Fanny Kobiela Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme
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Fanny Kobiela Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme
VS RESEARCH Verkehrspsychologie Herausgegeben von Prof. Dr. Bernhard Schlag, TU Dresden
Verkehrspsychologie ist ein wachsendes Gebiet der Psychologie, das starke öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Empirische Forschung in der Verkehrspsychologie umfasst neben der Diagnostik und Rehabilitation auffälliger Kraftfahrer eine Reihe innovativer Gebiete, deren gemeinsamer Erkenntnisgegenstand das Mobilitätsverhalten und Mobilitätserleben der Menschen ist. Verkehrspsychologische Forschung wird oft in enger Kooperation mit Ingenieuren, Wirtschaftswissenschaftlern und Medizinern betrieben und hat dabei teilweise eigenständige theoretische und methodische Ansätze entwickelt. Die Bände dieser Reihe befassen sich u. a. mit dem Mobilitätsverhalten und der Verkehrsmittelwahl, Möglichkeiten der Verhaltensbeeinflussung für eine umweltgerechtere und sicherere Mobilität, psychologischen Aspekten der Verkehrsplanung und des Mobilitätsmanagements, Fragen der Unfallforschung und der Verbesserung der Verkehrssicherheit, der Fahrerassistenz sowie der Akzeptanz von und dem Umgang mit technischen und organisatorischen Innovationen. Die Reihe macht sowohl aktuelle Forschungen als auch Überblicksdarstellungen in diesen Bereichen zugänglich.
Fanny Kobiela
Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation an der Technischen Universität Dresden, 2010
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17841-7
Für meine Familie
Danksagung „Der Beginn ist der wichtigste Teil der Arbeit.“ (Platon) - Dass diese Arbeit auch zu einem erfolgreichen Ende finden konnte, haben zahlreiche Personen unterstützt. Ihnen gebührt mein aufrichtiger Dank. Prof. Bernhard Schlag, Inhaber der Professur für Verkehrspsychologie an der Technischen Universität Dresden, danke ich herzlich für die hochschulseitige Betreuung und Begutachtung dieser Arbeit. Seine genau richtige Mischung aus konstruktiven, vorausschauenden Hinweisen und Freiraum zur Entwicklung einer eigenständigen wissenschaftlichen Arbeit förderte stets ein zielführendes Arbeiten. Herrn Prof. Josef F. Krems, Inhaber der Professur Allgemeine und Arbeitspsychologie an der TU Chemnitz, danke ich für die Zweitbegutachtung der Arbeit. Dr. Arnd Engeln gilt mein großer Dank für sein Engagement in der Entstehungsphase dieser Aufgabe sowie die unternehmensinterne Betreuung der Arbeit. Ich lernte seine Weitsicht, seine offene Zusammenarbeit mit Anderen und seine ständige Ansprechbarkeit auch bei vollem Terminkalender besonders zu schätzen. Meiner Kollegin Stephanie Arndt danke ich herzlich für ihre Unterstützung bei der Akzeptabilitätsbefragung. Für ein hervorragendes Arbeitsklima, ein unkompliziertes Lösen vieler kleiner Herausforderungen und zahlreiche konstruktive Diskussionen danke ich allen beteiligten Kollegen der Robert Bosch GmbH. Durch die Kooperation mit dem ögP AKTIV wurde es möglich, die entwickelten Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung an einem unabhängigen Datensatz anzuwenden. Für die freundliche Kooperation und die zur Verfügung gestellten Datensätze danke ich Prof. Hermann Winner, Prof. Ralph Bruder, Dr. Norbert Fecher, Dr. Bettina Abendroth, Dr. Jens Hoffmann sowie Klaus Fuchs von der Technischen Universität Darmstadt. Die Datenerhebungen und Auswertungen wurden durch mehrere studentische Mitarbeiter, insbesondere Torsten Hänsel, Claudia Sauter, Jan Eynöthen sowie Lei Wang tatkräftig unterstützt - vielen Dank für die Mitarbeit. Ein ebenso anerkennender Dank gilt allen Probanden, ohne deren Teilnahme an den Studien die Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Mein besonders lieber Dank gilt Bernhard Kobiela, der diese Arbeit durch Ideen bei der Konstruktion des Hindernisses sowie zahlreiche fachübergreifende Diskussionen unterstützte. Auch für seinen Blick für die weiteren wichtigen Facetten unseres Lebens gilt ihm mein großer Dank. Mein abschließender aufrichtiger Dank gebührt meiner Familie und meinen Freunden für ihre Unterstützung des Promotionsvorhabens in jeder denkbaren Hinsicht. Fanny Kobiela
Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis
13
Tabellenverzeichnis
17
Nomenklatur
21
Abkürzungsverzeichnis
23
Kurzzusammenfassung
27
Abstract
29
1
Einleitung 1.1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 31 37
2
Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen 2.1 Intentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Definition und Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Intentionen beim Führen eines Kfz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Experimentelle Beeinflussung von Fahrerintentionen . . . . . . . . 2.1.4 Erfassung von Fahrerintentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Gefahrenkognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Fahrerreaktionen auf erkannte Kollisionsgefahren . . . . . . . . . . 2.2.3 Körperbewegung in kritischen Situationen . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Einflussfaktoren des Fahrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Warngestaltung und Reaktionen bei Kollisionswarnungen . . . . . 2.3.2 Reaktionen auf Fehlwarnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Vertrauen in Kollisionswarnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Von warnenden zu eingreifenden FAS . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Arbeitsteilung zwischen Menschen und autonom eingreifenden FAS 2.4.3 Eingriffe in die Fahrzeugquerführung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Eingriffe in die Fahrzeuglängsführung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.5 Kontrollierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Hypothetische Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen . . . .
39 39 39 42 46 48 50 50 54 61 62 66 66 74 77 79 79 79 80 82 87 88
10
3
Inhaltsverzeichnis
Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen 3.1 Fragestellungen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Methodik der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Versuchs- und Messapparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Versuchsstrecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Unabhängige Variable . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Versuchsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Versuchsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Messvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Methodik der Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Fallauswahl nach berichteten Intentionen . . . . . . . . . . . 3.3.2 Bestimmung von Einzelmerkmalen der Fahrerreaktion . . . . 3.3.3 Algorithmusentwicklung zur Intentionserkennung . . . . . . . 3.3.4 Analyse weiterer Einflüsse auf die Fahrerreaktionen . . . . . 3.3.5 Analyse der Befragungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Berichtete Intentionen in den Eingriffsbedingungen . . . . . . 3.4.2 Fahrerverhalten zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe . 3.4.3 Fahrerreaktionen in den Eingriffsbedingungen . . . . . . . . . 3.4.4 Erkennbarkeit der Fahrerintentionen . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5 Ergebnisse der Nachbefragung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Ergebnisdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91 . 91 . 94 . 94 . 98 . 99 . 102 . 103 . 103 . 107 . 108 . 109 . 110 . 112 . 119 . 119 . 120 . 120 . 122 . 123 . 130 . . 134 . 140
4
Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen 4.1 Kurzbeschreibung der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Fragestellungen und Hypothesen der Reanalyse . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Methodik der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Versuchs- und Messapparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Unabhängige Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Messvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Versuchsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Versuchsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Methodik der Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Fahrerverhalten zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe . . . 4.5.2 Fahrerreaktionen in den Eingriffsbedingungen . . . . . . . . . . . 4.5.3 Fahrerintentionserkennung bei den berechtigten Notbremseingriffen 4.6 Ergebnisdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme 5.1 Fragestellungen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147 147 148 150 150 151 152 153 153 154 155 157 157 158 167 169 173 173
Inhaltsverzeichnis
5.2
5.3 5.4
5.5 6
7
11
Methodik der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Versuchs- und Messapparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Unabhängige Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Messvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Versuchsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Versuchsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodik der Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Berichtete Intentionen in den Eingriffsbedingungen . . . . . . . . 5.4.2 Fahrerverhalten zu Beginn der Warnungen und Notbremseingriffe 5.4.3 Fahrerreaktionen in den Kontrollgruppen . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Fahrerreaktionen in den Experimentalgruppen . . . . . . . . . . . 5.4.5 Fahrerintentionserkennung in den Experimentalgruppen . . . . . 5.4.6 Ergebnisse der Nachbefragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176 176 177 179 179 179 180 180 183 183 185 187 189 198 203 207
Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen 6.1 Physiologische Korrelate der Fahrtätigkeit und Fahrerintention 6.2 Fragestellungen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Methodik der Datenaufzeichnung und Analyse . . . . . . . . 6.3.1 Datenaufzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Herzschlagfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Elektrodermale Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Muskelaktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.4 Rechter Sprunggelenkwinkel . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5 Beitrag zur Fahrerintentionserkennung . . . . . . . . . 6.5 Ergebnisdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . .
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213 213 223 224 224 228 231 231 232 234 242 244 247
Diskussion und Ausblick 7.1 Zusammenfassung der Problemstellung . . . . . . . . . . . . 7.2 Ergebnisdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . 7.2.2 Einordnung der Ergebnisse in den Stand der Forschung 7.2.3 Praktische Relevanz der Arbeit . . . . . . . . . . . . . 7.3 Möglichkeiten und Grenzen des Untersuchungsansatzes . . . . 7.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
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. . . . . . .
253 253 254 254 258 261 263 267
Literaturverzeichnis
269
Anhang
299
Abbildungsverzeichnis 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Ebenen der Fahrzeugführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modell der Gefahrenkognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bremsreaktionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Letztmöglicher Abstand für Brems- und Ausweichmanöver . . . Bremsreaktionen und Reaktionszeiten bei Warnungen . . . . . . Nichtintentionale Gaspedalbetätigungen bei Notbremseingriffen Annahmen zu Fahrerreaktionen bei Notbremseingriffen . . . . .
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 3.12 3.13 3.14 3.15 3.16 3.17 3.18
96 97 98 99 100 102 109 115 116 118 119 121 121 128 129 129 130
3.19 3.20 3.21 3.22
Messaufbau im Versuchsträger, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . Hindernisaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgerichtetes Hindernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versuchsparcours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unerwartete Eingriffsbedingungen mit Notbremseingriffen . . . . . . . . . Versuchsablauf, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriterien zur Fallauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermittlung von Fahrerreaktionen über die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . Vorhersage der Fahrerintention über die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Zustände und Übergänge bei der Fahrerintentionserkennung . . . . . . . . Ablauf der Fahrerintentionserkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlebte Fahrerintentionen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfundene Kontrollierbarkeit, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen am Gaspedal, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen am Bremspedal, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen am Lenkrad, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, Einzelvorhersage, Fahrversuch I Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, gemeinsame Vorhersage, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beanspruchung vor und nach der Versuchsfahrt, Fahrversuch I . . . . . . . Empfinden der autonomen Notbremseingriffe, Fahrversuch I . . . . . . . . Zustimmung zu Überstimmungskonzepten, Fahrversuch I . . . . . . . . . . Einstellung zum autonomen Notbremssystem, Fahrversuch I . . . . . . . .
4.1 4.2 4.3 4.4
Darmstädter Dummy-Target EVITA . . . . . . . Eingriffsbedingungen in der AKTIV-Studie . . . Fahrerreaktionen am Gaspedal, AKTIV-Studie . . Fahrerreaktionen am Bremspedal, AKTIV-Studie
151 152 160 161
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. . . .
44 51 58 73 77 86 88
133 135 135 137 139
14
4.5 4.6 4.7
Abbildungsverzeichnis
Fahrerreaktionen am Lenkrad, AKTIV-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, Einzelvorhersage, AKTIV-Studie 167 Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, gemeinsame Vorhersage, AKTIVStudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Streckeneinteilung in Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlebte Fahrerintentionen, Fahrversuch II, Experimentalgruppen . . . . . . Erlebte Fahrerintentionen, Fahrversuch II, Kontrollgruppen . . . . . . . . . Empfundene Kontrollierbarkeit, Fahrversuch II, Experimentalgruppen . . . Empfundene Kontrollierbarkeit, Fahrversuch II, Kontrollgruppen . . . . . . Vergleich der Kontroll- und Experimentalgruppen, Fahrversuch II . . . . . Fahrerreaktionen am Gaspedal, Fahrversuch II, Experimentalgruppen . . . Fahrerreaktionen am Bremspedal, Fahrversuch II, Experimentalgruppen . . Fahrerreaktionen am Lenkrad, Fahrversuch II, Experimentalgruppen . . . . Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, Einzelvorhersage, Fahrversuch II Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, gemeinsame Vorhersage, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12 Empfinden der autonomen Notbremseingriffe, Fahrversuch II . . . . . . . . 5.13 Zustimmung zu Überstimmungskonzepten, Fahrversuch I und II . . . . . . 5.14 Einstellung zu den Warn-/ Notbremssystemen, Fahrversuch II . . . . . . . . 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 6.12 6.13 6.14 6.15 6.16 6.17 6.18
Ableitorte der physiologischen Messungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anbringung des Goniometers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anstieg der Herzschlagfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückgang der HSF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Änderung der Frequenz spontaner SCR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktion Eingriffsbedingung und Reihenfolge auf Frequenz spontaner SCR SCR-Amplituden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktivität des linken Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . . . . . . Aktivität des linken Kniestreckers bei Bremspedalbetätigung . . . . . . . . Aktivität des rechten Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . . . . . . Aktivität des rechten Kniestreckers bei Bremspedalbetätigung . . . . . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers bei Bremspedalbetätigung . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers während und außerhalb von Umsetzbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Änderungen des rechten Sprunggelenkwinkels . . . . . . . . . . . . . . . . Sprunggelenkwinkeländerung und Pedalbetätigung . . . . . . . . . . . . . Fahrerintentionserkennung mit physiologischen Daten, Einzelvorhersage . . Fahrerintentionserkennung mit physiologischen Daten, gemeinsame Vorhersage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178 183 184 184 185 188 193 194 195 199 202 204 205 206 227 228 231 232 232 233 233 234 235 236 237 239 239 241 242 243 245 247
Abbildungsverzeichnis
15
Anhang im OnlinePLUS-Programm unter www.VS-Verlag.de und „Fanny Kobiela“ O.1 O.2
Weitere Fahrerreaktionen am Lenkrad, Fahrversuch II, Experimentalgruppen Weitere Fahrerreaktionen am Gaspedal, Fahrversuch II, Experimentalgruppen
363 364
Q.1 Q.2 Q.3 Q.4
Frequenzgehalt EMG-Rohsignal . . . . . . . . . Hochpassfilterung . . . . . . . . . . . . . . . . . Bandsperrfilterung . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich gemessenes und gefiltertes EMG-Signal
. . . .
369 370 371 371
S.1
Wahrscheinlichkeitswerte der physiologischen Daten zur Fahrerintentionserkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
378
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Tabellenverzeichnis 2.1 2.2 2.3
Einflussfaktoren auf die Bremsreaktionszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Einflussfaktoren auf die Bremsintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studien zu Kollisionswarnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55 56 68
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 3.12 3.13
Versuchsplan, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messvariablen vom CAN-Bus, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . Videoaufzeichnungen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichprobenbeschreibung, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blickabwendung zu Beginn der Notbremseingriffe, Fahrversuch I . . . . . Pedalbetätigung zu Beginn der Notbremseingriffe, Fahrversuch I . . . . . . Gas- und Bremspedalbetätigungen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen in den unerwarteten Eingriffsbedingungen, Fahrversuch I . Regressionsmodelle zur Fahrerintentionserkennung . . . . . . . . . . . . . Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte, Fahrversuch I . . . . . . . . . . Integrierte Vorhersagegenauigkeiten, gemeinsame Vorhersage, Fahrversuch I Paarvergleiche zu Varianten der Überstimmbarkeit, Fahrversuch I . . . . . Akzeptabilität des Notbremssystems, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . .
103 104 104 108 122 123 124 125 131 132 134 138 139
Messvariablen vom CAN-Bus, AKTIV-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . Versuchsplan, AKTIV-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichprobenbeschreibung, AKTIV-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blickabwendung zu Beginn der Notbremseingriffe, AKTIV-Studie . . . . . Pedalbetätigungen zu Beginn der Notbremseingriffe, AKTIV-Studie . . . . Gas- und Bremspedalbetätigungen, AKTIV-Studie . . . . . . . . . . . . . Vergleich berechtigter und unberechtigter Voll- bzw. Teilbremsungen . . . . Vergleich zwischen Teil- und Vollbremsungen bzw. Bremsungen in den Stand vs. mit Lösen bei der Fahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Bremsreaktionen bei realitätsnahen und -fernen Kollisionsobjekten . . . . . 4.10 Gaspedalbetätigung bei unberechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11 Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte, AKTIV-Studie . . . . . . . . . .
153 154 155 157 158 159 162
5.1 5.2 5.3 5.4
179 181 181 185
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8
Versuchsplan, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichprobenbeschreibung, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichprobengrößen nach Fallauswahl, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . Blickabwendung zu Beginn der untersuchten Bedingungen, Fahrversuch II
. . . .
164 165 166 168
18
5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11 5.12 5.13
Tabellenverzeichnis
Pedalbetätigungen zu Beginn der untersuchten Bedingungen, Fahrversuch II Kollisionsrelevante Fahrerreaktionen in den Kontroll- und Experimentalgruppen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen in den Kontroll- und Experimentalgruppen, Fahrversuch II Gas- und Bremspedalbetätigungen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . Einfluss von Eingriffsbedingung und Warnzeitpunkt, Fahrversuch II . . . . Vergleich der Fahrerreaktionen mit und ohne Warnung . . . . . . . . . . . Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte, Fahrversuch II . . . . . . . . . . Integrierte Vorhersagegenauigkeiten, gemeinsame Vorhersage, Fahrversuch II Akzeptabilität der Warn-/ Notbremssysteme, Fahrversuch II . . . . . . . . .
Physiologische Korrelate der Fahrtätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologische Korrelate von Intentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktivität des linken Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . . . . . . Aktivität des linken Kniestreckers bei Bremspedalbetätigung . . . . . . . . Aktivität des rechten Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . . . . . . Aktivität des rechten Kniestreckers bei Bremspedalbetätigung . . . . . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers bei Bremspedalbetätigung . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers während vs. außerhalb der Umsetzzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.10 Regressionsmodell zur Erkennung von Vollbremsintentionen mit physiologischen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.11 Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte ohne und mit physiologischen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9
Anhang im OnlinePLUS-Programm unter www.VS-Verlag.de und „Fanny Kobiela“ Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe; Teilstichprobe zur ErI.1 kennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe; Teilstichprobe I.2 zur Erkennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch I . . . . . . . Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe; Teilstichprobe zur ErI.3 kennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe; Teilstichprobe I.4 zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf Notbremseingriffe mit Instruktion: Bremsen, FahrverI.5 such I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf Notbremseingriffe mit Instruktion: Weiterfahren, FahrI.6 versuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J.1 J.2 J.3
Einfluss des Geschlechts auf die Fahrerreaktionen, Fahrversuch I . . . . . . Einfluss des Alters auf die Fahrerreaktionen, Fahrversuch I . . . . . . . . . Einfluss der Fahrerfahrung auf die Fahrerreaktionen, Fahrversuch I . . . . .
186 187 189 190 192 196 200 202 206 214 215 235 236 237 238 239 240 241 245 246
330 331 332 333 334 335 338 339 339
Tabellenverzeichnis
19
K.1
Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte: Beispiele für Fehlergewichtung .
342
L.1 L.2 L.3
Fahrerreaktionen auf berechtigte Vollbremseingriffe, AKTIV-Studie . . . . Fahrerreaktionen auf berechtigte Teilbremseingriffe, AKTIV-Studie . . . . Fahrerreaktionen auf unberechtigte Vollbremseingriffe in den Stand, AKTIVStudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf unberechtigte Vollbremseingriffe mit Lösen, AKTIVStudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf unberechtigte Teilbremseingriffe mit Lösen, AKTIVStudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
344 345
348
M.1 M.2 M.3
Einfluss des Geschlechts auf die Fahrerreaktionen, AKTIV-Studie . . . . . Einfluss des Alters auf die Fahrerreaktionen, AKTIV-Studie . . . . . . . . Einfluss der Fahrerfahrung auf die Fahrerreaktionen, AKTIV-Studie . . . .
349 350 351
N.1
Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe mit zeitgleicher Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe mit zeitgleicher Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe mit zeitgleicher Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch II Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe mit zeitgleicher Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe mit vorheriger Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch II Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe mit vorheriger Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe mit vorheriger Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch II . . Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe mit vorheriger Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
361
Einfluss des Geschlechts auf die Fahrerreaktionen, Fahrversuch II . . . . . Einfluss des Alters auf die Fahrerreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Fahrerfahrung auf die Fahrerreaktionen, Fahrversuch II . . . .
365 366 367
L.4 L.5
N.2
N.3 N.4
N.5 N.6
N.7 N.8
P.1 P.2 P.3
346 347
354
355 356
357 358
359 360
Nomenklatur a F f Fisher’s Z g max Med Mw n nand. FAS ngesamt Nagelkerkes R2 p QT r t Std ukorr v z zMw Z
Beschleunigung Testwert der F-Verteilung Frequenz nach Fisher’s Z transformierter Korrelationskoeffizient Gravitationsbeschleunigung (≈ 9.81 m/s2 ) Maximum Median arithmetischer Mittelwert Stichprobenumfang Anzahl an Vergleichsuntersuchungen zu anderen Fahrerassistenzsystemen Gesamtstichprobenumfang Anteil aufgeklärter Varianz in logistischen Regressionsanalysen berechnete Irrtumswahrscheinlichkeit Quartil Korrelationskoeffizient (nach Pearson bzw. Spearman) Testwert der t-Verteilung Standardabweichung Testwert des ukorr -Test Geschwindigkeit z-standardisierte Werte einer Verteilung z-standardisierte Werte einer Verteilung von Mittelwerten Testwert Z des Kolmogorov-Smirnov-Tests (unabhängige Stichproben) bzw. Wilcoxon-Tests (abhängige Stichproben)
α β β
Signifikanzniveau für Fehler 1. Art Signifikanzniveau für Fehler 2. Art Betagewichte, Regressionskoeffizienten für Prädiktorvariablen nach z-Standardisierung aller Variablen in Regressionsanalysen Differenz Testwert der χ 2 -Verteilung
Δ χ2
Abkürzungsverzeichnis
A/D abs. ABS ACC ADAS AG Ag/AgCl AGB AKTIV ANS ant. AV Änd. BAS BASt Betät. BMS BMWi Bremsbetät. CMS CAN CAPL CCD CMOS et al. EDA EEG EG EKG Eingriffsb(ed). EMG erw. ESP EVITA
Analog-Digital absolut (-e, -er, -es, -en) Anti-Blockier-System Adaptive Cruise Control Advanced Driver Assistance Systems Aktiengesellschaft Silber-Silberchlorid Aktive Gefahrenbremsung Adaptive und Kooperative Technologien für den Intelligenten Verkehr; öffentlich gefördertes Projekt 2006-2010 Autonomes Nervensystem anterior Abhängige Variable Änderung Bremsassistent Bundesanstalt für Straßenwesen Betätigung Beanspruchungsmessskalen Bundesminiterium für Wirtschaft und Technologie Bremspedalbetätigung Collision Mitigation brake System (Honda) Controller Area Network CAN Application Language Charge-Coupled Device Complementary Metal Oxide Semiconductor et alii, et aliae (und andere) Elektrodermale Aktivität Elektroenzephalogramm Experimentalgruppe Elektrokardiogramm Eingriffsbedingung Elektromyogramm erwartet (-e, -er, -es, -en) Elektronisches Stabilitätsprogramm Experimental Vehicle for Unexpected Target Approach
24
FAS FFT fMRI Frequenzant. FZD Fzg. Gaspedalbetät. Geschwind. ggü. GIDAS
HF HHDD hp-gefilt. HSF HUD IAD i. d. R. ISO ISO/DIS ISO/FDIS ISO/TR KG krit. KS-Stat. KUT KVS lat. LED lok. Losl. LR M. MACI max. Max. med. NHTSA n. s.
Abkürzungsverzeichnis
Fahrerassistenzsystem (e) Fast Fourier Transformation functional Magnetic Resonance Imaging Frequenzanteile Fachgebiet Fahrzeugtechnik an der Technischen Universität Darmstadt Fahrzeug (-e) Gaspedalbetätigung Geschwindigkeit gegenüber German In-Depth Accident Study; Gemeinschaftsprojekt der Bundesanstalt für Straßenwesen und der Forschungsvereinigung Automobiltechnik e.V. Hilfsfahrzeug High Head Down Display hochpassgefiltert (-e, -er, -es, -en) Herzschlagfrequenz Head Up Display Institut für Arbeitswissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt in der Regel International Organization for Standardization ISO Draft International Standard ISO Final Draft International Standard ISO Technical Report Kontrollgruppe kritisch (-e, -er, -es, -en) Kolmogorov-Smirnov-Statistik Kontrollüberzeugungen im Umgang mit Technik Kollisionsvermeidungssystem (-e) lateralis Light Emitting Diode lokal (-e, -er, -es, -en) Loslassen Likelihood Ratio Musculus Measurement And Control Interface; Mikrocontroller maximal (-e, -er, -es, -en) Maximum (-a) medialis National Highway Traffic Safety Administration, Washington, DC (US) nicht signifikant
Abkürzungsverzeichnis
ögP Perz. PF Pkw pos. PReVENT psych. Reihenf. reizgeb. SCL SCR SGW SMA spon. startwertber. StVO Tab. TpB TTC TU unerw. USB UV überst(im). VA VGA Vgl. vollst. vs. Wahrnehm. zit. ZNS
öffentlich gefördertes Projekt Perzentil Probandenfahrzeug Personenkraftwagen positiv (-e, -er, -es, -en) Preventive and Active Safety Applications, Integrated Project psychisch (-e, -er, -es, -en) Reihenfolge reizgebunden (-e, -er, -es, -en) Skin Conductance Level Skin Conductance Response Sprunggelenkwinkel Supplementär-Motorisches Areal spontan (-e, -er, -es, -en) startwertbereinigt (-e, -er, -es, -en) Straßenverkehrsordnung Tabelle Theory of planned Behaviour Time-To-Collision Technische Universität unerwartet (-e, -er, -es, -en) Universal Serial Bus Unabhängige Variable überstimmen Varianzanalyse Video Graphics Array Vergleich vollständig (-e, -er, -es, -en) versus Wahrnehmung zitiert Zentralnervensystem
25
Kurzzusammenfassung Zur Vermeidung oder Folgenminderung von Auffahrunfällen werden zunehmend Fahrerassistenzsysteme entwickelt, die Notbremsmanöver autonom einleiten und durchführen (autonome Notbremssysteme). Diese verzögern das Fahrzeug im Gegensatz zu komfortorientierten eingreifenden Fahrerassistenzsystemen deutlich intensiver. Die Notbremseingriffe werden zudem äußerst selten und in potenziell kritischen Verkehrssituationen ausgelöst. Bisherige Untersuchungen zu den Fahrerreaktionen während autonomer Notbremseingriffe zeigen, dass sich das Bedienverhalten an der Pedalerie aufgrund der plötzlichen, nicht durch den Fahrer verursachten Fahrzeugverzögerung deutlich gegenüber dem normalen Fahrbetrieb ändert. Aufgrund von Massenträgheit und Abstützreaktionen treten z. T. intensive und langdauernde Betätigungen des Gas- und Bremspedals auf, die der Fahrer nicht intendiert. Zahlreiche Autoren schlussfolgern, dass der Fahrer sein Bedienverhalten während autonomer Notbremsungen nicht ausreichend kontrollieren kann und daher keine Einflussmöglichkeit auf diesen Eingriff erhalten sollte. Die vorliegende Arbeit hinterfragt diese Systemauslegung, die dem Fahrer im Eingriffsfall die Kontrolle über die Fahrzeuglängsgeschwindigkeit entzieht. Es gilt zu prüfen, inwiefern sich der Fahrer während derartiger Eingriffe gemäß seiner Fahrerintention verhält. Durch gezielte Herstellung von Vollbrems- bzw. Überstimmungsintentionen soll auf der Teststrecke bestimmt werden, wie stark sich die Fahrerreaktionen bei Notbremseingriffen zwischen diesen Fahrerintentionen unterscheiden. Schwerpunktmäßig werden Fahrerreaktionen an der Pedalerie und am Lenkrad betrachtet. Daneben werden auch physiologische Messwerte erhoben, um intentionale und nichtintentionale Fahrerreaktionen charakterisieren zu können. Es werden Algorithmen zur frühzeitigen Erkennung von Vollbrems- und Überstimmungsintentionen anhand der Fahrerreaktionen entwickelt. Diese Algorithmen werden in zwei aufbauenden Analysen an unabhängigen Datensätzen mit anderen Eingriffsbedingungen bzw. mit kombinierten Warn-/ Notbremssystemen gegengeprüft. Es zeigt sich, dass beide Fahrerintentionen deutlich überzufällig richtig erkannt werden können. Bei Überstimmungsintentionen werden Erkennungsgenauigkeiten von 77-100% erreicht, bei Vollbremsintentionen 57-100%. Realitätsnahe Eingriffsbedingungen sowie Notbremseingriffe nach Vorwarnung des Fahrers führen zu besonders sicheren Erkennungen der Fahrerintention. Zusätzlich durchgeführte Befragungen erheben die subjektive Sicht der Fahrer auf autonome Notbremssysteme. Sie zeigen, dass leicht bedienbare Einflussmöglichkeiten auf autonome Notbremseingriffe erwartet werden. Ohne derartige Eingriffsmöglichkeiten wird das Fahrzeug im Eingriffsfall als unkontrollierbar erlebt.
Abstract Advanced Driver Assistance Systems (ADAS) engineered to autonomously induce and perform emergency braking manoeuvres (active hazard braking systems) are a focus in current automotive developments aimed at reducing the prevalence and severity of traffic accidents. Compared to comfort-related systems those ADAS signal a vehicle to intensely decelerate. Moreover, active hazard braking is only triggered in scarce and potentially critical driving situations. Up until now, studies on driver reactions to active hazard braking show that pedal actuations are significantly altered while undergoing sudden, externally triggered vehicle deceleration. Inertial effects and bracing contribute to intensely and prolonged faulty operation of the gas and brake pedals irrespective of the driver intent. Researchers typically reason that drivers are not able to sufficiently manage their pedal actuations during active hazard braking and consequently must not be allowed any opportunity to reclaim full control of the vehicle. This thesis intends to question the efficacy of this earlier approach which possibly leads to compromised vehicle control in the case of active hazard braking. It aims to analyse the extent to which a driver reacts according to their intentions during active hazard braking. Brake and overrule intentions are induced during active hazard braking in the test site studies. The focal point of the data analysis is to scrutinise to what degree driver reactions during active hazard braking differ according to the the driver intention. While the analyses mainly focus on the operations of the gas and brake pedals and steering wheel, additional physiological measures are recorded to further differentiate between intentional and unintentional behaviour. Algorithms are derived from driver reactions that detect the intention to brake/ to overrule as early and accurately as possible. These algorithms are supplementary tested by analysing data collected in two independent studies comprising of different driving situations or active hazard braking combined with driver warnings. Driver intentions are detected clearly above chance level. Intentions to overrule can be recognised 77 to 100 percent of the time, intentions to brake by 57 to 100 percent. Best detection rates are observed in realistic dynamic follow-brake situations and for active hazard braking that is combined with a preliminary driver warning. Subject surveys gauge the subjective view regarding active hazard braking. The results convey that drivers expect opportunities to overrule active hazard braking, which is accomplished through operation of the gas pedal. If overruling is entirely prevented, the impression of uncontrollability may result in the case of active hazard braking.
1 Einleitung Das Kapitel gibt eine Einführung in ausgewählte Aspekte der Mensch-Maschine-Interaktion und in autonom eingreifende Kollisionsvermeidungssysteme (KVS). Anschließend werden die Ziele der Arbeit zusammengefasst.
1.1 Problemstellung Aufgabenteilung zwischen Menschen und Fahrzeugssystemen Das erste Jahrhundert des motorisierten Straßenverkehrs ist dadurch gekennzeichnet, dass der menschliche Operateur jegliche Aufgaben der Navigation, Fahrzeugführung und der Kontrolle im Verkehrsgeschehen eigenverantwortlich zu übernehmen hat (Donges, 1999). Durch zahlreiche z. T. autonom eingreifende Fahrerassistenzsysteme (FAS)1 , die der Unterstützung des Fahrers bei der Fahraufgabe dienen, entsteht eine Teilung der Verantwortlichkeit zwischen dem Fahrer und technischen Systemen im Fahrzeug (ebenda; Schieben & Flemisch, 2008). FAS, die während kurzfristiger Zeiträume autonom Teilaufgaben des Fahrens übernehmen, rücken in greifbare Nähe (Bender, 2008). Donges (1999) unterscheidet sechs Kategorien von FAS, die sich durch eine zunehmende Automatisierung2 und damit eine zunehmende Verschiebung der Verantwortlichkeit auf das FAS auszeichnen. FAS können rein informierenden Charakter besitzen und dem Fahrer die Aufgabe der Verhaltensauswahl vollständig belassen. Sie können eine warnende Form annehmen, womit dem Fahrer eine klare Präferenz über das nächste auszuführende Verhalten mitgeteilt wird. Sie können den Fahrer weiterhin aktiv bei der Fahraufgabe unterstützen (z. B. durch die Einleitung oder Verstärkung/Abschwächung der auszuführenden Handlung) oder bis hin zu selbstständig eingreifenden Systemen reichen, die dem Fahrer u. U. keine Wahl mehr bezüglich des auszuführenden Fahrmanövers lassen (Sheridan, 1988; van der Laan, Heino & de Waard, 1997; Vollrath, Briest, Drewes, Schießl & Becker, 2006; Briest & Vollrath, 2006; Buld et al., 2002; Kassner, 2007; vgl. auch Dingus, Jahns, Horowitz & Knipling, 1997; Vlassenroot et al., 2007). Zur Vermeidung und Folgenminderung von Unfällen rücken zunehmend aktiv eingreifende FAS in den Fokus der Entwicklung, da die passive Sicherheit im Fahrzeug einen mittlerweile sehr hohen Stand erreicht hat (Hoffmann & Winner, 2008a; vgl. Langwieder, 2001). 1
Unter Fahrerassistenzsystemen (FAS) werden Systeme im Fahrzeug verstanden, die dem Fahrer Aufgaben der Informationswahrnehmung bzw. der Informationsverarbeitung abnehmen (Engeln & Wittig, 2005). 2 Hauß und Timpe (2000) definieren Automatisierung als einen Prozess bzw. dessen Resultat, in dem ursprünglich vom Menschen ausgeführte Aufgaben an eine Maschine übergeben werden (s. auch Parsons, 1985; Hacker, 1998). Ein Unterstützungssystem ist zwischen manuellen und automatisierten Mensch-Maschine-Systemen einzuordnen, indem es bestimmte für die Zielerreichung notwendige Teilaufgaben innerhalb der Gesamtaufgabe übernimmt und/oder ausführt.
F. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
32
1 Einleitung
Automatisierung in Mensch-Maschine-Systemen birgt mehrere Gefahren, die z. B. als „Ironien der Automatisierung“ bekannt sind (Bainbridge, 1983). Dazu zählen Schwierigkeiten bei der Erfüllung von Überwachungsaufgaben während systemseitig verursachter Monotonie sowie ein zunehmender Verlust von Fertigkeiten, deren regelmäßiger Gebrauch durch die Automatisierung eingeschränkt wird. Diese Fertigkeiten können in Notfällen, z. B. Systemausfällen, nicht mehr ausreichend einsetzbar sein (vgl. Johannsen, 1990). Diese Folgen gelten insbesondere für dauerhaft autonom agierende Systeme. Derzeit ist der Einsatz sicherheitsorientierter FAS auf Einsatzgebiete beschränkt, in denen kritische Verkehrssituationen vorliegen, d. h. selten vorkommende und kurzfristig anhaltende Ereignisse. Es muss hinreichend sichergestellt sein, dass durch diese FAS keine negative Entwicklung des Verkehrsgeschehens verursacht wird (Weiße, 2003). Anforderungen an die Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen Mensch-Maschine-Systeme sind Systeme, in die der Mensch handelnd oder überwachend eingebunden ist. Ihre Schnittstellenkomponenten sind an den Menschen und dessen psychophysiologische Kapazitäten zur Aufnahme, Verarbeitung und Umsetzung von Informationen anzupassen (Rühmann & Schmidtke, 1990). Die Entwicklung steht oft der Herausforderung gegenüber, dass technische Systeme an Benutzer mit sehr weit gestreuten Erfahrungen und Fähigkeiten angepasst sein müssen. Eine exakte Beschreibung der Benutzerfähigkeiten ist aufgrund dieser Streuung praktisch unmöglich (Beier, 2004). Mensch-MaschineSchnittstellen erfordern Lösungen, die ohne hohen Lernaufwand von einem breiten Nutzerkreis bedienbar sind (ebenda). Dies bedeutet zum Beispiel, dass bei der Bedienung kognitive Transformationen und Behaltensanforderungen gering zu halten sind (vgl. Hacker, 1998; Timpe, 1990). Ebenso ist die Kundenakzeptanz eine wichtige Größe für den Erfolg eines technischen Produkts (Schick, Büttner, Baltruschat, Meier & Jakob, 2007; Beier, 2004). Wenn eine Interaktion des Menschen mit technischen Systemen im fahrenden Fahrzeug erfolgt, wird die Mensch-Maschine-Interaktion sicherheitsrelevant (Weller & Schlag, 2006). FAS, die der Kollisionsvermeidung dienen, müssen dem Fahrer intuitiv verständlich vorschlagen, wie eine solche verhindert werden kann (Tijerina, Johnston, Palmer, Pham & Winterbottom, 2000). Warnungen sollten z. B. zeitnahe angemessene Reaktionen des Fahrers fördern ohne den Fahrer zu verärgern oder die Akzeptanz zu beeinträchtigen (Hoffman, Lee & Hayes, 2003). Bei eingreifenden KVS ist eine hohe Systemzuverlässigkeit für eine angemessene Fahrerunterstützung und Akzeptanz der FAS notwendig (vgl. Maltz & Shinar, 2007). Zwei Anforderungen an die Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen stehen in besonderer Verbindung zu dieser Arbeit: die Intuitivität von Mensch-Maschine-Systemen (z. B. Vollrath et al., 2006; Bender, 2008) sowie deren Kontrollierbarkeit. Mensch-Maschine-Systeme sind dann intuitiv gestaltet, wenn die vom Menschen erwarteten Folgen einer Handlung in der Interaktion mit dem System mit den tatsächlich eingetretenen Handlungsergebnissen übereinstimmen (Kompatibilität; Timpe, 1990). Dies wird z. B. über durchgängige räumliche Anordnungen, einheitliche Codes in der Anzeige und Bedienung sowie durch Nutzung angeborener oder stark gelernter Verknüpfungen zwischen Reizen und Reaktionen erreicht (ebenda). Eine durchgängige und intuitive Gestaltung fördert die Ausbildung eines angepassten mentalen Modells vom System (s. Timpe, 1990;
1.1 Problemstellung
33
Kluwe, 1990; Buld et al., 2002), welches die Basis für die Interaktion mit dem System darstellt. Verzögertes oder widersprüchliches Feedback mindert die Intuitivität. Wird der Fahrer nicht zur richtigen Handlung geführt, droht ein Kontrollverlust (Peters & Nilsson, 2007). Eine besondere Bedeutung kommt der Intuitivität zu, wenn es in der Interaktion zu neuen, mehrdeutigen oder seltenen Situationen kommt. Dann greifen Menschen auf generalisierte Werte und Erwartungen zurück (Beier, 2004), die sich je nach Vorerfahrung des Einzelnen erheblich unterscheiden können. Dies ist in Hinblick auf die Gestaltung von selten eingreifenden KVS zu berücksichtigen, da wenig bzw. keine Lernmöglichkeiten anzunehmen sind und kritische Situationen schnelle und richtige Reaktionen auch von Ungeübten erfordern (vgl. Parasuraman, Hancock & Olofinboba, 1997). Es ist zu erwarten, dass nicht alle Fahrer in diesen Situationen wissen, wie zu reagieren ist. Die Kontrollierbarkeit wird am Ende dieses Abschnitts betrachtet. Auffahrunfälle und Kollisionsvermeidungssysteme 2008 werden in Deutschland knapp 321 000 Unfälle mit Personenschäden registriert (Statistisches Bundesamt, 2009). 4 117 davon führen zu Todesfällen, wobei knapp 4 500 Menschen ihr Leben verlieren. Der häufigste Unfalltyp mit Personenschäden ist 2008 der „Unfall im Längsverkehr“ (ca. 23%), bei den Unfällen mit Getöteten stellt er den zweithäufigsten Unfalltyp dar (21%). Briest und Vollrath (z. B. Briest & Vollrath, 2006; Vollrath et al., 2006; Vollrath & Briest, 2008) schlussfolgern aus Tiefenanalysen von 4 258 ausführlichen Unfallprotokollen, dass der Kreuzungsbereich, Auffahrunfälle sowie Fahrunfälle, z. B. das Abkommen von der Fahrbahn, die drei wesentlichen Unfallschwerpunkte in Deutschland darstellen. Bezogen auf die Anzahl der Verkehrsteilnehmer passieren Auffahrunfälle in der Dunkelheit etwa drei mal so häufig wie bei Tageslicht (Sullivan & Flannagan, 2003; Bäumler, 2007; vgl. Schlag, Petermann, Weller & Schulze, 2009); aufgrund der deutlich höheren Verkehrsteilnahme bei Tag passieren die meisten Auffahrunfälle jedoch bei guten Sichtbedingungen (Sullivan & Flannagan, 2003; Kiefer et al., 1999). Verkehrsunfälle sind in der Regel durch mehrere Faktoren bedingt. Als fahrerseitige Unfallursachen bei Auffahrunfällen bzw. Frontalkollisionen werden überhöhte Geschwindigkeit (Vollrath et al., 2006; Schmitz, 2004), zu kurze Zeitabstände zum vorausfahrenden Fahrzeug (Vollrath et al., 2006; NHTSA, 1999, zit. nach Maltz & Shinar, 2007), Unaufmerksamkeit (Kopf, Farid & Steinle, 2004; Gish & Mercadante, 2001; Schmitz, 2004; NHTSA, 1999, zit. nach Maltz & Shinar, 2007), Fehleinschätzung, zu späte Reaktion und/oder zu zaghaftes Bremsen (Breuer & Gleissner, 2006) sowie bewusst eingegangene Risiken (Vollrath et al., 2006) genannt. Hinsichtlich des Vermeidungsverhaltens des Fahrers gibt es verschiedene Angaben. Laut dem Volpe Center (1998, zit. nach Tijerina et al., 2000) unternehmen Fahrer vor Auffahrunfällen oft gar keine Handlung zur Unfallvermeidung (s. auch Langwieder, 2001; Fuhrmann, 2006). Wenn der Fahrer reagiert, dann wird zumeist gebremst, dann gebremst und gelenkt, an seltensten wird nur gelenkt. Breitling et al. (2005) zitieren hingegen Analysen der GIDAS-Unfalldaten, nach denen in zwei Drittel der Fälle vor Auffahrunfällen noch gebremst wird. Sehr viele Unfälle können in ihrer Schwere reduziert oder ganz vermieden werden, wenn Fahrzeuge früher oder schneller verzögert werden (Weiße, 2003). Zu diesem Zweck werden
34
1 Einleitung
FAS entwickelt, die die Fahrumgebung erkennen und in Gefahrensituationen entsprechende Maßnahmen einleiten. Sie bergen nach Schulz, Fröming und Schindler (2007) ein sehr hohes Potenzial zur Unfallvermeidung und -folgenminderung (s. auch Dingus, Jahns et al., 1997). Briest und Vollrath (Briest & Vollrath, 2006; Vollrath et al., 2006) leiten aus den oben erwähnten Unfallanalysen ab, dass 25.7%3 aller Verkehrsunfälle durch ein FAS verhindert werden können, welches den Fahrer bei einer angepassten Abstandshaltung und Geschwindigkeitswahl unterstützt und bei plötzlichen kritischen Ereignissen zu eigenständigen Bremsungen in der Lage ist. Für autonom bremsende FAS sind höhere Wirkungen zu erwarten als für rein warnende Systeme (Vollrath et al., 2006; Gründl, 2005). Ein wesentliches Erschwernis in der Entwicklung kollisionsmindernder oder -vermeidender FAS ist die Möglichkeit von Fehlalarmen. Fehlerhafte oder uneindeutige Detektionen werden mehrfach berichtet (z. B. Buld et al., 2002; NHTSA, 2005; Maltz & Shinar, 2007; Häring, Wilhelm & Branz, 2008, 2009; Nitz & Zahn, 2008). Es ist damit zu rechnen, dass kollisionsvermeidende FAS häufiger fehlerhaft als richtig reagieren (Fecher & Abendroth, 2008). Neben der fehlerhaften Erkennung von nicht kollisionsrelevanten Objekten (Lüke, Strauss & Komar, 2007; NHTSA, 2005) können Ursachen auch in einer nicht exakt möglichen Vorhersage zukünftiger Fahrzeugpositionen (Batavia, 1999; Häring et al., 2008; Nitz & Zahn, 2008) oder in Konflikten mit der Intention des Fahrers liegen (Nitz & Zahn, 2008; vgl. Harms & Törnros, 2004). Wilhelm (2006) legt dar, dass in Abhängigkeit von der aktuellen Relativgeschwindigkeit Kollisionswarnungen z. T. zu Zeitpunkten erfolgen müssen, zu denen ein aufmerksamer Fahrer i. d. R. noch keine Bremsung eingeleitet hat - ein als „Warndilemma“ bekanntes Problem (vgl. Häring et al., 2008; 2009). Eine ähnliche Situation ergibt sich für Brems- und Ausweichmanöver: eine unfallvermeidende Bremsung muss in vielen Fällen zu einem Zeitpunkt einsetzen, zu dem noch nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Fahrer ein Ausweichmanöver durchführen wird (Häring et al., 2008; Nitz & Zahn, 2008; s. Abschnitt 2.3.1). Eine Erhöhung des Wirkgrads von KVS durch frühzeitige Warnungen bzw. Eingriffe (z. B. Lee, McGehee, Brown & Reyes, 2002; Gründl, 2005) begünstigt so das Auftreten von Fehl- bzw. unerwünschten Auslösungen (Gründl, 2005; Häring et al., 2008). Simulationen zu autonomen Notbremssystemen zeigen eine erhöhte Unfallhäufigkeit zwischen einem zur autonomen Notbremsung fähigen Fahrzeug und dem nachfolgenden, nicht ausgestatteten Verkehr (Schmitt, Breu, Maurer & Färber, 2007). Lüke et al. (2007) empfehlen eine Begrenzung der Eingriffsstärke autonomer Notbremssysteme zur Folgenminderung von Fehlauslösungen. Die ersten Serienausführungen nutzen in der höchsten Eskalationsstufe etwa die Hälfte der technisch umsetzbaren autonomen Fahrzeugverzögerung (Fecher & Abendroth, 2008; Nitz & Zahn, 2008). Für diese Systeme ist die Frage zu stellen, ob Vollbremsintentionen während der Notbremsungen zuverlässig erkannt und der Fahrer durch zusätzliche Bremskraft unterstützt werden kann, um das Unfallvermeidungspotenzial weiter zu erhöhen. Beim Fahrer führen unangemessene Warnungen und Eingriffe zu zwei nachteiligen Effekten: Zum einen die Reduktion der Akzeptanz bis zum Widerstreben oder Abschalten (Lerner, Dekker, Steinberg & Huey, 1996; Donmez, Boyle, Lee & McGehee, 2006; Fecher 3
Das Dezimaltrennzeichen wird in dieser Arbeit durchgehend als Punkt dargestellt.
1.1 Problemstellung
35
& Abendroth, 2008), zum zweiten kann die Wirkung der KVS im berechtigten Warn- bzw. Eingriffsfall dadurch minimiert werden, dass der Fahrer langsamer oder weniger zuverlässig reagiert (Lerner, Dekker et al., 1996). Um Einbußen der Akzeptanz und Nutzung aufgrund von Fehlalarmen zu mindern, wird die Einbeziehung von Informationen über die genaue, auch prädizierte, Fahrzeugumgebung sowie über den Fahrer empfohlen (z. B. Kopf, 2005; Blaschke, Schmitt & Färber, 2007; Bender, 2008; Häring et al., 2008; Malaterre, 2004). Für Frontalkollisionsvermeidungssysteme sind z. B. Spurwechsel- und Ausweichmöglichkeiten relevant (Kiefer, LeBlanc & Flannagan, 2005; Lüke et al., 2007). Häring et al. (2008) empfehlen, bei der Prädiktion der Fahrzeugumgebung Informationen über mehrere Objekte zu berücksichtigen. Relevante Informationen über den Fahrer sind vor allem der Fahrerzustand, z. B. Fahreraufmerksamkeit oder Müdigkeit, sowie die Fahrerintention, z. B. eine Spurwechsel-, Überhol- oder Ausweichintention (Kopf, 2005; Schmitt & Färber, 2005; Inagaki, 2007; Blaschke, Schmitt & Färber, 2008). Kontrollierbarkeit und Überstimmbarkeit Bei der Kontrollierbarkeit stellt sich die Frage nach der genauen Aufgabenteilung zwischen Mensch und Maschine (s. o.). Für diese Arbeit sind insbesondere Eingriffsmöglichkeiten des Fahrers bei autonom agierenden sicherheitsrelevanten FAS von Bedeutung. Es gibt verschiedene Ansichten, inwiefern einem menschlichen Operateur Eingriffsmöglichkeiten bei autonomen Systemen belassen werden sollen. Einerseits besteht eine wichtige Rolle des Fahrers darin, die vollständige Verantwortung über die Sicherheit der Fahrzeugführung wahrzunehmen (Donges, 1999; Langwieder, 2001). Eine häufig zitierte Grundlage zur Notwendigkeit von Überstimmbarkeit im Straßenverkehr stellt das Wiener „Übereinkommen über den Straßenverkehr“ dar (Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1968). Dieses sieht in der deutschen Übersetzung vor (S. 15): „Jeder Fahrzeugführer muss unter allen Umständen sein Fahrzeug beherrschen, um den Sorgfaltspflichten genügen zu können und um ständig in der Lage zu sein, alle ihm obliegenden Fahrbewegungen auszuführen.“ Daraus ergibt sich die Anforderung an autonom eingreifende FAS, dass der Fahrer eine Überstimmungsmöglichkeit behält, wenn das FAS nicht seinem Willen entsprechend reagiert (Bender, 2008). Kontrollierbarkeit erfordert einen Zugang zu allen sicherheitsrelevanten Informationen sowie die Möglichkeit, eine notwendige Vermeidungshandlung auch ausführen zu können (vgl. Fuller, 2007). Inagaki (2007) beschreibt es als philosophisch und praktisch erstrebenswert, dem Menschen die letztliche Autorität über eine Automation zu geben. Auch Parasuraman und Riley (1997) betonen, dass sich ein technisches System nur in Ausnahmefällen gegenüber dem Menschen durchsetzen können sollte. Ein am 15.03. 2007 im Rahmen des öffentlich geförderten Projekts AKTIV (AKTIV-AS, 2006) durchgeführter Workshop mit der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) kommt zu dem Schluss, dass kurzfristige Systemeingriffe in Notsituationen zur Abwehr bzw. Milderung von Schaden für Leib und Leben nicht in Widerspruch zu den Bestimmungen des Wiener Abkommens stehen (z. B. Schwarz, 2007). Die Wirksamkeit von nationalen Gesetzen sowie dem Produkthaftungsgesetz sind dadurch nicht berührt. Wünscht der Fahrer einen autonomen Fahrzeugeingriff nicht, hat aber auch
36
1 Einleitung
keine Eingriffsmöglichkeiten, können sich daraus juristische Probleme der Haftung ergeben (Vollrath et al., 2006; Weiße, 2003). FAS, die Handlungen nicht überstimmbar durchführen, obwohl der Fahrer noch reagieren kann, werfen laut Vollrath et al. (2006) schwerwiegende Rechtsprobleme auf. Den Autoren zufolge ist teilautonomes Fahren noch nicht ausreichend im nationalen und internationalen Straßenverkehrsrecht berücksichtigt. So fasst auch Haller (2001, S. 36) eine Maxime zusammen, die aus juristischer Sicht unangetastet bleiben müsse: „Der Fahrer bleibt in der Verantwortung und es ist seine Pflicht, Herr der Situation zu sein.“ Die rechtlichen Konsequenzen für überstimmbare eingreifende FAS zur Kollisionsvermeidung sind hingegen vergleichbar mit denen für warnende und aktiv unterstützende FAS (Vollrath et al., 2006). Haller (2001) sowie Vollrath et al. (2006) fordern für eingreifende FAS Überstimmbarkeit. Die Beherrschbarkeit durch den Fahrer, die Controllability, stellt auch nach dem RESPONSE Code of Practice die wichtigste und grundlegendste Anforderung an FAS dar (PReVENT, 2006; Lindberg, Schaller & Gradenegger, 2007). Anderseits stellt sich die Frage, inwiefern Operateure in der Lage dazu sind, Eingriffsmöglichkeiten wahrzunehmen. Basierend auf Bainbridge (1983) schlussfolgern de Waard und van der Hulst (1999), dass Eingriffe in automatische Systeme ungewöhnliche Handlungen erfordern können, für die dem Fahrer zuvor gegebenenfalls ausreichende Lerngelegenheiten fehlen. Autonome Notbremsungen sollten aufgrund der Zeitkritikalität und der fehlenden Lernerfahrung nur sinnvoll über die Betätigung des Gaspedals überstimmt werden können (Färber & Maurer, 2005). Dabei sehen die Autoren jedoch eine deutliche Einschränkung zielgerichteter intentionaler Handlungen und empfehlen, keine Überstimmbarkeit umzusetzen (vgl. Bender & Landau, 2006; Bender et al., 2007; Dingus, Jahns et al., 1997; s. Abschnitt 2.4.4). Kann der Fahrer einen autonomen Notbremseingriff nur per Schalter überstimmen, muss damit gerechnet werden, dass diese Handlung in der Regel ausbleibt (vgl. Buld et al., 2002). Bender (2008) fasst zusammen, dass detaillierte Untersuchungen zur Gestaltung von Überstimmungsmöglichkeiten notwendig sind. Dadurch wird ein Beitrag dazu geleistet, dass autonom eingreifende FAS kein neues Risiko im Straßenverkehr darstellen. Verschiedene Untersuchungen zu eingreifenden überstimmbaren bzw. nicht überstimmbaren FAS kommen zu dem Schluss, dass Einflussmöglichkeiten durch die Mehrzahl befragter Fahrer gewünscht oder gar erwartet werden (Fecher & Abendroth, 2008; Adell & Várhelyi; 2008; Fancher, Baraket, Johnson & Sayer, 1995; Rook & Hogema, 2005; vgl. Hoedemaeker & Brookhuis, 1998; Nilsson, Alm & Jansson, 1991). Freiwillig ein- und abschaltbare Systeme frustrieren den Fahrer weniger als Systeme, die nicht freiwillig ausgelegt sind (Comte, 2000; vgl. Várhelyi & Mäkinen, 2001). Bender (2008) gibt als wichtigste Bedenken gegenüber autonomen Notbremssystemen unter anderem Entmündigung und Kontrollverlust, eine schwierige Anpassbarkeit an Extremsituationen sowie TechnikSkepsis an. Die Frage, inwiefern autonome Notbremssysteme überstimmbar gestaltet sein sollten, ist eng verknüpft mit der Frühe der Systemeingriffe und damit dem Potenzial, Unfallfolgen zu mindern bzw. Unfälle zu vermeiden (s. o.). Die Entwicklung beschränkt sich bisher hauptsächlich auf unfallfolgenmindernde FAS (s. Hallen, 1990; Weiße, 2003; Färber & Maurer, 2005; Takagi, Nishi & Yasuda, 2000; vgl. Nitz & Zahn, 2008). Bender et al. (2007) empfehlen fahrzeugseitige Notbremseingriffe ebenfalls erst für den fahrdynamisch letztmöglichen
1.2 Ziel der Arbeit
37
Zeitpunkt, zu dem auch Ausweichmanöver objektiv unmöglich sind (Bender, 2008) - eine Auslegung, die in vielen Fällen keine Unfallvermeidung mehr ermöglicht. In diesen Fällen ist davon auszugehen, dass der Fahrer die Situation objektiv nicht mehr bewältigen kann und dass ein unfallfolgenmindernder Notbremseingriff dem Willen des Fahrers entspricht. Nur für diese Fälle werden nicht überstimmbare Systemgestaltungen als rechtlich zulässig angesehen (Vollrath et al., 2006; vgl. Bender, 2008; Gründl, 2005). Da es ein Ziel der zukünftigen Entwicklung autonomer Notbremssysteme ist, das Unfallvermeidungspotenzial weiter auszuschöpfen (Häring et al., 2008) oder Unfälle gänzlich zu verhindern („Collision Avoidance System“; Vollrath et al., 2006; AKTIV-AS, 2006; Nitz & Zahn, 2008), muss die Frage, ob Überstimmbarkeit gewährleistet werden kann, für diese FAS neu gestellt werden.
1.2 Ziel der Arbeit Folgende zentrale Zielstellung wird dieser Arbeit vorangestellt: Die Untersuchung der Fahrerreaktionen während autonomer Notbremseingriffe bei Vollbrems- und Überstimmungsintention des Fahrers sowie die Überprüfung, wie zuverlässig und frühzeitig Überstimmungs- und Vollbremsintentionen anhand der Fahrerreaktionen erkannt werden können. In einer ersten Studie (Fahrversuch I) sind dazu die Fahrerreaktionen während autonomer Notbremseingriffe an der Pedalerie und am Lenkrad zu messen. Vollbrems- bzw. Überstimmungsintentionen sind bei den Fahrern gezielt auszulösen. Anschließend soll ermittelt werden, wann diese Intentionen mit welcher Klassifikationsgüte an den Fahrerreaktionen erkannt werden können. Die Analyse der Fahrerreaktionen während autonomer Notbremsungen ist durch eine Betrachtung mehrerer physiologischer Kennwerte zu vertiefen. Dazu sind Muskelaktivitäten an den Unterschenkeln sowie die Streckung/ Beugung des rechten Sprunggelenks zu erfassen, welche eng mit der Reaktion an der Pedalerie verknüpft sind. Es ist zu überprüfen, ob diese physiologischen Kennwerte einen Mehrwert zur korrekten und frühzeitigen Fahrerintentionserkennung beitragen können. Die entwickelten Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung sind durch Analyse der Fahrerreaktionen in unabhängigen Stichproben gegenzuprüfen. Dabei werden keine physiologischen Messwerte herangezogen, da diese bislang nicht über die im Fahrzeug verbaute Sensorik erfasst werden können. Zum einen wird eine Reanalyse eines extern erhobenen Datensatzes durchgeführt. In dieser Studie werden Notbremseingriffe in einer realitätsnahen dynamischen Folge-BremsSituation ausgelöst. Es wird geprüft, inwiefern die Fahrerintentionserkennung auch bei dieser extern valideren Eingriffsbedingung zu richtigen Entscheidungen führt. Zum zweiten wird eine Replikationsstudie des Fahrversuchs I durchgeführt (Fahrversuch II), bei dem die autonomen Notbremseingriffe mit Kollisionswarnungen kombiniert werden. Es ist zu prüfen, inwiefern die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung auch für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme ihre Gültigkeit behalten.
38
1 Einleitung
Die Arbeit grenzt sich von anderen Untersuchungen ab, die auf die Erkennung von Fahrerintentionen vor Beginn eines möglichen autonomen Notbremseingriffs abzielen (z. B. Farid, Kopf, Bubb & Essaili, 2006; Kretschmer, König, Neubeck & Wiedemann, 2006; Schroven & Giebel, 2008).
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen Das Kapitel betrachtet Intentionen sowie Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen mit und ohne Unterstützung durch warnende und eingreifende FAS. Anschließend werden Annahmen zu den Fahrerreaktionen bei Notbremseingriffen für Vollbrems- und Überstimmungsintentionen zusammengefasst.
2.1 Intentionen Nach einer Erläuterung von Intentionen wird der Begriff der Fahrerintention für diese Arbeit bestimmt. Es werden Methoden zur experimentellen Beeinflussung von Fahrerintentionen sowie ihrer Messung vorgestellt.
2.1.1 Definition und Merkmale Zum Begriff der Intention Intentionen sind das „Gerichtetsein auf ein Objekt, ein Ziel“ (Häcker & Stapf, 1998, S. 407). Sie werden auch als Instruktion beschrieben, die Menschen sich bezüglich eines zukünftigen Verhaltens stellen (Triandis, 1980), als Indikatoren dessen, wie viel Anstrengung Menschen bereit sind, in ein Verhalten zu investieren (Ajzen, 1991) oder als wesentliches Merkmal der Bereitschaft zu einer Handlung (Sheeran, 2002). Einige Definitionen von Intentionen, z. B. die der Selbstinstruktion, verweisen darauf, dass Intentionen beim Menschen mit Bewusstsein verbunden sind. Damit Intentionen gebildet werden können, benötigen Menschen das dazu notwendige Wissen, entsprechende Fähigkeiten und Möglichkeiten, ausreichende Ressourcen für das Verhalten sowie Kontrolle über das auszuführende Verhalten (Sheeran, 2002). Ein wesentliches Schlüsselmerkmal intendierter Handlungen ist ihre Ausrichtung auf ein schon im Vorhinein spezifiziertes Ziel (Muthig, 1990; Waszak et al., 2005). Ziele dienen einerseits der Ausrichtung einer Handlung, anderseits der Bewertung des Handlungserfolges und der Anpassung der Handlung bei abweichenden Ergebnissen (Prinz, 1997a). Sie beeinflussen die Ausrichtung der Aufmerksamkeit und gehen mit einer bevorzugten Aktivierung von passenden Handlungsplänen einher (s. Groeger, 2000). Ein Handlungsplan wird dabei auf höchstem Verarbeitungsniveau spezifiziert und in der weiteren Verarbeitung in einzelne Komponenten motorischer Aktivität zerlegt. Ein Ziel bleibt ebenso wie der Handlungsplan bis zur Zielerreichung aktiviert (ebenda). Kunde (2004) unterscheidet bei Zielen zwischen ihrer Implementierung und Umsetzung: Während die Implementierung, d. h. die Bildung eines Ziels, stets mit Bewusstsein verbunden ist, gilt dies nicht zwangläufig für die Umsetzung des Ziels, d. h. die intendierte Handlung.
F. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Neben ihrer Zielgerichtetheit und der notwendigen Bewusstheit zumindest bei der Zielbildung zeichnen sich Intentionen durch weitere Merkmale aus. Nicht automatisierte (s. u.) Intentionen sind vorzugsweise in verbalem Format abgespeichert (Goschke, 2000). Sie weisen eine sehr hohe Flexibilität auf, d. h. sie ermöglichen Verbindungen zwischen nahezu allen Reizen und verfügbaren Reaktionen (ebenda). Bei intentionalen Handlungen werden die Konsequenzen zeitlich näher nach der Handlung erfolgend wahrgenommen als bei fremdbestimmten Handlungen (Obhi & Haggard, 2005). Wird die Intention zur Reaktion auf einen gegebenen Reiz geändert, benötigt die neu gebildete Intention Zeit, bevor sie die Handlungsauswahl schnell und zuverlässig beeinflussen kann (Goschke, 2000; vgl. Yehene, Mairan & Soroker, 2005; Mecklinger, von Cramon, Springer & Matthes-von Cramon, 1999, zit. nach Goschke, 2000). In seinem Kommentar zu Prinz (1997a) beschreibt Stins, dass die Handlungsauswahl aus wahrnehmungsökologischer Perspektive in vielen Situationen auf hoch erlernten natürlichen, physikalischen Gesetzen basiert, wodurch sie wenig Verarbeitungskapazität benötigt. Als Beispiel nennt er die Anpassung einer Bremsreaktion auf Basis der Time-To-Collision (TTC; s. Abschnitt 2.2.1), die allerdings nur dann ausgeführt wird, wenn eine Bremsintention besteht. Stins zufolge verursachen Intentionen kein Verhalten (vgl. Wegner & Wheatley, 1999; Goschke, 2004), sie begrenzen vielmehr die Vielfalt möglicher Handlungen in einer Situation sowie die Ausrichtung der Aufmerksamkeit. Wegner und Wheatley (1999) beschreiben Intentionen ähnlich als bewusstes Erleben, welches keine Handlungen verursacht, sondern durch unbewusste Vorgänge der Handlungsplanung parallel zur Handlung entsteht. Im Rahmen der Theory of Planned Behavior (TpB, Ajzen, 1991) werden Intentionen zur Vorhersage zukünftigen Verhaltens herangezogen. Sie entstehen dem Modell zufolge aus einer positiven Einstellung gegenüber der Handlung, wahrgenommener Verhaltenskontrolle und als positiv wahrgenommenen Einstellungen wichtiger anderer Personen (Ajzen, 2002; Elliot, Armitage & Baughan, 2003; vgl. Arndt, 2010). Im Vergleich zu den anderen Variablen der TpB können Intentionen in vielen Untersuchungen das Verhalten am besten vorhersagen (Sheeran, 2002; Ajzen & Fishbein, 2005). Das heißt, ein Verhalten, zu dessen Ausführung ausreichende Kontrolle besteht, wird umso wahrscheinlicher, je stärker die Verhaltensintention ausgeprägt ist (Ajzen, 1991; Fuller, 2007; Ajzen & Fishbein, 2005). Wege der Handlungssteuerung und Handlungsauswahl Eine klassische Einteilung der Handlungssteuerung ist die Unterscheidung in kontrolliertintentional sowie automatisiert gesteuerte Handlungen (Posner & Snyder, 1975; vgl. Shiffrin & Schneider, 1977). Intentional gesteuerte laufen diesen Unterteilungen zufolge seriell, bewusstseinsfähig und in Abhängigkeit von der Intention des Handelnden ab, sind in ihrer Kapazität beschränkt und benötigen Anstrengung. Automatische werden hingegen beschrieben als wenig kontrolliert, unbewusst, schnell verfügbar, nicht an Intentionen gebunden, parallel sowie wenig Kapazität und Anstrengung benötigend (Hommel, 2000; Sheeran, 2002; Zeigler, Graham & Hackley, 2001; Gish & Mercadante, 2001). Diese beiden Arten der Handlungssteuerung werden häufig nicht als scharf getrennte Kategorien, sondern als Extrema mit kontinuierlichem Übergang oder mit Zwischenstufen angesehen (Schwartz,
2.1 Intentionen
41
1995; Deetjen, Speckmann & Hescheler, 2005; vgl. Schneider & Detweiler, 1988). Je häufiger eine Handlung bei gegebenen Reizen ausgeführt wird, desto stärker automatisiert sie sich (Elliot et al., 2003; vgl. 2.1.2), es kommt zur Ausbildung von Gewohnheiten. Diese werden besonders leicht durch die passenden situativen Hinweisreize ausgelöst. Bewusste Intentionen spielen in stabilen Kontexten eine zunehmend untergeordnete Rolle zur Verhaltensvorhersage (Triandis, 1980; Ouellette & Wood, 1998; Elliot et al., 2003; Beier, 2004; Sheeran, 2002; Ajzen & Fishbein, 2005). Intentionen fungieren nicht als direkte Auslöser einer Handlung, sondern als begrenzende Randbedingungen, welche die Wahrscheinlichkeit ändern, dass Reaktionen durch entsprechende Reize mehr oder weniger automatisiert aktiviert werden. Automatische Prozesse werden im Sinne der Intention konfiguriert (Goschke, 2000; Hommel, 2000). Eine ähnliche Einteilung von Wegen der Handlungsauswahl stammt von Prinz, Waszak und Kollegen. Sie unterscheiden eine hauptsächlich endogene, intentionsbasierte von einer vor allem auf externen Reizen beruhenden Handlungsauswahl (Waszak et al., 2005; vgl. Müller, Brass, Waszak & Prinz, 2006). Unterschiede zwischen diesen beiden Modi zeigen sich zum Beispiel hinsichtlich der zentralnervösen Aktivierung sowie dem Zeitpunkt der Handlung bei der Aufgabe, diese zeitlich genau zwischen zwei in regelmäßigen Zeitabständen aufeinanderfolgenden Reizen auszuführen (Waszak et al. 2005; Müller et al., 2006). Diese Einteilung menschlicher Handlungen ist jedoch für viele Alltagssituationen nicht streng anwendbar. Alltägliche Handlungen beinhalten oft beide Modi der Handlungsauswahl in verschiedenem Ausmaß (Waszak et al., 2005). Ebenfalls ist festzuhalten, dass stimulusbasierte Handlungen nicht zwangsläufig nichtintentional erfolgen. Intentionen bestimmen wie oben dargelegt die Rahmenbedingungen für die Auswahl reizbasierter Handlungen und sind damit für diese Reaktionen ebenfalls notwendig (vgl. Ouellette & Wood, 1998). Wahrnehmung von Intention Seit der Veröffentlichung von Libet, Gleason, Wright und Pearl (1983) beschäftigen sich mehrere Forschergruppen mit der Frage der Wahrnehmung eigener Intentionen im Laufe intentionaler Handlungen. Obhi und Haggard (2005) zufolge setzt die erste Wahrnehmung einer Intention ein, wenn ein allgemeines Bereitschaftspotenzial schon für 300 bis 500 ms im Elektroenzephalogramm (EEG) messbar ist. Dieses beginnt in ihren Untersuchungen ungefähr 1 000 ms vor Beginn der Handlung. Wegner und Wheatley (1999) fassen drei notwendige Bedingungen für das Erleben willentlicher Verursachung einer Handlung zusammen: die Konsistenz zwischen Intention und Handlung, die zeitliche Verknüpfung zwischen der Wahrnehmung einer Intention und der Handlung sowie die Abwesenheit anderer offensichtlicher Handlungsursachen. Das Kriterium der Konsistenz erklären Obhi und Haggard (2005) damit, dass die Bestandteile des internen Vorwärtsmodells einer geplanten Handlung mit den Zwischenergebnissen der Handlung übereinstimmen. Ein Beispiel dafür berichtet Bender (2008). Werden Probanden in einer kritischen Verkehrssituation durch ein autonomes Lenksystem unterstützt, geben zahlreiche Probanden an, die Kontrolle über die Ausweichbewegung zumindest teilweise selbst zu haben. Passt also die Reaktion eines eingreifenden Sicherheitssystems zur aktuellen Verkehrssituation, kann dieser Eingriff im
42
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Nachhinein durch den Fahrer als intentional und selbstverursacht wahrgenommen werden. Das zweite Kriterium betrifft den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung einer Intention und der Handlung: Werden Personen deutlich vor oder erst nach einer Handlung zu dieser aufgefordert, wird sie nicht als intentional wahrgenommen (Obhi & Haggard, 2005). Wegner und Wheatley (1999) sowie Obhi und Haggard (2005) gehen davon aus, dass das Gefühl der eigenen willentlichen Verursachung erst nach erfolgter Handlung auf Basis der drei oben genannten Bedingungen konstruiert wird. Die tatsächliche Ursache einer Handlung liegt hingegen in nicht bewusst zugänglichen Prozessen im Zentralnervensystem (ZNS). Nichtsdestotrotz kann auch vor Beginn einer Handlung der Eindruck entstehen, eine zukünftige Handlung durch eigenen Willen verursachen zu werden (Obhi & Haggard, 2005).
2.1.2 Intentionen beim Führen eines Kfz Zum Begriff der Fahrerintention Kopf (2005) zählt Fahrerintentionen neben Aufmerksamkeit, Beanspruchung, Anstrengung, Emotionen und anderen zu den kurzfristig veränderlichen Einflussfaktoren des Fahrers auf das Fahrerverhalten. Sie beinhalten Kopf zufolge die intendierte Route, Fahrzeit sowie die in unmittelbarer Zukunft geplante Fahrmanöverfolge. Vor allem die in unmittelbarer Zukunft geplanten Fahrmanöver werden von mehreren Autoren in den Mittelpunkt der Begriffsbestimmung von Fahrerintentionen gerückt (z. B. Liu & Pentland, 1998; Schroven & Giebel, 2008; Blaschke et al., 2007), da sie für eingreifende sicherheitsrelevante FAS von primärer Bedeutung sind. Auch die zeitlich unmittelbare Geschwindigkeits- und Richtungswahl darf als Teil von Fahrerintentionen angesehen werden (vgl. Ma & Kaber, 2005). Fahrerintentionen beeinflussen das Verkehrsverhalten wesentlich und damit auch verkehrssicheres Verhalten (s. Kopf, 2005; Vlassenroot et al., 2007). Sie können bei bekanntem Straßenverlauf schon früh vorliegen, noch bevor die entsprechende Verkehrssituation, z. B. eine Abbiegestelle, erreicht wird (Donges, 1999), aber auch sehr kurzfristig innerhalb von Sekunden gebildet oder geändert werden (Kopf, 2005; Inagaki, 2007). Fahrerintentionen sind eng mit den Motivationen und Einstellungen des Fahrers verknüpft (Schlag, 1994b; Vlassenroot et al., 2007). In vielen Situationen stellt das Fahren und die Wahl von Fahrmanövern in unmittelbarer Zukunft ein hoch erlerntes und überwiegend automatisiertes Verhalten dar (Buld et al., 2002). Für eingreifende FAS spielt die notwendige Bewusstheit vor Ausführung eines Fahrmanövers eine untergeordnete Rolle. Wegner und Wheatley (1999) zufolge ist es in zeitkritischen Situationen möglich, dass eine Handlung erst im Nachhinein als intentional empfunden wird (vgl. Abschnitt 2.1.1). Daher werden in dieser Arbeit auch jene Fahrmanöver als intentional betrachtet, die aufgrund stark gelernter Prozesse und/oder geringen zeitlichen Ressourcen nicht durch vorherige bewusste Zielplanung gekennzeichnet sind. Relevant ist jedoch für das dieser Arbeit zugrunde gelegte Begriffsverständnis, dass eine Handlung posthoc als intentional empfunden wird. Dadurch werden auch stark gelernte Handlungen bei
2.1 Intentionen
43
der Erfassung von Fahrerintentionen berücksichtigt, welche eine ebenso hohe Relevanz für eingreifende FAS haben wie bewusst vorausgeplante. Vielen FAS fehlt das Wissen über die zukünftige Fahrzeugbewegung, die der Fahrer bewirken wird (Schroven & Giebel, 2008). Mehrere Arbeiten zielen darauf ab, Fahrerintentionen aus dem Verhalten an der Pedalerie und dem Lenkrad (z. B. Liu & Pentland, 1998; Blaschke et al., 2007, 2008; Schroven & Giebel, 2008; Takagi et al., 2000; Yamaguchi, Nitta, Takagi & Hashimoto, 2000) oder aus dem Blickverhalten (z. B. Krems, Henning & Petzoldt, 2009; Lethaus & Rataj, 2006) abzuleiten, damit FAS entsprechend angepasst werden können. Eine hundertprozentig richtige Fahrerintentionserkennung gelingt dabei oft nicht, jedoch werden häufig deutlich überzufällig richtige Erkennungen erzielt. Fahrerintentionserkennung kann so dazu beitragen, eine vorliegende Verkehrssituation vollständiger zu erfassen. Ebenen der Fahrzeugführung Rasmussen (1983) teilt zielorientiertes Verhalten in drei Kategorien ein (s. Kluwe, 1990; Johannsen, 1990; Donges, 1999; vgl. Abbildung 2.1 links): • Fertigkeitsbasiertes Verhalten: Hoch erlernte und automatisierte Reiz-Reaktions-Verknüpfungen, die unmittelbar auf die auslösenden Reize hin ablaufen, wenig Verarbeitungskapazität und Aufmerksamkeit beanspruchen und keine Bewusstheit erfordern. Reaktionen dieser Ebene sind schwer bis gar nicht verbalisierbar. • Regelbasiertes Verhalten: Verhalten entsprechend bekannten Verhaltensmustern, welche explizit im Gedächtnis vorliegen und verbalisiert werden können. Die situativen Bedingungen sind dem Handelnden vertraut. Es wird die nach den subjektiven Erfahrungen effektivste Verhaltensregel ausgewählt und ausgeführt. Die Verhaltensregeln können durch Training und Instruktionen erworben werden. • Wissensbasiertes Verhalten: Ungeübte Verhaltensweisen, welche eine vorherige Analyse der Situation und mehrerer Handlungsalternativen hinsichtlich ihrer Passung zum Ziel erfordern. Die Situation wird mit internen Konzepten abgeglichen. Für diese Analyse ist das verfügbare Wissen zu nutzen oder neues Wissen anzueignen. Bekannte Regeln sind zur Bewältigung nicht vorhanden. Diese Ebene stellt die höchsten Anforderungen an die Informationsverarbeitung, wird durch die vorhandenen kognitiven Kapazitäten begrenzt und geht stets mit Bewusstsein einher. Der Grad der Bewusstheit der Informationsverarbeitung steigt von der fertigkeitsbasierten hin zur wissensbasierten Ebene. Ist eine gegebene Situation nicht durch fertigkeitsbasiertes Verhalten lösbar, wird die Information zunehmend bewusst und auf einer höheren Ebene verarbeitet (vgl. Muthig, 1990). Zunehmende Erfahrung mit einer gegebenen Situation ermöglicht eine Verarbeitung auf tieferer Ebene. Die Fähigkeiten des Menschen zur Situationsbewältigung sind durch diese verschiedenen Verarbeitungsmodi und mögliche Wechsel zwischen den Ebenen hoch flexibel (Peters & Nilsson, 2007; Muthig, 1990).
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Fahrzweck
Wissensbasiertes Verhalten Identifizieren
Entscheiden
Planen
Regelbasiertes Verhalten Erkennen
Assoziieren
Regeln
Fertigkeitsbasiertes Verhalten Merkmalsformation
Sensorischer Input
Sensumotorische Muster
Signale Handlungen
Fahrer
Umwelt
Navigationsebene
Verkehrsnetz
Gewählte Route, Fahrzeit Manöverebene Solltrajektorie und -geschwindigkeit Stabilisierungsebene
Wahrnehmb. Fahrsituation
Fahrzeug
Längs- und Querdynamik
Fahrbahnoberfläche
Tatsächliche Trajektorie und Geschwindigkeit Bereich sicherer Fahrzeugbewegungen Alternative Routen
Rasmussen (1983)
Donges (1982)
Abbildung 2.1: Hierarchisches Modell der Fahrzeugführung (Abbildung aus Donges, 1999)
Das Modell der Handlungsregulation nach Rasmussen wird mehrfach auf die Fahrtätigkeit übertragen (Bernotat, 1970; Donges, 1982; vgl. Schlag, 1994b). Dabei werden die Ebenen (1) Stabilisierung, (2) Manöver und (3) Navigation unterschieden. Sie sind in Abbildung 2.1 dargestellt und den Ebenen nach Rasmussen zugeordnet (nach Donges, 1999). Während die Navigation die bewusste übergreifende Ziel-, Transportmittel- und Wegplanung umfasst und auch Kosten- und Nutzenaspekte des Fahrens beinhaltet (Schlag, 1994b), findet der dynamische Fahrprozess auf der Stabilisierungs- und Manöverebene statt (Donges, 1999; Braess & Donges, 2006). Die Manöverebene beinhaltet die vorausschauende Wahrnehmung der Verkehrssituation (Braess & Donges, 2006), die antizipatorische Fahrzeugsteuerung und Anpassung aufgrund der aktuellen Fahrsituation (Schlag, 1994b) sowie die gewählten Fahrmanöver, Soll-Geschwindigkeiten und Soll-Abstände (Braess & Donges, 2006; Vollrath et al., 2006). Beispiele stellen die Aufgaben Überholen, Vorfahrt beachten oder die Beachtung von Verkehrsregeln dar (Peters & Nilsson, 2007). Das Handeln ist auf dieser Ebene durch einen Abgleich zwischen den Zielen des Fahrers und den aktuellen Möglichkeiten geprägt (Schlag, 1994b). Die Manöverebene beinhaltet hauptsächlich fertigkeits- sowie regelbasiertes Verhalten entsprechend dem Modell nach Rasmussen (vgl. Abb. 2.1). Auf der Stabilisierungsebene schließlich findet das unmittelbare Fahrzeughandling hinsichtlich Längs- und Querführung im Sinne einer Kompensation von Regelabweichungen zwischen Soll- und Istgrößen statt (Schlag, 1994b; Braess & Donges, 2006; Buld et al., 2002; Kopf, 2005), welches z. B. Lenk- und Geschwindigkeitskorrekturen beinhaltet. Vorgaben für die Stabilisierungsebene entstehen unter anderem aus der aktuellen Fahrsituation und dem aktuellen Fahrmanöver (Vollrath et al., 2006). Die Stabilisierung läuft bei geübten Fahrern weitgehend automatisiert ab und ist damit dem fertigkeitsbasiertem Verhalten nach Rasmussen zuzuordnen (Schlag, 1994b; Braess & Donges, 2006). Eine vollständige
2.1 Intentionen
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Automatisierung des Fahrerverhaltens, die dazu führen würde, dass es nicht mehr an die aktuelle Fahrsituation angepasst werden kann, findet jedoch nicht statt (Groeger, 2000). Die Ebenen Navigation, Manöver und Stabilisierung unterscheiden sich in ihrem Zeithorizont (Bielaczek, 1998). Aufgaben auf der Navigationsebene nehmen zumeist mehr als 10 s in Anspruch (Braess & Donges, 2006, geben sogar eine Dauer im Minutenbereich an), die Manöverebene beinhaltet überwiegend Aufgaben im Bereich zwischen 1 und 10 s (Peters & Nilsson, 2007). Aufgaben, die in weniger als einer Sekunde vollzogen werden, sind Peters und Nilsson zufolge vor allem dem Stabilisierungsniveau zuzuordnen. Zeitkritische Gefahrensituationen werden vor allem durch verfügbare Reaktionen auf der Stabilisierungsebene beantwortet, mitunter werden auch Handlungen der Manöverebene ausgeführt (Braess & Donges, 2006). Ist eine Verarbeitung auf der wissensbasierten Ebene nach Rasmussen vonnöten, kann es in zeitkritischen Verkehrssituationen zu Unfällen kommen, da der verfügbare Zeithorizont keine Zeit zum Abwägen von Alternativen lässt (Donges, 1999). Fahrerintentionen werden Kopf (2005) zufolge vor allem den Ebenen Manöver und Navigation zugeordnet, Haller (2001) siedelt sie sogar überhalb der Manöverebene an. Da wie oben dargelegt unmittelbar folgende Fahrerhandlungen bzw. -reaktionen zur Auslegung autonom eingreifender FAS von hoher Bedeutung sind, werden alle Reaktionen der Manöverund Stabilisierungsebene in den hier genutzten Begriff von Fahrerintentionen eingeschlossen, die im Nachhinein bewusst als intentional empfunden werden (vgl. die Begriffsbestimmung oben). Ebene der Fahrzeugführung in kritischen Verkehrssituationen Das unerwartete Entstehen einer kritischen Situation führt in vielen Fällen dazu, dass eine subbewusst ablaufende Informationsverarbeitung bewusst wird und auf der regel- oder wissensbasierten Ebene nach Rasmussen stattfindet (Johannsen, 1990; Donges, 1999). Ist eine Gefahrensituation bisher unbekannt und liegen keine Lösungen im Gedächtnis vor, ist eine Informationsverarbeitung auf der wissensbasierten Ebene vonnöten (Johannsen, 1990). Diese benötigt eine vergleichsweise lange Verarbeitungszeit (s. o.). Derartige Verkehrssituationen liegen für den Fahrer außerhalb des bisher erlernten Verhaltensrepertoires. Beispiele sind das Erreichen der Kraftschlussgrenze, ein Schleudern des Fahrzeugs, Reifenschaden (Bielaczek, 1998; Förster, 1992) oder ein Bremsversagen (Curry, Southhall, Jamson, Smith & Horn-Andrews, 2003). Aufgrund der hohen Zeitkritikalität und der Überbelastung mit Informationen fällt die Informationsverarbeitung häufig auf die unteren Ebenen zurück, d. h. der Fahrer reagiert stereotyp und kann sein Verhalten nicht ausreichend an die Situation anpassen (vgl. de Keyser, 1986). Bei erfahrenen Fahrern kann in kritischen Verkehrsituationen, die Notbremsungen erfordern, jedoch davon ausgegangen werden, dass ihre Reaktionen hoch geübt sind. So zeigen Roberts, Chapman und Underwood (2004) anhand einer zweiwöchigen Tagebuchstudie mit 98 Berufskraftfahrern, dass in dieser Zeit im Durchschnitt 1.8 Beinahe-Unfälle berichtet werden. Die Anzahl an Beinahe-Unfällen korreliert signifikant zu r = 0.27 mit den in den letzten drei Jahren erlebten Unfällen. Da deutlich mehr passive als selbst verursachte Beinahe-Unfälle berichtet werden, ist zu vermuten, dass selbst erzeugte kritische Verkehrs-
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
situationen häufig nicht als kritisch empfunden werden, aber trotzdem zur Lernerfahrung beitragen. Zusammengefasst kann das Kriterium der notwendigen Bewusstheit vor der Zielbildung in dieser Arbeit nicht zur Definition von Fahrerintentionen herangezogen werden. Hoch erlernte, automatisch ausgelöste Fahrerreaktionen sind ebenso wie im Vorhinein bewusst geplantes Verhalten für autonome Notbremssysteme relevant, wenn es gilt, die Intention des Fahrers zu erkennen. In dieser Arbeit werden alle Fahrerintentionen betrachtet, welche vom Fahrer im Nachhinein als solche erlebt werden. Zu diesem Zeitpunkt kann er die Übereinstimmung zwischen seiner Intention und der Aktion eines eingreifenden FAS beurteilen.
2.1.3 Experimentelle Beeinflussung von Fahrerintentionen In diesem Abschnitt werden vier Möglichkeiten vorgestellt, Fahrerintentionen, wie sie in Abschnitt 2.1.2 eingegrenzt sind, experimentell im Rahmen von Fahrversuchen zu beeinflussen: (1) Herstellung einer entsprechenden Fahrsituation, (2) Übung des Fahrerverhaltens, (3) Aufforderung durch Instruktion sowie (4) Incentivierung. (1) Gestaltung der Fahrsituation Die Fahrsituation stellt nach Reichart (2001, zit. nach Weller & Schlag, 2006) den durch den Fahrer potenziell wahrnehmbaren Ausschnitt des objektiv gegebenen aktuellen Verkehrsumfeldes dar. Sie verändert sich zeitlich und bei Bewegung räumlich. Abhängig von der aktuellen Fahrsituation ergeben sich definierte Fahraufgaben auf der Manöver- und damit auch der Stabilisierungsebene (vgl. Weller & Schlag, 2006). Die wahrgenommene Fahrsituation wirkt sich auf das Fahrerverhalten wie Gas-, Bremspedalbetätigung und Lenkung sowie den gewählten Abstand aus (vgl. Schlag, 1994a; Schmidt, 2007). Annäherungs- und Vermeidungsverhalten folgt der Wahrnehmung einer Situation oftmals nahezu automatisch (vgl. Sheeran, 2002). Es kann somit im Fahrzeug durch eine klar interpretierbare Fahrsituation provoziert werden. Das mit der Situation verknüpfte Wissen sowie die verbundenen Handlungsschemata werden aktiviert und ausgeführt (Kluwe, 1990). Donges (1999) schlussfolgert, dass relevante Aspekte der Fahrsituation und das Wissen über sie in den meisten Fällen übereinstimmen. Dadurch wird das Fahrerverhalten bei bekannter Fahrsituation und korrekter Wahrnehmung durch den Fahrer zumindest teilweise vorhersagbar. Vollbremsintentionen werden am eindeutigsten in einer Fahrsituation provoziert, in der eine unmittelbare Kollisionsgefahr mit einem anderen Objekt droht, ohne dass Ausweichmöglichkeiten existieren (für eine genauere Diskussion s. Abschnitt 3.2.3). Fahrsituationen zur Auslösung von Überstimmungsintentionen eines autonom eingreifenden FAS sollten einen fehlerhaften FAS-Eingriff beinhalten. Zusätzliche Motivatoren zur Auslösung einer Überstimmungsintention sind zum Beispiel ein drohender Unfall, wenn der Fahrzeugeingriff nicht überstimmt wird, oder eine Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer. So besteht ein Teil der Fahraufgabe darin, so zu fahren, dass andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet oder behindert werden (StVO §1(2); Förster, 1992; Weller & Schlag, 2006). Es ist davon auszugehen, dass Fahrer versuchen, einen Notbremseingriff zu überstimmen, der ein Verkehrsrisiko oder eine Verkehrsbehinderung verursacht. Ein drohender Unfall bei unter-
2.1 Intentionen
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bleibender Überstimmung kann mit den verfügbaren Mitteln nicht ausreichend sicher dargestellt werden. Daher wird in dieser Arbeit eine Behinderung eines zweiten Fahrzeuges durch fehlerhafte Notbremseingriffe erzeugt. Behinderung Anderer ohne einen ersichtlichen Grund führt zu sehr unangenehmen Gefühlen beim Fahrer (Fuse, Matsunaga, Shidoji & Matsuki, 2004; Adell & Várhelyi, 2008). Die Fahrer sind dann sehr stark motiviert, geschwindigkeitsbegrenzende Systeme zu überstimmen (Vlassenroot et al., 2007; vgl. Várhelyi & Mäkinen, 2001). Es wird erwartet, dass durch eine derartige Fahrsituation der emotionale Druck erhöht wird, einen fehlerhaften Notbremseingriff bewusst zu überstimmen. (2) Übung Ungewohnte kritische Fahrsituationen können insbesondere in unbekannten Fahrzeugen zu einer Überlastung des Fahrers führen. Diese kann Panik und damit unangemessene Fahrerreaktionen auslösen (vgl. Jamson & Smith, 2003) oder dazu führen, dass der Fahrer bremst oder nicht reagiert, bis die Rate wahrgenommener Informationen seiner Verarbeitungsgeschwindigkeit entspricht (Newcomb, 1981). Für die Untersuchung von Fahrerintentionen in kritischen Fahrsituationen kann eine Überlastung des Probanden nachteilig sein, wenn die zu untersuchende Intention nicht gebildet wird. Insbesondere für die Provokation von Überstimmungsintentionen ist dies zu berücksichtigen, da die leichter verfügbare Bremsreaktion in einer kritischen Fahrsituation (Förster, 1992) überwunden werden muss. Soll eine Fahrsituation mit nicht automatisch verfügbarer Fahrerhandlung untersucht werden, ist es notwendig, diese zuvor zu üben. Dadurch etabliert sich gewohnheitsmäßiges Verhalten in dieser Fahrsituation (s. Fuller, 2007). Durch Übung wird - zumindest ansatzweise - routiniertes Fahrerverhalten gefördert und die Wahrscheinlichkeit einer Fahrerüberlastung in einer kritischen Fahrsituation gesenkt. Für den Realverkehr ist anzunehmen, dass das Fahrerverhalten überwiegend routiniert (vgl. Abschnitt 2.1.2) und das Fahrzeug dem Fahrzeugführer bekannt ist. Daher machen sich die Fahrer in Fahrversuchen vor dem Erleben der zu untersuchenden Fahrsituation mit der Strecke und dem Fahrzeug vertraut. (3) Instruktion Eine einfache und oftmals genutzte Methode zur Erzeugung einer zu untersuchenden Intention ist die Instruktion (z. B. Goschke, 2000; Waszak et al., 2005; Prinz, 1997a; Wegner & Wheatley, 1999; Hommel, 2000). Hommel (2000) zufolge existieren neben instruierten Reiz-Reaktions-Verknüpfungen noch weitere Einflüsse auf Reaktionen, die auf einen Reiz folgen, z. B. Übung und automatische Handlungstendenzen. Hart verdrahte Reiz-ReaktionsVerknüpfungen können Hommel zufolge oftmals nicht willentlich kontrolliert werden. Es ist darauf zu achten, dass interessierende Fahrerreaktionen trotz Instruktion nicht durch derartige Einflüsse erschwert werden (vgl. Groeger, 2000). Für die vorliegende Problemstellung ist eine Erzeugung von Fahrerintentionen mittels Instruktion nur bedingt anwendbar. Sie erfordert eine vorherige Aufklärung über das Auftreten autonomer Notbremseingriffe, welche aus Gründen der externen Validität nicht umgesetzt werden soll. Eine Instruktion zur Fahrerintention wird ausschließlich im späteren Versuchsverlauf für Vergleichszwecke vorgenommen.
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
(4) Incentivierung Selten auftretende kritische Verkehrssituationen stellen die Untersuchung menschlichen Verhaltens vor folgende Herausforderung: Die Erzeugung realer hochkritischer Situationen ist einerseits ethisch keinesfalls vertretbar, anderseits zeigen Menschen in gestellten kritischen Situationen häufig nicht das Verhalten, welches für den „Ernstfall“ valide ist. Lerner, Dekker et al. (1996) schlagen zur Untersuchung vor, über Belohnungs- oder Bestrafungsansätze die Probanden in die Motivation zu versetzen, ihre Leistung zu steigern und sich z. B. verstärkt gegenüber anderen Menschen durchzusetzen. Die o. g. Herausforderung stellt sich zum Beispiel bei der Evakuierung in Notfällen. Die Evakuierungszeit ist nur dann realistisch messbar, wenn entsprechendes Panikverhalten provoziert wird. Muir, Bottomley und Marrison (1996) nutzen bei der Untersuchung der Evakuierung von Flugzeuginsassen eine erfolgsabhängige Incentivierung. In jeder Evakuierung erhalten diejenigen 50% aller Probanden, die das Flugzeug zuerst verlassen, zusätzliches Probandengeld (vgl. Lerner, Dekker et al., 1996; Bliss, Gilson & Deaton, 1995). Die Anreizmotivation ist bei einer 50%igen Erfolgswahrscheinlichkeit am höchsten, da sowohl der Gewinn des zusätzlichen Geldes als auch der Nicht-Gewinn gleichermaßen (un-)wahrscheinlich sind. Jeder Proband erlebt in der Untersuchung von Muir et al. vier Evakuierungen und kann sein Probandengeld durch den Anreiz maximal verdreifachen (es wird durchschnittlich verdoppelt). Muir et al. können zeigen, dass durch diese Maßnahme im Vergleich zu keiner Anreizmotivation deutlich realitätsnäheres Verhalten provoziert wird. Es kommt zu zahlreichen Panikreaktionen und kompetitivem Verhalten gegenüber Anderen (vgl. Mintz, 1951, zu kompetitivem Verhalten in Gruppen bei monetärer Belohnung). Es ist zu schlussfolgern, dass durch eine erfolgsabhängige Incentivierung, die einen deutlichen Anteil gegenüber der Aufwandsentschädigung ausmacht, realitätsnäheres Verhalten provoziert werden kann. Für die Problemstellung dieser Arbeit kann eine erfolgsabhängige Anreizmotivation dazu genutzt werden, die Probanden zu eigener selbstverantwortlicher Handlung zu motivieren und die Verantwortung über die Fahrzeugführung in einer kritischen Situation nicht dem Versuchsleiter zu übertragen.
2.1.4 Erfassung von Fahrerintentionen Da Intentionen nicht direkt erfassbare theoretische Konstrukte sind, müssen sie aus beobachtbarem Verhalten ermittelt werden (Ajzen, 2002). Eine reine Verhaltensbeobachtung ist zur Ermittlung von Fahrerintentionen nicht mit hinreichender Validität möglich (Schroven & Giebel, 2008; vgl. Roberts et al., 2004). Am einfachsten und direktesten können Fahrerintentionen über Befragung erfasst werden, z. B. unter Nutzung von Ratingskalen (vgl. Ajzen, 2002; Sheeran, 2002). Befragungen nach zeitkritischen Ereignissen können dabei auch Fahrerintentionen erfassen, die erst nach dem Ereignis rekonstruiert werden (Wegner & Wheatley, 1999; vgl. Abschnitt 2.1.1). Die Autoren bringen dies mit der Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger, 1957) sowie der Selbstwahrnehmungstheorie nach Bem (1972) in Verbindung: Menschen passen ihre erinnerten Intentionen z. T. im Nachhinein an ihr Verhalten an, auch wenn dieses nicht intentional ausgelöst sein kann. Der subjektive
2.1 Intentionen
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Eindruck eigenen Willens entsteht auch dabei, d. h. auch diese Angaben werden in dieser Arbeit als gültige Messung von Fahrerintentionen angesehen (vgl. Abschnitt 2.1.2). Posthoc-Befragungen nach vergangenen Ereignissen bergen das Risiko unvollständiger oder fehlerhafter Erinnerungen. Die Frage, wie gut vergangene emotional relevante Ereignisse erinnert werden, wird intensiv im Bereich von Zeugenaussagen untersucht. Christianson (1992) zufolge werden emotionale Ereignisse bei realen Vorfällen lebhafter, detaillierter und zutreffender erinnert als in Laboruntersuchungen. Er bringt dies mit dem Erleben emotionalen Stresses in Verbindung, der durch das zu erinnernde Ereignis selbst ausgelöst wird (vgl. Hulse, Allan, Memon & Read, 2007). Die gedächtnisfördernde Wirkung emotionalen Stresses trifft Christianson zufolge auf unerwartete Ereignisse zu, welche potenziell bedrohlich sind. Boer und Ward (2003) zufolge werden Ereignisse in kritischen Situationen, z. B. im Straßenverkehr, sehr schnell automatisch abgespeichert. Vergleichbar berichten Hulse et al. (2007), dass die durch eine kritische Situation ausgelöste unspezifische Aktivierung (vgl. Abschnitt 6.1) ausschließlich zu Gedächtnisverbesserungen im Vergleich zu nichtemotionalen Erlebnissen führt. Dies gilt insbesondere für zentrale Details. Payne et al. (2006) finden zudem heraus, dass das Gedächtnis für emotionale sowie zentrale Details durch extern verursachten Stress nicht beeinträchtigt, sondern z. T. sogar gefördert wird. Emotional relevante Details werden in ihrer Studie insgesamt besser erinnert als neutrale. Es wird zusammengefasst davon ausgegangen, dass kritische Ereignisse während des Fahrens - hierzu darf ein unerwarteter autonomer Notbremseingriff, dessen Verzögerung den Komfortbereich verlässt, gezählt werden - vergleichsweise detailliert abgespeichert werden. Die eigene Fahrerintention ist dabei ein zentrales Detail, für welches von guten Erinnerungsleistungen ausgegangen wird. Beim Fahren müssen Informationen abgespeichert werden, während die Aufmerksamkeit in erster Linie der Fahraufgabe zu widmen ist. Hulse et al. (2007) sowie Merckelbach, Zeles, van Bergen und Giesbrecht (2007) weisen schlechtere Gedächtnisleistungen nach, wenn die Probanden während des Erlebens der zu erinnernden Situation gleichzeitig eine Nebenaufgabe bearbeiten. Merckelbach et al. verweisen in der Diskussion ihrer Ergebnisse darauf, dass dabei die Art der Nebenaufgabe relevant ist: Der Studie von Holmes, Brewin und Hennessy (2004) zufolge sind Interferenzen vor allem mit verbalen, aber nicht mit visuellen Nebenaufgaben zu erwarten. Bei Fahrerbefragungen ist sogar ein gedächtnisfördernder Effekt der Fahrzeugführung zu erwarten. So sind die erinnerten Ereignisse im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne aktive Fahrzeugsteuerung zutreffender, wenn der Befragte selbst die Kontrolle über das Fahrzeug hat (Gugerty, 1997, zit. nach Buld et al., 2002). Bei der Abfrage von Intentionen nach dem Erleben eines kritischen Ereignisses ist darauf zu achten, die Probanden so zeitnah wie möglich zu befragen. Roberts et al. (2004) zitieren Studien, denen zufolge Verkehrsunfälle mit Verletzungen im Laufe der Zeit vergessen werden. In der Untersuchung von Payne et al. (2006) werden direkt nach dem interessierenden Ereignis mehr Details erinnert als nach einer Woche. Nach einem Ereignis können neue Informationen die Zugänglichkeit abgespeicherter Inhalte zunehmend beeinträchtigen. Insbesondere beim Erleben mehrerer kritischer Situationen ist nicht gewährleistet, dass die einzelnen Details korrekt dem jeweils richtigen Ereignis zugeteilt werden. Von einer Befragung im unmittelbaren Anschluss an ein kritisches Ereignis wird das detaillierteste zugäng-
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
liche Abbild des Erlebens des Probanden erwartet. Dies ist - wenn detaillierte Informationen interessieren - in Fahrstudien auf der Teststrecke besser umsetzbar ist als im Realverkehr. Zusammengefasst stellt die unmittelbare Fahrerbefragung nach einem kritischen Ereignis die beste Zugangsweise dar, um weitestgehend authentische Informationen über die Fahrerintention zu bekommen.
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen beginnen mit der Gefahrenkognition. Nachdem Einflussfaktoren auf diese erläutert werden, werden Fahrerreaktionen bei erkannten Gefahren zusammengefasst. Es wird betrachtet, wie sich der Fahrer bei hohen Fahrzeugverzögerungen bewegt und anspannt. Der Abschnitt schließt mit einer Zusammenfassung wichtiger fahrerseitiger Einflussfaktoren auf kritische Verkehrssituationen.
2.2.1 Gefahrenkognition Kritische Fahrsituationen im Straßenverkehr sind mit plötzlich auftretenden, u. U. lebensgefährlichen Gefahren für einen oder mehrere Verkehrsteilnehmer verbunden (Krause, de Vries & Friebel, 2007a). Zomotor (1991) bringt in Anlehnung an die BASt (1979) kritische Fahrsituationen mit einer Abweichung zwischen Führungs- und Regelgrößen in Zusammenhang, die örtlich und zeitlich veränderliche bzw. subjektiv empfundene Toleranzgrenzen überschreiten. Sie werden durch einen Mangel an Informationen oder eine mangelnde bzw. fehlerhafte fahrerseitige Informationsnutzung verursacht (Donges, 1999). Letztere kann zu unangemessenen Geschwindigkeiten oder Abständen führen. Der Aspekt der Gefahrenkognition, d. h. die fahrerseitige Erkennung und angemessene Einschätzung einer kritischen Fahrsituation, wird in Schlag et al. (2009) adressiert. Schlag stellt ein zusammenfassendes Modell ihrer Entstehung vor, welches auf Wahrnehmungsfaktoren und auf der Situationsbewertung in Relation zu den eigenen Handlungsmöglichkeiten beruht (Schlag et al., 2009; s. Abbildung 2.2). Gefahrenkognition ist diesem Modell zufolge von mehreren Faktoren abhängig. Notwendige Voraussetzungen bilden einerseits die Entdeckung, Lokalisation und Identifikation der Gefahr. Damit diese auch subjektiv als gefährlich empfunden wird, ist eine Relevanzabschätzung und Bewertung vonnöten. Hierbei greift Schlag auf das Stressmodell nach Lazarus (z. B. Lazarus & Folkman, 1984; Lazarus, 1999) zurück, d. h. eine Gefahr wird dann empfunden, wenn die wahrgenommenen Handlungsaufforderungen die subjektiv wahrgenommenen Handlungsressourcen übersteigen (vgl. Groeger, 2000; Fuller, 2007). Die Gefahrenantizipation schließlich beinhaltet die vorweggenommene Situationsentwicklung, die eigenes Handeln sowie Handlungen anderer Verkehrsteilnehmer beinhaltet. Die Gefahrenentdeckung, ihre Lokalisation und Identifikation hängen zunächst von der sensorischen Wahrnehmung der Verkehrssituation ab. Es wird geschätzt, dass diese zu 90% über die visuelle Wahrnehmung erfolgt (Förster, 1992; Schlag et al., 2009). Wird eine Gefahr nicht foveal gesehen, ist zur genauen Lokalisation und Identifikation eine Blickzuwendung erforderlich (Burckhardt, 1991). Diese führt zu längeren Reaktionszeiten (s. Ab-
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
51
c
Entdeckung der Gefahr
Ist etwas?
d
Lokalisation
Wo?
e
Identifikation
Was?
f
Abschätzung der Relevanz
g
Bewertung
a) Primary: Dringlichkeit und Intensität der Gefahr b) Secondary: Ressourcen zur Gefahrenbewältigung c) Reappraisal
h
Gefahrenantizipation
Prognose der Situationsentwicklung und Verhaltensanpassung
a) Mustererkennung b) Aktivierung von Schemata und Skripts c) Wahrnehmung und Einschätzung von Entfernungen und Geschwindigkeiten
Abbildung 2.2: Modell der Gefahrenkognition nach Schlag (Schlag et al., 2009)
schnitt 2.2.2). Dynamische und belebte Gefahrenobjekte werden in der Untersuchung von Seidenstücker und Höger (2006) schneller fixiert als statische und unbelebte. Bewegungen im peripheren Blickfeld werden nicht in jedem Fall erkannt (Green, 1983). Eine Fixation auf einem gefahrenrelevanten Objekt löst eine deutlich verlängerte Fixationszeit im Bereich von 1 bis 1.1 s aus (Velichkovsky, Rothert, Kopf, Dornhöfer & Joos, 2002; vgl. Kopf, 2005). Dieser Effekt verändert sich in der Studie von Velichkovsky et al. nicht über die Zeit. Die Verlängerung der Fixationszeit hängt den Autoren zufolge nicht von physikalischen Merkmalen ab, sondern von der Komplexität der Entscheidung zur Entschärfung der Situation. Die Autoren schlussfolgern aus ihrer Studie, dass allein anhand der Fixationszeiten nicht mit ausreichender Sicherheit erkannt werden kann, ob und wie der Fahrer reagieren wird. Drohende Kollisionsgefahren werden insbesondere durch ein sich schnell vergrößerndes Retinaabbild eines Objektes im Optischen Flow entdeckt. Diese Vergrößerung (engl.: „looming“) löst bei Menschen und Tieren eine hartverdrahtete Vermeidungsreaktion aus (Schiff, 1965; Newcomb, 1981; Färber, 1986; Kiefer, Flannagan & Jerome, 2006; Schmitt et al., 2007). Direkt mit der visuellen Ausdehnung eines potenziellen Kollisionsobjekts ist das Maß der „Time-To-Collision“ (TTC) verbunden (Kiefer, LeBlanc et al., 2005, Kiefer et al., 2006), d. h. die Zeit bis zu einer Kollision mit diesem Objekt unter Annahme konstant bleibender Bewegungsgeschwindigkeiten und -richtungen (z. B. Ben-Yaacov, Maltz & Shinar, 2002; Gish & Mercadante, 2001). Fahrer sind auch unter Ablenkung in der Lage, die TTC bei einer drohenden Kollision sehr schnell zu erfassen (Kiefer, Cassar, Flannagan, Jerome & Palmer, 2005, Kiefer et al. 2006) und leiten bei Erreichen eines bestimmten
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Grenzwertes ein Bremsmanöver ein (Färber, 1986, vgl. Kiefer, LeBlanc et al., 2005). Auch während der Bremsung ist der Optische Flow und damit die TTC ein wichtiger Hinweis für die Regulation des Bremsverhaltens (Curry et al., 2003). Die TTC wird überwiegend unterschätzt, d. h. die Gefährlichkeit einer drohenden Kollision überschätzt, insbesondere bei kleinen Geschwindigkeiten und hohen Relativgeschwindigkeiten (Kiefer et al., 2006). Im Gegensatz dazu werden Sekundenabstände bei Folgefahrten bei hohen Geschwindigkeiten überwiegend überschätzt und dadurch zu kurze Abstände eingehalten (Taieb-Maimon & Shinar, 2001; Ben-Yaacov et al., 2002; Shinar & Schechtman, 2002). Obwohl dem visuellen Sinn unbestritten eine bedeutende Rolle beim Fahren zukommt, beeinflussen auch weitere Sinne die Fahrtätigkeit und Gefahrenkognition. Personen nutzen bei der Bewegungssteuerung Informationen aus mehreren Sinneskanälen, die in Abhängigkeit von der Aufgabe und den vorhandenen Informationen verschieden priorisiert werden (vgl. Bastin, Calvin & Montagne, 2006). Der auditive Sinn informiert den Fahrer unabhängig von der Blickrichtung über Teilaspekte des Verkehrsgeschehens und den Zustand des eigenen Fahrzeugs. Er wird auch durch zahlreiche Fahrerinformationssysteme, z. B. Navigationssysteme angesprochen, um keine Blickabwendung zu erzwingen. Lageveränderungen und Beschleunigungen bzw. Verzögerungen werden durch den vestibulären Sinn erfasst, welcher im Vergleich zum visuellen Kanal deutlich schnellere Reaktionen ermöglicht (z. B. Körperstabilisierungen, vgl. Abschnitt 2.2.3, und Störungskompensation; Bielaczek, 1998; Förster, 1992). Die aktuelle Position im Raum sowie Änderungen der Muskelanspannung und Gelenkstellungen werden mittels Propriozeption1 durch Rezeptoren in den Muskeln, Sehnen und Gelenken erfasst. Diese Sinnesmodalität ist auch als Kinästhesie bekannt. Sie spielt zusammen mit dem vestibulären Sinn eine wesentliche Rolle bei der Fahrzeugstabilisierung (Förster, 1992; Buld et al., 2002; Bielaczek, 1998). Bastin et al. (2006) zufolge fließt neben dem visuellen Sinn auch der propriozeptive in die Abschätzung ein, wann es zu einer Kollision mit einem Objekt kommen wird. So berichten Bastin und Montagne (2005) Ergebnisse, die darauf schließen lassen, dass die Leistung bei Eigenbewegung aufrecht erhalten werden kann, wenn visuelle Informationen fehlen, die propriozeptiven jedoch vollständig vorhanden sind. Dem vestibulären Sinn kommt eine wesentliche Bedeutung bei der Abschätzung der Verzögerung zu. Hier spielt der visuelle Sinn eine eher untergeordnete Rolle (Segel & Mortimer, 1970; Newcomb, 1981; Buld et al., 2002). Verzögerungen können ab einer Schwelle von -0.6 m/s2 wahrgenommen werden (Newcomb, 1981). Die Objektlokalisation und -identifikation setzen ein Mindestmaß an Fahreraufmerksamkeit voraus. Für den Begriff „Aufmerksamkeit“ existiert keine einheitliche Definition (Rauch, Schoch & Krüger, 2007). Häcker und Stapf (1998) fassen im Wörterbuch der Psychologie mehrere Modellvorstellungen zur Aufmerksamkeit zusammen als (S. 80): „Aufmerksamkeit [. . . ], die auf die Beachtung eines Objekts (Vorgang, Gegenstand, Idee usw.) gerichtete Bewußtseinshaltung, durch die das Beobachtungsobjekt apperziert wird. Dabei tritt auf der Objektseite ein Herausheben bestimmter Teilinhalte [. . . ], auf der Subjektseite ein erhöhter, konzentrierter Einsatz des ‚Aufnahme- und Verarbeitungsapperates‘ ein.“ 1
Der Begriff Propriozeption ist von Sherrington (1906) geprägt (proprius [lateinisch]: eigen) und betont, dass bei dieser Sinnesmodalität die Rezeptoren nicht external, sondern durch Eigenbewegung erregt werden.
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
53
Rauch et al. (2007) unterteilen in Anlehnung an Posner und Rafal (1987) Aufmerksamkeit in selektive Aufmerksamkeit (Selektion, die für eine Handlung benötigt wird), geteilte Aufmerksamkeit (für die Organisation von Mehrfachaufgaben) sowie Daueraufmerksamkeit (Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum, Vigilanz). Der Fixationsort ist nah mit dem Ort der selektiven Fahreraufmerksamkeit verbunden (Dingus, McGehee et al., 1997). Zwar kann sich der Aufmerksamkeitsfokus vom Blickort wegbewegen (Posner, 1980; Chun, 2008), jedoch liegt in lebensnahen Situationen der Aufmerksamkeitsfokus überwiegend nahe genug am Fixationspunkt, um von einer Übereinstimmung ausgehen zu können (Posner, 1980; vgl. Adam, Bernhardt & Sommer, 2002). Gerichtete Aufmerksamkeit bedeutet einerseits, den Aufmerksamkeitsfokus auf den zu verarbeitenden Aspekt zu legen, anderseits irrelevante Aspekte zu hemmen. Letzteres geschieht top-down (Hay, Milders, Sahraie & Niedeggen, 2006). Die Vigilanz bezeichnet ein Stadium der Bereitschaft, bestimmte unvorhergesehene, kleine Änderungen der Umwelt zu entdecken und auf sie zu reagieren (Kopf, 2005). Sie ist direkt abhängig von der psychophysischen Aktivierung (Collet, Petit, Priez & Dittmar, 2005). Vigilanz und gerichtete Aufmerksamkeit sind schnell veränderliche Prozesse beim Fahrer (Kopf, 2005). Sie steigen in potenziell gefährlichen Situationen, z. B. bei Verkürzung des Abstandes bei gleicher Fahrgeschwindigkeit (Davis, Schweizer, Parosh, Lieberman & Aptor, 1990, zit. nach Dingus, Jahns et al., 1997), sowie bei stark gelernten Gefahrenhinweisen und schreckauslösenden Ereignissen (vgl. Prinz, 1990). Der Aspekt der Gefahrenantizipation setzt ausreichendes Situationsbewusstsein voraus. Dieses umfasst drei Aufgaben: die Aufnahme von Umgebungsinformationen, die Erfassung ihrer Bedeutung sowie die Projektion der Verkehrsentwicklung in die unmittelbare Zukunft (Endsley, 1988, 1995). Dabei stellt insbesondere die Antizipation der Verkehrssituation vergleichsweise hohe Anforderungen an die Informationsverarbeitung (Ma & Kaber, 2005). Erst Situationen, die ein schnelles Reagieren auf einen Reiz erfordern, zeigen, inwiefern der Fahrer sich der Verkehrssituation ausreichend bewusst ist (Wickens, 1996; zit. nach Buld et al., 2002), er also die Verkehrssituation angemessen erfasst und in die Zukunft projiziert. Ein herabgesetztes Situationsbewusstsein kann zu ausbleibenden Fahrerreaktionen in kritischen Situationen führen (z. B. de Waard & van der Hulst, 1999). Eine wahrgenommene kritische Fahrsituation führt beim Fahrer zu einer starken psychophysischen und emotionalen Aktivierung (vgl. Fuller, 2007, basierend auf Damasio, 2003). Fuller zufolge hat diese Aktivierung nicht nur Auswirkung auf die vermehrte Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die Situation (hier verweist er auf die orientierende Funktion von Emotionen, vgl. Zajonc, 1980), emotional relevante Situationen begrenzen auch den Entscheidungsraum und begünstigen stärker gelernte Reaktionen (z. B. Bremsreaktionen), mitunter auch Reflexreaktionen. In Einklang damit schlussfolgern Fuchs, Abendroth und Bruder (2008) zur emotionalen Beanspruchung in der Studie aus dem ögP AKTIV (s. Kapitel 4), dass diese hauptsächlich durch die wahrgenommene Gefahrensituation ausgelöst wird. Für die Arbeit ist festzuhalten, dass angemessene Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen einer ausreichenden Gefahrenkognition bedürfen. Die zu untersuchenden Eingriffsbedingungen müssen dazu gut wahrnehmbar, eindeutig und gut in die Zukunft pro-
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
jizierbar sein. Dadurch wird die klare Bildung der zu untersuchenden Fahrerintentionen gefördert. Dies schließt uneindeutige kritische Situationen für diese Arbeit aus.
2.2.2 Fahrerreaktionen auf erkannte Kollisionsgefahren Bremsreaktionszeiten und Bremsreaktionsintensitäten Fahrerreaktionen in wahrgenommenen Gefahrensituationen werden in zahlreichen Studien untersucht, in welchen die Probanden mit erwarteten oder unerwarteten Bremsaufforderungen konfrontiert werden. In Abhängigkeit von der gestellten kritischen Situation führen die Probanden Brems- und/oder Ausweichmanöver aus. Die beobachteten Fahrerreaktionen werden insbesondere hinsichtlich Reaktionszeiten und Reaktionsintensitäten beschrieben. Beide Faktoren beeinflussen, in welchem Ausmaß der drohende Unfall abgewendet werden kann (Kiefer et al., 1999). Beim Bremsen wirkt sich die Bremsreaktionszeit stärker als die Bremsintensität auf die Unfallschwere aus (Brown et al., 2001). Tabelle 2.1 stellt einige Faktoren zusammen, die die Bremsreaktionszeit in kritischen Situationen beeinflussen. Schnelle Bremsreaktionen treten vor allem bei Erwartung sowie in kritischen Verkehrssituationen mit knappen Zeitabständen und/oder einer kleinen TTC auf, eine ausreichende Aufmerksamkeit und Gefahrenkognition durch den Fahrer vorausgesetzt. Die Bremsreaktionszeit wird verkürzt, wenn eine Bremsung die einzige sinnvolle Handlungsalternative ist. Die Sichtbedingungen wirken sich insbesondere über die Gefahrenkognition auf die Bremsreaktionszeit aus. Die Schuhe des Fahrers beeinflussen unter anderem die Umsetzbewegung zum Bremspedal. Die mittlere Dauer von Bremsreaktionszeiten im Fall unerwarteter kritischer Gefahrensituationen wird von verschiedenen Autoren zwischen 1 000 und 2 500 ms angegeben (z. B. Olson & Sivak, 1986; Bielaczek, 1998; Green, 2000; Tamura, Inoue, Watanabe & Maruko, 2001; Farid et al., 2006). Insbesondere für vollständig überraschende Ereignisse muss mit verlängerten Bremsreaktionszeiten gerechnet werden. Noch vor der ersten sichtbaren Reaktion des rechten Fahrerfußes, im Mittel nach 620 ms, kann an der linken Fußstütze ein vermehrtes Abstemmen durch den linken Fuß beobachtet werden (Tamura et al., 2001). Tabelle 2.2 stellt ausgewählte Einflussfaktoren auf die Bremsintensität vor. Wahrgenommene kritische Verkehrssituationen bewirken eine hohe Bremsintensität des Fahrers, d. h. hohe maximale Bremsdrücke am Hauptzylinder sowie hohe Bremsdruckgradienten (vgl. Mazzae et al., 1999; Manning, Wallace, Roberts, Owen & Lowne, 1997; Kiefer et al., 1999; Kiefer, Cassar et al., 2005; Kiefer, LeBlanc et al., 2005; Mitschke & Chen, 1991). Faktoren, die zu schnellen Bremsreaktionszeiten führen, erhöhen auch die Bremsintensität. Schnelle und intensive Bremsreaktionen scheinen im Straßenverkehr miteinander einherzugehen, obwohl eine Korrelation zwischen Reaktionsschnelle und Reaktionsintensität im Labor nicht nachgewiesen werden kann (Ulrich & Mattes, 1996). Ältere Fahrer kompensieren langsamere Bremsreaktionszeiten mitunter durch stärkere Bremsungen (Brown, 2005). Der Bremsdruck selbst wird bis zu mittleren Verzögerungen vor allem durch die Bremspedalstellung aufgebaut, stärkere Bremsungen werden durch eine zunehmende Pedalkraft erzeugt (Jung, 1998), die vor allem bei lang andauernden intensiven Bremsungen starke Muskelkontraktionen der gesamten Beinmuskulatur erfordern (Abbink, van der Helm &
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
55
Tabelle 2.1: Einflussfaktoren auf die Bremsreaktionszeit in kritischen Verkehrssituationen Einflussfaktor
Wirkrichtung
Erwartung der Bremsaufforderung
Bremsreaktionszeitverkürzung bei Erwartung (Johansson & Rumar, 1971; Olson & Sivak, 1986; Soma & Hiramatsu, 1998; Groeger, 2000; Green; 2000)
Alter
Z. T. längere Bremsreaktionszeiten mit steigendem Alter, vor allem bei kognitiver Ablenkung (Green, 2000)
Geschlecht
Z. T. längere Bremsreaktionszeiten bei Frauen (Green, 2000)
Kognitive Ablenkung
Längere Bremsreaktionszeiten bei kognitiver Ablenkung (Rauch et al., 2007); vgl. Abschnitt 2.2.4
Visuelle Ablenkung
Längere Bremsreaktionszeiten bei visueller Ablenkung (Rauch et al., 2007); vgl. Abschnitt 2.2.4
Medikamente/ Alkohol
Längere Bremsreaktionszeiten nach Einnahme von Alkohol und fahrrelevanten Medikamenten (Brookhuis & de Waard, 1994)
Schuhwerk
Längere Bremsreaktionszeiten mit fahrungeeigneten Schuhen (Warner & Mace, 1974)
Bewegung des Ego-Fahrzeugs
Bremsreaktionszeit bei Fahrt länger als im Stand (Fuse et al., 2004)
Zeitabstand zum Vorausfahrenden
Längere Bremsreaktionszeiten bei größeren Zeitabständen (Soma & Hiramatsu, 1998; Brookhuis & de Waard, 1994; McKnight & Shinar, 1992)
Zeitliche Nähe der drohenden Kollision
Bremsreaktionszeitverkürzung bei sinkender TTC, bei sehr kurzen TTC z. T. wieder Verlangsamung (Green, 2000; Schittenhelm, 2006; Mitschke & Chen, 1991; Caird, Chisholm, Edwards & Creaser, 2007)
Anzahl alternativer Vermeidungshandlungen
Längere Bremsreaktionszeiten bei zunehmender Anzahl an alternativen Vermeidungshandlungen (Bielaczek, 1998; Schittenhelm, 2006)
Art der Vermeidungshandlung
Längere Bremsreaktionszeiten bei zusätzlichen Ausweichhandlungen (Schittenhelm, 2006)
Sichtbedingungen
Längere Bremsreaktionszeiten in Dunkelheit (Bäumler, 2007, 2008)
Boer, 2004). Fahrer passen Bremsreaktionen an die Verkehrssituation an und führen starke Bremsungen vor allem dann aus, wenn sie zur Entschärfung einer Gefahr erforderlich sind (Lee et al., 2002; Sato & Akamatsu, 2007). Der Fahrer wählt in kritischen Verkehrssituationen dennoch häufig eine konservative Strategie, bei der der zunächst drohende Unfall nicht in jedem Falle optimal vermieden wird, aber auch keine neuen Gefahren, z. B. in Zusammenhang mit dem rückwärtigen Verkehr, erzeugt werden (Krause et al., 2007a; vgl. Prynne & Martin, 1995; Weiße, 2003; Breuer & Gleissner, 2006). Neben zu zaghaften Fahrerreaktionen werden auch ausbleibende Fahrerreaktionen beobachtet, die eine drohende Kollision nicht mehr abwenden (z. B. Langwieder, 2001; Bäumler, 2008; Collet et al., 2005; Kopischke, 2000).
56
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen Tabelle 2.2: Einflussfaktoren auf die Bremsintensität in kritischen Verkehrssituationen Einflussfaktor
Wirkrichtung
Erwartung der Bremsaufforderung
Höhere Bremsintensität bei Erwartung (Soma & Hiramatsu, 1998)
Geschlecht
Höhere Bremsintensität bei Männern (Kiefer, LeBlanc et al., 2005)
Sitzgeometrie
Höhere Bremsintensität bei kleineren Knie- und Hüftgelenkwinkeln (Segel & Mortimer, 1970)
Geschwindigkeit des Ego-Fahrzeugs
Höhere Bremsintensität bei höherer Ausgangsgeschwindigkeit (Kiefer et al., 1999)
Zeitabstand zum Vorausfahrenden
Geringere Bremsintensität bei größeren Abständen (Soma & Hiramatsu, 1998)
Zeitliche Nähe der drohenden Kollision
Höhere Bremsintensität bei sinkender TTC (Segel & Mortimer, 1970; Mazzae, Baldwin & McGehee, 1999; Kiefer, Cassar et al., 2005; Dingus, Jahns et al., 1997; Mitschke & Chen, 1991)
Bewegung des Kollisionsgegners
Höhere Bremsintensitäten bei stehenden Hindernissen im Vergleich zu bewegten (Kiefer, LeBlanc et al., 2005)
Verzögerung des Vorausfahrenden
Höhere Bremsintensität bei stärkerer Verzögerung des Vorausfahrenden (Kiefer et al., 1999)
Verzögerung des Ego-Fahrzeugs
Verstärkung der Bremsintensität bei unzulangender Fahrzeugverzögerung („Nachbremsen“); Anpassen der Bremsintensität an die Kritikalität der Verkehrssituation (Curry et al., 2003; Breitling et al., 2005; Sendler, Augsburg, Fetter & Auler, 2006; vgl. Grzesik, 2009, zum Nachbremsen bei der Adaptation an eine Bremscharakteristik)
Verlauf einer Vollbremsreaktion Entsteht eine kritische Verkehrssituation, die der Fahrer als solche erkennt und wahrnimmt, führt er in vielen Fällen eine motorische Vermeidungshandlung, vor allem eine Vollbremsung, aus. Der Ablauf dieser wird in verschiedenen Bremsreaktionsmodellen beschrieben. Anhand der beobachtbaren Fahrerreaktionen wird der Zeitraum zwischen dem Entstehen einer Gefahr und der Vollbremsung in mehrere Abschnitte gegliedert. Diese Abschnitte erfolgen dem Großteil der Modelle zufolge seriell. Zomotor (1991) unterteilt den Bremsreaktionsverlauf z. B. in die folgenden Phasen: • • • • • • •
Wahrnehmungszeit (bis zur ersten optischen oder akustischen Wahrnehmung) Erkennungszeit (bis zum Erkennen als Reaktionsaufforderung) Entscheidungszeit (bis zur Entscheidung über die Art der Handlung) Motorische Phase (bis zum Beginn der Vermeidungshandlung) Umsetzzeit (bis zur ersten Berührung des Bremspedals) Anlegezeit (bis Beginn des Bremsdruckanstiegs) Schwellzeit (bis zum Erreichen des maximalen Bremsdrucks)
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
57
Zomotor fasst den gesamten Zeitraum bis zur Entscheidung über die Art der Vermeidungshandlung als Informationsverarbeitungszeit zusammen. Die Phase der Entscheidung zwischen alternativen Handlungsoptionen ist Färber (1986) zufolge derjenige Bestandteil der Bremsreaktion, der die Gesamtreaktionszeit am stärksten beeinflusst. Ihre Dauer steigt mit der Anzahl an Handlungsalternativen (vgl. Tab. 2.1). Färber nennt einen Zeitraum zwischen 400 und 2 200 ms für die Entscheidungszeit, wobei 400 ms eine sehr ideale Untergrenze darstellt, die vermutlich kaum in realen Gefahrensituationen zu erreichen ist. Die Reaktionszeit und die Reaktionsintensität hängen wie oben dargestellt auch von der Kritikalität der Verkehrssituation ab. So deuten Experimente von Zomotor (1979) darauf hin, dass Reaktionen bei schwacher Bremsaufforderung später einsetzen. Auch Färber (1986) berichtet eine Anpassung der Fahrzeugverzögerung an die Verkehrssituation. Umsetzbewegungen erfolgen ballistisch und nur durch ein internes Motorprogramm gesteuert. D. h., ihr Verlauf wird nach der Initiierung nicht mehr geändert, bis sich der Fuß auf dem Bremspedal befindet (Park & Sheridan, 2004). Die initiale Bremspedalbetätigung erfolgt ebenfalls noch ballistisch (ebenda). Als typische Umsetzzeiten nennen Zomotor (1991), Burckhardt (1991) sowie Green (2000) Werte zwischen 150 und 300 ms. Sie sind in kritischen Verkehrssituationen kürzer als während starker Bremsungen, die nicht aufgrund einer Notsituation entstehen (Schmitt & Färber, 2005). Schmitt et al. (2007) berichten einen Median von ca. 180 ms bei Notbremsungen. Die Umsetzzeit ist auch von der relativen Anordnung von Gas- und Bremspedal abhängig (z. B. Morrison, Swope & Halcomb, 1986; Parenteau, Shen & Shah, 2000; vgl. Weiße, 2003). Die Trajektorie der Umsetzbewegung ist über die Zeit vergleichsweise stabil, intraindividuelle Unterschiede sind in der gleichen Bremssituation (z. B. Standardbremsung, Notbremsung) geringer ausgeprägt als interindividuelle (Weiße, 2003). Dies ist auf verschiedene gewohnheitsmäßige Fußpositionen bei der Betätigung des Gaspedals zurückzuführen (ebenda). Als typische Werte für die Anlege- sowie Ansprechzeit nennen Zomotor (1991) sowie Burckhardt (1991) 15 bis 50 ms bzw. 30 bis 60 ms. Für die Dauer der Schwellzeit, d. h. des Bremsdruckaufbaus, nennt Weiße (2003) nach Martin und Holding (o. J.) einen Zeitraum von 300 ms bis zu einem Bremsdruck von 60 bar. Dieser Zeitraum kann durch einen Bremsassistenten bedeutend verkürzt werden (Krause et al., 2007a). Eine genaue zeitliche Unterteilung der Fahrerreaktion in die Phasen der Objektwahrnehmung, Objekterkennung und der Entscheidungszeit gelingt nicht immer anhand des beobachtbaren Fahrerverhaltens (Krause, de Vries & Friebel, 2007b). Die vor allem psychologisch motivierte Unterteilung der Reaktionszeit vor Beginn der Vermeidungshandlung in Empfindung, Wahrnehmung bis hin zur Relevanzabschätzung (vgl. das Modell der Gefahrenkognition nach Schlag et al., 2009, Abschnitt 2.2.1), Entscheidung sowie Vorbereitung der motorischen Reaktion ist nicht Bestandteil des Bremsreaktionsmodells von Burckhardt (1985; 1991). Der Zeitraum zwischen der ersten erkennbaren Fixation auf ein kollisionsrelevantes Objekt und der ersten motorischen Vermeidungsreaktion wird von Burckhardt als sogenannte Reaktionsgrundzeit zusammengefasst. Das Bremsreaktionsmodell nach Burckhardt wird von Weiße (2003) zur Beschreibung der Wirksamkeit verschiedener Unterstützungsfunktionen zur Kollisionsvermeidung genutzt. Abbildung 2.3 stellt das in Weiße veröffentlichte Bremsreaktionsmodell basierend auf Burckhardt (1985) dar mit zwei typischen
58
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Bremsdruck [%]
25
Beginn des peripheren Sehens
Beginn der Objektfixierung
Beginn der Beginn der Beginn der muskulären Bremspedal- Bremswirkung Reaktion berührung
Maximale Verzögerung
Vollbremszeit
Schwellzeit
Ansprechzeit
Umsetzzeit
50
Reaktionsgrundzeit
75
Blickzuwendungszeit
100
Stillstand des Fzg.
Zeit [ms]
Beispiele für Bremsdruckverlauf [%]
Abbildung 2.3: Bremsreaktionsmodell nach Weiße (2003), basierend auf Burckhardt (1985)
Fahrerreaktionen ohne Unterstützung durch sicherheitsrelevante FAS. Der Abbbildung ist zu entnehmen, dass vor einer Bremsreaktion eine Reihe vorbereitender Fahreraktivitäten vonnöten sind. Nach der Blickzuwendungs-, Reaktionsgrund- und Umsetzzeit nimmt Burckhardt (1985; 1991) die gleichen Phasen des Bremsdruckaufbaus an, die auch in Zomotor (1991) beschrieben werden (s. o.). Das Bremspedal dient dabei nicht nur als Bedienelement, sondern gibt über seine spezielle Weg-Kraft-Charakteristik dem Fahrer auch propriozeptive Rückmeldung über die Bremsung (Park & Sheridan, 2004). Es ist weiterhin zu erkennen, dass viele Fahrer die maximale Fahrzeugverzögerung gar nicht oder erst sehr spät erreichen, wenn sie bei der Notbremsung nicht unterstützt werden. Es wird angenommen, dass bei einer Vollbremsintention diese Reaktionskette bis zur Bremsreaktion eingeleitet wird, auch wenn das Fahrzeug autonom abgebremst wird. Der Reaktionsablauf fließt in die hypothetischen Annahmen zu den Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen ein (vgl. Abschnitt 2.5). Erkennung von Vollbremsintentionen Zur Auslegung von Bremsassistenten (BAS; vgl. Abschnitt 2.4.4) beschäftigen sich mehrere Arbeiten mit der Erkennung von Vollbremsintentionen anhand der Reaktionen des Fahrers. Ziel ist eine Fahrerunterstützung zur Erreichung der optimalen Fahrzeugverzögerung in Notsituationen (Weiße, 2003). BAS interpretieren dazu die Bremspedalbetätigung (ebenda). Zur Untersuchung werden auf der Teststrecke Vollbremsreaktionen provoziert und diese normalen Bremsungen (z. B. Weiße, 2003) bzw. sehr starken Bremsungen ohne Gefahrensituation (z. B. Schmitt & Färber, 2005) gegenübergestellt. Weiße analysiert die Umsetzbewegung des rechten Fußes mittels videogestützter Bewegungsanalyse und stellt dessen Positionen bzw. Geschwindigkeiten bei verschiedenen Bremsungen gegenüber. Der Bremsdruck sowie der Bremsdruckgradient sind bei Vollbremsungen erhöht (s. o.; Weiße, 2003), jedoch wird ohne Fahrerassistenz zumeist nicht das volle Potenzial der Bremse ge-
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
59
nutzt (Segel & Mortimer, 1970; Weiße, 2003). Ein weiterer häufig gefundener Indikator einer Vollbremsintention ist ein schnelles Loslassen des Gaspedals (Weiße, 2003; Schmitt & Färber, 2005; Kopf et al., 2004), jedoch kann dieser Parameter nicht zu 100% zwischen Vollbremsungen und herkömmlichen Bremsungen unterscheiden (Weiße, Landau, Rieth & Eberz, 2001). Ein auch schnelles Loslassen des Gaspedals darf in vielen Situationen noch nicht als ausreichender Beleg für eine Bremsintention gewertet werden. Ein Loslassen des Gaspedals ohne unmittelbar folgende Bremsung kann darauf hindeuten, dass der Fahrer die Situation analysiert und sich auf eine potenzielle Gefahrenkognition vorbereitet (Yamada & Kuchar, 2006; Lee, Hoffman & Hayes, 2004; Caird et al, 2007). Die Bremse wird oft erst betätigt, sobald der Fahrer eine Bremsaufforderung wahrnimmt. In kritischen Verkehrssituationen verkürzt sich die Bremsreaktionszeit (Kopf et al., 2004; s. o.), was unter anderem in einer schnelleren Umsetzbewegung zum Bremspedal begründet ist (Schmitt & Färber, 2005). Ist der Fahrer nicht in der Lage dazu, innerhalb kurzer Zeit auf eine Bremsaufforderung zu reagieren, kann die Fahrerreaktion ganz ausbleiben. So stellen Edwards, Creaser, Caird, Lamsdale und Chisholm (2003) fest, dass sich ältere Fahrer an simulierten Ampelkreuzungen mit späten Gelb-Signalen vergleichsweise häufig dazu entschließen, die Ampel zu überqueren und nicht zu bremsen. Dies kann damit zusammenhängen, dass die älteren Teilnehmer oft nicht schnell genug reagieren können. Auch Walker (2005) kann zeigen, dass Reaktionen in kurzen Entscheidungszeiträumen gehäuft ausbleiben. Für Erkennungen von Vollbremsintentionen werden in dieser Arbeit einerseits Indikatoren herangezogen, welche die Schnelle und Intensität der Bremspedalbetätigung anzeigen: Reaktionszeiten bis zum Bremsbeginn und bis zur maximalen Bremsung, der maximale Bremsdruck am Hauptzylinder sowie dessen maximaler Bremsdruckgradient und der über die Zeit integrierte Bremsdruck. Auch die maximale Geschwindigkeit, mit der das Gaspedal losgelassen wird, wird betrachtet. Umgang mit Bremsversagen Wenn das Fahrzeug unerwartet reagiert, sind Änderungen der Fahrerreaktionen in kritischen Situationen zu erwarten. Dies tritt zum Beispiel beim Ausfall einzelner Bremskomponenten auf, welche zu panischen und instinktiven, unangemessenen Reaktionen führen können (Jamson & Smith, 2003). Curry et al. (2003) untersuchen den Umgang von nicht eingeweihten Fahrern mit plötzlichem Bremsversagen auf der Teststrecke (vgl. Jamson & Smith, 2003). Es werden zwei Fehlerfälle untersucht, die jeweils zu reduzierter, aber nicht völlig abwesender Bremsleistung führen. Dies betrifft zum einen den Ausfall des Bremskraftverstärkers, welcher zu einem sehr steifen Bremspedal führt. Zum anderen wird der Ausfall eines der beiden hydraulischen Bremssysteme untersucht, welcher ein schwammiges Bremspedalgefühl zur Folge hat. Insgesamt 48 Probanden nehmen an dem Versuch teil und erhalten die Aufgabe, sich mit 64 km/h einer Ampel zu nähern, die in einigen Durchgängen 58 m vor dem Erreichen der Haltelinie auf rot umschaltet. Die Autoren beobachten, dass die meisten Probanden nicht in der Lage dazu sind, die noch zur Verfügung stehende Bremskraft für eine Bremsung vor der Haltelinie zu nutzen. Die am wenigsten gestressten Fahrer (operationalisiert über die Änderungen der Herzschlagfrequenz und elektroderma-
60
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
len Aktivität) können die Aufgabe am erfolgreichsten bewältigen. Für diese Arbeit ist von Bedeutung, dass das Bremspedal von einigen Probanden nicht konstant, sondern mehrmals betätigt („gepumpt“) wird: „Although some drivers pumped the brake pedal or released and re-applied the brakes, all of them continued trying to stop the vehicle using the footbrake until they reached the traffic light hazard.“ (Curry et al., 2003, Summary). Ein Pumpen des Bremspedals wird häufiger bei Männern beobachtet. Es ist anzunehmen, dass zumindest ein Teil der Fahrer ein Pedal mehrfach betätigt oder die Pedalstellung mehrmals stark verändert, solange die intendierte Fahrzeugreaktion nicht im erwarteten Maße eintritt. Dies kann auch am Gaspedal auftreten, solange das Fahrzeug bei einem autonomen Notbremseingriff keinen Überstimmungsversuch annimmt (vgl. hypothetisches Modell in Abschnitt 2.5). Fehlhandlungen im Straßenverkehr und ihre Ursachen Verkehrsunfälle können in vielfältigen Fehlhandlungen des Fahrers begründet sein. In Anlehnung an die Unterscheidung von Handlungsfehlern und Fehlhandlungen nach Hacker (1998) kategorisiert Briest in einer In-Depth Unfallanalyse Fehlverhalten im Straßenverkehr (z. B. Briest & Vollrath, 2006; Vollrath et al., 2006; Vollrath & Briest, 2008). Die Kollision an sich wird nach der Begrifflichkeit von Hacker als Handlungsfehler bezeichnet, die Fehlhandlung ist die zur Kollision führende Fahrzeugbewegung, welche ihrerseits auf verschiedenen, oft psychisch bedingten Ursachen für diese Fehlhandlung, z. B. Defizite in der Gefahrenkognition oder zu wenig Zeit zur Unfallvermeidung, beruht. Die Autoren werten insgesamt 4 258 Braunschweiger Verkehrsunfälle aus und teilen sie nach den aufgetretenen Fehlhandlungen und ihren Ursachen in sechs Kategorien ein (Vollrath et al., 2006, S. 32). Dazu zählen unter anderem Fehlanpassungen an die Situation, Fehlinterpretation der Situation, bewusstes Eingehen von Risiken sowie Ausführungsfehler. In der InDepth Unfallanalyse findet Briest Fehlinterpretationen (z. B. fehlerhafte Einschätzung der aktuellen Vorfahrtsregelung oder anderer im Moment gültiger Verkehrsregeln) und Ausführungsfehler (z. B. Abrutschen vom Pedal, Verreißen des Lenkrads, Verwechslung des Gas- und Bremspedals) generell sehr selten (Briest & Vollrath, 2006). Eine Pedalverwechslung spielt bei weniger als 0.6% aller schweren Unfälle eine Rolle. Nilsson (2002, S. 182) beobachtet in seiner Untersuchung zu kombinierten Pedalen ebenfalls, dass eine Verwechslung der Pedalbetätigung den Probanden unmittelbar bewusst wird, so dass sie den Fehler schnell korrigieren können: „The outcome of these misapplications, however, was largely inconsequential in that the drivers became immediately aware of the mistake when they felt the heel pressing against the vehicle’s floorboard.“ Inwiefern dies auch für autonome Notbremsungen gelten darf, ist noch nicht ausreichend geklärt (vgl. Abschnitt 2.4.4). Unfälle im Längsverkehr (Auffahren) sind in der Tiefenanalyse von Briest und Vollrath vor allem durch Fehlanpassungen von Geschwindigkeit und Abstand sowie der Vernachlässigung der Abstandshaltung aufgrund von Unaufmerksamkeit, Ablenkung oder beeinträchtigtem Fahrerzustand verursacht. Unfälle mit Entgegenkommenden sind vergleichsweise häufig auf eine bewusst riskante Planung des Fahrmanövers zurückzuführen (1% aller schweren Unfälle im Längsverkehr). Die Unfallanalysen zeigen, dass für warnende und autonom bremsende
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
61
FAS große Wirkungen im Bezug auf die zukünftige Vermeidung von Verkehrsunfällen zu erwarten sind.
2.2.3 Körperbewegung in kritischen Situationen Während autonomer Notbremsungen wirken hohe externe Verzögerungskräfte auf den Fahrer, welche körperstabilisierende Reflexe auslösen. Diese Kräfte können einen bedeutsamen Einfluss auf die Körperbewegung und damit auf Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremsungen ausüben. Zuerst wird erörtert, wie die Bewegung des Gesamtkörpers dadurch verändert wird. Anschließend werden Einflüsse auf die Beinbewegung betrachtet, da diese eng an die Pedalbetätigung während autonomer Notbremsungen gekoppelt ist. Auswirkungen drohender Kollisionen auf die Körperbewegung der Insassen Es ist bekannt, dass sich (Bei-)Fahrer im Falle einer wahrgenommenen Kollisionsgefahr gegenüber dem drohenden Aufprall abstützen (Morris, 2003; Manning et al., 1997; Manning & Wallace, 1998; Timpe, 1990). Mehrere Arbeiten untersuchen, welche Körperhaltung direkt zum Zeitpunkt des Aufpralls zu erwarten ist und wie sich Körperanspannung auf die Bewegung des Körpers vor und während der Kollision auswirkt. Morris (2003) untersucht die Körperbewegungen von uneingeweihten Beifahrern während plötzlicher Manöver mit starken Längs- und Querbeschleunigungen bzw. -verzögerungen. Das Fahrzeug wird von einem erfahrenen Testfahrer gefahren, welcher als ein anderer Proband vorgestellt wird und auf mehrdeutige Anweisungen hin diese Manöver fährt. Die insgesamt 49 Probanden werden von fünf Videokameras beobachtet. Längsverzögerungen erfolgen bis zu etwa 1 g. Morris beobachtet, dass die Reaktion des Beifahrers zu einem großen Anteil von seiner Aufmerksamkeit abhängt. Nimmt er die Entwicklung eines heftigen Fahrmanövers rechtzeitig wahr, sind reflexive Abstützreaktionen häufig zu beobachten: „If the passenger sees an impending crash scenario develop, they may start to brace or adapt their posture. Attempting to brake with a non-existent pedal was observed in some cases.“ (S. 45). Abstützreaktionen werden umso wahrscheinlicher, je länger das Manöver andauert. Die Beinposition wird - soweit erkennbar - nur selten geändert, die Beine werden niemals eingezogen. Abstützreaktionen mit den Armen und Händen werden vor allem dann beobachtet, wenn diese schon vorher eine feste Struktur berühren. An der Bewegung des Kopfes fällt auf, dass dieser trotz der Beschleunigung aufrecht gehalten wird. Dies ist dadurch erklärbar, dass reflexive Prozesse zur Aufrechterhaltung des Retina-Abbildes Kopf und Hals sofort stabilisieren, was eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass weitere visuelle Informationen aufgenommen werden können (Galley, 2001). Das Abstützen wirkt sich vor allem dann auf die Bewegung des Körpers aus, wenn kein Gurt angelegt ist, insbesondere bei hohen Fahrzeugverzögerungen (Morris, 2003). Über den Zeitverlauf und beim Vergleich der Bewegungen von Probanden und Dummys zeigt sich, dass zunächst die Massenträgheit den wichtigsten Einflussfaktor auf die Körperbewegung während starker Verzögerungen darstellt, aber zunehmend reflexive (Ab-)stützreaktionen die Körperbewegung beeinflussen.
62
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Abstützreaktionen der Beine Initiiert der Fahrer in einer kritischen Situation eine Bremsung, muss er am Bremspedal eine hohe Kraft entwickeln (s. Göktan, 1987). Dieses notwendige Verhalten entspricht der intuitiven Reaktion, sich gegenüber einer drohenden Kollision „entgegenzustemmen“ (Timpe, 1990; Nilsson, 2002). Tamura et al. (2001) zeigen, dass auch Abstützreaktionen des linken Beines vor einer Notbremsung des Fahrers stattfinden, diese können im Sinne eines gekreuzten Streckreflexes (Birbaumer & Schmidt, 1999) die Umsetzbewegung des rechten Fußes unterstützen. Abstützreaktionen mit den Beinen sind dann zu erwarten, wenn ein Fahrzeuginsasse die drohende Kollision wahrnimmt oder erwartet, was kurz vor tatsächlichen Unfällen anzunehmen ist (Manning & Wallace, 1998; Klopp, Crandall, Sieveka & Pilkey, 1995). Die Anspannung der Beine dient neben der Erzeugung einer hohen Bremskraft auch dazu, Widerstand gegen den drohenden Aufprall aufzubringen (Manning et al., 1997). Die Kinematik des gesamten Körpers während des Aufpralls wird durch diese Anspannung gegenüber einem rein passiven Fallen stark beeinflusst (Crandall et al., 1994; Klopp et al., 1995). Ein abgestützter Insasse bleibt während des Aufpralls besser im Sitz, so dass die Unfallschwere insgesamt reduziert werden kann (Manning et al., 1997; Manning & Wallace, 1998; Morris, 2003).2 Morris (2003, S. 38) schlussfolgert in seiner Untersuchung zur Bewegung von Beifahrern während kritischer Fahrmanöver: „If both feet are forward, slightly splayed and the knees near locking point, the stability provided to the pelvis is very high.“ Infolge der angespannten Beine des Insassen wird das Hüftgelenk gestreckt, der Oberkörper rotiert nach hinten und drückt gegen die Lehne, wodurch ein mögliches „Nach-vorn-fallen“ des Körpers kompensiert wird (Klopp et al., 1995). Auch dadurch wird die Aufrechterhaltung des Kopfes unterstützt, die Voraussetzung für eine weitere visuelle Informationsaufnahme ist (s. o.). Welchen Anteil Abstützreaktionen tatsächlich an der Kinematik des Fahrzeuginsassen ausmachen, ist nur schwer abzuschätzen (Manning & Wallace, 1998). Es wird angenommen, dass auch autonome Notbremseingriffe derartige Abstützreaktionen auslösen, insbesondere an den Beinen. Da es sich um reflexive Körperstabilisierungen handelt, werden sehr kurze Reaktionszeiten angenommen, die unter den Reaktionszeiten für intentionales Verhalten liegen (vgl. Birbaumer & Schmidt, 1999).
2.2.4 Einflussfaktoren des Fahrers Die aktuelle physische und psychische Konstitution, die Erfahrung und Persönlichkeit des Fahrers beeinflussen, wie häufig er kritische Verkehrssituationen erlebt und wie er diese bewältigt. Der Abschnitt fasst wesentliche Einflussfaktoren des Fahrers zusammen. Kopf (2005) teilt Einflussfaktoren des Fahrers auf das Fahrerverhalten in kurzfristig, mittelfristig veränderliche sowie praktisch überdauernde ein. Zu den kurzfristig veränderlichen Fahrerfaktoren zählen z. B. die Fahreraufmerksamkeit, Ablenkung, Beanspruchung, das Situationsbewusstsein und die Fahrerintention. Mittelfristig wirken sich z. B. die Ermüdung des Fahrers oder Drogen/ Medikamente auf das Fahrerverhalten aus. Nur sehr langfristig 2
Gleichzeitig führt eine Anspannung der Unterschenkel vor einem Aufprall jedoch zu einer erhöhten Verletzungsgefahr der Füße und Unterschenkel (Klopp et al., 1995; Manning & Wallace, 1998).
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
63
oder gar nicht änderbar sind hingegen z. B. die Konstitution und Beweglichkeit, Belastbarkeit, Persönlichkeit, die Fahrerfahrung, das Alter und das Geschlecht. Unter den kurzfristig wirksamen Einflussfaktoren interessiert für KVS insbesondere die Ablenkung des Fahrers. So wird der größte Teil an Auffahrunfällen durch Fahrerunaufmerksamkeit oder -ablenkung verursacht (Sullivan & Flannagan, 2003; Kiefer et al., 1999; Gish & Mercadante, 2001; vgl. Kopf et al., 2004). Bei Ablenkung wird rein kognitive von visueller Ablenkung unterschieden (z. B. Kopf, 2005; Lee, Ries, McGehee & Brown, 2000). Von kognitiver Ablenkung wird gesprochen, wenn Nebentätigkeiten während der Fahrt ausgeführt werden, die die Verarbeitungsressourcen des Fahrers zusätzlich beanspruchen. Bei visueller Ablenkung findet eine Blickabwendung von der primären Fahraufgabe statt. Beide Formen der Fahrerablenkung führen zumeist zu Einbußen in der Bremsreaktionszeit (Rauch et al., 2007; Green, 2000; Gelau, 2004; Kass, Cole & Stanny, 2007; Kopf et al., 2004; Horrey & Wickens, 2006). Die verlängerten Bremsreaktionszeiten sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass Gefahren aufgrund der Interferenz zwischen Fahr- und Nebenaufgabe später wahrgenommen werden (Kass et al., 2007; Horrey & Wickens, 2003). Wird eine kritische Verkehrssituation unter kognitiver Ablenkung wahrgenommen, kann die TTC genauso zuverlässig abgeschätzt werden wie im aufmerksamen Zustand (Kiefer et al., 2006). Automatisierte Aspekte der Fahrtätigkeit wie die Spurhaltung werden durch Ablenkung vergleichsweise wenig beeinflusst (Zheng, Tai & McConkie, 2003; Horrey & Wickens, 2006), da sie wenig mentale Ressourcen beanspruchen (Collet et al., 2005). Einflüsse von Fahrerablenkung werden dagegen auf die Streuung der Längsgeschwindigkeit (Zheng et al., 2003) sowie die Gaspedalbetätigung festgestellt (Zylstra, Tsimhoni, Green & Mayer, 2004; Merat & Jamson, 2008). Zylstra et al. finden im Realverkehr eine tendenzielle Rücknahme, jedoch kein vollständiges Loslassen des Gaspedals. Die Gaspedalstellung wird weiterhin über vergleichsweise lange Zeiträume konstant gehalten und nicht mehr kontinuierlich korrigiert. Unter Ablenkung kann auch die Häufigkeit sicherheitsrelevanter Verhaltensweisen wie das Überprüfen der Spiegel deutlich absinken (Zheng et al., 2003). Fahrerablenkung führt in der Studie von Kopf et al. (2004) zu größeren Reaktionsabständen, d. h. kompensatorischem Verhalten. Die Bearbeitung der Nebenaufgabe wird ebenfalls an die aktuelle Verkehrssituation angepasst: Baldwin und Coyne (2003) stellen in einer Fahrsimulatorstudie fest, dass die Genauigkeit einer visuell ablenkenden Nebenaufgabe bei hoher Verkehrsdichte sinkt, nicht jedoch die einer kognitiven (akustischen) Nebenaufgabe. Kass et al. (2007) beobachten im Fahrsimulator, dass Einbußen der Fahrleistung aufgrund kognitiver Fahrerablenkung (operationalisiert über Fahrfehler, z. B. Geschwindigkeitsübertretungen, Kollisionen, verpasste Stoppschilder) bei Fahrerfahrenen nicht geringer ausfallen als bei Fahranfängern; jedoch ist die Fahrleistung insgesamt erwartungsgemäß bei Fahrerfahrenen besser ausgeprägt. Der Einfluss der Erwartung auf die Fahrerreaktion in kritischen Situationen wird in Abschnitt 2.2.2 erwähnt: Die Erwartung einer drohenden Kollision geht mit kürzeren Bremsreaktionszeiten und höheren Bremsintensitäten einher. Der Fahrer stützt sich bei Erwartung eines drohenden Aufpralls verstärkt an der Pedalerie und den festen Fahrzeugstrukturen ab, um sich dem Aufprall entgegenzustemmen (Morris, 2003, vgl. Abschnitt 2.2.3).
64
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
In kritischen Verkehrssituationen können sich Panik- und Schreckreaktionen auf das Fahrerverhalten auswirken. Diese werden durch starke und erschreckende Reize, als lebensbedrohlich empfundene Reize, z. B. eine antizipierte Kollision, oder durch die Wahrnehmung hervorgerufen, dass ernsthafte Konsequenzen resultieren, wenn keine zeitnahe Lösung eines Problems gefunden wird (Janis & Mann, 1977, zit. nach Curry et al., 2003). Schreckund Panikreaktionen können ein Ausbleiben von Fahrerreaktionen (vgl. Muir et al., 1996), unangemessene Reaktionen (z. B. Curry et al., 2003; Jamson & Smith, 2003) oder eine Überkompensation, z. B. einer Lenkbewegung, bewirken, die zum Verlust der Fahrzeugkontrolle führen kann (Dingus, Jahns et al., 1997). Sie sind gleichzeitig durch eine hohe physiologische Aktivierung gekennzeichnet (Curry et al., 2003). Die Adrenalinproduktion während Schreck- und Panikreaktionen beeinträchtigt eine angemessene Wahrnehmung der aktuellen Situation (Jamson & Smith, 2003), ebenfalls wird die motorische Kontrolle unterbrochen (Janis & Mann, 1977; zit. nach Curry et al., 2003). Mittelfristig wirkt sich zum einen die Ermüdung bzw. Schläfrigkeit des Fahrers auf die Fahrerreaktionen aus. Diese ist bis zu einem Drittel an Verkehrsunfällen beteiligt (Ladstätter, 2006; Krajewski, 2008). Schläfrigkeit beeinflusst unter anderem die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, das Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeitsfunktionen und das Situationsbewusstsein, die motorische Kontrolle sowie Denk- und Problemlöseprozesse negativ (Krajewski, 2008). Im Verkehr sind auch Mikroschlafereignisse von Bedeutung, d. h. kurzfristige unwillkürliche Verluste der Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit (ebenda). Ermüdungsprozesse des Fahrers werden durch charakteristische Änderungen des Lidschlagverhaltens begleitet (Hargutt, 2003). Ein zweiter relevanter mittelfristiger Einfluss auf das Fahrerverhalten ist der Konsum von Alkohol, Drogen und Medikamenten. Alkoholbedingte Leistungseinbußen des Fahrerverhaltens nehmen ab einem Blutalkoholgehalt von 0.5 ‰ ein deutliches Ausmaß an und vergrößern sich anschließend exponentiell (Huemer & Vollrath, 2008). Die Autoren finden, dass durch Alkoholisierung vor allem komplexe Prozesse der Informationsverarbeitung und Handlungsplanung beeinträchtigt werden. Automatisierte Handlungen sind weniger betroffen. Zu den langfristig veränderlichen bzw. unveränderlichen Faktoren ist zum einen das Alter des Fahrers zu nennen. Mit zunehmendem Alter treten typische Veränderungen ein, welche sich auf Reaktionen in kritischen Situationen auswirken können. Engeln und Schlag (in Druck) nennen unter anderem das nachlassende Seh- und Hörvermögen, verringerte Fähigkeiten zu selektiver Aufmerksamkeit und zu Mehrfachtätigkeiten, ein nachlassendes Leistungstempo, zunehmende Einschränkungen der körperlichen Beweglichkeit (vgl. Rinkenauer, 2008), eine zunehmende Gefahr der Überforderung bei hohen/ komplexen Leistungsanforderungen, häufigere Erkrankungen (vgl. Ewert, 2008) und damit einhergehend zunehmenden Medikamentengebrauch. Diese Problemfelder werden in Schlag (1999) der Wahrnehmung, kognitiven Verarbeitung, Entscheidung/ Handlungsvorbereitung sowie der Handlungsausführung zugeordnet. Alterungsprozesse weisen hohe interindividuelle Unterschiede auf (Engeln & Schlag, in Druck) und können oft durch veränderte Ressourcen oder Strategien kompensiert werden (vgl. Engeln & Schlag, 2008). In kritischen Situationen werden überwiegend langsamere Bremsreaktionszeiten älterer Probanden festgestellt (Green, 2000), diese werden z. T. durch eine höhere Bremskraft kompensiert (Brown, 2005). Da
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
65
ältere Menschen einen zunehmenden Anteil der Fahrzeugführer darstellen (vgl. Schlag, 2008), ist es notwendig, sie bei der Entwicklung zukünftiger FAS gleichwertig neben Fahrern jüngerer Altersgruppen zu berücksichtigen. Mit dem Alter verbunden ist eine zunehmende Fahrerfahrung. Unerfahrene Autofahrer verfügen über noch nicht voll entwickelte und automatisierte Fahrfähigkeiten. Je häufiger eine Verkehrssituation erfahren wird, um so stärker bildet sich gewohnheitsmäßiges Fahrerverhalten für diese aus, die Reaktion des Fahrers ist zunehmend der Manöver- oder Stabilisierungsebene zuzuordnen (Donges, 1999). Bei der Fahrzeugführung erlernen Fahranfänger die Grenzen der Fahrdynamik im Sinne eines „trial-and-error“-Lernens (Fuller, 2007). Das Erleben plötzlicher unangenehm hoher Beschleunigungen oder eines BeinaheVerlustes der Fahrzeugkontrolle wirkt verhaltenshemmend. Diese Erfahrungen werden zunehmend auf vergleichbare andere Verkehrssituationen transferiert (Fuller, 2007). Weiterhin können riskante Motivationen junger Fahrer sowie eine Überschätzung des Fahrkönnens zu einer erhöhten Unfallbeteiligung beitragen (Schlag, Ellinghaus & Steinbrecher, 1986). Höger und Seidenstücker (2006) berichten, dass Fahranfänger im Vergleich zu erfahrenen Fahrern Gefahren erst nach einem intensiveren Abscannen von am PC dargestellten Verkehrssituationen erkennen. Auch das Bremsverhalten verändert sich mit der Fahrerfahrung. Ungeübte Fahrer neigen dazu, in kritischen Situationen 100 bis 200 ms nach Bremsbeginn die Kraft auf das Bremspedal wieder zu reduzieren (Zomotor, 1991) und erst wieder zu erhöhen, wenn sich die wahrgenommene Kritikalität erneut erhöht. Vergleichbar beschreibt auch Newcomb (1981) das Verzögerungsverhalten ungeübter Fahrer als oszillatorisch, da die Bremsreaktion sehr häufig an die visuell wahrgenommene Verkehrssituation angepasst wird. Geübte Fahrer nutzen hingegen verstärkt propriozeptive Informationen und zeigen ein stabileres und effizienteres Verzögerungsverhalten. Die Geschwindigkeit von typischen Bewegungsabläufen steigt ebenfalls mit der Erfahrung an (vgl. Bloedel & Tillery, 1992). Ein bedeutsamer Einfluss der Fahrerfahrung auf die Reaktionen bei autonomen Notbremsungen ist kaum anzunehmen, da die Eingriffe auch für geübte Fahrer ungewohnt sind. Ergebnisse zum Einfluss des Geschlechts auf Fahrerreaktionen in kritischen Situationen sind gemischt (z. B. Green, 2000). In einigen Studien werden schnellere Bremsreaktionszeiten bei Männern, in anderen werden keine signifikanten Geschlechtsunterschiede gefunden (ebenda). Neben den Reaktionszeiten variiert auch die Körperkraft zwischen Männern und Frauen. Von Männern können höhere Bremsdrücke und damit Fahrzeugverzögerungen erreicht werden (vgl. Rühmann & Schmidtke, 1992; Kiefer, LeBlanc et al., 2005). Der Fahrstil eines Fahrers beeinflusst, wie häufig kritische Situationen erlebt werden und wie der Fahrer auf diese reagiert. Er hängt mit typischen im Fahrzeug aufgebrachten Kräften zusammen (Zuschlag & Küster, 1977). Buld et al. (2002) bringen die fahrstilabhängige Parameterwahl für Abstandsregeltempomaten (s. Abschnitt 2.4.4) in Zusammenhang mit einer individuellen Sensibilität für kinästhetische Reize. Riskantes Fahrerverhalten geht mit spezifischen Merkmalen der Fahrerpersönlichkeit einher, z. B. Wut und Feindseligkeit, Gewissenhaftigkeit sowie Sensation Seeking (Schwebel, Severson, Ball & Rizzo, 2006). Der Fahrstil äußert sich vor allem in der Längs- und Querbeschleunigung bzw. -verzögerung, aber auch der gefahrenen Geschwindigkeit, in Zeitabständen zum vorausfahrenden Fahrzeug und der Anzahl an Spurwechseln und Überholmanövern (Deml, Blaschke & Färber,
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
2006, Deml, Freyer & Färber, 2007; Bielaczek, 1998; Biral, Lio & Bertolazzi, 2005). In den Ergebnissen von Deml et al. (2007), welche Fahrerverhalten im Realverkehr untersuchen, ist erkennbar, dass sich die aktuelle Verkehrssituation deutlicher auf erreichte Querbeschleunigungswerte auswirken kann als der Fahrstil des Fahrers. Taieb-Maimon und Shinar (2001) stellen in Bezug auf das Abstandsverhalten fest, dass dieses nicht signifikant zu der im Mock-up gemessenen Bremsreaktionszeit korreliert. Das Abstandsverhalten hängt positiv mit der Zahl an Verkehrsregelverletzungen, jedoch nicht mit der Anzahl erlebter Unfälle zusammen (Maltz & Shinar, 2007). Bei der Stichprobenwahl wird auf ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen sowie mehreren Altersklassen geachtet. Da das Alter mit der Fahrerfahrung i. d. R. korreliert, wird letztere nicht explizit in der Stichprobenwahl berücksichtigt. Kurz- und mittelfristige Faktoren werden soweit möglich konstant gehalten.
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen Der Abschnitt stellt Kollisionswarnungen vor, die den Fahrer auf eine unmittelbare Gefahr aufmerksam machen. Reaktionen auf Fehlwarnungen und Vertrauen in Warnsysteme werden aufbauend betrachtet. Kollisionswarnungen sind in dieser Arbeit v. a. für Fahrversuch II relevant, bei welchem Warnungen und Notbremseingriffe kombiniert werden.
2.3.1 Warngestaltung und Reaktionen bei Kollisionswarnungen Zunächst werden die Ziele und Grenzen von Kollisionswarnungen vorgestellt, bevor detailliert auf ihre Gestaltung eingegangen wird. Bei der Gestaltung werden unter anderem die Warnmodalität, die Kombination mehrerer Warnelemente und der Warnzeitpunkt betrachtet. Der Abschnitt schließt mit Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen. Ziele und Grenzen von Kollisionswarnungen KVS bezwecken, den Fahrer in kritischen Situationen zu aktivieren, seine Aufmerksamkeit auf die drohende Unfallgefahr zu lenken und eine kollisionsvermeidende Fahrerreaktion zu begünstigen (Lee et al., 2000). Kollisionswarnungen werden ausgelöst, wenn aus fahrzeugseitiger Sicht eine unmittelbare Fahrerreaktion notwendig ist (Dingus, Jahns et al., 1997). Sie sollten so gestaltet sein, dass sie im Kontext der kritischen Situation möglichst wenig bewusste Informationsverarbeitung beanspruchen und die adäquate Fahrerreaktion möglichst unmittelbar bewirken (ISO/TR 16352). Die Gestaltung von Kollisionswarnsystemen wird durch mehrere nachteilige Effekte erschwert. Sie können in kritischen Verkehrssituationen die Informationsverarbeitung des Fahrers überfordern und ihn zusätzlich beanspruchen (Dingus, Jahns et al., 1997). Ungünstig gestaltete Kollisionswarnungen können den Fahrer ablenken und die Wahrnehmung der Verkehrssituation verzögern (Kassner, 2007) oder eine schon in Gang gesetzte Bremsreaktion stören (Dingus, Jahns et al., 1997). Langfristige ungünstige Wirkungen bestehen z. B. in unangemessenem Systemvertrauen und sicherheitsabträglichen Verhaltensanpassungen (vgl. de Waard & van der Hulst, 1999; Weller & Schlag, 2004; Dingus, Jahns et al., 1997;
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
67
s. Abschnitt 2.3.3). Gibt ein Kollisionswarnsystem Warnungen aus, die als unnötig oder falsch empfunden werden, kann es zur Verärgerung und zur Systemabschaltung kommen (vgl. Abschnitt 2.3.2). Diese Reaktionen können im ungünstigsten Fall das Gegenteil der eigentlichen Zweckbestimmung von Kollisionswarnungen bewirken (Dingus, Jahns et al., 1997). Kollisionswarnungen sollten zur Einschränkung negativer Folgen gewissen Mindestanforderungen genügen. Sie sollten auffällig und eindeutig gestaltet werden, ohne Schreckreaktionen oder Ablenkungen zu verursachen (Bielaczek, 1998). Eine ausreichende Akzeptanz von Kollisionswarnungen setzt eine hohe Zuverlässigkeit und geringe Fehlwarnrate voraus (Donges, 1999). Ebenfalls wenig akzeptiert werden Warnsysteme, deren Signale dem Fahrer unbekannt sind oder die ihn in seinen Handlungen behindern oder bevormunden (Bielaczek, 1998; Nilsson et al., 1991; vgl. Kassner, 2007). Da objektiv kritische Verkehrssituationen für die meisten Fahrer seltene Ereignisse darstellen, müssen Kollisionswarnungen auch ohne Übung oder Erwartung unmittelbar und richtig interpretierbar sein (Graham, 1999). Warnmodalität Aufgrund der starken Auslastung des visuellen Sinnes bei der Fahrzeugführung stellt sich die Frage, in welcher Sinnesmodalität Kollisionswarnungen auszugeben sind (Spence & Ho, 2008). Neben dem visuellen bieten sich der akustische, taktile, vestibuläre sowie propriozeptive/ kinästhetische Sinn an (ebenda).3 In Tabelle 2.3 werden Untersuchungen von Kollisionswarnungen in den verschiedenen Modalitäten zusammengestellt. Der vestibuläre Sinn wird gemeinsam mit dem propriozeptiven/ kinästhetischen betrachtet.
3
Die taktile Modalität schließt in dieser Arbeit ausschließlich die Wahrnehmung von Berührung, Druck, Vibration oder Kälte/Wärme über die Mechano- und Thermosensoren der Haut ein. Der Begriff der „haptischen“ Wahrnehmung umfasst als Oberbegriff die taktile, vestibuläre sowie propriozeptive/ kinästhetische Modalitäten (vgl. Buschardt, 2003).
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen Tabelle 2.3: Studien zu Kollisionswarnungen in verschiedenen Warnmodalitäten
Modalität
Ausprägung
Studien (Auswahl)
visuell
statisches Display
Ho, Spence & Tan (2005); NHTSA (2002); Bielaczek (1998); Lee et al. (2002)2 ; Maltz & Shinar (2004)2 ; Shinar & Schechtman (2002)2 ; Stößel (2006)2 ; Gish & Mercadante (2001)2
blinkendes Display
Scott & Gray (2008); Hoffmann & Winner (2008a)2 ; NHTSA (2005)2 ; Lenné, Triggs, Mulvihill & Regan (2008)2 ; Kiefer, Cassar et al. (2005)2 ; Fricke (2008)2
mehrstufiges Display
NHTSA (2002)2 ; NHTSA (2005)2 ; Dingus, McGehee et al. (1997)2 ; Hoffman et al. (2003)2 ; Kiefer, Cassar et al. (2005)2
Earcon1
Graham (1999); Abe & Richardson (2004, 2006); Scott & Gray (2008); Maltz & Shinar (2007); Wang, Proctor & Pick (2003); Lerner, Dekker et al. (1996); Bliss & Acton (2000, 2003); Ben-Yaacov et al. (2002); Lee et al. (2002)2 ; Maltz & Shinar (2004)2 ; Shinar & Schechtman (2002)2 ; Kiefer, Cassar et al. (2005)2 ; NHTSA (2002)2 ; Gish & Mercadante (2001)2 ; Fricke (2008)2
Sprachwarnung
Graham (1999); Lerner, Dekker et al. (1996); Brown (2005)2 ; Dingus, McGehee et al. (1997)2 ; Maltz & Shinar (2004)2 ; NHTSA (2005)2 ; Lenné et al. (2008)2
Auditory icon1
Graham (1999); Hoffmann & Winner (2008a); Roßmeier, Grabsch & Rimini-Döring (2005); Ho et al. (2005); Ziegler, Franke, Renner & Kühnle (1995); Stößel (2006)2 ; Bielaczek (1998)2 ; Navarro, Mars & Hoc (2007); Navarro, Mars, Forzy, El-Jaafari & Hoc (2008)2 ; Fricke (2008)2
vibrotaktile Warnung
Sitz: Mann & Popken (2004); Navarro et al. (2007, 2008); NHTSA (2002)2 ; Hoffmann & Winner (2008a)2 ; Hoffman et al. (2003)2 ; an Bauch und Rücken: Scott & Gray (2008); Ho et al. (2005); Lenkrad: Navarro et al. (2007, 2008)
Gurtstraffer
Färber & Färber (2003, unveröff.); vgl. Färber & Maurer (2005)
Lenkruck/ Drehschwingung am Lenkrad
Suzuki & Jansson (2003); Tijerina et al. (2000); Kullack, Ehrenpfordt & Eggert (2007); Ziegler et al. (1995); Mann & Popken (2004); Bielaczek (1998)2 ; Navarro et al. (2007, 2008)2
Bremsruck
Tijerina et al. (2000); Hoffmann & Winner (2008a); Brown (2005)2 ; s. Färber & Maurer (2005)
Druckpunkt/ Gegendruck am Gaspedal Variable Betätigungskraft an Stellgliedern
Lange, Tönnis, Bubb & Klinker (2006); Vlassenroot et al. (2007); Adell & Várhelyi (2008); Enriquez & MacLean (2004)
akustisch
taktil
vestibulär/ propriozeptiv/ kinästhetisch
1 2
Lenkrad und Gaspedal: Bielaczek (1998)
Earcon: unbekanntes Tonsignal, dessen Bedeutung erlernt werden muss, Auditory Icon: bekanntes Tonsignal, dessen Bedeutung hoch erlernt ist (Auch) Kombination mit anderen Warnelementen untersucht
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
69
Visuelle Warnungen zeichnen sich vor allem durch ihre Farbe, Form, Beschriftung u. ä. aus. (Timpe, 1990). Für unmittelbare Kollisionswarnungen schreibt die ISO/FDIS 15623 rote und stark erleuchtete Signale in Hauptblickrichtung des Fahrers vor. Eine hohe Blinkfrequenz des Signals wird empfohlen. Der Grund für die Warnung kann über Verwendung bekannter Darstellungen oder Symbole spezifisch dargestellt werden (Brown, 2005). Daneben spielt im Fahrzeugkontext auch der Warnort (z. B. Kombiinstrument, High Head Down Display [HHDD], Head Up Display [HUD], Mittelkonsole, Spiegel, Säulen) sowie die zeitliche Dynamik eine wichtige Rolle, um die Fahreraufmerksamkeit auf die kritische Verkehrssituation lenken und die Dringlichkeit der Situation darstellen zu können. Statisch dargebotene Warnlampen im Kombiinstrument werden häufig übersehen (Bielaczek, 1998). Bei der Gestaltung visueller Warnungen ist darauf zu achten, dass sie auch ohne Erwartung mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wahrgenommen werden, aber den Fahrer nicht von der Gefahr ablenken (Dingus, Jahns et al., 1997). Akustische Warnungen bieten gegenüber der Mehrzahl visueller Displays den Vorteil, dass sie unabhängig von der aktuellen Blickrichtung wahrgenommen werden können.4 Schnellere Reaktionen auf akustische im Vergleich zu visuellen Warnungen werden vereinzelt festgestellt (s. Maltz & Shinar, 2004, 2007; Wang et al., 2003; Brown, 2005). Andere Studien berichten keine signifikanten Unterschiede zwischen visuellen und akustischen Warnungen (Scott & Gray, 2008; Ho et al., 2005). Bei akustischen Warnungen werden so genannte Earcons (abstrakte, synthetische Töne, deren Bedeutung erst gelernt werden muss) von Sprachwarnungen und Auditory icons (nichtsprachliche, bereits bekannte Töne, die intuitiv mit dem kritischen Ereignis verbunden werden können, z. B. Hupton, Reifenqietschen) getrennt (Graham, 1999). Die NHTSA (2002) berichtet eine Überlegenheit nichtsprachlicher gegenüber sprachlichen Tonwarnungen (jeweils in Kombination mit visueller Warnung). Graham stellt im Vergleich dieser drei Varianten fest, dass Auditory icons die kürzesten Bremsreaktionszeiten hervorrufen. Die kürzesten Bremsreaktionszeiten ergeben sich insgesamt beim Hupton, dieser erfährt auch eine bessere subjektive Bewertung als eine Warnung mittels „Reifenquietschen“. Gleichzeitig steigt bei Auditory icons im Gegensatz zu Earcons bzw. Sprachwarnungen die Anzahl unangemessener Bremsreaktionen bei falschen Warnungen (15.6% nach Auditory icons vs. 8.3% nach Sprachwarnungen und 9.4% nach Earcons). McGehee, LeBlanc, Kiefer und Salinger (2002) empfehlen, akustische Warnungen aus der prinzipiellen Richtung der Gefahr darzubieten (vgl. Spence & Driver, 2004). Der Hauptfrequenzbereich akustischer Warnungen sollte im zwischen 500 und 2 000 Hz liegen, um für alle, auch ältere, Fahrer ausreichend gut hörbar zu sein (ISO/TR 16352). Reine Töne sind nicht für Kollisionswarnungen zu verwenden (ISO/FDIS 15623). Der Signalpegel sollte bis zu 15 dB(A) über den Hintergrundgeräuschen liegen, um ausreichend gut wahrgenommen zu werden, aber den Fahrer nicht zu erschrecken (DIN EN ISO 15006; Brown, 2005). Er soll der Warnstufe entsprechen, d. h. imminente Kollisionswarnungen sollten am lautesten dargeboten werden (ISO/TR 16352; ISO/FDIS 15623). Haptisch, d. h. taktil, vestibulär und/oder propriozeptiv/ kinästhetisch dargebotene Kollisionswarnungen bewirken gegenüber den anderen Warnmodalitäten die schnellsten Fahrerreaktionen (Förster, 1992; Bielaczek, 1998; Scott & Gray, 4
In der visuellen Modalität kann dieser Nachteil z. B. über sehr große und sehr helle Displays abgeschwächt werden, was jedoch gleichzeitig zu ungewünschter Blendung führen kann.
70
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
2008; Ho et al., 2005; Brown, 2005). Sie können oft ohne Beteiligung höherer kognitiver Prozesse verarbeitet werden (Bielaczek, 1998) und auch bei lauten Hintergrundgeräuschen und starker visueller Belastung des Fahrers wahrgenommen werden. Sie sind nicht von der Blickrichtung des Fahrers abhängig. Taktile und ein Teil der propriozeptiv dargebotenen Warnungen (z. B. Lenkruck) erfordern einen direkten Kontakt zwischen dem Fahrer und dem Anzeigeelement. Bei der Gestaltung vestibulärer oder propriozeptiver Warnreize ist zu beachten, dass das Warnsignal nicht mit anderen Ursachen für diese Empfindung verwechselt werden darf, z. B. plötzlicher Seitenwind, Unebenheiten in der Straße oder kleine Objekte auf der Straßenoberfläche (s. Hallen, 1990). Bei Verwechslung des Signals können Gegenreaktionen des Fahrers ausgelöst werden. Tijerina et al. (2000) stellen am Beispiel von Warnungen mittels Bremsruck fest, dass diese bei Fehlauslösungen öfter und intensiver wahrgenommen werden als bei korrekter Auslösung. Bei korrekten Auslösungen wirken sich die Stärke und Dauer des Bremsrucks nicht auf die Bremsreaktion des Fahrers aus, er passt diese an die wahrgenommene Gefahrensituation an. Kraftrückmeldungen können in kritischen Situationen die Stellgenauigkeit verbessern und nichtintentionalen Bedienungen (z. B. Überreaktionen am Lenkrad) entgegenwirken (vgl. Rühmann & Schmidtke, 1990). Beim „aktiven Gaspedal“ werden dem Fahrer Kraftrückmeldungen gegeben, z. B. in Form eines Druckpunktes bei zu hoher Geschwindigkeit, zu geringem Abstand oder der Gefahr einer Frontalkollision. Diese sind durch kräftigere Gaspedalbetätigung überstimmbar (Bielaczek, 1998; Landerretche, 2002; Lange et al., 2006; Vlassenroot et al., 2007; Adell & Várhelyi, 2008). In dieser Arbeit wird der haptische Sinn durch die autonomen Notbremseingriffe angesprochen. Zusätzliche Warnungen werden akustisch mittels Auditory icon (Hupton) von vorn dargeboten, um keine Blickabwendung zu erfordern. Visuelle Warnungen können im genutzten Versuchsträger nicht sinnvoll dargestellt werden, so dass auf diese verzichtet wird. Gestaltung von Kollisionswarnungen Dingus, Jahns et al. (1997) fassen wichtige Prinzipien für die Gestaltung von Kollisionswarnungen zusammen, unter anderem die Lenkung der Fahreraufmerksamkeit auf die Gefahrenstelle, Redundanz einzelner Warnelemente, sowie eindeutige und klar von anderen Informationen unterscheidbare Warnungen. Warnende, d. h. aktivierende, Signale erfordern eine gewisse Mindestintensität (vgl. ISO/FDIS 15623). Sie müssen sich gegenüber anderen Empfindungen (z. B. Autoradio, Wind, extern verursachte Vibrationen, Unterhaltungen) durchsetzen (vgl. Lerner, Dekker et al., 1996). Reaktionen auf berechtigte Kollisionswarnungen erfolgen häufiger, schneller und heftiger, je intensiver bzw. dringlicher die Warnung gestaltet ist (Bliss et al., 1995; Bliss & Acton, 2000, 2003; Green, 2000; Brown, 2005). Die Intensität beeinflusst neben der Wirkung auch das Störungsmaß im Fehlerfall. Zu intensive Warnungen führen leicht zu Schreckreaktionen, vor allem bei steiler Anstiegsflanke. Mehrstufige Warnungen vermitteln eine sich erhöhende Kritikalität der Verkehrssituation. Sie stellen den Übergang von hinweisender zu warnender Assistenz dar (s. Dingus, Jahns et al., 1997). In der Untersuchung der NHTSA (2002) stellt sich ein mehrstufiges visuelles Display im HUD als vorteilhaft heraus, welches die sich vergrößernde Rückan-
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
71
sicht des vorausfahrenden Fahrzeugs nachempfindet und durch farbliche Kodierung den Kritikalitätsgrad vermittelt. Eine Umsetzung mehrstufiger Warn-/ Eingriffskonzepte für Serienprodukte beschreiben zum Beispiel Gayko und Kodaka (2005, das Collision Mitigation brake System [CMS] von Honda, vgl. Färber & Maurer, 2005) sowie Mücke und Breuer (2007, PRE-SAFE® -Bremse der Daimler AG). Kiefer et al. (1999) favorisieren hingegen eine einstufige Warnung, um nicht unnötig komplex und ausschließlich bei Notwendigkeit zu warnen. Kollisionswarnungen sollten weiterhin kompatibel zum kritischen Ereignis bzw. der erforderlichen Vermeidungshandlung gestaltet werden (Groeger, 2000; Green, 2000; vgl. Hacker, 1998; Wickens, 1992; zur Kompatibilität s. Abschnitt 1.1). Kompatible, d. h. zur Situation hinsichtlich Richtung, Bedeutung, Handlung und/oder Effekt passende Warnungen (vgl. Timpe, 1990; Häcker & Stapf, 1998) bewirken eine schnellere und richtigere Aktivierung der erforderlichen Handlungspläne. Stimmt ein Hinweisreiz mit dem Effekt der auszuführenden Handlung überein, ist ideo-motorische Kompatibilität gegeben (Häcker & Stapf, 1998). Dies gilt z. B. für das Auditory icon „Reifenquietschen“ oder eine Aufforderung zur Bremsreaktion mittels Bremsruck bzw. autonomen Bremseingriff. Für Warnungen, welche die Querführung betreffen, werden daher Signale am Lenkrad empfohlen, für Bremsaufforderungen sind Verzögerungen in Längsrichtung vorteilhaft (Tijerina et al., 2000). Reaktionsvorteile sind auch durch multimodale Warnungen zu erwarten, bei denen mehrere Warnelemente über verschiedene Sinnesmodalitäten dargeboten werden. Einerseits werden dadurch Nachteile einzelner Warnmodalitäten (s. o.) umgangen. Anderseits bewirkt eine multimodale Warndarbietung im Vergleich zu unimodalen Warnungen eine bessere Erkennung und schnellere Reaktionszeiten (Fricke, 2008; Belz, Robinson & Casali, 1998, zit. nach Brown, 2005; Stößel, 2006; Voss & Bouis, 1979, zit. nach Bielaczek, 1998). Die Verkürzung der Reaktionszeit bei multimodalen Warnungen wird mit dem „redundant target effect“ in Verbindung gebracht, d. h. eine Verstärkung von Reiz-Reaktions-Verbindungen aufgrund gemeinsamer Koaktivierung, wenn der Reiz gleichzeitig über mehrere Modalitäten präsentiert wird (Miller, 1982, 1986, 1991; vgl. Posner, 1986, und Wickens & Hollands, 2000). Die redundante Kodierung führt zu einer schnelleren und richtigeren Reaktionsauslösung. Die ISO/TR 16352 sowie Lerner, Kotwal, Lyons und Gardner-Bonneau (1996) fordern entsprechend, dass unmittelbare Kollisionswarnungen in mindestens zwei Modalitäten präsentiert werden (visuell-akustisch oder visuell-haptisch). Akustische Warnungen werden dabei als bedeutender eingestuft. Die visuelle Modalität wird in der ISO/FDIS 15623 hingegen ausschließlich ergänzend empfohlen. In einigen Untersuchungen führen zu viele Elemente einer Warnung dazu, dass die Reaktionszeiten wieder ansteigen (z. B. NHTSA, 2002; Stößel, 2006). Es ist zu empfehlen, Kollisionswarnungen nicht zu komplex zu gestalten, um den Fahrer nicht unnötig abzulenken. In dieser Arbeit sollen maximal zwei Modalitäten angesprochen werden (s. o.). Die Warnelemente besitzen dabei eine hohe Kompatibilität zur erforderlichen Vermeidungshandlung, d. h. einer Vollbremsreaktion. Auf mehrstufige Warnungen wird verzichtet, damit die Fahrerreaktionen nicht vor Beginn der im Mittelpunkt stehenden autonomen Notbremseingriffe abgeschlossen sind.
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Warnzeitpunkt Neben der Warngestaltung ist auch der Warnzeitpunkt ein kritisches Element in der Entwicklung angemessener Kollisionswarnsysteme (Wilhelm, 2006). Zu frühe Warnungen können dazu führen, dass der Fahrer den Grund der Warnung nicht erkennt, er durch die Warnung gestört oder verärgert wird und zunehmend nicht mehr angemessen auf die Warnung reagiert. Zu späte Warnungen sind häufig ineffektiv oder stören eine eingeleitete Bremshandlung (Lee et al., 2002; Kiefer, LeBlanc et al., 2005). Kapitel 1 gibt einen ersten Einblick in die Problematik, einen angemessenen Warnzeitpunkt für KVS zu definieren, der für eine möglichst große Breite verschiedener Verkehrssituationen Gültigkeit besitzt. Frühe Warnzeitpunkte stellen sich in mehreren Simulatorstudien als vorteilhaft in Bezug auf die Fahrerreaktion heraus (z. B. Lee et al., 2002; Abe & Richardson, 2006). Lee et al. (2002) sowie Abe und Richardson (2006) stellen unter anderem ein früheres Loslassen des Gaspedals und damit eine insgesamt geringere Bremsreaktionszeit bei frühen akustisch bzw. visuell und akustisch dargebotenen Warnungen im Vergleich zu späten Warnungen (Lee et al., 2002) oder gar keinen Warnungen (Lee et al., 2002; Abe & Richardson, 2006) fest. In der Untersuchung von Lee et al. werden bei dem frühen Warnzeitpunkt prozentual mehr Kollisionen vermieden und geringere Kollisionsgeschwindigkeiten erreicht (vgl. Brown et al., 2001). Ein sehr spät warnendes KVS, welches dem Fahrer nicht genügend Zeit zur Fahrerreaktion lässt, kann im Vergleich zu keinem Warnsystem zu mehr Kollisionen führen (McGehee, Brown, Wilson & Burns, 1998, zit. nach Brown et al., 2001). Die Umsetzzeit wird nicht durch den Warnzeitpunkt beeinflusst (Lee et al., 2002; Abe & Richardson, 2004). Andere Untersuchungen (z. B. Scott & Gray, 2008) finden längere Bremsreaktionszeiten bei frühen im Vergleich zu späten Warnungen. Diese Unterschiede können darin begründet sein, welche Zeitpunkte jeweils als früh oder spät definiert werden. Der frühe Warnzeitpunkt liegt in der Untersuchung von Scott und Gray mit 5 s TTC schon nahezu im unkritischen Bereich, so dass eine verlängerte Bremsreaktionszeit kein kritisches Fahrerverhalten darstellt, sondern eine Anpassung an die Verkehrssituation widerspiegelt. Die Wahrscheinlichkeit einer Kollision steigt an, je weniger Zeit zur Unfallvermeidung zur Verfügung steht (Brown et al., 2001). Frühe Warnungen können oft nicht bei 100%iger Sicherheit über eine drohende Gefahr ausgegeben werden, auch bei technisch perfekter Umfelderkennung. Ein drohender Auffahrunfall kann zudem bei hohen Relativgeschwindigkeiten durch Ausweichmanöver verhindert werden, wenn vermeidende Notbremsungen nicht mehr möglich sind (Häring et al., 2008; Nitz & Zahn, 2008, s. Abbildung 2.4). Ein ähnliches „Warndilemma“ betrifft den Warnzeitpunkt für aufmerksame vs. unaufmerksame Fahrer (eine Beschreibung ist Abschnitt 1.1 zu entnehmen). Bielaczek (1998) schlägt vor, den Warnzeitpunkt an die Fahrweise des Fahrzeugsführers adaptiv anzupassen, um störende Warnungen bei sportlichen Fahrern zu unterdrücken und weniger sportlichen Fahrern trotzdem rechtzeitige Warnungen ausgeben zu können. Einen weiteren Ausweg bildet die rechtzeitige Erkennung der Fahrerintention (vgl. Abschnitt 1.1), um z. B. eine Überhol- oder Spurwechselintention zu erkennen dabei keine irrelevante Warnung auszugeben. In dieser Arbeit wird ein später Warnzeitpunkt gewählt (900 ms vor Einsatz der autonomen Notbremsung), da die Verkehrssituation durch die Notbremsung zusätzlich entschärft
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
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Abstand [m]
Systembremsung (unkonditioniert) Ausweichmanöver [2m]
Geschwindigkeit vor stehendem Hindernis [m/s]
Abbildung 2.4: Letztmöglicher unfallvermeidender Abstand für Notbrems- und Ausweichmanöver in Abhängigkeit von der Relativgeschwindigkeit (Abbildung aus Nitz & Zahn, 2008)
wird und für den Untersuchungszweck sichergestellt werden muss, dass der Fahrer eine Kollision nicht vor dem Eingriff verhindert. Für früher einsetzende Warnungen sind entsprechend noch verkehrssicherere Reaktionen zu erwarten. Reaktionen auf Kollisionswarnungen Anschließend ist zu betrachten, wie Fahrer auf Kollisionswarnungen typischerweise reagieren. Es interessieren insbesondere die unmittelbaren Fahrerreaktionen, aber auch die langfristigen Anpassungen an ein warnendes FAS. Zahlreiche Studien zur Wirkung von Warnungen, welche im Fahrsimulator oder öffentlichen Verkehr durchgeführt werden, schlussfolgern, dass Kollisionswarnungen Bremsreaktionen oft nicht unmittelbar auslösen. In einer Untersuchung von Bielaczek (1998) werden nahezu alle Warnungen (variable Betätigungskräfte am Gaspedal) in nichtkritischen, oft bewusst herbeigeführten Fahrsituationen ausgegeben. Obwohl die Warnungen deutlich wahrgenommen werden, erfolgen keine Reaktionen auf die Warnungen. Ähnliche Erfahrungen werden von der NHTSA berichtet (2005), auch hier wird mehrheitlich in nichtkritischen Situationen gewarnt. Gleiches gilt für die Studie von Gish und Mercadante (2001), bei denen die Kollisionsgefahr aus Sicherheitsgründen vergleichsweise früh gelöst wird. Fahrsimulatorstudien geben einen genaueren Einblick in die Fahrerreaktionen nach Warnung des Fahrers. Lee et al. (2004) und Yamada und Kuchar (2006) stellen fest, dass die Probanden bei Warnbeginn dazu tendieren, das Gaspedal loszulassen, auch wenn noch nicht wahrgenommen werden kann, ob die Warnung berechtigt ist. Das Bremspedal wird betätigt, wenn die kritische Verkehrssituation festgestellt wird (Yamada & Kuchar, 2006). Die Umsetzzeit wird nicht durch die Warngestaltung (Lee et al., 2004; Hoffmann & Winner, 2008a) oder überhaupt die Ausgabe einer Warnung (Lee et al., 2002) verkürzt. Frühe Warnungen ermöglichen längere Schwellzeiten, d. h. langsamere Bremsungen (Lee et al., 2002), was
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
ebenfalls die Anpassung der Bremsreaktion an die Verkehrssituation widerspiegelt. Der Vergleich von aufmerksamen und abgelenkten Fahrern zeigt in Lee et al. (2002), dass das Fahrerverhalten mit Warnung hinsichtlich der untersuchten Reaktionszeiten ähnlicher ausfällt als ohne Warnung. Dies unterstreicht, dass durch die Warnung die Fahreraufmerksamkeit auf die gefährliche Situation gelenkt wird (vgl. NHTSA, 2005). Der anschließende Prozess hängt von der wahrgenommenen Verkehrssituation ab. Im Falle notwendiger Lenkreaktionen können Fahrerreaktionen direkt durch Warnungen ausgelöst werden (Roßmeier et al., 2005). Die Autoren stellen in ihrer Untersuchung von direktionalen akustischen Lane Departure Warnings bei schläfrigen Fahrern fest, dass nahezu 50% der Fahrer in weniger als 190 ms nach dem Öffnen der Augen reagieren, d. h. vor Ablauf der geringstmöglichen Reaktionsgrundzeit (vgl. Welford, 1980). Die direkte Auslösung der Fahrerreaktion kann in Zusammenhang mit Systemvertrauen stehen, da die Warnungen in der Studie mit wenigen Ausnahmen berechtigt erfolgen (vgl. Abschnitt 2.3.3). Eine direkte Auslösung von Reaktionen durch Warnungen beobachten auch Hackley und Valle-Inclán (2003) in einer Laborstudie. Bliss und Acton (2000, 2003) zufolge wird die erste Fahrerreaktion nach einer Warnung häufig automatisch ausgelöst, anschließend die aktuelle Verkehrssituation überdacht und entsprechend dieser reagiert. Die Hauptvorteile einer Kollisionswarnung liegen zusammenfassend in der Aufmerksamkeitslenkung und einem frühen Loslassen des Gaspedals. Die Probanden versetzen sich durch die Kollisionswarnung in Bremsbereitschaft und passen die Bremsung der aktuellen Verkehrssituation an. Eine Reaktion auf Warnungen ohne Analyse der Verkehrssituation ist hingegen mit übersteigertem Systemvertrauen in Zusammenhang zu bringen. Wird fälschlich auf eine Warnung reagiert, kann das Verhalten anschließend angepasst werden. Neben der unmittelbaren Aufmerksamkeitslenkung bzw. Auslösung von Fahrerreaktionen wirken Warnsysteme auch indirekt auf das Fahrerverhalten. Shinar und Schechtman (2002) stellen fest, dass nach Einführung eines Abstandswarnsystems der durchschnittliche Zeitabstand sehr schnell ansteigt. Ben-Yaacov et al. (2002) zufolge hält die Wirkung eines auf der Teststrecke erlebten Abstandswarnsystem auch langfristig an, wenn die Probanden nach sechs Monaten zu einer erneuten Fahrt auf der Teststrecke (ohne Abstandswarnsystem) eingeladen werden. Burns (2004) stellt für warnende und eingreifende FAS fest, dass der Fahrer sein Fahrerverhalten so anpasst, dass eine Auslösung von Warnungen bzw. Eingriffen vermieden wird (vgl. Rimini-Döring, Altmüller, Ladstätter & Roßmeier, 2005). Von Kollisionswarnungen wird in dieser Arbeit erwartet, dass sie die Aufmerksamkeit für die Fahrsituation steigern und dem Fahrer helfen, schnell und intensiv auf eine Gefahr zu reagieren. Bei falschen Warnungen ist anzunehmen, dass sich ein Teil der Fahrer fehlerhaft in Bremsbereitschaft versetzt, dieses Verhalten aber anschließend korrigiert.
2.3.2 Reaktionen auf Fehlwarnungen Reaktionen auf Fehlwarnungen werden betrachtet, da fehlerhafte FAS-Interventionen wie in Abschnitt 2.1.3 erläutert zur Untersuchung von Überstimmungsintentionen darzustellen sind. Es wird davon ausgegangen, dass Reaktionen auf Fehlwarnungen erste Hinweise darauf geben, wie Fahrer auf fehlerhafte autonome Notbremseingriffe reagieren.
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
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Warnsysteme bergen stets das Risiko, fehlerhafte Entscheidungen zu treffen und den menschlichen Operateur entweder in kritischen Situation nicht zu warnen (ausbleibende Warnungen) oder in unkritischen Situationen eine Warnung auszugeben (Fehlwarnung). Die Definition einer kritischen Situation durch ein Warnsystem kann von der Wahrnehmung des Operateurs abweichen. So sind im Straßenverkehr Situationen denkbar, die aus Sicht abgeleiteter Kennziffern eine hohe Kritikalität in sich bergen, die durch den Fahrer jedoch nicht als drohende Kollisionsgefahr wahrgenommen werden. In diesen Situationen ausgegebene Warnungen werden als Fehlwarnungen wahrgenommen, sie haben gleiche Auswirkungen auf das Systemvertrauen wie technisch falsch ausgegebene Warnungen (Enriquez & MacLean, 2004, zum Systemvertrauen vgl. Abschnitt 2.3.3). Die Wahrnehmung einer Warnung als falsch kann von verschiedenen Fahrereigenschaften abhängen, z. B. dem Alter, der Fahrerfahrung oder den Erfahrungen mit dem Warnsystem (Gish, Staplin, Stewart & Perel, 1999; Gish & Mercadante, 2001). Eine typische Situation im Straßenverkehr, in der als fehlerhaft wahrgenommene Auffahrwarnungen auslöst werden können, ist das intendierte Auffahren vor einem Spurwechsel oder Überholmanöver (s. Kiefer, LeBlanc et al., 2005). Die Auswirkungen von Fehlwarnungen betreffen verschiedene Aspekte des Fahrerverhaltens. So können Fehlwarnungen intensiver wahrgenommen werden als korrekte, was Tijerina et al. (2000) am Beispiel des Bremsrucks zeigen. Fehlwarnungen können den Fahrer ablenken (Maltz & Shinar, 2004). Vor allem ältere Fahrzeugführer haben Schwierigkeiten dabei, ihre Reaktion auf akustische Fehlwarnungen zu unterdrücken (Gish et al., 1999). Insbesondere bei hoher Fehlwarnrate werden Fahrzeugführer verärgert (Maltz & Shinar, 2004; Lerner, Dekker et al., 1996). Lerner, Dekker et al. nennen verschiedene Ursachen für die Verärgerung des Fahrers, unter anderem die physikalische Intensität der Warnung, Interferenzen mit der Fahraufgabe, die Auslösung aversiver Reaktionen wie Panik oder Schreck, der Fahrerzustand oder das persönliche oder soziale Umfeld, z. B. als peinlich empfundene Fahrzeugausgaben im Beisein anderer Personen. In der Untersuchung der Autoren zeigt sich, dass hohe Fehlwarnraten und sprachliche Fehlwarnungen zu stärkerer Verärgerung der Probanden führen als niedrige Fehlwarnraten bzw. nichtsprachliche Fehlwarnungen (vgl. Kiefer et al., 1999). Fehlwarnungen können dazu führen, dass das Warnsystem abgeschaltet wird und so keinen Nutzen mehr bringt (Lerner, Dekker et al., 1996; Maltz & Shinar, 2004) oder dass die Produktakzeptanz sinkt. Die Akzeptabilität verhält sich in der Studie von Lerner, Dekker et al. invers zum Störempfinden (Korrelation: r = −0.39). Gelegentliche Fehlwarnungen führen jedoch nicht sofort zu einer Wahrnehmung des FAS als fehlerhaft oder zu einem Einbruch der Produktakzeptanz (ebenda, Marberger & Schindhelm, 2007). Hinsichtlich der motorischen Reaktionen auf eine Fehlwarnung werden in vielen Untersuchungen nicht notwendige Geschwindigkeitsreduktionen festgestellt. Fahrer lassen auch bei Fehlwarnungen häufig das Gaspedal los und betätigen z. T. leicht die Bremse, um die aktuelle Fahrsituation analysieren zu können (Maltz & Shinar, 2004; Yamada & Kuchar, 2006; vgl. das „Störungsmaß“ nach Hoffmann & Winner, 2008a). In einer Simulationsstudie, die ausschließlich Beschleunigungen und Verzögerungen des Ego-Fahrzeugs zulässt, stellen Maltz und Shinar (2004) fest, dass die Fahrgeschwindigkeit in 16% der Fälle nach Fehlwarnungen verzögert wird (nach richtigen Warnungen 86% Verzögerungen). Gish und
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Mercadante (2001) untersuchen Fahrerreaktionen bei richtigen und falschen Warnungen im Realverkehr. 16 Fahrer erleben insgesamt 18 Warnungen, von denen 14 während unkritischer Situationen erfolgen. Die Probanden sind bei allen richtigen sowie 50% der Fehlwarnungen visuell abgelenkt. In dieser Studie treten nicht notwendige Bremsungen zu 55% nach Fehlwarnungen auf. Dieser Unterschied kann auf das geänderte Versuchssetting (öffentlicher Verkehr) sowie die Fahrerablenkung zurückgeführt werden (zur Fahrerablenkung vgl. Maltz & Shinar, 2007). Der Bremsdruck ist in der Studie von Gish und Mercadante nach Fehlwarnungen deutlich geringer als nach richtigen Warnungen. Die Autoren interpretieren dieses Verhalten als Vorsichtsmaßnahme der Teilnehmer. Ebenfalls unterscheiden sich die Reaktionszeiten: Bremsreaktionen erfolgen bei richtigen Warnungen schneller (Gish & Mercadante, 2001; Maltz & Shinar, 2004). Maltz und Shinar (2004) stellen eine Reduktion der Sensitivität (d’ nach der Signal-Entdeckungs-Theorie, vgl. Green & Swets, 1966) bei zunehmender Fehlwarnrate fest. Die Autoren schlussfolgern aus den Ergebnissen ihrer Simulationsstudie, dass Fahrer gut zwischen richtigen und Fehlwarnungen unterscheiden können und ihre Reaktion vor allem an die Anforderungen der Verkehrssituation anpassen. Ein wichtiger Einflussfaktor auf die Fahrerreaktionen bei Fehlwarnungen ist die Aufmerksamkeit des Fahrers. Erfolgt eine Fehlwarnung, wenn der Fahrer nicht abgelenkt ist, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer fehlerhaften Bremsreaktion über die Zeit (Gish & Mercadante, 2001). Dies können die Autoren nicht feststellen, wenn der Fahrer zum Zeitpunkt der Fehlwarnung abgelenkt ist oder wenn die Warnung richtig erfolgt. Abbildung 2.5 zeigt die Reaktionszeiten sowie prozentualen Anteile an Bremsreaktionen in der Untersuchung von Gish und Mercadante, die in jedem Drittel der Versuchsfahrt nach richtigen und falschen Warnungen, letzte unterteilt in mit vs. ohne Fahrerablenkung, beobachtet werden. Mit Fahrerablenkung treten Bremsreaktionen nach Fehlwarnungen in 44 bis 75% der Fälle auf, die Bremsreaktionszeiten sind dabei deutlich höher als nach richtigen Warnungen oder Fehlwarnungen ohne Fahrerablenkung. In den meisten Fällen bearbeiten die Probanden nach Fehlwarnungen mit Fahrerablenkung zunächst die Zweitaufgabe und bremsen anschließend. Bei richtigen Warnungen erfolgt zumeist die Bremsung vor Bearbeitung der Zweitaufgabe. Die Fahrer analysieren die Situationen offensichtlich zumindest teilweise, bevor sie auf eine Fehlwarnung reagieren. Unter Fahrerablenkung ist auch der Bremsdruck erhöht, mit dem die Fahrer nach einer Fehlwarnung die Bremse betätigen. Weitere mögliche Fahrerreaktionen bei Fehlauslösungen wie nichtintentionale Gaspedalbetätigungen oder Schreckreaktionen werden in der Studie von Hoffmann und Winner (2008a) nicht festgestellt, wenn der Fahrer akustisch durch „Reifenquietschen“ oder durch einen Bremsruck gewarnt wird. Für diese Arbeit ist anzunehmen, dass Fehleingriffe autonomer Notbremssysteme eine Tendenz zum Loslassen des Gaspedals und zu leichten Bremsungen auslösen können. Da weitere Maßnahmen jedoch die Bildung einer bewussten Überstimmungsintention fördern sollen (vgl. Abschnitt 2.1.3) und die Fahrer nicht von der Fahraufgabe abgelenkt werden, ist damit zu rechnen, dass es beim Großteil der Fahrer nicht dazu kommt bzw. der Fahrer dieses Fehlverhalten schnell korrigiert.
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
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Warnbedingung:
Bremsreaktionszeit [s]
FW, keine Abl. FW, Ablenkung RW, Ablenkung
Teilabschnitt FW… Fehlwarnung
RW… Richtige Warnung
Abbildung 2.5: Bremsreaktionen und Bremsreaktionszeiten bei richtigen und falschen Warnungen mit und ohne Fahrerablenkung über die Versuchsdauer in einer Studie im Realverkehr (Abbildung aus Gish & Mercadante, 2001)
2.3.3 Vertrauen in Kollisionswarnungen Die langfristigen Verhaltensanpassungen an ein FAS werden vor allem durch die Wahrnehmung von dessen Möglichkeiten (vgl. Weller & Schlag, 2004) und das Vertrauen in das FAS vermittelt. Der Abschnitt gibt einen Überblick, welche langfristigen Wirkungen durch angemessenes oder unangemessenes Systemvertrauen entstehen. Lee und See (2004, S. 51) definieren Vertrauen: „Trust can be defined as the attitude that an agent will help achieve an individual’s goal in a situation characterized by uncertainty and vulnerability“. Den Autoren zufolge ist Vertrauen ein Aspekt der Einstellung zu einem System, welcher nicht direkt messbar ist. Durch Befragung gemessenes Systemvertrauen korreliert sehr stark mit dem wahrgenommenen Systemnutzen (r = 0.73) sowie der Zufriedenheit mit dem System (r = 0.63; Donmez et al., 2006). Die Auswirkungen von Systemvertrauen auf das Verhalten (s. u.) sind durch Beobachtung zugänglich. Die Bildung von Systemvertrauen und dessen langfristige Folgen werden mit der wahrgenommenen Systemzuverlässigkeit in Zusammenhang gebracht (z. B. Parasuraman & Riley, 1997, Lee & Moray, 1992, Lee & See, 2004; Maltz & Shinar, 2007). Daneben wird es durch die Funktionsweise, die Zuschreibung eines sinnvollen Zwecks (Lee & See, 2004) und bei Warnungen durch den Warnzeitpunkt beeinflusst (Abe & Richardson, 2004, 2006). Parasuraman und Riley (1997) teilen die Auswirkungen von Systemvertrauen auf die generelle Techniknutzung ein in Nutzung, Nicht-Nutzung, Fehlnutzung sowie Missbrauch (vgl. Marberger & Schindhelm, 2007). Nutzung und Nicht-Nutzung spiegeln die wahrgenommene Systemzuverlässigkeit wider (Parasuraman & Riley, 1997). Die Nutzung bezieht sich auf die intentionale und angemessene Anwendung oder Abschaltung von automatischen Systemen. Lee und See (2004) zufolge führt eine hohe Passung zwischen den Mög-
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
lichkeiten eines Systems und dem Systemvertrauen des Operateurs zu angemessener Nutzung. Eine unangemessen geringe Nutzung der Technik (Nicht-Nutzung, Systemabschaltung) wird nach Parasuraman und Riley z. B. durch häufige Fehlwarnungen ausgelöst. Übersteigertes Systemvertrauen kann zu Fehlnutzung führen, bei der die Systemgrenzen nicht beachtet, das System nicht ausreichend überwacht oder riskante Entscheidungen bei der Techniknutzung getroffen werden. Fehlnutzung kann mit einem fehlerhaften mentalen Modell des Systems in Zusammenhang stehen (Marberger & Schindhelm, 2007). Missbrauch betrifft Parasuraman und Riley zufolge einen Einsatz eines automatischen Systems, ohne die Konsequenzen der Automatisierung ausreichend zu bedenken. Marberger und Schindhelm zufolge weicht der Operateur bei Missbrauch bewusst und motiviert vom vorgesehenen Einsatzbereich ab. Meyer (2001) unterscheidet zwei Auswirkungen von Systemvertrauen auf das Verhalten eines Operateurs in einer konkreten Interaktion: 1. Befolgung (engl.: compliance): Die Tendenz, bei einer ausgegebenen Warnung dem Systemvorschlag zu folgen, d. h. von der Richtigkeit der Warnung auszugehen, 2. Verlassen (engl.: reliance): Die Tendenz, davon auszugehen, dass keine kritische Situation vorliegt, wenn keine Warnung ausgegeben wird. Die Tendenz zur Befolgung ist durch Verhaltensmaße erfassbar, welche während bzw. kurz nach einer Warnung auftreten. Die Tendenz zum Verlassen ist durch Verhaltensmaße bei keiner Warnung zugänglich. Die Tendenz zur Befolgung wird vor allem durch Systeme gefördert, die wenig falsche Warnungen ausgeben, die Tendenz zum Verlassen wird hingegen durch wenige Auslasser des Systems gestärkt. Cotté, Meyer und Coughlin (2001) zeigen, dass wenig falsche Warnungen dazu führen, dass Fahrer die Anweisung eines Warnsystems häufiger befolgen. Häufige falsche Warnungen führen dagegen zu selteneren, weniger intensiven oder späteren Reaktionen (Bliss & Acton, 2000, 2003; Zabyshny & Ragland, 2003; Sarter & Schröder, 2001; Lee & See, 2004; Parasuraman & Riley, 1997; Yamada & Kuchar, 2006). Je weniger kritische Situationen durch ein Warnsystem ausgelassen werden, desto mehr steigt die Tendenz zum Verlassen auf das System, d. h. die Durchschnittsgeschwindigkeit außerhalb der Warnphasen steigt an (Cotté et al., 2001) und umso mehr Zeit wird mit kritischen Zeitabständen gefahren (Enriquez & MacLean, 2004). Dies kann insbesondere dann zu kritischen Zuständen führen, wenn ein bisher zuverlässiges System eine kritische Situation plötzlich nicht anzeigt (Maltz & Shinar, 2004, 2007). Übervertrauen kann das Situationsbewusstsein und die Vigilanz des Operateurs mindern (Parasuraman & Riley, 1997; Buld et al., 2002). Erfahrungsbasiertes Lernen unterstützt, angemessenes Systemvertrauen zu bilden und die Systemkontrolle aufrechtzuerhalten (Bahner, Hüper & Manzey, 2006). Das Erleben von ausbleibenden oder von Fehleingriffen eines autonomen Notbremssystems kann das Systemvertrauen entscheidend beeinflussen. Gleiches gilt für die wahrgenommenen Eingriffsmöglichkeiten im Eingriffsfall. Wird das FAS als unkontrollierbar wahrgenommen, ist ein negativer Einfluss auf das Systemvertrauen anzunehmen, welcher langfristig zu nicht angepasster Nutzung, z. B. Abschaltung, führen kann.
2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe
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2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe Dieser Abschnitt geht auf autonom eingreifende FAS ein. Der Übergang von Warnungen zu autonomen Eingriffen wird ebenso wie Ansätze zur Arbeitsteilung zwischen Fahrern und diesen FAS vorgestellt. Es folgt eine Einführung in Eingriffe in die Fahrzeugquer- und Längsführung. Der Abschnitt schließt mit Anforderungen an die Kontrollierbarkeit.
2.4.1 Von warnenden zu eingreifenden FAS Von Fahrzeugeingriffen wird gesprochen, wenn das Fahrzeug Aspekte seiner Umwelt erkennen und entsprechend autonom seine Dynamik ändern kann, z. B. durch nicht fahrerinitiierte Verzögerungen (vgl. Buld et al., 2002). Sie werden über den kinästhetischen und vestibulären Sinn an den Fahrer rückgemeldet (Buld et al., 2002; Flemisch, Schomerus, Kelsch & Schmuntzsch, 2005; Kelsch, Flemisch, Löper, Schieben & Schindler, 2006). Da diese Rückmeldungen auch Ausgaben warnender FAS sein können (vgl. Abschnitt 2.3.1), sind die Übergänge zwischen warnender und eingreifender Fahrerassistenz fließend. Aktiv eingreifende FAS werden vor allem aus zwei Gründen entwickelt. Zum einen geht es darum, den Fahrer bei beschwerlichen oder monotonen Fahraufgaben zu entlasten, anderseits unterstützen eingreifende FAS bei der Unfallvermeidung bzw. -folgenminderung.5 FAS, die erstes Ziel verfolgen, können dauerhaft in die Fahrzeugführung eingreifen, z. B. der Abstandsregeltempomat (s. Abschnitt 2.4.4). Autonome Fahrzeugeingriffe der zweiten Gruppe werden hingegen in seltenen hochkritischen Situationen ausgelöst. Sie können warnende FAS ergänzen, wenn zu wenig Zeit zur Unfallvermeidung zur Verfügung steht oder der Fahrer nicht auf die Warnung reagiert (vgl. Gish & Mercadante, 2001). Sie unterstützen den Fahrer dabei, die richtige Vermeidungshandlung einzuleiten (Bender, 2008; vgl. Donmez et al., 2006). Bei eingreifenden FAS ist im Vergleich zu informierenden und warnenden von einer einheitlichen Wirkung auf die Fahrerreaktionen auszugehen (Vollrath et al., 2006). Können kollisionsvermeidende eingreifende FAS alle an sie adressierten Unfallarten verhindern, können bis zu 25.7% aller Unfälle und 17.5% aller schweren Unfälle vermieden werden (ebenda). Aufgrund ihres hohen Potenzials zur Vermeidung und Folgenminderung von Unfällen werden sicherheitsorientierte autonom eingreifende FAS zunehmend entwickelt. Die Arbeit soll zu ihrer Gestaltung einen Beitrag leisten.
2.4.2 Arbeitsteilung zwischen Menschen und autonom eingreifenden FAS Autonom eingreifende FAS werfen die Frage auf, wie die Arbeitsteilung zwischen Mensch und FAS zu gestalten ist (Schieben & Flemisch, 2008). Flemisch et al. (2005), Kelsch et al. (2006) sowie Neuendorf , Knorr, Kulp und Lenz (2006) schlagen eine gleichwertige Kooperation zwischen Mensch und FAS vor. Flemisch et al. (2005) und Kelsch et al. (2006) entwickeln ein Konzept, bei dem der Mensch und das FAS ihre Intentionen über Kräfte an den 5
Eingreifende FAS sind weiterhin zur Umsetzung gesetzlicher Bestimmungen, z. B. der Höchstgeschwindigkeit denkbar (Várhelyi & Mäkinen, 2001; Comte, 2000; Vlassenroot et al., 2007).
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Bedienteilen ausdrücken. Umgesetzt wird die deutlicher ausgedrückte Intention, wobei der Mensch seine Entscheidung stets durchsetzen kann (Flemisch et al., 2005). Problematisch ist, dass einem FAS oft nicht alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen, Diskrepanzen zwischen dem erwarteten und tatsächlichen Verhalten sind unvermeidbar (Haller, 2001). Für eine sichere, erfolgreiche und akzeptierte Aufgabenteilung ist es notwendig, dass der Fahrer die Fahrzeugkontrolle problemlos zurückgewinnen kann (Bender, 2008). Leicht überstimmbare FAS erfahren eine höhere Akzeptabilität als schwer oder nicht überstimmbare, beeinflussen jedoch auch das Fahrerverhalten weniger (Rook & Hogema, 2005). Bei dauerhaft eingreifenden FAS tendieren Fahrer dazu, das FAS nach Aktivierung eingeschaltet zu lassen, auch wenn es nicht mehr angemessen ist (Buld et al., 2002). Die Autoren schlussfolgern (S. 146): „Offensichtlich fällt die Bilanz ‚Aufwand das System durch Knopfdruck aktiv abschalten‘ und ‚Aufwand trotz der Gefahr einfach weiterfahren‘ negativ zu Gunsten der Systeme aus.“ Autonom eingreifende FAS können die Anforderungen und Verantwortlichkeiten des Fahrers deutlich verändern, mitunter in einer Art und Weise, wie sie von den Systemgestaltern nicht beabsichtigt wird (Ma & Kaber, 2005). Ein häufig untersuchtes Problemfeld ist die Veränderung des Situationsbewusstseins. Einbrüche des Situationsbewusstseins werden vor allem dann festgestellt, wenn die Fahrhandlung vollständig ersetzt wird (Buld et al., 2002; Donmez et al., 2006; de Waard & van der Hulst, 1999). Für den Abstandsregeltempomaten, der nur einen Teil der Fahrhandlung automatisiert, stellen Ma und Kaber (2005) hingegen eine Verbesserung des Situationsbewusstseins fest, welche mit einer Optimierung der Fahrerbeanspruchung erklärt wird. Bei selten eingreifenden FAS sind keine Auswirkungen auf das Situationsbewusstsein zu erwarten, da diese die eigentliche Fahraufgabe kaum verändern. Andere Reaktionen des Fahrers, welche mit dem Systemvertrauen zusammenhängen (z. B. unkritisches Befolgen von Systemanweisungen oder Verlassen auf das FAS, vgl. Abschnitt 2.3.3) sind jedoch nicht auszuschließen. Es bleibt festzuhalten, dass die Aufgabenteilung zwischen Menschen und autonom eingreifenden FAS ein wichtiger Aspekt ihrer Gestaltung ist. Sie beeinflusst die Kontrollierbarkeit und Akzeptabilität, aber auch den Nutzen des FAS zur Erhöhung der Verkehrssicherheit.
2.4.3 Eingriffe in die Fahrzeugquerführung In diesem Abschnitt wird eine kurze Einführung in die Interaktion zwischen Fahrern und FAS beschrieben, die in die Querführung eingreifen. Da sie keinen Schwerpunkt dieser Arbeit bilden, bleibt der Abschnitt überblicksartig. Fahrzeugeingriffe in die Querführung werden vor allem zur Erleichterung der Lenkradbedienung (Servolenkung), zum Verhindern von nichtintentionalem Abkommen von der Fahrbahn (Spurhaltesysteme) sowie zum Abfangen von drohendem Schleudern oder drohenden Kollisionen vorgenommen, die nicht mehr durch Bremsen verhindert werden können. FAS zur Einleitung/ Durchführung von Ausweichmanövern befinden sich zurzeit in Entwicklung. Eingriffe in die Fahrzeugquerführung werden dem Fahrer am Lenkrad rückgemeldet, z. B. in Form von veränderten Betätigungskräften oder von Drehmomenten.
2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe
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Griffiths und Gillespie (2004, 2005) untersuchen in einer statischen, vereinfachten Fahrsimulation, wie Fahrer auf autonome Eingriffe in die Querführung reagieren. Die Lenkeingaben des Fahrers und die Aktionen des FAS werden überlagert, d. h. die Kontrolle über die Fahrzeugführung obliegt zu gleichen Anteilen dem Fahrer wie dem FAS. Die autonomen Eingriffe werden als Drehmoment am Lenkrad rückgemeldet. Die Probanden haben einer kurvigen Straße zu folgen und einzelnen Hindernissen auf der Fahrbahn auszuweichen. Die Spurführung ist dem autonomen Lenksystem bekannt, die Hindernisse erkennt es nicht. Das vom FAS rückgemeldete Drehmoment ist proportional zur Abweichung vom systemseitig geplanten Kurs, jedoch nach oben begrenzt, so dass der Fahrer stets durch kräftigeres Gegenlenken eingreifen kann. Das autonome Lenksystem kann im Vergleich zur rein manuellen Fahrt die mittlere laterale Abweichung um 30% oder mehr reduzieren und die Reaktionszeit auf eine Nebenaufgabe um 18 ms verkürzen. Die Beeinträchtigung der Spurhaltung durch die Nebenaufgabe wird in den Fahrten mit Lenkunterstützung praktisch aufgehoben (manuelle Fahrt: 20% Beeinträchtigung, unterstützte Fahrt: 4%). Das FAS führt jedoch zu einem erhöhten Kollisionsanteil mit den Hindernissen, was die Schwierigkeiten des Fahrers widerspiegelt, die eigene Intention gegenüber dem FAS durchzusetzen. Bender (2008) stellt in ihrer Untersuchung von Lenkeingriffen zur Kollisionsvermeidung auf der Teststrecke fest, dass autonome Lenkeingriffe den Fahrer besonders häufig zu Ausweichmanövern animieren. Das subjektive Sicherheitsgefühl hängt mit der Art des Lenkeingriffs zusammen: während kurze Lenkimpulse zur Einleitung eines Ausweichmanövers mehrheitlich als positiv bewertet werden, fällt das subjektive Sicherheitsgefühl bei kompletten autonomen Ausweichmanövern mit Überstimmungsmöglichkeit in Form von Lenkwinkeladdition (vgl. Griffiths & Gillespie, 2004, s. o.) mehrheitlich schlecht aus. In einer Untersuchung von Fahrerreaktionen auf Zusatz-Drehmomente am Lenkrad auf der Teststrecke (Schmidt, 2007) wird die Lenkaktivität, z. B. hinsichtlich der maximalen Lenkwinkelgeschwindigkeit nach der ersten Fahrerreaktion, sowie das subjektive Störmaß (Skala zur Störungsbewertung nach Neukum & Krüger, 2003) untersucht. Die Zusatzlenkmomente werden in zwei Kurven mit unterschiedlichen Radien, in einer 2.5 m breiten Pylonengasse („Engstelle“) sowie beim Einlenken vs. Rücklenken während eines Spurwechselmanövers ausgelöst. Die Geschwindigkeit wird per Tempomat auf 80 km/h geregelt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Fahrer- und Fahrzeugreaktionen während der Spurwechselmanöver und in der Kurve mit Zusatzlenkmomenten Richtung Kurveninnenseite besonders intensiv ausfallen. Das subjektive Störmaß nimmt hingegen in der Engstelle und der Kurve besonders hohe Werte an. Diese Situationen stellen die höchsten Anforderungen an eine exakte Querführung des Fahrzeugs. Fahrer nehmen Schmidt zufolge in erster Linie nicht die Lenkmomente an sich, sondern ihre Auswirkungen auf die Fahrzeugbewegungen wahr. Werden Zusatzlenkmomente ausgelöst, reagieren viele Fahrer mit einer ersten reflexiven Gegenlenkung (Ziegler et al., 1995; Suzuki & Jansson, 2003; Bender, 2008). Da die plötzlichen Rucke spontan als störende Fahrzeugreaktionen oder Windböen interpretiert werden können (Suzuki & Jansson, 2003), setzen sofortige, reflexartige Fahrerreaktionen zur Stabilisierung der Lenkung ein. Kullack et al. (2007) untersuchen das Potenzial dieser Gegenreaktion, wenn das Lenkmoment entgegen der Ausweichrichtung dargeboten wird.
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass es Untersuchungen bedarf, die der Frage nach einer geeigneten Interaktion zwischen Fahrern und sicherheitsorientierten eingreifenden FAS nachgehen. Einerseits dürfen fehlerhafte Eingriffe keine negativen Konsequenzen bewirken, anderseits darf der Fahrer nicht zu falschen Reaktionen animiert werden. Die Arbeit konzentriert sich auf FAS, welche in die Längsführung eingreifen, so dass Eingriffe in die Querführung nicht weiter betrachtet werden.
2.4.4 Eingriffe in die Fahrzeuglängsführung In diesem Abschnitt werden FAS vorgestellt, die in die Längsführung eingreifen. Das im Zentrum dieser Arbeit stehende autonome Notbremssystem bildet den Schwerpunkt. Abstandsregeltempomat Der Abstandsregeltempomat ist ein FAS, welches zu Komfortzwecken in die Längsführung eingreift. Es regelt die Fahrzeuggeschwindigkeit und den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug durch Beschleunigungen bis zu einer vorgegebenen Maximalgeschwindigkeit und durch autonome Bremsungen im niedrigen Verzögerungsbereich. Die autonome Verzögerung ist aus Sicherheitsgründen begrenzt (Vollrath et al., 2006). Sie beträgt bis zu ca. -3.5 m/s2 (Buld et al., 2002; Carsten, 2004). Die meisten Fahrer stellen eine sanfte oder mittlere Systemauslegung ein, d. h. größere Sollabstände und kleinere maximale autonome Verzögerungen (Buld et al., 2002). Abstandsregeltempomaten reagieren nur auf Hindernisse, die sich bewegen oder nach Bewegung zum Stillstand gekommen sind (Vollrath et al., 2006). Die autonomen Verzögerungen informieren über die Differenzgeschwindigkeit zum vorausfahrenden Fahrzeug (Buld et al., 2002). Gleichzeitig werden visuelle Rückmeldungen gegeben, z. B. darüber, dass ein Vorausfahrer erkannt wird. Übernahmeaufforderungen werden als deutliche und oft multimodale Warnungen gestaltet (vgl. Abschnitt 2.3). Der Fahrer kann die Längsführung durch Betätigung des Gas- oder Bremspedals wieder übernehmen. Über Betätigung des Gaspedals beschleunigt er das Fahrzeug (auch über die eingestellte Maximalgeschwindigkeit hinaus) und überstimmt das FAS dadurch (Weinberger, 2001; Buld et al., 2002; Bender, 2008). Diese Art der Überstimmung trifft auch auf den einfachen Tempomaten, der keine Abstandsregelung vornimmt, zu. Weinberger stellt fest, dass Abstandsregeltempomaten oft vor dem Ausscheren zum Spurwechsel, zum Verhindern des Einscherens anderer Fahrzeuge oder zum Signalisieren einer Überholintention überstimmt werden. Dieses Verhalten wird sehr schnell erlernt, der Zeitanteil mit überstimmtem Abstandsregeltempomaten nimmt in den ersten drei Wochen der Nutzung zu. Nach der ersten Woche wird der Abstandsregeltempomat im Durchschnitt zwei mal pro Stunde für jeweils durchschnittlich 4 bis 5 s überstimmt. Es sind demnach vor allem singuläre Ereignisse, die den Fahrer zum kurzzeitigen Überstimmen animieren. Deml et al. (2007) beobachten bei weniger sportlichen Fahrern eine häufigere Deaktivierung des Abstandsregeltempomaten durch Bremsung (r = 0.416), sportliche Fahrer deaktivieren ihn hingegen häufiger durch Gaspedalbetätigung (r = −0.408). Das Entstehen gefährlicher Situationen kann mit Abstandsregeltempomaten nicht ausgeschlossen werden. In diesen Fällen muss der Fahrer die Längsführung übernehmen und
2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe
83
die Situation unter Kontrolle bringen (Vollrath et al., 2006). Typische Systemgrenzen sind knappe Einscherer oder ein Auffahren auf ein stehendes Hindernis bzw. Stauende (Schmitt, Färber, Maurer & Breu, 2006). Die Autoren ermitteln im Versuch auf öffentlichen Straßen, dass aufmerksame Fahrer in solchen Situationen schnell und angemessen reagieren und die Kontrolle über die Längsführung rechtzeitig übernehmen. Ungeklärt ist, ob dies auch für längere Fahrten und Fahrerablenkung gilt. Marberger und Schindhelm (2007) finden in einer Befragungsstudie zudem heraus, dass die Leistungsfähigkeit von Abstandsregeltempomaten von manchen Personen überschätzt wird. Zum Teil wird das FAS als Kollisionswarner genutzt, obwohl es aufgrund seiner Systemgrenzen dazu nicht optimal ausgelegt ist. Bremsassistent (BAS) Der Bremsassistent (BAS) unterstützt den Fahrer im Gegensatz zum komfortorientierten Abstandsregeltempomaten in kritischen Verkehrssituationen. Das Ziel des BAS besteht darin, Notbremsintentionen des Fahrers zu erkennen und in diesen Fällen die Bremskraft maximal zu verstärken, um nichtoptimale Bremskräfte des Fahrers auszugleichen (Vollrath et al., 2006, vgl. Abschnitt 2.2.2). Dadurch werden die Fahrzeugverzögerung erhöht (Unselt, Breuer & Eckstein, 2004), die Schwellzeit verkürzt (Krause et al., 2007a) und der Anhalteweg verkürzt (Unselt et al., 2004). Eine Notbremsintention kann nur dann erkannt werden, wenn der Fahrer das Bremspedal betätigt, d. h. die Aufgabe der Bremsinitiierung verbleibt beim Fahrer. Weiterentwicklungen des BAS koppeln das System an eine Situationserkennung, so dass auch eine als gefährlich eingestufte Situation die zusätzliche Bremsunterstützung auslösen kann (Bender, 2008). Die Wirksamkeit des BAS bei der Unfallvermeidung wird zum Beispiel von Unselt et al. (2004) im bewegten Fahrsimulator gezeigt. Fahren Probanden mit einem BAS, verursachen sie signifikant weniger Kollisionen mit Fußgängern als ohne BAS. Greift der BAS ein, kommt es in dieser Studie zu keiner Kollision. Autonome Notbremssysteme Aufgrund ihres Beitrags zur Unfallschwereminderung und -vermeidung werden zunehmend FAS empfohlen und entwickelt, die Notbremsmanöver autonom einleiten und durchführen (Vollrath et al., 2006; Bender, 2008; Fecher & Abendroth, 2008; vgl. Lüke et al., 2007; vgl. Schick et al., 2007). Diese Eingriffe werden im fahrphysikalisch letztmöglichen Moment ausgelöst, wenn davon auszugehen ist, dass der Fahrer nicht mehr rechtzeitig reagiert (Vollrath et al., 2006; Bender, 2008). Ein autonomes Notbremssystem verlängert auch die mögliche Bremsreaktionszeit, warnt den Fahrer und animiert ihn zu einer Bremsung (Fecher & Abendroth, 2008). Aufgrund ihres Risikos bei Fehlauslösungen (s. u.) wird die autonome Verzögerung in Serienausführungen z. T. begrenzt (ebenda). Für zukünftige Notbremssysteme soll das Potenzial zur Unfallvermeidung durch stärkere Verzögerungen sowie durch situationsangepasste frühere Auslösungen und Einbeziehung des Fahrers erhöht werden (AKTIV-AS, 2006; Fecher & Abendroth, 2008; vgl. Häring et al., 2008, 2009). Mehrere Studien erfassen Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen auf der Teststrecke, d. h. mit realistischer Fahrzeugdynamik. Färber und Maurer (2005) untersuchen, wie Fahrer auf berechtigte und unberechtigte Auslösungen reagieren. Berechtigte werden zum Beispiel vor einscherenden Fahrzeugen oder auf die Straße rollenden Bällen
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
dargestellt. Bender (2008; vgl. Bender & Landau, 2006; Bender et al., 2007) vergleicht Fahrerreaktionen bei berechtigten Eingriffen vor einem plötzlich erscheinenden statischen Hindernis mit Fahrten ohne Fahrerassistenz. Sie variiert die maximale autonome Verzögerung (sanfte Bremsung: -6 bis -7 m/s2 , Vollbremsung: -8 bis -9 m/s2 ) sowie die Latenz zwischen Hindernisauslösung und Notbremseingriff (gleichzeitiger Beginn vs. Beginn des Eingriffs 200 bis 300 ms nach Hindernisentfaltung). Fecher und Abendroth (2008; vgl. Fecher et al., 2009; Hoffmann & Winner, 2008a; Fuchs et al., 2008) untersuchen Fahrerreaktionen bei berechtigten Eingriffen in einer dynamischen Folge-Brems-Situation sowie bei unberechtigten Eingriffen. Dabei werden die Eingriffsstärke und das Abbruchkriterium variiert (s. Kapitel 4). Untersuchungen, die Fahrerreaktionen mit autonomen Notbremssystemen mit einer Kontrollgruppe ohne Fahrerassistenz vergleichen, kommen zu dem Schluss, dass Fahrer durch autonome Notbremseingriffe verstärkt zu eigenen Bremsungen und wenig zu Ausweichreaktionen animiert werden (Bender, 2008), dass sie mehr Geschwindigkeit abbauen als ohne Fahrerassistenz (Hoffmann & Winner, 2008a; Fecher et al., 2009) und dass sie mit dem FAS mehr Kollisionen vermeiden (Bender, 2008). Die Bremsreaktionszeiten betragen bei der Mehrheit der Fahrer bis zu 1 100 ms (Färber & Maurer, 2005; Hoffmann & Winner, 2008a). Die Lenkausschläge während berechtigter Notbremseingriffe führen Färber und Maurer zufolge nicht zu gezielten Ausweichbewegungen. Burns (2004) beobachtet im Fahrsimulator, dass Fahrer mit einem Warn-/ Notbremssystem die Warngrenzen seltener unterschreiten, d. h. ihren Fahrstil so anpassen, dass Systemeingriffe möglichst vermieden werden. Einen gegenteiligen Befund berichten Harms und Törnros (2004). Sie beobachten im Fahrsimulator häufigere Unterschreitungen der Sicherheitsgrenzen, wenn das Fahrzeug zu autonomen Notbremsungen fähig ist. Langfristige Verhaltensadaptionen können damit sowohl in verkehrssicherer als auch verkehrsunsicherer Richtung stattfinden. Es sind weitere Studien notwendig, um die langfristigen Folgen auf das Fahrerverhalten abschätzen zu können. Da im Realverkehr Fehlauslösungen nie ganz ausgeschlossen werden können (z. B. bei dichtem Auffahren vor Überholvorgängen, Reaktionen auf andere Gefahren etc.; Fecher & Abendroth, 2008), werden ebenfalls Fahrerreaktionen auf Fehlauslösungen untersucht. In Abhängigkeit von der Eingriffsstärke und der Abschaltung des autonomen Notbremseingriffs bremst das Fahrer-Fahrzeug-System in unterschiedlichem Ausmaß während Fehlauslösungen ab. Werden bei einem Teileingriff, der während der Bremsung wieder gelöst wird, im Median 16 km/h abgebaut, liegt die mittlere Geschwindigkeitsreduktion für Vollbremsungen und logisch zwingend für nicht überstimmbare Notbremseingriffe bis zum Stillstand deutlich darüber (Fecher & Abendroth, 2008). Derartige Fehleingriffe können also beachtliche fehlerhafte Geschwindigkeitsreduktionen verursachen, was Verkehrsbehinderungen oder erneute Risikosituationen verursachen kann (vgl. Schmitt et al., 2007). Färber und Maurer sowie Fecher und Abendroth beobachten bei Fehlauslösungen, dass Fahrer häufig das Gaspedal verstärkt betätigen, insbesondere, wenn es bei Eingriffsbeginn betätigt wird. In der Untersuchung von Fecher und Abendroth wird das Gaspedal in nahezu allen Fällen vor dem Ende des Eingriffs wieder gelöst. Die Autoren schlussfolgern, dass während der Fehleingriffe keine ernsthaften Überstimmungsversuche vorgenommen werden. Ein Teil
2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe
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der Probanden betätigt während einer Fehlauslösung das Bremspedal (Fecher & Abendroth, 2008; Färber & Maurer, 2005), was die fehlerhafte Abbremsung verstärkt. Fecher und Abendroth (2008; vgl. Fuchs et al., 2008) beobachten weiterhin häufigere Blickwechsel bei Fehlauslösungen, was sie mit verstärktem Suchverhalten nach der Eingriffsursache in Zusammenhang bringen. Die Fahrerbefragungen der Autoren zeigen, dass sich die Fahrer durch Fehleingriffe autonomer Notbremssysteme sehr stark gestört fühlen. Hat der Fahrer ein autonomes Notbremssystem schon in berechtigten Situationen erlebt und unterbleibt schließlich ein Eingriff in einer kritischen Verkehrssituation („ausbleibende Eingriffe“), können Fecher und Abendroth keine negativen Auswirkungen feststellen. Die Fahrer sind nach zwei berechtigten Eingriffen überwiegend sehr aufmerksam und bremsen das Fahrzeug stärker ab als Personen, die im Versuch zuvor noch keine kritische Situation und keinen Notbremseingriff erlebt haben („Baseline“). Die Autoren können keine Unterschiede in den Bremsreaktionszeiten oder fahrerverursachten Bremsintensitäten zwischen berechtigten und ausbleibenden Eingriffen feststellen. Die Änderungen der Hautleitfähigkeit und der Herzschlagfrequenz während der berechtigten und ausbleibenden Eingriffe zeigen, dass die emotionale Beanspruchung des Fahrers vor allem durch die kritische Verkehrssituation und nicht den Notbremseingriff ausgelöst wird. Während autonomer Notbremseingriffe werden in den genannten Studien sowohl nichtintentionale Gas- als auch Bremspedalbetätigungen beobachtet. Setzt ein berechtigter autonomer Notbremseingriff ein, kann der Fahrer aufgrund von Massenträgheit oder Schreck nach vorn fallen und sich am Gaspedal abstützen, obwohl er keine Fahrzeugbeschleunigung intendiert (Färber & Maurer, 2005; Bender & Landau, 2006; Fecher & Abendroth, 2008; vgl. Insassenbewegung bei Frontalunfällen, Parenteau et al., 2000). Abbildung 2.6 zeigt die in Färber und Maurer sowie Bender und Landau veröffentlichten Beispiele nichtintentionaler Gaspedalbetätigungen während autonomer Notbremseingriffe. Es ist zu erkennen, dass diese Gaspedalbetätigungen eine sehr kurze Latenz nach Beginn der autonomen Notbremseingriffe haben und sehr hohe Gaspedalstellungen erreichen bzw. lang andauern können. In der Untersuchung von Färber und Maurer lässt der Gesichtsausdruck der Probanden darauf schließen, dass die Gaspedalbetätigung nicht gewollt erfolgt (erschrockene bis angstvoll/panische Reaktionen). Bender et al. (2007) beobachten in den Videoaufzeichnung des Fußraumes, dass der Fahrerfuß bei Einsatz der autonomen Verzögerung nach vorn fällt und das Gaspedal offensichtlich nichtintentional betätigt. Die maximale nichtintentional erreichte Gaspedalstellung hängt mit der Stärke der autonomen Verzögerung zusammen (Bender et al., 2007). Die Wahrscheinlichkeit einer nichtintentionalen Gaspedalbetätigung erhöht sich, wenn der Fahrer vor Eingriffsbeginn keine Gelegenheit hat, auf eine Bremsaufforderung zu reagieren und wenn er bei Eingriffsbeginn das Gaspedal betätigt (Bender, 2008; Fecher & Abendroth, 2008). Aufgrund der reinen Gewichtskraft des rechten Fahrerfußes ist eine Kraft auf das Gaspedal von 20 bis 40 N zu erwarten (Weiße, 2003; Wang, Verriest, Lebreton-Gadegbeku, Tessier & Trasbot, 2000). Die zum Teil heftigen Gaspedalbetätigungen, welche eine höhere Kraft erfordern (vgl. Greenbaum, Nowakowski & Racenis, 1995), sind offensichtlich auch auf reflexive Abstützreaktionen zurückzuführen (s. Abschnitt 2.2.3). Auf der anderen Seite führen Fahrer bei autonomen Notbremseingriffen auch dann eigene Bremsungen durch, wenn diese nicht erforderlich sind. Bender (2008)
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Geschwindigkeit [km/h]
Pedalwege
Bremsdruck, Beschleunigung
Gaspedalstellung [%] Bremspedalweg [mm] Fahrpedalweg [%] Bremsdruck global [bar] Längsbeschleunig. [m/s²]
Bremspedalstellung [On/Off] Verzögerungsanforderung
Zeit [s]
(Bender & Landau 2006)
Zeit [s]
(Färber & Maurer 2005)
Abbildung 2.6: Nichtintentionale Gaspedalbetätigungen bei berechtigten Notbremseingriffen - Typische Fahrerreaktionen aus Bender und Landau (2006) sowie Färber und Maurer (2005)
zufolge muss der aus dem normalen Fahrbetrieb bekannte Schluss, dass Gaspedalbetätigungen eine Beschleunigungsintention und Bremspedalbetätigungen eine Bremsintention anzeigen, nicht zwangsläufig für den Zeitraum eines autonomen Notbremseingriffs gelten. Die Fragen, wie ein Notbremseingriff beendet werden soll und ob und wie Überstimmbarkeit zu gewährleisten ist, sind bislang nicht einheitlich beantwortet (vgl. Abschnitte 1.1 und 2.4.5). Hallen (1990) schlägt vor, das Fahrzeug zum kompletten Stillstand zu bringen, bevor die Fahrzeugkontrolle an den Fahrer zurückgegeben wird. Neuere Untersuchungen zeigen, dass eine Beendigung des Notbremseingriffs während der Fahrt (bei Entschärfung der kritischen Situation) nicht zu kritischen Fahrerreaktionen führt (Fecher & Abendroth, 2008). Färber und Maurer sowie Bender (2008; Bender & Landau, 2006) empfehlen, eine reine Gaspedalbetätigung nicht als Überstimmungsintention zu deuten: „Der Fahrer ‚fällt‘ bei der automatischen Verzögerung nach vorne und tritt auf das Gaspedal. Er stützt sich mit dem Fuß ab. Es ist keine bewusste Handlung des Fahrers und darf deshalb nicht als Wunsch gedeutet werden, das Fahrzeug zu beschleunigen.“ (Bender, 2008, S. 79). Eine völlige Überforderung des Fahrers, die dazu führt, dass er nicht mehr intendiert handeln kann, findet jedoch nicht statt. Der Fahrer bleibt nachweislich im Regelkreis der Fahrzeugführung (Fecher & Abendroth, 2008). Um Überstimmbarkeit am Gaspedal zu gewährleisten, schlagen Lüke et al. (2007) vor, nur sehr intensive Gaspedalbetätigungen als Überstimmungsintention zu deuten (vgl. aber Abb. 2.6), Ewerhart, Marchthaler, Lich, Stabrey und Georgi (2007) melden ein Patent zur Totzeit vor Berücksichtigung der Fahrerreaktion an. Diese Arbeit soll einen experimentell fundierten Beitrag dazu leisten, intentionale und nichtintentionale Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen so trennscharf wie möglich zu erkennen. Damit die Erkennung gegenüber nichtintentionalen Pedalbedienungen robust ausgelegt wird, sollen diese im Versuch provoziert werden. Ebenfalls ist die Bildung einer bewussten Überstimmungsintention zu fördern (vgl. Abschnitt 2.1.3).
2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe
87
2.4.5 Kontrollierbarkeit Eine zentrale Frage in der Entwicklung autonom eingreifender FAS besteht darin, wie sich diese auf die Kontrollierbarkeit der Fahrzeugführung auswirken. Die ständige Beherrschbarkeit des Fahrzeugs in allen Fahrsituationen ist eine notwendige Bedingung für die Teilnahme im Straßenverkehr (Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1968, vgl. Abschnitt 1.1). Fuller (2007) beschreibt Kontrollverlust im Straßenverkehr dadurch, dass die Anforderungen einer Fahraufgabe die Kapazitäten des Fahrers überschreiten. Kontrollierbarkeit (engl.: controllability) wird auf der anderen Seite durch die Vermeidung von Gefahr oder Schaden aufgrund rechtzeitiger Reaktionen aller beteiligten Personen definiert (ISO/DIS 26262). Sie stellt eine zentrale Größe in der Gefahrenanalyse und Sicherheitsbewertung von Fahrzeugsystemen dar (ebenda). In PReVENT (2006) wird ein Bezug zu FAS hergestellt (S. 5): „Controllability: likelihood that the driver can cope with driving situations including ADAS-assisted driving, system limits and system failures [. . . ] “. Ausreichende Kontrollierbarkeit eines FAS ist vonnöten, da der Fahrer trotz Fahrerassistenz die volle Verantwortung über die Fahrzeugführung behält (Langwieder, 2001; Schmidt, 2007). Führt ein FAS widersprüchliche Aktionen aus oder führt es den Fahrer nicht zur richtigen Handlung, kann ein zeitweiser Kontrollverlust drohen (Peters & Nilsson, 2007). Die ISO/DIS 26262-3 teilt Fahrzeugfunktionen hinsichtlich ihrer Kontrollierbarkeit in vier Klassen ein (S. 24; Übersetzung durch Autorin): C0 Generell kontrollierbar, C1 Leicht kontrollierbar: 99% oder mehr aller Fahrer oder anderer Verkehrsteilnehmer sind normalerweise in der Lage dazu, einen drohenden Schaden unter Kontrolle zu bekommen, C2 Normal kontrollierbar: 90% oder mehr aller Fahrer oder anderer Verkehrsteilnehmer sind normalerweise in der Lage dazu, einen drohenden Schaden unter Kontrolle zu bekommen, C3 Schwer kontrollier- oder unkontrollierbar: Weniger als 90% aller Fahrer oder anderer Verkehrsteilnehmer sind normalerweise in der Lage dazu, einen drohenden Schaden unter Kontrolle zu bekommen. Gleichzeitig mit den erhöhten Anforderungen an die Kontrollierbarkeit von Klasse C3 bis C1 steigen auch die Absicherungskosten: Es werden deutlich mehr Probanden gebraucht, um eine bis auf einen Prozentpunkt genaue Abschätzung der Kontrollierbarkeit durchführen und diese statistisch absichern zu können. Dies wird für die Klasse C1 in der ISO/DIS 26262 als nicht sinnvoll angesehen, eine alternative Prüfmethode ist der Norm jedoch nicht zu entnehmen. Der Nachweis von Klasse C2 erfordert nach der ISO/DIS 26262 einen experimentellen Nachweis mit mindestens 20 gültigen Versuchsdurchgängen pro relevantem Szenario, wobei es erforderlich ist, dass alle Probanden die Funktion kontrollieren können. Welche Reaktionen als kontrolliert gelten, muss im Vorhinein feststehen. Bei der Probandenwahl sind potenziell schwächere oder stärker gefährdete Subpopulation ausreichend zu
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
berücksichtigen (Schmidt, 2007). Dies betrifft vor allem Fahranfänger und ältere Fahrer (vgl. Schlag et al., 1986; Schlag, 1993). Aus den Anforderungen zum Nachweis der Kontrollierbarkeit ergibt sich, dass diese dem Fahrer nicht objektiv verwehrt bleiben darf. Eine Diskussion dieser Forderung in Bezug auf die Überstimmbarkeit autonomer Notbremssysteme wird in Abschnitt 1.1 vorgenommen. Sowohl bei eingreifender Fahrerassistenz als auch bei Eingriffsmöglichkeiten des Fahrers ist sicherzustellen, dass keine erneuten kritischen Situationen entstehen. Für autonome Notbremssysteme soll diese Arbeit hierzu einen Beitrag leisten.
2.5 Hypothetische Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen Die in den Abschnitten 2.2 bis 2.4 geschilderten Kenntnisse zu den Reaktionen von Fahrern in kritischen Verkehrssituationen sowie nach Warnungen oder Eingriffen sicherheitsorientierter FAS werden zu einem hypothetischen Modell zusammengeführt. Das Modell beschreibt die Annahmen zu den Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen, die mit verschiedenen Fahrerintentionen einhergehen. Es ist in Abbildung 2.7 dargestellt. Überstimmungsintention
Vollbremsintention
Intentionale Reaktion Reflexive Reaktion Passive Reaktion
Reaktionsgrundzeit
Gas loslassen
Umsetzzeit
Bremsung
Reflexive Reaktion
Abstützen links/ rechts
Passive Reaktion
Bewegung des Gesamtkörpers nach vorn
Beginn Notbremseingriff
Intentionale Reaktion
Zeit
Reaktionsgrundzeit
Gas betätigen
Verstärkung Gas/ mehrmalige Gaspedalbetätig. bis Fzg.-reaktion
Abstützen links/ rechts Bewegung des Gesamtkörpers nach vorn
Beginn Notbremseingriff
Zeit
Abbildung 2.7: Annahmen zu Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen mit Vollbremsintention (links) und Überstimmungsintention (rechts)
Es wird zunächst davon ausgegangen, dass drei Ursachen auf die Fahrerreaktion bei autonomen Notbremsungen unterschieden werden können: die Massenträgheit (passive Reaktion, vgl. Abschnitt 2.4.4), reflexive oder schreckhafte Abstützreaktionen (reflexive Reaktion, vgl. Abschnitt 2.2.3) sowie die intentionale Reaktion des Fahrers. Der Einfluss der ersten beiden Ursachen wird als unabhängig von der Fahrerintention angenommen. Hingegen darf ein Zusammenhang zur Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn angenommen werden. Wird bei Eingriffsbeginn ein Pedal betätigt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich die Pedalstellung aufgrund der passiven und reflexiven Reaktion direkt nach Beginn der autonomen Notbremsung erhöht. Unklar ist, ob nichtintentionale Pedalbetätigungen auch dann auftreten, wenn das Pedal zu Beginn des Notbremseingriffs nicht betätigt wird. Die Massenträgheit wirkt sich während der gesamten autonomen Verzögerung auf die Fahrerreaktionen aus, sie setzt ohne Reaktionszeit ein. Reflexive Abstützreaktionen beginnen nach einer vergleichsweise
2.5 Hypothetische Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
89
kurzen Reaktionszeit (vgl. Birbaumer & Schmidt, 1999) und sind in der Lage, die Einflüsse der Massenträgheit deutlich zu verstärken oder zu verändern (vgl. Abschnitt 2.4.4). Intentionale Fahrerreaktionen hängen davon ab, wie der Fahrer die aktuelle Verkehrssituation wahrnimmt, interpretiert und welche Handlung er in der unmittelbaren Zukunft plant (vgl. Abschnitt 2.1.2). Entscheidet sich der Fahrer zur Ausführung einer Bremsreaktion, folgt die in Abschnitt 2.2.2 beschriebene Vollbremsreaktion vom Loslassen des Gaspedals bis zur eigenen Bremsung. Bildet der Fahrer hingegen eine Überstimmungsintention, so wird davon ausgegangen, dass er diese primär am Gaspedal ausdrücken wird (vgl. Abschnitt 2.3.1 und 2.4.4). Er wird die Gaspedalstellung verstärken, bis er den Notbremseingriff überstimmt. Hat er die maximale Gaspedalstellung oder den Kickdown erreicht und reagiert das Fahrzeug nicht auf die Gaspedalbetätigung, so wird davon ausgegangen, dass er das Gaspedal mehrfach betätigen wird (vgl. Abschnitt 2.2.2). Es wird angenommen, dass die Reaktionszeit bis zum Einsatz der intentionalen Reaktion länger ist als bis zum Beginn von Abstützreaktionen (vgl. Entscheidungszeit nach Färber, 1986) und daher Abstützreaktionen zu Beginn der autonomen Notbremsungen die Fahrerreaktionen deutlicher beeinflussen als die Fahrerintention. Nach Ablauf der (individuell unterschiedlich langen) Entscheidungszeit des Fahrers wird davon ausgegangen, dass sich maßgeblich die intentionale Reaktion auf die Gesamtreaktion des Fahrers auswirkt, so dass die Fahrerintention an den Reaktionen erkannt und darauf reagiert werden kann. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Prüfung dieses hypothetischen Modells kein expliziter Bestandteil der Arbeit ist. Schwerpunkt der Arbeit ist die Ermittlung der Erkennbarkeit von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen bei autonomen Notbremseingriffen (vgl. Abschnitt 1.2). Das Modell soll dem Leser helfen, die Annahmen über verschiedene Fahrerreaktionen nachvollziehen zu können. Detaillierte Hypothesen werden den empirischen Teilen dieser Arbeit vorangestellt.
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen Die erste Studie (Fahrversuch I) prüft, inwiefern Fahrerintentionen während autonomer Notbremseingriffe an den Fahrerreaktionen erkennbar sind und welche Merkmale wie zu einer optimalen Erkennung herangezogen werden können. Das Kapitel gibt einen Überblick über die Studie sowie das Vorgehen der Fahrerintentionserkennung und berichtet Ergebnisse zu den Fahrerreaktionen sowie den erkannten Fahrerintentionen.
3.1 Fragestellungen und Hypothesen Es ist die Frage zu klären, ob eine Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen überhaupt gelingen kann und welche Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte erreicht werden. Hierzu erleben Probanden verschiedene Eingriffsbedingungen auf der Teststrecke. Diese zielen darauf ab, beim Fahrer folgende zwei Intentionen auszulösen: (1) Die Intention, einen autonomen Notbremseingriff zu überstimmen, (2) Die Intention, eine Vollbremsung auszuführen. Im Folgenden werden die Fragestellungen und Hypothesen für Fahrversuch I vorgestellt. Fragestellungen: Verhaltensebene 1 V1 Unter welchen Bedingungen werden das Gas- bzw. Bremspedal während autonomer Notbremseingriffe betätigt? V2 Wie unterscheiden sich die über den CAN-Bus erfassten Fahrerreaktionen zwischen den Eingriffsbedingungen? V3 Wie zuverlässig und wie schnell können Überstimmungs- und Vollbremsintentionen anhand der über den CAN-Bus erfassten Reaktionen erkannt werden? Fragestellungen: Physiologische Ebene Diese Fragestellungen und Hypothesen sind Teil von Kapitel 6, s. Abschnitt 6.2.
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Auf der Verhaltensebene interessieren Fahrerreaktionen an der Pedalerie und am Lenkrad, welche über den CAN-Bus des Fahrzeugs gemessen werden können.
F. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Fragestellungen: Subjektive Ebene S1 Unterscheiden sich die Eingriffsbedingungen hinsichtlich der Fahrerintention? S2 Wie werden die autonomen Notbremseingriffe empfunden? S3 Welche Erwartungen haben Fahrer an die Gestaltung von Notbremseingriffen? S4 Welche Akzeptabilität2 erfahren die autonomen Notbremseingriffe? Hypothesen: Verhaltensebene HV1 Das Gaspedal wird nur betätigt, wenn zu Beginn einer autonomen Notbremsung das Gaspedal betätigt wird oder der Fahrer eine Überstimmungsintention bildet (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: Abhängigkeit von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn [Bender, 2008], erwarteter Zusammenhang zur Fahrerintention, vgl. hypothetisches Modell aus Abschnitt 2.5). HV2 Das Bremspedal wird nur betätigt, wenn zu Beginn einer autonomen Notbremsung das Bremspedal betätigt wird oder der Fahrer eine Bremsintention bildet (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: s. Hypothese HV1). HV3 Die Reaktionszeiten bis zu Gaspedal-, Vollgas- und Kickdown-Betätigungen unterscheiden nicht zwischen verschiedenen Fahrerintentionen (Hypothese zu Frage V2; Hintergrund: Annahme, dass in den frühen Phasen der autonomen Notbremseingriffe die Fahrerreaktionen vor allem von Massenträgheit und Abstützreaktionen geprägt sind [vgl. Abschnitte 2.2.3 und 2.4.4], für die keine Unterschiede in Hinblick auf die Fahrerintention erwartet werden, vgl. Modell aus Abschnitt 2.5). HV4 Bremspedalbetätigungen treten im Mittel nach längerer Reaktionszeit auf, wenn der Fahrer eine Überstimmungsintention bildet (Hypothese zu Frage V2; Hintergrund: korrekte Warnungen sicherheitsorientierter FAS lösen schnellere Bremsreaktionen aus als falsche [vgl. Abschnitt 2.3.2, hier zu überstimmende], Übertragbarkeit auf autonome Notbremseingriffe wird erwartet). HV5 Nichtintentionale Betätigungen vom Gaspedal, Vollgas und Kickdown sind im Mittel kürzer als intentionale (Hypothese zu Frage V2; vgl. Färber & Maurer, 2005; Flemisch et al., 2005; Kelsch et al., 2006). HV6 Bei nichtintentionalen Fahrerhandlungen werden im Mittel kleinere maximale Pedalstellungen erreicht als bei intentionalen (Hypothese zu Frage V2; vgl. Flemisch et al., 2005; Kelsch et al., 2006; Schmitz, 2004; Bielaczek, 1998). 2
Der Begriff Akzeptabilität wird genutzt, um zu verdeutlichen, dass eine Einstellung und kein Verhalten erfasst wird. Schade und Schlag (2003, S. 47) definieren Akzeptabilität als: „prospective judgment of measures to be introduced in the future“ (vgl. auch Schade & Schlag, 2000, sowie Bender, 2008).
3.1 Fragestellungen und Hypothesen
93
HV7 Die Gaspedalstellung unterliegt stärkeren Änderungen, wenn eine Überstimmungsintention gebildet wird (Hypothese zu Frage V2; vgl. Abschnitt 2.2.2). HV8 Mehrmalige Bremspedalbedienung tritt öfter auf, wenn eine Bremsintention gebildet wird (Hypothese zu Frage V2; vgl. Abschnitt 2.2.2). HV9 Intentionale Pedalbetätigungen gehen mit höheren positiven Geschwindigkeiten sowie höheren absoluten Beschleunigungen einher als nichtintentionale (Hypothese zu Frage V2; vgl. Bielaczek, 1998; Weiße, 2003). HV10 Das Gaspedal wird mit höherer Geschwindigkeit losgelassen, wenn eine Bremsintention gebildet wird (Hypothese zu Frage V2; vgl. Abschnitt 2.2.2). HV11 Intentionale Fahrerhandlungen gehen mit einer größeren über die Zeit integrierten Pedalstellung des entsprechenden Pedals einher als nichtintentionale Fahrerhandlungen (Hypothese zu Frage V2; Folgerung aus Hypothesen HV5, HV6). HV12 Die Lenkradbedienung während autonomer Notbremseingriffe unterscheidet sich zwischen verschiedenen Fahrerintentionen (Hypothese zu Frage V2). HV13 Allein anhand der über den CAN-Bus erfassten Fahrerreaktionen kann nicht mit 100%iger Zuverlässigkeit zwischen intentionalen und nichtintentionalen Reaktionen unterschieden werden (Hypothese zu Frage V3; vgl. Abschnitt 2.1.2). Hypothesen: Subjektive Ebene HS1 Bei berechtigten autonomen Notbremseingriffen bildet der Fahrer eine stärkere Bremsintention als bei zu überstimmenden (Hypothese zu Frage S1; Hintergrund: Bildung einer Bremsintention bei Kollisionsgefahr, vgl. Abschnitt 2.1.3). HS2 Bei berechtigten autonomen Notbremseingriffen bildet der Fahrer eine geringere Überstimmungsintention als bei zu überstimmenden (Hypothese zu Frage S1; Hintergrund: Bildung einer Überstimmungsintention bei Behinderung Anderer, vgl. Abschnitt 2.1.3). HS3 Die Fahrzeuggeschwindigkeit wird während eines autonomen Notbremseingriffs als kontrollierbarer erlebt, wenn eine Bremsintention gebildet wird (Hypothese zu Frage S2; Hintergrund: Kontrollverlust wird vor allem bei einem Konflikt zwischen Fahrerintention und autonomem Fahrzeugeingriff empfunden, vgl. Schmidt, 2007). HS4 Die Notbremseingriffe werden von der Mehrzahl der Befragten als erschreckend und im Falle von Fehlauslösungen als störend empfunden (Hypothese zu Frage S2; vgl. Färber & Maurer, 2005; Nilsson et al., 1991; Lerner, Dekker et al., 1996; Schmidt, 2007).
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3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
HS5 Die Mehrzahl der Befragten wünscht eine Überstimmungs- sowie eine Abschaltmöglichkeit von autonomen Notbremseingriffen (Hypothese zu Frage S3; vgl. subjektive Bewertungen in Rook & Hogema, 2005). HS6 Verschiedene Möglichkeiten der Überstimmung (jederzeit, nach Ablauf einer Totzeit, durch kräftiges Gastreten, durch einen Schalter, keine Überstimmbarkeit) werden unterschiedlich positiv bewertet (Hypothese zu Frage S3; Hintergrund: die Varianten hängen mit der Leichtigkeit der Rückgewinnung der Fahrzeugkontrolle zusammen [vgl. Rook & Hogema, 2005]; es ist zu erwarten, dass auch die Robustheit gegenüber nichtintentionalen Eingaben die subjektive Bewertung beeinflusst). HS7 Das autonome Notbremssystem erfährt eine schlechtere Akzeptabilität als andere, nicht außerhalb des Komfortbereiches eingreifende FAS3 (Hypothese zu Frage S4; vgl. Nilsson et al., 1991; Fancher et al., 1995).
3.2 Methodik der Datenerhebung Dieser Abschnitt stellt die Versuchs- und Messapparaturen, die unabhängigen und die Messvariablen, den Versuchsablauf, Versuchsplan sowie die Stichprobe vor.
3.2.1 Versuchs- und Messapparaturen Die Studie wird im Realfahrzeug durchgeführt. Auf Fahrsimulatorstudien wird aufgrund der geringeren Realitätsnähe, insbesondere hinsichtlich der auf den Fahrer einwirkenden autonomen Verzögerung, verzichtet (vgl. Johannsen, 1990; Lerner, Dekker et al., 1996; Buld et al., 2002; Sato & Akamatsu, 2007; Yamada & Kuchar, 2006). Die Fahrten finden aus Sicherheitsgründen und aufgrund der besseren Reproduzierbarkeit sowie der zum Zeitpunkt der Untersuchung fehlenden Zulassung eines notbremsfähigen Fahrzeugs im öffentlichen Verkehr auf einer abgesperrten Teststrecke statt (Sommer & Engeln, 2009). Probandenfahrzeug (PF) und autonomer Notbremseingriff Als Probandenfahrzeug (im Folgenden PF genannt) wird ein BMW 530i, Baujahr 2006, genutzt. Es ist unter anderem mit ABS, ESP® premium, Automatikgetriebe und Bremsassistent ausgestattet. Zusätzlich ist eine Ansteuerung des ESP-Steuergerätes derart möglich, dass autonome Notbremseingriffe via CAN-Schnittstelle PC-gesteuert ausgelöst werden können. Zur PC-gesteuerten Auslösung der autonomen Notbremseingriffe wird das Programm CANalyzer, in Verbindung mit einem speziell geschriebenen CAPL-Programm (CAN APplication Language) genutzt. Die Eingriffe werden zweistufig durchgeführt: 1. Stufe: Verzögerung im Bereich von -6 m/s2 ; Dauer: 1 s, 2. Stufe: Verzögerung im Bereich von -9 m/s2 , Dauer: bis zum Stillstand. 3
Es handelt sich um zehn weitere, hauptsächlich sicherheitsorientierte und noch nicht am Markt erhältliche FAS aus den Arbeiten von Arndt (2010).
3.2 Methodik der Datenerhebung
95
Die angeforderten Verzögerungswerte werden im CAPL-Programm so eingestellt, dass die tatsächlich erreichten Verzögerungswerte (Messung mittels Beschleunigungssensor) bei trockenen Bedingungen im Bereich der oben genannten Werte liegen. Es werden maximale autonome Verzögerungen von -10.4 m/s2 gemessen. Nach Beendigung des Eingriffs kann das Fahrzeug wieder durch Gasgeben beschleunigt werden, d. h. die Geschwindigkeitskontrolle liegt dann wieder vollständig beim Fahrer. Ein Überstimmen ist nicht möglich, die Probanden können jedoch den Bremsdruck zusätzlich durch eigene Bremsung verstärken.4 Messinstrumente Das PF ist mit folgenden Messapparaturen ausgestattet: • Laptop 1 zur Messung der auf dem CAN-Bus verfügbaren Fahrzeugdaten und zur Auslösung autonomer Notbremseingriffe, • Laptop 2 zur Aufzeichnung von Videodaten und physiologischen Messwerten, • BIOPAC-Gerät zur Erfassung physiologischer Messwerte (s. Abschnitt 6.3.1), • USB-Kamera 1: Aufzeichnung des Fahrergesichts, • USB-Kamera 2: Aufzeichnung des Fußraumes. Zur Aufzeichnung der CAN-Bus-Daten steht auf Laptop 1 die CANalyzer pro-Version 5.1.41 (SP1) zur Verfügung. Die Aufzeichnung der physiologischen Daten erfolgt auf Laptop 2 mit der Software AcqKnowledge 3.7.2 (angeboten von Biopac Systems, Inc.), die Aufzeichnungen der USB-Kameras erfolgen mit der jeweils mitgelieferten Software. Bei USB-Kamera 1 handelt es sich um eine uEye Kamera, Modell UI-1410-C (CMOSSensor, 1/3”) mit einem Pentax Objektiv mit 8.5 mm Brennweite. Die räumliche Auflösung beträgt 320 x 240 Pixel. Die Kamera ist über dem Armaturenbrett hinter dem Lenkrad befestigt. USB-Kamera 2 ist unter dem Lenkrad angebracht. Es handelt sich um eine Creative Labs Inc. Kamera, Modell VF0070 (CCD-Sensor) mit einem Weitwinkelobjektiv von 2.9 mm Brennweite. Die räumliche Auflösung beträgt 120 x 160 Pixel. Bei dieser Kamera kommt es gelegentlich zum Einfrieren des Bildes bei zu starker Auslastung des Computers. Dies tritt in vielen Fällen kurz nach Beginn der autonomen Notbremseingriffe auf, so dass verlässliche Informationen über die Ausgangsstellung der Füße, aber nicht über die Fußbewegung während der autonomen Notbremseingriffe gewonnen werden. Diese sind indirekt den aufgezeichneten CAN-Bus-Daten entnehmbar. Synchronisation Die Synchronisation zielt darauf ab, die Daten der einzelnen Messsysteme zeitlich aufeinander beziehen zu können. Die Basis bildet Laptop 1, welches den Beginn autonomer Notbremseingriffe mit den CAN-Bus-Daten aufzeichnet. Die physiologischen Daten werden zu den CAN-Bus-Daten mit Hilfe eines 16 bit Microcontrollers (MACI, Measurement
4
Bei einer sehr intensiven Betätigung des Gaspedals wird das Fahrzeug nicht bis zum Stillstand abgebremst. In diesen Fällen hält der autonome Notbremseingriff im Versuch bis zu 6.5 s an.
96
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
And Control Interface) synchronisiert. Dieser sendet während autonomer Notbremseingriffe ein geändertes Signal, welches auf Laptop 2 aufgezeichnet wird. Die Videoaufnahmen werden zu den physiologischen Messdaten mittels LED synchronisiert, welche in regelmäßigen Abständen erleuchtet werden. Die Messapparaturen im Fahrzeug sind zusammen mit den Synchronisierungseinrichtungen sowie der Vorrichtung zur ferngesteuerten Hindernisauslösung (s. u.) in Abbildung 3.1 dargestellt.
Fernsteuerung für Hindernis (auf Hutablage)
Fzg.-CAN
Fontplatz hinter Fahrer
Versuchsleiter Laptop 1 CANalyzer
Kofferraum
Laptop 2 – Kameras, BIOPAC
Schalter Hindernis MACI
Fontplatz hinter Beifahrer BIOPAC physiologische Messungen
Proband
LED 1
LED 2
USB-Kamera 2 Fußraum
USB-Kamera 1 Gesicht
Fahrerplatz
Abbildung 3.1: Messsysteme, Fernsteuerung für Hindernis und Synchronisierungseinrichtungen im PF
3.2 Methodik der Datenerhebung
97
gespanntes Hochstartgummi
Auslösevorrichtung
Gestell 2 Hochstartseil
Gestell 1 verborgenes Absperrband
Umlenkrolle Wiesenfläche
Fahrbahn
Wiesenfläche
Abbildung 3.2: Schematischer Aufbau des Hindernisses
Hindernis Für die berechtigte Eingriffsbedingung wird ein Hindernis entworfen. Sein Aufbau kann Abbildung 3.2 entnommen werden. Das Hindernis besteht aus zwei Gestellen, Absperrband, einem Hochstartseil, einer Umlenkrolle, einer Auslösevorrichtung und einem Hochstartgummi. Es wird an einer 4.5 m breiten Fahrbahn aufgestellt, die beidseitig durch Wiesenflächen begrenzt ist. Die Bestandteile sind sehr flach und verborgen. Das über die Fahrbahn geführte Hochstartseil ist aus Fahrersicht kaum zu entdecken und kann vom Auto überfahren werden. Das Hindernis wird ferngesteuert ausgelöst. Die Fernsteuerung befindet sich abgedeckt im Auto auf der Hutablage, der Schalter ist am Platz des Versuchsleiters. Bei Auslösung wird das gespannte Hochstartgummi losgelassen, welches zuvor per Servomotor in der Auslösevorrichtung gehalten wird. Es zieht das Hochstartseil und das daran befestigte Absperrband über die Fahrbahn und stellt dabei die befestigten Gestelle auf. Die Latenz bis zum Beginn der Hindernisaufrichtung beträgt durchschnittlich 333 ms, die anschließende Aufrichtung dauert im Mittel 300 ms (berechnet anhand von 19 mit je 50-60 Bilder/s aufgezeichneten Auslösungen). Das aufgerichtete Hindernis versperrt die Fahrbahn vollständig, so dass Ausweichmanöver verhindert werden. Abbildung 3.3 zeigt eine Aufnahme des aufgerichteten Hindernisses. Hilfsfahrzeug (HF) Für die Eingriffsbedingung „zu überstimmender Notbremseingriff“ (vgl. Abschnitt 3.2.3) wird ein zweites Fahrzeug (Hilfsfahrzeug, HF) genutzt (ein Volvo V70, Baujahr 1996, ohne für den Versuch relevanter Fahrerassistenz). Es wird von einem Versuchshelfer gefahren.
98
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Abbildung 3.3: Aufgerichtetes Hindernis
Lichtschranke Zur Abstimmung des HF mit dem PF wird eine Lichtschranke aufgebaut. Diese überträgt bei Unterbrechung ein Signal an ein Funkgerät (Sender). Nach einer zeitlichen Verzögerung von ca. 2 s gibt das Empfangsgerät im HF ein deutlich hörbares Tonsignal aus. Dieses wird vom Versuchshelfer im HF als Signal zum Losfahren genutzt. Da die Fahrzeuggeschwindigkeit während des Versuches schon auf Höhe der Lichtschranke für den Probanden vorgegeben ist, wird so eine gleichartige Annäherung des HF an das PF sichergestellt.
3.2.2 Versuchsstrecke Fahrversuch I wird an fünf Samstagen im Oktober und November 2007 auf der Teststrecke des Bosch-Standortes Schwieberdingen durchgeführt. Für die Versuchsfahrten wird ein Parcours festgelegt, der von den Probanden mehrmals zu durchfahren ist. Er enthält gerade Strecken und Kurven unterschiedlich starker Krümmung und ist insgesamt ca. 775 m lang. Abbildung 3.4 zeigt den zu durchfahrenden Parcours (der gepunktet/einfach gestrichelt gekennzeichnete Rundkurs). Sie verdeutlicht, wo die berechtigten und die zu überstimmenden autonomen Notbremseingriffe (s. Abschnitt 3.2.3) stattfinden. Auf den einfach gestrichelt dargestellten Abschnitten sind vorgegebene Geschwindigkeiten (40 km/h, 50 km/h oder 60 km/h) einzuhalten, diese werden in den einzelnen Runden variiert. Auf den gepunkteten Abschnitten des Rundkurses dürfen die Probanden die Geschwindigkeit im Bereich des sicheren Fahrens frei wählen. Der graue Pfeil links in der Abbildung verdeutlicht die Fahrtrichtung des HF, eine genaue Erläuterung wird in Abschnitt 3.2.3 gegeben.
3.2 Methodik der Datenerhebung
Spurwechsel - Zu überstimmender Eingriff
99
Hindernis – Berechtigter Eingriff
PF, vmax=50 km/h HF bei Spurwechselsituation Orte der unerwarteten Notbremseingriffe
PF, v wird vorgegeben zur Ablenkung vom Untersuchungszweck (vmax=60 km/h) Wiesenflächen
Abbildung 3.4: Auf der Teststrecke zu durchfahrender Parcours, die Eingriffsbedingungen werden in Abschnitt 3.2.3 erläutert
3.2.3 Unabhängige Variable Jede Versuchsfahrt gliedert sich in zwei Teilabschnitte: Zwei erste unerwartete autonome Notbremseingriffe5 und nach Probandenaufklärung zwei erwartete Eingriffe. Durch unerwartete Ereignisse werden in Fahrversuchen extern validere Reaktionen gemessen, die z. B. deutlich längere Reaktionszeiten aufweisen als Reaktionen auf erwartete Ereignisse (Green, 2000; Weiße, 2003; Curry et al., 2003; Schmitt et al., 2007). In beiden Teilabschnitten wird jeweils eine zweistufige unabhängige Variable in Wiederholungsmessung mit randomisierter Reihenfolge auf ihre Wirkung auf die Fahrerreaktionen geprüft. Der erste Teilabschnitt variiert die Fahrsituation, die bestimmte Fahrerreaktionen nahelegt. Er enthält einen berechtigten und einen zu überstimmenden Notbremseingriff. Diese werden stets an den Anfang der Fahrt gestellt, um ungewohnte Notbremseingriffe zu untersuchen (vgl. Buld et al., 2002). Die vom Probanden erlebten Fahrerintentionen werden jeweils direkt im Anschluss in Zwischenbefragungen erfragt (vgl. Abschnitt 3.2.6). Nach diesem Teilabschnitt wird der Proband über den Versuchszweck aufgeklärt. Es folgen zwei erwartete autonome Notbremseingriffe, vor denen der Proband jeweils instruiert wird, sich in eine spezielle Situation hineinzuversetzen und so schnell wie möglich entsprechend zu reagieren. Im Folgenden werden diese Eingriffsbedingungen beschrieben. Sie finden auf gerader Strecke unter Geschwindigkeitsbegrenzung statt, eine für Auffahrunfälle typische Ausgangs5
Bei mehreren unerwarteten Vorkommnissen im Fahrversuch stellt sich das Problem, die jeweils zweiten, dritten usw. weiterhin unerwartet zu gestalten. So schreiben Morris (2003, S. 14): „It was agreed that only 3 tests could be given to each volunteers before they began to suspect the reason for the test and then possibly change their behaviour.“ Möglichkeiten zur Verbergung des Versuchszwecks bestehen z. B. in der Information, dass sich die Probanden erst auf dem Hin- bzw. schon auf dem Rückweg zum/ vom Versuch befinden (Krause et al., 2007a, 2007b; Olson & Sivak, 1986) oder in einer Information nach der ersten kritischen Situation, dass eine solche nicht noch einmal vorkommen wird (vgl. Curry et al., 2003). Letztere Variante wird hier neben der randomisierten Reihenfolge genutzt und führt dazu, dass die beiden unerwarteten autonomen Notbremseingriffe gleichwertig unerwartet sind (vgl. Anhang J).
100
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
(1) Berechtigt
(2) Zu überstimmen Probanden-Fahrzeug (PF) mit autonomem Notbremssystem Instruierter Versuchshelfer im HF Plötzlich erscheinendes Hindernis Autonomer Notbremseingriff Wunschverhalten des Fahrers (durch Fahrsituation, Übung und monetären Anreiz)
Abbildung 3.5: Unerwartete Eingriffsbedingungen mit autonomen Notbremseingriffen (Sommer & Engeln, 2009; nicht maßstabsgerecht)
situation (Gish & Mercadante, 2001; vgl. Unselt et al., 2004, für Fußgängerunfälle). Die berechtigte und zu überstimmende Eingriffsbedingung sind in Abbildung 3.5 illustriert. Berechtigter Eingriff In der Literatur werden verschiedene Methoden beschrieben, wie Vollbremsintentionen bei Probanden provoziert werden können. Dabei ist eine kritisch wirkende Situation darzustellen, die jedoch objektiv gesehen keine ernsthafte Gefahr für die beteiligten Personen und Versuchsmittel darstellt. In einer Vielzahl von Fahrversuchen werden plötzlich Hindernisse auf die Fahrbahn gezogen, geworfen o. ä. Diese können einerseits bekannte Kollisionsobjekte darstellen (z. B. in Kiefer et al., 1999, 2006; Hoffmann & Winner, 2008a, 2008b; Winner, Fecher, Hoffmann & Regh, 2008; Weiße, 2003; Krause et al., 2007a, 2007b; Collet et al., 2005; Gish & Mercadante, 2001). In anderen Untersuchungen werden ungewohnte Objekte genutzt (z. B. Schmitt & Färber, 2005; Yoshida, Nagai, Kamada & Shimozato, 2004; Bender & Landau, 2006; Bender, 2008; Olson & Sivak, 1986). Durch bekannte Objekte werden schnellere und stärker automatisierte Fahrerreaktionen hervorgerufen, da diese bedrohlicher wirken (Kiefer et al., 1999; Green, 2000; Schmitt et al., 2007). Da es in dieser Studie notwendig ist, keine Ausweichreaktion zu ermöglichen, das Hindernis auch für spätere Kontrollgruppen ohne eingreifende Assistenz nutzen zu können und es so zu verbergen, dass es nicht durch den Probanden erkannt werden kann, wird nach einer Lösung gesucht, die die gesamte Fahrbahn absperrt, deren Aufbau vor tatsächlicher Auslösung nicht erkennbar wird und die im Falle einer Kollision zu keinen Schäden führt. Diese Anforderungen führen zum Aufbau des in Abschnitt 3.2.1 beschriebenen Hindernisses. Vor der Hindernisauslösung wird überprüft, ob der Fahrer 50 km/h fährt. Anschließend werden 23 m vor der Höhe des Hindernisses der Eingriff und das Hindernis ausgelöst. Die Auslösezeiten des Hindernisses betragen bis zur sichtbaren Aufrichtung zwischen 490 und 690 ms (zur Ermittlung dieser Werte vgl. Abschnitt 3.2.1). Der Eingriff wird nach Knopf-
3.2 Methodik der Datenerhebung
101
druck um 600 ms hinausgezögert, so dass er spätestens 110 ms nach Beginn der Hindernisaufrichtung einsetzt. Dadurch soll verhindert werden, dass der Fahrer schon vor Beginn der autonomen Notbremsung selbst bremst. Die Versuchsauslegung führt dazu, dass das der autonome Notbremseingriff bei einer TTC von ca. 1.1 s einsetzt. Dies ist laut mehreren Arbeiten als eine für den Fahrer kritische Fahrsituation einzustufen (vgl. Soma & Hiramatsu, 1998; Weiße, 2003). Zu überstimmender Eingriff Der zu überstimmende autonome Notbremseingriff enthält mehrere Maßnahmen, die die Bildung einer Überstimmungsintention begünstigen (vgl. Abschnitt 2.1.3). Zum einen wird eine Fahrsituation gewählt, in der der Proband durch den Notbremseingriff ein zweites Fahrzeug - das HF - behindert. Dazu fährt das HF dem Probanden unter Wahrung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes entgegen. Der Proband erhält die Aufgabe, durch Beschleunigung auf einer 13 m langen geraden Strecke und anschließenden Spurwechsel nach links seine Spur für das HF freizugeben, so dass dieses nicht behindert wird. In der Ausführung dieser Aufgabe wird der Proband durch den zu überstimmenden Notbremseingriff behindert. Diese Eingriffsbedingung erzeugt einen klaren Konflikt zwischen Systemeingriff und Fahrerintention, der nach Schmidt (2007) gut für die Untersuchung der Kontrollierbarkeit autonomer Fahrzeugeingriffe geeignet ist. Die Spurwechselaufgabe wird mehrmals geübt, bevor das HF tatsächlich entgegenkommt. Der zu überstimmende Notbremseingriff findet beim ersten Entgegenkommen des HF statt, welches dem Probanden zuvor angekündigt wird. Der Proband erfährt, dass er ab diesem Moment seine Aufwandsentschädigung verdoppeln kann, wenn er vor Beginn der Beschleunigungsstrecke die vorgegebene Geschwindigkeit einhält und zu denjenigen 50% aller Fahrer gehört, die das HF am wenigsten behindern. Während des autonomen Notbremseingriffs fordert das HF den Probanden zusätzlich per Hupe und Lichthupe zur Weiterfahrt auf. Die Gesamtheit dieser Maßnahmen bewirkt, dass vom Großteil der Probanden eine deutliche Überstimmungsintention gebildet wird (s. Abschnitt 3.4.1). Es wird bewusstes Verhalten des Fahrers untersucht, welches er unternimmt, um einen ungewollten Notbremseingriff zu überstimmen (vgl. auch Flemisch et al., 2005; Kelsch et al., 2006). Eingriffe mit Instruktion Nach der Probandenaufklärung erleben die Probanden zwei erwartete autonome Notbremseingriffe bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h. Sie werden vor jedem Eingriff gebeten, sich in eine vorgegebene Situation hineinzuversetzen und möglichst schnell entsprechend zu reagieren. Eine Instruktion legt eine Bremsintention nahe (plötzlich auf die Straße springendes Wild), die zweite eine Überstimmungsintention (Eingriff bei freier Fahrt, während der Fahrer dicht von einem Lkw gefolgt wird). Hat der Proband diese Instruktion nicht genau verstanden oder vergessen, wird der Eingriff wiederholt. Reagiert der Proband aufgrund seiner Systemwahrnehmung nicht entsprechend (z. B. Bremsung erfolgt schon oder Überstimmbarkeit ist defacto nicht gegeben), wird der Eingriff nicht wiederholt und in den Analysen gleichberechtigt berücksichtigt.
102
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
3.2.4 Versuchsablauf Der Fahrversuch ist für jeden Probanden in drei Teile gegliedert: die Vorbereitung, die Versuchsfahrt sowie die Nachbereitung. Abbildung 3.6 gibt einen Überblick über die drei Versuchsphasen.
Vorbereitung Æ Ausfüllen der Erklärung zur Fahrtüchtigkeit und -berechtigung Æ Vorbereiten der physiologischen Messungen: Anlegen von Elektroden/ Goniometer Æ Ausfüllen der Vorbefragung Æ Lesen der Instruktion Æ physiologische Referenzmessungen im stehenden PF
Versuchsfahrt Æ Erläuterung des Parcours und des Spurwechselmanövers Æ 1 Einführungsrunde ohne vorgegebene Geschwindigkeiten Æ 2 Leerfahrten Æ 1. unerwarteter autonomer Notbremseingriff und anschließende Befragung Æ 1 Leerfahrt Æ 2. unerwarteter autonomer Notbremseingriff und anschließende Befragung Æ Probandenaufklärung, anschließend erwartete autonome Notbremseingriffe
Nachbereitung Æ Ausfüllen Nachbefragungsbögen Æ Erhalt der Aufwandsentschädigung
Abbildung 3.6: Ablauf der Vorbereitung, Versuchsfahrt und Nachbereitung
Die Vorbereitung beinhaltet die Vorbefragung, Instruktion und die Vorbereitung der physiologischen Messungen (s. Abschnitt 6.3.1), inklusive der physiologischen Referenzmessungen im Stand. Der Testparcours ist für den Probanden noch nicht einsehbar. Die Versuchsfahrt startet mit der Einstellung der richtigen Sitzposition6 und der Vorstellung des Testparcours. Das Spurwechselmanöver wird genau erklärt und auf das Bonussystem hingewiesen. Dem Probanden wird mitgeteilt, bis wohin er seine Geschwindigkeit halten soll und ab wann die Beschleunigung vor dem Spurwechselmanöver einsetzen darf. Er erhält keinen Hinweis darauf, dass das PF notbremsfähig ist. Anschließend folgen eine weitere Eingewöhnungsfahrt durch den Parcours und fünf Testfahrten mit vorgegebenen Geschwindigkeiten, bei denen in der dritten und fünften Fahrt autonome Notbremseingriffe ausgelöst werden (vgl. Abbildung 3.6). 6
Ein Einfluss der Sitzposition auf die Fahrerreaktion ist anzunehmen (z. B. Wang et al., 2000). Hier soll dieser Einfluss nicht ermittelt werden. Aus Gründen der externen Validität wird auf eine Vorgabe der Sitzposition verzichtet, jeder Proband nimmt die für ihn entsprechende Fahrposition ein.
3.2 Methodik der Datenerhebung
103
In der Nachbereitung füllt der Proband mehrere Nachbefragungsbögen aus und erhält eine Aufwandsentschädigung von 40 ¤. Probanden, die die Testfahrt hinter sich gebracht haben, können den folgenden Probanden keinerlei Information übermitteln.
3.2.5 Versuchsplan Tabelle 3.1 zeigt das Versuchsdesign. Tabelle 3.1: Versuchsplan; Eingriff 1 und 2 erfolgen ohne, Eingriff 3 und 4 mit Erwartung Autonomer Eingriff
1
2
Intention erzeugt durch Fahrsituation
R
Gruppe 1
berechtigt
zu überstimmen
Gruppe 2
berechtigt
zu überstimmen
Gruppe 3
zu überstimmen
berechtigt
Gruppe 4
zu überstimmen
berechtigt
3
4
Intention erzeugt durch Instruktion Instruktion Instruktion Bremsen Weiterfahren Instruktion Instruktion Weiterfahren Bremsen Instruktion Instruktion Bremsen Weiterfahren Instruktion Instruktion Weiterfahren Bremsen
Vollbremsintention soll erzeugt werden Überstimmungsintention soll erzeugt werden
Jeder Proband erlebt vier autonome Notbremseingriffe (vgl. Abschnitt 3.2.3). Bei den ersten beiden wird eine zweistufige unabhängige Variable untersucht (Fahrsituation), bei den letzten beiden eine andere (Instruktion). Beide unabhängige Variablen zielen darauf ab, beim Fahrer einmal eine Brems- und einmal eine Überstimmungsintention zu erzeugen. Eine vollständige Permutation der Reihenfolge ist aufgrund der notwendigen Aufklärung vor den Eingriffen mit Instruktion unangebracht.
3.2.6 Messvariablen Es werden sowohl objektive als auch subjektive Messvariablen erhoben. Diese lassen zusammen eine umfassendere Beurteilung der Fahrerreaktionen zu als die Beschränkung auf rein objektive oder subjektive Maße (vgl. Schick et al., 2007). Zuerst werden die am CANBus gemessenen Daten zusammengefasst. Anschließend werden die verwendeten Fragebögen vorgestellt. Objektive Messdaten Tabelle 3.2 fasst die gemessenen bzw. berechneten CAN-Bus-Daten und ihre Aufzeichnungsfrequenz zusammen. Die Verzögerungsanforderung und Fahrzeuglängsbeschleunigung dienen der Ermittlung des Eingriffszeitraumes. Die Fahrzeuggeschwindigkeit wird
104
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen Tabelle 3.2: Gemessene und berechnete CAN-Bus-Daten Aufnahmefrequenz [Hz]
Parameter Verzögerungsanforderung Fahrzeuggeschwindigkeit [km/h] Fahrzeuglängsbeschleunigung [m/s2 ] Bremsdruck am Hauptzylinder [bar] Erste Ableitung des Bremsdruck am Hauptzylinder - Bremsdruckgradient [bar/ms] Gaspedalstellung [%] Erste Ableitung der Gaspedalstellung - Gaspedalgeschwindigkeit [%/ms] Zweite Ableitung der Gaspedalstellung - Gaspedalbeschleunigung [%/ms2 ] Kickdown-Betätigung Lenkwinkel [°] Erste Ableitung des Lenkwinkels - Lenkwinkelgradient [°/s]
50 50 50 50 50
Kommentare
Berechnet aus Bremsdruck am Hauptzylinder und Zeit
100 100
Berechnet aus Gaspedalstellung und Zeit
100
Berechnet aus Gaspedalstellung und Zeit
100 100 100
Berechnet aus Lenkwinkel und Zeit
Tabelle 3.3: Videoaufzeichnungen Videoaufzeichnung Gesicht Fußraum
Aufnahmefrequenz [Hz] >30 30
Kommentare Linker und rechter Fuß sichtbar
vom Programm zur Stillstandserkennung benötigt. Die restlichen Messdaten dienen der Analyse der Fahrerreaktionen zur Hypothesenbeantwortung. Die Videoaufzeichnungen können Tabelle 3.3 entnommen werden. Eine Beschreibung der physiologischen Messwerte ist Abschnitt 6.3.1 zu entnehmen. Befragungen Zusätzlich werden die Fahrer zu verschiedenen Zeitpunkten befragt. Die Originalbögen befinden sich in den Anhängen C, D, E sowie F. Vorbefragung In der Vorbefragung werden persönliche Angaben (Alter, Geschlecht, Körpergröße, Sehhilfe), die Fahrerfahrung (Dauer des Führerscheinbesitzes, Kilometerleistung in den letzten zwölf Monaten und insgesamt), die Fahrgewohnheiten (Fahrstil [vgl. Stern, 1999], Verteilung der Kilometerleistung auf Stadtverkehr, Landstraßen und Autobahn) sowie Angaben zum am häufigsten gefahrenen Pkw (Baujahr, Marke, Typ, FAS, Schalt- vs. Automatikgetriebe) erfragt. Zusätzlich erhalten die Probanden die unten beschriebene Kurzform des Fragebogens zu den Kontrollüberzeugungen im Umgang mit Technik (Beier, 1999, 2004)
3.2 Methodik der Datenerhebung
105
und kurz vor Versuchsbeginn die ebenfalls unten erläuterten Beanspruchungsratings (Richter, Debitz & Schulze, 2002) zur Erfassung ihrer aktuellen Beanspruchung. Kontrollüberzeugungen im Umgang mit Technik (KUT) Zur Berücksichtigung persönlicher Faktoren bei der Entwicklung von Technik stellt Beier (1999, 2004) ein Instrument zur Erfassung von Kontrollüberzeugungen im Umgang mit Technik vor (KUT). Er definiert diese als (2004, S. 48): „ [. . . generalisierte] Erwartungen einer Person darüber, in welchem Maße wichtige Ereignisse und Verstärker vom eigenen Handeln oder eigenen Charakteristika abhängen.“ Er weist einen Einfluss auf den Umgang mit Technik, das emotionale Erleben dabei sowie den Wunsch nach verschiedenen Unterstützungsgraden nach. Hier wird die von Beier entwickelte eindimensionale Kurzform des KUT mit fünfstufiger Antwortskala zur Stichprobenbeschreibung genutzt. Beanspruchungsratings Die Beanspruchungsratings messen den aktuellen Beanspruchungszustand auf vier Dimensionen (Positive Gestimmtheit, Psychische Ermüdung, Sättigung/ Stress, Monotonie) anhand zwölf monopolarer Items. Diese Kurzform der Beanspruchungsmessung entstammt unter anderem den Beanspruchungsmessskalen (BMS) von Plath und Richter (1984) sowie den Eigenzustandsskalen von Nitsch (1976) - zwei Verfahren, die für die Beanspruchungsmessung in der Erwerbsarbeit konstruiert sind. Die Faktorenstruktur sowie deren hohe zeitliche Stabilität weisen Richter et al. (2002) anhand einer längsschnittlichen Erfassung an 135 Call Center Agents nach. Der Einsatz der Beanspruchungsratings erfolgt in dieser Studie, um zu überprüfen, ob die Probanden über die Zeit der Versuchsfahrt bedeutsamen Beanspruchungsänderungen unterliegen (z. B. steigende Ermüdung oder gesteigerter Stress), die ggf. bei der Ergebnisinterpretation zu berücksichtigen sind. Zwischenbefragung Die Zwischenbefragung erfolgt jeweils direkt nach dem Erleben eines unerwarteten autonomen Notbremseingriffs. Die Probanden werden zum einen offen befragt, was sie in der Situation erlebt haben und wie sie es erlebt haben. Zum anderen haben sie folgende Empfindungen in jeweils vierstufigen Ratingskalen einzuschätzen: • • • • •
Die Bremsintention vor Beginn des autonomen Notbremseingriffs, Die Bremsintention während des autonomen Notbremseingriffs, Die Beschleunigungsintention während des autonomen Notbremseingriffs, Die Lenkintention während des autonomen Notbremseingriffs, Die Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit und Lenkung während des autonomen Notbremseingriffs, • Die Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit und Lenkung nach dem autonomen Notbremseingriff.
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3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Nachbefragung Nach Abschluss der Testfahrt füllt jeder Proband zwei Nachbefragungsbögen aus. Der erste beinhaltet die Beanspruchungsratings (Richter et al., 2002) sowie Fragen zur Empfindung der Notbremseingriffe und zu Erwartungen bezüglich der Gestaltung von Überstimmbarkeit. Der zweite erfasst die Akzeptabilität des autonomen Notbremssystems (basierend auf Arndt, 2010). Die Teilfragebögen werden im Folgenden vorgestellt. Empfindung der autonomen Notbremseingriffe Die autonomen Notbremseingriffe sind hinsichtlich folgender Aspekte einzuschätzen: • • • • • •
Empfindung von Stärke und Dauer, Erschrecken, Störempfinden bei Fehleingriffen, Wahrnehmung von Überstimmbarkeit, Wünschen von Überstimm- und Abschaltbarkeit7 , Empfundene Gefahr, dass autonome Notbremseingriffe ungewünschte Fahrerreaktionen hervorrufen (versehentliches Gasgeben, Verreißen des Lenkrads).
Die Items werden eigens für diese Untersuchung formuliert. Da sie nicht in vorherigen Untersuchungen auf ihre psychometrischen Eigenschaften geprüft werden können, werden sie zur rein deskriptiven Beschreibung des Empfindens herangezogen. Zustimmung zu verschiedenen Überstimmungskonzepten Soll eine Überstimmbarkeit bei autonomen Notbremssystemen umgesetzt werden, stellt sich die Frage, inwiefern die gewählte Variante auf Zustimmung stößt. Daher werden fünf einfach verständliche Überstimmungskonzepte beschrieben und eine Wünschbarkeit dieser erfragt. Es handelt sich um folgende Varianten (Originalbeschreibungen): • Jederzeit: Der Fahrer kann den Bremseingriff jederzeit überstimmen, indem er Gas gibt. Tritt er auf das Gaspedal, so wird der Bremseingriff abgebrochen. (vgl. Auslegung vom Abstandsregeltempomaten, Abschnitt 2.4.4) • Nach bestimmter Zeit: Der Fahrer kann den Bremseingriff überstimmen, indem er nach Ablauf z. B. von einer Sekunde Gas gibt. Vorher wird der Bremseingriff stets durchgeführt, egal was der Fahrer macht. (vgl. Ewerhart et al., 2007) • Mit bestimmter Kraft: Der Fahrer kann einen Bremseingriff überstimmen, indem er das Gaspedal kräftiger als sonst tritt. (vgl. Lüke et al., 2007; Adell & Várhelyi, 2008; Lange, Bubb, Tönnis & Klinker, 2008; Schieben & Flemisch, 2008) • Schalter im Fahrzeug: Der Fahrer kann einen Bremseingriff überstimmen, indem er das Kollisionsvermeidungssystem mittels Knopfdruck abschaltet. (vgl. Buld et al., 2002; Schieben & Flemisch, 2008) 7
Überstimmen bedeutet, einen eingeleiteten Notbremseingriff abbrechen zu können, Abschaltbarkeit bezieht sich auf die Möglichkeit, das FAS jederzeit zu deaktivieren.
3.2 Methodik der Datenerhebung
107
• Keine Überstimmungsmöglichkeit: Der Fahrer kann einen Bremseingriff nicht überstimmen, bis die vom System erkannte Gefahr vorbei ist oder das Fahrzeug steht. (vgl. Dingus, Jahns et al., 1997; Färber & Maurer, 2005; Bender & Landau, 2006) Zu jeder Variante wird einzeln gefragt, wie stark diese im Realfahrzeug gewünscht wird. Zusätzlich sind die Varianten in eine Rangfolge der Wünschbarkeit zu bringen. Akzeptabilitätsfragebogen Für die Akzeptabilitätsmessung werden zentrale Bausteine aus dem Verfahren von Arndt (2010; Arndt & Engeln, 2008; vgl. auch Sommer & Arndt, 2008) genutzt: die emotionale Einstellung zu dem FAS (ermittelt anhand eines semantischen Differenzials), die Kaufintention, die direkte und indirekte Verhaltenskontrolle (Beweggründe, die das Kaufverhalten unmittelbar beeinflussen können, z. B. finanzielle Rahmenbedingungen und Verfügbarkeit), die Einstellung zum Kauf sowie ein Vergleich der Wichtigkeit mit anderen FAS. Genauere Hintergründe zu den Skalen sind der Arbeit von Arndt (2010) zu entnehmen. Bei der Ergebnisinterpretation ist zu beachten, dass die Urteile der Probanden aufgrund der Versuchsfahrt verzerrt ausfallen können im Vergleich zu einer Personengruppe, die das autonome Notbremssystem noch nicht erfahren hat (vgl. Bender, 2008). Dabei ist auch ein Einfluss der Art der Versuchsfahrt möglich. Eine Integration des Akzeptabilitätsfragebogens in die Vorbefragung würde jedoch zu einem ungewünschten Vorwissen der Probanden führen, so dass diese Erhebung nur im Rahmen der Nachbefragung durchgeführt werden kann.
3.2.7 Stichprobe Es nehmen insgesamt 46 Probanden teil, vier weitere Personen werden in den Vorversuchen berücksichtigt. Die Probandenrekrutierung erfolgt unter Bosch-Mitarbeitern sowie deren Angehörigen. Die Stichprobengröße wird neben Beschränkungen aufgrund der Verfügbarkeit der Fahrzeuge und der Teststrecke so gewählt, um mittlere und starke Effekte statistisch abzusichern (vgl. Bortz, 1999; Bortz & Döring, 1995) und um Personen verschiedenen Geschlechts, Alters und verschiedener Fahrerfahrung berücksichtigen zu können. Bei n = 44 Probanden des Hauptversuches können die Versuchsfahrten wie geplant durchgeführt werden. Diese Personen werden in der Auswertung der Befragungen berücksichtigt. Bei 40 Probanden werden die CAN-Bus-Daten während der beiden unerwarteten Notbremseingriffe erfolgreich gespeichert (Ausfälle aufgrund eines Laptopdefekts). Bei n = 38 Probanden können die Daten zu beiden erwarteten Notbremseingriffen ausgewertet werden. Tabelle 3.4 fasst die Variablen zu den Personen sowie ihren Fahrgewohnheiten zusammen (Stichprobe mit erfolgreicher Versuchsdurchführung, n = 44). Bei der Versuchsplanung wird besonderer Wert darauf gelegt, eine gleiche Anzahl von Männern und Frauen aus den Altersklassen (1) 18 bis 35 Jahre, (2) 36 bis 50 Jahre und (3) ab 51 Jahre zu rekrutieren und diese gleichmäßig den verschiedenen Reihenfolgen (vgl. Abschnitt 3.2.5) zuzuweisen. Die Gesamtkilometerleistung streut deutlich: Werte von 300 bis 2 000 000 km werden angegeben. Die Stichprobe besteht somit aus Personen mit sehr verschiedenen soziodemographischen Hintergründen und Fahrgewohnheiten. Die am häufigsten gefahrenen
108
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen Tabelle 3.4: Stichprobenbeschreibung Stichprobe mit erfolgreicher Versuchsdurchführung (n=44) Anteil männlicher Probanden Alter (Mw, Std) [a] Anteil 18-35 Jahre Anteil 36-50 Jahre Anteil ab 51 Jahre Körpergröße (Mw, Std) [cm] Kilometerleistung im letzten Jahr (Mw, Std) [km] Kilometerleistung insgesamt (Mw, Std) [km] Dauer des Führerscheinbesitzes (Mw, Std) [a] Anzahl Personen, die ACC1 nutzen Anzahl Personen, die den Tempomat nutzen Anzahl Personen, die Automatikgetriebe nutzen
1
48% 42.1 (11.5) 34% 32% 34% 174 (9) 17 600 (11 400) 399 000 (348 000) 22.7 (11.0) 1 10 9 ACC: Adaptive Cruise Control, gängige Bezeichnung für den Abstandsregeltempomaten, vgl. Abschnitt 2.4.4
Pkw der Teilnehmer haben ein durchschnittliches Alter von 5.4 Jahren (Std: 4.2 Jahre). Die Fahrzeugklassen dieser Pkw (nach Kraftfahrt-Bundesamt, 2006) weichen nicht signifikant von der bundesdeutschen Verteilung im Januar 2007 ab (p = 0.245; vgl. KraftfahrtBundesamt, 2007)8 . Hinsichtlich des empfundenen Fahrstils schätzen sich die Probanden tendenziell eher schnell, mutig und sportlich ein, wobei keine extremen Mittelwerte auftreten. Der mittlere Fahrstil der Stichprobe beträgt 3.32 auf fünfstufiger Skala (Std: 0.58). Die mittlere Kontrollüberzeugung9 beträgt 4.00 (Std: 0.74, fünfstufige Skala). Dies spiegelt die auch von Beier (2004) gefundene linksschiefe Verteilung der Antworten, d. h. in Richtung höherer Kontrollüberzeugungen wider. Sie ist in der Stichprobe im Vergleich zu Beier (2004) signifikant stärker ausgeprägt (t-Anpassungstest für den Mittelwert: t[0.05;41] = 4.5, p < 0.0005, vgl. Clauß, Finze & Partzsch, 1995).
3.3 Methodik der Datenanalyse Dieser Abschnitt beschreibt die Analyse der am CAN-Bus gemessenen Verhaltens- sowie der Befragungsdaten. Zunächst wird beschrieben, wie für die Analysen jeweils die Probanden gewählt werden, die die entsprechenden Fahrerintentionen bewusst erlebt haben. Die anschließenden Abschnitte beschreiben, wie Merkmale des Verhaltens an der Pedalerie und
8
Die Berechnung beruht auf dem für kategoriale Daten exakten Polynomialtest (Clauß et al., 1995). Zur Begrenzung des Rechenaufwandes werden „Sonstige“ sowie Fahrzeugklassen mit einem Vorkommen unter 2% (Oberklasse, Sportwagen, Wohnmobile) nicht beachtet. 9 Die Berechnung eines mittleren Fahrstilwertes und einer mittleren Kontrollüberzeugung wird durch Faktorenanalysen gerechtfertigt. Sie ergeben jeweils einen Faktor mit einer Varianzaufklärung von 59% (Fahrstil) bzw. 62% (Kontrollüberzeugung).
3.3 Methodik der Datenanalyse
109
am Lenkrad aus den Messwerten bestimmt und wie Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung abgeleitet werden. Abschließend wird die Analyse der Befragungsdaten erläutert.
3.3.1 Fallauswahl nach berichteten Intentionen Wie in Abschnitt 2.1.2 abgeleitet, sind in dieser Arbeit jene Fahrerintentionen an den Fahrerreaktionen zu erkennen, welche bewusst erlebt und im Nachhinein berichtet werden. Dazu wird in den Zwischenbefragungen nach den unerwarteten Notbremseingriffen nach den erinnerten Intentionen mittels geradzahliger Ratingskalen gefragt. Anhand dieser Angaben werden für alle Analysen die Probanden ausgewählt, die die zu erkennende(n) Intention(en) auch tatsächlich bewusst erleben. Dazu wird jede Antwort in der Ratingskala dem nächstliegenden Pol zugewiesen. Da Algorithmen zur Erkennung zwei verschiedener Intentionen (vgl. Abschnitt 3.1) abgeleitet werden sollen, gelten verschiedene Kriterien für die Fallauswahl. Diese Kriterien werden in Abbildung 3.7 zusammengefasst. Zu überstimmender Notbremseingriff
Berechtigter Notbremseingriff Kriterien zur Auswahl der Teilstichprobe zur Erkennung Bremsintention berichtet von Vollbremsintentionen
&
Keine Bremsintention berichtet
(n = 27)
Kriterien zur Auswahl der Teilstichprobe zur Erkennung Keine Beschleunigungsintention berichtet von Überstimmungsintentionen
&
Beschleunigungsintention berichtet
(n = 32)
Kriterien zur Auswahl der Teilstichprobe zur Erkennung Bremsintention berichtet von beiden Fahrerintentionen
&
Beschleunigungsintention berichtet
(n = 26)
Abbildung 3.7: Kriterien zur Fallauswahl für die Analyse der am CAN-Bus gemessenen Verhaltensdaten
Zur Ableitung geeigneter Algorithmen zur Erkennung von Vollbremsintentionen werden die Probanden berücksichtigt, deren Antworten in den Zwischenbefragungen darauf schließen lassen, dass sie bei den berechtigten Eingriffen eine Bremsintention, bei den zu überstimmenden Eingriffen hingegen keine Bremsintention erleben (n = 27). Umgekehrt werden die Probanden zur Entwicklung von Algorithmen zur Erkennung von Überstimmungsintentionen ausgewählt, die bei den zu überstimmenden Eingriffen eine Beschleunigungsintention und gleichzeitig bei den berechtigten Eingriffen keine Beschleunigungsintention erleben (n = 32). Analysen, die beide Algorithmen zusammen betrachten, werden mit den Probanden durchgeführt, die während der zu überstimmenden Eingriffe eine Beschleunigungsintention und während der berechtigten Eingriffe eine Bremsintention bilden (n = 26). Diese Teilstichprobe ist die Schnittmenge aus den beiden zuerst beschriebenen Teilstichproben. Die drei Teilstichproben werden in dieser Arbeit bezeichnet als Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentio-
110
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
nen sowie Teilstichprobe zur Erkennung von beiden Fahrerintentionen. Die Auswertung der Befragungsdaten ist von dieser Fallauswahl nicht betroffen. Sie berücksichtigt alle Personen mit korrektem Versuchsablauf (vgl. Abschnitt 3.2.7).
3.3.2 Bestimmung von Einzelmerkmalen der Fahrerreaktion Die über CAN-Bus-Daten ermittelten Fahrerreaktionen in den verschiedenen Eingriffsbedingungen sind zunächst deskriptiv zu beschreiben und auf signifikante Unterschiede zu prüfen. Die Messwertanalyse erfolgt mittels MATLAB® , Version R2007a. Bevor einzelne Merkmale der Fahrerreaktionen aus den Messwerten bestimmt werden können, werden die Start- und Endzeitpunkte autonomer Notbremseingriffe einheitlich festgelegt. Beginn eines Notbremseingriffs Der autonome Notbremseingriff wird mit einer speziellen CAN-Botschaft angefordert (Verzögerungsanforderung). Diese führt nicht zu sofortiger Abbremsung, da der notwendige Bremsdruck aufgebaut werden muss (Zeitverzögerung: Mw = 173 ms, Std = 29 ms). Da Fahrerreaktionen auf die autonome Verzögerung interessieren, wird der Start des Notbremseingriffs zum ersten Zeitpunkt nach Verzögerungsanforderung erkannt, ab dem die Längsverzögerung innerhalb einer Sekunde vom Betrag her nicht mehr unter 0.1 m/s2 fällt. Eine Wahrnehmung ist schließlich ab ca. -0.6 m/s2 zu erwarten (Newcomb, 1981), was nach kurzer Latenz nach erkanntem Eingriffsbeginn erreicht wird (Mw = 21 ms, Std = 19 ms). Ende eines Notbremseingriffs Das PF wird bis zum Erreichen des Stillstandes autonom abgebremst (zur Fehlerreduzierung bis v = 2 m/s). Der Abbruch eines Notbremseingriffs ist in den CAN-Bus-Daten erkennbar. Fahrerreaktionen werden bis zu diesem Zeitpunkt ausgewertet. Merkmale der Pedal- und Lenkradbedienung Die zwischen Beginn und Ende der autonomen Verzögerung liegenden Messwerte vom CAN-Bus werden hinsichtlich 38 ausgewählter Merkmale an Gas-, Bremspedal und Lenkrad untersucht. Eine genaue Beschreibung dieser Merkmale ist Anhang G zu entnehmen. Weitere mögliche Parameter zur Fahrerintentionserkennung, z. B. Umgebungsinformationen (Kopf, 2005) werden nicht ausgewertet, da diese weitgehend konstant gehalten werden. Im Folgenden werden die ausgewerteten Merkmale der Fahrerreaktionen zusammengefasst (vgl. die Hypothesen in Abschnitt 3.1). Merkmale der Gaspedalbetätigung Bei der Gaspedalbetätigung werden möglichst verschiedene Aspekte erfasst, da bislang noch kein Wissen vorliegt, welche mit Überstimmungsintentionen einhergehen. Entsprechend sind zu Beginn dieses Kapitels mehrere Hypothesen formuliert, wie Überstimmungsintentionen die Gaspedalbetätigung beeinflussen. Reaktionszeiten werden bis zu einzelnen Episoden der Gaspedalbetätigung sowie bis zu einzelnen Episoden von Vollgas- und
3.3 Methodik der Datenanalyse
111
Kickdown-Betätigungen erfasst. Dies gilt ebenso für die erfassten Dauern der Gaspedalbetätigung, auch hier werden Vollgas- und Kickdown-Betätigungen gesondert betrachtet. Es wird angenommen, dass Überstimmungsintentionen zu längeren Betätigungen am Gaspedal führen. Die maximale Gaspedalstellung wird nicht nur absolut erfasst, sondern auch als Differenz zur Gaspedalstellung, die zu Beginn des Notbremseingriffs gemessen wird. Diese Erhöhung der Gaspedalstellung wird zusätzlich bis zum ersten lokalen Maximum der Gaspedalstellung ermittelt. Es soll geprüft werden, ob die maximale Gaspedalstellung bzw. die Erhöhung der Gaspedalstellung bei Überstimmungsintentionen größer ausfallen. Zur Erfassung der Änderung der Gaspedalstellung werden verschiedene Merkmale abgeleitet: die Anzahl an Gas-, Vollgas- und Kickdown-Betätigungen, die Anzahl an lokalen Maxima der Gaspedalstellung sowie die Streuungen der Gaspedalstellung und ihrer ersten und zweiten Ableitung. Diese Maße sollen prüfen, ob bei Überstimmungsintention die Gaspedalstellung verstärkt geändert wird (vgl. Abschnitt 2.2.2 sowie das hypothetische Modell in 2.5). Gaspedalgeschwindigkeiten und -beschleunigungen werden betrachtet, um zu prüfen, ob das Gaspedal bei einer Überstimmungsintention schneller betätigt wird. Wird das Gaspedal hingegen losgelassen, wird erwartet, dass die Gaspedalgeschwindigkeit bei Vollbremsintention höher ausgeprägt ist. Das Integral der Gaspedalstellung wird ausgewertet, um die Dauer und Intensität der Gaspedalstellung in einem gemeinsamen Kennwert auszudrücken, von dem Hinweise zur Differenzierung zwischen den Fahrerintentionen erwartet werden. Merkmale der Bremspedalbetätigung Am Bremspedal werden der maximale Bremsdruck am Hauptzylinder, die Reaktionszeit bis zum Bremsbeginn sowie bis zum maximalen Bremsdruck, die Anzahl an Bremspedalbetätigungen, der maximale Bremsdruckgradient sowie das Integral des Bremsdrucks über die Zeit ausgewertet. Die Kennwerte bilden verschiedene Aspekte der Intensität sowie der Schnelligkeit der Bremspedalbetätigung ab (vgl. Abschnitt 2.2.2). Merkmale der Lenkradbedienung Am Lenkrad werden vier Merkmale betrachtet: der maximale Lenkausschlag gegenüber dem Ausgangslenkwinkel (vgl. Kretschmer et al., 2006; Lüke et al., 2007), die Reaktionszeit bis zum maximalen Lenkausschlag, die Streuung des Lenkwinkels sowie der maximale Lenkwinkelgradient (vgl. Hargutt, 2003; Schmidt, 2007; Kretschmer et al., 2006). Der maximale Lenkausschlag, die Streuung des Lenkwinkels und die Lenkwinkelgeschwindigkeit deuten auf eine erhöhte Lenkaktivität hin, die bei Lenk- oder Ausweichintentionen auftreten kann. Umgang mit nicht beobachtbaren Werten Manche Werte können bei einem Teil der Probanden nicht ermittelt werden. Wird zum Beispiel das Gaspedal überhaupt nicht betätigt, sind eine Bestimmung der Dauer von Kickdownoder Vollgas-Betätigungen, entsprechende Reaktionszeiten oder Geschwindigkeiten bzw. Beschleunigungen am Gaspedal nicht feststellbar. Bei der inferenzstatistischen Analyse so-
112
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
wie bei der Ableitung von Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung werden diese Werte ersetzt, so dass für jeden Probanden und jedes Merkmal der Fahrerreaktion zu jedem Zeitpunkt ein gültiger Wert vorliegt. Nicht bestimmbare Dauern, Pedalgeschwindigkeiten oder -beschleunigungen werden durch Null ersetzt, nicht ermittelbare Reaktionszeiten durch 6.5 s.10 Damit fließt in die inferenzstatistische Auswertung ein, wie häufig eine infrage stehende Reaktion gezeigt wird und welche Intensität diese erreicht. Bei deskriptiven Darstellungen der Fahrerreaktionen werden ersetzte Werte nicht berücksichtigt, so dass erkennbar bleibt, welche Werte tatsächlich beobachtet werden. Hypothesenprüfung Die Hypothesenprüfung greift auf allgemeine statistische Verfahren zurück (s. z. B. Bortz, 1999; Clauß et al., 1995; Rudolf & Müller, 2004). Nach Prüfung der Voraussetzungen, z. B. der Verteilung, wird je nach Un- bzw. Abhängigkeit der Beobachtungen das passende Verfahren ausgewählt. Für die Annahme von Unterschiedshypothesen gilt die allgemein übliche Signifikanzgrenze von α = 0.05, für die Annahme von Gleichheitshypothesen wird die Signifikanzgrenze auf α = 0.2 hochgesetzt (Bortz, 1999; Hargutt, 2003). Ein kleinster relevanter Unterschied zur Berechnung des β -Fehlers kann nicht angegeben werden.
3.3.3 Algorithmusentwicklung zur Intentionserkennung Für die betrachteten Fahrerintentionen (Überstimmungs- und Vollbremsintentionen) werden im ersten Schritt getrennte Erkennungsalgorithmen entwickelt. Anschließend werden diese zu einem einheitlichen Systemverhalten verbunden. Die Fahrerintentionserkennung erfolgt mit den Programmen MATLAB® , Version R2007a, und R 2.6.2. 3.3.3.1 Bestimmung von Algorithmen zur Intentionserkennung Kern des Verfahrens: Die binäre logistische Regression Zur Algorithmusentwicklung sind alle gemessenen Fahrerreaktionen (Fälle) danach zu klassifizieren, ob eine Fahrerintention (z. B. eine Überstimmungsintention) vorliegt oder nicht. Der Kern des Verfahrens besteht in der binären logistischen Regression. Diese weist mehrere Fälle anhand von Prädiktoren (hier: die am CAN-Bus gemessenen Merkmale der Fahrerreaktion, vgl. Abschnitt 3.3.2) einer nominalskalierten abhängigen Variable zu (Rese, 2000), d. h. sie klassifiziert sie in eine von zwei Klassen (1) und (2). Dabei wird eine Linearkombination aus den gewichteten Prädiktorwerten und einer Konstanten in einen Wahrscheinlichkeitswert mit dem Wertebereich [0,1] transformiert (detaillierte Informationen können z. B. Rese, 2000, und Rudolf & Müller, 2004, entnommen werden). Ein nahe bei Null gelegener Wahrscheinlichkeitswert drückt aus, dass der entsprechende Fall mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu Klasse (1) gehört, ein nahe bei Eins liegender Wahrscheinlichkeitswert drückt eine hohe Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zu Klasse (2) aus. Aus dem
10
Eine Reaktionszeit von 6.5 s liegt gerade über der Dauer des längsten beobachteten autonomen Notbremseingriffs in allen Versuchsreihen dieser Arbeit.
3.3 Methodik der Datenanalyse
113
Prädiktorensatz wird die Linearkombination bestimmt, bei der in der Stichprobe das Produkt aller Wahrscheinlichkeiten maximiert wird, mit denen die Einzelfälle der richtigen Klasse zugeordnet werden (Rese, 2000). Die tatsächliche Zuteilung eines Falles zu einer Klasse wird mittels Vergleich des Wahrscheinlichkeitswertes mit einem Schwellwert, z. B. 0.5, erzielt. Das Verfahren ist bei stabilen Gewichten anwendbar. In der Zeit veränderliche Prozesse, bei denen Prädiktoren zu verschiedenen Zeiten eine unterschiedliche Bedeutung erlangen (d. h. Prozesse, die vor allem längere Zeiträume einnehmen, z. B. Ermüdungsprozesse) können durch Regressionsverfahren nicht optimal vorhergesagt werden (Hargutt, 2003). In der vorliegenden Arbeit werden keine Hinweise auf eine suboptimale Vorhersage durch das Verfahren gefunden. Weiterhin ist bei der Anwendung der Regressionsgleichung auf neue Datensätze damit zu rechnen, dass die Trefferquote sinkt, da sie auf eine maximierte Vorhersage in der Entwicklungsstichprobe ausgelegt ist (vgl. Backhaus, Erichson, Plinke & Weiber, 2008). Dies gilt ebenfalls für andere Klassifikationsverfahren (s. u.). Für Anwendungen in Vergleichsstichproben (z. B. Kapitel 4 und 5) ist daher mit geringeren Trefferquoten zu rechnen. Dieser Stichprobeneffekt mindert sich den Autoren zufolge mit zunehmendem Stichprobenumfang und kann bei hinreichend großen Stichprobenumfängen durch Teilung in eine Lern- und Kontrollstichprobe umgangen werden. Die binäre logistische Regression ist sowohl bei kategorialen als auch metrisch skalierten Prädiktoren einsetzbar (Rudolf & Müller, 2004; Rese, 2000). Eine Anwendung wird bei einer Fallzahl von mindestens 25 Fällen pro Klasse empfohlen (ebenda), weshalb die oben erwähnte Stichprobenteilung nicht umgesetzt wird. Das Verfahren geht von unabhängigen Beobachtungen, d. h. keinen Messwiederholungen, aus. Martus (2004) zufolge bewirkt eine Korrelation abhängiger Beobachtungen eine Verzerrung berechneter Standardfehler und führt zu progressiveren Entscheidungen von Signifikanztests. Diese Verzerrung fällt umso stärker aus, je höher die Messwertkorrelation ausfällt. Die Schätzung der Betagewichte wird durch abhängige Messungen nicht verändert (ebenda). Da die unter Nutzung der Z-Transformation nach Fisher (Bortz, 1999) gemittelten gleichgerichteten Korrelationen in dieser Studie gering und nicht signifikant ausfallen (r = 0.194, p = 0.290), werden zugunsten der Fallzahl alle Fahrerreaktionen in der Analyse berücksichtigt. Durchgeführte Signifikanztests dürfen daher nur vorsichtig interpretiert werden. Als Signifikanztest kommt z. B. der Likelihood-Ratio-Test in Betracht (Rese, 2000), auch Nagelkerkes R2 wird häufig herangezogen als Analogon zum Bestimmtheitsmaß bei linearen Regressionen. Neben diesen Statistiken ist die Güte eines logistischen Modells anhand des Prozentsatzes richtig zugeordneter Fälle bewertbar (Rohrlack, 2007; Rese, 2000), welcher über der jeweiligen Ratewahrscheinlichkeit liegen soll (Rohrlack, 2007). Dieser wird durch die abhängigen Messungen nicht verzerrt, da er auf den ermittelten Betagewichten beruht. Er wird daher in dieser Arbeit stärker gewichtet als die Ergebnisse der oben genannten Signifikanztests. Die Trennkraft einzelner Prädiktoren ist nach z-Standardisierung mittels der Betagewichte vergleichbar: hohe standardisierte Betagewichte weisen auf einen hohen Beitrag des Prädiktors zur Trennung der betrachteten Klassen hin. Korrelierte Prädiktoren können zu Suppressionseffekten führen (vgl. Moosbrugger, 1994), bei denen einzelne Prädiktoren ein Gewicht zugewiesen bekommen, welches der Wirkung des Prädiktors widerspricht. Im vorliegenden Fall führen diese Effekte zu instabilen Vorher-
114
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
sagen, da sich die Prädiktoren über die Zeit hinweg ändern können. Lösungen, die aufgrund von Suppressionseffekten Gewichte enthalten, die der eigentlichen Wirkrichtung widersprechen, werden daher ausgeschlossen. Eine hohe Anzahl an Prädiktoren setzt eine größere Stichprobe voraus, weshalb die mögliche Anzahl an Prädiktoren eingegrenzt wird. Für die Erkennung von Überstimmungsintentionen kann nicht auf bestätigtes Vorwissen zurückgegriffen werden. Hier werden daher alle Prädiktoren berücksichtigt, die sich signifikant zwischen dem berechtigten und dem zu überstimmenden Notbremseingriff unterscheiden (s. Tabelle 3.8). Zur Algorithmusentwicklung für die Erkennung von Vollbremsintentionen werden die aus der Literatur bekannten Prädiktoren genutzt (vgl. Abschnitt 2.2.2): die Geschwindigkeit des Loslassens des Gaspedals sowie die Merkmale der Betätigung des Bremspedals. Modifikation zur Fahrerintentionserkennung über den Zeitverlauf Logistische Regressionen eignen sich für Fälle, bei denen die Prädiktorwerte zum Zeitpunkt der Vorhersage vollständig vorliegen. In dieser Arbeit ist dies nicht gegeben: die Fahrerreaktionen unterliegen während der Notbremseingriffe zeitlichen Änderungen. Ihr endgültiger Wert liegt erst am Ende der Eingriffe vor, d. h. zu spät für die Fahrerintentionserkennung. Es sind daher zwei Aspekte zu maximieren (vgl. Blaschke et al., 2007): • Eine hohe Vorhersagegenauigkeit, dass heißt eine hohe Rate an richtig zugeordneten Fällen sowie • Eine hohe Vorhersagefrühe, dass heißt eine möglichst schnelle Detektion der richtigen Fahrerintention. Um beide Aspekte berücksichtigen zu können, wird die über den Zeitverlauf integrierte Vorhersagegenauigkeit maximiert. Dies wird im Folgenden erläutert. Zunächst wird der Zeitverlauf der Fahrerreaktionen benötigt. Dazu werden die potenziellen Prädiktoren von jeder vorliegenden Fahrerreaktion der Stichprobe über die Zeit hinweg ausgelesen. Abbildung 3.8 verdeutlicht das Auslesen der Fahrerreaktionsdaten über die Zeit. Zu einem gegebenen Zeitpunkt im Verlaufe des autonomen Notbremseingriffs wird jeweils der Wert eines potenziellen Prädiktors ausgelesen, der sich aus der Analyse des gesamten Zeitraumes von Beginn der autonomen Verzögerung bis zu eben diesem Zeitpunkt ergibt. Die ausgewerteten Zeitpunkte haben einen zeitlichen Abstand von 20 ms, d. h. 50 Hz. Dies entspricht der geringsten Frequenz der gemessenen CAN-Bus-Daten (vgl. Tab. 3.2). Nach dem Ende der autonomen Notbremseingriffe wird das Auslesen beendet. Anschließend werden folgende Schritte durchgeführt: 1. Prüfung aller Kombinationen potenzieller Prädiktoren auf die insgesamt erreichte Vorhersagegenauigkeit. Für jede Prädiktorenkombination wird mittels logistischer Regression eine Regressionsgleichung zur Fahrerintentionserkennung bestimmt. Es werden die Prädiktorwerte genutzt, die am Ende des autonomen Notbremseingriffs vorliegen. Regressionsgleichungen, die Prädiktorengewichte gegen die Wirkrichtung
3.3 Methodik der Datenanalyse
115
Definierte Zeitpunkte (= 20 ms): Beginn des Notbremseingriffs
Ende des Notbremseingriffs
Zeit Spalte 1
.
.
.
Spalte 2
Auslesen der potenziellen Prädiktoren:
Spalte 3
Prädiktor 1 Ö Zeile 1
Ausgelesen pro Person und Eingriff:
z. B. Dauer des 1. Kickdown Ö Zeile 1
Zeitraum bis zu gegebenem Zeitpunkt
z. B. Reaktionszeit bis zum 1. Vollgas Ö Zeile 2
Prädiktor 3 Ö Zeile 3 z. B. maximaler Bremsdruck Ö Zeile 3 . . .
Pot. Prädiktoren
Prädiktor 2 Ö Zeile 2
Abbildung 3.8: Auslesen der Merkmale der Fahrerreaktionen über die Zeit
des Prädiktors enthalten, werden eliminiert (s. o.). Aufgrund der notwendigen Eliminierung können Merkmalsselektionsverfahren (z. B. Rudolf & Müller, 2004) nicht genutzt werden. Lösungen, die eine geringe Vorhersagegenauigkeit erreichen, werden zur Begrenzung des folgenden Rechenaufwandes eliminiert. 2. Anwendung aller so verbleibenden logistischen Regressionsmodelle auf die über die Zeit hinweg ausgelesenen Fahrerreaktionen. Es wird bestimmt, welche Vorhersagegenauigkeit sich für jeden Zeitpunkt nach Beginn des autonomen Notbremseingriffs mit der jeweiligen Regressionsgleichung ergibt. Diese Vorhersagegenauigkeiten werden aufsummiert und an der maximal möglichen Summe relativiert. Die Regressionsgleichung mit der maximalen integrierten Vorhersagegenauigkeit wird ausgewählt. Die Grundidee von Schritt Zwei ist in Abbildung 3.9 anhand einer Beispiellösung verdeutlicht. Es sind die über die Zeit hinweg richtig zugeordneten Fälle beim berechtigten (links) sowie beim zu überstimmenden Notbremseingriff (rechts) abgebildet. Die Diagramme enthalten zum einen die Hüllkurve (schwarzer Graph). Sie gibt an, welcher Anteil der Probanden zu einem bestimmten Zeitpunkt nach Beginn des autonomen Notbremseingriffs noch autonom verzögert wird. Eine Erkennung von Fahrerintentionen findet nur im Flächenbereich unter dieser Hüllkurve statt. Der grau-karierte Bereich gibt im jeden Diagramm an, welcher Anteil an Fällen zu einem Zeitpunkt durch diesen Algorithmus richtig klassifiziert wird. Das logistische Regressionsmodell, welches zu einer maximalen gemeinsamen Fläche richtig zugeordneter Fälle führt, wird ausgewählt. In Schritt Zwei werden die logistischen Regressionsmodelle zusammen mit einer weiteren Randbedingung einer Prüfung unterzogen. Die Randbedingung erfordert, dass eine
116
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Berechtigt
Zu überstimmen
110
110
Notbremseingriffe Anteil Nicht-Überstimmungen
100
90
Anteil Fälle [%], n=32
Anteil Fälle [%], n=32
90 80 70 60 50 40 30
80 70 60 50 40 30
20
20
10
10
0
Notbremseingriffe Anteil Überstimmungen
100
0
1
2
3
4
5
Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
6
7
0
0
1
2
3
4
5
6
7
Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Abbildung 3.9: Integrierte Vorhersage der Fahrerintention über die Zeit
erfolgreiche Überstimmung nur möglich ist, wenn das Gaspedal betätigt wird bzw. eine fahrerinduzierte Verstärkung des Notbremseingriffs nur stattfinden soll, wenn das Bremspedal betätigt wird. Dies erhöht die Intuitivität des Systems, der Fahrer kann die Fahrzeugreaktion mit seinem aktuellen Verhalten verknüpfen.11 Anhang K beschreibt weitere Modifikationen, welche die Gewichtungen des Fehlers 1. und 2. Art verändern sowie deren Auswirkungen auf die Fahrerintentionserkennung. Weitere Verfahren zur Fahrerintentionserkennung Neben dem Verfahren der logistischen Regression gibt es noch weitere strukturprüfende Verfahren, die Fälle anhand von Prädiktorvariablen einer von mehreren Klassen zuweisen. Die Diskriminanzanalyse (Bortz, 1999; Backhaus et al., 2008) stellt höhere Anforderungen an die Verteilung der Prädiktorvariablen als die logistische Regression (z. B. multinominale Normalverteilung, homogene Varianz-Kovarianzmatrizen). Die logistische Regression ist gegenüber der Diskriminanzanalyse wesentlich robuster und offener für verschiedene Verteilungen der Eingangsvariablen (Backhaus et al., 2008; Schewe & Leker, 2000; Krafft, 1996). Hargutt (2003) berichtet als ein Ergebnis mehrerer Studien von Wierwille, dass Diskriminanzanalysen im Vergleich zu Regressionsanalysen zu keiner verbesserten Vorhersage 11
Ebenso ist bei der Erkennung von Überstimmungsintentionen berücksichtigt, dass diese erst nach Erkennung zu mindestens drei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten vorhergesagt wird, wodurch das Risiko einer fälschlichen nur kurzzeitigen Intentionserkennung reduziert wird. Die Festlegung der Anzahl erfolgt anhand einer Abwägung der höheren Vorhersagegüte gegen die zeitliche Verzögerung der Intentionserkennung. Bei der Ermittlung von Vollbremsintentionen ist dies nicht vonnöten, da dort die Parameter nicht durch spätere Messwerte verringert werden können.
3.3 Methodik der Datenanalyse
117
kommen, Schewe und Leker (2000) berichten bessere Vorhersageleistungen der logistischen Regression, die auf eine bessere Bestimmung der Prädiktorengewichte zurückzuführen ist. Regelbasierte Ansätze, z. T. in Verbindung mit Fuzzy Logic, (z. B. Vollrath, Schießl, Altmüller, Dambier & Kornblum, 2005; Blaschke et al., 2007, 2008; vgl. Kruse, Gebhardt & Klawonn, 1994, zu Fuzzy Logic) formulieren Vorhersagen anhand theoretischer Regeln, die die Prädiktoren mit dem vorherzusagenden Merkmal verbinden. Die Prädiktorwerte können dabei über Fuzzifizierung in mehrere Kategorien mit unscharfen Übergängen transformiert werden (Blaschke et al., 2007). Dieser Ansatz erzeugt ein logisches, gut nachvollziehbares Vorhersagemodell, welches offen für Modifikationen ist (ebenda). Die logistische Regression ist gegenüber diesem Ansatz besser geeignet für Fragestellungen, für die noch kein ausreichendes theoretisches Vorwissen vorhanden ist oder für die der Suchraum für geeignete Klassifikationsalgorithmen nicht durch modelltheoretische Überlegungen eingeschränkt werden soll. Schroven und Giebel (2008) empfehlen diesen Ansatz aufbauend auf Russel und Norvig (1994) nicht für unsicheres Schließen. Bayes-Netzwerke modellieren das Zustandekommen der vorherzusagenden Variable aufgrund von Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen Prädiktorwerten bzw. zwischen Prädiktor- und der vorherzusagenden Variablen. Anwendungen in der Fahrerintentionserkennung berichten z. B. Dagli, Breuel und Schittenhelm (2003), Inagaki (2007) sowie Schroven und Giebel (2008). Sie ermöglichen ein Einbringen von explizitem Vorwissen und erfordern kausale Annahmen über die Wirkzusammenhänge (Schroven & Giebel, 2008). Sutton und McCallum (2006) zufolge sind diskriminative Verfahren, zu denen auch die logistische Regression zählt, besser geeignet für korrelierte Prädiktorvariablen als Klassifikationen über generische Ansätze, z. B. mittels Bayes-Netzwerken. Weiterhin sind verschiedene selbstlernende Verfahren, z. B. Künstliche Neuronale Netze, zu nennen, bei denen die Wirkzusammenhänge zwischen Prädiktorvariablen, intern angelegten Variablen (sog. Neurone) und den vorherzusagenden Variablen automatisch anhand eines Trainingsdatensatzes erlernt werden. Sie können schließlich auf weitere Vergleichsdaten angewendet werden. Beispiele zur Erkennung von Fahrerintentionen berichten Liu und Pentland (1998), Ohashi, Yamaguchi und Tamai (2004), Takagi et al. (2000) und Schmitz (2004). Dieses Vorgehen bietet sich für Fragestellungen an, bei denen keine Vorannahmen über die Wirkzusammenhänge getroffen werden können und wenn die Zusammenhänge nicht explizit aufgedeckt werden müssen (Backhaus et al., 2008). Es werden große Stichprobenumfänge benötigt (ebenda). Wesentliche Nachteile bestehen neben der Gefahr des Overfittings (Schmitz, 2004) darin, dass die erlernten Modelle nicht expliziert werden können (Hargutt, 2003; Schroven & Giebel, 2008), dass Vorwissen nur schwierig eingebracht werden kann (Schroven & Giebel, 2008), dass Voraussagen nicht bei Prädiktorwerten außerhalb des Wertebereichs des Trainingsdatensatzes gelten (Hargutt, 2003) und dass Modellmodifikationen erschwert sind (Schroven & Giebel, 2008). 3.3.3.2 Verknüpfung der Algorithmen zur Intentionserkennung Nach der Bestimmung von zwei Erkennungsalgorithmen für Überstimmungs- und Vollbremsintentionen werden diese zu einer gemeinsamen Fahrerintentionserkennung verbun-
118
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
1
1
Autonomer Notbremseingriff
2
Abgebrochener Eingriff aufgrund erkannter Überstimmungsintention
3
Vollbremsung aufgrund erkannter Vollbremsintention Zugelassene Übergänge
2
3
Start: Mit Beginn des autonomen Notbremseingriffs Ende: Nach Beendigung der Gefahrensituation, dann Rückgabe der Fahrzeugkontrolle an den Fahrer
Abbildung 3.10: Zustände und Übergänge bei gemeinsamer Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen (Grundlage für die Datenanalyse)
den. Anhand dieser Synthese wird das Systemverhalten untersucht, wenn beide Fahrerintentionen erkannt werden und den Ablauf einer autonomen Notbremsung verändern können. Die gemeinsame Fahrerintentionserkennung endet mit dem Notbremseingriff. Für diesen scheint ein regulärer Abbruch sinnvoll, wenn das Fahrzeug steht oder keine Kollisionsgefahr mehr detektiert wird. Anschließend liegt die Kontrolle über die Fahrzeugführung wieder vollständig beim Fahrer. Die Ergebnisse des ögP AKTIV, Teilprojekt AGB (s. Kapitel 4) rechtfertigen einen Abbruch eines autonomen Notbremseingriffs während der Fahrt, wenn die Kollisionsgefahr beendet ist. Sie lassen darauf schließen, dass ein solcher Abbruch nicht zum Kontrollverlust über die Fahrzeugführung führt. Folgende Zustände eines Gesamtsystems werden unterschieden: • Die unveränderte Durchführung der autonomen Notbremsung, • Die überstimmte autonome Notbremsung, d. h. die Fahrzeugkontrolle liegt vollständig beim Fahrer (auch Abbremsen ist möglich), • Die verstärkte autonome Notbremsung. Abbildung 3.10 zeigt, welche Übergänge zwischen diesen Zuständen zugelassen werden. Der autonome Notbremseingriff beginnt, wie in der Spezifikation des Eingriffssystems vorgesehen. Die Fahrerreaktionen werden gleichzeitig auf Überstimmungs- und Vollbremsintentionen überprüft. Wird eine dieser Intentionen erkannt und das entsprechende Pedal betätigt, wird der autonome Notbremseingriff gelöst bzw. verstärkt. Bei überstimmtem Notbremseingriff bleibt es noch möglich, eine Vollbremsung auszulösen, wenn eine Vollbremsintention durch den Fahrer ausgedrückt wird. Auf der anderen Seite bleibt auch eine ausgelöste Vollbremsung noch überstimmbar. Sobald die erkannte Gefahr vorbei ist, wird die Kontrolle vollständig an den Fahrer zurückgegeben. Abbildung 3.11 zeigt den genauen Programmablauf. Eine Fahrzeugreaktion kann erst bei entsprechender Pedalbetätigung erfolgen. Diese Kopplung an das aktuelle Fahrerverhalten erhöht die Intuitivität der Systemreaktion und wirkt als Tiefpassfilter, da es keine Zustandsänderungen geben kann, die schneller als ein Pedalwechsel des Fahrers erfolgen.
3.3 Methodik der Datenanalyse
119
ja
ÜA=1?
Alg. ÜA
Start
Fhr.reak.
ja
ja Abschalten Eingriff
nein
nein Fhr.Gef.=1? reak. ja
Gas=1?
Fhr.Gef.=1? Reak. ja
Gef.=1? nein ja
Gef.=1? BA=1?
Alg. BA
ja
ja
Gef.=1?
ja
Vollbremsung
nein
nein Fhr.reak.
Br.=1?
Fhr.reak. ja Gef.=1?
Legende Alg. … Algorithmus BA … Vollbremsintention Br. … Bremspedal betätigt Fhr.-reak. … aktuelle Fahrerreaktion Gas … Gaspedal betätigt Gef. … Gefahr ÜA … Überstimmungsintention
Ende
Abbildung 3.11: Ausführlicher Ablauf der gemeinsamen Fahrerintentionserkennung
3.3.4 Analyse weiterer Einflüsse auf die Fahrerreaktionen Weiterführende Analysen prüfen die Einflüsse von Alter, Geschlecht, Fahrerfahrung und Reihenfolge auf die Fahrerreaktionen bei den unerwarteten autonomen Notbremseingriffen. Das Vorgehen und die Ergebnisse können Anhang J entnommen werden.
3.3.5 Analyse der Befragungsergebnisse Befragungen werden durchgeführt, um das subjektive Erleben zu ermitteln. In Zwischenbefragungen werden die erlebten Fahrerintentionen sowie die empfundene Kontrollierbarkeit bei den Notbremseingriffen erfragt. Die Nachbefragung erfasst unter anderem, wie die Notbremseingriffe insgesamt empfunden werden, wie eine Überstimmbarkeit aus Sicht der Probanden zu gestalten ist und welche Akzeptabilität das Notbremssystem erfährt. Bei der Analyse der Zwischenbefragungen interessiert, ob sich die angegebenen Fahrerintentionen sowie die empfundene Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit und Lenkung signifikant zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen unterscheiden. Zusätzlich wird bei der Kontrollierbarkeit geprüft, ob diese während und nach den Notbremseingriffen signifikant verschieden empfunden wird. Die Beanspruchung der Probanden wird vor und nach der Versuchsfahrt gegenübergestellt, um herauszufinden, ob sie sich über den Versuchsverlauf signifikant ändert. Die Einzelitems werden entsprechend der bei Richter et al. (2002) abgesicherten Faktorenstruktur den Beanspruchungen zugeordnet. Eine Prüfung der Faktorenstruktur wird aufgrund der deutlich kleineren Stichprobe nicht vorgenommen. Die Empfindung der autonomen Notbremseingriffe wird hauptsächlich deskriptiv analysiert (vgl. Abschnitt 3.2.6). Es wird mittels ukorr -Test (Clauß et al., 1995) untersucht, ob
120
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
mehrheitliche Meinungen statistisch abgesichert werden können, d. h. inwiefern ein Item von signifikant mehr Befragten bejaht als verneint wird (bzw. vice versa). Bei der Zustimmung zu verschiedenen Varianten von Überstimmbarkeit werden die Einzelbewertungen und Rangfolgen getrennt betrachtet. Einfache Varianzanalysen mit Messwiederholung12 klären, ob die Varianten signifikant verschieden bewertet werden. PosthocEinzelvergleiche werden mittels Bonferroni-Korrektur durchgeführt, um zu ermitteln, welche Varianten der Überstimmbarkeit gegenüber welchen bevorzugt werden. Die Akzeptabilität wird mittels verschiedener Modellvariablen nach Arndt (2010) erhoben. Es wird geprüft, inwiefern die Mittelwerte dieser Studie signifikant von den mittleren Bewertungen weiterer FAS abweichen. Dazu werden die Mittelwerte dieser Untersuchung z-standardisiert und die Irrtumswahrscheinlichkeit anhand der t-Verteilung bestimmt.13 Das Vorgehen bei der Hypothesenprüfung erfolgt, wenn nicht genauer angegeben, analog zur Hypothesenprüfung bei den CAN-Bus-Daten (vgl. Abschnitt 3.3.2).
3.4 Ergebnisse Dieser Abschnitt berichtet die Ergebnisse von Fahrversuch I. Zunächst werden die Angaben in den Zwischenbefragungen zu den Fahrerintentionen und zur empfundenen Kontrollierbarkeit zusammengefasst. Das Fahrerverhalten wird zu Beginn und während der autonomen Notbremseingriffe beschrieben. Anschließend werden Ergebnisse zur Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen sowie Ergebnisse der Nachbefragung berichtet.
3.4.1 Berichtete Intentionen in den Eingriffsbedingungen Die Zwischenbefragungen werden bei allen Probanden mit korrektem Versuchsablauf (n = 44, vgl. Abschnitt 3.2.7) ausgewertet. Die Ergebnisse werden somit nicht durch eine Auswahl nach berichteten Fahrerintentionen, wie in Abschnitt 3.3.1 beschrieben, verzerrt. Die Antwort „weiß nicht“ wird als fehlender Wert behandelt. Abbildung 3.12 gibt wieder, welche Intentionen in der Zwischenbefragung angegeben werden.14
12
Die Verletzung der Normalverteilungsannahme, die dabei auftritt, führt Bortz (1999) zufolge bei der einfachen Varianzanalyse zu keinen gravierenden Fehlern in der statistischen Entscheidung. Um das Ergebnis abzusichern, werden zusätzlich Friedman-Tests (Clauß et al., 1995) durchgeführt, die robust gegenüber der Datenverteilung sind. 13 Diese wird wegen der geringen Anzahl an Mittelwerten von weiteren FAS herangezogen (vgl. Bortz, 1999). 14 Verteilungen einzelner Messwerte werden in dieser Arbeit überwiegend in Form von Box-andWhisker-Plots wiedergegeben (Tukey, 1977), um normal- und nicht normalverteilte Daten einheitlich darzustellen. Dies lässt keinen Schluss auf durchgeführte Signifikanztests zu, die sich jeweils an den speziellen Voraussetzungen orientieren. Box-and-Whisker-Plots sind z. B. in Pospeschill (2006) genauer beschrieben.
3.4 Ergebnisse
121
vor Eingriff
berechtigt zu überstimmen
während Eingriff
*1
*** 2
*** 3
*** 4 1Z
= -2.24; p = 0.025 = -4.32; p < 0.0005 3 Z = -5.10; p < 0.0005 4 Z = -4.73; p < 0.0005 * …p < 0.05
auf jeden Fall
2Z
auf keinen Fall bremsen
bremsen
beschleunigen
lenken
*** …p < 0.001
Abbildung 3.12: Erlebte Fahrerintentionen vor und während der autonomen Notbremseingriffe
Die Notbremseingriffe setzen in den meisten Fällen ein, bevor die Probanden eine Bremsintention bilden. Bei den berechtigten Notbremseingriffen berichten signifikant mehr Probanden eine Bremsintention vor Eingriffsbeginn, was darin begründet sein kann, dass sie das Hindernis vor dem Notbremseingriff bemerken. Während berechtigter Notbremseingriffe werden signifikant mehr Bremsintentionen berichtet, während zu überstimmender signifikant mehr Beschleunigungs- und Lenkintentionen. Die hochsignifikanten Unterschiede und die deutlich erkennbaren Differenzen in den Verteilungsschwerpunkten belegen, dass die experimentelle Manipulation die zu untersuchenden Fahrerintentionen erfolgreich hervorruft. Dies belegt, dass Reaktionen untersucht werden, welche mit bewussten Fahrerintentionen einhergehen. Die Hypothesen HS1 und HS2 können bestätigt werden: Die erinnerten Bremsund Überstimmungsintentionen unterscheiden sich jeweils signifikant zwischen den unerwarteten Eingriffsbedingungen. Abbildung 3.13 stellt die empfundene Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit und Lenkung während bzw. nach den autonomen Notbremseingriffen dar.
während Eingriff
n. s. 7 ***
1Z
** 8
** 1
*2
n. s. 3
Geschwind.
Lenkung
Geschwind.
= -3.07; p = 0.002 = -1.98; p = 0.048 3 Z = -1.88; p = 0.060 4 Z = 0; p = 1 5 Z = -3.48; p = 0.001 6 Z = -4.42; p < 0.0005 7 Z = -1.41; p = 0.157 8 Z = -3.12; p = 0.002 n. s . … nicht signifikant * … p < 0.05 ** … p < 0.01 *** … p < 0.001 2Z
6
*** 5 auf jeden Fall
berechtigt zu überstimmen
nach Eingriff
n. s. 4
auf keinen Fall Lenkung
Abbildung 3.13: Empfundene Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit und Lenkung
Während des berechtigten Notbremseingriffs werden Geschwindigkeit und Lenkung signifikant kontrollierbarer erlebt als während des zu überstimmenden. Nach den autonomen
122
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Notbremseingriffen werden keine signifikanten Unterschiede festgestellt. Die empfundene Kontrollierbarkeit über die Geschwindigkeit wächst in beiden Eingriffsbedingungen hochsignifikant an, wenn der Eingriff beendet wird. Dies gilt bei den zu überstimmenden Eingriffen auch für die empfundene Kontrollierbarkeit über die Lenkung. Es wird mit wenigen Ausnahmen korrekt wahrgenommen, dass während der Notbremseingriffe die Geschwindigkeit nicht vollständig kontrolliert werden kann. Dies beeinträchtigt z. T. auch die Wahrnehmung der Kontrollierbarkeit über die Lenkung oder über die Fahrzeugführung nach dem Eingriff, obwohl objektiv hier die Einflussmöglichkeiten nicht eingeschränkt sind. Die empfundene Kontrolle über die Geschwindigkeit fällt zudem hypothesenkonform während des Eingriffs größer aus, wenn dieser berechtigt ist. Die Hypothese HS3 wird bestätigt: Während autonomer Notbremseingriffe wird mit Bremsintentionen eine stärkere Kontrollierbarkeit über die Fahrzeuggeschwindigkeit wahrgenommen als mit Überstimmungsintention.
3.4.2 Fahrerverhalten zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe In diesem Abschnitt wird das Verhalten der Probanden zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe vorgestellt. Es interessiert, ob die Fahrer bei Eingriffsbeginn auf die Straße schauen und welches Pedal sie betätigen. Die Analysen erfolgen anhand der Videoaufzeichnungen. Tabelle 3.5 gibt an, wie viele Probanden bei Eingriffsbeginn nicht auf die Straße blicken. Für diese sind in den beiden rechten Spalten die Mittelwerte und Standardabweichungen der Blickzuwendungszeit angegeben. Tabelle 3.5: Blickabwendungen zu Beginn der Notbremseingriffe
Eingriffsbedingung
1
Berechtigter Eingriff (n = 38) Zu überstimmender Eingriff (n = 39) Instruktion: Bremsen (n = 32) Instruktion: Weiterfahren (n = 32) 1
Prozentsatz blickabgewandte Probanden [%]
Mittlere Blickzuwendungszeit [ms]
8 159 5 136 28 281 28 296 In Klammern: Anzahl der Fälle, bei denen die Blickrichtung im Video erkennbar ist
Standardabweichung der Blickzuwendungszeit [ms] 83 108 167 202
Aus Tabelle 3.5 wird ersichtlich, dass die Mehrzahl der Probanden zu Beginn der Notbremseingriffe auf die Straße schaut. Dies belegt, dass die Probanden trotz der Instruktion, die vorgegebene Geschwindigkeit zu halten, mehrheitlich nicht visuell abgelenkt sind. Dies betrifft einen anderen Anwendungsfall als die in AKTIV AGB durchgeführte Studie (z. B. Fecher & Abendroth, 2008; vgl. Kapitel 4), bei der die Probanden bewusst visuell abgelenkt werden (zur Begründung s. u.). Tabelle 3.6 berichtet, welche Pedale bei Eingriffsbeginn anteilsmäßig betätigt werden. Die Mehrheit der Probanden betätigt bei Eingriffsbeginn das Gaspedal. Dies wird in Fär-
3.4 Ergebnisse
123 Tabelle 3.6: Betätigte Pedale zu Beginn der Notbremseingriffe
Eingriffsbedingung
Berechtigter Eingriff Zu überstimmender Eingriff Instruktion: Bremsen Instruktion: Weiterfahren
Prozentsatz an Gaspedalbetätigungen [%]
Prozentsatz ohne Pedalbetätigung [%]
Prozentsatz an Bremspedalbetätigungen [%]
91 93 95 87
9 5 5 13
0 2 0 0
ber und Maurer (2005), in Bender (2008) sowie in Fecher und Abendroth (2008) als eine für nichtintentionale Gaspedalbetätigungen besonders wichtige Vorabbedingung erkannt. Wird das Gaspedal bei Eingriffsbeginn nicht betätigt, kommt es zu einem deutlich geringeren Anteil nichtintentionaler Gaspedalbetätigungen (Bender, 2008). Da das Ziel dieser Arbeit darin besteht, intentionale Fahrerreaktionen von nichtintentionalen zu trennen, ist es sinnvoll, fehlerhafte Fahrerreaktionen zu provozieren. Dies ist in Hinblick auf die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn gelungen. Unter visueller Ablenkung kann es zu einem Rückgang an Gaspedalbetätigungen kommen (s. Fecher & Abendroth, 2008; vgl. auch Zylstra et al., 2004 sowie Merat & Jamson, 2008), weshalb die Probanden dieser Studie keine visuell ablenkende Nebenaufgabe erhalten. Das Bremspedal wird zu Beginn der berechtigten Notbremseingriffe von keinem Fahrer betätigt. Dies zeigt, dass der Notbremseingriff stets einer Bremsreaktion des Fahrers zuvorkommt, obwohl einige Probanden angeben, das aufgehende Hindernis noch vor dem Eingriff wahrgenommen zu haben. Insgesamt entspricht das typische Verhalten der Probanden bei Eingriffsbeginn einem aufmerksamen Fahrer, der noch auf keine erkannte Gefahr reagiert hat.
3.4.3 Fahrerreaktionen in den Eingriffsbedingungen Auftreten von Gas- und Bremspedalbetätigungen Zuerst interessiert, ob Betätigungen des Gas- und Bremspedals während autonomer Notbremseingriffe vollständig durch die Fahrerintention und die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn erklärt werden können. Ist dies der Fall, kann z. T. direkt von einer Pedalbetätigung auf die Fahrerintention geschlossen werden. Tabelle 3.7 zeigt die prozentualen Anteile an Gas- und Bremspedalbetätigungen während der vier Eingriffsbedingungen in Abhängigkeit davon, ob zu Beginn das Gaspedal betätigt wird oder nicht. Bei den unerwarteten Notbremseingriffen wird dazu die Teilstichprobe zur Erkennung beider Fahrerintentionen ausgewertet. Das Bremspedal wird in den analysierten Fällen nie bei Eingriffsbeginn betätigt. Das Gaspedal wird bei allen Kombinationen von Eingriffsbedingung und Gaspedalbetätigung bei Eingriffsbeginn von einem Teil der Probanden betätigt. Bei den unerwarteten Notbremseingriffen wird das Gaspedal unabhängig von der Fahrerintention in der Hälfte der Fälle betätigt, wenn es bei Eingriffsbeginn nicht betätigt wird. Bei den erwarteten Eingriffen mit Instruktion zum Bremsen wird es von allen
124
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Tabelle 3.7: Gas- und Bremspedalbetätigungen während der autonomen Notbremseingriffe in Abhängigkeit von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn und der Eingriffsbedingung Bei Eingriffsbeginn Gas betätigt
Bei Eingriffsbeginn Gas nicht betätigt
Berechtigter Eingriff (n = 26)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 88%
Betätigung Gaspedal: 50% Betätigung Bremspedal: 50% (n = 2)
Zu überstim. Eingriff (n = 26)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 29%
Instruktion: Bremsen (n = 38)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 94% (n = 36)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 100% (n = 2)
Instruktion: Weiterfahren (n = 38)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 39% (n = 33)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 20% (n = 5)
(n = 24)
(n = 24)
Betätigung Gaspedal: 50% Betätigung Bremspedal: 100% (n = 2)
Personen nichtintentional betätigt, die es bei Eingriffsbeginn losgelassen haben. Insgesamt wird das Gaspedal von 75% aller Fahrer, die es bei Eingriffsbeginn nicht betätigen, anschließend nichtintentional betätigt. Auch fehlerhafte Bremspedalbetätigungen werden beobachtet, wenn das Bremspedal bei Eingriffsbeginn nicht betätigt wird. Dies unterstreicht, dass auch fehlerhafte Bremspedalbetätigungen auftreten können, die nicht auf die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn zurückgeführt werden können. Die Hypothesen HV1 und HV2 müssen abgelehnt werden: Betätigungen des Gas- bzw. Bremspedals sind nicht ausschließlich von der Fahrerintention und der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn abhängig. Fehlreaktionen können an beiden Pedalen auftreten, auch wenn das entsprechende Pedal bei Eingriffsbeginn nicht bedient wird. Vergleich der Fahrerreaktionen Die Fahrerreaktionen, die in den einzelnen Eingriffsbedingungen auftreten, werden wie in 3.3.2 beschrieben in Bezug auf 38 Merkmale untersucht. Verteilungskennwerte dieser Merkmale sind Anhang I zu entnehmen. Die einzelnen Merkmale werden hier auf signifikante Unterschiede zwischen den unerwarteten Eingriffsbedingungen untersucht. Tabelle 3.8 zeigt die Ergebnisse der Signifikanzberechnungen für die Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen. Grau hinterlegt sind die Merkmale, die sich signifikant unterscheiden. Diese werden für die Optimierung der Erkennung von Überstimmungsintentionen herangezogen.
3.4 Ergebnisse
125
Tabelle 3.8: Signifikanz der Unterschiede zwischen den Fahrerreaktionen bei berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen Testwert (Z bzw. t)
p
Höhere Ausprägung1
Anzahl Kickdown-Betätigung Reaktionszeit bis zur 1. Kickdown-Betätigung [s] Dauer der 1. Kickdown-Betätigung [s] Anzahl Vollgas-Betätigung Reaktionszeit bis zur 1. Vollgas-Betätigung [s] Reaktionszeit bis zur 2. Vollgas-Betätigung [s] Reaktionszeit bis zur 3. Vollgas-Betätigung [s] Dauer der 1. Vollgas-Betätigung [s] Dauer der 2. Vollgas-Betätigung [s] Dauer der 3. Vollgas-Betätigung [s] Max. Gaspedalstellung [%] Max. Erhöhung der Gaspedalstellung [%] Reaktionszeit bis zur max. Gaspedalstellung [s] Integral der Gaspedalstellung [s×%]
Z = −3.28 Z = −3.12 Z = −3.06 Z = −2.96 Z = −2.96 Z = −1.86 Z = −1.69 Z = −2.92 Z = −2.12 Z = −1.69 Z = −3.25 Z = −0.24 t(0.05;31) = −1.73 t(0.05;31) = −4.95
0.001 0.002 0.002 0.003 0.003 0.063 0.091 0.004 0.034 0.091 0.001 0.814 0.096
Ü B Ü Ü B B B Ü Ü Ü Ü B Ü
Anzahl lok. Maxima der Gaspedalstellung Korrigierte Anzahl lok. Maxima der Gaspedalstellung Erhöhung der Gaspedalstellung bis zum 1. lok. Maximum [%] Anzahl Gaspedalbetätigungen Reaktionszeit bis zur 1. Gaspedalbetätigung [s] Reaktionszeit bis zur 2. Gaspedalbetätigung [s] Dauer der 1. Gaspedalbetätigung [s]
Z = −1.48 Z = −1.31 Z = −0.06 Z = −1.98 Z = −0.54 Z = −2.59 t(0.05;31) = −2.57