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XI. Wiederholungsfragen
Was versteht man unter Binnenmarkt? Was sind die Personenverkehrsfreiheiten? Was ist der Unterschied zwischen Beschränkungs- und Diskriminierungsverbot? Warum bedarf es der Rechtsangleichung? Welche Konsequenzen hat es, dass die EU eine Zollunion ist? Was besagt die „Dassonville-Formel“? Verbietet die Warenverkehrsfreiheit nur Diskriminierungen? Worum ging es im Fall „Gourmet“? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine Einfuhrbeschränkung ausnahmsweise erlaubt ist? Nennen Sie drei „Cassis“-Schutzgüter? Welche Rechte gewährt die Arbeitnehmerfreizügigkeit? Was sagt Ihnen die Zahlenkombination „1612/68/EWG“? Schützt die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch Familienangehörige von EU-WanderarbeitnehmerInnen, auch wenn sie nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates besitzen? Unterliegen Beschäftigungen in der öffentlichen Hoheitsverwaltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit? Worum ging es im Fall „Bosman“? Bindet das Diskriminierungsverbot der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch private Personen? Wen und was schützt die Niederlassungsfreiheit?
168
Binnenmarktrecht
LE 5
Unter welcher Voraussetzung kann sich eine Gesellschaft auf die Niederlassungsfreiheit berufen?
Schützt die Niederlassungsfreiheit auch vor nicht diskriminierenden Beschränkungen?
Wodurch unterscheidet sich die Niederlassungsfreiheit von der Arbeitnehmerfreizügigkeit?
Was versteht man unter passiver Dienstleistungsfreiheit?
Wodurch unterscheidet sich die Dienstleistungsfreiheit von der Niederlassungsfreiheit?
Worum geht es bei der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit
LE 6
Europäisches Wettbewerbsrecht
169
Lektion 6 EUROPÄISCHES WETTBEWERBSRECHT
Das Farbenkartell Sie sind Geschäftsführer eines in Deutschland und Österreich operierenden Farbstoffunternehmens. Der Farbstoffmarkt in Europa wird von einigen wenigen Unternehmen beherrscht. Eines davon ist Ihr Unternehmen. Diese Unternehmen liefern grundsätzlich nur in den Gebieten, in denen sie ansässig sind. Am 01.01.2002 teilt Ihnen ein Konkurrent, der den Markt in Frankreich bedient, mit, dass er und ein anderes Farbstoffunternehmen, welches in den Beneluxstaaten sein Geschäftsfeld hat, die Preise für Anilinfarbstoffe am 01.06.2002 um 10% anheben werden. Daraufhin beschließen Sie, Ihre Preise ebenfalls mit 01.06.2002 anzuheben, leiten die Informationen aus Frankreich an einen italienischen Konkurrenten weiter und teilen diesem auch Ihre Absichten mit. Am 01.06.2002 steigen am gesamten europäischen Markt die Preise für Anilinfarbstoffe um 10% an. Ein paar Jahre später lässt Sie Ihr italienischer Konkurrent wissen, dass er seine Preise für Anilinfarbstoffe am 01.03.2006 ein weiteres Mal um 10% erhöhen wird. Diese Information geben Sie an das französische Farbunternehmen weiter. Selber planen Sie ebenfalls eine Preiserhöhung um 10%. Am 01.03.2006 steigen die Preise am europäischen Farbenmarkt wieder um durchschnittlich 10%. Am 07.03.2006 bekommen Sie ein amtliches Schreiben der Europäischen Kommission, in dem Sie aufgefordert werden, Ihr wettbewerbsfeindliches Verhalten sofort einzustellen. Welche europarechtlichen Vorschriften haben Sie verletzt? Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Warum sind Wettbewerbsvorschriften notwendig? Welche europarechtlichen Wettbewerbsregeln gibt es?
170
Europäisches Wettbewerbsrecht
LE 6
Inhalt: Warum gibt es überhaupt Wettbewerbsregeln?................................................. 171 Das Kartellverbot................................................................................................... 173 Was ist ein Kartell und warum ist es verboten?....................................................... 173 Die Kartellmerkmale ................................................................................................ 174 Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen sowie Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen ........................................................ 174 2. Spürbare Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten und Bezweckung oder Bewirkung einer spürbaren Wettbewerbsbeschränkung ........... 176 3. Kartellvereinbarungen sind ungültig (Art 101 Abs 2 AEUV) .................................... 176 C. Ausnahmen vom Kartellverbot (Art 101 Abs 3 AEUV) ............................................ 177 III. Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung ....................... 180 A. Allgemeines ............................................................................................................. 180 B. Was ist der relevante Markt?................................................................................... 180 1. Der sachlich relevante Markt (= Produktmarkt) ....................................................... 181 2. Der örtlich relevante Markt ...................................................................................... 181 C. Wann liegt eine marktbeherrschende Stellung vor?................................................ 182 D. Wann liegt ein Missbrauch vor? .............................................................................. 183 1. Behinderungsmissbrauch ........................................................................................ 183 2. Ausbeutungsmissbrauch ......................................................................................... 184 IV. Das Verfahren zur Abstellung von Kartellen und des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung ................................................................................... 184 V. Fusionskontrolle ................................................................................................... 186 A. Allgemeines ............................................................................................................. 186 B. Unionsweite Bedeutung .......................................................................................... 187 C. Das Genehmigungsverfahren ................................................................................. 187 VI. Verbot staatlicher Beihilfen .................................................................................. 189 A. Das grundsätzliche Beihilfeverbot (Art 107 Abs 1 AEUV) ....................................... 189 B. Ausnahmen vom Beihilfeverbot (Art 107 Abs 2 und 3 AEUV)................................. 190 C. Das Verfahren der Beihilfeaufsicht .......................................................................... 191 1. Melde- und Genehmigungspflicht............................................................................ 191 2. Möglichkeit der Untersagung bestehender Beihilfen ............................................... 191 3. Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Kommission ............................................ 192 VII. Öffentliche Unternehmen und Wettbewerbsrecht.............................................. 192 VIII. Weiterführende Literatur....................................................................................... 195 IX. Wiederholungsfragen............................................................................................ 195 I. II. A. B. 1.
LE 6
I.
Europäisches Wettbewerbsrecht
171
Warum gibt es überhaupt Wettbewerbsregeln?
Dem in Art 3 EUV verankerten Zielkatalog gemäß hat die EU durch die Errichtung eines Binnenmarktes auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf Basis eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums ebenso hinzuwirken wie auf eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft sowie auf die Förderung des Im europäischen Binnenmarkt soll der freie Wettbewerb nicht verfälscht wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Dass das werden. unionsrechtliche Konzept des Binnenmarktes explizit auch ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt, ist seit dem Inkrafttreten des VvL nicht mehr den Verträgen selbst, wohl aber dem diesen beigefügten Protokoll Nr 27 zu entnehmen. Ob diese politisch motivierte „Verschiebung“ einer Bestimmung, auf welche insbesondere der Gerichtshof zur Auslegung der konkrete Verhaltenspflichten normierenden Wettbewerbsregeln rekurrierte, Veränderungen auf rechtlicher Ebene nach sich ziehen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Der primärrechtliche Normenbestand an unternehmens- und staatsgerichteten Wettbewerbsregeln hat sich – von der Nummerierung der Artikel abgesehen – durch den VvL jedenfalls nicht geändert (nunmehr Art 101 bis 109 AEUV). Schließlich bestimmt auch Art 120 AEUV, dass die Union und auch die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb handeln. Daher darf es zwischen den Mitgliedstaaten keine Zölle geben, die Grundfreiheiten müssen verwirklicht sein und der Wettbewerb muss ohne Verzerrungen bzw Verfälschungen stattfinden. Die Wettbewerbsbestimmungen des AEUV richten sich dabei nicht nur an den Staat, sondern auch an private Unternehmen. Denn auch diese können den Wettbewerb innerhalb der Europäischen Union beschränken. Es besteht die Gefahr, dass Unternehmen zB durch Kartellbildung die einzelnen nationalen Märkte voneinander abschotten und damit die Bemühungen um die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts zunichte machen. Zudem führen Kartellabsprachen zu höheren Preisen, vermindern die Auswahl für den Verbraucher und schaden damit auch der Gesamtwirtschaft, weil sie langfristig deren Wettbewerbsfähigkeit schwächen und sich negativ auf die Beschäftigung auswirken. Die Wettbewerbsregeln des AEUV verfolgen daher primär folgende Zielsetzung: Der Wettbewerb soll als das grundlegende Ordnungsprinzip der Wirtschaft gegen Beschränkungen und Verfälschungen geschützt werden. Von privater Seite sollen keine Schranken für den Waren- und Dienstleistungsverkehr innerhalb der EU errichtet werden. Dementsprechend richten sich das Kartellverbot, das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung und die Fusionskontrollvorschriften gegen Maßnahmen privater Unternehmen, welche den Wettbewerb eliminieren oder abschwächen können.
172
Europäisches Wettbewerbsrecht
LE 6
Demgegenüber zielen die Binnenmarktvorschriften (siehe dazu LE 5), die Beihilfevorschriften sowie die Vorschriften über öffentliche Auftragsvergabe primär gegen Beschränkungen des Wettbewerbsprinzips durch die Mitgliedstaaten. Beide Bereiche berühren sich in Art 106 AEUV, der öffentliche und privilegierte Unternehmen betrifft. Überwacht wird die Einhaltung der europäischen Wettbewerbsregeln durch die Europäische Kommission und, seit Inkrafttreten der VO 1/2003 (Verordnung zur Durchführung der in den Art 101 und 102 AEUV niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl 2003 L 1/1), nunmehr verstärkt durch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten, wie zB in Österreich durch die Bundeswettbewerbsbehörde (vgl Art 11 ff VO 1/2003). Gemäß VO 1/2003 sind die nationalen Wettbewerbsbehörden verpflichtet, je nach Anwendbarkeit ein Kartell bzw den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auf Grundlage des jeweiligen nationalen oder des europäischen Wettbewerbsrechts zu prüfen (vgl Art 3 VO 1/2003). Soweit daher ein Kartell oder das wettbewerbswidrige Verhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und damit die Anwendungsschwelle des europäischen Wettbewerbsrechts erreicht ist, müssen die nationalen Wettbewerbsbehörden die europäischen Wettbewerbsregeln (Art 101 und 102 AEUV) anwenden. Die Einheitlichkeit des europäischen Wettbewerbsrechts soll dadurch garantiert werden, dass die Kommission und die Behörden der Mitgliedstaaten gemeinsam ein Netz von Behörden bilden, die die EU-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden.
LE 6
Europäisches Wettbewerbsrecht
173
Zu diesem Zweck sieht VO 1/2003 Informations- und Konsultationsverfahren zwischen den Behörden vor. Die einzelnen Mitgliedstaaten haben darüber hinaus auch eigene Kartellrechtsvorschriften. Diese verbieten allerdings Wettbewerbsverzerrungen nur innerhalb des jeweiligen Mitgliedstaates. Ist sowohl das europäische als auch das nationale Wettbewerbsrecht anwendbar, so geht im Fall eines Widerspruchs (zB ein Kartell ist nach nationalem Kartellrecht erlaubt, nach EU-Recht dagegen verboten oder umgekehrt) das europäische Wettbewerbsrecht vor (Art 3 VO 1/2003). VO 1/2003 hat damit einen (erweiterten) Vorrang des Unionsrechts statuiert, der im Fall eines Widerspruchs im Anwendungsbereich des Art 101 AEUV faktisch zur Verdrängung des nationalen Rechts führt. Hingegen verbietet VO 1/2003 den Mitgliedstaaten nicht, im Bereich des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (siehe hierzu unten Punkt III) strengere innerstaatliche Vorschriften zu erlassen oder anzuwenden (Art 3 Abs 2 VO 1/2003). Bsp: Wenn eine Kartellvereinbarung zwischen Unternehmen geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen, muss die nationale Wettbewerbsbehörde den Fall auf Grundlage des Art 101 AEUV prüfen. Kommt die Behörde zu dem Ergebnis, dass die fragliche Vereinbarung auf der Grundlage des Art 101 AEUV dem Kartellverbot nicht unterliegt, weil der Wettbewerb im Sinne dieser Bestimmung nicht eingeschränkt wird oder die Voraussetzungen des Art 101 Abs 3 AEUV vorliegen, darf sie das Kartell in der Folge auch nicht nach nationalem Kartellrecht verbieten. Im Bereich des Kartellverbotes sind strengere mitgliedstaatliche Vorschriften daher nur noch für Sachverhalte zulässig, die nicht geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Hingegen darf nach dem Wortlaut der VO 1/2003 eine Behörde ein wettbewerbswidriges Verhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens, das nach Art 102 AEUV erlaubt wäre, nach nationalem Recht verbieten, wenn strengere innerstaatliche Vorschriften bestehen
II.
Das Kartellverbot
A.
Was ist ein Kartell und warum ist es verboten?
Kartelle werden von Unternehmen gebildet, um den Wettbewerb auszuschalten oder zumindest zu minimieren und damit den eigenen Ertrag zu steigern. Der AEUV versteht unter einem Kartell x
eine Vereinbarung oder eine abgestimmte Verhaltensweise zwischen Unternehmen oder einen Beschluss einer Unternehmensvereinigung,
x
die/der geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen und eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung bezweckt oder bewirkt.
Nach Art 101 AEUV sind Kartelle verboten. Sie beeinträchtigen den freien Wettbewerb im Binnenmarkt der EU, was nicht nur zu Lasten der Kartelle sind grundsätzlich verboten, weil sie den Wettbewerb beschränken. Konkurrenzunternehmen und Konsumenten, sondern auch der Mitglieder des Kartells selbst geht, sofern diese aus dem Kartell wieder aussteigen wollen.
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Europäisches Wettbewerbsrecht
LE 6
Bsp: Angenommen, in Österreich gibt es nur zwei Unternehmen, die Schi herstellen und verkaufen. Beide Unternehmen, die einen Marktanteil von je ca. 50% haben, versuchen, durch billigere Preise dem anderen Unternehmen Kunden abzuwerben, um mehr Marktanteile zu bekommen. Das führt zu einem Preiskampf, der für beide Unternehmen sehr unangenehm ist (sie müssen bessere Waren zu geringeren Preisen als der Konkurrent anbieten können). Wenn sich beide Unternehmen darauf einigen, dass der eine nur West-, der andere nur Ostösterreich beliefert, oder dass der eine nur teure Rennschi, der andere dafür billige Wegwerfschi anbietet oder dass sie Schi nicht unter 400 € verkaufen werden, kommt das beiden Unternehmen zugute, und sie können in Ruhe und ohne Gefahr eine Oligopolrente lukrieren. Der Wettbewerb zwischen ihnen ist ausgeschaltet. Aber auch für neue Schianbieter ist es angesichts der Marktaufteilung zwischen den beiden Unternehmen praktisch unmöglich, auf dem österreichischen Schimarkt Fuß zu fassen. Schließlich sind die Konsumenten den beiden Unternehmen ausgeliefert, sie haben tatsächlich keine Wahl mehr zwischen Produkten verschiedener Unternehmen.
B.
Die Kartellmerkmale
1.
Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen sowie Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen
Das Kartellverbot erfasst nicht nur Verträge zwischen Unternehmen, sondern auch abgestimmte Verhaltensweisen zwischen ihnen, wie zB Absprachen und andere Formen des koordinierten unternehmerischen Marktverhaltens. Bsp: Zwei Tankstellenbetreiber vereinbaren ausdrücklich, die Benzinpreise einheitlich anzuheben oder zu senken (= Vertrag). Oder sie heben die Benzinpreise einvernehmlich in gleicher Weise an oder senken sie, ohne dies jedoch ausdrücklich zu vereinbaren (= abgestimmtes Verhalten). Eigenständiges Parallelverhalten ist demgegenüber erlaubt, also zum Beispiel das „Nachziehen“ mit den Preisen, ohne dass eine (geheime) Vereinbarung dahintersteckt. Bsp: Ein Unternehmen, das 50% Marktanteil hat, senkt den Preis von Schi. Die 10 anderen Schi-Unternehmen, die sich den restlichen Markt aufteilen, entschließen sich, das auch zu tun, um konkurrenzfähig bleiben zu können. Das Kartellverbot erfasst nicht nur Absprachen von privaten, sondern auch von öffentlichen Unternehmen. Der Unternehmensbegriff des Art 101 AEUV ist also sehr weit. Vom Kartellverbot erfasst sind auch Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen. Unter einer Unternehmensvereinigung versteht man einen (beliebig strukturierten) Zusammenschluss mehrerer Unternehmen, dessen Zweck unter anderem darin besteht, die Interessen seiner Mitglieder wahrzunehmen (zB Interessensvertretungen, Kammern der freien Berufe). Die Rechtsprechung tendiert dazu, den Begriff der „Beschlüsse“ von Unternehmensvereinigungen weit auszulegen. Bsp: Preisempfehlungen von wirtschaftlichen Interessensvertretungen, Prämienempfehlungen von Versicherungsverbänden, Beschlüsse von Kammern der freien Berufe,
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Europäisches Wettbewerbsrecht
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mit denen bspw Gebühren festgesetzt werden, wettbewerbsbeschränkende Beschlüsse von Genossenschaften. Innerhalb der Kartellabsprachen wird zwischen horizontalen und vertikalen unterschieden: a.
Horizontale Vereinbarungen
Horizontale Absprachen sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen derselben Wirtschaftsstufe (= Unternehmen, die miteinander im Wettbewerb stehen) wie zB Preisabsprachen zwischen Produzenten oder zwischen Händlern. Die Preisabsprachen, Absprachen in Bezug Unternehmer einigen sich dabei auf einheitliche An- und auf Erzeugung, Beschaffung, Absatz etc Verkaufspreise. Mitunter sprechen sich Unternehmen auch über die Gewährung von Rabatten ab oder koordinieren sonstige Geschäftsbedingungen (Verwendung eines bestimmten Standardvertrages, Koordinierung von Kredit- und Zahlungsbedingungen etc). Horizontale Vereinbarungen können auch in Bezug auf Absatz und Beschaffung von Produkten oder über mengenbezogene Erzeugungsbeschränkungen (sog Quotenvereinbarungen) getroffen werden. Bsp: Das Schi-Unternehmen A und das Schi-Unternehmen B vereinbaren, Schi nicht unter 400 € zu verkaufen; A und B vereinbaren, fast identische Geschäftsbedingungen gegenüber ihren Lieferanten und Abnehmern zu verwenden; A und B beschließen, nur gemeinsam Rohmaterialien für die Schiproduktion einzukaufen bzw fertige Produkte zu verkaufen; A und B teilen sich den Markt räumlich auf (A nur Ost-, B nur Westösterreich); A und B vereinbaren, pro Saison nicht mehr als 500.000 Paar Schi zu produzieren. b.
Vertikale Vereinbarungen
Vertikale Absprachen sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen unterschiedlicher Wirtschaftsstufe (= Unternehmen, die nicht im Wettbewerb stehen) wie zB Preisbindungsvereinbarungen zwischen dem Produzenten und den Händlern, die Preisbindungen, Alleinvertriebsverträge etc seine Produkte an die Konsumenten verkaufen. Dabei wird vereinbart, dass nicht der Händler, sondern der Produzent die Preise festsetzt. Aber auch noch andere Beschränkungen des Händlers können Gegenstand von vertikalen Vereinbarungen sein. Bsp: A weist seine Abnehmer an, Schi nur zu den von A festgesetzten Preisen an Konsumenten zu verkaufen; A verpflichtet seine Letztverkäufer, auf jeden Fall mindestens 200.000 Paar Schi von A zu kaufen, egal wie viele Paare der Letztverkäufer tatsächlich absetzen kann (entweder er nimmt die vorgegebene Menge oder er bekommt gar nichts); A verpflichtet seine Abnehmer, seine Schi nur von geschulten Verkäufern an Konsumenten verkaufen zu lassen und den Konsumenten ein umfangreiches Serviceangebot anzubieten; A verpflichtet seine Abnehmer, die Verkaufslokale nur nach seinen Vorstellungen zu gestalten (die Verkäufer müssen Uniformen von A tragen etc).
176
2.
Europäisches Wettbewerbsrecht
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Spürbare Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten und Bezweckung oder Bewirkung einer spürbaren Wettbewerbsbeschränkung
Absprachen zwischen Unternehmen sind dann verboten, wenn sie sich spürbar auf den Wirtschaftsverkehr innerhalb des Binnenmarktes auswirken und eine spürbare Beschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs am relevanten Markt (Näheres zum relevanten Markt siehe unten Punkt III) bezwecken oder bewirken. Wann eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung anzunehmen ist, hat die Kommission in der sog Bagatell- bzw De-Minimis-Bekanntmachung näher definiert. Demnach wird eine Wettbewerbsbeschränkung erst ab Erreichen eines gewissen Marktanteils der beteiligten Unternehmen oder – ohne Beachtung der Marktmacht der Parteien – bei besonders verpönten Vereinbarungen angenommen. Konkret ist vorgesehen, dass Bagatellabsprachen sind erlaubt, es sei denn, es handelt sich um grobe Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die miteinander im Wettbewerbsbeschränkungen. Wettbewerb stehen (also horizontale Vereinbarungen) bis zu einem gemeinsamen Marktanteil von 10% als (noch) nicht wettbewerbsbeschränkend gelten. Wenn die Beteiligten nicht im Wettbewerb stehen (also bei vertikalen Vereinbarungen), trifft das bis zu einem Marktanteil von 15% zu. Vereinbarungen, die zwar nicht einzeln, jedoch in ihrer Gesamtwirkung durch nebeneinander bestehende Netze von Vereinbarungen (zB Bierbezugs- oder Tankstellenverträge) den Markt beeinträchtigen können, sind dann kartellrechtlich nicht relevant, wenn entweder einzelne der beteiligten Unternehmen einen Marktanteil von 5% nicht überschreiten oder insgesamt weniger als 30% des relevanten Marktes durch die nebeneinander bestehenden Vereinbarungen abgedeckt werden. Hervorzuheben ist, dass diese Bagatellgrenzen nicht für besonders verpönte Absprachen (zB Preisabsprachen, Produktions- und Absatzbeschränkungen, Aufteilung von Märkten oder Kunden) gelten, da diese den Wettbewerb innerhalb der EU dermaßen grob verfälschen, dass es dafür keine Ausnahme geben darf. Bsp: Die Klein-PKW-Hersteller A und B vereinbaren, dass sie ihre Klein-PKWs nicht unter 10.000 € in Österreich und Deutschland verkaufen werden. Auch wenn die beiden Autohersteller gemeinsam einen Marktanteil von unter 10 % am relevanten Markt (= Klein-PKW-Markt) haben, ist ihre Absprache verboten. Für Vereinbarungen, die zum Ziel haben, die Preise festzusetzen, gilt nämlich keine Bagatellgrenze. Nicht dem Kartellverbot unterliegen übrigens auch Absprachen innerhalb eines Konzerns (sog Konzernprivileg). Dies deshalb, da Unternehmen innerhalb Konzerninterne Absprachen sind eines Konzerns nicht wirtschaftlich selbständig sind. Das erlaubt. Tochterunternehmen ist vom Mutterunternehmen abhängig. Zwischen den beiden Unternehmen herrscht kein Wettbewerb, vielmehr wird ein Konzern ja gerade zum Zwecke der Zusammenarbeit gegründet.
3.
Kartellvereinbarungen sind ungültig (Art 101 Abs 2 AEUV)
Verbotene Kartellabsprachen sind nach Art 101 Abs 2 AEUV nichtig, das heißt rechtlich nie wirksam zustande gekommen. Verbotene Kartellvereinbarungen müssen dementsprechend nicht erfüllt werden und ihre Einhaltung kann auch nicht eingeklagt werden.
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Europäisches Wettbewerbsrecht
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Bsp: Die Unternehmen A und B mit jeweils ca. 20% Marktanteil in Österreich, Deutschland und Italien vereinbaren, Schi nicht unter 400 € an ihre Händler abzugeben. Wenn sich nun A wegen seiner wirtschaftlichen Situation nicht mehr daran halten kann und gezwungen ist, Schi unter 400 € zu verkaufen, kann B den A nicht auf Unterlassung und Schadenersatz klagen, da der Vertrag ein verbotenes Kartell darstellt und daher ungültig ist. Es stellt sich die Frage, ob Ihr Verhalten ein „abgestimmtes Verhalten“ im Sinn des AEUV darstellt. Nach Auffassung des EuGH liegt abgestimmtes Verhalten dann vor, wenn eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen besteht, die noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrages im eigentlichen Sinn gediehen ist, jedoch bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt und zu Wettbewerbsbedingungen führt, die im Hinblick auf die Art der Waren, die Bedeutung und Anzahl der beteiligten Unternehmen sowie den Umfang und die Eigentümlichkeiten des in Betracht kommenden Marktes nicht den normalen Wettbewerbsbedingungen entspricht. Ihr Verhalten und das Verhalten Ihrer Konkurrenten entsprechen diesem Tatbestand des „abgestimmten Verhaltens“. Durch die Vorankündigung der Preiserhöhung beseitigen die Unternehmen untereinander jede Ungewissheit über ihr zukünftiges Verhalten und damit das Risiko des Verlustes von Marktanteilen, das mit einer einseitigen Veränderung der Preise durch ein Unternehmen im Wettbewerb verbunden ist. Das abgestimmte Verhalten beeinträchtigt die Verwirklichung des Entstehens des europäischen Binnenmarktes, da es den grenzüberschreitenden Handel beeinträchtigt und Preiswettbewerb unterbindet. Es ist praktisch unmöglich, Farben aus dem europäischen Ausland billiger zu beziehen, da ja alle Unternehmen gleichzeitig ihre Preise erhöhen. Damit wird die Aufteilung des Marktes verstärkt. Genau dieses Ergebnis widerspricht aber dem Grundgedanken des europäischen Binnenmarktes, in dem ein grenzenloser Handel ermöglicht werden soll. Jeder Marktteilnehmer soll ja die Vorteile unterschiedlicher Preise nützen können. Das abgestimmte Verhalten ist spürbar, da es sich auf das gesamte Unionsgebiet erstreckt. Die involvierten Unternehmen haben außerdem am relevanten Markt einen Marktanteil von praktisch 100%.
C.
Ausnahmen vom Kartellverbot (Art 101 Abs 3 AEUV)
Unter bestimmten Voraussetzungen sind an sich tatbestandsmäßige Vereinbarungen, Beschlüsse oder abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen vom Kartellverbot ausgenommen und damit erlaubt. Art 101 Abs 3 AEUV nennt vier Voraussetzungen, die kumulativ dh gleichzeitig erfüllt sein müssen, damit eine Kartellabsprache zulässig ist: x
Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder auch Beitrag zum wirtschaftlichen oder technischen Fortschritt;
x
angemessene Beteiligung der Verbraucher an den daraus resultierenden Vorteilen;
x
keine Wettbewerbsbeschränkungen, die über das hinausgehen, was zur Erreichung des Vertragszwecks erforderlich ist;
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Europäisches Wettbewerbsrecht
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Bsp: Mehrere Unternehmen schließen sich zur gemeinsamen Forschung zusammen, zusätzlich wird zwischen den beteiligten Unternehmen vereinbart, dass es nicht erlaubt ist, auch selbständig außerhalb des Kartells zu forschen. Das Verbot, außerhalb des Kartells zu forschen, ist für die Erreichung des Ziels, nämlich durch gemeinsames Forschen, die Kosten zu senken und den Fortschritt schneller voranzutreiben, nicht unbedingt erforderlich. x
funktionierender Wettbewerb auf dem von der Vereinbarung betroffenen Markt. Bsp: Zwei Unternehmen vereinbaren, den Verkauf ihrer Waren über eine gemeinsame Verkaufsstelle abzuwickeln. Wenn nun zusätzlich vereinbart wird, dass neben dieser gemeinsamen Verkaufsstelle keine Verkäufe mehr getätigt werden dürfen, können die Unternehmen den Wettbewerb untereinander fast vollständig ausschließen, da ja alle Verkäufe über die gemeinsame Stelle laufen.
Bis zum Inkrafttreten der VO 1/2003 konnte auf der Grundlage dieser Voraussetzungen eine Freistellung vom Kartellverbot jeweils nur durch eine so genannte Einzelfreistellungsentscheidung oder durch Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO) der Europäischen Kommission erfolgen. Jene Kartellabsprachen, die nicht unter den Anwendungsbereich einer GVO fielen, mussten der Europäischen Kommission gemeldet werden. Die Kommission konnte mittels Einzelfreistellung die fragliche Absprache auf Grundlage des Art 101 Abs 3 AEUV vom Kartellverbot freistellen, oder auf Antrag feststellen, gegen die Kartellabsprache nicht einzuschreiten (sog Negativattest) oder auch durch ein bloß informelles Schreiben mitteilen, dass die beabsichtigte Kartellabsprache europarechtskonform ist. Durch die VO 1/2003, die seit 01.05.2004 in Kraft ist und die VO 17/62 ersetzt, wird das System der Ausnahmen vom Kartellverbot auf eine völlig neue Grundlage gestellt. An die Stelle des Anmelde- und Genehmigungssystems tritt ein System der gesetzlichen Ausnahme („Legalausnahme“), indem die unmittelbare Anwendbarkeit des Art 101 Abs 3 AEUV angeordnet wird (Art 1 VO 1/2003). Dies bedeutet, dass Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne von Kartellabsprachen, die die VoraussetArt 101 Abs 1 AEUV, die die Voraussetzungen des zungen des Art 101 Abs 3 AEUV erfüllen, sind nicht verboten, ohne dass dies eiArt 101 Abs 3 AEUV erfüllen, per se vom Kartellverbot ner vorherigen Entscheidung bedarf. freigestellt sind. Eine Ausnahme vom Kartellverbot bedarf demnach keines konstitutiven Rechtsaktes (in Form einer Genehmigung) mehr, sondern das betroffene Unternehmen kann (und muss) sich direkt auf Art 101 Abs 3 AEUV berufen. Unternehmen müssen daher in erster Linie selbst die Rechtmäßigkeit ihrer Absprachen auf der Grundlage der Voraussetzungen des Art 101 Abs 3 AEUV beurteilen. Überdies ist Art 101 Abs 3 AEUV nun auch für die nationalen Gerichte und Wettbewerbsbehörden unmittelbar anwendbar. Diese sind ermächtigt und verpflichtet zu prüfen, ob eine Absprache unter Art 101 Abs 3 AEUV fällt und damit nicht den Rechtsfolgen des Art 101 Abs 1 (Kartellverbot) und Abs 2 (Nichtigkeit der Vereinbarung) AEUV unterliegt. Das (Einzel)Freistellungsmonopol der Kommission ist damit beseitigt worden. Lediglich in Einzelfällen, wenn dies aus Gründen des öffentlichen Interesses erforderlich ist, kann die Kommission mit Entscheidung feststellen, dass das Kartellverbot keine Anwendung findet (Art 10 VO 1/2003). Insgesamt stellt die Neuregelung in VO 1/2003 einerseits ein erhöhtes Beurteilungsrisiko für
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die betroffenen Unternehmen dar, führt aber andererseits zu einem nicht unwesentlichen Abbau an administrativer Belastung der Europäischen Kommission. Mit einer Fülle an spezifischen Mitteilungen und Leitlinien über die Anwendbarkeit des Art 101 AEUV versucht die Kommission den Verlust an Rechtssicherheit auszugleichen. Auch unter VO 1/2003 kann die Kommission nach wie vor Gruppenfreistellungsverordnungen erlassen, mit denen sie Art 101 Abs 3 AEUV auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen anwendet. Ist ein tatbestandsmäßiges Kartellverhalten von einer GVO erfasst, ist es jedenfalls vom Kartellverbot freigestellt. Aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art 101 Abs 3 AEUV haben die GVO nur noch „feststellende Bedeutung“ – dh es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass ähnliche Sachverhalte vom Kartellverbot des Art 101 Abs 1 AEUV ausgenommen sind, obwohl sie nicht von einer GVO geschützt werden (aber die Voraussetzungen des Art 101 Abs 3 AEUV erfüllen). GVO wurden von der Europäischen Kommission bspw im Bereich horizontaler Vereinbarungen für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen (VO 2659/2000, ABl 2000 Nr L 304/7) sowie Spezialisierungsvereinbarungen (VO 2658/2000, ABl 2000 Nr L 304/3), weiters Technologietransfervereinbarungen (VO 772/2004, ABl 2004 Nr L 123/11) und im Bereich vertikaler Vereinbarungen für Alleinvertriebsverträge, Alleinbezugsvereinbarungen und Franchise-Verträge (VO 2790/1999, ABl 1999 Nr L 336/21) erlassen. Ein weiteres Beispiel für eine vertikale GVO bildet jene im Automobilsektor für den Vertrieb von Neufahrzeugen (VO 1400/2002, ABl Nr L 203/30). Wenn eine Vereinbarung den Anforderungen einer GVO entspricht, wird davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des Art 101 Abs 3 AEUV erfüllt sind. VO 1/2003 sieht jedoch vor, dass die Kommission oder die nationalen Wettbewerbsbehörden in Einzelfällen den „Rechtsvorteil einer GVO entziehen“ können, soweit Absprachen, auf die derartige GVO Anwendung finden, ausnahmsweise dennoch Wirkungen haben, die mit Art 101 Abs 3 AEUV unvereinbar sind (Art 29 VO 1/2003). Außerdem gelten die Vorteile einer GVO niemals für besonders verpöntes Verhalten (zB Preisabsprachen, Produktions- und Absatzbeschränkungen, Aufteilung von Märkten oder Kunden). Bsp: Herr A, der Fernsehgeräte in Deutschland produziert, vereinbart mit seinem französischen Zwischenhändler B, dass er seine Fernsehgeräte in Frankreich nur an ihn liefert. Im Gegenzug verspricht B die TV-Geräte des A seinen Kunden besonders ans Herz zu legen. Es handelt sich dabei um einen so genannten Alleinvertriebsvertrag, der unter die GVO 2790/1999 fällt.
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III. Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung A.
Allgemeines
Der freie Wettbewerb innerhalb der EU kann nicht nur auf Grund von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, sondern auch durch wettbewerbswidriges Verhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens beeinträchtigt werden. Dementsprechend verbietet Art 102 AEUV die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil davon durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Je nach Fallkonstellation können Art 101 und Art 102 AEUV alternativ, aber auch zusammen zur Anwendung kommen.
B.
Was ist der relevante Markt?
Anknüpfungspunkt des Verbotes nach Art 102 AEUV ist das Bestehen einer marktbeherrschenden Stellung auf dem ganzen oder einem Teil des BinUnternehmen, die den Markt beherrnenmarktes. Die Prüfung, ob ein Unternehmen eine schen, dürfen ihre marktbeherrschende marktbeherrschende Stellung innehat, setzt eine Abgrenzung Stellung nicht missbräuchlich ausnutzen, da dies den Wettbewerb des für den jeweiligen Einzelfall sachlich und örtlich relevanten beeinträchtigt. Marktes voraus. In der „Bekanntmachung über die Definition
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des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft“ (ABl 1997, Nr C 372/5) erläutert die Kommission, was unter dem sachlich und örtlich relevanten Markt zu verstehen ist. Diese Definitionen sind auch im Rahmen der Fusionskontrolle und für das Kartellrecht von Bedeutung. Sie dienen der genauen Abgrenzung des Gebietes, auf dem Unternehmen miteinander in Wettbewerb stehen.
1.
Der sachlich relevante Markt (= Produktmarkt)
Bei der Festlegung des sachlich relevanten Markts kommt es auf die Substituierbarkeit (= Austauschbarkeit) des betreffenden Produkts aus der Sicht der Marktgegenseite (Abnehmer/Konsument) an. Wichtige Indikatoren sind dabei die Preislage, die Qualität, technische Merkmale und die Kreuzpreiselastizität: Wenn die Verbraucher Es kommt auf die Substituierbarkeit an. bei einer geringfügigen, aber dauerhaften Preiserhöhung auf ein anderes Produkt umschwenken, so wird angenommen, dass dieses andere Produkt zum sachlich relevanten Markt zählt. Reagieren die Abnehmer auf Preisveränderungen hingegen langsam und träge, so kann von unterschiedlichen Produktmärkten ausgegangen werden. Bsp: Im Fall United Brands (Rs 27/76, Slg 1978, 207) prüfte der EuGH die Austauschbarkeit von Bananen und anderem frischen Obst und kam zum Ergebnis, dass zwischen diesen nur ein sehr geringer Grad an Substituierbarkeit besteht, da die Banane sehr spezifische Eigenschaften aufweist. Sie ist „durch ihr Ansehen, ihren Geschmack, ihre weiche Beschaffenheit, das Fehlen von Kernen, eine einfache Handhabung und ein gleichbleibendes Produktionsniveau geeignet, den gleichbleibenden Bedarf einer bedeutenden, sich aus Kindern, Alten und Kranken zusammensetzenden Bevölkerungsgruppe zu befriedigen.“ Neben der Nachfragesubstituierbarkeit kommt es bei der Ermittlung des relevanten Markts auch auf die Angebotssubstituierbarkeit an, dh darauf, wie einfach und kurzfristig potenzielle Mitbewerber ihre Produktion auf das relevante Erzeugnis umstellen können. Können Mitbewerber mit vernachlässigbar geringen Kosten und in kurzer Frist ihre Produktion umstellen, so werden ihre bisher hergestellten Produkte in den relevanten Markt miteinbezogen.
2.
Der örtlich relevante Markt
Bei der räumlichen Marktabgrenzung geht es um die Bestimmung jener am Produktmarkt auftretenden Unternehmen, die nach geographischen Gesichtspunkten als alternative Bezugsquellen der Abnehmer bzw als Konkurrenten des möglichen Marktbeherrschers angesehen werden können. Die Kommission definiert den örtlich relevanten Markt als das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen die relevanten Produkte und Dienstleistungen anbieten und nachfragen, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von den benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet. Der örtliche Markt muss – um europarechtlich relevant zu sein – Binnenmarkt oder wesentlicher Teil daden Binnenmarkt oder einen wesentlichen Teil desselben von. umfassen. Das Staatsgebiet eines Mitgliedstaats ist jedenfalls ein wesentlicher Teil des Binnenmarktes. Aber auch größere Teile einzelner Mitgliedstaaten
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werden als wesentlicher Teil des Binnenmarktes angesehen (zB der Raum Süddeutschland für den Zuckermarkt oder zB London bzw Kopenhagen). Schließlich können wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung auch wichtige Flug- und Seehäfen als wesentlicher Teil des Binnenmarktes angesehen werden.
C.
Wann liegt eine marktbeherrschende Stellung vor?
Auf dem sachlich und örtlich relevanten Markt hat ein Unternehmer dann eine beherrschende Stellung, wenn er in der Lage ist, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs zu verhindern, indem er sich seinen Mitbewerbern, seinen Ein marktbeherrschendes Unternehmen ist keinem nennenswerten Wettbewerb Abnehmern und letztlich auch den Verbrauchern gegenüber ausgesetzt. weitgehend unabhängig verhalten kann. Ein marktbeherrschendes Unternehmen zeichnet sich also dadurch aus, dass es keinem nennenswerten Wettbewerb ausgesetzt ist. Ein wichtiges Indiz für eine beherrschende Stellung ist der Marktanteil des betreffenden Unternehmens. Da im Einzelfall aber sowohl dessen absolute als auch relative Höhe (dh der Abstand zum nächsten Mitbewerber) und auch Marktanteilsschwankungen in die Beurteilung einbezogen werden können, lassen sich keine allgemeingültigen Schwellenwerte ableiten. Bei einem Marktanteil unterhalb von 30% bzw oberhalb von Bei einem Marktanteil von über 80% am 80% kann allerdings vom Nichtvorliegen bzw Vorliegen einer sachlich und örtlich relevanten Markt kann von Marktbeherrschung beherrschenden Stellung ausgegangen werden. Aber auch ausgegangen werden. schon bei einem Marktanteil von 40% kann Marktbeherrschung vorliegen. Bei einem Monopol (= Unternehmen mit 100% „Marktanteil“) ist jedenfalls vom Bestehen einer beherrschenden Stellung auszugehen. Möglich ist auch, dass nicht ein Unternehmen alleine, sondern mehrere Unternehmen eine Marktbeherrschung ausüben (kollektive Marktbeherrschung/Oligopol).
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D.
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Wann liegt ein Missbrauch vor?
Das Unionsrecht verbietet nicht die marktbeherrschende Stellung als solche, sondern (nur) deren missbräuchliche Ausnutzung. Ein solcher Missbrauch liegt dann vor, wenn das Verhalten des Marktbeherrschers am Markt von den Mitteln eines Missbrauch liegt dann vor, wenn ein Unnormalen Produkt- oder Leistungswettbewerbs abweicht. ternehmen Bedingungen diktiert, die es unter Wettbewerbsbedingungen nicht Werden dadurch die Mitwerber behindert, spricht man von Bedurchsetzen könnte. hinderungsmissbrauch. Wird durch den Missbrauch die Marktgegenseite ausgebeutet, spricht man von Ausbeutungsmissbrauch.
1.
Behinderungsmissbrauch
Beim Behinderungsmissbrauch richtet das marktbeherrschende Unternehmen seine Marktmacht direkt gegen die Mitbewerber, indem es etwa Lieferungen verweigert, den Zugang zu unerlässlichen Infrastruktureinrichtungen verhindert, unsachliche chliche Kopplungsverträge erzwingt oder seine Produkte zu Verlustpreisen verkauft, um die Konkurrenz vom Markt zu verdrängen. Bsp: Das marktbeherrschende Unternehmen A verkauft seine Waren nicht an den Zwischenhändler B, da dieser Waren eines Konkurrenten vertreibt. Das Unternehmen B, das ein Telefonnetz betreibt und Telekommunikationsdienstleistungen anbietet, versagt anderen Telekommunikationsunternehmen, sein Netz mitzubenutzen – es verhindert damit jeglichen Wettbewerb.
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Das Unternehmen C verpflichtet seine Abnehmer, 20 Jahre lang ausschließlich seine Waren abzusetzen – damit beeinträchtigt er die Absatzmöglichkeit aller seiner Mitbewerber. Das Softwareunternehmen M koppelt eine Applikation an sein Betriebssystem, wobei es am Markt für Betriebssysteme annähernd 100% Marktanteil hat; Unternehmen, die eine ähnliche Applikation anbieten, werden so vom Markt verdrängt.
2.
Ausbeutungsmissbrauch
Beim Ausbeutungsmissbrauch nützt das marktbeherrschende Unternehmen die Abhängigkeit seiner Marktpartner aus, um geschäftliche Vorteile zu erzwingen, die unter normalen Wettbewerbsbedingungen nicht erzielbar wären. Dazu zählen etwa das Verlangen unangemessen überhöhter Preise, die Erzwingung unfairer Geschäftsbedingungen, die unsachliche Verknappung der Produktion oder die Diskriminierung von Mitbewerbern etc. Bsp: Das marktbeherrschende Unternehmen X schränkt die Produktion ohne sachlichen Grund ein, um das Angebot zu verknappen, was zu einer Erhöhung der Preise führt, oder koppelt „Ladenhüter“ an begehrte Produkte. Der Unternehmer Y betreibt eine Supermarktkette, die in Österreich ca. 80% Marktanteil hat. Y verlangt von seinen Obstlieferanten, ab einer gewissen Absatzmenge bis zu 50% des Preises nachzulassen, widrigenfalls er die Lieferanten wechselt. Mit 80 % Anteil am relevanten Markt (= Obstmarkt in Österreich) hat das Unternehmen von Y eine marktbeherrschende Stellung. Da das Unternehmen so dominant ist, haben seine Lieferanten gar keine andere Wahl, als den geforderten Mengenrabatt zu gewähren. An wen sollten sie sonst liefern? Würden die Lieferanten Y als Kunden verlieren, dann wäre ihr wirtschaftliches Überleben in Gefahr. Folglich missbraucht Y seine marktbeherrschende Stellung. Man könnte schon fast von Erpressung sprechen. Damit der Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung verboten ist, muss er sich auf den Binnenmarkt oder einen wesentlichen Teil davon auswirken (zum relevanten Markt siehe Punkt III. B).
IV. Das Verfahren zur Abstellung von Kartellen und des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung Das Verfahren zur Abstellung von Kartellen und des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung wurde durch VO 1/2003 im Sinne einer verstärkten Dezentralisierung und gleichzeitig einer engen Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden novelliert. In erster Linie sind nun die nationalen Wettbewerbsbehörden (Verwaltungsbehörden oder Gerichte) neben bzw unter Aufsicht der Europäischen Kommission für den Vollzug des EU-Wettbewerbsrechts zuständig. Werden die nationalen Wettbewerbsbehörden nach Art 101 oder 102 AEUV tätig, so richten sich das Verfahren und die anwendbaren Sanktionen nach dem jeweiligen nationalen Recht. Die Wettbewerbsbehörden müssen die Kommission jedoch über die Einleitung sowie rechtzeitig vor Abschluss eines Verfahrens über die beabsichtigte Entscheidung und die wesentlichen Umstände zur Beurteilung des Falls informieren (Art 11 VO 1/2003). Die Europäische Kommis-
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sion kann außerdem nach wie vor selbst (auf Antrag oder von Amts wegen) ein Verfahren einleiten oder ein laufendes Verfahren vor einer nationalen Wettbewerbsbehörde an sich ziehen. In diesen Fällen erlischt die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde (Art 11 Abs 6 VO 1/2003). Dieses System soll der Kommission ermöglichen, sich einerseits auf die Verfolgung der schwerwiegendsten Verstöße zu konzentrieren und andererseits die Wettbewerbspolitik durch allgemeine Maßnahmen wie Gruppenfreistellungsverordnungen oder Leitlinien weiterzuentwickeln und die einheitliche Auslegung der Wettbewerbsregeln zu fördern. VO 1/2003 enthält jedoch keine konkreten Anhaltspunkte dazu, wie die Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden im Einzelnen aufgeteilt werden soll. Ein Verfahren auf Grundlage der Art 101 und 102 AEUV kann auf Antrag eines Unternehmens (zB Konkurrenzunternehmen, ein am Kartell beteiligtes Unternehmen), von Amts wegen oder auch auf Antrag eines Mitgliedstaats bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder der Kommission eingeleitet werden. Die nationalen Behörden bzw die Kommission können die an einem Kartell oder einer Missbrauchshandlung beteiligten Unternehmen verpflichten, das wettbewerbswidrige Verhalten abzustellen, Die nationalen Wettbewerbsbehörden und die Kommission können Unterneheinstweilige Maßnahmen anordnen, Verpflichtungszusagen der men auffordern, Kartelle abzustellen. Unternehmen annehmen und Geldbußen bzw andere Sanktionen verhängen (Art 5 und Art 7ff VO 1/2003). Einstweilige Maßnahmen können angeordnet werden, wenn die Gefahr eines ernsten, nicht wieder gutzumachenden Schadens für den Wettbewerb besteht. Die sog Verpflichtungszusagen ermöglichen den Unternehmen, bestimmte Verpflichtungen (zB Verzicht auf bestimmte Rechte, Gewährung bestimmter Vorteile aus einer Absprache auch an Wettbewerber, Änderungen in der Unternehmensstruktur) anzubieten, um die wettbewerbsrechtlichen Bedenken der Kommission oder der nationalen Wettbewerbsbehörden auszuräumen. Die der Europäischen Kommission zur Verfügung stehenden Sanktionen sind in VO 1/2003 geregelt (Art 23f VO 1/2003) und sehen empfindliche Geldstrafen (bis zu 10% des Jahresumsatzes) vor. Dabei können Strafen in einer Größenordnung von bis zu einer Milliarde Euro je überführtem Kartell erreicht werden (zB Lift- und Rolltreppenkartell, 2007). VO 1/2003 erlaubt der Kommission nunmehr auch, Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter Art sowie im äußersten Fall struktureller Art (Änderungen in der Unternehmensstruktur, ggf auch bis hin zu einer Entflechtungsbefugnis, wie sie in den USA existiert) vorzuschreiben, wenn dies für eine wirksame Abstellung einer Zuwiderhandlung erforderlich (und verhältnismäßig) ist (Art 7 VO 1/2003). Neben den wesentlichen verfahrensrechtlichen Vorschriften (näher zu diesen vgl die VerfahrensVO 773/2004, ABl 2004 Nr L 123/18) und den Sanktionen regelt VO 1/2003 auch die Ermittlungsbefugnisse der Kommission. Demnach kann die Kommission zB von Unternehmen alle erforderlichen Auskünfte verlangen. Durch VO 1/2003 hat die Kommission nunmehr auch die Möglichkeit, Zeugen zu vernehmen und deren Aussagen im Verfahren als Beweismittel zu verwerten. Ferner kann die Kommission – ohne Vorankündigung – Überprüfungen durchführen. Eine solche Überprüfung besteht darin, dass Beamte der Kommission, unterstützt von Beamten des Mitgliedstaates, auf dessen Territorium die Überprüfung durchgeführt wird, bei dem zu überprüfenden Unternehmen erscheinen und um die Vorlage aller er-
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forderlichen Dokumente „bitten“. Die Unternehmen sind dann verpflichtet mit der Kommission zusammen zu arbeiten. Bei Nichtbefolgung von Entscheidungen der Kommission drohen Geldstrafen. Die Kommission kann bei schweren Verstößen gegen Art 101 und 102 EGV Hausdurchsuchungen nunmehr auch in den Privatwohnungen von Unternehmensinhabern und Mitarbeitern vornehmen (Art 21 VO 1/2003). Auf Ersuchen der Kommission haben auch die nationalen Wettbewerbsbehörden selbständig Nachprüfungen vorzunehmen, die die Kommission für erforderlich hält oder angeordnet hat. Kartellmitglieder, die mit Insiderinformationen mithelfen, Kartelle aufzudecken oder aufzuklären, können jedoch – als Gegenleistung für ihre Unterstützung der Kommission – mit einer Reduktion oder gar dem Erlass der Geldbuße für die Teilnahme am Kartell rechnen. Durch diese „Kronzeugenregelung“ (vgl die Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl 2006, Nr C 298/17) soll den immer raffinierteren Methoden der Kartelle effizienter begegnet werden. Eine nationale Wettbewerbsbehörde oder die Kommission fordert Sie (und die übrigen Kartellmitglieder) auf, ein abgestimmtes Verhalten einzustellen oder die missbräuchliche Ausnutzung ihrer marktbeherrschenden Stellung abzustellen. Kommen Sie dem nicht nach, drohen Ihnen Geldstrafen oder andere Sanktionen.
V.
Fusionskontrolle
A.
Allgemeines
Das Bestehen eines unverfälschten Wettbewerbs kann nicht nur durch Kartellbildung und Marktmissbrauch, sondern auch durch Zusammenschlüsse (= Fusionen) von zuvor miteinander konkurrierender Unternehmen gefährdet werden. Seit Auch Unternehmenszusammenschlüsse können den freien Wettbewerb 01.05.2004 ist eine neue Verordnung über die Kontrolle von beeinträchtigen. Unternehmenszusammenschlüssen (FusionskontrollVO 139/2004, ABl L 24/1) in Kraft, die eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse in Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der Union ermöglichen soll. Nach der neuen Verordnung ist es Ziel der Fusionskontrolle zu verhindern, dass durch den Zusammenschluss zweier oder mehrerer Unternehmen wirksamer Wettbewerb im Binnenmarkt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert wird, und zwar insbesondere infolge der Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung. Bsp: Das Unternehmen A, das 40% Marktanteil hat, fusioniert mit dem Unternehmen B, das ebenfalls 40% Marktanteil hat. Zusammen haben sie einen Marktanteil von 80% und damit jedenfalls eine beherrschende Stellung begründet, die geeignet ist, wirksamen Wettbewerb erheblich zu behindern. Ein Unternehmenszusammenschluss liegt in folgenden Fällen vor: x
Verschmelzung: Die Gesellschaft B geht in der Gesellschaft A auf oder die Gesellschaft A verschmilzt mit der Gesellschaft B zu einer neuen Gesellschaft C.
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B.
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x
Kontrollerwerb: Die Gesellschaft A übernimmt durch Kauf von Gesellschaftsanteilen (Aktien, GmbH-Anteilen) die Kontrolle über die Gesellschaft B, ohne diese zu „schlucken“. Die Gesellschaften bleiben also weiterbestehen.
x
Errichtung eines Gemeinschaftsunternehmens: Ein Unternehmen C wird von den – bestehenbleibenden – Unternehmen A und B gegründet, um in gewissen Geschäftsbereichen zu kooperieren.
Unionsweite Bedeutung
Damit ein Zusammenschluss der FusionskontrollVO (FKVO) unterliegt, muss er von unionsweiter Bedeutung sein, dh eine gewisse Größenordnung aufweisen. Dies ist dann der Fall, wenn die Umsätze der beteiligten Unternehmen bestimmte Schwellenwerte, die in der FKVO festgelegt sind, überschreiten (Näheres dazu siehe unten: Grafik Fusionskontrolle). In diesem Fall ist dieser Zusammenschluss jedenfalls bei der Kommission anzumelden. Da die Umsatzschwellen relativ hoch angesetzt sind, unterliegt der Erwerb der meisten mittelständischen Unternehmen durch Großunternehmen – ob grenzüberschreitend oder nicht – nicht der FKVO, sondern dem nationalen Fusionskontrollrecht. Die neue FKVO sieht aus diesem Grund Regelungen vor, die es der Kommission auf Antrag mehrerer Mitgliedstaaten oder der beteiligten Unternehmen erlauben, die Prüfung eines Zusammenschlussvorhabens an sich zu ziehen, auch wenn die Umsatzschwellen nicht erreicht werden (Art 9 FKVO). Umgekehrt kann die Kommission auch die Prüfung eines Zusammenschlussvorhabens an eine mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde delegieren. Bsp: Das Unternehmen A möchte am Unternehmen B 55% der Anteile erwerben. Dies stellt einen Zusammenschluss durch Kontrollerwerb dar. Ob dieser Zusammenschluss unionsweite Bedeutung hat und damit der FKVO unterliegt, ergibt sich aus den Umsatzzahlen der beiden Unternehmen.
C.
Das Genehmigungsverfahren
Nach der FKVO müssen Unternehmenszusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung bei der Kommission angemeldet werden. Die Kommission hat sodann über die Erlaubnis oder das Verbot des betreffenden Zusammenschlusses zu Unternehmenszusammenschlüsse von entscheiden. Dabei wendet die Kommission den sog unionsweiter Bedeutung müssen bei der Kommission angemeldet werden. „modifizierten Dominanztest“ an. Dieser untersucht nicht nur, ob durch den Zusammenschluss wirksamer Wettbewerb im Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert wird (durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung), sondern er erfasst auch wettbewerbsbeschränkende Effekte, die durch Zusammenschlüsse in oligopolistischen Märkten auftreten können, ohne dass dabei ein neuer Marktführer entsteht. Der Zusammenschluss darf nur dann genehmigt werden, wenn er wirksamen Wettbewerb im Binnenmarkt oder in einem wesentlichen Teil desselben nicht erheblich behindert. Durch Verpflichtungserklärungen können Unternehmen Bedenken, die die Kommission bezüglich eines Zusammenschlusses hat, ausräumen. Mit diesen Verpflichtungserklärungen
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verzichten die Unternehmen verbindlich auf gewisse Rechte, um sich nicht des Missbrauchs ihrer marktbeherrschenden Stellung verdächtig zu machen. Bsp: Die fusionierenden Unternehmen A und B sind in verschiedenen Produktmärkten tätig. In einem davon erreichen die beiden einen kumulierten Marktanteil von über 80%. Um die Chancen einer Fusionsgenehmigung zu erhöhen, verpflichtet sich das übernehmende Unternehmen A, die betreffende Sparte des Unternehmens weiterzuveräußern. Gegen Entscheidungen der Kommission im Fusionskontrollverfahren kann Klage beim Europäischen Gericht erhoben werden.
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VI. Verbot staatlicher Beihilfen A.
Das grundsätzliche Beihilfeverbot (Art 107 Abs 1 AEUV)
Nach Art 107 Abs 1 AEUV sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen, gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Staatliche Beihilfen sind also grundsätzlich verboten. Der Begriff der Beihilfe ist weit zu verstehen. Ganz allgemein sind darunter alle staatlichen Maßnahmen zu verstehen, die in verschiedener Form die Belastungen vermindern, welche ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat. Staatliche Beihilfen können nicht nur finanzielle Zuwendungen (zB Zuschüsse; günstige Kredite; staatliche Staatliche Beihilfe = staatliche Begünstigung ohne äquivalente Gegenleistung Beteiligung an einem maroden Unternehmen, die ein marktwirtschaftlich handelnder Privatinvestor nicht vorgenommen hätte), sondern auch Erleichterungen oder Befreiungen von staatlich auferlegten Leistungspflichten (zB begünstigte Steuersätze, Steuerbefreiung, Befreiung von der Kanalgebühr) sein. Auch die Übernahme von Bürgschaften oder günstige Haftungsübernahmen sowie die unentgeltliche oder besonders günstige Zurverfügungstellung von Immobilien bzw Grundstücken können als staatliche Beihilfen qualifiziert werden. Typisch dafür sind die begünstigende Wirkung bei den Empfängern und das Fehlen einer äquivalenten Gegenleistung. Das Unternehmen erhält also eine wirtschaftliche Vergünstigung, die es unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte. Bsp: Ein Mitgliedstaat besitzt zu 51% eine Airline. Da diese auf Grund von Misswirtschaft in Turbulenzen gerät, beschließt die Aktionärsversammlung der Airline AG (in der der Staat die Mehrheit stellt), dem Unternehmen „unter die Arme zu greifen" und das Kapital der AG aufzustocken, um dem Unternehmen wieder zu liquiden Mitteln zu verhelfen. Sonst drohen der Konkurs des Unternehmens und die Entlassung aller Arbeitnehmer. Grundsätzlich hat der Staat das Recht, sich an Aktiengesellschaften zu beteiligen und im Zuge dieser Beteiligungen auch auf das Unternehmen einzuwirken. Der Staat darf aber keine Beihilfen – wie in unserem Beispiel in Form von Kapitalerhöhungen – leisten, wenn dies zu einer Wettbewerbsverzerrung führen würde. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein marktwirtschaftlich handelnder Privatinvestor eine Investition in dieser Höhe nicht vorgenommen hätte. Anders wäre es, wenn etwa eine angemessene Rendite erwartet werden kann. Auch sog Quersubventionierungen durch den Staat bzw von staatlich beherrschten (= öffentlichen) Unternehmen sind staatliche Beihilfen und damit verboten. Bsp: Ein vom Staat betriebenes Unternehmen verwendet Einnahmen aus dem Tätigkeitsfeld, in dem es Monopolist ist (zB Brief- und Paketpostzustellung), zur Finanzierung von Tätigkeitsfeldern, bei denen es Konkurrenz ausgesetzt ist (zB Erbringung von Telekommunikationsdiensten). Dies stellt eine unerlaubte staatliche Quersubventionierung dar, da es an einer äquivalenten Gegenleistung mangelt. Staatlich deshalb, weil das betreffende Unternehmen dem Staat gehört.
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Ein weiteres Kriterium für die Einstufung als Beihilfe ist die Budgetwirksamkeit der Maßnahme: Neben der Bereicherung bzw der Ausgabenersparnis bei den Begünstigten muss es gleichzeitig zu einer Belastung bzw einem Einnahmeverlust oder –verzicht des Staates kommen. Maßnahmen wie bspw der Erlass milderer Produktionsvorschriften bzw Umweltauflagen oder ein verminderter Arbeitnehmerschutz für bestimmte Unternehmen sind demgemäß wegen mangelnder Budgetwirksamkeit keine Beihilfen im Sinne des Art 107 Abs 1 AEUV. Darüber hinaus liegt eine Beihilfe im Sinn des AEUV nur dann vor, wenn die Beihilfe nur bestimmten Unternehmen oder Unternehmenszweigen zukommen soll. Werden Gelder generell an alle Wirtschaftstreibenden eines Landes ausgeschüttet Allgemeine konjunkturpolitische Maßnahmen des Staates sind keine (zB Investitionsfreibetrag), handelt es sich nicht um eine Beihilfen. Beihilfe, sondern um eine allgemeine wirtschaftspolitische Maßnahme. Ein im Sommer 2005 eingeleiteter Reformprozess („Aktionsplan staatliche Beihilfen“) zielt auf die Anpassung des EU-Beihilferechts an die künftigen Anforderungen ab. So sollen Beihilfen in Zukunft stärker auf Forderungen von Wachstum und Beschäftigung gerichtet sein. Auch verfahrensrechtliche Änderungen sind geplant.
B.
Ausnahmen vom Beihilfeverbot (Art 107 Abs 2 und 3 AEUV)
Welche Beihilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar sind oder vereinbar erklärt werden können, legt der AEUV selbst bzw durch Genehmigungsermächtigungen an die Kommission fest. Nach Art 107 Abs 2 AEUV sind zum Beispiel soziale Beihilfen an einzelne Verbraucher, wenn sie ohne Diskriminierung nach der Herkunft der Waren gewährt werden, oder Beihilfen für Katastrophenfälle mit dem Binnenmarkt vereinbar. Staatliche Beihilfen können von der Kommission ausnahmsweise genehmigt werden.
Ferner können die in Art 107 Abs 3 lit a bis d AEUV genannten Beihilfen von der Kommission als mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden. Dabei handelt es sich insbesondere
um folgende Beihilfen: x
Beihilfen zur Förderung von wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten;
x
Beihilfen zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats;
x
Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete;
x
Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse oder
x
Beihilfen zur Förderung der Kultur und des kulturellen Erbes.
Näher konkretisiert werden diese Ausnahmen vom Beihilfeverbot durch Leitlinien der Kommission. Es besteht dazu eine reiche und sehr kasuistische Genehmigungspraxis der Kommission.
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In Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission ist schließlich vorgesehen, dass, unter anderem, auch sog De-minimis-Beihilfen (das sind Beihilfen, die weniger als 200.000 € pro Unternehmen für einen Zeitraum von drei Jahren betragen), bestimmte Beihilfen für kleinere und mittlere Unternehmen, bestimmte Regionalbeihilfen sowie Ausbildungsbeihilfen vom Beihilfeverbot ausgenommen sind (VO 68/2001, 1628/2006; 70/2001). Die De-minimisRegelungen beruhen auf der Annahme, dass diesen Betrag nicht übersteigende Beihilfen den Handel zwischen Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigen bzw den Wettbewerb nicht verfälschen.
C.
Das Verfahren der Beihilfeaufsicht
1.
Melde- und Genehmigungspflicht
Jede beabsichtigte Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe ist – unabhängig davon, ob sie mit dem Binnenmarkt vereinbar ist oder nicht – vom betreffenden Mitgliedstaat der Kommission zu melden (= zu notifizieren). Ausgenommen von der Anmeldepflicht sind nur die bereits erwähnten De-minimis-Beihilfen sowie sonstige Beihilfen, die von einer Gruppenfreistellungsverordnung erfasst sind. Nach erfolgter Anmeldung führt die Kommission eine Vorprüfung durch, um zu klären, ob die angemeldete Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist oder nicht. Kommt die Kommission zum erstgenannten Ergebnis, so teilt sie dies dem Mitgliedstaat mit. Kommt sie zum zweitgenannten Ergebnis, hat sie ein sog Hauptprüfungsverfahren Grundsätzlich müssen alle Beihilfen der Kommission gemeldet und von ihr einzuleiten. Dieses endet mit der Genehmigung der Beihilfe genehmigt werden. (allenfalls mit Auflagen) oder mit einem Verbot. Trifft die Kommission innerhalb von zwei Monaten keine Entscheidung, dann gilt sie als (stillschweigend) genehmigt, unterliegt aber als bestehende Beihilfe einer Überwachung durch die Kommission (siehe sogleich Punkt 2.). Solange eine Beihilfe der Kommission nicht gemeldet und von dieser nicht genehmigt wurde, darf sie vom Mitgliedstaat nicht eingeführt werden. Wird trotz des Beihilfeverbots eine staatliche Beihilfe ausbezahlt, dann kann die Kommission von dem betreffenden Mitgliedstaat die Aussetzung und Wiedereinziehung der Beihilfe verlangen. Es kann aber auch ein nichtsubventionierter Konkurrent vor den nationalen Gerichten die Rechtswidrigkeit der Beihilfe rügen und die Rückgängigmachung verlangen.
2.
Möglichkeit der Untersagung bestehender Beihilfen
Hinsichtlich bereits bestehender Beihilfen gilt ein anderes Kontrollsystem. Während neue Beihilfen – wie gerade erörtert – nicht gewährt werden dürfen, solange keine Genehmigung der Kommission erteilt wurde (Genehmigungssystem), sind Altbeihilfen werden von der Kommission bereits bestehende Beihilfen solange zulässig, bis sie von der (nur) überwacht. Kommission untersagt werden (Untersagungssystem). Bestehende Beihilfen sind solche, die ein Mitgliedstaat im Zeitpunkt seines Beitritts zur EU bereits gewährt hat (sog Altbeihilfen). Bestehende Beihilfen sind aber auch solche, die die Kommission bereits genehmigt hat.
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3.
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Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Kommission
Die Entscheidungen der Kommission können vom betroffenen Mitgliedstaat und von den am Hauptverfahren beteiligten Unternehmen bekämpft werden. Hiefür zuständig ist das Europäische Gericht. Gegen Urteile des EuG kann in weiterer Folge ein – auf Rechtsfragen beschränktes – Rechtsmittel beim EuGH eingelegt werden.
VII. Öffentliche Unternehmen und Wettbewerbsrecht Art 106 AEUV erlaubt die Existenz und den Betrieb von öffentlichen oder vom Staat privilegierten (weil mit ausschließlichen oder besonderen Rechten ausgestatteten) Unternehmen und anerkennt deren wichtigen Beitrag bei der Erfüllung von gemeinwirtschaftlichen Aufgaben im allgemeinen öffentlichen Interesse (zB Stromversorgung, Abfallbeseitigung, öffentlicher Verkehr etc). Jedoch unterscheidet das europäische Kartellrecht prinzipiell nicht zwischen privaten und öffentlichen Unternehmen, so dass die Wettbewerbsvorschriften grundsätzlich auch auf öffentliche Unternehmen Anwendung finden. Das bedeutet, dass Ausnahmen vom Wettbewerbsrecht unter bestimmten Voraussetzungen zwar möglich sind, diese vom EuGH in seiner Rechtsprechung allerdings sehr restriktiv ausgelegt werden. Zunächst ist es wichtig festzustellen, nach welchen Kriterien ein „öffentliches Unternehmen“ definiert wird. Da die Rechtsformen unternehmerischen Handelns in den Mitgliedstaaten durchaus unterschiedlich sein können und insbesondere auch das Gesellschaftsrecht nicht vollständig harmonisiert ist, können europäische Vorschriften nicht an bestimmten Rechtsformen anknüpfen, sondern müssen eine eigenständige Definition des Begriffs Unternehmen entwickeln. In diesem Sinn versteht der EuGH als „Unternehmen“ jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit. Wesentliches Element ist also die wirtschaftliche Tätigkeit, worunter das Anbieten von Waren und Dienstleistungen am Markt gegen Entgelt zu verstehen ist. In welcher Rechtsform (natürliche Person, juristische Person oder einfach „Magistratsabteilung“ der Gemeinde) die wirtschaftliche Tätigkeit durchgeführt wird und wie sie finanziert wird (aus öffentlichen oder privaten Geldern) ist für das Vorliegen eines „Unternehmens“ unerheblich.
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Europäisches Wettbewerbsrecht
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Als „öffentliche“, dh einem Mitgliedstaat zuzurechnende Unternehmen behandelt das europäische Wettbewerbsrecht insbesondere Unternehmen bei Vorliegen folgender Voraussetzungen, die sich wesentlich aus der sog „Transparenzrichtlinie“ ergeben: „Öffentlich“ ist – laut Transparenzrichtlinie – ein Unternehmen dann, wenn der Staat (Bund, Länder oder Gemeinden) auf Grund Eigentums, finanzieller Unternehmen, deren Geschäftsführung Beteiligung oder sonstiger Bestimmungen, die die Tätigkeit des der Staat steuern kann, sind öffentliche Unternehmens regeln (Mehrheit der Stimmrechte, oder die Unternehmen. Kompetenz, mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs, Leitungs- oder Aufsichtsorgans zu bestellen), unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss auf das Unternehmen ausüben kann. Der wesentliche Unterschied zu privaten Unternehmen liegt in der Fähigkeit der öffentlichen Hand, die Geschäftsführung unmittelbar zu steuern. Wesentlich ist zudem, ob das Unternehmen mit seiner Tätigkeit im ökonomischen Wettbewerb mit anderen Unternehmen steht. Öffentlichen Unternehmen werden häufig besondere oder ausschließliche Rechte verliehen, die als Ausgleich zur Erbringung bestimmter (sonst unprofitabler) Leistungen konzipiert sind oder die Gewährung eines gewissen Wettbewerbschutzes vor Konkurrenten darstellen. Art 106 Abs 1 AEUV verbietet den Mitgliedstaaten zunächst, in Bezug auf öffentliche Unternehmen sowie hinsichtlich jener Unternehmen, denen die Mitgliedstaaten besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, gegen das Diskriminierungsverbot und die europäischen Wettbewerbsvorschriften verstoßende Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten. Das richtet sich insbesondere auch gegen protektionistische Maßnahmen. Bsp: Ein Verstoß gegen das aus Art 106 Abs 1 AEUV folgende Missbrauchsverbot liegt nach der Rechtsprechung des EuGH etwa vor, wenn einem Unternehmen ein ausschließliches Recht zur Erbringung bestimmter Leistungen eingeräumt wird, dieses Unternehmen aber gar nicht in der Lage ist, die Nachfrage zu erfüllen. Damit werden nämlich jene Unternehmen vom Markt verdrängt, die die Nachfrage befriedigen könnten. In diesem Sinn hat der EuGH das ausschließliche Recht zur Vermittlung von Führungskräften, das der deutschen Bundesanstalt für Arbeit übertragen war, als gegen Art 106 Abs 1 AEUV verstoßend qualifiziert, weil diese Anstalt offenkundig nicht in der Lage war, die Nachfrage auf dem Markt nach Führungskräfteleistungen zu befriedigen. Art 106 Abs 2 AEUV legt in der Folge – in im Einzelnen sehr komplizierter Art und Weise – Folgendes fest: Grundsätzlich gilt das europäische Wettbewerbsrecht auch für öffentliche Unternehmen, und zwar auch dann, wenn diesen Unternehmen vom Mitgliedstaat aus Gründen etwa der Versorgungssicherung besondere oder ausschließliche Rechte eingeräumt sind. Voraussetzung ist, dass die erfassten Unternehmen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (dh zu Marktbedingungen) erbringen (zB Energieversorgung, Post, Telekom). Das Wettbewerbsrecht ist aber so weit nicht anwendbar, als diese besonderen oder ausschließlichen Rechte und deren Ausübung erforderlich sind, um konkrete Ziele, die „im Allgemeininteresse liegen müssen“, erfüllen zu können. Damit anerkennt Art 106 Abs 2 AEUV, dass besondere und ausschließliche Rechte an öffentliche Unternehmen, soweit sie zur Erreichung spezieller öffentlicher Interessen insbesondere der Versorgungssicherung erforderlich sind, als Ausnahme von den allgemeinen Wettbewerbsregeln zulässig sind. Im
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Einzelfall prüft diese Frage der EuGH im Rahmen einer komplexen Verhältnismäßigkeitsprüfung nach. Die häufigsten Anwendungsfälle des Art 106 Abs 2 AEUV in der Praxis betreffen die Ausnahme vom Beihilfenverbot in Hinblick auf die Finanzierung gemeinwirtschaftlicher Tätigkeiten. Diesbezüglich hat der EuGH in seiner Rechtsprechung vier Kriterien herausgeschält, die kumulativ erfüllt sein müssen, damit Ausgleichszahlungen an öffentliche Unternehmen für die Erbringung gemeinwirtschaftlicher Tätigkeiten keine Beihilfe darstellen und somit nicht gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen: 1. das begünstigte Unternehmen muss tatsächlich mit gemeinwirtschaftlicher Tätigkeit betraut sein und die Verpflichtungen müssen klar definiert sein; 2. die Parameter, anhand derer der Ausgleich berechnet wird, müssen zuvor objektiv und transparent aufgestellt sein; 3. der Ausgleich darf nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung (unter Berücksichtigung von Einnahmen und Gewinn) ganz oder teilweise zu decken; 4. die Höhe des Ausgleichs ist anhand der Kosten zu berechnen, welches ein wirtschaftlich gut geführtes Unternehmen hätte. Diese Analyse kann entfallen sofern das Unternehmen welches mit gemeinwirtschaftliche Tätigkeit betraut ist, im Rahmen eines öffentlichen Vergabeverfahrens ermittelt wurde; Ein Verstoß gegen das Beihilfeverbot des europäischen Wettbewerbsrechts kann etwa darin bestehen, dass der Staat als Eigentümer Eigenkapitalzuschüsse gewährt, die ein vernünftiger, marktkonform agierender Eigentümer nicht investieren würde.
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VIII. Weiterführende Literatur Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU3 (2010) Streinz, Europarecht8 (2008) Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht2 (2004)
IX. Wiederholungsfragen
Welche EU-Rechtsvorschriften richten sich gegen Beschränkungen des Wettbewerbsprinzips durch die Mitgliedstaaten und welche gegen Beschränkungen des Wettbewerbsprinzips durch private Unternehmen?
An wen richtet sich das Kartellverbot?
Warum sind Kartelle verboten?
Welche Handlungsformen von Unternehmen werden vom Kartellverbot erfasst?
Ist eigenständiges Parallelverhalten erlaubt?
Nennen Sie je zwei Beispiele für horizontale und vertikale Kartellabsprachen!
Was regelt die jeweilige De minimis Verordnung der Kommission im Kartellrecht?
Kann ein Unternehmer auf die Einhaltung einer Kartellabsprache klagen?
Wer vollzieht das europäische Kartellrecht?
Was sind Gruppenfreistellungsverordnungen?
Welche Änderungen im Kartell- und Missbrauchsverfahren sieht VO 1/2003 vor?
Verbietet der AEUV Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung?
Wie bestimmt sich der relevante Markt?
Wann hat ein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung?
Welche Arten von Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gibt es?
Wer überwacht Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung?
Was bezweckt die Fusionskontrolle?
Welche Formen des Zusammenschlusses gibt es?
Wann liegt ein Zusammenschluss von unionsweiter Bedeutung vor?
Wem müssen Zusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung angezeigt werden?
Was ist eine staatliche Beihilfe?
Warum sind staatliche Beihilfen verboten?
Nennen Sie drei Beispiele für staatliche Beihilfen!
Was versteht man unter der Pflicht zur Notifizierung von Beihilfen?
Unter welchen Voraussetzungen kann die Kommission Beihilfen genehmigen?
Was versteht man unter ‚öffentlichen Unternehmen’?
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Was verbietet Artikel 106 Abs 1 AEUV?
Unter welchen Bedingungen stellen Ausgleichszahlungen für gemeinwirtschaftliche Tätigkeiten keine Beihilfen dar?
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Lektion 7 GEWERBEANTRITT
Disco in der Wiener Innenstadt (Teil 1) Sie haben die Idee, in der Innenstadt von Wien ein Lokal zu eröffnen, das endlich so sein soll, wie Sie es sich schon immer vorgestellt haben. Nach Ihren Vorstellungen soll das Lokal eine Diskothek werden. In den Räumlichkeiten soll Platz für ca. 200 Gäste sein. Eine professionelle Musikanlage samt DJ soll für den richtigen Sound sorgen. Es ist geplant, dass sowohl Cocktails, Longdrinks als auch Bier, Wein, Schnaps und nichtalkoholische Getränke ausgeschenkt werden. Den Gästen sollen im hinteren Bereich des Lokals – etwas entfernt von der Tanzfläche – auch Speisen in Form von Suppen, Salaten, überbackenen Broten, Toasts und kleinen Hauptspeisen angeboten werden. An Räumlichkeiten sind ein großer Raum mit Tanzfläche und Bar, ein kleinerer Raum an der gegenüberliegenden Seite der Tanzfläche für die Verköstigung der Gäste, eine Küche, ein Vorraum mit Garderobe sowie sanitäre Einrichtungen geplant. Auf Ihren Streifzügen durch die Innenstadt ist Ihnen schon ein entsprechendes, leer stehendes Lokal ins Auge gefallen. Mit dem Eigentümer haben Sie sich bereits geeinigt. Da Sie fünf Jahre lang eine Höhere Lehranstalt für Tourismus (HBLA) mit Erfolg besucht und im Zuge dieser Ausbildung ein fünfmonatiges Praktikum absolviert haben, fühlen Sie sich für das Vorhaben „Disco in der Wiener Innenstadt“ bestens geeignet. Nun gilt es, die rechtlichen Fragen zu klären: Für Fragen des Zivilrechts etc hat sich einer Ihrer Freunde für zuständig erklärt. Die Klärung der öffentlich-rechtlichen Fragen bleibt allerdings an Ihnen „hängen“. Sie stellen sich daher die Frage, welche Behördenwege notwendig und welche gesetzlichen Regelungen zu beachten sind. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Wozu braucht man eine Gewerbeordnung? Was ist ein Gewerbe? Welche Voraussetzungen müssen Sie erfüllen, um ein Gewerbe ausüben zu dürfen? Welche Rechte und Pflichten sind mit der Ausübung eines Gewerbes verbunden?
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Inhalt: Die Gewerbeordnung 1994. Was regelt sie und worauf zielt sie ab? ............... 199 Für welche Tätigkeiten gilt die GewO?................................................................ 199 Gewerbsmäßigkeit .................................................................................................. 200 Selbständigkeit ........................................................................................................ 200 Regelmäßigkeit ....................................................................................................... 200 Ertragsabsicht ......................................................................................................... 200 Keine verbotene Tätigkeit........................................................................................ 201 Ausnahmen ............................................................................................................. 202 Welche Gewerbearten gibt es? ............................................................................ 203 Reglementierte Gewerbe, Teilgewerbe und freie Gewerbe .................................... 204 Anmeldungspflichtige und sensible Gewerbe.......................................................... 205 Gewerbeausübung als Industriebetrieb................................................................... 207 Unter welchen Voraussetzungen darf ein Gewerbe ausgeübt werden? .......... 208 Die allgemeinen Voraussetzungen.......................................................................... 208 Gewerberechtliche Handlungsfähigkeit ................................................................... 208 Unbescholtenheit..................................................................................................... 208 Österreichische bzw gleichgestellte Staatsbürgerschaft oder legaler Aufenthalt im Inland....................................................................................................................... 209 B. Die besonderen Voraussetzungen .......................................................................... 210 1. Befähigungsnachweis ............................................................................................. 210 2. Zuverlässigkeit ........................................................................................................ 211 3. Weitere Bedingungen .............................................................................................. 211 V. Wozu und wen ermächtigen Gewerbeberechtigungen?.................................... 212 A. Umfang der Gewerbeberechtigung ......................................................................... 212 1. Allgemeines ............................................................................................................. 212 2. Nebenrechte ............................................................................................................ 212 3. Für welchen örtlichen Bereich gelten Gewerbeberechtigungen? ............................ 215 B. Wen berechtigen Gewerbeberechtigungen? ........................................................... 215 C. Der gewerberechtliche Geschäftsführer .................................................................. 216 VI. Wann erlöschen Gewerbeberechtigungen? ....................................................... 216 VII. Weiterführende Literatur....................................................................................... 218 VIII. Wiederholungsfragen............................................................................................ 218 I. II. A. 1. 2. 3. B. C. III. A. B. C. IV. A. 1. 2. 3.
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I.
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Die Gewerbeordnung 1994. Was regelt sie und worauf zielt sie ab?
Die österreichische Bundesverfassung garantiert in ihrem Art 6 1867) allen Staatsbürgern die Freiheit, jeden Erwerbszweig – sei es selbständig (zB Unternehmer) oder unselbständig (zB Angestellter) – auszuüben. Dies allerdings nur „unter den gesetzlichen Bedingungen“.
Staatsgrundgesetz (StGG Ziele der GewO: Qualitätssicherung Gefahrenabwehr Konsumentenschutz
Erwerbsbetätigungen sind also nicht völlig frei, sondern können vom Gesetzgeber reglementiert werden. Tatsächlich findet sich eine Reihe derartiger gesetzlicher Vorschriften. Unter den zahlreichen Gesetzen, die den Antritt selbständiger Erwerbstätigkeit regeln und Ausübungsvorschriften vor allem branchen- oder berufsspezifischer Natur enthalten, nimmt die Gewerbeordnung (GewO) eine zentrale Stellung ein. Es handelt sich dabei um ein Bundesgesetz, dessen Stammfassung aus dem Jahr 1994 (BGBl 1994/194) stammt und das seither vielfach novelliert wurde. Die Gewerbeordnung versucht die Vielzahl an erwerbswirtschaftlichen Tätigkeiten in geordnete Bahnen zu lenken. Ihr Ziel ist es, die Qualität der angebotenen Leistungen zu fördern und etwaige, von den Gewerben ausgehende Gefahren abzuwehren. Daher verlangt die GewO etwa für den Antritt eines Gewerbes den Nachweis fachlicher Eignung und gewährt so grundsätzlich nur qualifizierten Fachleuten den Zugang zum jeweiligen Markt. Damit soll Qualität im Wettbewerb gefördert werden („Wettbewerb unter Qualifizierten“). Neben dem Antritt wird auch die Ausübung der Gewerbe geregelt, um mögliche Gefahren für Kunden, Nachbarn, den Gewerbetreibenden selbst oder sonst betroffene Personen abzuwehren und den Schutz der Konsumenten zu gewährleisten. Die Vorschriften der GewO betreffen einerseits die Ausübung gewerblicher Erwerbstätigkeiten allgemein, andererseits enthalten sie für einzelne Gewerbe auch detailliertere Regelungen.
II.
Für welche Tätigkeiten gilt die GewO?
Die GewO gilt nicht für sämtliche, sondern nur für bestimmte Erwerbstätigkeiten, nämlich für x
alle gewerbsmäßig ausgeübten und
x
nicht gesetzlich verbotenen Tätigkeiten, soweit sie
x
nicht durch die §§ 2 bis 4 ausgenommen sind (§ 1 Abs 1 GewO).
Es müssen also drei Voraussetzungen erfüllt sein, damit die GewO zur Anwendung kommt. Ist eine Voraussetzung nicht erfüllt, so unterliegt die betreffende Tätigkeit nicht der GewO und es besteht keine Pflicht zur Anmeldung eines Gewerbes oder zur Einholung einer Betriebsanlagengenehmigung (Ausnahme wiederum: dies wird in speziellen Gesetzen wie zB dem Gelegenheitsverkehrsgesetz bzw dem Berufsausbildungsgesetz verlangt). Die Frage, ob eine Tätigkeit der GewO unterliegt oder nicht, hat also weitreichende Konsequenzen.
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A.
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Gewerbsmäßigkeit
Gewerbsmäßig wird eine Tätigkeit dann ausgeübt, wenn sie
1.
x
selbständig,
x
regelmäßig und
x
in der Absicht betrieben wird, einen Ertrag oder sonstigen wirtschaftlichen Vorteil zu erzielen, gleichgültig für welche Zwecke dieser bestimmt ist (§ 1 Abs 2 GewO).
Selbständigkeit
Selbständig wird eine Tätigkeit dann ausgeübt, wenn sie auf eigene Rechnung und Gefahr ausgeübt wird. Der Selbständige trägt also das geschäftliche Risiko: Er bekommt den ganzen Gewinn, muss aber auch für den Verlust einstehen. Dadurch unterscheidet er sich vom unselbständigen Arbeitnehmer: für diesen manifestiert sich das geschäftliche Risiko „lediglich“ mittelbar in der Gefahr, die Arbeitsstelle zu verlieren. Den Verlust schlechter Wirtschaftsführung in seiner gesamten finanziellen Dimension trägt er jedoch nicht. Des Weiteren hat der Unselbständige von seinem Vorgesetzten gegebenenfalls Weisungen entgegennehmen und diese zu befolgen, wogegen der Selbständige sein „eigener Chef“ ist. Wirtschaftliche Abhängigkeit schließt Selbständigkeit nicht unbedingt aus. Wenn zum Beispiel ein Gewerbetreibender nur für einen einzigen Auftraggeber tätig und insoweit von diesem wirtschaftlich abhängig ist, so kann er dennoch selbständig tätig iSd § 1 Abs 3 GewO sein. Bsp: Herr X designt Homepages nur für einen einzigen Kunden. Er ist trotz der wirtschaftlichen Abhängigkeit von diesem selbständig tätig, da er auf eigene Rechnung und Gefahr tätig wird.
2.
Regelmäßigkeit
Regelmäßig ist eine Tätigkeit, wenn sie wiederkehrend vorgenommen wird. Es gilt aber auch schon eine einmalige Tätigkeit als regelmäßig, wenn nach den Umständen des Falles (objektiv!) auf Wiederholungsabsicht geschlossen werden kann oder wenn sie längere Zeit erfordert, wie es etwa bei Bauarbeiten der Fall sein kann. Das Anbieten einer den Gegenstand eines Gewerbes bildenden Tätigkeit an einen größeren Kreis von Personen (zB Inserat) wird der Ausübung des Gewerbes gleichgehalten (vgl § 1 Abs 4 GewO).
3.
Ertragsabsicht
Als Ertragsabsicht wird die Absicht bezeichnet, einen Ertrag oder sonstigen wirtschaftlichen Vorteil, dh Gewinn, zu erzielen. Dass dieser Ertrag tatsächlich Die GewO gilt für gewerbsmäßig (= selbständig, regelmäßig und in Geerzielt wird, ist nicht erforderlich: Es genügt die Absicht, einen winnabsicht) ausgeübte Tätigkeiten. solchen zu erwirtschaften. Das Anbieten von Waren und Dienstleistungen gegen Entgelt bedeutet nicht automatisch, dass eine Ertragserzielungsabsicht vorliegt.
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Bsp: Eine karitative Einrichtung bietet Waren ausschließlich zum Selbstkostenpreis an. Mangels Gewinnabsicht handelt es sich dabei um keine gewerbliche Tätigkeit. Umgekehrt bedeutet aber das Anbieten von Waren und Dienstleistungen gegen ein variables Entgelt nicht notwendiger Weise, dass die Ertragserzielungsabsicht fehlt. Bsp: Führt ein Restaurant ein sog. „pay as you wish“-System ein, bei dem der Kunde lediglich jenen Betrag bezahlt, den ihm das konsumierte Essen und der Service wert sind, so wird man von einer Ertragsabsicht ausgehen müssen: in mehreren Pilotprojekten fand man heraus, dass Kunden oft sogar mehr zahlen, wenn ihnen die Festsetzung des Preises anheimgestellt wird. Betriebe, welche nun ein solches System einführen, tun dies gerade aufgrund dieser Erkenntnis – sie erhoffen sich einen wirtschaftlichen Vorteil durch die oftmals besser zahlenden Kunden. Daher ist bei „pay as you wish“Systemen entgegen dem ersten Anschein ebenso von einer Ertragsabsicht auszugehen. Bei Vereinen, die nach dem Vereinsgesetz gegründet worden sind (sog ideelle bzw nicht auf Gewinn gerichtete Vereine), kann die Frage nach dem Vorliegen von Ertragsabsicht mitunter schwierig zu beantworten sein. Nach § 1 Abs 6 GewO handeln ideelle Vereine dann mit Gewinnabsicht, wenn die Vereinstätigkeit das Erscheinungsbild eines einschlägigen Gewerbebetriebes aufweist und auf Erlangung vermögensrechtlicher Vorteile für die Vereinsmitglieder gerichtet ist. Bsp: Ein Reiseverein veranstaltet oder vermittelt zu günstigen Konditionen Reisen seiner Mitglieder. Übt ein Verein eine an sich der GewO unterliegende Tätigkeit öfter als einmal in der Woche aus, so wird die Ertragsabsicht vermutet. Bsp: Ein Sportverein schenkt täglich in einer eigenen Kantine an die Mitglieder Getränke zu günstigen Preisen aus und finanziert damit den Ankauf neuer Sportbekleidung. Da diese Tätigkeit öfter als einmal in der Woche ausgeübt wird, unterliegt das Betreiben der Kantine durch den Sportverein den Vorschriften der GewO.
B.
Keine verbotene Tätigkeit
Für gesetzlich verbotene Tätigkeiten, wie etwa Drogenhandel, Vermietung von Mautvignetten oder Hehlerei, kann man keine Gewerbeberechtigung erhalten. Dies gilt jedoch nur, wenn die Tätigkeit als solche verboten ist. Der Verstoß gegen einzelne Rechtsvorschriften im Zuge der Ausübung einer an sich erlaubten Tätigkeit spricht hingegen nicht gegen ihre Gewerbsmäßigkeit iSd GewO. Bsp: Ein Fleischhauer verkauft geschmuggeltes oder gewildertes Fleisch. Ein Bäcker verkauft seine Waren außerhalb der gesetzlich erlaubten Ladenöffnungszeiten. Ein Goldschmied schließt vereinzelt Wuchergeschäfte ab, indem er unwissenden Kunden wertlose Falschware zum üblichen Schmuckpreis verkauft.
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C.
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Ausnahmen
Wenn eine der Ausnahmen der §§ 2 bis 4 GewO zutrifft, unterliegt die betreffende gewerbsmäßig ausgeübte Tätigkeit nicht der GewO, dh die Regelungen der GewO kommen nicht zur Anwendung. Für diese nicht der GewO unterliegenden Nicht alle gewerbsmäßig ausgeübten Tätigkeiten bestehen Sondergesetze, die spezielle Regelungen Tätigkeiten werden von der GewO erfasst. für den jeweiligen Berufsstand normieren. Der Grund für den Ausschluss der Anwendbarkeit der GewO liegt zumeist darin, dass die allgemeinen Bestimmungen der GewO für die genaue Reglementierung dieser Tätigkeiten nicht ausreichen (zB Banken, Versicherungen, Rechtsanwälte, Notare, Ziviltechniker, Ärzte, etc). Daneben darf der Bundesgesetzgeber aufgrund der Kompetenzverteilung unter Berufung auf die Kompetenzgrundlage „Angelegenheiten des Gewerbes“ keine Sachverhalte regeln, deren Regelung den Ländern vorbehalten ist (zB Landwirtschaft, Berg- und Schiführer, Privatzimmervermietung, Kinos und Veranstaltungsbetriebe, etc). Auch diese Angelegenheiten fallen daher nicht in den Anwendungsbereich der GewO.
Zunächst wollen Sie natürlich wissen, ob Sie überhaupt die Vorschriften der GewO beachten müssen. Sie müssen daher prüfen, ob die GewO auf Ihr Vorhaben Anwendung findet. Mit anderen Worten: Sie müssen feststellen, ob das Betreiben einer Disco von der GewO erfasst wird. Ihre Tätigkeit soll das Bewirten von Gästen sein. Sie müssen prüfen, ob alle Voraussetzungen (juristisch ausgedrückt: alle Tatbestandselemente), die in der GewO für das Vorliegen eines Gewerbes vorgesehen sind, vorliegen. 1. Selbständigkeit: Sie wollen das Lokal allein betreiben, Sie bekommen den ganzen Gewinn, müssen aber auch einen möglichen Verlust allein tragen. Sie sind Ihr eigener Boss. Selbständigkeit ist demnach gegeben. 2. Regelmäßigkeit: Sie wollen das Lokal regelmäßig über mehrere Jahre hinweg und nicht bloß eine kurze Zeit lang (zB für ein Wochenende) betreiben. Regelmäßigkeit ist also auch gegeben. 3. Natürlich wollen Sie mit ihrem Lokal einen Ertrag erwirtschaften, also einen Gewinn erzielen. Ertragsabsicht liegt demnach auch vor. 4. Das Bewirtschaften eines Lokals ist in Österreich gesetzlich nicht verboten, damit ist es erlaubt. 5. Das Bewirtschaften eines Lokals fällt nicht unter die Ausnahmen der §§ 2 - 4 GewO. Ergebnis: Ihre Tätigkeit – das Bewirtschaften eines Lokals – fällt unter die GewO.
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III. Welche Gewerbearten gibt es? Unterliegt eine konkrete Tätigkeit der Gewerbeordnung, so kann man in einem weiteren Schritt – je nach Gesichtspunkt (Befähigungsnachweis, Zuverlässigkeitsprüfung, Betriebsbeschaffenheit) – zwischen verschiedenen Gewerbearten unterscheiden. Für alle Gewerbearten ist dabei die Erfüllung allgemeiner Voraussetzungen notwendig (siehe IV.A.). Nur für
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manche Gewerbearten benötigen Sie zusätzlich bestimmte besondere Voraussetzungen (siehe IV.B.).
A.
Reglementierte Gewerbe, Teilgewerbe und freie Gewerbe
Je nachdem, ob zur Ausübung eines bestimmten Gewerbes ein Befähigungsnachweis erforderlich ist und wie dieser zu erbringen ist, unterscheidet die GewO zwischen reglementierten Gewerben, Teilgewerben und freien Gewerben; ferner innerhalb der Kategorie der reglementierten Gewerbe zwischen „normalen“ reglementierten Gewerben, Handwerken und verbundenen Gewerben. x
Die reglementierten Gewerbe werden in § 94 GewO in einer eigenen Liste aufgezählt: zB Arbeitsvermittlung, Tischler, Metalltechnik, Ingenieurbüros, Gastgewerbe, Kosmetik (Schönheitspflege), Lebensund Bei reglementierten Gewerben muss ein Sozialberatung, Fremdenführer, Reisebüros, etc Um ein Befähigungsnachweis erbracht werden, bei freien Gewerben nicht. reglementiertes Gewerbe ausüben zu dürfen, muss neben der Erfüllung allgemeiner Voraussetzungen ein Befähigungsnachweis erbracht werden (§ 18 GewO). Unter einem Befähigungsnachweis versteht man den Nachweis der Befähigung für das jeweilige Gewerbe, etwa durch Vorlage eines entsprechenden Abschlusszeugnisses (Näheres dazu unter IV.B.). o
In der Liste der reglementierten Gewerbe werden einige der angeführten Tätigkeitsfelder als Handwerke bezeichnet: zB Augenoptik, Bäcker, Dachdecker, Fleischer, Friseur und Perückenmacher (Stylist), Rauchfangkehrer, Schuhmacher, Uhrmacher, Zahntechniker etc Für diese ist der Befähigungsnachweis in der Regel durch Ablegung der sog Meisterprüfung zu erbringen.
o
Einzelne Handwerke werden in § 94 GewO als verbundene Handwerke bezeichnet. Dabei handelt es sich um Tätigkeitsfelder, die sich aus zwei oder mehreren Gewerben mit besonders engem fachlichem Zusammenhang zusammensetzen. Wird ein Befähigungsnachweis für ein Gewerbe, das zu einem verbundenen Gewerbe gehört, in vollem Umfang erbracht, so dürfen auch die Leistungen der anderen Gewerbe, aus denen sich das verbundene Gewerbe zusammensetzt, erbracht werden (§ 30 GewO).
Bsp: Wer eine Meisterprüfung als Tischler ablegt, darf auch gewerblich als Bootbauer oder Bildhauer tätig werden (vgl § 94 Z 71 GewO); Gewerbeberechtigungen von Gärtnern umfassen auch Tätigkeiten als Blumenbinder (vgl § 94 Z 24 GewO). x
Einen Sonderfall stellen die sog Teilgewerbe dar. Teilgewerbe umfassen Tätigkeiten eines reglementierten Gewerbes, deren selbständige Ausführung auch von Personen erwartet werden kann, die die Befähigung hierfür auf vereinfachte Art (Lehrabschluss, einschlägige Tätigkeit, etc) nachweisen (§ 31 Abs 2 - 4 GewO). Welche der in § 94 GewO genannten Gewerbe als Teilgewerbe gelten und wie für diese der „reduzierte“ Befähigungsnachweis zu erbringen ist, bestimmt der zuständige Bundesminister per
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Verordnung. Da Teilgewerbe auf die Liste des § 94 GewO zurückgreifen, sind sie keine eigene Gewerbeart. Bsp: Autoverglasung, Zusammenbau von Möbelbausätzen. x
Alle anderen Gewerbe sind freie Gewerbe: zB Handelsgewerbe (ausgenommen der Handel mit Medizinprodukten und Handelstätigkeiten, die ausdrücklich Bestandteil eines reglementierten Gewerbes sind, wie zB Waffenhandel), Werbeagenturen, Gewerbe der Dienstleistungen in der automatischen Datenverarbeitung und Informationstechnik etc Bei ihnen besteht keine Pflicht zur Vorlage eines Befähigungsnachweises (§ 5 Abs 2 GewO). Die GewO enthält allerdings für einzelne freie Gewerbe spezielle Ausübungsvorschriften (zB für Adressverlage und Direktmarketingunternehmen, Handelsgewerbe, Tankstellen, vgl § 151 ff GewO).
Beachte: Wird eine gewerbliche Tätigkeit in Form eines Industriebetriebes nach § 7 GewO ausgeübt, so bedarf es in der Regel (beachte aber § 7 Abs 5 GewO) wiederum keines Befähigungsnachweises (siehe unten III.C.).
B.
Anmeldungspflichtige und sensible Gewerbe
Im Anschluss an die Frage nach einem allenfalls zu erbringenden Befähigungsnachweis, ist zusätzlich zu untersuchen, ob zur Ausübung eines konkreten Gewerbes die bloße Anmeldung oder aber noch zusätzlich eine Zuverlässigkeitsprüfung vorgeschrieben ist. Auch anhand dieses Kriteriums kann man daher die unterschiedlichen Gewerbe unterteilen, nämlich in (bloße) Anmeldungsgewerbe einerseits und sensible Gewerbe (= besonders zulassungspflichtige Gewerbe) andererseits. Gemäß § 5 Abs 1 GewO dürfen Gewerbe bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen (Näheres dazu unter IV.) auf Grund der Anmeldung des betreffenden (reglementierten oder freien) Gewerbes bei der Gewerbebehörde ausgeübt werden. Anmeldung bedeutet, dass die Gewerbebehörde davon verständigt wird, dass nun ein bestimmtes Gewerbe ausgeübt werden soll. Die Anmeldung hat die genaue Bezeichnung des Gewerbes und des für die Ausübung in Aussicht genommenen Standortes zu enthalten. Des Weiteren sind diverse Belege (zB betreffend Name, Staatsangehörigkeit, allenfalls Befähigung, etc) anzuschließen. Liegen die Voraussetzungen für die Ausübung des Gewerbes vor, so trägt die Gewerbebehörde den Anmelder in das – Begründung aller Gewerbe durch elektronisch geführte – Gewerberegister ein. Der Anmelder wird Anmeldung. Bei einigen reglementierten Gewerben ist zusätzlich noch eine durch Übermittlung eines Auszugs aus dem Gewerberegister Zuverlässigkeitsprüfung vorgesehen. von der Eintragung verständigt (§ 340 Abs 1 GewO). Wer die Anmeldung unterlässt, macht sich verwaltungsrechtlich strafbar (§ 366 Abs 1 Z 1 GewO: Geldstrafe bis zu 3.600 €). Liegen die Voraussetzungen nicht vor, so wird dies von der Gewerbebehörde mit Bescheid festgestellt und die Ausübung des Gewerbes untersagt. Bsp: Piercen und Tätowieren sind dem Gewerbe der Kosmetik (Schönheitspflege) vorbehalten (§ 109 Abs 3 GewO). Da dieses ein reglementiertes Gewerbe ist (§ 94 Z
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42 GewO), bedarf es eines Befähigungsnachweises (§ 18 GewO). Ausgeübt werden darf das Gewerbe auf Grund der Anmeldung bei der Gewerbebehörde. Bei einigen reglementierten Gewerben bedarf es neben der Anmeldung zusätzlich noch einer Zuverlässigkeitsprüfung – man spricht von sensiblen Gewerben. Sie werden in § 95 GewO aufgelistet (zB Baumeister, chemische Laboratorien, Pyrotechnikunternehmen, Gas- und Sanitärtechnik, Reisebüros, Vermögensberatung, etc). Bei ihnen ist aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, des Schutzes von Leben und Gesundheit, des Konsumentenschutzes etc das Vorliegen der an sich während der gesamten Gewerbeausübung erforderlichen Zuverlässigkeit des Bewerbers bereits vor Gewerbeantritt von der Behörde anlässlich der Gewerbeanmeldung zu überprüfen. Sind die Voraussetzungen für die Ausübung eines angemeldeten sensiblen Gewerbes erfüllt, so stellt die Gewerbebehörde dies mittels Bescheid fest. Erwächst dieser in Rechtskraft (Näheres zur Rechtskraft in L 9, II.C.3.e), so trägt die Behörde den Anmelder in das Gewerberegister ein (§ 340 Abs 2 GewO). Der Anmelder darf mit der Gewerbeausübung erst mit der Rechtskraft des Bescheides beginnen, was im Ergebnis auf eine behördliche Zulassung hinausläuft. Besonderes gilt für das Waffengewerbe. Bei diesem müssen nämlich für die Erteilung einer Gewerbeberechtigung zusätzlich zur Überprüfung der Zuverlässigkeit des Bewerbers noch weitere besondere Voraussetzungen erfüllt sein (vgl §§ 139 ff GewO). In Angelegenheiten des Gewerberechts entscheidet in erster Instanz die Bezirksverwaltungsbehörde (BVB), also der Bezirkshauptmann (BH) und – in Städten mit eigenem Statut – der Bürgermeister bzw der Magistrat (§ 333 GewO). Berufungsinstanz in Gewerbesachen ist der LH. Zur Erteilung einer Gewerbeberechtigung für Waffengewerbe betreffend militärische Waffen ist jedoch der Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Inneres zuständig (§ 148 GewO).
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Da das Gastgewerbe ein reglementiertes Gewerbe ist (§ 94 Z 26 GewO), müssen Sie neben den allgemeinen auch noch besondere Voraussetzungen (Befähigungsnachweis, siehe dazu unten IV.B.1) erfüllen, damit Sie im Gastgewerbe tätig sein dürfen. Das Gastgewerbe ist ein Anmeldegewerbe (da das Gastgewerbe kein sensibles Gewerbe im Sinne des § 95 GewO ist, bedarf es keiner weiteren Zuverlässigkeitsprüfung). Das bedeutet, Sie müssen die geplante Ausübung dieses Gewerbes bei der Gewerbebehörde anmelden; da sich das Lokal in Wien befindet, ist der Magistrat der Stadt Wien zuständig. Würden Sie Ihr Lokal ohne Anmeldung eröffnen, müssten Sie mit einer Verwaltungsstrafe rechnen.
Gewerbe
Unterscheidungskriterium
§ 94 GewO
Befähigungsnachweis
Unterscheidungskriterium
§ 95 GewO
Zuverlässigkeitsprüfung
C.
freie
reglementierte
nein
ja Anmeldegewerbe nein
Sensible Gewerbe ja
Gewerbeausübung als Industriebetrieb
Schließlich kennt die GewO hinsichtlich der Betriebsbeschaffenheit eine besondere Art der Gewerbeausübung: den Industriebetrieb. Ein solcher zeichnet sich unter anderem durch hohen Kapital- und Maschineneinsatz, serienmäßige Produktion, Kein Befähigungsnachweis für Industgrößere Zahl an ständig beschäftigten Arbeitnehmern sowie riebetriebe nötig organisatorische Trennung von technischer und kaufmännischer Führung aus (§ 7 Abs 1 GewO). Es kommt dabei auf das Gesamtbild des Betriebes an. Es müssen also – entsprechend einer typisierenden Betrachtung– nicht alle genannten Merkmale und diese nicht gleich stark ausgeprägt vorhanden sein. Die Qualifikation eines Gewerbebetriebs als Industriebetrieb ist insofern von Bedeutung, als für Gewerbe, die in Form eines Industriebetriebes ausgeübt werden, kein Befähigungsnach-
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weis erforderlich ist, es sei denn, es liegt eines der in § 7 Abs 5 GewO aufgezählten Gewerbe (Baumeister, Herstellung von Arzneimitteln und Giften, Waffengewerbe, etc) vor. Der Sinn dieser Regelung liegt darin, dass Industriebetriebe in der Regel so groß sind, dass der Gewerbeinhaber ohnehin keinen prägenden Einfluss auf die gewerbliche Tätigkeit hat, ein von ihm vorgelegter Befähigungsnachweis also nicht viel Sinn machen würde. Einige Gewerbe, wie das Handelsgewerbe oder das Tourismusgewerbe, können nicht industriemäßig ausgeübt werden.
IV. Unter welchen Voraussetzungen darf ein Gewerbe ausgeübt werden? Um ein Gewerbe ausüben zu dürfen, müssen sowohl allgemeine als auch besondere Voraussetzungen erfüllt werden. Freie Gewerbe können im Regelfall ohne besondere Voraussetzungen ausgeübt werden.
A.
Die allgemeinen Voraussetzungen
1.
Gewerberechtliche Handlungsfähigkeit x
x
2.
Gem § 8 GewO müssen natürliche Personen eigenberechtigt sein, dh o
sie müssen grundsätzlich volljährig sein (dh das 18. Lebensjahr vollendet haben)
o
und dürfen nicht unter Sachwalterschaft stehen.
Juristische Personen, dh zB Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) oder Aktiengesellschaften (AG), müssen einen Geschäftsführer bestellen, um gewerberechtlich handlungsfähig zu sein (§ 9 Abs 1 GewO).
Unbescholtenheit
Von der Ausübung eines Gewerbes ausgeschlossen sind nach § 13 GewO insbesondere x
Personen, die wegen betrügerischen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen und Zuschlägen nach dem Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungsgesetz (§ 153d StGB), organisierter Schwarzarbeit (§ 153e StGB), oder Kridadelikten (§§ 156 - 159 StGB) verurteilt wurden (unabhängig von Art und Höhe der Strafe).
x
Personen, die wegen sonstiger Straftaten zu einer drei Monate übersteigenden Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe von mehr als 180 Tagessätzen von einem Gericht verurteilt wurden, sofern die Verurteilung noch nicht getilgt ist etc,
x
Von der Ausübung des Gastgewerbes sind Personen ausgeschlossen, gegen die eine nicht getilgte gerichtliche Verurteilung wegen bestimmter Suchtgiftdelikte (Handel mit Suchtmitteln und psychotropen Stoffen, vgl §§ 28 - 31a SMG) vorliegt.
x
Personen, die wegen bestimmter Finanzvergehen mit Geldstrafe von mehr als 726 € oder mit Geld- und Freiheitsstrafe bestraft wurden, wenn seit der Bestrafung noch nicht fünf Jahre vergangen sind,
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x
Personen, denen die Gewerbeberechtigung entzogen wurde, sowie
x
Personen, deren Vermögen nicht mehr ausreicht, um die Kosten des Konkursverfahrens abzudecken. Die Eröffnung des Konkurses über das Vermögen des Antragstellers ist dagegen noch kein Gewerbeausschlussgrund.
Österreichische bzw gleichgestellte Staatsbürgerschaft oder legaler Aufenthalt im Inland
Die Erwerbsfreiheit ist ihrem Wortlaut nach ein Staatsbürgerrecht und gewährt daher nur Österreichern die Freiheit, jeden Erwerbszweig auszuüben. Gewerbe dürfen allerdings gem. § 14 GewO auch von Ausländern ausgeübt werden, sofern dies Nicht nur Österreicher dürfen ein Gewerbe ausüben. in Staatsverträgen festgelegt worden ist. Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union (Näheres zur EU in LE 3 und 5) dürfen aufgrund des für den Binnenmarkt der EU geltenden europarechtlichen Verbots der Schlechterstellung aus Gründen der Staatsangehörigkeit Gewerbe überhaupt wie Inländer ausüben. Durch den Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) wurde der Binnenmarkt der EU auf die Vertragsstaaten des EWR ausgedehnt, weshalb auch Staatsbürger Norwegens, Islands und Liechtensteins (als Nicht-EU-Mitglieder) Unionsbürgern hinsichtlich der sog Grundfreiheiten des Binnenmarktes (Warenverkehrsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungs-, Dienstleistungs-, Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit) grundsätzlich gleichgestellt sind. Im VI. Hauptstück der GewO finden sich Bestimmungen, die die vorübergehende grenzüberschreitende Dienstleistung im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit und die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen im Rahmen der Niederlassungsfreiheit näher regeln. Für Schweizer Staatsangehörige und Gesellschaften nach schweizerischem Recht trifft § 373b GewO eine Sonderregelung. Im Übrigen setzt bei Ausländern das Recht zur Ausübung eines Gewerbes deren legalen Aufenthalt in Österreich und einen Aufenthaltszweck, der die Erwerbstätigkeit zulässt, voraus (§ 14 Abs 1 GewO). Juristische Personen müssen ihren Sitz oder ihre Niederlassung im Inland haben (§ 14 Abs 4 GewO). Gesellschaften mit Sitz oder Niederlassung in einem EWR-Mitgliedstaat dürfen jedoch im Rahmen der Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit bestellte gewerbliche Arbeiten in Österreich unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer ausführen. Sie müssen prüfen, ob Sie die allgemeinen Voraussetzungen erfüllen: 1. Sie sind über 18 Jahre alt und stehen nicht unter Sachwalterschaft, damit sind Sie gewerberechtlich handlungsfähig. 2. Da Sie nicht wegen einschlägiger Straftaten verurteilt worden sind und Ihnen auch nicht eine Gewerbeberechtigung entzogen worden ist, sind Sie unbescholten. 3. Sie müssen die Staatsbürgerschaft Österreichs bzw eines EU/EWR- Mitgliedstaates besitzen. Als sonstiger (Drittlands)ausländer müssen Sie sich in Österreich legal aufhalten und es muss einen Aufenthaltszweck geben, der die Erwerbstätigkeit zulässt, um das Gastgewerbe ausüben zu dürfen.
210
B.
Gewerbeantritt
LE 7
Die besonderen Voraussetzungen
Neben den obigen allgemeinen Voraussetzungen schreibt die GewO für den Antritt bestimmter Gewerbe die Erfüllung weiterer, besonderer Voraussetzungen vor.
1.
Befähigungsnachweis
Um ein reglementiertes Gewerbe antreten zu können, müssen die fachlichen, insbesondere auch kaufmännischen (= betriebswirtschaftlichen und rechtlichen) Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen zur selbständigen Ausführung der betreffenden Tätigkeit nachgewiesen werden (§ 16 GewO). Dies geschieht durch den sog Befähigungsnachweis = Nachweis der fachlichen, einschließlich der kaufmänBefähigungsnachweis, der einen hohen Leistungsstandard, nischen ( = betriebswirtschaftlichen und aber auch die Sicherheit der Konsumenten sicherstellen soll. rechtlichen) Kenntnisse Bei juristischen Personen hat der Geschäftsführer den entsprechenden Nachweis zu erbringen. Auch natürliche Personen können den Befähigungsnachweis durch einen Geschäftsführer erbringen lassen (Näheres dazu unter V.C). Der Befähigungsnachweis kann auf folgende Arten erbracht werden: x
Für die einzelnen reglementierten Gewerbe legt der zuständige Bundesminister mittels Verordnung bestimmte Zugangswege fest, bei deren Nachweis die fachliche Qualifikation jedenfalls als erbracht anzusehen ist (sog genereller Befähigungsnachweis). Als Belege sind dabei zB vorgesehen: Zeugnisse über erfolgreich abgelegte Meisterprüfungen bei den Handwerken, Zeugnisse über erfolgreich abgelegte Unternehmerprüfungen, Zeugnisse über den erfolgreichen Besuch einer Schule oder eines Lehrganges, Zeugnisse über erfolgreich abgelegte Lehrabschlussprüfungen, Zeugnisse über eine Tätigkeit in leitender Stellung oder als Betriebsleiter, Nachweise über eine Tätigkeit als Selbständiger, etc (§ 18 GewO).
Bsp: So gibt es etwa für das Gastgewerbe eine GastgewerbeBefähigungsnachweisVO (BGBl II 2003/51). x
Qualifizierte Bewerber, die die Vorgaben der Befähigungsnachweis-Verordnungen nicht erfüllen, können ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen auch durch individuelle Belege nachweisen – individueller Befähigungsnachweis (vgl § 19 GewO). Ist auch dies nicht möglich, kann die Gewerbebehörde eine der Befähigung entsprechende Beschränkung auf Teiltätigkeiten des jeweiligen Gewerbes aussprechen. Diese, auf die konkrete Befähigung abstellende Einschränkung der Gewerbeberechtigung darf nicht mit den Teilgewerben verwechselt werden, deren Umfang und Befähigungsnachweis per Verordnung festgesetzt wird (siehe oben III.A).
Für Bürger der Mitgliedstaaten der EU bzw des EWR muss bei Vorliegen einer entsprechenden Richtlinie über die Anerkennung ausländischer Diplome (Näheres zu EU-Richtlinien siehe LE 3, VI.B.1.b) eine den vorgeschriebenen Befähigungsnachweis ersetzende Qualifikation anerkannt werden. Der zuständige Bundesminister legt zu diesem Zweck Art und Dauer der Tätigkeiten fest, deren Nachweis Voraussetzung für eine Anerkennung ist (§ 373c
LE 7
Gewerbeantritt
211
GewO). Wenn es keine einschlägige Anerkennungsrichtlinie gibt, hat der Bundesminister im Rahmen einer Äquivalenzprüfung zu entscheiden, inwieweit die erworbene Befähigung jener für den Befähigungsnachweis geforderten gleichzuhalten ist (§ 373d GewO).
2.
Zuverlässigkeit
Bei den sensiblen Gewerben (siehe oben III.B.) überprüft die Behörde, ob der Bewerber die für die Ausübung des Gewerbes erforderliche Zuverlässigkeit besitzt (§ 95 GewO). Die für die Gewerbsausübung erforderliche Zuverlässigkeit ist dann nicht mehr gegeben, wenn der Gewerbeinhaber schwerwiegend gegen die im Zusammenhang mit dem betreffenden Gewerbe zu beachtenden Rechtsvorschriften und Schutzinteressen – die insbesondere auch zur Wahrung des Ansehens des Berufsstandes dienen – verstößt (§ 87 Abs 1 Z 3 GewO). Bsp: Ein Bauunternehmer, der kontinuierlich gegen das Ausländerbeschäftigungsgesetz verstößt, ist für das Baumeistergewerbe unzuverlässig.
3.
Weitere Bedingungen
Bei einzelnen Gewerben müssen noch zusätzliche Voraussetzungen erfüllt sein. Eine sog Bedarfsprüfung wird heute nur mehr beim Gewerbe der Rauchfangkehrer durchgeführt. Dabei handelt es sich um eine Prüfung, ob wirklich ein Bedarf an einem (weiteren) Rauchfangkehrer in einem bestimmten Gebiet besteht (§ 121 GewO).
Bsp: Augenoptiker haben sich qualifizierter Fachkräfte zu bedienen (§ 98 GewO). Gastgewerbetreibende sind verpflichtet, Betrunkenen keine alkoholischen Getränke mehr auszuschenken (§ 112 Abs 5 GewO).
212
Gewerbeantritt
LE 7
Erfüllen Sie auch die besonderen Voraussetzungen? 1. Befähigungsnachweis: Sie haben vor, in Ihrem Lokal sowohl warme als auch kalte Speisen, nichtalkoholische sowie alkoholische Getränke zu servieren. Bei Ihrem Gewerbe handelt es sich damit um ein Gastgewerbe. Nach § 94 Z 26 GewO ist das Gastgewerbe ein reglementiertes Gewerbe, dh, Sie benötigen einen (generellen oder individuellen) Befähigungsnachweis (vgl aber auch § 111 Abs 2 GewO, der für bestimmte Ausformungen des Gastgewerbes keine Gastgewerbeberechtigung verlangt). 2. In einer Verordnung des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit wird der generelle Befähigungsnachweis für das Gastgewerbe genauer definiert. Da Sie eine Höhere Lehranstalt für Tourismus mit Erfolg besucht und im Rahmen dieser Ausbildung ein fünfmonatiges Praktikum absolviert haben, können Sie ohne Probleme Ihre Befähigung für das Gastgewerbe durch Vorlage der einschlägigen Zeugnisse nachweisen (vgl § 1 Z 4 der Gastgewerbe-BefähigungsnachweisVO BGBl II 2003/51). 3. Weitere besondere Bedingungen für den Gewerbeantritt des Gastgewerbes existieren nicht (keine Bedarfsprüfung). Somit erfüllen Sie alle allgemeinen und besonderen Voraussetzungen. Sie können mit der Eintragung in das elektronische Gewerberegister rechnen, wovon Sie durch Übermittlung eines Gewerberegisterauszugs verständigt werden.
V.
Wozu und wen ermächtigen Gewerbeberechtigungen?
A.
Umfang der Gewerbeberechtigung
1.
Allgemeines
Inhalt und Umfang der Gewerbeberechtigung ergeben sich bei den Anmeldegewerben aus dem Wortlaut der Gewerbeanmeldung und bei den sensiblen Gewerben aus dem Bescheid, mit dem festgestellt wird, dass die Voraussetzungen für die Gewerbeausübung vorliegen (§ 29 GewO).
2.
Nebenrechte
Die GewO räumt den Gewerbetreibenden daneben weitere Befugnisse ein. Dabei ist zu beachten, dass bei der Ausübung von Nebenrechten der wirtschaftliche Schwerpunkt sowie die Eigenart des Betriebes erhalten bleiben müssen (§ 32 Abs 2 GewO). x
Gewerbetreibende dürfen einzelne, einfache Tätigkeiten von reglementierten Gewerben, deren fachgemäße Ausübung keinen sonst vorgeschriebenen Befähigungsnachweis erfordert, ausüben. Nicht zu den einfachen Tätigkeiten zählen die für ein Gewerbe typischen Kerntätigkeiten, die für die Gewerbeausübung erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen voraussetzen (§ 31 Abs 1 GewO).
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Gewerbeantritt
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Bsp: Bereitstellung einer Einrichtung zum Selbstfotografieren als einzelnes, einfaches Tätigkeitsfeld des reglementierten Gewerbes Berufsfotograf (§ 94 Z 20 GewO), Nähen von Vorhängen als einzelnes, einfaches Tätigkeitsfeld des reglementierten Gewerbes Tapezierer und Dekorateur (§ 94 Z 68 GewO), etc x
Alle Gewerbetreibenden dürfen Teilgewerbe (siehe oben III.A) ausüben, soweit das Teilgewerbe in fachlichem Zusammenhang mit der hauptberuflich ausgeübten gewerblichen Tätigkeit steht. Diese kann auch um ein Teilgewerbe erweitert werden, wenn der Gewerbetreibende nicht selbst, sondern ein im Betrieb beschäftigter Arbeitnehmer, der voll sozialversicherungspflichtig ist, den Befähigungsnachweis erbringt (§ 32 Abs 1 Z 12 iVm Abs 3 GewO). Da es sich nur um ein Teilgewerbe handelt, kann der Nachweis in vereinfachter Art und Weise erbracht werden.
x
Ferner dürfen Gewerbetreibende Tätigkeiten eines reglementierten Gewerbes in ihren Betrieb einbeziehen, wenn dies im Rahmen eines Gesamtbetriebes erfolgt: man spricht dann von einem sog „integrierten Betrieb“ (vgl § 37 GewO). Unter einem integrierten Betrieb versteht man einen Ausgangsbetrieb (für die dort ausgeübten gewerblichen Tätigkeiten liegt eine Befähigung vor), in dem gewerbliche Tätigkeiten einbezogen werden, für die dem Unternehmer an sich die Befähigung fehlt. Hierfür ist ein so genannten „befähigter Arbeitnehmer“, der den Befähigungsnachweis für das betreffende Gewerbe erbringt und voll sozialversicherungspflichtig ist, hauptberuflich im Betrieb zu beschäftigen (sog integrierter Betrieb). Die sensiblen Gewerbe (siehe oben III.B), das Spediteurgewerbe und Tätigkeiten der Versicherungsvermittlung dürfen nicht als integrierter Betrieb geführt werden. Im Unterschied zur Ausübung eines Teilgewerbes lässt sich im integrierten Betrieb die gewerbliche Tätigkeit auch um ein Gewerbe im vollen Umfang erweitern, ohne dass der Gewerbeinhaber selbst den erforderlichen Befähigungsnachweis erbringen muss.
x
Gewerbetätige dürfen auch verbundene Gewerbe aus der gleichen Gruppe der Tätigkeit, für die sie einen Befähigungsnachweise in vollem Umfang erbracht haben, ausüben (§ 30 GewO).
x
Die §§ 32 - 34 GewO enthalten weitere Nebenrechte:
So dürfen Gewerbetreibende zum Beispiel Arbeiten planen, Vorarbeiten und Vollendungsarbeiten vornehmen, die der Absatzfähigkeit ihrer Produkte dienen, sowie in geringem Umfang Leistungen anderer Gewerbe erbringen, die eigene Leistungen wirtschaftlich sinnvoll ergänzen. Des Weiteren dürfen Gewerbetreibende ihre Betriebseinrichtungen wie Maschinen, Anlagen Die GewO gewährt den Gewerbeund Gebäude instand setzen und instand halten, treibenden gewisse zusätzliche Befugunentgeltlich Getränke ausschenken sowie ihre Güter nisse: einfache Tätigkeiten und Mitarbeiter transportieren (Werkverkehr). Alle Teilgewerbe Gewerbetreibenden dürfen zum Beispiel aber auch Integrierter Betrieb verbundene Gewerbe Waren zurücknehmen, kaufen, verkaufen, vermieten
214
Gewerbeantritt
LE 7
und vermitteln (allgemeines Handelsrecht der Gewerbetreibenden; davon ausgenommen ist der Handel mit Medizinprodukten sowie Handelstätigkeiten, die einzelnen reglementierten Gewerben vorbehalten sind). Gewerbetreibende dürfen auch Dienstleistungen auf dem Gebiet des Postwesens mit Ausnahme des Geld- und Zahlungsverkehrs erbringen, ohne hierfür eine besondere Gewerbeberechtigung einholen zu müssen (§ 34 GewO).
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Gewerbeantritt
215
Was dürfen Sie in Ihrem Lokal tatsächlich tun bzw welche Speisen und Getränke dürfen angeboten werden? Das Gastgewerbe ist ein Anmeldegewerbe – die Antwort darauf ergibt sich daher aus dem Wortlaut der Gewerbeanmeldung. Bei der Anmeldung haben Sie der Behörde mitgeteilt, welche Art von Gastgewerbe ausgeübt werden soll: Sie beabsichtigen ein Musiklokal (Diskothek) zu führen, in dem kleinere warme und kalte Speisen sowie alkoholische und nichtalkoholische Getränke angeboten werden sollen. Die Berechtigung bezieht sich somit nur auf das Betreiben eines Lokals dieser Art. Sie dürfen aber auch bestimmte Waren verkaufen (§ 32 Abs 1 Z 10, § 111 Abs 4 GewO; zB Waren des üblichen Reisebedarfs, Geschenkartikel). Ferner sind Sie nach dem Tabakmonopolgesetz berechtigt, Tabakerzeugnisse an Ihre Gäste zu verkaufen (§ 40 Abs 1 Tabakmonopolgesetz), was ansonsten Trafiken vorbehalten ist.
3.
Für welchen örtlichen Bereich gelten Gewerbeberechtigungen?
Die Gewerbeberechtigung berechtigt grundsätzlich zur Ausübung des Gewerbes auch in weiteren Betriebsstätten (§ 46 Abs 1 GewO). Der Gewerbeinhaber hat der Behörde die Ausübung des Gewerbes in einer weiteren Betriebsstätte oder die Weitere Betriebsstätten sind durch die Verlegung des Betriebes eines Gewerbes bzw einer weiteren Stammgewerbeberechtigung abgedeckt. Betriebsstätte in einen anderen Standort anzuzeigen. Die Anzeige hat bloßen Mitteilungscharakter. Für die Gewerbeausübung in einer weiteren Betriebsstätte kann ein Filialgeschäftsführer bestellt werden (§ 47 GewO). Dieser ist dann der Behörde gegenüber für die Einhaltung der gewerberechtlichen Vorschriften in der weiteren Betriebstätte verantwortlich. Wenn Sie eine „Disco-Filiale“ eröffnen wollen, so ist dies durch Ihre Gewerbeberechtigung abgedeckt. Die Ausübung des Gewerbes in der weiteren Betriebsstätte müssen Sie der Behörde mitteilen.
B.
Wen berechtigen Gewerbeberechtigungen?
Als Gewerbeinhaber wird bezeichnet, wer über eine Gewerbeberechtigung verfügt. Gewerbetreibender ist hingegen derjenige, der eine Gewerbeberechtigung tatsächlich ausübt: Das kann neben dem Gewerbeinhaber auch der Fortbetriebsberechtigte sein. Übertragen lässt sich eine Gewerbeberechtigung nicht. Der Fortbetriebsberechtigte hat das Recht, einen Gewerbebetrieb auf Grund der Gewerbeberechtigung einer anderen Person fortzuführen. Fortbetriebsberechtigt sind im Falle des Todes des Gewerbeinhabers dessen Ehepartner und Kinder, im Falle eines Konkurses die Konkursmasse, wobei dem Masseverwalter die Funktion des Geschäftsführers zukommt (§ 41 GewO).
216
C.
Gewerbeantritt
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Der gewerberechtliche Geschäftsführer
Gewerbeinhaber können allerdings für die Ausübung ihres Gewerbes Geschäftsführer bestellen, die sodann ihnen gegenüber für die fachlich einwandfreie Ausübung des Gewerbes und der Behörde gegenüber für die Einhaltung der Verantwortlichkeit für die Einhaltung der gewerberechtlichen Vorschriften gewerberechtlichen Vorschriften verantwortlich sind (§ 39 Abs 1 GewO). Bei Übertretungen der gewerberechtlichen Vorschriften ist also primär der Geschäftsführer haftbar. Geschäftsführer müssen ihrer Bestellung zustimmen. Ein gewerberechtlicher Geschäftsführer ist kein Gewerbetreibender, sondern ein bloßes Hilfsorgan des Gewerbeinhabers: Er wird als Vertreter im Namen und auf Rechnung des Gewerbeinhabers tätig und verfügt nicht selbst über die Gewerbeberechtigung.
Hilfsorgan des Gewerbeinhabers
Wenn eine juristische Person oder sonstige Gesellschaft ein Gewerbe ausüben will, dann muss ein gewerberechtlicher Geschäftsführer bestellt werden (§ 9 Abs 1 GewO). Dies gilt auch für den Fall, dass eine natürliche Person, die um eine Gewerbeberechtigung ansucht, zB den Befähigungsnachweis nicht erbringen kann (§ 39 Abs 1 GewO). Der Geschäftsführer muss den für die Ausübung des Gewerbes vorgeschriebenen persönlichen Voraussetzungen (Eigenberechtigung, Befähigungsnachweis, etc) genügen und in der Lage sein, sich im Betrieb entsprechend zu betätigen. Bei einer Gesellschaft muss ein gewerberechtlicher Geschäftsführer Insbesondere muss er befugt sein, gegenüber den Mitarbeitern bestellt werden. Anordnungen zu treffen. Der bei einer juristischen Person zu bestellende Geschäftsführer muss bei reglementierten Gewerben dem zur Vertretung berufenen Organ der juristischen Person angehören oder ein zumindest halbtägig beschäftigter Arbeitnehmer sein. Der Geschäftsführer darf also nicht bloß zum Schein bestehen (§ 39 Abs 2 GewO). Der Geschäftsführer muss ferner seinen Wohnsitz im Inland haben. Dies gilt allerdings nicht, sofern es sich um Staatsangehörige einer EWR-Vertragspartei handelt, die ihren Wohnsitz in einem EWR-Vertragsstaat haben (§ 39 Abs 2a GewO). EWR-Bürger, die in Österreich eine gewerberechtliche Geschäftsführertätigkeit ausüben wollen, müssen also ihren Wohnsitz nicht in Österreich haben, sondern können auch anderswo im EWR wohnen. Der Gewerbeinhaber hat die Bestellung und das Ausscheiden eines Geschäftsführers der Gewerbebehörde anzuzeigen; bei den sensiblen Gewerben muss die Bestellung des Geschäftsführers behördlich genehmigt werden. Da Sie selbst alle vorgeschriebenen Anforderungen (Befähigungsnachweis, etc) erfüllen, müssen Sie keinen gewerberechtlichen Geschäftsführer bestellen.
VI. Wann erlöschen Gewerbeberechtigungen? Die Gewerbeberechtigung endet bei einer natürlichen Person mit deren Tod (bei Fortbetrieb erst mit Endigung des Fortbetriebsrechts), bei einer Gesellschaft mit deren Auflösung. Sie
LE 7
Gewerbeantritt
217
endet aber auch mit Zurücklegung der Gewerbeberechtigung oder mit Entziehung der Gewerbeberechtigung durch die Behörde (§§ 85 ff GewO). Gründe für die Entziehung der Gewerbeberechtigung sind zum Beispiel bestimmte strafgerichtliche oder finanzstrafbehördliche Verurteilungen mit zu befürchtender Wiederholungsgefahr bei Ausübung des Gewerbes, sonstige schwerwiegende Erlöschen der Gewerbeberechtigung bei Verstöße gegen die im Zusammenhang mit dem betreffenden Tod, Auflösung, Zurücklegung oder Entziehung der Gewerbeberechtigung Gewerbe zu beachtenden Rechtsvorschriften oder die rechtskräftige Nichteröffnung eines Konkurses, wenn das Vermögen nicht einmal mehr ausreicht, um die Kosten des Konkursverfahrens zu decken. Die Gewerbeberechtigung eines Ausländers ist ferner dann zu entziehen, wenn sich dieser nicht mehr legal in Österreich aufhält (§ 88 GewO).
218
Gewerbeantritt
VII. Weiterführende Literatur Feik, Gewerberecht, in Bachmann et al (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht7 (2008) Potacs, Gewerberecht, in Holoubek/Potacs (Hrsg), Öffentliches Wirtschaftsrecht2 (2007)
VIII. Wiederholungsfragen
Bei welchen Tätigkeiten muss man die Vorschriften der GewO beachten? Wann wird eine Tätigkeit gewerbsmäßig ausgeübt? Wodurch unterscheiden sich reglementierte Gewerbe von freien Gewerben? Wie begründet man ein Gewerbe? Was ist das Besondere an sensiblen Gewerben? Inwieweit ist die Industrieförmigkeit der Gewerbsausübung von Relevanz? Welche allgemeinen Voraussetzungen müssen zum Gewerbeantritt erfüllt sein? Dürfen auch Ausländer ein Gewerbe ausüben? Wie kann die Befähigung für ein Gewerbe nachgewiesen werden? Woraus ergibt sich der Umfang einer Gewerbeberechtigung? Wofür ist der gewerberechtliche Geschäftsführer verantwortlich? Für welchen örtlichen Bereich gilt die Gewerbeberechtigung? Wo melden Sie ein Gewerbe an?
LE 7
LE 8
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
219
Lektion 8 BETRIEBSANLAGENRECHT UND BAURECHT
Disco in der Wiener Innenstadt (Teil 2) Parallel zur Anmeldung Ihres Gewerbes müssen Sie sich auch darum kümmern, ob Sie die geplante Tätigkeit in dem von Ihnen gewählten Lokal überhaupt ausüben dürfen. Sie müssen klären, ob Sie Ihre Disco ohne eine behördliche Bewilligung eröffnen und betreiben dürfen. Dabei ist zu berücksichtigen, ob Ihre Diskothek zu Beeinträchtigungen der Nachbarn führen könnte. Einer Ihrer Nachbarn, der in unmittelbarer Nähe ein Hotel betreibt, hat Sie schon wissen lassen, dass ihm die Vorstellung, dass eine lärmende Diskothek in seiner Nähe eröffnet werden soll, nicht recht zusagt. Sie müssen also damit rechnen, dass Ihnen der Hotelbesitzer möglicherweise den einen oder anderen Stein in den Weg legen wird. Außerdem muss Ihr Lokal baulich umgestaltet werden. Diese Veränderungen werden zwar nur geringfügig sein, trotzdem stellt sich die Frage, ob Sie solche Änderungen ohne eine Bewilligung der Behörde vornehmen dürfen. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was ist eine Betriebsanlage? Unter welchen Voraussetzungen bewilligt die Behörde eine Betriebsanlage? Was muss die Behörde unternehmen, wenn von einer solchen Anlage Gefahren oder Belästigungen ausgehen? Welche Pflichten treffen den Inhaber einer Betriebsanlage? Welche Bedeutung hat das Bau- und Raumordnungsrecht für die Errichtung einer Betriebsanlage?
220
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
LE 8
Inhalt: I. A. B. 1. 2. 3. II. A. B. C. D. III. A. B. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. IV. A. B. C. D. E. V. VI. A. B. C. VII. A. B. VIII. IX. A. B. 1. 2. 3.
Das Betriebsanlagenrecht .................................................................................... 223 Grundsätzliches....................................................................................................... 223 Die gewerbliche Betriebsanlage .............................................................................. 223 Ortsgebundenheit .................................................................................................... 223 Regelmäßigkeit ....................................................................................................... 224 Gewerbliche Tätigkeit .............................................................................................. 224 Wann ist eine Betriebsanlage genehmigungspflichtig?.................................... 224 Nicht genehmigungspflichtige Betriebsanlagen....................................................... 224 „Normalanlagen“...................................................................................................... 224 „Bagatellanlagen“ (§ 359b GewO)........................................................................... 225 IPPC- und Seveso II-Betriebsanlagen (§§ 77a, 84a ff GewO) ................................ 225 Das Genehmigungsverfahren .............................................................................. 226 Allgemeines ............................................................................................................. 226 Genehmigungskriterien ........................................................................................... 226 Gefährdung von Leben, Gesundheit und Eigentum (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 1) ...... 226 Belästigungen der Nachbarn (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 2 GewO).............................. 227 Beeinträchtigung öffentlicher Interessen (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 3-4 GewO)......... 227 Nachteilige Einwirkungen auf Gewässer (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 5 GewO)............ 228 Luftschadstoffe (§ 77 Abs 3 GewO) ........................................................................ 228 Abfall (§ 77 Abs 4 GewO)........................................................................................ 228 Nahversorgung (§ 77 Abs 5-9 GewO) ..................................................................... 228 Besondere Genehmigungskriterien bei IPPC-Anlagen (§ 77a GewO).................... 229 Auflagen ................................................................................................................. 229 Auflagen dürfen das Projekt nicht in seinem Wesen verändern.............................. 230 Bestimmtheit............................................................................................................ 230 Geeignetheit ............................................................................................................ 231 Erforderlichkeit ........................................................................................................ 231 Behördliche Erzwingbarkeit ..................................................................................... 231 Betrieb der Anlage vor Rechtskraft des Genehmigungsbescheids ................. 231 Nachträgliche Änderungen von Betriebsanlagen .............................................. 232 Änderung der Betriebsanlage auf Initiative des Gewerbetreibenden (§ 81 GewO). 232 Änderung der Betriebsanlage aufgrund behördlicher Anordnung (§§ 79, 79b)....... 232 Sanierungskonzept (§ 79 Abs 3 und 4 GewO) ........................................................ 233 Überwachung von Betriebsanlagen .................................................................... 233 Überwachung durch den Anlagenbetreiber ............................................................. 233 Überwachung durch die Behörde ............................................................................ 233 Die Zuständigkeit im Betriebsanlagenrecht........................................................ 234 Das Baurecht ......................................................................................................... 235 Regelungsgegenstand ............................................................................................ 235 Kategorien von Bauvorhaben .................................................................................. 236 Bewilligungspflichtige Bauvorhaben ........................................................................ 236 Anzeigepflichtige Bauvorhaben ............................................................................... 236 Freie Bauvorhaben .................................................................................................. 236
LE 8 C. X. A. B. 1. 2. 3. 4. XI. XII.
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
221
Verfahren/Zuständigkeit .......................................................................................... 236 Raumordnungsrecht ............................................................................................. 237 Regelungsgegenstand ............................................................................................ 237 Flächenwidmungsplan und gewerbliche Betriebsanlagen....................................... 238 Funktion des Flächenwidmungsplans und Widmungskategorien............................ 238 Verfahren zur Erlassung eines Flächenwidmungsplans.......................................... 239 Prüfung der Einhaltung der Flächenwidmung ......................................................... 239 Sonderfall Einkaufszentren ..................................................................................... 240 Weiterführende Literatur....................................................................................... 241 Wiederholungsfragen............................................................................................ 241
LE 8
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
I.
Das Betriebsanlagenrecht
A.
Grundsätzliches
223
Das einen Teil des Gewerberechts bildende Betriebsanlagenrecht regelt die Voraussetzungen, unter denen ein Unternehmer eine gewerbliche Betriebsanlage errichten und betreiben darf. Dem Interesse des Unternehmers an einer Genehmigung und Ausübung seiner Tätigkeit in einer Betriebsanlage stehen regelmäßig Interessen der Nachbarn und Aspekte des Umweltschutzes entgegen. Die Nachbarn wollen durch die Nachbar- und Umweltschutz contra Betriebsanlage (zB durch Geruch, Lärm, Staub) nicht belästigt Wirtschaft und schon gar nicht gefährdet werden. Auch die Umwelt (insbesondere Gewässer, Luft) ist vor unzulässigen Verschmutzungen und anderen Beeinträchtigungen zu bewahren. Das Betriebsanlagenrecht ist somit durch ein Spannungsverhältnis zwischen den Interessen und den Anforderungen der Wirtschaft auf der einen Seite und einem effektiven Nachbar- und Umweltschutz auf der anderen Seite gekennzeichnet. Nachbar- und Umweltschutz sind dabei miteinander verknüpft, weil die Ausübung von Nachbarrechten (subjektiven Rechten) vielfach nicht nur individuellen Interessen, sondern auch dem öffentlichen Interesse am Umweltschutz dient. Das gewerbliche Betriebsanlagenrecht ist in den §§ 74 und 353 ff GewO geregelt und enthält Vorschriften über Betriebsanlagen zur Ausübung gewerblicher Tätigkeiten.
B.
Die gewerbliche Betriebsanlage
Eine Betriebsanlage ist eine örtlich gebundene Einrichtung, die der Entfaltung einer gewerblichen Tätigkeit (vgl LE 7) regelmäßig zu dienen bestimmt ist (§ 74 Abs 1 GewO). Unter diesen Begriff fallen Baulichkeiten und sonstige Einrichtungen, die ein Wirtschaftstreibender benützt, um seiner unternehmerischen Tätigkeit nachzugehen. Dazu gehören bspw Büros, Fabriken, Gaststätten, Lagerhallen, ein Steinbruch oder ein Autoabstellplatz. Folgende drei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit man von einer gewerblichen Betriebsanlage sprechen kann (und damit das Betriebsanlagenrecht der GewO Anwendung findet):
1.
Ortsgebundenheit
Das Wesen der Anlage liegt in ihrer ortsfesten Einrichtung. Aber auch bewegliche Einrichtungen sind Betriebsanlagen, wenn sie nach der Absicht des Gewerbetreibenden ausschließlich oder überwiegend und für längere Zeit an einem Ortsgebundenheit, Regelmäßigkeit und gewerbliche Tätigkeit bestimmten Standort der Entfaltung der gewerblichen Tätigkeit dienen sollen (zB fahrbare Würstelbude mit regelmäßigem Standplatz).
224
2.
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
LE 8
Regelmäßigkeit
Die gewerbliche Tätigkeit muss in der Betriebsanlage regelmäßig entfaltet werden. Dies ist zB bei kurzfristigen gewerblichen Tätigkeiten (Messen) oder Baustelleneinrichtungen für eine konkrete Bauführung nicht gegeben (eine Baustelle, die errichtet wird, um ein Wohnhaus zu errichten, ist keine Betriebsanlage!).
3.
Gewerbliche Tätigkeit
In der Betriebsanlage muss eine gewerbliche Tätigkeit entfaltet werden (vgl LE 7). Es muss sich daher um eine Tätigkeit handeln, die gewerbsmäßig (§ 1 Abs 2 GewO: Selbständigkeit, Regelmäßigkeit, Ertragsabsicht) ausgeübt wird und unter die Bestimmungen der GewO fällt. Sie müssen nun feststellen, ob es sich bei einer Diskothek um eine Betriebsanlage im Sinne des Betriebsanlagenrechts handelt. Sie planen, das Lokal, bei dem es sich zweifelsohne um eine ortsgebundene Einrichtung handelt, regelmäßig für die gewerbliche Tätigkeit des Gastgewerbes zu nützen. Somit stellt die Diskothek eine gewerbliche Betriebsanlage dar.
II.
Wann ist eine Betriebsanlage genehmigungspflichtig?
A.
Nicht genehmigungspflichtige Betriebsanlagen
Bei Betriebsanlagen, bei denen nach allgemeiner Erfahrung von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass sie geeignet sind, Gefährdungen, Belästigungen oder sonstige relevante Einwirkungen (§ 74 Abs 2 GewO) herbeizuführen, besteht keine Keine Beeinträchtigung o keine Bewilligungspflicht Genehmigungspflicht (zB reine Bürobetriebe). Außerdem kann der zuständige BM durch VO „Arten von Betriebsanlagen“ bezeichnen, „für die jedenfalls keine Genehmigung erforderlich ist“, wenn von ihnen erwartet werden kann, dass die gem § 74 Abs 2 GewO wahrzunehmenden Interessen hinreichend geschützt sind (§ 74 Abs 7 GewO). Beachte: Für die Errichtung derartiger Baulichkeiten kann jedoch eine baurechtliche Genehmigung erforderlich sein, zumal die Bauordnungen der Länder andere Ziele verfolgen als das Gewerberecht (siehe unten IX.).
B.
„Normalanlagen“
Ist die Betriebsanlage wegen der Verwendung von Maschinen und Geräten, wegen ihrer Betriebsweise, wegen ihrer Ausstattung oder sonst geeignet, bestimmte Schutzgüter (zB Leben, Gesundheit; siehe § 74 Abs 2 GewO) zu beeinträchtigen, muss die Errichtung bzw der Betrieb durch die Behörde genehmigt werden. Es ist daher Abstrakte Eignung zur Gefährdung der zu fragen, ob eine bestimmte Anlage „geeignet“ ist, Schutzgüter (§ 74 Abs 2 GewO) o BewilGefährdungen, Belästigungen etc iSd § 74 Abs 2 GewO ligungspflicht hervorzurufen („abstrakte Gefährdung, Belästigung etc“). Ist das der Fall, so ist ein Betriebsanlagengenehmigungsverfahren (siehe III.) einzuleiten. Dies geschieht durch einen Antrag des Unternehmers (§§ 353 ff GewO).
LE 8
C.
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
225
„Bagatellanlagen“ (§ 359b GewO)
Als „Bagatellanlagen“ werden Betriebsanlagen bezeichnet, die zwar geeignet sind, schädliche Wirkungen (iSd § 74 Abs 2 GewO) hervorzurufen, die aber Bagatellanlage o vereinfachtes nur einen geringen Belästigungsgrad aufweisen. Welche Verfahren Anlagen damit konkret gemeint sind, ergibt sich aus § 359b GewO und den einschlägigen VO. Für solche „Bagatellanlagen“ ist ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren vorgesehen, in dem die Nachbarn keine Parteistellung haben. Zu den „Bagatellanlagen“ zählen etwa Anlagen, bei denen das Ausmaß der zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten und sonstigen Betriebsflächen insgesamt nicht mehr als 800 m² beträgt, die elektrische Anschlussleistung der zur Verwendung gelangenden Maschinen und Geräte 300 kW nicht übersteigt und auf Grund der geplanten Ausführung der Anlage zu erwarten ist, dass Gefährdungen, Belästigungen, Beeinträchtigungen oder nachteilige Einwirkungen iSd § 74 Abs 2 oder Belastungen der Umwelt vermieden werden (§ 359b Abs 1 Z 2 GewO). Betriebsanlagen, die in der sog BagatellanlagenVO (BGBl 1994/850 idgF) aufgezählt sind (zB Restaurants mit bis zu 200 Sitzplätzen mit bloßer Hintergrundmusik), sind jedenfalls dem vereinfachten Genehmigungsverfahren zu unterziehen.
D.
IPPC- und Seveso II-Betriebsanlagen (§§ 77a, 84a ff GewO)
Der Begriff IPPC-Betriebsanlage leitet sich von der sog IPPC-RL (Integrated Pollution Prevention and Control-RL) über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung ab und bezeichnet bestimmte, besonders umweltgefährdende Betriebe. Für die in der Anlage 3 zur GewO angeführten IPPC-Betriebsanlagen sind zusätzliche Genehmigungsvoraussetzungen vorgesehen (zB geeignete IPPC- und Seveso II-Anlagen o erhöhte Vorsorgemaßnahmen gegen Umweltverschmutzungen, Anforderungen Maßnahmen gegen Unfälle). Außerdem gelten für die Genehmigung von IPPC-Betriebsanlagen verfahrensrechtliche Sonderregelungen, ein vereinfachtes Verfahren ist ausgeschlossen. Bsp: Raffinerien, bestimmte Abfallbehandlungsanlagen, Anlagen zur Herstellung von Zellstoff aus Holz oder anderen Faserstoffen. Auch die Seveso II-Betriebsanlagen verdanken ihren Namen einer EU-RL, der sog Seveso II-RL zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen. Diese RL ist nach dem Ort Seveso in Italien benannt, wo sich 1976 ein folgenschwerer Industrieunfall ereignete. Als Seveso II-Betriebsanlagen iSd GewO gelten Anlagen, in denen „gefährliche Stoffe“ vorhanden sind. Unter „gefährlichen Stoffen“ versteht man Stoffe oder Zubereitungen, die in der Anlage 5 zur GewO angeführt sind oder die dort festgelegten Kriterien erfüllen (§ 84b GewO). Für solche Betriebsanlagen gelten zusätzliche Anforderungen. Insbesondere hat der Betriebsinhaber alle nach dem Stand der Technik notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um schwere Unfälle zu verhüten und deren Folgen für Mensch und Umwelt zu begrenzen (§ 84c Abs 1 GewO).
226
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
LE 8
III. Das Genehmigungsverfahren A.
Allgemeines
Sofern eine Betriebsanlage bewilligungspflichtig ist, muss die Behörde im Betriebsanlagengenehmigungsverfahren prüfen, ob die Anlage die Genehmigungskriterien der GewO (§ 77 iVm § 74 GewO) erfüllt. Voraussetzung für die Erteilung einer Schutzgüter der GewO (§ 74 Abs 2 GeBetriebsanlagengenehmigung ist, dass nach dem Stand der wO) Technik (§ 71a GewO) und dem Stand der medizinischen und der sonst in Betracht kommenden Wissenschaften zu erwarten ist, dass überhaupt oder bei Einhaltung der erforderlichenfalls vorzuschreibenden Auflagen (siehe IV.) voraussehbare Gefährdungen des Lebens oder der Gesundheit von Menschen sowie Gefährdungen des Eigentums oder sonstiger dinglicher Rechte (§ 74 Abs 2 Z 1 GewO) vermieden und Belästigungen, Beeinträchtigungen oder nachteilige Einwirkungen iSd § 74 Abs 2 Z 2 bis 5 GewO auf ein zumutbares Maß beschränkt werden. Gegenstand der Genehmigung ist nicht der Typus einer Betriebsanlage, sondern die konkrete Betriebsanlage. Nachbarn haben im Betriebsanlagengenehmigungsverfahren grundsätzlich Parteistellung und können sich zur Wahrung ihrer Interessen auf jene Genehmigungskriterien der GewO berufen, die dem Schutz der Nachbarn dienen. Die Nachbarn können ihre Parteistellung aber verlieren, wenn sie es unterlassen, zeitgerecht taugliche Einwendungen zu erheben (siehe dazu LE 9).
B.
Genehmigungskriterien
Folgende Genehmigungskriterien sind – vereinfacht dargestellt – zu unterscheiden:
1.
Gefährdung von Leben, Gesundheit und Eigentum (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 1 GewO)
Die Behörde hat zum einen zu prüfen, ob von der Anlage eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit des Gewerbetreibenden, der mitarbeitenden Familienangehörigen oder des mittätigen eingetragenen Partners, der Nachbarn oder der Kunden ausgeht. Eine Gefährdung der Gesundheit liegt bei einer Einwirkung auf den menschlichen Organismus vor, die in Art und Nachhaltigkeit über eine bloße Belästigung (zB durch Geruch oder Lärm) hinausgeht. Voraussehbare Gefährdungen sind jedenfalls zu vermeiden. Bsp: Eine Betriebsanlage verursacht gesundheitsschädliche Abgase. Zum anderen ist zu untersuchen, ob das Eigentum oder sonstige dingliche Rechte der Nachbarn hinreichend geschützt sind. Die Möglichkeit einer bloßen Minderung des Verkehrswertes des Eigentums gilt jedoch noch nicht als Gefährdung des Eigentums. Eine Gefährdung des Eigentums oder dinglicher Rechte ist nur dann gegeben, wenn die Substanz des Eigentums bedroht ist, oder wenn eine sinnvolle Nutzung der Sache wesentlich beeinträchtigt wird oder überhaupt nicht mehr möglich ist (VwGH 21.12.2004, 2000/04/0201). Bsp: Ein Hotel, das mit absoluter Ruhelage wirbt, muss einen Lebensmittelgroßhandel in der Nachbarschaft dulden, auch wenn dadurch das Verkehrsaufkommen in der Zufahrtsstraße zum Hotel steigt und sich der „Werbeslogan“ nicht mehr durchhalten lässt.
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In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass durch die raumordnungsrechtliche Widmung (siehe X.B.). bestimmter Flächen als Industriegebiet, gemischtes Wohn- und Gewerbegebiet udgl, schon im Vorfeld von Betriebsansiedelungen versucht wird, allzu eklatante Interessengegensätze (zB Wohnhaus neben Fabrik) zu vermeiden. Dieser Anspruch lässt sich jedoch nicht überall verwirklichen, weil etwa auch gemischte Nutzungen (Wohnflächen neben Gewerbeflächen) für die Ortsentwicklung notwendig sind. In diesen Fällen soll das Betriebsanlagenrecht der GewO den notwendigen Interessenausgleich herstellen.
2.
Belästigungen der Nachbarn (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 2 GewO)
Belästigungen sind von einer Betriebsanlage ausgehende Emissionen, die zwar nicht gesundheitsgefährdend sind, aber das Wohlbefinden stören. Nachbarn müssen solche Belästigungen, zB infolge von Geruch, Lärm oder Staub, sofern sie das zumutbare Maß nicht überschreiten, hinnehmen. Ob bestimmte Belästigungen der Nachbarn zumutbar sind, hat die Behörde danach zu beurteilen, wie sich die durch die Betriebsanlage verursachten Änderungen der tatsächlichen örtlichen Verhältnisse („Istmaß“) auf ein gesundes, normal empfindendes Kind und auf einen gesunden, normal empfindenden Erwachsenen auswirken. Besondere Empfindlichkeiten von Nachbarn bilden daher insoweit keinen Versagungsgrund. Erforderlichenfalls hat die Behörde dem Projektwerber Auflagen vorzuschreiben, durch die die Belästigungen auf ein zumutbares Maß beschränkt werden (siehe IV.). Sind solche Auflagen nicht möglich, muss die Behörde die Genehmigung versagen. Bei der Untersuchung im Einzelfall stützt sich die Behörde in aller Regel auf Gutachten einschlägiger Sachverständiger (zB eines Arztes). Bsp: Der Geruch einer Betriebsanlage ist nicht gesundheitsgefährdend, zwingt aber die Nachbarn, die Fenster geschlossen zu halten. Beachte: Im Gegensatz zu Gesundheitsgefährdungen müssen Belästigungen nicht vermieden, sondern nur auf ein zumutbares Maß beschränkt werden!
3.
Beeinträchtigung öffentlicher Interessen (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 3-4 GewO)
Die Behörde hat außerdem zu prüfen, ob die Betriebsanlage die Religionsausübung in Kirchen, den Schulunterricht, den Betrieb von Kranken- und Kuranstalten oder die Verwendung oder den Betrieb anderer öffentlichen Interessen dienender benachbarter Anlagen oder Einrichtungen beeinträchtigt. Außerdem hängt die Genehmigung einer Betriebsanlage auch davon ab, ob diese Anlage die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs an oder auf Straßen mit öffentlichem Verkehr wesentlich beeinträchtigt. Die genannten Beeinträchtigungen müssen – allenfalls durch behördlich vorgeschriebene Auflagen – auf ein zumutbares Maß beschränkt werden. Sind solche Auflagen nicht möglich, hat die Behörde die Genehmigung zu versagen. Bsp: So wird ein Sexshop nicht unmittelbar neben einer Kirche oder ein Waffengeschäft nicht unmittelbar neben einer Schule errichtet werden können.
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Beachte: Die GewO schützt alle Anlagen und Einrichtungen, die öffentlichen Interessen dienen (wie zB Wasserversorgungsanlagen, Badeanstalten, Kindergärten, Sportstätten), vor Beeinträchtigungen durch gewerbliche Betriebsanlagen.
4.
Nachteilige Einwirkungen auf Gewässer (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 5 GewO)
Sofern nicht ohnedies eine wasserrechtliche Bewilligung erforderlich ist, hat die Behörde schließlich auch sicherzustellen, dass durch die Betriebsanlage verursachte nachteilige Einwirkungen auf Gewässer auf ein zumutbares Maß beschränkt werden. Beachte: Den Nachbarn steht ein isoliertes Recht auf Prüfung der nachteiligen Einwirkungen einer Betriebsanlage auf die Beschaffenheit der Gewässer gemäß § 74 Abs 2 Z 5 GewO, losgelöst von einer damit allenfalls verbundenen Gefährdung ihres Eigentums, sonstiger dinglicher Rechte oder ihrer Gesundheit bzw von einer damit verbundenen Belästigung, nicht zu.
5.
Luftschadstoffe (§ 77 Abs 3 GewO)
Eine Anlage darf grundsätzlich Luftschadstoffe emittieren. Allerdings hat die Behörde die Emission von Luftschadstoffen jedenfalls nach dem Stand der Technik zu begrenzen („Minimierungsgebot“). Besonderes gilt für bereits vorbelastete Gebiete: In diesem Fall darf die Genehmigung nur erteilt werden, wenn die Emissionen der Anlage keine relevante Zusatzbelastung darstellen („Irrelevanzklausel) oder die Zusatzbelastung durch emissionsbegrenzende Auflagen im technisch möglichen und wirtschaftlich zumutbaren Ausmaß beschränkt wird und die zusätzlichen Emissionen erforderlichenfalls durch Maßnahmen zur Senkung der Immissionsbelastung soweit ausgeglichen werden, dass in einem realistischen Szenario langfristig keine weiteren Grenzwertüberschreitungen anzunehmen sind („Kompensationsklausel“). Durch diese Regelung soll im Interesse des Umweltschutzes ein bestimmtes Qualitätsniveau der Luft gesichert werden.
6.
Abfall (§ 77 Abs 4 GewO)
Einem Ansuchen um Genehmigung einer gewerblichen Betriebsanlage ist ein Abfallwirtschaftskonzept anzuschließen (§ 353 Z 1 lit c GewO). Dieses Konzept wird von der Gewerbebehörde geprüft. Erforderlichenfalls wird die Behörde bestimmte Auflagen vorschreiben, um sicherzustellen, dass die Abfälle nach dem Stand der Technik vermieden oder verwertet werden oder, soweit dies wirtschaftlich nicht vertretbar ist, ordnungsgemäß entsorgt werden.
7.
Nahversorgung (§ 77 Abs 5-9 GewO)
§ 77 Abs 5 GewO sieht für bestimmte Arten von Betriebsanlagen (Anlagen für Handelsbetriebe und Einkaufszentren, die überwiegend dem Handel mit Konsumgütern des kurzfristigen und des täglichen Bedarfs dienen) zusätzliche Genehmigungsvoraussetzungen vor. Liegen solche Betriebsanlagen außerhalb eines Stadt- oder Ortskerngebiets und weisen sie eine Gesamtverkaufsfläche von mehr als 800 m2 auf, so kommt eine Bewilligung nur in Betracht, wenn dadurch keine Gefährdung der Nahversorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern des kurzfristigen und des täglichen Bedarfs (zB Lebensmittel, Drogeriefachmarktartikel, Zeitungen) im Einzugsbereich zu erwarten ist. Die gewerbebehördliche Genehmigung
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eines Einkaufszentrums setzt außerdem voraus, dass der in Aussicht genommene Standort für eine derartige Gesamtanlage gewidmet ist. Siehe dazu auch X.B.4.
8.
Besondere Genehmigungskriterien bei IPPC-Anlagen (§ 77a GewO)
Im Bescheid zur Genehmigung einer IPPC-Betriebsanlage (II.D.) ist zusätzlich sicherzustellen, dass diese Anlage so errichtet, betrieben und aufgelassen wird, dass: -
alle geeigneten Vorsorgemaßnahmen gegen Umweltverschmutzungen getroffen werden;
-
die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um Unfälle zu verhindern und deren Folgen zu begrenzen;
-
die erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, um bei der Auflassung der Betriebsanlage die Gefahr einer Umweltverschmutzung zu vermeiden und um einen zufriedenstellenden Zustand des Betriebsanlagengeländes wiederherzustellen.
Sie kommen nach Prüfung des Projekts zum Ergebnis, dass die Diskothek eine Normalanlage darstellt, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass Schutzgüter des § 74 Abs 2 GewO berührt werden. Eine Belästigung der Nachbarn durch Lärm aus der Gaststätte ist sogar wahrscheinlich. Zu beachten ist darüber hinaus, dass der BMWA eine BagatellanlagenVO bezüglich Gaststätten erlassen hat, der zufolge Betriebsanlagen zur Ausübung des Gastgewerbes, in denen bis zu 200 Verabreichungsplätze bereitgestellt werden und weder musiziert noch, zB mit einem Tonbandgerät, Musik wiedergegeben wird (nicht unter dieses Musizieren bzw Wiedergeben von Musik fällt bloße Hintergrundmusik, die leiser ist als der übliche Gesprächston der Gäste), dem vereinfachten Verfahren zu unterziehen sind. Das trifft auf Ihr Lokal (Diskothek!) nicht zu. Somit stellt dieses Lokal eine Normalanlage dar, auf die das allgemeine Verfahren Anwendung findet. In vorliegenden Fall stellt sich vor allem die Frage, ob die durch die Diskothek zu erwartende Lärmbelästigung der Nachbarn einer Bewilligung entgegensteht. Die Behörde muss nun die Zumutbarkeit dieser Belästigung beurteilen, indem sie prüft, wie sich die tatsächlichen örtlichen Verhältnisse durch die Betriebsanlage ändern (§ 77 Abs 2 GewO). Dazu wird sie die Lärmsituation ohne Discomusik und mit Discomusik vergleichen und die Nachbarn, die dazu Stellung nehmen wollen, anhören. Die Behörde stellt tatsächlich eine Belästigung fest. Durch die laute Musik zu nächtlicher Stunde werden die Gäste des naheliegenden Hotels gestört; es liegt eine Belästigung eines Nachbarn im Sinn des § 74 Abs 2 Z 2 GewO vor.
IV. Auflagen Die beschriebenen Voraussetzungen für die Genehmigung einer gewerblichen Betriebsanlage werden vielfach erst durch die Vorschreibung von Auflagen erfüllt. Bescheide, mit denen eine gewerbliche Betriebsanlage bewilligt wird, enthalten daher in der Regel eine Reihe von
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Auflagen. Die Behörde wird insbesondere jene Auflagen vorschreiben, die erforderlich sind, um die nach den Umständen des Einzelfalles voraussehbaren Gefährdungen iSd § 74 Abs 2 Z 1 GewO zu vermeiden und Belästigungen, Beeinträchtigungen oder nachteilige Einwirkungen auf ein zumutbares Maß zu beschränken (§ 77 Abs 1 GewO). Eine beantragte Genehmigung darf sohin nicht schon deswegen versagt werden, weil die Behörde feststellt, dass das Vorhaben zur Beeinträchtigung von Schutzgütern der GewO (§ 74 Abs 2) führt. Vielmehr muss die Behörde von Amts wegen prüfen, ob die festgestellten Genehmigungshindernisse durch Vorschreibung zulässiger Auflagen beseitigt werden können. Für die Zulässigkeit einer Auflage ist allerdings weder die Zustimmung des Bewilligungswerbers noch der Nachbarn entscheidend. Auch auf die wirtschaftliche Tragbarkeit der Auflage kommt es nicht an.
Auflagen machen die Anlage erst genehmigungsfähig.
Eine Auflage ist eine pflichtenbegründende Nebenbestimmung in einem dem Hauptinhalt nach begünstigenden Bescheid. Auflagen haben akzessorischen Charakter: Sie werden erst dann relevant, wenn von der Begünstigung Gebrauch gemacht wird (zB die Betriebsanlage in Betrieb genommen wird). Auflagen dürfen das eingereichte Projekt nicht in seinem Wesen verändern und müssen bestimmt, geeignet, erforderlich und behördlich erzwingbar sein.
Auflagen dürfen das Projekt nicht in seinem Wesen ändern; sie müssen bestimmt, geeignet, erforderlich und behördlich erzwingbar sein.
A.
Auflagen dürfen das Projekt nicht in seinem Wesen verändern
Die Behörde darf das Vorhaben durch Auflagen nur soweit modifizieren, dass dieses in seinem Wesen unberührt bleibt. Es ist daher der Behörde nicht erlaubt, durch Auflagen das beantragte Projekt so zu verändern (und dann zu genehmigen), dass es sich praktisch um ein neues Projekt handelt. Kann allerdings die Genehmigungsfähigkeit der beantragten Anlage durch andere Auflagen, die das Wesen des Projekts unverändert lassen, nicht erreicht werden, ist die Genehmigung zu versagen. Bsp: Auflagen, die eine Lärmkapselung einer Maschine vorsehen, berühren das Vorhaben nicht in seinem Wesen. Da sich das Wesen einer Warmwasserkesselanlage gerade durch die Art des eingesetzten Betriebsmittels (Brennstoff) bestimmt, würde die Vorschreibung eines anderen Betriebsmittels (zB Heizöl extra leicht) das Vorhaben in seinem Wesen ändern.
B.
Bestimmtheit
Auflagen müssen konkrete Ge- bzw Verbote („Befehle“) enthalten. Da die Missachtung von Auflagen strafbar ist, müssen Auflagen so klar formuliert sein, dass der Verpflichtete jederzeit erkennen kann, ob er die Auflagen einhält. Bsp: Eine Betriebszeitenbeschränkung auf „während der Winterzeit“ ist nicht ausreichend bestimmt, weil hieraus nicht mit der erforderlichen Klarheit folgt, inwiefern damit die kalendermäßig bestimmte Winterzeit oder ein davon unabhängiger Zeitraum der „Wintersaison“ oder allenfalls einer „winterlichen Jahreszeit“ erfasst werden soll.
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C.
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Geeignetheit
Auflagen müssen zur Erreichung des Ziels geeignet sein. Dies schließt mit ein, dass die Erfüllung von Auflagen faktisch möglich, dh vor allem auch technisch durchführbar sein muss.
D.
Erforderlichkeit
Die vorgeschriebenen Auflagen müssen erforderlich sein, um (iSd § 77 Abs 1 GewO) eine Gefährdung zu vermeiden und Belästigungen etc auf ein zumutbares Maß zu beschränken. Bestehen mehrere Möglichkeiten zur Erreichung des Schutzzweckes, muss die Behörde jene Maßnahme wählen, die den Unternehmer am wenigsten belastet.
E.
Behördliche Erzwingbarkeit
Auflagen müssen so gestaltet sein, dass sie von der Behörde durchgesetzt werden können. Dies setzt voraus, dass die Auflage so formuliert ist, dass ihre Einhaltung von der Behörde überprüft werden kann. Bsp: Einer Auflage fehlt sowohl die Bestimmtheit als auch die behördliche Erzwingbarkeit, wenn die darin alternativ vorgesehenen – im Einzelnen nicht näher konkretisierten – Alternativvorkehrungen durch die Anordnung eingeleitet werden, die Verfrachtung staubender Güter durch Wind sei durch folgende Maßnahmen „nach Möglichkeit zu vermeiden“. Die Behörde bewilligt Ihre Betriebsanlage unter Vorschreibung folgender Auflage: „Sie sind verpflichtet, in der Zeit, in der Ihr Lokal geöffnet hat und Musik gespielt wird, die Fenster und Türen des Lokals geschlossen zu halten. Außerdem sind Sie verpflichtet, schalldichte Fenster und Türen zu verwenden.“ Da Sie ohnehin geplant hatten, nur schalldichte Fenster und Türen zu verwenden, stellt diese Auflage für Sie kein Problem dar. Diese Auflage entspricht den gesetzlichen Anforderungen: Sie verändert das Wesen Ihrer Betriebsanlage nicht und sie ist ausreichend bestimmt; somit kann sie von der Behörde überwacht und von dieser nötigenfalls erzwungen werden. Weiters ist sie geeignet, die Lärmbelästigung auf das zumutbare Maß zu beschränken, und erforderlich, damit die Gäste des Hotels nicht gestört werden. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass es sich um die gelindeste Maßnahme zur gebotenen Reduktion der Lärmbelästigung handelt. Andere Maßnahmen, wie etwa eine Verringerung der Lautstärke Ihrer Musikanlage oder ähnliches, würden Sie in Ihrer gewerblichen Tätigkeit stärker einschränken.
V.
Betrieb der Anlage vor Rechtskraft des Genehmigungsbescheids
Ist der Genehmigungsbescheid noch nicht in Rechtskraft erwachsen, etwa weil ein Nachbar gegen die behördliche Genehmigung der Anlage Berufung erhoben hat (Näheres zur Rechtskraft siehe LE 9), kann der Projektwerber dennoch mit dem Bau bzw dem Betrieb der
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Anlage beginnen, wenn er die Auflagen der Genehmigung einhält (§ 78 GewO). Diese Bestimmung dient dem Unternehmer als Überbrückung bis zur rechtskräftigen Entscheidung bei länger andauernden Verfahren und soll Investitionen des Unternehmers begünstigen. Der Gewerbetreibende trägt dabei aber das Risiko, dass die Genehmigung von der Berufungsinstanz abgeändert oder im schlimmsten Fall verwehrt wird. Dann müsste er seine Anlage nachträglich anpassen oder vielleicht sogar abreißen.
VI. Nachträgliche Änderungen von Betriebsanlagen Es kann notwendig sein, bereits genehmigte Betriebsanlagen zu verändern. Hierbei sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden:
A.
Änderung der Betriebsanlage auf Initiative des Gewerbetreibenden (§ 81 GewO)
Soll bspw eine technisch überholte Fabrik auf den neuesten Stand gebracht werden, weil die alten Produktionsmaschinen nicht mehr rentabel sind, stellt sich die Frage, ob eine solche Modernisierung eine gewerbebehördliche Bewilligung erfordert. Änderungen einer genehmigten Anlage können bewilligungspflichtig sein
§ 81 Abs 1 GewO sieht vor, dass auch die Änderung einer rechtskräftig genehmigten Betriebsanlage einer behördlichen Genehmigung bedarf, wenn es zur Wahrung der in § 74 Abs 2 GewO umschriebenen Interessen erforderlich ist. Die Genehmigungsvoraussetzungen für die Änderung einer Anlage sind die gleichen wie für die Errichtung einer Anlage. Die Genehmigungspflicht entfällt jedoch in den in § 81 Abs 2 GewO (demonstrativ) aufgezählten Fällen. Nicht genehmigungspflichtig sind daher Änderungen, die das Emissionsverhalten der Anlage nicht nachteilig beeinflussen oder der Ersatz von Maschinen, Geräten oder Ausstattungen durch gleichartige Maschinen, Geräte oder Ausstattungen (Ersatzinvestitionen).
B.
Änderung der Betriebsanlage aufgrund behördlicher Anordnung (§§ 79, 79b GewO)
Ergibt sich nach Abschluss des Verfahrens und trotz Einhaltung der im Bewilligungsbescheid vorgesehenen Auflagen, dass die Schutzgüter des § 74 Abs 2 Nachträgliche Auflagen dienen der Anpassung der Genehmigung an die GewO gefährdet sind, hat die Behörde von sich aus oder auf tatsächliche Gefährdungs- und BelästiAntrag andere oder zusätzliche Auflagen vorzuschreiben (§ 79 gungssituation Abs 1 GewO). Der Grund hierfür kann in einer Fehleinschätzung der Sachverständigen im Genehmigungsverfahren, im Vorliegen neuer technischer Erkenntnisse über die Auswirkungen einer Betriebsanlage oder aber auch in unzureichenden Auflagen des Genehmigungsbescheides liegen. Nachträgliche Auflagen dürfen nicht vorgeschrieben werden, wenn sie unverhältnismäßig sind, insbesondere wenn der mit der Erfüllung der Auflagen verbundene Aufwand außer Verhältnis zu dem mit den Auflagen angestrebten Erfolgt steht. Beachte: Auflagen zum Schutz der Gesundheit und des Lebens können niemals unverhältnismäßig sein.
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Ist es dem Inhaber der Anlage wirtschaftlich nicht zuzumuten, die Umsetzung neuer Auflagen sofort vorzunehmen, kann ihm, sofern im Hinblick auf die Schutzinteressen der GewO keine Bedenken bestehen, eine Frist von bis zu fünf Jahren zur Erfüllung von Auflagen gewährt werden. Die Vorschreibung anderer oder zusätzlicher Auflagen ist auch für den Fall vorgesehen, dass trotz Einhaltung des Abfallwirtschaftskonzepts und der im Bescheid vorgeschriebenen Auflagen die gem § 77 Abs 4 GewO wahrzunehmenden Interessen nicht hinreichend gewahrt sind (§ 79b GewO).
C.
Sanierungskonzept (§ 79 Abs 3 und 4 GewO)
Würden die erforderlichen Auflagen jedoch die Betriebsanlage in ihrem Wesen verändern, so hat die Behörde dem Anlageninhaber die Vorlage eines Sanierungskonzepts aufzutragen (§ 79 Abs 3 GewO). Auch für dieses Sanierungskonzept ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit maßgebend. Entspricht das vorgelegte Sanierungskonzept den gesetzlichen Voraussetzungen, so hat die Behörde die Sanierung mit Bescheid zu genehmigen. In diesem Bescheid ist eine entsprechende Sanierungsfrist festzulegen. Die Vorlage eines Sanierungskonzepts kommt außerdem im Zusammenhang mit Sanierungen gem dem IG-L in Betracht (§ 79 Abs 4 GewO).
VII. Überwachung von Betriebsanlagen Nach der GewO gilt das Gebot, dass Betriebsanlagen im Interesse des Umweltschutzes und des Schutzes der Interessen der Nachbarn kontinuierlich zu kontrollieren sind. Diese Aufgabe teilt das Gesetz auf Anlagenbetreiber und Behörde gleichermaßen auf.
A.
Überwachung durch den Anlagenbetreiber
Der Inhaber der genehmigten Betriebsanlage muss in regelmäßigen Abständen (wenn nichts anderes bestimmt ist: alle fünf Jahre; bei Bagatellanlagen: alle sechs Jahre) selbst prüfen oder prüfen lassen, ob die Anlage dem Bewilligungsbescheid Der Inhaber einer genehmigten Betriebsbzw den sonst für die Anlage geltenden gewerberechtlichen anlage ist verpflichtet, diese regelmäßig Vorschriften entspricht (§ 82b GewO). Über jede wiederkehzu prüfen oder prüfen zu lassen. rende Prüfung ist eine Prüfbescheinigung auszustellen. Werden darin Mängel festgehalten, so hat der Inhaber der Anlage diese Prüfbescheinigung unverzüglich der Behörde vorzulegen und ihr überdies innerhalb angemessener Frist eine Darstellung der zur Mängelbehebung getroffenen Maßnahmen zu übermitteln.
B.
Überwachung durch die Behörde
Soweit dies zur Vollziehung der gewerberechtlichen Vorschriften erforderlich ist, sind die Organe der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörden (siehe VIII.) sowie die von diesen Behörden herangezogenen Sachverständigen berechtigt, Betriebe Die behördliche Überprüfung (§ 338 GewO) erfolgt von Amts wegen. sowie deren Lagerräume während der Betriebszeiten zu betreten und zu besichtigen und Kontrollen des Lagerbestandes
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vorzunehmen und in alle Geschäftsunterlagen Einsicht zu nehmen und Beweismittel zu sichern (amtswegige Überprüfungen nach § 338 GewO). Nachbarn einer Betriebsanlage haben allerdings kein subjektiv-öffentliches Recht auf die Durchführung einer Überprüfung. Unter bestimmten Voraussetzungen ist die Behörde jedoch zum Einschreiten verpflichtet. Als Konsequenz einer amtswegigen Überprüfung kann es bspw zur Einleitung eines Verwaltungsstrafverfahrens oder zu einstweiligen Zwangs- und Sicherheitsmaßnahmen (§ 360 GewO) kommen. § 360 GewO ermächtigt die Gewerbebehörde zu gewerbepolizeilichen Maßnahmen im Rahmen der allgemeinen Gewerbeaufsicht. Die dort vorgesehenen einstweiligen Zwangsund Sicherheitsmaßnahmen dienen der Herstellung des der Rechtsordnung entsprechenden Zustandes, der Abwehr von Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum sowie zur Beendigung unzumutbarer Belästigungen der Nachbarn durch nicht genehmigte Betriebsanlagen. Als äußerstes Mittel kommt auch die gänzliche Schließung des Betriebes in Betracht. Maßnahmen nach § 360 GewO sind von Amts wegen zu treffen. Nachbarn einer Betriebsanlage steht kein Antragsrecht und auch kein Recht auf Einleitung eines Verfahrens zu.
VIII. Die Zuständigkeit im Betriebsanlagenrecht Die Genehmigung in erster Instanz sowie die Überwachung aller Betriebsanlagen im Sinn der GewO fallen in die Kompetenz der Bezirksverwaltungsbehörden (BVB). Der Antrag auf Genehmigung einer Anlage ist daher bei den Bezirkshauptmannschaften (BH) und – in Städten mit eigenem Statut – beim Bürgermeister bzw beim Magistrat einzubringen (§ 333 Abs 1 GewO). Berufungsinstanz ist der Unabhängige Verwaltungssenat (§ 359a GewO).
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IX. Das Baurecht Erfordert eine gewerbliche Betriebsanlage die Errichtung oder Änderung einer baulichen Anlage, so benötigt der Unternehmer in der Regel auch eine Genehmigung nach der BauO des jeweiligen Bundeslandes (Baurecht). Dabei bedingt der Umstand, dass eine Betriebsanlage nach §§ 74 ff GewO genehmigt worden ist, noch nicht, dass diese Anlage auch nach baurechtlichen Bestimmungen zulässig sein muss.
A.
Regelungsgegenstand
Als (öffentliches) Baurecht bezeichnet man – vereinfach gesagt – die Gesamtheit jener (öffentlich-rechtlichen) Vorschriften, die das Bauen regeln. Dabei geht es zum einem um die Sicherheit und einwandfreie Beschaffenheit von Bauwerken vor allem in technischer Hinsicht. Zum anderen dient das Baurecht aber auch dem Schutz der Nachbarn. Augenfällig ist auch die enge Verzahnung des Baurechts mit dem Raumordnungsrecht, zumal baurechtliche Bescheide (Bauplatzerklärung, Baubewilligung) den raumordnungsrechtlichen Vorgaben (Flächenwidmungsplan) entsprechen müssen (siehe dazu X.). Schließlich zählen auch As-
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pekte des Ortsbild- und des Umweltschutzes (zB Verwendung energiesparender Baustoffe) zu den typischen Inhalten baurechtlicher Regelungen. Da das Baurecht gemäß der österreichischen Bundesverfassung in Gesetzgebung und Vollziehung Landessache ist (siehe LE 2), hat jedes Bundesland eine eigene Bauordnung. Diesem Abschnitt wird das Wiener Baurecht zu Grunde gelegt (Bauordnung für Wien; LGBl 1930/11 idgF), die Ausführungen gelten aber für die Bauordnungen anderer Bundesländer sinngemäß.
B.
Kategorien von Bauvorhaben
Die Wiener Bauordnung gliedert Bauvorhaben in solche, die vor Ausführung von der Baubehörde bewilligt werden müssen, und solche, die bei der Behörde angezeigt werden müssen, sowie solche, für die weder eine Bewilligung noch eine Anzeige notwendig ist (§§ 60 ff Wr BauO).
1.
Bewilligungspflichtige Bauvorhaben
Bewilligungspflichtig sind grundsätzlich Neubauten (= Errichtung neuer Gebäude), Zubauten (= Vergrößerungen eines Gebäudes in waagrechter oder lotrechter Richtung) und Umbauten (= grundlegende Änderungen eines Gebäudes). Unter die Neu-, Zu- und Umbauten sind grundsätzBewilligungspflicht fallen etwa auch Änderungen oder lich bewilligungspflichtig (§ 60 Wr BauO). Instandsetzungen von Bauwerken, wenn diese von Einfluss auf die Festigkeit, die gesundheitlichen Verhältnisse, die Feuersicherheit oder auf die subjektivöffentlichen Rechte der Nachbarn sind.
2.
Anzeigepflichtige Bauvorhaben
Bestimmte Bauvorhaben erfordern kein Bewilligungsverfahren, sondern sind der Behörde lediglich anzuzeigen. Nach Vorlage der vollständigen Unterlagen darf grundsätzlich mit der Bauführung begonnen werden. Ergibt jedoch die Prüfung der Angaben in den Bauplänen, dass die zur Anzeige gebrachten Baumaßnahmen nicht den gesetzlichen Erfordernissen entsprechen oder einer Baubewilligung bedürfen, hat die Behörde binnen sechs Wochen die Bauführung mit schriftlichem Bescheid zu untersagen. Eine Bauanzeige genügt zB für den Einbau oder die Abänderung von Badezimmern und Sanitäranlagen, Loggienverglasungen und den Austausch von Fenstern (§ 62 Wr BauO).
3.
Freie Bauvorhaben
§ 62a Wr BauO listet darüber hinaus Vorhaben auf, für die weder eine Bewilligung noch eine Anzeige erforderlich ist. Darunter fallen zB Badehütten, Verkaufsstände, Marktstände, Telefonhütten, öffentliche Toiletten etc.
C.
Verfahren/Zuständigkeit
Das Baubewilligungsverfahren ist – sowie das Betriebsanlagengenehmigungsverfahren – ein Mehrparteienverfahren unter Beiziehung der Nachbarn des geplanten Vorhabens (siehe LE 9).
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In Bauangelegenheiten ist in erster Instanz grundsätzlich der Bürgermeister der Gemeinde, in deren Gebiet das Bauwerk errichtet werden soll, zuständig. In zweiter Instanz entscheidet regelmäßig der Gemeinderat. Anderes gilt in Wien: Hier ist in erster Instanz der Magistrat, in zweiter Instanz die Bauoberbehörde zuständig. Da Sie nur geringfügige Umbauten vornehmen müssen und die Räumlichkeiten, die Sie verwenden wollen, auch bisher als Gaststätte genutzt wurden, benötigen Sie keine Bewilligung, sondern müssen lediglich Ihre Absichten der Behörde mitteilen. Diese kann innerhalb von sechs Wochen nach Ihrer Anzeige die Bauführung per Bescheid untersagen. Erfolgt keine rechtskräftige Untersagung der Bauführung, gilt das Bauvorhaben als bewilligt (§ 62 Abs 6 Wr BauO).
X.
Raumordnungsrecht
Im Zuge eines baubehördlichen Verfahrens im Zusammenhang mit dem Bau einer Betriebsanlage ist zu prüfen, ob dieses Vorhaben den raumordnungsrechtlichen Vorgaben entspricht.
A.
Regelungsgegenstand
Das Raumordnungsrecht zielt auf die planmäßige und vorausschauende Gestaltung des Raumes ab. Die natürlichen Gegebenheiten aber auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung sollen dabei Berücksichtigung finden.
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Betriebsanlagenrecht und Baurecht
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Nach der Kompetenzverteilung der österreichischen Bundesverfassung ist die Raumordnung eine „Querschnittsmaterie“: Die Raumordnung ist Sache der Länder in Gesetzgebung und Vollziehung soweit nicht Teile davon in die Zuständigkeit des Bundes fallen oder die Gemeinden zur Vollziehung zuständig sind. Raumordnungszuständigkeiten des Bundes bestehen für verschiedene Fachbereiche, zB im Verkehrswesen (Festlegung von Eisenbahntrassen; Bundesstraßenplanung). Für gewerbliche Betriebsanlagen ist hingegen die allgemeine Raumordnung auf Landes- und Gemeindeebene maßgeblich. Die Länder haben zur Regelung des allgemeinen Raumordnungsrechts Raumordnungsgesetze erlassen. In Wien gibt es kein eigenes Raumordnungsgesetz, sondern die raumordnungsrechtlichen Regelungen finden sich in der Wiener Bauordnung.
B.
Flächenwidmungsplan und gewerbliche Betriebsanlagen
Nachdem Sie Ihr Lokal nun schon einige Zeit überaus erfolgreich betreiben, denken Sie über eine neue Herausforderung nach: eine Großraumdisco am Stadtrand von Wien. Ihr Onkel verfügt dort über ein Grundstück, das er früher als Gärtnerei genutzt hat. Ein altes Betriebsgebäude, das sich als Büro nutzen ließe, steht dort leer. Eine Halle für die Disco ließe sich auf dieser Liegenschaft mit wenig Aufwand neu errichten und Probleme mit Anrainern wären in dieser Gegend auch nicht zu erwarten, da ringsum keine Wohnhäuser liegen. Ihr Onkel dämpft Ihren Enthusiasmus jedoch und meint, dass es wegen der Flächenwidmung Probleme mit der Baubewilligung geben wird, weil das Grundstück als „ländliches Gebiet“ gewidmet ist. Sie sind erstaunt, zumal dort schon ein Gebäude steht und es bei Ihrem Lokal in der Innenstadt keine Probleme mit der Flächenwidmung gab.
1.
Funktion des Flächenwidmungsplans und Widmungskategorien
Der Flächenwidmungsplan ist das zentrale Planungsinstrument der örtlichen Raumplanung. Er wird von den Gemeinden als Verordnung erlassen. Der Flächenwidmungsplan legt rechtsverbindlich die Art der Nutzung („Widmung“) der im Gemeindegebiet gelegenen Grundflächen fest. Als Hauptwidmungskategorien sind in der Regel x
Bauland,
x
Vorbehaltsflächen (zB Verkehrsflächen) und
x
Grünland (Freiland)
vorgesehen. Innerhalb dieser drei Hauptwidmungskategorien sind wiederum verschiedene Widmungsarten auszuweisen: Für das Bauland zB Wohngebiete, Dorfgebiete, Kerngebiete, gemischte Baugebiete, Betriebsbaugebiete, Industriegebiete und Zweitwohnungsgebiete. Die zulässige Nutzung eines Grundstücks („Widmung“) ergibt sich aus dem Flächenwidmungsplan.
Welche Widmungsarten generell zur Verfügung stehen und welche Arten von Betrieben (Betriebstypen) im Rahmen der verschiedenen Baulandwidmungen jeweils zulässig sind, wird den Gemeinden durch das Raumordnungsrecht der
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239
Länder vorgegeben.
2.
Verfahren zur Erlassung eines Flächenwidmungsplans
Letztlich ist es nicht möglich, in einem Raumordnungsgesetz genau vorherzubestimmen, für welches Gebiet, welche Widmung gelten soll. In den Raumordnungsgesetzen der Länder sind Ziele und Grundsätze festgelegt, nach denen alle weiteren Planungsakte auszurichten sind. Diese Zielvorgaben sind jedoch sehr abstrakt (Schutz der Umwelt, Gewährleistung wirtschaftlicher und sozialer Bedürfnisse etc). Wegen ihrer Vielfalt stehen sie oft auch zwangsläufig miteinander in Konflikt (zB die Vermeidung von Es bestehen Vorgaben und Verfahrensregeln, Zersiedelung und die Sicherstellung von Interessen des die bei der Erstellung des Flächenwidmungsplanes eingehalten werden müssen. Fremdenverkehrs). Bei der Festlegung der konkreten Widmungen in einem Flächenwidmungsplan verfügt die Gemeinde daher letztlich über einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Die Vorgaben des Raumordnungsrechts dürfen von der Gemeinde aber nicht unsachlich oder willkürlich angewendet werden. In den Raumordnungsgesetzen der Länder sind zudem wesentliche Verfahrensschritte festgelegt, die zu beachten sind, bevor ein Flächenwidmungsplan vom Gemeinderat beschlossen wird: x
Grundlagenforschung
x
Öffentliche Bekanntmachung der Planungsabsicht
x
Öffentliche Auflage des Entwurfs
x
Einräumung von Stellungnahme- und Einwendungsmöglichkeiten.
Bei der Festlegung der Widmungen sind gegenseitige Beeinträchtigungen (zB Betriebsbaugebiet/Wohngebiet) möglichst zu vermeiden.
3.
Prüfung der Einhaltung der Flächenwidmung
Nach den Bauordnungen der Länder ist die Erteilung einer Baubewilligung grundsätzlich nur dann zulässig, wenn das betreffende Bauvorhaben dem Flächenwidmungsplan nicht widerspricht. Auch für den Bau einer gewerblichen Betriebsanlage darf die Baubewilligung daher in der Regel nur dann erteilt werden, wenn für den Standort eine passende Widmung im Flächenwidmungsplan vorliegt. Im gewerberechtlichen Die Einhaltung der Flächenwidmung wird im baurechtlichen Verfahren geprüft. Betriebsanlagengenehmigungsverfahren ist hingegen die raumordnungsrechtliche Zulässigkeit des Standorts der geplanten Betriebsanlage nicht zu überprüfen (Ausnahme: Einkaufszentren, siehe dazu X.B.4.) Ob eine gewerbliche Betriebsanlage unter dem Blickwinkel der Flächenwidmung zulässig ist, hat die Baubehörde – wenn die Gesetze nichts anderes vorschreiben – nicht im Hinblick auf den konkreten Betrieb zu beurteilen; maßgeblich ist vielmehr der Betriebstypus. Wenn ein bestimmter Betriebstypus am Standort nicht zulässig ist, kann er – im Gegensatz zum gewerblichen Betriebsanlagenrecht – auch durch entsprechende Auflagen im Baubewilligungsbescheid nicht zulässig gemacht werden. Auf diese Weise soll die Ansiedlung störender Betriebe im Wohngebiet von vornherein verhindert werden.
240
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
LE 8
Beispiel: Ein Metallverarbeitungsbetrieb zur Erzeugung von Lüftungsanlagen ist seinem Typ nach im Wohngebiet auch dann unzulässig, wenn für das konkrete Bauvorhaben die Lärmentwicklung durch Schallschutzmaßnahmen gering gehalten werden könnte. Gewerbliche Betriebsanlagen dürfen – von bestimmten Ausnahmen wie etwa Erwerbsgärtnereien abgesehen – nur im Bauland errichtet werden.
Der Standort für Ihr Lokal in der Innenstadt ist offenbar als gemischtes Baugebiet (§ 6 Abs 8 Wr BauO) gewidmet. In Wien dürfen in gemischten Baugebieten Bauwerke oder Anlagen nur dann nicht errichtet werden, wenn sie geeignet sind, durch Rauch, Ruß, Staub, schädliche oder üble Dünste, Niederschläge aus Dämpfen oder Abgasen, Geräusche, Wärme, Erschütterungen oder sonstige Einwirkungen, Gefahren oder unzumutbare Belästigungen für die Nachbarschaft herbeizuführen. Für Ihr Projekt einer Großraumdisco liegt hingegen keine passende Widmung vor. Ländliche Gebiete sind für eine land- und forstwirtschaftliche oder berufsgärtnerische Nutzung bestimmt (§ 6 Abs 1 Wr BauO). In ländlichen Gebieten dürfen grundsätzlich nur Bauwerke errichtet werden, die landwirtschaftlichen, forstwirtschaftlichen oder berufsgärtnerischen Zwecken dienen und das betriebsbedingt notwendige Ausmaß nicht überschreiten. Für die geplante „Großraumdisco“ werden Sie daher an diesem Standort keine baurechtliche Genehmigung erhalten.
4.
Sonderfall Einkaufszentren
Die Errichtung von Einkaufszentren hat vielfältige und intensive Auswirkungen auf die Interessen der Raumordnung. Für Einkaufszentren sehen die Raumordnungsgesetze daher Sonderwidmungen vor. Die Einhaltung dieser Sonderwidmung ist von der Baubehörde zu überprüfen. Bei Einkaufszentren (§ 77 Abs 5 GewO) muss aber zusätzlich auch von der Gewerbebehörde geprüft werden, ob der betreffende Betriebsstandort die erforderliche Flächenwidmung aufweist. Außerhalb eines Stadt- oder Ortskerngebiets geplante Einkaufszentren, die überwiegend dem Handel mit Konsumgütern des kurzfristigen und des täglichen Bedarfs dienen und eine Gesamtverkaufsfläche von mehr als 800 m2 aufweisen, dürfen von der Gewerbebehörde darüber hinaus nur genehmigt werden, wenn das Projekt keine Gefährdung der Nahversorgung der Bevölkerung mit den genannten Konsumgütern erwarten lässt (siehe dazu schon III.B.7.).
LE 8
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
241
XI. Weiterführende Literatur Feik, Gewerberecht, in: Bachmann et al (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht8 (2010) Jahnel, Baurecht, in: Bachmann et al (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht8 (2010) Lienbacher, Raumordnungsrecht, in: Bachmann et al (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht8 (2010) Potacs, Gewerbliches Betriebsanlagenrecht, in: Holoubek/Potacs (Hrsg), Öffentliches Wirtschaftsrecht2 (2007) Stolzlechner/Wendl/Bergthaler, Die gewerbliche Betriebsanlage3 (2008)
XII. Wiederholungsfragen
Was ist eine Betriebsanlage im Sinne der GewO? Welche Formen von Betriebsanlagen gibt es? Wann ist eine Betriebsanlage bewilligungspflichtig? Was unterscheidet die Normalanlage von - der nicht genehmigungspflichtigen Betriebsanlage? - der IPPC-Betriebsanlage? - der Seveso II-Anlage? - von der Bagatellanlage? Nennen Sie die Kriterien der GewO für die Bewilligung einer Betriebsanlage? Welche Arten von Bewilligungskriterien gibt es? Was ist eine Auflage? Welchen Anforderungen müssen Auflagen genügen? Welche Regelungen gelten für die nachträgliche Änderung einer Betriebsanlage? Wem obliegt die Überwachung von Betriebsanlagen? Welche Kategorien von Bauvorhaben kennen Sie? Welche Bedeutung hat der Flächenwidmungsplan für gewerbliche Betriebsanlagen?
LE 9
Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
243
Lektion 9 VERWALTUNGSVERFAHREN UND NATIONALER RECHTSSCHUTZ
Disco in der Wiener Innenstadt (Teil 3) Nachdem die Voraussetzungen für die Ausübung des Gastgewerbes und die Anforderungen, die Ihr Lokal erfüllen muss, geklärt sind, stellt sich die Frage, wie Sie an die notwendigen behördlichen Bewilligungen gelangen. Insbesondere ist für Sie von Interesse, an welche Behörde Sie sich wenden können und welche Schritte von der Behörde zu setzen sind, damit Sie letztlich Ihr Lokal in Betrieb nehmen können. Die zentralen Fragen sind: Wie läuft das Verfahren zur Bewilligung einer Betriebsanlage ab? Wer nimmt am Verfahren teil? Wie (dh mit welchem rechtlichen Instrument) entscheidet die Behörde? Nachdem Sie die behördliche Bewilligung erhalten haben und Ihr Lokal betreiben, erfahren Sie von einem Hotelbesitzer in Ihrer Nachbarschaft, dass sich seine Gäste immer wieder über den Lärm des Lokals beschweren. Die Behörde prüft diese Vorwürfe und lässt Messungen von einem Sachverständigen in einem einzigen, der Disco am nächsten gelegenen Hotelzimmer durchführen. Sie stellt tatsächlich eine erhöhte Lärmbelästigung um 5 dB fest, obwohl die schalldichten Fenster und Türen Ihres Lokals geschlossen waren. Sie werden von der Behörde verständigt und geben eine Stellungnahme ab, in der Sie Ihren Standpunkt zu dieser Problematik darlegen. Sie weisen darauf hin, dass das Abspielen von lauter Musik für Ihr Lokal wichtig ist, da es einen grundlegenden Bestandteil Ihres Geschäftskonzeptes bildet. Dennoch erlässt die Behörde einen Bescheid, mit dem zusätzliche Auflagen vorgeschrieben werden. Ihnen wird vorgeschrieben, die Lautstärke Ihrer Musikanlage zu drosseln. Das soll durch Einbau eines Dynamikbegrenzers in Ihre Musikanlage erreicht werden, der es Ihnen unmöglich macht, die Musikanlage über eine gewisse Lautstärke zu betreiben. Das ist ein schwerer Schlag für Sie. Ihre Gäste waren gewohnt, bis spät in die Nacht zu lauter Musik zu tanzen und zu feiern. Sie müssen ein Ausbleiben der Gäste und damit Umsatzeinbußen befürchten. Sie beschließen daher, den Bescheid zu bekämpfen. Die zentralen Fragen sind: Warum ist nach der Verfassung Rechtsschutz geboten? Welche Rechtsmittel und -behelfe kann man gegen Verwaltungsakte ergreifen? Bei welcher Behörde muss man sie einbringen? Welche Behörde entscheidet darüber?
244
Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
LE 9
Inhalt: I. II. A. 1. 2. B. 1. 2. 3. C. 1. 2. 3. 4. 5. III. A. B. 1. 2. 3. 4. 5. C. 1. 2. 3. IV. A. 1. 2. 3. B. C. V. VI.
Verfahrensrecht und materielles Recht............................................................... 245 Das Verfahren erster Instanz................................................................................ 245 Die Zuständigkeit..................................................................................................... 245 Allgemeines ............................................................................................................. 245 Zuständigkeit im Betriebsanlagenverfahren ............................................................ 246 Die Parteistellung .................................................................................................... 246 Allgemeines ............................................................................................................. 246 Akteneinsicht ........................................................................................................... 248 Parteistellung im Betriebsanlagenverfahren............................................................ 249 Der Ablauf des Verwaltungsverfahrens ................................................................... 250 Einleitung des Verfahrens ....................................................................................... 250 Das Ermittlungsverfahren ........................................................................................ 251 Die Erledigung des Verfahrens: Der Bescheid ........................................................ 255 Exkurs: Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt . 262 Zustellung und Fristen ............................................................................................. 262 Rechtsschutz ......................................................................................................... 264 Rechtsstaatsprinzip und Rechtsschutz ................................................................... 264 Der administrative Instanzenzug ............................................................................. 265 Mittelbare Bundesverwaltung .................................................................................. 266 Unmittelbare Bundesverwaltung.............................................................................. 266 Landesverwaltung ................................................................................................... 267 Gemeindeverwaltung .............................................................................................. 267 Gesondert geregelte Instanzenzüge ....................................................................... 268 Berufung.................................................................................................................. 268 Berufungslegitimation und Berufungsfrist................................................................ 268 Form und Inhalt der Berufung ................................................................................. 269 Entscheidung über die Berufung ............................................................................. 270 Rechtsschutzinstanzen UVS und VwGH ............................................................. 273 Das Verfahren vor dem UVS ................................................................................... 273 Organisation ............................................................................................................ 273 Zuständigkeit ........................................................................................................... 274 Verfahrensrechtliche Besonderheiten ..................................................................... 274 Der Verwaltungsgerichtshof .................................................................................... 275 Vorabentscheidungsverfahren ................................................................................ 276 Weiterführende Literatur....................................................................................... 279 Wiederholungsfragen............................................................................................ 279
LE 9
I.
Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
245
Verfahrensrecht und materielles Recht
Das Verwaltungsverfahrensrecht regelt jenes Verfahren, das Behörden bei der Vollziehung von Verwaltungsrecht (Baurecht, Gewerberecht, Straßenverkehrsrecht etc) anzuwenden haben, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Es geht also darum, wie ein Unternehmer eine Betriebsanlagenbewilligung erlangt, wie ein Strafverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung abläuft oder wie die Behörde Betriebsanlagen überwacht. Das Verfahrensrecht ist meist mit den entsprechenden Sachregelungen (den sog Materiengesetzen) verbunden. So finden sich in der GewO sowohl Regelungen über die Voraussetzungen für den Gewerbeantritt und für die Errichtung von Betriebsanlagen als auch Regelungen über das dabei einzuhaltende Verfahren. Soweit die Materiengesetze, also die anzuwendenden Verwaltungsvorschriften (zB GewO, BauO, StVO), keine eigenen Regelungen über bestimmte Verfahrensabschnitte enthalten, gilt das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG). Regelungen für die Erlassung von Das Verfahren ist geregelt in AVG, VStG, Strafbescheiden durch Verwaltungsbehörden enthält das Materiengesetzen Verwaltungsstrafgesetz (VStG). Das Verfahren zur Die Vollstreckung ist geregelt in: VVG zwangsweisen Durchsetzung von Bescheiden ist im Verwaltungsvollstreckungsgesetz (VVG) geregelt. Das Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen (EGVG) nennt die Behörden, die diese Verfahrensgesetze anzuwenden haben. Aus der Zusammenschau der materiengesetzlichen Regelungen mit den Bestimmungen von EGVG, AVG, VStG oder VVG ergeben sich jene Normen, anhand derer das konkrete Verwaltungsverfahren durchzuführen ist. Die allgemeinen Grundsätze und der Ablauf des Verfahrens vor Verwaltungsbehörden werden im Folgenden – in Fortführung der LE 8 – hauptsächlich anhand des Verfahrens der Bewilligung von Betriebsanlagen illustriert.
II.
Das Verfahren erster Instanz
A.
Die Zuständigkeit
1.
Allgemeines
Bevor die Behörde tätig wird, muss sie prüfen, ob sie überhaupt zuständig ist und damit in der betreffenden Angelegenheit Rechtsakte setzen darf. Entscheidet eine Behörde, ohne zuständig zu sein, ist ihre Entscheidung gesetzwidrig und kann bekämpft werden. Die Einhaltung der Zuständigkeitsordnung ist durch das Grundrecht auf War die Behörde nicht zuständig, ist die ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter auch Entscheidung der Behörde gesetzwidrig. verfassungsrechtlich gewährleistet (vgl LE 4). Art 83 Abs 2 BVG und das Legalitätsprinzip des Art 18 B-VG verpflichten dabei auch den Gesetzgeber, die Zuständigkeit gesetzlich eindeutig zu regeln (siehe LE 2). Welche Behörde in einer Rechtssache entscheidet, ist abhängig davon, ob es sich um eine Vollziehungskompetenz des Bundes, der Länder oder der Gemeinden handelt. Die Kompe-
246
Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
LE 9
tenzverteilung zwischen Bund und Ländern ist in den Art 10 bis 15 B-VG verankert (siehe LE 2). Daraus ergibt sich, ob es sich bei der zu entscheidenden Verwaltungssache um eine Angelegenheit der Bundes- oder der Landesverwaltung handelt. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Sonderbestimmungen über die Vollziehung, zB für die Gemeinden in Art 118 ff BVG. Anhand der Kompetenzfestlegung und der auf dieser Grundlage ergehenden Materiengesetze (zB GewO) sowie dem AVG (§§ 2 ff) ergibt sich die zuständige Behörde erster Instanz. Auf diese Weise lassen sich für alle Sachmaterien und Verfahren eindeutige Zuständigkeiten feststellen.
2.
Zuständigkeit im Betriebsanlagenverfahren
Zuständig für Betriebsanlagenverfahren ist in erster Instanz die Bezirksverwaltungsbehörde (BVB), dh grundsätzlich der Bezirkshauptmann (BH), in Städten mit eigenem Statut der Bürgermeister und in Wien der Magistrat. Die Berufungsinstanz ist gem § 359a GewO der Unabhängige Verwaltungssenat (UVS); (siehe LE 8). Ihr Lokal soll in der Wiener Innenstadt errichtet werden. Zuständig für die behördliche Bewilligung Ihrer Betriebsanlage ist der Magistrat der Stadt Wien. Der Antrag auf Bewilligung der Betriebsanlage kann daher beim jeweils zuständigen magistratischen Bezirksamt eingebracht werden.
B.
Die Parteistellung
1.
Allgemeines
Eine entscheidende Frage ist, wer an einem Verwaltungsverfahren überhaupt und wenn ja, mit welchen Rechten teilnehmen darf. Hinsichtlich der am Verfahren teilnehmenden Personen unterscheidet das AVG zwischen Beteiligten und Parteien. Wichtig ist diese Unterscheidung, weil nur Parteien aktiv am Verfahren teilnehmen können. Nur Parteien können aktiv am Verfahren teilnehmen. Dies gilt grundsätzlich (eine Ausnahme besteht für mündliche Verhandlungen vor dem UVS, siehe unten Punkt IV.A.3) auch für mündliche Verhandlungen: Im Verwaltungsverfahren erster Instanz herrscht der Grundsatz der sog „Parteienöffentlichkeit“ (im Gegensatz zur „Publikumsöffentlichkeit“, wie sie etwa im UVS-Verfahren und in den meisten zivilgerichtlichen oder strafgerichtlichen Verhandlungen besteht). Beteiligte sind einer mündlichen Verhandlung zwar beizuziehen, sie verfügen dort (und sonst im Verfahren) aber lediglich über ein Anhörungsrecht. „Beteiligte“ sind Personen, die die Tätigkeit einer Behörde in Anspruch nehmen oder auf die sich die Tätigkeit einer Behörde bezieht. Als „Partei“ wird demgegenüber eine Person bezeichnet, die an der Verwaltungssache (am Verfahren) auf Grund eines „Rechtsanspruches“ oder eines „rechtlichen Interesses“ beteiligt ist. Der Beteiligtenbegriff ist weiter und bezieht Parteien mit ein. Ein Beteiligter kann Partei eines Verwaltungsverfahrens sein, eine Partei wiederum ist immer gleichzeitig auch Beteiligter eines Verfahrens. Bsp: Personen, denen bloße Anhörungsrechte im Verfahren zukommen, sind Beteiligte, aber keine Parteien. Das betrifft zB die Verfahren, in denen den Gemeinden Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird – die Gemeinden erlangen dadurch keine
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Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
247
Parteistellung. Bloße Beteiligte sind darüber hinaus Personen, deren Interessen durch das betreffende Verfahren in faktischer, meist wirtschaftlicher Hinsicht, nicht aber in rechtlicher Hinsicht berührt werden. Das gilt zB für Mieter hinsichtlich der Erhaltung der Bausubstanz – in einem baurechtlichen Räumungs- und Abbruchverfahren kommt zwar dem Hauseigentümer Parteistellung zu, nicht aber den Mietern. Ob ein „Rechtsanspruch“ oder ein „rechtliches Interesse“ besteht, ist den Materiengesetzen zu entnehmen. Nicht immer besagen die betreffenden Verwaltungsvorschriften klar, ob einer Person ein subjektives öffentliches Recht bzw Parteistellung eingeräumt werden soll. Für die Klärung dieser Frage ist darauf abzustellen, ob die Person durch die Tätigkeit einer Behörde rechtlich „betroffen“ ist, indem sie ihre rechtlich geschützten Interessen gegenüber der Behörde verfolgt (zB ein Unternehmer will eine Betriebsanlage errichten; ein Nachbar wehrt sich gegen Gestank, der aus einer Fabrik strömt) oder ihr von der Rechtsordnung eine Verpflichtung auferlegt wird (zB die Verpflichtung zur Erhaltung eines Hauses, wenn dieses Haus aufgrund des Denkmalschutzgesetzes zum „Denkmal“ erklärt wird). In diesem Zusammenhang spricht man von „subjektiven Rechten“: Partei ist eine Person, die durch den Gegenstand des Verfahrens in ihren subjektiven Rechten unmittelbar berührt wird. Ein subjektives Recht liegt vor, wenn gesetzliche Bestimmungen ein konkretes Interesse einer Person mit der Zielsetzung schützen, dass die Person ihr geschütztes Interesse auch unmittelbar selbst vor Gerichten oder Verwaltungsbehörden durchsetzen können soll. Ob gesetzliche Bestimmungen ein „subjektives Recht" einräumen, ist oft eine Auslegungsfrage, die insbesondere im Hinblick auf den „Schutzzweck der Norm" (sog Schutznormtheorie) geklärt werden muss: Zu fragen ist, ob der Gesetzgeber mit einer bestimmten Regelung nur allgemein öffentliche Interessen bzw die Interessen von PersoSubjektive Rechte nen oder Personengruppen (zB aller Verkehrsteilnehmer durch Geschwindigkeitsbeschränkungen) oder die konkreten Interessen einer Person gesetzlich besonders schützen will, indem er der Person ein „subjektives Recht" einräumt, ihr also die eigenständige Durchsetzung des Interesses in einem verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren ermöglicht (zB das Interesse des Nachbarn einer gewerblichen Betriebsanlage vor unzumutbaren Belästigungen, siehe LE 8). Bsp: Wenn Sie einen Verstoß eines Autofahrers gegen die StVO beobachten und diesen zur Anzeige bringen, sind Sie im Verfahren zur Bestrafung des Verkehrssünders nicht Partei. Ihnen kommt kein subjektives Recht auf Bestrafung eines Verkehrssünders zu. Sie sind allenfalls Zeuge. Soll allerdings in Ihrer Nachbarschaft eine Fabrik errichtet werden, haben Sie ein subjektives Recht darauf, dass ihr Leben und ihre Gesundheit nicht durch Emissionen dieser neuen Fabrik gefährdet werden. Dieses Recht räumt Ihnen § 74 Abs 2 Z 1 GewO ein, und Sie können dieses Recht im Verfahren zur Bewilligung der Fabrik vor der Behörde durchsetzen. Wer aufgrund eines „Rechtsanspruches" oder eines „rechtlichen Interesses", also zur Geltendmachung seiner subjektiven Rechte, am Verwaltungsverfahren teilnimmt, ist Partei. Nur Parteien kommen die grundlegenden Verfahrensrechte („Parteirechte") zu, aufgrund derer das Verwaltungsverfahren aktiv beeinflusst werden kann: Das Recht auf Stellungnahme
248
Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
LE 9
(Parteiengehör), das Recht auf Akteneinsicht, auf Zustellung des Bescheides und auf die Erhebung von Rechtsmitteln. Darüber hinaus kommt auch nur Parteien das Recht zu, nichtamtliche Sachverständige oder Dolmetscher wegen Befangenheit abzulehnen. Diese Verfahrensrechte – sie schützen das Interesse der Partei auf Wichtige Parteirechte: Durchsetzung ihres materiellen subjektiven Rechts, also zB des - Parteiengehör subjektiven Rechts des Nachbarn auf Abwehr unzumutbarer - Akteneinsicht - Ablehnung nichtamtlicher Belästigungen aus einer Betriebsanlage – stellen selbst wieder Sachverständiger und Dolmetscher subjektive Rechte dar, auf deren Einhaltung die Partei einen - Zustellung der Entscheidung - Erhebung von Rechtsmitteln Rechtsanspruch hat. Wird also einer Partei eines dieser Rechte im Verfahren verwehrt (zB die Behörde erlässt einen Bescheid, ohne die Partei zu den Ergebnissen ihres Ermittlungsverfahrens anzuhören und ihr damit Gelegenheit zu geben, dazu Stellung zu nehmen), ist das Verfahren rechtswidrig und die Partei kann die Verletzung ihrer subjektiven Verfahrensrechte – allerdings nicht eigenständig, dh nicht losgelöst von materiellen Rechten – mit Rechtsmittel (im Verwaltungsverfahren: Berufung) bekämpfen. Bloßen Beteiligten kommen diese Verfahrensrechte hingegen nicht zu. Beteiligte sind aber, wenn eine mündliche Verhandlung stattfindet, von der Behörde darüber in Kenntnis zu setzen und dürfen an der Verhandlung teilnehmen (§§ 40 Abs 1 und 41 Abs 1 AVG).
2.
Akteneinsicht
Ein fundamentales Recht der Parteien im Verwaltungsverfahren ist das Recht auf Akteneinsicht. Das Recht auf Akteneinsicht ist eng mit dem Recht auf Gehör verbunden, denn erst die Möglichkeit, sich im Verfahren über alle relevanten Tatsachen und Anträge sowie behördliche Erhebungen informieren zu können, ermöglicht es der Partei, sich im Verfahren zu diesen Dingen zu äußern und so das Parteiengehör vollumfänglich wahrzunehmen. Die Parteien können daher in Verfahrensunterlagen (Schriftstücke, Protokolle, Pläne, Videos, elektronische Daten etc) Einsicht nehmen und davon Abschriften verfassen bzw Kopien herstellen. Zudem kann auch ein elektronischer Zugriff auf Akten(bestandteile) gewährt werden (Teil des sog e-Government). Das Recht auf Akteneinsicht umfasst grundsätzlich sämtliche Verfahrensunterlagen und ist allen Parteien des Verfahrens in gleichem Umfang und in der gleichen Weise zu gewähren (es darf zB nicht einer Partei die elektronische Einsichtnahme gestattet, eine andere aber davon ausgeschlossen werden). Seine Grenze findet dieses weitreichende Einsichtsrecht dort, wo eine Einsichtnahme Interessen Dritter gefährden könnte. Soweit die berechtigten Interessen einer Partei des Verfahrens oder dritter Personen gefährdet sind oder eine Einsichtnahme eine Gefährdung der Aufgaben der Behörde herbeiführen oder den Zweck des Verfahrens beeinträchtigen würde, hat die Behörde die Akteneinsicht hinsichtlich der von der Gefährdung betroffenen Aktenbestandteile zu verweigern. Gegen die Verweigerung der Akteneinsicht ist gem § 17 Abs 4 AVG kein gesondertes Rechtsmittel zulässig. Eine rechtswidrige Verweigerung der Akteneinsicht kann allerdings von den Verfahrensparteien im Zuge der Berufung gegen den das Verfahren abschließenden Bescheid bekämpft werden. Bsp: Verweigerung der Akteneinsicht, wenn es sich um staatspolizeiliche Erhebungen handelt, die der Geheimhaltung unterliegen; Verweigerung der Akteneinsicht, um den
LE 9
Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
249
Zweck des Verwaltungsstrafverfahrens nicht dadurch zu unterlaufen, dass der Einsicht nehmende Beschuldigte frühzeitig über Verdachtsmomente oder Beweismittel informiert würde.
3.
Parteistellung im Betriebsanlagenverfahren
a.
Antragsteller
Wer eine Betriebsanlage errichten und betreiben will, ist Partei des Verfahrens. Das ergibt sich daraus, dass im Bewilligungsverfahren über die Interessen des Betriebsanlagenwerbers entschieden wird und dass dieser vom Ausgang des Verfahrens direkt betroffen ist. Erfüllt die Anlage alle gesetzlichen Voraussetzungen, hat der Antragsteller (Unternehmer) ein subjektives Recht, also einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Bewilligung. b.
Nachbarn
Darüber hinaus haben auch Nachbarn Parteistellung im betriebsanlagenrechtlichen Bewilligungsverfahren. Nachbarn sind all jene Personen, die durch die Errichtung, den Bestand oder den Betrieb einer Betriebsanlage gefährdet oder belästigt werden könnten oder deren Eigentum gefährdet werden könnte (§ 75 Abs 2 GewO). Sie erhalten durch die Verleihung der Parteistellung die Möglichkeit, sich gegen negative Einwirkungen von Betriebsanlagen, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gelegen oder geplant sind, zur Wehr zu Parteien im Bewilligungsverfahren: Antragsteller setzen. Die Nachbarn haben ein subjektives Recht auf Nachbarn körperliche Unversehrtheit, Freiheit von unzumutbaren Belästigungen und Schutz ihres Eigentums. Diese subjektiven Rechte werden ihnen durch die GewO (vgl § 74 Abs 2) verliehen, im Verein mit § 8 AVG begründen sie die Parteistellung der Nachbarn im Bewilligungsverfahren. Damit Nachbarn die ihnen grundsätzlich zukommende Parteistellung bewahren, müssen sie aber Einwendungen gegen die Betriebsanlage erheben (siehe Punkt II.C.2.d). Zusätzlich zum Bewilligungswerber und den Nachbarn kommt im Betriebsanlagenverfahren auch Inhabern von Beherbergungsbetrieben, Krankenanstalten, Heimen und Schulen, jeweils in dem Ausmaß, in dem es um den Schutz der beherbergten Personen geht, Parteistellung zu. Demgegenüber haben die sich bloß vorübergehend im benachbarten Gebäude aufhaltenden Personen, also zB die Schulkinder, die Hotelgäste etc, keine Parteistellung. Die durch die GewO geschützten öffentlichen Interessen (insbesondere die Schutzgüter des § 74 Abs 2 GewO) hat die Behörde von Amts wegen, also ohne Parteienaufforderung, wahrzunehmen. Sofern es um den Schutz der Gesundheit und des Lebens sowie den Schutz vor Beeinträchtigungen und Belästigungen geht, muss die Gemeinde, in deren Ortsgebiet die Anlage errichtet werden soll, von der Behörde im Verfahren gehört werden. Der Gemeinde kommt dabei aber lediglich Beteiligtenstellung zu. Als Unternehmer, der die Diskothek errichten und betreiben will, sind Sie Partei des Bewilligungsverfahrens vor dem Magistratischen Bezirksamt. Sofern Sie sämtliche Voraussetzungen erfüllen, haben Sie ein subjektives Recht auf Erteilung der betriebsanlagenrechtli-
250
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LE 9
chen Bewilligung. Auch Ihrem Nachbarn, dem Hotelbesitzer, kommt hinsichtlich des Schutzes der beherbergten Gäste Parteistellung zu. Er kann seine Einwendungen bezüglich belästigender Lärmentwicklung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erheben.
C.
Der Ablauf des Verwaltungsverfahrens
Das erstinstanzliche Verwaltungsverfahren gliedert sich in drei Abschnitte: Einleitung des Verfahrens, Ermittlungsverfahren und Erledigung.
x x
1.
Einleitung des Verfahrens
a.
Einleitung auf Antrag oder von Amts wegen
Grundsätzlich müssen Verfahren, die eine Partei begünstigen sollen, von dieser mit Antrag eingeleitet werden (zB Erteilung einer Betriebsanlagenbewilligung oder einer Baubewilligung, Ausstellung eines Reisepasses, Erteilung der Lenkerberechtigung). Verfahren, die hauptsächlich im öffentlichen Interesse stehen, werden amtswegig, also von der Behörde selbst eingeleitet (zB zum Schutz des öffentlichen Verkehrs wird die Lenkerberechtigung wegen Alkohol am Steuer entzogen; eine Betriebsanlage wird überprüft, ob die vorgeschriebenen Auflagen eingehalten werden; ein Haus wird unter Denkmalschutz gestellt etc).
Einleitung des Verfahren auf Antrag bei begünstigenden Verfahren Einleitung von Amts wegen bei öffentlichen Interessen
Das Betriebsanlagenbewilligungsverfahren beginnt mit der Einbringung des Ansuchens auf Erteilung der Bewilligung zur Errichtung und zum Betrieb einer Anlage durch den Unternehmer bei der zuständigen Behörde. Diese Eingabe hat insbesondere zu umfassen (§ 353 GewO):
b.
x
die Betriebsbeschreibung (samt Auflistung von verwendeten Maschinen)
x
die erforderlichen Pläne und Skizzen
x
die Beschreibung der durch den Betrieb der Anlage zu erwartenden Abfälle und die Vorkehrungen zur Vermeidung, Verwertung und Entsorgung dieser (Abfallwirtschaftskonzept)
x
technische Unterlagen bezüglich der Beurteilung des Projekts und bezüglich der zu erwartenden Emissionen. Verkehr zwischen Behörde und Partei
Einer Partei stehen meist sämtliche Wege der modernen Kommunikation zur Kontaktaufnahme mit der Behörde zur Verfügung (schriftlich, per Brief, Fax, E-Mail oder anderen Technologien). Weist ein Anbringen einer Partei Mängel auf, muss die Behörde auf die Behebung dieser Mängel hinwirken und die Eingabe unter Setzung einer angemessenen Frist mit dem Hinweis auf das Verbesserungserfordernis an die Partei zurückstellen (sog Verbesserungsauftrag). Wird diesem Auftrag nicht binnen der von der Behörde festgesetzten Frist nachgekommen, ist das Anbringen von der Behörde zurückzuweisen (§ 13 Abs 3 AVG).
LE 9
Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
251
Ist eine Partei im Verfahren vor einer Verwaltungsbehörde nicht durch einen berufsmäßigen Vertreter vertreten (zB Rechtsanwalt), muss die Behörde der Partei die zur Vornahme ihrer Verfahrenshandlungen nötigen Anleitungen geben, der Partei also helfen, dh ihrer „Manuduktionspflicht" nachkommen (manu ducere = an der Hand führen).
2.
Das Ermittlungsverfahren
Der Entscheidung der Behörde geht ein Ermittlungsverfahren voraus, in dem die Behörde den maßgeblichen Sachverhalt erhebt, um auf Grundlage dieser Sachverhaltsermittlung eine Entscheidung fällen zu können. a.
Befangenheit der Behörde
Damit das Verfahren fair abläuft und die Entscheidung sachlich richtig ist, sieht das AVG entsprechende Regelungen vor, die die Unparteilichkeit der Behörde sicherstellen. Wenn das entscheidende Organ befangen ist, etwa weil der Ehegatte oder Verwandte am Verfahren beteiligt sind, hat es seine Befangenheit selbst von Amts wegen wahrzunehmen, sich der Ausübung seines Amtes zu enthalten und seine Vertretung zu veranlassen (§ 7 AVG). Ein Recht der Parteien auf Ablehnung befangener Verwaltungsorgane sieht das AVG demgegenüber nicht vor. Setzt ein befangenes Organ eine Amtshandlung, kann das (nur) im Rechtsmittelweg, insbesondere im Rahmen der Berufung gegen den verfahrensbeschließenden Bescheid von den Parteien angefochten werden. b.
Grundsätze des Ermittlungsverfahrens
Das Ermittlungsverfahren ist das Herzstück des Verwaltungsverfahrens. Es dient allen Parteien dazu, ihre rechtlichen Standpunkte darzulegen und ihre Interessen geltend zu machen. Folgende Grundsätze prägen das Ermittlungsverfahren: (1)
Offizialmaxime und Grundsatz der materiellen Wahrheit
Die Behörde muss den maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen feststellen. Sie ist dabei nicht an Parteienanträge gebunden. Sie ist vielmehr verpflichtet, Die Behörde muss den wahren Sachverhalt von Amts wegen feststellen. alles zu unternehmen, bis sie sich selbst über die wahre Situation im Klaren ist. Ein „Außerstreitstellen“ von Tatsachen durch die Parteien ist nicht möglich. Bsp: Der Gewerbetreibende einigt sich mit dem Nachbarn darauf, dass dieser auf seine Einwendung, die sich auf eine Gefährdung seiner Gesundheit bezieht, gegen eine Betriebsanlage verzichtet, wenn er dafür ein stattliches Entgelt als „Entschädigung“ erhält. Die Behörde muss dennoch alle Interessen der GewO (auch den Schutz des Nachbarn vor Gefährdungen seiner Gesundheit) verfolgen, unabhängig davon, ob ein Nachbar das wünscht oder nicht. (2)
Grundsatz der arbiträren Ordnung
Der Behörde steht es grundsätzlich frei, wie sie das Ermittlungsverfahren durchführt, also ob sie Sachverständige hört, welche Zeugen sie vernimmt etc. Die Behörde bestimmt den Gang des Verfahrens, sie ist „Herrin des Verfahrens“.
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Im Betriebsanlagenverfahren prüft die Behörde nach Einbringen des Ansuchens, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Betriebsanlagenbewilligung erfüllt sind. Sie stellt fest, ob die Schutzinteressen der GewO berührt werden. Die Behörde bestimmt den Gang des Dazu wird sie die Unterlagen selbst prüfen, sie kann Verfahrens. Sachverständigengutachten vom Unternehmer anfordern oder selbst in Auftrag geben, um festzustellen, ob eines der Schutzgüter der GewO berührt wird. Allenfalls veranlasst die Behörde den Antragsteller, fehlende Unterlagen nachzureichen. (3)
Grundsatz der freien Beweiswürdigung
Es gibt keine festen Beweisregeln. Die Behörde würdigt die Beweise nach freier Überzeugung. Sie kann zB dem Gutachten eines Sachverständigen oder der Aussage eines Zeugen glauben oder auch nicht. Allerdings muss die Behörde ihre Entscheidung in der Sache (also über den Bewilligungsantrag für die Betriebsanlage) begründen und somit nachvollziehbar erklären, welche Bedeutung sie welchen Beweismitteln zugemessen hat. Als Beweismittel kann alles verwendet werden, was zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts geeignet ist. Beweismittel können zB sein: Urkunden, Zeugenaussagen, Vernehmung von Beteiligten, Sachverständigengutachten, der Augenschein. (4)
Recht auf Parteiengehör
Die Behörde muss den Parteien die Gelegenheit geben, alles vorzubringen, was den Rechtsstandpunkt der Partei stützt, und sich mit jedem Parteivorbringen auseinandersetzen (auch dann, wenn der Behörde die Sinnhaftigkeit eines Die Parteien müssen gehört werden. Vorbringens nicht einsichtig ist). Das Parteiengehör ist ein ganz besonders wichtiger Grundsatz des Verwaltungsverfahrens. So ist sichergestellt, dass die Interessen und Rechte der Parteien ausreichend berücksichtigt werden. Grundsätzlich kann im Verwaltungsverfahren das Parteiengehör auch ausschließlich schriftlich wahrgenommen werden. Eine Partei kann aber ihr Vorbringen auch mündlich bei der Behörde zu Protokoll geben. In der Praxis laufen viele Verwaltungsverfahren ausschließlich schriftlich ab (zB Verleihung der Staatsbürgerschaft, Anerkennung von Prüfungen nach § 78 UG, Verleihung akademischer Grade etc). Insbesondere sieht das AVG grundsätzlich (Sonderregeln bestehen wiederum für das Verfahren vor den UVS, siehe Punkt IV.A.3) keine verpflichtende mündliche Verhandlung vor, die Behörde hat daher zu entscheiden, ob sie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur vollständigen Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält. In besonderen Konstellationen (zB Betriebsanlagengenehmigungsverfahren, Baugenehmigungsverfahren etc) schreiben aber Materiengesetze die zwingende Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor (so typischerweise für bestimmte bewilligungspflichtige Bauten die einzelnen Bauordnungen, siehe LE 8). (5)
Effizienzprinzip
Die Behörde hat bei der Führung des Verfahrens auf möglichste Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis Rücksicht zu nehmen. Dadurch darf aber weder das Recht auf Parteiengehör geschmälert werden, noch darf die Feststellung der materiellen Wahrheit darunter leiden.
LE 9 c.
Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
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Die mündliche Verhandlung
Wenn die Behörde beschließt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, muss sie den Grundsatz der Parteienöffentlichkeit beachten. Das bedeutet, dass alle am Verfahren teilnehmenden Parteien ein Recht auf Teilnahme an der Verhandlung haben. Im Betriebsanlagenverfahren wird in aller Regel eine Augenscheinsverhandlung, also eine mündliche Verhandlung an Ort und Stelle der zu errichtenden Betriebsanlage, durchgeführt. Sie wird von einem Behördenvertreter geleitet. Ziel der Verhandlung ist es, der Behörde durch unmittelbare Wahrnehmung Informationen über tatsächliche Vorgänge oder Gegebenheiten zu verschaffen. Gleichzeitig wird allen Parteien die Gelegenheit gegeben, zum Projekt Stellung zu nehmen und Einwendungen zu erheben. d.
Präklusion
Damit Parteien die ihnen zukommende Stellung im Verfahren bewahren, müssen sie Einwendungen erheben. Diese Einwendungen müssen rechtserheblich, also rechtlich relevant, und rechtzeitig sein. Rechtserheblich sind Einwendungen dann, wenn sich der Einwand auf ein sich aus einer gesetzlichen Norm ergebendes subjektives Recht der Partei bezieht. Bsp: Aus § 74 Abs 2 Z 2 GewO, wonach Betriebsanlagen bewilligungspflichtig sind, wenn sie geeignet sind, „... die Nachbarn durch Geruch, Lärm, Rauch, Staub, Erschütterung oder in anderer Weise zu belästigen ...“, ergibt sich ein subjektives Recht des Nachbarn, nicht durch die genannten Emissionen in unzumutbarer Weise belästigt zu werden. Darauf kann sich der Nachbar stützen und mittels Einwendung im Verfahren behaupten, durch Lärm, der durch die Betriebsanlage verursacht wird, unzumutbar belästigt zu werden. Kein subjektives Recht des Nachbarn ist hingegen betroffen, wenn die Fabrik seiner Meinung nach die Gegend „verschandelt“ oder den öffentlichen Verkehr beeinträchtigt. Diese öffentlichen Interessen können nicht im Rahmen von Einwendungen im Verfahren vorgebracht werden, sondern sind von der Behörde im gegebenen Fall selbst aufzugreifen und von Amts wegen wahrzunehmen. Einwendungen müssen rechtzeitig, also spätestens am Tag vor Beginn der Verhandlung in mündlicher oder schriftlicher Form bei der Behörde oder während der mündlichen Verhandlung vorgebracht werden. Bsp: Ihr Nachbar errichtet eine Betriebsanlage und die Behörde setzt eine mündliche Verhandlung vor Ort (Augenscheinsverhandlung) an. Zu dieser Verhandlung werden Sie als Nachbar geladen, die Ladung erfolgt durch persönliche Verständigung und durch Anschlag am „Schwarzen Brett“ in Ihrem Haus. Lesen Sie die Ladung und den Anschlag nicht und versäumen Sie deshalb die Verhandlung, so verlieren Sie Ihre Parteistellung. Gibt eine Partei ihre Einwendung zu spät ab oder ist diese nicht rechtserheblich, verliert sie ihre Parteistellung, man spricht von „Präklusion“. Der Verlust der Parteistellung tritt aber nur dann ein, wenn eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat und die Partei über die Anberaumung der Verhandlung im Wege persönlicher Verständigung und/oder durch allgemeine Kundmachung informiert war. Hat keine mündliche Verhandlung stattgefunden oder war die
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Partei hiervon nicht in Kenntnis gesetzt, präkludiert sie nicht, dh sie bleibt Partei des Verfahrens. Der Antragsteller selbst, also der Unternehmer, der die Bewilligung der Betriebsanlage beantragt, kann demgegenüber nicht präkludieren, er verliert seine Parteistellung nicht. Die Präklusion hat zur Folge, dass die Partei ihre Parteistellung und damit die ihr ursprünglich zugekommenen Parteienrechte verliert. Insbesondere kann sie fortan keine Einsicht in die Akten des laufenden Verfahrens nehmen, sie wird von der Behörde nicht mehr gehört, ihr wird der Bescheid über die Erteilung der Bewilligung nicht zugestellt und sie kann gegen die Entscheidung der Behörde kein Rechtsmittel ergreifen. Kurz: Die betroffene Person kann auf das Verfahren keinen Einfluss mehr nehmen. Durch die Präklusionswirkung wird der Kreis der Parteien eines Verfahrens also auf jene Personen eingegrenzt, die sich aktiv am Verfahren beteiligen. Jene Parteien, die keine Einwendungen erheben und somit keine Initiative im Verfahren zeigen, werden demgegenüber vom Verfahren als Parteien ausgeschieden. Auf diese Weise kommt es zu einer Konzentration des Verfahrens: Die Behörde hat sich in weiterer Folge auf die Wahrnehmung der von den verbliebenen Parteien geltend gemachten subjektiven Rechtspositionen und die von Amts wegen wahrzunehmenden Interessen zu beschränken. Einwendungen präkludierter Parteien sind hingegen im weiteren Verfahren unbeachtlich. Um eine Bewilligung der Betriebsanlage zu erreichen, haben Sie einen entsprechenden Antrag an die zuständige Behörde (Magistrat der Stadt Wien) gestellt. Die Behörde hat den Antrag geprüft und eine Augenscheinsverhandlung anberaumt, in der der Betreiber des Hotels seine Einwendungen vorgebracht hat. Er hat seine Parteistellung gewahrt. x
Das vereinfachte Verfahren bei Bagatellanlagen
Wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass von einer Anlage eine abstrakte Gefährdung ausgeht, es aber sicher erscheint, dass Gefährdungen und Belästigungen nicht oder nur in geringem Maß tatsächlich auftreten werden, findet ein vereinfachtes Bewilligungsverfahren statt. Den Nachbarn kommt dabei grundsätzlich keine Parteistellung zu, sie können weder Einwendungen erheben, noch gegen eine Bewilligung berufen. Allein die Behörde ist zum Schutz der Interessen der GewO berufen. Welche Anlagen dem vereinfachten Verfahren zu unterziehen sind, ergibt sich aus § 359b Abs 1 GewO (Verwendung nur typenzugelassener Maschinen oder solcher, die in erster Linie in Privathaushalten Verwendung finden; Betriebsanlagen, deren gesamte Betriebsfläche nicht mehr als 800 m2 beträgt und deren elektrische Anschlussleistung 300 kW nicht übersteigt) und Verordnungen gemäß § 359b Abs 2 und 3 GewO (siehe LE 8). Beachte: Die Bewilligungskriterien sind auch im vereinfachten Bewilligungsverfahren dieselben wie bei einer Normalanlage. e.
Exkurs: Verfahren in Bausachen
Auch in Bausachen, deren materielle Regelungen in die Generalkompetenz der Länder nach Art 15 Abs 1 B-VG fallen, ist der Bundesgesetzgeber zur Regelung des Verfahrens zuständig (Art 11 Abs 2 B-VG: Bedarfsgesetzgebung). Das Verfahren in Bausachen richtet sich in ers-
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ter Linie nach dem AVG. Daneben sind gegebenenfalls Verfahrensvorschriften der Bauordnungen der einzelnen Länder zu berücksichtigen. Im Baurecht findet vergleichbar mit dem Betriebsanlagenrecht eine Bauverhandlung (Augenscheinsverhandlung) statt, zu der neben dem Bauherrn (= Antragsteller bzw Person, die ein Bauwerk errichten will) auch sämtliche Nachbarn zu laden sind. Während dieser Bauverhandlung haben die Nachbarn die Möglichkeit, Einwendungen zu erheben. Die subjektiven Rechte, die zu einer Einwendung berechtigen, sind denen des Betriebsanlagenverfahrens ähnlich. Subjektive Rechte sind: Einhaltung der Abstandsregeln, Einhaltung der Regeln über die Gebäudehöhe, Bestimmungen zum Schutz vor Emissionen etc (vgl § 134a BauO für Wien). Vereinzelt sehen gesetzliche Bestimmungen für den Fall, dass der Schutz vor Emissionen bereits durch andere Bestimmungen bzw durch ein anderes Verfahren (etwa das Betriebsanlagengenehmigungsverfahren) gewährleistet ist, vor, dass aus diesem Grund der Schutz vor Emissionen in einem anderen Verfahren (etwa dem Bauverfahren) kein subjektives Recht mehr begründet (zB § 134a Abs 2 BauO für Wien). Sofern der Hotelbetreiber seine Einwendung bezüglich belästigender Lärmentwicklung schon im Betriebsanlagenverfahren erhoben hat, stünde ihm diese Einwendung in einem Bauverfahren nicht mehr zur Verfügung. In diesem Fall hat sich der Problematik bereits eine Behörde angenommen. Müsste sich nun auch noch eine andere Behörde mit diesem Vorbringen auseinandersetzen, könnte das zu Konflikten führen. Es sollte reichen, wenn eine Behörde im öffentlichen Interesse das Notwendige unternimmt, um den von der Anlage ausgehenden Gefahren entgegenzuwirken. Dem trägt § 134a Abs 2 BauO für Wien Rechnung.
3.
Die Erledigung des Verfahrens: Der Bescheid
a.
Was ist ein Bescheid?
Bescheide sind x
auf Grund eines Verfahrens erlassene
x
konkrete Erledigungen
x
einer Verwaltungsbehörde,
x
die sich ihrem Inhalt nach an individuell bestimmbare Rechtsunterworfene (zB Max Mustermann) richten.
Bescheide sind mit Gerichtsurteilen vergleichbar: Was für den justiziellen Bereich das Urteil ist, ist für den Bereich der Verwaltung der Bescheid. Er ist das zentrale Element des österreichischen Verwaltungsrechts, weil das gesamte Rechtsschutzsystem auf ihn ausgerichtet ist. Bescheide ergehen meist schriftlich. Sie können zwar grundsätzlich auch mündlich verkündet (und diesfalls bloß schriftlich protokolliert) werden, das stellt aber in der Praxis die Ausnahme dar.
Bescheide sind auf Grund eines Verfahrens erlassene individuelle und konkrete Erledigungen einer Verwaltungsbehörde, die sich ihrem Inhalt nach an bestimmte Rechtsunterworfene richten.
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Keine Bescheide sind: x
Verordnungen einer Behörde. Diese sind nicht individuell an bestimmte Personen, sondern wie Gesetze an einen generellen Adressatenkreis gerichtet (zB eine auf Basis der StVO erlassene Verordnung, mit der im Ortsgebiet von Baden eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h angeordnet wird; diese ist an alle Lenker eines Kfz im Ortsgebiet von Baden adressiert).
x
Rechtsgeschäfte, die der Staat im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung abschließt, weil der Staat in diesem Fall nicht mit behördlicher Hoheitsgewalt (= imperium) handelt, sondern privatrechtliche Verträge wie jeder Private abschließt (zB Behörde kauft Computer für ihr Amt).
x
Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (AuvBZ) (zB Festnahme eines randalierenden Fussballrowdies durch die Polizei; Beschlagnahme verdorbener Lebensmittel durch Organe der Lebensmittelaufsicht; im Zuge der Überprüfung einer Betriebsanlage ergehende Anordnung der behördlichen Aufsichtsorgane, eine bestimmte Maschine aufgrund bestehender Explosionsgefahr sofort stillzulegen oder das Lokal wegen Einsturzgefahr sofort zu schließen).
Bescheide weisen gelegentlich Fehler auf; einige davon führen zur Nichtigkeit des Bescheides, andere hingegen berühren das Vorliegen eines Bescheides nicht, sondern machen den Bescheid bloß rechtswidrig und aus diesem Grund anfechtbar („Fehlerkalkül": Differenzierung zwischen der normativen Existenz, die gegeben ist, und der Rechtmäßigkeit eines Rechtsaktes, die in einem solchen Fall fehlt). Welche Folgen bestimmte Fehler haben, ergibt sich aus der Rechtsordnung. Im Rahmen des Fehlerkalküls ist Bescheid-Mindesterfordernisse: die Fehlerhaftigkeit für die Qualifikation eines Rechtsaktes als Behördenqualität der Bescheid irrelevant. bescheiderlassenden Stelle -
Bezeichnung der bescheiderlassenden Stelle Bezeichnung des Adressaten Spruch Unterschrift bzw Feststellbarkeit des Genehmigenden
Ein Bescheid unterliegt nach § 58 AVG bestimmten Inhalts- und Formerfordernissen. Insbesondere ist der Bescheid ausdrücklich als solcher zu bezeichnen, er hat die bescheiderlassende Behörde zu benennen, das Datum der Genehmigung und den Namen des Genehmigenden zu enthalten. Zudem muss der Bescheid einen Spruch und eine Rechtsmittelmittelbelehrung enthalten. Bescheide sind darüber hinaus zu begründen, wenn dem Standpunkt des Antragstellers nicht vollinhaltlich entsprochen wird oder wenn – wie im Betriebsanlagenbewilligungs-verfahren zumeist der Fall – über Einwendungen von Parteien abgesprochen wird. Einige dieser Kriterien sind freilich so wesentlich, dass sie jedenfalls vorliegen müssen, damit überhaupt von einem Bescheid gesprochen werden kann. Fehlen sie, dann kann von vorneherein kein Bescheid entstehen (man spricht davon, dass solche Enunziationen dann „absolut nichtig" sind). Ein Bescheid muss also jedenfalls bestimmte Merkmale aufweisen (sog „Mindesterfordernisse"), um überhaupt einen Bescheid entstehen zu lassen: Aus dem Bescheid muss die bescheiderlassende Stelle hervorgehen (man muss wissen, von wem der Bescheid erlassen wird) und es muss sich dabei um eine Behörde handeln. Unter einer „Behörde" ist im gegebenen Zusammenhang ein Verwaltungsorgan zu verstehen, dem gesetzlich abstrakt die Zu-
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ständigkeit zukommt, Hoheitsakte zu setzen, also insbesondere Bescheide zu erlassen (zB die Bezirkshauptmannschaft, der Magistrat der Stadt Wien, der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit etc). Es kommt dabei nicht darauf an, ob das Verwaltungsorgan (die Behörde) für den konkreten individuellen Rechtsakt zuständig ist (das ist eine Frage der Gesetzmäßigkeit des Bescheides, nicht eine solche, ob es sich überhaupt um einen Bescheid handelt). Bsp: Der ORF ist eine Stiftung des öffentlichen Rechts aufgrund des ORF-Gesetzes. Weder dieses Gesetz noch irgendeine andere gesetzliche Grundlage ermächtigen den ORF allerdings dazu, Hoheitsakte zu setzen, insbesondere Bescheide zu erlassen. Für die Einhebung der Rundfunkgebühren ist aufgrund des Rundfunkgebührengesetzes eine eigene Einrichtung, die GIS (Gebühreninfoservice GmbH) zuständig. Anders als die GIS ist also der ORF keine Behörde. Ein Schreiben des ORF, mit dem Sie aufgefordert werden, Ihre Rundfunkgebühren zu zahlen, kann daher von vorneherein kein Bescheid sein. Aus einem Bescheid muss weiters der Bescheidadressat hervorgehen, dieser muss genau bezeichnet sein. Weiters muss jeder Bescheid einen normativen Ausspruch enthalten, den sog „Spruch" des Bescheides (in der Praxis wird dieser in der Regel auch als solcher bezeichnet und der Bescheid in „Spruch“ und „Begründung“ explizit getrennt – das ist aber keine unbedingte Voraussetzung, es reicht, wenn aus dem Bescheid hervorgeht, wer wem gegenüber was anordnet). Im Unterschied zum Spruch des Bescheides wird mit der Begründung kein normativer Ausspruch getroffen. „Rechtskräftig“ (siehe unten Punkt II.C.3.e) wird daher nur, worüber im Spruch des Bescheides abgesprochen wird. Bsp: Das an Herrn Max Mustermann, Kellergasse 7, 1070 Wien, gerichtete Schreiben: „Sehr geehrter Herr Mustermann! In Beantwortung Ihres Schreibens vom 1.4. dieses Jahres dürfen wir Ihnen mitteilen, dass wir Ihnen für das laufende Studienjahr monatlich € 112,- auf das von Ihnen angegebene Konto zur Förderung Ihres WU-Studiums überweisen werden“, das mit: Brigitte Tiroler, Leiterin der Stipendienstelle Wien, gezeichnet ist, kann durchaus einen Bescheid darstellen, wenn wir wissen, dass Max Mustermann am 1.4. einen Antrag auf Studienbeihilfe nach dem Studienförderungsgesetz gestellt hat, und für seinen Antrag gemäß der §§ 34 und 35 dieses Gesetzes die Stipendienstelle Wien als erstinstanzliche Behörde zuständig ist. Schließlich muss erkennbar sein, wer in einer Behörde den Bescheid „genehmigt" hat. Im Normalfall wird das durch die Unterschrift auf dem Bescheid klargestellt. Es reicht aber auch, wenn die Person, die die Erledigung genehmigt hat, auf andere Weise festgestellt werden kann. Die Rechtsprechung verlangt, dass der Genehmigende eigenhändig einen Vorgang setzt, aufgrund dessen ihm die Erledigung auch in Zukunft jederzeit zugerechnet werden kann und aufgrund dessen die Erledigung faktisch unabänderlich wird (zB Speicherung der Benutzeridentifikation im EDV-System der Behörde). Wenn diese Mindesterfordernisse vorliegen, dann handelt es sich bei einem Schriftstück also um einen „Bescheid". Fehlt eines dieser unabdingbaren Bescheidmerkmale (ist also kein Bescheidadressat erkennbar, stammt das Schriftstück nicht erkennbar von einer Behörde oder enthält es keine normative Aussage), dann entsteht von vorneherein kein Bescheid,
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und zwar auch dann nicht, wenn ein solcher intendiert ist (zB Ihnen der ORF in irrtümlicher Annahme, er sei dazu ermächtigt, einen „Gebührenbescheid" zuschicken wollte). Erfüllt ein konkretes Schriftstück die Mindesterfordernisse und liegt somit ein Bescheid vor, verstößt dieser aber gegen andere Inhalts- oder Formerfordernisse des § 58 AVG, so handelt es sich um einen rechtswidrigen Bescheid. Dieser kann aufgrund eines Rechtsmittels (insbesondere einer Berufung) von der Rechtsmittelinstanz entsprechend abgeändert oder überhaupt aufgehoben werden. Bsp: Ein Bescheid enthält nur den Spruch, dass die beantragte Betriebsanlagenbewilligung versagt wird, aber keinerlei Begründung. Wichtig ist zu sehen, dass auch derartige Fehler nur dann aufgegriffen und beseitigt werden, wenn die Partei, die in ihren subjektiven Rechten betroffen ist, ein entsprechendes Rechtsmittel ergreift oder ausnahmsweise eine Abänderung oder Nichtigerklärung des Bescheides von Amts wegen (in besonders schwerwiegenden Fällen, zB Gefährdung von Leben oder Gesundheit, volkswirtschaftliche Schädigung etc) erfolgt. Bei einigen wenigen der gesetzlichen Anforderungen (insbesondere Bezeichnung des Schriftstückes als „Bescheid" oder Datum der Bescheidausstellung) handelt es sich um „bloße Formvorschriften" oder „Meisterfordernisse", die auf die rechtliche Qualität des Bescheides keine Auswirkungen haben (so ist das Datum der Bescheidausstellung insbesondere für Rechtsmittelfristen nicht relevant, es kommt hierfür vielmehr auf die Zustellung des Bescheides an, siehe unten Punkt III.C.1). b.
Welche Bescheide gibt es?
Im Allgemeinen wird zwischen Leistungs-, Rechtsgestaltungs- und Feststellungsbescheiden unterschieden. x
Leistungsbescheide schreiben die Erfüllung einer bestimmten Leistung vor. Bsp: Strafbescheid, mit dem eine Geldstrafe verhängt wird; Abbruchauftrag nach der Bauordnung; Vorschreibung einer Steuer Leistungsbescheide können, wenn die vorgeschriebene Leistung nicht freiwillig erbracht wird, von der Behörde zwangsweise vollstreckt werden.
x
Rechtsgestaltungsbescheide begründen, gestalten oder heben ein Rechtsverhältnis auf. Bsp: Baugenehmigung, Betriebsanlagengenehmigung, Entzug der Gewerbeberechtigung
Im Betriebsanlagenverfahren entscheidet die Behörde und erlässt einen Bescheid, der die Anlage entweder genehmigt (eventuell unter Vorschreibung von Auflagen) oder das Ansuchen abweist, weil das Projekt nicht genehmigungsfähig ist. x
Feststellungsbescheide stellen das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses mit rechtlicher Verbindlichkeit fest. Bsp: Feststellung, ob es sich um eine Bagatellanlage oder um eine Normalanlage handelt
LE 9 c.
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Nebenbestimmungen in Bescheiden
Der Spruch des Bescheides kann auch Nebenbestimmungen enthalten. Diese ergänzen die Haupterledigung und können daher nur in Zusammenhang mit dieser ergehen. Zu den Nebenbestimmungen zählen insbesondere Auflagen, Bedingungen und Befristungen. Auflagen können in Zusammenhang mit begünstigenden Bescheiden ergehen. Durch die Auflage werden dem Bescheidadressaten, wenn er die zuerkannte Berechtigung in Anspruch nimmt, Verpflichtungen auferlegt. Gerade im Betriebsanlagenrecht werden dem Bewilligungswerber häufig im Bewilligungsbescheid Auflagen vorgeschrieben, insbesondere im Anschluss an ein Sachverständigengutachten. In der Regel wirkt die Behörde dabei darauf hin, dass ihre Entscheidung im Konsensweg zwischen Gewerbetreibenden, Nachbarn und Behörde erreicht wird. Dadurch wird sichergestellt, dass sowohl die Interessen des Gewerbetreibenden ausreichend berücksichtigt werden und somit die Einhaltung der Auflagen gewährleistet erscheint, als auch den Bedenken der Nachbarn angemessen entsprochen wird. Die Behörde hat die Einwendungen des Hotelbesitzers gewürdigt und einen Bescheid mit folgenden Auflagen vorgeschrieben: Verwendung von schalldichten Türen und Fenstern, Geschlossenhalten von Türen und Fenstern während der Betriebszeiten. Bedingungen machen demgegenüber den Eintritt oder das Erlöschen der im Bescheid angeordneten Berechtigung oder Verpflichtung von einem zukünftigen ungewissen Ereignis (zB vom Handeln einer dritten Person) abhängig. Aufschiebende Bedingungen knüpfen den Rechtserwerb bzw das Entstehen einer Verpflichtung, auflösende Bedingungen das Erlöschen eines Rechts bzw einer Verpflichtung an den Eintritt eines solchen Ereignisses. Bsp: Die Bewilligung zum Bau eines Schleppliftes wird, um eine sinnvolle Erschließung des Schigebiets zu gewährleisten, an die Bedingung geknüpft, dass in demselben Schigebiet auch mit der Errichtung eines Sesselliftes begonnen wird. Die Befristung verknüpft den Eintritt oder die Beendigung der im Bescheid ausgesprochenen Berechtigung oder Verpflichtung mit einem zukünftigen gewissen Ereignis (zB Datum, Ablauf einer Zeitspanne). d.
Wie wird ein Bescheid erlassen?
In der österreichischen Rechtsordnung kann – der von der Bundesverfassung vorgesehenen strikten Bindung der Verwaltung an das Gesetz zufolge (sog Legalitätsprinzip gem Art 18 BVG, dazu noch unten Punkt III.A) – ein Bescheid immer nur das Ergebnis der Anwendung eines Gesetzes oder einer Verordnung auf einen Sachverhalt Erlassen ist der Bescheid mit seiner Zustellung oder mündlichen Verkündung. durch eine Behörde sein. Die Behörde hat dabei grundsätzlich von der Rechtslage im Zeitpunkt ihrer Entscheidung auszugehen, sie muss also Rechtsänderungen bis zu ihrer Entscheidung berücksichtigen. Bei der Entscheidungsfindung kann der Behörde vom Gesetz mitunter auch Ermessen, also ein gewisser Entscheidungsspielraum, eingeräumt sein (siehe dazu LE 2). „Erlassen“ ist der Bescheid erst mit der mündlichen Verkündung oder – was praktisch der Regelfall ist – mit Zustellung an den Adressaten (Näheres dazu unten Punkt II.5). Der Zeit-
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punkt der Erlassung ist wichtig, da damit die Fristen zur Erhebung von Rechtsmitteln zu laufen beginnen. e.
Wann ist der Bescheid rechtskräftig und was bedeutet das?
Rechtskraft bedeutet Unabänderlichkeit des Bescheides: Grundsätzlich sollen ab einem gewissen Zeitpunkt Bescheide nicht mehr abgeändert werden können, selbst dann nicht, wenn sie rechtswidrig sind. Dadurch wird dem Wert der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens Vorrang vor jenem der Rechtsrichtigkeit (Rechtmäßigkeit) eingeräumt. Man unterscheidet zwischen formeller und materieller Rechtskraft: Formell rechtskräftig ist ein Bescheid, wenn er mit ordentlichen Rechtsmitteln (zB Berufung) nicht mehr bekämpft werden kann. Eine solche „Unanfechtbarkeit“ tritt mit der Erlassung der letztinstanzlichen Berufungsentscheidung (zB Entscheidung der LReg, des BM, der UVS), mit ungenütztem Verstreichen der Rechtsmittelfrist, mit Rechtsmittelverzicht oder auch mit Zurückziehung eines eingebrachten ordentlichen Rechtsmittels ein. Folge der formellen Rechtskraft ist die materielle Rechtskraft, derzufolge der betreffende Bescheid grundsätzlich unwiderrufbar, unwiederholbar und verbindlich ist. Das bedeutet, dass die Behörde nicht in derselben Angelegenheit ihre frühere Materielle Rechtskraft: Unanfechtbarkeit Entscheidung widerrufen oder abändern kann. Auch die Partei Unwiderrufbarkeit kann in derselben Sache nicht nochmals eine Entscheidung Unwiederholbarkeit begehren. Der Bescheid wird durch den Eintritt der Rechtskraft Verbindlichkeit zu einer auf den Bescheidempfänger speziell zugeschnittenen (individuellen) verbindlichen Rechtsnorm: So sind etwa der Unternehmer und die Nachbarn an den rechtskräftigen Bescheid über die Bewilligung der Errichtung bzw des Betreibens der Betriebsanlage gebunden. Bsp: Wenn die Landesregierung von Wien als zuständige Staatsbürgerschaftsbehörde (sie entscheidet in erster und letzter Instanz) eine Staatsbürgerschaft verleiht, ist dieser Bescheid nach Erlassung rechtskräftig und verbindlich. Bsp: Hat der UVS ein erstinstanzliches Straferkenntnis vollinhaltlich bestätigt, ist der entsprechende Bescheid des UVS – da dieser in zweiter und letzter Instanz entscheidet – ab Zustellung rechtskräftig und verbindlich. Die durch die Rechtskraft bewirkte Unabänderlichkeit des Bescheides ist aber relativ. Denn die Rechtsordnung sieht ausnahmsweise Durchbrechungen der Rechtskraft vor (zB Antrag auf Wiederaufnahme, Vorschreibung nachträglicher Auflagen für Betriebsanlagen). f.
Persönliche und dingliche Wirkung des Bescheides
Bescheide entfalten grundsätzlich persönliche Wirkung. Das bedeutet, sie richten sich an einen individuell-konkreten Adressaten oder Adressatenkreis (das sind jene Personen, die am Verfahren teilgenommen haben und denen gegenüber der Bescheid erlassen wurde) und entfalten diesem gegenüber ihre Rechtswirkungen (durch Berechtigung oder Verpflichtung). Da es dabei auf persönliche Umstände des Berechtigten bzw des Verpflichteten ankommt, gelten die mit dem Bescheid verbundenen Rechte und Pflichten nur gegenüber den Bescheidadressaten (zB sind die Gewerbeberechtigung, die Verleihung der Staatsbürgerschaft
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oder die sich aus dem Sponsionsbescheid ergebende Berechtigung zur Führung eines akademischen Grades nicht übertragbar). Der anlagenrechtliche Bewilligungsbescheid ist demgegenüber ein Beispiel für einen Bescheid, dem dingliche Wirkung zukommt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Bescheid an der Betriebsanlage und nicht am Unternehmer „haftet“. Gegenstand der Bewilligung ist die Anlage, nicht ihr jeweiliger Inhaber. Wird die Betriebsanlage veräußert, geht die Bewilligung daher auf den Erwerber der Betriebsanlage über.
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Exkurs: Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt
Prinzipiell bedarf ein verwaltungsbehördlicher Eingriff in subjektive Rechte der Rechtsunterworfenen einer bestimmten Form, nämlich der des Bescheides. Voraussetzung für die Erlassung eines Bescheides ist die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens. Mitunter ist in Gesetzen und Verordnungen aber vorgesehen, dass Verwaltungsbehörden ohne ein vorangehendes Verfahren in die subjektiven Rechte von Personen eingreifen dürfen. Das B-VG bezeichnet solche „verfahrensfreien Verwaltungsakte“ als Akte der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (vgl Art 129a Abs 1 Z 2 B-VG). Darunter ist eine individuell an einen bestimmten Adressaten gerichtete einseitige Erteilung eines Befehls bzw die Ausübung von Zwang durch ein Verwaltungsorgan im Rahmen der Hoheitsverwaltung zu verstehen. Bsp: Festnahme durch die Polizei auf Grundlage des VStG; Entnahme von Warenproben durch die Lebensmittelbehörde; Beschlagnahme von Gegenständen durch Organe der öffentlichen Aufsicht auf Grundlage des VStG; Schließung eines Gewerbebetriebes durch die Gewerbebehörde; vorläufige Abnahme des Führerscheins durch die Polizei.
5.
Zustellung und Fristen
Ein Bescheid muss allen am Verfahren beteiligten Parteien zugestellt werden. Die Zustellung ist Voraussetzung dafür, dass ein Bescheid gegenüber dem Bescheidadressaten rechtlich wirksam wird. Die Zustellung kann entweder durch die Post (Regelfall) oder durch Organe der Behörden bzw Gemeinden vorgenommen werden oder aber Ohne Zustellung kein Fristenlauf elektronisch über sog Zustelldienste erfolgen, sofern der Empfänger sich bei einem solchen Zustelldienst registriert hat. Näher geregelt wird das Zustellwesen im Zustellgesetz. Auf nichtelektronischem Weg können behördliche Dokumente entweder ohne Zustellnachweis (zB durch Einwurf in den Postkasten des Empfängers) oder mit einer Bestätigung der Übergabe an den Empfänger durch den Zusteller (Postbote) auf einem sog Rückschein (RS) zugestellt werden. Dabei wird unterschieden, ob das Dokument ausschließlich dem Empfänger zuzustellen ist (RSa), oder ob das Schriftstück bei Abwesenheit des Empfängers auch von Ersatzempfängern an der gleichen Adresse (zB Eltern, Ehepartnern, Angestellten) entgegengenommen werden darf (RSb). Bei der elektronischen Zustellung wird der Empfänger – im Regelfall per E-Mail – verständigt, dass das zuzustellende Dokument auf einem Server zu Abholung bereit liegt. Der Zeitpunkt der Zustellung ist vor allem deshalb so wichtig, weil ab diesem Zeitpunkt die Fristen für die Erhebung von Rechtsmitteln zu laufen beginnen. Bspw muss eine Berufung binnen zwei Wochen ab Bescheidzustellung erhoben werden (§ 63 Abs 5 AVG). Der mit Auflagen versehene Bescheid des Magistrats über die betriebsanlagenrechtliche Genehmigung Ihrer Disco muss Ihnen und dem Hotelbesitzer zugestellt werden.
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III. Rechtsschutz Mit Hilfe eines Rechtsmittels ist es einer Partei eines Verfahrens möglich, die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen. Das ist ein wesentliches Element des Rechtsstaates, da es möglich sein muss, dass Fehler von Staatsorganen verhindert oder korrigiert werden. Auch für den Staat (Bund, Länder und Gemeinden) und ihre Organe können, wie bei jeder juristischen Person, letztlich nur Menschen handeln („Organwalter" – siehe LE 2). Wo Menschen tätig sind, passieren Fehler. Die Rechtsordnung rechnet von vorneherein mit diesem Umstand und der Rechtsstaat als „Rechtsschutzstaat" muss entsprechende Verfahren zur Verfügung stellen, in denen behauptete Fehler von Vollzugsakten beseitigt werden können. Das hat auch die Konsequenz, dass der Rechtsstaat davon ausgeht, dass der Einzelne „seine Sache" auch selbst in die Hand nimmt und betreibt. Auf der anderen Seite gibt es auch ein wesentliches Interesse an Rechtssicherheit, also daran, dass Vollzugsakte – insbesondere dann, wenn Personen daraus eine Berechtigung, also ein „Recht" erwachsen ist (zB Betriebsanlagengenehmigungsbescheid im Hinblick auf den Anlagenbetreiber) – nicht zeitlich unbegrenzt von einer Aufhebung durch Rechtsmittelinstanzen bedroht sind. Wer etwa aus einem Bescheid ein Recht erhalten hat, möchte sich darauf Die Möglichkeit von Rechtsmitteln ist ein auch zukünftig verlassen können. Daher knüpft die Merkmal des Rechtsstaates. Rechtsordnung typischerweise die Geltendmachung von Rechtsmitteln und damit die Bekämpfung von Fehlern an Fristen („Rechtsmittelfristen"). Wer einen an ihn als Partei gerichteten Bescheid nicht innerhalb der Rechtsmittelfristen wegen einer allfälligen Rechtswidrigkeit bekämpft, der nimmt in Kauf, dass der Bescheid, so wie er ist, unabänderlich verbindlich wird (man spricht von „Rechtskraft", siehe oben Punkt II.C.3.e). Bsp: Ihr Einkommensteuerbescheid weist im Spruch eine bestimmte Bemessungsgrundlage und auf dieser Basis die Festsetzung der Einkommenssteuer für das konkrete Steuerjahr aus. Sie lesen den Bescheid nicht so genau, die Summe der zu entrichtenden Einkommenssteuer kommt Ihnen plausibel vor und Sie erheben daher kein Rechtsmittel. Im Folgejahr kommen Sie bei der Erstellung Ihrer Steuererklärung zur Einsicht, dass das Finanzamt bei der Festsetzung der Bemessungsgrundlage einen Anlagegegenstand nicht als Betriebsvermögen anerkannt und daher die entsprechende im Vorjahr erstmals von Ihnen geltend gemachte AfA (Absetzung für Abnutzung) ebenfalls nicht als Betriebsausgabe anerkannt hat. Sie können daher auch in diesem nachfolgenden Steuerjahr keine AfA mehr geltend machen.
A.
Rechtsstaatsprinzip und Rechtsschutz
Eines der Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung ist das Rechtsstaatsprinzip. Das diesem Prinzip zugehörige Legalitätsprinzip (Art 18 B-VG) besagt, dass die gesamte staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt Legalitätsprinzip: Die gesamte staatliche werden darf (siehe auch LE 2). Daraus ergibt sich die Verwaltung darf nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden. Notwendigkeit, die Einhaltung der Verfassung und der Gesetze durch entsprechende Einrichtungen zu sichern.
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Im Bereich des Verwaltungsrechtes ist das wichtigste Rechtsmittel gegen einen rechtswidrigen Bescheid die Berufung (§§ 63 ff AVG). Darüber hinaus bietet das AVG noch Rechtsbehelfe wie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung (§ 71 AVG) und den Devolutionsantrag bei Säumnis der Behörde (§ 73 AVG). Zu den außerordentlichen Rechtsmitteln zählt der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. x
Ordentliche Rechtsmittel richten sich gegen einen Bescheid und schließen bei rechtzeitiger Einbringung den Eintritt der formellen Rechtskraft aus. Dazu gehören die Berufung (§§ 63 ff AVG), welche devolutiv ist, dh eine übergeordnete Behörde zur Entscheidung beruft, und die remonstrative Vorstellung gegen einen Mandatsbescheid (§ 57 AVG).
x
Außerordentliche Rechtsmittel sind ebenfalls gegen einen Bescheid gerichtet, der allerdings bereits rechtskräftig ist. Dazu gehören der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gem § 69 AVG und die gegen letztinstanzliche Bescheide gerichteten Beschwerden an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts.
x
Rechtsbehelfe schließlich erfordern keinen Bescheid (Antrag auf Wiedereinsetzung gem § 71 AVG, Devolutionsantrag gem § 73 AVG).
Sinn und Zweck eines Rechtsmittels oder -behelfes ist die (Ermöglichung der) Kontrolle von verwaltungsbehördlichen Entscheidungen durch eine im administrativen Instanzenzug übergeordnete Behörde oder durch die UVS der Länder und die Beseitigung rechtswidrigen Verhaltens, das in subjektive Rechte des Rechtsmittelwerbers eingreift. Eine ausschließlich von Verwaltungsbehörden wahrgenommene Überprüfung von Verwaltungsakten reicht rechtsstaatlich allerdings nicht aus. Das B-VG sieht daher zusätzlich gerichtliche Kontrollmechanismen vor, wozu vor allem die Kontrolle des Verwaltungshandelns durch den VwGH und den VfGH zählen. Auf diesem Weg können Entscheidungen auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung (o VfGH, siehe LE 4) sowie mit einfachen Gesetzen und Verordnungen (o VwGH, siehe unten Punkt IV.B) überprüft werden.
B.
Der administrative Instanzenzug
Welche Behörde über Rechtsmittel und -behelfe gegen Entscheidungen von Verwaltungsbehörden zu befinden hat, bemisst sich nach dem B-VG (beispielsweise nach der Kompetenzverteilung und nach den Bestimmungen über die UVS) und nach auf Grund des B-VG erlassenen Regelungen (vgl Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG). Die „Reihenfolge“, in der die Behörden entscheiden, bezeichnet man als administrativen Instanzenzug. Der Instanzenzug wird vom jeweils nach der Kompetenzverteilung zuständigen Materiengesetzgeber in den einzelnen Gesetzen festgelegt. Ist das nicht der Fall, gilt nach der Judikatur des VfGH der Grundsatz, dass der Instanzenzug zur jeweils obersten Verwaltungsbehörde des jeweiligen Vollzugsbereichs (Bundes- oder Landesverwaltung) geht. Bsp: Der LH entscheidet über eine Berufung gegen einen Bescheid einer BVB, in dem über den obertägigen Abbau von Erzen abgesprochen wird (vgl § 171 Mineralrohstoffgesetz).
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Mittelbare Bundesverwaltung
Von der mittelbaren Bundesverwaltung spricht man immer dann, wenn eine Angelegenheit, deren Verwaltung dem Bund zugewiesen ist, durch Behörden der Länder vollzogen wird. Die Vollziehung von Angelegenheiten des Bundes (die Materien, in denen der Bund zuständig ist, sind in Art 10 B-VG einzeln aufgelistet) durch Instanzenzug: BVB o LH Landesbehörden – also die mittelbare Bundesverwaltung – stellt LH o BM den verfassungsrechtlichen Grundtypus dar. Der Instanzenzug im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung ist grundsätzlich zweigliedrig. Entscheidet in erster Instanz die BVB, ist der LH Berufungsbehörde. Abweichend von diesem Grundsatz sind zunehmend in Materiengesetzen die UVS als Berufungsbehörden vorgesehen. Das hat, wie etwa im Häufige Ausnahme: Betriebsanlagenrecht, zur Folge, dass der LH gegenüber den BVB o UVS BVB zwar noch ein Weisungsrecht hat, über Berufungen gegen Bescheide der BVB aber der UVS entscheidet (Weisungszusammenhang und Instanzenzug fallen also auseinander). Bsp: Der UVS entscheidet über eine Berufung gegen einen Bescheid einer BVB, in dem Auflagen zum Betrieb einer Betriebsanlage vorgeschrieben sind (vgl § 359a GewO). Den Bescheid der Behörde, mit dem Ihnen zusätzliche Auflagen auferlegt werden, können Sie mit dem Rechtsmittel der Berufung bekämpfen. Berufungsbehörde ist der jeweils örtlich zuständige UVS, hier also der UVS Wien. Entscheidet der LH in erster Instanz, geht der Instanzenzug – sofern bundesgesetzlich nichts anderes bestimmt ist – bis zum zuständigen BM. Auch hier besteht somit grundsätzlich ein zweigliedriger Instanzenzug. Verschiedentlich sehen allerdings Gesetze Abweichungen von diesem Grundsatz vor. Gesondert ist der Instanzenzug in Wien geregelt, weil Wien eine Sonderstellung als Bundesland und Gemeinde (womit Landes-, Bezirksverwaltungs- und Gemeindezuständigkeiten „zusammenfallen“) einnimmt. Als „Faustregel“ kann man davon ausgehen, dass zumeist in der ersten Instanz der Magistrat der Stadt Wien zuständig ist (in der Praxis hat man es dabei mit den weitgehend eigenständig agierenden „Magistratsabteilungen“ zu tun, rechtlich gesehen bildet der Magistrat der Stadt Wien jedoch eine Einheit). Ab der zweiten Instanz sind die Zuständigkeiten dann aufgrund der Bundesverfassung und den speziellen Vorschriften der Wiener Stadtverfassung unterschiedlich geregelt. Wesentliche Berufungszuständigkeiten nimmt der „Berufungssenat der Stadt Wien“ wahr. Es gibt aber auch eine Reihe von Sonderzuständigkeiten, wie etwa die „Bauoberbehörde“ als zweite Instanz in Baurechtssachen.
2.
Unmittelbare Bundesverwaltung
Neben dem Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung gibt es den Bereich der unmittelbaren Bundesverwaltung, in dem der Bund organisatorisch durch Instanzenzug bis zum obersten Organ eigene Behörden tätig wird (zB Bundespolizeidirektion, Militärkommanden, Finanzverwaltung, Arbeitsmarktverwaltung). Im Gegensatz zur mittelbaren Bundesverwaltung gibt es keine ausdrückliche bundesverfassungsgesetzliche Regelung
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über den Instanzenzug. Vom VfGH wird jedoch angenommen, dass der Instanzenzug bis zum obersten Organ der Bundesverwaltung reicht, also bis zum zuständigen BM bzw zur BReg, wenn nicht durch einfaches Bundesgesetz anderes bestimmt ist. Eine Materie fällt in die unmittelbare Bundesverwaltung, wenn für sie in Art 10 B-VG die Vollziehung in der Bundesverwaltung vorgesehen ist und Art 102 Abs 2 B-VG zusätzlich vorsieht, dass sie in unmittelbarer Bundesverwaltung vollzogen werden kann (ansonsten: mittelbare Bundesverwaltung), soweit der einfache Gesetzgeber die Vollziehung tatsächlich eigenen Bundesbehörden überträgt. Bsp: Den großen Bereich der Finanzverwaltung vollzieht der Bund durch eigene Organe. Wenn Sie also in Österreich Steuern zahlen müssen, so wenden Sie sich an das für Sie zuständige Finanzamt, welches im Gegensatz zu den BVB eine bundeseigene (Finanz)Behörde ist. Der Instanzenzug in Steuerangelegenheiten geht in der Regel zum Unabhängigen Finanzsenat (UFS).
3.
Landesverwaltung
Besteht nach den Kompetenzartikeln keine ausdrückliche Bundeskompetenz in einer Sache, wird diese im Wirkungsbereich der Länder geregelt und vollzogen (sog Generalklausel in Art 15 B-VG: alles, was nicht dem Bund zugewiesen ist, ist zwingend Landessache; Art 15 BVG enthält keine ausdrückliche Auflistung der Landeskompetenzen, daher die Bezeichnung als „Generalklausel“). Darüber hinaus werden auch im Bereich des Art 11 B-VG Bundesgesetze durch die Länder vollzogen, und Art 12 B-VG sieht vor, dass der Bund in bestimmten Materien Grundsatzgesetze erlassen kann, die von den Landesgesetzgebern durch Landesgesetze ausgestaltet werden. Auch letztere werden von den Ländern vollzogen. In der Landesverwaltung besteht keine explizite bundesverfassungsgesetzliche Regelung über den Instanzenzug. Grundsätzlich reicht der Instanzenzug bis zum obersten Organ der Landesverwaltung, also bis zur LReg (vgl Art 101 Abs 1 B-VG). Damit ergibt sich ein zweigliedriger Instanzenzug von der BVB zur LReg. Allerdings kann der Instanzenzug durch einfaches Landesgesetz abgeändert werden. Bsp: Auf Ihrem Grundstück in Lilienfeld (NÖ) befindet sich eine hundertjährige Eiche, die Sie zum Naturdenkmal erklären lassen wollen. Einen diesbezüglichen Antrag stellen Sie an die Bezirkshauptmannschaft Lilienfeld (BVB). Sollten Sie mit der Entscheidung der BH Lilienfeld nicht zufrieden sein, können Sie mittels Berufung bei der NÖ LReg eine Überprüfung des Bescheides der BVB erreichen.
4.
Gemeindeverwaltung
Für den Bereich der Gemeindeverwaltung muss zwischen Angelegenheiten des eigenen und Angelegenheiten des übertragenen Wirkungsbereiches unterschieden werden. Der eigene Wirkungsbereich umfasst Angelegenheiten, die im ausschließlichen oder überwiegenden Interesse der Gemeinde liegen und geeignet sind, Eigener Wirkungsbereich – übertragener innerhalb der örtlichen Grenzen durch die Gemeinde besorgt zu Wirkungsbereich werden (Art 118 Abs 2 B-VG). Eine demonstrative Aufzählung findet sich in Art 118 Abs 3 B-VG. In Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches ist
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der Instanzenzug in der jeweiligen Gemeindeordnung geregelt. In der Regel entscheidet der Bgm in erster Instanz, in zweiter und letzter Instanz der Gemeinderat. Bsp: Über die Erlassung einer Baubewilligung entscheidet in erster Instanz der Bürgermeister, der Instanzenzug geht zum Gemeinderat. Für Wien richtet sich der Instanzenzug im Baurecht nach besonderen Regelungen: Erste Instanz in Bauverfahren ist der Magistrat, die Entscheidung in oberster Instanz steht der Bauoberbehörde zu. Angelegenheiten des übertragenen Wirkungsbereiches besorgt die Gemeinde nach Maßgabe von Bundes- oder Landesgesetzen im Auftrag und nach den Weisungen des Bundes bzw der Länder. Die Zuständigkeit in erster Instanz obliegt dem Bgm (Art 119 Abs 1 B-VG). Nach den oben dargestellten Grundsätzen der Bundes- bzw Landesverwaltung können die jeweils übergeordneten Organe der Landes- oder Bundesverwaltung in zweiter Instanz angerufen werden. Bsp: Gem § 13 Meldegesetz sind die Meldebehörden die Bürgermeister. Über Berufungen gegen Bescheide der Meldebehörden hat in letzter Instanz die Sicherheitsdirektion zu entscheiden.
5.
Gesondert geregelte Instanzenzüge
Für einige Verwaltungsmaterien sind zum Teil besondere Instanzenzüge vorgesehen. So ist der unabhängige Umweltsenat (UUS) oberste Rechtsmittelbehörde in Umweltverträglichkeitsprüfungsverfahren (Art 11 Abs 7 und 8 B-VG), in Asylsachen erkennt nach Erschöpfung des Instanzenzuges der Asylgerichtshof (AsylGH) (Art 129c B-VG).
C.
Berufung
Da Sie nun wissen, welche Behörde über eine Berufung gegen den Bescheid entscheiden wird, beschließen Sie, dieses Rechtsmittel zu ergreifen. Allerdings stellt sich nun für Sie die Frage, bei welcher Behörde die Berufung einzubringen ist und welche Fristen dafür vorgesehen sind. Die Berufung ist das ordentliche Rechtsmittel gegen Bescheide. Die Berufung ist ein aufsteigendes (devolutives) Rechtsmittel, das heißt, dass die im Berufung = aufsteigendes Rechtsmittel Instanzenzug übergeordnete Behörde über die Berufung entscheidet. Daher ist eine Berufung nur dann möglich, wenn überhaupt noch ein Instanzenzug offen steht.
1.
Berufungslegitimation und Berufungsfrist
Zur Berufung legitimiert sind nur die Parteien des Verfahrens. Verzichtet eine Partei ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Berufung oder zieht sie ihre Berufung zurück, geht die Berufungslegitimation verloren. Der Verzicht auf die Erhebung der Berufung ist erst nach Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides möglich und kann, wie auch die Zurückziehung einer Berufung, nicht widerrufen werden.
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Die Berufung ist binnen einer gesetzlichen Frist von 2 Wochen ab Zustellung des Bescheides an die Partei vollständig einzubringen. Sofern in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides (irrtümlich) eine längere als die zweiwöchige Berufungsfrist angegeben ist, ist die längere Frist maßgeblich. Ansonsten kann die Binnen gesetzlicher Frist (2 Wochen) vollständig bei 1. Instanz einzubringen Berufungsfrist nicht verlängert werden (vgl § 33 Abs 4 AVG). Einzubringen ist die Berufung bei jener Behörde, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Wird die Berufung fristgemäß bei der Berufungsbehörde eingebracht, gilt sie ebenfalls als rechtzeitig eingebracht, wobei die betreffende Behörde die Berufung unverzüglich an die erstinstanzliche Behörde weiterzuleiten hat. Ist die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides unrichtig oder enthält sie keine Angaben über die Einbringungsbehörde, gilt die Berufung als richtig eingebracht, wenn sie bei der genannten oder der bescheidausstellenden Behörde eingebracht wird (vgl im Einzelnen § 61 AVG). Gegen den Bescheid können Sie Berufung an den UVS Wien erheben. Sie müssen die Berufung binnen zwei Wochen ab Zustellung bei der Behörde erster Instanz, also dem Magistrat Wien, einbringen.
2.
Form und Inhalt der Berufung
Die Berufung ist schriftlich einzubringen (vgl § 13 Abs 1 und 2 AVG), wobei insbesondere auch das Einbringen per Telefax oder im Wege Berufung ist schriftlich einzubringen automationsunterstützter Datenverarbeitung zulässig ist. Die Berufung muss einen gewissen Mindestinhalt aufweisen: x
Bezeichnung des Bescheides: Die Berufung muss den angefochtenen Bescheid bezeichnen. Ist der Spruch des Bescheides teilbar, kann auch nur ein Teil mit Berufung angefochten werden. Die nicht von der Berufung umfassten Teile werden dann Mindestinhalt der Berufung: rechtskräftig. Die Berufungsbehörde ist insoweit an die 1. Bezeichnung des Bescheides 2. Berufungsantrag Bezeichnung in der Berufung gebunden und darf den 3. Begründung Bescheid grundsätzlich nur in diesem Umfang überprüfen.
x
Berufungsantrag: Der Berufungswerber muss deutlich machen, ob er eine Aufhebung oder welche Abänderung des angefochtenen Bescheides er anstrebt.
x
Begründung des Berufungsantrags: Der Berufungsantrag muss begründet sein. Es muss zumindest erkennbar sein, worauf sich die Partei zu stützen glaubt. Ob die Begründung inhaltlich stichhältig ist, ist für die Zulässigkeit einer Berufung irrelevant.
In der Berufung können Sie vorbringen, dass die vorgeschriebenen neuen Auflagen nicht der GewO entsprechen. Gemäß § 79 GewO müssen nachträgliche Auflagen nämlich verhältnismäßig sein. Der mit der Erfüllung verbundene Aufwand muss mit dem durch die Auflage angestrebten Erfolg im Verhältnis stehen. Um diese Verhältnismäßigkeit zu gewährleisten, muss einerseits der durch die Auflage erwartete Erfolg und andererseits der
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mit der Auflage verbundene Aufwand von der Behörde festgestellt werden, um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen zu können. Dies ist hier nicht geschehen, da die Behörde eine Lärmbelästigung um 5 dB in einem einzigen Hotelzimmer gemessen und festgestellt hat. Es ist Ihrer Meinung nach unverhältnismäßig, dass Sie die Lautstärke Ihrer Musikanlage beschränken müssen, damit in einem einzigen Hotelzimmer (dort wo gemessen wurde) keine Lärmbelästigung in der Höhe von 5 dB auftritt. Ob auch in anderen Hotelzimmern Belästigungen auftreten, wurde von der Behörde nicht festgestellt. Somit kann gesagt werden, dass der mit der Auflage verbundene Aufwand (Beschränkung der Musiklautstärke und dadurch verursachte schwere Umsatzeinbußen) nicht im Verhältnis zum angestrebten Erfolg (Einschränkung der Lärmbelästigung um 5 dB auf das zumutbare Maß in einem einzigen Hotelzimmer) steht. Im Berufungsverfahren besteht kein Neuerungsverbot, dh der Berufungswerber kann in der Berufung auch neue, im erstinstanzlichen Verfahren nicht behandelte Tatsachen und Beweise vorbringen. In diesem Fall hat die Behörde die anderen Kein Neuerungsverbot im Verwaltungsverfahren Parteien des Verfahrens (Berufungsgegner) unverzüglich zu unterrichten und ihnen Gelegenheit zu geben, innerhalb einer angemessenen, maximal zweiwöchigen Frist vom Inhalt der Berufung Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Eine rechtzeitig eingebrachte und zulässige Berufung hat aufschiebende Wirkung, dh der angefochtene Bescheid erwächst nicht in Rechtskraft und wird damit auch nicht vollstreckbar. Die Behörde kann aber die aufschiebende Wirkung ausschließen, wenn die vorzeitige Vollstreckung im Interesse einer Partei oder des öffentlichen Wohls Zulässige und rechtzeitige Berufung hat wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist. Diesfalls wird aufschiebende Wirkung der Bescheid zwar nicht rechtskräftig, er ist aber vorzeitig vollstreckbar.
3.
Entscheidung über die Berufung
Sie bringen Ihre Berufung beim Magistrat Wien als Einbringungsbehörde ein. Kurz darauf erhalten Sie eine „Entscheidung“ über Ihre Berufung vom Magistrat und Sie fragen sich, warum schon wieder die erstinstanzliche Behörde entscheidet. a.
Berufungsvorentscheidung
Mit der Entscheidung über die Berufung ist zunächst die Behörde befasst, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat. Sie kann binnen 2 Monaten nach Einlangen der Berufung über diese absprechen, indem sie den angefochtenen Bescheid aufhebt, abändert oder als unzulässig oder verspätet zurückweist (nicht aber die Berufung zur Berufungsvorentscheidung binnen zwei Gänze abweist). Ob die Behörde eine solche Monaten möglich Berufungsvorentscheidung (§ 64a AVG) erlässt, liegt in ihrem Ermessen, bei dessen Ausübung sie abzuwägen hat, ob der Berufungswerber die Berufungsvorentscheidung akzeptieren wird und damit eine endgültige Erledigung erwartet werden kann.
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Gegen die Berufungsvorentscheidung, die in Bescheidform ergeht, kann jede Partei innerhalb von 2 Wochen nach Zustellung das Rechtsmittel des Vorlageantrags erheben und darin beantragen, dass die Berufung der Berufungsbehörde zur Entscheidung vorgelegt wird. Die Berufungsvorentscheidung tritt damit außer Kraft und die Sache ist von der Berufungsbehörde in Behandlung zu nehmen. Der Vorlageantrag ist bei der Behörde einzubringen, die die Berufungsvorentscheidung erlassen hat. Nachdem die Berufungsvorentscheidung des Magistrats Wien den Bescheid zwar in manchen Punkten abgeändert hat, dieser aber noch immer nicht Ihren Vorstellungen entspricht, stellen Sie einen Vorlageantrag, da Sie wollen, dass der Bescheid von einer im Instanzenzug übergeordneten Behörde überprüft wird. b.
Entscheidung der Berufungsbehörde
Da es im Verwaltungsverfahren kein Neuerungsverbot gibt, steht der Berufungsbehörde die gleiche umfassende Entscheidungsbefugnis wie der unterinstanzlichen Behörde zu, sie entscheidet daher „in der Sache selbst“. Sie ist berechtigt, ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern (§ 66 Abs 4 AVG). Auch für die Berufungsbehörde gelten die Grundsätze des AVG, insbesondere daher auch die Offizialmaxime und der Grundsatz der materiellen Wahrheit. Grundsätzlich entscheidet die Berufungsbehörde wie jede Verwaltungsbehörde aufgrund der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt ihrer Entscheidung. Änderungen sind daher bis zu diesem Zeitpunkt zu berücksichtigen, auch wenn sie für den Berufungswerber nachteilig sind. Im Berufungsverfahren nach dem AVG gilt kein Verschlechterungsverbot (im Gegensatz zum Berufungsverfahren nach dem VStG). Werden neue Tatsachen oder Beweise vorgebracht, kann die Berufungsbehörde die notwendigen Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens selbst durchführen oder eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde damit beauftragen. Die Berufungsbehörde hat folgende Möglichkeiten der Entscheidung: x
Einstellung: Das Berufungsverfahren ist mit Verfahrensanordnung einzustellen, wenn die Berufung zurückgezogen wird oder der Berufungswerber während des Verfahrens seine Rechtspersönlichkeit verliert (zB der Berufungswerber stirbt).
x Zurückweisung: Die Berufung ist zurückzuweisen, wenn sie verspätet eingebracht oder von einer nicht berufungslegitimierten Person erhoben wurde oder wenn in der Sache schon rechtskräftig entschieden wurde. Eine Mögliche Entscheidungen der Zurückweisung erfolgt außerdem, wenn die Berufung Berufungsbehörde: Einstellung Mängel aufweist (sie also nicht den Inhalts- und Zurückweisung Formerfordernissen entspricht)und diese trotz eines Aufhebung und Zurückverweisung Verbesserungsauftrages (vgl § 13 Abs 3 AVG) nicht beseiEntscheidung in der Sache selbst tigt wurden. Bsp: Die Berufung bezieht sich auf keinen konkreten Bescheid und der Berufungswerber kommt der Aufforderung der Berufungsbehörde, den betreffenden Bescheid zu bezeichnen, nicht nach.
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Entscheidung in der Sache selbst: Wird das Verfahren nicht eingestellt, die Berufung nicht zurückgewiesen und die Angelegenheit nicht unter Behebung des Bescheides zurückverwiesen, hat die Berufungsbehörde in dem von der Berufung umfassten Ausmaß eine Sachentscheidung zu treffen. Im Rahmen der Sachentscheidung kann der unterinstanzliche Bescheid abgeändert oder die Berufung zur Gänze abgewiesen und somit der angefochtene Bescheid vollinhaltlich bestätigt werden. Darüber hinaus kommt die ersatzlose Aufhebung des unterinstanzlichen Bescheides in Frage, wenn dieser bspw wegen Unzuständigkeit der Unterinstanz gar nicht hätte ergehen dürfen.
x
Nur dann, wenn das unterinstanzliche Ermittlungsverfahren derart mangelhaft geführt worden ist, dass eine Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, kann der angefochtene Bescheid zur Gänze aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an die im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverwiesen werden. Doch auch in diesem Fall kann die Berufungsbehörde die mündliche Verhandlung und die Beweisaufnahme selbst durchführen, sofern das mit einer Kosten- und Zeitersparnis verbunden ist. Bezüglich der Form und des Inhalts der Berufungsentscheidung sieht § 67 AVG vor, dass die allgemeinen Bestimmungen über die Erlassung von Bescheiden auch für Bescheide der Berufungsbehörde gelten, jedoch mit dem Zusatz, dass der Spruch auch dann zu begründen ist, wenn dem Berufungsantrag vollinhaltlich stattgegeben wird.
Der Bescheid kann auch zur Gänze aufgehoben und an eine Unterbehörde zurückverwiesen werden.
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IV. Rechtsschutzinstanzen UVS und VwGH A.
Das Verfahren vor dem UVS
1.
Organisation
Im Gegensatz zu sonstigen Verwaltungsbehörden (zB BVB) sind die Mitglieder der UVS bei der Besorgung ihrer Aufgaben an keinerlei Weisungen gebunden und für die Dauer ihrer Amtszeit unabsetzbar (Art 129b Abs 2 und 3 B-VG). Der UVS wird nach dem Grundsatz ei-
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ner festen Geschäftsverteilung tätig und entscheidet entweder durch Einzelmitglieder oder durch Kammern, die aus drei Mitgliedern bestehen. Organisatorisch als Landesbehörden eingerichtet, werden die UVS funktionell auch im Rahmen der Bundesverwaltung tätig. Grundsätzlich sind die UVS zur „Sicherung der Gesetzmäßigkeit der gesamten öffentlichen Verwaltung“ (Art 129 B-VG) Gerichtsähnlich organisierte berufen. Ihre Aufgabe liegt vor allem in einer gerichtsähnlich Vewaltungsbehörden organisierten Kontrolle der Verwaltung.
2.
Zuständigkeit
Die Zuständigkeit der UVS richtet sich nach Art 129a B-VG, der vorsieht, dass die UVS nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges in folgenden Fällen erkennen: x
In Verfahren wegen Verwaltungsübertretungen, ausgenommen Finanzstrafsachen des Bundes.
x
Über Beschwerden von Personen, die behaupten, durch AuvBZ in ihren Rechten verletzt zu sein (ausgenommen wiederum solche im Zusammenhang mit Finanzstrafsachen des Bundes) – sog „Maßnahmenbeschwerde“.
x
In sonstigen Angelegenheiten, soweit sie ihnen durch die Materiengesetze des Bundes oder der Länder zugewiesen sind. Bsp: Ob der LH als im Instanzenzug übergeordnete Behörde oder der UVS als Berufungsbehörde über Berufungen gegen Bescheide der BVB zu entscheiden hat, ergibt sich aus den einzelnen Materiengesetzen. Im Betriebsanlagenbewilligungsverfahren ist der UVS Berufungsbehörde (§ 359a GewO).
x
Über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht, wenn gegen einen (nicht erlassenen) Bescheid Berufung an den UVS erhoben werden könnte.
Angenommen, es findet aufgrund der Anzeige des Hotelbesitzers, dass von Ihrem Lokal Lärmbelästigungen ausgehen, kein behördliches Verfahren statt, sondern Sie erhalten in Ihrem Lokal „Besuch“ von behördlichen Organen, die unter Ihrem wütenden Protest die Stromversorgung der Musikanlage lahm legen und Ihre Gäste des Lokals verweisen. Mangels Verfahren haben Sie keinen Bescheid in der Hand, gegen den Sie eine Berufung einlegen könnten. Sie erwägen daher, eine Maßnahmenbeschwerde an den UVS zu erheben.
3.
Verfahrensrechtliche Besonderheiten
Die Verfahrensvorschriften des AVG sind auch auf das Verfahren vor den UVS anzuwenden (Art I Abs 2 lit A Z 2 EGVG). Im AVG sind – abweichend von Öffentliche mündliche Verhandlung den allgemeinen Regeln über Berufungsverfahren – einige Sonderbestimmungen vorgesehen: x
Parteistellung der Behörde, deren Bescheid, verfahrensfreier Akt oder Untätigkeit bekämpft wird.
x
Publikumsöffentlichkeit: Der UVS hat eine öffentliche, mündliche Verhandlung durchzuführen (Publikumsöffentlichkeit aufgrund Art 6 EMRK). Die mündliche Verhandlung
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kann aus bestimmten Gründen entfallen. Unter gewissen Umständen kann die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen werden. Aufgrund Ihrer Berufung beraumt der UVS Wien eine mündliche Verhandlung an, zu der Sie, Ihre Rechtsvertretung und der Magistrat Wien geladen werden. Im Zuge des Verfahrens beantragen Sie ein neuerliches Sachverständigengutachten (Messung der Lärmbeeinträchtigung), da Sie die Unabhängigkeit des vom Magistrat beauftragten Amtsachverständigen bezweifeln. Ohne jedoch auf Ihren Antrag näher einzugehen, wird die Verhandlung geschlossen und der UVS erlässt einen die vom Magistrat vorgeschriebenen Auflagen bestätigenden Bescheid, den Sie auch zugestellt bekommen. Da der UVS Wien nicht auf Ihren Antrag auf Bestellung eines weiteren Sachverständigen eingegangen ist, rät Ihnen Ihr Rechtsvertreter zu einer Beschwerde, da es eine Verletzung der Verfahrensvorschriften des AVG darstellt, Anträge einer Partei ohne Begründung nicht zu behandeln bzw die Verhandlung zu schließen, ohne die Partei zu hören. Da dem UVS im Instanzenzug keine Behörde übergeordnet ist, ist die Beschwerde an den VwGH zu richten.
B.
Der Verwaltungsgerichtshof
Der VwGH ist gem den Art 130 bis 136 B-VG eingerichtet und mit Kompetenzen ausgestattet, die näheren Bestimmungen finden sich im Verwaltungsgerichtshofgesetz (VwGG) bzw in der Geschäftsordnung des VwGH. Art 130 – 136 B-VG, VwGG
Der VwGH erkennt als Höchstgericht über die behauptete x
Rechtswidrigkeit von Bescheiden, wobei die Rechtswidrigkeit auf ein einfaches Gesetz oder eine Verordnung gestützt werden muss (Bescheidbeschwerde) und die
x
Verletzung der Entscheidungspflicht von Verwaltungsbehörden einschließlich der UVS (Säumnisbeschwerde).
Voraussetzung für die Bescheidbeschwerde, welche ein außerordentliches Rechtsmittel darstellt, ist die Erschöpfung des Instanzenzuges. Beschwerdelegitimiert ist jeder, der behauptet, durch einen Bescheid in seinen einfachgesetzlich Voraussetzung: Erschöpfung des gewährleisteten Rechten verletzt zu sein. Darüber hinaus wird Instanzenzuges in verschiedenen Materiengesetzen bestimmten Personen ein Recht auf Erhebung einer Beschwerde eingeräumt (sog Amtsbeschwerde). Wegen Verletzung der Entscheidungspflicht kann Säumnisbeschwerde erheben, wer im betreffenden Verfahren zur Geltendmachung der Entscheidungspflicht berechtigt war, wer also durch die Untätigkeit der Behörde in seinen Rechten beeinträchtigt ist.
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C.
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Vorabentscheidungsverfahren
Grundsätzlich haben sämtliche Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Unionsrecht vollständig anzuwenden. Dabei legen sie aber mitunter unterschiedliche Auslegungsmaßstäbe an. Um eine wirksame und einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sichern, wurde nach Art 267 AEUV das sog Vorabentscheidungsverfahren beim Gerichtshof der Europäischen Union eingeführt. Das VorabentscheiDas Vorabentscheidungsverfahren dient der unterschiedslosen und wirksamen dungsverfahren ist die in der Praxis wichtigste Verfahrensart Anwendung des Unionsrechts (knapp die Hälfte aller Verfahren vor dem EuGH sind Vorabentscheidungsverfahren) und weist dem EuGH das Monopol zur Auslegung von Unionsrecht zu. Aufgrund der engen Kooperation nationaler Gerichte mit dem EuGH ist das Vorabentscheidungsverfahren ein wichtiges Instrument zur Wahrung der
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Rechtssicherheit und Verbesserung des Rechtsschutzes sowie zur einheitlichen Rechtsanwendung innerhalb der Europäischen Union. Hat ein nationales Gericht in einer Rechtssache, für deren Ausgang Unionsrecht relevant ist, Zweifel über dessen Auslegung (betrifft: Verträge, Sekundärrecht, Satzungen) oder Gültigkeit (betrifft: Sekundärrecht, gemessen am Primärrecht), so legt es dem EuGH die entsprechenden Fragen zur Vorabentscheidung vor (Vorabentscheidungs- Bei Zweifeln über Auslegung: oder Vorlageverfahren). Unter „Gericht“ versteht der EuGH jede - Nationale „Gerichte“ dürfen vorlegen Behörde, die bestimmte Kriterien erfüllt, insbesondere auf einer Nationale letztinstanzliche „Gerichgesetzlichen Grundlage beruht, eine ständige Einrichtung ist, te“ müssen vorlegen nach Rechtsnormen entscheidet, unabhängig ist, ein kontradiktorisches Verfahren durchführt und eine rechtsprechende Tätig- Bei Zweifeln über Gültigkeit keit ausübt. In Österreich fallen jedenfalls die ordentlichen Ge- - Nationale „Gerichte“ müssen vorlegen richte (Bezirksgerichte, Landesgerichte, Oberlandesgerichte, OGH) und die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (VwGH, VfGH), aber auch bestimmte weisungsfreie Verwaltungsbehörden (zB die UVS, das Bundesvergabeamt und die Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag nach Art 133 Z 4 B-VG, wie beispielsweise die Datenschutzkommission) unter diesen autonomen unionsrechtlichen Gerichtsbegriff, der nicht mit jenem des „Tribunals“ der EMRK (siehe LE 4) verwechselt werden darf. Bsp: Beim Bundesvergabeamt handelt es sich um eine Verwaltungsbehörde, die als staatlicher Spruchkörper auf gesetzlicher Grundlage ständig damit betraut ist, Rechtssachen unabhängig zu entscheiden, und daher um ein Gericht im Sinne des Art 267 AEUV. Bei Zweifeln betreffend die Gültigkeit von Unionsrecht muss jedes Gericht vorlegen. Bei Zweifeln über die Auslegung des Unionsrechts kann jedes „Gericht“ iSd Art 267 AEUV vorlegen, letztinstanzliche Gerichte müssen vorlegen. Als letztinstanzliches Gericht wird jedes „Gericht“ (in obigem Sinn) verstanden, dessen Entscheidung im jeweiligen Einzelfall nicht mehr durch ein Rechtsmittel bekämpfbar ist. In Österreich sind daher jedenfalls die Höchstgerichte (OGH, VfGH, VwGH) letztinstanzliche Gerichte. Da eine VfGH-Beschwerde kein Rechtsmittel iSd Art 267 Abs 3 AEUV ist, sind auch Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag als letztinstanzliche Gerichte zu betrachten, weil und wenn ihre Bescheide vor dem VwGH nicht mehr bekämpft werden können. Die UVS hingegen sind wegen der Anrufungsmöglichkeit des VwGH bloß vorlageberechtigt. Soll eine Vorabentscheidung eingeholt werden, so setzt das nationale Gericht das bei ihm anhängige Verfahren aus und unterbreitet dem EuGH jene Fragen zur Gültigkeit oder zur Auslegung des Unionsrechts, deren Beantwortung für die Entscheidung des nationalen Gerichts entscheidungserheblich ist. Bsp einer Vorlagefrage: „Ist Art … der Verordnung … gültig?“ Die Vorlagepflicht eines letztinstanzlichen Gerichts entfällt hingegen, wenn: x
die Beantwortung der unionsrechtlichen Frage nach Auffassung des Gerichts keinerlei Einfluss auf die Entscheidung des Rechtsstreits haben kann;
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x
die Frage bereits in einem gleich gelagerten Fall Gegenstand einer Vorlage gewesen ist;
x
eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage bereits gelöst ist;
x
bei korrekter Anwendung des Unionsrechts die Beantwortung der Frage keinen Raum für einen vernünftigen Zweifel lässt und kein Gericht an dieser Auslegung zweifeln würde (Doktrin des „acte clair“). Bsp: Weil es „gesicherte Judikatur des EuGH“ gibt, die es „offenkundig mache“, dass eine Sonderabgabe auf Erdöl nicht der 6. Mehrwertsteuer-Richtlinie widerspricht, leitet der VfGH kein Vorabentscheidungsverfahren ein.
Durch das Vorabentscheidungsverfahren entsteht oftmals erst Klarheit über vage oder mehrdeutige Vertragsbestimmungen und Sekundärrecht. Bei Auslegungsfragen ist das Urteil des EuGH nur für den konkreten Rechtsstreit (inter partes) bindend. Die Mitgliedstaaten sind darüber hinaus aber verpflichtet, das Unionsrecht einheitlich und gleichmäßig anzuwenden, wozu auch gehört, dass nationales Recht ganz allgemein in Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH gebracht wird. Bei Gültigkeitsfragen wird der Rechtsakt durch den EuGH gegebenenfalls mit umfassender Wirkung für ungültig erklärt. Bsp: Hat der UVS Tirol Bedenken, ob im Falle der Berufung gegen die Erklärung eines bestimmten Landstriches zu einem Umweltschutzgebiet unionsrechtliche Vorschriften anzuwenden oder auch nur bei der Auslegung der nationalen Rechtsnormen zu beachten sind, so kann er diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen. Die Vereinbarkeit innerstaatlichen Rechts mit Unionsrecht ist kein zulässiger Verfahrensgegenstand vor dem EuGH, ebenso wenig wie die Auslegung nationalen Rechts. Tatsächlich kann aber ein nationales Gericht die Vorlagefrage so geschickt formulieren, dass ihre Beantwortung darauf hinausläuft; manchmal formuliert der EuGH ungeschickt gestellte Fragen der Gerichte auch entsprechend um. Bsp einer Vorlagefrage: „Ist Art … AEUV dahingehend auszulegen, dass er der Anwendung der nationalen Regelung … entgegensteht, die vorsieht, dass …?“ Der Kanzler des EuGH stellt das Vorlageersuchen den an den nationalen Ausgangsverfahren beteiligten Parteien, allen Mitgliedstaaten, der Kommission sowie – sofern sie betroffen sind – dem Rat, dem Europäischen Parlament oder der Europäischen Zentralbank zu. Die Beteiligten können sich schriftlich äußern oder ihren Standpunkt in der mündlichen Verhandlung vortragen. Bei Vorabentscheidungsverfahren ist die Sprache des vorlegenden Gerichts Verfahrenssprache.
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Weiterführende Literatur
Hengstschläger, Verwaltungsverfahrensrecht4 (2009) Grabenwarter, Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit2 (2010) Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht (2009) Thienel/Schulev-Steindl, Verwaltungsverfahrensrecht5 (2009) Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht8 (2003)
VI. Wiederholungsfragen
Wie kann ein Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt werden? Wo erfahren Sie etwas über verwaltungsbehördliche Zuständigkeiten? Erläutern Sie die Unterscheidung zwischen Partei und Beteiligter im Verwaltungsrecht! Welche Rechte hat eine Partei im Verwaltungsverfahren? Was unterscheidet das normale Betriebsanlagenverfahren vom vereinfachten Bewilligungsverfahren für Bagatellanlagen? Nennen Sie die Grundsätze des Ermittlungsverfahrens! Welchen Mindesterfordernissen muss ein Bescheid entsprechen? Welche rechtliche Konsequenz hat es, wenn der Bescheid von einer unzuständigen Behörde erlassen wurde? Was ist der Spruch des Bescheides und welche rechtliche Konsequenz knüpft sich an dessen Fehlen? Was ist, wenn die Bezeichnung „Bescheid" fehlt? Wie wird ein Bescheid erlassen und wann ist er rechtskräftig? Was versteht man unter der Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt? Was versteht man unter dem sog Fehlerkalkül der Rechtsordnung? Wonach bemisst sich der sog administrative Instanzenzug? Welche Rechtsmittel und Rechtsbehelfe gegen einen Bescheid gibt es? Innerhalb welcher Frist muss eine Berufung erhoben werden und ab wann läuft diese? Unter welchen Umständen kann die bescheiderlassende Behörde über die Berufung entscheiden und welches Rechtsmittel kann dagegen erhoben werden? In welchen Fällen ist der UVS zuständig? Welche Besonderheiten charakterisieren das Verfahren vor dem UVS? Was kann in einer Bescheidbeschwerde an den VwGH geltend gemacht werden
Abkürzungsverzeichnis ABGB ABl Abs AEUV AG AMS Art AuVBZ AVG BauO BGBl Bgm BH BM BMG BMWA BR Bsp bspw BVB B-VG bzw dB dgl dh EAG EFTA EG EGKS EGVG EMRK EP etc EU EuG EuGH EUV EWR EZB f ff FKVO GASP gem GewO Ggf GIS GmbH idF idgF
Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Amtsblatt Absatz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Aktiengesellschaft Arbeitsmarktservice Artikel Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz Bauordnung Bundesgesetzblatt Bürgermeister Bezirkshauptmann/Bezirkshauptmannschaft Bundesminister/in, Bundesministerium Bundesministeriengesetz Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit Bundesrat Beispiel beispielsweise Bezirksverwaltungsbehörde Bundesverfassungsgesetz beziehungsweise Dezibel dergleichen das heißt Europäische Atomgemeinschaft European Free Trade Association Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen, Europäische Menschenrechtskonvention Europäisches Parlament et cetera Europäische Union Europäisches Gericht erster Instanz Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union Europäischer Wirtschaftsraum Europäische Zentralbank folgend folgende Fusionskontrollverordnung Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gemäß Gewerbeordnung gegebenenfalls Gebühren Info Service GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung in der Fassung in der geltenden Fassung
282 IPPC iSd iVm JN LGBl LH LReg MglW NR Nr ÖGB OGH ORF PJZS RL Rs RS SE Slg sog StGB StGG uä ua UFS UG UGB usw UUS uvm UVS va VfGG VfGH VfSlg vgl VO VStG VvA VVE VVG VvL VvM VvN VwGG VwGH WTO WWU Z zB ZPEMRK ZPO
Integrated Pollution Prevention and Control im Sinne des/der in Verbindung mit Jurisdiktionsnorm Landesgesetzblatt Landeshauptmann Landesregierung Maßnahmen gleicher Wirkung Nationalrat Nummer Österreichischer Gewerkschaftsbund Oberster Gerichtshof Österreichischer Rundfunk Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Richtlinie Rechtssache Rückschein Societas Europeae Sammlung sogenannte(r) Strafgesetzbuch Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger und ähnliches unter anderem Unabhängiger Finanzsenat Universitätsgesetz Unternehmensgesetzbuch und so weiter Unabhängiger Umweltsenat und viele/s mehr Unabhängiger Verwaltungssenat vor allem Verfassungsgerichtshofsgesetz Verfassungsgerichtshof Sammlung der Erkenntnisse des VfGH vergleiche Verordnung Verwaltungsstrafgesetz Vertrag von Amsterdam Vertrag über eine Verfassung für Europa Verwaltungsvollstreckungsgesetz Vertrag von Lissabon Vertrag von Maastricht Vertrag von Nizza Verwaltungsgerichtshofsgesetz Verwaltungsgerichtshof World Trade Organisation Wirtschafts- und Währungsunion Ziffer zum Beispiel Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention Zivilprozessordnung
Elektronische Rechtsdatenbanken Wo sind die Gesetze, Richtlinien, Urteile etc zu finden? Österreichische Rechtsakte des Bundes werden im Bundesgesetzblatt (BGBl) kundgemacht. Und zwar werden Bundesgesetze im Teil I, Verordnungen im Teil II und Staatsverträge im Teil III des BGBl kundgemacht. Die Rechtsakte der Länder werden in den Landesgesetzblättern (LGBl) publiziert. Die Unionsrechtsakte werden im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl) kundgemacht: Verordnungen, Richtlinien etc in der Reihe L („legislation“, Rechtsetzung), unverbindliche Rechtsakte (Empfehlungen, Stellungnahmen, Berichte, Entwürfe, etc) in der Reihe C („communications“, Mitteilungen) des ABl. In Zeiten der modernen Informationstechnologien finden Sie die betreffenden Rechtsakte natürlich auch im Internet. Die österreichischen
Rechtsakte
(Gesetze,
Verordnungen,
VfGH-,
VwGH-Erkenntnisse
etc)
sind
unter
http://www.ris.bka.gv.at, die EU-Rechtsakte (EGV, EUV, Verordnungen, Richtlinien, EuGH-Urteile etc) unter http://eurlex.europa.eu bzw unter http://curia.europa.eu abrufbar. Im Folgenden werden die relevanten Abfragemasken kurz erörtert:
Österreichisches Recht Urteile und Erkenntnisse der österreichischen Gerichte
Abfragemaske „Bundesrecht“: Hier kann Bundesrecht in der geltenden Fassung gesucht werden. Bsp: Suchworte: „Gewerbeordnung“ Kurztitel/Abkürzung: „GewO“ Paragraph: „74“ Sucherergebnis: § 74 GewO wird in der geltenden Fassung (= BGBl 194/1994 in der Fassung BGBl I 131/2004) wiedergegeben.
Ebenso in der Rubrik „Bundesrecht“ findet sich die Abfragemaske „Bundesgesetzblätter“ Hier können nur die einzelnen Bundesgesetzblätter gesucht werden. Es wird nicht das gesamte Gesetz in der geltenden Fassung abgebildet.
Bsp: Suchworte: „Gewerbeordnung“ Kurztitel/Abkürzung: „GewO“ Paragraph: „74“ Kundmachungsorgan: „194/1994“ (= BGBl Nr/Jahr) Suchergebnis: Im Unterschied zum obigen Beispiel wird hier § 74 GewO nicht in der geltenden Fassung, sondern nur in der Fassung BGBl 194/1994 abgebildet.
Abfragemaske „Verfassungsgerichtshof“: Hier kann nach Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes gesucht werden. Es wird der Rechtssatz des Erkenntnisses abgebildet, durch den Link „Textdokument“ gelangt man zum vollständigen Erkenntnis. Bsp: Suchworte: „Verkauf unter dem Einstandspreis“ Sammlungsnummer: „12379“ Geschäftszahl: „G 56/89“ Suchergebnis: Erkenntnis des VfGH zur Verfassungswidrigkeit des Verbots des Verkaufs unter dem Einstandspreis (siehe LE 4). Die Abfragemasken für Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH), Urteile des Obersten Gerichtshofes (OGH) etc funktionieren ähnlich.
Elektronische Rechtsdatenbanken Wo sind die Gesetze, Richtlinien, Urteile etc zu finden? Österreichische Rechtsakte des Bundes werden im Bundesgesetzblatt (BGBl) kundgemacht. Und zwar werden Bundesgesetze im Teil I, Verordnungen im Teil II und Staatsverträge im Teil III des BGBl kundgemacht. Die Rechtsakte der Länder werden in den Landesgesetzblättern (LGBl) publiziert. Die Unionsrechtsakte werden im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl) kundgemacht: Verordnungen, Richtlinien etc in der Reihe L („legislation“, Rechtsetzung), unverbindliche Rechtsakte (Empfehlungen, Stellungnahmen, Berichte, Entwürfe, etc) in der Reihe C („communications“, Mitteilungen) des ABl. In Zeiten der modernen Informationstechnologien finden Sie die betreffenden Rechtsakte natürlich auch im Internet. Die österreichischen
Rechtsakte
(Gesetze,
Verordnungen,
VfGH-,
VwGH-Erkenntnisse
etc)
sind
unter
http://www.ris.bka.gv.at, die EU-Rechtsakte (EGV, EUV, Verordnungen, Richtlinien, EuGH-Urteile etc) unter http://eurlex.europa.eu bzw unter http://curia.europa.eu abrufbar. Im Folgenden werden die relevanten Abfragemasken kurz erörtert:
Österreichisches Recht Urteile und Erkenntnisse der österreichischen Gerichte
Abfragemaske „Bundesrecht“: Hier kann Bundesrecht in der geltenden Fassung gesucht werden. Bsp: Suchworte: „Gewerbeordnung“ Kurztitel/Abkürzung: „GewO“ Paragraph: „74“ Sucherergebnis: § 74 GewO wird in der geltenden Fassung (= BGBl 194/1994 in der Fassung BGBl I 131/2004) wiedergegeben.
der Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Union (Jahr der Veröffentlichung: „1976“; Monat: „2“; Tag: „14“; ABl-Reihe: „L“; ABl-Nummer: „39“) oder auch nach Begriffen (zB „Richtlinie + Gleichbehandlung von Männern und Frauen“; Datum des Dokuments: von „1/1/1976“ bis „1/1/2001“).
Abfragemaske „Urteile“: http://curia.europa.eu/ Auf dieser Seite können Urteile des EuGH und des Europäischen Gerichts gesucht werden. Bsp: Suche nach folgendem Urteil: Rechtssache C-350/96, Clean Car Autoservice GesmbH gegen Landeshauptmann von Wien (vgl LE 5). Man kann nach Aktenzeichen („C-350/96“), dem Datum („1998-05-07“), den Parteien („Clean Car“), dem Sachgebiet („Freizügigkeit“) oder nach Suchbegriffen („Clean Car“, „Gewerbeordnung“ oder „Gewerbeordnung + Geschäftsführer“) suchen.