das Endliche voriiber; alles beginnt und endet. Der Ursprung dieses Vergehens ist Gon selbst, dessen Wort alles geschaffen hat. ' 6 Den vermeintlichen Widerspruch sieht Augustinus erneut in Anknüpfung auf die Frage der Manichäer. ,Was tat Gon, bevor er Himmel und Erde schuf?erla - als Ankunft gewöhnlich übersetzt, christlicher dann als Wiederankunft - bezüglich des christlichen faktischen Lebens anzudeuten versucht (102ff.; 149ff.). Dort legt Heidegger Paulus' ersten Brief an die Thessalonicher aus und hebt bervor, die Erfahrung des Augenblickes (KWP&;) keine Erwartung eines Momentes darstellt, den jenund schon kennt. Vielmehr erlebt das faktische Leben selbst diese kairologische Zeit, ohne dabei eine ,objektive' Zeit auszubilden. Heidegger fügt dann hinzu: ,,Der Sinn dieser Zeitlichkeit ist auch für die faktische Lebenserfahrung grundlegend"; vgL Heidegger:
Phanommologie des religiösen. Lebens, 104.
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44 C Agust{n Corti der Frage nach Ewigkeit und Z eit. Die Möglichkeit einer Erfassung der Zeit aus der Ewigkeit wird jedoch abgelehnt:. weil sie ein theologisches Forschungsgebiet bilde und eine philosophische Betrachtung 6.ir eine solche Frage nur vorbereitend sein könne.43 Die Analyse wird anhand der Problematik der meßbaren Zeit eingeführt, wie sie uns dank der Uhr gegeben ist Was nun, fragr Heidegger, läßt uns die Z eit auf einer Uhr ablesen? Besitzen wir dann die Zeit oder sind wir selbst die Z eit? An dieser Stelle führt Heidegger nun Augustinus ein (BZ, 10 [GA 64, 111]): "Verfüge ich über das Sein der Zeit und meine ich im jetzt mich mit? Bin ich selbst das Jetzt und mein Dasein die Zeit? O der ist es am Ende die Zeit selbst, die sich in uns die Uhr anschafft? Augustinus hat im Xl. Buch seiner ,Confessiones' die Frage bis hierher getrieben, o b der Geist selbst die Zeit sei. Und Augustinus hat die Frage hier stehen gelassen." Heidegger richtet seine Frage gezielt auf eine Aneignung des elften Buches: er übersetzt animus mit dem Wort Dasein und verbindet auf diese Weise die Zeit mit dem menschlichen Dasein. Dieses erlaubt ihm eine Weiterführung der Analyse des Augustinus; und daher wirkt es nicht befremdlich, daß Heidegger auch affectio als Befindlichkeit übersetzt:. ein tellninus technicus 6.ir die gestimmte Situation des Daseins, der zugleich eine Ablehnung der Subjetivität beinhaltet. Von der Zeit ausgehend verweist Heidegger auf die ontologische Verfassung des menschlichen Daseins, konkret auf den Modus der Eigentlichkeit, aus dem die ursprüngliche Zeitlichkeit des Daseins ablesbar sein soll. Stellt jener Bezug eine positive Weiterführung des Augustinischen Motivs dar, sofern die onto logische Vertiefung in das Dasein eine gleichzeitige Freigabe der Zeitstrukturen erzielt, so wird die Stellungnahme gegenüber Augustinus im Wintersemester 1925/ 26 kritischer: ,Jede Frage nach dem Sein der Zeit hat die Zeit schon mißverstanden. Klassisch sind die Schwierigkeiten, in die sich Augustinus ~Con fessjones', lib. 10) mit dieser Frage hineintreibt."44 Während der Diskussion über den Charakter des Jetzt, über dessen Unfaßbarkeit im Vergehen sowie über seine unendliche Teilbarkeit bemerkt Heidegger 4l
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BZ, 6 (GA 64, 107): ,,Der Philosoph gaubt nicht. Fragt der Philosoph nach der Zeit, dann ist er entschlossen, die Zeit aus der Zeit zu veiSteben bzw. aus dem &.cl, was so aussieht wie Ewigkeit, was sich aber her.lusstellt al ein bloßes DenVllt des Zeitlichseins." Unten sagt ebenso: "Die folgende Behandlung ist nicht theologisch. Theologisch (...] kann die Behandlung der Zeit nur den Sinn haben, die Frage nach der Ewigkeit schwieriger zu machen, sie in der rechten Weise vottUbereiten und eigentlich zu stellen." Vgl. dazu die scharfe Trennung dieser zwei Gebiete in Heideggers Vortrag Phanommologie und Theologie (1927), vor allem den Abschnitt ,Die W1Ssenschaftlichkeit der Theologie', 55ff. GA 21, 398ff. Fbsch: Was ist Zeit?, 54 Fn. 26 merkte bereits an, daß in den heiden bisher veröffentlichen A usgaben dieser Vorlesung (GA 21) ein Fehler bezüglich des richtigen Buches der Zeitanalyse Augustinus steht; es solllib. 11 statt !ib. 10 heißen. Darin mehr als einen Druc kfehler zu sehen, wie Meyer. Augustins Frage, Was ist dmn Zeid', 269, Fn. 615, im A nschluß an Gadamer zu gauben scheint, halte ich !Ur belanglos.
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kritisch, daß dem Jetzt' kein Sein zukomme, nicht weil es ZIIm Nicht·sein tendiert, sondern weil es nur eine Konstruktion darstellt, die phänomenal leer ist. Was kritisiert nun Heidegger an dieser Erfassung? Die Pointe liegt darin, daß die Zeit nichts Vorhandenes ist, das man als ein Seiendes erfassen könnte. Versucht man die Zeit wie ein Seiendes zu erfassen, verfehlt man gerade das Phänomen ,Zeit'. Genau die Wendung hin zu einem mit Bedeutung erfüllten Phänomen geschieht in Heideggers Zeitphilosophie. Was Heidegger als ursprüngliche Zeit· lichkeit bezeichnet, wird vor allem in ihrem ermöglichenden Charakter aufge. zeigt. Die Zeit ist also kein Seiendes; Zeit ist nicht, sie zeitigt. In der Zeitigung der Zeitlichkeit findet Heidegger die Entfaltung ihres Sinnes. Eine Stelle in Sein und Zeit betont noclunals diese kritische Richtung. Heidegger zitiert wieder Aristotdes und Augustinus, hebt den Bezug zur Sede und zum Geist hervor, meint aber, sie befanden sich innerhalb des Horizontes des vulgären Zeitbegriffs (SuZ, 427). Mit vulgärem Zeitbegriff «faßt Heidegger die tägliche Auffassung der Zeit als fortlaufende Reihe von Momenten. Die Betrachtung Augustins ist laut Heidegger der vulgären Zeitauffassung zuzuordnen, die ..das Grundphänomen der Zeit im Jetzt und zwar dem in seiner vollen Struktur beschnittenen, puren Jetzt, das man ,Gegenwart' nennt" sieht (SuZ, 426f.). Diese Behauptungen über die Zeit sind im Rahmen von Heideggers Ansätzen zu verstehen. Für ihn stellt die vulgäre Auffassung der Zeit ihre alltägliche Zugänglichkeit dar. Der Jetzt.Charakter, auf dem die vulgäre Zeitauffassung beruht, soll aus einer ursprünglicheren Ebene erklärt werden können, nämlich aus der Zeitlichkeit. Das ursprüngliche Phänomen gibt sich zunächst nicht, sondern wird von den alltäglichen Modi verdeckt. Der höchste Grad der Verdeckung entspricht der vulgären Zeitauffassung, die aus der Tendenz des Daseins zum Verfallen aufzuklären ist. Was der Modus der Verfallenheit bezüglich der Zeit bewirkt, besteht in einer Nivellierung der Charaktere der Zeit. Sieht man die Zeit als eine Reihe von vergehenden Jetzt-Momenten, kann man die Zeitstruktur bzw. die Zeitlichkeit als ihren Grund nicht voll erfassen. Von der Zeitlichkeit als ursprünglichem Phänomen der Zeit könne man dagegen die unterschiedlichen Ebenen der Zeit, ihre Pluralisierung erfassen. Innerhalb dieser Pluralisierung sind außer der ursprünglichen Zeitlichkeit, die Wdtzeit und das vulgäre Zeitverständnis zu nennen. Während die Zeitlichkeit den Sinn des Seins des Daseins ausmacht, cl.h. die Bedingung seines Existierens und zugleich seiner Verstehbar· keit ist, wird die Weltzeit als die Zeit des Umgehens in der Wdt freigelegt. Es ist die eine ursprüngliche Zeitlichkeit, die sich in den anderen zwei Modi abwandelt. Das vulgäre Zeitverständnis leitet sich seinerseits von der Weltzeit ab. legt die Zeitauffassung Augustins als eine Betrachtung der vulgären
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46 C Agusctn Coni Zeit aus und läßt gleichzeitig die Rolle der Ewigkeit beiseite.4S Da er die E wigkeit als ein theologisches Problem und kein philosophisches versteht, plädiert er für eine Betrachtung der Zeit aus der Zeit selbst. Die Z eit irgendwie von der Ewig. keit her zu bestimmen, bedeute schon, sie zu verfalschen. Betrachtet Heidegger die Zeit bei Augustinus als ein am natürlichen Verständnis begrenztes Phäno· men, so wäre ihm eine reduzierende Auslegung vorzuwerfen. Heidegger igno· rien jedoch nicht den Zusammenhang, in dem Augustinus die Frage nach der Zeit stellt. Die Hinweise Heideggers klingen wegen ihrer Kürze allerdings thetisch, sofem sie eine Einleirung in seine eigene Problematik sind und nicht eine ausfÜhrliche Textauslegung des elften Buches.
b) Der Beuroner Vortrag lm Unterschied zu den ersten Hinweisen nimmt Heidegger im Beuroner Vortrag von 1930 Bezug auf das ganze elfte Bucb der Confessiones. Heidegger liest die zwei Durchgänge des elften Buches hinsichtlich der E rklärung der Frage ,quid est enim tempus?'..t7 Das Ergebnis des ersten Weges faßt Heidegger so zusammen: Die Zeit ,,in ihrer Dreiheit ist da; ist". Und wenn die Zeit da ist, kann sie gemessen werden, denn die Zeit kommt zuerst als das vor, was gemes· sen werden kann. Der zweite Weg fragt nach dem Wesen der Zeit, aufgrund dessen sie gemessen werden kann und folgert, die Zeit sei eine gewisse Erstrek· kung des Geistes, denn die Zeiten sind da: Dieses ,Da'·sein der Zeiten besagt konkret, daß in der Tätigkeit des Geistes "Zukunft, Vergangenheit und Anwe· senheit" geöffnet werden und "dann bin ich erstreckt und bilde vor die E r· suecktheit des Währens des Anhaltens" (AZ, 9). Im zweiten Absatz der Schrift beschreibt Heidegger die Ergebnisse der Zeit· betrachtung Augustins im Einklang mit seiner eigenen Auffassung der Zeitlich· keit als ein ,dreifach gestreutes Sicherstrecken'.41 Sodann behauptet Heidegger, .S
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Am RAnde steht sein Kommentllt aus der Vorlesung vom WUltu 1925/ 26, demzufolge die Zeit als Weltzeit zu deuten ist: ,,in der Frage nach der Entstehung der Welt bzw. wer Schöpfung, wo der Weh als dem Seienden in du Zeit die Ewigkeit gegenübergestellt wird, wie z. B. bei Augustinus und im Neuplatonismus". An dieser Stelle dennoch vulgäre Zeit, d .h. Zeit wird als )etzt. Zeit und zeitlich als ,in der Zeit' verstanden . Ich beschränke mich bei dieser Intuptetation auf die Irthalte des Beuroner Vortrags, die fiir das hier durchgeführtes Thema relevant sind. AZ, 4 und 3b-3c. Heidegger lobt hier die Kraft des Augustinus, am Phänomen zu bleiben, AZ, 5: ..Dieser Bezirk der alltäglichen aufdringlichen N ähe du Zeit wird ständig im Gutg du Betrachrung durchgehalten. Mit unvergleichlicher Kraft der Analytik macht Augustinus diesen Bezirk sichtbar; und mit einer vollendeten Kunst Iißt u diesen Bezirk immer wiedu in den Gesichtskreis des Betrachtenden treten" AZ, 10: .. (positiv) das drei&ch gestreute Sicherstrecken: Behalten, Erwarten, G egenwirtigen; das bildet - als blickbares Bild. Vergangenheit, Z ukunft, Gegenwan."
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Ewigkeit und Zeit 47 die Zeit sei keine bloße Reihe von Jetztpunkten. Diese heiden Anmerkungen Heideggers lassen eine andere. neue Auffassung der Zeitanalyse Augustins erahnen. Die Zeit ist nicht nur das ennöglichende Sicherstrecken, sondern auch negativ keine Reihe von Jetztpunkten. Betrachtete Heidegger die Augustiniscbe Auffassung der Zeit vor dem Beuroner Vortrag als vulgäre Zeit, so erhält seine Sichtweise nun eine Korrektur. Anband dieser Korrektur kann man die Unterschiede zwischen den zwei Analysen bestätigen. Solange vom vulgären Zeitverständnis gesprochen wird. ist die Z eit eine bloße Reihe von Jetzt-Momenten. 49 Eine solche Auffassung der Zeit entleert diese von ihrem Sinn, indem sie versucht, die Zeit als Seiendes auszulegen. Sie ist hinsichtlich der Analyse Augustins jedoch unberechtigt. da Augustins Bemühungen um eine Lösung der aus einer alltäglichen Erfahrung stammenden Aporie ringen. Die Zeit als distento animi zu erfassen. bedeutet vielmehr eine sinnverleihende Tätigkeit des Geistes. Gerade die durchgeführte Kopplung von Sinn und Z eit bei der Analyse Augustins wird bei dieser Sichtweise ausgeschaltet. Gerecht wird dieser Analyse erst der Beuroner Vo rtrag, in dem Heidegger Augustins Ergebnis als Zeit des Besorgens, als Weltzeit auslegt. Im Behalten, im Erwarten und im Gegenwärtigen macht sie das Sein des menschlichen Umgehens aus. Deshalb benennt Heidegger das Sein des Menschen als ,ein dreifach gestrecktes Sicherstrecken'.so Z eit als distentio, so Heidegge:r, ist das Wesen der Existenz der Menschen (AZ, 11). Bezüglich der Ewigkeit und des Gottesbezugs enthält der Vortrag einen Hinweis: Heidegger erkennt die Möglichkeit einer ,echten' Erstreckung an, die zugleich ein Sich-richten auf Gott bedeutet. Gott stehe nicht in der Zeit, sondern ,vor' dieser, meinte Augustinus. Heidegger interpretiert dieses ,Vor' auf eine doppelte Weise: erstens ist es das ,schlechthin Anwesende' und zweitens das, was ,vor aller Zeit' als Ewigkeit steht. Als entscheidender für den Z usammenhang zwischen Menschen und Ewigkeit offenbart sich die überraschende Behauprung Heideggers, eine Abwandlung der '" Vgl. hierzu Flasch: Was ist Zeit?, 52ff. 50 Flasch: Was ist Zeitr, 59 hat diesen Aspekt anerkannt, ihn abu falsch bewertet: "Heideggers Augustinus-Vonrag von 1930 widenpricht rucht seiner sonst ausgesprochenen Gesamtbewertung des Laufes der europäischen Philosophiegeschichte als eines Vernlls , Zwar attestiert er Augusrin, die Zeit rucht mehr als das bloße Nacheinander der abfolgenden Jetztpunkte (S. 10) zu sehen. Aber das früher ausgesprochene Verdikt, Augusrinus Probleme mit dem Sein der Zeit ergäben sich allein aus der prekären Existeru: ebensolcher Jetttpunkte, bleibt bestehen." Gerade cbß das Jetzt die Ergebnisse der Zeitanalyse des elften Buches bestimmt, gilt rucht mehr für den Beuroner Vortrag. Vgl. dagegen und zutreffend v. Hemnann: Die ,Confessiones' des heiligen Augustinus im Denken Heideggers: "Wenn Augusrinus die Zeit als distenrio, als das dreifach gestreute Sicherst,ecJten der Stele in ihrem gew2ttigenden-behaltenden Gegenwirtigen bestimmt, dann heißt das vor allem: diese Zeit ist noch nicht das eindimensionale Nacheinander der abfolgenden Jetttpunkte."
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48 C Agustin Corti Tätigkeit des Geistes sei möglich. Damit meint er, es gäbe eine ,echte' und eine ,unechte' Weise der distentio , die selbstverständlich auf den Unterschied Heideggers zwischen Eigendichkeit und Uneigendichkeit zurückführt. Während der alltägliche Modus eine Zerstreuung darstellt, gibt es eine mögliche Erstreckung auf das Ewige, d.h. auf das schlechthin Anwesende. Diese Möglichkeit besteht darin, die Zeit sein zu lassen, d .h. die Zeit in ihrer echten Fonn zeitigen zu lassen. Erst das eröffnet den Bezug auf Gott, erschließt die Möglichkeit, sich auf ihn zu rich ~ ten, ohne ihn im voraus als etwas inhaltlich Bestirruntes anzunehmen. Das geschieht aber lediglich unter einer echten Zeitigung. Diese Möglichkeit wird trotzdem in der Zerstreuung des Lebens meistens verdeckt. SI Diese Auslegung enthält einen doppelten Sinn: zuerst bestätigt Heidegger in seiner Lektüre des elften Buches, daß es Augustinus um den Bezug des Menschen zu Gon geht. Aber dann interpretiert er diese Möglichkeit aus seinen eigenen Ansätzen; dieser Schritt wird aber mit dem Text des elften Buches nicht untermauert. Vielmehr beruht diese Interpretation auf Heideggers früherer Interpretatio n des zehnten Buches der Confessiones aus der Vorlesung vom Sommersemester 1921. s2 Dort erfaßt Heidegger das Phänomen der tentationes und der Gegerunöglichkeit der continentia als zwei ontologische Grundmodi des Lebens. Während sich das Leben in der continentia versammelt auf Gott hin richtet, verliert es sich in der Vielheit in multa defluximus - des Seienden. Es liegt auf der Hand, daß diese Interpreta~ tion den zwei Grundmodi der Eigentlichkeit und Uneigendichkeit des Daseins entspricht. Diese Teilung ist aber schwer auf das elfte Buch zu übertragen. Außerdem liegt Augustins Confessiones die Annahme zugrunde, Gott sei das höchste Sein, d .h. immer etwas ,mehr' als der Mensch. Im Beuro ner Vortrag klingt eine gewisse Anerkennung dieser Voraussetzung an, indem Heidegger als höchstes Moment der Zeitanalyse zeigt, daß das erkannte Phäno men der Zeit ein positives Ergebnis besitzt, das darin besteht, Gon sein zu lassen. Dies will meinen: Gott soll nicht auf ein Seiendes reduziert werden. SI
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Fluch: Was ist Zeitr, 61 mißversteht die Einsicht Heideggers ganz. wenn er die eigentliche Zeitigung llls ein .Verlassen der Zeit' auslegt: ..Heidegger sah, daß Augustins Zeittheoae keine bloße Theorie ist. sondern eine Selbstbesinnung und Neuorientierung des Lebens, die uns klarmachen kann, daß wir selbst die Zeit find und d2.s Augustin von seinem Gott dies erbittet. daß wir uns eigentlich in sie versetzen, eigentlich zeitlich sein kannen . Das Heraustreten aus dem uneigentlichen Leben besteht, wie Heidegger historisch hervorhebt, bei Augustin darin: gesammelt sich herausstrecken zur aeternitas (S. 12), lllso im Verlassen der Zeit." Gerade die Möglichkeit des ,Herausstreckens' bedeutet die Offenheit, die eine mögliche Selbstvollzug in Richtung auf Gott erlaubt. Zwar bedeutet d2.s kein VCJ:lassen der Zeit, denn du Wesen kann nicht bloß verabschiedet werden. Die folgende Passage bestätigt, wie Heidegger dieses versteht: ..d2. - quod amo - amo / distentio - amare - / runo, volo ut sis - Seinlassen das Seiende, d2.s es ist. da quod amo - gib mir das Seiende, das eigentlich das Seiende ist; gib mir, daß ich Gott Gott sein lassen kann. amor amoris tu.i facio istuc." Heidegger. Augustinus und der Neuplatonismus (1921).
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Ewigkeit und Zeit 49
Abschließend läßt sich feststellen, daß Heideggers Beuroner VOluag über das elfte Buch der Confessiones einen Gewinn bezüglich seiner früheren Urteile darstellt. In Beuron hat Heidegger das ganze Buch im Kontext der Confessiones einbezogen und außerdem die schlichte Trennung zwischen der Ewigkeit Gottes und der Zeit nicht ganz aufgehoben. Daß die InteLpretation mit einer gewissen Gewaltsamkeit an den Text herangeht, sollte dennoch klar im Blick behalten werden.
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Norben Fischer
Die Zeit, die Zeiten und das Zeitliche in Augustins Confessiones
Die Zeit, die Zeiten und das Zeitliche sind ein facettenreiches Thema in Augustins Confessiones.! Vom ersten bis zum neunten Buch werden zeitliche Ereignisse vorwiegend narrativ präsentiert, aber auch schon im Blick auf die theoretisch faßbaren Merkmale ihrer Zeitlichkeit qualifiziert. Die bloße Tatsache, daß zeitliches Geschehen dem Umfang nach in solcher Reichhaltigkeit zur Sprache kommt, macht deutlich, wie verfehlt es ist, bei Augustinus von einer Geringschätzung des Zeitlichen zu sprechen. Die in den ersten neun Büchern genannten zeitlichen Ereignisse vergegenwärtigen nicht nur die Inwege von Augustins Leben, sondern auch den schrittweise sich vollziehenden Umschwung, den Augustinus als seinen Weg zum wahren Leben auslegt. Gleichwohl deuten einige Merkmale des Zeitlichen auf seine Schwäche. Zwar sind die Zeit, die Zeiten und das Zeitliche von Gott geschaffen und insofern wie alles, was Gott geschaffen hat, gut ("bonus bona creavit") und schön (.,et pulchra sont omnia faciente te'').2 Die unabweisbaren Schwächen des Zeitlichen treten aber in einem doppelten Sinn hervor. Obwohl es von seinem Ursprung her gut ist, kann es doch durch schlechten Gebrauch verdorben werden.) Obwohl es von seinem Ursprung her
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Augustins Philosophie der Endlichkeit, bes. 296-322; Sein und Sinn der Zeitlichkeit im philosophischen Denken AJlgustins; Confossiont!$ 11: ,Distentio animi'; Einleitung. D ort finden sich weitere LiteraIm Hintergrund stehen u.a. folgende Arbeiten von Fischer.
turang2ben; vgl. im vorliegenden Band auch den Beitrag von C. Agustln Corti mit zusätzlichen Aspekten und Hinweisen zur Literatur. Vgl. 7,7; 13,.28. Vgl. auch 13,43-47. Zitate aus den Confossiont!$ werden ohne Werkritel mit Angabe des Buches und des Paragraphen belegt. Das Schlechte taucht laut Augustinus im doppelten Sinn auf: einerseits im Sinne der ungewollten Verfehlung ooer als Inweg, andererseits im Sinne der Tat mit WlSsen um ihre. Verfehltheit und mit dem Willen, das Schlechte zu tun. Diese Tat kann als Sünde bezeichnet und zugerechnet werden; vgl. bes. das zweite Buch, in dem die ,superbia' als Unprung der sündhaften Verfc.hlung dargestellt wird (bc.s. 2,14); im siebenten Buch wird die Möglichkeit der Identität der Person mit der Schuldfiliigkeit verknüpft (vgl. 7,5).
52 Norben Fischer schön ist, ist es doch flüchtig und insofern dem Untergang geweiht.4 Die doppelte Zweideutigkeit des Zeitlichen ruft die Frage hervor, ob \'V'esen. die der Ambivalenz der Zeitlichkeit unterworfen sind, lauteren Herzens Gott loben können.5 Auch im zehnten Buch der Confessiones spielt die Zeit eine wichtige Rolle. Zu Beginn betont Augusrinus, daß es ihm nicht mehr wie in den früheren Büchern darum gehe, wer und wie er einst war, sondern darum, wer und wie er jetzt ist zur Zeit der Niederschrift der Confossiones. 6 Wer und wie er in der Gegenwart ist, ist aber nicht zu verstehen ohne deo Weg, den er bis zur Gegenwart zurückgelegt hat. Denn im zehnten Buch reflektiert er diesen Weg und legt ihn als Suche nach Gott und Sdbsterkenntnis aus. Sogar den Umschwung, der ihn auf die Spur lebendigen Lebens gesetzt hat, vergegenwärtigt er als zeitliches Ereignis, als plötzliches Geschehen, das - kausal analytisch unableitbar - als Einbruch der Ewigkeit in die Zeitlichkeit des Menschen zu bezeichnen ist.' Nachdem er auf diese neue Spur gesetzt ist, bleibt Zeitliches weiterhin Thema seines Lebens und Denkens, jetzt aber in einem neuen Sinn: nämlich mit der Aufgabe, so in der Zeit zu leben, daß das Leben fortan dem Anspruch des Ewigen entspricht, der ihm begegnet ist. Es ist der Anspruch reiner Liebe und der Heiligkeit des lebens, der seinen Blick auf das Leben völlig veränden hat. Der neue Weg ist nur zu beschreiten in der Nachfolge des wahrhaften Mittlers zwischen Gott und Mensch, der selbst ein zeitliches Lebens geführt hat.' Erkennbar bieten die ersten zehn Bücher genügend Anlaß, die Zeitfrage explizit zu erörtern. Daß dies in der Abhandlung des elften Buches wirklich geschieht. ist also keine zufallige Zugabe. Schon der einleitende Satz des elften Buches nimmt das Problem auf. das sich in den früheren Büchern irruner gewaltiger aufgeriinnt hat. Augustinus beginnt mit einer bedrängenden Frage, in der das ganze Projekt der Confessioms noch einmal auf dem Spiel steht (11,1): ..numquid, domino, cum Na sie aetemitas, ignoras, quae tibi dico, aut ad tempus vides quod 6.t in tempo• Im Reich der Sinnenlust findet Augustinus lUch seinen Er&hrungen zwar immer noch Schönheit, aber wegen ihrer Flüchtigkeit nur niedere Schönheit, die dem Unt~g geweiht ist ('-1Iirc sie das nicht, so würde er sie für höchste Schönheit halten). Vgl. wr4 re/. 74: "hoc toturn est voluptatis regnum et ima pukh.r:itudo. surnacet enim corruptioni. quod si non esset. summa putaretur." ~ Oie Frage iSt. ob die Menschen. die von solcher Zeitlichkeit bestimmt sind, das Lob des Psalmisten nachsprechen können. das Augustinus an den AnI2ng der OmfossU:mes stdIt (1.1). , Vgl. 10,3-6 mit den Fragen: ,qui sim'; ,quis ego sim'; ,quid ipse intus sim'; ,qualis sim'. Dazu Fucher. Unsicher!Kit .nd Z....uu.tiglreit tkr Selbst.......tnis. , Vgl. con! 10,38; vgl. die Hervo rhebung der Plötzlichkeit des Geschehens bei Platon, z.B. im Höhlengleichnis der Politaa, 515c. 516a und d . I Vgl 10,6: ..et hoc mihi verbum tuwn parum erat si loquendo praecipettt, nisj et f:aciendo praeiret." In der Tat vigen skh Menschen stets vom Vorbild anderer Menschen beMndruc:kt, die ihr eigeoxs Wohletgehen angesichts der Not anderer hintanstellen, lIod finden sich ermutigt. solchen. Beispielen ZU folgen. Die Be&enmg von. natwhaften EgoUmus. zumal er nicht an sich schlecht ist, erscheint auf diesem Weg als Gabe. als göttliche Wegweisung.
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Die Zeu, die Zeiten und das Zeitliche in Augustins ,Confessiones' 53 re?" Die Frage, ob Gott in seiner Ewigkeit Zeicliches überhaupt zur Kenntnis nimmt, ist nicht von der Art, daß sie sich leicht abtun ließe.' Zwar mag man einwenden, dem Schöpfer könne rUchts verborgen sein; oder: er sei doch fiir die Schöpfung verantwortlich. Bezeichnenderweise ist Gott im ersten Satz aber rucht als ,creator', sondern in seiner ,aetem.itas' angesprochen. Und so wird es zur beunruhigenden Frage, ob Zeicliches crott seiner Aüchtigkeit in das Blickfdd Gottes geraten kann, ob Aüchtiges in den Augen des Ewigen nicht belanglos und nichtig bleiben muß. Wenn Gott das Zeitliche ,ad tempus' sähe, es fiir flüchtig und nichtig hidte, bedeutete dies, daß er es aus seiner Warte übersähe. lo Sofern Gott als vollkommenstes Wesen zu denken ist, könnte es für eine Beschädigung des Gottesgedankens gelten, in ihm auch nur die virruelle Präsenz von Unvollkommenem zu vermuten. Derart hat Aristotdes auf die Frage, was Gott sei, geantwortet, er sei höchste Tätigkeit, nämlich das Denken, das zum Vollzug keiner anderen Wirklichkeit bedarf und insofern spontan und selbstgenugsam ist. Auf die Frage, was Gott denke, wäre zu antworten, daß er nur das Höchste denke, also: sich sdbst als die Wirklichkeit des Denkens. Folglich spricht Aristoteles vom Wesen Gottes als Denken, und zwar als Denken des Denkens. 11 Auch Augustinus setzt voraus, daß Gott nicht von seinem Wesen her auf Anderes bezogen und seiner bedürftig ist (13,5): "non ex indigentia fecisti, sed ex plenitudine bonitatis ruae." Über die G renzen philosophischer Reflexion hinausgehend erklärt er jedoch, indem er sich auf die Botschaft des biblischen G laubens stützt, daß Gott sich trott seiner Selbstgenugsamkeit nicht selbst genug sei, sondern die Wdt in unbedürftiger Liebe geschaffen habe und sich um ihr Schicksal sorgeY Zwar sei Gott an sich ohne Sorge selbstgenugsam. Trotz seiner wesenhaften Sorgenfreiheit trage er aber um uns Menschen Sorge (11,3):
Zeitlich~ Problem~, di~ M~nschen
einst harten und sie in größte Aufregung versetzt haben, die Trinen und Bitten aus ihnen herausgepreßt haben, können ihnen später nichtig erscheinen, weil sie flüchtig waren und nichts mehr bedeuten. Wie könn~n sie also von Gort verlangen, daß er ihr Wein~n emstnimmt, wenn sie es vielleicht binn~n kurzer Frist selbst nicht mehr tun? 10 Z w: Bedeutung von ,ad tempus videre' vgl. außer 11 ,1 auch 11 ,8 und besonders 13,52. Die in 11 ,1 mit ,numquid' beginnende Frage erheischt eine positive Antwort in dem Sinne, daß Gon ttOtz seiner Ewigkeit sehr wohl wisse, WllS Auguscinus ihm S2.gt; dennoch bleibt das Bedenken, daß er alles nur ,ad tempus' sehe und der Zeit keine Beachrung schenke. n Aristoteles: Metaphysik XII , bes. 1074b1 5-35. 11 Vgl. auch Platon: Politikos 272e; der KOßq>Vrl"tTll; tOÜ 1tQ.vt6c; übergibt ZWllt das Steuer d~n Menschen und zieht sich in sein~ Warte zurück; der Kosmos (d.i~ Menschenwelt) übt insofern Aufsicht und ~cht über das Geschick der Welt selbst aus; vgl. 273a: ~v KaJ. Kpa:toc; Ex.ID\I (ll)"t6c; . Der Steue.mwm kommt aber wieder hervor, wenn die Lage fW: die Welt zu bedrohlich wird. Der Welturheber sorgt sich laut Platon also um das Geschick der Menschenwelt, wenn er sie in AusweglO$igkeit~n verfangen sieht (273d): Se&;
9
KOOIlTtoa.c; crut6v, KaSopiöv EV ti1tOpl.w.c; ovm, KT)ÖÖj.t&voc; .
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Norben Fischer
"qui securus curam nostri geris.'cI= Zur GnmknkJm in Aupstins ,Confnsjones'. .Sol
V gl. Fischer:
Freiheit und Gnm:k
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64 Norben Fischer Die ,tentatio' des Willens ist ermöglicht durch rue ,distentio' des menschlichen Geistes, durch sein sich zerstreckendes Erstrecken in die flüchtigkeit der Zeiten, das Entflüchtigung ersehnt. In der Schwäche ihrer Sehnsucht nach Entflüchti ~ gung des Zeitlichen sind Menschen der Versuchung ausgesetzt, sich aus eigenen Kräften ein wenigstens temporäres Glück zu verschaffen.sl Die Aufgabe, ,das Gute run zu lernen', bleibt zwar unbeschädigt gültig. Es stellt in seiner Größe angesichts der faktischen Siruation des Menschen aber eine Überforderung dar. Deshalb gesteht Augustinus, eines Mittlers bedurft zu haben, um auf die Spur reiner Liebe aus gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben gelangen zu können. Sol Ebenso ist er überzeugt, daß alle Menschen des göttlichen Mittlers in der Zeit bedürfen, um zum Sinn der Zeit zu gelangen. 55 Nur so sind rue anfangs genannten Defizite, die dem Zeitlichen anhängen, hinzunehmen, nur so lassen sich die Zeit. die Zeiten und das Zeitliche als das überaus gute Werk Gottes glauben. S6 Die endliche Freiheit, die allein auf ihre eigene Kraft gestellt wäre, kann das Ziel ihrer Berufung zu reiner Liebe, das Ziel ihrer göttlichen Berufung, nur verfehlen. Ebenso sinnwidrig ist es, alles Gute nur der göttlichen Gnade anheimstellen zu wollenY Der Glaube an den Mittler, der mit den Menschen die Sterblichkeit, mit Gott aber die Heiligkeit gemeinsam hat,SI ist die Kraft, mit der Gott die Menschen anzutreiben vermag, Gott dankbar und reinen Gewissens zu loben (l ,l ): .. tu excitas, ut laudare te delectet". Berührt vom ,wahren Mittler' werden Menschen zum ,ruhelosen Herzen', das Ruhe nur in Gott finden kann. In der Menschheit, die in Gott Ruhe zu finden sucht, findet auch Gott selbst Ruhe, nämlich in der immerwährenden heiligen Gemeinschaft freier Bürger unter der Herrschaft Gottes,59 die nicht mehr von der Ambivalenz des Zeitlichen betroffen ist, aber die Zeitlichkeit in ihrem kostbaren, von Gott gewollten Kern bewahrt.6O
Zur ,felicit2s tempoWis' vgl. vor allem 6,9; weiterhin 3,3; 5,14; 8,17; 9,26; 13,20. S4 Vgl. 12,27; 10,6. ~ Vgl. 10,67-70. Si> 13,47: "videmus haec et singula bona et o mnia bona valde." Die Steigerung des Gutseins der Schöpfung sieht Augustinus vor allem in der Fähigkeit begründet, c:hs Gesollte zu Nn (ebd.: "ad concipiendam de ratione mentis recte agendi sollertiam" . ~J Das liefe auf eine Auslegung der Schö pfUng als ,creatio de se' hinaus, die Augustinus ja ausdrücklich ablehnt; vgl. Anm. 14. SI Es ist der Glaube an den ,vera.x mediator'; vgl. 10,68. SO) 13,52; Ruhe findet 2.uch Gott im ,,.regnurn tecurn petpeNum ,S2.nctae civitaw' tU2.e" (1 1 ,3). 60 E s geht nicht um ein~ ,Rückkehr zum Einen' im Sinne Plotins, sondern um die Vollendung der Zeitlichkeit, ohne Übel und ohne Tendenz zum Nichtsein. Sol
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Comelius Petrus Mayer
Prinzipien der Hermeneutik Augustins und daraus sich ergebende Probleme
In seinen Untersuchungen zu Hermeneutik und Strukturalismus hält es Paul Riccew: ,.nichtfor unwichtig daran zu ennneln, daß man sich mit dem helme·
neutischen Problem zuerst im Bereich der Exegese konfrontiert sah ... Die E· xegese hat ein bei meneutisches Problem aufgeworfen, ein Problem der Interpre· tation, weil sich jede Lektüre eines Textes - wie strikt sie sich auch an das ,quid
84 D~ter Hattrup
zu tun, die man erst als solche verstehen muß, bevor man sie aus anderen Ursachen erklären kann. Aber auch Philosophie und Theologie wurden seit 1800 stark hermeneutisch umgebaut und damit mehr als Meinung und weniger als Wahrheit vorgestellt. Die wohl wirksamste Gestalt dieses Umbruchs war eben Friedrich Schleiermacher. Seine "Hermeneutik bedeutete wegen ihrer Begründung des Verstehens auf das Gespräch und die zwischerunenschliche Verständigung überhaupt eine Tieferlegung ihrer Fundamente ... Die Hermeneutik wurde zur Grundlage for alle historischen Geisteswissenschaften, nicht nur für die Theologie. Die dogmatische Voraussetzung des maßgeblichen Textes ... ist nun verschwunden.« 7 Mit diesen Worten nennt Gadamer im ,Historischen Wörterbuch der Philosophie' das Ziel: In einer strengen Hermeneutik soU die Dogmat:ik, die Autorität und der Sach- oder Wahrheitsbezug möglichst ausgeschieden werden. Allerdings ist nicht ganz klar, welche Voraussetzung des Textes verschwinden soU. Nehmen wir als Beispiel die Hl. Schrift! Für die Theologie ist sie der kanonische Text. SoU nun ihre Maßgeblichkeit verschwinden, oder soU das kirchliche Dogrru. verschwinden, damit der heilige Text wieder frei sprechen kann? Diese Doppeldeutigkeit ist kennzeichnend für alle Beschäftigung mit der Hermeneutik: Man kann die eigene oder fremde Meinung immer von oeuem einklammern und suspendieren, aber immer von neuem ist ein Anspruch da, der Geltung verlangt. Hier zwn Beispiel ist es der Anspruch, das Einklammern der eigenen Meinung sei ein gmes Ziel und deshalb erstrebenswert! Oder die Vielfalt der Meinungen sei besser als ihre Einheitlichkeit! Hier wird die Beunruhigung deuclich, die auch Gadamer gespürt hat. Die Henneneutik kann sich nicht selbst begründen; in das Verstehen der eigenen oder der fremden Meinung reicht eine Vorgabe hinein, die man auch dogmatische Vorgabe nennen kann. Welche Eigenschaft hat diese Vorgabe? Dogma oder Autorität oder Wahrheit treten mit dem Anspruch auf, Meinungsbildner zu sein, ohne selbst der Meinung zu unterliegen, auch wenn die Artikulation von Dogma, Autorität oder Wahrheit in der Gestalt einer Meinung auftritt. Wer diese Doppeldeutigkeit nicht sehen will, geht ständig in die Falle der Retorsion. Das Wort ,Dogmatik' wird von Gadamer polemisch gebraucht, oder genauer gesagt, er beschreibt eine hermeneutische Position, die meint, selber keine Dogmatik zu haben oder sich immer wieder von ihr lösen zu kö nnen. Ich würde ruhiger sagen: Man kann sich bemühen, die Wahrheits frage einzuklammern, um freier zu sein in der Untersuchung von Meinungen. Das führt zu einer Erweiterung des Horizontes. Ich muß nicht mehr dies glauben und jenes verwerfen, ich kann jetzt einfach sagen: Sieh mal, da hat einer dies geglaubt und der andere hat das gemeint. Eine große Freiheit ohne Zweifel, das zu einem gewaltigen Wachstum des Wissens von der Geschichte geführt hat.! Wenn die Hermeneutik nur , Gacbmer: HtrrneneMtÜt, 1064.
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,Die Füll< der sebr wahren Meinungen' 85 Henneneutik bleibt, fragt sie gewö hnlich nicht, o b dies oder jenes wahr ist, sondern wie dies oder jenes gemeint ist oder wann es zum ersterunal gesagt und wiederho lt wo rden ist. Wegen dieser Stellung zur Wahrheitsfrage. wegen der Neigung zur Schlagseite, habe ich, bei aller Leistung. schließlich doch immer eine Reserve gegen Hermeneutik behalten.
Hegel gegen Henneneutik. Daß eine reine Hermeneutik ohne Bezug zur Wahrheits frage teuer erkauft sein kö nnte, das war auch zu Z eiten Schleieonachers nicht unbemerkt geblieben. Den aufko nuneoden Historismus schauten auch damals schon einige bedenklich an. Ich bringe den klassischen Einwand von Hegel. Er schreibt am 3. Juli 1826 an den zum Histo riker gewo rdenen Theologen Tholuck: " Verdient die ho he christliche E rkenntnis von G o tt als dem Dreieinigen nicht eine ganz andere E hrfurcht, als sie nur so einem äußerlich histo rischen G ange zuzuschreiben? In Ihrer ganzen Schrift habe ich keine Spur eines Sinns für diese Lehre fühlen und finden können. Ich bin ein Lutheraner und durch Philosophie ebenso ganz im Lutherrum befestigt. Ich lasse mich nicht über solche G rundlehre mit äußerlich historischer Erklärungsweise abspeisen. Es ist ein hö herer G eist darin, als nur solcher menschlichen Tradition. Mir ist ein G reuel, dergleichen auf eine Weise erklärt zu sehen, wie etwa clie Abstammung und Verbreitung des Seidenbaues, der Kirschen, der Pocken u.s.f. erklärt wird .«B Wie Heget dann selbst den hö heren G eist gefunden und die göttliche Dreieinigkeit mit seiner Lehre vo n der Weltgeschichte angefüllt hat, braucht uns jetzt nicht zu beschäftigen. O der doch nur insofern, als er mit seinem beherzten Z ugriff auf den hö heren G eist, den Charakter der erprobenden Meinung, den jede Sachaussage no twendig bei sich trägt, vielleicht unterschätzt hat. .Les extremes s'eclairent - Die E xtreme beleuchten sich!' Wenn ich Heget sehe, bin ich für Hermeneutik, wenn ich ScWeiermacher sehe, bin ich für D ogmatik.
Der Haltungsfehler, Mehr und mehr schien mir die bloße Hermeneutik, wenn nicht an einem Geburtsfehler, so doch an einem Haltungsfehler zu leiden. Die Übung. die Wahrheits frage zu suspendieren, also erst eirunal beiseite zu lassen und die Meinungen, Ideen und Sys teme histo risch zu betrachten, ist no twendig. um den anderen Menschen oder die andere Kultur zu verstehen. Um in dieser Kunst geübt zu sein, mußte man die Wahrheitsfrage aufschieben, um immer wieder den anderen, um viele andere zu hö ren. Natürlich ist es vom Prinzip der Hermeneutik nicht ausgeschlossen, schließlich zur Wahrheitsfra.ge zurückzukehren, aber ... Ja, hier steht ein großes Aber. Leider! Der Mensch ist ein endliches, beschränktes Wesen mit begrenzten Kräften, sein Tag hat 24 Stunden, davon ist er kaum mehr als die Hälfte wach, seit Leben währt 70, höchstens 80 Jahre, wo ran uns mit erho benem Wahrheits finger der Psalm 90 erinnert. • Hege!: Briefe von und an HegJ. 2; 61 .
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86 Vieter Hal/rup
Die hermeneutische Kunst endete bei manchen, vielleicht bei allzu vielen, in der endgültigen Suspension der Wahrheitsfrage, und das machte mich stutzig. Von Gadamer gibt es die schöne und folgerichtige Geschichte, die er selbst gerne mit Blick auf Leibniz erzählt hat: " Ich billige fast alles, was ich lese:(9 Von der Bibel bis zu Marx, von Plato bis zu Heidegger, von Antonius dem E insiedler bis zur Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, es hat alles etwas für sich. Aber kann ich die Wahrheits frage wirklich weglassen und sagen: Ob eine Gesellschaft religiös ist oder rucht, o b eine Wirtschaft sozialistisch ist oder kapitalistisch, das ist eine Frage der Meinung und des mehrheitlichen Ko nsenses? Wir werden sehen! Wer zu spät kommt mit der Änderung seiner Meinung, den bestraft das Leben. Die Toleranz der Hermeneutik hat ihre Möglichkeit selbst in der Wahrheit, denn die bloße Lüge kann nicht existieren, überall muß sie von der Wahrheit Gebrauch machen, deshalb ist auch überall das Kö rnchen Wahrheit zu finden, die Particula veri. Aber die Aufhebung der Wahrheits frage kann auch in wenig angenehmer Gestalt einher ko mmen. Ihr zweifelhaftes Gesicht zeigt die Hermeneutik etwa bei dem amerikanischen Philosophen Rorty. E r verkündet in seinem Buch ,Wahrheit und Fortschrite ganz zu Anfang: ..Es gibt keine Wahrheit " Seine E ntdeckung erklärt er damit, daß ihm die Pendelbewegungen zwischen Dogmatismus und Skeptizismus zunehmend lästig geworden sind, weil die einen erklären, es gebe Wahrheit, und die anderen. es gebe irruner nur Meinungen. Nach seiner Meinung soll der Skeptizismus allein herrschen, dann gibt es keinen Skeptizismus mehr und keinen dogmatischen Anspruch auf Wahrheit. Wenn wir .,die Unterscheidung zwischen Schein und Sein"IObeiseite legen, wie er möchte, dann kö nnen wir uns die langen Diskussionen, was wahr ist und was nicht, sparen: Jeder hat seine Meinung. Welche Meinung gilt aber? Jetzt kommt die häßliche Seite der suspendierten Wahrheit ans Licht. Jetzt wird die Toleranz diktato risch. Es gibt keinen Richter mehr, der im N amen der Wahrheit über der Fülle der Meinungen das Recht spricht, es gibt nur noch die starke und die schwache Meinung. Die Meinung des Starken also setzt sich durch, womit wir auf die Linie von N ietzsehe eingeschwenkt wären, der das Evangelium vom starken Leben verkündet hatte und dem sich Rorty nahe fühlt. Nietzsehe ist der vollendete Henneneutiker, weil er im Kampf ums Dasein die Meinung als Wahrheit realisieren will. E r fo rdert die in der Achsenzeit um 500 vo r Chrisrus gebrochene Adelsherrschaft zuriick: Gültig ist, was der adlige Herr durch seine starke Tat als gültig setz t. Er verkündete: Wenn ihr über viele Generationen ganz nach eurem Willen lebt, dann werden dereinst eure Urenkel narurbestimmt geboren werden. Der Übermensch ist das Kunstgebilde, das aus der Meinung die Wahrheit machen soll. Zurecht
, F AZ 24. Sept 1983. 10 Rorty: WahrheU und Fortschritt, 7.
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,Die Fülle der sebr wahren Meinungen' 87 nannte Nietzsehe sich selber lieber einen Philologen als einen Philoso phen. 1I Der Philosoph lebt in der Differenz zwischen Meinung und Wahrheit, der Philologe kümmert sich nicht darum. er sieht bei allen Meinungen von der Geltung ab. Nur sein Ich muß er noch gelten lassen. Gerade der Philologe hat keinen Maßstab, einem Text Schwindel anzuhängen. denn ohne Unterschied von Sein und Schein enthält der Text nur die Meinung des Autors. Aber ist die Wirklichkeit so plastisch. daß sie sich den Meinungen fügt? Die extremen Vertreter einer vo n der Wahrheit und Dogmatik befreiten Hermeneutik haben das gewünscht. Diese allzu sehr auf die Spitze betriebene Suspension der Wahrheitsfrage ließ mich auf Distanz zu aller Hermeneutik gehen. Jetzt, da ich aufgefordert bin, über die Hermeneutik des hl. Augustinus im Buch 12 der Confessiones zu berichten. steigt mir das alles wieder in den Sinn, deshalb der lange Anlauf zu Augustinus.
Kampf um die Macht. Wir schwimmen im Nietzscheanismus, meinte Emmanuel Levinas über die geistige Lage des 20. Jahrhunderts.12 Sollte Nietzsches Sieg über Wahrheit und Wirklichkeit endgültig sein, auch für das 21 . Jahrhundert? Hat die Meinung und die Meinung über die Meinung die geistige Weltherrschaft endgültig angetreten? Ich lese eine N o tiz von dieser Art ..Der Kampf um die Macht wird letztlich durch die Wahrheit entschieden."!) Zu ergänzen ist wohl: ... und nicht durch Taktik, nicht durch Meinung, nicht durch Konsens. Der Satz aus dem Jahr 1979 stanUnt von meinem philosophischen Lehrer von Weizsäcker. er scheint mir ein helles Licht auf die Frage von Wahrheit und Hermeneutik zu werfen. Vo rläufig sind Meinungen mächtig. und die Hermeneutik tut gut daran, Meinungen zu erfo rschen, die alten und die neuen. Sie beobachtet damit Machtverhältnisse. Wir hatten in den letzten 150 Jahren folgende Gro ßmeinungen: Erste Meinung: .Die Religion wird absterben.' Nach Auguste Comte und dem Dreistadiengesetz folgt auf das Zeitalter der Religion die Epoche der Philosophie und dann das endgültige Stadium der Wissenschaft.l~ Diese Überzeugung war im 19. Jahrhundert einigermaßen plausibel. weil die zweite Meinung plausibel erschien. Zweite Meinung: ,Die N atur ist alle Wirklichkeit und wird von der Naturwissenschaft in vollständiger Weise beschrieben.' Die klassische Physik insbesondere "ln der That, man ist nicht Philolog und Ant, o hne nicht zugleich auch Antichrist zu sein. Als Philolog schaut man nämlich hinter die heiligen Bücher, als Arzt hinter die physiologische Verko mmenheit des typischen Christen." N ietzsche: Der Antichrist (1888), N r. 47. t2 " Erneutes Überdenken, das kaum vorstellbar ist in einer Welt, in der N ietzsche untreu zu werden - selbst werm rtWl frei von aller nationalsozialistischen Infizierung SO denkt - als Blasphemie (dem Tode Gottes zum Trotz) gilt." Levinas: Jenseits des ~ns oder anders als
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Seinypchieht (1974), 379. Weizsäcker: Wahrnehmung du Neuzeit, 314. VgL lAlbac: ~ Tragödie des HumanismllS ohne Gott (1944).
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88 Dieler Hat/TUp glaubte die Zukunft wenigstens im Prinzip berechnen zu kö nnen. Duaus folgt dann als dritte Meinung die zukünftige Gestalt der gesellschaftlichen Ordnung. Dritte Meinung: .Der K ommunismus ist der gesellschaftliche Weg in die Zukunft. weil er als wissenschaftlicher Sozialismus auf die siegreiche Naturwissenschaft gegründet ist.' Die Ostpolitik der Bundesregierung in den siebziger Jahren beruhte wenigstens auf dem G rundsatz, daß der ko mmunistische Ostblock auf unbestimmte Zeit weiter existieren werde. Alle diese Meinungen sind untereinander vetWandt und für einen tieferen Blick vielleicht als einzige Meinung zu erkennen. Möglicherweise ist die Meinung diese, daß der Mensch sich selbst erschaffen und begründen kann. ohne einer Wahrheit oder einer Sache zu bedürfen, die seinem Willen vo rausliegt. Diese dreieinige Meinung wurde von weiten Teilen der wesdichen intellektuellen Welt getragen, die Abkehr von ihr vollzieht sich langsam, mit Z ähneknirschen und gegen den erklärten Willen dieser Intellektuellen. Mit Sigmund Freud, der selbst zu dieser dreifach-einen Meinung neigte, läßt sich vielleicht von ver.welgerter Trauerarbeit sprechen. Mit diesen drei Beispielen habe ich meine Skepsis gegen die Hermeneutik verstärkt und mir d en Satz verständlich gemacht Der Kampf um die Macht wird letztlich durch die Wahrheit entschieden . Als mir daher die Aufgabe zuteil wurde, über die Hermen eutik im 12. Buch der
Confessiones zu sprechen, war damit nicht gerade mein Lieblingsthema getroffen . Je länger ich mich jedoch mit der augustinischen Hermeneutik beschäftigt habe, um so mehr habe ich gesehen, daß er den Fehler der E inseitigkeit. den ich bei der Hermeneutik der Neuzeit als Haltungs fehler vermute, schon auf den ersten Blick nicht begeht. und das macht das Buch 12 der zenswerL
Confessiones so schät-
2. Zwei Pole im zwölften Buch
Sacballssage. Der erste Blick zeigt: Das henneneutische Buch 12 der Confessiones handelt gar nicht nur von der Hermeneutik, sondern auch von der Wahrheit. und zwar in ziemlich dogmatischer Weise. Auf die Wahrheit setzt Augustinus sein ganzes Leben, und die hermeneutischen Abschnitte. die es tatsächlich gibt. sind für die Wahrheits findung ein Hilfsmittel. Der ,Himmel des Himmels', seine Existenz und seine Eigenschaften, bilden in Buch 12 die zentrale Aussage, Augustinus ruckt sie bei der Auslegung von Genesis 1 in die rvfitte seiner Schöp fungslehre. Das ist seine Lehre oder seine Dogmatik. Der ,l-limmel des Himmels' ist nach ihm eine geschaffene Wirklichkeit, die nicht ganz der Not der Geschöpfe unterliegt. Deren Hauptmangel ist die Aüchtigkeit Jeder Zeitraum zerfillt in drei Teile, selbst eine Stunde ist nicht bloße Gegenwart, sondern setzt sich aus flüchtigen Teilen zusanunen (11 ,20: .et ipsa una ho ra fugitivis particulis
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,Die Fülle der sehr wahren Meinungen' 89
agitur'). Aber mit dem ,Himmel des Himmels' gibt es Ho ffnung. Obwohl er im Grundsatz veränderlich ist, hat er Anteil an der Ewigkeit Gottes. Freudig ruft Augustinus aus: ,Die selige Wonne, Dich anzuschauen. hält ihre starke Veränderlichkeit in Schranken - valde mutabili[atem suam prae dulcecline felicissimae contemplationis Nae cohibet.' (12,9) Das ist die Sachaussage in Buch 12, man kö nnte auch sagen die dogmatische Lehre. Sie triu zwar in Gestalt einer Meinung auf, will aber einen Sachverhalt sagen, der nicht nur Meinung ist. Wer eine bloße Meinung vertritt, muß den Sachverhalt herstellen, den er vo rbringt. Aber wer hier die Meinung vertritt, kann die Wirklichkeit nicht garantieren, die er aussagt. Augustinus kann den ,Himmel des Himmels' nicht schaffen, trotzdem spricht er vo n ihm. Der erste Schwerpunkt vo n Buch 12 liegt in den Paragraphen 3 bis 16. In ihnen deutet Augustinus die Mosaischen Wo rte aus dem ersten Vers der Bibel: ,Du hast Himmel und Erde gemacht - fecisti caelum et ten:am' nach dem Maßstab der entflüchtigten Zeit. a Um das geeignete Stichwort zu haben, nimmt er den Vers 16 aus dem P salm 113 hinzu, den wir heute als Psalm 115 zählen: ,Der Himmel des Himmels gebö rt dem Herrn, die E rde aber gab er den Menschen - caelum caeli domino: terram autem ded.it filiis hominum'. Den ,Himmel des Himmels' will er verstehen, wie er zu Anfang des ersten Hauptteils sagt (12,2: ,sed ubi est caelum caeli., domine, de quo audivimus in voce Psalmil Dessen Wirklichkeit interessiert ihn, seine Wahrheit will er finden, denn der ,Himmel des Himmels' soll der Entflüchtigung der Zeit dienen und damit der Erlösung des in die flüchtige Zeit zerstreuten Menschen.
Fünf mögliche Auslegungen. O bwohl Augustinus so stark interessiert ist an der Gültigkeit seines Verständnisses vom ,Himmel des Himmels', bat das Buch 12 einen weiteren Schwerpunkt. Dieser zweite Teil ist dem ersten an Umfang sogar dreimal überlegen. Es ist das sogenannte hermeneutische Thema, in dem der Bischo f vo n Hippe vier andere Deutungen darstellt, die von seiner eigenen abweichen. Von .. fünf möglichen Auslegungen" zu Gen 1,1 spricht Comelius Mayer in diesem Falle,I6 von vier fremden und von seiner eigenen Deutung. Das ist auffillig: Den grö ßeren Teil vo n Buch 12 in den Paragraphen 17 bis 43 widmet Augustinus nicht der Frage, welche von den fünf Deutungen er für richtig hält, das hatte er ja mit seiner eigenen Deutung gerade getan. Er untersucht vielmehr den Rahmen möglicher Deutungen, die vo neinander abweichen. Er handelt also von verschiedenen legitimen Sinngebungen durch unterschiedliche Deutungen. E r fragt: Wann ist eine Deutung unzulässig, wann ist sie zulässig, selbst wenn sie von meiner eigenen Deutung abweicht? IS
Die. Wortwahl gehl auf Norben Fischer zurück. Vgl. Den.: Omfossroms 11. ,Distmrw
.nimi'. I' Maya. Omfmro1US 12. •CaJllffl CM/i', 582.
OOO,2 1fi2
90 Dieter Hattrup Zu Beginn der Buches 11 hatte er ausgerufen: .Laß mich hö ren und begreifen, wie Du im Anfang Himmel und Erde gemacht hast - audiam et intellegam, quomodo in principio fecisti caelum et terram.' (11,5). Jetzt in Buch 12 ist er noch immer beim ersten Vers, aber nicht mehr bei dem ,Im Anfang', sondern bei ,Himmel und Erde'. Er nimmt auch noch ein Stück aus dem zweiten Vers hinzu: ..Die E rde aber war unsichtbar und ungeordnet und Finsternis war über dem Abgrund" . Vor allem nurunt er den ,Himmel des Himmels' aus Psalm 11 5 hinzu, den er als glücklichen biblischen Ausdruck in die Mitte seiner Schö p. fungsiehre ruckt. An diesem Material also erprobt er seine Sachmeinung. im Bewußtsein dessen, daß die Sache das eine ist und die Meinung von der Sache das andere.
HeJJuenelltik in Bilch 12/ Hier stellt sich mir eine Frage zur Wo rewah!, die ich nicht ganz befriedigend beantworten kann. Was sollen wir unter Hermeneutik verstehen? Oben hatte ich, im Sinne Schleiermachers, den Sprachgebrauch vo rgestellt, Hermeneutik sei die Begründung des Verstehens auf das Gespräch und die zwischerunenschliche Verständigung. Wie die hermeneutische Tradition vielmals gemeint hat, gelingt das am besten ohne dogmatische Voraussetzungen, also ohne Bezug auf eine autoritative Sachaussage, von der jeder, der sie macht, behaupten muß, sie solle gültig sein. Wenn ich bei einer Sachaussage nichts Gültiges zu sagen beabsichtige, kann ich gleich den Mund halten. Wenn wir also diesen starken Begriff von Hermeneutik nehmen, der sich von Auto ritäten frei· halten ~ dann haben wir es bei Augustinus mit einer unsauberen Hermeneutik oder mit gar keiner Hermeneutik zu tun. Man kö nnte höchstens sagen, daß er neben dogmatischen auch methodologische Fragen untersucht. Denn die dogmatischen Voraussetzungen beim Verstehen macht er ganz klar. Wer diese nicht einhält, den nennt er einen H ostes, einen Feind, und wünscht ihm den Tod an den Hals. Das heißt, er wünscht solchen Leute den Tod der Bekehrung, damit sie nicht mehr Go ttes Feinde seien, ,et non sim hostes eius' (12,17), sondern in ihm zum neuen Leben kommen. Bei diesen Feinden, den ,hostes' oder ,reprehensores' der heiligen Schrift, steigt er also aus der hermeneutischen Weite aus und besteht auf der Autorität der Schrift. Die dogmatische Voraussetzung des maßgeblichen Textes ist bei ihm, im G egensatz zu o ben, nicht verschwunden. Mit Sicherheit wird man sagen können, daß mit den Feinden die Manichäer gemeint sind,I7 die den G edanken einer guten Schö pfung heftig ablehnen und keine Erlösung für die zeitliche Welt erkennen wollten. Vielleicht sollte man auch die N euplatoniker zu den Feinden der Schöpfungslehre rechnen, da sie als Philoso~ phen eine göttliche Offenbarung vo n vornherein abweisen.I! Jedenfalls ko nnte Augustinus während seiner langen manichäischen und seiner kurzen neuplato~ 17 11
0 111, 3 16. Solignac: Divenite, BA, 14,606.
,Die Fülle der sehr wahren Meinungen' 91 nischen Phase den Schöpfungsbericht der Bibel nicht annehmen. Also sind die ,hostes', die Gegner der Schäpfungslehre, für ihn wohl die Manichäer und die Neuplato niker. Die Hermeneutik Augustins, die er zur Zeit der Abfassung der Confessiones in seinen vier Büchern De doctrina cbristiana niederlegt, betont das Problem des Verstehens gerade auf der anderen Seite als die neuzeitliche Hermeneutik. Das Handbuch soll dem Christen helfen, sofern er Bildung sucht, diese nicht mehr von Cicero und der Rheto rik zu übernehmen, sondern von der Bibel. Es geht Augustinus nicht um die Verwerfung von Autorität, sondern um die Wahl der richtigen. De docuina christiana will eine Gebrauchsanweisung sein, die hl. Schrift zu lesen, deren Autorität der Christ eben durch sein Christsein anerkennL Chrisrwerden hieß für Augustinus selbst, endlich eine Autorität anerkennen zu kö nnen, die ihn nicht wieder enttäuschen würde. O hne jede Autorität auszuko mmen, sei es ohne die Autorität der Meinung oder sogar ohne die Auto rität vo n Sachverhalten, diesen titanischen Versuch hatte erst die Neuzeit in die Wege geleitet. Augustinus war einfach enttäuscht über die Autoritäten, die er der Reihe nach probiert hatte. Die frühe Lektüre der Bibel, die Manichäer, die Rhetoriker, die Neuplatoniker, nichts konnte auf Dauer seinen Fragen standhalten. Typisch ist, wie er in den Confessiones seine Hinwendung zu den Manichäem erklärt: Er sieht den Eintritt in ihre Sekte vor allem als sein Versagen an, die Autorität der Bibel anzunehmen. ,Sie erschien mir unwürdig im Vergleich mit dem Wert eines Cicero - sed visa est mihi indigna, quam TlIllianae dignitati compararem!' (3,9)
Hel meneutik des doppelten Pols. Also eine Hermeneutik als Kunst des Verstehens gibt es wo hl bei Augustinus in Buch 12 und anderswo. Aber es kommt ihm nicht in den Sinn, keine Autorität annehmen zu wollen, er ist nur eben auf der Suche nach der richtigen, die Sachverstand und Legitimation genug besitzt, um ihn zu belehren. Hermeneutik heißt die Suche nach der richtigen Lehre und das richtige Verständnis dieser Lehre. Allerdings weiß Augustinus, daß diese wahrheitsgenchtete Lehre nur in der Fonn der Aussage, also als MeiDung erscheinen kann. ,Wir alle lesen den Text und bemühen uns, darin einzudringen, um die Meinung dessen zu verstehen, den wir lesen - omnes quidem, qui legimus, nitimur hoc indagare atque comprehendere, quod voluit ille quem legimus: (12,27) Nicht Loslösung von dogmatischen Voraussetzungen, um den Pol der Subjektivität ganz rein in der Hand zu haben, sondern Suche nach der wahren Autorität, die verstanden werden muß, um angeno mmen zu werden, das ist die hermeneutische Grundsituation hier. Dieser nicht aufgelöste Doppelpol weckt Ve.ttntuen, wenigstens bei mir. Er nimmt die Erkenntnissituation des Menschen ohne Verkürzung in den Blick. In jedem Sagen oder Meinen gibt diesen doppelten Bezug: Ich rede zu jemandem über etwas. Das ist der Personalbezug und Sachbezug in jeder Rede! Aus dieser
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92 Dieter Haurup
Grammatik gibt es keinen Ausstieg. weil es keinen Ausstieg aus der Gestalt von Subjekt und Objekt gibt. Ich erkenne einen Gegenstand nur über eine Meinung. über meine eigene, die ich rede, oder eine fremde, die ich mir anhöre, und die ich billige oder nicht billige. So habe ich wiederum eine Meinung. Umgekehrt ist eine Rede leer und bloßes Wortgeklingel, wenn sie keinen Gegenstand hat Ich rede zu jemandem, subjektive Seite, über etwas, objektive Seite. Ich meine, wer diese Spannung aushält, ist gegen Ideologie gefeit. Das eben sehen wir hier bei Augustinus. Er ist dann interessiert, daß sich die Sache so verhält, wie er in der ersten Hälfte von Buch 12 darlegt, aber er weiß, daß die Sachdarstellung durch eine Meinung geht, seine eigene, ohne sich darin zu erschöpfen, denn dann wäre die gemeinte Sache wertlos. Dabei kann man nicht sagen, daß er diese Erkenntnis-Situation ausdrücklich vor Augen hätte. Die Spannung zwischen Subjekt und Objekt ist eine neuzeitliche Situation. Sie hat in der cartesischen Unterscheidung oder, vielleicht besser gesagt, in der cartesischen Trennung von ausgedehnter Substanz, res extensa, und denkender Substanz, res cogitans, ihren wirkmächtigen Ausdruck gefunden hat. Bei Augustinus Wtt die Erkenntnis-Situation in anderer Gestalt auf. Er spricht von Außen, Innen und dem Innersten, von ,foris, intus, intimum'. Man könnte im Außen das neuzeitliche Objekt und im Inneren das Subjekt sehen, was insofern richtig ist, als die augustinische Introspektion die neuzeitliche Subjektivität entscheidend gefördert hat. Und es ließe sich die Entflüchtigung des Zeitlichen als neuzeitliche Suche nach den bleibenden Gesetzen der objektiven Natur ansehen. Aber der große Unterschied ist die Wirklichkeit des Intimum, also die Wirklichkeit Gottes, in der die Zweiheit von Innen und Außen schon überwölbt ist von einer Einheit. In Gott ist das Drama von E rkcnnm.is und Anerkennm.is. der Gegensatz zwischen Waluheit und Meinung schon zum Ausgleich gebracht. 19 Ich vermute, weil Augustinus eine überwölbende Wirklichkeit kennt, die ihm die Einheit von Subjekt und Objekt gibt, kann er die Situation aushalten: Er muß weder die Meinung des Subjektes naruralisieren. noch diese Meinung zum alleinigen Aufbau des Weltbezugs zu nehmen. Eben das sind die heiden Gefahren der cartesischen Trennung von ausgedehnter Substanz, res extensa, und denkender Substanz, res cogitans. Materialisten und Idealisten können sich heide gut auf ihren Ahnherrn Rene Descartes berufen.
19
Vgl. Fischer: Augustins Weg
der Gottessuche.
,Die Fülle der sehr wahren Meinungen' 93 3. Der ,Himmel des Himmels'
Die ETlö'''''g der Zeit. Wir denken an die Mahnung Hegels, sich über die Grundlerucn nicht mit einer äußerlichen historischen Erklärung abspeisen zu lassen, sondern den höheren Geist zu suchen. Deshalb soll die Henneneutik Augustins nicht ohne seine Schöpfungslehre vorgestellt werden, an der er in Buch 12 seine Grundsätze zur Bibelauslegung erläutert. Die zentrale Aussage, die Sachaussage von Buch 12 ist der ,Himmel des Himmels', ihretwegen rühmt Augustin seinen Schöpfer. Obwohl diese geistige Schöpfung, .Dir, dem Dreieinen, keineswegs gleichwertig ist, hat sie dennoch Anteil an Deiner Ewigkeit - quamquam nequaquam tibi, ttinjtati, coaetema, particeps tamen aetenUtlltis tuae.' (12,9) Durch den ,Himmel des Himmels' wird Erlösung für diese flüchtige Welt möglich. Der Bischof von I-lippo hat noch viele andere Worte für diesen wertvollsten Teil der Schöpfung. wie etwa ,das ursprünglich Gestaltete - primitus fonnarum< (12,16), ,die erhabene Kreatursublimen crearura' (12,19) und weitere. Erlösung für ein geschaffenes Wesen bedeutet, Gottes Ewigkeit und Unwandelbarkeit ohne jede Unterbrechung durch Wandel zu genießen, ,sine ullo intervallo mutationis ... perfruatur' (12,15). Woher mag Augustinus die Vorstellung haben? Man könnte an das kontemplative Lehen denken, das er nach seiner Bekehrung in Cassiciacum und Ostia gefiilut und das er in seiner Heimat Notdafrika fortsetzen wollte. Fünf Jahre nach seiner Bekehrung, im Jahre 391, aber war Augustinus aus einem Leben der Kontemplation in ein Leben der Sorge und Aktion geworfen worden. 20 Was er im Leben erspürt hat, findet jetzt in der I.ehre seinen Niederschlag, da ihm erst das Priester-, dann das Bischofsamt ein kontemplatives Leben nicht mehr gestattete. Aber er war damit einverstanden, da ihm ein volles besinnliches Leben auf Erden, wie es die heidnischen Philosophen als Ziel verkündet hatten, zunehmend als musion erschien. Wahr blieb das Ideal trotzdem, nur in dieser Welt nicht zu verwirklichen. Lebenslang hat er gemeint, daß er in den ruhigen Wochen und Monaten seiner Bekehrung um 386/87 Gott am nächsten war. Da hatte ich Anteil an Deiner unveränderlichen Ewigkeit, Du Schöpfer, wo das veränderliche Geschöpf ,ohne Unterbrechung Dich anschaut - sine ullo interval10 mUt2tionis'. (12,15) In I-lippo legt Augustinus die Erinnerung an Cassiciacum von der Erde an den Himmel., wo es zum ,Himmd des Himmels wird'. Die gleiche Art, die Zeit zu behandeln, hatte Augustinus schon in Buch 11 als einen Weg zur Erlösung beschrieben. Mit Norbert Fischer sollte man sagen, Augustinus will nicht die Zeit aufheben, sondern ihre Aüchtigkeit. "Das Ziel., das die Zeituntersuchung in Gang bringt und in Atem hält, ist keine Entzeitlichung. die man mit Recht als Ziel Plotins nennen kann, sondern die Entflüchtigung des Zeitlichen, worunter das Ende der Flüchtigkeit der fur kostbar gehaltelD Ep. 99, t, an I,,!ja: ,cuius litter:is grauittt Contrist2b sumus'.
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nen Zeit zu verstehen ist.'es. 19f( (,.Die Fngc: ruch der Einheit der Qmft!SSUmdj. Einen überblick über die Diskussion gibt Fuhrer: Augustinus, 123ff.. Speziell zur Stellung von Buch XIll im Gefüge du Confessiones vgl MUll"" Der ""ill' s..hbat. IM eschatologisch< Roh< ab Zidfn'nk,
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108 Reinhard K/ockow drängt sich bei der unbefangenen, nicht-analytischen Lektüre der Eindruck einer Disko ntinuität auf, der seine Ursachen im Text haben muß. lns Auge springt der Wechsel des Themas: Lag in den ersten zehn Büchern der Schwerpunkt von Augustins confessio auf der reflektierenden Durchdringung des eigenen Lebensweges, geht es nun um eine Meditation über das erste Kapitel der Genesis, wo bei sich Buch XI lediglich mit den Wo rten in principio befaßt, Buch XII mit den beiden ersten Versen im Anschluß an diese Anfangsworte und Buch XIII mit dem übrigen Kapitel. Ein vorwiegend an Biographie und Psychologie, an Kultur- und Religionsgeschichte interessierter Leser, der in den vorangehenden Büchern so reich bedient wurde, sieht sich hier enttäuscht Mag er sich in Buch XI dwch die scharfsinnigen Reflexionen über das Wesen der Zei t und in Buch XlI durch die Diskussio n über Fragen der Hermeneutik noch einigermaßen entschädigt fühlen, wenn auch die Art der Darstellung sich auch hier schon der glatten LekCÜfe widersetzt, so gerät er spätestens bei Buch XlII in ernsthafte Schwierigkeiten. Mir jedenfalls erschien der Text dunkel und wirr, ein wahres Dickicht aus Wo rten, unklar in den Einzelheiten und unübe.rs.ichtlich im Ganzen; eine mühselige Lektüre, die heftige Aversionen auslöste. "Verbales Delirium" war noch eines der sanfteren Schimpfworte, mit denen ich ihn bedachte. Da war ich geradezu dankbar, als ich in j oscph Bernhart, dem sprachgewaltigen Confessiones-Übersetzer, einen Verbündeten fand ...Das Gestrüpp von Zitaten und Anspielungen aus der Bibel, die sich mit subjektiven Deutungen des Autors verwickeln (...), macht die Lektüre reichlich unwegsam", schreibt er in einer Anmerkung zu Buch XIII .s "Gestrüpp", "unwegsame Lektüre" - diese Worte eines ausgewiesenen Augustinus-Kenners deckten sich mit meiner eigenen Leseerfahrung.6 Ein Gestrüpp versucht man no nnalerweise zu umgehen. Manchmal verschlägt es einen jedoch dorthin (z.B. durch ein Augustinus-Seminar), und man muß versuchen, sich in dem scheinbar unwegsamen Gelände zu o rientieren. Ein solcher Versuch soll im Folgenden unternommen werden_ Auch Augustin sah sich mit der Genesis einem schwer zugänglichen und irritierenden Text gegenüber. Statt des Bildes vom Dickicht benutzt er das Bild von der verschlossenen Tür, an die er klopft, getreu der Verheißung Pulsate, et aper-
ein- H~mkehr ZN Gon , 00. 607ff.. Vgl. auch Mayer: .CadNm caeli', 553ff. , Augustinus: <enntnisse, 12teinisch und deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläuten von Bemhart, Frankfurt am M. 1987 (;; insel taschenbuch 1002),915 (auf diese Ausgabe beziehen sich die SeitetUngaben bei Confossioms-Zitllten). An anderer Stelle klingt der Vorwurf der "Verschrobenheit" (S.913) oder des ,,.Auswuchems in l\Ußlose" (S.9 18) an. • Auch Müller nennt Buch XIII ein ..Dickicht", durch du er drei ,,inha1tliche Schneisen" schlägt, .. wn den Text von diesen Lichtungen her zu erhellen." (IXr twigt Sabbat, 606). Mayer räwnt zur Genesisexegese der Confossioms ein: ,,Allerdings enchwen der exegetische Duktus dieser Schrift du Verstehen der Auslegung." ~ Cadllm auli', 559).
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ietur vobis , klopfet an, so wird euch aufgetan (Matth. 7,7): Et placeat (...) invenire me gratiam ante te, ut aperiantur pulsanti mihi interiora seI monum tuorum.7 Dem Auguscin wurde aufgetan. 1m Hinblick auf Buch XIII der Confessiones möchte ich seine Bitte aufgreifen: Aperiatur et mihi pulsanti.
II Versuchen wir zunächst eine Bestandsaufnahme: Welche Eigenschaften des Textes machen dem nicht-spezialisierten Leser die Lektüre so unwegsam? Ich nenne fünf Punkte:
1. Die von Augustin praktizierte Methode der allegorischen Auslegung Sie begnügt sich nicht mit dem buchstäblichen Wortlaut, sondern nimmt einen hö heren (oder tieferen, je nach Perspektive) spirituellen Sinn an, auf den die im Text genannten Gegenstände und Vorgänge verweisen (zw theologisch-theo retischen Begründung s.u.). So deutet Auguscinus bei seiner Auslegung des Schöpfungsberichts den Himmel als die Heilige Schrift, das Festland als den Glauben, das Meer als die bösen Leidenschaften der Seele bzw. als das Reich der dem Diesseits verhafteten Menschen, die Vögel als die Gottesboten, die Kriechtiere als die Sakramente, die Meeresungeheuer als Wundertaten, die Früchte der Erde als Werke der Barmherzigkeit usw. Der Schöpfungsbericht der Genesis wird unter den Händen Augustins (um-)gedeutet als der Weg der spirituellen Erneuerung und Vollendung des Menschen im Schoße der Kirche bis hin zum ..ewigen Sabbat". Das hat für den aufgeklärten, an historisch-kritische Interpretation gewöhnten Leser einen hohen Grad von Beliebigkeit; der Gedanke, daß diese Dinge in irgendeinem Sinne vom Text ,.gemeint" sein kö nnten, wie Augustin ja offenkundig glaubt, erscheint ihm abwegig.' "Laß mich (... ) die Gnade finden vor dir, c:hß meinem Klopfen sich auftue der verbo~De Sinn Deiner Worte" (XI,2,4, S.607); ich benutze die Übenetzung von Bemhart; davon abweichende Übersetzungen werden durch ein Sternchen r) gekennzeichnet. Im enten Teil dieses Aufsatzes, in dem Fragen der 12teinischen Formulierung im Vordergrund stehen, zitiecc ich den Text im lateinischen O riginal und füge die Übenetzung in den Fußnoten bei. 1m zweiten Teil, wo es mehr um intultliche F~n geht, verfahre ich um der besseren Lesbarkeit willen umgekehrt. • Müller spricht von "cmer gewissen inneren Änigmatik der w dreU:ehnte Buch dominierenden Genesis-Auslegung (...), die mit ihrer spezifisch allegorischen Ausrichrung cmem an der IUtiona.litiit der Modeme und an der historisch-kritischen Methode geschulten Leser die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Stoff rucht gende leicht macht." (Der ewige Sabbat, 603)
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110 Reinb4rd Klockow Bereitet schon das Prinzip der Exegese dem modemen Leser erhebliche Schwierigkeiten, so wird seine Ratlosigkeit durch dessen Durchführung noch erheblich gesteigert. Durch die Arbeit des Exegeten wird Schritt für Schritt eine neue semantische Ebene in den Text eingezogen. Immer neue semantische Gleichungen werden aufgestellt, mit denen der Text in der Folge operiert. Man könnte von einer Art Chiffrierung sprechen, die sich selbst als Dechiffrierung, als Deutung verstehL Wer diesen semantischen Umformungsprozeß nicht sorgrilrig nachvollzieht, wird bald nichts mehr verstehen, wie sich auch bei manchen Diskussionen in Weitenbuzg zeigte. Wer bei der Lektüre springt, ist verloren. Man müßte sich eine Art Vokabelheft mit den Wortgleichungen anlegen, um den Faden nicht zu verlieren.9 Das Ergebnis dieser Methode ist ein ambivalenter Text, der sich auf mehreren semantischen Ebenen gleichzeitig bewegt und buchstäblich Schwindel erzeugt. Ein Beispiel aus einer Fülle ähnlicher Formulierungen (die zitatkennzeichnenden Anführungszeichen des Herausgebers, die bei der Unterscheidung der semantischen Ebenen behilflich sein sollen, sind fortgelassen): Concipiat et man et pariat opera vestra, et producant aquae reptilia ani·
marum vivarum (...) et volatüia volantia super terram. Repserunt enim saCTa· menta tua, deus, per opera sanctorum tuorum inter medios fIuctus temptatio· num saeculi ad imbuendas gentes nomine tuo in baptismo tuo. Et inter haec facta sunt magnalia mirabüia tarnquam eoeti grandes et voces nuntiorum tuorum super terram iuxta jirmamentum libri tui praeposito Wo sibi ad aucto· ntatem, sub quo volitare1lt, quocumque irent. 10 Aus dem Schöpfungsbericht stammen die Wasser. aus denen Kriechtiere und Vögel hervorgehen; zur Deutungsebene gehö ren die guten Werke, die Versuchungen, die Sakramente, die
• Auch Augustin selbst scbeint das Bedürfnis des Lesers nach Übersicht und Durchblick zu ahnen und stellt zum Absch1uß seiner Auslegung den ..buchstäblichen" und den ,,geisti. gen" Sinn des Textes noch einmal zusammenfassend dar (§ 47-49). Dabei kommt t:s inter. essanterweise zu kleineren Abweichungen von den zuvor aufgestelltt:n "Gleichungen", so als ob Augustinus selbst den Überblick verloren häne; vgl. Müller. Der ewige Sabbat, 623 . Eine Gegenüberstellung von Ausgangstext und allt:gorischer Deutung in der sack kürzen· den Zusammenfassung von S49 bietet O'Donnell: Aligustin~. Conftssions 111, 41 6f. Eine große Hilft: fiir das Verständnis von Buch Xln ist die textbegleitendt: Interpretation von Schulte-K1öcker: Das VnhäJtnis wn EwigJreil lind Uil als WUkrrpiegdling ckr &Z~
hung zwischm Schöpf" und Schöpfong, 221 ff. 10
"Trächtig werde auch das Meer und gebäre eure Werke, und es sollen die Wasser hervo rbringen Kritthgetier der lebenden Seelen (...) und Geflügeltes, das über der E rdt: dahinfliegt. Es krochen nämlich Deine heiligen Zeichen dank dem Wtrken Deiner Heiligen mitten durch das Gewoge der Versuchungen dieser Welt, um die Völker mit Deinem Namen zu trinken in Deiner Taufe. Da gescluhen denn Großtatt:n wunduherrlich gleich den gew:altigt:n Meeresungeheuem, und die Stimmen deiner Bott:n flogen über der Erde dicht ~ dem Finnament deines Bucht:s: das war ihnen festes Geheiß, unter ihm ihre Rüge zu machen, wohin der Weg auch ging." (XI1I,20,26; 794*)
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Wundertaten, die Gottesboten und die heilige Schrift. Beide Ebenen werden in der Weise kurzgeschlossen, daß z.S. Prädikate, die zur einen Ebene gehören. mit Subjekten oder Objekten der anderen Ebene verbunden werden, was einen teils metaphernähnlichen, teils swrea1en Effekt ergibt: So " kriechen« Sakramente, so kann das Meer ,.gute Werke gebären", so können die Stirrunen der Gouesboten .. fliegen". Kennzeichnend für Simultanität der Ebenen ist auch die Genitivrnetapher, die buchstäblichen und allegorischen Sinn miteinander koppelt; Beispiele aus der zitierten Stelle sind inter medios jluctus temptationum saeculi (" minen im Gewoge der Versuchungen dieser Welt") und iuxtafirmamentum libn tui (" dicht arn Firmament deines Buches''); die Beispiele ließen sich vervielfachen.
In ähnlicher Funktion tritt tamquam (,,gleichsam',) auf; es ist eine Art Scharnier zwischen den Ebenen und sorgt als solches gleichennaßen für ihre Verbindung wie für ihre Unterscheidbarkeit.
2. Keine klare Tmmung zwischen auszulegendem Text und auslegender Rede, zwischen Bibeltext und darauf bezogener Meditation In neuzeitlichen Kommentaren sind Ausgangstext und kommentierender Text in der Regel deutlich voneinander getrennt. Drucktechnische Mittel wie Lemma~ tisierung, Wechsel der Druckcype u.ä. heben den Ausgangstext vom Kommentar sichtbar ab. Hinzu kommen Satzzeichen wie Anführungszeichen in unterschied ~ licher Form und Differenzierung, die auch im fortlaufenden Text Zitate vom zi~ tierenden Kontext abgrenzen. Schließlich gibt es auch eine Reihe sprachlicher Mittel zur Unterscheidung von objekt- und metaspracblicher Rede, die die drucktechnischen oder interpunktorischen Kennzeichnungen z.T . als redundant, als bloße Verdeutlichung eines schon durch die Fo rmulierung evidenten Sachverhalts erscheinen lassen (Redeverben oder andere metaspracbliche Prädikate; appositionelle Konstruktionen wie ..das Wort X", ..die Stelle Y", ..die Aussage Z " u.a.. .) .u Eine solche klare Unterscheidbarkeit findet sich in Buch XlII nur selten, etwa
zu Beginn von Kap. 3: Quod autem in primis conditionibus dixisti: ./iat lux, et facta est lux", non incongruenter hoc intellego in creatura spiritali.... 12 Hier erscheinen die üblichen Bestandteile der kommentieren Rede: Redeverb und Zitat, letzteres aufgegriffen in einem Pronomen (hoc), das als Objekt zu einem Verb der geistigen Wahrnehmung (intellego) mit einem Deutungsbegriff (in creatura spiritalz.) verknüpft wird. Oder eine andere Stelle, an der der genaue
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Vgl. Klockow: LinguistÜt der GänsefoJkhm. .Jenes Wo rt aber. das du in den Anfingen du Schöpfung sprachst: .Es werde Licht, und es ward Licht', versteh ich wohl mit Fug vo m geistigen Schöpfungsreich ..." (XI1I,3,4; 756).
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Reinhard Klockow
Wortlaut einer Bibelstelle hetVorgehoben wird: ldeoque pluraliter dicto:
Jacia-
mus hominem", singulariter tamen infertur: .. et ficit deus hominem", et pluraliter dicta: .. ad imaginem nostram ", singulariter infertur: ,.ad imaginem dei. «1J Meist aber verschmilzt der Bibeltext, aufgelöst in kleinste Partikel, mit der nach Deurung suchenden Meditation zu einer untrennbaren Einheit, auflösbar nur für den, der den biblischen Wortlaut genau im Ohr hat. 14 Ohne die Anführungszeichen und Stellenangaben der modemen Ausgaben würde man manche Bibelzitate gar nicht als solche identifizieren, zumal Augustin noch nicht die vertraute Vulgata-Fassung des Textes benutzt, sondern eine Vetus-Latina-Version. ls Noch einmal das obige Beispiel (ohne die Anführungszeichen des Herausgebers): Cancipiat et rrl4re et pariat opera vestra, et producant aquae reptilia animarum 'Ui'Uarum. 16 Der Satz beginnt auf der allegorischen Ebene und läßt erst im zweiten Teil (ab producant) ohne Zitatkennzeichnung die Bibelstelle folgen, als deren Auslegung sich die Passage versteht. Oder einige Zeilen spä ter:
Et inter haee facta sunt magnalia mirabilia tamquam eoeti grandes et 'Uoces nuntiorum tuorum wlitantes super terram iuxta jirmamentum libn tui ... 17 Aus Genesis 1,21 stanunen eoeti grandes und 'VOlitantes super lerram; diese Spolien sind aber eingeschmolzen in einen Stro m allegorisierender Rede, der ganz andere Themen verfolgt als der Ursprungs text. In Passagen wie diesen geh t das Sprechen über die Worte der Genesis in ein Sprechen mit deren Worten über, in einen Modus des identifikatorischen Zitierens, der vielfache Schattierungen zwischen der bloßen Nennung eines Ausdrucks und der völligen Aneignung kennL I& Diese Ambivalenz oder besser Multivalenz der Formulierung ist kennzeichnend für große Teile von Buch XIII .
U
14
Darum ist in der Mehrzahl gesagt: .Laßt uns den Menschen machen', und folgt in der Einzahl: ,Und Gott enchuf den Menschen', und nachdem in der Mehrzahl gesagt ist: ,nach unserem Bild', folgt in der Einzahl: .nach dem Bilde Gottes'." (XIII,22,32; 804). Diese Schwierigkeit bestätigt auch O 'Donnel1: "Ow: difficu1ty as reader.; lies in following twO threads at once: that of Gn. 1, the text under exegesis, and that of A.'s allegorical reading - both threads often redendered hare! to trace by the intenwining of the [Wo." (I 1I, ..
391)_ I~ Eine hypothetische Reko nstruktion dieser Ver.;ion findet sich 16
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bei O'DonnelllII ,.344[
"Trächtig werde auch das Meer und gebäre eure Werke, und es sollen die Wasser hervorbringen Kriechgetier der lebenden Seelen." (XIIl,20,26; 794""). ,.Da geschahen denn Großtaten wunderherrli.ch, gleich den gew:a1tigcn Meeresungeheuem, und die Wone deiner Boten flogen über die Erde, dicht an dem Firmament Deines Bu· eh.. _" (XIII,20,26; 794')_ Vgl. Klockow: Linguistik rkr Gänsefoßchm, 91ff. über "Zitat und Modalisierung".
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Confessiones 13: Venueh einer Orientierung 113 3. Die Fülle der sonstigen Zitate, die ausufernde Intertextualitat des Textes Die eben beschriebene Einschmelzung von Genesis-Zitaten in den Text ist nur ein Teilaspekt eines umfassenderen Phänomens: Augustinus blendet dauernd ohne beso ndere Kennzeichnung fremde Te:xtpartikel in seine Rede ein; er redet nicht nur mit eigenen Worten, sondern auch mit denen des P salmisten und der Propheten, der Evangelisten und Apostel. Ein beliebiges Be.ispiel, zunächst ohne Kennzeichnung der Spolien: Vos autern, genus electum, infirma mund;' qui
dimisistis omnia, ut sequelemini dominum, ite post eurn et eonfundite fortia, ite post eum, speciosi pedes, et lueete in firmamento, ut caeli enan'ellt gloriam eius dividentes inter lueem per/ectorum. sed nondum sieut angelorum, et tenebras parvulorum, sed non desperatorum: lueete super omnem terram, et dies, sole candem, eruetet diei verbum sapientiae et nox, luna lueens, annuntiet nocti verbum scientiae.19 Ein buntscheckig wirkender Text, von disparater Bildlichke.it (Füße, die leuchten ~ und sich verästelnder Gedankenfiihrung (parenthese), dazu von zweifelhafter syntaktischer Kohärenz (infirma als Neuaum Plural hängt in der Luft, und der Anschluß mit qui verstärkt den Bruch). Eine gewisse Erklärung der Seltsamkeiten ergibt sich, wenn man erkennt, daß es sich hier um ein Patchwork von Bibelzitaten handelt. Noch einmal dieselbe Passage, diesmal mit den Anführungszeichen und den Quellenangaben nach Bemhart und einigen zusätzlichen Zitatkennzeichnungen: Vos autern, ".genus efectum" (l Pett 2,9), .. infirma mundi" (I Kor 1,27), qui .dimisistis omnia, ut seque,.,,,ini" (MI< 10,28) dominum, ite post eum et .confunditefortia· (I Kor 1,27), ite post eum, ..speciosi pectes'" (ls 52,7, Rom 10,15), et .. fueete in firmamento· (Gen 1,15), ut .. eaefi enalrelJt gloriam" (ps 18,2) eius .dividentes" inter .Iucem" (Gen 1,4) perfectorum, sed nondum sicut angelorum, et .tenebras" (Gen 1,4) .parvulorum" (I Kor 3,1), sed non desperatorum: .. fueete super'" omnem .. terram" (Gen 1,1 7), et ..dies" sole eandens .. eruetet diei verbum" (ps 18,3) sapientiae et .. nox", luna lueens, ..annuntiet nocti verbum seientiae· (ps 18,3).211
l' "Und ihr, das auserwihlte Geschlecht. das Schwache in der Welt. die ihr alles Vf' dusen
3)
habt, um dem Herrn zu folgen. ziehet ihm nach und beschienet das Wdtswke, ziehet ihm nach, frtudeschön wandelode Füße, und leuchte.t aal Finnament, cbmit die Himmel seinen Ruhm verlriinden, scheidend zwischen dem Licht der Vollkommenen - ob auch noch rucht in der Weise du Engel -, und der Finsternis du Unmündigen, die doch rucht schon aufzugeben sindl Leuchtet über der ganzen Erde, und der Tag im Glanz der Sonne rufe dem Tag das Wort der Weisheit zu, und die Nacht, der leuchtende Mond, künde der Nacht du Wort du Erkrontnß." (XIIl,19,25; 792'). Und ihr, das "auserwihlte Gesch1echt" (I Pett 2,9), "das Schwache in du Wdt" (I Kor 1).7), die ihr "alles verlassen" habt, um dem Herrn ,,zu fo1ge.o" (MX: 10,28), ziehet ihm nach und "beschimet das Wdtswke" (I Kor 1,27), ziehet ihm nach, "freudeschÖD wan·
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114 Reinhard Klockow Dabei sind die Zitate nicht immer wörtlich übernommen, sondern dem syntaktischen Zusammenhang und der eigenen Redeintention des Augusr1nuS angepaßt: Aus ut confundatfortia (l Kor 1,27) z.B. macht er confunditefortia usw. Mit Zitaten ist das so eine Sache: Erkennt man sie nicht, fehlt einem eine Bedeuruagsdimeasion des Textes; man nimmt sie bestenfalls als Störungen der Textoberfläche walu:. Erkennt man sie, so haben sie die Tendenz, aus dem Text herauszuweisen in andere Kon texte; ein Anspielungsraum wird eröffnet, neue Spiegelungen und Bezüge ergeben sich, die Bedeurungsmöglichkeiten werden poteaz.iert. Das kann eine Bereicherung sein. Zugleich aber besteht die Gefahr der Verflüchtigung des eigentlichen Sinnes. 21 Auch die herkömmliche Textexegese arbeitet mit Parallelstellen und Konr.rastzitaten, um den Sinn einer Stelle auszuschöpfen. Bei Augustinus aber ist es ganz anders. Er ist kein Philologe; ein historischer Blick auf den Text, den er als direkte Ansprache durch Gott erlebt, ist ihm fremd. Man hat den Eindruck, daß in seinem Kopf alle Worte der Bibel gleichzeitig präsent sind,22 ähnlich wie bei Gottvater alle Tage und Zeiten von der Schöpfung bis zum Weitende. Jedes Won weckt Assoziationen an tausend andere; die Schrift erscheint als ein Kosmos von überwältigender Fülle und Stimmigkeit, und die Überwältigung durch die immer neu zuschießenden Wortaok1änge und Sinnbezüge spiegelt sich in der Zitatenfülle des Textes. Doch aus Fülle kann auch Redundanz und Hypertrophie werden. Der Zitatentaumel in Buch XIII führt nicht selten dazu, daß man sich beim Lesen gewissennaßen die Augen reibt und sich fragt Wovon ist denn nun eigentlich die Rede? Und in diesem "Gestrüpp von Zitaten und Anspielungen", um die Formulierung Bemharts noch einmal aufzugreifen, kann man sich leicht verfangen.
delnde Füße" (1s 52,7, Rom 10, 15) , und ,)euchtet ~ Fimument" (Gen 1,15), damit "die Himmel" seinen ..Rulun verkünden" (ps 18,2), ..scheidend" %Wischen dem ,..Lcht" (Gen 1,4) der Vollkommenen - ob auch noch nicht in der Weise der E ngel -, und der "Fin. sternis" (Gen 1,4) der "Unmündigen" (I Kor 3,1), die doch nicht schon aufzugeben sind l ,,.Leuchtet über" der gllnzen "Erde" (Gen 1,1 7), und "der Tag" im G lanz der Sonne " rufe dem Tag das Wort" (ps 18,3) der Weisheit zu, und ..die Nacht", mondglänzend, .. künde der Nacht das Wort der fukenntnis" (ps 18,3). ~I M2gaß stellt in Bezug auf Kap.15,18 h.alb bewundernd, h.alb kritisch fest, Augustinus treibe ,,mit den Elementen dieser Zitate eine ingeniöse Bastelei." (ClarilaJ wrsus ooorilaJ, 11 ). !:! Ähnliches wird von Origines gesagt: ..O ogines predigte mit dem auszulegenden Text in der Hand, er predigte abe1- vor allem mit der ganzen Bibel im Kopf." (Sieben, zitiert bei Schwienhorst-Schönberger: Einheit statt Eiru:kuliglU'it. 416.)
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4. Das Fehlen einer erkennbaren Gliederung, eines .roten Fadem" Der Text als Gestrüpp, als Dickicht - so die bisherige Metapher für seine Unzugänglichkeit. Ein anderes Bild, das sicb bei der Lektüre aufdrängt und gelegentlich schon anklang, ist das des (Rede-)Stroms, der sich ohne erkennbare Gliederung dahinwälzt; man hat als Leser das Gefühl zu .,schwimmen" und sucht nach gedanklichen Haltepunkten oder Orientierungsmarken. Der Genesistext, immerhin Quelle und Gegenstand dieses meditativen GedankenstIoms, bietet dabei wenig Hilfe. Er ist, wie schon erwähnt, in kleinste Partikel aufgelöst und bis zur Unerkennbarkeit in neue Zusarrunenhänge eingeschmolzen. Zudem wird er nur lückenhaft aufgegriffen.23 Er liefert der Exegese die Stichworte, aber keine identifizierbare Strukrur, weder als durchlaufender "roter Faden« noch als Modell fiir die Gliederung (von der bloßen Abfolge der Elemente abgesehen). Die charakteristische, durch fonnelhafte Wiederholungen betonte Einteilung des Schöpfungsberichts in Tagewerke spiegelt sich nicht in einer ähnlich markanten Gliederung der allegorischen Auslegung wider; diese folgt vielmehr ihrer eigenen abstrakten Theo-Logik, die sich - jedenfalls bei der ersten Annäherung - nicht eben durch klare Artikulation auszeichnet. :M
5. Der Gestus des erregten Sprechens und sein Einfluß aufdie Syntax Schon aus dem Bisherigen geht hervor: Augustin spricht nicht als ruhiger Exeget. Wie bei der Lebensbeichte in Buch I-X treibt ihn auch bei der GenesisMeditation sein unruhiges Herz, das " klopfend" um Öffnung des Schriftsinns bittet.2S Die Meditation entfaltet sich dialogisch, im Gespräch mit Gott wie die :u Vgl. dazu die Übersicht bei O'Donnell IIl, 416f., die sich allerdings nur :ilUf die ZusamN
menfassung von §49 bezieht. Diese Ansicht teilt z.B. auch Soligrulc: "Lc texte manque sans doute de coherence et de clane; ici encore on y discerne plus le libre cheminement d'une meditation devant Dieu qu'un souci de lier logiquement les idees" (zitien bei Müller: Der ewige Sabbat. 623, Anm. 39). Natürlich läßt sich bei genaueret' Betrachtung die Ta~erkeinteilung bei Augustin wiederfinden, der sich ja im Wesentlichen an die vom Genesistext vo~gebene Reihenfolge hält; vgl. die Übersichten bei O'DonnelllIl, 343; Müller: Der ewige Sabbat, 647f. und
Fuhrer: Augustinus, 121f. Für den Leseeindruck wichtig ist aber, daß diese Einteilung nicht als Gliederungsprinzip der Exegese hervortritt. Ähnliches gilt für die .,Logik" des Textes: Der genaueren Amlyse mag sich ein s~s theologisches Konzept erschließen, wie es 2.B. Müller vorstellt, der der Allegorese von Buch XlII " Wucht und Geschlossen. heit" (Der ewige Sabbat, 618) sowie ..~ Konsistenz" (ebd., 619) bescheinigt . Die T e.xtoherfläche jedoch vermittelt den Eindruck der Konsistenz nicht. ~ Vgl. du Wortspiel zu Beginn von Buch XlI : Mulla saragit cor mn4m. domine. in hac inopw !.1i.l« meae puLsatum wrbis sanctae scripturiU tuae 7; 732').
132 R.inhard Klockow baums herumpicken - , sind in der Lage. den von Augustin herausgearbeiteten abstrakteren Sinn oder eine seiner Varianten zu erfassen.'l
9. Axiom des unmittelbaren (.intuitiven", offenbarten) Zugangs zur Wahrheit Wober nimmt Augustin die Überzeugung. daß seine Deutung wahr ist. unabhängig von dem, was der Schreiber vielleicht gemeint hat? Er beruft sich auf einen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit, auf eine Art innerer Stimme, die ihm Gewißheit gibt. ,,Allein woher sollte ich dann wis sen, ob wahr ist, was u sagt?", fragt er, als er sich eine persönliche Begegnung mit Moses vorstellL ..Und wüßte ich auch das, wüßte ich's etwa von ihm? Nein, da würde innen, don innen, wo die Denkkraft wohnt, mir die Wahrheit, die nicht hebräische, nicht griechische, nicht lateinische. noch barbarische Wahrheit, ohne das \Verkzeug von Mund und Zunge, ohne Silbengetön es sagen: ,Wahr ist's, was er sagt.' Und ich, ich würde augenblicks, aus vollgewisser Zuversicht, diesem Deinem Manne sagen: ,Wahr ist's, was Du sagst."