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Durch eine Feuerkugel sind Brad und Simon in einer Parallelwelt gelandet, in der das Römische Reich fortexistiert. Nach turbulenten Kä m p f e n s i n d d i e C h ri s t e n a n d i e Macht gekommen und haben eine herz-lose Diktatur errichtet. So können und wollen die beiden und ihre Gefährten Bos, der Gladiator, und Curtius, ein Legionär, nicht leben. Die vier beschließen, Amerika für die Welt, in der sie jetzt leben, neu zu entdecken. Die Überfahrt gelingt und man landet im Indianerland. Nach anfangs friedlichem Zusammenleben stellen die Freunde fest, daß die Algonkins sie aushungern wollen. Es bleibt nur die Flucht über See. In dichtem Nebel treffen sie mit ihrem Floß auf eine Wikingerflotte, in deren Heimathafen sie einige ungestörte Wochen verbringen. Doch Lundiga, die Tochter des Häuptlings, offenbart ihnen ein grausames Geheimnis. Bei Nacht und Nebel gelingt ihnen erneut die Flucht, die sie schließlich in eine mittelamerikanische Hochkultur führt.
John Christopher Flucht vor den Göttern Aus dem Englischen von Hans Georg Noack
Arena
I Einige kleine Schauer waren dem großen Schnee vorausgegangen. der ganz allmählich begann, mit ein paar Flocken zunächst, die aus einem stahlgrauen Himmel fielen und zerflossen sobald sie den Boden berührten. Das war am frühen Nachmittag, und es schneite bis in die Dunkelheit hinein. Sie legten Holzscheite für das Feuer bereit, aßen ihr Abendbrot Lampenschein und spielten dann ein römisches Spiel mit und Spielmarken. Am nächsten Morgen schneite es noch immer, doch fielen die jetzt schneller und dichter, und der Schnee lag schon fast einen Viertelmeter hoch vor der Tür. Sie schauten in eine weiße Welt, und als sie hinausgingen, klangen ihre Stimmen seltsam gedämpft und doch klar. Bos, der einmal Gladiator gewesen war, wurde kindisch und begann eine Schneeballschlacht. und Curtius, der ehemalige römische Hauptmann, beteiligte sich daran. Danach räumten sie einen Weg rund um die Hütte und hinaus zur Quelle und zur Latrine. Simon spürte die wohlige Anregung durch die körperliche Arbeit und die behagliche Wärme, als sie wieder hineingingen. Erst nach drei Tagen hörte es auf zu schneien, und bis dahin lag der Schnee überall einen Meter hoch und hatte an manchen verwehten Stellen sogar die doppelte Höhe erreicht. »Gut so«, sagte Brad. »Ideale Bedingungen!« *Ideal wofür?« fragte Simon. .Um die Schneeschuhe zu erproben.« Aus Birkenstämmchen und Tierfellen hatten sie Schneeschuhe nach dem Muster hergestellt, das sie im benachbarten Dorf der Algonkinindianer gesehen hatten. Die Herstellung war 5
nicht ganz einfach gewesen, und Simon, der für derlei Dinge nicht sonderlich geschickt war, hatte die Arbeit daran schließlich gelangweilt aufgegeben. Bos hatte sie dann vollendet. Simon fühlte sich deswegen ein wenig schuldig, und deshalb reagierte er jetzt auf den Vorschlag ohne große Begeisterung. Er erklärte, daß ein Handelsbesuch der Indianer bevorstünde, und erbot sich, in der Hütte zu bleiben, um sie zu empfangen. Nach dem langen Aufenthalt in der Hütte brannten die anderen darauf, sich an der frischen Luft zu bewegen. Simon schaute ihnen nach, als sie ungeschickt den Hang hinaufstiegen. Während des Schneesturms hatte nur der Kamin für Luftzufuhr gesorgt. Wenn man wieder frische Luft geatmet hatte, bemerkte man, wie stickig und unangenehm die Atmosphäre in der Hütte war. Simon zog die Riegel zurück, mit denen die Fensterläden befestigt waren, und öffnete sie. Kalte Luft strömte herein. Das zugleich eindringende Licht zeigte den Schmutz, der sich in den drei Tagen der unfreiwilligen Gefangenschaft angesammelt hatte, und Simon beschloß, etwas dagegen zu unternehmen. Nachdem er eine Stunde gefegt und geputzt hatte, bedauerte er, nicht mit den anderen gegangen zu sein. Schließlich waren die Vorräte nicht besonders knapp. Sie hatten nicht mehr viel Korn, aber für zwei, drei Tage reichte es noch, und wenn die Algonkins nicht kamen, konnten sie noch immer selbst ins Dorf gehen. Endlich aber sah es in der Hütte nicht mehr wie in einem Schweinestall aus. Simon lehnte sich auf seinen Besen und schaute in den Schnee hinaus. Ein Häher grub emsig im Schnee; die weißen Brustfedern verschwammen fast in dem weißeren Weiß, doch das blaue Rückengefieder hob sich deutlich ab. Der Vogel zerrte etwas aus dem Schnee und flog damit davon. 6
Der Vogel war nicht nur farbenprächtiger, sondern sah auch beweglicher aus als die Häher, die Simon von England her kannte. Bei diesem Gedanken fiel ihm auf, daß er schon lange nicht mehr an daheim gedacht hatte: Es schien wenig sinnvoll zu sein, und außerdem gab es hier genug, was die Gedanken beschäftigt hielt. Jetzt fragte er sich wieder, wie man sein und Brads Verschwinden wohl gedeutet haben mochte. Wahrscheinlich hatte man Suchtrupps ausgeschickt, Flüsse und Brunnen durchforscht und überhaupt alles unternommen, was man bei solchen Gelegenheiten aus dem Fernsehen kennt. Es war schon merkwürdig, in dieser jetzigen Welt an das Fernsehen zu denken. Plötzlich konnte Simon sich genau vorstellen, was es für seine Eltern – und auch für Brads Familie –bedeutet haben mußte, als sie nicht von ihrem Spaziergang zurückgekehrt waren. Sein Verhältnis zu den Eltern war immer ein wenig kühl gewesen, für die Zärtlichkeiten war eher die Großmutter zuständig gewesen; aber es mußte doch schrecklich für sie gewesen sein. Und für Großmutter ... Es war sinnlos, so sagte er sich wieder einmal, über etwas nachzubrüten, das sich doch nicht ändern ließ. Und schließlich waren sie ja auch völlig unschuldig an dem, was sich zugetragen hatte. Plötzlich war da jenes seltsame Etwas gewesen, das ihnen wie eine Feuerkugel auf dem Weg entgegengerollt war. Und im nächsten Augenblick ... Er war bewußtlos gewesen, und als er wieder zu sich kam, standen zwar noch immer Bäume rund um ihn, doch es waren andere Bäume: eine andere Welt. Allmählich hatten Brad und er eine Beobachtung zur anderen geführt und waren zu einer Erklärung gelangt, die zwar phantastisch erschien, die aber auch sehr genau zu den Tatsachen veränderten Existenz paßte. Die Feuerkugel war ein Übergangspunkt zwischen ihrer eigenen und einer anderen Welt gewesen, die auf einer anderen Möglichkeitsspur lag 7
Eine wenn-Welt. Es war ein schwindelerregender Gedanke, daß es eine unendliche Zahl solcher Welten geben könnte, die – füreinander unsichtbar – nebeneinander existierten. Diejenige, in der sie sich wiederfanden, entstammte einer Ganz bestimmten Lage im Lauf der europäischen Geschichte. Hier hatte das Römische Reich bis in das späte zwanzigste Jahrhundert fortbestanden, hatte jedoch dafür auf jeden gesellschaftlichen und technischen Fortschritt verzichten müssen. Die Ankunft zweier Menschen aus einer hochentwickelten Gesellschaft hatte eine Revolution beschleunigt, der sie mit ihren besonderen Kenntnissen zum Erfolg verholfen hatten. Leider hatte die Diktatur, die aus dieser Situation entstand, sich als viel schlimmer erwiesen als die verhältnismäßig wohlwollende Tyrannei des Reiches, und sie hatten sich unmittelbar bedroht gefühlt. Brad hatte Simons Familie in England besucht; er selbst stammte aus Neuengland, einem Gebiet, das in dieser Welt noch unentdeckt war. Angesichts der Lage, in der sie sich befanden, erschien ihnen der Gedanke verlockend, Amerika selbst zu entdecken. Sie hatten zwei römische Freunde mitgenommen und waren westwärts gesegelt. Nach einer stürmischen Ozeanüberquerung hatten sie ein Gebiet erreicht, das von Algonkinindianer bewohnt wurde. Brad verfügte, zu Simons gelegentlichem Unwillen, über ein geradezu lexikonartiges Wissen, und er wußte auch recht viel über Indianer, besonders über die Algonkins. Er kannte sogar ein paar Brocken ihrer Sprache und hatte im Laufe der letzten Monate viel hinzugelernt. Tatsächlich konnte er sich mit den Indianern unterhalten, während die anderen drei mehr oder weniger auf Zeichensprache angewiesen waren. Sein Gedanke war es auch gewesen, allerlei Tand mitzubringen – Perlen, Metallspiegel und dergleichen – und es hatte sich gezeigt, daß man dagegen sehr gut Nahrungsmittel eintauschen konnte. 8
Die Indianer waren tüchtige Jäger und bauten zudem Weizen und einige Gemüsearten an. Es war tatsächlich kein schlechtes Leben, wenn man erst alle Erinnerungen an daheim und an technische Fortschritte entschieden verbannt hatte. Simon hatte sich diesem Leben gut angepaßt, genau wie Bos und Curtius, die beiden Römer. Brad hingegen erschien unruhig und drängte immer wieder, sie sollten weiterziehen. Er plante, den Kontinent nach Westen zu durchqueren. Simon zweifelte sehr daran, daß dieser Plan etwas taugte. Er sah nicht ein, warum es anderswo besser sein sollte als hier, und er hielt es durchaus für möglich, daß sie eher Schlechteres finden könnten. Ihm gab es auch ein Gefühl der Sicherheit, dicht am Meer zu sein. Simon wurde in seinen Gedanken von einem Hirsch unterbrochen, der über dem Hügelrand erschien. Dort blieb er stehen, ein wunderbarer Anblick, der zugleich Nahrung verhieß. Simon überlegte, ob er auf Bogenschußweite herankommen konnte, ehe das Tier ihn bemerkte, glaubte aber nicht daran. Immerhin konnte ein Versuch nicht schaden. Er wandte sich gerade nach seinem Bogen um, als das Tier sich plötzlich Mieder bewegte. Aber es floh nicht, sondern tat etwas wie einen kleinen Sprung und brach dann zusammen. Ein gefiederter Pfeil steckte dicht hinter der Schulter: ein sauberer Schuß. Bald darauf tauchten die Algonkins auf der Anhöhe auf. Zwei beugten sich über den erlegten Hirsch, die anderen drei kamen. vom Häuptling angeführt, auf die Hütte zu. Auch sie trugen Schneeschuhe, doch an ihren Bewegungen war nichts Unbeholfenes. Sie bewegten sich mit leicht gebeugten Knien vowärts, und sie kamen mit ihren Gleitbewegungen so schnell voran wie ein laufender Mann. Die üblichen Grußgesten wurden ausgetauscht; der Handel begann. Einer der Tapferen zeigte die Waren, die sie mitge9
bracht hatten: drei Kaninchen, eine Hirschkeule, zwei weizengefüllte Behälter aus Birkenrinde aus ihrem Wintervorrat. Der Tarif war eine Glasperlenkette für einen Behälter Weizen, eine Kette für jedes Kaninchen, zwei für die Hirschkeule. Simon bot dem Häuptling sieben Perlenschnüre an und wartete, daß man ihm die Waren dafür reichte. Der Indianer, der das Mitgebrachte in den Händen hielt, sah ihn nur unbewegt an. Roter Falke sprach ein paar Worte, und der Tapfere schob einen Weizenbehälter vorwärts. Es war also in Ordnung. Aber dann reichte Roter Falke vier der Perlenschnüre zurück. Während er die anderen in seine Ledertasche fallen ließ, deutete er auf den Behälter, den Simon genommen hatte, und hob drei Finger. Die Bedeutung der Geste war klar: Drei Perlenschnüre wurden für jeden Kornbehälter gefordert. Der Preis war kräftig gestiegen. Simon tat so, als müsse es sich um ein Mißverständnis handeln. Den Behälter in der einen Hand haltend, hob er die andere und streckte einen Finger in die Höhe. Der Häuptling starrte ihn lange an, und Simon meinte schon, er werde mit seinem Vorschlag Erfolg haben. Dann zog Roter Falke die drei Perlenschnüre aus seiner Tasche und ließ sie auf den Hüttenboden fallen, während er zugleich die Hand nach dem Weizenbehälter ausstreckte. Die Frage war offensichtlich: alles oder nichts. Er wünschte, die anderen wären da, besonders Brad, und schaute sich um, ob irgendetwas auf ihre Rückkehr hindeutete. Aber nichts rührte sich, abgesehen von den beiden Indianern, die kundig den Hirsch zerlegten. Roter Falke legte die Hand auf den Behälter, und Simon dachte an die geringen Kornvorräte. Er hob die Hand und streckte zwei Finger aus, doch Roter Häuptling zeigte störrisch drei. Simon hob die drei Perlenschnüre auf und gab sie ihm. 10
Einige Stunden später kamen die anderen zurück. Sie banden ihre Schneeschuhe ab, und Brad sagte: »Ich glaube, bis zu meinem Bett schaffe ich es gerade noch. Mit Mühe. Komisch, meine Beine sind steif wie Zaunpfähle, aber die Muskeln sind weich wie Gelee.« Selbst Bos und Curtius sahen erschöpft aus. Simon fragte: »Habt ihr etwas gefunden?« »Ja«, antwortete Curtius. »Truthähne und ein Hirschrudel. Aber da waren auch ein paar arme hungrige Wölfe, und wir hielten es für besser, denen alles zu überlassen.« Bos zog die Tunika aus und wischte sich den Schweiß von der Brust. »Es wird schon besser werden mit der Zeit. Am Anfang ist alles schwierig. Wir müssen üben. Heute ...« Er hob die Schultern. »Wir waren wie Schildkröten auf Hasenjagd.« Brad lag ausgestreckt auf seinem Bett. »Und hier? Hat sich der Rote Falke sehen lassen?« Simon nickte. »Ja, er war hier. Oben auf dem Hügel haben sie einen Hirsch geschossen.« »Ich habe Blut gesehen«, sagte Bos. »Sie sind gute Jäger.« »Was hast du gekauft?« fragte Brad. -Einen Behälter Weizen.« »Mehr haben sie nicht mitgebracht?« »Doch sie hatten mehr. Auch noch Kaninchen und eine Hirschkeule. Brad richtete sich auf. »Aber wir waren uns doch einig, alles zu nehmen, was sie anzubieten hatten. Was ist los mit dir?« »Ja, wir wollten alles kaufen; aber doch nicht zum dreifachen Preis.« Sie starrten ihn an. .Wie meinst du das?« fragte Curtius. Er erzählte es ihnen. Als er schwieg, sagte Brad: »Schade, daß ich nicht hier war.« »Ja. das ist schade. Aber geändert hätte es auch nichts. Ich 11
habe versucht, ihn vom Dreifachen wenigstens auf das Doppelte zu drücken. Er hat nur einfach nach dem Weizen gegriffen.« Nach einer Pause sagte Brad: »Wir wußten ja, daß der Weizen knapp werden würde. Gegen Ende des Winters werden wir also wohl ohne Brot auskommen müssen – den Indianern geht es ja auch nicht anders. Aber alles andere hättest du trotzdem kaufen sollen.« »Du hast nicht richtig zugehört. Als ich vom dreifachen Preis gesprochen habe, da war alles gemeint!« Brad sah ihn ungläubig an. »Bist du sicher?« »Ja, ich hab's versucht.« Alle schwiegen, bis Curtius endlich sagte: »Dann müssen wir uns sehr schnell an diese Schneeschuhe gewöhnen.« Es klang bedrückt. In dem Versuch, die anderen aufzuheitern, sagte Brad: »So schlimm ist das gar nicht. Jetzt gilt eben der Wintertarif. Noch bleibt uns genug Spielraum. Noch sind vier Säcke mit Perlen übrig, dann die Spiegel und alles andere. Und dann haben wir noch die Ziege, die wir aus England mitgebracht haben, und die Hühner. Sie liefern uns Milch und Eier. Wenn wir nur ein wenig Jagdglück haben und bescheiden leben, dann kommen wir schon zurecht.« Keiner sagte ein Wort, und so fuhr er fort: »Wir müssen zusehen, daß wir so wenig Fleisch wie möglich von ihnen brauchen, aber Korn sollten wir soviel wie möglich kaufen. Nein, ich mache dir keinen Vorwurf, Simon, aber wir sollten lieber auch zum neuen Preis den zweiten Behälter kaufen.« Er reckte sich und gähnte. »Jetzt sind wir alle viel zu müde, um ins Dorf zu gehen, aber gleich morgen früh machen wir uns auf den Weg.« Am nächsten Morgen blieben Simon und Bos zurück. Simon meinte, er sollte recht schnell das Schneeschuhlaufen erlernen, 12
und Bos wollte ihm dabei helfen. Wie bei allen körperlichen Fertigkeiten, war Bos auch hierin schon am weitesten fortgeschritten. Zwei Stunden übten sie an den Hängen rund um die Hütte, bis Simon sich wie eine mit Blei gefüllte Lumpenpuppe vorkam. Er war erleichtert, als er Brad und Curtius heimkommen sah und dadurch eine Entschuldigung hatte, das Üben abzubrechen. Als sie aber nahe genug heran waren, sah er, daß der Sack auf Brads Rücken, der den Birkenbehälter hätte aufnehmen sollen, leer war. »Was ist?« fragte er. »Nicht genug Geld.« »Aber du hast doch . »Drei Schnüre mitgenommen, ja. Das war der neue Preis, den du uns gesagt hast. Aber der Preis scheint seit gestern gestiegen zu sein. Jetzt sind es fünf ...« Anfangs war Simon den Indianern gegenüber sehr mißtrauisch gewesen, weil er sich an eine Folklore mit Flammenpfeilen, Tomahawks, Marterpfählen, Skalps und allgemeiner Grausamkeit erinnerte. Brad hatte das alles spöttisch als weiße Propaganda abgetan und erklärt, wenn sie die Algonkin fair behandelten, würden die Indianer auch fair zu ihnen sein; es gäbe keinen Grund zur Furcht. Und im Laufe der Wochen und Monate schienen die Tatsachen ihm recht zu geben. Die Indianer hatten keinerlei Feindseligkeit erkennen lassen, sondern hatten die vier Freunde sogar mehrmals zu Festen in ihr Dorf eingeladen, bei denen Bos' und Curtius' Sehnsucht nach dem gewohnten Wein wenigstens dadurch ein wenig ausgeglichen wurde, daß sie die Freuden des Tabaks entdeckten. Deshalb war der Schock umso größer, als die Indianer nun begannen, ihre Lebensmittelversorgung einzuschränken. Es war ihnen klar, daß sie künftig unter Umständen leben mußten. die einer Belagerung glichen. Sie rationierten die Verpflegung streng und nutzten jede Stunde, um mehr Eßbares 13
aufzutreiben. Allmählich gewöhnten sie sich an die Schneeschuhe und kamen schneller damit voran, wenn sie auch nie die Sicherheit und Geschwindigkeit der Algonkin erreichten. Doch das Wild war knapp und wurde immer knapper. Hirsche sahen sie nur noch selten, und in den Waldgebieten, in denen es reichlich Truthähne gegeben hatte, zeigte sich jetzt keine Feder mehr. Auch die Fische schienen wärmere Gewässer aufgesucht zu haben, und ein Besuch bei dem Hummerkorb, den sie ausgelegt hatten, offenbarte eine Katastrophe. Die Befestigungen hingen schlaff herab. In der Annahme, der Fangkorb sei vom letzten Sturm fortgerissen worden, gingen sie geduldig daran, einen neuen auszulegen, doch als sie drei Tage später wiederkamen, fanden sie nichts mehr davon vor, obgleich das Meer in diesen drei Tagen sehr still gewesen war. Curtius betrachtete ein zerfasertes Seilstück. Es konnte sich an einem scharfen Stein durchgescheuert haben ... vor allem, wenn ein paar starke Hände dabei geholfen hatten. Er sagte: »Du hast uns soviel von diesem Volk erzählt, Bradus. Du hast uns gesagt, sie seien keine Diebe, sondern ehrliche Händler. Aber ich glaube, jemand hat unsere Hummerfalle weggenommen.« »Warte!« Das war Bos. Er kletterte über Felsbrocken hinweg und holte aus einer Spalte etwas hervor: ein Stück von einer zerbrochenen Hummerfalle. Brad betrachtete es nachdenklich. »Nein, Diebe sind sie nicht. Sie würden nichts nehmen, was ihnen nicht gehört. Aber sie wehren sich wohl dagegen, wenn sie der Meinung sind, daß man ihnen etwas fortnehmen will.« »Ihnen etwas fortnehmen?« fragte Curtius ungläubig. »Wenn wir überhaupt jemanden bestehlen, dann höchstens Neptun.« Brad entgegnete bedächtig: »Sie haben seltsame Überzeugungen. Ich erinnere mich an etwas, das Roter Falke ganz am 14
Anfang gesagt hat. Er sagte, er habe mit den Göttern des Landes und des Meeres gesprochen, und wir dürfen für den Augenblick die Früchte des Landes und des Meeres genießen. Vielleicht war diese Erlaubnis zum Fischen und Jagen zeitlich begrenzt. Vielleicht betrachtet er sie jetzt als aufgekündigt.« Bos sprach als römischer Christ: »Es gibt nur einen Gott!« Ohne darauf zu achten, sagte Curtius: »Wir Römer haben Neptun seit Jahrtausenden unseren Tribut gezahlt. Ich glaube nicht, daß wir irgendwelchen Wilden etwas zu zahlen haben.« Auf Englisch sagte Brad zu Simon: »Es sind nicht eigentlich Götter, aber auf lateinisch konnte ich es nicht genauer ausdrücken. Sie glauben an eine Art geistiger Macht - Manitu in ihrer Sprache - eine übernatürliche Kraft, die nicht nur in Menschen, sondern auch in den Dingen existiert. In Dingen w ie Sonne, Mond, Donner, Land und Meer. Besonders in Land und Meer. In unserer Welt haben noch lange nach der Ankunft der Weißen manche Indianer sich geweigert, eiserne Pflüge zu verwenden, weil sie Mutter Erde nicht verletzen ,wollten.« Die anderen wirkten unruhig, und so sprach er wieder in ;lateinischer Sprache: »Wichtig ist nur, daß sie selbst an ihre Götter glauben. Und wenn sie glauben, daß die Götter uns den Hummer aus dem Meer nicht gönnen, dann werden sie eben alles tun, um uns vom Hummerfang abzuhalten.« Bos- bemerkte: »Als wir kürzlich zur Jagd gingen, habe ich mehr Indianer als sonst gesehen. Vielleicht wollen sie uns auch daran hindern, uns vom Land zu ernähren.« -Wie denn?« fragte Simon. Ich nehme an, sie könnten einen Sperrkreis um uns ziehen«, antwortete Brad. »Sie könnten das Wild vertreiben, ehe es nahe genug herankommt. So ähnlich wie Jagdtreiber, nur in umgekehrter Richtung.« sein Ton war sehr nachdenklich, doch Simon ließ dieser 15
Gedanke heftiger schaudern als der Frost ringsum. Er hatte sich bereits an den Gedanken gewöhnt, daß die Algonkin, die er als Verbündete gegen den nordamerikanischen Winter betrachtet hatte, eben diesen Winter jetzt als Waffe gegen sie benutzten. Wenn sie jetzt offen feindselig wurden, dann konnten die bevorstehenden Monate sehr schwierig werden. Nach einem langen Schweigen sagte Curtius: »Das ist kein gutes Land, in das du uns gebracht hast, Bradus. Es ist nicht so, wie du es versprochen hast. Du hast von einem Land des Friedens und des Reichtums gesprochen, aber nicht von Kälte, von Hunger und von heimtückischen Feinden.« »Das Land, von dem ich gesprochen habe, war nicht dieses hier«, widersprach Brad. »Es liegt weit westlich von hier an der Küste eines anderen Ozeans. Und dort, das kann ich euch versprechen, werden wir alles Gute finden, wovon ich geredet habe.« Brad hatte Amerika als ein irdisches Paradies beschrieben und damit die beiden Römer während der Reise gestärkt, die ihrer Meinung nach an den Rand der Welt führte. Simon hielt es für keinen schlechten Gedanken, den Traum von Kalifornien als Mittel gegen die grimmige gegenwärtige Umwelt zu setzen. »Wenn wir erst dort sind, wird alles gut sein«, versicherte Brad. »Glaubt mir!« Er sprach ganz so, als glaubte er selbst daran. Curtius schaute zwar noch immer skeptisch, doch Bos sagte einfach: »Und wann gehen wir dorthin, Bradus?« »Wir müssen warten, bis der Schnee geschmolzen ist.« »Falls wir solange leben«, warf Curtius ein. »So schlimm steht es doch gar nicht«, sagte Brad. »Jedenfalls wollen sie uns offenbar nicht angreifen. Das hätten sie jederzeit tun können. Wir müssen sie einfach überlisten.« »Wie?« fragte Curtius. »Wir haben diese Hummerfallen ganz offen ausgelegt. Diesen 16
Fehler werden wir nicht noch einmal machen. Wir werden vorsichtiger sein. Auch beim Jagen.« Simon fragte sich abermals, wie weit der zur Schau gestellte Optimismus wirklich ging. Er selbst fühlte sich gefangen und empfand eine nicht geringe Furcht. Es sollte sich bald zeigen, daß es nicht leicht sein würde, die Algonkin zu überlisten. Sie stellten neue Hummerfallen her und legten sie im Morgengrauen an verschiedenen Stellen aus, die Haltestricke sorgsam mit Steinen und Seetang bedeckt. Am nächsten Tag waren die Stricke zerrissen, die Fallen leer. Sie gingen sehr früh und sehr spät zur Jagd, suchten auch Gebiete auf, die sie vorher nicht betreten hatten, doch sie blieben erfolglos. Bos argwöhnte, die Hütte werde beobachtet, und es war wie ein spöttischer Kommentar zu dieser Vermutung, daß die Beobachtung am nächsten Morgen ganz offensichtlich wurde. Ein indianischer Krieger bezog auf der Anhöhe seinen Posten und blieb dort unbewegt stehen. Als er endlich ging, nahm ein anderer seinen Platz ein, und so ging es vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung. Roter Falke hatte beschlossen, daß sie jetzt wissen sollten, daß sie beobachtet wurden. Curtius war darüber mehr als die anderen erbost. Sein Instinkt als ausgebildeter und erfahrener römischer Soldat riet ihm zum Angriff; er wollte hinauf und den Posten vertreiben, ihn wenn nötig sogar töten. Die Tatsache, daß er damit nur einen allgemeinen Angriff der Algonkin auslösen würde, schien ihn nicht zu stören, und Brad und Simon hatten Mühe, ihm seinen Plan auszureden. Es war gut, daß ein neuer Schneesturm ausbrach, während sie darüber stritten. Selbst wenn der Indianer auf seinem Posten blieb, konnten sie ihn jetzt nicht sehen. Aber sie konnten auch nicht zur Jagd gehen, da der Schnee les unkenntlich machte. Der Schneesturm hielt den Tag über und fast die ganze Nacht 17
hindurch an. Am nächsten Morgen lag der Schnee wieder einen Meter hoch vor der Tür. Bos ging daran, einen Pfad rund um die Hütte freizuschaufeln. Brad stand unter der offenen Tür. Simon trat zu ihm. »Von unserem Bewacher ist nichts zu sehen.« Brad schüttelte den Kopf. »Der kommt wieder!« Während sie zur Anhöhe hinaufblickten, hörten sie Bos so dringlich rufen, daß sie schnell zu ihm liefen. Er stand vor dem Tierverschlag, wandte sich den beiden
zu,
und
sein
Gesicht
zeigte
eine
Mischung
aus
Zorn
und
Niedergeschlagenheit. Eine Stallwand war aufgebrochen, und von dort aus verliefen Spuren durch den frischen Schnee. Bos sagte: »In der Nacht habe ich Geräusche gehört, aber ich dachte, es sei der Wind.« »Was haben wir verloren?« fragte Brad. »Die Ziege.« »Indianer?« fragte Simon. Bos schüttelte den Kopf. »Im Schnee waren deutliche Spuren und ein Blutstreifen. Es war ein Bär.« Schweigend standen sie da und versuchten, mit diesem völlig unerwarteten Unheil fertigzuwerden. Die trächtige Ziege hatte Hoffnung für die Zukunft bedeutet. Und alle hatten das zutrauliche Tier sehr gemocht, besonders Bos. Der große Mann sah aus, als wollte er gleich weinen. Vermutlich, um dies zu verhindern, sagte Brad rau : »Das ist ein schwerer Schlag. Aber wenn wir uns erst auf den Weg nach Westen machen, hätten wir sie ohnehin nicht behalten können. Das gilt auch für die Hühner. Ich wußte schon seit einiger Zeit, daß sie für uns nur noch Fleisch bedeuten konnten.« Bos sah ihn betrübt an. »Dann können wir den Bock also auch gleich schlachten, ehe der Bär noch einmal kommt und ihn auch noch holt?« Brad nickte.
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»Ich glaube, das überlasse ich lieber dir, Bradus.« Brad antwortete nicht. Bos sah ihn lange an, ehe er sagte: »Keine Angst, ich weiß, was Männerarbeit ist. Ich kümmere mich darum. Du kannst besser reden. Aber hüte deine Zunge, Junge!« Der Winter schleppte sich hin. Der Ziegenbock und die Hühner ergänzten für einige Zeit den Speiseplan, und solange brauchten sie weniger Fleisch von den Indianern zu kaufen und konnten ihren abnehmenden Vorrat an Tauschgegenständen schonen. Es stand aber noch immer ein Posten auf der Anhöhe, und alle Fallen, die sie aufstellten, blieben leer. Roter Falke hatte seine Besuche eingestellt, doch ganz unbefangen, als sei er über den Inhalt ihrer Speisekammer genau unterrichtet, tauchte er wieder auf, als sie beim letzten Huhn und beim letzten Bissen Ziegenfleisch angelangt waren. Seine Preise waren abermals gestiegen, und es stand noch ein langer Winter bevor. Für einige Zeit wurde das Wetter milder, doch darauf folgte eine Reihe strenger Winterstürme, die zu einer bedrückten und hungrigen Gefangenschaft in der Hütte zwangen. Sobald das Wetter aufklarte, stellte sich Roter Falke mit -einen Männern wieder ein. Sie brachten zwei Kaninchen und einigle verwitterte Wurzeln mit. Für jedes Kaninchen wollte er zwölf Perlenschnüre; für die Wurzeln nur drei, wie er mit einer großartigen Geste andeutete. Die vier waren betroffen. Das Gesicht des Häuptlings war so Ausdruckslos wie immer, doch dann verzog es sich überraschend zu einem Lächeln. Er deutete auf Bos und sprach zu Brad. Simon konnte hin und wieder ein Wort verstehen: haar . . . Messer . . . Tausch ... Brad fragte, erwiderte, bat schIießlich. Das Lächeln schwand vom Gesicht des Roten Falken, und Brad wirkte nicht eben froh. Endlich sagte er zu 19
den anderen: »Bringt ihnen die Wampums. Siebenundzwanzig Schnüre.« »Wir haben nur noch einen Sack«, wandte Bos ein. »Ich weiß. Aber wir haben keine Wahl.« Das Wetter war jetzt klar und kalt. Sie hatten die Fensterläden geöffnet und schauten den Indianern nach, die den Hügel hinaufstiegen und hinter der Anhöhe verschwanden. Brad wandte sich um und sagte: »Das wäre es also.« »Sag uns alles«, verlangte Bos. »Das wollte ich gerade.« Er dachte ein Weilchen nach. »Am Anfang war es scherzhaft, wie es bei den Algonkin nun einmal üblich ist. Er hat gesagt, wir brauchten für die Wurzeln keinen Wumpum zu zahlen, sie würden auch Bos' Bart dafür nehmen.« Für die Indianer, die das wenige Gesichtshaar, das ihnen wuchs, auszureißen pflegten, war Bos' wuchernder und lockiger Bart von Anfang an höchst interessant gewesen; er hatte sich daran gewöhnt, daß Frauen und Kinder darüber kicherten, wenn sie ins Dorf kamen. Bos stieß einen römischen Fluch aus. Brad sagte: »Ich habe das Angebot höflich abgelehnt, und Roter Falke hat behauptet, sie würden ihm nicht wehtun, wenn sie den Bart mit ihren armseligen Steinmessern abhackten. Lieber aber würden sie uns unsere guten scharfen Messer abkaufen und die dann dafür verwenden. Für zwei Messer wollten sie uns einen Truthahn bringen. Ich habe gesagt, wir würden die Messer nicht verkaufen, und er hat gemeint, darauf käme es ohnehin nicht an.« Brad atmete tief. »Da habe ich ihm unsere Hütte angeboten.« Ungläubig starrten sie ihn an. »Was hast du?« fragte Simon. »Ich habe ihm erklärt, wir würden sogleich bei der Schneeschmelze weiterziehen. Ich habe gesagt, wenn die Indianer uns bis zum Frühling zu essen gäben, würden wir ihnen dafür die Hütte schenken, einige Messer, die Axt und andere wertvolle Dinge, die eindeutig unser Besitz seien. 20
»Ich nehme an ...«, begann Simon. Brad fuhr fort: »Er sagte, diese Dinge gehörten zwar wirklich uns, aber nur solange, wie es dem Großen Geist gefiele, Atem in unsere Münder zu hauchen. Tote, so sagte er, besitzen nichts. Vor dem Winterende wären wir tot. Er und seine Männer könnten dann alles nehmen, was keinen Besitzer mehr habe.« Nach kurzem Schweigen sagte Bos: »Wie du uns gesagt hast: Sie sind keine Diebe. Sie lassen nur Menschen verhungern und nehmen ihnen dann ihren Besitz ab.« Curtius erklärte: »Ich habe genug davon! Wir sollten sie angreifen, solange wir noch stark genug dazu sind. Ich möchte lieber wie ein Soldat sterben als wie eine verhungerte Ratte.« Bos brummte zustimmend. Brad widersprach: »Ich bin auch der Ansicht, daß wir etwas unternehmen müssen, solange wir noch stark genug sind. Aber etwas besseres als Selbstmord, denn darauf würde es doch hinauslaufen. Eine Möglichkeit wäre es, die Hütte aufzugeben und südwärts zu ziehen.« -Dafür bin ich auch«, stimmte Simon zu. »Hier sitzen wir in einer tödlichen Falle. Und wenn wir nicht vorher erfrieren – Der Weg nach Süden bedeutet einen Weg der Sonne entgegen. Das ist immer noch unsere beste Chance.« -Abgesehen von einer Tatsache«, erklärte Brad. Von welcher?« Roter Falke hat an diese Möglichkeit gedacht. Wenn wir fortzögen, sagte er, würde er uns seine Männer nachschicken. Sie würden uns nicht aus den Augen verlieren, solange wir auf Gebiet der Algonkin wären, und sobald wir dieses Land -verließen, würden sie umkehren und unseren Tod melden. Das Nachbargebiet im Süden ist nämlich von den Irokesen bewohnt, die Fremde töten. Sie tun es zwar langsam, aber Roter Falke kann sicher sein, daß wir nach einer Woche tot 21
sein werden, und dann kann er guten Gewissens die Hütte nehmen und alles, was darin ist.« Bos behauptete: »Das will ich immer noch lieber wagen als hier allmählich zu verhungern.« »Ich auch«, stimmte Curtius ihm zu. »Und ich denke, wir werden ein paar von den Irokesen töten, ehe sie uns umbringen.« »Ich wäre vielleicht einverstanden«, sagte Brad, »wenn es keine Alternative gäbe.« Simon entgegnete: »Verhungern, erfrieren, bei einem Angriff auf die Algonkin umkommen, von den Irokesen zu Tode gefoltert werden ... das ist nicht nur eine Alternative. Wir haben die freie Auswahl.« Brad achtete nicht auf ihn. »Nach Norden und Westen gibt es Hunderte von Meilen weit Algonkin. Südlich leben auch Algonkin, bis sie schließlich von Irokesen abgelöst werden, die noch schlimmer zu sein scheinen. Aber es bleibt noch der Osten.« »Sicher«, spottete Simon. »Der Ozean. Dreitausend Meilen Wasser. Ein ganz schönes Stück zu schwimmen.« Vor einiger Zeit hatte ein heftiger Sturm die Wogen noch den Strand hinaufgetrieben. Sie hatten die Seitenwand des Bootes eingedrückt, mit dem sie aus England gekommen waren. Spätere Stürme hatten die Zerstörung vollendet. Besonders Curtius war über den Verlust dieser letzten Verbindung zu seiner Heimat traurig gewesen. Tagelang hatte er getrauert. Brad sagte: »Erinnert ihr euch, wie kalt das Wasser hier sogar im Sommer war? Das kommt von einer starken Strömung aus dem Norden, die hier dicht vor der Küste verläuft. Die »Stella« ist erledigt, aber wir könnten aus ihren Trümmern ein Floß bauen. Die Strömung wird uns südwärts tragen. Vielleicht kommen wir dann am Gebiet der Irokesen vorbei. Zumindest aber treiben wir auf ein freundlicheres Klima zu.« 22
Er sah einen nach dem anderen an. »Was meint ihr?« »Ich meine«, antwortete Bos, »wir sollten gleich an die Arbeit gehen. « Es war nicht leicht; es war vielmehr mörderisch schwierig. Sie mußten die Reste der »Stella« zerbrechen, um an die Decks-planken zu kommen. Es schneite zwar nicht mehr, doch es wehte noch immer heftiger Ostwind, der über die grauschaumigen Brecher hinwegheulte und alles mit eisiger Gischt übersprühte. Als das Floß halbfertig war, zeigte sich, daß es nicht nur hoch über der Flutgrenze lag, sondern daß es auch viel zu schwer war, um zum Wasser geschafft zu werden. Sie mußten es wieder auseinandernehmen und den Bau noch einmal dicht am Wasser beginnen, während bitter kalte Wellen ihre Beine umspülten. Abwechselnd gingen sie in die Hütte zurück, um sich wieder aufzutauen. Dann mußten sie das Floß fest verankern, damit es nicht von der einkommenden Flut fortgerissen wurde. Die ganze Zeit wurden sie von den Algonkin überwacht. Da das Ziel ihrer Arbeit so offenkundig war, fragte sich Simon, ob die Indianer sich einmischen würden, um die Vollendung zu verhindern, doch sie kamen immer nur bis auf einige hundert Meter heran. Der Grund dafür wurde ihm endlich klar. Nach der Ansicht des Häuptlings Roter Falke bedeutete der Beginn einer Floßfahrt, daß sie unvermeidlich in das Gebiet der Irokesen gelangen mußten. Bedachte man die unausbleiblichen Folgen, so hieß das, daß sie so gut wie tot waren, sobald sie das Floß bestiegen. Er richtete sich vom Hämmern auf und miaute über die Wellen. Sie schienen sich unendlich weit zu erstrecken. Die graue See ging unmittelbar in grauen Himmel über. Wahrscheinlich hatte Roter Falke recht. Endlich war das Floß vollendet. Sie räumten zusammen, was mitnehmenswert war und stapelten die geringen Lebensmittel23
Vorräte in der Mitte des Floßes. Curtius wollte die Hütte anzünden, doch die anderen waren dagegen. Vielleicht fühlten sich die Indianer provoziert, wenn sie ihre erhoffte Beute in Flammen aufgehen sahen. Zuletzt nahm Bos einen kleinen Beutel, den er sicher an seinem Gürtel befestigte. Darin waren sorgsam in Moos gebettete Weinwurzeln. Er hatte sie aus dem Kaiserlichen Weinberg in Rom mitgebracht und hatte sich fest vorgenommen, daß sie eines Tages irgendwo wachsen und Frucht bringen sollten. Und aus ihren Früchten wollte er Wein herstellen. Jetzt kam es nur noch darauf an, das Floß in Fahrt zu bringen. Auch das war nicht einfach. Sie mußten sich mit aller Kraft im knietiefen Wasser dagegenstemmen. Endlich löste es sich vom Sand, und sie kletterten an Bord. Das Floß war etwa fünf Meter breit und von einer niedrigen Bordwand umgeben. Selbst auf einem ruhigen sommerlichen See wäre es ein irrwitziger Gedanke gewesen, einem so brüchigen Gestell das Leben von vier Männern anzuvertrauen. Sie hatten einen kleinen Mast errichtet und besaßen auch ein Segel, doch das war zunächst einmal unnütz, denn der Wind wehte beharrlich auf die Küste zu. Deshalb mußten sie das Floß durch die Dünung hinauspaddeln. Es half ein wenig, als sie ihre durchweichten Kleider ausziehen und andere anlegen konnten. Am Strand hatten sich jetzt zahlreiche Gestalten versammelt. Simon glaubte, in ihrer Mitte den Häuptling Ro ter Falke zu erkennen. Allmählich schrumpften die Gestalten und blieben achtern zurück. »Das wär's!« sagte Brad. »Wir treiben in die Südströmung!«
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II Die Bewegung war von Anfang an unangenehm und wurde schnell schlimmer. Simon hätte sich übergeben müssen, wenn etwas in seinem Magen gewesen wäre; so aber brachte er seine Zeit damit zu, sich hilflos über den Rand des Floßes zu beugen. Auch die anderen Gesichter sahen im Dämmerlicht grünlich aus. Man schlingerte eine halbe Meile vor einer Küste dahin, die so eintönig war, daß man kaum an ein Vorwärtskommen glauben konnte. Jenseits der wogenden grauen See lag das Land wie eine weiße Wüste. Als die Dunkelheit kam, drängten sie sich wärmesuchend aneinander; doch die Wellen schlugen immer wieder über das Floß und durchweichten die vier. Die Übelkeit wich endlich dem Heißhunger. Sie kauten Trockenfleisch und tranken in kleinen Schlucken aus einer Lederflasche. Das Wasser schmeckte bitter, war aber eine Kostbarkeit. Sie konnten auch am Durst sterben, wenn Kälte und Erschöpfung ihr Werk nicht früher vollendeten. Die Nacht war entsetzlich. Es war Wahnsinn gewesen, entschied Simon für sich, daß sie sich auf Brads Plan eingelassen hatten. Selbst wenn sie in der Hütte verhungert wären, hätten sie es doch wenigstens trocken und warm gehabt, und sie hätten festen Boden unter den Füßen gespürt. Er spürte eine Abneigung, die sich im Laufe der Stunden fast in Haß verwandelte. Es war nicht nur das Floß. Brad hatte ihnen auch erklärt, die Indianer seien vertrauenswürdig, und Brad hatte auch zuerst die tollkühne Idee gehabt, die Seereise zu unternehmen, um Amerika zu entdecken. Wenn man noch weiter zurückging, dann war es auch Brad gewesen, der darauf 25
bestanden hatte, sich die Feuerkugel aus der Nähe anzusehen, anstatt das einzig Vernünftige zu tun und davor davonzulaufen. Bos war eingeschlafen und schnarchte. Curtius stöhnte leise. Plötzlich sagte Brad: »Ich glaube, der Himmel wird heller.« Simon fuhr ihn an: »Ach, hör doch auf! Von dir haben wir wirklich genug!« »Dort drüben!« Er konnte Brads ausgestreckten Arm kaum erkennen. Es war lächerlich. Die Nacht war so undurchdringlich wie immer. Aber vielleicht war die Finsternis dort drüben wirklich eine Spur heller. Oder war es eine Täuschung? Bos war aufgewacht und sagte: »Das ist der Anfang der Morgendämmerung.« Er seufzte: »Es wird gut sein, wieder Land zu sehen.« »Und sobald wir Land sehen«, erklärte Bos, »paddeln wir darauf zu, ganz gleich, was dort für Indianer hausen.« Curtius stöhnte wieder. »Einverstanden. Alles ist besser als dieses hier. Sogar der Hades.« Als das Licht im Osten allmählich wuchs, blickten Simon und die anderen angestrengt in die entgegengesetzte Richtung. Dort mußte die Küste liegen. Bos stand auf, den Arm um den Mast gelegt. Und er sagte endlich voller Bitterkeit: »Da ist kein Land.« Auch Simon stand auf und hielt sich an dem großen Römer fest, da das Floß sich heftig bewegte. Er starrte nach Westen. Weit, weit entfernt stießen Wellen und Himmel aneinander, und nichts unterbrach diese Linie. Obgleich er wußte, daß es sinnlos war, schaute er auch nach Süden und Norden. Dort war außer brodelndem Wasser und grauem Himmel nichts zu sehen. Curtius sagte vorwurfsvoll. »Da hast du uns wieder etwas versprochen, Bradus — eine Strömung dicht vor der Küste, die 26
uns südwärts in wärmere Länder bringt. Wo ist sie denn nun?« »Ich weiß es nicht.« Brad wirkte niedergeschlagen. Seine frühere Zuversicht war gänzlich geschwunden. Von dem Prachtkerl, der alles wußte, ist nicht viel übrig, dachte Simon, aber er war zu müde, um es auszusprechen. Bos machte auf etwas anderes aufmerksam. Der Wind hatte gewechselt und kam jetzt aus Südwest. Das Segel war nutzlos. Bos schlug vor, zu den Paddeln zu greifen, doch er beharrte nicht darauf, als er keine Zustimmung fand. Alle waren der Erschöpfung nahe, und die Anstrengung kam ihnen angesichts der Unendlichkeit der schäumenden See ringsum zwecklos vor. Den ganzen Tag trieben sie dahin und sahen nichts außer gelegentlich einen Seevogel. Beim Anblick des ersten Vogels fühlte sich Simon ein wenig ermutigt, bis er sich daran erinnerte, daß es viele Vögel gab, Sturmvögel zum Beispiel oder Sturmtaucher, denen es nichts ausmacht, den Atlantik zu überqueren. Dieser Vogel war zu weit fort, um ihn deutlich zu erkennen. Zum zweiten Mal kam die Nacht, und sie drängten sich schweigend aneinander. Endlich gewann die Müdigkeit die Oberhand. Simon dämmerte ein und schlief unruhig, wachte dann plötzlich wieder auf, war verwirrt und wußte nicht gleich, wo er war; aber es war heller. Der Himmel hatte sich aufgeklärt. Der Mond hing dicht über dem Horizont, und die Sternbilder standen klar am Himmel. Er suchte den Großen Bären und dann den Polarstern. Er stand rechts von ihnen, und das mußte bedeuten, daß sie westwärts auf Land zutrieben. Dann erinnerte er sich, daß ihr Floß kein Boot war mit Heck und Bug. daß es auch keinen äußeren festen Punkt gab, an dem die ablesen konnten, in welcher Richtung sie sich bewegten. Er schlief wieder ein. Das nächste Mal fuhr er heftiger aus 27
dem Schlaf. Er hatte das Gefühl, daß irgend etwas ganz in seiner Nähe sei; er riß die Augen auf und sah es. Ein Hügel hob sich vom Mondlicht ab, fast zum Greifen nahe. Land! schrie er, und Bos antwortete: »Was ist, Junge?« »Schnell, die Paddel! Es ist . . . « Er unterbrach sich. Da war ein zweiter Hügel genau voraus und ein dritter weiter rechts. Er sah auch, daß die Hügel verhältnismäßig klein und von Wasser umgeben waren. Plötzlich versank der nächstgelegene im Wasser. »Wale«, sagte Bos mit erzwungener Ruhe. »Wir sind mitten zwischen ihnen.« Jetzt sahen sie nicht mehr klein aus. Fast genau dort, wo der eine eben verschwunden war, tauchte ein anderer riesengroß auf. Simon erinnerte sich daran, daß er Wale immer gemocht hatte — es waren intelligente, friedliche Geschöpfe. Jetzt aber erfüllten sie ihn mit Entsetzen. Flüsternd warnte Brad: »Wir müssen uns ganz still verhalten. Sie haben ein gutes Gehör.« In der Hoffnung auf Beruhigung fragte Simon: »Aber harmlos sind sie doch, nicht wahr?« »Das hängt davon ab, was du harmlos nennst. Wenn sie bloß neugierig werden, ist das für uns wahrscheinlich schon gar nicht mehr lustig.« Simon verstand, was Brad meinte. Niemand sprach mehr ein Wort, während die Wale vorüberglitten. Und da die Zeit verging, ohne daß etwas geschah, wurde Simon zuversichtlicher. Einmal mußte doch die ganze Familie vorbei sein. Lag dort hinter dem nächsten dunklen Walberg nicht schon offenes Wasser? Dann schrie er auf, als die Planken unter ihm heftig schwankten. Das Floß wurde angehoben, legte sich seitwärts, und Simon fühlte, daß er rücklings stürzte. Er griff nach einem Halt, bekam den Mast zu fassen, mußte ihn jedoch wieder 28
loslassen, als Bos unabsichtlich gegen ihn stürzte. Er rutschte über die Planken an die Bugwand, versuchte vergebens, sich daran festzuhalten. Er versank im stechend kalten Wasser, und während er sank spürte er, daß seine Nasenlöcher sich mit Wasser füllten. Er konnte nicht mehr zusammenhängend denken, doch seine Arme bewegten sich nach ihrem eigenen Willen und brachten ihn wieder an die Oberfläche. Er tauchte auf und rang keuchend nach Atem. Verzweifelt sah er das Wasser vor sich: Keine Wale mehr, aber auch kein Floß. Von hinten kam ein Zuruf. Wassertretend wandte er sich um. Das Floß war ungefähr dreißig Meter entfernt, doch es kam ihm weiter vor. Dahinter blies einer der Blauwale einen Springbrunnen in das Mondlicht. Die Kälte schien tiefer zuzubeißen, als er auf das Floß zuschwamm, und die Arme wurden mit jedem Zug schwerer. Er dachte daran aufzugeben. Sagte man nicht, das Ertrinken sei ein leichter Tod? Doch er hörte die Stimmen, die ihn drängten, Bos übertönte die anderen, und er schwamm weiter. Seine Sinne schwanden, als seine Finger Holz berührten. Er spürte noch, daß sie ihn an Bord zogen. Seine Zähne klapperten, und er zitterte heftig. Bos und Brad schlangen die Arme um ihn und hielten seinen kalten, nassen Körper zwischen den ihren, um ihn zu wärmen. So hielten sie ihn bis zum Tagesanbruch. Diesmal gab es einen Sonnenaufgang, doch er interessierte sich nicht für die goldene Scheibe, die sich langsam vom Horizont hob. Er spürte, daß sie keine Wärme in sich hatte; und trotz der Wärme der anderen Körper hielt die Kälte ihn fest im Griff. Er hörte die anderen sprechen, doch ihre Worte waren ohne Sinn. Bos wollte ihn zwingen, etwas zu essen, doch dazu war er zu schwach. Die höhersteigende Sonne verwandelte das Grau des Meeres in Grün - Simon war es gleichgültig wie alles andere, bis auf die lähmende Kälte. 29
Selbst als Bos »Land«! schrie, war es bedeutungslos. Sie ließen ihn los, um nach den Paddeln zu greifen, und er hatte das Gefühl, irgendwie helfen zu müssen, doch das Zittern beanspruchte alle Kraft, die noch in ihm war. Und die ganze Zeit war er dicht am Rande der Bewußtlosigkeit. Nach langer Zeit bemerkte er, daß Brad und Bos ihn wieder hielten und daß das Floß noch trieb. Also hatten sie wohl doch kein Land erreicht. Es war unwichtig. Alles war unwichtig. Endlich fiel er in tiefen Schlaf. Als er aufwachte, fühlte er sich ein wenig besser und konnte sich sogar zum Sitzen aufrichten. Die Sonne stand im Zenit, und wenn es auch nicht gerade warm geworden war, kam es Simon doch nicht mehr so bitter kalt vor. Er hatte Durst und bat um Wasser. Daraufhin erfuhr er etwas sehr Unangenehmes. Die Amphore mit dem Frisch-wasser war gleichzeitig mit ihm über Bord gegangen. Nur den Inhalt der kleinen Flasche hatten sie noch — ein paar Schlucke für jeden. Er fragte nach dem Land, das Bos gesehen hatte. Sie sagten ihm, eine gute Stunde lang habe man es sehen können, doch obwohl sie anfangs geglaubt hatten, es käme näher, waren sie dann doch daran vorbeigetrieben. »Ich hätte helfen sollen«, sagte er. Bos hob die Schultern. »Das hätte auch nichts ausgemacht. Jedes Kätzchen hätte so heftig paddeln können wie du. Iß etwas, Simonus, damit du uns beim nächstenmal helfen kannst.« Während er an einem Stück Fleisch kaute, sagte ihm Brad auf Englisch: »Mit der Strömung hatte ich recht. Nur über unsere ursprüngliche Position habe ich mich geirrt. Ich hatte geglaubt, wir wären irgendwo an der Küste von Maine, aber jetzt bin ich überzeugt, daß wir viel weiter nördlich sein müssen. Irgendwo in der Nähe von Neuschottland. Die Strömung hat uns südwestwärts getrieben, aber über offenes Meer. Das 30
Land, das wir gesehen haben, war wahrscheinlich Cape Cod. Und wenn wir noch in derselben Strömung treiben, haben wir vielleicht eine Chance, Nantucket zu erreichen. Wir haben noch drei oder vier Stunden Tageslicht, und das genügt vielleicht, um Land zu sehen.« Simon wollte antworten, doch ein Zuruf von Curtius unterbrach ihn. >>Seht mal, dort drüben! Ist das Land?« Da war ganz bestimmt etwas, das weder Meer noch Himmel war. Sonnenlicht glänzte auf irgend etwas, das langgestreckt und weiß war. Langsam trieben sie darauf zu. Bos sprach es als erster aus: »Nein, das ist kein Land, das ist Nebel.« Als sie näherkamen, ließen sich Einzelheiten unterscheiden. Hebelarme reckten sich aus dem Wasser auf. Die Sonne wurde blasser, schien noch einmal heller, verlor die Kraft. Die blaß-gelbe, fast weiße Scheibe war vom Weiß des Nebels kaum noch zu unterscheiden. Dann war sie verschwunden. Der Nebel schloß sie völlig ein; er war jetzt schmutziggrau und von unangenehmer Kühle. Vom Rande des Floßes aus konnten sie nur noch wenige Meter weit sehen. Selbst wenn Brad richtig vermutet hatte, konnten sie fünfzig Meter oder auch fünfzehn am Land vorbeitreiben, ohne es zu bemerken. Der Nebel hatte sie um die letzten Tageslichtstunden gebracht. Danach würde es wieder nur noch Nacht und offenes Meer geben. Niemandem war nach Gesprächen zumute; selbst Bos, der sonst die anderen immer wieder ermutigt hatte, wurde still. Das einzige Geräusch war das Schwappen des Wassers gegen die Floßplanken. Irgendwo dort oben eilte die Sonne dem Untergang entgegen. Die Zeit verging. Wie lange waren sie schon im Nebel, fragte sich Simon. Eine Stunde? Zwei, vielleicht sogar drei? Wurde der Nebel dunkler? Ihm schien es so. 31
Die Erscheinung, die sich plötzlich über ihnen auftürmte, war auf andere Weise furchterregend als die Wale. Die Größe der Tiere im Vergleich zu dem kleinen Floß hatte sie geängstigt. Aber jetzt war es etwas anderes: die schockierende Erkenntnis, daß Märchen und Albträume wahr werden konnten. Der unglaubliche Kopf einer Seeschlange war über ihnen mit blitzenden Zähnen! Simons eigener Angstschrei ging in denen der anderen unter. Und dann waren da auch noch andere Geräusche – Rufe, die aus dem Nebel drangen. Holz splitterte, und Simon sah gerade noch, wie ein zerbrochenes Ruder durch die Luft auf seinen Kopf zugeflogen kam, ehe das Floß sich aufbäumte, kenterte und er abermals ins Meer geschleudert wurde. Simon wurde als erster aufgefischt, doch die anderen folgten schnell. Brad und Curtius hatten sich am Mast des Floßes festhalten können, während Bos das zerbrochene Ruder des Drachenschiffes gepackt hatte. Sobald man sie an Bord gehoben hatte, konnten sie ihre Retter genau betrachten. Sie waren groß, blond und stark behaart mit mächtigen Bärten. Aber abgesehen von ihrer Erscheinung waren sie auch an ihren gehörnten Helmen zu erkennen, genau wie an ihrem Schiff, sobald Simon erst klar geworden war, daß es sich dabei nicht um ein Seeungeheuer handelte. Es waren Wikinger. Aber da blieben noch viele Fragen offen. Zunächst einmal: Was hatte ein Langboot hier zu suchen, dreitausend Meilen von jedem Ort entfernt, an dem man es vermuten würde? Und wie kam es, daß die Wikinger nicht irgendeine der skandinavischen Sprache benutzen, sondern ein etwas verkommenes Latein, wie es in Europa gesprochen wurde? Am wichtigsten war jedoch, daß sie trotz ihres barbarischen Aussehens und der Steinäxte, die in langen Reihen an der Schiffswand aufgehängt waren, durchaus liebenswürdig zu sein schienen. Ein Trinkhorn ging von Hand zu Hand, und es 32
enthielt ein süßes, wärmendes Bier. Einer der Wikinger holte aus einer Truhe Tuniken aus weichem Leder, damit die vier Geretteten ihre nassen Kleider ablegen konnten. Und wenn das Latein der Wikinger auch nicht leicht verständlich war, gab es doch keinen Zweifel, daß sie ihre Freude darüber ausdrückten, daß es ihnen gelungen war, die vier dem Meer zu entreißen. Simon sagte zu Brad: »Ich verstehe das nicht. Hast du eine Ahnung, woher sie kommen?« »Von weither kann es nicht sein. Ich habe gehört, daß einer von ihnen sagte, ohne den Nebel hätten sie uns nicht gefunden, weil sie dann schon vor zwei Stunden in ihrem Heimathafen gewesen wären.« »Heimathafen? Auf dieser Seite des Atlantik?« »Ich habe auch schon versucht, mir darauf einen Reim zu machen. Freilich hat man auch in unserer Welt schon vermutet, die Wikinger könnten den Atlantik überquert haben. Es gab da eine Theorie, nach der sie Vinland erreicht hätten. Das kann nicht weit von der Stelle entfernt gewesen sein, an der wir gelandet sind. Und handwerkliche Gegenstände, die man den Wikingern zuschrieb, wurden auch im Gebiet der Großen Seen gefunden. Es gibt also keinen Grund, warum sie den Ozean nicht auch auf dieser Seite der Feuerkugel überquert haben sollten. Andererseits ... « Er sah verwundert aus. »Was ist andererseits?« fragte Simon. »Unser Wikingerzeitalter begann ungefähr um das Jahr 800 nach Christus, also über vierhundert Jahre nach Kaiser Julian. Und man nimmt allgemein an, daß sie über ganz Europa ausschwärmen konnten, weil das Fränkische Reich immer schwächer wurde und zerfiel. Aber das Fränkische Reich ist erst nach dem Zusammenbruch des Römischen entstanden . . . und in dieser Welt ist es nicht zusammengebrochen. Woher kommen also diese Wikinger?« 33
»Ich sehe nicht, wo das Problem liegt. Selbst in dieser Welt haben die Römer nicht ganz Europa besetzt gehalten. Bos wurde frei wie ein Barbar im Norden Britanniens geboren. Der größte Teil Skandinaviens untersteht nicht römischer Herrschaft. Warum können sie also nicht einfach von dort hierher gekommen sein?« »Ja, aber daran stört mich eine Kleinigkeit.« »Welche?« »Wenn ihre ursprüngliche Heimat außerhalb des Römischen Reiches lag – warum sprechen sie dann Latein und nicht Altnordisch?« Simon dachte darüber nach. »Und deine Antwort?« »Ich weiß es nicht. Wir werden es schon noch herausfinden. Gut ist jedenfalls, daß wir mit ihnen sprechen können, und daß die Einheimischen diesmal freundlich sind.« Während das Langboot träge schlingerte, sprachen die Wikinger miteinander und ließen das Horn kreisen, das sie hin und wieder aus einem Holzfaß nachfüllten. Daß der Nebel sie zur Bewegungslosigkeit verdammte, schien sie nicht weiter zu bekümmern. Das Meer war ruhig, und die Langboote waren stets für lange Seereisen ausgestattet. Zu essen gab es genug: Trockenfleisch, gesalzenen Fisch und eine Art Biskuit. Sobald ihm wieder warm genug war, spürte Simon seinen Hunger und aß gierig. Das kehlige und verunstaltete Latein erschien ihm verständlicher, als er sich erst ein wenig daran gewöhnt hatte. Ihre Retter kannten offenbar die Länder jenseits des Ozeans, und ihre Schützlinge hielten sie offensichtlich für Seefahrer, die einem Schiffsuntergang entkommen waren. Im Grunde schienen sie deswegen nicht von großer Neugier geplagt zu werden. Viel stärker interessierte es sie, als Bos von den Walen erzählte. Anscheinend war der Walfang der Sinn ihrer Expedition gewesen, doch sie hatten keine gefunden. 34
Allmählich lichtete sich der Nebel, und die Sonne erschien dicht über dem Horizont. Man gab das Gespräch auf, griff zu den Rudern, und von mächtigen Armen angetrieben eilte das Langboot südwestwärts. Die Wikinger sangen im Rhythmus der Ruderschläge. Nur zwei von ihnen saßen nicht an den Rudern: ein dürrer Mann mit narbigem Gesicht, der offenbar das Boot steuerte, und ein alter Mann mit einer goldenen Kette um den Hals, der zweifellos der Kapitän war. Er stand auf einem hölzernen Podest unmittelbar hinter dem Drachenkopf und hielt den Blick auf das vor dem Schiff liegende Wasser gerichtet. Die Sonne war schon unter den Horizont gesunken, und es dunkelte schnell, als der Kapitän mit seinem Ruf »Land in Sicht!« lauten Jubel auslöste. Der Nebel war vergangen, und trotz des Dämmerlichtes war an Backbord eine flache Küstenlinie zu erkennen. Sie kamen schnell voran, und bald umrundeten sie die Spitze einer langgestreckten Halbinsel. Der Kurs wurde nach Süden hin verändert, und schon hatte man einen weiteren Landarm vor sich, der einen geräumigen Hafen begrenzte. »Ich hatte recht«, sagte Brad. »Womit?« fragte Simon. »Der Hafen ist unverkennbar. Von hier aus sind auch Yankees zum Walfang gefahren. Das ist die Insel Natucket.« »Wir sind daheim«, sagte der Wikingerkapitän mit breitem Lächeln. »Warmer Herd, warme Herzen, gutes Essen und gute Laune! Willkommen, Freunde!« Die Stadt, oder das Dorf, um genauer zu sein, lag unmittelbar über dem Hafen und überblickte den Kai, an dem die Langboote schaukelten, festgebunden an Pfeilern, die mit geschnitzten Köpfen geschmückt waren und den Bugfiguren der Boote glichen. Zwei- oder dreihundert Holzhütten standen 35
hier rund um ein größeres, langgestrecktes Gebäude. Eine richtige Straße gab es nicht, aber ausgetretene Pfade verliefen kreuz und quer zwischen den Hütten. Viele Generationen hatten sie ausgetreten, so daß jetzt jede Hütte auf einem kleinen Erdhügel zu stehen schien. Aus welchem Grunde die Wikinger auch hierher gekommen sein mochten, es mußte jedenfalls schon vor langer Zeit gewesen sein. Simon betrachtete im Vorübergehen die Hütten. Sie waren ursprünglich solide gebaut, doch manche von ihnen wirkten jetzt recht baufällig. Ein breiter Riß in einer Hüttenwand war mit Tierfellen verstopft. Frauen und Kinder drängten herbei, um die heimkehrenden Männer zu begrüßen. Auch sie waren blond, die Frauen mit kräftigen Knochen und dicken Zöpfen, die rotwangige Gesichter umrahmten. Sie betrachteten die Fremden mit neugierigen Blicken. Und eine üppige Frau, die nach der Art ihrer Umarmung die Frau des Kapitäns zu sein schien, fragte, woher sie kämen. Der Kapitän lachte lauthals. »Aus dem Meer! Sie sind ein Geschenk Odins. Aber ernstlich, Frau, sie kommen von jenseits des großen Wassers, wie einst unsere Vorväter gekommen sind. Sie sind Römer! Römer werden in diesem Jahr unser Winterfest beehren! Ist das nicht eine gute Nachricht?« Sie antwortete mit einem ebenso herzlichen Lachen. Die anderen Frauen drängten herzu und betrachteten die Römer, betasteten sie sogar. Eine klopfte Brad die Wange, eine andere fuhr mit den Fingern durch Bos` Bart. Simon mochte es nicht sehr, daß er betätschelt und betastet wurde, doch er tröstete sich mit dem Gedanken, daß die Squaws der Irokesen ihnen vermutlich ganz andere Aufmerksamkeit gezollt hätten. Aber dann sah er etwas, das den Gedanken an die Irokesen sogleich vertrieb. Sie stand ein Stück hinter den anderen, war vielleicht vierzehn
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Jahre alt aber ebenso groß wie er selbst. Ihr Haar war von hellerem Gold als das der anderen, ihre Augen von einem reineren Blau. Und in ihrem Blick lag eine bezaubernde Ernsthaftigkeit. Simon drehte sich nach ihr um, und er glaubte ein leises Erröten wahrzunehmen. Dann wandte sie sich ab und verschwand hinter einer der Hütten. Während Simon ihr mit den Blicken folgte, bemerkte er, daß Brad es ebenfalls tat. An diesem Abend feierten sie in dem großen Gebäude, das allgemeiner Versammlungsort und zugleich die Stätte des Stammesrates, des Thing war. Auf einem steinernen Herd in der Mitte brannte ein mächtiges Holzfeuer. Die Männer saßen zu beiden Seiten der Feuerstelle an langen Tischen; die Frauen brachten die Speisen und Getränke. Das Hauptgetränk war aus Honig hergestellt, wie man den Gästen sagte, und es schmeckte wie trockener Wein. Vielerlei Speisen wurden auf die hölzernen Tischplatten gehäuft: verschiedene Arten Fisch, würzige Soßen standen bereit, gebackener Fisch, ein großes Stück Braten, das sich als Walfleisch herausstellte. Essiggemüse und Weizenbrot wurden gereicht. Als sein Magen angenehm gefüllt war, betrachtete Simon aufmerksamer seine Umgebung. Die Halle war sehr alt: Generationen von Ellbogen hatten Vertiefungen in die Tischplatten gegraben. Hoch an den Wänden hingen Hunderte, vielleicht Tausende von runden Schilden neben- und übereinander. Licht kam von rauchigen Lampen, von denen ein durchdringender Geruch ausging. Walfett, vermutete er. Im Lichtschein dieser Lampen konnte man Dutzende von kunstvoll geschnitzten Walfischknochen und Seehundszähnen erkennen. Simon hielt nach dem Mädchen Ausschau, konnte es aber nirgends entdecken. Die meisten Frauen waren schon alt; wahrscheinlich handelte es sich um die Frauen der Krieger, und unverheiratete Frauen waren wohl zu den Festen nicht 37
zugelassen. Das war schade, doch es gab sicher andere Gelegenheiten, das Mädchen wiederzusehen. Vielleicht hatten sie mehr Zeit dazu, als sie sich jetzt vorstellen konnten. Der Gedanke, ständig hierzubleiben, fuhr ihm durch den Sinn, und er bemerkte, daß er sich durchaus Unangenehmeres vorstellen konnte. Freilich kam es darauf an, ob sie zum Bleiben aufgefordert wurden, doch die Bemerkungen des Kapitäns, von dem sich herausgestellt hatte, daß er der Wikingerführer Wulfgar war, über das Geschenk Odins waren verheißungsvoll. Man hatte ihnen Ehrenplätze in der Nähe des Anführers angewiesen, und Bos wandte sich jetzt an ihn, bedankte sich und machte ihm Komplimente wegen seiner Gastfreundschaft. Er sagte: »Wir haben Euch nicht nur für Speise und Trank zu danken, wenn es auch lange her ist, seitdem wir zuletzt so gut gegessen haben.« Er klopfte sich den Bauch und rülpste anerkennend. »Der Tod hätte uns gefunden, wenn Ihr uns nicht zuvor gefunden hättet.« »Es war unser Glück, daß wir Euch gefunden haben«, entgegnete Wulfgar und schwenkte dabei ein großes Stück Fleisch in der Faust. »Die Götter haben mir auch früher schon ihre Gunst erwiesen, aber doch niemals so reichlich.« Simon fand das zwar übertrieben, aber vermutlich handelte es sich einfach um Redensarten. Er beschloß, der Sitte des Landes zu folgen und auch ein wenig zu übertreiben. Er war stolz auf seine Beredsamkeit, als er seinen Becher leerte und ihn sogleich von einer Wikingerfrau nachgefüllt bekam. Er schwenkte den Becher durch die Luft, daß Brad, der neben ihm saß, ein paar Tropfen abbekam. »Für das alles«, sagte er, »sind wir tief in Eurer Schuld und nicht zuletzt auch dafür, daß wir als Gäste an Eurem Winterfest teilnehmen dürfen.« Er hatte das Gefühl, die meisten seiner Worte seien nicht 38
recht verständlich gewesen, weil die beiden Sprechweisen des Lateinischen doch recht unterschiedlich waren, aber Wulfgar hatte zumindest die letzten Worte begriffen. »Unser Winterfest?« Sein Gesicht verzog sich wieder zu einem Lachen. »Aber das ist doch nicht unser Winterfest, Römer! Bis zum Julfest dauert es noch einen Monat. Dann haben wir ein wirkliches Gelage zur Feier der Jahreswende.« Bos verdrehte die Augen. »Noch voller als heute kann mein Bauch nicht werden.« »Das Fest der Jahreswende«, wiederholte Wulfgar, »und durch Eure Ankunft auch unserer Schicksalswende.« Seine Frau stand neben ihm und füllte auch seinen Becher. Wulfgar trank einen tiefen Zug, dann kehrte er den Becher um und ließ den Rest des Inhalts auf den Boden fließen. Die Bewegung wirkte hart und brutal und im ersten Augenblick fast bedrohlich. Aber dann lachte er wieder, und seine Krieger lachten mit ihm. »Auf Odin!« rief er aus. »Den Spender aller Gaben!« 39
III Brad hatte die Insel schon früher besucht, auf der anderen Seite der Feuerkugel. Als er und Simon am nächsten Morgen einen ersten Erkundungsgang unternahmen, staunte er darüber, daß der Strand so leer war. »Hier hat es vor Touristen nur so gewimmelt, und es gab Würstchenstände und Eisverkäufer und alles. Und die ganze Bucht war voller kleiner Boote. Es waren auch ganz schön große dabei.« In den ersten Morgenstunden hatte Nebel Land und Meer umhüllt, doch die aufsteigende Sonne hatte ihn vertrieben. In der Ferne lag zwar noch ein Dunstschleier, aber in der Nähe war alles klar und deutlich. Simon fühlte sich wohl. Er sagte: »Es scheint gar nicht so schlecht gewesen zu sein, daß Roter Falke so unangenehm geworden ist, nicht wahr? Wir hätten sonst erst den Winter hinter uns bringen müssen und dann den Weg von einem Ozean zu anderen, und wir hätten nicht wissen können, welchen Empfang man uns am Ende des langen Weges bereitet hätte.« Brad sah ihn fragend an: »Denkst du etwa, wir sollten hier -bleiben?« »Ich hab schon daran gedacht.« Brad antwortete nicht. »Das Klima in Kalifornien mag ja besser sein, aber wir wissen nicht, wie die sonstigen Bedingungen dort sind. Hier sind wir wenigstens unter zivilisierten Menschen, ziemlich zivilisierten, jedenfalls. Und wir können uns in ihrer Sprache verständigen. Für dich war das ja nicht so schwierig, aber ich habe mich nie an die Sprache der Algonkin gewöhnt.« 40
Sie gingen auf einer Anhöhe entlang und konnten zugleich das Land und das Meer überblicken. Es war eine karge Landschaft, die fast nur von Buschwerk bewachsen war. Brad sagte: »Wir wissen aber noch gar nicht, ob wir bleiben können.« »Ich denke, wir werden willkommen sein, wenn wir mitarbeiten.« »Beim Walfang?« »Dabei, oder was eben sonst gerade nötig ist.« Brad stieß einen Stein aus dem Weg und blickte ihm nach, während er den Hang zum Strand hinunterrollte. »Ich habe versucht, mir ein Bild von ihrer Wirtschaft zu machen«, sagte er. »Sie verwenden sehr viel Holz – für Häuser, Boote und so weiter – aber auf dieser Insel gibt es kaum Bäume und hat es auch nie welche gegeben. Und meistens haben sie Kiefernholz verwendet, das hier vermutlich gar nicht wachsen würde. Und dann das Abendessen gestern – der Fisch paßt ja, und wahrscheinlich kann man hier auch Gemüse anbauen. Aber ich habe mich gewundert, wo hier genug Korn für den Winter wachsen kann, und an Brot schien es doch nicht zu fehlen. Auf der anderen Seite des Dorfes habe ich Bienenstöcke gesehen, das erklärt den Honig für den Met und überhaupt zum Süßen. Aber wie steht es mit der Kleidung? Sie tragen Tierfelle – aber woher kommen die Tiere? Seehunde, gut. Und Kaninchen gibt es wahrscheinlich auch. Aber ich habe auch andere Felle gesehen. Biberpelze, zum Beispiel, und ich wette, daß hier kein Biberland ist. Und die großen Teppiche in der Halle, das sind Bärenfelle.« -Wahrscheinlich treiben sie Handel mit Indianern auf dem Festland.« -So muß es wohl sein. Vermutlich tauschen sie Walprodukte ein. Wal ist vielseitig. Man hat Fleisch und Speck, Walleder und Walknochen. Fett auch. Damit lassen sich das Holz und 41
alles andere erklären. Für einen Wal kann man wahrscheinlich einen ganzen Wald kaufen. Aber wie wird das Holz transportiert? Die Langboote sind nicht gerade ideale Frachter.« »Ist das denn so wichtig?« Manchmal war Brads Leidenschaft für Tatsachen und Ursprünge ein wenig ermüdend. »Ich wüßte es gern.« »Wenn wir bleiben, findest du es sicher heraus.« Sie überquerten die engste Stelle der Insel und warfen von einem der Südstrände Steine ins Wasser, ehe sie zum Dorf zurückgingen. Gleich am Anfang des Dorfes wurde eine Hütte ausgebessert. Das Holz dafür wurde von einer zerfallenen benachbarten Hütte genommen. Nur Frauen arbeiteten hier. Simon fragte: »Meinst du nicht, wir sollten unsere Hilfe anbieten? Vielleicht macht das einen guten Eindruck.« »Die Frage ist nur«, antwortete Brad, »ob es wirklich ein guter Eindruck wäre. Vielleicht gibt es hier eine traditionelle Arbeitsteilung: Die Männer fangen die Wale, die Frauen bauen die Hütten, oder so ähnlich. Sich da einzumischen, wäre dann gar kein so guter Gedanke.« Die Frauen schienen sich in ihrer Arbeit gut auszukennen. Manche von ihnen wirkten kräftiger als die männlichen Wikin-ger. Einige schauten zu Brad und Simon hinüber, doch die meisten waren völlig in ihre Arbeit vertieft. »Wir sollten hier lieber nicht herumstehen«, meinte Brad. Sie wollten weitergehen, doch dann blieben sie stehen. Das Mädchen, das sie gestern gesehen hatten, trat hinter der Hütte hervor, die ausgeschlachtet wurde. Sie trug einen Balken auf der Schulter, dessen Gewicht sie sichtlich beugte. Daß sie für einen Augenblick das Gleichgewicht verlor, lag wohl daran, daß sie die beiden Fremden gesehen hatte. Sie strauchelte und ließ den Balken zu Boden fallen. Während Simon noch darüber nachdachte, lief Brad schon los und griff
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nach dem Balken. Sie trat lächelnd zurück, und er beugte sich, um das Holz aufzuheben. Er versuchte es wenigstens, strengte sich nach Kräften an, hob den Balken auch für zwei, drei Sekunden an, mußte ihn dann aber wieder absetzen. Simon sah, daß das Mädchen wieder lächelte. Das tat auch Brad, und mit mächtiger Anstrengung wuchtete er den Balken tatsächlich auf seine Schulter. Er brachte es sogar fertig, ein paar Schritte damit zu gehen, doch das Gewicht war nicht gut ausbalanciert, und er mußte ihn wieder absetzen, bevor er ihn zu Boden zerrte. Simon nahm ihm das Holz ab, und zum Widerspruch war Brad zu sehr außer Atem. Simon beugte das Knie und konnte den Balken auf seine rechte Schulter heben, und er kam ihm wie ein nicht allzu kleiner Felsbrocken vor. Mit sorgfältig bemessenen Schritten und ängstlich bemüht, unter dem drückenden Schmerz nicht zu stöhnen, ging er zur Hütte hinüber und ließ den Balken dort erleichtert zu Boden sinken. Brad und das Mädchen waren ihm gefolgt. Als sie ihm zulächelte, fühlte er sich gleich besser, doch er war froh, daß die Hütte nicht noch zehn Meter weiter entfernt gewesen war. Oder auch nur zwei. Die Gelegenheit schien günstig, sich ihr vorzustellen. Er nannte ihr seinen und Brads Namen, sie nannte den ihren. Sie war Lundiga, die Tochter Sigrids. Nur zu gern hätte Simon das Gespräch verlängert, doch eine ältere Frau rief nach ihr, weil sie helfen sollte, einen Dachsparren an den rechten Platz zu bringen. Als Simon dabei helfen wollte, schüttelte sie entschieden den Kopf. »Das schickt sich nicht.« Als sie gingen, fragte Simon: »Ist sie nicht phantastisch?« Großartig«, bestätigte Brad. »Wenn man zufällig Gewichtheber ist.« .Die Gewichtheber, die ich bisher gesehen habe, waren aber nicht so hübsch.« 43
»Vielleicht nicht«, stimmte Brad säuerlich zu. »Aber wenn man sie küssen wollte, würde man sich doch fühlen, als würde man von einem Grizzly umarmt.« »Ich würde das Risiko gern auf mich nehmen. Man trifft nicht allzuviele Bären mit einem solchen Gesicht, oder mit solcher Figur.« »An deiner Stelle wäre ich vorsichtig.« »Sind das vielleicht saure Trauben?« »Nein, sondern ein guter Rat«, versicherte Brad. »Lundiga, die Tochter Sigrids ...« »Und?« »Hättest du gestern aufgepaßt, dann wüßtest du, daß Sigrid Wulfgars Frau ist. Also ist Lundiga die Tochter des Anführers.« »Aha.« Simon dachte darüber nach. »Andererseits – was kann es schaden, wenn man mit der Tochter des Chefs befreundet ist?« Bos und Curtius gewöhnten sich schnell an das Leben auf der Insel. Das war nicht weiter überraschend, denn im Grunde war es ein bequemes Leben. Während die Frauen arbeiteten, saßen die Wikinger zusammen und redeten:. unten bei den Booten, wenn das Wetter gut war, sonst in der Halle. Es gab viel Geschwätz und Gelächter, es wurde gesungen, und man sagte lange Verse auf. Bei alledem wurde viel Met getrunken oder ein starkes, dunkles Bier. Man spielte auch eine Abart eines römischen Würfelspiels. Als sie in der ihnen zugewiesenen Hütte miteinander sprachen, sagte Curtius: »Zum ersten Mal bereue ich es nicht, Bradus, daß wir den Ozean überquert haben. In einem solchen Land kann ein Mensch in Frieden leben.« »Wir sind noch nicht lange hier«, wandte Brad ein. »Das Leben kann nicht nur aus Wein und Würfelspiel bestehen.« 44
»Ich erwarte auch kein Leben aus Wein und Würfelspiel«, erwiderte Curtius. Aber ich würde gern mit Männern wie diesen Wikingern die großen Meerestiere jagen. Das ist ein gutes Land mit guten Menschen. Dein eigenes Land im Westen mag wohl alle die Wunder haben, von denen du geredet hast, aber du hast auch gesagt, daß es noch eine lange Reise weit entfernt ist. Es ist ja einzusehen, daß ihr zwei gern in eure Heimat zurückwollt, aber für uns ist das etwas anderes, nicht wahr, Bos?« Bos gähnte mächtig. Simon hatte die beiden am vergangenen Abend in der Halle zurückgelassen, und er war wach geworden, als sie in den frühen Morgenstunden betrunken heimgekommen waren. »Mir gefällt dieses Leben«, versicherte Bos. -,Das Klima ist aber recht kühl, und der Boden ist auch nicht auf für deine Weinstöcke, Bos«, wandte Brad ein. Mit dem Kopf deutete er auf ein Wandregal, auf dem die sorgsam eingepackten Wurzeln lagen. -Da hast du wohl recht«, antwortete Bos. »Und ich gebe auch zu. daß mir ein guter Wein lieber wäre als das Gebräu, das man uns hier zu trinken gibt. Aber es ist noch gar nicht lange her, da war unser köstlichstes Getränk geschmolzener Schnee. Einem geschenkten Gaul guckt man nicht ins Maul, besonders dann nicht, wenn man ziemlich sicher sein kann, in den nächsten Jahren keinen anderen zu bekommen.« Simon wollte vor allem Lundiga öfters sehen, und das war nicht schwierig. Sie aber auch einmal allein zu sehen, das war nicht nur schwierig, sondern geradezu unmöglich. Wenn andere Frauen zugegen waren, gab es kein Problem, ja nicht ,einmal, wenn auch nur Brad dabei war, doch jeder Versuch, die Bekanntschaft ein wenig enger zu knüpfen, wurde lächelnd aber entschieden abgewehrt. »Es schickt sich nicht, Simonus.« Er dachte verstimmt, daß sie die Schicklichkeit viel zu wichtig 45
nähme, doch noch wenn sie ihn tadelte, schaute er sie gern an. Sie war gewiß kein kleines Mädchen, doch von ebenmäßiger Gestalt. Das goldene Haar, die blauen Augen und die rosigen Wangen vervollständigten ein Bild, das die Augen erfreute. Auf den Zentimeter genau war sie so groß wie Simon. Das bedeutete, daß Brad zu ihr aufschauen mußte. Auch das war kein Fehler. Die Wikingerfrauen arbeiteten schwer. Sie wuschen und putzten, kochten die Mahlzeiten und versorgten die Kinder und Tiere, hielten die Hütten instand, sammelten Brennstoff für das Feuer, räumten die Pfade zwischen den Hütten, wenn es schneite. Sie fischten sogar im Hafen und besserten die Netze der Langboote aus. Die Männer hingegen taten absolut nichts. Simon, dem das Mißverhältnis zwischen ermüdender Arbeit und völliger Faulheit peinlich war, fragte Lundiga, ob er nicht irgendwie helfen könne. Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Es schickt sich nicht.« Und doch hatte Simon nicht das Gefühl, die Frauen würden beherrscht. Blicke und Bemerkungen, die er bisweilen auffing, deuteten eher darauf hin, daß sie den Männern gegenüber nicht Unterwürfigkeit, sondern eher eine milde Verachtung empfanden. Als Brad einmal nach den vielen leeren Hütten im Dorfe fragte, schien Lundigas Antwort diese Einstellung zu bestätigen. In früheren Zeiten, so sagte sie, seien die Männer einmal wirkliche Krieger gewesen, Forscher und Händler, und sie seien mit ihren Booten oft zum Festland gereist. Auch im Walfang seien sie emsiger und erfolgreicher gewesen. Heutzutage seien sie nicht mehr eifrige Seefahrer, und sie kämen auch oft genug mit leeren Händen zurück. Brad erkundigte sich, wie sie denn das Bauholz vom Festland herbeigeschafft hätten. Man hätte Baumstämme zu Flößen verbunden und ins 46
Schlepptau genommen, erklärte sie. Aber das habe man inzwischen aufgegeben. Seit mehr als einer Generation sei jetzt kein neues Bauholz mehr beschafft worden. Darum müßten die Frauen die Hütten immer wieder mit Resten von leerstehenden Hütten ausbessern. Tatsächlich stünden viele Hütten leer. Es würden weniger Kinder geboren, die Zahl der Menschen nehme ab. Als sie wieder allein waren, sagte Brad zu Simon: »Sie sterben aus, das ist sicher.« »Und warum, deiner Meinung nach?« »Das kann verschiedene Gründe haben, oder auch eine Mischung aus mehreren. In unserer Welt gab es vier Jahrhunderte lang eine blühende nordländische Kolonie auf Grönland. Dann ging sie unter. Niemand wußte den Grund. Das könnte sich hier auch abspielen. Klimatische Veränderungen vielleicht, oder die Auswirkungen der Inzucht, oder einfach Lustlosigkeit. Seit tausend Jahren haben sie auf einer kleinen Insel immer wieder dasselbe zur selben Jahreszeit auf dieselbe Weise getan. Vielleicht langweilt sie das alles einfach zu sehr.« „Seit tausend Jahren mag sich nichts verändert haben«, meinte Simon, »aber jetzt gibt es eine Veränderung.« Brad sah ihn fragend an. »Welche?« -Daß wir hier sind.« -Du meinst, das ändert etwas?« Vielleicht.« Brad sagte nachdenklich: »Man sollte meinen, daß die Frauen, die alle Arbeit tun, unterwürfig sind. Aber es ist nicht so. Die Männer werden von den Frauen bedient und prahlen mit ihrem Walfang und machen überhaupt viel Lärm. Aber Kinder werden nach ihren Müttern benannt, nicht nach den Vätern. Lundiga, Tochter Sigrids - obwohl Wulfgar der Anführer ist. --und hast du auch gehört, was sie heute früh gesagt hat: Wenn es um die Heirat geht, dann treffen die Frauen die Wahl.« 47
»Ja, ich hab's gehört.« Lundigas Gesichtsausdruck hatte nichts weiter verraten, als sie es erwähnt hatte, doch dieses Gespräch hatte nur kurze Zeit später stattgefunden, nachdem Simon ihr gesagt hatte, er habe auf seinen weltweiten Reisen niemals ein so schönes Mädchen wie sie gesehen. »Und, wie gesagt«, fuhr Brad fort, »sie ist die Tochter des Anführers. Wer wird hier also der nächste Führer sein –Simonus, der Retter der Wikinger?« Brad duckte sich vor dem Schlag, der ihm zugedacht war, und Simon ließ es dabei bewenden. Er hatte eigentlich gar nichts gegen die Bemerkung einzuwenden. Der Walfang beschäftigte die Wikinger unablässig, freilich mehr in Worten als in Taten. Man erzählte beim Trinken am abendlichen Feuer lange Geschichten von früheren Fangfahrten – wie man gejagt und getötet habe und wer die entscheidende Harpune geschleudert habe. Dann tranken sie weiter und kamen zur nächsten Reise, die sie morgen oder – falls etwas dazwischenkommen sollte – jedenfalls übermorgen antreten wollten. Irgend etwas kam immer dazwischen. Das Meer war zu ruhig, und das bedeutete, daß die Wale sich im Nebel verbergen würden; es gab hohe Wellen, also würden die Wale sich in die Tiefe zurückziehen; oder es drohte ein Sturm. Oder die Wikinger wachten einfach nicht früh genug auf. Endlich aber, an einem klaren Morgen, als eine steife Winterbrise von Süden wehte, brachen sie tatsächlich auf. Lundiga hatte Simon und Brad erzählt, ihre Mutter mache sich Sorgen wegen der Vorräte, besonders fehle es an Öl, und sie werde wohl ein ernsthaftes Wort mit Wulfgar sprechen. Jedenfalls wurden alle drei seetüchtigen Langboote voll bemannt, zurück blieben nur die Männer, die zu alt und zu schwach waren und ein gutes Fünftel der Wikinger, die sich bei waghalsigen Kunststücken vor Trunkenheit ein Bein gebrochen hatten. 48
Lundiga sagte, sie erinnere sich noch gut, daß vier Boote ausgefahren seien, und zu Zeiten ihres Großvaters seien es sogar sechs gewesen. Einige Bootsrümpfe verrotteten am Strand. Die Neuankömmlinge hatte man verteilt, doch Simon und Brad waren gemeinsam auf Wulfgars Boot. Das Boot, das Simon zugewiesen wurde, war viel länger und schwerer, als er es vom Rudern in der Schule her gewöhnt war, und die Handhabung fiel ihm schwer. Doch sobald sie den Hafen hinter sich gelassen hatten, wurden die Segel gesetzt, und man konnte sich entspannen. Das Segel zeigte in verblaßter roter Farbe einen Drachen. Die Schiffe hielten Kurs auf Nordwesten und segelten unter einem Himmel dahin, der zwischen Blau und dickem Gewölk wechselte. Die See war unruhig, aber die Bewegungen des Schiffes waren nicht allzu unangenehm. Nach einiger Zeit fühlte Simon sich wohl dabei. Der Narbengesichtige stand wieder am Ruder, während Wulfgar vom Ausguck seine Befehle rief. Seine Stimme war kräf. und das mußte sie auch sein, wenn sie den Lärm der Ruderer übertönen sollte. Wenn sie nicht gerade sangen, dann waren sie in Gespräche vertieft, oder sie tauschten die schwersten Beleidigungen aus. Der durchschnittliche Wikinger, dachte Simon, ist wohl wirklich ein starker Mann, aber schweigsam ist er ganz gewiß nicht. Nach einigen Stunden ereignislosen Segelns aßen sie: Brot und Fleisch wurden auf den Ruderbänken von Mann zu Mann weitergereicht, Flaschen mit Wasser und Bier folgten. Simon beschränkte sich auf das Wasser, doch die Wikingergenossen trankenen das Bier in tiefen Zügen. Die Flaschen wurden mehr als einmal geleert und wieder gefüllt. Die Ruderer wurden noch lauter und streitlustiger, und in einigen Fällen kam es auch zu Kämpfen. Auf der anderen Bootsseite, dort, wo Brad ruderte. fingen zwei eine Schlägerei an, die Wulfgar schlichten 49
mußte. Er packte mit jeder Hand einen Nacken und schlug die gehörnten Helme zusammen, daß es nur so krachte. Betreten trennten sich die beiden Kampfhähne voneinander. Bald darauf verkündete ein Ausruf, daß ein Wal in Sicht war. Die Wikinger jubelten trunken, und Wulfgar gab einen schnellen Rhythmus für die Ruderer an und rief dem Steuermann Befehle zu. Simon konnte nur den gespannten Rücken des Ruderers sehen, der unmittelbar vor ihm saß, doch er bemerkte, wie die Erregung der Jagd auch ihn ergriff. Er erinnerte sich daran, daß er grundsätzlich gegen den Walfang eingestellt war, aber mit dem augenblicklichen Geschehen schien dieser Grundsatz gar nichts zu tun zu haben. Und hier jagte schließlich auch kein wohlausgestattes Fabrikschiff ein hilfloses Opfer, sondern Menschen in einer Nußschale, die weit kleiner war als die gejagte Beute, kämpften gegen ein überstarkes Opfer. Wenn der Wal sich als ein Moby Dick erwies und sich gegen seine Jäger wandte . . . Einen AugenBlick lang bereitete dieser Gedanke ihm Furcht, doch die aufgeregte Atmosphäre rundum war unwiderstehlich ansteckend. Die Wikinger schien, und er bemerkte überrascht, daß er mit ihnen schrie. Zwei der vorderen hatten die Ruder aus den Händen gelegt und standen jetzt neben Wulfgar, Harpunen an langen Leinen in den Fäusten. Auch Wulfgar trug eine Harpune. Über die Schulter des vor ihm sitzenden Ruderers hinweg konnte Simon ihn gerade sehen, wie er dort lächelnd und begeistert stand, und wie das gelbe Haar, das unter seinem Helm hervordrang, im Winde wehte. Plötzlich kam heftiger Wind von Steuerbord auf. Kalter Regen setzte ein. Der Himmel wurde immer dunkler. Es dauerte nur Minuten, bis die Sonne wieder hervorkam, aber ein zweites kurzes Gewitter folgte, und vielleicht für eine Viertelstunde jagte ein Regenschauer den anderen, ehe ein ständiger, kräftiger
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Regenfall einsetzte. Die Rufe der Ruderer klangen jetzt weniger begeistert, und die Geschwindigkeit der Ruderschläge ließ erheblich nach. Bald darauf rief Wulfgar: »Wir haben ihn verloren! Die Fangfahrt steht unter keinem guten Zeichen. Wir nehmen Kurs auf unsere Insel!« Die Niedergeschlagenheit war so groß wie zuvor die Begeisterung. Die zwei Männer legten die Harpunen beiseite und kehrten an ihre Ruderbänke zurück. Aber Wulfgar war nicht niedergeschlagen. »Unser Glück wendet sich auch wieder!« rief er. »Nach dem Winterfest werden wir Dutzende von Walen fangen. Odin wird für seine Kinder sorgen. Beim Winterfest werden die Adler ihre Flügel spreizen, und dann werden wir durch Odins Hilfe in Reichtum leben. Aber jetzt geht es nach Hause!« Am Abend in der Hütte grollte Bos über den vorzeitigen Abbruch der Waljagd. Der Steuermann seines Bootes hatte behauptet, den Wal noch in Sicht zu haben, als die Jagd abgebrochen wurde. Curtius sagte: »Der Regen hat ihren Mut aufgeweicht. In meinem Boot haben sie darüber geklagt wie die Kinder. In der Kaiserlichen Römischen Armee sind wir tagelang durch viel heftigeren Regen marschiert und haben danach noch die Barbaren niedergemacht.« »Es hat mich überrascht, daß sie so leicht aufgegeben haben«, sagte Simon, »wenn es ihnen doch an Öl fehlt und die Lebensmittel knapp werden.« -Sie reden von ihrem Winterfest«, erklärte Bos, »bei dem die Adler ihre Flügel breiten werden. Ich habe hier keine Adler gesehen. Das habe ich ihnen auch gesagt, und sie haben darüber gelacht.« .Sie sind wie Kinder«, behauptete Curtius. »Ich mag sie gern, aber sie sind die reinsten Kinder. Sie lachen ohne jeden Grund.«
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Brad sagte: »Es ist schon seltsam. Wulfgar scheint ganz sicher zu sein, daß Odin für sie sorgen wird, aber ich kann nicht sehen, woher er diese Zuversicht nimmt.« Bos schüttelte den Kopf. »Von heidnischen Göttern können sie nichts erwarten.« Curtius sagte: »Ich habe die größte Achtung vor den Göttern, wie es einem klugen Mann ansteht, aber auf ihre Hilfe würde ich niemals warten. Die Götter helfen jedenfalls denen am besten, die sich selber helfen.« »Bis zum Winterfest ist es nicht mehr lange«, sagte Simon. »Ein paar Wochen nur. Wahrscheinlich ist alles nur ein Gerede, daß alle bei Stimmung halten soll.« »Kinder ... «, sagte Curtius. Im Dorf wurde eine Stimmung freudiger Erwartung spürbar, wie Simon sie aus seinen frühen Kindertagen in der Vorweihnachtszeit kannte. Die Frauen verwendeten viel Zeit auf die Vorbereitung des Festes. Dabei wirkten sie sehr fröhlich, bis auf Lundiga, die nachdenklich und verschlossen wirkte. Brad meinte dazu: »Irgend etwas macht sie unglücklich.« »Meinst du?« Simon hatte gehofft, die Nachdenklichkeit des Mädchens könnte etwas mit ihm zu tun haben. Sie nahm seine Komplimente jetzt nicht mehr mit einem belustigten Lächeln sondern mit besorgten Blicken auf. Vielleicht bedeutete das einen Fortschritt. Er hatte das Gefühl, daß ihre Haltung insgesamt sich veränderte. Es wäre leichter gewesen, wenn er ohne Brads Gegenwart mit ihr hätte reden können, doch in dieser Hinsicht blieb sie unnachgiebig. »Ich bin ganz sicher«, bekräftigte Brad. Sie waren auf dem Weg zu ihr. Es hatte heftig geschneit, und sie hatte gesagt, sie wollte mit ihnen zu einem Rodelhang außerhalb des Dorfes gehen. 52
Sie wartete mit einem Schlitten vor der Hütte ihrer Eltern und ging stumm neben ihnen, während Simon den Schlitten aus dem Dorf trug. An diesem Morgen war sie wirklich auffällig still. Sie reagierte kaum auf die Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen. Doch Simon empfand dieses Schweigen nicht als feindselig. Sie sah sehr schön aus, und in der kalten Luft waren ihre Wangen rosiger denn je. Sie gingen zu einem Hügel, der eine halbe Meile vom Dorf entfernt lag und ein schüsselförmiges Tal überragte. Der Schlitten war für zwei bestimmt, konnte aber auch drei Personen aufnehmen. Sie fuhren ein paar Mal und wurden immer schneller, als die Spuren im Schnee vereisten. Plötzlich sagte Lundiga, die nächste Fahrt wolle sie auslassen, und ehe Brad noch etwas sagen konnte, versicherte Simon, er wolle die nächste Fahrt auch überspringen. Brad zuckte die Achseln, legte sich auf den Schlitten und sauste bergab. Unter bremste er mit einem Schwung, der den Schnee aufstieben ließ. Dann begann er den Anstieg. *Du siehst heute schöner denn je aus«, sagte Simon. Es war kein besonders einfallsreiches Kompliment, doch er beherrschte das Lateinische nicht so, daß er geschliffenes von sich geben konnte, und da Lundiga nur das barbarische Latein der Wikinger kannte, hätte sie allzu feine Komplimente in dieser Sprache wohl auch nicht zu schätzen gewußt. Er tat sein Bestes, um seine Worte durch einen tiefen Blick in ihre Augen zu unterstützen, und er entdeckte überrascht, daß Tränen in diesen Augen standen. Noch betroffener war er, als sie plötzlich in lautes Schluchzen ausbrach. Tröstend legte er den Arm um sie. und sie wies ihn nicht zurück. Brad kam das letzte Hangstück keuchend herauf und fragte »Was hast du ihr denn getan?« blickte skeptisch. 53
»Nein, wirklich nichts.« Lundiga löste sich, trat aber nicht zurück. Sie sah die beiden traurig an und sagte: »Ihr müßt fort!« »Fort?« Simon starrte sie verständnislos an. »Wohin?« »Fort von hier; von der Insel!« »Aber warum denn?« Simon hatte mit dem anderen Geschlecht nur sehr geringe Erfahrung, doch er wußte, daß man nicht immer für bare Münze nehmen durfte, was die Mädchen sagten. Fortgehen, das konnte auch Näherkommen bedeuten. Er nahm ihre Hand und sagte: »Ich gehe nirgends hin!« Sie sah ihn traurig an und wandte sich an Brad. »Du hast mich einmal gefragt, wie mein Volk hierher gekommen ist, und ich sagte dir, ich wüßte es nicht. Aber das war nicht die Wahrheit, Bradus.« Er antwortete: »Ich habe mich damals darüber gewundert. Es gibt doch immer irgendeine Geschichte oder Legende, selbst wenn sie nicht sehr genau ist.« »Es lag an euch Römern. Vor langer Zeit. Vor über dreißig Generationen. « Sie schwieg ein Weilchen. »Mein Volk gehörte zum Römischen Reich. Wir sprachen die Sprache des Reiches und gehorchten den Befehlen des Kaisers. Aber in den nördlichen Bergen gab es Menschen unserer Rasse, die sich nicht den Römern unterwarfen. Sie hatten viele Kinder und wenig zu essen. Sie kamen nach Süden und überredeten mein Volk zum Aufstand gegen die Römer. Unsere Vorfahren verbündeten sich mit ihnen, und gemeinsam gewannen sie eine Schlacht gegen die Römische Armee. Aber der Kaiser hatte noch andere Armeen. In der nächsten Schlacht unterlagen unsere Vorfahren, und es gab viele, viele Tote.« Wieder schwieg sie, und Brad sagte auf englisch zu Simon: »Über dreißig Generationen. Damit kommen wir ungefähr auf
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die Zeit, zu der die Wikingerreisen in unserer Welt angefangen haben. In dieser Welt waren die Dänen romanisiert worden, und Rom war noch immer mächtig. Wenn also die Norweger und Schweden südwärts gezogen sind und die romanisierten Dänen aufgefordert haben, sich mit ihnen zu verbünden ... Doch, das ergibt schon einen Sinn.« Lundiga sagte: »Ich verstehe eure Worte nicht.« Auf Latein erwiderte Brad: »Es ist nicht so wichtig. Was ist denn geschehen, nachdem die Armee eures Volkes geschlagen war?« Römische Soldaten kamen in unser Land und verfolgten die Flüchtlinge. Sie töteten nicht nur Männer, sondern sie folteren und töteten auch Frauen und Kinder. Sie brannten Städte -.und Dörfer nieder, und es machte ihnen nichts aus, wenn Menschen in den brennenden Häusern waren.« >Sehr römisch«, kommentierte Brad. »Das haben sie auch bei anderen Aufständen getan. Sie waren immer grausam zu den unterworfenen Völkern. In ihren Augen war es Verrat, wenn man sich gegen römische Herrschaft auflehnte.« >In einer Stadt«, erzählte Lundiga, »bestiegen die Menschen lieber Langboote und setzten die Segel, als sie hörten, was sich anderen Orts zugetragen hatte. Es gab da Geschichten von einem Land, das Thule hieß und fern im Meer lag, noch weit jenseits von Britannien. Sie wußten zwar nicht, ob diese Geschichten der Wahrheit entsprachen, aber sie wollten lieber die Gefahren des Meeres auf sich nehmen als die gnadenlose Grausamkeit der Römer. Vier Langboote segelten davon, drei gingen verloren. Das vierte fand hier sicheres Land. Über viele Generationen hinweg lebte mein Volk auf dieser Insel im Wohlstand, und es war glücklich. In den letzten hundert Jahren ist es schwerer geworden. Wir haben alles verloren: Boote, Hütten, Nahrung. Und Kinder. Die Gegenwart ist düster, und die Zukunft ist noch dunkler.« 55
Simon sagte: »Aber dein Volk scheint doch recht fröhlich zu sein, und alle reden von den guten kommenden Zeiten. Sie sagen, daß Odin ihnen nach dem Winterfest helfen werde.« Wieder fing sie an zu weinen. Seltsam lauernd fragte Brad: »Was hat das mit Odin, dem Winterfest und den Adlern eigentlich zu bedeuten?« »Wir haben eine Sage, die aus früher Zeit überliefert ist. Darin wird von künftigen, sehr harten Zeiten gesprochen und es heißt, daß die harten Zeiten erst vorübergehen werden, wenn Römer auf unsere Insel kommen.« »Nun ja«, sagte Simon. »Dann ist doch alles in Ordnung. Wir sind ja jetzt hier, nicht wahr?« Das Mädchen sah ihn bedrückt an. »Die Legende sagt, daß die Römer kommen, damit sie beim Winterfest Odin geopfert werden. Danach wird Odin wieder gute Zeiten für uns bringen.« Simon konnte nicht glauben, was er hörte. Er sagte: »Aber die fliegenden Adler ... « »Jetzt erinnere ich mich«, warf Brad ein. »Irgend etwas war da schon seit einiger Zeit in meinen Gedanken, aber ich brachte es nicht zusammen. Es gab da einmal alte skandinavische Formen von Menschenopfern. Die Adler fliegen nicht, sie breiten nur ihre Schwingen aus. Und das bedeutet, daß jemand die Brust der Opfer aufschneidet und langsam die Rippen auseinanderbiegt, bis sie wie Flügel aussehen. Das nannte man den blutigen Adler.« Er schaute Lundiga fragend an. »Sollen wir die Adler sein?«
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IV Bos fing an zu fluchen und fluchte noch lange. Curtius war ungläubig. »Bist du auch ganz sicher?« fragte er. »Sehr sicher«, bekräftigte Brad. »Aber welchen Grund hätte denn das Mädchen, es euch zu erzählen? Damit verrät sie doch ihr Volk?« Bos sagte ungeduldig: »Das ist doch keine Frage. Hast du nicht gesehen, welche Augen ihr der junge Simonus gemacht hat? Ich glaube, sie hat die Wahrheit gesagt. Sie haben gelacht, als ich nach den Adlern gefragt habe, und an diesem Lachen war etwas, woran ich mich jetzt erinnere. Als ich ein Kind war, und die Römer mein Dorf eroberten, hat meine Mutter um das Leben meines Vaters gefleht. Der Centurion hat genauso gelacht, ehe er meinen Vater niedergemacht hat.« Sein Gesicht hatte sich bei diesen Worten verdunkelt. Curtius sagte: »Habe ich sie Kinder genannt? Verräterische Lumpen sind sie. Wir sollten gleich damit anfangen, sie einen nach dem anderen umzubringen.« »Wir vier gegen ungefähr hundert?« fragte Simon. »Das gefällt mir nicht sehr.« »Bei all ihren Streitäxten und gehörnten Helmen«, behauptete Curtius verächtlich, »sind sie doch eher Weiber als Krieger. Ich glaube tatsächlich, daß ihre Frauen besser kämpfen würden. « »Damit könntest du recht haben«, stimmte Brad zu. »Und damit stünde es dann schon zweihundert gegen vier. Curtius, wir müssen vernünftig sein. Wir hatten das Glück, rechtzeitig gewarnt zu werden, und das müssen wir nützen.« »Dann warte bis heute Abend«, schlug Bos vor. An der Halle 57
werden sie sich betrinken wie immer, und das ist der beste Augenblick, um über sie herzufallen und sie in Stücke zu hacken.« Curtius nickte widerstrebend. »Vielleicht kann ich wirklich noch bis heute abend warten.« »Habt
ihr
denn
beide
den
Verstand
verloren?«
fuhr
Simon
sie
an.
»Wahrscheinlich kämpfen sie nur desto besser, wenn sie betrunken sind. Und dann sind da auch noch die Frauen, wie Brad schon gesagt hat. Außerdem kommt es nicht darauf an, daß wir sie umbringen, sondern daß wir von ihrer Insel verschwinden. « Curtius sah störrisch aus, doch Bos fragte: »Was sollten wir denn deiner Meinung nach tun?« »Das Winterfest findet bei Vollmond statt«, erklärte Brad. »Jetzt haben wir Halbmond, also bleibt uns noch Zeit zu den Vorbereitungen. Am besten wird es offenbar sein, wenn wir bei Nacht in einem der Langboote verschwinden. Dazu brauchen wir einiges, zum Beispiel Lebensmittel und Wasser für die Reise. Und wir müssen den richtigen Augenblick abpassen.« »Wie bald?« fragte Bos. »Jedenfalls nicht sofort. Wir brauchen eine klare Nacht.« Seit Tagen war der Himmel bedeckt gewesen. Die Wolken hingen tief, und es wehte ein heftiger Ostwind. Curtius sagte: »Und wenn es nun vor dem Fest keine klare Nacht mehr gibt?« »Dann müssen wir es eben auch in tiefster Dunkelheit wagen. Aber bei Mondschein wäre es sehr viel leichter.« »Und dann ist da noch die Frage«, warf Simon ein, »wie Lundiga fortkommen kann.« Curtius sah ihn scharf an: »Das Mädchen nehmen wir nicht mit. « Simon widersprach: »Hätte sie uns nicht gewarnt, wäre uns ein 58
schrecklicher Tod sicher gewesen. Selbstverständlich kommt sie mit.« »Sie ist eine von denen«, wandte Curtius ein, »also kann man ihr nicht trauen.« Bos erklärte: »Was du gesagt hast, ist richtig, Simonus. Aber hier, bei ihrem Volk, ist sie besser aufgehoben.« »Lundiga hat ihr Volk verraten, als sie uns warnte«, meinte Brad. »Darin hat Curtius recht. Wenn wir verschwinden, werden die Wikinger sofort ahnen, daß wir ihren Plan durchschaut haben. Und da Lundiga oft mit Simonus und mir beisammen war, wird man sie verdächtigen, es uns erzählt zu haben. Wir müssen sie mitnehmen.« Curtius schüttelte den Kopf. »Ich sage, wir lassen sie zurück.« Bos sah ratlos aus. »Ich mag das Mädchen, und sie hat uns einen unbezahlbaren Dienst geleistet. Wenn du meinst, daß sie in Gefahr wäre ... « »Richtig«, sprach Simon schnell dazwischen. »Also steht es drei zu eins. Lundiga kommt mit uns.« Curtius knurrte: »Lieber wäre mir immer noch, wir gingen gleich los und brächten sie alle um.« Am nächsten Morgen sprachen sie mit Lundiga. Simon sagte: »Wir werden dich wissen lassen, wann wir aufbrechen wollen. Für dich wird es am sichersten sein, wenn du aus der Hütte schleichst und uns am Strand triffst.« Sie sah ihn überrascht an. »Oh, nein ... « »Wie meinst du das: Nein?« »Ich habe es euch gesagt, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, daß man euch töten will. Aber ich kann nicht mit euch gehen. Das schickt sich nicht.« Sie sprach mit der selbstverständlichen Gewißheit, die Simon schon kannte. Seine Überraschung wandelte sich in Verzweiflung.
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»Was hat denn die Schicklichkeit damit zu tun? Du mußt hier fort! « Ihr gelbes Haar flatterte, als sie den Kopf schüttelte. »Das kann ich nicht.« Brad mischte sich ein. »Simonus hat recht. Was würde denn wohl geschehen, wenn dein Volk wüßte, daß du uns gewarnt hast?« »Es würde mich mit eigenen Händen umbringen«, erwiderte sie. »Siehst du! Und sie werden genau wissen, daß jemand es uns gesagt haben muß, und dann werden sie auch erraten, daß du es warst. « Sie sah Brad mit unglücklichen Augen an, doch nach einem Zögern wiederholte sie: »Es schickt sich nicht.« Simon wurde von Zorn überwältigt. Sie war doch wirklich so starrköpfig, daß es an Dummheit grenzte. Er hob die Stimme. »Wir reden über dein Leben, verstehst du? Du mußt mitkommen!« »Nein.« Sie sah, daß ihre Mutter näherkam. »Ich muß jetzt gehen.« Später sagte Simon: »Notfalls nehmen wir sie gewaltsam mit.« »Das kann ich mir schon richtig vorstellen«, spottete Brad, »wie wir sie zum Langboot schleppen, während sie schreiend um sich schlägt. Jedenfalls kann ich mir das von Bos vorstellen. Wir könnten sie wahrscheinlich noch nicht einmal anheben.« »Wenn es darauf ankommt, wehrt sie sich vielleicht gar nicht.« »Vielleicht aber auch doch. Und dann genügt ein Schrei, und wir haben alle auf dem Hals. Sie schläft in der Hütte ihrer Eltern. Wie stellst du dir das vor, sie da mitten in der Nacht herauszuholen, ohne daß einer etwas bemerkt?« »Wir können aber nicht zulassen, daß sie bleibt und umgebracht wird.« 60
»Wird sie vielleicht auch gar nicht. Die anderen können nicht ganz sicher sein, wenn sie ihnen nicht selbst alles erzählt. Und sie ist immerhin Wulfgars Tochter.«»Das würde sie nicht retten, das hat sie selbst gesagt.« »Jedenfalls können sie nicht sicher sein. Wir könnten ja auch irgendein Gespräch unter den Wikingern belauscht haben. Oder wir haben uns einen Reim auf ihr Lachen gemacht, als Bos gesagt hat, als Bos gesagt hat, er hätte keine Adler gesehen.« »Das glaubst du doch selber nicht.« »Ich glaube, daß wir uns mit den Tatsachen abfinden müssen. keine Möglichkeit, sie mitzunehmen, wenn sie es nicht will. Und bis jetzt ist sie entschlossen, nicht mitzukommen. Wir können ja weiter versuchen, sie noch zu überzeugen.« Er grinste. »Für die Aufgabe bist du wahrscheinlich am besten geeignet.« Simon tat sein Bestes. Anfangs fürchtete er, das Wetter könnte umschlagen, ehe seine Überzeugungskraft wirkte; aber ein wolkiger Tag folgte dem anderen, während Lundiga immer störrischer zu werden schien. Eines Tages wachten sie auf und bemerkten, daß ein Blizzard von Westen wehte. Es schneite den ganzen Tag, und als die Nacht einbrach, fiel der Schnee noch immer. Simon war klar, daß der unsichtbare Mond jetzt zu drei Vierteln voll sein mußte. Der Augenblick rückte näher, zu dem sie ihre Chance auch ohne Mondlicht wahrnehmen mußten. Und ohne Lundiga. Am nächsten Tag hatte der Schnee aufgehört, und die Wolken teilten sich. Blendend helle Sonnenflecken lagen auf dem Schnee. Bos und Curtius freuten sich und sahen darin ein Zeichen zum Aufbruch. Als Simon meinte, sie sollten noch einen Tag zulegen, erwiderte Curtius: »Ein weiterer Tag kann vielleicht einen neuen Schneesturm bedeuten: Es muß heute nacht sein.« 61
Brad stimmte zu: »Er hat recht, weißt du. Längeres Abwarten können wir uns nicht mehr leisten.« Bos sagte: »Es ist wahr, Simonus. Das Mädchen tut mir leid, aber sie muß es schließlich selbst entscheiden.« Mit den anderen Frauen räumte Lundiga den Schnee vor den Hütten, doch es gelang ihnen, sie allein zu sprechen. Simon erklärte, daß die Flucht für diese Nacht festgelegt sei. Sie hörte schweigend zu und stützte sich auf eine große Holzschaufel. Er sprach sehr eindringlich, wenn auch ohne große Hoffnung, sie noch überzeugen zu können. »Du mußt mit uns kommen, Lundiga! Bitte!« Sie schwieg. Brad sagte: »Wir sollten lieber nicht zu lange miteinander reden. Man könnte sich morgen daran erinnern, und dann wird alles für sie noch schwieriger.« »Lundiga . . .«, fing Simon an. »Es schickt sich nicht.« Sie schwieg ein Weilchen. »Aber manches kann man einfach nicht bestreiten. Ich habe gesagt, ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß man euch töten will. Aber das war es nicht allein. Mein ganzes Leben habe ich bei meinem Volk zugebracht und keine anderen Menschen gekannt. Als ihr hergekommen seid, habe ich euch als Fremde betrachtet, und — schlimmer noch — als Römer. Selbst wenn ich euch angelächelt habe, habe ich mich doch daran erinnert, was eure Vorfahren meinen angetan haben. Aber mein Herz hat sich verändert, als ich euch besser kennenlernte. Besonders einen von euch.« Ihr Blick richtete sich auf Brad. »Ich habe in schlaflosen Nächten darüber nachgedacht, und ich weiß, was ich tun muß, weil mein Herz es verlangt. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß ich dich verlieren soll, Bradus. Wenn du gehen mußt, werde ich mit dir gehen.« 61
Vor dem Abendessen schlich Bos davon. Zu einem Erkundungsgang, sagte er. Brad warnte ihn, er solle nichts tun, was Verdacht erregen könnte, und der große Mann antwortete darauf mit einem freundlichen Lächeln. Später wandte er dieselbe Waffe gegen Brad, als der nach dem Abendessen vorschlug, Bos und Curtius sollten lieber auf den abendlichen Umtrunk verzichten, damit sie klarere Köpfe behielten. »Das wäre doch wirklich verdächtig, nicht wahr, Curtius?« mach dir keine Sorgen, Junge. Ein Mann, der an Wein gewöhnt ist, kann alle diese Biertrinker unter den Tisch saufen und dabei noch nüchtern bleiben.« Als sie endlich in die Hütte zurückkehrten, war der Nachthimmel klar und mit funkelnden Sternen übersät. Der Mond war fast voll. Sie ließen sich noch eine Stunde Zeit, ehe sie wieder aufbrachen. Ihre Schritte knirschten auf dem Schnee. Was sie für die Reise brauchten, hatten sie unter allerlei Gerümpel in einer der unbewohnten Hütten versteckt. Sie stand nicht weit von der Hütte des Anführers entfernt. Bos rief wie eine Eule. Das war das mit Lundiga verabredete Zeichen. Es klang wirklich genau wie ein Eulenruf, und falls Lundiga schlief, wurde sie davon sicherlich nicht wach. Warten konnten sie jetzt nicht mehr. Bos rief noch einmal, dann wandte er sich den anderen zu und schüttelte den Kopf. Aber in diesem Augenblick trat Lundiga aus dem Schatten. Wulfgars eigenes Boot hatten sie für ihr Unternehmen ausgewählt. Während sie hügelab gingen, sahen sie den Drachenkopf sich vom mondhellen Wasser der Bucht abheben. Das Geräusch ihrer Schritte im Schnee kam ihnen sehr laut vor, und sie waren froh, als sie das Dorf endlich hinter sich hatten. Simon schwitzte trotz der Kälte. Als sie nur noch fünfzig Meter vom Ufer entfernt waren, zerriß lautes Schreien die Stille. Simon schaute sich um. Der 63
Lärm kam aus der Hütte des Anführers oder vielmehr von der Gestalt, die davor stand: Lundigas Mutter. Selbst auf diese Entfernung war ihr Geschrei laut genug. Bei den Hütten mußte es ohrenzerreißend klingen. Die Wikinger kamen aus ihren Hütten gestürzt. »In das Boot!« befahl Curtius hastig. »Wir legen ab!« Seine Stimme hatte die Autorität eines römischen Centurions, und niemand widersprach. Der Kai war eine schmale Holzkonstruktion auf Pfeilern und durch einen zerbrechlichen Steg mit dem Land verbunden. Sie hasteten hinüber. Lundiga schien noch einmal zu zögern, und Bos hob sie auf wie ein Baby und setzte sie im Langboot wieder ab. Dann folgten er, Simon und Brad. Curtius kämpfte mit dem Haltetau. »Schlag es mit der Axt durch!« schrie Bos. Curtius schwang heftig die Axt. Das Bootsdeck zitterte, doch das Seil hielt stand. Er schlug ein zweites und ein drittes Mal. Inzwischen kamen die Wikinger schon den Hang herabgestürmt und waren sehr nahe. Ein Tauende fiel lose auf die Decksplanken, und Bos schrie Curtius zu, er solle springen. Simon konnte über den Kai hinweg die heranstürmenden Wikinger sehen. Einer war allen voraus: Wulfgar. Er war barfüßig und ohne Helm, doch er schwang seine Axt und schrie zusammenhanglose Drohungen. Auch Curtius konnte ihn sehen. Er ließ ein drohendes Grollen hören, das zu einem Wutschrei anschwoll. Brad schrie ihm zu: »Curtius, du Narr! Kümmere dich nicht um ihn! Spring!« Statt dessen wandte Curtius sich um und versperrte den Zugang zum Steg. Wulfgar sprang auf ihn zu, und sie schwangen ihre Äxte. Wulfgar stieß einen Schmerzensschrei aus, Curtius ein Trimphgeheul, und der Wikinger stürzte zu Boden. Doch noch im Fallen packte er den Römer und hielt ihn fest. 64
Lundiga schrie angstvoll auf und war schon an der Bordwand. Simon packte sie, konnte sie aber nicht festhalten. Es gehörte schon Bos mit seiner Kraft dazu, um sie daran zu hindern, von Bord zu springen. Das Boot trieb schon, und der Abstand zwischen ihm und dem Steg vergrößerte sich. Hilflos sahen sie zu, wie die Schar der Wikinger näherkam und Curtius unter ihnen verschwand. Für einige Augenblicke blieb er unsichtbar, doch dann tauchte er wie durch ein Wunder aus dem Gemenge auf und schwang den Arm mit der Axt. Eine Gestalt taumelte vom Steg und fiel ins Wasser. Aber alle anderen waren rund um den Römer, und einige hatten sich zwischen ihn und den Kai gedrängt. Leise sagte Bos: »Wir können nichts machen.« Er griff nach einem Ruder und stieß es heftig gegen die Flanke des nächstliegenden Bootes. Der Abstand vergrößerte sich. »An die Ruder!« schrie Bos. Während er nach einem Ruder griff, sah Simon, daß zwei Äxte zugleich auf Curtius niederfuhren. Wieder stürzte der Römer zu Boden, und diesmal konnte es kein Aufstehen mehr geben. Zumindest hatte er den Kampf bekommen, den er sich gewünscht hatte, und wohl auch den Tod, der ihm am liebsten gewesen wäre. Es blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken. Simon konzentrierte sich auf das Rudern. Er hatte sich gefragt, ob Lundiga das Gewirr ausnützen würde, um ins Wasser zu springen und an Land zu schwimmen. Man hätte sie auf keine Weise daran hindern können. Aber sie saß nur da und starrte in die Dunkelheit. Die Wikinger ihrerseits vergeudeten keine Zeit. Sekunden später drängten sie in die verbliebenen Langboote und legten ab. Die Sicht auf der silbernen Bucht war ausgezeichnet. Der Mond, auf den sie so lange ungeduldig gewartet hatten, erwies sich jetzt als Feind. -Rudert!« schrie Bos. »Rudert um euer Leben!« 65
Simon bemerkte bald, wie hoffnungslos das war. Sie waren zu dritt gegen Dutzende in den anderen Booten. Das erste davon kam immer näher. In Minuten mußte es neben ihnen liegen, und die Wikinger würden herüberspringen. Er beneidete Curtius um den Blutdurst, der ihn in den letzten Augenblicken seines Lebens beherrscht hatte. Er selbst war ganz eiskalt vor Angst. Die Männer in den verfolgenden Booten schrien vor Kampfbegier. Doch plötzlich änderte sich der Ton ihres Geschreis. Verwirrung schien auszubrechen. Simon hatte das Gefühl, er hätte etwas Ungewöhnliches an dem Boot bemerkt, das ihnen am nächsten war. Lag es jetzt tiefer im Wasser? Und der Abstand verengte sich nicht mehr, sondern er wuchs. Der verfolgende Drachenkopf hob sich heftig in die Höhe, als wollte da ein flügelloses Tier zu fliegen versuchen. Die Stimmen der Wikinger klangen jetzt verzweifelt. Der Drachenkopf richtete sich steil auf, so daß er für einige Augenblicke den Mond verdunkelte. Aber dann verschwand er laut gurgelnd unter dem Wasser. Dahinter schwankte das zweite Boot. Simon fragte: »Wie ist das passiert?« »Ich bin nicht sicher«, antwortete Brad, »aber ich glaube, ich habe da eine Erklärung.« Sie alle hatten zu rudern aufgehört. Simon schaute zu Bos hinüber, dessen Grinsen seine weißen Zähne entblößte. »Dieser kleine Erkundungsgang, den du unbedingt unternehmen wolltest ... Hatte der vielleicht etwas damit zu tun, daß du unten am Kai ein paar Bootsplanken lösen wolltest?« »Man soll nichts dem Zufall überlassen«, sagte Bos. »Das lernt ein Gladiator gleich am Anfang. Sonst lebt er nämlich nicht lange genug, um etwas anderes zu lernen.« Er ließ sein Ruder los, stand auf und streckte eine Hand aus. »Der Wind ist günstig. Wir können das Segel setzen!« 66
Anfangs hatten sie beabsichtigt, den nächstgelegenen Punkt auf dem Festland zu erreichen, doch als sie den Hafen hinter sich hatten und auf offener See waren, kam Bos ein anderer Gedanke. Der Wind wehte aus Nordosten und füllte das Segel des Langbootes. Brad hatte gesagt, diese Küste sei sehr lang. Warum also nicht einen Punkt weiter im Süden ansteuern, der nicht so sehr unter dem Zugriff des Winters zu leiden hatte? Zunächst hatte Brad widersprochen, doch als Simon den Gedanken heftig unterstützte, gab er seinen Widerstand auf. Zwei zu eins war jedenfalls eine eindeutige Mehrheit. Lundiga saß zusammengekauert und stumm da und achtete kaum auf ihre Umgebung. Es war verständlich, daß der doppelte Schock, die Insel zu verlassen, die einzige, die sie in ihrem ganzen Leben gekannt hatte, und zu sehen, wie ihr Vater niedergeschlagen wurde, sie verstummen ließ. Auch den anderen wurde nach der anfänglichen Erregung der Flucht erst recht klar, daß Curtius tot war. Das war ein Verlust, der sie alle betraf, besonders aber Bos. Curtius hatte ihm im Alter nähergestanden, und sie hatten auch eine ähnliche Vergangenheit hinter sich. Obwohl als Barbar geboren, war Bos doch schon in sehr frühem Alter gefangen und nach Süden geschafft worden. Das Geschehen ließ ihm jetzt deutlicher bewußt werden, wie weit er vertraute Orte und Menschen hinter sich gelassen hatte, und er war betrübt und unglücklich. Simon und Brad taten alles, um ihn aufzuheitern, doch sie 'blieben erfolglos. Selbstverständlich glaubte Bos, daß sie auf ihr eigenes Heimatland zusteuerten, während er sich immer weiter von dem seinen entfernte. Zumindest war das Wetter gut. Die Sonne stieg aus einer -obigen See auf. und der Wind blies gleichmäßig. Sie brauchten nicht zu rudern. Alles wäre sehr angenehm gewesen, Simon, hätten sie nicht die beiden so bedrückten Menschen bei sich gehabt. Nachdem sie mit Bos so geringen 67
Erfolg gehabt hatten, wandten sie ihre Aufmerksamkeit Lundiga zu. Anfangs schien sie nicht darauf zu reagieren, und Simon gab auf. Brad aber versuchte, sie mit seinen Erzählungen über das wunderbare Land Kalifornien aufzuheitern, das ihr Ziel sei. Daß sie darauf nicht reagierte, schien ihn nicht zu stören. Simon hatte den Eindruck, daß Brad ebensosehr zu seiner eigenen Aufheiterung sprach wie zu der ihren. Jedenfalls sprach er immer weiter und weiter über die Wunder dieses irdischen Paradieses, und das führte plötzlich zu einem unerwarteten Ergebnis, als Lundiga in Lachen ausbrach. »Du bist noch besser als unsere Wikingermänner«, sagte sie, »mit ihren Geschichten von den beinahe gefangenen Walen. Nur weiter, kleiner Bradus, ich höre dich gern reden.« Als er protestierte, er berichte ganz wahrheitsgemäß, schüttelte sie den Kopf unter der Pelzkappe und sagte lächelnd, es sei schließlich keine Schande, Geschichten zu erzählen. Alle Männer täten das. Die Kappe gehörte zu einer Ausstattung, die ihr Aussehen ganz verändert hatte. Sie hatte ihre Brüste unter dem formlosen Fellmantel verborgen, den sie alle trugen, sie sah jetzt eher wie ein kräftiger Junge als wie ein Mädchen aus. Da um Mittag die Sonne recht warm schien, wollte Simon sie überreden, doch wenigstens den Mantel auszuziehen, doch sie weigerte sich. »Das schickt sich nicht.« Simon hatte genug von diesem Satz, doch er fing auch an, die eisernen Vorurteile der Wikingerfrauen zu begreifen. Die Tatsache, daß sie Brad liebte, hatte sie wohl dazu gebracht, mit ihm zu fliehen, doch bedeutete das noch nicht, daß sie bereit war, Stammessitten aufzugeben. Wahrscheinlich war eher das Gegenteil richtig. Ihre Belustigung über Brads kalifornische Geschichten war ein Teil dieser Auffassung. Sie ergab sich aus einer langen Folge von Frauengenerationen, die sich um ihre faulen und betrunkenen Männer in einer Mischung aus Verachtung und Zuneigung gekümmert hatten. 68
Sie hielten südsüdwestlichen Kurs und vertrauten darauf, daß sie auch annähernd diese Richtung einhielten. Die Sonne stieg und sank an den richtigen Stellen, und in der Nacht stand der Polarstern an Steuerbord ein wenig achteraus. Bos schätzte, daß sie etwa zweihundert Meilen in vierundzwanzig Stunden zurücklegten. Am Morgen des dritten Tages hatte der Wind sich gelegt und war nicht mehr so kalt. Simon sah in der Ferne ein silbernes Blitzen. Es konnte sich um einen fliegenden Fisch handeln. Sie stimmten darin überein, daß sie weit genug nach Süden gekommen waren, und im Laufe des Vormittags änderten sie ihren Kurs westwärts. Land – nach Brads Vermutung mußte es sich um Südkarolina handeln – kam am Spätnachmittag in Sicht. Ein dunkler Rand am sonnenhellen Horizont wurde allmählich breiter. Sie fuhren in eine weitgeschwungene Bucht ein, die sich grenzenlos nach Norden und Süden zu erstrecken schien. Hinter dem Strand war Gebüsch zu sehen, dahinter erhob sich Wald. Bos stand am Ruder und steuerte genau auf die Küste zu. Im flachen Wasser kamen sie zu einem plötzlichen Halt, als der Rand der Sonne eben die Baumwipfel berührte. Sie blieben in der Nacht an Bord und setzten erst am Morgen den Fuß an Land. Sie waren bei Flut gelandet, und ihr Boot lag jetzt weit über der Wassergrenze im Sand. Das war beruhigend. Wenn die erste Erkundung sich als wenig verheißungsvoll erweisen sollte, konnten sie zurückkommen, wieder auslaufen und einen anderen Landeplatz finden. Anfangs kamen sie mühelos voran. Fast ebener Boden war mit zähem Gras und struppigem
Buschwerk
bewachsen.
Einen
ersten
Orientierungsversuch
unternahmen sie nach drei Stunden.. als sie einen Fluß erreichten. Er floß mit einer geringen südlichen Abweichung fast westwärts. Es schien vernünftig, ihm zu folgen. Nach ein paar Meilen wandte er sich jedoch plötzlich nach Süden. Simon war dafür, ihm weiter zu folgen, 69
und Bos, der deutlich lebhafter geworden war, seit sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, stimmte ihm zu. Brad jedoch erklärte, das Wasser sei flach genug, um es zu durchwaten, und er bestand darauf, den Fluß zu durchqueren. Es sei wichtig, daß sie sich nicht von ihrer Westrichtung abbringen ließen. »Warum?« fragte Simon. »Wegen Kalifornien? Was hast du gegen Florida? Das soll doch ein irdisches Paradies sein, nicht wahr? Wachsen nicht auch dort goldene Früchte so große wie Männerköpfe, wie du es Lundiga erzählt hast? Und es ist ein ganzes Stück näher.« Brad sagte: »Wenn man einen Plan hat, darf man nicht davon abweichen. Sonst streunt man schließlich nur noch ziellos herum.« Er sprach fast flehend. Lundiga stimmte ihm sofort zu und klopfte ihm gleichzeitig wie beruhigend auf den Rücken. Sie nannte ihn wieder »kleiner Bradus«, was ihn das Gesicht verziehen ließ. Normalerweise hätte Simon sich darüber amüsiert, aber Brads Dickköpfigkeit regte ihn zu sehr auf. Er sagte: »Sieh mal, wir sind jetzt ungefähr sechs
Meilen
von
der
Küste
entfernt.
Bleiben
uns
noch
zweitausendneunhundertvierundneunzig Meilen. Auf ein paar hundert mehr oder weniger soll's nicht ankommen. Das ganze Unternehmen ist doch ein Wahnsinn!« Unerwartet schlug Bos seine mächtige Hand auf Brads Schulter. »Es ist schon richtig, wenn man das Land liebt, in dem man geboren wurde.« Für einen Augenblick verdüsterte sich sein Gesicht wieder. »Mein Land ist verloren und nicht wieder erreichbar, aber es ist richtig, daß Brad nach seinem Land strebt. Wir werden mit ihm nach Westen gehen.« Simon sagte auf englisch: »Das hat er doch wohl falsch verstanden, oder? Bei den Algonkin waren wir deinem Geburtsland viel näher.« Brad antwortete nicht, und Simon ließ es dabei bewenden. Im
70
Grunde war es gleichgültig, welche Richtung sie einschlugen. Er wäre lieber trockeneblieben aber früher oder später mußten sie bestimmt Flüsse überwinden. Hier gab es ganz gewiß weder Brücken noch Fährleute. Der Fluß war tatsächlich selbst in der Mitte nur hüfttief, doch Simon brachte es fertig, genau die Stelle zu finden, an der er bis zum Hals einsank. Die nassen Felle hingen schwer an ihm, als sie ihren Weg fortsetzen, und das erneuerte Simons Ärger über Brad. Nach einiger Zeit verlor diese Frage jedoch jede Bedeutung, denn der Himmel, der sich von Westen her schnell bewölkt hatte, öffnete seine Schleusen und durchweichte sie alle bis auf die Haut. Für die Nacht richteten sie sich unter einem Immergrün mit weit ausladenden Ästen ein, die einen gewissen Schutz gegen den anhaltenden Regen verhießen. Einen vollkommenen Schutz konnte es freilich nicht bieten, und es tröpfelte unablässig auf sie hernieder, während sie ihren Trockenfisch und hartes Brot aßen. Zumindest aber handelte es sich um Regen, nicht um Schnee, und die Temperatur lag erheblich über dem Gefrierpunkt. Von den Anstrengungen des Tages ermüdet, schliefen sie bald ein. Nach drei Tagen traten sie aus dem Wald und erreichten ein Stück Land, das offenbar kultiviert gewesen war, obgleich es gegenwärtig wieder verwilderte. Das deutete auf ein nahegelegenes Indianerdorf hin, das sie auch bald darauf erreichten. Ihre Lebensmittel wurden knapp, und seit ihrer Landung hatten sie nichts Eßbares mehr gefunden. Wahrscheinlich gab es Fische in den Flüssen, doch sie hatten nichts, um sie zu fangen. Deshalb beschlossen sie, das Wagnis auf sich zu ahmen und abzuwarten, wie der Empfang ausfallen würde. Das Dorf bestand aus einer Ansammlung kleiner Hütten, die sich von den Tipis der Algonkin unterschieden, denn sie waren rechteckig. Sie wurden von Eckpfosten gestützt und waren mit 71
großen Blättern gedeckt. An dem nahe dem Dorf vorbeifließenden Bach spielten Kinder, zwei Mädchen und ein Junge. Sie betrachteten die Ankömmlinge neugierig, doch furchtlos. Erwachsene erschienen vor den Hütten. Die Männer trugen Schürzen aus irgendeinem Stoff, die Frauen Kleider oder doch wenigstens Stoffbahnen mit Löchern für Kopf und Arme. Simon beschäftigte sich mehr mit ihrem Gesichtsausdruck und war erleichtert, daß sie freundlich aussahen. Es erwies sich, daß sie nicht nur freundlich, sondern überaus gastlich waren. Man bot den Fremden zu essen an, ehe sie darum baten: Würzig gefüllte Tortillas und ein süßes Maisgetränk, das in flachen Schalen gereicht wurde. Die Indianer umdrängten die Ankömmlinge schwatzend und interessierten sich besonders für Bos' Bart. Genau wie die Indianer weiter im Norden waren diese Indianer praktisch ohne Gesichtshaar. Auch die kleinen Hunde, die sie umschnüffelten, waren nackt. Für die Nacht brachte man sie in einer Hütte unter, die offensichtlich erst kürzlich gebraucht worden war. Simon nahm an, daß die eigentlichen Bewohner irgendwo anders Unterschlupf gesucht hatten, um Platz für die Gäste zu schaffen. Am Morgen gab man ihnen für die Weiterreise Proviant mit. Spät am nächsten Tag fanden sie ein anderes Dorf, und von diesem Tag an lagen niemals mehr als zwei oder drei Tagesmärsche zwischen den menschlichen Ansiedlungen. Diese Indianer unterschieden sich sehr von den strengen Algonkin. In einem Dorf, das sie von Gewitterregen durchweicht erreichten, brachte man ihnen neue Kleider. Der Stoff war aus Rindenfasern gewebt und war weit bequemer als die Fellkleidung, die sie bisher getragen, und die sie besonders gern aufgaben, da die Temperatur immer weiter anstieg. Lundiga bestand jedoch darauf, ihre Fellkappe und ihre jungenhafte Vermummung zu behalten. Simon fand, daß es ihm dadurch leichter fiel, sich an ihre offenkundige Zuneigung für 72
Brad zu gewöhnen. Sie sah einfach nicht mehr wie ein Mädchen aus. Hinzu kam, daß ihre Zuneigung einen beschützenden, fast beherrschenden Zug annahm, der erheiternd zu beobachten war und der Brad immer mehr reizte. Endlich, als sie ihn einmal zu oft »kleiner Bradus« genannt hatte, kochte sein Ärger über, und er wies sie hart zurecht. Einen Augenblick sah sie gekränkt aus, und Simon, der eine Art väterliche Zuneigung zu ihr entwickelt hatte, wies Brad wegen seiner Unfreundlichkeit zurecht und erinnerte ihn daran, was sie alle ihr zu verdanken hätten. »Und sie ist ein hübsches Mädchen, Bradus. Du kannst froh sein, daß ein so hübsches Mädchen sich in dich verliebt hat.« Brad sah mürrisch vor sich hin, und Simon hielt es für geraten, seine Belustigung zu verbergen. Lundiga erholte sich schnell und fuhr unbeirrt in ihren Aufmerksamkeiten fort. Simon war klar, daß er hier nicht mehr zählte. Sie hatten keinen Grund, sonderlich auf die Zeit zu achten. Simon hatte keine Vorstellung wie lang sie jetzt schon unterwegs sein mochten. Wochenlang, sicherlich. Sie hatten sich daran gewöhnt: ein Dorf glich dem anderen, jeder Tag glich dem nächsten. Dann, eines regnerischen Morgens, überquerten sie einen kahlen Hügel und sahen offenes Land vor sich liegen. Zumeist bestand es aus nacktem Gestein. Aber etwas anderes fing den Blick ein und erfüllte alle mit Erregung. Ungefähr eine Meile Draus wurde die Landschaft durch ein schmales Band durchschnitten, das sehr geradlinig von Osten nach Westen verlief. Simon starrte verblüfft hinunter. Was er dort vor sich sah, konnte nicht natürlich entstanden sein. Es war ganz offensichtlich eine Straße.
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V Sie rannten die letzten hundert Meter. Die Straße war ungefähr fünf Meter breit.
Auf
einer
Grundlage
aus
großen
behauenen
Steinen
lag
eine
festgestampfte Schicht aus zerkleinertem Gestein. »Römer haben das nicht gemacht«, sagte Bos. »Dafür ist die Arbeit nicht gut genug.« Enttäuschung lag in seiner Stimme. So unmöglich die Vorstellung auch war, in diesem fremden Land auf eine römische Straße zu stoßen, hatte der Anblick einer von Menschen geschaffenen Landstraße nach der langen Zeit in den pfadlosen Wäldern doch etwas wie einen Schimmer von daheim bedeutet. Brad sagte: »Nein, römisch gewiß nicht. Von den Inkas muß sie stammen. Sie waren das einzige Volk in Amerika, das ein Straßensystem angelegt hat.« »Waren die Inkas denn nicht in Südamerika?« fragte Simon. »Ja, hauptsächlich in der Gegend von Peru, und im Norden siedelten sie bis nach Ekuador. Aber das war die Gegend, in der sie im frühen 16. Jahrhundert von den Spaniern überwältigt
wurden.
In
vierhundert
Jahren
kann
viel
geschehen.
Die
Verhältnisse sind vielleicht in Europa fast unverändert geblieben, aber es sieht ganz so aus, als hätten sie sich hier weiterentwickelt. Nur eines scheint mir verwunderlich.« »Was?« »Die Spanier haben zwei amerikanische Kulturen zerstört, nicht nur eine. Einige Zeit bevor Pizarro die Inkas bezwang, hat Cortez die Azteken besiegt. Und die Azteken waren in Mexiko, das schon sehr viel näher liegt. Diese beiden Reiche 74
sind aber nie miteinander in Verbindung getreten.« »Jedenfalls nicht in unserer Welt«, sagte Simon. »Aber hier müssen sie es doch getan haben. Ich nehme an, sie haben einen Krieg geführt, den die Inkas gewannen.« Er sah, daß Brad zu weiteren Überlegungen zu diesem Thema bereit war, die er jedoch für überflüssig hielt. Er sagte darum schnell: »Jedenfalls stehen wir hier auf einer Straße. Wenn sie auch nicht gerade römischen Ansprüchen genügt, ist sie doch auch nicht ganz schlecht. Es ist also auch möglich, daß gleich eine Reisekutsche mit vier freien Plätzen auf uns zugerollt kommt.« »Wenig Aussichten.« »Gut, vielleicht nicht mit freien Plätzen. Vielleicht auch nicht gerade eine Reisekutsche. Ein ganz gewöhnlicher Pferdewagen täte es ja auch.« »Nicht einmal das. Pferde hat es in Amerika nicht gegeben, ehe die Spanier sie eingeführt haben, und das war erst nach Columbus. Und Räder gab es auch nicht. Die Menschen hier hatten zwar Spielzeug mit Rädern, aber aus irgendeinem Grunde ist es ihnen nie in den Sinn gekommen, Räder auch für den Transport zu benutzen.« »Aber wofür hatten sie dann Straßen? Nur für Fußgänger?« »Sicher. Die Römer haben ihre Straßen hauptsächlich für Fußgänger gebaut – für die römische Infanterie. Gute Straßen bedeuten, daß man Truppen schnell verschieben kann.« Gut, dann können wir wenigstens diesen Vorteil ausnützen« sagte Simon. »Außerdem führt die Straße auch noch nach Westen. Kalifornien, wir kommen!« Sie brachen wieder auf und kamen nun viel schneller voran. Der Regen am Morgen war Sonnenschein gewichen, und ein leichter Wind trocknete die Kleider an ihren Leibern. Sie waren in besserer Stimmung. Bos sang Gladiatorenlieder, und Simon fiel ein. Lundiga, die wie gewöhnlich unmittelbar hinter 75
Brad ging, bemerkte zuerst etwas Außergewöhnliches. Sie sagte: »Horcht!« Sobald er seinen Gesang abbrach, hörte es auch Simon: Ein schwaches, rhythmisches Trommeln hinter ihnen. Er schaute sich um und sah winzige dunkle Punkte, etwa eine dreiviertel Meile hinter ihnen auf der Straße. Obgleich aus dieser Entfernung Einzelheiten nicht zu erkennen waren, sah er, daß es sich um drei Gestalten handelte, und sie waren beritten. Zu Brad sagte er: »Es gibt also keine Pferde in diesem Kontinent?« beobachtete die Gestalten und runzelte die Stirn. Endlich sagte er: »Es sind keine Pferde.« »Rede doch keinen Unsinn! Was könnte es denn sonst ... « Er brach ab. Die Tiere, die er sah, gingen in einer seltsam wiegenden Bewegung, und sie hatten kleine Köpfe auf langen, hochgereckten Hälsen. »Man weiß ja, daß sie als Packtiere verwendet wurden«, sagte Brad, »also gibt es keinen Grund, warum man nicht auch auf den Gedanken gekommen sein soll, ihnen einen Sattel aufzulegen. Es sind Lamas.« Sie warteten am Straßenrand, während die Reiter näherkamen. Sie waren viel besser und farbenfroher gekleidet als die Dorfindianer, an die sich die Reisenden gewöhnt hatten. Der Mann an der Spitze trug besonders prächtige Kleider. Er war in einen knöchellangen scharlachroten Mantel mit grünen Mustern gehüllt, während die anderen beiden dunkleres Rot mit schwarzen Streifen trugen. Sie trugen auch Helme, während der Mann an der Spitze ein rahmenähnliches Gestell am Hinterkopf trug, das reichlich mit Federn besteckt war. Die Gesichter aller drei Männer waren düster und unfreundlich. Als sie in gleicher Höhe waren, rief Bos einen Gruß. Da dieser Gruß lateinisch gesprochen wurde, konnten sie kaum hoffen, verstanden zu werden, doch die Berittenen wandten noch 76
nicht einmal die Köpfe nach ihnen. Die Männer mit den Helmen trugen Gürtel über den Mänteln. Gefährlich aussehende Dolche steckten darin. Wahrscheinlich waren sie die Leibwächter des dritten. Simon war froh, daß Bos nicht weiter darauf bestand, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie sahen recht unangenehm aus. Während sie weiterritten, spuckte Bos auf den Boden. »Wirklich eine freundliche Bande!« »Sie werden wohl zur Oberschicht gehören«, erklärte Brad. »Sie halten Bauern offenbar gar nicht für bemerkenswert.« Simon fragte: »In welcher Richtung liegt wohl der nächste Ort? Meinst du, daß sie gerade zu einer Reise aufgebrochen sind, oder kehren sie gerade von ihr zurück?« »Sie könnten auch auf halbem Wege sein«, antwortete Brad. »Aber sie reiten in die richtige Richtung, also können wir ihnen auch folgen.« Anfangs sah es wie ein ferner Berg aus, später ließ das Ebenmaß erkennen, daß es sich um einen Turm handelte. Auch andere Gebäude wurden bald darauf zu seinen Füßen sichtbar: Eine Stadt lag vor ihnen. Während sie weitergingen, sahen sie beiderseits der Straße bebaute Felder, und es gab jetzt auch mehr Verkehr – sowohl Lamareiter als auch Fußgänger. Die letzteren waren einfacher gekleidet, nicht viel anders als die Dorfindianer. Lange flache Gebäude lagen zwischen den Feldern und Pflanzungen. Die Bauernhütten zwischen den Feldern neben der Straße wurden immer zahlreicher, bis die Landstraße sich schliesslich in eine Dorfstraße verwandelte. Sie kamen an einem Platz vorüber, worauf Stände aufgeschlagen waren, an denen mancherlei zum Kauf angeboten wurde. Bald darauf wichen die ärmlichen Hütten größeren steinernen Häusern. Simon beobachtete, daß diese – genau wie die Hütten – keine 77
eigentlichen Türen hatten, doch die Öffnungen in den Wänden waren hier mit Perlenschnüren und nicht einfach mit Blattwerk verhängt. Die Straße, auf der sie gingen, wurde von anderen gekreuzt, und sie überquerten Plätze, an denen sich vier Straßen begegneten. Endlich erreichten sie einen weiten Platz, der von hohen Bauten umstellt war. Sie waren sehr eindrucksvoll und wirkten doch bedeutungslos, wenn man sie mit dem verglich, was in der Mitte des Platzes stand: der Turm, den sie schon aus der Ferne gesehen hatten. Sie blieben staunend stehen, und Lundiga stieß einen kleinen Überraschungsruf aus. Bos, der die Tempel und Paläste Roms und Londons gesehen hatte, schwieg erstaunt. Selbst Brad und Simon, die sich an London und New York erinnerten, waren von diesem Anblick beeindruckt. Auf einer viereckigen Basis waren Steinblöcke pyramidenförmig aufgehäuft. Sie erhoben sich mindestens fünfzig Meter über den Boden. Jeder Block war einen oder anderthalb Meter hoch, so daß es schwierig, wenn nicht unmöglich war, diesen Turm zu besteigen; doch an der einen Seite gewährte eine Rampe den Aufgang zur Spitze. Steinerne Stufen waren in die Blöcke geschlagen. Ein Mann in einem weißen und purpurfarbenen Kleid stieg eben hinauf. Die Spitze des Kegels bildete ein Pavillon mit bunten Wänden, die in deutlichem Gegensatz zu dem weißen Putz der Pyramide standen. »Ein Tempel?« fragte Bos. »Ja.« Brad betrachtete ihn. »Welche Götter verehren sie hier wohl?« fragte Bos. Soweit Simon sich erinnerte, hatten die Inkas sehr viel von Menschenopfern gehalten. Darum sagte er: »Keine besonders netten.« Brad erklärte: »Ich habe mich geirrt.« »Das sieht dir gar nicht ähnlich«, spottete Simon. »Und wo liegt der Irrtum?« 78
»Bos hat nach den Göttern gefragt, die hier verehrt werden. Die Inkas haben ihren Sonnengott auf alle ihre Eroberungszüge mitgenommen. Sie ließen ihren Untertanen eine gewisse Freiheit, aber nicht in religiösen Dingen. Was wir hier sehen, ist aber kein Tempel des Sonnengottes. Siehst du die Schnitzereien an beiden Seiten der Rampe? Die dort rechts stellt den Kriegsgott dar, die andere eine gefiederte Schlange, also Tlaloc, den Regengott.« »Die beiden Reiche sind sich hier also wirklich begegnet und haben miteinander gekämpft. Ich dachte, die Inkas müßten Sieger geblieben sein, als ich das Straßensystem gesehen habe. Aber es ist durchaus nicht ungewöhnlich, daß man technisches Wissen von den unterworfenen Völkern übernimmt. Die Religion aber übernimmt man nicht, sondern man zwingt die eigene dem Unterlegenen auf. Dieser Tempel ist den aztekischen Göttern geweiht. Das bedeutet, daß hier die Azteken Sieger geblieben sind. Dies ist eine Aztekenstadt.« »Die kannten doch auch Menschenopfer, nicht wahr?« Brad nickte: »Sogar noch mehr als die Inkas.« Simon schaute zur Pyramide hinauf. Sie war schön und bewunderswert und zugleich schrecklich. »Ziehen wir lieber weiter«, sagte er. Niemand widersprach. In deutlichem Gegensatz zu den Erfahrungen, die sie in den Indianerdörfern gemacht hatten, bot ihnen in der Stadt, die, wie sie erfuhren, Palzibil hieß, niemand Hilfe oder Gastfreundschaft. Die Bevölkerung bestand aus drei Schichten: den Reichen, den Armen und den Sklaven der Reichen. Die Kluft zwischen Reich und Arm war sehr tief. Die Stadt wuchs noch, oder zumindest dehnte sich das innere Gebiet mit seinen Steinhäusern immer weiter dorthin aus, wo jetzt noch ärmliche Hütten standen. Arbeit als Bauhelfer war leicht zu finden. Sie wurden mit Kakaobohnen bezahlt, 79
die in kleine Beutel gebunden waren, die jeweils verschiedene Mengen enthielten. Das war die allgemein übliche Währung, wenn auch auf höherer Ebene kleinere Silberbrocken und Enten- oder Truthahnfedern gebräuchlich waren, deren Kiele mit Goldstaub gefüllt waren. Der tägliche Lohn reichte aus, um sich zu ernähren, aber dann blieb auch nicht mehr viel übrig. Sie waren nicht die einzigen Fremden in der Stadt. Es gab eine beträchtliche Zahl von Indianern, die ihre Dörfer aus dem einen oder anderen Grunde verlassen und den Weg hierher gefunden hatten. Die Indianer schliefen meistens unter freiem Himmel, und Simon und die anderen waren gezwungen, es ihnen nachzutun. Vor vielen größeren Häusern gab es Säulengänge. Konnte man es einrichten, darunter zu schlafen, so war man zumindest vor Regen geschützt. Dann mußte man jedoch sehr früh wieder auf den Beinen sein, damit man nicht von den Dienern des Hausbesitzers in die Gosse gestoßen wurde. Nach einer Woche schlug Brad vor, sie sollten weiterziehen. »Das hier ist doch eine Sackgasse. Wir verdienen nicht einmal genug Geld, um neue Kleider zu kaufen, wenn diese hier verschlissen sind, und du kannst dein Leben darauf verwetten, daß uns hier niemand etwas schenken wird.« »Das ist eben Frühzeit«, sagte, Simon. »Was macht das für einen Unterschied, ob Früh-, Mittel- oder Spätzeit? Wir werden immer unser Brot verdienen müssen. Es herrscht hier eine sehr strenge Ordnung. Die Reichen sind sehr reich, die Armen sehr arm, und sie tauschen ihre Plätze nicht. In der aztekischen Gesellschaft gibt es keine Erfolgsleiter.« »Aber manches ist gar nicht so schlecht«, wandte Bos ein. »Sie haben keinen Wein, aber der Likör, den sie auf dem Markt verkaufen, ist sehr billig.« Erinnerungsvoll nickte er. »Und feurig. «
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»Ich glaube trotzdem, wir sollten weiterziehen«, sagte Brad. Es war in der Mittagspause und sie saßen im hellen Sonnenschein, die Rücken gegen die Mauer gelehnt, die sie aufgerichtet hatten. Lundiga, die neben Brad saß, sagte: »Niemand stört uns. Wir haben genug zu essen. Wir wissen nicht, wie es anderwärts sein wird.« »Ich habe es dir ja gesagt: viel besser als hier.« »Hier ist es wärmer als auf unserer Insel«, erklärte Lundiga. »Und der Sommer kommt erst noch. Wir haben es nicht eilig.« Sie streichelte ihm die Wange, daß er unwillig den Kopf zurückzog. »Mach dir keine Sorgen, kleiner Bradus. Wir gehen mit dir in dein wunderbares Land Kalifornien.« »Aber doch nicht gleich«, widersprach Simon. »Es steht wieder drei zu eins, mein Freund, aber diesmal gegen dich.« In der Tat war das Leben insgesamt gar nicht so unangenehm. Selbst für die Armen nicht. Sie arbeiteten nicht zu schwer, sie hatten ein vernünftiges Maß an freier Zeit, und es gab vielerlei zu sehen. Von den häufigen religiösen Prozessionen hielten sie sich fern, doch es gab auch andere Unterhaltungen. Einige der Gebäude waren Theater mit Reihen von Holzbänken, die sich dreistöckig über die Bühne erhoben. Eintrittsgeld mußte man nicht zahlen, aber die arbeitende Klasse war auf die übervollen oberen Ränge verwiesen. Die unteren Reihen, deren Bänke breiter und mit Kissen gepolstert waren, blieben den Wohlhabenden vorbehalten, die zwar auch nicht für
ihren
Eintritt
zahlten,
aber
allerlei
Dinge
wie
Stoffe,
Federn,
Muschelschalen, Beutel mit Kakaobohnen, gelegentlich auch Silber. auf die Bühne warfen, wenn die Vorstellung vorüber war. Außerdem gab es auch Ballspiele, die in einem großen Bauwerk ausgetragen wurden das vier rechteckige Spielfelder schielt. Ein steinernes Rund ragte aus einer Wand jedes Allfeldes hervor, ungefähr fünf Meter über dem Boden. Der 81
Ring maß etwa einen Meter im äußeren und einen halben Meter im inneren Durchmesser. Das Spiel wurde von zwei Mannschaften mit je vier Spielern bestritten, die kurze Röcke und darunter dick gepolsterte Unterkleidung trugen. Aus gutem Grund; denn das Spiel verlief schnell und heftig und rief manche Verletzung hervor. Die Spieler hielten kurze Stöcke in den Händen, an deren Ende eine Art Tasche befestigt war, mit der sie einen kleinen harten Gummiball auffingen und fortschleuderten. Ziel war es, den Ball durch den Ring zu befördern, aber das war gar nicht so leicht. Ehe das gelang, sprang der Ball mörderisch schnell von einer Wand des Spielfeldes zur anderen und traf dabei nicht eben selten die Spieler. Die Spielzeit war in drei Drittel aufgeteilt, zwischen denen es jeweils kurze Pausen gab. Die Sieger wurden wie die Schauspieler im Theater von den Zuschauern auf den unteren Bänken belohnt. Die Azteken waren fanatische Anhänger dieses Sports. Abgesehen von den offiziellen Wettbewerben, spielte man überall auf den Straßen. An vielen Plätzen waren behelfsmäßige Spielfelder aufgebaut, und wo immer zwei Mauern in einem günstigen Winkel zueinander standen, dort gab es sehr wahrscheinlich auch Kinder, die den Ball dagegenschleuderten. Bos interessierte sich zuerst dafür, und es gelang ihm, auch das Interesse der anderen zu wecken. Einen Spielstock konnte man auf dem Markt für den kleinsten Kakaobohnenbeutel kaufen, und, das mußte auch Brad zugeben, das Spiel war ein guter Zeitvertreib. Sie hatten angefangen, etwas von der Sprache der Azteken zu verstehen. Wie gewöhnlich, war Brad darin am schnellsten. Die schlichteren Azteken waren recht umgänglich, und außerdem gab es einige Indianer, die Algonkin sprachen und als Übersetzer dienen konnten. 82
Eines Tages ruhten sie sich nach einem Spiel aus und kauten Tortillas, die sie einem Straßenverkäufer abgekauft hatten, als Brad sagte: »Ich finde es gar nicht so schlecht hier.« »Das haben wir dir ja schon immer gesagt«, erwiderte Simon. »Ich will sagen: Gar nicht so schlecht. Aber es könnte viel besser sein, wenn es uns nur finanziell besser ginge.« »Dann träum' du nur weiter. Du hast es ja selbst gesagt: In der aztekischen Gesellschaft gibt es keine Erfolgsleiter.« »Dabei habe ich von den Leuten gesprochen, die Tagelöhner sind. »Und?« »Keine Leiter, das stimmt. Aber wie wär's denn mit einem Sprungbrett? Tänzer und Musiker sammeln keine kleinen Kakaobohnenbeutel ein. Ihnen wird etwas Wertvolleres zugeworfen. Der Jongleur, den wir gestern gesehen haben, hält sich sechs Sklaven, die ihn in einer Sänfte zum Theater tragen müssen.« .Was schlägst du vor? Sollen wir eine Pop-Gruppe gründen?« Das fragte Simon auf englisch. Bos und Lundiga waren daran gewöhnt, daß die beiden hin und wieder in die fremde Sprache verfielen, die vermutlich die Sprache ihres Heimatlandes im Westen war. Brad schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß die Azteken zeit genug für den Rock'n Roll sind. Schade. Vier, das wäre eine gute Anzahl für eine Gruppe. Aber es sind auch gerade genug für eine Mannschaft im Ballspiel.« »Das ist erst recht lächerlich. Ballspieler will jeder Azteke in der Stadt werden, wenn er gerade erst drei Jahre alt ist. Da kommen wir nie in die erste Division.« Erste Division? Du bist beim falschen Spiel. Aber die Denkrichtung ist gar nicht so falsch. Ist dir aufgefallen, daß manche Meine Kinder mit den Händen spielen, anstatt Stöcke zu benutzen? Das ursprüngliche Spiel muß eine Art Handball 83
gewesen sein, und auf unserer Seite der Feuerkugel wissen wir auch nichts darüber, daß es jemals anders gespielt worden wäre. Aber hier hat es sich verändert. Wahrscheinlich, weil man bei der Ausbreitung nach Norden auf Indianer gestoßen ist, die das Stockspiel kannten. Daher muß wohl der Einfall stammen, auch für dieses Ballspiel Stöcke zu benutzen.« »Und weiter?« »Du hast auch die Technik des Spiels gesehen. Man muß den Ball mit dem Beutel auffangen, ihn halten und ihn dann durch den Ring schleudern. Dazu gehört eine ziemliche Geschicklichkeit. »Einverstanden«, sagte Simon. »Jedenfalls viel mehr als wir vermutlich jemals entwickeln werden.« »Aber wenn man nun anstatt der Stöcke etwas verwenden würde, was eher einem Tennisschläger ähnlich sähe? Dann hätte man eine größere Schlagfläche und könnte außerdem die Richtung besser kontrollieren.« »Ich verstehe nicht recht?« »Wenn wir die Stöcke verändern, wenn wir die Lederstreifen so spannen, daß sie eine flache, federnde Oberfläche ergeben, nicht nur eine beutelartige Schlaufe ... « »Dann dürfen wir die niemals beim Spiel verwenden!« »Warum denn nicht? Irgend jemand hatte vor ein paar hundert Jahren die glänzende Idee, vom Handball abzuweichen, und den hat man auch nicht disqualifiziert. Das Spiel wurde dadurch schneller, und ich glaube, die Azteken wußten das zu schätzen. Aber man kann es sogar noch schneller machen.« Simon schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß wir damit durchkommen.« »Ich habe mit Starke Feder gesprochen.« Starke Feder war ein algonkinsprechender Indianer, der schon seit einigen Jahren in der Stadt wohnte und wertvolle Informationen über deren Sitten und Gebräuche liefern konnte. 84
Brad fuhr fort: »In sechs Wochen fangen die großen Spiele an. Natürlich sind sie mit irgendeinem religiösen Fest verbunden. Eine Woche vorher gibt es eine Art Qualifikationsrunde, in der neue Mannschaften sich um die Teilnahme an den Hauptspielen bewerben können. Dabei könnten wir doch unsere neue Technik ausprobieren.« »Man wird es uns nicht erlauben.« »Was haben wir denn zu verlieren?« Die Frage ließ sich nicht beantworten, und außerdem konnte man vielleicht seinen Spaß dabei haben. Neben Simon schlief Bos. Simon stieß ihn mit den Zehen an. »Wach auf, Bos!« »Ich bin müde. Müde davon, dauernd eure häßliche Sprache zu hören.« »Jetzt kannst du wieder schönstes Latein hören. Bradus hatte eine Idee.« Die Veränderung der Spielstöcke erwies sich nicht als so leicht, wie Brad vorausgesehen hatte. Er kam schließlich mit einem Schläger an, der ungefähr dreieckig war und eine verhältnismäßig kleine Spielfläche hatte. Da er außerdem nicht über einen Rahmen verfügte, war nicht genug Spannung und Federung zu erreichen. Das Holz ließ sich auch nicht so leicht bearbeiten wie die kleinen Stämmchen, aus dem sie Schneeschuhe hergestellt hatten. Er mußte seinen Versuch aufgeben. Es war eine recht armselige Sache. Er und Simon versuchten, den Ball damit zu schlagen, aber die Ergebnisse waren nicht ermutigend. Einen genau gezielten Schlag konnte man damit nicht besser anbringen als mit den ursprünglichen Spielstöcke. »Es ist die falsche Form«, sagte Simon, »und obendrein zu klein. Das ist so, als wollte man Tennis mit einem Tischtennisschläger spielen.« Brad betrachtete niedergeschlagen das Ergebnis seiner Mühe. 85
»Also gut, wieder einmal eine Idee für den Abfallhaufen.« Bos, der an einem
Stück Holz herumgeschnitzt hatte, kam herüber. Er fragte, was sie denn getan hätten, und als Simon ihm das Problem erklärte, sagte er kritisch: »Ihr braucht einen Stock, der mehr gebogen ist.« »Sicher«, stimmte Simon spöttisch zu. »Einen Zweig, der zu einem richtigen Kreis gewachsen ist. Davon muß es ja Tausende geben.« Die Spielstöcke entstanden aus Zweigen von Pecano-Bäumen, die in Pflanzungen am Rande der Stadt wuchsen. Die Zweige mit den günstigsten natürlichen Biegungen wurden sorgsam ausgesucht. Bos nahm einen dieser Stöcke zur Hand und prüfte ihn genau. »Den können wir doch biegen.« Brad sagte: »Du kannst das vielleicht. Aber wie sorgen wir dafür, daß er auch gebogen bleibt?« »Genau wie die Böttcher ihre Faßdauben biegen. Mit Dampf.« Brad starrte ihn an. »Ich bin ein Idiot, und du bist ein Genie, Bos. Du hast recht.« Sobald sein Interesse erst einmal geweckt war, nahm Bos die Sache in die Hand. Es gab einen öffentlichen Waschplatz, zu dem die Leute ihre Wäsche bringen und sie gegen die Zahlung eines kleinen Beutels Kakaobohnen in großen Zubern mit kochendem Wasser waschen konnten. Bos hielt die Spielstöcke in den Dampf über den Bottichen, und seine mächtigen Muskeln taten dann das Übrige. Es war ein langwieriger und anstrengender Vorgang, aber er funktionierte. Das Resultat war nicht eben elegant anzusehen, aber es kam doch ein Stock dabei heraus, dessen Ende so gebogen war, daß er einen ovalen Raum umschloß, der ungefähr vierzig Zentimeter lang und etwa halb so breit war. In Abständen von anderthalb Zentimetern durchbohrten sie die Seiten und
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spannten dünne Lederriemen horizontal, die sie dann mit anderen Streifen kreuzten, so daß ein Gitterwerk entstand. Den vollendeten Schläger reichte Bos dann an Simon weiter, der ihn prüfend schwang. »Für Wimbledon reicht das ja nicht aus, aber ein erheblicher Fortschritt ist das schon. Wirf mir einen Ball zu, Brad!« Brad warf einen Ball, und Simon schlug heftig zu, um ihn gegen die Steinwand des Waschhauses zu schleudern. Er traf den Ball zu tief, so daß er hoch über die Mauer hinwegflog. »Finde den Ball wieder«, sagte Brad, »oder kauf einen neuen. Aber ich glaube, wir können jetzt schon sagen, daß wir im Geschäft sind.« Sie fanden einen guten Platz zum Üben. Einige der großen Häuser standen zur Zeit leer, weil die Besitzer ihre Landhäuser aufgesucht hatten. Zwar wurde durch regelmäßige Streifengänge darauf geachtet, daß niemand in die leerstehenden Häuser einzog, doch diese Kontrollen fanden immer zu gleichen Zeiten statt, und es war leicht, einen Zeitplan für die Übungen aufzustellen. Waren die Streifen erst vorüber, konnte man ruhig in das Haus hineingehen. Sie wählten einen Raum aus, der ungefähr die Maße eines Spielfeldes hatte, und hingen dort einen hölzernen Ring auf. Dann fingen sie an zu spielen. Es machte Spaß, aber es war auch erschöpfend. Endlich meinte Simon, für den ersten Tag hätten sie genug getan. Brad widersprach ihm. »Fünf Wochen sind keine lange Zeit, wenn man vom Amateur zum Profi werden will. Ich meine, mir sollten weiterspielen.« Bos stimmte zu, Lundiga sogar noch lebhafter. Diesmal tat sie nicht nur, weil sie gewohnheitsmäßig allem zustimmte, was Bradus vorschlug. Sie war wirklich von dem Spiel begeistert. Dabei hatte sie ein erstaunlich gutes Auge und einen beacht87
lich starken Arm. Einer ihrer Schläge schlug Simon beinahe nieder, als er nicht rechtzeitig aus dem Wege kam. Sie bot einen etwas komischen Anblick, wenn sie den Schläger schwang und dabei die Pelzkappe fest auf dem Kopf trug. Brad schlug abermals vor, sie doch lieber abzunehmen, denn außer ihnen könne sie ja niemand sehen. Ihr Kinn schob sich entschlossen vor. »Es schickt sich nicht.« Sie übten täglich bis das Licht, das durch die hohen Fenster fiel, nicht mehr ausreichte. Anfangs schmerzten ihre Muskeln entsetzlich, doch dann gewöhnten sie sich daran. Ihr Spiel besserte sich zusehends. War es anfangs schon eine Leistung gewesen, den Ball mehrmals an einem Abend durch den Ring zu bekommen, so erzielten sie ihre Treffer jetzt sehr regelmäßig. Drei Wochen nach dem Beginn ihrer Übungen gab es ein Ballspiel, dem sie als Zuschauer beiwohnten. Bos sagte: »Wir sind nicht gut genug.« »Nein«, stimmte Brad zu. »Ich denke, die anderen sind dreimal so gut wie wir. Aber vor ein paar Wochen wären sie dreißigmal so gut gewesen. Wir brauchen nur mehr Training.« Allmählich kamen immer mehr Menschen von außerhalb in die Stadt. Das war etwa eine Woche vor Beginn der Auswahlspiele. Von der gegenüberliegenden Straßenseite sahen Simon und die anderen, daß Diener vor dem Haus, in dem sie bisher geübt hatten, bepackte Lamas entluden. Sie bereiteten wohl das Haus auf die Rückkehr seines Besitzers vor. »Wollen wir ein anderes Haus suchen?« fragte Bos. »Einige stehen noch leer.« Simon schüttelte den Kopf. »Das lohnt nicht.« Brad stimmte ihm widerwillig zu. »Nein, die Häuser werden sich jetzt alle wieder füllen.« Lundiga sagte: »Es gibt da eine Ruine, an der die Kinder spielen. Dorthin könnten wir gehen.« 88
»Sobald wir das tun«, wandte Simon ein, weiß gleich jeder, daß wir neue Schläger benutzen.« »Kommt es darauf noch an?« fragte Brad und dachte darüber nach. »Ich glaube, du hast recht. Die Überraschung ist wahrscheinlich mehr wert als jedes Training.« In dieser Nacht erwachte Simon aus einem erschöpften Schlaf und sah Brads Gestalt sich von hellem Mondlicht abheben. Der erste bewußte Augenblick hatte die seltsame Wirkung, alles aus seinem Gedächtnis auszulöschen, was sich seit jenem Augenblick der Begegnung mit der Feuerkugel ereignet hatte. Er glaubte sich daheim in Surret' und verstand nicht, warum sein amerikanischer Vetter neben ihm hockte und warum sie nicht in ihren Betten lagen. Doch die Erinnerung stellte sich schnell wieder ein und weckte einen wahren Hunger nach allem, was sie verloren hatten: Nach einem weichen Bett, nach dem Kofferradio, nach der Stimme der Großmutter, die zum Frühstück mit Schinken und Eiern rief ... Mürrisch fragte er: »Was ist?« »Eine klare Nacht«, sagte Brad. »Die haben wir ganz für uns. Wir könnten noch trainieren.« 89
VI Der Tag begann mit einer Prozession, die sich durch die Straßen der Stadt zum Tempel hinzog. Der Zug war wohl eine halbe Meile lang. Lundiga schlug vor, sie sollten zum Tempel gehen und zusehen, aber Bos war dagegen. »Mit dem heidnischen Kram will ich nichts zu tun haben.« »Nicht nur, weil es heidnisch ist«, pflichtete Brad ihm bei. »Starke Feder hat mir erzählt, was sich da abspielt. Die Priester steigen zum Pavillon oben an der Spitze hinauf und nehmen ein junges Mädchen mit. Sie sprechen ihre Gebete zu den beiden Göttern. Dann packen vier Diener das Mädchen bei Armen und Beinen, während der Oberpriester ihre Brust aufschneidet, mit der Hand hineinfährt und ihr das Herz aus dem Leibe reißt. Es scheint, daß es noch schlagen muß, wenn es den Göttern geopfert wird. Dann rollen sie den Leichnam an der Seite der Pyramide hinunter, dann wird er gehäutet, und ein anderer Priester vollführt einen Tanz um die Haut. Ich glaube, das möchten wir lieber nicht sehen.« Obgleich Lundiga nicht widersprach, war Simon nicht so sicher, ob sie wirklich einverstanden war. Er dachte an die Wikingerzeremonie des blutigen Adlers und fragte sich, ob sie nicht eine begeisterte und neugierige Zuschauerin beim Winterfest gewesen wäre, wenn sie sich nicht zufällig in Bradus verliebt hätte. Er hatte sich jetzt ganz und gar daran gewöhnt, sie nur als eine Gefährtin zu betrachten, und insgesamt war sie sicher keine schlechte Kameradin. Aber er spürte doch, daß sie unter dem äußeren Anschein einiges von einer Barbarin an sich hatte. »Wir können hinüber zu den Ballspielplätzen gehen, während 90
die Azteken hier ihr grausiges Vergnügen haben, schlug Brad vor. »Nach der Zeremonie gibt es sicher ein wildes Gedränge um die besten Plätze. Der Wettbewerb ist auf zweiunddreißig Mannschaften beschränkt, und mindestens doppelt so viele wollen teilnehmen.« Sie mußten in der engen Straße in der Nähe des Spielplatzes lange warten, ehe die vielen Menschen vom Tempel herbeigeströmt kamen. Man schrie und schwang die Stöcke, und Simon fragte sich, ob man sie wohl dafür angreifen würde, daß sie sich den besten Platz gleich neben der Tür gesichert hatten. Die ersten vier hielten aber triumphierend gleich neben ihnen an, und die übrigen ordneten sich widerspruchslos dahinter ein. Wirklicher Konflikt entstand nur ein gutes Stück die Straße abwärts, wo man sich nicht einigen konnte, ob man die zweiunddreißigste oder die dreiunddreißigste Mannschaft war. Es gab ein heftiges Handgemenge, Schläge wurden ausgetauscht, und endlich gab eine der Mannschaften nach, weil einer ihrer Spieler bewußtlos davongetragen werden mußte. Dann folgte ein erstaunlich geduldiges Warten. Geduldig, aber nicht still. Man schwatzte und sang, Tortillaverkäufer machten gute Geschäfte, weil die Spieler sich für die bevorstehende Anstrengung noch einmal stärken wollten. Die Regeln für den Wettbewerb waren einfach. Die beiden Mannschaften, die als erste in der Reihe standen, spielten gegeneinander, dann die dritte und die vierte, und so weiter, bis aus sechzehn Spielen sechzehn Sieger hervorgegangen waren. Das wurde zweimal wiederholt, so daß vier Mannschaften von den zweiunddreißig übrig blieben. Dann wurde das K.O.-System durch ein anderes ersetzt, bei dem jede der vier Mannschaften gegen die anderen drei zu spielen hatte. Ein Punkt wurde für jeden Sieg zuerkannt, und he Mannschaft mit den meisten Punkten bekam die Gürtel, die bewiesen, daß man an den Hauptspielen teilnehmen durfte 91
Bei gleichem Punktestand entschied ein Ausscheidungsspiel. Die Vorrundenspiele wurden mit dem ersten Ringtreffer entschieden. Ihr Gegner im ersten Spiel war eine sehr junge Mannschaft, die zwar schnell auf den Füßen war (weswegen sie ja auch so weit vorn gestanden hatte), aber nicht besonders geschickt spielte. Nach wenigen Minuten nahm Lundiga einen Ball auf, den Brad ihr über die Mauer zugespielt hatte, und schlug ihn sauber durch den Ring. Die Zuschauer klatschten Beifall, während die Gegner niedergeschlagen den Platz verließen. Materielle Anerkennung für ihren Sieg bekamen sie nicht. Die Reichen hatten die Gewohnheit, erst spät zu kommen. Die unteren Sitzreihen waren noch leer. Auf den Plätzen der Armen gab es hingegen schon viele Besucher. Sie interessierten sich offenbar nicht nur für Bos' Bart und Lundigas Fellkappe, sondern sie riefen in ihrer Aztekensprache auch manches Scherzwort, das von lautem Gelächter begleitet wurde. Als sie zum zweiten Male das Spielfeld betraten, wurden sie mit Beifall begrüßt. Sie waren zu Publikumslieblingen geworden. Dieses Spiel dauerte länger, aber nur deswegen, weil sie einige Male knapp das Ziel verfehlten und den Rand des Ringes trafen, ehe Simon ein Zuspiel von Brad verwandeln konnte. Das letzte Spiel vor der Endausscheidung ging wieder sehr schnell, und wieder war es Lundiga, die den Gewinnpunkt erzielte. Jetzt waren auch die unteren Reihen schon besetzt, und einige kleine Silberbrocken wurden ihnen zugeworfen. Wohlgelaunt gingen sie dorthin zurück, wo die Spieler sich zwischen den Spielen ausruhten. Es war dort schon sehr viel leerer geworden, weil so viele Mannschaften bereits ausgeschieden waren. Brad zählte die Einnahmen. »Reich werden wir davon nicht.
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aber es ist immerhin ein Anfang. Besser als Kakaobohnen.« »Bis jetzt war es noch leicht«, sagte Simon. »Ja, bis jetzt. Aber wir sollten lieber nicht überheblich werden.« »Wichtig ist, daß wir unsere Schläger benutzen dürfen. Was hat denn der Schiedsrichter gesagt, als er dich zu sich gerufen und den Schläger angesehen hat?« »Ich habe es nicht verstanden. Jedenfalls hat er uns nicht verboten, damit zu spielen, und darauf allein kommt es an.« »Wir können sie alle schlagen«, sagte Bos zufrieden und klopfte Lundigas rechten Arm. »Lundiga spielt ausgezeichnet.« Die reckte sich und sagte: »Ich habe Hunger!« Schon immer hatte sie einen gesunden Appetit gehabt, doch seit dem Beginn des anstrengenden Trainings konnte sie noch mehr essen als Bos. »Ist da draußen vielleicht ein Tortillaverkäufer?« Für die zweite Runde wurde nur ein Spielfeld verwendet. Alle Plätze waren besetzt, und besonders die erste Reihe bot ein farbenprächtiges Bild. Dort saßen die Freunde und Verwandten des Gouverneurs beiderseits seines kunstvoll geschnitzten Sessels. Eine Gruppe von Priestern in purpurfarbenen und weißen Gewändern saß hinter ihm, und unmittelbar darunter war der Platz des Schiedsrichters und der beiden Spielleiter, die auch mit Hilfe einer glimmenden Wurzel, in die man in gleichmäßigen Abständen Knoten geschlungen hatte, die Zeit nahmen. Ein kleiner Raum war den Spielern vorbehalten. Von dort aus konnten sie den Spielen zuschauen. Hier saßen auch die Römer, um ihre Gegner einzuschätzen. Zwei der verbliebenen Mannschaften hatten Spieler ungefähr in ihrem Alter, wenn man von Bos absah, aber die dritte Mannschaft, die sich .vorhin um den letzten Platz in der Reihe der Wartenden 93
gestritten hatte, bestand aus Spielern, die drei oder vier Jahre älter waren. Damit hatten sie einen körperlichen Vorteil, den sie auch weidlich ausnützten. Simon nannte sie die Gorillas. Es war nicht erlaubt, einen Gegner absichtlich mit dem Schläger zu treffen, aber es geschah doch so häufig, daß es nicht bloßer Zufall sein konnte. Selbstverständlich war es auch verboten, den Gegner zu stoßen und zu schlagen. Körperlicher Einsatz war jedoch erlaubt, ob der Gegner nun gerade den Ball spielte oder nicht, und man machte davon reichlich Gebrauch. Die Römer waren durch das Los bestimmt worden, im zweiten Spiel anzutreten; darum konnten sie das erste Spiel der Gorillas beobachten. Die schlugen nicht besonders genau und hatten nur zwei Ringtreffer erzielt, ehe die Zeit abgelaufen war, doch ihre Gegner waren kaum zu einem Versuch gekommen. Man lief sie einfach jedesmal um, wenn sie an den Ball zu kommen drohten. Zwei von ihnen hinkten mitleiderregend, als das Spiel vorüber war. Es gab Applaus für Bos und Lundiga, als sie das Spielfeld betraten. Im ersten Spiel hatten sie wenig Mühe. Sie erzielten vier Treffer, drei davon durch Lundiga, ohne Gegentreffer. Sie blieben gleich auf dem Feld, um gegen die Mannschaft anzutreten, die den Gorillas unterlegen war, und diesmal war es sogar noch leichter. Ihre Gegner waren psychisch und physisch besiegt. Einer von ihnen konnte kaum noch laufen. Sie unternahmen nur ein paar hoffnungslose Versuche. Diesmal erzielte Lundiga vier von sieben Treffern und wurde am Spielende laut umjubelt. Im nächsten Spiel überwältigten die Gorillas das zweite junge Team genauso mühelos wie das erste. Ihre Gegner erzielten gleich zu Beginn einen Treffer, und das machte die Gorillas zornig. Sie kümmerten sich kaum noch wirklich um den Ball, sondern gingen hauptsächlich mit großem körperlichen Einsatz 94
gegen ihre Gegner vor, so daß sie schließlich mehr oder weniger ohne Gegenwehr zu ihren Versuchen kamen. Sie erzielten drei Treffer, verfehlten den Ring aber mindestens zehnmal so oft. »Sie spielen hart«, sagte Brad und sah Bos fragend an. »Glaubst du, daß du mit ihnen fertig wirst?« Bos rieb sich die Hände. »Und ob!« Die Menge war jetzt fieberhaft erregt. Sie heulte vor Freude auf, als Lundiga und Bos das Feld wieder betraten. Den Gorillas brachte man deutliche Feindseligkeit entgegen. Sie wurden mit Schimpfworten überschüttet, als sie auf das Feld kamen. Es war schön, Favorit geworden zu sein, fand Simon; aber das minderte nicht seine düsteren Vorahnungen für das kommende Spiel. Diese Vorahnungen waren von der ersten Minute an berechtigt. Brad hatte einen Ball übernommen, der hoch von der Wand abprallte, und Simon stand bereit, um ihn abzunehmen. Er konzentrierte sich ganz auf den Ball und achtete nicht darauf, was hinter ihm geschah, und als er gerade mit seinem Schläger ausholte, rammte ihn einer der Gorillas so heftig, daß er zu Boden fiel. So heftig stürzte er auf die Steine, daß er keuchend nach Luft ringen mußte. Ein wenig später, nachdem sie Brad auf die gleiche Weise behandelt hatten, kamen die Gorillas zu einer ersten Chance. Sie verfehlten, und ebenso erging es ihnen beim zweiten Mal, doch der dritte Versuch führte zum Treffer. Simon humpelte auf Bos zu und sagte: »Die sind wirklich hart!« -Lange nicht hart genug«, versicherte Bos grimmig. Den meisten Schaden richtete der Mannschaftsführer der Gorillas an, ein Mann, bei dem das narbige Gesicht und die gebrochene Nase von manchem harten Kampf erzählten. Bos achtete nicht mehr sonderlich auf den Ball, sondern vor allem auf diesen Gegner. Als er ihn erwischen konnte, warf er sich 95
mit seinen vollen zweihundert Pfund gegen ihn. Der Gorilla ging zu Boden. Einer seiner Gefährten legte sich mit Lundiga an, aber Bos war sofort bei ihm und drängte ihn gegen die Wand. Der Ball kam frei zu Brad, der ihn mühelos durch den Ring befördern konnte. Von diesem Augenblick an hatten sie leichtes Spiel. Lundiga und Simon erzielten Treffer. Mehr durch Glück als durch Geschicklichkeit erreichten auch die Gorillas einen zweiten Punkt, doch als einer der Spielleiter sein Tuch schwenkte, um das Zeichen zum Ende des Spieles zu geben, stand es fünf zu zwei. Diesmal sammelten sie schon sehr viel mehr Silber ein und sogar ein paar Federkiele mit Goldstaub. Man schenkte ihnen auch goldgesäumte Ledergürtel als Zeichen dafür, daß sie bei den großen Spielen dabei sein durften. Danach gönnten sie sich süßen Maiskuchen mit Kakaocreme, einen Luxus, den sie sich vorher noch niemals hatten leisten können. »Gegen das Brot ist das einmal eine nette Abwechslung«, sagte Brad. »Ich glaube, wir haben jetzt das Schlimmste hinter uns und gehören nicht mehr zu den Ärmsten.« »Jedenfalls brauchen wir keine Steinblöcke mehr zu schleppen.« »Ja«, sagte Lundiga. »Ich freue mich. Für Bos und für dich, Simonus, war das ja ganz richtig, aber Bradus sollte solche Arbeit niemals tun müssen.« Für Lundiga war die Arbeit auch ganz passend, fand Simon. Sie war mindestens so stark wie er selbst. Brad, der inzwischen gelernt hatte, solche Bemerkungen einfach zu überhören, sagte zufrieden: »Und in der nächsten Woche kommen dann die großen Spiele.« Bos nickte: »Gut.« »Und mehr Gewinn«, vermutete Simon. »Ich sehe nicht ein, warum wir nicht ein, zwei Spiele gewinnen 96
sollten«, antwortete Brad. »Auch gegen die ganz Großen haben wir eine Chance. Andererseits . . . « »Was?« »Die Mannschaft, die das Endspiel gewinnt, wird wirklich reich. Für gewöhnlich hört sie danach mit dem Spiel auf.« »Uns geht es gut«, sagte Simon. »Wir sollten nicht gleich zu ehrgeizig werden. « »Warum denn nicht?« fragte Bos. Simon betastete ein große Beule. Verschiedene Körperteile taten ihm ziemlich weh. Er sagte: »Nur weil wir das Römische Reich zum Einsturz gebracht haben, sind wir noch lange nicht die Könige des Ballspiels.« »Was haben wir denn zu verlieren?« fragte Brad. Lundiga erklärte zärtlich: »Ich stimme Bradus zu.« Simon betastete eine andere Beule, verzog das Gesicht und stöhnte: »Das ist wenigstens einmal eine Überraschung.« Die nächsten Tage vergingen sehr schnell. Sie mieteten sich ein Haus und verwandelten einen Raum in ein Spielfeld, auf dem sie eifrig übten. Simon, der den Optimismus der anderen nicht teilte, sie könnten den großen Preis gewinnen, war nicht ganz so emsig, trainierte aber gewissenhaft mit den anderen dreien. Das Leben war ganz gewiß leichter geworden. Sie aßen besser und konnten sich bessere Kleider kaufen. Und es war auch nicht unangenehm, wenn man von den Leuten auf der Straße erkannt und bejubelt wurde, die den Spielen zugesehen hatten Simon widerfuhr das freilich nur, wenn er von Bos oder Lundiga begleitet wurde. Wenige Tage vor den Spielen tauchte Starke Feder auf. Er aß Kuchen und trank Schokolade mit ihnen, ehe Brad und er sich in ein langes Gespräch in der Algonkinsprache stürzten, dem nicht folgen konnte. Er verstand nur einmal einen Satz, 97
der ungefähr bedeutete: Gewinnen gut — verlieren schlecht. Das schien unstrittig zu sein. Danach aber wirkte Brad sehr nachdenklich, und er brach das abendliche Training früh ab. Simon erwachte in der Nacht und bemerkte, daß auch Brad wach und sehr unruhig war. Bis zum nächsten Tag schien Brad sich jedoch wieder gefangen zu haben, und er ließ sie weiter auf die Bälle einschlagen, bis Simon sich müde zum Umfallen fühlte. Die bevorstehenden Spiele zerrten an den Nerven. Es gab Streitereien über Spielzüge, sogar zwischen Bos und Lundiga, zwischen denen es sonst kaum Reibereien gab. Die Streitsucht blieb auch, als sie schon nicht mehr spielten, und schließlich unternahm Simon einen Spaziergang, weil er die Atmosphäre nicht mehr ertragen konnte. Als er wiederkam, trat er auf Brad zu und sagte: »Ich habe Starke Feder gesehen.« Brad hob den Kopf. »Ja?« »Wenn er langsam spricht, kann ich ihn verstehen. Wir haben über die Spiele geredet.« Brad schaute auf die anderen. Bos schnitzte an einem Kruzifix, und Lundiga kümmerte sich um das Abendessen. »Was ist mit den Spielen?« Als Simon schon den Mund zur Antwort öffnete, fügte Brad hinzu: »Auf englisch, bitte!« »Gut. Er hat bestätigt, was du gesagt hast. Die Sieger im Endspiel werden wirklich mit Reichtümern überschüttet. Er hat aber auch etwas über die Verlierer gesagt, und das hast du uns nicht erzählt. Sie qualifizieren sich auch für etwas. Sie werden nämlich zu Menschenopfern für die Götter.« Brad sagte ruhig: »Ja, er sagt, das sei der Höhepunkt der religiösen Zeremonien dieser Woche. Die Priester schneiden den Unterlegenen die Herzen aus und opfern sie den Göttern.« »Du hast es also gewußt!« Simon starrte ihn an. »Ich habe es 98
nicht glauben können. Was bist du eigentlich für ein Dummkopf.« Brad antwortete nicht. »Und was für Wahnsinnige sind diese Azteken, daß sie so etwas mitmachen?« Brad hob die Schultern. »Religiöse Wahnsinnige. Das paßt eben zu ihrem Glauben. Die Spiele zu gewinnen, das ist das Größte, was auf der Welt ihrer Meinung nach geschehen kann. Ihrer Meinung nach muß etwas so Ruhmreiches auch eine bedeutende Kehrseite haben. Sie sind nur zu gern bereit, ihr Glück zu versuchen. Und wie es auch ausgeht, immer ist es der Wille der Götter.« »Das paßt vielleicht zu ihrem Glauben, aber bestimmt nicht zu meinem. Was mich betrifft, ist damit alles geregelt. Ich wünsche mir nichts so sehr, daß ich mir dafür durch ein Opfermesser die Brust aufschlitzen ließe.« »Ich war auch erst recht niedergeschlagen, als Starke Feder es mir erzählt hat. Die Aussicht stimmt mich auch nicht froh. Aber als ich darüber nachgedacht habe, fiel mir auf, daß es da einen Unterschied gibt. Wir sind keine Azteken.« »Willst du damit sagen, daß Fremde nicht geopfert werden?« »Nein, das nicht. Aber ich meine, daß Azteken durch ihre religiösen Pflichten gebunden sind. Wir sind es nicht. Wir brauchen nicht bis in das Endspiel vorzudringen. Sechzehn Mannschaften nehmen im K.O.-System teil. Es gibt also zwei Vorrunden, das Halbfinale und das Finale. Wenn wir im Halbfinale verlieren, ist alles in Ordnung, und in den ersten beiden Runden werden wir eine Menge verdienen.« .Ja. falls wir das Halbfinale wirklich verlieren.« -Zwei von uns vier könnten dafür sorgen. Ich wollte es dir sowieso sagen.« »Und Bos und Lundiga?« »Was meinst du?« •Du mußt es ihnen sagen. Vier von uns Vieren, das ist besser nur zwei, wenn es darauf ankommt, ein Spiel zu verlieren.« 99
»Wahrscheinlich hast du recht.« Brad hob die Stimme: »Bos, Lundiga!« Und dann fuhr er in Latein fort: »Jetzt hört einmal ganz genau zu . . . « Zu diesen Spielen kamen sogar die Reichen pünktlich, und auch sie erkoren, genau wie die einfachen Leute, die Römer zu ihren Favoriten. Besonders Bos und Lundiga wurden für fast jeden Schlag umjubelt. Das erste Spiel gewannen sie leicht und brachten eine reiche Ernte an Silber und Gold ein. Während sie dem nächsten Spiel zuschauten, sagte Brad: »Unsere Schläger bedeuten wirklich einen Unterschied. Ich glaube, wir könnten es sogar bis zum Ende schaffen.« »Daran darfst du noch nicht einmal denken«, wies Simon ihn zurecht. Brad grinste: »Keine Angst, ich tu's nicht.« Als die Spieler zum nächsten Wettkampf das Feld betraten, hörte Simon, der gerade ein prächtig gekleidetes junges Mädchen in der ersten Reihe betrachtete, Brad leise durch die Zähne pfeifen. Und was er sah, als er die Mannschaften betrachtete, war wirklich überraschend. Die Spieler der einen Mannschaft trugen Schläger, die den ihren sehr ähnlich waren. Brad meinte: »Es ist schon erstaunlich, wie schnell neue Ideen sich ausbreiten können.« »Wie haben sie wohl herausgefunden, wie man sie herstellen kann?« fragte Simon. »Von Leuten, die uns am Waschplatz gesehen haben. Bis zu den nächsten Spielen werden alle die neuen Schläger haben.« Die Mannschaft mit den neuen Schlägern gewann mühelos. Die Römer selbst gewannen ihr nächstes Spiel sechs zu drei, ohne Schwierigkeiten. »So, das war's«, sagte Simon, als sie ihre Preise eingeheimst hatten und das Spielfeld verließen. »Das nächste verlieren wir. « 100
Dieses nächste Spiel zu verschenken, wäre sicher gegen die Spieler mit den neuen Schlägern leichter gefallen, doch die Auslosung ließ es nicht zu. Sie hatten jetzt eine Mannschaft zum Gegner, die – genau wie die Gorillas – Wert auf körperlichen Einsatz legte. In den bisherigen Runden hatten sie ihren Gegnern ziemlich wehgetan und einem sogar ein Bein gebrochen. Genau mit dieser Spielweise begannen sie auch gegen die Römer, und als Simon, heftig getroffen, benommen zu Boden sank, war er froh, daß es sich um ihr letztes Spiel handelte. Er brauchte sich nicht mehr anzustrengen. Gleich darauf wurde auch Brad gelegt. Dann stürzten sich gleich drei Spieler auf Bos, der selbst als recht hart bekannt war. Auch er ging unter dem Anprall zu Boden, obwohl Lundiga hinzustürzte und einen der Gegner von den Beinen brachte. Was dann folgte, war verblüffend. Erst gab es ein undurchsichtiges Gerangel am Boden, dann erhob sich Bos aus dem Gewirr und schien die Leiber ringsum förmlich von sich abzuschütteln. Als sie versuchten, sich zu erheben, schmetterte er einen nach dem anderen wieder zu Boden, dann verfolgte er mit überraschender Geschwindigkeit den vierten und brachte auch ihn zu Fall. Lundiga folgte ihm wie ein tanzender Dämon; sie stürzte auf einen Gegner zu, der einen zweiten Versuch unternahm, sich zu erheben, und sein Kopf schlug mit dumpfem Geräusch gegen die Wand. Und im selben Augenblick hob Bos den Ball an und schlug ihn durch den Ring. Er prallte gegen drei Wände, ehe Lundiga ihn auffing und noch einen Treffer erzielte, ihren eigenen Ball erneut erreichte, als er zurücksprang und ihn zum dritten Treffer verwandelte. Die beiden schienen den Verstand verloren zu haben. Bos eilte dem Ball nach, um den vierten Punkt zu erzielen, als Brad und Simon ihn zugleich bei den Armen packten. •Du Idiot!« schrie Simon ihn an. »Dieses Spiel müssen wir doch verlieren!« 101
Bos rieb sich die Stirn und sah ganz verblüfft aus. »Das habe ich vergessen.« Die Gegner kamen langsam wieder auf die Füße. Brad sagte: »Dann vergiß es nicht noch einmal. Sie müssen gewinnen!« Es war nicht leicht. Bos hatte ihnen den Mut genommen, und sie erholten sich nur langsam. Selbst wenn sie ungehindert zum Schuß kamen, erzielten sie keinen Treffer. Die Zuschauer bemerkten, daß mit diesem Spiel etwas nicht mehr in Ordnung war, und schrien beiden Seiten Schmähungen zu. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Azteken endlich einen Treffer erzielten, und nachdem sie auch noch den zweiten gebucht hatten, schien die Zeit wieder zu schleichen. Simon spielte den Gegnern ganz offensichtlich Chancen zu. Das erzürnte die Zuschauer zwar noch mehr, doch das kümmerte ihn nicht. Als die Gegner den dritten Treffer erzielten, schwenkte er fröhlich seinen Schläger über dem Kopf. Noch ein Treffer, dann waren sie in Sicherheit. Doch selbst wenn das Spiel jetzt in diesem Augenblick endete, mußte es noch ein Entscheidungsspiel geben, und Bos und Lundiga würden wohl kaum zweimal den Verstand verlieren. Als der Ball auf ihn zukam, schlug er zu und war sicher, daß er den Ring weit verfehlen mußte. Der Ball prallte gegen ein vorstehendes Holz am Gehäuse des Schiedsrichters, kam von dort in einem seltsamen Winkel zurück und schien förmlich durch die Luft zu schlingern. »Nein!« schrie Simon entsetzt, doch da gab es nichts mehr aufzuhalten. Ganz sauber, ohne die Begrenzungen zu berühren, flog der Ball durch den Ring, und gleich darauf senkte der Kampfrichter sein Tuch. Wie sie erwartet hatten, standen sie im Finale der anderen mit Schlägern ausgerüsteten Mannschaft gegenüber, und auf dem Spielfeld wurde schnell klar, daß deren Spieler noch besser waren als es von den Zuschauerbänken aus gewirkt hatte. 102
Schon in der ersten Minute erzielten sie einen Treffer und waren gleich darauf einem zweiten sehr nahe. Die Zuschauer waren den Römern wegen ihrer Spielweise im Halbfinale noch böse und unterstützten deshalb lautstark den Gegner. Simon wurden die Beine weggerissen, als er gerade zum Treffer ansetzte, und der Jubel der Menge klang unverhohlen feindselig. Simon war benommen von dem Sturz, doch die Vorstellung von Priestern mit blitzenden Messern brachte ihn schnell wieder auf die Füße. Er sah den von einem Azteken geschlagenen Ball von der Unterkante des Ringes abprallen. Lundiga nahm ihn an. Sie selbst war nicht in einer guten Position, doch sie gab an Bos weiter, und der erzielte den Treffer. Das minderte die Beklemmung ein wenig, doch nicht für lange Zeit. Nach fünf Minuten führten die Azteken wieder durch einen zweiten Treffer. Das Spiel wurde immer schneller und heftiger, die Erregung der Menge stieg. Der Versuch, ein Spiel zu verlieren, war schwierig genug gewesen; aber der Zwang, ein Spiel entweder zu gewinnen oder zum Tode verurteilt zu sein, bedeutete eine reine Folter. Je mehr Simon sich bemühte, desto unbeholfener fühlte er sich. Ganz im Widerspruch zum Spielverlauf gelang Lundiga der Ausgleich, doch der Kapitän der gegnerischen Mannschaft übernahm den Ball gleich beim Anspiel, schlug ihn gegen die Seitenwand und erzielte dann sehr geschickt den Treffer, der seine Mannschaft zum dritten Mal in Führung brachte. Die Azteken erhöhten den Druck noch und kamen zu drei Versuchen, während die Römer nur einen hatten. Es kam wirklich überraschend, als Bos und Lundiga nach einer schönen Kombination zum drittenmal den Ausgleich schafften! Lange kam keine der beiden Mannschaften mehr zum Erfolg, und zugleich wurde das Spiel immer härter. Es sah immer mehr nach einer Verlängerung aus, und der fühlte Simon sich nicht mehr gewachsen. Zum zwanzigsten – oder hundertsten – 103
Mal wurde er zu Fall gebracht. Da lag er nun und versuchte sich einzureden, daß es keinesfalls unmöglich sei, noch einmal auf die Beine zu kommen. Das Geschrei der Zuschauer klang wie Morddrohung. Mühsam richtete Simon sich an der Wand auf und sah, daß Brad von zwei Gegnern in die Zange genommen wurde. Er fiel bewußtlos zu Boden und es sah nicht so aus, als würde er wieder aufstehen. Simon konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Die Azteken kamen ungehindert zum Schuß. Zweimal verfehlten sie das Ziel nur sehr knapp. Dann stürzte sich Bos im letzten Augenblick auf einen Gegner in aussichtsreicher Stellung, der Ball war frei, Lundiga eilte hinzu, erreichte ihn. Ihr Ball traf die Innenkante des Ringes und prallte nach innen. Dieser unerwartete Treffer mußte den Sieg bedeuten. In ihrem Gehäuse beobachteten die Schiedsrichter den Funken, der langsam auf den Knoten zuglomm, der das Ende der Spielzeit bedeutete. In jedem Augenblick mußte das Tuch fallen. Doch es fiel nicht, und die Azteken gingen wieder zum Angriff über. Brad lag noch immer bewegungslos da, wo er zu Boden gestürzt war. Lundiga und Bos waren die einzigen noch einsatzfähigen Spieler ihrer Mannschaft, und sie konnten nicht alle vier Azteken zugleich decken. Simon schaute hilflos zu, wie einer von ihnen den Ball weich seinem Mitspieler zuspielte, der völlig frei stand und mühelos seinen Treffer erzielen würde. Der Azteke hatte soviel Zeit, wie er wollte, um genau zu zielen, und als er den Ball traf, sah Simon sofort, daß die Richtung stimmte. Doch plötzlich schien Lundiga aus dem Nirgendwo aufzutauchen, und sie warf sich von der Seite her mit einem mächtigen Hechtsprung dem Ball entgegen. Sie hatte den Arm völlig ausgestreckt, und die Kante ihres Schlägers berührte den Ball gerade soviel, daß er ein wenig abgelenkt wurde. Als er ins Feld zurücksprang, fiel das Tuch. 104
Während die geschlagenen Spieler völlig benommen den Platz verließen, trampelte und schrie die Menge, und die Zuschauer auf den unteren Reihen drückten ihre Begeisterung mit einem wahren Spendenregen aus: Eine schwere Edelsteinspange traf Simon schmerzhaft unter dem rechten Auge. Der Boden schimmerte silbern, und immer wieder funkelte Gold zwischen den anderen wertvollen Gaben. Aber das war keineswegs der ganze Siegespreis. Die Priesterschaft hatte goldene Ketten gespendet. Der Oberpriester betrat mit einem großen Gefolge jüngerer Priester und unter militärischer Begleitung das Spielfeld. Schon die geringeren Priester trugen einen meterhohen Kopfschmuck, doch der seine war doppelt hoch, ein sorgsam ausbalanciertes Gebilde, in dem bunte Federn aus kostbarer Jade hervorzuwachsen schienen. Das Gesicht des Priesters war alt und hager, seine schwachen Augen zwinkerten. Unter dem Rot und Grün seines Kopfschmucks war weißes Haar zu erkennen. Es war gelungen, Brad wieder halbwegs zu sich zu bringen, doch er war noch immer wie betäubt. Er schwankte, als ihm eine Kette um den Hals gelegt wurde, und Simon streckte eine Hand aus, um ihn zu stützen. Ihm wurde schnell klar, daß nicht nur die Erschöpfung an diesem Schwanken die Schuld trug, als ihm eine gleiche Kette umgehängt wurde. Er betrachtete den sanften gelben Glanz auf seiner Brust und fühlte, daß das schwere Gold ihn fast zu Boden zog. Der Oberpriester schritt weiter zu Bos und endlich zu Lundiga. In der Sprache der Azteken hatte er allen Worte zugemurmelt, die wahrscheinlich Glückwünsche oder eine Art Segen waren, und es schien ihn nicht zu stören, daß er ohne Antwort blieb. Jetzt aber klang seine Stimme schärfer und befehlender, und Simon hörte überrascht, daß Lundiga auf Latein antwortete: »Das schickt sich nicht.« Er löste sich aus seinem goldglänzenden Traum und schaute 105
sie an. Der Finger des Priesters deutete auf ihre Pelzkappe, und der Klang seiner Stimme sagte deutlich genug, was er verlangte. Lundiga sollte die Kappe abnehmen, doch sie weigerte sich. Die kleinen schwachen Augen unter dem Kopfschmuck starrten in ihr Gesicht, und ihre blauen Augen starrten unbewegt zurück. Der Oberpriester trat einen Schritt zurück, als wollte er nachgeben, doch dann sprach er wieder schnell und heftig, und der Anführer der Soldaten sprang vor. Ehe Lundiga noch recht begriff, was ihr geschah, hatte er ihr die Kappe vom Kopf gerissen. Überraschte Ausrufe wurden laut. Lundigas Haar fiel wie eine helle gelbe Wolke auf ihre Schultern. Obgleich ihre Figur unter der Spielkleidung nicht zu erkennen war, konnte niemand daran zweifeln, daß sie ein Mädchen sein mußte. Für einen Augenblick war der Oberpriester sprachlos, dann sagte er wenige Worte, die für Simon sinnlos blieben. Brad aber schrie: »Nein!« Soldaten drängten herbei, um Lundiga von den anderen zu trennen. Sie widersprach laut, doch man ergriff sie bei den Armen. Mit einem wütenden Gebrüll sprang Bos hinzu und warf sich auf die Soldaten, Brad und Simon folgten ihm. Nur sekundenlang konnte Simon noch denken, daß ihr Widerstand scheitern mußte. Schon sehr bald erhielt er von hinten einen Schlag über den Kopf, und er verlor das Bewußtsein. 106
VII Zuerst wurde Simon klar, daß das Gesicht, das mitleidig auf ihn herniederblickte, zu einem sehr schönen Mädchen gehörte. Dann bemerkte er, daß er auf weichen Kissen lag. Im ersten Augenblick fragte er sich, ob er tot wäre und die Muslims mit ihrem Leben nach dem Tode recht hatten: Statt goldener Harfen auf weichen Wolken gab es hier Dienerinnen, die aus einem Becher, der niemals leer wurde, Limonade anboten. Andererseits verspürte er heftige Kopfschmerzen, die nicht zum Paradies paßten. Er richtete sich auf einem Ellbogen auf, stöhnte und sah Bos und Brad auf Lagern ausgestreckt liegen, die dem seinen ähnlich waren. »Ist alles in Ordnung, Simonus?« fragte Bos. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Das kann ich nicht gerade behaupten. Wo sind wir eigentlich?« Etwas von den Ereignissen vor seiner Ohnmacht wurde ihm wieder be-wußt, und er richtete sich vollends auf. »Wo ist Lundiga?« Bos schüttelte düster den Kopf. »Das wissen wir nicht.« Simon versuchte zu denken. »Wir haben die Wächter angegriffen. Wieso haben sie uns nicht getötet? Warum sind wir nicht wenigstens in einer Zelle?« Die Lagerstätten bestanden aus Holz mit kunstvollen Einlegearbeiten. Der Boden war von farbenprächtigen Teppichen bedeckt, kostbare Goldstickereien hingen an den Wänden. In Wandnischen standen recht große Jadefiguren. Drei Mädchen versorgten die Römer. Dasjenige, das Simon geweckt hatte, hielt ihm jetzt eine Schale aus poliertem Holz mit silbernem Rand entgegen. Er war durstig und trank. Limonade war es nicht, wohl aber ein sehr angenehmer Fruchtsaft. 107
Brad sagte: »Wie kommst du auf eine Zelle? Wir sind die Meister!« Es klang ganz selbstverständlich. »Wir liegen hier in einer Art Hilton-Hotel und haben ein unbegrenztes Guthaben.« »Simon sagte: »Das verstehe ich nicht. Was ist denn mit Lundiga?« »Die Gewinner der Spiele können sich so ziemlich alles erlauben, nehme ich an. Sie dürfen sogar das Militär angreifen. Soldaten sind nun einmal keine Heiligtümer. Hätte einer von uns den Oberpriester angerührt, dann wäre unsere Lage jetzt sehr viel anders, nehme ich an.« Simons Erinnerungen waren noch sehr verschwommen. Er spürte das Gewicht der goldenen Kette. Er hörte Lundiga sagen: »Es schickt sich nicht!« ... Er sah ihr niederfallendes Haar... »Aber was ist denn überhaupt geschehen? Der Oberpriester hat verlangt, daß Lundiga ihre Kappe abnehmen sollte. Hat er den Wachen befohlen, sie zu ergreifen, weil sie ihm nicht gehorcht hat?« »Nein. « Simon sagte: »Dann vielleicht, weil er entdeckt hat, daß sie ein Mädchen ist? Gibt es denn ein Gesetz, das die Mädchen von den Spielen ausschließt?« »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber das war es nicht. Es lag an ihrem Haar.« »An ihrem Haar? Na schön, es war vielleicht ein bißchen auffällig, weil die Azteken alle braunes Haar haben, aber ich verstehe trotzdem nicht ... « »Nicht nur auffällig«, sagte Brad. »Einzigartig ist das richtige Wort. Das einzige blonde Mädchen, das sie je gesehen haben. Dadurch wurde sie etwas ganz besonderes. Zu besonders für gewöhnliche Sterbliche, nach Meinung des Oberpriesters. Er hat sie als Braut der Götter beansprucht.« 108
»Und was bedeutet das?« Brad sah ihn nicht an, sondern schaute zur Decke. »Diese jungen Mädchen, die auf den Pyramiden geopfert werden, nennt man Bräute der Götter.« Wären seine Sinne nicht so verwirrt gewesen, dachte Simon, so hätte er wissen müssen, daß etwas Derartiges im Spiel war. Die Religion der Azteken hatte nichts Liebenswürdiges an sich. Er spürte eine Welle von Empörung und Zorn in sich aufsteigen und sagte: »Wir müssen etwas unternehmen!« Brad sah ihn an. »Was?« Simon kam ein wenig unsicher auf die Beine. »Ich weiß nicht. Aber irgend etwas jedenfalls. Wir können nicht einfach hier liegen und es uns wohlsein lassen.« »Schau aus dem Fenster.« Brads Stimme klang ungeduldig. »Dieser Raum hier liegt ungefähr ein Dutzend Meter über der Straße. Draußen auf dem Gang stehen vier bewaffnete Wäch-ter. Vierzig weitere sind in Rufnähe. Wenn du dich da hindurchkämpfen willst ... Bitte, laß dich nicht aufhalten. Ich wünsche dir alles Gute dabei.« Simon schaute zu Bos hinüber, der hilflos die Schultern hob. Diese Geste bestätigte Brads Worte, zumal es schließlich um Lundiga ging. Bos hatte ihr gegenüber nicht die Zurückhaltung empfunden wie Brad und Simon. Für ihn war sie einfach ein wunderschönes Mädchen, ein Ersatz für die Tochter, die ihm sein Gladiatorenleben vorenthalten hatte. Simon fragte: »Aber bis jetzt werden sie ihr doch noch nichts getan haben?« »Nein.« »Bist du sicher?« Brad entgegnete: »Einiges habe ich aus den Worten der Wächter erfahren. Vor allem, daß sie nicht mehr hier in Palzibil ist. Man hat sie in die Hauptstadt Tenochtitlan geschickt. Dort steht der Haupttempel. Das einzige blonde 109
Mädchen im ganzen Reich ist zu bedeutend für einen kleineren Ort.« Brads Sachlichkeit empörte Simon. Er sagte: »Und was geschieht nun?« »Was uns anbetrifft, nicht sehr viel. Der Oberpriester hat zwar Lundiga für die Götter beansprucht, aber wir anderen sind Helden. Schließlich haben wir das Ballspiel gewonnen, nicht wahr? Man hat uns zwar festgenommen, weil wir gegen die Soldaten gekämpft haben, aber das ist nur so eine Art Hausarrest. In ein
paar
Tagen
wird
man
uns
freilassen,
falls
wir
keine
weiteren
Schwierigkeiten machen.« »Und danach können wir dann herrlich und in Freude von dem leben, was uns die Spiele eingebracht haben?« »Richtig.« »Vorausgesetzt, daß wir keinen Ärger machen? Brad nickte. »Während man Lundiga fortschafft und den Göttern opfert?« Brad zuckte die Achseln. Zornig wandte sich Simon an Bos. »Und was hältst du von diesem Gedanken?« Brad sagte: »Der Ärger mit dir ist, daß du nicht nur dumm bist, sondern auch noch andere Menschen für dumm hältst. Menschenopfer finden bei den großen religiösen Zeremonien statt. Ich habe herausgefunden, daß dies erst beim übernächsten Vollmond wieder der Fall sein wird. Bis dahin ist Lundiga sicher, also haben wir auch Zeit, etwas für ihre Rettung zu unternehmen. Aber ehe wir auch nur einen Plan fassen können, müssen wir selbst frei sein. Das werden wir vermutlich in ein paar Tagen sein, wenn wir uns inzwischen wie brave und liebe Jungen verhalten. Kannst du dir das mit deinem dicken Kopf vielleicht klarmachen?« Bos sagte: »Bradus hat recht, Simonus. Es gibt ein altes römisches Sprichwort: Eile mit Weile.« 110
Simon spürte, daß seine Kopfschmerzen wieder zunahmen. »Ja«, sagte er. »Das habe ich auch schon gehört.« Am Morgen ihres vierten Hafttages bedeutete ihnen der Anführer der Wache, ihm zu folgen. Draußen wartete eine Sänfte, in der vier Menschen bequem Platz finden konnten. An jeder Stange standen sechs Träger bereit. Die Sänfte war mit kostbaren Stoffen, bunten Federn und goldenen Blättern geschmückt. Es handelte sich um die Privatsänfte des Gouverneurs, und in ihr wurden sie auf den Schultern der Sklaven im Laufschritt zum Gouverneurspalast getragen. Dort machte man viel Aufhebens von ihnen und reichte ihnen köstliche Speisen. Man schenkte ihnen auch Beutel mit Silber und Gold. Das war ein weiterer Preis für ihren Sieg. Zur Spielleidenschaft der Azteken gehörten auch Wetten über den Ausgang der Spiele, und den Siegern stand ein Anteil an den Wettgewinnen zu. Drei Beutel lagen bereit. Von einem vierten oder von Lundiga war nicht die Rede. Wahrscheinlich fiel ihr Anteil an die Priester. Simon hatte mit Brad darüber gesprochen, daß sie eine Beschwerde einreichen oder doch wenigstens nach Lundiga fragen sollten. Es könnte Verdacht erregen, wenn sie es nicht täten. Die Azteken würden es keineswegs absonderlich finden, wenn sie taten, als wäre ihnen das Schicksal des Mädchens gleichgültig. Ihre eigene Furcht vor Göttern und Priestern war so groß, daß sie bereit waren, ihre nächsten Verwandten ohne Widerspruch auszuliefern, wenn es die Priester verlangten. Während er nickend und lächelnd auf die Schmeicheleien der aztekischen Edelleute antwortete, mußte Simon zugeben, daß Brad recht gehabt hatte. Bei den Spielen hatte Lundiga den größten Beifall erhalten, doch jetzt existierte sie praktisch nicht mehr. Er hatte schon bisher keine besonders hohe Meinung von den 111
reichen Azteken gehabt, und bei näherer Bekanntschaft mochte er sie noch weniger. Er zwang sich, den festlichen Empfang lächelnd zu ertragen. Es war nur gut, daß von Fremden nicht mehr als ein Lächeln und ein Nicken erwartet wurde, und Simon war froh, als der Gouverneur sich zurückzog und damit das Ende des Empfanges andeutete. Gut war, daß zugleich auch ihr Arrest endete. Der Anführer der Wache kehrte mit ihnen zurück, aber nur, um seine Soldaten abzuholen. Während die davonmarschierten, sagte Brad: »Gut, jetzt können wir unseren Plan zurechtlegen.« »Dieser Ort, an den man Lundiga gebracht hat«, begann Simon, »wie hieß der doch gleich?«»Tenochtitlan.« »Und wo liegt er?« »Nachdem Cortes und seine Conquistadoren den Ort zerstört haben – in unserer Welt jedenfalls – wurde Mexico City auf den Ruinen erbaut.« »Wie weit ist es bis dorthin?« »Wenn ich recht habe mit meiner Annahme, daß Palzibil irgendwo in der Nähe von Sumter in Südkarolina liegt, dann sind es über zweitausend Meilen, wenn man den Weg mit dem Lama zurücklegt.« »Über zweitausend Meilen! Aber das dauert ja Monate! Und bis zu den Zeremonien haben wir nur noch zwei Monate Zeit.« Brad ließ sich nicht verwirren. »Die Straßen hier sind ziemlich gut. Ich glaube, mit schnellen Lamas kann man ungefähr siebzig Meilen täglich zurücklegen. Aber vier oder fünf Wochen dauert es auch dann. Aber es gibt nun einmal keine andere Möglichkeit außer den Straßen der Inkas, durch die sich dieses Aztekenreich von demjenigen unterscheidet, das die Spanier erobert haben. Diese Azteken waren ein Seefahrervolk. Sie hatten wahrscheinlich kaum mehr als kleine Küstenfischerboote. 112
Aber von Starker Feder habe ich gehört, daß unsere Azteken hier Schiffe besitzen, die den Golf von Mexico überqueren können. Für ein Reich, das sich nördlich und südlich davon ausdehnt, ist das ganz natürlich. Dadurch mindert sich die Entfernung um ein Drittel, die Zeit sogar noch mehr.« »Wann brechen wir auf?« »Langsam, langsam! Erinnere dich an das römische Sprichwort. Vorerst haben wir noch einiges zu tun.« »Zum Beispiel?« fragte Simon. »Wir müssen mehr über die Strecke erfahren. Dann müssen wir uns Lamas beschaffen, Rennlamas, falls es so etwas gibt.« »Wird das nicht etwas merkwürdig wirken?« »Wieso? Wir sind ungeheuer reich, vergiß das nicht. Das ist nichts anderes, als wenn ein Wimbledonsieger sich einen Ferrari kauft.« Ihre neue Stellung in der Gesellschaft gab ihnen das Recht, Kopfschmuck zu tragen. Die Vertreter der verschiedenen Hersteller bestanden darauf, ihnen besonders auserlesene Stücke ihrer Kunst anzubieten. Bos protestierte, er werde sich etwas so Lächerliches nicht auf den Kopf setzen. »Das mußt du aber, Bos«, erklärte Brad. »Alle großen Ballspieler tun es.« »Ich sehe ja wie eine Frau aus.« »Nicht genau.« Brad brachte es fertig, nicht zu lächeln. »Und vergiß nicht, daß es für eine gute Sache ist.« Auf einer Farm westlich der Stadt kauften sie Lamas. Es sollte dort die besten Tiere in der ganzen Provinz geben. Der Züchter war stolz, ihnen die Schnelligkeit und alle Qualitäten seiner Tiere vorzuführen. Da sie unwissende Fremde waren, bot er ihnen Reitunterricht an. Die Schnelligkeit, mit der sie diese Kunst erlernten, verblüffte ihn, denn er wußte nicht, daß 113
sie reichlich Reiterfahrung auf Pferden gesammelt hatten, ja, er wußte noch nicht einmal, daß es solche Tiere überhaupt gab. Die schwingende Bewegung bei den Lamaritten war anders, doch sie gewöhnten sich schnell daran. Am nächsten Tag sagte Brad: »Ich glaube, wir können aufbrechen. Ich habe noch einmal das Wissen von Starke Feder ausgenützt. Ungefähr vierhundert Meilen südlich liegt der Hafen Xicocoaz. Von dort aus fahren Schiffe zur Westküste des Golfs hinüber. Ich denke, wenn wir die Lamas wirklich antreiben, können wir es bis dorthin in fünf Tagen schaffen. Falls uns jemand folgen sollte, können wir unseren Vorsprung bequem halten, aber dazu müssen wir erst einmal einen Vorsprung haben. Wenn wir im Morgengrauen aufbrechen ... « »Und was ist mit den Dienerinnen?« fragte Simon. Die drei Mädchen waren ihnen geblieben, und außerdem umfaßte das Hauspersonal noch etwa zwanzig weitere Personen. »Daran habe ich gedacht. Sie alle halten es für selbstverständlich, daß wir als Fremde unsere eigene Religion haben. Wir werden ihnen sagen, daß morgen ein heiliger Tag für uns ist, an dem wir vierundzwanzig Stunden in einsamen Gebeten verbringen müssen. Damit haben wir einen Grund, sie heute abend fortzuschicken.« »Meinst du, sie werden uns das glauben?« »Das müssen sie«, versicherte Brad. »Sie sind Diener, wir sind die Herren. Und da sie selbst sehr religiös sind, werden sie es nicht einmal merkwürdig finden.« Bos berührte seinen Kopfputz. »Aber den können wir doch hierlassen?« »Lieber nicht. Du hast ja gesehen, daß man ihn auch auf Reisen trägt. Wenn wir auf Lamas reiten, gehören wir zur Oberschicht, also müssen wir auch einen Kopfschmuck tragen. Und dann ist da noch etwas, das dir nicht gefallen wird, Bos.« 114
»Was denn?« fragte Bos mißtrauisch. »Dein Bart muß ab.« »Nein! Ich werde dieses komische Ding tragen, wenn du meinst, daß es sein muß, aber meinen Bart schneide ich nicht ab!« »Wir können es uns nicht leisten, Aufmerksamkeit zu erregen. Und es ist ja für Lundiga, Bos.« Der große Mann stöhnte, aber er widersprach nicht mehr. Im Gegensatz zu römischen Städten, in denen erhebliches Nachtleben herrschte und Karren die ganze Nacht durch die Stadt rumpelten, waren aztekische Städte nach Einbruch der Dunkelheit stumm und unbelebt. Selbst die Obdachlosen rührten sich nicht aus ihren Verstecken. Die Lamas waren unter den Kolonnaden vor dem Erdgeschoß des Hauses angepflockt. Ihre Satteltaschen enthielten Verpflegung für die Reise und darüber hinaus reichlich Gold und Silber. Simon hörte es klingen, als sie durch die verlassenen Straßen ritten. Die Morgendämmerung erhellte gerade den Himmel. Steingebäude wichen den Hütten und dann dem offenen Land. Die Reiter hörten die Geräusche von Truthähnen und Schweinen. Das Klima hatte sich immer mehr verbessert, je mehr sich der kurzlebige Winter dieser Region zurückzog. Es war jetzt nicht kalt. Die Sonne ging hinter dem grünen Vorhang einer Avokadopflanzung auf. Die Strahlen blendeten das Auge. Bald hatten sie das bebaute Land hinter sich und ritten durch Gebüsch und Wälder. Die Straße blieb leer. Verkehr zwischen den verschiedenen Städten gab es für gewöhnlich nur zu den religiösen Festtagen. Es war verblüffend, fand Simon, daß man so große Mühe auf den Bau von so wenig gebrauchten Landstraßen verwendet hatte, wenn auch der Überfluß an Arbeitskräften eine solche Unvernunft verständlicher werden ließ. Außerdem hatten diese Straßen nicht unter schweren 115
Lastwagen zu leiden und würden tausend Jahre halten, ohne Pflege zu brauchen. Ihre erste Begegnung hatten sie einige Stunden nach dem Verlassen der Stadt. Ein Lamareiter kam ihnen entgegen. Ein purpurfarbenes Band um seine Stirn machte ihn als kaiserlichen Boten kenntlich. Eine sehr amtlich wirkende Tasche hing an seinem Sattel. Er grüßte respektvoll, sprach jedoch nicht. Bos wandte den Kopf und schaute dem Boten nach. »Er wird berichten, daß er uns gesehen hat.« »Dann wird er von drei Reitern sprechen«, sagte Brad. »Aber man wird keinen Anlaß haben, dabei an uns zu denken, solange die Diener uns nicht vermissen. Und selbst wenn man uns dann verfolgt, wird es für heute abend doch schon zu spät sein. Und wir haben die schnellsten Tier, die sich haben auftreiben lassen.« Am Abend fanden sie eine Wasserstelle für die Lamas und pflockten die Tiere für die Nacht an. Dann versuchten sie, es sich auf einem Fleck Moos bequem zu machen, und Simon fand, daß es nicht gerade lange dauerte, bis man für ein Leben unter freiem Himmel verdorben war. Es wäre jetzt schöner gewesen, auf weichen Kissen zu liegen und sich von schönen Dienerinnen eine Schale Schokolade bringen zu lassen. Doch der Tagesritt ließ seine Muskeln schmerzen und hatte ihn müde gemacht. Er blieb nicht lange wach und schlief ein. Eine Stadt auf dem Wege durchquerten sie bei Mondlicht, ohne einen Menschen zu sehen. Am Spätnachmittag des fünften Tages schauten sie von einer Höhe auf blendend glitzerndes Wasser hinab. Nach einer Stunde hatten sie Xicocoaz erreicht und ritten zum Hafen. Die dort ankernden Boote waren im Vergleich zur »Stella« oder auch nur zu einem Langboot der Wikinger nicht sehr eindrucksvoll. Sie schienen aus zusammengenähten Fellen zu bestehen, die man über ein Gerüst aus Bambus gespannt hatte. 116
Die drei hatten das Glück, ein Boot zu finden, das zum Auslaufen bereit war. Eigentlich war es schon voll, nach Simons Meinung sogar überladen, aber gegen einen anständi-gen Preis war der Kapitän bereit, Platz für die drei zu schaffen. Die Verhandlung darüber dauerte nicht lange. Bos deutete auf die Lamas und machte klar, daß er sie als Preis für die Überfahrt anbieten wolle. Der Gesichtsausdruck des Kapitäns machte deutlich, daß dies ein überaus hoher Preis war. Geradezu ehrerbietig geleitete er die drei neuen Gäste an Bord und befahl den anderen Passagieren, Platz für sie zu machen. Simon war darüber nicht sehr glücklich, denn zu denen, die zum Heck verwiesen wurden, gehörten eine sehr gebrechlich aussehende Frau und ein alter Mann. Er wußte jedoch, daß sie sich in die aztekischen Sitten zu schicken hatten, und in dieser Hinsicht waren die aztekischen Sitten sehr streng und einfach: Die Reichen hatten alle Rechte, die Armen bekamen alle Schläge und Fußtritte. Die Reise dauerte fünf Tage, und lange vor ihrem Ende waren die drei froh, daß man ausreichend Platz für sie geschaffen hatte. Die meisten Passagiere konnten sich kaum niederlegen. Zum Glück war das Meer ruhig, der Wind günstig. Sie erfuhren, daß die Reise für gewöhnlich eine Woche dauerte, daß aber auch zwei Wochen durchaus nicht ungewöhnlich seien. Den ganzen Tag über wurde gekocht. Ein Herd mit Holzfeuerung war in Betrieb. Er stand gefährlich nahe beim Mast und den flatternden Segeln, und die Besatzung verabreichte Speisen gegen Bezahlung in Kakaobohnen. Von den Römern wurde nichts verlangt. Simon vermutete, wenn ihre eigenen Rationen nicht ausreichen würden, so würde man den anderen Menschen etwas wegnehmen, damit nur sie ausreichend zu essen hätten. Das Boot fuhr am frühen Morgen in den Hafen ein. Der Hafen war nicht sehr eindrucksvoll. Hölzerne Stege reckten 117
sich von den steinernen Kais aus ins Wasser. Darüber standen einige Steingebäude inmitten der üblichen Hütten. Es war eine Erleichterung, wieder festen Boden unter sich zu spüren. Bos sagte: »Wenn wir Lundiga gefunden haben – wohin gehen wir dann, Bradus? In dein Land im Westen?« »Ich meine, das sollten wir tun.« »Können wir es auf dem Landweg erreichen?« »Ja.« »Das ist gut. Auf weitere Seereisen müßtet ihr nämlich ohne mich gehen. Unser christliches Symbol ist ja der Fisch, aber ich werde froh sein, wenn ich einmal sterben werde, ohne das Meer vorher noch einmal gesehen zu haben.« War der Hafen sehr wenig eindrucksvoll gewesen, so verhielt es sich mit der Stadt Tenochtitlan völlig anders. Sie war um ein Vielfaches größer als alle Städte, die sie bisher gesehen hatten. Eigentlich schien es sich eher um eine Ansammlung von Städten an vier verschiedenen, doch miteinander verbundenen Seen zu handeln. Überall erhoben sich weiße Bauwerke über Lagunen und Kanäle; es herrschte lebhafter Bootsverkehr, und auch die Straßen waren belebt. Neben der Straße, über die sie das Stadtinnere erreichten, verlief ein riesiges steinernes Aquädukt, das nicht minder eindrucksvoll war als jene aus dem Römischen Reich. Das Stadtzentrum war auf einer Insel errichtet, die von weiten Wasserflächen umgeben war, auf denen kleine Vergnügungsboote und große Barken schwammen. Die Barken waren zumeist für den Handel bestimmt, doch eine mit einem großen gelb-roten Aufbau gehörte zweifellos einem bedeutenden Würdenträger. Die Einfallstraße führte durch ein Viertel, in dem die Häuser zunehmend stattlich und wohlhabend wirkten, und schließlich zu einem weiten Platz mit Springbrunnen und Palästen. Dort stand auch die Pyramide, der Tempel der 118
Götter. Sie war mindestens doppelt so hoch wie die von Palzibil. In gleichmäßigen Abständen standen ringsum Götterstatuen, die von dunklen Steinsockeln auf die Betrachter herabblickten. Auch wenn sie vielerlei verschiedene Gottheiten darstellten, hatten sie eines gemeinsam: Einen Blick grausamer Verachtung für ihre Anbeter. Die Stadt war voller Geschäftigkeit. Auf den Märkten wurden unzählige Waren verkauft, darunter manche, von denen Simon nie geträumt hätte: Ein ganzes Marktviertel war Ständen vorbehalten, an denen die Federn von Adlern und anderen Greifvögeln feilgeboten wurden. Die Bevölkerung war vielsprachig, und es gab hier Indianer aus dem südlichen und aus dem nördlichen Amerika. Größe und Lebendigkeit der Stadt machten es leichter, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Selbst wenn die Nachricht ihres Verschwindens aus Palzibil hierher gelangen sollte, war es wenig wahrscheinlich, daß man sie in diesem Menschengewirr entdeckte. Westlich des zentralen Platzes lag das weite, von den Wohlhabenden der Stadt bewohnte Gebiet. Dort mieteten die drei eines der bescheideneren Häuser und dazu die für den Haushalt benötigten Sklaven. Geschmückt war das Haus mit Fresken und bemalten Schnitzereien, auf die Simon gern verzichtet hätte. Einige schilderten blutige Schlachten, und es gab eindringliche Darstellungen von Menschenopfern. Ein Bild zeigte die Folgen einer Schlacht. Gefangene wurden auf vielerlei unangenehme Art gefoltert. Das alles erinnerte ihn viel zu deutlich daran, welche Möglichkeiten vor ihnen lagen, falls ihr Unternehmen fehlschlagen sollte. Am dringlichsten war es, Informationen über Lundiga zu sammeln, und darauf brauchten sie nicht lange zu warten. Wie in allen großen Städten blühte der Klatsch, und das Mädchen mit den goldenen Haaren war ein beliebtes Gesprächsthema. Manche Geschichten wollten wissen, ihr Haar bestünde wirklich 119
aus diesem Metall, und bisweilen wurde behauptet, ihre Finger- und Zehennägel seien aus Jade. Über ihre Herkunft gab es unterschiedliche Berichte. Einige machten sie zu einer Besucherin aus Ländern jenseits des Sonnenunterganges, andere verloren sich völlig in Phantasien. Sie sei auf einem Lama mit goldenem Fell geritten gekommen ... sie sei bei Sonnenaufgang dem Meer entstiegen ... sie sei auf dem Rücken eines riesigen Adlers nach Tenochtitlan geflogen gekommen. Aber wenn man auch hier nichts Genaues wußte, so gab es über ihren gegenwärtigen Aufenthalt doch übereinstimmende Äußerungen. Jedermann wußte, daß sie unter der Obhut des Erzpriesters stand und sich in seinem Palast auf der Spitze der Götterpyramide aufhielt. Die drei gingen zum großen Platz zurück, um diese Pyramide genauer zu betrachten. Der Anblick ließ ihren Mut sinken. Die Pyramide war nicht nur viel höher als jene von Palzibil, sondern sie nahm auch ein weit größeres Gebiet ein. Die vier Grundlinien waren gut eine halbe Meile lang. Zur Spitze hin waren die Wände nach außen geneigt, so daß ein steiler Überhang unter einer breiten Plattform entstand. Zugang zur Spitze war nur über Treppenrampen von Norden und Süden her möglich. Die Treppen wurden von bewaffneten Männern vierundzwanzig Stunden täglich bewacht. In der Abenddämmerung und im Morgengrauen wurden die Wächter abgelöst. Während ein Tropengewitter die Stadt mit warmem Regen überschwemmte, besprachen die drei Römer die Möglichkeiten. Simon sagte: »Einen direkten Angriff können wir ausschließen. Wenn wir nicht gerade die Kanonen erfinden, gibt es keine Möglichkeit, an diesen Wächtern vorbeizukommen, und zur Erfindung von Feuerwaffen fehlt uns Zeit.« »Ich weiß nicht, was mit Kanonen gemeint ist«, sagte Bos, »aber ich habe römische Soldaten gekannt, die sich bestechen ließen. Und Geld haben wir genug.« 120
»Über zwanzig Männer«, sagte Simon, »und dann noch der Befehlshaber. Und alle sind dem Erzpriester verantwortlich, der über eine gut ausgestattete Folterkammer verfügt. Und außerdem: Könnten wir ihnen denn vertrauen? Sie könnten das Geld nehmen und uns dann doch verraten. Es geht auch nicht nur um das Hineinkommen, sondern vor allem darum, wie wir Lundiga herausschaffen können. Ich glaube nicht, daß wir das goldene Mädchen für Geld kaufen können.« »Nein«, bestätigte Brad, »das glaube ich auch nicht.« »Was bleibt also übrig?« fragte Simon. »Eine Revolution auslösen und auch dieses Reich stürzen? Dafür bleibt uns nicht mehr viel Zeit.« »Und wir sprechen die Sprache nicht gut genug. Es gibt hier auch keine Gruppe wie die Christen, die zum Aufstand bereit waren. Revolutionen können wir vergessen.« Ihr Schweigen wurde nur noch durch das Plätschern des Regens und das Gurgeln des Wassers in den Gossen unterbrochen. Die Aussichten waren nicht nur gering, sie schienen hoffnungslos zu sein. Kein Wagemut von ihrer Seite konnte Lundiga helfen. Es gab keine Möglichkeit, sie zu retten. Sie hätten besser daran getan, dachte Simon, in Palzibil zu bleiben, anstatt in die Stadt zu kommen, in der sich das Entsetzliche ereignen würde. Es war unvorstellbar, daß sie am Opfertag hier sein und dem blutdürstigen Geheul der Menschenmenge lauschen sollten. Simon fragte sich, wie er seine Gedanken aussprechen könnte, ohne den Eindruck zu erwecken, daß Lundigas Schicksal ihm gleichgültig wäre, als Brad eine Frage stellte: »Könnt ihr klettern?« »Wie meinst du das?« fragte Bos. »Die Pyramide erklettern, meinst du?« fragte Simon. »Das wäre auf jeden Fall schwierig, aber der Überhang dort oben macht es unmöglich.« Brad entgegnete. »Im Sommer vor . . . « Er warf einen Blick 121
auf Bos. ». . . bevor du und ich schiffbrüchig an die britische Küste gespült wurden, habe ich ein wenig Bergsteigen geübt. Man kann solche Überhänge schon mit Hilfe von Kletterhaken überwinden. Bei hartem Felsen wäre das nicht leicht, aber hier sind ja Spalten zwischen den Steinblöcken, in die man die Haken eintreiben könnte. Ich denke, es könnte gelingen.« Simon stellte sich vor, wie es wäre, unter diesem Überhang über einem Abgrund von hundertfünfzig Metern zu hängen. Er sagte: »Und woher willst du die Kletterhaken nehmen?« »Bronzene Meißel. Das ist wieder etwas, was die Azteken gewonnen haben, als sie die Inkas besiegten. Sie haben etwas über Metallbearbeitung gelernt. Mit steinernen Meißeln und Hämmern wäre es sehr viel schwieriger.« »Meinst du das ernst?« Brad achtete nicht auf den Einwurf. »Ich bin ein wenig geklettert, wie ich schon sagte, und ich bin am leichtesten. Ich kann diesen Überhang überwinden und euch beide dann nachziehen.« Simon begann: »Es wäre aber ... « Er wurde von Bos unterbrochen. »Ich verstehe zwar nicht alles, was du sagst, Bradus, aber wenn du es für möglich hältst, dann werden wir es eben tun.« »Aber ... « »Entweder wir versuchen es, oder wir überlassen Lundiga dem Messer des Priesters.« Beide schauten Simon nicht vorwurfsvoll an, sondern wie Männer, die einem begriffstutzigen Kind etwas erklären wollen. »Wir müssen es versuchen.« 122
VIII Der Mond stand als schmale silberne Sichel zwischen den Sternen, das Gewitter war abgezogen, die Nacht war warm und windstill, als die drei durch die Dunkelheit schlichen. Sie hatten sich lederne Gürtel umgebunden und trugen feste Sandalen. Bos hatte sich ein Seil über die Schulter gehängt. Der Beutel mit dem Hammer und den Bronzekeilen hing an Brads Gürtel. Simon war froh, daß er nichts zu schleppen brauchte. Der Anblick der Wand, die sie besteigen wollten, weckte eine Art Entsetzen in ihm. Sie ragte drohend über ihnen auf, ein wenig im schwachen Licht glänzend, und sie schien fast völlig glatt zu sein. Um die Spitze zu sehen, war es zu dunkel, und das war auch gut so. Wenn Simon sich die Höhe vorstellte und dabei an Brads Plan dachte, begann er zu zittern. Brad rollte ein Stück Seil aus, mit dem sie sich sichern wollten. Simon schlang es sich um den Leib, wie Brad es ihm gezeigt hatte. Brad flüsterte: »Ich fange an, Simon. Komm mir nach, sobald das Seil straff wird.« Schon zog er sich die Wand hinauf, und allzubald bemerkte Simon, wie das Seil an ihm zerrte. Er verdrängte alle anderen Gedanken bis auf den einen, daß er den Arm recken mußte, daß er Halt für seine Fingerspitzen finden, sich hinaufziehen, einen Vorsprung für die Füße suchen und wieder den Arm ausstrecken mußte ... Über ihm flüsterte Brad: »Gut so! Gib Bos ein Zeichen, daß er nachkommen soll!« Sie kletterten gleichmäßig und legten hin und wieder eine kleine Ruhepause ein. Das bedeutete, daß sie dann auf den 123
Zehenspitzen gegen den Stein gedrängt standen. Die Spalten zwischen den Steinen waren gerade breit genug, um den Fußballen Platz zu bieten. Wenn man sich erst an den Rhythmus gewöhnt hatte, war es gar nicht so schlimm. Sie schienen ein gutes Stück hinaufgekommen zu sein, doch Simon blickte lieber nicht abwärts, um es zu überprüfen. Auch nicht aufwärts. Am besten war es, den Blick nur auf die steinerne Wand zu richten. In den Ruhepausen, während Brad allein weiterkletterte, träumte Simon, alles wäre vorüber, und sie seien wieder unterwegs. Den Gedanken an Lundiga schloß er als sinnlos aus. Er stellte sich die Widrigkeiten vor, denen sie begegnen konnten: Feindselige Eingeborene, Hunger, Durst, Giftschlangen ... Aber mit alledem würden sie zumindest nur auf ebenem Boden fertigwerden müssen. Der Himmel schien plötzlich zu explodieren, und automatisch hob Simon den Blick. Das Geräusch war so, als ratterten Dutzende, Hunderte von Maschinengewehren, und er preßte sich gegen die Wand, um dem Kugelhagel zu entgehen. Das Knattern setzte sich fort, wurde lauter und schien immer mehr Raum auszufüllen. Mond und Sterne wurden von einer schwir-renden Wolke verdunkelt, und Simon fragte sich, ob die Pyramide selbst zusammenbrach, ob ihr Aufstieg irgendein schwieriges Gleichgewicht gestört hatte, so daß die Tempelpyramide jetzt auseinanderfiel. Dann verdünnte sich die Wolke, zerbarst in Einzelteile, und er erkannte, daß es sich um Vögel handelte, die in die Nacht hinausflatterten. Sein Herz klopfte heftig, und er mußte tief atmen. Brad hatte einen Brutplatz gestört. Es mußten Tausende von Vögeln sein, und wenn dieser Zwischenfall schon an Simons Nerven gezerrt hatte, so mußte es für Brad noch viel schlimmer gewesen sein. Er flüsterte aufwärts: »Alles in Ordnung?« Nach einer Pause: »Ja, sicher.« 124
»Ich dachte . . . « »Nicht reden! Die Wächter ... « Er brauchte den Satz nicht zu vollenden. Das Aufschwirren der Vögel konnte Neugier geweckt haben. Gedankenlos blickte Simon abwärts. Er sah keine Bewegung, doch als ihm klar wurde, wie hoch sie bereits gekommen waren, fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Er wandte den Blick schnell wieder ab. Endlich erkannte er an leisen Geräuschen, daß Brad den Aufstieg fortsetzte. Er folgte. Die Vögel waren auch dafür verantwortlich, daß die Finger jetzt nicht mehr nackten Stein faßten, sondern sich in eine Lage aus schleimigem Vogelkot graben mußten. Übelkeit wollte in ihm aufsteigen, vor allem aber wurde das Klettern sehr viel schwieriger. Hoffentlich näherten sie sich jetzt dem Gipfel. Aber nach einigen Minuten war die Wand wieder sauber, und Brad stieg noch immer aufwärts. Simon begann zu ermüden. Er mußte eine Pause einlegen und einen Krampf aus seinem rechten Bein massieren. Ihm war klar, daß er alles aufhielt, deshalb kletterte er weiter, ehe der Schmerz völlig gewichen war, und sein Bein tat ihm sehr weh. Gerade wollte der Schmerz wieder unerträglich werden, als Brad flüsterte: »Ich bin soweit. Komm nach!« Simon massierte weiter sein Bein, während Bos bis auf seine Höhe nachgestiegen kam. Den Rest der Strecke legten sie dann gemeinsam zurück. Brad hatte einen Bronzekeil in einen Spalt zwischen zwei Steinblöcken getrieben, jetzt prüfte er dessen Festigkeit, indem er heftig daran zerrte. Simon fragte: »Kann ich dir helfen?« Brad schlug einen weiteren Haken ein. »Nein, nein, ich schaffe das schon. Die Haken sollen mein Gewicht halten, falls ich abstürze, und ich fühle mich sicherer, wenn ich die Haken selbst gesetzt habe.« Die Hammerschläge kamen ihnen laut vor, aber sie waren so 125
weit über dem Boden, daß es wahrscheinlich nichts ausmachte. Über ihren Köpfen verbarg der steinerne Überhang den Himmel. Simon versuchte zu schätzen, wie breit dieser Überhang sein mochte. Drei Meter vielleicht, oder auch vier. Der Anblick hatte nichts Tröstliches an sich. »Fertig!« sagte Brad. »Ich klettere weiter. Verankert euch fest an diesen Haken. Das kann helfen, falls ich abstürze.« »Können wir sonst etwas tun?« fragte Simon. »Viel nicht. Ein Gebet könnte nicht schaden.« »Ich hab schon die ganze Zeit gebetet«, sagte Bos, »aber ich werde mir noch mehr Mühe geben.« Brad schlug ein Stück höher einen Haken ein. Er hatte an beiden Seiten seines Gürtels Seile hängen, und sobald der Haken festsaß, schlang er eines davon herum. Er hing freischwebend an dem Haken, und Simon klammerte sich an die Wand. Er hörte Brads schweren Atem und das Geräusch, mit dem ein weiterer Haken eingeschlagen wurde. Alles ging beängstigend langsam vor sich, und es war nicht sehr hilfreich, dabei Bos ständig seine lateinischen Gebete murmeln zu hören. Nach einiger Zeit hörte Simon einen warnenden Zuruf. Irgend etwas fiel dicht an seinem Kopf vorüber. Ein Kletterhaken schlug auf die Stufe unter ihm und klapperte dann die Seitenwand der Pyramide hinab. Es schien sehr lange zu dauern, bis der Lärm endete. Simon dachte an die Wächter und fragte sich, ob Brad das Unternehmen jetzt abbrechen würde, doch der hämmerte sofort weiter. Damit hatte er selbstverständlich recht. Jetzt kam es nur darauf an, möglichst schnell diesen Überhang zu überwinden. Endlich konnte Simon, wenn er den Kopf zurücklehnte, Brads Umrisse deutlich vor dem Himmel abgehoben sehen. Er hatte die Hände um den Rand des Überhanges geklammert und versuchte, sich hinaufzuziehen. Irgend etwas hielt ihn zurück. Verzweifelt drehte und wand er seinen Körper und Simon 126
begriff, daß sich das Seil an dem darunterliegenden Haken verfangen hatte. Wenn Brad jetzt abstürzte ... Simons ganzer Körper verkrampfte sich. Bos hatte sein Gebet unterbrochen und drängte: »Du schaffst es, Brad!« Mit einem knirschenden Geräusch löste sich der Haken und pfiff an Simons Ohr vorüber. Brad mühte sich wieder anscheinend vergeblich ab, doch dann verschwand er über den steinernen Rand der überhängenden Mauer. Gleich darauf drang dann seine Stimme herab. »Ich sichere das Seil. Haltet euch fest!« Dann dauerte es lange, ehe er wieder sprach. »Ich glaube, es ist gut so. Du zuerst, Simon. Du bist leichter.« Durch Zögern ließ sich nichts verbessern. Simon zerrte einmal prüfend heftig am Seil, dann fing er an zu klettern, die Füße gegen die Wand gestemmt. Es war nicht allzu schwierig, solange es ihm gelang, nicht daran zu denken, daß unter ihm nur hundertfünfzig Meter freier Fall waren. Aber das war gar nicht so leicht. Ein Schmerz schoß durch seine rechte Hand, und er stieß unwillkürlich einen Schmerzensschrei aus. Seine Finger hatten sich zwischen Seil und Stein eingeklemmt. Das bedeutete jedoch, daß er es fast geschafft haben mußte. Er blickte aufwärts und sah, daß sich der Stein deutlich vor dem Himmel abzeichnete. Er griff danach, fand Halt und zog mit aller Kraft. Brad half ihm über den Rand, und Simon ließ sich sofort aufatmend niedersinken. Als er wieder aufstand, fragte er: »Woran hast du denn das Seil festgemacht?« »Es war nichts hier. Ich habe nur die Füße heftig gegen den Stein gestemmt.« Simon war froh, daß er das nicht schon früher gewußt hatte. Jetzt waren sie wenigstens zwei, um Bos nachzuziehen, obwohl auch das noch schwierig genug war. Sobald auch Bos bei 127
ihnen war, konnte Simon die neue Lage überdenken. Im schwachen Licht war lediglich zu erkennen, daß auf der obersten Ebene eine ganze Reihe von Bauwerken standen. Die steinerne Plattform dehnte sich nach allen Seiten und umfaßte eine erhebliche Fläche, die durchaus groß genug für ein kleines Dorf war. Brad fragte: »Hat einer einen Vorschlag. was wir jetzt tun können?« Für ihn war das eine sehr ungewöhnliche Frage. Seine Stimme klang erschöpft. Offensichtlich hatte ihn der Aufstieg sehr mitgenommen. Simon empfand ganz ähnlich und wußte nicht welcherSchritt der nächste sein sollte. Bos aber sagte ganz selbstverständlich: »Sie ist irgendwo hier oben. Wir müssen suchen, bis wir sie gefunden haben.« Die Tür des ersten Gebäudes, dem sie sich zuwandten, stand offen, und es war leicht festzustellen, daß es genau das enthielt, was das Schnarchen bereits vermuten ließ. Eine erhebliche Anzahl schlafender Männer. Beim zweiten Haus war es nicht anders. Nach einer ganzen Reihe dieser Häuser erreichten sie kleinere Hütten. Die erste schien ein Waschraum mit steinernen Becken an den Wänden und einem großen Wasserbehälter in der Mitte zu sein. Danach fanden sie Vorratsräume, eine Küche und einen Speisesaal. Simon spürte, daß der Mut ihn wieder zu verlassen drohte. Er fragte sich sogar, ob es wirklich stimmte, daß Lundiga hier oben festgehalten wurde. Und falls sie wirklich hier war, dann bestanden keine großen Aussichten, sie aufzuspüren, ohne zuvor selbst entdeckt zu werden. Plötzlich packte Bos seinen Arm und wisperte: »Schau mal!« Er spähte in die Dunkelheit und erkannte ein Gebäude, das größer war als die, auf die sie bisher gestoßen waren. Es war höher und breiter. Bos führte die Untersuchung an, und sie fanden eine Tür mit einem Perlenvorhang, der leise klirrte, als 128
sie hindurchschlüpften. Vom ersten Raum gelangten sie in einen zweiten und einen dritten. Alle schienen sehr gut ausgestattet, aber menschenleer zu sein. Simon flüsterte Brad zu: »Hier ist nichts. Wollen wir weiter?« »Dort drüben!« flüstere Brad zurück. »Ist das nicht eine Treppe?« Die Stufen knarrten unter ihren Füßen. Die Treppe führte zu einem Flur, von dem beiderseits Räume ausgingen. Links war gleichmäßiges Atmen zu hören. Simon und Bos schauten hinein und erkannten ungefähr ein Dutzend Lager. In diesem Augenblick bemerkte Simon, daß Brad nicht mehr bei ihnen war. Er wandte sich um und sah, daß ihnen Brad vom gegenüberliegenden Raum her zuwinkte. In diesem Raum stand nur ein einziges Bett, auf dem jemand schlief. Es wäre wunderbar, dachte Simon, wenn das Lundiga wäre, aber soviel Glück hatten sie sicher nicht. Die Gestalt bewegte sich und drehte sich im Bett um. Blondes Haar schimmerte im schwachen Mondlicht. Bos beugte sich über sie und flüsterte dringlich: »Lundiga! Wach auf, Mädchen!« Sie rührte sich, antwortete jedoch nicht. Sie hatte schon immer einen sehr festen Schlaf gehabt. Bos schüttelte ihren ausgestreckten Arm. »Wach auf! Wir sind es!« Plötzlich richtete sie sich auf und griff nach seinem Arm. »Was ... wer ...« Sie wurde wach. »Bist du es, Bos?« Es klang ungläubig. »Und Simonus, und Bradus?« Brad warnte: »Still, Lundiga! Wir werden die anderen wecken!« Sie achtete nicht darauf. »Wie seid ihr hergekommen? Hat man euch hergebracht?« Ihre Stimme klang immer ungläubiger. »Mitten in der Nacht?« »Wir sind die Pyramide heraufgeklettert«, berichtete Brad. »Heraufgeklettert? Warum?« 129
»Nicht so laut!« bat Brad. »Wir können dich hier herausholen, aber um Odins Willen – flüstere!« Als Lundiga wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme nur wenig leiser, und Simon hörte Schritte. Er fuhr herum, doch da waren die Ankömmlinge schon über ihm, und kräftige Arme zwangen ihn zu Boden. Es entstand ein allgemeines Gewirr, in dem er die zornige Stimme von Bos erkennen konnte, und auch Lundiga sagte etwas, allerdings in der Sprache der Azteken. Es war Simon gerade klar geworden, daß die Arme, die ihn niederhielten, Frauenarme waren, als der Druck nachließ und er sich vom Boden erheben konnte. Überall waren Mädchen. Lundiga sprach wieder, und die Mädchen verließen eilends den Raum. »Ich habe sie fortgeschickt, um Lampen zu holen«, erklärte Lundiga, »und etwas zu essen und zu trinken. Ihr braucht eine Stärkung, wenn ihr die Pyramide erklettert habt.« Sie schauten sie an, und Brad schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles zwar nicht, aber du mußt diese Mädchen loswerden! Komm, wir müssen verschwinden, solange wir noch eine Chance dazu haben.« »Verschwinden? Warum?« Verzweifelt drängte Brad: »Weil du hier in Gefahr bist. Wir alle sind es. Das mußt du doch wissen.« Lundiga schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin nicht in Gefahr, und ihr seid es auch nicht. Ihr hättet auch nicht die Pyramide erklettern müssen, sondern nur mit den Wächtern zu sprechen brauchen. Ich habe euch erwartet. Ich habe Boten nach Palzibil geschickt, die euch holen sollten.« Bos sagte ungeduldig: »Ich weiß nicht, welche Lügen sie dir erzählt haben, Lundiga, aber du darfst ihnen nicht glauben. Sie haben vor, dich ihren grausamen Göttern zu opfern.« »Mich opfern?« Sie lachte. »Das glaube ich nicht.« Brad sagte: »Hör zu! Ich habe gehört, was der Oberpriester in 130
Palzibil gesagt hat, als er den Wachen befahl, dich festzunehmen. Er hat dich als Braut der Götter beansprucht, und genauso nennt man die Mädchen, die geopfert werden. Bräute der Götter. Wir haben jetzt keine Zeit zum Streiten. Du mußt einfach glauben, was ich dir sage, und wir müssen sehen, daß wir davonkommen.« Sie lächelte ihn freundlich an. »Du weißt sehr viel, Bradus. Ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der soviel weiß. Aber auch du weißt nicht alles. Ich habe manches gelernt, seitdem ich hier bin. Es ist richtig, daß man die Mädchen, die geopfert werden, Bräute der Götter nennt. Aber das sind die geringeren Götter. Es gibt einen größeren Gott, den die Menschen hier anbeten, und im Vergleich zu dem selbst der Kriegsgott und der Regengott bedeutungslos sind. Er heißt Ipalnemohuani. Das bedeutet: Der, durch den wir leben. Er ist wie euer christlicher Gott, und sie sagen, daß er alles erschaffen hat. Sie beten ihn an, aber sie bringen ihm keine Opfer.« Brad sagte: »Du scheinst die Sprache ziemlich gründlich gelernt zu haben, wenn du das alles verstanden hast.« Es klang wenig überzeugt. Lundiga zuckte die Achseln. »Die Priester reden mit mir, und ich spreche auch mit den Dienerinnen. Das hilft mir, die Zeit zu vertreiben. Und ich denke, daß es gut ist, wenn ich die Sprache der Menschen verstehe, die mich anbeten werden.« »Dich anbeten?« »Ja. Die Bräute der anderen Götter werden geopfert, weil es leicht ist, andere zu finden. Aber für Ipalnemohuani hat man noch nie eine Braut auserwählt. Das liegt daran, daß die Legende sagt, seine Braut werde goldenes Haar haben. Und darum soll ich seine Braut sein und gleichzeitig mit ihm verehrt werden.« Sie lachte leise. »Ich kann mir das gar nicht so schlecht vorstellen, eine Göttin zu sein!« 131
Sie wurden durch die Rückkehr der Dienerinnen unterbrochen, die Speisen und Getränke auf goldenen Platten hineintrugen. Sie brachten auch Lampen mit und stellten sie in die Wandnischen. Jetzt konnte Brad erkennen, daß die Möbel sehr kostbar und mit vielen aus Gold geformten Blättern verziert waren. Bos leerte seine Schale und ließ sie nachfüllen. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte: »Die Sache mit der Göttin begreife ich nicht. Der wahre Gott hat keine Frau, wenn er auch eine Mutter hat. Aber wir wissen ja, daß die Menschen hier Heiden sind, und wenigstens scheinen sie dich gut zu versorgen. Trotzdem: Ich finde es nicht gerade eine verlockende Aussicht, wenn du den Rest deiner Tage hier oben in Himmelshöhe verbringen sollst.« Lundiga schüttelte den Kopf. »Das muß ich nicht. Ich werde hier nur bleiben, bis man einen Palast für mich errichtet hat. Dann wird es auch noch einen Sommerpalast in den Bergen geben, und wahrscheinlich auch noch andere in anderen Teilen des Landes.« »Das klingt ja alles ganz gut«, gab Simon zu, »aber du wirst nie mehr wirklich frei sein. Im Grunde bist du doch so etwas wie eine Gefangene.« Ihr Lächeln wirkte ein wenig herablassend. »Eine Göttin ist keine Gefangene, Simonus. Diese Mädchen hier sind meine Dienerinnen, aber auch die Priester dienen mir. Was ich mir wünsche, kann ich haben. Als ich sagte, daß ich euch bei mir haben möchte, wurden sofort Boten nach Palzibil geschickt.« »Großartig!« sagte Brad trocken. »Es ist besser als du glaubst.« Sie bedachte ihn mit einem liebevollen Blick. »Ich bin die Braut des Ipalnemohuani, doch der Gott, der alles erschaffen hat, ist körperlos. Ich habe dem Erzpriester gesagt, daß ich auch einen menschlichen Gefähr132
ten haben will, und für ihn sind meine Wünsche Befehle. Darum habe ich den Boten nach Palzibil geschickt. Ihr solltet mein Glück mit mir teilen. Auch ihr werdet einen Palast besitzen, Bradus und Simonus. Jeder einen, wenn es euch lieber ist.« Sie sah Brad an. »Aber Bradus soll meinen Thron mit mir teilen und mein Gefährte sein.« Endlich wurden sie von Lundiga entlassen. Sie brauche Schlaf, sagte sie, denn es sollte im Laufe des Tages eine Probe ihrer Rolle bei der Vollmondzeremonie stattfinden. Darauf müsse sie sich noch vorbereiten. Die drei zogen sich in den Raum zurück, den die Dienerinnen für sie hergerichtet hatten. Die Matratzen waren mit Daunen gefüllt. Bos ließ sich darauf niedersinken und brummte anerkennend. »Jetzt lächelt uns also wieder das Glück. Wir haben Lundiga gesund und sicher gefunden, und sie sagt, daß sie Paläste für uns bauen wird. Sie ist ein gutes Mädchen.« Morgendämmerung drang durch die Fenster. Sobald Simon sich niederlegte, wurde ihm klar, wie müde er war. Gähnend sagte er: »Einen Palast für dich, Bos, und einen für mich. Aber den ganz großen Preis gewinnt Bradus. Er soll eine Göttin heiraten.« »Halt doch den Mund!« fuhr Brad ihn an. »Und die Hauptfrage dabei ist«, fuhr Simon unbeirrt fort, »ob du dadurch auch zu einem Gott wirst. Meiner Meinung nach wirst du es.« »Ich sage, du sollst den Mund halten!« Es klang so deutlich zornig, daß Simon es trotz seiner Müdigkeit nicht überhören konnte. Er sah in Brads gespanntes Gesicht. »Reg dich doch nicht gleich auf. Es sollte doch nur ein Scherz sein.« 133
»Für Lundiga ist es kein Scherz.« Simon dachte darüber nach. »Nein, vielleicht nicht. Aber bis zu der Hochzeit hat es ja noch Zeit. Ihr seid beide noch ein bißchen jung. Du wirst dich dann schon noch rechtzeitig herausmogeln können.« »Ich werde jetzt schon daraus verschwinden.« »Woraus? Aus Tenochtitlan? Darüber sollten wir morgen oder übermorgen noch einmal reden.« Brad schüttelte störrisch den Kopf. »Nein, sofort.« »Aber das ist doch sinnlos.« »Wirklich? Im Augenblick schläft sie, und sie hat noch keine Zeit gehabt, Anweisungen zu geben. Das wird sie aber tun, wenn sie aufwacht. Man wird uns bewachen, da bin ich ganz sicher. Die Boten, die sie nach Palzibil geschickt hat, sollten uns nicht fragen, ob wir kommen wollten, sondern sie sollten uns herbringen.« »Du siehst das alles viel zu ernst«, widersprach Simon. »Schließlich sprechen wir über Lundiga, dieselbe Lundiga, die uns auf der Insel gerettet hat und mit der wir seit Monaten beisammen sind. Vielleicht hat sie wirklich seltsame Vorstellungen über deine Rolle als ihr Gefährte, aber sie wird dich doch zu nichts zwingen.« »Wir sprechen auch über die künftige Braut Ipalnemohuanis; über eine Göttin. Du hast ja gehört, was sie gesagt hat: >Es ist gut, die Sprache der Menschen zu verstehen, die mich anbeten werden.< Sie lebt jetzt schon ganz in ihrer Rolle.« »Ja, für den Augenblick, weil das alles noch so neu und reizvoll für sie ist.« »Macht verdirbt den Menschen, und absolute Macht verdirbt ihn absolut. Ich glaube, was da einmal ein englischer Lord gesagt hat, ist nicht so falsch. Und absolutere Macht als eine Göttin kann man nicht haben. Jedenfalls will ich es nicht auf einen Versuch ankommen lassen.« 134
»Selbst wenn du recht haben solltest, können wir immer noch eine Möglichkeit finden, uns davonzumachen.« »Die Pyramide hinunterklettern, wie wir heraufgeklettert sind, meinst du? Dann würde ich lieber durch das Tor gehen, solange ich es noch kann.« Seine Argumente waren logisch, schienen Simon aber doch zu sehr von Gefühlen bestimmt zu sein. Während er noch über einen Widerspruch nachdachte, sagte Bos bedächtig: »Meinst du das ganz ernst? Wegen Lundiga willst du hier davonlaufen?« »Ja.« »Die Tasche mit meinen Weinstöcken habe ich in unserer Wohnung gelassen.« »Die können wir ja abholen und alles andere auch. Sie wird sicher bis zum Mittag schlafen. Die Probe ist ja erst am Nachmittag.« Nach kurzem Schweigen sagte Bos: »Es wird Zeit, daß sie gepflanzt werden. Hier sind der Boden und das Klima gut dafür.« Er schaute Brad fast flehend an. »Und ich glaube nicht, daß ihr mich wirklich noch braucht, nicht wahr, Bradus?« Simon beobachtete, daß Brad für einen Augenblick sehr unglücklich aussah, dann aber gleich lächelte. »Natürlich nicht. Ich brauche keinen von euch. Kipling hat einmal gesagt: >Wer allein reist, reist am schnellsten.